Sonderpädagogik des Lernens
Handbuch Sonderpädagogik Band 2 Sonderpädagogik des Lernens hrsg. von Prof. Dr. M.A. Jürgen Walter und Prof. Dr. Franz B. Wember Herausgeber der Reihe:
Prof. Dr. Johann Borchert und Prof. Dr. Herbert Goetze
Sonderpädagogik des Lernens herausgegeben von
Jürgen Walter und Franz B. Wember
GÖTTINGEN · BERN · WIEN · PARIS · OXFORD · PRAG TORONTO · CAMBRIDGE, MA · AMSTERDAM · KOPENHAGEN
Prof. Dr. M.A. Jürgen Walter, geb. 1953. 1973-1979 Studium der Romanistik, Pädagogik und Psychologie in Bochum. 1982 Promotion. 1986 Habilitation an der Universität zu Köln. 19821984 Tätigkeit in der Erwachsenenalphabetisierung, seit 1982 an Förderschulen im Bereich der Supervision und der Förderung des Schriftspracherwerbs tätig. Seit 1987 Professor für Lernbehinderten- und Förderpädagogik an der Universität Kiel, seit 2006 an der Universität Flensburg. Forschungsschwerpunkte: Unterrichtsforschung, Lernschwierigkeiten in den Bereichen Schriftsprache und Mathematik, computerunterstützte Unterweisung. Prof. Dr. Franz B. Wember, geb. 1953. 1975-1980 Studium der Sonderpädagogik in Köln (erste und zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Sonderschulen). 1977-1978 Studium des Fachs „Special Education“ in den USA. 1985 Promotion. Tätigkeit an verschiedenen Förderschulen, 1985-1991 Mitarbeit bei der Konzeption und Realisierung berufsbegleitender Studiengänge für Lehrerinnen und Lehrer an der FernUniversität Hagen. Seit 1992 Professor für Rehabilitation und Pädagogik bei Lernbehinderungen an der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Qualität von Förderunterricht, Diagnose und Intervention bei Lernschwierigkeiten in den Bereichen Schriftsprache und Mathematik.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag Toronto • Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen Rohnsweg 25, 37085 Göttingen http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggrafik: Jochen Dauster, Bensheim Satz: Beate Hautsch, Göttingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany Auf säurefreiem Papier gedruckt ISBN 978-3-8017-1709-4
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Reihenherausgeber Johann Borchert und Herbert Goetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI
Teil I Gegenstandsbereich
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.4 1.5
Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung . . . 4 Rudolf Kretschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Prävalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wiederholer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf . . . . . . . . . . . . . . 7 Lernende ohne Hauptschulabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ergebnisse der PISA-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Nachhilfe und außerschulische Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Manifestationen und Verläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen . . . . . . . . . . . . . . 11 Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der . Aneignungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Systematisches Training zweckmäßiger Lernstrategien . . . . . . . . . . 26 Möglichkeiten und Grenzen des Selbstinstruktionstrainings . . . . . . . . 28 Unterrichtspraktische Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Prävention vor Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.6 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4
Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens Gustav O. Kanter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Pädagogik und Psychologie als Bezugswissenschaften bei . erzieherischer Einflussnahme und Lernprozessen . . . . . . . . . . . . . 33 Zum Verhältnis Pädagogik – Sonderpädagogik sowie Psychologie – . Sonderpädagogische bzw. Heilpädagogische Psychologie . . . . . . . . . 39 Neuere Konkretisierungen des Gegenstandes und der Aufgaben . . . . . . 40 Normative Aussagen zum Gegenstand und zu den Aufgaben . . . . . . . 41 Aussagen und Ergebnisse zu den Aufgabenstellungen auf deskriptiver . und präskriptiver Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
VI
| Inhaltsverzeichnis
Teil II Theoretische Ansätze zur Erklärung von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
3 3.1 3.2
Das medizinische Paradigma Markus Strobel und Andreas Warnke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS . . . . . . . Ursachen von Lern- und Leistungsstörungen aus neuro- . psychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten . . . . . . Lese- und Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.4
Das interaktionstheoretische Paradigma Rainer Benkmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Beeinträchtigungen des Lernens in der Perspektive . des Symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigungen des Lernens und soziale Interaktion: . Empirische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigungen des Lernens − Folge von Stigmatisierung? . . . . . . Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur . Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stigmamanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das schulsystemische Paradigma Dagmar Orthmann Bless . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen und Strukturen des Schulsystems . . . . . . . . Entscheidungsprozesse im System Schule . . . . . . . . . . Entscheidungsstelle Einschulung . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für . Lernbehinderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Interaktion verschiedener Entscheidungen . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 66 68 70 72 72 75 77 77 81 82 83 85 87 87 88 88 89 89 90
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93 93 94 94
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. 96 . 99 . 99 . 101 . 102
Inhaltsverzeichnis | VII
6 6.1 6.2 6.3 6.4
Soziokulturelle Benachteiligung Katja Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwärtiger Forschungsstand . . . . . . . . . . . Empirische Daten zu soziokulturellen Bedingungen . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
Das lern- und entwicklungstheoretische Paradigma Werner Nestle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Das entwicklungstheoretische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Inhaltsneutralität der Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Statt linearer Entwicklungslogik: Entwicklung als Evolution . . . . . . . 118 Das lerntheoretische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Selbstreferenz (Autopoiesis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Viabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Beispiele konstruktivistischer Lerntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
8 8.1 8.2
Das systemisch-konstruktivistische Paradigma Rolf Werning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive . . . . . . . 129 Systemisch-konstruktivistische Perspektiven in ihrer Bedeutung . für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens . . . . . . . . . 134 Das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen . . . . . . . . . . 135 Pädagogische Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
8.2.1 8.2.2 8.3
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. 104 . 104 . 105 . 108 . 114 . 114
Teil III Diagnostik
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
9 9.1
Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte Karl Dieter Schuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik zwischen institutionellen Erfordernissen und . fachwissenschaftlichen Bezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionelle Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fachwissenschaftlichen Bezüge: Menschenbildannahmen . . . Prominente Modelle diagnostischen Denkens . . . . . . . . . . . Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen . . . . . . . . Lernziele als Bezugssysteme für die Beurteilung individueller . Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1.1 9.1.2 9.2 9.2.1 9.2.2
. . . . 147 . . . . .
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. 148 . 148 . 150 . 151 . 151
. . . . 157
VIII
| Inhaltsverzeichnis 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2
Der Entwicklungsbezug und das Modell der strukturorientierten . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das lineare Modell einer einfachen Hypothesenprüfung . . . . . . Zyklische Modelle der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Diagnostik vom Standpunkt des Subjekts Joachim Schwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
11
Die Kind-Umfeld-Analyse Wolfgang Lemke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
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. 158 . 159 . 160 . 160 . 162
12 12.1 12.2 12.3 12.3.1
Gegenstandstheoretische Konzepte als diagnostische Basis Gabi Ricken und Annemarie Fritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 „Bedingungslisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Schulleistungen als komplexer Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Intelligenz und Schulleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Klassische Intelligenzmodelle: Erfassung kognitiver Strukturen und . Teilleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 12.3.2 Analyse der Intelligenz unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung . . 190 12.3.3 Analyse metakognitiver Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 12.3.4 Erfassung von Strukturen und Prozessen als Zugang zur Intelligenz . . . 192 12.4 Vorwissen und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 12.4.1 Erfassung mathematischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 12.4.2 Erfassen schriftsprachlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 13
Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl . . . . . . . . 207 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Teil IV Prävention
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
14 14.1 14.2 14.3
Frühe Kindheit und Vorschulalter Gerhard Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Das System Frühförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Probleme der Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Ursachen von Lernbehinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Inhaltsverzeichnis |
14.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.5.6 14.6 14.7 14.8 14.9 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4 14.9.5
Umgestaltung der Früherkennung und Frühförderung . . . . . . . . . . . 224 Maßnahmen zur Frühförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Orientierungspunkte und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . 228 Beispiele der Kooperation und Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Möglichkeiten zur Frühförderung nach dem Kinder- und . Jugendhilfegesetz (SGB VIII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Kinderkrippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Das Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP) . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Frühförderung als Spielförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Spezielle Programme und Methoden der Frühförderung . . . . . . . . . . 233 Förderung bei Störungen des Spracherwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Elementarerziehung und Schulvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Problemanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Spezielle Fördermaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Ganzheitlichkeit und Eigenaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Ausbilden von Lernstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Übergang zur Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
15 15.1 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.4
Schulalter Rudolf Kretschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Systemische und entwicklungsökologische Ausgangsüberlegungen . . . . 245 Beispiele primärer Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Prävention durch eine leistungsfähige Elementarerziehung . . . . . . . . 251 Die Erleichterung von Übergängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Prävention auf Unterrichtsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kooperation und Binnenklima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Maßnahmen sekundärer Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Schulkindergärten und jahrgangsübergreifende Klassen . . . . . . . . . . 259 Integrative Regelklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Schulen mit familienergänzenden Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ganztagsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Die Unterstützung von Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit . . . . . . . . . 262 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Teil V Interventionen
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
16 16.1
Förderung der Metakognition Ulrich Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Zum Begriff der Metakognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
IX
| Inhaltsverzeichnis 16.2 16.3
Metakognition bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern . . . . . . 273 Zur Anbahnung und Steigerung metakognitiver Aktivitäten bei . Lernbehinderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
17 17.1 17.2
Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Charakteristische Merkmale von Lernen und Gedächtnis bei . generalisierten Lernschwierigkeiten (Lernbehinderung und mentale . Retardierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 17.3 Verfahren zur Diagnostik gravierender Gedächtnisprobleme . . . . . . . 283 17.4 Interventionen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen . . . . 284 17.4.1 Interventionen zur Optimierung von Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . 284 17.4.2 Interventionen zur Förderung selbstregulierten Lern- und . Gedächtnisverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 17.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 18 18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.2 18.3
Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens Karl Josef Klauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Theorie des induktiven Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . Die Strategie des induktiven Denkens . . . . . . . . . . . . . . . Die Trainingsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der empirischen Erprobungen . . . . . . . . . . . . . Diskussion und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 19.6 19.7
Förderung der Wahrnehmung Michaela Greisbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Der Prozess der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Die Bedeutung der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Wahrnehmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Förderprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Evaluationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
20 20.1 20.2
Psychomotorische Förderung Dietrich Eggert und Christina Reichenbach . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Allgemeiner Überblick und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 315 Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung . . . . . . . . . . . . . 316
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. . . . . . . .
. . . . . . . .
. 293 . 293 . 293 . 295 . 296 . 297 . 301 . 303
Inhaltsverzeichnis |
20.3 20.4 20.5 20.5.1
Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Methoden einer psychomotorischen Förderung . . . . . . . . . . . . . . 318 Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik . . . . . . . . . . . . 320 Ziele und Wege einer ökosystemischen psychomotorischen . Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 20.5.2 Der psychomotorische Dialog als Prinzip psychomotorischer . Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 21 21.1 21.2 21.3
Unterrichtsintegrierte Förderung von Aufmerksamkeit Kerstin Naumann und Gerhard Lauth . . . . . . . . . . . . . . . Aufmersamkeitsstörungen im schulischen Kontext . . . . . . . . Lernen und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsintegrierte Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 22.1 22.2 22.3 22.4 22.4.1 22.4.2
Motivationsförderung und Attributionstraining Johann Borchert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Definitionen und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Einige bedeutsame Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Pädagogische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Lerntherapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
. . . . .
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. 328 . 328 . 329 . 332 . 335
Teil VI Schule und Unterricht
Überblick Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
23
Konzepte und Methoden Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
23.1 23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4
Didaktik des gemeinsamen Unterrichts Ulrich Heimlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Konzept und Praxis des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . . . 358 Empirische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . 361 Theoretische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . 367 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
XI
XII
| Inhaltsverzeichnis 23.2
Die Effekte von Sonderunterricht und gemeinsamem Unterricht . auf die Entwicklung von Kindern mit Lernbehinderungen Gérard Bless und Kathrin Mohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.1 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die soziale Stellung . . 23.2.2 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die Lernfortschritte . . 23.2.3 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf das Selbstkonzept . . 23.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4
. 375 . 377 . 378 . 379 . 381 . 382
Bildung und Erziehung in Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt . Lernen Ulrich Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Historische Aspekte der Sonderschulerziehung . . . . . . . . . . . . . . 385 Die Stellung der Schule für Lernbehinderte im Bildungssystem . . . . . . 386 Besonderheiten des Unterrichts in der Schule für Lernbehinderte . . . . . 389 Öffnung der Schule für Lernbehinderte zur Allgemeinen Schule hin . . . 390 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
23.4 23.4.1
Differenzierung des Unterrichts Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Von der klassischen Hilfsschulpädagogik zum modernen . Methodenmonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 23.4.2 Formen und Ebenen der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 23.4.3 Äußere Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 23.4.4 Innere Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 23.4.5 Zielerreichendes Lernen in flexibler Differenzierung bei . multivalenter Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 23.5 23.5.1 23.5.2 23.5.3 23.5.4
Formen offenen Unterrichts Bodo Hartke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Unterricht nach Maria Montessori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Unterricht nach Célestin Freinet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Zeitlich begrenzte Formen des offenen Unterrichts . . . . . . . . . . . . 429 Forschungsstand und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
23.6 23.6.1 23.6.2 23.6.3 23.6.4
Direkter Unterricht Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Direkter Unterricht als Variante effektiven Lehrverhaltens . . . . . . . . 439 Direkter Unterricht als Vermittlung von Lernstrategien . . . . . . . . . . 442 Curriculare Programme direkten Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Direkte Förderung in offenen Lernumwelten . . . . . . . . . . . . . . . 448 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Inhaltsverzeichnis | XIII
23.7 23.7.1 23.7.2 23.7.3
Kooperatives Lernen Elmar Souvignier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist kooperatives Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedingungen produktiver Partner- und Gruppenarbeit . . . . . . Folgerungen für die Arbeit mit lernbehinderten Schülerinnen . und Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.4 Kooperative Unterrichtsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 452 . . . . . 453 . . . . . 455 . . . .
. . . .
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. 458 . 459 . 463 . 465
23.8 23.8.1 23.8.2 23.8.3 23.8.4
Computerunterstützter Unterricht Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Befunde von Metaanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Was macht die Wirksamkeit von CUU aus? . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Wo und wann kann Multimedia Lernen fördern? . . . . . . . . . . . . . 473 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
24
Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
24.1 24.1.1 24.1.2 24.1.3
Phonologische Bewusstheit Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Jenseits der metaanalytischen Darstellung: Auswirkungen . entsprechender Fördermaßnahmen bei Risikokindern im . Kindergartenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 24.1.4 Zusammenfassendes Fazit aus den wichtigsten Befunden . . . . . . . . . 500 24.1.5 Diagnose- und Trainingsverfahren im deutschsprachigen Bereich . . . . . 501 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 24.2 24.2.1 24.2.2
Lesenlernen und Leseförderung Gero Tacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Schriftspracherwerbs . . . . . . . . . . Konzeptionen zum Lesenlernen und zur Leseförderung . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24.3 24.3.1 24.3.2
Sinnverstehendes Lesen Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Sinnverstehendes Lesen und der Simple View of Reading-Ansatz . . . . . 519 Förderdiagnostische Konsequenzen vor dem Hintergrund des . Simple View of Reading-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
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. 504 . 504 . 506 . 516
XIV
| Inhaltsverzeichnis 24.3.3 Sinnverstehendes Lesen und (meta-)kognitiv orientierte . Förderansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 24.3.4 Bestimmte metakognitive Strategien und die Förderung . sinnverstehenden Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 24.3.5 Konsequenzen für die Förderung vor dem Hintergrund des metakognitiv orientierten Ansatzes zur Verbesserung des sinnverstehenden Lesens . . . 535 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 24.4 24.4.1 24.4.2 24.4.3 24.4.4 24.4.5
Rechtschreiben Gerheid Scheerer-Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Der Lerngegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . 541 Diagnose im Bereich der Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Rechtschreibtests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Sind Förderschüler und Förderschülerinnen mit rechtschreibschwachen . Regelschülern vergleichbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 24.4.6 Fördern im Bereich der Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 24.4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 25
Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5
Entwicklung des Zahlbegriffs Birgit Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Das Wesen der Zahl und die Theorie des Zahlbegriffes . . . . . . . . . . 571 Kardinalzahl und Ordinalzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Entwicklungssequenzen und Lernverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Zur Bedeutung des Zählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Diagnostik und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5
Elementare Rechenoperationen Petra Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Aktuelles Lern- und Lehrverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Förderung des elementaren Rechnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Offene Aufgaben als Instrumente für Diagnose und Förderung . . . . . . 600 Anspruchsvoller Mathematikunterricht in Theorie und Empirie . . . . . . 602 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
Inhaltsverzeichnis | XV
25.3 25.3.1
Schriftliche Rechenverfahren Hans-Dieter Gerster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Zur aktuellen Diskussion der schriftlichen Rechenverfahren nach . TIMSS und PISA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 25.3.2 Probleme des schriftlichen Rechnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 25.3.3 Konsequenzen für die Behandlung schriftlicher Rechenverfahren . . . . . 609 25.3.4 Schriftliche Addition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 25.3.5 Schriftliche Subtraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 25.3.6 Schriftliche Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 25.3.7 Schriftliche Division . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 25.3.8 Wie lernen leistungsschwache Kinder Mathematik? . . . . . . . . . . . . 629 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 25.4 Geometrie Frank Hellmich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 25.4.1 Inhaltliche, aktivitätsbezogene und kontextuelle Aspekte des Lehrens . und Lernens von Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 25.4.2 Diagnose geometrischer Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern . mit dem Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 25.4.3 Förderung geometrischer Kompetenzen im Mathematikunterricht . . . . 647 25.4.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 25.5 25.5.1 25.5.2 25.5.3 25.5.4 26
Sachrechnen Uta Häsel-Weide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Funktionen des Sachrechnens . . . . . . . . Aufgabentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen beim Sachrechnen . . . . . . . . . . . Problemfelder des Sachrechnens und entsprechende . Fördermöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 657 . 658 . 662 . 665
. . . . . . . . . . 675 . . . . . . . . . . 682
Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
26.1 26.1.1 26.1.2 26.1.3
Sachunterricht Astrid Kaiser und Simone Seitz . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektorientierter Sachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . Sachunterricht der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Sachunterricht mit Kindern des Förderbereichs Lernen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 689 . 691 . 693 . 695 . 699
XVI
| Inhaltsverzeichnis 26.2 Naturkunde und Biologie Marcus Schrenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 26.2.1 Lernbehindertenpädagogik und Biologie – ein problematisches . Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 26.2.2 Ergebnisse empirischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 26.2.3 Zur Bedeutung von Natur und Naturerfahrungen . . . . . . . . . . . . . 704 26.2.4 Pädagogische und therapeutische Aspekte der Tierhaltung . . . . . . . . 706 26.2.5 Von Naturerfahrungen zur Bildung für Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . 708 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5
Technikunterricht Stephan Raimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Technikbegriff und Technikverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Technikunterricht: Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Konzeptionen der Technikdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 Befunde zur Berufsvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4
Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre Ditmar Schmetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 Geschichtliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Politisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 Historische und politische Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Schülerzentrierte Gesellschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5 26.5.6 26.5.7 26.5.8 26.5.9
Hauswirtschaftslehre Veronika Breucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Bedeutung und Begründung der Hauswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . 735 Ernährungslehre, Nahrungsaufnahme und angemessenes Essverhalten . . . 737 Nahrungszubereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 Arbeitsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 Hygiene, Sicherheit und Unfallschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Konsumerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Wohnen und Wohnungspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 Wäschepflege und Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
26.6 26.6.1
Sexualerziehung Ditmar Schmetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Sexuelles Verhalten im Kontext von körperlichen und . psychosozialen Problembereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
Inhaltsverzeichnis | XVII
26.6.2 26.6.3 26.6.4
Sexuelles Verhalten im Kontext von Einflüssen der Sozialisation . Intention, Inhalts- und Förderbereiche . . . . . . . . . . . . . . . Methodisch-mediale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26.7 26.7.1 26.7.2
Religion und Ethik in der Schule Reinhard Thoma und Franz Trautmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Religionsunterricht und Ethikunterricht bei Lernbehinderten: . ein Randphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Keine „Sonderkonzeption“ für Religions- und Ethikunterricht . . . . . . 762 Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770
26.7.3 26.7.4 26.7.5
Die Förderung von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und . Kommunikation mit Musik Franz Amrhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.2 Die Praxis musikalischer Förderung – ein Lehrplan . . . . . . . 26.8.3 Die Rolle des Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 751 . 754 . 758 . 759
26.8
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. 771 . 772 . 778 . 779 . 780
26.9 26.9.1 26.9.2
Bewegungserziehung Gerd Hölter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Vom Sportunterricht zur Bewegungserziehung . . . . . . . . . . . . . . . 782 Inklusion, Professionalisierung und motorische Leistungsfähigkeit . im Sportunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 26.9.3 Entgrenzungen des Sportunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 26.9.4 Erziehung zum Sport – Erziehung durch Sport . . . . . . . . . . . . . . 787 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 26.10 26.10.1 26.10.2 26.10.3 26.10.4 26.10.5
Kunst Joachim Bröcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 Zur Bildnerei einer heterogenen Schülerschaft . . . . . . . . . . . . . . . 790 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 Die Pädagogische Kunsttherapie H.-G. Richters . . . . . . . . . . . . . 794 Variationen und Weiterentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802
27
Berufsvorbereitung, Berufsausbildung, Berufseingliederung Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
XVIII | Inhaltsverzeichnis
27.1 27.1.1 27.1.2 27.1.3 27.1.4
Prinzipien beruflicher Qualifizierung Horst Biermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Systemisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Paradigmenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 Pädagogische Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820
27.2 27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4
Arbeitslehre Gerhard H. Duismann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 Arbeitslehre und Förderschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 Grundlagen der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . 825 Perspektiven der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . 827 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
27.3 27.3.1
Modulares Lernen Wolfgang Dings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 Modularisierungsansätze im Einklang mit dem deutschen . Berufskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 27.3.2 Didaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 27.3.3 Perspektiven modularen Lernens für behinderte junge Menschen . . . . . 841 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.4.6 27.5
Der Übergang Schule/Beruf Matthias Grünke und Tatjana Leidig . . . . . . . . . . . Zur allgemeinen Arbeitsmarktlage . . . . . . . . . . . . Zur besonderen Situation lernschwacher Jugendlicher . . Rechtliche Aspekte der beruflichen Rehabilitation . . . . Effektive Förderprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über vorhandene Rehabilitationsmaßnahmen . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
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. . . . . . . .
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. . . . . . . .
. 844 . 844 . 845 . 845 . 847 . 848 . 854 . 854
Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement in der . beruflichen Rehabilitation Rainer Wetzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 27.5.1 Hintergründe der Qualitätsmanagement-Diskussion . . . . . . . . . . . 857 27.5.2 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Berufsbildungs- . werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 27.5.3 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Integrations- . fachdiensten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 27.5.4 Ableitungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866
Inhaltsverzeichnis | XIX
Teil VII Forschung 28 28.1 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10 28.2.11 28.2.12 28.2.13 28.2.14 28.2.15 28.2.16 28.2.17 28.2.18 28.3 29 29.1 29.2
Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Zum Verständnis der Metaanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 Ergebnisse von sonderpädagogisch relevanten Metaanalysen . . . . . . . 875 Auswirkungen spezifischer Trainings auf die Behaltens- und . Gedächtnisleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877 Trainings zur Verbesserung des Leseverständnisses . . . . . . . . . . . . 878 Effekte verhaltensmodifikatorischer Techniken im Unterricht . . . . . . . 879 Förderung der phonologischen Bewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . 880 Effekte der „Direkten Förderung“ auf die Lernleistungen . . . . . . . . . 881 Die Wirkungsweise systematischer formativer Evaluation im . Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Die Wirksamkeit von Frühförderprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . 882 Wirkungen der Stimulantienbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 Behinderte Schüler als Tutoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883 Effekte computerunterstützter Unterweisung (CGU) . . . . . . . . . . . 884 Schulbasierte Interventionen speziell bei Kindern mit . Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Problemen . . . . . . . . . . . . . . . 885 Die Trainierbarkeit der Funktionen des Psycholinguistischen . Entwicklungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886 Auswirkungen der Klassengröße auf die Lernleistungen . . . . . . . . . 887 Trainings zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . 888 (Wahrnehmungs-)modalitätsspezifisches Unterrichten . . . . . . . . . . . 889 Meta-analytische Befunde zur Wirksamkeit der Feingold-Diät . . . . . . 890 Echter und trivialer Transfer bei psychomotorischen . Wahrnehmungstrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 Effekte von Sonderbeschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 Schlussfolgerungen und Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 Experimentelle Forschung: Was leistet sie für die Sonderpädagogik? Marcus Hasselhorn, Dietmar Grube, Claudia Mähler und Thorsten Roick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 Was versteht man unter experimenteller Forschung? . . . . . . . . . . . 897 Was leistet experimentelle Forschung für die Bestimmung von . Störungsursachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899
XX
| Inhaltsverzeichnis 29.3 29.4 29.5
Was leistet die experimentelle Forschung für die sonderpädagogische . Diagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was leistet experimentelle Forschung für die Behandlung . sonderpädagogisch relevanter Störungen? . . . . . . . . . . . . . . . . Wo liegen die Grenzen des experimentellen Forschungsansatzes . in der Sonderpädagogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 902 . 906 . 908 . 909
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Vorwort der Reihenherausgeber Nachdem die Handbuchreihe mit dem Erscheinen des sonderpädagogischen Förderschwerpunkts „Sprache“ gestartet ist, freuen wir uns, den zweiten Band mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ vorstellen zu können; diese Reihe wird in den kommenden Monaten und Jahren fortgesetzt und ergänzt (z. B. um den Band „geistige Entwicklung“ sowie „soziale und emotionale Entwicklung“). Hauptziel dieser Handbuchreihe ist es, aus unterschiedlichen Disziplinen empirisch gewonnenes, aktuelles Wissen über die Pädagogik und Psychologie für Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen zu bündeln und nicht nur Studierenden der Sonderpädagogik, Lehrkräften in Förderschulen und -zentren sowie in allgemeinen Schulen zur Verfügung zu stellen, sondern auch den in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern tätigen Psychologen, Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern u.a. Insofern verfolgen die Herausgeber auch das Ziel, eine empirisch orientierte Sonderpädagogik weiter zu entwickeln und damit Basis vorbereiten zu helfen, die wenig Raum für Spekulationen offen lässt. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der einzelnen Handbücher sind entsprechend gebeten worden, bei der inhaltlichen Gestaltung der Beiträge diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen: – Bestimmung des Gegenstandsbereiches und damit Vermittlung eines Überblicks über die bearbeitete Thematik – Erklärungsansätze – Diagnostik – Prävention – Intervention – Unterricht – Forschungsaspekte (Methoden, Projekte, offene Fragen). Die Mitautoren und -autorinnen haben sich auch in diesem Einzelband darum bemüht, eine ausgewogene Darstellung von Theorien und empirischen Befunden vorzulegen. Da es sich jedoch nicht um Lehr-, sondern um Handbücher handelt, kam es nicht so sehr auf die innere Systematik der darzustellenden Inhalte an als vielmehr auf die aktuelle wissenschaftliche Orientierung. Deshalb haben die Autorinnen und Autoren versucht, ihre Argumentation an wissenschaftlich bewährten Theorien und an empirischen Untersuchungsergebnissen festzumachen. Falls derartige Theorien und Ergebnisse noch nicht ausreichend vorhanden sind, wurde zumindest versucht, auf fachwissenschaftliche Literaturergebnisse zurückzugreifen. Der vorliegende Band ist auf ein sonderpädagogisches Arbeitsfeld ausgerichtet, in dem es um die Vermittlung von Lernvorgängen geht, mit denen sowohl überdauernde Veränderungen gelingen können als auch Lernauffälligkeiten und -problemen begegnet werden kann. Die Notwendigkeit, sich mit dem Förderschwerpunkt Lernen sowohl in der Forschung als auch in der Praxis besonders intensiv auseinandersetzten zu müssen, ergibt sich allein aus der hohen Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichsten Lernproblemen. Nachdem im ersten Themenschwerpunkt des Bandes – unter Einbindung interdisziplinärer Forschungsbefunde – ein Überblick über den hier im Fokus stehenden Personen-
XXII
| Vorwort der Reihenherausgeber kreis vermittelt wird, werden anschließend wichtige Theorien vorgestellt, mit denen es gelingen kann, sowohl effiziente als auch ineffiziente Lernvorgänge beschreiben und erklären zu können. Dass eine gezielte Diagnostik hierbei zur Unterstützung herangezogen werden sollte, macht die Darstellung spezifischer (differential-)diagnostischer Ansätze, Methoden und Probleme deutlich. Aus gutem Grund werden in diesem Förderschwerpunkt präventive Maßnahmen sowie insbesondere spezielle schulische und außerschulische Interventionen ausführlich dargestellt. Differentielle Forschungsmethoden und -ansätze werden abschließend angesprochen. Als Ergebnis liegt nach unserer Auffassung ein Handbuch vor, das insbesondere hinsichtlich seiner inhaltlichen, aber auch seiner formalen und sprachlichen Qualität überzeugt. Den Kollegen Jürgen Walter und Franz Wember ist es gelungen, die besonders schwierige Thematik zum Förderschwerpunkt Lernen unter wissenschaftlichem Blickwinkel differenziert, sinnvoll und übersichtlich zu ordnen. Dafür sind wir dankbar, auch in dem Wissen, dass ein anspruchsvolles Handbuch ohne die kompetente Mitarbeit von Kollegen und Kolleginnen aus der Sonderpädagogik und ihren Nachbardisziplinen kaum noch vorstellbar ist. Den Kolleginnen und Kollegen gilt daher unser besonderer Dank. Die bei großen Publikationsprojekten nahezu unausweichlichen Erschwernisse und Verzögerungen bedingen zeitlich unterschiedliche Bearbeitungsstände, die überwiegend von den meisten Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel nicht zu verantworten sind. Die Reihenherausgeber hoffen, dass auch dieses sonderpädagogische Handbuch die Leserinnen und Leser darin unterstützt, bei sich anbahnenden oder bereits vorliegenden Lernproblemen Anregungen und Hilfen zur kompetenten Förderung zu erhalten, dass somit Kinder und Jugendliche mittel- oder unmittelbar von diesem Handbuch profitieren. Inwieweit sich die o. g. Ansprüche Geltung verschaffen konnten, wird also letztendlich die Leserschaft zu entscheiden haben, die zu Rückmeldungen herzlich eingeladen ist. Kiel und Potsdam, im Sommer 2006
Johann Borchert . Herbert Goetze
Teil I
Gegenstandsbereich
Einführung Lernschwierigkeiten und Lernstörungen, schreibt Rudolf Kretschmann im ersten Kapitel dieses Handbuches, entstehen, wenn Lernende hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben oder wenn sie wichtige Bildungsziele nicht erreichen. Eine Lernbehinderung, so haben viele Fachleute bis vor kurzem argumentiert und so definieren noch heute die schulgesetzlichen Regelungen in einigen Bundesländern, liegt vor, wenn bei schulpflichtigen Kindern lang andauernde, schwerwiegende und umfängliche Leistungsausfälle zu beobachten sind. Kretschmann unterzieht diese in der Fachliteratur kontrovers diskutierten Begriffe einer dimensionalen Betrachtung und vergleicht sie mit dem vor einigen Jahren eingeführten Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Ein solcher stellt sich im Bereich des schulischen Lernens multisymptomatisch dar und ist multifaktoriell bedingt. Kretschmann referiert Befunde zu Prävalenz und Inzidenz, diskutiert typische Manifestationen und Verläufe und entwickelt ein facettenreiches Modell der Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen, das förderliche und hemmende Faktoren personaler und situativer Art unterscheidet und neben den familiären und soziokulturellen Umfeldvariablen auch die Analyse der schulischen Lernbedingungen in den Blick nimmt. Folgerichtig lässt es der Autor nicht bei der Problemanalyse bewenden, sondern stellt Möglichkeiten des systematischen Trainings von Lernstrategien vor. Für Gustav Kanter stehen Bildung und Erziehung bei Beeinträchtigungen des Lernens im Spannungsfeld von Erziehungswissenschaft und Psychologie, die in Theorie und Praxis eng aufeinander zu beziehen sind, weil sie sich wechselseitig bereichern können. Modelle und Methoden aus diesen Bezugsdisziplinen sowie aus Nachbardisziplinen wie Medizin oder Sozialwissenschaft sind kritisch zu rezipieren, unter pädagogischen Gesichtspunkten zu revidieren und unter der leitenden Zielvorstellung einer differenzierten, auf individuelle Bedarfslagen und situative Erfordernisse abgestimmten Förderung zu adaptieren. Der Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens stellen sich folglich deskriptive, explanative, normative und präskriptive Aufgaben: Problemlagen sind sorgfältig zu beschreiben und nach Gesichtspunkten der pädagogischen Einflussnahme zu analysieren, Richtziele und Sollensinventare sind zu entwickeln und zu begründen, Handlungswissen ist zu erarbeiten und systematisch zu prüfen, damit die gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen auch unter erschwerten Bedingungen möglich ist, nämlich durch theoretisch-konzeptionell begründete und empirisch-praktisch bewährte Methoden und Maßnahmen von Bildung und Erziehung.
1 Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung Rudolf Kretschmann
1.1
Begrifflichkeit
Unter „Lernschwierigkeiten“ versteht Zielinski (1996, S. 369) „Probleme der Informationsaneignung durch ein Individuum“. Im schulischen Kontext liegen Lernschwierigkeiten vor, wenn Lernende entweder hinter ihren eigenen Möglichkeiten oder den Zielen der In stitution zurückbleiben. Bei länger andauernden Formen des Zurückbleibens in einem oder mehreren Lernbereichen spricht man von „Lernstörungen“, wobei zwischen partiellen und generalisierten Lernstörungen unterschieden werden kann. Um eine partielle Lernstörung handelt es sich, wenn sich das Zurückbleiben auf nur einen Lernbereich bezieht (z. B. den Schriftspracherwerb). Als generalisierte Lernstörungen werden Formen des Zurückbleibens in mehreren Unterrichtsfächern bezeichnet. Können generalisierte Lernstörungen mit Mitteln der Regelschule nicht überwunden werden, wird meist ein schuladministratives Überprüfungsverfahren eingeleitet mit dem Ziel festzustellen, ob bei dem Schüler bzw. der Schülerin ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ vorliegt. Lernende mit generalisierten Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf wurden bis vor kurzem als „lernbehindert“ bezeichnet. Die Kultusministerkonferenz von Deutschland (KMK) spricht in ihren Empfehlungen von 1999 von „Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens“ (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 1999). Entsprechend den Vorgaben der Kultusministerkonferenz ist gegenwärtig die korrekte Bezeichnung „sonderpädagogisch förderbedürftig im Förderschwerpunkt Lernen“. Zur schnelleren Verständigung soll dafür in diesem Beitrag die Abkürzung „SPF-L-Schüler“ verwandt werden. Tabelle 1: Dimensionales Klassifikationskonzept von Beeinträchtigungen (Klauer & Lauth, 1996, S. 703) Dimension des Umfangs und der Breite
Zeitdimension
bereichsspezifisch
umfassendallgemein
eher überdauernd
Lese- und Rechtschreibschwäche
Lernbehinderung
eher vorübergehend
Motorische Unruhe
Spätentwicklung
Klauer und Lauth (1996, S. 702 ff.) beklagen einen „terminologischen Wirrwarr“ infolge einer „ ... Tendenz zu typologischer statt dimensionaler Begriffsbildung“. In ihrem Beitrag „Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten“ schlagen sie das in Tabelle 1 dargestellte zweidimensionale Klassifikationssystem vor: Der Begriff „Lernschwierigkeit“ kann als ein Oberbegriff für unterschiedliche Formen und Schweregrade beeinträch-
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung |
tigter Lernentwicklung angesehen werden. Bezeichnungen wie „Lernschwierigkeit“ oder „Lernstörung“ haben den Vorzug, ursachenneutral zu sein. Sie lassen offen, worauf die Schwierigkeiten zurückzuführen sind. Durch Bezeichnungen wie „Lernbehinderung“, „Lernschwäche“ oder „Teilleistungsschwäche“ erfolgt – nicht immer zu Recht – schon durch die Begriffswahl eine Lokalisation des Problems und eine Ursachenzuschreibung: Die Ursachen für Lernprobleme werden im Lernenden gesehen, wobei die Bezeichnung „Schwäche“ auf eine psychoorganische Beeinträchtigung verweist. Sofern psychoorganische Beeinträchtigungen nicht nachgewiesen sind, ist, um unzutreffenden oder zumindest einseitigen Ursachenzuschreibungen vorzubeugen, von der Bezeichnung „Schwäche“ abzuraten. Ausführungen zu weiteren Begriffsnuancen und ihren Verwendungen und zur Begriffsgeschichte finden sich bei Schröder (2000) sowie Kanter (2001). In der DSM-IV findet sich folgende klinisch-psychologische Definition: „Lernstörungen werden diagnostiziert, wenn die Leistungen einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei individuell durchgeführten standardisierten Tests wesentlich unter den Leistungen liegen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus zu erwarten wären. Die Lernprobleme beeinträchtigen deutlich die schulischen Leistungen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten benötigt werden“ (Saß, Wittchen & Zaudig, 1996, S. 81 f.). Bei Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erkennt die KMK eine Multisymptomatik: „Die pädagogische Ausgangslage von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens, stellt sich vielfach in Verbindung mit Beeinträchtigungen der motorischen, sensorischen, kognitiven, sprachlichen sowie sozialen und emotionalen Fähigkeiten dar. …. Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen gegeben, die in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung so erheblichen Beeinträchtigungen unterliegen, dass sie auch mit zusätzlichen Lernhilfen der allgemeinen Schulen nicht ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden können. Sie benötigen sonderpädagogische Unterstützung, um unter den gegebenen Voraussetzungen eine bestmögliche Förderung zu erfahren und eine entsprechende Bildung zu erwerben. Dabei können sozialpädagogische, psychologische und medizinisch-therapeutische Hilfen außerschulischer Maßnahmeträger notwendig sein, die einer sorgfältigen Abstimmung mit der sonderpädagogischen Förderung bedürfen“ (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 2004, S. 3 f.). Der Multisymptomatik entspricht eine Multikausalität: Namentlich umfangreiche und lang andauernde Lernschwierigkeiten sind in der Regel Folgen eines Bündels von Einflussfaktoren (vgl. Kapitel 1.5, Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der Aneignungstätigkeit). So, wie die Bezeichnungen für die Problematik variieren, haben auch die Förderschulen und Sonderschulen, in denen traditionell SPF-L-Schüler unterrichtet wurden und größtenteils werden, unterschiedliche Namensgebungen erfahren. Der im 19. Jahrhundert
| Teil I: Gegenstandsbereich geprägte Begriff „Hilfsschule“ hatte sich im Laufe der Zeit als diskriminierend und stigmatisierend erwiesen, daher wurde um 1960 die Bezeichnung „Schule bzw. Sonderschule für Lernbehinderte“ eingeführt. Auch diese Namensgebung erwies sich schon bald als nicht weniger problematisch. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung „Behinderung“ im Falle schulischer Lernschwierigkeiten angemessen ist, mögen diese noch so umfangreich sein. In Hamburg wurde bereits 1986 die Bezeichnung Förderschule eingeführt, eine Begrifflichkeit, die den Hilfegedanken betont. So finden Bezeichnungen wie Förderschule bzw. Schule für Lernhilfe eine zunehmende Verbreitung (vgl. Schröder, 2000). Auch diese Benennungen könnten bald Historie sein angesichts von Bestrebungen, Lernende mit den Förderschwerpunkten „Lernen“, „Sprache“ und „Emotionale und Soziale Entwicklung“ in multiprofessionellen Förderzentren zu unterrichten.
1.2
Prävalenz
Häufigkeit und Verbreitung schulischer Lernschwierigkeiten sind an unterschiedlichen Zahlen ablesbar: der Häufigkeit von Klassenwiederholungen, der Zahl der Schüler mit festgestelltem Förderbedarf im Förderscherpunkt Lernen, der Zahl der Hauptschüler ohne Schulabschluss, der Häufigkeit der Inanspruchnahme von Nachhilfe und aus Ergebnissen der PISA-Studien. 1.2.1 Wiederholer Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wiederholten im Schuljahr 2002/2003 in den allgemeinbildenden Schulen 2,6 % der Schülerinnen und Schüler ein Schuljahr. Da die gesamte Schulzeit sich über mindestens zehn Jahre, bei weiterführenden Bildungsrängen sogar über dreizehn Jahre erstreckt, ist die Wiederholerquote deutlich höher: Bei vorsichtiger Wiederholerquote im Schuljahr 2003/04 in % 6,0
5,5
5,0
4,4
4,5
4,0 2,7
3,0 2,0
1,5
1,2
1,0 0
n len ige ulen hrere häng fe tschu n it me tu lunab Haup en m gsgänge t r Schu tierungss la n Schu Bildu Orien
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Abbildung 1: Wiederholerquoten in allgemein bildenden Schulen (Statistisches Bundesamt, 2004)
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung |
Hochrechnung ergibt sich eine Quote von etwa 25 % von Schülerinnen und Schülern, die in ihrer Schullaufbahn wenigstens einmal eine Klasse wiederholen. Die Statistik berücksichtigt nicht die Schularten Integrierte Gesamtschule, Freie Waldorfschule und Sonderschule. Abbildung 1 zeigt mit diesen Einschränkungen die Verteilung der Wiederholerquoten auf verschiedene Schularten bzw. Schulstufen und macht deutlich, dass Lernschwierigkeiten in allen allgemein bildenden Schulformen auftreten (Statistisches Bundesamt, 2004). 1.2.2 Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf 2002 wurden nach Angaben der Kultusministerkonferenz in Deutschland 495.244 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Davon entfielen 53,0 % auf den Förderschwerpunkt Lernen und 47,0 % auf die sonstigen Förderschwerpunkte. Ca. 88 % der dem Förderschwerpunkt Lernen zugeordneten Schülerinnen und Schüler wurden in Sonderschulen unterrichtet, ca. 12 % an allgemeinen Schulen. Insgesamt betrug der Anteil der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf 5,54 % des Jahrgangs, im Förderschwerpunkt Lernen 2,93 % (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 2004). Trotz der in den zurückliegenden Jahren einsetzenden Bemühungen um eine verstärkte Prävention und Förderung in Regelschulen nahmen die Quoten der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Allgemeinen und die der Förderbedürftigen im Schwerpunkt Lernen kontinuierlich zu (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz KMK, 2004). Tabelle 2: Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Jahren 1994 und 2002 1994
2002
Schülerinnen und Schüler mit Vollzeitschulpflicht
8.968.292
100
8.941.561
100
Davon Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf
382.330
4,26
495.244
5,54
Davon Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Förderschwerpunkt „Lernen“
217.646
2,43
262.389
2,93
Davon in allgemeinen Schulen unterrichtet
Noch keine Zählung
Noch keine Zählung
31.300
0,35
1.2.3 Lernende ohne Hauptschulabschluss Lernschwierigkeiten manifestieren sich auch in den Schulabschlüssen. Die Bildungsstatistiken weisen aus, dass im Schuljahr 2002/2003 etwa 9 % des Entlassjahrgangs keinen Hauptschulabschluss erhielten. Tabelle 2 zeigt, aus welchen Teilpopulationen sich diese Schülerinnen und Schüler zusammensetzen.
| Teil I: Gegenstandsbereich Tabelle 3: Lernende ohne Hauptschulabschluss – Zahlen und Teilpopulationen im Schuljahr 2002/2003 (Statistisches Bundesamt, 2004) Abs.
%
Jungen %
Ausländer %
Schulentlassene ohne Hauptschulabschluss
84.092
8,9
63,6
18,3
Davon aus Sonderschulen
38.733
4,0
63,8
15,9
Davon Förderschwerpunkt Lernen, Schule für Lernhilfe
24.893
2,6
63,3
15,9
Lernende, die hinter der schulischen Mindestanforderung des Hauptschulabschlusses zurückbleiben, rekrutieren sich bei weitem nicht nur aus dem Kreis der Sonderschülerinnen und Sonderschüler bzw. der Schule für Lernhilfe. Der weitaus größte Teil der schulisch erfolglosen Schülerinnen und Schüler wird ohne Abschluss aus der Hauptschule entlassen. Jungen sind dabei doppelt so häufig vertreten wie Mädchen. Die Zahlen spiegeln die hinlänglich bekannte Tatsache, dass Jungen mit den schulischen Angeboten weniger gut zurechtkommen als Mädchen. Gleiches gilt für Lernende ausländischer Herkunft. Bei einem Anteil an der Gesamtschülerschaft von etwa 10 % ist ihr Risiko, hinter den schulischen Mindestanforderungen zurückzubleiben, mit 18,3 % fast doppelt so hoch wie das deutscher Schüler (Statistisches Bundesamt, 2004). 1.2.4 Ergebnisse der PISA-Studien Zu noch höheren Zahlen kommen die in den Jahren 2001 und 2004 veröffentlichten PISA-Studien. Die erste PISA-Studie (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001) berichtet, dass in Deutschland 23 % aller Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der Lesekompetenz nicht über die unterste der in der Untersuchung definierten Kompetenzstufen hinauskommen und 10 % nicht einmal diese bewältigen. Damit rangiert Deutschland im internationalen Vergleich auf dem Rangplatz 29 von insgesamt 33 an der Untersuchung beteiligten Ländern. Im Fach Mathematik fällt die Bilanz für Deutschland nicht so schlecht aus wie beim Lesen. Deutschland befindet sich im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld, aber auch hier gibt es Risikogruppen: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren mathematische Fähigkeiten „über das Rechnen auf Grundschulniveau“ nicht hinausreichen, ist mit fast 25 % ungewöhnlich hoch: „Ein Viertel der 15-Jährigen muss als Risikogruppe eingestuft werden, deren mathematische Grundbildung nur bedingt für die erfolgreiche Bewältigung einer Berufsausbildung ausreicht (unter und auf Kompetenzstufe I)“ (Artelt et al., 2001, S. 22). Die PISA-Studie von 2004 weist ähnliche Zahlen auf. In Bezug auf das Lesen und die mathematischen Kompetenzen der Fünfzehnjährigen konnten gegenüber der ersten Studie keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden (vgl. Prenzel et al., 2004).
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung |
1.2.5 Nachhilfe und außerschulische Förderung Ein Indikator potenzieller und manifester Lernschwierigkeiten ist u. a. auch die Wahrnehmung von elterlicher Hilfe, Nachhilfe und außerschulischer Förderung. Eine in Niedersachsen durchgeführte Fragebogenuntersuchung von Rudolph (2002) bei Schülern der Klassen 5-10 ergab, dass zu dem Untersuchungszeitpunkt – von Schuljahr zu Schuljahr unterschiedlich – 36.8 % bis 68,5 % aller Schülerinnen elterliche Hilfe bei der Bearbeitung der Hausaufgaben in Anspruch nahmen. Am höchsten war die Quote im 7. Schuljahr, wobei die Verfasserin der Studie vermutet, dass nach der damals noch bestehenden Orientierungsstufe mit der Elternunterstützung der Verbleib in der gewählten (und möglicherweise nicht durch die Schule empfohlenen) Schulform gesichert werden sollte. Bezahlte Nachhilfe nahmen 6,9 % bis 35,6 % der Schüler in Anspruch, wobei der Prozentsatz der Nachhilfeschüler in der Hauptschule am niedrigsten und im Gymnasium am höchsten lag. Maßgeblichen Einfluss auf Angebot und Nachfrage außerschulischer Förderung dürfte auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 haben, insbesondere § 35a, der bei Lernstörungen wie „Legasthenie“ – bei gleichzeitiger manifester oder drohender seelischer Behinderung – einen Rechtsanspruch auf außerschulische Förderung einräumt (Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (VIII), 1990): SGB 8 § 35a Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. (2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall 1. in ambulanter Form, 2. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, 3. durch geeignete Pflegepersonen und 4. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet. Die rechtlichen Vorgaben ermöglichen es Eltern, unabhängig von ihrer sozialen Bedürftigkeit Leistungen für Kinder mit Lernproblemen in Anspruch zu nehmen. Derartige Fördermaßnahmen können als sinnvolle Ergänzung zu unzureichenden schulischen Angeboten angesehen werden. Kritisch ist jedoch zu werten, dass außerschulische Förderung häufig ohne Abstimmung mit der schulischen Förderung erfolgt.
1.3
Manifestationen und Verläufe
Menschen scheitern des Öfteren an Lerngegenständen: etwa an Versuchen, Ski fahren oder Gitarre spielen zu lernen. Eine Störung oder Behinderung liegt dennoch nicht vor, weil das Ski fahren bzw. Gitarre spielen keine zwingenden Voraussetzungen für die Enkulturation in unserer Gesellschaft sind. Anders verhält es sich mit den in Schule und Ausbildung zu erbringenden Lernleistungen. Lehrpläne und Prüfungsordnungen geben
10
| Teil I: Gegenstandsbereich vor, welche Mindestleistungen erwartet werden. Eine Störung oder Beeinträchtigung ist gegeben, wenn Lernende diese Mindestanforderungen nicht in der vorgegebenen Zeit erfüllen, mit daraus resultierenden Folgestörungen und Störungsfolgen unterschiedlichster Art: – Verunsicherung, Kontrollverlust und Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, – Irritation oder gar Gefühle narzisstischer Kränkung bei Lehrenden, denen erfolglose Schüler die Grenzen ihrer Kompetenz aufzeigen, – emotionale und soziale Ausgrenzung von Lernenden durch Lehrende infolge erlebter „Kränkung“, – Ausgrenzung der „Dummen“ durch Mitschüler, zumindest bei jüngeren Kindern, – Verunsicherung und Druck durch Eltern und nahe Bezugspersonen, – Stigmatisierung durch Sitzenbleiben oder Sonderschulüberweisung, – Verfehlen anspruchsvollerer Bildungs- und Ausbildungsziele und die Notwendigkeit, sich mit weniger angesehenen und schlechter bezahlten Beschäftigungen zufrieden geben zu müssen. Betz und Breuninger (1998/5) haben ein Modell entwickelt, welches Vorgänge in der Psyche des Individuums und zwischen seinen Bezugspersonen beschreibt und erklärt, welche Folgeprobleme sich aufgrund von Lernschwierigkeiten einstellen können. Diesem Modell zufolge sind für das Lernen drei Bereiche wichtig: – der Leistungsbereich, die schulischen Anforderungen und das Ausmaß, in dem ein Schüler sie bewältigt, – die Umwelt bzw. Umwelten, d. h., die Lehrpersonen, Mitschüler und Eltern sowie – das Selbstkonzept bzw. Selbstwertgefühl des Schülers aufgrund von vorhandenem Weltwissen, Lebenszielen, Motiven und emotionalen Befindlichkeiten. Zwischen diesen Bereichen entwickeln sich sog. Wirkungskreise: – ein pädagogischer Wirkungskreis, wozu die Methoden und Formen der pädagogischen Vermittlung ebenso gehören wie die Reaktionen v. a. der Lehrkräfte auf sich einstellende oder ausbleibende Lernfortschritte; – ein sozialer Wirkungskreis, wie die Reaktionen der Eltern auf die Lernentwicklung sowie die Interaktionen zwischen Eltern und Kind; – ein innerpsychischer Wirkungskreis, in dem die innerpsychischen Reaktionen der Lernenden auf ihre Lernentwicklung beschrieben werden. Ausbleibende Lernerfolge eines Kindes können dem Modell zufolge sog. „Lawineneffekte“ auslösen: Enttäuschung bei den Eltern (sozialer Wirkungskreis), sowie Negativerwartungen bei den Lehrkräften (pädagogischer Wirkungskreis), wobei anfängliches fürsorgliches Bemühen bei andauernden Misserfolgen umschlagen kann in Zurückweisung und Repression. Lernende, die nicht nur ihr eigenes Zurückbleiben registrieren, sondern auch die Ablehnung und Missbilligung von Personen ihres sozialen Umfeldes, können (innerpsychischer Wirkungskreis) Folgebeeinträchtigungen ausbilden wie z. B. fehlende Erfolgszuversicht, Schul- und Versagensangst oder schwerwiegende Beeinträchtigungen der Lernmotivation. Umfangreiche Lernschwierigkeiten können diesem Modell zufolge nicht allein durch lerngegenstandsbezogene Förderangebote behoben werden. Vielmehr bedarf es einer gleichzeitigen emotionalen Stabilisierung der Lernenden und einer Bearbeitung möglicherweise verhärteter Beziehungsstrukturen zwischen den Eltern, den Lehrkräften und dem Kind.
1.4
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 11
Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen
Lernerfolg und Lernversagen unterliegen nach Zielinski (1996) und anderen Autoren internen, im Lernenden liegenden Bedingungen und externen Bedingungen, die aus der Lernumgebung, z. B. aus der Schule, stammen. Einflüsse des häuslichen und sozialen Umfeldes bezeichnet Zielinski als moderierende Zusatzbedingungen. Bezugnehmend auf Carroll (1973) geht er davon aus, dass Lernerfolg bzw. -versagen abhängig sind „...von drei internen Bedingungen, (1) der Fähigkeit eines Schülers, Instruktionen zu verstehen, (2) der zur Bewältigung einer Aufgabe vom Schüler benötigten Lernzeit und (3) der von ihm konkret aufgewandten Lernzeit sowie zwei externen Bedingungen, ( 4) der ihm vom Lehrer zugestandenen Lernzeit und (5) der Qualität des Unterrichts ...“ (Zielinski, 1996, S. 371). Dieses Modell kann zu der irrigen Vorstellung führen, dass die Qualität schulischer Angebote allein vom Handeln der Lehrkräfte abhängig sei. De facto jedoch wird das Handeln der Lehrkräfte – bei hohem Handlungsspielraum – durch institutionelle Rahmenbedingungen und persönliche Ressourcen determiniert. In Anlehnung an Krumm et al. (1999) sollen die von Carroll und Zielinski benannten externen Bedingungen erweitert werden um die Dimensionen „Orientierung“ sowie „strukturelle Bedingungen und Ressourcen“. Die Bereiche (4) und (5) wären in diesem Modell unter dem Begriff „prozedurale Bedingungen“ subsumiert: – Unter Orientierung werden die Ziele und Einstellungen der handelnden Personen verstanden: im Bereich „Schule“ das pädagogische Selbstverständnis einer Institution, auf das ggf. neue in das Team berufene Mitglieder verpflichtet werden; im Bereich „Familie“ das Erziehungsklima und die Erwartungen der Erziehungspersonen an die Entwicklung der Kinder; bezogen auf die Lernenden die persönlichen Ziele, Werthaltungen und Ansprüche. – Unter strukturellen Bedingungen und Ressourcen sind Einflüsse eher beständiger Natur zu verstehen, etwa die Ressourcen einer Schule (Personalausstattung, zur Verfügung stehende Sachmittel), die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Familie, oder, auf eine Person gewendet, Eigenschaften und Kompetenzen von längerem zeitlichen Bestand. – Prozedurale Bedingungen sind konkrete Aktivitäten und Handlungen, etwa das methodisch-didaktische Unterrichtshandeln der Lehrkräfte, die Erziehungspraktiken der Eltern oder die Mitarbeit eines Kindes in der Schule. Diese Bedingungen stehen miteinander in Wechselwirkung: Strukturelle Bedingungen setzen einen Rahmen, insbesondere auch Grenzen für konkrete Aktivitäten. Innerhalb dieser Grenzen ist das Verhalten der Individuen keineswegs determiniert. So ist zu beobachten, dass sich die Orientierung und die schulischen Aktivitäten bei gleichen Ressourcen von Schule zu Schule erheblich unterscheiden können, wie auch an ein und der selben Schule die Qualität pädagogischer Angebote zwischen den Lehrkräften streuen kann. Die Unterscheidung zwischen prozeduralen und strukturellen Bedingungen ist, bezogen auf den Bereich Schule, von Bedeutung für eventuelle Optimierungsvorhaben. Sofern der Schulerfolg von Lernenden durch strukturelle Bedingungen beeinträchtigt wird, sind schulorganisatorische oder bildungspolitische Veränderungen angezeigt. Schulinterne Organisationsentwicklung etwa oder eine bessere Ausstattung der Bildungssysteme mit per-
| Teil I: Gegenstandsbereich
rne B gun edingen
Inte rn Bed e in gun gen
Bedingungen des Lernerfolgs
Orie n (Lei tierung tbild er Eins tellu , Ziele, nge n) Stru ktur en (Eig e sou n s c h a ft rcen , Or e n , R e gan is a t s Pro io n ) ze Bed durale ingu nge n
sonellen und materiellen Ressourcen. Sind trotz angemessener struktureller Bedingungen die prozeduralen Bedingungen unbefriedigend, etwa die Qualität des Unterrichts oder die Kooperation der Lehrkräfte untereinander, müssen Maßnahmen zur Personal- oder der Teamentwicklung im Vordergrund stehen. Abbildung 2 gibt einen ersten Überblick über das Bedingungsgefüge.
Exte
12
Ressourcen, Eigenschaften, Verhaltensweisen, Kompetenzen der Schülerin/des Schülers
Häusliches, auFamilie, ßerschulisches Gleichaltrige, Umfeld Wohngegend Schule
Lebensraum Schule, Unterricht, Schulisches Umfeld
Abbildung 2: Bedingungen des Lernerfolgs
Die pädagogische und psychologische Forschung hat sich über viele Jahrzehnte nur mit den Risiken beschäftigt, welche die schulische oder die außerschulische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen behindern. Erst in den letzten Jahren wurde die Fachwelt darauf aufmerksam, dass sowohl schützende Eigenschaften der Individuen als auch förderliche Umfeldbedingungen vorhandene Risiken kompensieren und ausbalancieren können (vgl. Opp, Fingerle & Freytag, 1999). Bei einer Diagnose von Lernschwierigkeiten interessiert dann nicht nur, was einen Schüler an einer gedeihlichen Entwicklung hindert, sondern (vgl. Klemenz, 2003) in gleichem Maße, über welche personalen Ressourcen er verfügt bzw. welche Umfeldressourcen vorhanden sind. Die Tabellen 4a bis 4d zeigen, welche Bedingungen erwiesenermaßen oder mutmaßlich zum Erfolg und Versagen beim schulischen Lernen beitragen können, indem sie zwischen Risiken und Schutzfaktoren unterscheiden. Nicht alle Bedingungen sind gleich wichtig: Unter den personalen Bedingungen erhöht vor allem das lernbereichsspezifische Vorwissen die Lernchancen eines Kindes, z. B. bei Schulanfängern das Vorwissen, das sie schon vor Schuleintritt in Bezug auf das Lesen, Schreiben und Rechnen erworben haben (vgl. Helmke, 1997). Unter den schulischen Bedingungen sind es Variablen wie die zugestandene und effizient genutzte Lernzeit. Brophy und Evertson (1980) z. B. fanden,
Orientierung
Überdauernde Merkmale und Eigenschaften
Emotionale und soziale Voraussetzungen – Das Kind ist in der Lerngruppe sozial integriert – Das Kind ist sozial zuversichtlich
Emotionale und soziale Voraussetzungen – Das Kind ist in der Lerngruppe ausgegrenzt bzw. isoliert – Das Kind ist sozial ängstlich
– Der Schüler/die Schülerin zeigt hohes Interesse an dem Lerngegenstand – Der Schüler/die Schülerin verfügt über ein hohes Gütebewusstsein und erledigt die Aufgaben sorgfältig – Der Schüler/die Schülerin ist zuversichtlich, die schulischen Anforderungen bewältigen zu können – Der Schüler/die Schülerin ist vielseitig interessiert
Kognitive Voraussetzungen – Hohes intellektuelles Potenzial – Differenzierte Sprachkompetenz – Bei Migration und mehrsprachiger Erziehung: sichere Beherrschung der deutschen und/oder der Herkunftssprache – Altersadäquate Entwicklung der sprachlichen Funktionen – Das Kind verfügt über umfangreiches Weltwissen – Das Kind verfügt über die Kompetenz, ausdauernd und planvoll zu arbeiten – Das Kind hat im Fach Deutsch die relevanten Lernschritte zureichend und altersadäquat vollzogen – Das Kind hat im Fach Mathematik die relevanten Lernschritte zureichend und altersadäquat vollzogen
Kognitive Voraussetzungen – Geringes intellektuelles Potenzial – Eingeschränkte Sprachkompetenz infolge sozialer Deprivation – Eingeschränkte Sprachkompetenz infolge v. Migration – Sprachstörungen (Dysgrammatismus, gestörte Artikulation) – Geringes Weltwissen – Das Kind verfügt nicht über die Kompetenz, ausdauernd und planvoll zu arbeiten – Das Kind hat im Fach Deutsch relevante Lernschritte nicht oder nicht adäquat vollzogen – Das Kind hat im Fach Mathematik relevante Lernschritte nicht oder nicht adäquat vollzogen
– Der Schüler/die Schülerin zeigt wenig Interesse an dem Lerngegenstand – Der Schüler/die Schülerin verfügt über ein geringes Gütebewusstsein und erledigt die Aufgaben wenig sorgfältig – Das Kind hat Angst, in Leistungssituationen zu versagen – Der Schüler/die Schülerin hat ein eingeschränktes Interessenspektrum
Organische Merkmale – Das Kind ist körperlich fit und altersadäquat entwickelt
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Schutzfaktoren und Ressourcen
Organische Merkmale – Schwerwiegende Beeinträchtigungen des Sehens oder Hörens – Schwerwiegende Beeinträchtigungen der Motorik – Organische nachweisbare neurologische Beeinträchtigungen – Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Risiken
Tabelle 4a: Lernhemmende und lernförderliche Bedingungen – interne, personale Bedingungen
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 13
– Widerwillige bzw. innerlich unbeteiligte Bearbeitung schulischer Anforderungen – Vermeidungsverhalten in der Lernsituation – Planloses Vorgehen n. Versuch und Irrtum – Das Kind ist leicht ablenkbar – Hoher Energieaufwand (Anspannung und Verkrampfung), u. U. infolge fehlender Automatisierung vorangegangener Lernschritte – Der Schüler/die Schülerin fühlt sich in der Lernsituation ängstlich und unbehaglich – Unzureichende Bearbeitung außerschulischer Anforderungen (Hausaufgaben etc.) – Im Allgemeinen erfolglose Aufgabenbewältigung – Motorisch unruhiges Verhalten – Verbales u. anderes Störverhalten – Hyperaktives bzw. hypermotorisches Verhalten – Das Kind neigt zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen – Unterrichts- bzw. Schulvermeidung – Delinquentes Verhalten
– Das Kind ist unter materiell ungünstigen Bedingungen herangewachsen – Das Kind hat in der Vergangenheit keine sichere Bindung erfahren – Das Kind ist in einem anregungsarmen und bildungsfernen Milieu herangewachsen – Das Kind hat keine Vorschuleinrichtung besucht – Das Kind hat nicht an vorschulischen Förderangeboten teilgenommen – Das Kind wurde durch traumatische psychische Ereignisse stark belastet (z. B. Krieg, Trennung, Unfall, Missbrauch) – Das Kind musste sich wegen angeborener oder erworbener Schädigungen häufig oder langandauernd ambulan ter oder stationärer medizinischer Behandlung unterziehen
Prozedurale Bedingungen
Lern- und Lebens geschichte
Tabelle 4a (Fortsetzung)
– Das Kind ist unter materiell günstigen Bedingungen herangewachsen – Das Kind hat in der Vergangenheit eine sichere Bindung erfahren – Das Kind ist in einem anregungsreichen, bildungsnahen und liberalen Milieu herangewachsen – Das Kind hat den Kindergarten besucht – Das Kind hat an vorschulischen Förderangeboten teilgenommen (Bewegungserziehung, musikalische Früherziehung)
– Bereitwillige und interessierte Bearbeitung schulischer Anforderungen – Aktive Mitarbeit – Planvolle und systematische Aufgabenbearbeitung – Konzentrierte Mitarbeit – Zügige und gelöste Aufgabenbearbeitung infolge von Automatisierung vorangegangener Lernschritte – Der Schüler/die Schülerin fühlt sich in der Lernsituation kompetent und selbstwirksam – Zureichende Bearbeitung außerschulischer Anforderungen (Hausaufgaben etc.) – Im Allgemeinen erfolgreiche Aufgabenbewältigung
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| Teil I: Gegenstandsbereich
Ressourcen und strukturelle Bedingungen
Familie – Vollständige Familie – Materielle Sicherheit, regelmäßiges und hinreichendes Arbeitseinkommen – Angesehener Sozialstatus der Erziehungspersonen bzw. der Familie – Berufstätigkeit bei ausreichender zeitlicher Betreuung der Kinder – Ausreichender Wohnraum – Hohes Bildungsniveau der Erziehungspersonen – Anregungsreiches und literales häusliches Milieu, Bücher, Kinderbücher, regelmäßiges Vorlesen – Gute soziale Integriertheit der Familie – Psychisch stabile Erziehungspersonen
Gleichaltrigengruppe – Das Kind ist eingebunden in einen bildungsbewussten und sozial wie intellektuell kompetenten Freundeskreis Wohngegend, weiteres Lebensumfeld – Erreichbare kulturelle Angebote (Bibliotheken, Museen, Sportstätten, Freizeitheime) – Ungefährliche und anregende außerhäusliche Bewegungsräume (Natur, Spielplätze)
Gleichaltrigengruppe – Das Kind hat wenig Kontakte zu Gleichaltrigen – Zugehörigkeit zu Cliquen gefährdeter und wenig bildungsinteressierter Gleichaltriger
Wohngegend, weiteres Lebensumfeld – Kulturelle Angebote sind für das Kind nicht erreichbar – Ungefährliche Bewegungsräume sind für das Kind nicht erreichbar
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Schutzfaktoren und Ressourcen
Familie – Belastung durch Trennung der Erziehungspersonen – Unvollständige Familie – Materielle Unsicherheit – Hohe Kinderzahl bei materieller Unsicherheit – Soziale Randständigkeit der Erziehungspersonen bzw. der Familie – Arbeitslosigkeit der Erziehungspersonen – Hohe zeitliche Belastung der Erziehungspersonen durch Berufstätigkeit – Beengte Wohnverhältnisse – Geringes Bildungsniveau der Erziehungspersonen – Anregungsarmes häusliches Milieu – Soziale Isolierung der Familie – Migrationshintergrund in Verbindung mit bildungsfernem Milieu – Psychische Instabilität von Familienmitgliedern (Sucht, Abhängigkeit, psychische Erkrankungen) – Schwere chronische Erkrankungen von Familienmitgliedern
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Risiken
Tabelle 4b: Lernhemmende und lernförderliche Bedingungen – außerschulische, häusliche Sozialisationsbedingungen
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 15
– Geringe Interaktionsdichte zwischen den Familienmitgliedern – Geringe sprachliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – Überforderung oder Unterforderung – Fehlende Unterstützung des Kindes bei der Bewältigung schulischer Anforderungen – Fehlende emotionale Unterstützung des Kindes bei Schwierigkeiten – Fehlende Kooperation der Erziehungspersonen mit der Schule
Prozedurale Bedingungen
Pathogene Erziehungseinflüsse wie z. B. – Überbehütung – Vernachlässigung und Verwahrlosung – Ablehnung und Zurückweisung – Strafende Erziehung – Inkonsistente Erziehung – Symbiotische Bindung der Kinder – Gewaltanwendung – Missbrauch
– Geringes Bewusstsein der Erziehungspersonen für soziale Werte – Desinteresse der Erziehungspersonen an den eigenen Kindern – Entmutigendes bzw. gleichgültiges Erziehungsklima – Geringes Bildungsinteresse der Erziehungspersonen – Die Erziehungspersonen haben überhöhte Ansprüche an das Kind
Orientierung
Tabelle 4b (Fortsetzung)
– Hohe Interaktionsdichte zwischen den Familienmitgliedern (Spiele, gemeinsame Unternehmungen) – Intensive sprachliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – gelungene Balance aus Fördern und Fordern – aktive Unterstützung des Kindes bei der Bewältigung schulischer Anforderungen – emotionale Unterstützung des Kindes bei Schwierigkeiten – aktive Kooperation der Erziehungspersonen mit der Schule – Unterstützung des Kindes durch bezahlte Nachhilfe – Die Eltern ermöglichen und ermutigen zur Pflege differenzierter Interessen (Musik, Sport)
– Hohes Bewusstsein der Erziehungspersonen für soziale Werte – Hohes Interesse der Erziehungspersonen an einer gedeihlichen Entwicklung der Kinder – Ermutigendes Erziehungsklima – Respektvolle und liebevolle Grundeinstellung – Hohes Bildungsinteresse der Erziehungspersonen
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| Teil I: Gegenstandsbereich
Strukturellorganisatorische Bedingungen
Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Einrichtung – Zweckmäßiges Raumangebot – Ausreichende und funktionelle Außenanlagen – Guter baulicher Erhaltungszustand – Ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung – Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Spiele, Werkstoffe, didaktische Materialien) Personelle Ressourcen – Ausreichende Zahl besetzter Stellen – Überschaubare Gruppengrößen – Für die pädagogischen Aufgaben hinreichend qualifiziertes Personal – Kontinuierliche Personalentwicklung – Vorhandensein und Inanspruchnahme außerinstitutioneller Unterstützungssysteme Pädagogische Angebote, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben – Feststehende Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Kinder (z. B. Sprachförderung, Förderung von Sozialkompetenz) – Familienergänzende Angebote (Mahlzeiten, Körperpflege) – Ganztagsbetreuung
Personelle Ressourcen – Personelle Unterversorgung – Hohe Gruppenfrequenzen – Für die pädagogischen Aufgaben nicht hinreichend qualifiziertes Personal (z. B. fachfremder Unterricht)
Pädagogische Angebote, Arbeits- und Organisations strukturen – Unzeitgemäße und wenig kindgerechte pädagogische Konzepte und Angebote – Unzureichende Abstimmung und Kooperation – Fehlender pädagogischer Konsens – Fehlende bzw. unzulängliche Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Kinder
Schutzfaktoren und Ressourcen
Bau, Gelände und Ausstattung – Unfreundliche bauliche Gestaltung der Einrichtung – Nichtfunktionelles Raumangebot – Unzureichende Außenanlagen – Schlechter Erhaltungszustand, Spuren v. Wandalismus – Verbrauchte bzw. dürftige Einrichtung und Raumausstattung – Unzureichende bzw. veraltete Ausstattung mit pädagogischen Arbeitsmitteln
Entwicklungsrisiken
Tabelle 4c: Lernhemmende und lernförderliche institutionelle Bedingungen – Elementarbereich
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 17
Gemeinschaftsleben – Kooperatives und konstruktives Beziehungsverhältnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Entwickeln und kontinuierliches Weiterentwickeln pädagogischer Konzepte – Aktives Zugehen auf Eltern, intensive Elternarbeit – Öffnung der Einrichtung zum Stadtteil, Austausch mit Bibliotheken, Kultureinrichtungen etc. – Personalentwicklung, Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Organisationsentwicklung zur planvollen Realisierung von Konzepten – regelmäßige Abstimmung und Kooperation – Bemühen um einen pädagogischen Konsens Pädagogische Ebene – Geplante, anregende, intellektuell wie emotional/sozial förderliche pädagogische Angebote – relevante und lebensnahe Themen und Inhalte – Kindgerechte Anbahnung von Welt- und Kulturwissen
Gemeinschaftsleben – Angespanntes und wenig konstruktives Beziehungsverhältnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Pädagogische Ebene – Inhaltliche Beliebigkeit und Zufälligkeit der pädagogischen Angebote
Prozedurale Bedingungen
– Positive Erwartungen bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden – Bemühen um Balance aus Fordern und Fördern – Bemühen um Gestaltung der Institution als Lebensraum und Lernumgebung – Respektierende Grundhaltung gegenüber Kindern und Eltern
– Negativerwartungen des Personals bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden – Geringe Wertschätzung der Kinder und ihrer Familien
Kinder – Wiederkehrend motivierte und interessierte Kinder
Orientierung
Kinder – Wiederkehrend hoher Anteil von Kindern aus belasteten Familien – Hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bei gleichzeitiger Bildungsferne – Hoher Anteil von Kindern aus bildungsfernen Familien
Tabelle 4c (Fortsetzung)
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| Teil I: Gegenstandsbereich
Strukturellorganisatorische Bedingungen
Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Wenig kind- und altersgerechte pädagogische Angebote – Unterrichtliche Formalangebote mit wenig Lebensweltbezug – Einseitig kognitiv ausgerichtete Unterrichtsangebote – Fehlende Binnendifferenzierung – Unzureichende Abstimmung und Kooperation – Fehlender pädagogischer Konsens – Fehlende bzw. unzulängliche Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Lernende
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Risiken
Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben – Training von Lifeskills, Sozialverhalten und Kommunikationskompetenz – Binnendifferenzierender Unterricht, Bemühen um größtmögliche Passung der Angebote – Anforderungsfreie Begegnungsmöglichkeiten (Arbeitsgemeinschaften, Freizeiten) – Ganztagsunterricht – Regelmäßige Abstimmung und Kooperation – Bemühen um einen pädagogischen Konsens – Präventions- und Förderangebote für lern- und entwicklungsgefährdete Kinder
Allgemeine, lernbereichsübergreifende Schutzfaktoren und Ressourcen
Interinstitutionelle Kooperation – Enge Kooperation mit Jugendhilfe, Beratungsdiensten, Stadtteilinitiativen, Kulturvereinen etc. – Initiieren von bzw. Zusammenarbeit mit Initiativen zur Stärkung elterlicher Bildungs- und Erziehungskompetenz, z. B. „family-literacy“-Programmen, HIPPY oder OPSTAPJE – Enge Kooperation mit den aufnehmenden Grundschulen, Harmonisieren der pädagogischen Konzepte, Realisieren von Projekten zum Erleichtern des Übergangs
– Präliterale und pränumerische Angebote, „Lesepaten“ – Training von Lifeskills und Sozialverhalten – Gezielte Förderung von Kindern mit Entwicklungsrückständen (z. B. Sprachförderung)
Tabelle 4d: Lernhemmende und lernförderliche institutionelle Bedingungen – Schule
Interinstitutionelle Kooperation
Tabelle 4c (Fortsetzung)
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 19
Orientierung
Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung – Hinreichend umfangreiche Stundentafel – Ausreichende Zahl von Planstellen – Ausreichende Zahl besetzter Stellen – Krankheits- und Vertretungsreserven – Doppelbesetzung in schwierigen Lerngruppen – Überschaubare Klassenfrequenzen – Für die Unterrichtsaufgaben hinreichend qualifiziertes Personal – Kontinuierliche Personalentwicklung – Nichtunterrichtendes pädagogisches Personal (z. B. Schulsozialarbeiter) Kinder – Wiederkehrend motivierte und bildungsinteressierte Schülerschaft
Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Schule – Zweckmäßiges Raumangebot – Ausreichendes und funktionelles Pausengelände – Guter baulicher Erhaltungszustand – Ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung – Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Bibliothek, PC, Werkstoffe, didaktische Materialien) – Heterogenitätsorientierung – Kinder eines Jahrgangs unterscheiden sich und sollen daher unterschiedliche Angebote erhalten; Vielfalt wird als Ressource angesehen. – Positive Erwartungen bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden
Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung – Die Stundentafel ist für die zu vermittelnden Inhalte zu knapp bemessen – Personelle Unterversorgung – Häufiger Unterrichtsausfall – Hohe Klassenfrequenzen – Für die Unterrichtsaufgaben nicht hinreichend qualifiziertes Personal (z. B. fachfremder Unterricht)
Kinder – Wiederkehrend hoher Anteil von Lernenden aus belasteten Familien – Schülerinnen und Schüler aus verfeindeten ethnischen Gruppen – Wiederkehrend demotivierte und bildungsferne Schülerschaft
Bau, Gelände und Ausstattung – Unfreundliche bauliche Gestaltung der Schule – Nichtfunktionelles Raumangebot – Unzureichendes Pausengelände – Schlechter Erhaltungszustand, Spuren v. Wandalismus – Verbrauchte bzw. dürftige Einrichtung und Raumausstattung – Unzureichende bzw. veraltete Ausstattung mit pädagogischen Arbeitsmitteln
– Homogenitätsorientierung – alle Schüler eines Jahrgangs sollen gleiche Lernvoraussetzungen haben, was ggf. durch Zurückstellung oder Ausschluss herzustellen ist. Vielfalt wird als Störfaktor erlebt – Negativerwartungen bezüglich der Entwicklungschancen von Lernenden
Tabelle 4d (Fortsetzung)
20
| Teil I: Gegenstandsbereich
Prozedurale Bedingungen
Unterrichtliche Ebene – Binnendifferenzierender Unterricht, Berücksichtigung individuell unterschiedlicher Lernvoraussetzungen – Anregungsreicher Unterricht, relevante und lebensnahe Themen und Inhalte – Prozessbegleitende Diagnosen der Lernentwicklung und Passung der schulischen Anforderungen an die individuellen Lernvoraussetzungen – Individuelle Entwicklungspläne für lernende mit besonderen Bedarfen – Gründliche Automatisierung und Verfestigung des Lernstoffs – Emotional und fachlich unterstützendes Lehrerverhalten – Kooperativer Umgang der Lernenden miteinander – Regelung der Arbeitsbeziehungen mit Schülern durch Zielvereinbarung – Transparente und faire Leistungsbewertung, z. B. durch Portfolios
Unterrichtliche Ebene – Gleichschrittiges Lernen, fehlende Binnendifferenzierung – Inhaltlich wenig ansprechender Unterricht – Methodisch wenig ansprechender Unterricht – Unzureichende Automatisierung und Verfestigung des Lernstoffs – Ablehnendes und demütigendes Lehrerverhalten, gestörte Schüler- Lehrer- Beziehung – Hohes Maß an Spannungen und Rivalität zwischen den Schülern – Mobbing und Ausgrenzung Einzelner – Intransparente und u. U. unfaire Leistungsbewertung
– Förderorientierung, kein Kind soll zurückgelassen werden – Bemühen um Balance aus Fordern und Fördern – Bemühen um Gestaltung von Schule als Lebensraum und Lernumgebung – Respektierende Grundhaltung gegenüber Schülern und Eltern – Ermutigungskultur Schulleben – Entwickeln und kontinuierliches Weiterentwickeln eines Schulprofils – Aktives Zugehen auf Eltern, intensive Elternarbeit – Schützende Begleitung der Schüler, z. B. durch Pausenangebote, Anti-Gewalt-Programme – Öffnung der Schule zum Stadtteil
Starke Selektionsorientierung Hoher Leistungsdruck Geringe Wertschätzung der Lernenden Demütigungskultur
Schulleben
– – – –
Tabelle 4d (Fortsetzung)
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 21
22
| Teil I: Gegenstandsbereich dass die Schüler dann die größten Lernerfolge aufwiesen, wenn ein maximaler Anteil der Unterrichtsstunde für die Unterrichtung genutzt wurde. In Kapitel 15 in diesem Band werden, bezugnehmend auf die Untersuchung von Rutter u. a. (1980), weitere schulische Bedingungen von Lernerfolg und Lernschwierigkeiten beschrieben. Kennzeichnend für die Lebensbedingungen von SPF-L-Schülern sind (vgl. Begemann, 1970; Klein, 1985; Thimm und Funke, 1977; zusammenfassend auch Schröder, 2000) folgende Bedingungen: geringes Familieneinkommen, Leben von Sozialhilfe, geringer Bildungsstandard der Eltern, hohe Kinderzahl, unvollständige Familiensituation, sowie ein Migrationshintergrund, wobei nicht selten mehrere Risiken gemeinsam auftreten. Empirische Untersuchungen zu den Lebensbedingungen der Lernenden sind größtenteils älteren Datums, weil die Möglichkeiten der Erhebung personbezogener Daten durch die geltenden Datenschutzbestimmungen erheblich eingeschränkt sind. Allerdings haben (s.u.) in jüngster Zeit v.a. die PISA-Studien (Deutsches PISA-Konsortium, 2001; PISAKonsortium Deutschland, 2004) erneut auf die im deutschen Bildungssystem bestehenden hohen Zusammenhänge zwischen dem Bildungserfolg und der sozialen Herkunft der Lernenden aufmerksam gemacht. Lernerfolg und Lernversagen sind mit dem sozialen Status hoch korreliert. So finden sich die Kinder, die nicht über die erste Lesestufe hinauskommen, vorwiegend in den untersten sozialen Statusgruppen „III-Routinedienstleistungen“, „V-VI-Facharbeiter“ und „VIII-An- und ungelernte Arbeiter“ (Artelt et al., 2001, S. 37). Migrationshintergründe sind ein weiterer Prädiktor für ungünstige, durch schulische Mittel bisher nicht kompensierbare Lernverläufe: Von 10–14 % der 15-Jährigen, welche in der PISA-Studie die erste Kompetenzstufe der Lesekopmpetenz nicht erreichen, haben fast die Hälfte der Kinder einen Migrationshintergrund. Die Hälfte von ihnen ist in Deutschland geboren und hier wenigstens sieben Jahre zur Schule gegangen (Baumert & Schümer, 2001, S. 323 f.). Bedeutsam ist in dem Zusammenhang, dass es den Bildungssystemen anderer Länder offenbar besser als dem deutschen gelingt, sozialisations- oder Obere Dienstklasse (I) Untere Dienstklasse (II) Routinedienstleistungen (III) Selbstständige (IV) Facharbeiter (V, VI) Un- und angelernte Arbeiter (VII) 200
300
Kompetenzstufe
400 I
II
500 III
600 IV
700
800
V
Perzentile 5 %10 % 25 %
75 %
90 % 95 %
Mittelwert und Konfidenzintervall (± 2 SE)
Abbildung 3: Verteilung der Lesekompetenz innerhalb der Sozialschichten (Baumert & Schümer, 2002, S. 362)
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 23
migrationsbedingte Nachteile auszugleichen, d. h. den Lernenden zu einer erfolgreichen schulischen Lernentwicklung zu verhelfen. Darüber hinaus weisen die Autoren darauf hin, dass ein Migrationshintergrund erst dann zum Entwicklungsrisiko wird, wenn die Migration einher geht mit Armut und Bildungsferne. Erfolgreiche Lernentwicklungen sind (vgl. Bronfenbrenner, 1974, 1977, 1981) in der Regel Folgen eines Bündels günstiger Bedingungen; Negativentwicklungen sind in der Regel Auswirkungen eines Bündels ungünstiger Einflüsse und Voraussetzungen. Störungen sind zu erwarten, wenn Menge und Gewicht von Risiken die Menge und das Gewicht der Ressourcen bzw. Unterstützungspotenziale übersteigen. Eine Verringerung von Störungen ist zu erwarten, wenn es gelingt, Kompetenzen und Ressourcen der Person zu stärken, Risiken im Umfeld zu minimieren und Schutzfaktoren im Umfeld zu maximieren. Ergänzend sei erwähnt, dass bei der Suche nach den Bedingungen von Schulerfolg und Schulversagen eine Betrachtung zu kurz greift, die sich ausschließlich auf das Schulalter der Lernenden beschränkt. In der European Child Care and Education Study (Krumm et al., 1999) wurde für Deutschland, Österreich und Spanien die Entwicklung von Kindern vom vierten bis zum achten Lebensjahr untersucht. Die Ergebnisse zeigen, wie sich die individuellen Merkmale der Kinder sowie die Umfeldbedingungen im Alter von vier Jahren auf die Schulleistungen im achten Lebensjahr auswirken. Darüber hinaus wurden die Qualität des Unterrichts und die häuslichen Lebensbedingungen der Kinder untersucht. Etwa die Hälfte der Leistungsunterschiede am Ende der zweiten (in Deutschland und Österreich) bzw. der dritten Klasse (in Spanien) konnten durch die Untersuchungsvariablen aufgeklärt werden. Bezogen auf die aufgeklärte Varianz konnten drei Viertel der Leistungsunterschiede durch die Erhebungen im vierten Lebensjahr vorhergesagt werden. Lediglich ein Viertel der aufgeklärten Varianz war auf Indikatoren zur Qualität der schulischen Angebote bzw. der häusliche Lebensbedingungen im Alter von acht Jahren zurückzuführen. Für das Vorschul- wie für das Schulalter gilt, dass die häuslichen Lebensbedingungen etwa doppelt so großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben wie die Qualität der institutionellen (vor)schulischen Angebote. Den Einfluss der vorschulischen Entwicklung auf die schulische Leistungsentwicklung und damit auch potenzielles Schulversagen belegen u. a. auch die von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung durchgeführten Studien LOGIK und SCHOLASTIK (Weinert & Helmke, 1997). In diesen Untersuchungen wurde die Entwicklung von ca. 220 Kindern vom Ende der Kindergartenzeit bis zur fünften Klasse verfolgt. Demnach bleiben die Leistungsunterschiede der Lernenden über alle Schuljahre nahezu konstant: Bei einem Teil der anfänglichen Spitzenschüler sinken die Leistungen zwar auf ein niedrigeres Niveau, es liegt jedoch weiterhin über dem Durchschnitt. Bei einem Teil der anfänglich durchschnittlichen Lernenden steigen die Leistungen auf ein leicht überdurchschnittliches Niveau an. Schülerinnen und Schüler mit niedrigen Leistungen zu Beginn der Grundschulzeit hingegen behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei; Schwächeren gelingt es offenbar nicht, ihre Leistungsdefizite während der Grundschulzeit zu kompensieren (vgl. Helmke, 1997). Eine Übersicht über lernförderliche und lernhemmende institutionelle Bedingungen im Elementarbereich gibt Tabelle 4c.
24
| Teil I: Gegenstandsbereich
1.5
Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der Aneignungstätigkeit
Unter Lernen ist im Sinne der Aneignungstheorie (vgl. Galperin, 1974; Leont’ev, 1977; Lompscher et al., 1972; 1985) eine Tätigkeit zu verstehen, die geeignet ist, die geistigen Modelle zu verändern, die eine Person von sich selbst und ihrer Umwelt hat und die Veränderungen in der Umwelt herbeiführen. Lernen ist damit kein auf das Individuum beschränktes Ereignis, sondern ein transaktionaler Prozess. Lernen ist darüber hinaus ein Vorgang mit einer zeitlichen Dimension. Von der Annäherung an eine Aufgabe bis zu ihrer Beendigung lassen sich – bezugnehmend auf Autoren wie Meichenbaum (1979), Lauth (1983) und die o. a. Vertreter der Aneignungstheorie – mehrere Teiloperationen des Lernens beschreiben. Der gesamte Lernerfolg leidet, wenn wichtige Teiloperationen ausgelassen oder unzweckmäßig ausgeführt werden. Tabelle 5 beschreibt die wichtigsten Teiloperationen und Störungen des Lernprozesses, wobei grundsätzlich vorausgesetzt werden muss, dass die Aufgabe oder Anforderung der Lernausgangslage eines Kindes angepasst ist. Lerntätigkeiten haben offene und verdeckte Anteile. Der offene Anteil beim Lösen einer Rechenaufgabe besteht z. B. darin, dass das Kind Zahlen auf Papier schreibt; der verdeckte Anteil besteht in der gedanklichen Lösungsoperation: „43 und 12 – was muss ich tun? Ich addiere zuerst die Zehner, 40 und 10 ergibt 50. Jetzt addiere ich die Einer: 3 und 2 ergibt 5. 50 und 5 ergibt 55.“ Der verdeckte Anteil – die gedankliche Steuerung der Lösungsoperation – ist der entscheidende. Es sind zwei Arten gedanklicher Selbststeuerung zu unterscheiden: eine problemlösende Steuerung, wenn etwa bei einer Physikaufgabe der Tabelle 5: Teilhandlungen und Störungen des Lernablaufs Teilhandlungen der Aneignungstätigkeit
Störungen, unzweckmäßige Teilhandlungen
Sich interessieren für die Aufgabe: Das Kind entwickelt für sich ein (mehr oder weniger starkes) Bedürfnis, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, sei es aus Interesse oder sekundärer Motivation (z. B. aus Hoffnung auf Anerkennung oder um Missbilligung zu entgehen).
Desinteresse und fehlende Sekundärmotivation: Wenn ein Kind an dem Lerngegenstand kein Interesse zeigt und ihm auch Sanktionen (Anerkennung, Missbilligung) gleichgültig sind, nimmt es die Lernaktivität vermutlich gar nicht erst auf.
Kompetenzeinschätzung: Das Kind schätzt ab, ob es die Aufgabe bewältigen kann. Es wird tätig, wenn es glaubt, die Aufgabe bewältigen zu können.
Unrealistische Erfolgserwartung: Das Kind schätzt seine Leistungsfähigkeit zu hoch oder zu niedrig ein; – zu hoch: Es glaubt, die Aufgaben zu bewältigen ohne sich anstrengen zu müssen, verwendet nicht genügend Energie und versagt. – zu niedrig: Das Kind schätzt seine Fertigkeiten geringer ein als sie in Wirklichkeit sind. Es entwickelt Versagensängste; es verweigert die Ausführung („Ich kann das nicht“) oder reagiert hilflos.
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 25
Tabelle 5 (Fortsetzung) Erhöhen der Aufmerksamkeit, Aktivierung: Das Kind focussiert seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand seiner Tätigkeit. Es schottet sich von anderen Reizen ab. Es können auch physiologische Aktivierungsprozesse eintreten. Günstig für das Lernen ist ein „mittleres Maß“ an körperlich-geistiger Erregung, ein Zustand der Wachheit und der Leistungsbereitschaft.
Apathie und Übererregung: Zu hohe und zu niedrige Erregung können den Lernerfolg gefährden: – Müdigkeit und Überbeanspruchung können zu einem Absinken der Leistungsbereitschaft unter das für das Lernen notwendige Niveau führen; – Übererregung kann zu Angstzuständen und Lernblockaden führen, insbesondere dann, wenn ein Kind das Lernziel erreichen will (oder glaubt, es erreichen zu müssen), aber daran zweifelt, das Ziel auch erreichen zu können.
Orientierung auf den Lerngegenstand: Suche und Kenntnisnahme von Informationen, die für die Lösung einer Aufgabe notwendig und hilfreich sind.
Fehlende oder unzulängliche Orientierung: Das Kind achtet nur flüchtig auf die Arbeitsanweisungen, setzt sich mit Materialien, Arbeitsblättern usw. nur oberflächlich auseinander. Es übersieht oder missachtet wichtige Informationen und scheitert deshalb bei der Bewältigung der Aufgabe.
Planung des Lernhandelns: gedankliche Strukturierung der Lernaufgabe, Zeiteinteilung, vorwegnehmendes Durchspielen von Lösungsmöglichkeiten.
Fehlende Planung, unsystematisches Vorgehen: Statt über Lösungswege nachzudenken, verfährt das Kind nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ und gelangt gar nicht oder oft nur auf sehr umständliche Art zu einer Lösung.
Ausführung: Erledigung der Anforderungen bis zur Beendigung der Aufgabe (ggf. unter mentaler Speicherung von Zwischenergebnissen).
Unangemessene Unterbrechungen, vorzeitiger Abbruch: Das Kind ist ablenkbar, es wendet sich während der Aufgabenbearbeitung anderen Aktivitäten zu oder es gibt auf, sobald sich Schwierigkeiten einstellen.
Verlaufs- und Erfolgskontrolle: Überprüfung, ob Lösungsansätze bzw. die Lösungen richtig sind.
Fehlende oder unkritische Verlaufs- und Endkontrolle, unzureichende Auseinandersetzung mit dem eigenen Arbeitsergebnis: Das Kind handelt, ohne sich zu vergewissern, ob sein Lösungsweg richtig ist; es korrigiert falsche Strategien nicht bzw. überprüft das Arbeitsergebnis nicht.
Abschließende Bewertung und Deutung des Ausmaßes und der Ursachen von Erfolg und Misserfolg.
Unrealistische Ergebnisbewertung ( Attribuierung): Das Kind deutet das Ausmaß und die Ursachen für Erfolg und Versagen unrealistisch, wobei besonders bedenklich ist, wenn ein Kind mit seinen Leistungen ewig unzufrieden ist, Misserfolge auf seine eigene Unzulänglichkeit zurückführt („ich bin eben doof“) oder – wegen eines Misserfolgs – bei einer Aufgabe glaubt, mit dem Problem überhaupt nicht zurechtzukommen, oder womöglich „gar nichts“ zu können. Derartige Bewertungsmechanismen hemmen Kinder in künftigen Lernsituationen.
26
| Teil I: Gegenstandsbereich Lösungsweg gesucht wird, und eine gefühls- und verhaltensregulierende Selbststeuerung, wenn in kritischen Situationen günstige Selbstgespräche das Handeln begleiten. Erworben werden derartige Prozesse über das Medium Sprache. Das Kleinkind spricht zunächst zu sich selbst. Dieses äußere Sprechen geht zunächst in inneres Sprechen und von dem inneren Sprechen in einen fast automatisiert und unbewusst ablaufenden Prozess über, der in der Regel nur selten bemerkt wird. In kritischen Situationen kann es vorkommen, dass auch Erwachsene laut mit sich selbst sprechen wie „Ruhe bewahren“, „Genau hinsehen“, „Jetzt keinen Fehler machen“. Affektives Verhalten oder auch Konzentration kann durch verbale Selbstkommunikationen, durch gefühls- und verhaltensregulierende Selbstinstruktionen gesteuert werden.
1.5.1
Systematisches Training zweckmäßiger Lernstrategien
Auf Meichenbaum und Goodman (1969), Wagner (1976), Lauth (1983) sowie Lauth und Schlottke (1993) gehen Vorschläge zurück, kognitiv impulsive Kinder durch Selbstin struktionstraining bzw. durch kognitives Modellieren zu veranlassen, bedächtig und systematisch zu arbeiten. Eine Modellperson löst vor den Augen eines Kindes eine Aufgabe, instruiert sich dabei laufend selbst durch Äußerungen wie „Ich lasse mir Zeit“, „Ich sehe mir alles genau an“. Schulische Lernarrangements sind oft geeignet, den eher ungünstigen impulsiven als den günstigen reflexiven Arbeitsstil zu fördern: durch Lernbedingungen wie Wettbewerbssituationen, Zeitdruck, vorschnelles Fortschreiten im Lernprozess oder fragend-erarbeitender Unterricht bei unzureichender Wissensbasis werden insbesondere kognitiv impulsive Kinder verunsichert. Derartige Unterrichtssituationen verleiten dazu, überhastet zu operieren, mit Ergebnissen „herauszuplatzen“, zu raten – denn welches Kind will immer das letzte sein, wenn Ergebnisse abgefragt werden. Selbstinstruktionstraining und kognitives Modellieren basieren auf mehreren Prämissen: – Ein großer Teil unseres Verhaltensrepertoires wird durch Beobachtungslernen (Lernen am Modell) erworben. Verhalten hat sichtbare und verdeckte Anteile: Die verdeckten Anteile sind die gedanklichen Steuerungsprozesse, die zunächst in Form inneren Sprechens, später immer mehr automatisiert ablaufen. – Dem Beobachter sind beim Beobachtungslernen nur die äußeren, sichtbaren Komponenten des Verhaltens zugänglich. Daher bedient man sich beim Kognitiven Modellieren eines Kunstgriffs, indem laut formuliert wird, was sonst nur im Bewusstsein verborgen abläuft: Kognitionen, Denkprozesse und Vorgänge inneren Sprechens, die sichtbares Handeln steuern. Eine weitere Möglichkeit des kognitiven Modellierens besteht darin, dass in die Demonstration des Lösungsweges zusätzlich zu den problemlösenden Selbstinstruktionen verhaltensregulierende Selbstinstruktionen eingefügt werden können. Während die Modellperson die Aufgabe ausführt und durch „lautes Denken“ begleitet, gibt sie sich gleichzeitig verhaltenssteuernde Anweisungen (s. Tab. 5). An dieser Stelle lässt sich u. a.
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zeigen, inwiefern sich bloße Nachhilfe von einer reflektierten Förderung unterscheiden kann: Bei einer Nachhilfe werden ausschließlich Lösungswege demonstriert. Förderlehrer dagegen sollten in der Lage sein, auch das Orientierungshandeln, die emotionale Steuerung, das planmäßige Vorgehen zu schulen. Wenn Kinder unkonzentriert oder entmutigt sind, kann es erforderlich sein, das kognitive Modellieren in mehreren Schritten zu organisieren (vgl. Kretschmann & Dobrindt, 2003): 1. Die Modellperson demonstriert den Lösungsweg einer Aufgabe. Die üblicherweise verdeckt als Denken ablaufenden kognitiven Prozesse werden beobachtbar gemacht, indem die Modellperson ihre Denkoperation bei der Aufgabenlösung laut ausspricht. Gleichzeitig gibt sie sich verhaltensregulierende Selbstinstruktionen, sich Zeit zu lassen, genau hinzusehen, ruhig zu bleiben. 2. Auf der zweiten Stufe führt das Kind die Handlung aus; es folgt dabei den sprachlichen Anweisungen des Trainers. 3. Im dritten Schritt führt das Kind die Handlung aus und gibt sich selbst die verbalen Instruktionen. 4. Im vierten Schritt führt das Kind die Handlung aus und gibt sich die Anweisung flüsternd, bis es 5. sich nur noch verdeckte Anweisungen gibt, d. h., sein Verhalten durch Denken steuert. Ergänzend sei bemerkt, dass es sich um eine idealtypische Beschreibung des Vorgehens handelt. In der Praxis kann es erforderlich sein, die Schrittfolge abzuwandeln. So können z. B. gelegentlich Teilschritte ausgelassen oder übersprungen werden. Wichtig ist, dass der Modellierungsprozess als ein lebendiger Dialog zwischen der Lehrerin und dem Kind gestaltet wird und nicht als ein starres Ritual. Tabelle 6: Schritte und Intentionen beim Kognitiven Modellieren Schritte bei der Modellierung (diese Schritte führt erst die Modellperson aus, dann das Kind.)
Intention
„Was muss ich tun?“
Präzisierung der Aufgabenstellung
„Ich muss feststellen, welche von beiden Mengen größer ist.“
Orientierung auf die Aufgabe
„Ich bin ganz ruhig. Ich sehe mir alles genau an.“
Emotionale Steuerung, Gefühlsregulierung und Polung der Aufmerksamkeit
„Ich verbinde immer Elemente mit Strichen und sehe nach, bei welcher Menge Elemente übrig bleiben.“
Demonstration des Lösungswegs
„Ich sehe nach, ob ich alles richtig gemacht habe.“
Kontrollhandeln
„Das habe ich geschafft, weil ich mir Zeit gelassen habe.“
Anleitung zu angemessener Attribuierung bzw. Selbstverstärkung
28
| Teil I: Gegenstandsbereich 1.5.2
Möglichkeiten und Grenzen des Selbstinstruktionstrainings
Bei Kindern, die – etwa bei mathematischen Aufgaben aufgrund mangelnder mathematischer Grundfertigkeiten – nicht über geeignete Lösungswege verfügen, sind die auf genaues Hinsehen und bedächtiges Arbeiten abzielenden Selbstinstruktionstrainings nicht ausreichend: Die gestellten Anforderungen sind an die Lernausgangslagen der Kinder anzupassen und fehlende Lösungsstrategien sind durch zu vermittelnde Lösungswege zu ersetzen. Es kann darüber hinaus erforderlich sein, diese Schüler durch faszinierende, gebrauchs- und erlebnisorientierte Angebote für den Lerngegenstand zu motivieren. Selbstinstruktionstrainings müssen schulische Lerninhalte enthalten, um die gewünschten Erfolge sichern zu können, wie z. B. eine Untersuchung von Scheerer-Neumann (1979, S. 75) zeigt: „In einer unveröffentlichten Untersuchung haben Studenten meiner Forschungsgruppe ... den Transfer eines Reflexivitätstrainings auf die Rechtschreibleistung von Legasthenikern zu Beginn des dritten Schuljahrs untersucht: nach einem sechswöchigen (12 Sitzungen) Training, in dem an Hand von Aufgaben, die analog zu den Untertests des BT 2-3 konzipiert waren, Lösungsstrategien mit Hilfe der verbalen Selbstinstruktion vermittelt und geübt wurden, war im DRT 2 noch nicht einmal tendenziell ein Leistungsanstieg festzustellen: die nicht-trainierte Kontrollgruppe erreichte im DRT-2-Nachtest sogar einen minimal höheren Wert. Nach einem sich anschließenden neunwöchigen spezifischen Rechtschreibtraining (18 Sitzungen), in dem ebenfalls mit der Methode der verbalen Selbstinstruktion ... gearbeitet wurde, erzielte die Experimentalgruppe im DRT 2 dagegen signifikant bessere Werte als die untrainierte Kontrollgruppe.“ Auf geringe Transferwirkungen weist auch Döpfner (1995) nach einer Sichtung einschlägiger empirischer Untersuchungen hin. In der Regel verbessern sich bei den Kindern nur die trainierten Fertigkeiten. Die Effektivität eines Selbstinstruktionstrainings ist von bestimmten Bedingungen abhängig (vgl. Meichenbaum, 1979): Die Methode ist vor allem bei jüngeren Kindern wirksam, bei älteren kann sie störend wirken. Es ist wichtig, dass die Kinder selbst verbalisieren, zumindest in der Anfangsphase. Selbstinstruktion hilft nur bei innerer Beteiligung; mechanisches Dahersagen bleibt wirkungslos, und die Steuerungswirkung ist umso größer, je aufgabenspezifischer die Selbstinstruktionen ausgerichtet sind. Ein Aufmerksamkeitstraining führt erst dann zu einer Verbesserung, wenn ein Kind über ausreichende Fertigkeiten auf dem Gebiet verfügt. Unumgänglich ist bei allen Versuchen einer systematischen Schulung der Aneignungstätigkeit eine sorgfältige Passung der Angebote und Anforderungen an die Lernausgangslage der Kinder, denn es wäre äußerst kontraproduktiv, wenn die Lernenden sich auch bei den Modellierungsangeboten kognitiv überfordert fühlen müssten. 1.5.3
Unterrichtspraktische Vorschläge
Neben gezielten Förder- und Trainingsangeboten sind informelle Maßnahmen im Unterricht v.a. bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern geeignet, Lernstörungen vorzubeugen:
Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 29
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häufigen Blickkontakt herstellen; freundliche und behutsame Extraaufforderungen vorab erteilen: „Denis, hör bitte jetzt gut zu!“; sich nach erfolgter Instruktion zu vergewissern, ob die Information auch bei dem Kind angekommen ist: „Denis, kannst du bitte noch einmal wiederholen, was du machen sollst?“; im Vorbeigehen an den Auftrag erinnern; sich den aktuellen Arbeitsstand (bei der Frei- oder Stillarbeit) berichten lassen; Erleichterung anbieten, wenn das Kind nicht mehr sitzen kann (einmal um den Schulhof laufen), eine andere Aktivität anbieten, wenn das Kind mit der gegenwärtigen überfordert ist; ermutigen, wenn das Kind resigniert.
Zu den unterstützenden Maßnahmen gehört auch, die Kinder vor ablenkenden Reizen zu behüten, etwa durch – Wegsetzen von ablenkenden Kindern (ggf. einzeln setzen); – abgeschirmte Arbeitsplätze anbieten, in die die Kinder sich bei Bedarf zurückziehen können; – transparente und verbindliche „Drankommensregeln“ einführen: Die Kinder heften Namenklammern an einen nummerierten Pappstreifen, wenn sie Hilfe benötigen. Die Lehrerin arbeitet diese Aufforderungen in der gegebenen Reihenfolge ab. Es muss dann kein Kind drängeln oder heftig auf sich aufmerksam machen, aus Sorge übersehen zu werden; – geräuscharm operieren: Instruktionen, Tätigkeitswechsel werden mit Signalkarten angekündigt; – bei Einzelaufforderungen zu Kindern hingehen und sich leise mit ihnen unterhalten; quer über die Klasse gerufene Aufforderungen lenken alle die Kinder ab, die nicht betroffen sind. Darüber hinaus kann die Aufnahmebereitschaft der Kinder gefördert werden durch Sammlungs-, Aktivierungs- und Entspannungsübungen je nachdem, ob die Lerngruppe überaktiviert ist oder nach langen Stillarbeitsphasen eines anregenden Impulses bedarf.
1.6
Prävention vor Intervention
Es wäre alles andere als konsequent, sich die Risiken bzw. Schutzfaktoren schulischer Lernentwicklung zu vergegenwärtigen und am Ende doch eine ausschließlich person bezogene Diagnostik und Förderung zu betreiben. Natürlich muss bei manifesten Lernstörungen das betroffene Individuum Hilfestellungen und Unterstützungsangebote erhalten. Überzeugender ist es jedoch, Präventionsangebote bereit zu halten und strukturelle Bedingungen, Orientierung und pädagogisch-didaktische Angebote so zu verändern, dass es gar nicht erst zu Lernstörungen kommt. Entsprechende Vorschläge finden sich bei Kretschmann (2003b) und in Kapitel 15 in diesem Band.
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| Teil I: Gegenstandsbereich
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Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 31
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| Teil I: Gegenstandsbereich Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163). Statistisches Bundesamt DESTATIS (2004). Bildung und Kultur, Allgemeinbildende Schulen. Fachserie 11/Reihe 1. Thimm, W. & Funke, E. H. (1977). Soziologische Aspekte der Lernbehinderung. In G. O. Kanter & O. Speck (Hrsg.), Pädagogik der Lernbehinderten. Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 4 (S. 581-611). Berlin: Marhold. Wagner, I. (1976). Aufmerksamkeitstraining mit impulsiven Kindern. Stuttgart: Klett. Weiner, B. (1975). Die Wirkung von Erfolg und Mißerfolg auf die Leistung. Stuttgart: Huber. Weiner, B. (1984). Motivationspsychologie. Weinheim: Beltz. Weinert, F. E. & Helmke, A. (Hrsg.) (1997). Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim: Beltz. Zielinski, W. (1996). Lernschwierigkeiten. In F. E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Lernens und der Instruktion (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie I, Bd. 2, S. 369-402). Göttingen: Hogrefe.
2 Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens Gustav O. Kanter
2.1
Pädagogik und Psychologie als Bezugswissenschaften bei erzieherischer Einflussnahme und Lernprozessen
Erziehen als eine Grundfunktion des sozial-gesellschaftlichen Handelns richtet sich im Sinne der Einflussnahme unmittelbar auf das Lernen; und Lernen selbst zählt zu den menschlichen Lebensgrundfunktionen. Pädagogik und Psychologie sind dabei die beiden zugeordneten Wissenschafts- und Praxisbereiche. Wegen der vielgestaltigen und bis heute unklaren Begriffslage auf diesem Gebiet sind zunächst (auch die Fachgeschichte beachtend) einige Aspekte des diesem Beitrag zu Grunde liegenden Theorierahmens und Begriffsinstrumentariums kurz anzusprechen. Unter Beeinträchtigungen des Lernens als Oberbegriff wird hier ein zweidimensionales Quasi-Kontinuum von Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens verstanden, wie von Klauer und Lauth (1997, S. 701-705) beschrieben. Die Autoren kategorisieren Lern- und Leistungsschwierigkeiten einmal nach der Dimension Zeit (überdauernd vs. vorübergehend) und zum anderen nach der Dimension Umfang bzw. Breite (partiell, bereichsspezifisch vs. generell, umfassend-allgemein). Lernschwierigkeiten wären im Sinne von Zielinski (1996) alle „Probleme der Informationsaneignung durch ein Individuum“ (S. 369), angefangen von Reiz-Reaktionsverbindungen bis hin zur Begriffsbildung. Sichtbar werden diese durch ein deutliches Missverhältnis zwischen (Lern-)Leistungen und Leistungserwartungen. Zielinski selbst benutzt den Begriff der Lernschwierigkeiten als Oberbegriff für alle Formen und Grade des Lern- und Leistungsversagens. Hier, in diesem Beitrag, werden erhebliche Lernschwierigkeiten dagegen als Lernstörungen bezeichnet, wie von Kretschmann in Kapitel 1 ausführlich dargelegt, und Lernbehinderung ist im Sinne des Ordnungsschemas von Klauer und Lauth (1997) eine relativ überdauernde und generelle Beeinträchtigung des Lernens. – Es sei hier nur angemerkt, dass die o. g. zweidimensionale Kategorisierung der Beeinträchtigungen im Sinne von Klauer und Lauth den Aspekt des Schweregrades von Lern- und Leistungsbeeinträchtigungen (leicht vs. schwer) nicht immer in wünschenswerter Weise abdeckt. Eine Lese-Rechtschreibschwäche z. B. ist sicherlich eine partielle, bereichsspezifische Beeinträchtigung und i. d. R. relativ überdauernd, kann aber sehr wohl mehr oder weniger schwer(wiegend) sein. Wie weit es aber zweckmäßig wäre, das Modell Klauers und Lauths um die Dimension des Schweregrades zu erweitern, sei dahingestellt. Die verschiedenen kategorialen oder typologisierenden Zuordnungen haben alle ihre Vor- und Nachteile (vgl. hierzu Schröder, 2000, S. 74-84). Pädagogik wird in diesem Beitrag verstanden als Praxis und Theorie der Erziehung; und als „Erziehung werden“ nach Brezinka (1974, S. 95) „Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern“ [im Original kursiv]. Kant hält diesen Vorgang für so wichtig, dass er sagt: „Der
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| Teil I: Gegenstandsbereich Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (1803, S. 459). Kant fasst den Erziehungsbegriff hier allerdings sehr viel weiter als Brezinka, indem bei ihm mit Erziehung alle äußeren Einflüsse auf den heranwachsenden Menschen gemeint sind (Geschehensbegriff der Erziehung bzw. „funktionale Erziehung“), während Brezinka mit Erziehung nur beabsichtigte Handlungen bezeichnen möchte (Handlungsbegriff der Erziehung bzw. „intentionale Erziehung“). In der Enzyklopädie der Sonderpädagogik, der Heilpädagogik und ihrer Nachbargebiete wird Erziehung u. a. in weitestem Sinne auch verstanden als „Interaktion des sich entwickelnden, im Werden begriffenen Menschen mit seinen eigenen Handlungen, mit den ihn umgebenden sinnhaften Objekten, mit anderen Menschen und deren Lebens- und Handlungsweisen“ (Roth, 1992, S. 187). Indem pädagogische Einflussnahme, ob intentional oder funktional, unmittelbar auf Lernprozesse, einen Forschungsgegenstand der Psychologie, zielt, sind Pädagogik und Psychologie über weite Strecken eng aufeinander bezogen und haben sich wechselseitig nachhaltig in ihrer Forschungsmethodik und ihren Wissenschaftsergebnissen befruchtet. Schon 1835 hat Herbart im Umriß pädagogischer Vorlesungen auf die enge Bindung der Pädagogik an die Psychologie bezüglich der konkreten Möglichkeiten des Erziehungshandelns verwiesen und meinte, „Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philosophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg, die Mittel und die Hindernisse“ (1835, § 2). In derart enger Abhängigkeit von gewissermaßen übergeordneten Fundierungswissenschaften wird Pädagogik – und mit ihr die Sonderpädagogik – seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Wohl aber ist Pädagogik im Sinne einer Kooperationswissenschaft und Integrationswissenschaft darauf angewiesen, Erkenntnisbestände und Forschungsmethoden aus Philosophie und Psychologie unter dem eigenen Fragehorizont zu analysieren, zu Teilen in den eigenen Arbeitsbereich einzugliedern sowie eigenständig weiterzuentwickeln – und dies gilt vice versa. Es sind auch nicht nur Philosophie und Psychologie, mit denen zu kooperieren ist. Human- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen sind vielmehr Gegenstand einer Reihe weiterer Wissenschaftsdisziplinen. Folglich werden mancherorts pädagogische Fragestellungen überhaupt nicht in einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin „Pädagogik“, sondern von mehreren Wissenschaften behandelt, etwa im angloamerikanischen Sprachgebrauch, wie Brezinka (1978, S. 3) schon vor 30 Jahren vermerkte; „von der Psychologie im Teilgebiet ‚Pädagogische Psychologie‘, von der Soziologie im Teilgebiet ‚Soziologie der Erziehung‘, von der Wirtschaftswissenschaft im Teilgebiet ‚Ökonomie der Erziehung‘, von der Geschichtswissenschaft im Teilgebiet ‚Historiographie der Erziehung‘ und von der Philosophie im Teilgebiet ‚Philosophie der Erziehung‘“. Auch gegenwärtig sind diese Tendenzen noch anzutreffen. Was die Sonderpädagogik anlangt, so steht sie traditionell zu Teilen in enger Wechselbeziehung sowohl zur Medizin als auch zur Psychologie. Sie orientiert sich in ihren Zielsetzungen an Weltanschauungssystemen philosophischer, theologischer und säkular-ideologischer Art und hat in den letzten Jahrzehnten auch nicht wenige Erkenntnisse aus der Soziologie rezipiert (vgl. Cloerkes, 2001). Zwischenzeitlich haben sich die beiden Disziplinen Pädagogik und Psychologie bei uns allerdings fest als eigenständige Wissenschaften etabliert, erheblich ausdifferenziert und spezialisiert. Bezüglich erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse haben die Schnittmengen zwischen Pädagogik, Pädagogischer Psychologie,
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Entwicklungspsychologie sowie in jüngerer Zeit empirischer Soziologie in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Pädagogik, wie sie sich heute darstellt, folgt verschiedenen Differenzierungsaspekten. Zunächst einmal ist zu unterscheiden zwischen der pädagogischen Praxis (Praktische Pädagogik) und theoretischen, d. h. wissenschaftlich begründeten Aussagen über diese (Erziehungs-)Praxis (Erziehungswissenschaft). Spricht man von Erziehungspraxis oder Erziehungswirklichkeit, so sind „alle Situationen, die etwas mit Erziehung, Bildung oder Training zu tun haben“, gemeint (König & Zedler, 2002, S. 13). Das Wissen, das hier zusammengetragen und systematisiert in Form von (vorwissenschaftlichen) Erziehungslehren vorgelegt wurde, betrifft überwiegend zum einen Zielsetzungen des pädagogischen Handelns, zum anderen Mittel, Wege und Organisationsformen sowie zum dritten Vorstellungen über den zu erziehenden/zu unterrichtenden Personenkreis. Pädagogik als Erziehungswissenschaft hat prinzipiell denselben Forschungsgegenstand, geht in ihrer Methodik und ihren Zielsetzungen jedoch weiter. Sie ist darauf ausgerichtet, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie weit das jeweilige (praktische) Erziehungshandeln oder Erziehungsgeschehen nach wissenschaftlichen Kriterien zu begründen, im Einzelnen zu erklären und zu einem System von Gründen und Folgen zu verbinden ist (Theorien mittlerer Reichweite). Nachdem es recht verschiedene, teils widersprüchliche erziehungswissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Begründung von Erziehungsabläufen gibt, muss sodann auf einer nächsten Stufe (auf metatheoretischer Ebene) untersucht und geklärt werden, wie weit die jeweiligen Theorien ihrem Eigenanspruch und der wissenschaftlichen Kritik genügen (Wissenschaftstheorie). Als fachgeschichtlich wichtige theoretische Konzeptionen nennen König und Zedler (2002) Erziehungswissenschaft als normative Disziplin, als empirische Verhaltenswissenschaft, als hermeneutische Disziplin und als Wissenschaft auf Basis der Systemtheorie. Schließlich verstehen sie sie im Sinne des Konstruktivismus „als ein ‚Werkzeug‘ ..., das auf der Basis des jeweiligen Begriffsystems Diagnose- und Interventionsmethoden generiert“ (S. 243). Der historische Anspruch, ein System von generellen Gesetzesaussagen, welche die Erziehungswirklichkeit abbilden, erstellen zu wollen, wird im letzteren Falle natürlich gegenstandslos. Benner (2001) legt eine vergleichbare Gliederung der Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft vor, allerdings mit anderen Gewichtungen und Benennungen: Traditionelle Pädagogik, Empirische Pädagogik, Geisteswissenschaftliche Pädagogik, zwischen Empirie und Hermeneutik vermittelnde Ansätze und Emanzipatorische Pädagogik. Seine Präferenz gilt „einer auf experimentelle Praxis bezogene Handlungswissenschaft“ (S. 330), die er mehr als Forderung an die Zukunft der Pädagogik skizziert, denn als Realität erkennen kann. Eine für sonder- bzw. heilpädagogische Problemstellungen wichtige Differenzierung findet in der Pädagogik unter den Stichworten „deskriptive“ und „normative Erziehungswissenschaft“ statt. Zum einen geht es um wissenschaftliche Aussagen über den Ist-Zustand bzw. darüber, was als Faktum angesehen wird, zum anderen geht es darum, was sein „soll“, also um Normsetzungen – das klassische Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen. Beispiele: Die Aufnahmezahlen im Sonderschulbereich sind in den letzten Jahren gestiegen (deskriptiv); wir sollten nicht so viele Schüler aus den Regelschulen ausgliedern, sondern sie verstärkt integrativ fördern (normativ). Das eine ist Fakt, das andere erwünschte Zielsetzung. Die Unterscheidung zwischen beiden Aussagen, die
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| Teil I: Gegenstandsbereich ihrem Inhalt nach beide durchaus im wissenschaftlichen Sinne begründet sein können, ist für die Erkenntnisgewinnung im Erziehungsgeschäft von großer Bedeutung, und zwar deshalb, weil hier nicht selten die Aussagekategorien unbedacht oder gelegentlich mit Absicht vermengt werden und damit die Zuverlässigkeit der Aussagen für die pädagogische Praxis verloren geht. Beispiel: Gemeinsamer Unterricht (Integration) ist unabdingbare Voraussetzung für ein demokratisches Erziehungssystem – eine Aussage aus dem bildungspolitischen Raum, für die bislang nirgends ein wissenschaftlicher Beleg erbracht wurde, sich möglicherweise in dieser generellen Form gar nicht erbringen lässt. Hier wird eine Behauptung (ist unabdingbare Voraussetzung für ...) gewissermaßen als Faktum ausgegeben, und es ist zu fragen, ob in naiver Gläubigkeit oder bewusster Meinungsmache. Um hier jedoch nicht missverstanden zu werden: Es ist weder unzulässig noch unnütz, Zielprojektionen wie etwa alle Schüler im „Lebens- und Lernraum Schule“ gemeinsam erziehen und unterrichten zu wollen, zu entwickeln, oder um Gruppenkonsens bemüht zu sein, um für derartige Zielsetzungen Unterstützung zu finden. Vielmehr sind Zielsetzungen und Visionen wünschenswerte und notwendige Elemente im Findungsprozess der Zukunftsgestaltung. Sie dürfen nur nicht als Wahrheitsdoktrin ausgegeben werden. Zur Erkenntnisgewinnung in der Pädagogik hat Klauer weiterführende Unterscheidungen vorgenommen, die speziell für sonderpädagogische Überlegungen zweckmäßig sein dürften. Er unterscheidet zwischen „deskriptiver, präskriptiver und normativer Pädagogik“ (1977, S. 77) und erläutert: Zum entscheidenden Einteilungsgesichtspunkt wird die unterschiedliche Rolle, die Lehrziele in den verschiedensten Fragestellungen einnehmen. Die deskriptive („beschreibende“) Pädagogik versucht, die vorfindbare Erziehungswirklichkeit mit all ihren Abhängigkeitsbeziehungen und Effekten zu erforschen, wobei auch festgestellt wird, welche Ziele unter welchen Bedingungen angestrebt werden, wie sich unterschiedliche Ziele auswirken und dergleichen mehr. In der präskriptiven („vorschreibenden“) Forschung geht es nicht darum, Kenntnisse über einen Bereich der Wirklichkeit zu gewinnen, sondern Handlungsanweisungen – Vorschriften – für den Lehrer zu erzeugen, aber auch Produkte, die hilfreich sind, um bestimmte Lehrziele zu erreichen. Hier erscheinen die Lehrziele als vorgegebene Aufgaben, und es kommt darauf an, die pädagogischen Mittel zu bestimmen, die das Erreichen der Ziele gewährleisten. Es geht also um Änderungswissen oder – in einem bestimmten Sinne – um technologisches Wissen, das heißt um Kenntnisse, die geeignet sind, Probleme der Lehrpraxis zu lösen. Die normative („normsetzende“) Pädagogik versucht schließlich zu klären, welche Ziele überhaupt angestrebt werden sollen, und zur Klärung dieser Frage trägt die Klärung der Vorfrage erheblich bei, wie man denn überprüfbar zu Lehrzielen gelangen kann. In normativer Sicht interessiert demnach nicht, ob bestimmte Lehrziele faktisch eine Rolle spielen oder wie man sie verwirklichen kann; hier interessiert ihr Geltungsanspruch, nämlich ob sie angestrebt werden sollen oder nicht. (Klauer, 1977, S. 77 f.) Wenn also in einem ersten Zugriff nach Aufgaben einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens gefragt wird, so wäre vorläufig und kurzgefasst zu antworten: Es geht, vergleichbar mit den Aufgabenstellungen in der Pädagogik allgemein:
Kapitel 2: Gegenstand und Aufgaben | 37
1. um die Erstellung, Begründung und Reflexion von Sollensinventarien, welche die Richtung der Erziehungsbemühungen in diesem Sektor und konkrete Zielangaben ausweisen (Normation), 2. um die Erfassung und wissenschaftliche Durchdringung eines spezifischen Sektors der Erziehungswirklichkeit mit seiner Bedingungsstruktur, d. h. darum, wie ausgewählte Ziele unter gegebenen „inneren“ Bedingungen wie Entwicklungsstand, Vorwissen, Vorbildung, Personstruktur etc. und „äußeren“ Bedingungen, also dem Lebensumfeld des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen, erreicht werden können (Deskription) und 3. um gesicherte Handlungstheorien und Handlungsvorschläge, aus denen ersichtlich wird, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die erstrebten Ziele erreicht werden können, mit anderen Worten, welche Empfehlungen und Anweisungen für das Erziehungshandeln oder die Gestaltung der Erziehungsumwelt gegeben werden können (Präskription). Aufgabenstellungen aus den Bereichen Deskription und Präskription erfahren hier allerdings eine Gewichtung durch die Auswahl des spezifischen Erziehungsbereichs mit seiner speziellen Personengruppe und seinen besonderen situativen Gegebenheiten. Bei der Aufzählung dieser Teilaufgaben wird deutlich, dass zur Lösung der anfallenden Probleme Erkenntnisse und Methoden von Nachbarwissenschaften der Pädagogik, hier insbesondere der Psychologie, herangezogen werden müssen. Zwar ist kein direktes Abhängigkeitsverhältnis der Pädagogik von der Psychologie gegeben, wie von Herbart (1835) vermerkt, aber Pädagogik wird sinnvoller- und notwendigerweise in den Bereichen von Deskription und Präskription auf Erkenntnisse und Methoden der Psychologie zurückgreifen, insbesondere, wenn es um Probleme des sich Bildens (von Bracken) bzw. Probleme der Persongenese (Kanter, 1977, S. 8) geht. In der Psychologie, der Wissenschaft vom (menschlichen) Erleben und Verhalten, geht es um die Erfassung, Beschreibung, Erklärung und die systematische Ordnung psychischer Prozesse, Theoriebildung und Praxisanwendung eingeschlossen. Lernen und sein Bedingungsgefüge gehören hier zu den zentralen Forschungsgegenständen der Disziplin. Psychologie, so wie sie sich heute darstellt, ist ebenso wie die Pädagogik zwar ein stark ausdifferenziertes und spezialisiertes Wissenschafts- und Praxisgebiet – bei Häcker und Stapf (1998, S. 679) sind über 20 Hauptgebiete der Psychologie ausgewiesen – sie hat aber im Gegensatz zur Pädagogik klar erkennbar über fast alle Bereiche hinweg heute den Charakter einer Erfahrungswissenschaft, überwiegend sogar in streng naturwissenschaftlicher Form. Ihre Aussagen müssen demnach unter wissenschaftlichen Kriterien nachprüfbar und replizierbar sein. Sie gliedert sich traditionell in Grundlagenfächer wie Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Differentielle Psychologie, Sozialpsychologie usw. sowie in Anwendungsfächer wie Pädagogische Psychologie, Klinische Psychologie, Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftspsychologie, Forensische Psychologie usw. Die Gebiete überschneiden sich allerdings oft, und die Einteilungen erweisen sich unter heutigen Forschungsgesichtspunkten zu Teilen nicht mehr als zweckmäßig. In den für die Pädagogik relevanten Gebieten, der Pädagogischen Psychologie, der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie, der Lern- und Denkpsychologie sowie der Motivationspsychologie, liegen mittlerweile umfängliche und bedeutsame
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| Teil I: Gegenstandsbereich Ergebnisse vor, die transformiert teilweise schon seit Jahrzehnten quasi wie Eigenbestände der praktischen Pädagogik in das Erziehungsrepertoire eingegangen sind („vom Kinde aus“, „den Schüler motivieren“, „Übung macht den Meister“ usw.). In neuerer Zeit ist es vor allem die Pädagogische Psychologie, die gewissermaßen federführend die Forschung für pädagogische Fragestellungen vorantreibt und die Ergebnisaufarbeitung korrespondierender Teildisziplinen wie Entwicklungspsychologie, Lernpsychologie, Motivationspsychologie, Differenzielle Psychologie, Sozialpsychologie usw. besorgt. In der Enzyklopädie der Psychologie werden in vier Bänden Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogischen Psychologie expliziert und lassen auf diese Weise gut den großen Rahmen erkennen, innerhalb dessen Erziehungshandeln und Erziehungsgeschehen zu bedenken und zu untersuchen sind: Der Band Psychologie der Erziehung und Sozialisation zeigt Determinanten von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen wie Entwicklungsgenetik, Kultur- und Sozialeinflüsse, geschlechtsspezifische Variablen, familiäre Einwirkungen, erziehungsinstitutionelle Wirkmechanismen, Peer-Gruppen Einflüsse, Einwirkungen der medialen Umwelt usw. auf (Schneewind, 1994, S. VII f.), während es im Band Psychologie des Lernens und der Instruktion um Gesetzmäßigkeiten des Lernens, um fördernde wie hemmende Bedingungen, um Fragen von Optimierungsstrategien durch Instruktion, um Diagnose und Überwindung von Lernschwierigkeiten und um das Auffinden und die Nutzung von Lernstärken geht (Weinert, 1996, S. VII). Bedingungen, Prozesse und Wirkungen des Unterrichts werden in ihrer Vielfalt sowohl schulfachübergreifend (Schülermerkmale, Lehrerverhalten, Unterrichtsmanagement usw.) als auch inhaltsspezifisch, d. h. auf die einzelnen Schulfächer bezogen (Lesenlernen, Rechtschreibung, Mathematik usw.), in der Psychologie des Unterrichts und der Schule (Weinert, 1997, S. IX) thematisiert. Hinzu kommen Fragen der Beratung sowie Probleme bei Lernschwierigkeiten im Kontext Schule. Die Psychologie der Erwachsenenbildung (Weinert & Mandl, 1997) bietet schließlich einen Überblick über „Gesetzmäßigkeiten und Optimierungsmöglichkeiten des Kompetenz-, Wissens-, Fertigkeits- und Einstellungserwerbs bei erwachsenen und alten Menschen“ (S. VII f.). Gegenüber den Theoriekonzepten der Pädagogik, die vom Gegenstand und den Aufgaben her mehrheitlich das Erziehungshandeln („intentionale Erziehung“) betreffen, richtet sich das psychologische Interesse in gleichem Maße auch auf das so genannte Erziehungsgeschehen („funktionale Erziehung“). Gerade für die Aufklärung von Beeinträchtigungen des Lernens spielt dieser Aspekt eine gewichtige Rolle (vgl. Kanter, 1977, S. 7 f.). Der Erforschung von fördernden und hemmenden Bedingungen für Lernprozesse kommt dabei ein hoher Stellenwert zu, denn ungestörte Lernabläufe in anregender Lernumwelt und gesichertem Raum für Eigeninitiative und Eigenentfaltung des heranwachsenden Menschen sind für die menschliche Entwicklung bedeutend. Von wenigen angeborenen Verhaltensstrukturen abgesehen, so konstatieren Hoffmann und Kintsch (1996, S. VII) nach umfänglicher Auswertung der einschlägigen Literatur, „…ist es unstrittig, daß, angefangen von einfachsten Handlungen, über den Erwerb der Sprache bis hin zum Beherrschen von Regeln des logischen Denkens, daß also fast ausnahmslos alle Formen der Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner gegenständlichen und sozialen Umwelt Resultate von Lernprozessen sind“. Persongenese bzw. Persönlichkeitsentwicklung hängt somit entscheidend von den jeweiligen Lernabläufen und dem individuellen Lernaufbau ab. Unter sonderpädagogischem Aspekt interessiert deshalb
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vor allem, wie Beeinträchtigungen des Lernens und der Entwicklung entstehen können und wie ihnen pädagogisch-rehabilitativ begegnet werden kann. Vorläufig und kurz gefasst gehört es demnach zu den Aufgaben einer Psychologie der Sonderpädagogik, in unserem Falle bei Beeinträchtigungen des Lernens, 1. eine Erklärung hinsichtlich der Ursachen vorliegender Erziehungsprobleme zu geben und 2. Hinweise über Änderungsmöglichkeiten bezüglich einer Reduzierung des problematischen Charakters der Erziehungssituation zu formulieren (van der Kooij, 2000, S. 1). Erziehungsprobleme versteht van der Kooij als Folge von Lern- und Entwicklungsstörungen. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass sich die Arbeitsbereiche der SonderPädagogik und der sonderpädagogischen Psychologie hinsichtlich der zweitgenannten Aufgabenstellung nicht unterscheiden, und er nennt neben Merkmalen, die in der Person des Kindes liegen, gleich zwei weitere, seiner Auffassung nach maßgebliche Komponenten möglicher problematischer Erziehungssituationen, die Interaktion zwischen Kind und Erzieher sowie die Situation. Darunter versteht er „sowohl Familiensituationen als auch Schul- und Freizeitsituationen mit ihren eigenen Merkmalen, Organisationsformen und spezifischen Eigenschaften“ (2000, S. 1).
2.2
Zum Verhältnis Pädagogik – Sonderpädagogik sowie Psychologie – Sonderpädagogische bzw. Heilpädagogische Psychologie
Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik – die Begriffe werden hier zunächst als parallele Varianten für die Bezeichnung eines mehr oder weniger gleichen Arbeitsgebiets gesehen – wurde schon in frühen Fundierungsschriften und wird noch heute weitgehend als Teildisziplin der Pädagogik zugeordnet. Zwar hat es zeitweise Tendenzen gegeben, Heilpädagogik überhaupt nicht als eine Teildisziplin der wissenschaftlichen Pädagogik zu betrachten, sondern sie „am Grenzrain von Pädagogik, Psychologie und Medizin“ anzusiedeln, und zwar deshalb, weil das „in irgendeiner Weise ‚abwegige Kind‘ ... eine Sonderbehandlung erheischt“ (Derbolav, 1956, S. 63) und Heilpädagogik erst die Vorbedingungen zu schaffen habe, durch die Erziehung und Bildung im eigentlichen Sinne und vollem Umfange möglich werde (Kastantowicz, 1966, S. 155). Doch hat sich diese Position nicht aufrechterhalten lassen. Die nähere Gegenstandsbestimmung des Fachs Sonderpädagogik/Heilpädagogik allerdings hat im Laufe der Zeit sehr viele und vielfältige Modellvarianten erbracht. Trotz der grundsätzlichen Akzeptanz als pädagogisches Aufgabenfeld wurde das Gebiet historisch gesehen lange Jahre stark durch medizinische Denkkategorien, bei Lernbehinderungen vornehmlich psychopathologischer Betrachtungsweise, bestimmt. Nach Heller (1925, S. 4) z. B. erstreckt sich das Arbeitsgebiet der Heilpädagogik „auf alle jene im Kindesalter vorkommenden ... Abnormitäten, bei denen durch Herstellung günstiger Entwicklungsbedingungen, die jedem einzelnen Fall angepaßt sein müssen, eine Reglung der gestörten
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| Teil I: Gegenstandsbereich psychischen Funktionen erwartet werden kann“ [im Original gesp. gedruckt]. Noch 1952 hat der Pädiater Asperger eine bedeutsame Schrift mit dem Titel Heilpädagogik. Einführung in die Psychopathologie des Kindes für Ärzte, Lehrer und Psychologen, Richter und Fürsorgerinnen verfasst , in der Heilpädagogik als jene Wissenschaft definiert wird, „welche, auf biologisch fundierter Kenntnis abnormer kindlicher Persönlichkeiten aufbauend, vornehmlich pädagogische Wege zur Behandlung intellektueller und Sinnesdefekte, nervöser und seelischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sucht“ (Asperger, 1952, S. 1). Verkürzt ausgedrückt wäre dies eine Pädagogik im Sinne angewandter Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dass Heilpädagogik grundsätzlich u. a. auch die Aufgabe zukommt, „heilend“ oder „pädagogisch-therapeutisch“ wirksam zu sein, hat in der Diskussion über ihren Arbeitsbereich Jahrzehnte lang eine gewichtige Rolle gespielt und ist zuletzt in vermittelnde Positionen eingemündet: „Heilerziehung … enthält Elemente des Heilens und des Erziehens“ (Meinertz, 1968, S. 15 / neubearbeitet und erweitert von Kausen). Für eine Heil- oder Sonderpädagogik nach heutigem Verständnis greifen stärker medizinisch gewichtete Ansätze jedoch zu kurz, wobei die Darlegungen der Autoren der Sache nach gleichwohl zu jenen Bestandteilen sonderpädagogischer Reflexion zu rechnen sind, wie sie oben als konstituierend für eine Kooperations- und Integrationswissenschaft skizziert wurden. Was die verschiedenen Gegenstandsbestimmungen der Heil- und Sonderpädagogik seit ihrer Begründung Ende des 19. Jahrhunderts (Georgens & Deinhardt, 1861) anlangt, so lassen sich breit gestreute Konstruktionen ausmachen. Die Vorschläge reichen im Einzelnen von Modellen, die von symptomatologisch orientierten Gruppierungen bei Lern- und Erziehungsschwierigkeiten („Kinderfehlern“) ausgehen (z. B. von Strümpell, 1890), über systematische Aufarbeitungen unter Leitbegriffen wie „Entwicklungshemmung“ (Hanselmann, 1930), „Haltschwäche“ (Moor, 1951) oder „Wertsinnsminderung“ (Bopp, 1930) bis hin zur ausdrücklichen Proklamation der erziehungswissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik (z. B. Rössel, 1925) anhand der Analyse des Wirklichkeitsbereichs der heilpädagogischen Arbeit und damit der Frage der Bildsamkeit des Zöglings (ausführlich zu dieser Thematik Bleidick, 1978, S. 113-258). In jedem Falle wird heute die Aussage eines Altmeisters der Heilpädagogik allgemein anerkannt, der feststellte: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes. Als Lehre von der Erziehung mindersinniger, geistesschwacher, schwererziehbarer Kinder steht sie aber vor einer erschwerten Erziehungsaufgabe“ (Moor, 1967, S. 7). Wie aus dem Zitat ersichtlich, schlägt jedoch selbst in derart klarer pädagogischer Positionierung das medizinische Kategorienschema der verschiedenen zu Grunde liegenden Schädigungsformen durch.
2.3
Neuere Konkretisierungen des Gegenstandes und der Aufgaben
Neuere Inhaltsbestimmungen des Fachs gehen im Vergleich zu den o. g. Positionen von einer veränderten Perspektive aus, menschliches Behindertsein zu verstehen, zu analysieren und ihm zu begegnen. Dabei steht nicht mehr primär die Bestimmung von persongebundenen Behinderungsmerkmalen, möglichen Folgewirkungen und entsprechenden Behandlungsempfehlungen im Vordergrund, sondern die pädagogische Aufgabe liegt darin, „die
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Behinderung von Bildung und Erziehung zu erkennen und ihr erfolgreich zu begegnen“ (Bleidick, 1999, S. 9). Das heißt, ausgehend von der grundsätzlichen Akzeptanz menschlichen Behindertseins, wird über eine sorgfältige Analyse der behindernden Bedingungen zwar versucht, mögliche Veränderung im Sinne erwünschter Zielsetzungen zu erreichen, aber immer auch dem Anspruch auf Selbstbestimmung sowie dem Eigenleben des jeweiligen Individuums Raum zu geben. Zentraler Gegenstand ist demnach die „Behinderung der Erziehbarkeit und Bildsamkeit“ (Heese, Jussen & Solarová, 1976, S. 426). Personmerkmalen kommt hier nur die Rolle von „intervenierenden Variablen“ (Bleidick) zu, die aber stets mit anderen Wirkmomenten vergesellschaftet sind. Vergleichbar wird bei Speck „Heilpädagogik ... als Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungserfordernisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen (Behinderungen und sozialen Benachteiligungen) gesehen“, wobei es um das „Aufzeigen von Zusammenhängen, innerhalb derer Leben sinnvoll gemeistert werden kann, wenn eine angemessene Erziehung Hilfe leistet“, geht (2003, S. 20). Jantzen (1987, S. 12) schließlich strebt an, „eine allgemeine Wissenschaft von der Möglichkeit, humanes Leben und Lernen für alle zu realisieren“, in der die heutigen separierenden Grenzziehungen aufgehoben sind. 2.3.1 Normative Aussagen zum Gegenstand und zu den Aufgaben Verständlicher Weise ist es schwierig, bei so komplexen und vielschichtigen Arbeitsgebieten wie der Pädagogik und der Psychologie bei Beeinträchtigung des Lernens, Gegenstand und Aufgaben der Teildisziplinen einvernehmlich festzulegen, nachdem es bislang nicht einmal gelungen ist, für das Gesamtgebiet einheitliche und allseits anerkannte Bezeichnungen zu finden (Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Orthopädagogik, Behindertenpädagogik, Defektologie, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik – Sonderpädagogische Psychologie, Heilpädagogische Psychologie). In einer neueren Studie konnte Hoyningen-Süess (1998) über eine Expertenbefragung in deutschsprachigen Ländern allerdings eine allseits dem Grunde nach akzeptierte Beschreibung des Gegenstands bzw. der Aufgaben der Gesamtdisziplin Sonderpädagogik gewinnen. Die Autorin griff dabei auf eine Kernaussage des Inhabers der ersten Professur für Heilpädagogik in Europa, Heinrich Hanselmann (Zürich 1931-1950) zum Auftrag der Sonderpädagogik zurück, die mehrheitlich Zustimmung fand: Die Sonderpädagogik muss Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Menschen erforschen und realisieren, deren Entwicklung aus verschiedenen Gründen behindert verläuft, voraussichtlich behindert verlaufen wird oder von Behinderung bedroht ist. (a. a. O., Kap. III.7, S. 214) Analysiert man diese und weitere Aussagen zu den Aufgaben der Sonderpädagogik, dann sind es drei Bestimmungsstücke, die für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens, Hanselmann sprach von der „Sondererziehung“ allgemein, ausschlaggebend sind (vgl. Hanselmann, 1930, 1941): 1. geht es grundsätzlich um Erziehungs- und Bildungsprozesse, 2. geht es um beeinträchtigende Faktoren in diesem Prozess („Entwicklungshemmung“ bei Hanselmann, um „Behinderung als intervenierende Variable“ bei Bleidick, um
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| Teil I: Gegenstandsbereich „physisch-psychische Schädigungen“ bei Becker (1979) usw.) sowie deren Aufklärung, und 3. geht es um die Erforschung und die Realisierung von Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten angesichts jeweiliger Beeinträchtigungen, pädagogisch-therapeutische/pädagogisch-rehabilitative Maßnahmen eingeschlossen. Die Diskussion um die nähere Bestimmung und um die konkrete Umsetzung der drei genannten Teilaufgaben hat zu den verschiedenen Konzepten geführt, welche die Theorie und Praxis des Arbeitsgebietes heute ausmachen: Sonderpädagogik ist die Theorie und Praxis der gesamten erzieherischen Förderung von Menschen mit Beeinträchtigungen aller Altersstufen. Das Besondere der Sonderpädagogik besteht darin, dass sie es mit unregelhaften und in diesem Sinne erschwerenden Gegebenheiten zu tun hat, für die sie ein über das Übliche Hinausgehendes an Konzepten und Kompetenzen anbietet. (Bach, 1999, S. 4, im Orig. kursiv) Als behindert im pädagogischen Sinne gelten Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Lernen und deren soziale Eingliederung erschwert sind. Gegenstand der Behindertenpädagogik ist das Lernen und die soziale Eingliederung angesichts erschwerten Lernens und erschwerter sozialer Eingliederung. (Bleidick & Hagemeister, 1992, S. 29) Heilpädagogik wird ... als Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungsbedürfnisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen (Behinderungen und soziale Benachteiligungen) gesehen. (Speck, 2003, S. 20) Specks systemisch-ökologische Betrachtung der Heilpädagogik ist dadurch charakterisiert, dass „im Vordergrund der Erklärungsversuche ... nicht ‚die Behinderung‘ schlechthin, sondern der Mensch mit speziellen Erziehungserfordernissen in unserer Lebenswelt“ (2003, S. 20) steht. Dabei geht es, wie schon oben erwähnt, in systemtheoretischer Perspektive um das Erkennen und Verdeutlichen von Zusammenhängen, innerhalb derer Leben sinnvoll gestaltet werden kann, wenn Hilfestellungen durch eine angemessene Erziehung zur Verfügung stehen. Ein derartiger Ansatz hat erhebliche Auswirkungen auf alle pädagogisch-praktischen Umsetzungen und verlangt auch Antworten auf die Frage, wie und womit Hilfe im Sinne einer angemessenen Erziehung gegeben werden kann. Der Begriff des sonderpädagogischen Helfens durch und mit Erziehung gewinnt hier einen neuen Stellenwert. Einen wichtigen präzisierenden Aspekt zum Gegenstand und den Aufgaben der Heilpädagogik hat in Anlehnung an Oevermann (1997) Lindmeier (2000) in die Erörterungen eingebracht: Danach ist die Ausdifferenzierung der Heilpädagogik als Teildisziplin der Pädagogik und der damit verbundenen spezifischen Aufgaben weniger mit dem Vorhandensein von Behinderungen und den zugehörigen Erziehungserschwernissen zu begründen, sondern ihr Entstehen ist die strukturnotwendige Folge des „Misslingens der ‚Normalpädagogik‘“ in der ihr zukommenden professionalisierungstheoretischen Bestimmung pädagogischen Handelns. Oevermann (1997, S. 151) schreibt dazu: „Weil … das Selbstverständnis der Normalpädagogik sich auf die Funktion der Wissens- und Normenvermittlung beschränkt und die therapeutische Dimension ihrer Praxis ausblendet,
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kommt es zur … Differenzierung von Normal- und Sonderpädagogik. An letztere werden alle jene Fälle delegiert, die als auffällige oder manifeste Abweichung bzw. Störung aus der Normalpädagogik herausfallen.“ Das heißt, Heilpädagogik/Sonderpädagogik entstand im Sinne erforderlicher zusätzlicher Hilfe in pädagogischen Notfällen auf Grund von Vernachlässigungen genuiner Aufgaben (normal)pädagogischen Handelns. Überlegungen in ähnlicher Richtung veranlassten Möckel (1988, S. 239 ff.) im Zusammenhang mit der so genannten Integrationsdiskussion daran zu erinnern, dass sich heilpädagogische Aufgaben in jeglicher Pädagogik stellen, nicht nur in der Sonderpädagogik. So wie Moor formuliert hat: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ (1965, S. 273), lässt sich die Sentenz umkehren zur Aussage: Pädagogik beinhaltet immer auch Heilpädagogik (sollte sie zumindest, wenn man Oevermann oder Möckel folgt). Dass auch in Konzeptionen heutiger Lehrerbildung diese Zusammenhänge hinreichend bedacht werden müssen, ist für Willand (1998) selbstverständliche Forderung. Bei Hoyningen-Süess (1998, Kap III 8.3 u. 4, S. 248-264) wird folgerichtig (sonderpädagogisches) „Helfen“ als Grundbegriff und übergreifende Aufgabenstellung für alle Sonderpädagogik in den Mittelpunkt ihrer Schlussfolgerungen zur Zukunft der Sonderpädagogik gerückt. Mit Helfen sind hier allerdings im Sinne Hanselmanns konkret die besonderen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gemeint, die benötigt werden, um das angestrebte Erziehungs- und Bildungsziel angesichts von (Entwicklungs-)Behinderungen zu erreichen. Die therapeutische Funktion der Erziehung, die Oevermann vor Augen hat und die mehr die Interaktionspraxis Schüler-Lehrer betrifft, ist dabei wohl mitbedacht, steht aber nicht im Vordergrund. Nach kritischer Auseinandersetzung mit den verschiedenen gegenwärtigen Strömungen der Sonderpädagogik und ihren unterschiedlichen Leitvorstellungen meint Hoyninge-Süess provokativ: Der Auftrag der Sonderpädagogik orientiert sich hier [in einer Pädagogik des Helfens] weder am Prinzip der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ (z. B. Bleidick), noch am ‚Prinzip der Integration‘ (z. B. Eberwein, Feuser), sondern an einem gesellschaftlich zugesicherten Recht auf Akzeptanz und sozialer Sicherheit und am Recht auf Inanspruchnahme von Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, letztlich also am Begriff der Lebensqualität für Menschen mit Behinderungen. (Hoyningen-Süess, 1998, S. 60) Die Sonderpädagogik [tut] gut daran, ihren Auftrag in Zukunft primär an der Qualität menschlichen Lebens auszurichten, anstatt sich in moralphilosophischen Grundsatzdebatten zu verlieren. Denn die Lebensqualität behinderter Menschen hängt nicht von Beschwörungsformeln für eine bessere Gesellschaft ab, sondern von der Erforschung besonderer Interventionsformen für behinderte oder von Behinderung bedrohter Menschen, die den berechtigten Anspruch behinderter Menschen auf ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben verwirklichen helfen und deren Evaluation. (HoyningenSüess, 1998, S. 263) Mit diesen Überlegungen wäre überzuleiten zur Frage nach den Leitvorstellungen und Richtzielen einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens. Spezifische Erziehungs- und Bildungskonzeptionen lassen sich geschichtlich gesehen zumindest für den Bereich der schulischen Sozialisation, speziell für die Hilfsschulpädagogik, ausmachen. Worin lag das Spezifische, das besondere schulische Maßnahmen und Einrichtungen für
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| Teil I: Gegenstandsbereich Schüler mit langdauernden, generellen Beeinträchtigungen des Lernens (Lernbehinderungen) begründete? Klauer (1975) hat vor Jahren versucht, die Hauptströmungen mit ihren dominanten Leitvorstellungen und Bildungskonzeptionen in idealtypischer Form zusammenzustellen. Er beschrieb fünf solcher Erziehungs- und Bildungskonzeptionen (vgl. S. 64-85): Allgemeinbildung unter erschwerten Bedingungen: Hier wurde versucht „die allseitig-harmonische Entfaltung aller Kräfte, die selbstzweckliche Allgemeinbildung in den Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen“ (Klauer, 1975, S. 64) zu stellen. Das allgemeine Bildungsziel, das für alle gültige Ziel, muss grundsätzlich auch im Unterricht der Hilfsschule verfolgt werden. Der allgemeine Bildungskanon bleibt so oberstes Richtziel, auch wenn klar ist, dass dieses Ziel im konkreten Falle schwerlich erreichbar ist. Die vorrangige Erziehung zur Brauchbarkeit und Nützlichkeit für die Gesellschaft, wie im 19. Jahrhundert vielfach angestrebt, wurde abgelehnt. Die konkrete Umsetzung dieser Konzeption war für die Lehrplangestaltung in den Schulen jedoch unausweichlich mit einer Absenkung des Anforderungsniveaus verbunden. Die Schüler der Hilfsschule konnten am Ende ihrer Schullaufbahn i. d. R. nur das Abschlussniveau der Mittelstufe der Volksschule erreichen und waren vom Bildungsangebot der Oberstufe praktisch ausgeschlossen. Klauer sprach deshalb in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „dekapitierten Volksschulplan“ (1975, S. 66, im Orig. kursiv). Die hilfsschulspezifische Methodik: Hier wird auf die Elaborierung, die „Präzisionsmethodik“ (Bleidick) des Hilfsschulunterrichts gesetzt, um dem lern- und leistungsbehinderten Kind eine bestmögliche Förderung zuteil werden zu lassen. Viele der auch heute noch gebräuchlichen didaktischen Prinzipien haben hier ihren Ursprung: anschaulicher Unterricht, Ganzheit, Bewegung, Handbetätigung, Wiederholung, Kleinschrittmethodik, Differenzierung, Motivation, Stoffbeschränkung, Heimatprinzip, Lebensnähe (vgl. z. B. Bleidick & Heckel, 1968; Lesemann, 1963). Wieweit derartige Prinzipien, die übrigens mehr oder weniger für jeglichen Unterricht gelten, tatsächlich wirksam sind, war bereits Gegenstand mehrerer empirischer Untersuchungen, wobei sich ein durchaus differenziertes Bild ergab (vgl. Weinert, 1996 sowie verschiedene Didaktikkapitel in diesem Band). Hilfsschulpädagogik als Heilpädagogik: In dieser Konzeption wird die Hilfsschule vornehmlich als eine „Heilpädagogische Anstalt“ (Bartsch, zitiert nach Klauer, 1975, S. 70) oder „pädagogische Heilstätte“ (Wolf, zitiert nach Klauer, 1975, S.70) gesehen, in der es um Harmonisierung eines disharmonischen Geistes- und Seelenlebens geht sowie um die Besserung von krankhaften Zuständen. Gewiss haben heilpädagogische Aufgabenstellungen im Sinne psychotherapeutischer, verhaltentherapeutischer, gruppentherapeutischer, gesprächstherapeutischer, spieltherapeutischer usw. Einflussnahmen ihren Ort auch im engeren pädagogischen Arbeitsbereich (z. B. Borchert, 1996). Aber diese müssen in ihrer Umsetzung an hohe Kompetenz und Verantwortlichkeit gebunden werden. Die Hilfsschule als Erziehungsschule: Wie Klauer (1975, S. 72 f.) ausführt, gehört dieses Konzept zu den ältesten der Hilfsschulpädagogik und wird über die Zeit hin immer wieder von schulpraktischer, schulamtlicher wie wissenschaftlicher Seite bekräftigt. „Es ist daran festzuhalten, daß die eigentliche Erziehung, die Anleitung des Kindes zum Guten, die Anregung und Pflege seines Gemüts, die Gewöhnung an gute Sitte und Ordnung die Hauptaufgabe der Hilfsschule sein muß, gegen welche die Aneignung von Kenntnis-
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sen zurückzutreten hat“ (Frenzel, zitiert nach Klauer, 1975, S. 72 f.). Die Problematik einer solchen Zielperspektive liegt auf der Hand. Erziehung kann hier missverstanden und missgedeutet werden als Akt von Dressur unter Nützlichkeitsaspekten und als Vernachlässigung von Bildungsaufgaben. Es kann und darf jedoch nicht zu einer Haltung kommen, die angesichts von Lern- und Leistungsschwierigkeiten Bildungsziele aufgibt und nur noch auf Erziehung im Sinne von Abrichtung abgestellt wird. Die Hilfsschule als Leistungsschule setzt in ihrer idealtypischen Konzeption auf ein hierzu entgegengesetztes Richtziel. Als Schule der „Leistung und Gesittung“ (Lesemann, 1963) sollte sie im Zuge des „Strukturwandels“ (Hofmann, 1961) konzipiert werden. Für Hofmann waren die leitenden Unterrichtsprinzipien in der Hilfsschule keine anderen als die in der Normalschule. Die Gefahr der Überspitzung einer derartigen Konzeption deutet sich auch hier an, wenn in die Hilfsschule angesichts der Lern- und Entwicklungshemmungen ihrer Schüler an die Stelle von Erziehung Leistungsdrill Einzug halten würde. Bei Hofmann selbst war diese Gefahr nicht gegeben, das Konzept an sich schließt solchen Missbrauch jedoch nicht aus. Klauer (1975) hat damals eine eigene Konzeption entwickelt, die „Pädagogik der Vorsorge“. Sein Bemühen zielt im Sinne Beschels (1960) darauf, „den Schülern das höchstmögliche Maß an pädagogischer Hilfe zu gewähren, mit dem Ziel, das Kind trotz des Schadens zur Lebensmeisterung fähig zu machen“ (S. 75). Dabei kann es nicht einfach darum gehen, Kindern und Jugendlichen im Sinne der formalen Kräftebildung angemessene Erziehung zuteil werden zu lassen und für einen guten Unterricht Sorge zu tragen; vielmehr muss dasjenige geboten werden, was das „bildungsbehinderte Kind“ für seine spätere Lebenstüchtigkeit benötigt. „Insofern ist die Pädagogik der Vorsorge eine bedürfnisorientierte Pädagogik (Klauer, 1975, S. 76), bedürfnisorientiert hinsichtlich der späteren Lebenserfordernisse. Klauer wurde vorgehalten, mit diesem Konzept eines speziellen Bildungsbedürfnisses, das von ihm im Einzelnen pädagogisch gut begründet wurde, gegebenenfalls zur Festschreibung einer Behinderung beizutragen. Bei genauerer Analyse des Modells, in dem das Erziehungs- und Bildungsangebot stufenweise nach oben hin offen gehalten und auf die Förderung der Stärken des Kindes ausgerichtet ist, dürften diese Befürchtungen allerdings gegenstandlos sein. Klauer hat in den sechziger Jahren übrigens als erster Untersuchungen in die Wege geleitet, verschiedene Bestimmungsstücke seiner Konzeption auch einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Die Diskussion um die „richtigen“ Lehr- und Lernziele und insbesondere um wirksame Maßnahmen und Methoden hat sich, was die empirische Seite anlangt, mittlerweile stärker versachlicht und kann allmählich auch auf einen größeren Bestand an gesicherten Ergebnissen zurückgreifen (z. B. Borchert, 2000; Emmer, Hofmann & Matthes, 2002; Gehrmann & Hüwe, 2003; Goetze, 2002; Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Ingenkamp, Jäger & Petillon, 1997; Klauer, 2001; Klauer & Lauth, 1997; Lauth, Brack & Linderkamp, 2001; Masendorf, 1997; Zielinski, 1996), auf die teilweise noch eingegangen wird. Gleichwohl ist der Bestand quantitativ und qualitativ noch nicht so weit verdichtet und strukturiert, als dass bislang eine erfahrungswissenschaftlich hinreichend begründete Theorie einer Pädagogik und/oder Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens (Lernschwierigkeiten, Lernstörungen, Lernbehinderung) hätte vorgelegt werden können. Hierbei fragt sich übrigens, ob es beim Stand der Dinge und von der Wissenschaftslogik her überhaupt sinnvoll ist, solche übergreifenden Theorien, wie sie etwa auch Jantzen
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| Teil I: Gegenstandsbereich (1987), vorschweben, anzustreben, oder ob man es zweckmäßiger Weise nicht zunächst bei einer Weiterentwicklung der Partialtheorien belässt. Bezüglich der normativ begründenden Konzeptionen haben sich die Modellvorstellungen in den letzten Jahren in ihren Schwerpunkten allerdings deutlich verschoben. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für empirisch fundierte Beiträge und Sammelwerke (Begemann, 1992; Eberwein, 1996; Emmer, Hofmann & Matthes, 2002; Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000; Gehrmann & Hüwe, 2003; Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Gröschke, 1997; Haeberlin, 1996; Heimlich, 1997, 1999; Masendorf, 1997; Schröder, 2000; Theis-Scholz, 2002; Theunissen, 2002; Wachtel & Wittrock, 2001; Wember, 2001; Werning & Lütje-Klose, 2003). Im Einzelnen lässt sich hier feststellen: – Das (abstrakte) Recht auf Erziehung und angemessene pädagogische Förderung für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche wurde endlich amtlich festgeschrieben (z. B. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000) und im Jahr 1994 durch das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Gleichbehandlung (Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 Satz 2) gewissermaßen weiter gesichert. – Auf Fachebene wird Behindertenpädagogik wieder ausdrücklich als „angewandte Ethik“ proklamiert (z. B. Antor & Bleidick, 2000; Blickenstorfer, Dohrenbusch & Klein, 1988; Haeberlin, 1996; Speck, 1996), nachdem sich in der öffentlichen wie teils auch in der fachlichen und politischen Diskussion Gegenströmungen im Sinne von mehr utilitaristischen Wertungen von „behindertem Leben“ positioniert hatten. Diese Diskussion ist jedoch noch voll im Gange. – Qualität, Qualitätssicherung und Ökonomisierung in der Behindertenarbeit sind zu aktuellen Streitthemen in der öffentlichen, fachlichen und politischen Diskussion geworden, nicht selten verbunden mit Zeichen einer verdeckten „Behindertenfeindlichkeit“ (vgl. z. B. Speck, 1999). – Die Zielrichtung (sonder-)pädagogischer Interventionen hat sich geändert. Im Mittelpunkt heutiger pädagogischer Bemühungen steht die individuelle Problemlage des jeweiligen Menschen mit allen seinen inneren wie auch allen von außen kommenden Beeinträchtigungen, wobei die Hilfe zweckmäßiger Weise an den persönlichen Stärken des jeweiligen Menschen ansetzt und seine Selbstentfaltungskräfte stützt. Die Problemlage eines Menschen in den Blick nehmen, heißt dabei immer auch, die Person in ihrem Umfeld zu orten und in ihren personalen Interaktionen wahrzunehmen. Diagnose, Analyse und Korrektion/Kompensation von Schädigungen sind in diesem Zusammenhang nur Elemente des pädagogisch-rehabilitativen Prozessablaufs. – Im Zusammenhang mit der geänderten Zielrichtung der pädagogischen Interventionen haben sich auch ihre Formen und Instrumentarien schwerpunktmäßig verschoben. Maßnahmen der Außensteuerung treten zurück gegenüber dem Bemühen um die Gestaltung eines Lern- und Lebensraumes, in dem die Kräfte der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des heranwachsenden Menschen im Austausch mit den Personen und Sachgegebenheiten seiner Umwelt bestmöglich gefördert werden. – International und neuerdings auch national treten vermehrt Bestrebungen hervor, unter der Bezeichnung „Inklusion“ strukturelle sowie institutionelle Veränderungen herbeizuführen, welche es gesellschaftlich wie bildungsorganisatorisch zulassen, innerhalb eines gemeinsamen Ganzen den Individualbedürfnissen jedes Menschen
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angemessen Rechnung zu tragen (vgl. hierzu z. B. Themenheft „Von der Integration zur Inklusion“ Sonderpädagogische Förderung, Heft 4/2003). Vorstellungen und Wünsche über Änderungen im Erziehungshandeln und im Erziehungsgeschehen betreffen sowohl konkrete Handlungsentwürfe als auch übergreifende Prinzipien wie – Erziehung zur personalen und sozialen Integration, zu Selbstbestimmung und Authentizität sowie zur Befähigung zu soziokultureller Teilhabe (Speck, 2003, S. 364), Erziehung gemäß den individuellen Erziehungserfordernissen (dem individuellen Förderbedarf), nicht ausgerichtet nach typisierenden Behinderungskategorien (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000; Speck, 2003), – Erstellen individueller Erziehungspläne für jedes Kind, jeden Jugendlichen (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000), vorrangig nach dem Prinzip des adaptiven Unterrichts (Wember, 2001), – Sonderpädagogische Hilfe als „Lebens- und Lernbegleitung“ (Begemann, 1997, 2002), „pädagogische Entwicklungsförderung“ (Wachtel & Wittrock, 2001) und im Sinne von „Empowerment“ (Theunissen, 2002), – Risiken in der kindlichen Entwicklung zunächst als Entwicklungsgefährdungen sehen, sie nicht vorschnell als Defizite einordnen, sondern darum bemüht sein, die dem Menschen gegebenen Schutzfaktoren und Widerstandskräfte (Resilienz) zu aktivieren und zu stärken (Opp, Fingerle & Freytag, 1999), – lernortoffene pädagogische Förderung je nach Gegebenheiten und örtlichen Möglichkeiten mit der Präferenz der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000) sowie – Förder- und Hilfsangebote über die gesamte Lebensspanne hinweg sicherstellen (Frühförderung, schulische und außerschulische Förderung, berufliche Förderung, Lebens- und Berufsberatung). Man darf bei dieser Auflistung von Aufgabenstellungen nicht vergessen, dass es sich dabei vorwiegend um Ableitungen aus normativen Setzungen handelt und weniger um hinreichend wissenschaftlich gesicherte Aussagen auf deskriptiver Ebene. Entscheidend für die pädagogische Praxis ist jedoch immer, wie die genannten globalen Zielsetzungen in tragfähige theoretische Konzepte im Einzelnen und in zuverlässige Empfehlungen für das Erziehungshandeln umgesetzt werden können. Dies erweist sich, sofern überhaupt möglich, häufig als recht aufwendig. Am Beispiel des neuerdings favorisierten Empowerment-Konzepts wird dieses Problem gut sichtbar. So etwa hat Theunissen kürzlich für die Umsetzung des Empowermentansatzes in der Heilpädagogik acht „Assistenzformen“ in der Arbeit mit geistig- und lernbehinderten Menschen herausgearbeitet. Sie bilden recht gut den pädagogischen Aufgabenrahmen ab, innerhalb dessen Hilfestellung stattfinden soll bzw. kann – wohlgemerkt im Sinne von „Assistenz“, nicht in Form außenlenkender Erziehungsmaßnahmen: 1. Lebenspraktische Assistenz (pragmatische Hilfen zur Alltagsbewältigung) 2. Dialogische Assistenz (Herstellung und Fundierung einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung und kommunikativen Situation)
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| Teil I: Gegenstandsbereich 3. Konsultative Assistenz (gemeinsame Beratung in Bezug auf psychosoziale Probleme, Lebenspläne, Lebensziele, Zukunft) 4. Advokatorische Assistenz (Anwaltschaft, Fürsprecherfunktion, Stellvertreterschaft, Dolmetscher) 5. Facilitatorische Assistenz (wegbereitende, i. S. e. subjektzentrierten Förderung auf der Basis ‚offener Curricula‘) 6. Lernzielorientierte Assistenz (Hilfen zur Selbsthilfe durch strukturierte Lernangebote) 7. Sozialintegrierende Assistenz (soziale und gesellschaftliche Integrationshilfe) und 8. Intervenierende Assistenz (z. B. Halt gebende, stützende Hilfen im Falle von Verhaltensauffälligkeiten) (Theunissen, 2002, S. 181). „Diese Aufgaben“, so Theunissen, „signalisieren den Wandel vom herkömmlichen Betreuungsmodell und Paternalismus in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe hin zu einer Helferkultur, die die Rechte, Bedürfnisse, Potentiale und Perspektiven behinderter Menschen ernst nimmt und respektiert“ (2002, S. 181). Aus praktisch-pädagogischer Sicht kann es keine Frage sein, dass hier ein recht überzeugender Katalog von Reformvorschlägen für angemessenes heilpädagogisches Erziehungshandeln vorgelegt wird, das vom Autor an anderer Stelle auch weiter expliziert ist (Theunissen & Plaute, 2002). Die Vorschläge dürften in dieser allgemeinen Form auch allseits Unterstützung erfahren, zumal nicht wenige davon, zumindest teilweise, längst praktische Umsetzungen erfahren haben. Dennoch ist das Konzept selbst dem Status nach bislang nichts anderes als eine neuere Erziehungslehre. Sie kann sich zwar auf hinreichend positive praktische Erfahrungen stützen, bedarf aber sicherlich weiterer wissenschaftlicher Bearbeitung. Dies betrifft weniger den Gesamtentwurf. Der wird hinsichtlich seiner Sollensinventarien ohnehin nur normativ zu begründen sein. An Gewicht nach wissenschaftlichen Kriterien wird er aber umso mehr gewinnen, je stärker seine deskriptiven Thesen zur Erziehungswirklichkeit sowie entsprechende Handlungsanweisungen empirisch abgesichert sind. Der vorhandene mittlerweile reiche Bestand an pädagogisch-praktischem Erfahrungswissen bietet in diesem Falle eine vorzügliche Basis, um notwendige evaluative Prozesse in Gang zu setzen. 2.3.2 Aussagen und Ergebnisse zu den Aufgabenstellungen auf deskriptiver und präskriptiver Ebene Was bislang zum Gegenstand und den Aufgaben einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens referiert und diskutiert wurde, beinhaltet neben theoretischen Erörterungen vor allem Vorstellungen und Forderungen zu Zielen und Prinzipien der Erziehung; das beträfe Punkt 1 des eingangs genannten Aufgabenkatalogs (Erstellung, Begründung und Reflexion von Sollensinventarien, welche die Richtung der Erziehungsbemühungen in diesem Sektor und konkrete Zielangaben ausweisen – Normation). Die jeweilig genannten Zielsetzungen selbst entstammen dabei zum einen philosophisch-anthropologischen, ethischen und bildungspolitischen Erwägungen. Sie beruhen zum anderen aber auch auf langjährig gewachsenen und verdichteten Erziehungs- und Unterrichtserfahrungen im
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Umgang mit schulversagenden Kindern. Didaktik und Unterrichtsmethodik waren hier die Kristallisationspunkte. Zur Begründung der verschiedenen Zielsetzungen wurde häufig auf Ableitungen aus medizinischen, psychologischen und in jüngerer Zeit auch soziologischen Wissensbeständen zurückgegriffen. So stellt sich die deutsche Behindertenpädagogik, folgt man der einschlägigen Fachliteratur, insgesamt stärker als eine Disziplin dar, die ihre Zielsetzungen und Aufgabenstellungen vornehmlich normativ und anhand praktischen Erfahrungswissens begründet und sehr viel weniger mit empirisch-analytisch gewonnenen Erkenntnissen. Dies ist insofern bemerkenswert, als das Arbeitsgebiet der Behindertenpädagogik selbst vor allem mit real-anthropologischen Gegebenheiten befasst ist und nicht so sehr mit erziehungsphilosophischen. Bei der Begründung und schulorganisatorischen Etablierung der Heilpädagogik vor über 100 Jahren ging es darum – und dies gilt auch für die Gegenwart – konkrete Hilfe in pädagogischen Notfällen zu leisten und Kinder mit Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen im Prozess ihrer personalen und sozialen Integration (vgl. Speck, 1977, S. 98) zu begleiten und zu unterstützen. Für diese Aufgaben aber bedarf es vornehmlich der empirischen Analyse der Bedingungsstrukturen sowie eines gesicherten Veränderungs- und Handlungswissens. Nun sollen hier nicht die unterschiedlichen pädagogischen Aufgabenstellungen gegeneinander aufgewogen werden. Erziehungshandeln ohne Reflexion ist ebenso wenig vertretbar, wie sich Nachdenken über Erziehung ohne Bezug auf die Erziehungswirklichkeit in fruchtlosen Spekulationen ergeht. Das Erstellen von Erziehungszielen geht, auch wenn dies implizit erfolgt, immer dem Erziehungshandeln voraus. Das Überprüfen des Erfolgs erzieherischen/unterrichtlichen Handelns ist jedoch notwendiges Element der Selbstvergewisserung des Handelnden und Voraussetzung für weiteres Vorgehen. Anders gewendet: Behindertenpädagogik/Sonderpädagogik/Heilpädagogik hat das „Orientierungswissen“ für ihren Bereich zu erarbeiten und bereitzustellen. Sie muss aber ebenso Sorge tragen für wissenschaftlich zulängliches „Handlungs- und Veränderungswissen“, das unumgänglich ist, um jeweilige Zielsetzungen zu erreichen. Nur dann kann Sonderpädagogik/Behindertenpädagogik ihrer genuinen Aufgabe gerecht werden, Menschen in erschwerten Lernsituationen wirksame Hilfe zu leisten Das erforderliche Handlungs- und Veränderungswissen wurde traditionell, wie oben schon gesagt, in der Behindertenpädagogik überwiegend dem eigenen pädagogischpraktischen Erfahrungsbestand entnommen, ergänzt durch Ergebnisse und Methoden aus Nachbarwissenschaften wie Medizin, Psychologie und Soziologie. In den letzten Jahren haben sich jedoch die Aktivitäten verstärkt, Eigenuntersuchungen zur Analyse des Arbeitsfeldes und seiner Bedingungsstrukturen durchzuführen und vor allem effiziente Förderprogramme zu entwickeln. Arbeiten aus der empirischen Sonderpädagogik (z. B. Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Kretschmann, 2003), speziell der experimentellen Sonderpädagogik (Masendorf, 1997) und der Heilpädagogischen/Sonderpädagogischen Psychologie (Borchert, 2000; Bundschuh, 2002; Fengler & Jansen, 1999), kommt dabei eine Vorreiterrolle zu. Außerdem war die derzeit laufende systematische Aufarbeitung der Psychologie als Wissenschaft Anlass, auch Randgebiete wie Lernschwierigkeiten (Zielinski, 1996), Lesen und Leseschwierigkeiten (Scheerer-Neumann, 1997), Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten bei Schülern (Klauer & Lauth, 1997) usw. aufzuarbeiten und damit unmittelbar behindertenpädagogische Problemstellungen anzugehen.
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| Teil I: Gegenstandsbereich Bundschuh (2002) charakterisiert in diesem Zusammenhang Heilpädagogische Psychologie als einen Wissenschaftsbereich, „der Erkenntnisse der Psychologie (Entwicklungs-, Lern-, Sozialpsychologie, Diagnostik, Klinische Psychologie/Therapiebereich) auf das Arbeitsfeld der Sonder- und Heilpädagogik transferiert, um bessere Aussagen über Ursachen (Ätiologie), Erscheinungsweisen (Phänomene), Diagnose und Möglichkeiten der Förderung (Lernen/Therapien) bei vorliegenden erschwerten Erziehungs- und Lernprozessen zu ermöglichen, als dies auf der Basis einer rein pädagogisch-sonderpädagogischen Fragestellung möglich wäre“ (S. 85). Zu den von ihm genannten fünf Bereichen referiert er den für die Heilpädagogik relevanten Sachstand und erörtert jeweils aktuelle Problemlagen. Fengler und Jansen haben bereits in den 80er Jahren eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse zur Psychologie behinderter Menschen vorgelegt und wiederholt aktualisiert. In ihrem Handbuch der Heilpädagogischen Psychologie (1999) sind von Kornmann zum Theoriekonzept der Lernbehindertenpädagogik und der sich daraus ergebenden Aufgabenstellungen sehr bedenkenswerte forschungsmethodische und erkenntnistheoretische Einwände vorgetragen worden. „Die Population der ‚Lernbehinderten‘“, so seine Argumentation, „lässt sich nicht unabhängig von der schulischen Zuordnungsentscheidung definieren“ (S. 99). Nachdem diese jedoch stark situations- und weniger personabhängig erfolge, fehle es für die nähere Bestimmung Lernbehinderter an allgemein anerkannten Kriterien, die eindeutig und sinnvoll zugleich seien. Lernbehinderungen werden in der Ergebnisdarstellung bei Kornmann folgerichtig „nicht nur differentialpsychologisch, also im Sinne bestimmter Merkmale von Personen, sondern auch allgemeinpsychologisch, also im Sinne bestimmter Merkmale von Lernprozessen, interpretiert“ (S. 122). Dies entspricht neueren Auffassungen zum Phänomen „Lernbehinderung“, wie sie auch andernorts vertreten werden (z. B. Borchert, 2000; Hallahan & Kauffman, 1997; Helmke, 1992; Kanter, 1998; Masendorf, 1997) und auch die Position im vorliegenden Handbuch bestimmen. In Kapitel 1 finden sich differenzierte tabellarische Übersichten über Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen allgemein (nicht eingeengt auf die Gruppe lernbehinderter Kinder in Schulen) nebst ausführlichen Erläuterungen. Dabei sind die Ergebnisse der einschlägigen Untersuchungen problembezogen zusammengestellt, so dass Umsetzungsmöglichkeiten für das pädagogische Handeln unmittelbar einsichtig werden. Auf das derzeitige Standardwerk für dieses Gebiet, das Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie (Borchert, 2000), wird wegen seiner übergreifenden Bedeutung für das Aufgabenspektrum der Disziplin nachfolgend etwas näher eingegangen. Anhand der in diesem Werk gesammelten Beiträge lassen sich Umfang, Differenziertheit und Komplexität der Aufgabenstellungen einer Psychologie bei Beeinträchtigungen menschlichen Lernens und einzelmenschlicher Entwicklung gut abschätzen; und es dürfte dabei deutlich werden, dass für erforderliche pädagogisch-psychologische Maßnahmen Einfachrezepte nicht ausreichen. Vielmehr bedarf es bei erheblichen Lernstörungen in aller Regel professioneller Hilfestellung. Im genannten Handbuch ist der Herausgeber bemüht, hierzu das vorhandene, jedoch weit verstreute „psychologische Wissen über Menschen mit Behinderungen zu bündeln und auf aktuellem Stand zur Verfügung zu stellen“ (Borchert, 2000, S. VI). Dies geschieht zum einen nach behinderungsübergreifenden und zum anderen nach behinderungsspezifischen Gesichtspunkten. Die Ergebnisse sind nach fünf inhaltlichen Schwerpunkten geordnet:
Kapitel 2: Gegenstand und Aufgaben | 51
1. Fragen zu den klassischen Behinderungsformen (Lernbehinderungen, Verhaltensstörungen, Sprachbehinderungen, geistige Behinderungen, Körperbehinderungen usw.), 2. Konstruktionen und Perspektiven auf der Basis von Theoriemodellen (tiefenpsychologische, verhaltenstheoretische, humanistisch-psychologische, dialektisch-materialistische, medizinische, interaktionstheoretische, systemtheoretische, soziologischethnologische Ansätze), 3. arbeitsfeldbezogene Fragestellungen (Diagnostik, Prävention, Unterricht, schulische und außerschulische Integration, Probleme in nachschulischen Lebenswelten), 4. spezifische Interventionen, und zwar zum einen im Erziehungsbereich (Elternarbeit, Beratung, Supervision usw.) und zum anderen in Form von speziellen Trainings-, Förder-, Korrektions- sowie Kompensationsmaßnahmen (Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung, Entspannungsverfahren, Spielförderung, Fördern des Denkens, der Metakognition, der Sprache und der Motivation, Interventionen bei Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, bei Impulsivität, Hyperaktivität, Aggressivität, Angst, bei Kommunikationsausfällen in Form unterstützter Kommunikation usw.) und 5. Forschungsfragen und Forschungsperspektiven. Was hier an psychologischem Kenntnisbestand und Verfahrenswissen zusammengetragen wurde, bezieht sich auf die gesamte Breite möglicher Formen menschlichen Behindertseins, nicht nur auf den Teilbereich „Beeinträchtigungen des Lernens“. Für Aufgabenstellungen aus letzterem Sektor wären Informationen und geeignete Handlungsempfehlungen jeweils fallbezogen auszuwählen, aufzubereiten und in Form individueller Förderpläne umzusetzen. Diese Art sukzessiven und individualisierenden Vorgehens im Prozessablauf (sonder-)pädagogischer Förderung ist kennzeichnend für heutige Maßnahmenkonzepte, nachdem sich gezeigt hat, dass bei Schülern mit Lern- und Leistungsausfällen gezielte Fördermaßnahmen größere Erfolgswahrscheinlichkeit haben als ungerichtete methodisch-didaktische Prinzipien allgemeiner Art (z. B. Böhm, 2002; Helmke & Weinert, 1997, S. 140 ff.; Weinert, 1996, S. 30 ff.; Wember, 1999). Im Einzelnen sind es drei Aspekte, die beachtet werden müssen: 1. Hohe Fachkompetenz (Handlungs- und Veränderungswissen) seitens der pädagogisch-psychologischen Helfer ist Basisvoraussetzung für alles Erziehungshandeln und effektives pädagogisch-rehabilitatives Fördern. 2. Dem Erziehungshandeln muss die fallbezogene Abklärung der jeweiligen erschwerten Lernsituation vorausgehen (Eingangsdiagnose) bevor Begleitdiagnostik im weiteren Verlauf sodann die Maßnahmenauswahl und -modifikation steuert. 3. Angesichts der zunehmenden Diversifikation von pädagogisch-rehabilitativen Maßnahmen nach Art und Ort (externe/interne Einzelförderung, Gruppenförderung, unterrichtsintegrierte Förderung usw.) ist das Erstellen und Fortschreiben eines individuellen Förder- und Erziehungsplans für jedes Kind und jeden Jugendlichen unerlässlich. Daraus ergibt sich insgesamt eine wesentliche Veränderung der Aufgabenstellungen für die Praxis der pädagogisch-psychologischen Förderung: An die Stelle allgemeiner Prin-
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| Teil I: Gegenstandsbereich zipien in der Praxis der Lern- und Entwicklungsförderung bei Beeinträchtigungen des Lernens muss, soweit möglich, eine konzeptgebundene Lernförderung treten, und zwar bezogen auf die jeweilige Situation bzw. den jeweiligen Fall. Dies bedeutet nun aber nicht, die in der Unterrichtspraxis bewährten allgemeinen didaktischen Prinzipien samt und sonders zu verwerfen. Vielmehr geht es darum, sie fall- und situationsbezogen auszuwählen und zielgerichtet einzusetzen. Die bekannte „Kleinstschritttechnik“ bei der Erarbeitung von Unterrichtsgegenständen z. B. mag für den einen Schüler förderlich und notwendig sein, damit er für ihn unüberschaubare Lehrangebote Schritt für Schritt aufnehmen und verarbeiten kann. Für einen anderen kann dasselbe Verfahren dagegen höchst „geisttötend“ und demotivierend wirken, weil sein Lernproblem nicht in der erschwerten Aufnahme und Strukturierung von Lerninhalten liegt, sondern in einer zu kurzen und schwankenden Aufmerksamkeitsspanne. Das heißt, bei gegebenenfalls äußerlich gleichen Leistungsrückständen können völlig unterschiedliche Förderhilfen angezeigt sein. Über eben diese, der jeweiligen Situation angemessenen Interventionen nebst zulänglicher Begründung müssen individuelle Förderpläne Auskunft geben. Wie van der Kooij (2000) vermerkte, haben Sonder-Pädagogik wie Sonderpädagogische Psychologie gleichermaßen die Aufgabe, Hinweise (Handlungs- und Veränderungswissen) zu erarbeiten, wie problematischen Erziehungssituationen begegnet werden kann. So ergeben sich denn auch bezüglich der Aufgabenstellungen und Handlungsempfehlungen einer „Experimentellen Sonderpädagogik“, wie von Masendorf (1997) vertreten, zahlreiche Parallelen zu denen der Sonderpädagogischen Psychologie. Zunächst ist hier festzuhalten, dass sich in jüngerer Zeit in der Pädagogik allgemein wie auch in der Sonderpädagogik wieder stärker die Einsicht der Notwendigkeit durchsetzt, vermehrt empirisch zu arbeiten und speziell auch experimentelle Forschung zu betreiben, wobei es insbesondere um die Optimierung der Erziehungsund Unterrichtspraxis sowie um die Entwicklung spezifischer Förderprogramme geht. Dazu bedarf es unter pädagogisch-rehabilitativen Aspekten, wie die vorliegenden Arbeiten ausweisen, vor allem der besseren Aufklärung des Bedingungsgefüges von erschwerten Lernsituationen sowie der Erforschung der differentiellen Wirkungen verschiedener Formen des Erziehungs- und Unterrichtshandelns. Dabei kann z. B. das Wissen um allgemeine Gesetze des Lernens als erster Orientierungsrahmen für das Handeln dienen, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bedürfen aber modifizierender Konkretisierungen entsprechend den je spezifischen Aufgabenstellungen; und wie diese vorzunehmen sind, lässt sich nur über empirische Forschung erfahren. Das exakt kennzeichnet die heutige Bedarfslage im pädagogisch-psychologischen Arbeitsfeld. An selbstgewissen Meinungen, was gute und richtige Erziehung ist, fehlt es hier nicht. Doch gründet die Zuverlässigkeit dieser Aussagen oft auf blankem Heurismus, und die jeweiligen Handlungsempfehlungen sind zudem nicht selten widersprüchlich. Fazit: Umfang und Vielfalt erfahrungswissenschaftlich anzugehender Fragestellungen sind gerade bei Beeinträchtigungen des Lernens in hohem Maße gegeben. Der derzeitige Kenntnisstand zur Sache ist jedoch relativ gering, und die Forschungsaktivitäten halten sich bei allem Interesse in Grenzen. Reden über Erziehung lässt sich eben sehr viel leichter als begründet und wirksam zu handeln.
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2.4
Resümee
Die Darlegungen zu Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens lassen sich in fünf Kernaussagen zusammenfassen: 1. Mit der Bezeichnung Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens (Lernschwierigkeiten, Lernstörungen, Lernbehinderung) ist ein Arbeits- und Forschungsgebiet umschrieben, das zwar eine Schwerpunktsetzung sowohl innerhalb der Pädagogik als auch innerhalb der Psychologie erlaubt und zweckmäßig erscheinen lässt, dessen sinnvolle definitorische Abgrenzung als eigenständige Disziplin sich aber dennoch nicht anbietet. Pädagogik und Psychologie bei Behinderten (Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik bzw. Heilpädagogische/ Sonderpädagogische Psychologie usw.) sind nichts anderes als Pädagogik bzw. Psychologie und sollten es auch bleiben – allerdings fokussiert auf Aufgabenstellungen, die sich aus erschwerten Erziehungs- und Lernsituationen ergeben. Das bedeutet zum einen, dass alle Erkenntnisse und Methoden der Stammdisziplinen grundsätzlich auch für die jeweiligen Teilgebiete Gültigkeit haben, zum anderen aber, dass die genannten spezifischen Fragestellungen in Forschung, Lehre und Praxis bevorzugt angegangen und aufgearbeitet werden müssen, und zwar lernort- und erziehungsbereichübergreifend. 2. Soweit von Lernbehindertenpädagogik, Förderpädagogik usw., bezogen auf Schule oder außerschulische Arbeitsgebiete, gesprochen wird, sind mit diesen Bezeichnungen immer nur organisationssoziologische Ausdifferenzierungen im Sinne von Aufgabenteilung im gegenwärtigen öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesen gemeint – Ausdifferenzierungen als „strukturnotwendige“ Folge der unzulänglichen Wahrnehmung genuiner Aufgaben der „Normalpädagogik“ (vgl. Lindmeier, 2000; Oevermann, 1997). Die zugehörigen Arbeitsgebiete haben sich in einer über 100-jährigen Entwicklung herausgebildet und decken in der heutigen Pädagogik notwendige Aufgaben und Funktionsbereiche jeglichen Erziehungshandelns ab, also sowohl innerhalb des Regelschulwesens als auch – wenn dieses dazu nicht in der Lage ist – in eigenständigen Organisationseinheiten. Solange es daher nicht gelingt, diese heilpädagogischen Aufgaben im Rahmen der Normalpädagogik binnendifferenzierend in angemessenem Umfange und hinreichend professionell wahrzunehmen, werden Formen der äußeren Differenzierung im Interesse aller Beteiligten unvermeidlich bleiben. Denn wie zu Zeiten der Hilfsschulgründungen im 19. Jahrhundert sind die Regelschulen auch heute vielerorts noch nicht in der Lage, den Anforderungen spezifischer Lern- und Erziehungshilfe zu entsprechen; und Kinder und Jugendliche, die den Regelanforderungen der allgemeinen Schule ohne besondere pädagogische Hilfe nicht gewachsen sind, wird es immer geben. – In der Diskussion über Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens muss folglich zwischen Erfordernissen unterschieden werden, die sich aus internen und umfeldbezogenen Lernerschwernissen des Kindes und Jugendlichen selbst ergeben, und solchen, die aus strukturellen Vorgaben des Bildungs- und Erziehungswesens resultieren. 3. Zur Aufgabe der Pädagogik, Richtziele sowie Sollensinventarien für das Erziehungshandeln bei Beeinträchtigungen des Lernens zu erstellen, zu begründen und zu reflek-
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| Teil I: Gegenstandsbereich tieren, liegen verschiedene Konzeptionen vor, die teilweise miteinander konkurrieren. Sie stimmen in ihrem Grundtenor jedoch mit Richtzielen überein, wie sie von der Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland 1994 formuliert wurden: Sonderpädagogische Förderung soll das Recht der behinderten und von Behinderung bedrohten Kinder und Jugendlichen auf eine ihren persönlichen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung und Erziehung verwirklichen. Sie unterstützt und begleitet diese Kinder und Jugendlichen durch individuelle Hilfen, um für diese ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbständiger Lebensgestaltung zu erlangen. (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, II.1.)
Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden in der Bildungsöffentlichkeit gegenwärtig jedoch verschiedene Deutungspräferenzen diskutiert. Dabei geht es hauptsächlich um ethische Aspekte gegenüber mehr utilitaristischer Erwägungen und im Zusammenhang damit um gesellschaftliche Wertschätzungen ideeller, aber nicht selten auch rein ökonomischer Art. 4. Die o. g. Richtzielformulierung der Kultusministerkonferenz zur sonderpädagogischen Förderung beinhaltet zwei Basisaufgaben: Erstens soll das Recht auf Erziehung verwirklicht werden, zweitens die gesellschaftliche Eingliederung und Teilhabe sowie eine selbständige Lebensgestaltung für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche erreicht werden. Nun bedarf es, um Erziehungsund Bildungsaufgaben nach den vorgegebenen Zielsetzungen sach- und fachgerecht wahrnehmen zu können, eines zuverlässigen Veränderungs- und Handlungswissens. Derartiges Wissen hat sich zum einen in langjähriger, von kritischer Reflexion begleiteter Praxis angesammelt und seinen Niederschlag in traditionellen Erziehungslehren gefunden. So gewonnene Erziehungs- und Unterrichtsprinzipien genügen Kriterien empirisch-wissenschaftlicher Forschung jedoch nicht. Sie sind als Ergebnis vorwiegend geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung auch nicht darauf angelegt. Von Beschreibungen und Analysen der Erziehungswirklichkeit nach empirischanalytischem Wissenschaftsverständnis wird dagegen verlangt, dass sie mittels anerkannter sozialwissenschaftlicher Instrumentarien gewonnen werden. Aussagen zum Erziehungshandeln sowie zu Interventionen im Erziehungsumfeld müssen empirischen Gütekriterien genügen. Der Prozess derartiger erfahrungswissenschaftlicher Absicherung von pädagogisch-psychologischer Deskription und Präskription hat zwar in den letzten Jahrzehnten in der Pädagogik zugenommen, kommt aber nicht zuletzt wegen des hohen Arbeits- und Forschungsaufwandes nur langsam voran. 5. Qualität und Effektivität von Erziehen und Unterrichten hängen zwar fraglos zu gro ßen Teilen vom Maß an wissenschaftlich zuverlässigem und gültigem pädagogischpraktischem Handeln ab, es wäre aber unrealistisch zu glauben, alles Erziehungshandeln ließe sich je im Sinne empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses absichern. Ohne den reichen Fundus an verdichteter und reflektierter Praxiserfahrung und pädagogischer Handlungstradition wären Erziehung und Unterricht auch in heutiger Zeit nicht möglich. Seit dem Bemühen um wissenschaftlich begründete Päd-
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agogik, d. h. um theoretisch geleitetes Erziehungshandeln, ist ein ständiger Prozess im Gange, die tradierten Erziehungs- und Unterrichtsprinzipien auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Auch die bisher vornehmlich geisteswissenschaftlich begründeten Erziehungsprinzipien basieren ja in beachtlichem Umfange auf Erfahrungswissen. Was daher heute gefordert wird, ist vor allem die strengere wissenschaftliche Absicherung der Aussagen, nicht jedoch eine Verabsolutierung von Erziehungstechnologie. Außerdem bleibt da noch das Problem der „pädagogischen Differenz“, wie das Benner (2001, S. 323) genannt hat. Unmittelbare Ableitungen des Handelns aus der Theorie und umgekehrt sind im Bereich der Pädagogik grundsätzlich nicht möglich. Pädagogik kann immer nur Orientierungswissen bieten und gemeinsam mit der Psychologie Handlungsempfehlungen erarbeiten, nie „Gebrauchsanweisungen“ für Erziehung liefern. Aufgabe einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens ist es, so wäre in Anlehnung an Hanselmann abschließend und kurzgefasst zu formulieren, Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Menschen zu erforschen und vor allem dann auch zu realisieren, deren Entwicklung im Bereich des Lernens aus verschiedenen Gründen behindert verläuft, voraussichtlich behindert verlaufen wird oder von Behinderung bedroht ist.
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Teil II
Theoretische Ansätze zur Erklärung von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung
Einführung Markus Strobel und Andreas Warnke bringen in ihrem Beitrag aus der Perspektive des medizinischen Paradigmas dem Leser das vielfältige Spektrum der Lern- und Leistungsstörungen näher. Neben grundsätzlichen Überlegungen zur ätiologischen Gliederung und Klassifikation kommen prä-, peri- und postnatale Einflussfaktoren unter neuropsychologischen Gesichtspunkten zur Darstellung. Aufgrund vergleichsweise hoher Prävalenzraten werden Lernbehinderungen im Sinne eines allgemein erniedrigten intellektuellen Leistungsvermögens sowie umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten eingehend erläutert. Da das interaktionstheoretische Paradigma in der sonderpädagogischen Rezeption manchmal zu sehr auf den Etikettierungsansatz reduziert oder bruchstückhaft zur Kenntnis genommen wird, gibt Rainer Benkmann zunächst Hinweise auf seine theoretisch grundlegende Bedeutung für die Erklärung von Lernbeeinträchtigungen. Relevant in diesem Zusammenhang ist auch die Darstellung einiger Vorstellungen des sozialen Konstruktivismus, einer Weiterentwicklung des Symbolischen Interaktionismus. Auf diesem Hintergrund wird der Stigmatisierungsansatz erörtert. Dagmar Orthmann Bless erklärt im Rahmen des schulsystemischen Paradigmas Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen als systembedingte Devianz von Schulkarrieren. Im Unterschied zur systemischen Sichtweise insgesamt richtet die schulsystemische Betrachtungsweise ihren Fokus dabei in spezieller Weise auf die Funktionen und Strukturen des Anforderungssystems selbst. Lernbehinderung wird aus dieser Perspektive als systembedingtes Schulleistungsversagen erklärt, das seinen Ursprung in der formal bestimmbaren Zweckstruktur des Systems hat. Die Auseinandersetzung mit Funktionen und Strukturen des aktuellen Schulsystems bietet den Rahmen für eine Erläuterung der Spezifik von schulsystemischen Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, die in ihrer Konsequenz zur Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten führen. Dabei wird die Argumentation mit Bezug auf Theorien zum Organisationshandeln und in Auswertung der vorliegenden empirischen Befunde geführt. Katja Koch verdeutlicht in ihren Ausführungen sowie durch die von ihr herangezogenen empirischen Befunde, dass es sich bei lernbehinderten Schülern um eine Gruppe handelt, die zum Großteil unter sehr prekären sozioökonomischen Lebensbedingungen aufwächst. Im Zusammenwirken mit weiteren Faktoren können sich aus der Stellung der Familie innerhalb der Sozialstruktur Sozialisationsbedingungen ergeben, die zu soziokulturellen Benachteiligungen in der Institution Schule und mithin zu einer Gefährdung des Schulerfolgs führen, bei ungünstigem Verlauf und Wirken weiterer Faktoren bis hin zu Lernbeeinträchtigungen bzw. Lernbehinderung mit der Folge einer besonderen Beschulung. Für Werner Nestle kann die Betrachtung von Lernen und Lernbehinderung unter der Perspektive der Lern- und Entwicklungstheorien für Unterrichts- und Förderkonzepte sehr produktiv sein. Lern- und Entwicklungstheorien sind auch wichtige Inhalte der
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| Teil II: Theoretische Ansätze Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Um zu verhindern, dass diese Inhalte dogmatisch gelehrt und in der Praxis unreflektiert angewandt werden, sind deren erkenntnistheoretische Grundlagen und deren Wirkungen zu reflektieren. In diesem Beitrag wird an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und an der Lerntheorie des Konstruktivismus beispielhaft diskutiert, ob die Ansprüche von Theorien einer subjekt- und sachorientierten Lernkultur entsprechen. Nach Rolf Werning können Lernbeeinträchtigungen aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive als Ergebnis einer wenig hilfreichen strukturellen Koppelung zwischen dem Sozialsystem Schule und dem psychischen System des Schülers verstanden werden. Statt der Diagnose individueller Schwierigkeiten oder Defizite geht es somit um eine Beziehungsdiagnose, wobei die Ansätze einer pädagogischen Förderung an den vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen der Schüler ansetzen müssen. Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive können aber nicht direkt pädagogische Handlungsorientierungen abgeleitet werden. So werden weder spezifische Objekttheorien wie zum Beispiel zum Schriftspracherwerb oder zur Entwicklung mathematischer Einsichten überflüssig, noch verwirft der systemisch-konstruktivistische Ansatz eine erfahrungsorientierte Erforschung von (konstruierter) Wirklichkeit. Das systemisch-konstruktivistische Paradigma stellt sich vielmehr als ein integrativer Ansatz dar, der sich der Komplexität von Lernbeeinträchtigungen stellt und sich gegen eine Trivialisierung und Sozialtechnologisierung auch im Verständnis von und im Umgang mit Lernschwierigkeiten richtet.
3 Das medizinische Paradigma Markus Strobel und Andreas Warnke Lernen wird als aktiver, konstruktiver und zielgerichteter Vorgang verstanden, der den Aufbau und den Erwerb von Fähigkeiten auf der Grundlage des verfügbaren Vorwissens zum Ziel hat (Glaser, 1991). Lernen stellt einen Teilaspekt intelligenten Verhaltens dar, welcher die Auseinandersetzung des Individuums mit Umwelt und Entwicklungsaufgaben und somit die Aneignung von kognitiven, sprachlichen, motorischen oder sozialen Fertigkeiten und Kulturtechniken ermöglicht. Für den normalen Lernvorgang sind intakte Sinnesorgane (Auge, Ohr, Tast- und Gleichgewichtsorgane) und ungestörte Hirnfunktionen (Erfassungs- und Verarbeitungssysteme) ebenso erforderlich wie funktionierende Wiedergabe- und Erfolgsorgane (Sprache, Mimik und Motorik). Essentielle Bedeutung kommt im Weiteren emotionalen und motivationalen Bedingungen sowie einer altersgerechten Anregung und Förderung zu. Unter einer Lernstörung verstehen wir die Beeinträchtigung normalen menschlichen Vermögens, durch Erfahrung, Beobachtung, Übung und Einsicht Fähigkeiten neu zu erwerben oder zu verändern. Lernstörungen werden an mangelhafter Leistung sichtbar. Leistungsstörungen erkennen wir an dem Unvermögen des Kindes und Jugendlichen, normalerweise beherrschbare Fähigkeiten auf gewöhnlich zu erwartendem Niveau auszubilden. Primäre Lern- und Leistungsstörungen liegen vor, wenn die für eine Handlung notwendige Fähigkeit nicht entwickelt ist. Bei sekundären Lern- und Leistungsstörungen ist das Lern- und Leistungsvermögen zwar veranlagt oder erworben, die Fähigkeit dazu aber gehemmt. Bestehende Beeinträchtigungen der Lernfähigkeiten eines Kindes zeichnen sich mitunter bereits im Vorschulalter ab, sind jedoch in ihrer Ausprägung zu diesem Zeitpunkt nicht selten noch vergleichsweise unspezifisch, werden vernachlässigt oder im Sinne einer Entwicklungsverzögerung interpretiert. Mit Beginn der Schulzeit werden Kinder jedoch mit neuen spezifischen Entwicklungsaufgaben und Lerninhalten konfrontiert, setzen sich zunehmend mit eigenen Leistungsressourcen auseinander und suchen Vergleich und Orientierung innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen. Nicht selten werden in ihren Lernfähigkeiten beeinträchtigte Kinder angesichts schnell steigender schulischer Leistungsanforderungen, denen sie zunehmend nicht mehr gewachsen sind, nun erstmals auffällig. Andererseits können verschiedenste körperlich-neurologische Erkrankungen, psychische Störungen oder ungünstige Umfeldbedingungen sekundäre Lern- und Leistungsstörungen nach sich ziehen. Schulversagen und sozio-emotionale Verhaltensauffälligkeiten infolge von Lern- und Leistungsstörungen sind häufige Gründe einer Vorstellung von Kindern bei Schulpsychologen, Beratungsstellen oder Kinder- und Jugendpsychiatern. Zielsetzung der Autoren ist es, dem Leser in folgendem Beitrag das vielfältige Spektrum der Lern- und Leistungsstörungen aus medizinischer Sicht näher zu bringen. Neben grundsätzlichen Überlegungen zur ätiologischen Gliederung und Klassifikation kommen prä-, peri- und postnatale Einflussfaktoren unter neuropsychologischen Gesichtspunkten zur Darstellung. Aufgrund vergleichsweise hoher Prävalenzraten sollen im Weiteren die Lernbehinderung im Sinne eines allgemein erniedrigten intellektuellen Leistungs-
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| Teil II: Theoretische Ansätze vermögens sowie die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten eingehend erläutert werden.
3.1 Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS Ein wichtiger Fortschritt in der Entwicklung operationalisierter Klassifikationssysteme war die Etablierung eines multiaxialen Vorgehens. Das Konzept der multiaxialen Diagnostik hat in der Psychiatrie zwar lange Tradition, wurde aber erstmalig durch das Multiaxiale Klassifikationsschema (MAS) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie umgesetzt (Remschmidt & Schmidt, 1977; Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2001). Grundgedanke der multiaxialen Diagnostik ist die Erfahrung, dass man mit einer einzigen Diagnose, aber auch mit mehreren Diagnosen der Komplexität klinischer Bedingungen von Patienten nicht gerecht wird. Deshalb wird an Hand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, Merkmalsbereichen oder Betrachtungsebenen („Achsen“) zusätzlich zu der kinder- und jugendpsychiatrischen Hauptdiagnose relevantes Informationsmaterial kodiert (Herpertz-Dahlmann, Resch, Schulte-Markwort & Warnke, 2003). Hinter dem Phänomen von Lern- und Leistungsstörungen verbirgt sich eine Vielzahl von Ursachen, Defiziten und Störungen. Eine Anlehnung an das Multiaxiale Klassifikationsschema ermöglicht eine übersichtliche ätiologische Gliederung von Lern- und Leistungsstörungen unter Einbeziehung von Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung, psychiatrisch und körperlich neurologischen Erkrankungen sowie psychosozialen Umfeldfaktoren. Tabelle 1: Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS Erklärung von Lern- und Leistungsstörungen durch: Achse I
Klinisch psychiatrische Erkrankung z. B. Anpassungsstörungen, Schulangst und Schulphobie, Schizophrenie, affektive Störungen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen
Achse II
Umschriebene Entwicklungsstörung z. B. Lese- und Rechtschreibstörung, Rechenstörung
Achse III
Intelligenzminderung
Achse IV
Körperlich neurologische Erkrankung oder Behinderung z. B. Blindheit, Hörstörungen, Zerebralparese, Epilepsie, Stoffwechselerkrankungen
Achse V
Abnorme psychosoziale Umstände z. B. Deprivation, mangelnde Förderung, ungünstige ökonomische Verhältnisse, psychische Erkrankung eines Elternteils
Achse I: Klinisch psychiatrische Erkrankung. Psychische Störungen können sich bei Kindern und Jugendlichen zu unterschiedlichen Entwicklungszeitpunkten manifestieren und die Lern- und Leistungsfähigkeit der Betroffenen nachhaltig beeinträchtigen. Anpas-
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sungsstörungen sind vorübergehende, meist ängstlich-depressiv, mitunter jedoch auch dissozial geprägte und nicht selten mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten verknüpfte Störungen. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit psychisch überfordernden Erlebnissen wie zum Beispiel Elternverlust durch Scheidung oder Tod, Wohnortwechsel oder schwere Krankheit. Auch die beiden psychiatrischen Kategorien der Schulangst und Schulphobie sind ganz wesentlich durch eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Die Schulangst ist in negativen Erfahrungen im Schulbereich wie zum Beispiel Hänseleien durch Mitschüler, Lehrerkritik oder schlechten Schulnoten begründet. Die Schulphobie hingegen ist keine auf die Schule gerichtete Angst, sondern im Kern eine Trennungsangst, etwa weil das Kind die depressiv erkrankte Mutter nicht alleine zu Hause zurücklassen möchte. Anpassungsstörungen, Schulangst und Schulphobie sind demnach eher als Lern- und Leistungshemmungen zu charakterisieren und betreffen vor allem die Lern- und Leistungsmotivation als eine der zentralen Voraussetzungen schulischer und alltagsbezogener Lernprozesse. Affektive oder schizophrene Psychosen wiederum können einen erheblichen und manchmal persistierenden Leistungsabbau nach sich ziehen. Unter Psychosen werden krankhafte geistige und seelische Störungen verstanden, die akut oder schleichend einsetzen und mit schweren Veränderungen des Sinn- und Bedeutungserlebens der Umwelt einhergehen, die für andere nicht mehr einfühlbar sind. Sie gehen oft mit einem „Entwicklungsknick“ einher, der sich häufig zuerst im Leistungs- und Kommunikationsraum der Schule manifestiert. Ausgeprägte Lern- und Leistungsstörungen finden sich im Weiteren nahezu regelhaft bei Zwangs- und Angsterkrankungen oder tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem Asperger-Syndrom. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Prävalenzraten sind auch die hyperkinetischen Störungen anzuführen, welche nicht selten eine gravierende Beeinträchtigung der im schulischen Kontext essentiellen Aufmerksamkeitsleistungen und sozialen Integrationsfähigkeit bedingen. Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen. „Umschriebene Entwicklungsstörungen“ kennzeichnen gemäß der international verbindlichen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1999) Leistungsdefizite in spezifischen Entwicklungsbereichen, welche nicht direkt neurologischen Veränderungen, sensorischen Beeinträchtigungen, einer Intelligenzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet werden können. Der Beginn liegt ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit, der Verlauf ist stetig und nicht durch Remissionen und Rezidive charakterisiert. Der im deutschsprachigen Raum gebräuchliche Begriff der Teilleistungsstörungen betont diese isolierten Leistungsschwächen, findet jedoch in keinem internationalen Klassifikationssystem Verwendung. Neben den umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen und des Sprechens definiert die ICD-10 als Untergruppe die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Klassifiziert werden Entwicklungsstörungen des Rechnens sowie Lesens und Rechtschreibens. Als ursächlich werden derzeit neben anlagebedingten Faktoren und biologischen Einflüssen psychosoziale und soziokulturelle kausale Effekte diskutiert. Achse III: Intelligenzminderung. Lernbehinderung lässt sich in Anlehnung an die Kriterien der Intelligenzminderung als ein in Beziehung zum Altersdurchschnitt allgemein erniedrigtes Leistungsvermögen im Sinne eines Kapazitätsdefizits oder einer allgemeinen Minderbegabung beschreiben. Der normative Bezug kommt in der Definition zum
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| Teil II: Theoretische Ansätze Ausdruck, dass die Lernbehinderung auf der IQ-Rangskala zwischen dem Durchschnittsbereich (IQ 85-114) und dem Bereich der leichten geistigen Behinderung (IQ 50-70) anzusiedeln ist. Ähnlich den umschriebenen Entwicklungsstörungen werden im Sinne einer multifaktoriellen Genese anlagebedingte Faktoren, biologische, psychosoziale und soziokulturelle Einflüsse angenommen. Achse IV: Körperlich neurologische Erkrankung oder Behinderung. Lern- und Leistungsstörungen können im Rahmen unterschiedlichster körperlich neurologischer Erkrankungen und Behinderungen vorliegen. Exemplarisch sind angeborene oder erworbene Hör- und Sehstörungen, neurologische Systemerkrankungen wie die Multiple Sklerose, Fehlbildungen des ZNS, Epilepsien, Stoffwechselerkrankungen wie die Phenylketonurie oder Infektionen des ZNS anzuführen. Achse V: Abnorme psychosoziale Umstände. Für die Entwicklung der Lernfähigkeiten eines Kindes kommt u. a. dem Familienklima und Erziehungsverhalten, äußeren Voraussetzungen wie der ökonomischen und räumlichen Situation oder auch adäquaten Lernanreizen eine wichtige Rolle zu. Abnorme psychosoziale Umstände können im Sinne hemmender Störfaktoren die Ausformung von Lernstrategien oder die Nutzung vorhandener Lernfähigkeiten nachhaltig beeinträchtigen. So können Eltern, die an einer schweren psychischen oder körperlichen Erkrankung leiden, ihren Kindern möglicherweise keine ausreichende emotionale Zuwendung, Ruhe und Geborgenheit und kein harmonisches Lern- und Arbeitsklima bieten. Bezugspersonen in Schule und heimischem Umfeld, die die Leistungsbemühungen und Erfolge der Kinder nicht anerkennen oder loben, üben einen ungünstigen Einfluss auf die Lern- und Leistungsmotivation aus. Bei verwahrlosten und deprivierten Kindern ziehen fehlende Lernprozesse infolge chronischer emotionaler, intellektueller und körperlicher Unterforderung nicht selten Retardierung, Sozialisations-, Spiel- und Lernstörungen nach sich.
3.2 Ursachen von Lern- und Leistungsstörungen aus neuropsychologischer Sicht Aus neuropsychologischer Sicht bilden die im Rahmen prä- und postnataler Reifungsprozesse erworbenen neuronalen Vernetzungen und Verschaltungen die biologische Matrix der Kindesentwicklung und stellen eine notwendige Voraussetzung zur Ausbildung von Lernprozessen, Verhaltens- und Gedächtnisstrukturen sowie Wahrnehmungs- und Denkvorgängen dar. Genetische und nicht genetische biologische Einflüsse sowie psychosoziale Faktoren sind in der Lage, diese Reifungsprozesse günstig und ungünstig zu beeinflussen. Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass Phasen einer außergewöhnlich raschen neuronalen Entwicklung (Entwicklungsspurts) mit bekannten Etappen der kognitiven Entwicklung zu korrelieren scheinen. Diese zu verschiedenen Zeitpunkten beobachtbaren Entwicklungsspurts deuten darauf hin, dass es für die Wirksamkeit spezifischer Umwelteinflüsse und -erfahrungen sensible oder kritische Phasen gibt, in denen die Ansprechbarkeit des Zentralen Nervensystems auf bestimmte Reize erhöht ist. Abhängig von Entstehungszeitpunkt, Art sowie Ausdehnung und Lokalisation einer Störung findet man Funktionsausfälle auf verschiedenen Ebenen der Intelligenz, Lern- und Leistungsfähigkeit, Motorik, Sprache, Perzeption oder Informationsverarbeitung. Neben
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primären Funktionsausfällen infolge gestörter Reifung und Entwicklung sind sekundäre Beeinträchtigungen im Sinne eines Verlusts bereits erworbener Fertigkeiten anzuführen (Heubrock & Petermann, 2000). Die Ursachen von Hirnfunktionsstörungen bei Kindern und Jugendlichen lassen sich demzufolge nach Art (angeboren oder erworben) und Zeitpunkt (prä-, peri- oder postnatal) des Einwirkens entwicklungshemmender bzw. schädigender Faktoren gliedern. Pränatale Ursachen. Als angeborene Ursachen von Hirnfunktionsstörungen sind neben numerischen und strukturellen Chromosomenanomalien (z. B. Trisomie 21, TurnerSyndrom, fragiles X-Syndrom) Veränderungen zu nennen, welche einzelne oder mehrere Gene (z. B. Morbus Wilson, Phenylketonurie, Neuralrohrdefekte) betreffen. Pränatale Schädigungen können des Weiteren auf exogenen Faktoren wie toxischen Einwirkungen und Infektionen im Schwangerschaftsverlauf (z. B. Alkohol- oder Medikamentenabusus der Mutter, Cytomegalie-, Rötelnvirusinfektion), Gestosen, Blutungen oder Stoffwechselerkrankungen der Kindesmutter beruhen. Perinatale Ursachen. Die Perinatalperiode bezeichnet den Zeitraum zwischen der 24. Schwangerschaftswoche und ersten Woche nach der Geburt. Als wesentliche Risikofaktoren sind neben Infektionen, toxischen und anderen potentiell schädigenden Einwirkungen im späten Schwangerschaftsverlauf insbesondere Geburtstraumen und Frühgeburtlichkeit anzuführen. Das gemeinsame Problem von Frühgeburten unterschiedlicher Ursache besteht in der Unreife des kindlichen Organismus. Diese Unreife ist u. a. mit einer reduzierten Immunabwehr, unzureichenden Blutgerinnungsfähigkeit und eingeschränkten Funktionsfähigkeit des bronchopulmonalen Systems verbunden. Häufigere damit in Zusammenhang stehende neonatale Komplikationen sind Atemnotsyndrome, Hirnblutungen, Krampfanfälle oder septische Infektionsverläufe. Postnatale Ursachen. Zu den postnatalen, also nach der ersten Lebenswoche relevanten Einflussgrößen zählen entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems, ausgelöst durch Infektionen mit Viren, Bakterien, Pilzen oder anderen Erregern. Häufig sind nur die Hirnhäute betroffen (Meningitis), der Prozess kann jedoch auf das Gehirn übergreifen (Meningoencephalitis) oder dieses primär erfassen (Encephalitis). Als weitere postnatale Ursachen sind Impfschäden, Intoxikationen, Hirntumore, Mangelernährung, Stoffwechselerkrankungen oder cerebrale Anfallsleiden zu nennen. Auch Schädel-HirnTraumen sind bei Kindern relativ häufig und haben nicht selten bleibende Folgen. Die Tragweite einer Noxeneinwirkung ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Dies lässt sich am Beispiel der Alkoholembryopathie verdeutlichen. Das Ausmaß der im Embryo resultierenden Hirnschädigungen hängt, neben dem Alter der Mutter und dem Zeitpunkt des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft, vor allem unmittelbar mit der Menge des konsumierten Alkohols zusammen. Chronischer Alkoholmissbrauch der Mutter kann zum Vollbild der Alkoholembryopathie mit prä- und postnatalen Wachstumsstörungen des Kindes, Fehlbildungen und multiplen neuronalen Reifungsstörungen führen (Overholser, 1990; Russell, Czarnecki, Cowan & Mc Pherson, 1991; Korkman, Autti-Ramö, Koivulehto & Granström, 1998). Biochemisch lassen sich die gravierenden Auswirkungen von chronischem Alkoholabusus auf die embryonale Hirnentwicklung dadurch erklären, dass eine konstante Alkoholzufuhr die Durchlässigkeit der lipidreichen Nervenzellmembranen steigert, Oberflächeneigenschaften der Membranen und Enzymaktivitäten verändert und letztlich den Stoffwechsel beeinträchtigt (Hunt, 1985, zitiert
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| Teil II: Theoretische Ansätze nach Burns & Arnold, 1990). Spektrum und Ausmaß der neuropsychologischen Beeinträchtigungen können sich bei der Alkoholembryopathie außerordentlich variabel darstellen. Untersuchungen von Abel (1990) sowie Mattson, Gramling, Delis, Jones und Riley (1996) zeigten eine erhebliche Streuung der Intelligenztestwerte mit einer Bandbreite von 20 bis 100 bzw. 40 bis 103 IQ-Punkten. Weitere Studien ergaben bei den betroffenen Kindern in unterschiedlichem Ausmaß sprachbezogene, räumlich-konstruktive und feinmotorische Funktionsstörungen sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (Conry, 1990; Janzen, Nanson & Block, 1995; Phelps, 1995). Zahlreiche Längsschnittstudien belegen die Bedeutung der genannten prä-, peri- und postnatalen Risikofaktoren. So wiesen sehr kleine Frühgeborene in Untersuchungen von Breslau (1995) und Wolke (1991) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe Reifgeborener einen signifikant niedrigeren IQ auf. Hinsichtlich einzelner Funktionsbereiche ergaben sich Zusammenhänge mit Verzögerungen der Sprachentwicklung (Largo, Mollinari, Comenale, Weber & Duc, 1986) sowie mit Schwächen visuell-räumlicher und visuomotorischer Fähigkeiten (Breslau, 1995; Riegel, Ohrt, Wolke & Österlund, 1995). Laucht, Schmidt und Esser (2002) berücksichtigten im Rahmen der Mannheimer Risikokinderstudie nicht nur frühkindliche organische, sondern auch psychosoziale Risikofaktoren. Während prä- und perinatale Komplikationen vor allem die motorische und kognitive Entwicklung zu beeinträchtigen schienen, konzentrierten sich die Auswirkungen familiärer Belastungen im Bereich kognitiver und sozio-emotionaler Funktionen. Bis ins Schulalter hinein ließ sich ein kumulativer Einfluss der beiden Risikobereiche im Sinne einer Addition negativer Einzeleffekte nachweisen, so dass multipel belastete Kinder die größten Entwicklungsbeeinträchtigungen zeigten. Schienen die Ergebnisse älterer Untersuchungen zu belegen, dass frühe Entwicklungsrückstände von Risikokindern im Entwicklungsverlauf weitgehend kompensiert werden können (Rauh, 1984), so mehren sich in neueren Studien jedoch die Hinweise, dass die Folgen früher Belastungen bis in die Adoleszenz und in das junge Erwachsenenalter fortbestehen können (Botting, Powls & Cooke, 1997).
3.3 Lernbehinderung Die Bedeutung der Lernbehinderung liegt in ihrer Häufigkeit. Während Schätzungen zufolge 0,53 % der Kinder im Schulalter dem Personenkreis der geistig behinderten Menschen zuzuordnen sind und entsprechende Förderschulen besuchen, stellen die Schüler der Lernbehindertenschulen mit einem relativen Anteil von 2,5 % den größten Anteil an allen Sonderschulen (Thimm, 1999). Lernbehinderung lässt sich als ein in Beziehung zum Altersdurchschnitt allgemein erniedrigtes Leistungsvermögen im Sinne eines Kapazitätsdefizits beschreiben. Der normative Bezug kommt in der Definition zum Ausdruck, dass die Lernbehinderung im IQ-Bereich zwischen 70 und 84 anzusiedeln ist (Steinhausen, 1996). Die Frage, inwieweit Intelligenzstörungen primär hirnorganisch oder durch Lerneinflüsse begründet sind, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Zwillings- und Adoptionsstudien lassen den Schluss zu, dass die Erblichkeit von Intelligenz zwischen 0,45 und 0,80 anzunehmen ist. Eine Erblichkeit von 0,45 würde bedeuten, dass die Intelligenz zu
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55 % umweltbestimmt ist, ein Wert von 0,80, dass sie nur zu 20 % auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist. Ohne Zweifel ist die Intelligenzentwicklung multifaktoriell begründet. Störungen der Intelligenzentwicklung ergeben sich im Wesentlichen aus hereditären Faktoren, nicht hereditären hirnorganischen Ursachen, als Normvariante der multifaktoriellen Intelligenzveranlagung und schließlich auch durch schwere anhaltende frühkindliche Deprivation (vgl. die Übersicht bei Shaffer (1999) und Warnke (2003a,b)). Genetische und nicht genetische biologische Faktoren. Während bei mittel- und schwergradigen geistigen Behinderungen (IQ unter 50) häufig pränatale Ursachen im Sinne von Chromosomenanomalien oder gravierenden exogenen Einwirkungen nachweisbar sind (von Gontard, 1999), scheint sich die Ätiologie bei leichteren Formen der geistigen Behinderung und Lernbehinderung zunehmend in Richtung anlagebedingter und psychosozialer Faktoren zu verlagern. So fand sich bereits in der klassischen Arbeit von Roberts (1952) unter den Geschwistern von schwer geistig Behinderten eine der Allgemeinbevölkerung entsprechende IQ-Verteilung. Bei leichter geistiger Behinderung hingegen wurden zwischen den Geschwistern signifikante IQ-Korrelationen gefunden (Johnson, Ahern & Johnson, 1976). Häufiger als bei schwergradig geistig Behinderten waren ungünstige sozioökonomische Einflüsse festzustellen (Broman, Nichols, Shaughnessy & Kennedy, 1987; Drews, Yeargin-Allsopp, Decoufle & Murphy, 1995). Wenngleich bei der Lernbehinderung identifizierbare biologische Ursachen eine eher untergeordnete Rolle einnehmen, so sind doch verschiedene chromosomale Anomalien, Stoffwechselerkrankungen oder exogen verursachte Störungen bekannt, die mit einer Lernbehinderung einhergehen können. Während Chromosomenanomalien wie das Down- oder das Katzenschrei-Syndrom in der Regel mit unterschiedlichen Schweregraden geistiger Behinderung assoziiert sind, liegen beim Turner- oder KlinefelterSyndrom nicht selten durchschnittliche oder leicht unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten der Betroffenen vor. Stoffwechselerkrankungen wie die Phenylketonurie ziehen bei frühzeitiger therapeutischer Intervention mitunter nur leichte kognitive Leistungseinbußen nach sich. Nach mütterlichem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
Genetische Faktoren
Nicht genetische biologische Faktoren
Psychosoziale Faktoren und Umfeldbedingungen
Abbildung 1: Die multifaktorielle Ätiologie der Lernbehinderung
Lernbehinderung
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| Teil II: Theoretische Ansätze können sich Spektrum und Ausmaß der neuropsychologischen Beeinträchtigungen eines Kindes außerordentlich variabel darstellen. So zeigten Untersuchungen von Abel (1990) und Mattson et al. (1996) eine erhebliche Streuung der Intelligenztestwerte mit einer Bandbreite von 20 bis 100 bzw. 40 bis 103 IQ-Punkten. Psychosoziale Faktoren. Wie bereits erwähnt, scheint sich die Ätiologie bei leichteren Formen der geistigen Behinderung und Lernbehinderung zunehmend in Richtung anlagebedingter und psychosozialer Faktoren zu verlagern. So fanden sich bei 4-jährigen Kindern mit einer IQ-Minderung von 8 bis 20 Punkten unter anderem folgende Lebensverhältnisse: Kind ist Angehöriger einer Minderheitengruppe, Haushaltsvorstand ist arbeitslos oder ungelernter Arbeiter, Familie mit mehr als 4 Kindern, Abwesenheit des Vaters, viele familiäre Stresserlebnisse, schlechte Gesundheit der Mutter (Shaffer, 1999). Zweifelsohne wird die Intelligenzentwicklung erheblich von Umweltanregungen beeinflusst. Verschiedene Längsschnittstudien aus dem deutschsprachigen Raum befassten sich unter anderem mit der Fragestellung, ob Umwelteinflüsse eine klinisch relevante Intelligenzminderung bedingen können oder ob eine primäre Intelligenzminderung durch optimale Förderung kompensiert werden kann. Die Bayerische Entwicklungsstudie (Wolke & Meyer, 1999) untersuchte die Entwicklung von Kindern, die innerhalb der ersten 10 Lebenstage wegen organischer Komplikationen in eine Kinderklinik aufgenommen wurden, während der ersten 9 Lebensjahre. Sehr Frühgeborene (< 32 Tragzeitwochen) hatten mehr als zehnmal häufiger kognitive Defizite als reifgeborene Kontrollkinder und besondere Probleme bei der ganzheitlichen Informationsverarbeitung. Oft waren mehrere Funktionsbereiche gleichzeitig betroffen (IQ, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprache). Auch die größeren Risikokinder (> 31 Tragzeitwochen) hatten häufiger kognitive Probleme. Diese wurden ab dem 3. Lebensjahr allerdings besser durch soziale als durch biologische Faktoren erklärt. Die größeren Frühgeborenen profitierten in der Intelligenzentwicklung auch signifikant von psycho-pädagogischen Maßnahmen in der frühen Kindheit. Auch die Rostocker Längsschnittstudie (Meyer-Probst & Reis, 1999) und die Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht et al., 2002) belegen den Einfluss psychosozialer Umfeldfaktoren auf die kindliche Intelligenzentwicklung. Festzuhalten ist allerdings auch, dass die kognitiven Schwächen und damit verbundenen Besonderheiten eines Kindes sich auf Erziehungsverhalten und Umfeldbedingungen auswirken und somit enge wechselseitige Interaktionen bestehen.
3.4
Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
3.4.1 Lese- und Rechtschreibstörung Legasthenie, Lese- und Rechtschreibstörung, Lese- und Rechtschreibschwäche oder Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sind Bezeichnungen, die immer wieder im Zusammenhang mit Problemen beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens verwandt werden (vgl. Tacke bzw. Scheerer-Neumann in diesem Band). Teilweise werden diese Bezeichnungen als inhaltlich gleichsinnig gebraucht, teilweise verbergen sich hinter den verschiedenen Bezeichnungen Begriffsunterschiede. Um Missverständnissen vor-
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zubeugen ist es zweckmäßig, von einem international anerkannten Begriffsverständnis auszugehen. Gemäß ICD-10 (Dilling et al., 1999) handelt es sich bei der Lese- und Rechtschreibstörung um eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, welche im Zusammenhang mit einer biologischen Fehlfunktion der kognitiven Informationsverarbeitung zu verstehen ist. Sie ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen und nicht durch eine erworbene Hirnschädigung oder Krankheit verursacht. Auch ist sie nicht allein auf eine Intelligenzminderung, Beeinträchtigung des Seh- oder Hörvermögens oder auf äußere Faktoren zurückzuführen. Die Störung besteht von Anfang an und wurde nicht später in der Schullaufbahn erworben. Mit Beginn des Lese-Lernprozesses kann sich die Lesestörung in Schwierigkeiten äußern, das Alphabet aufzusagen, Buchstaben korrekt zu benennen, trotz normaler Hörfähigkeit Laute akustisch zu unterscheiden oder den entsprechenden Buchstabenzeichen zuzuordnen. Im späteren Leselernstadium kommt es unter anderem zu Auslassungen, Vertauschungen, Verdrehungen oder Hinzufügungen von Worten und Wortteilen. Des Weiteren sind Startschwierigkeiten beim Vorlesen, Zögern oder Verlieren der Zeile im Text sowie Defizite im Leseverständnis (vgl. Walter in diesem Band) zu beobachten. Merkmale der Rechtschreibstörung sind abhängig vom schulischen Entwicklungsstand und hinsichtlich charakteristischer Fehlleistungen von hoher Variabilität. Neben Buchstabenverdrehungen, Auslassungen und Einfügungen sind nicht selten Regel- und Dehnungsfehler zu verzeichnen (Dilling et al., 1999; Warnke & Roth, 2000). Im Schulalter sind mindestens 4 % der Schüler von einer Lese- und Rechtschreibstörung betroffen, wobei eine deutliche Knabenwendigkeit beschrieben wird (Warnke, Hemminger, Roth & Schneck, 2002). Die eigentliche Ursache der Lese- und Rechtschreibstörung ist bis heute noch unklar. Neben prä-, peri- und postnatalen biologischen Einflüssen werden insbesondere anlagebedingte Faktoren als kausal angenommen. Hinweise auf eine genetische Beteiligung ergaben sich schon früh durch Beobachtungen einer familiären Häufung und Befunde, welche eine Konkordanz von 71 % bei monozygoten und von 49 % bei dizygoten Zwillingen aufzeigen konnten (Olson, Wise, Conners, Rack & Fulker, 1989; Schulte-Körne, Nöthen & Remschmidt, 1998). Das festgestellte Wiederholungsrisiko bei Geschwistern, die nicht Zwillinge sind, lag mit 50 bis 60 % ebenfalls recht hoch (Schulte-Körne, Remschmidt & Hebebrand, 1993). Molekulargenetische Befunde wiederum legen nahe, dass auf Chromosom 6 Hirnfunktionen veranlagt sind, die für das lautsprachliche Lernen benötigt werden, während auf Chromosom 15 schriftsprachrelevante Fertigkeiten, welche auch die visuelle Informationsverarbeitung einschließen, codiert sind (Smith, Kimberling, Pennington & Lubs, 1983; Cardon et al., 1994). Auch psychosoziale und soziokulturelle kausale Effekte werden diskutiert, sind jedoch als alleinige Begründung per definitionem ausgeschlossen. Nach aktuellem Wissensstand ist am ehesten von einer multifaktoriellen Ätiologie auszugehen, wobei von Genen gesteuerte Entwicklungsprozesse des Gehirns in einem noch unbekannten Zusammenwirken mit biologischen und psychosozialen Einflüssen Besonderheiten der Informationsverarbeitung im Zentralen Nervensystem begründen. Ein wichtiger Erklärungsansatz geht davon aus, dass die Informationsverarbeitungsprozesse zwischen den verschiedenen sprachlichen Regionen (z. B. Wernicke- und Broca-Region) bei Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung in einer Weise verändert sind,
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| Teil II: Theoretische Ansätze dass schriftsprachliches Lernen erschwert ist. Ein anderer wichtiger Erklärungsansatz nimmt an, dass Besonderheiten der visuellen Informationsverarbeitung innerhalb des visuellen Systems zwischen Auge und Sehrinde für die Entstehung ausschlaggebend sind. Ein dritter Erklärungsansatz geht davon aus, dass der „Übersetzungsvorgang“ zwischen visuellem und akustisch-sprachlichem System, wie er sich im Lese-Rechtschreibzentrum (Area 39) vollzieht, bei Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung nicht gelingt. Für die Annahme funktioneller Besonderheiten der akustisch-sprachlichen und visuellen Informationsverarbeitung sprechen zahlreiche entwicklungsbezogene Hinweise und neuropsychologische Befunde, die von Warnke et al. (2002) zusammengefasst wurden. So fällt in der Vorgeschichte bei mehr als der Hälfte der betroffenen Kinder eine verzögerte Sprachentwicklung im Sinn eines verzögerten Sprachbeginns, geringen Wortschatzes oder Dysgrammatismus auf (Warnke, 1990; Klipcera & Gasteiger-Klicpera, 1993). Des Weiteren sind Schwächen in der „phonologischen Bewusstheit“ als spezifisches und regelhaftes Defizit festzustellen. Der Begriff der „phonologischen Bewusstheit“ (vgl. Walter in diesem Band) kennzeichnet die Fähigkeit, Wörter, Silben oder Reime in der gesprochenen Sprache zu erkennen und mit Lauten (Phonemen) umzugehen. Im Stadium des Leselernprozesses erschwert diese Schwäche den betroffenen Kindern die Analyse der Lautstruktur, so dass sie beim Lesen keine Verbindung zwischen den visuell vorgegebenen Buchstaben (Graphem) und deren akustischem Klang (Phonem) herstellen können. Untersuchungen zur akustischen und sprachlichen Informationsverarbeitung ergaben, dass viele Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sprachliche Laute akustisch nicht so rasch und fehlerlos unterscheiden können wie Personen ohne Schriftsprachstörung. Bildgebende Verfahren, mit denen sich Blutfluss oder Stoffwechselaktivität im Gehirn bei kognitiven (gedanklichen) Vorgängen beobachten lassen (Protonenemissionstomogramm oder funktionelle Magnetresonanztomographie) wiesen darauf hin, dass z. B. bei Reimaufgaben die Aktivierungsmuster von Hirnregionen, welche für die sprachliche Informationsverarbeitung von Bedeutung sind, verändert sind. Anatomische und histologische Veränderungen fanden sich bei Personen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung häufiger als bei Menschen mit normaler Schriftsprachentwicklung. Veränderungen von Symmetrien oder Zellstrukturen zeigten sich in Kernen der Hörbahn und in Hirnregionen, die für die Verarbeitung von akustischen, sprachlichen und sprachlich-visuellen Informationen wichtig sind (u. a. Planum temporale, Nucleus geniculatus mediale, Gyrus angularis, Area 39). Bei 5 bis 10 % der Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sind visuell-räumliche Wahrnehmungsschwierigkeiten feststellbar, wobei sowohl Defizite bei der Analyse als auch Kodierung visueller Informationen angenommen werden (Klipcera, 1985; Prior, 1996). Beim Lesen werden die Buchstabenfolgen eines Wortes von der Netzhaut des Auges über Sehnerv und Sehkern schließlich in die Sehrinde des Gehirns geleitet. Hirnelektrische Verfahren (Elektroenzephalographie, visuell evozierte Potentiale) zeigten, dass die Weiterleitung gelesener Buchstaben oder Worte in das Gehirn bei manchen Personen mit einer Schriftsprachstörung verlangsamt erfolgt. Dies kommt umso deutlicher zum Vorschein, je mehr die visuell vorgegebenen Aufgaben sprachlichen Charakters sind. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zu Stoffwechselvorgängen im Gehirn führten
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zu der Annahme, dass im Bereich der Sehrinde, welche für die Bewegungswahrnehmung relevant ist, Veränderungen vorliegen (magnozelluläres visuelles Subsystem Regio V5/MT in Area 19). Auch histologische Befunde könnten auf eine verlangsamte oder veränderte visuelle Wahrnehmung hindeuten. So fanden sich in dem Sehkern (lateraler Nucleus geniculatus im Thalamus), von welchem die Bilder der Netzhaut des Auges in die Sehrinde weitergeleitet werden, Besonderheiten in den Zellstrukturen, die für das Bewegungssehen – und das lesende Auge ist immer in Bewegung – notwendig sind. Weiterführend ist zur Lese- und Rechtschreibstörung auch auf die aktuelle Übersicht von Warnke (2003a,b) zu verweisen. 3.4.2 Rechenstörung Verglichen mit den Lese- und Rechtschreibstörungen haben Entwicklungsstörungen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (vgl. Werner bzw. Scherer in diesem Band) trotz ihrer Häufigkeit bislang sehr viel weniger wissenschaftliches Interesse erfahren. Insofern liegen zu Epidemiologie, Ätiologie und funktionellen Modellvorstellungen weit weniger Erkenntnisse vor. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (Dilling et al., 1999) wird auch die Rechenstörung als eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten verstanden, welche in ursächlichem Zusammenhang mit Besonderheiten zentralnervöser Reifungsprozesse und kognitiver Informationsverarbeitung zu bewerten ist. Die diagnostischen Kriterien, die für eine Diagnosestellung erfüllt sein müssen, gelten somit analog denen der Lese- und Rechtschreibstörung. Im Vorfeld der Einschulung fallen bei den betroffenen Kindern nicht selten Schwächen in der Raumorientierung oder beim Erkennen von Richtungen sowie Schwierigkeiten beim Erfassen von Mengen und Größen auf. Im Verlauf der Schulzeit wird ein mangelndes Verständnis für arithmetische Prozeduren und grundlegende Rechenoperationen wie Addition, Subtraktion, Division oder Multiplikation deutlich, wobei verschiedene Funktionsbereiche unabhängig voneinander betroffen sein können. Es fällt solchen Kindern schwer, die Größe einer Menge zu quantifizieren (erfassen) und zu der Größe einer anderen Menge in Beziehung zu setzen (vergleichen). Häufig verfügen sie nicht über eine altersgemäß entwickelte Zahlenstrahl- oder Zahlenraumvorstellung und scheitern beim Schätzen von Rechenergebnissen. Auch werden sprachliche Zahlwortsequenz und Zählprinzipien nicht ausreichend erworben und automatisiert, so dass Abzählstrategien beim Addieren und Subtrahieren sehr viel fehleranfälliger sind (Esser, 2002; von Aster, 2003). Die Prävalenzangaben für den deutschsprachigen Raum schwanken zwischen 4,4 % und 6,7 %. Im Unterschied zur Lese- und Rechtschreibstörung waren in den meisten Untersuchungen Mädchen ähnlich häufig oder häufiger betroffen (Klauer, 1992; Hein, Bzufka & Neumärker, 2000; Shalev, Auerbach, Manor & Gross-Tsur, 2000). Als Ursache für umschriebene Rechenstörungen werden neben anlagebedingten und psychosozialen Faktoren frühkindliche Hirnreifungs- und -funktionsstörungen infolge biologischer Einflüsse diskutiert. Hinweise auf genetische Komponenten fanden u. a. Gross-Tsur, Shalev, Manor und Amir (1995), die bei 42 % der rechenschwachen Kinder
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| Teil II: Theoretische Ansätze ihrer Stichprobe erstgradige Familienangehörige mit entsprechenden Lernstörungen feststellen konnten. In Analogie zur umschriebenen Lese- und Rechtschreibstörung wird auch bei der Rechenstörung derzeit eine multifaktorielle Genese angenommen. Demnach setzt die Reifung jener Hirnfunktionen, welche wir in unserem Kulturkreis zur Lösung mathematischer Probleme oder zur Durchführung von Rechenprozeduren benötigen, gesunde Anlagen und Organsysteme ebenso voraus wie ein geeignetes schulisches und soziales Umfeld. Der in der Neuropsychologie für umschriebene Rechenstörungen gebräuchliche Begriff „Dyskalkulie“ lehnt sich an erworbene Störungen im Umgang mit Zahlen nach Hirnschädigungen bei Erwachsenen an, die nach Henschen (1919) „Akalkulie“ genannt werden (zit. nach Claros Salinas & von Cramon, 1987). Die Untersuchungen von Patienten mit Hirnschädigungen und daraus resultierenden Verlusten umschriebener numerischer Fähigkeiten haben wesentlich dazu beigetragen, sich den neurokognitiven Mechanismen der Zahlenverarbeitung und ihren hirnlokalen Verankerungen anzunähern. Auf diesen Erkenntnissen basierende neuropsychologische Modelle wie das sogenannte „Triple Code Model“ (Dehaene, 1992) postulieren eine kategorie- und kodierungsspezifische Verarbeitung numerischer Inhalte innerhalb eines modular gegliederten neuronalen Netzwerkes. Das „Triple Code Model“ geht von drei Funktionseinheiten (Module) aus, in denen Zahlen in ihren unterschiedlichen Kodierungen repräsentiert sind. Das „Abstrakt-analoge Modul“ ermöglicht das Erkennen der relativen Größe, also der Bedeutung (Semantik) einer Zahl und dient u. a. dem Schätzen von Mengengrößen, dem Überschlagen von Rechenergebnissen oder dem Vergleich von Zahlen. Dem „Arabischen Modul“ wird die Steuerung des Umgangs und Operierens mit mehrstelligen Zahlen zugeschrieben. Die „Linguistische Zahlwort-Repräsentation“ wiederum gebrauchen wir bei Zählprozeduren, exaktem Rechnen oder dem Speichern von numerischem Faktenwissen wie dem Einmaleins. In ihrer 1995 erschienenen Arbeit haben Dehaene und Cohen den Versuch unternommen, die drei Module des „Triple Code Models“ anatomisch zu lokalisieren. Die semantische, abstrakt-analoge Repräsentation postulierten die Autoren bilateral im parietalen Cortex, das visuell-arabische Modul im Bereich des occipito-temporalen Cortex und die linguistisch-auditive Zahlwort-Repräsentation schließlich in der linksseitigen perisylvischen Sprachregion. Tatsächlich konnten Dehaene, Spelke, Pinel, Stanescu und Tsivkin (1999) in einer Studie mit funktioneller Magnetresonanztomographie zeigen, dass sich bei erwachsenen Versuchspersonen in Abhängigkeit von der Art der gestellten Aufgabe unterschiedliche Aktivitätsmuster im Gehirn ergaben. So waren bei Schätzaufgaben Aktivitätsmaxima im Bereich der inferioren parietalen Regionen beider Hirnhälften zu verzeichnen. Die Bedeutung parietaler Rindenabschnitte für semantische Verarbeitungsprozesse wurde in weiteren Studien mit bildgebenden Verfahren untermauert (Menon, Rivera, White, Glover & Reiss, 2001; Pinel, Dehaene, Riviere & LeBihan, 2001). Temple und Posner (1998), die ereigniskorrelierte Hirnstromaktivitäten beim Durchführen einfacher Vergleichsaufgaben untersuchten, konnten auch bei Kindern im Vorschulalter die Verarbeitung quantitativer Bedeutungen dem Parietalhirn zuordnen. Zunehmend liefern Studien somit Hinweise auf die funktionelle Bedeutung unterschiedlicher Hirnregionen und ermöglichen somit nicht nur ein verbessertes Verständnis der mit Rechenfertigkeiten verknüpften Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse,
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sondern auch ihrer möglichen Funktionsstörungen. Interessanterweise zeigten erste Einzelfallanalysen im Rahmen hirnelektrischer und bildgebender Untersuchungen bei Kindern mit umschriebenen Rechenstörungen im Vergleich zu normal entwickelten Kindern bereits deutlich abweichende Aktivierungsmuster mit insgesamt mehr Aktivität und diffuserer Verteilung (von Aster, 2003). Zur umschriebenen Rechenstörung ist weiterführend auf die aktuelle Übersicht von von Aster (2003) zu verweisen.
3.5
Ausblick
Hinter den Lern- und Leistungsschwierigkeiten eines Kindes können sich vielfältige Ursachen, Defizite und Störungen verbergen. Lernbehinderung im Sinne eines allgemein erniedrigten Leistungsvermögens und spezifische Lernstörungen wie die Rechen- oder Lese-Rechtschreibstörung stellen nur einen Teilaspekt des breitgefächerten Spektrums dar. Wenngleich psychogene Lern- und Leistungsstörungen im Rahmen von emotionalen Störungen, Schulangst oder Anpassungsstörungen in keinem der gängigen Klassifikationssysteme eigens berücksichtigt werden, so ist ihre Bedeutung in Familie, Schule und klinischer Praxis doch zweifelsohne hoch. Zu verweisen ist allerdings auch auf eine Reihe vergleichsweise seltener Ursachen schulischer Leistungsschwierigkeiten wie affektive und schizophrene Psychosen oder neurologische Systemerkrankungen, die teils erhebliche kognitive Abbauprozesse nach sich ziehen können. Unabhängig davon, ob der Lernund Leistungsstörung eine allgemeine Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung, eine umschriebene Entwicklungsstörung oder psychische Störung zu Grunde liegt, so sind die sekundären sozialen und emotionalen Folgen für den Betroffenen und sein Umfeld nicht selten gravierend. Die hohe Rate begleitender internalisierender und externalisierender Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit umschriebenen Entwicklungsstörungen kann als ein Beleg hierfür gelten. Insofern muss es Zielsetzung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachrichtungen sein, entwicklungspsychopathologische und neuropsychologische Ursachen zu verstehen, Früherkennung zu ermöglichen und nicht zuletzt spezifische Förderung, Therapie und Rehabilitation zu verbessern.
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4 Das interaktionstheoretische Paradigma Rainer Benkmann Der interaktionstheoretische Ansatz fand besondere Beachtung in der bundesrepublikanischen Sonderpädagogik der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts (z. B. Grohnfeldt, 1976; Homfeldt, 1974; Thimm, 1975). Ein entscheidender Impuls ging von der Studie des amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1967) „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ aus. Goffman macht deutlich, dass wir bei einer Begegnung mit einem behinderten Menschen irritiert sind, weil dieser anders ist als wir es von einem „normalen“ Interaktionspartner erwarten. Das Anderssein weicht von unseren normativen Vorstellungen ab. Wir neigen dazu, ihm das Stigma Behinderung zuzuschreiben. Bei dauerhafter Stigmatisierung droht die Gefahr, dass die behinderte Person die Zuschreibungen der anderen übernimmt. Ihre Identität wird beschädigt. Solche Überlegungen dienten auch der Erklärung abweichenden Verhaltens und der Erläuterung der Stigmatisierung gesellschaftlicher Randgruppen (z. B. Antor, 1976; Brusten & Hurrelmann, 1973). Die Sichtweise wird Etikettierungs- (labeling approach) bzw. Stigmatisierungsansatz genannt. Von Etikettierung bzw. Stigmatisierung wird gesprochen, wenn Merkmale eines Individuums bei anderen Interaktionsteilnehmern negative Vorstellungen hervorrufen, die in ihrem Verhalten wirksam werden (Cloerkes, 2001, S. 135). Negative Einstellungen bzw. Vorurteile − Etikett, Stigma und Stereotyp werden häufig als Synonyme verwendet (Markowetz, 1999) − lassen sich nur schwer beeinflussen. Dieser Ansatz versteht Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung in der Schule als Ergebnis eines Interaktionsprozesses, in dem der Lerner die gestellten normativen und sachlichen Anforderungen schlecht oder gar nicht bewältigt. Lehrpersonen als signifikante Erwachsene definieren entsprechendes Lernverhalten des Schülers als normabweichend und sachlich unangemessen. Schüler mit Lernbehinderungen werden meist als dumm und unangepasst etikettiert. Warum diese Sichtweise die aktive Rolle der Betroffenen verkennt, lässt sich auf Goffmans Stigma-Studie nicht zurückführen. Gerade sie zeigt, wie behinderte Menschen und andere, denen Diskreditierung droht, ihr Auftreten mit großer Umsicht entwerfen. Goffmans feinsinnige Beobachtungen an Patienten in Psychiatrien etwa verweisen auf deren stets neue Versuche, Stigmatisierungen nicht einfach hinzunehmen, sondern das Gesicht zu wahren, und sei es, indem „bedeutungslose“ Dinge gesammelt werden. In solchen aktiven Versuchen zur Wahrung der Identität sehen die anderen dann oft eine Bestätigung ihrer Etikettierungen. Der verhängnisvolle Zuschreibungszirkel setzt sich fort. Der Stigmatisierungsansatz stammt aus der soziologischen Theorie des Symbolischen Interaktionismus, der seine philosophischen Grundlagen im amerikanischen Pragmatismus hat (Peirce, James, Mead, Dewey), eine Hauptströmung der Philosophie in den USA. Die symbolisch-interaktionistische Perspektive verdankt ihren Ursprung dem von George Herbert Mead begründeten Sozialbehaviorismus und hatte im Folgenden großen Einfluss auf die Konzeptbildung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen − etwa innerhalb der Philosophie, Sprachwissenschaft und Erziehungswissenschaft − und brachte unterschiedliche theoretische Perspektiven hervor, zum Beispiel zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Berger & Luckmann, 1969) und zur Identitätstheorie
82
| Teil II: Theoretische Ansätze (Habermas, 1968, Krappmann, 1969). Der Symbolische Interaktionismus stellt den Kern des interaktionstheoretischen Paradigmas dar. Da dieser Ansatz in deutschsprachigen Beiträgen manchmal zu sehr auf den Etikettierungsansatz reduziert wird, werden hier zunächst Hinweise auf seine theoretisch grundlegende Bedeutung für die Erklärung von Lernbeeinträchtigungen gegeben. Auch halten wir die Darstellung einiger Vorstellungen des sozialen Konstruktivismus, eine der Weiterentwicklungen des Symbolischen Interaktionismus, für angebracht. Erst auf diesem Hintergrund erörtern wir den Stigmatisierungsansatz.
4.1
Lernen und Beeinträchtigungen des Lernens in der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus
Im Mittelpunkt der Betrachtung dieser Perspektive steht die Wechselbeziehung (Reziprozität) zwischen Individuen. Ausgangspunkt ist das Handeln des Organismus und dessen Beziehung zur Umwelt, vor allem zu seinen Artgenossen (Mead, 1973). Handlungskoordination sichert das Überleben der Organismen. Im Unterschied zum Tier lernt das Kind, Handlungen durch vokale Gesten in Interaktionsprozessen mit anderen Menschen zu koordinieren. Der Austausch vokaler Gesten führt zum Austausch signifikanter Symbole, zur sprachlichen Verständigung, wenn die signifikanten Symbole zu Reizen werden, denen das Kind vergleichbare Bedeutungen wie der Erwachsene zuschreibt. Dadurch lernen die Kinder im weiteren Verlauf immer besser, die Perspektive des anderen zu übernehmen und aus dessen Sicht zu sich selbst Stellung zu nehmen. Perspektivenübernahme ist die Grundlage menschlicher Handlungskoordination. Das Kind erwirbt zunächst die Fähigkeit, konkrete Perspektiven in der Interaktion mit engen erwachsenen Bezugspersonen, den signifikanten Anderen, zu übernehmen. Mead bezeichnet diesen Interaktionstyp play (Rollenspiel). Auf dieser Basis erlernt es später in symbolvermittelter Interaktion, allgemeine gesellschaftliche Haltungen zu übernehmen und die Regeln aufeinander bezogener Handlungserwartungen zu verstehen, von Mead game (Regelspiel) genannt. In diesem Interaktionstyp lernt das Kind, die Perspektive eines generalisierten Anderen nachzuvollziehen. Rollenspiel und Regelspiel bilden die Grundlage für den Erwerb gesellschaftlichen Wissens, sozialer Regeln und normativer Orientierungen, den Erwerb von „Geist, Identität und Gesellschaft“ (Mead, 1973). Dieser Bildungsprozess vollzieht sich immer unabhängiger von konkreten Personen und Erwartungsmustern und führt letztlich zu einer verallgemeinerten Haltung, die die universellen Belange des einzelnen und aller Menschen einbezieht. Denken und Identität werden als Resultat der Hereinnahme des gesellschaftlichen Prozesses in das Individuum verstanden (Mead, 1973, S. 230 ff.). Lernen und seine Beeinträchtigungen gründen demzufolge in sozialen Interaktionen und Beziehungen (Mead, 1987, S. 311). Interaktionen sind Aushandlungsprozesse, in denen die Beteiligten Anforderungen sozialen Austauschs auf Grund ihrer bisherigen Erfahrung interpretieren. Dabei werden Sinn und Regeln immer wieder erzeugt und verändert. Das Kind bemüht sich, die in den sozialen Interaktionen auftretenden Erwartungen mit den eigenen zu koordinieren. Im Laufe der Lernentwicklung trägt dies zum Aufbau habitualisierten Verhaltens, zu Strategien und Mustern bei (Schmetz, 1986).
Kapitel 4: Das interaktionstheoretische Paradigma | 83
Dass dabei nicht nur die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind, sondern auch die Interaktion zwischen Kindern, insbesondere zwischen Gleichaltrigen, lern- und entwicklungsfördernde Effekte hat, ist durch umfangreiche Forschung gesichert (vgl. Benkmann, 1998). Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen berücksichtigt die interaktionistische Auffassung von Lernbeeinträchtigung Vorbahnungen durch vererbte Anlagen und andere biologische Einflüsse, zum Beispiel durch erworbene Schädigungen. Gleichwohl betont sie, dass die wesentlichen Beeinträchtigungen für Lernen im sozialen Konstruktionsprozess, auch Ko-Konstruktion genannt, enthalten sind. Die traditionelle Unterscheidung in der Lernbehindertenpädagogik zwischen einer genetisch und organisch verursachten Lernbehinderung und einer sozial bedingten Lernstörung wird für obsolet gehalten: „Als ob im Falle von organischer Störung günstige oder ungünstige Umwelten nicht wirksam seien und als ob im Kontext ungünstiger Umwelten sich nicht auch Hirnfunktionen wesentlich veränderten“ (Jantzen, 2002, S. 330). Eine weitere auch in systemisch-konstruktivistischer (Lern-)Behindertenpädagogik (Kanter, 1996, Speck, 2003) betonte Idee verweist darauf, dass das Lernen ein vom Kind aktiv vollzogener Konstruktionsprozess ist. Das Kind organisiert sein Wissen und seine Umwelt selbst in Prozessen der Ko-Konstruktion mit anderen. Übertragen auf das generelle Verständnis von Lernen, heißt das: Das Kind ist „... seiner Sozialisation nicht ausgeliefert, sondern nimmt an ihr teil. Nicht die Eltern sozialisieren das Kind, sondern Eltern bilden mit ihren Kindern ein Interaktionssystem voller Sinnstrukturen und Regeln, das auf das Kind gerade deswegen sozialisierend wirkt, weil es das Kind als Partner der Interaktion einbezieht“ (Krappmann, 1985, S. 159). Die Vorstellungen vom Kind als ko-konstruierender Akteur seiner Entwicklung betont der soziale Konstruktivismus. Danach liegt die primäre Lernvoraussetzung beim Kind, und Lernen in deprivierten Lebenslagen ist auch die Folge davon, wie es mit den dortigen Angeboten umgeht. Dies zeigt das Phänomen der Resilienz von Kindern, die sich trotz extrem belastender Lebensbedingungen zu handlungskompetenten und autonomen Erwachsenen entwickeln (vgl. Überblick bei Julius & Goetze, 2000).
4.2
Beeinträchtigungen des Lernens und soziale Interaktion: Empirische Ergebnisse
Forschungen zu Auswirkungen von Armutslagen und deprivierten Lebensverhältnissen belegen für die frühe Kindheit bei vielen lernbeeinträchtigten Kindern, dass schlechte Wohnverhältnisse, eheliche Disharmonie, psychische Störungen der Eltern, insbesondere der Mutter, Arbeitslosigkeit und soziale Isolation Risikofaktoren darstellen (Laucht, Esser & Schmidt, 2000). Kindliche Grundbedürfnisse werden nicht befriedigt. Die besondere Tragweite der Auswirkungen wird deutlich, wenn man an den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Entwicklung organischer Strukturen und der Umwelt denkt. Durch solche Risikokonstellationen in der frühen Kindheit sind langfristige Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen vorherzusagen (Grünke, 2003). Andere Studien weisen auf Zusammenhänge zwischen der Arbeitslosigkeit der Eltern und Auffälligkeiten ihrer Kinder wie motorische Unruhe, Konzentrationsschwächen und
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| Teil II: Theoretische Ansätze Rückzug aus sozialen Beziehungen hin (Weiß, 2000). Die Auffälligkeiten scheinen um so ausgeprägter zu sein, je geringer die berufliche Qualifikation der arbeitslosen Eltern ist. Arbeitslose, aber auch Alleinerziehende mit geringem Einkommen konnten ihren Kindern die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten (z. B. Klassenfahrt) und Ereignissen (z. B. Kindergeburtstag) kaum noch bezahlen. Darunter litten soziale Kontakte mit Gleichaltrigen. Eine aus den USA stammende, auf breiter Datenbasis durchgeführte Längsschnittstudie zeigt: „Die häusliche Umwelt- und Erziehungssituation, d. h. dem Kind verfügbare Materialien und Aktivitäten, Disziplinierungsmethoden, emotionale Unterstützung und kognitive Anregung, ist für ein Drittel bis zur Hälfte der Entwicklungsnachteile in chronischer Armut lebender Kinder verantwortlich“ (Weiß, 1996, S. 157). Solche Beschreibungen der häuslichen Umwelt- und Erziehungssituation sind für die sozial-konstruktivistische Sichtweise der Ausgangspunkt, um das vorliegende Interesse an der Ko-Konstruktion von Lernen bei Kindern mit Beeinträchtigungen zu verfolgen. Die empirische Feststellung von geringem Materialangebot oder restriktiven Disziplinierungsmethoden in der Familie ist unbestritten wichtig. Unsere Perspektive nimmt allerdings mehr die Frage in den Blick, welche Lern- und Entwicklungsimpulse der soziale Umgang in den verschiedenen Lebenswelten der Kinder trotz wenig förderlicher elterlicher Disziplinierungsmethoden und eingeschränkter Objektwelt hat. Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktion sind ebenfalls Ko-Konstruktionsprozesse. In diesen Prozessen verständigen sich die Beteiligten über den Sinn- und Bedeutungsgehalt schulischen Lernens. Sie stellen eine Definition der schulischen Lernsituation her, die nicht statisch ist, sondern immer wieder konstruiert und redefiniert werden muss (Martin, 1976). Hierbei kann es zu Problemen und Störungen einer gemeinsamen Situationsdefinition kommen, vor allem, wenn Lehrende und Schüler aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, wie es in den Schularten Sonder- und Hauptschule häufig der Fall ist, und nicht in der Lage sind, die Differenzen subkultureller Erfahrungen zu überbrücken. Zwangsläufig entstehen Konflikte im sozialen Umgang miteinander. Führt die Konfliktaustragung zwischen Erwachsenen und Schülern sowie zwischen den Kindern nicht zu Lösungen, kennzeichnen Machtausübung und Abwehr, Widerstand und Ignoranz ihre soziale Interaktion. Lern- und Entwicklungsfortschritt werden behindert. Zum interaktionistischen Verständnis der schulischen Lernsituation gehört ferner die Betrachtung der Identität des Kindes sowie seiner sozialen Beziehungen zum Lehrer und zu anderen Kindern. Lernen und Identitätsentwicklung sind untrennbar in soziale Prozesse eingelagert. Gerade im Grundschulalter bilden Sach- und Beziehungsgesichtspunkte noch weitgehend eine Einheit. Es gibt keine gespaltene Aufmerksamkeit. Erst in der weiteren Entwicklung der Heranwachsenden gewinnt die Sache nach und nach an Gewicht, bis sie später „als rein physikalische Natur ausdifferenziert“ wird (Mead, 1987, S. 231). Interaktionstheoretische Folgerungen für das Lernen in der Schule sind bisher zu wenig eingelöst. Soziale Erfahrungen von ökonomisch und sozial benachteiligten Kindern werden nicht genügend zum Gegenstand der Interpretation durch Lehrende gemacht. Ohne auf die kindlichen Vorerfahrungen einzugehen, ist das schulische Lernen vom Kind abgespalten. Es lernt, ohne betroffen zu sein, ohne sich zu bilden. Insofern sind Beeinträchtigungen des Lernens auch „Formen des gestörten Unterrichts“ (Möckel zit. nach Eberwein, 1996, S. 70).
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4.3 Beeinträchtigungen des Lernens − Folge von Stigmatisierung? Abbildung 1, dem Beitrag von Thimm (1975) zu den „Stufen der Stigmatisierung“ bei Lernbehinderung entnommen, macht zum einen deutlich, auf welche Weise Kinder und Jugendliche bis ins Erwachsenenalter durch institutionelle Identifizierung stigmatisiert werden. Sie zeigt, dass die „Karriere“ vieler Lernbehinderter lange vor der Schulzeit auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu benachteiligten Milieus beginnt. Die Abbildung lässt ferner die Kernthese der Stigmatheorie erkennen: Das Kind ist durch die institutionelle Identifizierung als „Lernbehinderter“ das Opfer sozialer Zuschreibungsprozesse, denen es passiv ausgeliefert ist. Auch im weiteren Leben kann es der Stigmatisierung nicht entrinnen. Die „Reproduktion der Ausgangslage“ als Ergebnis des Stigmatisierungsprozesses erinnert an den intergenerationalen Deprivationszirkel, der durch die aktuelle Armutsforschung belegt wird (Benkmann, 2003). Vorschulzeit Soziale Deprivation des Elternhauses „unerwünschte soziale Merkmale“
Folgen der Stigmatisierung
Grundschule
Leistungsversager Verhaltensgestörter Intelligenzgeminderter
Institutionelle Identifizierung
Schulunreife, Zurückstellung, schlechte Noten, Sitzenbleiben, Intelligenztest, offizielle Einweisung
Sonderschule
Stigmatisiert für andere Schüler („dumm, faul, unangepasst …“), Isolierung
Öffentliches Ansehen der Sonderschule (z. B. Lage baulicher Zustand)
Berufseinmündung niedriges Berufsniveau
Abschlusszeugnis der Sonderschule, Jungarbeiter, Hilfsarbeiter
Erwachsenenalter
Rollenverlust beschädigte Identität
Randgruppen (z. B. Obdachlose, Nichtsesshafte), Kriminelle
Reproduktion der Ausgangslage
Abbildung 1: Stufen der Stigmatisierung Lernbehinderter (Thimm, 1975, S. 135)
86
| Teil II: Theoretische Ansätze Zum anderen zeigt die Abbildung die entscheidende Schwäche der Stigmatheorie: Das Kind wird eben nur als Opfer von Stigmatisierungsprozessen gesehen. Es übernimmt die angesonnene Erwartung der anderen und kann sich nicht anders als im Sinne der self-fulfilling prophecy verhalten. Dies ist jedoch so nicht haltbar, wenn das Kind selber der Konstrukteur seiner Entwicklung ist (vgl. 4.1, Lernen und Beeinträchtigung des Lernens in der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus). Das Kind kann aktiv Stigmatisierungen abwehren, fremde Erwartungen strategisch unterlaufen oder anderweitig neutralisieren (Stigmamanagement). Das Selbstbild muss nicht mit dem Fremdbild übereinstimmen, wie empirische Ergebnisse zeigen (vgl. 4.4, Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur Veränderung). Gleichwohl kann dieser Tatbestand nicht bedeuten, den Stigmaansatz vollständig zurückzuweisen. Erkenntnisse zum Fremdbild vom Lernbehinderten, die in früheren Arbeiten von von Bracken (1967), Höhn (1967) und Kaufmann (1970) in verschiedenen Bevölkerungs- und Schülergruppen empirisch ermittelt wurden und sicherlich auch heute noch zutreffen, zeigen, dass lernbehinderte Kinder und Jugendliche für dumm, verdorben und asozial gehalten werden. Solche Etikettierungen haben Folgen für die Identitätsentwicklung. Obwohl Stigmata ganz überwiegend Ausdruck von unkritischen, ungeprüften und irrationalen Urteilen sind, schließen sie Bezüge zu realen Erfahrungen nicht aus. Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen entsprechen nicht den normativen Anforderungen der Schule. Sie sind teils „verwahrlost“ und zeigen abweichendes Verhalten. Das Defizitäre dieser individuumsbezogenen Betrachtungsweise besteht darin, dass der soziale Hintergrund verdeckt bleibt. Die eigentliche Ursache für Etikettierung liegt nicht in den Individuen selbst, sondern in ihren sozialen Herkunftsverhältnissen. Die Zuschreibung von Dummheit und Verwahrlosung ist der Versuch definitionsmächtiger Gruppen der Gesellschaft, sozialstrukturelle Bedingungen umzudeuten, um dem Individuum das Versagen anzulasten und selektive Maßnahmen bildungspolitisch zu legitimieren. So kann „Lernbehinderung“ individualisiert und als medizinisch-psychologisches Phänomen behandelt werden. Durch die Testung der Intelligenzminderung und der Schulleistung im Rahmen der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs erhält Lernbehinderung zusätzlich wissenschaftliche Legitimation. Gründe für die Individualisierung und Pathologisierung sozialer Tatbestände liegen nicht in „bösen“ Absichten der Nichtstigmatisierten, sondern in funktionalen Bedürfnissen gesellschaftlicher Interessengruppen, ein Problem zu erklären und entsprechende Maßnahmen begründet einzuleiten. So ist es vergleichsweise einfacher, dem Individuum ein klinisch-psychologisches Etikett zuzuweisen, um Lernbeeinträchtigung zu erklären, als das Problem in eine soziologische Perspektive zu stellen. Vor allem würden sich die Empfehlungen unterscheiden. Müsste Psychologie vorschlagen, durch interventive Maßnahmen das Individuum zu verändern, hielte Soziologie die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse für notwendig. Zudem bemühen sich Nichtbehinderte um Distinktion gegenüber Lernbehinderten. Distinktion bedeutet nach Bourdieu (1999) die Unterscheidung des Lebensstils einer gesellschaftlichen Klasse von einer anderen. Mit Distinktion signalisieren sich die Subjekte wechselseitig, zu welcher sozialen Klasse sie nicht gehören und von welchen anderen Klassen sie sich abgrenzen möchten. Übertragen auf das Bedürfnis der Gesellschaft der Nichtbehinderten nach Distinktion gegenüber Lernbehinderten heißt das: ‚Wir sind
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nicht dumm, langsam und faul, sondern intelligent, schnell und fleißig. Wir gehören zu den Normalen, zum Mainstream der Gesellschaft. Lernbehinderte sind anders als wir, irgendwie nichtnormal, wenig leistungsfähig und ineffizient. Daher tun wir gut daran, sie in getrennten Einrichtungen zu fördern, um sie vor der ständigen Erfahrung mit ihrer eigenen Unfähigkeit zu bewahren.‘ Solche Überlegungen spiegeln die unilaterale Perspektive einer Gesellschaft wider, die Leistung und Effizienz zu normativen Götzen erhebt. Abbildung 1 macht schließlich ein weiteres Problem des Stigmaansatzes deutlich, nämlich die Annahme eines Automatismus von institutioneller Identifizierung, Stigmatisierung und deren Folgen: Behinderungen führen zu Stigmatisierungen, die zu Identitätsstörungen bzw. Identitätsveränderungen beitragen. Dies beinhaltet die sogenannte Stigma-Identitäts-These, die in der Sonderpädagogik im Zusammenhang mit den Identitätskonzepten von Goffman (1967) und Krappmann (1969) erörtert wurde. Ein Überblick dazu und ein Versuch zur Weiterentwicklung finden sich bei Cloerkes (2001), der auf widersprüchliche Befunde hinweist, die auch zeigen, dass Menschen mit Lernbehinderungen dem Stigmatisierungsdruck begegnen können (S. 138 ff.).
4.4 Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur Veränderung Trotz berechtigter Einwände gegenüber dem Etikettierungsansatz gibt es am Tatbestand der Stigmatisierung keinen Zweifel. Menschen mit Behinderungen und Mitglieder anderer Minderheiten machen ständig entsprechende Erfahrungen. Lernbehinderte sind ein Musterbeispiel für schulische Stigmatisierung. Wenn es um die Folgen und Verarbeitung von solchen Erfahrungen geht, ergibt sich ein recht uneinheitliches Bild. Ansätze zur Veränderung von schädigenden Stigmatisierungsprozessen sind angebracht. 4.4.1 Fremdbild Lernbehinderte werden von Schülern und Lehrern anderer Schularten negativ gesehen. Ältere Untersuchungen von von Bracken (1967), Höhn (1967) und Kaufmann (1970) kommen zum Ergebnis, dass Schulversager aus der Sicht von Volks-, Mittel- und Gymnasialschülern für faul, dumm, langsam usw. gehalten wurden. Lehrkräfte der allgemeinen Schule hielten sie für faul und dumm (Höhn, 1967). Weiter wurden Hilfsschüler von anderen Schülern als verdorben, böse, anders usw. beurteilt. Sie wurden abgelehnt und gemieden (Kaufmann zit. nach Thimm, 1975, S. 131). Irritierend ist übrigens, dass diese Stigmata auch bei wissenschaftlichen Experten und professionellen Helfern anzutreffen waren (Cloerkes, 2001, S. 144). Solche etikettierenden Vorstellungen bestehen bis heute. Zum Beispiel stellt die aktuelle Forschung zur sozialen Stellung von Lernbehinderten in Integrationsklassen fest, dass sie von ihren Mitschülern schlecht akzeptiert, abgelehnt und isoliert wurden. Sie waren meist unbeliebt, weil sie zu Streitereien und Aggressivität neigten und für unintelligent gehalten wurden (vgl. Überblick bei Bless, 1995). Beeinträchtigungen des Lernenden sind gesellschaftlich nicht akzeptiert, vielmehr verpönt, unabhängig von der Frage, ob die Kinder integrativ oder getrennt beschult werden.
88
| Teil II: Theoretische Ansätze 4.4.2 Selbstbild Stigmatisierende Erfahrungen wirken sich auf das Selbstbild von Schülern und Schülerinnen aus. Zum Selbstbild bei Lernbehinderung liegen, wie erwähnt, widersprüchliche Ergebnisse vor; zum Begabungskonzept ist so viel klar: Integrierte Lernbehinderte hatten ein bedeutend niedrigeres Begabungskonzept als separierte Lernbehinderte (Bless, 1995). Wahrscheinlich hat die Organisation der Beschulung motivationale und kausalattribuierende Folgen für die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl, denn die beiden letztgenannten Faktoren waren für die bedeutsamen Unterschiede der Selbstkonzepte von integrierten Hilfsschülern und Regelschülern wie auch für die Unterschiede zwischen separierten Hilfsschülern und Regelschülern verantwortlich (Moser, 1986, S. 158). So wird das Selbstkonzept von Lernbehinderten in einem Teil von Untersuchungen für prinzipiell schlechter gehalten als das von Nichtbehinderten. Dagegen findet Wocken (1983) ein positives Selbstbild. In einer Untersuchung zur sozialen Distanz hielten sich die Jugendlichen der neunten Klassenstufe an Schulen für Lernbehinderte für normal, akzeptierten sich und waren davon überzeugt, Fähigkeiten zu besitzen. Stigmatisierungserfahrungen schlugen sich nicht in einem negativen Selbstbild nieder. Wocken stellt fest, dass von einer beschädigten oder zerstörten Identität Lernbehinderter als Folge von Stigmatisierung nicht die Rede sein könne. Um die Qualität des jeweiligen Selbstbildes von Lernbehinderten zu erklären, werden bezugsgruppen- oder stigmatheoretische Vorstellungen herangezogen. Letztlich ist aber die Frage, ob die Kinder und Jugendlichen ein positives oder negatives Selbstbild haben, bisher unbeantwortet. Fest steht: Der Besuch der Lernbehindertenschule ist gesellschaftlich nicht anerkannt und zwingt ihre Schüler und Schülerinnen zum Einsatz von Strategien, Stigmatisierung zu managen. 4.4.3 Stigmamanagement Heranwachsende mit Lernbeeinträchtigungen entwickeln eine Reihe von argumentativen und Identitätsstrategien, um mit dem Stigma Dummheit fertig zu werden: Ammann und Peters (1981) stellten in Interviews ganz überwiegend defensive statt offensive Bewältigungsargumentationen fest. Die Sonderschüler sahen Fehler bei den Lehrpersonen der Grundschule oder in soziokulturellen Benachteiligungen, aber auch bei sich selbst, in mangelndem Fleiß und problematischem Verhalten. Selten wurden Intelligenzmängel als Grund für die Überweisung an die Sonderschule angeführt. Dönhoff-Kracht (1980) zeigte in einer anderen Untersuchung, dass die wesentliche Identitätsstrategie lernbehinderter Jugendlicher darin bestand, Leistungsausfälle zu verbergen (S. 82). Ergebnisse Nichtbehinderter erscheinen hier erwähnenswert, um eine ungefähre Vorstellung über das Ausmaß der Identitätsbedrohung durch das Etikett „Lernbehinderung“ und den Besuch der Lernbehindertenschule zu vermitteln. Allein, dass Kinder auf Grund von Leistungs- und Verhaltensproblemen zur schulpsychologischen Beratung angemeldet wurden, erzeugte Strategien des Stigmamanagements, um das in der Interaktion potenziell auftretende Etikett „psychisch/geistige Nichtnormalität“ zu neutralisieren. Die
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Anmeldung aktivierte bei noch nicht stigmatisierten Heranwachsenden die Annahme, „nicht ganz richtig im Kopf zu sein“. Um sich davor zu schützen, setzten Schüler und Schülerinnen der vierten bis sechsten Klassenstufe Techniken ein wie „So-tun-als-obnichts-wäre“, „Entschuldigungen“, „Rechtfertigungen“, „Verurteilung der Verurteiler“ und schließlich „Tabuisierungen“ (Vetter, 1989, S. 287 ff.). Tabuisierung im Sinne von Ablenken und Ausweichen lag quer zu den anderen Techniken und wurde immer dann angewandt, wenn man sich im Gespräch dem fraglichen Stigma näherte. Parallelen zu Strategien in Untersuchungen an Schülern und Schülerinnen mit Lernbehinderung sind unverkennbar. 4.4.4 Ansätze zur Veränderung Mehrere Strategien zur Veränderung von schädigenden Stigmatisierungsprozessen wurden erprobt, um negative Einstellungen von Menschen mit Behinderungen abzubauen (Cloerkes, 2001, S. 106 ff.). Zu den bekannteren zählen aufklärende Informationsprogramme, das Herstellen von Kontakt (Kontakthypothese), die Übernahme der Behindertenrolle durch Nichtbehinderte und ein kombinierter Einsatz dieser Strategien. Zusätzlich verspricht man sich durch gesetzgebende Maßnahmen, durch Integration und Veränderung gesellschaftlicher Normen einen Beitrag zur Überwindung von Vorurteilen. Ziel ist es, das Fremdbild nichtbehinderter Bezugsgruppen positiv zu beeinflussen. Damit sollte so früh wie möglich in gesellschaftlichen Institutionen, zum Beispiel dem Kindergarten, begonnen werden. Bei der empirischen Überprüfung einzelner Strategieansätze zeigen sich allerdings unterschiedliche Effekte. So wird die Bedeutung von Informationsprogrammen vielfach überschätzt, da sie die affektiv verankerte Dimension von Vorurteilen nicht erreichten und Änderungen ausblieben, oder gar Vorurteile verstärkten. Die Kontakthypothese konnte nur dann positiv bestätigt werden, wenn über die einfache Kontaktaufnahme hinaus wichtige andere Bedingungen erfüllt waren. Die Kombination verschiedener Strategien schien sich noch am ehesten zu empfehlen. Neben diesen Strategien zur Veränderung des Fremdbildes sind Programme nötig, deren Einsatz das negative Selbstbild von Behinderten beeinflusst. Pädagogisch begleitete Integration enthält dazu ein bisher noch kaum genutztes Potenzial. Auch werden bei der Gruppe von lernbehinderten Kindern wichtige Veränderungen durch den Einsatz von Selbstinstruktions- und Attributionstrainings erreicht (Lauth u. a. 2004).
4.5
Fazit
Sonderpädagogik kann zu neuen Erkenntnissen gelangen, wenn sie das interaktionstheoretische Paradigma nicht auf den Etikettierungs- bzw. Stigmatisierungsansatz reduziert, sondern dessen ganzes Potenzial nutzt. Dies wurde im ersten Teil der Ausführungen aufgezeigt. Wichtige empirische Anliegen wären die minuziöse Beobachtung von KoKonstruktionsprozessen und die Ermittlung subjektiver Sichtweisen der Beteiligten in sonderpädagogischen und integrativen Handlungsfeldern. Das Wissen um das Stig-
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| Teil II: Theoretische Ansätze mamanagement von Minderheiten könnte erweitert werden. Mit Hilfe des Aufzeigens differenzierter und subtiler Neutralisierungsstrategien gegenüber Stigmatisierung wird zum Nachdenken über ungeprüfte, irrationale Urteile über Personen, Gruppen und besondere Wohn- und Lebensverhältnisse beigetragen. Ferner tragen Ansätze zur Veränderung der sozialen Reaktion gegenüber Behinderten zum Abbau von Vorurteilen bei Nichtbehinderten bei. Bewährte Programme zur Förderung positiver Selbstbildtendenzen bei Behinderten sind zu ergänzen.
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5 Das schulsystemische Paradigma Dagmar Orthmann Bless Das schulsystemische Paradigma erklärt Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen als systembedingte Devianz von Schulkarrieren. Es kann insofern als Teilmenge der systemischen Sicht aufgefasst werden, als hier ebenfalls von einer grundsätzlichen Nicht-Passung zwischen individuellen Möglichkeiten eines Individuums oder einer Personengruppe und den Anforderungen eines Systems ausgegangen wird. Im Unterschied zur systemischen Sichtweise insgesamt richtet die schulsystemische Betrachtungsweise ihren Fokus dabei aber in spezieller Weise auf die Funktionen und Strukturen des Anforderungssystems selbst. Lernbehinderung wird aus dieser Perspektive als systembedingtes Schulleistungsversagen erklärt, das seinen Ursprung in der formal bestimmbaren Zweckstruktur des Systems hat. Im Folgenden bildet die Auseinandersetzung mit Funktionen und Strukturen des aktuellen Schulsystems den Rahmen für eine Erläuterung der Spezifik von schulsystemischen Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, die in ihrer Konsequenz zur Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten führen. Dabei wird die Argumentation mit Bezug auf Theorien zum Organisationshandeln und in Auswertung der vorliegenden empirischen Befunde geführt.
5.1
Funktionen und Strukturen des Schulsystems
Die Schule ist von der Gesellschaft mit der Qualifizierung und Sozialisierung, aber auch mit der Selektion von Kindern und Jugendlichen beauftragt und dementsprechend gegliedert. Um die gleichzeitige Erfüllung der verschiedenen Aufgaben unter prinzipiell begrenzten Ressourcen zu gewährleisten, ist sie bestrebt, Komplexität zu reduzieren bzw. ein gewisses Maß an Homogenität zur Aufrechterhaltung der eigenen Handlungs- bzw. Funktionsfähigkeit herzustellen. Deshalb knüpft sie bestimmte Voraussetzungen an die Mitgliedschaft, richtet an die Schüler normierte Erwartungen, in denen sich u. a. gesellschaftliche Standards und schulische Traditionen widerspiegeln, und kontrolliert auf verschiedenen Ebenen die Einhaltung der von ihr festgelegten Kriterien. Erwartungen an Schüler sind an durchschnittlichen Lernniveaus und Lernprozessen und an gesellschaftlich definierten Mindestqualifikationen ausgerichtet. Vor diesem Raster interpretiert das System bestimmte Entwicklungsausprägungen von Personen als Abweichungen vom durchschnittlich zu Erwartenden. Aus individuellen Verschiedenheiten werden so positive oder negative Varianten des Normalen. Negative Abweichungen bedrohen durch zu erwartenden erhöhten Aufwand das System und werden deshalb als Nicht-Erfüllung von Gefordertem den betreffenden Personen als Versagen zugeschrieben. In einem weiteren Schritt erfolgt dann eine Dichotomisierung der Abweichungen in solche, die unter bestehenden Systembedingungen entweder noch oder nicht mehr tolerabel sind. Mit diesen Mitteln begrenzt die Schule ihre Zuständigkeiten, um als System funktionsfähig zu bleiben. Als Resultat von Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, bestimmt durch bildungspolitische Interessenlagen und Erwägungen der Praktikabilität, wird so einigen
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| Teil II: Theoretische Ansätze Personen, in diesem Falle Schülern mit erheblichen Lernschwierigkeiten, die Mitgliedschaft im System aufgekündigt. „Effizienzüberlegungen führen ... dazu, möglichst viele Fälle derselben Art in spezialisierten Institutionen zu sammeln und von spezialisierten Berufen betreuen zu lassen“ (Mayer & Müller, 1989, S. 52). Dabei geht man davon aus, dass die Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten und ihre Zuweisung zu einem Subsystem, also die segmentierte Bearbeitung von Lebensbedürfnissen und Lebensrisiken, das System entlastet und stabilisiert. Das Wesen dieser systemerhaltenden, segregierenden Entscheidungsprozesse soll nun genauer analysiert werden.
5.2 Entscheidungsprozesse im System Schule Entscheidungen im System Schule resultieren aus dem Zusammenspiel von vier verschiedenen Elementen, nämlich Problemen, Lösungen, Teilnehmern und Entscheidungsgelegenheiten, die in einem spezifischen Kontext simultan zusammentreffen (Cohen, March & Olsen, 1990). – Probleme können entweder im System selbst entstehen, z. B. durch das Vorhandensein von Kindern mit Lernschwierigkeiten, oder von außen an die Schule herangetragen werden, z. B. als bildungspolitische Forderung nach Chancengleichheit. – Lösungen sind Möglichkeiten oder Angebote innerhalb oder im Umfeld des Systems, wie z. B. Förderstundenkontingente, Schulkindergärten oder Sonderschulen. Sie können als Reaktion auf bestehende Probleme konstituiert oder nutzbar gemacht werden, aber auch bereits vor dem Auftreten von Problemen vorhanden sein und sodann nach Nutzung und Nachfrage suchen. – Als Teilnehmer fungieren Personen, die in Abhängigkeit von Fluktuation und Zeit für Entscheidungen verfügbar sind, etwa Lehrpersonen, Schulleiter, Eltern, Schulpsychologen, Mitarbeiter von Schulbehörden u. a. – Entscheidungsgelegenheiten sind regelmäßig wiederkehrende Anlässe für Entscheidungen, z. B. Einschulungstermine, Versetzungen und Fristen zur Prüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Entscheidungen bedürfen zwingend aller vier Elemente, fehlt eines, so können sie nicht getroffen werden. Zentral ist außerdem die Annahme, dass Entscheidungsprozesse im Zusammenwirken dieser vier Elemente zwar nicht völlig wahllos, aber auf Grund der Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten auch nicht vorhersehbar sind oder zwingend so und nicht anders verlaufen (Cohen, March & Olsen, 1990). Von den für die Entstehung abweichender Schulkarrieren relevanten Entscheidungsstellen Einschulung, Versetzung und Umschulung in eine Sonderschule sollen nun exemplarisch zwei, nämlich die Einschulung und die Zuweisung zu einer Sonderschule, genauer betrachtet werden. 5.2.1 Entscheidungsstelle Einschulung Aus Sicht der Schule wird eine Homogenisierung ihres Anfangs besonders angestrebt, um auf dieser Grundlage systemeigene Differenzierungen aufbauen zu können. Zentral
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ist dabei die tradierte Prämisse, dass die Grundschule zur Vermittlung bestimmter Basiskompetenzen nicht in der Lage und vor allem dafür auch nicht zuständig sei. So wird vom System erwartet, dass Schulanfänger z. B. die Zuwendung der Lehrperson mit vielen anderen teilen können, Anweisungen in der Unterrichtssprache aufnehmen, behalten und ausführen können, Arbeitsergebnisse mit angestrebten Zielen vergleichen und ggf. korrigieren können, Frustrationen ertragen und Bedürfnisse aufschieben können, Arbeitsmittel bereithalten und sachgerecht verwenden können u. v. m. (z. B. Kretschmann, Dobrindt & Behring, 1999). Auf z. B. sozialisationsbedingte Einschränkungen bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben wird von Seiten der Schule innerhalb der Curricula keine Rücksicht genommen. Entscheidungen am Schulanfang sind durch schulrechtliche Rahmenbedingungen institutionell vorstrukturiert. Dazu gehören Vorgaben zur altersabhängigen Schulpflicht und entsprechende Einschulungszeitpunkte. Zumeist ist der Schulanfang außerdem als Selektionsverfahren angelegt, in dessen Verlauf zunächst über die Schulfähigkeit eines Kindes entschieden werden soll. Entsprechende Selektionskriterien weisen eine bundeslandspezifische Varianz auf (eine aktuelle Übersicht bei Rossbach, 2001). So kann beispielsweise die Aufforderung gegeben werden, über Schulfähigkeit ausschließlich anhand von Persönlichkeitsmerkmalen des Kindes oder aber auch unter Berücksichtigung der schulorganisatorischen und personellen Bedingungen, also nach Maßgabe vorhandener Kapazitäten des Systems, zu entscheiden (Rossbach, 2001). Gemeinsam ist den aktuellen Regelungen, dass schulpflichtige Kinder in allen Bundesländern vom Schulbesuch zurückgestellt werden können. Präzisen Vorgaben zum Beginn der Schulpflicht und zu Entscheidungsträgern für die Aufnahme ins Schulsystem stehen dabei meist fehlende oder variabel auslegbare Kriterien (Kann- oder Sollregeln) für eine Schuleingangsdiagnostik, für die Rückstellung vom Schulbesuch sowie für pädagogische Ersatzmaßnahmen gegenüber. Des Weiteren existieren am Schulanfang bestimmte strukturelle Lösungen zur Reduzierung von Heterogenität. Dazu gehören insbesondere eine Rückstellung vom Schulbesuch, entweder ohne pädagogische Ersatzmaßnahmen oder mit der Empfehlung zum (weiteren) Besuch eines regulären oder eines Förderkindergartens sowie, wiederum regional spezifisch, der Besuch eines Schulkindergartens, Vorlaufklassen für bestimmte Schülergruppen, z. B. Migrantenkinder etc., außerdem die Aufnahme in eine Förderschule bzw. Sonderschule. Als Akteure (Entscheider) innerhalb dieses Rahmens fungieren Schulleiter, Schulärzte, Eltern, ferner auch Kindergärtnerinnen, Schulpsychologen, Mitarbeiter von Schulämtern u. a. Deren persönlicher Ermessungsspielraum ist einerseits durch die schulrechtlichen Rahmenbestimmungen und die zeitlich und regional schwankenden organisatorischen Gegebenheiten, wie z. B. vorgeschriebene Klassengrößen oder angestrebte Erhaltung einer bestimmten Schule, beschränkt. Andererseits ermöglicht die vage Formulierung der schulrechtlichen Rahmenbestimmungen eine in Grenzen variable, individuelle Auslegung der Entscheidungskriterien. Dabei spielen Handlungswissen und Deutungsbestände der Teilnehmer, die sich aus fachwissenschaftlichen Diskursen, etwa zum Schulanfang, zur Schulreife, zur Genese von Behinderungen usw. rekrutieren, eine Rolle, ebenso wie damit im Zusammenhang stehende individuelle Variablen, etwa persönliche Belastbarkeit und Toleranzgrenzen. Vor diesem Hintergrund können nun Probleme, wie z. B. prognostizierte Schulschwierigkeiten bestimmter Personen, definiert
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| Teil II: Theoretische Ansätze und strukturell gelöst werden. Oberstes Ziel der Schule ist dabei die Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit durch Herstellung von größtmöglicher Homogenität in den Lernvoraussetzungen der Individuen. Eine Bewertung individueller, v. a. sensorischer, motorischer, kognitiver, metakognitiver, sprachlicher, emotionaler, motivationaler und sozialer Verhaltensaspekte von Schülern, lediglich vor dem Hintergrund schulisch (gesellschaftlich) am meisten verbreiteter Normen und losgelöst vom Kontext ihres Erwerbs, verkennt die jeweils milieuspezifische Funktionalität von Handlungskompetenzen. Letzteres ist vom System allerdings nicht intendiert, weil es dessen Funktionsfähigkeit erschwert. Mittels der Nutzung von Selektionsmöglichkeiten am Schulanfang, während der Versetzung und durch Überweisungen in Sonderschulen (siehe unten) gelingt es der Grundschule dann auch, unter üblichen Treatmentbedingungen das noch bestehende Ausmaß an Leistungsunterschieden zwischen den im System regulär verbleibenden Individuen etwa konstant zu halten. So verweist zum Beispiel die Scholastik-Studie darauf, dass sich die zu Schulbeginn bestehenden interindividuellen Leistungsunterschiede und Rangpositionen stabilisieren und das Ausmaß der Distanz zwischen verschieden leistungsstarken Schülergruppen erhalten bleibt (Weinert & Helmke, 1997). Der fehlende Schereneffekt wird als pädagogischer Erfolg stolz vermerkt (z. B. Weinert, 2001). Seit ca. 10 Jahren werden in 14 Bundesländern neue Schuleingangsstufen, zumeist in Form von Schulversuchen, erprobt (eine aktuelle Übersicht bei Faust-Siehl, 2001). Diese sollen durch die Einschulung aller schulpflichtigen Kinder ohne vorherige Feststellung der Schulfähigkeit, flexible Verweildauer von bis zu drei Jahren in den Schuljahren 1 und 2 sowie den Einbezug von Unterstützungsmaßnahmen in die reguläre Arbeit die Forderungen nach einer integrativen, individuell fördernden Grundschulpädagogik einlösen. Das System reagiert hier allerdings lediglich mit einer weiteren strukturellen, nicht jedoch mit einer pädagogisch-didaktischen Differenzierung auf die Verschiedenheit der Individuen. Das Kreieren von zusätzlichen Einschulungszeitpunkten (z. T. zweimal jährlich) beispielsweise verkompliziert das System, schürt Unsicherheit bei allen Beteiligten und ist vor allem eine an Systeminteressen ausgerichtete Möglichkeit, Homogenität bei den Lernvoraussetzungen der Schulanfänger zu schaffen. Durch die Nutzung eines nun bestehenden Zeitkorridors für die „reguläre“ Einschulung sowie die flexible Verweildauer in der Eingangsstufe kann der Kritik an hohen Rückstellungs- und Repetentenquoten begegnet werden. Allerdings sind diese nur per Definitionem verschwunden. Klassenwiederholung heißt jetzt flexibles Verweilen, für Kinder mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen kommt es nach wie vor häufig zu einer Schulzeitverlängerung am Anfang. Ein Paradigmenwechsel, etwa Heterogenität als Auftrag der Grundschule zu verstehen und keine Laufbahnentscheidungen am Schulanfang zu treffen, findet nicht statt. 5.2.2 Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für Lernbehinderte Die Einweisung in eine Sonderschule für Lernbehinderte ist der entscheidende Schritt, aus Kindern mit Lernschwierigkeiten die schulorganisatorisch definierte Gruppe der Lernbehinderten zu bilden. Administrative Verlautbarungen geben zunächst einen institutionellen Rahmen für die Bestimmung der Personengruppe, die Aufgaben und Ziele
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der Sonderschule sowie Kriterien der Zuweisung zu diesem schulischen Subsystem vor. In den aktuellen „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen“ (Kultusministerkonferenz [KMK], 2000) scheint zunächst eine systemische Sichtweise vertreten zu werden. „Bei Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen des Lernens ist die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt dauerhaft bzw. zeitweilig so erschwert, dass sie die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der allgemeinen Schule nicht oder nur ansatzweise erreichen können“ (Drave, Rumpler & Wachtel, 2000, S. 300). Sodann erfolgt allerdings eine dezidierte, defizitorientierte Beschreibung mangelhafter Lernausgangslagen auf Seiten der Schüler, wohingegen Systembedingungen und deren Auswirkungen auf den Lernerfolg keiner kritischen Analyse unterzogen werden. Vielmehr bekommt die Bestimmung von Lernbehinderung, nunmehr als sonderpädagogischer Förderbedarf deklariert, eine systementlastende Funktion. Zwar wird die Förderung beeinträchtigter Kinder ausdrücklich als Aufgabe der allgemeinen Schule expliziert und die Sonderschule als nachrangiger Förderort ausgewiesen. Doch die allgemeine Schule kann sich ganz legitim schwieriger, d. h. erhöhten pädagogischen Aufwand erfordernder, Schüler entledigen, denn unter Beachtung der jeweils gegebenen bzw. bereitstellbaren personellen, sächlichen und räumlichen Bedingungen entscheiden Schule und Schulaufsicht, ob die Schülerin oder der Schüler in eine allgemeine Schule aufgenommen wird, dort verbleibt oder Unterricht und Förderung in einer Sonderschule ... erhält. .... Wenn die sonderpädagogische Förderung in der allgemeinen Schule nicht gewährleistet werden kann, werden diese Kinder und Jugendlichen in der Schule für Lernbehinderte unterrichtet. (Drave, Rumpler & Wachtel, 2000, S. 304 ff.) Damit ist der Weg frei für die Reduktion unerwünschter Heterogenität nach Maßgabe der Schule. Das System wird nicht in die Pflicht genommen, tatsächlich alle Schüler entsprechend ihrer Bedürfnisse im gemeinsamen Unterricht zu fördern. Mit Verweis auf fehlende personelle Kompetenz, zu hohe Klassenmesszahlen u. ä. Argumente können Schüler aus der allgemeinen Schule ausgegliedert werden. Umsetzungsanweisungen für die KMK-Empfehlungen finden sich dann in den Schulgesetzen der Länder. Bei aller Variabilität sind folgende Gemeinsamkeiten festzustellen. Die einzelnen Schulgesetze regeln bestimmte Aspekte in präziser Weise, dazu gehören z. B. Zeiträume und Fristen für die Prüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Diese terminlich festgelegten Entscheidungsgelegenheiten haben einen hochgradig auffordernden Charakter, auch tatsächlich Entscheidungen zu treffen, also Lernbehinderte hervor zu bringen. Die Kriterien, nach denen das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eröffnet werden kann und an denen sonderpädagogischer Förderbedarf im Sinne einer Lernbehinderung festgemacht werden soll sowie die dazu durchzuführende Verfahrensweise, etwa die Verwendung bestimmter Diagnoseinstrumente und Informationsquellen, sind nur vage bestimmt, denn es fehlen operationalisierte Kriterien. Auf diese Weise wird Handlungsspielraum für das System und seine Teilnehmer geschaffen, eine Ausrichtung an Systeminteressen ist möglich. Gemeinsam ist den länderspezifischen Schulordnungen auch die Aufforderung an beteiligte Entscheider, hier vor allem an die Grundschullehrpersonen, bisherige pädagogische Bemühungen offen zu legen. Solange entsprechende Kontrollinstanzen fehlen, wird jedoch die Quantität und Qualität pädagogischen Handelns kaum systematisch geprüft. Dies betrifft beispielsweise die sozialen,
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| Teil II: Theoretische Ansätze didaktischen und diagnostischen Kompetenzen von Lehrpersonen. So ist bekannt, dass bei Fehlen von lernbegleitenden, regelmäßigen Lernkontrollen Lernprobleme Einzelner nicht frühzeitig erkannt werden und Lernstörungen bzw. Lernrückstände sich ausweiten. Dies ist insofern von enormer Bedeutung, als in neueren Längsschnittstudien das fachspezifische, sichere und anwendbare Vorwissen als herausragender Prädiktor für die weitere Leistungsentwicklung identifiziert wurde (z. B. Weinert & Helmke, 1997). Erwiesen ist auch, dass der Erziehungsstil der Lehrperson das Klassenklima, damit über die soziale Integration des Einzelnen in die Schulklasse auch den Schulerfolg, beeinflusst. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist dabei sowohl von der Leistung des Kindes, als auch von seinem sozialen Hintergrund abhängig. Untersuchungen zu sozialen Beziehungen im Grundschulbereich zeigen, dass schwache Schüler von der Lehrperson kaum die notwendige Zuwendung erhalten (z. B. Petillon, 1993). Dies steht in engem Zusammenhang zu Lehrereinstellungen und Erwartungseffekten. Es kommt beispielsweise zum sog. Matthäus-Effekt. Für diese und weitere, den Schulerfolg beeinflussende Interaktionsvariablen (vgl. auch Benkmann in diesem Band) fehlt eine entsprechende Effektkontrolle im System. An der Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für Lernbehinderte müssen neben den Interessen der allgemeinen Schule auch die Interessen des Subsystems Sonderschule betrachtet werden. Dessen Streben nach Aufrechterhaltung seiner Strukturen, nach Sicherung des berufsständischen Status und Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit sind hier wirksam. Nach gegenwärtig gültigen rechtlichen Grundlagen sind zumeist Sonderschullehrpersonen von ihrer Schulleitung mit der Erstellung von Gutachten beauftragt, auf deren Grundlage Schulämter über die Platzierung von Kindern im System entscheiden. Vor dem Hintergrund weitgehend unscharfer Kriterien ist eine Platzierungsentscheidung von der Person des Entscheiders mit abhängig. Von Bedeutung ist insbesondere deren fachspezifisches, förderdiagnostisches Handlungswissen. Dazu gehören beispielsweise die Handhabung pädagogisch-psychologischer Diagnostik, Kenntnisse über mögliche Entstehungsbedingungen von Lernschwierigkeiten, Annahmen über das Wesen von Behinderungen u. v. a., die wiederum mit bestimmten Toleranzgrenzen etc. im Zusammenhang stehen. Der Einfluss der Person des Entscheiders ist allerdings stark von dessen Zugehörigkeit zum Schulsystem determiniert. Auch an dieser Stelle sind Teilnehmer systembedingt dazu angehalten, ihre Entscheidungen nicht nur bzw. nicht vorrangig am tatsächlichen Förderbedarf des Kindes, sondern ebenso an Systeminteressen zu orientieren. So wird die Sonderschule beispielsweise bei demografisch bedingt sinkender Nachfrage ihrer Entlastungsfunktion für ihren Erhalt sorgen, z. B. mit besonderen Angeboten die Nachfrage ihrer Leistungen ankurbeln, Problemdefinitionen ihrer Kapazität anpassen usw. Es finden Aushandlungsprozesse zwischen Haupt- und Subsystem statt, die auf beider Erhaltung ausgerichtet sind. Dabei wird die gleichbleibende Menge aller Bildungschancen nach systemeigenen Distributionsmechanismen variabel verteilt, unabhängig von Personmerkmalen Einzelner. Bedürfnisse von Kindern werden zum Spielball des Systems. Dies wird durch eine ungünstige Personalunion vereinfacht, in der dieselben Personen als (potentielle) Förderer, Entscheider und Mitglieder eines (Sub)Systems mit Eigeninteressen fungieren. Ferner fehlen im System auch Kontrollmöglichkeiten zur Prüfung der Rechtmäßigkeit, der Sinnhaftigkeit, der Wirkungen und insbesondere der Nebenwirkungen einmal
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getroffener Entscheidungen. Weder für die abgebende allgemeine Schule noch für die aufnehmende Sonderschule bestehen Interesse und Notwendigkeit der pädagogischen Qualitätskontrolle, solange sie nur die gesellschaftlich definierte Aufgabe der selektiven Qualifizierung (gemeinsam) erfüllen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Untersuchungen zur Effizienz der Sonderbeschulung im Vergleich zur integrativen Beschulung, die nahezu ausnahmslos belegen, dass die Existenzberechtigung von Sonderschulen, zumindest bezüglich ihrer Qualifizierungsfunktion, deutlich in Frage zu stellen ist, so wenig zur Kenntnis genommen werden (vgl. auch Bless in diesem Band). 5.2.3 Zur Interaktion verschiedener Entscheidungen Entscheidungen an den vorab explizierten Stellen stehen in bestimmten Zusammenhängen. So können beispielsweise schulzeitverlängernde Förderstrategien, wie etwa die Rückstellung vom Schulbesuch oder das Repetieren, zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Argument für weitere separierende Maßnahmen, vor allem für die Zuweisung zu einer Sonderschule für Lernbehinderte, werden. Die vom System selbst geschaffene Heterogenität, hier bezüglich des Alters der Kinder, ehemals zu Entlastungszwecken hergestellt bzw. billigend in Kauf genommen, erfährt eine diagnostische Reinterpretation. Vorangegangene Maßnahmen werden nun als Hinweis für Umfänglichkeit und Langfristigkeit von Lernproblemen Einzelner herangezogen, ebenso als Argument für das Ausschöpfen aller systemimmanenten Hilfemöglichkeiten verwendet. Da das in der Grundschule dominante Strukturprinzip der Jahrgangshomogenität nicht (weiter) verletzt werden soll, wird die Aktenkundigkeit gegen das Kind verwendet. Es ist nun zu alt, das Fortschreiten im allgemeinen Schulsystem in der Gemeinschaft deutlich jüngerer Kinder kann, etwa unter Zuhilfenahme des Konstruktes Kindeswohl, angeblich nicht mehr verantwortet werden.
5.3 Empirische Befunde Auf den Einfluss schulsystemischer Gesetzmäßigkeiten auf die Entstehung von Lernbehinderung bzw. auf die systembedingte Devianz von Schulkarrieren kann derzeit eher aus bestimmten Resultaten von Entscheidungsprozessen geschlossen werden. Die Entscheidungsprozesse selbst sind bisher wenig empirisch untersucht. Zunächst fallen die großen Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern bezüglich der Quoten fristgemäßer bzw. verspäteter Einschulungen auf. So variierten die Rückstellungsquoten im Schuljahr 1999/2000 bundesweit zwischen 3,9 % (Bayern) und 14,7 % (Mecklenburg-Vorpommern) bzw. die Anteile fristgemäßer Einschulungen zwischen 74,1 % (Bremen) und 93,6 % (Baden-Württemberg) (Rossbach, 2001). Ein wesentliches Indiz für den Einfluss systemimmanenter Variablen auf die Bestimmung von Lernbehinderung sind auch die zeitlich und regional extrem schwankenden Zuweisungsraten zur Schule für Lernbehinderte. So betrug beispielsweise im Jahre 1999 der Anteil der Lernbehinderten an der Gesamtschülerschaft der Primar- und Sekundarstufe in Berlin ca. 1,99 %, in Sachsen-Anhalt hingegen 4,73 % (Kornmann, 2002). Diese zeitlichen und
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| Teil II: Theoretische Ansätze regionalen Unterschiede sind weder mit Besonderheiten in den Lebensbedingungen noch mit Persönlichkeitsmerkmalen der betroffenen Personen (allein) zu erklären. Sie weisen vielmehr auf die Anpassung des Schulsystems an ökonomische und bevölkerungsstrukturelle Veränderungen, auf die Wirksamkeit zeitlich und regional unterschiedlicher schulpolitischer Bestrebungen, wie z. B. (beabsichtigte) Integration, auf den unterschiedlichen Ausbau regionaler Schulstrukturen, einschließlich bestimmter Modellversuche, etwa Diagnose- und Förderklassen u. ä., hin. In Auswertung schulstatistischer Daten wurden ebenfalls Hinweise zum Einfluss der Eigenrationalität von Bildungssystemen auf den Verlauf von Bildungskarrieren gefunden. Mader, Rossbach und Tietze (1991) zeigen für das Land Nordrhein-Westfalen, dass weder verbesserte Input-Bedingungen, wie z. B. höhere Quoten des Kindergartenbesuches oder intensivere Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule, noch verbesserte Prozessbedingungen, wie z. B. geringere Klassenfrequenzen und Ausbau systemimmanenter Fördermaßnahmen, die Selektivität der Grundschule, gemessen an Rückstellungs- und Repetentenquoten sowie Sonderschulüberweisungen, verringern. Sie beobachten vielmehr einen Sogeffekt von neu ausgebauten Entlastungsstrukturen, wie Schulkindergärten und Vorklassen, die Klienten suchen. Das System distribuiere nach bestehenden Kapazitäten. Bless (2002) zeigt für Teile des Schweizer Schulsystems, dass in den letzten Jahren zusätzliche, die Schule flankierende Ressourcen, wie z. B. schulpsychologische, logopädische und psychomotorische Hilfen, immer stärker ausgebaut und immer umfassender in Anspruch genommen wurden. Gleichzeitig blieb die Aussonderungsquote auf gleichbleibend hohem Niveau bzw. stieg für bestimmte Schülergruppen sogar systematisch an. Daraus leitet Bless die These ab, dass der Ausbau und damit einher gehend die vermehrte Inanspruchnahme von Entlastungsstrukturen durch die allgemeine Schule zu einem Kompetenzverlust der allgemeinen Schule führen. Die Heterogenitätstoleranz des Hauptsystems sinkt immer mehr. „In der Konsequenz wird die Norm immer enger und immer weniger Kinder können ihr entsprechen“ (Bless, 2002, S. 72). Eine einschlägige Untersuchung zur systembedingten Devianz von Schulkarrieren, hier am Beispiel von Migrantenkindern, legen Gomolla und Radtke (2002) vor. Mittels Argumentationsanalysen werden organisationsinterne Entscheidungsmechanismen zur Herstellung von Ungleichheit in der Schule rekonstruiert, institutionelle Wissenshaushalte bezüglich der Wahrnehmung von Problemen und der Begründung entsprechender Lösungen ebenso wie die Einbettung von Entscheidungspraktiken in den spezifischen institutionellen Handlungskontext beschrieben. Gomolla und Radtke weisen nach, dass bei allen Problembeschreibungen und Entscheidungen während der Einschulung und im Rahmen der Umschulungsverfahren die Eigenrationalität des Systems dominiert. Sowohl fachspezifische Wissenshaushalte, z. B. über soziokulturelle Benachteiligung, als auch Kontextbedingungen, wie z. B. Aufnahmekriterien für Einrichtungen, werden variabel aus- bzw. umgedeutet, um systemdienliche Entscheidungen im Nachhinein darstellbar zu machen. So nehmen beispielsweise weiterführende Schulen verstärkt Migrantenkinder auf, wenn sie in ihrem Bestand gefährdet sind, geben Grundschulen ihre Vorbereitungsklassen auf und schulen Kinder mit erschwerter Lernausgangslage direkt ein, wenn ihre Mehrzügigkeit bedroht ist usw., jeweils ungeachtet gleichbleibender Voraussetzungen und Bedürfnisse auf Seiten der Individuen selbst.
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5.4 Zusammenfassung und Ausblick Aus schulsystemischer Sicht trägt Entscheidungshandeln im Interesse des Systems Schule zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Lernstörungen bzw. Lernbehinderungen bei. Innerhalb schulischer Entscheidungsprozesse fassen Entscheider individuelle Merkmalsausprägungen von Kindern als Probleme auf und verknüpfen diese mit organisatorischen Ressourcen (Optionen), unter aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen und vor dem Hintergrund individueller und gesellschaftlich präsenter pädagogischer Überzeugungen zu einer systemkompatiblen Lösung, die nach innen und außen darstellbar und begründbar ist. Die Konstitution der Personengruppe der Lernbehinderten und die Delegation der Zuständigkeit dafür an ein Subsystem dient der Reduktion von Heterogenität, damit der Entlastung des Hauptsystems. Zentrale zukünftige Aufgabe ist es zu hinterfragen, wie der Anspruch aller Kinder auf eine jeweils optimale Bildung, Erziehung und Förderung mit der gesellschaftlich von der Schule geforderten Verteilung von Privilegien zu vereinbaren ist. Dabei ist davon auszugehen, dass zwischen Qualifizierungs- und Selektionsfunktion der Schule ein systemimmanenter Widerspruch besteht. Individualität ist ein Wesensmerkmal des Menschen, Vielfalt kann und darf nicht negiert werden. Die bisherigen Bemühungen des Schulsystems, vor allem durch strukturelle Maßnahmen Homogenität von Lernvoraussetzungen herzustellen, sind gescheitert. Die bestmögliche Qualifizierung aller Kinder und Jugendlichen ist nicht notwendigerweise an die Reduktion von Heterogenität gebunden. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass integrative Bildungsmodelle mit heterogenen Lerngruppen überdurchschnittlich erfolgreich sein können (z. B. Deutsches PISA-Konsortium, 2001). Innerhalb des Schulsystems ist ein Strategiewechsel notwendig. Nicht die Strukturen sollten weiter differenziert werden, sondern die strukturelle Komplexität des Systems ist zu reduzieren. Die Schule muss sich der vorhandenen, unauflösbaren Heterogenität ihrer Schülerschaft stellen, mit pädagogischen Mitteln, vor allem mittels didaktisch-methodischer Differenzierung der Vielfalt begegnen. Ersichtlich kann es unter den normativ festgeschriebenen Freiheits- und Gleichheitsmaximen moderner Demokratien nicht darum gehen, die Merkmale, die Menschen diskriminierbar machen, durch Assimilation zum Verschwinden zu bringen. Eher wohl darum, die Kontexte zu beschränken und die Gelegenheiten zu vermindern, in denen (unverlierbare) Merkmale sozial bedeutsam, Diskriminierung ermöglicht und Überund Unterordnung begründet werden. (Gomolla & Radtke, 2002, S. 12) Dazu kann beitragen, potentiell diskriminierende Selektionsoptionen bzw. Entscheidungsgelegenheiten, die stets auch auffordernden Charakter tragen, zu reduzieren. Diese sind durch pädagogisches Handeln zu ersetzen, das tatsächlich den Bedürfnissen des Kindes entspricht. So sollte z. B. eine kindnahe, dialogische Förderdiagnostik, die prozessimmanent die aktuelle Lernausgangslage und davon ausgehend die Förderbedürfnisse des Individuums bestimmt, an die Stelle von punktueller, auf Heterogenitätsreduktion zielender Statusfeststellung treten. Optionen des Systems, die Zuständigkeit für einzelne Personen oder Personengruppen nach Eigeninteressen zu kündigen, sind kritisch zu hinterfragen. Insofern, als das Vorhandensein von (strukturellen) Lösungen auf die Problemwahrnehmung ausstrahlt, müssen auch die in die Schulorganisation eingeschriebenen
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| Teil II: Theoretische Ansätze Möglichkeiten und Angebote differenziert betrachtet werden. Segregierende Strukturen und Subsysteme, wie z. B. Schulkindergärten, Vorlaufklassen und Sonderschulen, die, sind sie einmal etabliert, aus Selbsterhaltungsgründen nach Problemen und Adressaten suchen, sind schrittweise in integrative Hilfestrukturen umzuwandeln. Kinder mit schwierigen Lernausgangslagen benötigen zusätzliche Hilfen, notwendige Ressourcen dürfen deshalb keinesfalls abgebaut, sollten aber umstrukturiert werden. Sie müssen im System generell vorhanden und ohne vorherige diskreditierende Zuschreibungen variabel nutzbar sein. Diskriminierungen können auch durch eine wirksame Effektkontrolle pädagogischer Maßnahmen reduziert werden. Es sind Instanzen der Selbst- und Fremdkontrolle zu etablieren, um die Angemessenheit von Interventionen zu prüfen und Verantwortlichkeit für Wirkungen und Nebenwirkungen von Entscheidungen einzufordern. Kriterien müssen das Wohlergehen und die optimale Entwicklung des Individuums, nicht aber die Eigeninteressen des Systems sein. Die genauere Untersuchung von Entscheidungsprozessen in der Schule kann dazu beitragen, die in der Organisation selbst befindlichen Ursachen der Benachteiligung von Personengruppen aufzuklären. Lernbehinderung muss deutlicher als bisher auch als Strukturproblem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften wahrgenommen werden. Der Fokus fachwissenschaftlicher Diskussionen und pädagogischen Handelns darf nicht länger auf der Problematisierung und Stigmatisierung von Individuen oder sozialen Gruppen liegen, sondern muss sich auch auf die notwendige Veränderung schulorganisatorischer Strukturen beziehen. Daran anschließend lassen sich Interventionsstrategien zur Behebung von Chancenungleichheit überdenken. Insofern wie Diskriminierung sowohl aus Formen der Gleichbehandlung Ungleicher als auch der Ungleichbehandlung Gleicher resultieren kann, bildet die Auseinandersetzung mit der „Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit“ (Heid, 1988, S. 1) einen diesbezüglichen Ansatzpunkt. Entsprechende pädagogische Konzepte der Heterogenität wurden beispielsweise von Hinz (1993) und Prengel (1995) formuliert. Sie beruhen auf der Forderung nach Anerkennung von Unterschieden, ohne diese mit sozialen Rangordnungen zu verknüpfen. Die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit findet Ausdruck in einem allgemeinpädagogischen, auf strukturelle Homogenisierung verzichtenden Ansatz, welcher soziale Integration aller und gleichzeitig individuelle Ansprüche auf besondere Unterstützungsmaßnahmen miteinander verbindet.
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6 Soziokulturelle Benachteiligung Katja Koch
6.1
Problemaufriss
Obgleich es von Beginn der „Hilfsschulpädagogik“ Hinweise auf soziale Bedingungshintergründe für Lernbehinderung gab (Stötzner, 1864, 1963, S. 7; vgl. auch Gehrecke, 1958), basierten die pädagogisch-didaktischen Konzeptionen lange auf der Prämisse eines individuellen (angeborenen, mehr oder minder korrigierbaren) Intelligenzdefizits (z. B. Fuchs, 1922; Klauer, 1961; Bach, 1973). Erst in den frühen 70er Jahren, als unter dem Postulat der Chancengleichheit eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über schichtenspezifische Benachteiligungen einsetzte, begann auch die Sonderpädagogik, soziale Verursachungsfaktoren für die Genese und Ätiologie von Lernbeeinträchtigungen zu thematisieren. In einer Vielzahl von empirischen Studien wurden die möglichen sozialen Hintergründe der Lernbehinderungen fokussiert (z. B. die Studien von Gehrecke, 1958, 1966 und Klein, 1973). Erstmals durch Begemann (1970) werden Lernbehinderungen explizit als gesellschaftsbezogenes Produkt beschrieben. Thesenartig lässt sich seine Kernaussage wie folgt zusammenfassen: Aufgrund seines Aufwachsens -und damit seiner Sozialisation- innerhalb einer bestimmten Schicht können einem Kind entscheidende Nachteile erwachsen, die möglicherweise zu einer Lernbeeinträchtigung führen. Mit eingeschlossen werden hierbei deutliche Interdependenzen zwischen benachteiligenden familiären Verhältnissen und möglichen organischen und psychischen Auswirkungen. Damit kommt den Lebensbedingungen, mithin also der sozialen Lage erstmals eine Schlüsselrolle für die Qualität des Sozialisationsprozesses zu (ausführlich hierzu Koch, 2003) und dieserart Benachteiligungen werden nunmehr als die pädagogisch wesentliche Bestimmung Lernbehinderter (Schröder, 2000, S. 149) herausgestellt. Theoretische Basis der o. g. These sind die aus der Soziologie rezipierte Sozialstrukturanalyse sowie die schichtenspezifische Sozialisationsforschung. Das Konstrukt Sozialschicht dient dabei der Beschreibung des Phänomens „soziale Ungleichheit“, also aller „gesellschaftlich hervorgebrachten und relativ dauerhaften Handlungsbedingungen, die bestimmten Gesellschaftsmitgliedern die Befriedigung allgemein akzeptierter Lebensziele besser als anderen erlauben“ (Hradil, 1987, S. 144). Die bedeutendste Dimensionen in den klassischen Schichtenmodellen (z. B. Bolte, Kappe und Neidhardt, 1967, S. 316; Dahrendorf, 1965, S. 105; Bolte, 1990, S. 46) sind das Einkommen (materieller Wohlstand), das Ausmaß an Handlungsfreiheit (sozial begründete Macht), der formale Bildungsabschluss und das Prestige eines Gesellschaftsmitgliedes. Aus der Kombination dieser Dimensionen entsteht ein Gefüge vertikal geordneter, geschichteter Gruppierungen, welche innerhalb einer oder mehrerer Ungleichheitsdimensionen einen ähnlich hohen bzw. niedrigen Status besitzen (vgl. hierzu auch Hradil, 1987). Der Status kennzeichnet die Position eines Menschen innerhalb des Sozialgefüges somit nicht nur als verschiedenartig, sondern im Sinne von besser- und schlechter gestellt. Mehrere Studien dieser Zeit belegen, dass 90 % der Schüler von Lernbehindertenschulen der „Unterschicht“ angehören (z. B. Begemann, 1970; Klein, 1973; Ferdinand & Uhr, 1973). Die Merkmale dieser Unterschicht-Zugehörigkeit sind zunächst rein objektiven
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 105
Charakters, es handelt sich um sozio-ökonomische Merkmale: geringe Bildungsabschlüsse der Eltern, niedrige berufliche Position der Väter und, mit beidem zusammenhängend, geringes Einkommen. Weiterhin werden eine überdurchschnittliche Kinderzahl sowie beengte Wohnverhältnisse genannt (Gehrecke, 1958, 1966; Klein, 1973). In der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung allerdings sowie in der sonderpädagogischen Rezeption dieser resultiert aus der „unteren“ Stellung der Familien (als oberster Sozialisationsinstanz) im Sozialgefüge eine spezifische Sozialisation, die zu defizitären Entwicklungsbedingungen führt. Nach den Prämissen dieses Forschungsparadigmas vollzieht sich Entwicklung also „schichtenspezifisch“ (z. B. Rolff, 1967), wobei es zur Prägung von so genannten Sozialcharakteren kommt, die aus diesen Sozialisationserfahrungen resultieren. Die Familie als sozialer Mikro-Raum der Gesellschaft gibt der nachwachsenden Generation ihre Grundwerte weiter. Durch die Weitergabe dieses Sozialcharakters wird soziale Ungleichheit gleichsam sozial vererbt: Spezifische Sozialisationsklimata konstituieren unterschiedliche Lernumwelten für Kinder, die sich auf unterschiedliche Schultypen und Bildungswege beziehen. Wenn auf diese Weise sozialisierte „Unterschichtkinder“ in der Schule auf ein mittelschichtorientiertes System stoßen, scheitern sie an eben diesem und können daraufhin wieder nur „niedere“ Berufspositionen einnehmen (vgl. z. B. Thimm, 1984). Auf diese Art und Weise kommt es zur Reproduktion eines sozialen Status, zur Reproduktion sozialer Ungleichheit und mithin zur Reproduktion von Lebenschancen. Somit sind Sozialisationsbedingungen nicht nur spezifisch, sondern benachteiligend: Aus der Zugehörigkeit zur Unterschicht ergeben sich spezifische sozioökonomische und in der Folge (gegenüber „höheren Schichten“) defizitäre soziokulturelle Bedingungen (z. B. Rolff, 1967, 1980; Begemann, 1970). Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei in der sonderpädagogischen Rezeption Forschungsergebnisse zu schichtenspezifischen Sprachcodes (Bernstein, 1972; Oevermann, 1972): Unterschichtkinder verfügen über so genannte „restringierte“ Sprachcodes, die sich, im Unterschied zu den „elaborierten Codes“ der „Mittelschichtkinder“, durch starre syntaktische und lexikalische Merkmale, durch die Kontextabhängigkeit des Sprachgebrauchs sowie durch niedrige Komplexität auszeichnen (Bernstein, 1972). Der Kommunikationscode(stil) wird im familiären Rollensystem, seiner spezifischen Interaktions- und Kommunikationsstruktur konstituiert. Diese Struktur wiederum wird durch die objektive Stellung im Produktionsprozess bestimmt – die ökonomische Sphäre, vermittelt über den Arbeitsplatz, prägt das Verhalten der Eltern und somit die Sozialbeziehungen in der Familie und somit die Sozialisation des Kindes (Oevermann, 1972). Neben der defizitären Sprache werden lernbehinderte Schüler durch weitere Merkmale charakterisiert, z. B. geringere Motivation, subkulturelle Verhaltensmuster, geringe Anpassung, Aggressivität, geringe Lern- und Leistungsmotivation (Probst, 1976; Schröder, 2000).
6.2 Gegenwärtiger Forschungsstand Mehrere Umstände jedoch scheinen diesen linearen Zusammenhang oder gar eine Kausalbeziehung im Sinne von „aus Unterschichtzugehörigkeit (mithin also aus spezifischen objektiven ökonomischen Lebensbedingungen) resultieren defizitäre Sozialisationsbedingungen, die zu Lernbeeinträchtigungen führen“ gegenwärtig in Frage stellen.
106
| Teil II: Theoretische Ansätze Zum einen muss bezweifelt werden, dass Schichtenmodelle noch in der Lage sind, die wesentlichsten Determinanten sozialer Ungleichheit zu erfassen. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Industrie- zum modernen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Als wichtigste Tendenzen des damit einhergehenden sozialen Wandels gelten in erster Linie die Bildungsexpansion und Höherqualifizierung der Bevölkerung, die Wohlstandsexplosion, der Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates und der relative Bedeutungsverlust der Sphäre bezahlter Erwerbsarbeit zugunsten des Freizeit- und Konsumsektors (vgl. Geißler, 1994, S. 14). So wird in den letzten zwei Jahrzehnten diskutiert, dass wohlfahrtsstaatliche Leistungen, veränderte Arbeitsbedingungen und Kriterien wie Region, Alter, Familienverhältnisse etc. erstens schichtübergreifend wirken und zweitens die Lebenschancen in der modernen Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich „von oben nach unten“ abnehmen, bzw. umgekehrt zunehmen. Damit sind die erarbeiteten „berufsbedingten“ Dimensionen der Schichtenmodelle allein offensichtlich kaum noch in der Lage, die wesentlichen Determinanten sozialer Ungleichheit im Leben eines Menschen zu erfassen, denn die soziale Position ergibt sich nicht mehr aus den klassischen Dimensionen (Einkommen, Bildung, Prestige, Berufsposition), sondern vielmehr aus einem mehrdimensionalen Bedingungsgefüge. Dieses muss wohlfahrtsstaatliche Leistungen (und die sich daraus ergebenden Veränderungen hinsichtlich der Arbeits- und Freizeitbedingungen sowie der Wohn- und Umweltbedingungen) wie auch personale Merkmale (Alter, Generation, Nationalität, Familienverhältnisse, Region, Geschlecht) mit berücksichtigen (vgl. Hradil 1987, 2001; für die Sonderpädagogik Sasse, 1999 und Ellinger & Koch, 2001). Werden diese Kriterien einbezogen, erhöhen sich die Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Dimensionen beträchtlich und es entsteht ein typischer Kontext von Handlungsbedingungen, welche vergleichsweise gute oder schlechte Chancen für die Befriedigung allgemein anerkannter Bedürfnisse gewähren. Diese spezifischen Kontexte werden als Lebenslage bezeichnet und beinhalten ebenso Vorteile als auch Nachteile mitsamt ihren wechselseitigen Substitutions- und Kompensationsmöglichkeiten, die sich aus ihnen ergeben (vgl. Bertram & Dannebeck, 1990). Solcherart konstituierte „Lagemodelle“ erlauben ein wesentlich differenzierteres Abbild der Sozialstruktur, als dies noch durch Schichtenmodelle möglich war. Zum anderen muss hinterfragt werden, inwieweit die objektiven Lebensbedingungen die Lebensweise einer sozialen Gruppe, ihre subjektiven Werte und Einstellungen gegenwärtig noch determinieren. Die Differenzierung sozialer Lagen in modernen Gesellschaften hat zu einer Vielzahl von Lebensstilen und Milieus geführt. Die zunehmende Individualisierung von Lebensverläufen deutet auf die Auflösung von Klassen- und Schichtenbindungen – die Pluralisierung von Lebensstilen geht mit der Abkoppelung von äußeren Lebensbedingungen einher. Schichtenmodelle jedoch gehen davon aus, „dass die jeweils hervorgehobenen Gruppierungen nicht nur ‚objektive‘ Lebensbedingungen, sondern auch bestimmte ‚subjektive‘ Verhaltensweisen gemeinsam haben“ (Hradil, 2001, S. 366). Das heißt, die Gruppen ähneln sich dort nicht nur in den sozialstrukturellen, berufsbedingten Dimensionen, sondern sie haben ebenso gemeinsame spezifische Werteorientierungen und Lebensprioritäten, aus denen sich spezifische Sozialisationsbedingungen (wie Bildungsaspiration, Erziehungsziele, Erziehungsstile etc.) konstituieren. In dieser Logik determinieren die objektiven Lebensbedingungen das Denken und Verhalten der Menschen. Daraus resultiert in diesem Zusammenhang, dass die Kinder durch die spezifische Stellung ihrer
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 107
Familien (als oberster Sozialisationsinstanz) im Sozialgefüge Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind, die sich in ihrer Entwicklung als defizitär erweisen. Dies allerdings wird, angesichts der Feststellung, dass zwar 90 % der Schüler von Lernbehindertenschulen der „Unterschicht“ angehören (Begemann, 1968, 1970; Ferdinand & Uhr, 1973), andererseits aber nur 10 % der Kinder aus der Unterschicht eine solche Schule besuchen (Probst, 1976; Thimm & Funke, 1977), zweifelhaft und läßt, wie Thimm und Funke (1977, S. 601) konstatieren, die Unterschichttheorie ihren „Erklärungswert“ verlieren. Sie vermuten dagegen, dass die Herkunftsfamilien Lernbehinderter „überwiegend einer Teilkategorie der Unterschicht [angehören], die sich hinsichtlich bestimmter sozialer Merkmale von der Gesamtkategorie Unterschicht unterscheidet“ (Thimm & Funke, 1977, S. 600 f.). Das heißt mit anderen Worten, die Vorstellung, dass die Mitglieder einzelner Schichten ihre objektiven Lebensbedingungen (d. h. die gegebenen Handlungsspielräume) in gleicher Weise einschätzen und ähnlich mit ihnen umgehen, ist angesichts der Tatsache, dass nicht alle Unterschichtkinder trotz ähnlicher objektiver Bedingungen die Lernbehindertenschule besuchen (s. o.), so nicht haltbar. So artikuliert ebenfalls Sasse (1999) ein „wahrnehmbares Unbehagen an der normativen Verknüpfung von Sozialstatus und Sprach- und Erziehungsverhalten“ (S. 421) und zieht in Zweifel, „ob der Begriff ‚Unterschicht‘ weiterhin als die sozialwissenschaftliche Kategorie zur Klärung von gravierenden Lernschwierigkeiten herangezogen werden kann“ (S. 422). Der Gedanke eines linearen Zusammenhangs zwischen Schichtzugehörigkeit und Lernbehinderungen, dass also Kinder aus Unterschichtfamilien immer einem solchen Maß an benachteiligenden Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind, aus denen zwangsläufig Entwicklungsverzögerungen bzw. später Lernbehinderungen resultieren, ist inzwischen obsolet geworden (vgl. Schröder, 2000). Dennoch ist anzunehmen, „dass mit der Zugehörigkeit zur unteren Unterschicht offenbar Bedingungen verbunden sind ... die den Schulerfolg der Kinder stark gefährden, bei ungünstigem Verlauf und Zusammenwirken mit anderen Faktoren bis hin zum Ausmaß der Lernbehinderung“ (Schröder, 2000, S. 144). Aber erst ein bestimmter Ausprägungsgrad benachteiligender Bedingungen führt zu defizitären Sozialisationsbedingungen mit nachfolgendem Schulleistungsversagen. In den neueren Untersuchungen zu sozialen Lebensbedingungen lernbehinderter Schüler wird die breite Kritik an Schichtenmodellen und schichtenspezifischer Sozialisationsforschung berücksichtigt, indem neben den klassischen schichtenspezifischen (berufsbedingten) weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit als unabhängige Variablen zur Erklärung von Sozialisationsunterschieden einbezogen werden. In Anlehnung sowohl an Weiterentwicklungen der Sozialstrukturanalyse (Modelle der sozialen Lage, vgl. Hradil, 1987, 2001) als auch an die sozialökologische Sozialisationsforschung (z. B. Bronfenbrenner, 1976) werden nunmehr wohlfahrtsstaatliche Dimensionen wie Wohn-, Umwelt- und Freizeitbedingungen sowie personale Merkmale wie Geschlecht, Alter, Familienverhältnisse, Nationalität (vgl. Hradil, 1987, S. 28 ff.) mit berücksichtigt. Insgesamt allerdings ist eine Stagnation der sonderpädagogischen Forschung zu konstatieren, die empirische Forschungslage zum sozialen Hintergrund lernbehinderter Schüler ist derzeit als außerordentlich mangelhaft einzuschätzen. So hält es Wocken (2000) für ein „aus lernbehindertenpädagogischer Sicht [...] schwerwiegendes Desiderat“ (S. 493), dass
108
| Teil II: Theoretische Ansätze Tabelle 1: Stand der sonderpädagogischen Forschung – Übersicht Untersuchung und Hauptergebnisse Gerda Siepmann, Universität Potsdam 1996/97
Belastungsfaktoren lernbehinderter Schüler/innen im Land Brandenburg N = 1.382 Schüler, 1.344 Eltern, 175 Lehrer (Brandenburg) – niedriger beruflicher Status der Eltern – hohe Arbeitslosenquote der Eltern ( 24,3 %, 47,7 %) – Hinweise auf erschwerte Sozialisationsbedingungen ein Großteil der lernbehinderten Schüler ist mit erschwerten Lebens- und Lernbedingungen konfrontiert
Gerhard Klein PH Ludwigsburg 1997 (in Anlehnung an eine Untersuchung aus dem Jahre 1969)
Sozialer Hintergrund und Schullaufbahn lernbehinderter Schüler N =1.104 Schüler/innen (Baden-Württemberg) – drastische Erhöhung der Anzahl von ausländischen Schülern (Anteil ggw. 48,5 %) – im Vergleich zu dt. Mitschülern deutlich schlechtere soziale Lage – hohe Arbeitslosenquote der Eltern (dt. und nichtdt. 16,3 %) allgemeine Entwicklungsrückstände und Lernprobleme erscheinen als Folgen und Symptome deprivierender Lebensbedingungen
Hans Wocken Universität Hamburg 1999 (im Vergleich zu Hauptschülern-HS)
Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderungen N = 513 Schüler/innen (Hamburg) – hohe Arbeitslosenquote der Eltern ( 23 %, 33 %) – niedrigerer Schul- und Ausbildungsstatus (i. Vergl. zu HS-Eltern) durchgängige soziale Differenz zu HS (Sozialstatus, Individuallage, kultureller Status) LB weitaus eher ein soziales, denn ein kognitives Defizit
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seit den 70er Jahren die sozialen, sozioökonomischen und soziokulturellen Lebensbedingungen von Schülern der Förderschule nicht mehr wissenschaftlich erhoben worden sind. In der Tat gibt es nur wenige empirische Analysen, die explizit die soziale Lage und mithin sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligungen lernbehinderter Schüler untersuchen (Tabelle 1). In diesen Studien fließen, wie aus der Zusammenfassung der Hauptergebnisse in Tabelle 1 ersichtlich wird, sozioökonomisch und soziokulturell benachteiligende Faktoren zusammen, ohne dass ihr Verhältnis bzw. die Art ihrer Verknüpfung, explizit thematisiert wird.
6.3
Empirische Daten zu soziokulturellen Bedingungen
Nachfolgend werden die ersten Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung referiert, die an der Universität Würzburg durchgeführt wurde und sich derzeit in der Auswertungsphase befindet. Es handelt sich dabei um eine bundesweite Fragebogenstudie, welche die soziale Lage von Familien lernbehinderter Kinder untersucht. Im Weiteren verfolgt diese Studie das Ziel, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und soziokulturellen Bedingungen zu untersuchen. Auf diese Art und Weise sollen Mechanismen der sozialen Reproduktion von Lernbehinderungen aufgedeckt werden.
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 109
Im Ergebnis dieser Studie unterscheidet sich die soziale Lage der untersuchten Personengruppe hinsichtlich der sozialen Indikatoren Bildungsstand, Ausbildungsstand, Einkommen, Familienverhältnisse und Wohnsituation deutlich von der sozialen Lage der Gesamtbevölkerung. Obgleich die Lage sich, wie Vergleiche mit älteren Studien (Gehrecke, 1958, 1966; Klein, 1973) zeigen, im Zuge der allgemeinen Wohlstandsentwicklung deutlich positiv verändert hat, ist sie wesentlich ungünstiger und auch unter derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen unbedingt als benachteiligend einzuschätzen. Am Beispiel der Einkommensarmut sei dies hier veranschaulicht. Um das Einkommen verschiedener Haushaltstypen vergleichen zu können, wurde das sog. Nettoäquivalenzeinkommen verwendet. Das zum Vergleich dienende Äquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung wurde dem Datenreport (2002) entnommen, daher liegt für die Gewichtung die dort genutzte alte OECD-Skala zugrunde. Im Bereich der EU gilt als relative Einkommensgrenze die 50%-Schwelle. Das heißt, Haushalte, die lediglich über 50 % des durchschnittlich gewichteten Haushaltsnettoeinkommens des jeweiligen Landes verfügen, gelten als arm. Als strenge Armut gelten 40 %, als prekärer Wohlstand 75 % (vgl. Statistisches Bundesamt, 2002, S. 585). Das Konzept der relativen Einkommensarmut bietet den Vorteil, dass es immer im Bezug zur allgemeinen Wohlstandsentwicklung bleibt: Steigt der gesellschaftliche Reichtum, bewegt sich auch die Armutsgrenze nach oben (vgl. AWO, 2000). Zum Vergleich wurden die durchschnittlichen monatlichen Äquivalenzeinkommen (nominal) der privaten Haushalte in Deutschland herangezogen, die im Datenreport (Statistisches Bundesamt, 2002, S. 582, für das Jahr 2000) für Gesamtdeutschland mit 1.109 e, für die alten Bundesländer mit 1.149 e und für die neuen Bundesländer mit 939 e angegeben werden. Das Ausmaß von Armut stellt sich in der Untersuchungsgruppe folgendermaßen dar (Tabelle 2): Tabelle 2: Einkommensarmut in der Untersuchungsgruppe (UG) im Vergleich (Statistisches Bundesamt 2002, 582 ff.) Deutschland gesamt
Alte Bundesländer
Neue Bundesländer
MZ
UG
MZ
UG
MZ
UG
0–50 % – Relat. Armut
9,1
70,7
9,7
71,9
5,8
69,7
50–75 % – Prek. Wohlst.
25,1
19,2
25,8
18,5
21,6
19,8
75–125 % – Mittl. Eink.
43,6
9,8
41,4
9,3
51,6
10,2
> 125 % – Wohlstand
22,2
0,3
23,2
0,2
21,0
0,3
Die Verteilung der Armutsquoten zeigt, dass mehr als zwei Drittel (70,7 %) der Haushalte dieser Untersuchungsgruppe weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht. Weitere 19,2 % leben unter der 75%-Grenze. Das heißt, fast 90 % der Familien dieser Gruppe leben im Niedrigeinkommensbereich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (Mikrozensus – MZ) zeigt sich für Gesamtdeutschland auch unter Berücksichtigung der Ost-West-Problematik deutlich, dass die
110
| Teil II: Theoretische Ansätze Untersuchungsgruppe sehr viel stärker von Armut und Niedrigeinkommen betroffen ist als die Gesamtbevölkerung (siehe dazu auch Koch, 2004). Dies bekräftigt die Ergebnisse der in Tabelle 1 referierten Untersuchungen. Neben den belegten sozioökonomischen Benachteiligungen gibt es ebenfalls Hinweise auf erschwerte Sozialisationsbedingungen. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen sowie der Erfolg, mit dem sie absolviert werden, hängen eng mit der Teilhabe der Heranwachsenden an der herrschenden Kultur zusammen. Mittels des kulturellen Kapitals der Eltern (in Form von Humankapital und kultureller Praxis) werden dem Heranwachsenden im Prozess der Sozialisation Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, mithin also Werteorientierungen und Einstellungen, vermittelt (Bourdieu, 1982). Die durch die Kapitalausstattung des Elternhauses festgelegten Ressourcen und Restriktionen, inkorporiert das Individuum und überträgt sie nun – gleichsam als ein modellhaft angeeignetes Muster – auf die unterschiedlichen Bereiche. Das System von Regeln, das zur Ausbildung spezifischer Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Menschen führt, bezeichnet Bourdieu als Habitus. Auf der Prämisse der Bourdieuschen Habitustheorie ist soziokulturell benachteiligt, wer wenig kulturelles Kapital vermittelt bekommt. Die Schule als Institution verlangt, soll sie erfolgreich absolviert werden, einen spezifischen Habitus. Beispielhaft hier ist das Interesse am Lesen, welches Kindern die Aneignung weiterer Kulturgüter ermöglicht und damit eine Schlüsselstellung in der Vermittlung kulturellen Kapitals einnimmt (Baumert & Schümer, 2001, S. 330). Dieses wird z. B. im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten sowie durch das elterliche Vorbild vermittelt. Gelingt es den Eltern nicht, dieses Interesse innerhalb des Prozesses der Sozialisation zu vermitteln, ist das Kind in der Schule soziokulturell benachteiligt. Es ist also die „kulturelle Praxis“ in
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
fernsehen N = 1850 Bücher lesen N = 1793 Ausflüge N = 1803 Computer spielen N = 1729 Sport treiben N = 1739 Musik machen N = 1733 Bücherei N = 1733 Kino N = 1787 ins Theater gehen N = 1701
mehr als 1x im Monat
mehrmals im Jahr
Abbildung 1: Maß und Qualität der Eltern-Kind-Aktivitäten
nie
in % 100
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 111
der Familie, die bestimmte Habitusformen hervorbringt, welche wiederum dafür sorgen, dass der Heranwachsende an der herrschenden Kultur mehr oder weniger teilhaben kann. Zu dieser kulturellen Praxis gehört, neben dem Besitz an Kulturgütern (z. B. Büchern), die Teilhabe an (sozial hoch bewerteten) Formen der Kultur (z. B. Theaterbesuche). In Abbildung 1 wird ersichtlich, in welchem Maß die untersuchte Personengruppe bestimmte Aktivitäten mit ihren Kindern durchführt. Dabei wird deutlich, dass es genau die gesellschaftlich höher bewerteten Formen der Kultur sind (z. B. Musik machen, ins Theater gehen), an denen die lernbehinderten Schüler in ihren Elternhäusern eher selten oder in vielen Fällen nie teilhaben können. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Problematik der „bildungsbürgerlichen“ Norm, wie sie sich in der Höherbewertung von (etwa) Theaterbesuch im Gegensatz zu gemeinsamem Fernsehen ausdrückt. Sie sollte bei den Betrachtungen mit reflektiert werden (vgl. Schröder, 2000). In dieser Untersuchung zeigt sich allerdings gleichzeitig deutlich, dass es sich in der Hauptsache um außerhäusliche Aktivitäten handelt, die seltener unternommen werden, was auf einen insgesamt kleineren Aktions- und Interaktionsradius dieser Familien hindeutet. Ein wesentlicher Faktor für den Schulerfolg ist weiterhin das Bildungsklima im Elternhaus. Es wird hier durch Teilhabe der Eltern am schulischen Leben der Kinder (Bildungsaspiration) und die Anzahl der Bücher (als für die Kinder frei verfügbare Kultur- und Bildungsträger) im Haushalt charakterisiert. Beinahe ein Fünftel aller Eltern sprechen nicht regelmäßig mit den Lehrern und/oder nehmen nicht regelmäßig an Elternabenden teil – in diesen Elternhäusern herrscht offenbar ein relativ geringes Interesse an den schulischen Belangen des Kindes. Auch die insgesamt relativ und in immerhin 37 % der Familien sehr geringe Anzahl von Büchern (bis 20) weist auf ein ungünstiges Bildungsklima hin. Wie oben herausgestellt, erweisen sich im Sozialisationsprozess elterliche Wertevorstellungen als besonders folgenreich. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Strukturierung der Grundpersönlichkeit des gesellschaftlichen Nachwuchses ist die Analyse der dem familiären Sozialisationsgeschehen zugrunde liegenden Werte und Normen von zentraler Relevanz. Aus der soziologischen Perspektive sind Erziehungsziele die im Bewusstsein repräsentierten Konzeptionen des Erstrebenswerten. In jedem Erziehungsziel manifestieren sich bestimmte Lebensgrundeinstellungen und Werteüberzeugungen. Erziehungsziel ist ein meist verbal geäußertes präskriptives Urteil hinsichtlich des eigenen Verhaltens in
regelmäßig mit dem Lehrer sprechen
regelmäßig an Elternabenden teilnehmen 15,95
19,46 trifft (eher) zu trifft (eher) nicht zu 80,54
Abbildung 2: Teilhabe der Eltern am schulischen Leben der Kinder
84,05
112
| Teil II: Theoretische Ansätze in % 0
10
20
30
40
50
keine 1–5 5–10 10–20 20–50 mehr
Abbildung 3: Anzahl der Bücher im Elternhaus
Bezug auf Verhaltensweisen eines bestimmten Kindes (vgl. Filipp & Schneewind, 1974). Im Unterschied dazu sind Erziehungsstile alle Handlungen der Eltern, mit denen sie ihre Verhaltenserwartungen den Kindern gegenüber verbindlich zu machen versuchen. Bei diesen Erziehungspraktiken handelt es sich um auf das Kind bezogenen Verhaltensweisen oder -tendenzen von Eltern in erziehungsrelevanten Situationen (Weber, 1986, S. 33). Erziehungsziele und -stile der untersuchten Personengruppe werden in den Abbildungen 4 und 5 sichtbar. Diese Ergebnisse zeugen davon, dass sich der in der Gesamtbevölkerung dokumentierte „Wertewandel“ (Peez, 2001, S. 68) auch in dieser Personengruppe, wenn auch weniger deutlich, vollzogen hat: Während die älteren Untersuchungen noch von Pflichtund Akzeptanzwerten (wie z. B. Fleiß, gute Umgangsformen) und stark autoritären Praktiken (z. B. Verbote, Bestrafungen) berichten, stellen sich die o. g.. Resultate eher stark gemischt dar: So sind die am häufigsten genannten Ziele (Abb. 4) Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und Selbstvertrauen, aber beinahe ebenso oft werden wieder konventionelle Ziele wie Höflichkeit und Fleiß genannt. Ähnlich gemischt zeigen sich die Stile der Erziehung von demokratisch (Diskussion) bis autoritär (schimpfen, Verbote, Hausarrest). Dabei unterscheiden sich die Erziehungsstile stark nach dem Bildungsniveau der Eltern: mit steigender Schulbildung werden die Praktiken weniger autoritär. Bei den Erziehungszielen kann dies nicht nachgewiesen werden. Diese bisher referierten Ergebnisse erweisen sich insbesondere folgenreich im Hinblick auf die in diesem Kapitel genannten Postulate bezüglich einer differenzierteren Betrachtung der Sozialisationsbedingungen und ihrer Zusammenhänge mit den objektiven, d. h. berufsbedingten Voraussetzungen der Elternhäuser. Wenn die berufsbedingten Dimensionen in einem engen Zusammenhang mit den Werten und Einstellungen, mithin der soziokulturellen Dimension stehen würden, müssten
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 113
in % 0
10
20
30
40
50
60
70
80
ehrlich Selbstvertrauen Verantwortungsbewusstein höflich selbstständig Schulleistungen Durchsetzungsfähigkeit Fleiß Verständnis Kritikfähigkeit wichtig
nicht wichtig
Abbildung 4: Erziehungsziele der Eltern
0
10
20
30
40
50
60
Diskussion Unzufriedenheit zeigen schimpfen überreden Verbote Hausarrest abwarten (eher) oft
Abbildung 5: Erziehungsstile der Eltern
(eher) nie
70
80
90
in % 100
114
| Teil II: Theoretische Ansätze sich die sozialstrukturellen Gruppierungen hinsichtlich ihrer kulturellen Orientierung sichtbar voneinander diskriminieren. In einer ersten Analyse wurde daher untersucht, ob sich die aus ökonomischen Dimensionen gebildeten Gruppierungen hinsichtlich der oben referierten Sozialisationskomponenten unterscheiden. Nach einem Schichtenmodell von Helmert (Mielck, 2000), welches aus einem additiven Indexwert aus Bildung, Stellung im Beruf und Einkommen gebildet wird, stellt sich die Schichtenzugehörigkeit der Untersuchungsgruppe folgendermaßen dar: Untere Schicht 46,3 %; Untere Mittelschicht 24,8 %; Mittlere Mittelschicht 16,4 %; Obere Mittelschicht 9,7 %; Obere Schicht 2,8 %. Sie unterscheiden sich weder hinsichtlich der gemeinsamen Aktivitäten, noch hinsichtlich des Bildungsklimas und der Erziehungsvariablen signifikant voneinander. Als Alternative zu den Schichten wurden nun Cluster gebildet, in die (in Anlehnung an Schwenck, 1999) nicht nur Bildung und Einkommen, sondern auch Wohnbedingungen, materielle Ausstattung des Haushaltes und Arbeitszufriedenheit mit eingingen. Durch die Clusteranalyse entstanden 5 klar voneinander unterscheidbare soziale Lagen mit eindeutig vorteilhaften bzw. nachteiligen Lebensbedingungen. In einer weiteren Analyse zeigte sich, dass diese sozialen Lagen sich in allen untersuchten Sozialisationsvariablen signifikant voneinander unterscheiden! An diesem Ergebnis ändert sich auch durch eine Reduktion der Erziehungsvariablen per Faktorenanalyse nichts.
6.4 Zusammenfassung Zusammenfassend verdeutlichen die Ausführungen sowie die referierten Ergebnisse, dass es sich bei der lernbehinderten Schülen um eine Gruppe handelt, die zum Großteil unter sehr prekären sozioökonomischen Lebensbedingungen aufwächst. Im Zusammenwirken mit weiteren Faktoren können sich aus der Stellung der Familie innerhalb der Sozialstruktur Sozialisationsbedingungen ergeben, die zu soziokulturellen Benachteiligungen in der Institution Schule und mithin zu einer Gefährdung des Schulerfolgs und – bei ungünstigem Verlauf und Wirken weiterer Faktoren – bis hin zu Lernbeeinträchtigungen (bzw. einer Lernbehinderung i. S. der Schulzugehörigkeit) führen. Festzuhalten bleibt ferner, dass die hinsichtlich der Reproduktion von Lernbehinderung aufgezeigten Forschungsdesiderate hinsichtlich objektiver Belege für die Lebenssituation dieser Personengruppe sowie deren (systematische) Benachteiligung Thema für das Fachgebiet bleiben müssen.
Literatur Bach, H. (1973). Unterrichtslehre L. Allgemeine Unterrichtslehre der Sonderschule für Lernbehinderte. Berlin: Mahrhold. Baumert, J. & Schümer, G. (2001): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323-410). Opladen: Leske und Budrich. Begemann, E. (1968). Die Bildungsfähigkeit der Hilfsschüler. Berlin-Charlottenburg: Marhold. Begemann, E. (1970). Die Erziehung der soziokulturell benachteiligten Schüler. Berlin: Schroedel.
Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 115
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7 Das lern- und entwicklungstheoretische Paradigma Werner Nestle Lernen und Lernbehinderung unter der Perspektive der Lern- und Entwicklungstheorien zu betrachten, kann für Unterrichts- und Förderkonzepte sehr produktiv sein (vgl. dazu z. B. Kautter, Klein, Laupheimer & Wiegand, 1988; Wember, 1986, 1988; Scherer, 1995). Lernund Entwicklungstheorien sind auch wichtige Inhalte der Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Um zu verhindern, dass diese Inhalte dogmatisch gelehrt und in der Praxis unreflektiert angewandt werden, sind deren erkenntnistheoretische Grundlagen und deren Wirkungen zu reflektieren. In diesem Beitrag wird an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und an der Lerntheorie des Konstruktivismus beispielhaft diskutiert, ob die Ansprüche von Theorien einer subjekt- und sachorientierten Lernkultur entsprechen. Aus Platzgründen können keine weiteren Lern- und Entwicklungstheorien berücksichtigt werden. Die Lerntheorie des Konstruktivismus wird auch von der Allgemeinen Pädagogik und von der Sonderpädagogik rezipiert. In dieser Lerntheorie werden Anliegen vertreten, die schon von Reformpädagogen vorgebracht wurden. Aber in der radikalen Ausprägung scheint der Konstruktivismus als Lerntheorie nicht geeignet zu sein, vor allem, weil das lernende Subjekt darin eliminiert wird. Der Konstruktivismus (vgl. Werning in diesem Band) hat auch Wurzeln in Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung. In diesem Beitrag wird auf einige Gemeinsamkeiten dieser Theorien und auf Konsequenzen für das lernende Subjekt aufmerksam gemacht.
7.1 Das entwicklungstheoretische Paradigma Nach Piaget wird die kognitive Entwicklung vom Subjekt selbst gesteuert und eigenständig konstruiert. Die Entwicklung verläuft nach Piaget für alle Menschen nach denselben Phasen ab. Piaget konstruiert die geistige Entwicklung als Abfolge von Stadien (Piaget, 2003, S. 63-71; Montada, 2002, S. 418 ff.). – Stadium der sensorischen Entwicklung (0–2 Jahre), – Stadium des voroperatorischen, anschaulichen Denkens (2–7 Jahre), – Stadium der konkret operatorischen Strukturen (7–12 Jahre), – Stadium des formal-operatorischen Denkens (ab 12 Jahren). Diese Stadien betrachtet Piaget als notwenige Schritte in der geistigen Entwicklung, weil in den höheren Stadien die Elemente der vorausgegangenen Stadien enthalten sind. Durch explizite Lernprozesse kann der Durchlauf durch diese Stadien nach Piaget kaum beschleunigt werden, auch nicht durch Training der Konstanzbegriffe, der Messoperationen, der Proportionalitäten und anderer geistiger Operationen (Piaget, 2003, S. 75-83). Die geistige Entwicklung vom Stadium der sensorischen Entwicklung zum Stadium des formal-operativen Denkens ist nach Piaget nicht möglich durch empirisches Lernen (Wahrnehmung, Reiz-Reaktion). Geistige Entwicklung ist an konstruktivistisches Handeln gebunden, das von einer inneren „Entfaltungslogik“ (Montada, 2002, S. 440) geprägt
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| Teil II: Theoretische Ansätze ist. Weshalb Kinder in ihrer geistigen Entwicklung die verschiedenen Stadien durchlaufen, erklärt Piaget mit dem Konzept der „Äquilibration“: Ein Kind kann z. B. beim Umfüllen von Flüssigkeiten aus einem breiten Glas in ein schmales Glas Widersprüche erfahren: Ist jetzt mehr Wasser im schmalen Glas, weil der Wasserstand höher liegt oder ist weniger Wasser im Glas, weil das Glas schmaler ist? Das Kind sucht eine Lösung des Widerspruchs und baut dabei seine Denkstrukturen weiter aus, um ein „Gleichgewicht“ zu finden. Durch explizite, zielorientierte Lernprozesse können die geistigen Operationen aber nicht ausgebildet werden.
7.2 Inhaltsneutralität der Strukturen Piaget bemerkte, dass Kinder nicht immer stadientypische Operationen auf andere Inhalte übertragen können. Wenn Kinder z. B. die Proportionalität bei den Größen Gewicht und Geldwert erkennen, gelingt es ihnen trotzdem nicht, diese Struktur auf die Größen Zeit und Weg zu transferieren. Der horizontale Transfer der kognitiven Operation gelingt den Kindern nicht immer. Piaget untersuchte diese „Verschiebungen“ aber nicht weiter (Montada, 2002, S. 441). Auf den Unterricht bezogen bedeuten diese Verschiebungen, dass z. B. das Konzept der Proportionalität bei jeder mathematischen Größe gelernt werden muss. Daraus kann abgeleitet werden, dass ein spezifisches Training zu Proportionalität und anderen Denkstrukturen nicht automatisch auf andere Größen transferiert werden kann. „Will man auch den horizontalen Lerntransfer optimieren, das heißt, will man die Nutzung des Gelernten in neuen Anwendungs-, Lern- und Problemsituationen gewährleisten, so bedarf es ergänzend der situierten Verankerung des Lernens durch Einbettung in lebensnahe komplexe Lerngelegenheiten“ (Weinert, 2001, S. 127). Auch beim Schriftspracherwerb ist das operatorische Niveau „jeweils spezifisch für jeden Lerngegenstand zu ermitteln“ (Valtin, 1996, S. 175). Das inhaltsneutrale Training kognitiver Strukturen ist ohne große Wirkung: „Die Hoffnungen auf generelle Wirksamkeit psychologischer Programme zur Intelligenz- und Denkförderung, zur Gedächtnisschulung, zum Lernen des Lernens und zur Motivationssteigerung haben sich nicht erfüllt ...“ (Weinert, 2001, S. 130). Ein neuer Schwerpunkt in der Entwicklungspsychologie ist die Erforschung des kindlichen Wissens über elementare biologische und physikalische Inhaltsbereiche. Auch Sodian (2002) macht darauf aufmerksam, dass sich „die wichtigsten traditionellen Annahmen über bereichs-übergreifende, globale Veränderungen im kindlichen Denken“ als nicht haltbar erwiesen haben (S. 448). Deshalb wird jetzt auch über das begriffliche Wissen zu elementaren Inhaltsbereichen der Biologie und der Physik geforscht. Dieses Wissen wird als mögliche Ursache kognitiver Veränderung und Entwicklung beim Kinde gesehen.
7.3 Statt linearer Entwicklungslogik: Entwicklung als Evolution Theorien über die Entwicklung der Kinder beinhalten immer auch anthropologische Vorstellungen über Kinder. Werden diese Vorstellungen nicht als Konstrukte gesehen
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und deshalb nicht relativiert, können sie eine alternative Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen erschweren bzw. verhindern. In linearen Entwicklungstheorien, die Einzelfunktionen isolieren, wird nicht beachtet, dass Kinder und Jugendliche im Alltag nicht nach funktionalen Spezialisierungen handeln. Kinder und Jugendliche befinden sich immer schon in einer bedeutungsvollen Welt und handeln als Subjekte, die ihre Denkmuster, Gefühle und körperlichen Aktivitäten je nach situativen Herausforderungen aufeinander abstimmen und zueinander in Beziehung setzen (Schäfer, 1997, S. 377-394). Dieses Zusammenspiel wird in funktionalen Entwicklungsmodellen der linearen Entfaltungslogik nicht beachtet. Die Wahrnehmung der kindlichen Handlungsmöglichkeiten wird dadurch beeinträchtigt. „Deshalb erscheint es sinnvoll, Entwicklung nicht als einen linearen Prozeß von funktionalen Entwicklungen aus einfachen Anfängen zu mehr oder weniger ausgearbeiteten Einzelzuständen zu betrachten“ (Schäfer, 1999, S. 194). Entwicklung ist vielmehr als Prozess zu verstehen, „durch den aus gegebenen einfachen Gesamtstrukturen des Psychischen in der Interaktion mit mehr oder weniger komplexen Umweltstrukturen individuell neue Strukturen entstehen“ (Schäfer, 1999, S. 194). Nach diesem Verständnis evolviert und verzweigt sich z. B. das Zahl-, Zeit- und Raumverständnis bei Kindern und Jugendlichen in den komplexen Situationen alltäglicher Beanspruchung und zeigt sich in unterschiedlichen Perspektiven: die Zahl nicht nur als Ordinal- und Kardinalzahl, sondern auch als Zahl eines Größenbereichs, die Zeit nicht nur als physikalische Zeit, sondern auch als zyklische und erlebte Zeit, der Raum nicht nur als geometrischer Raum, sondern auch als subjektiver Raum mit spezifischen Handlungsmöglichkeiten. Beim Verständnis der Entwicklung als Prozess, der evolutionär und situativ bestimmt ist, bekommt die Umwelt eine konstitutive Rolle: Aus dem Unterricht und aus der Umwelt des Kindes und des Jugendlichen kommen Denk-, Sprach- und Handlungsimpulse, Beispiele und Anregungen, um noch wenig differenzierte Vorstellungen zu spezifizieren. Die Kinder entwickeln Zahl-, Zeit- und Raumbegriffe und verknüpfen diese Begriffe zu Netzwerken. Die neu gebildeten Begriffe müssen sich in Schule und Alltag als tragfähig erweisen. Sie werden bestätigt oder verworfen, entwickeln sich aber in jedem Fall weiter. Diese Erfahrungen und Kenntnisse können Basis des Unterrichts sein. Erst wenn diese Voraussetzungen beim Lernen beachtet werden, lassen sich Aussagen machen über die Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten eines Kindes. Entwicklungsmodelle nach dem Konzept isolierter und normierter Funktionsbereiche verführen eher dazu, Defizite und Grenzen in der Entwicklung festzustellen. Bei der evolutionären Sicht der Entwicklung kommen nach Schäfer (1997) auch soziale Rahmenbedingungen zum Vorschein: Einer Ökologie von Umwelten korrespondiert dabei eine Ökologie subjektiver Innenwelten. Verbunden werden Innen und Außen dabei durch eine Grammatik, die eher der Flexibilität von Spielprozessen entspricht als linearen Konstellationen. Regelhaftigkeit in diesen Abläufen kommt dadurch zustande, dass es eine Vielzahl von Mustern gibt, denen viele Menschen gemeinsam ausgesetzt sind. Doch da sie durch die Individuen in jeweils unterschiedlicher Weise aufgenommen und weiterverarbeitet werden, ergeben sich allenfalls vergleichbare Muster, die in einer geringeren oder größeren Breite voneinander variieren. Das Wesentliche an dieser Vorstellung von Entwicklung sind daher nicht nur Regelmäßigkeiten, sondern ebenso sehr Offenheit und individuelle
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| Teil II: Theoretische Ansätze Varianzen. Letztere können nun nicht mehr einfach als Abweichungen von einer Normallinie gedacht, sondern müssen als produktive Lösungsmöglichkeiten in diesem komplexen Spiel von Mustern erkannt werden (S. 386 f.). Die allgemeinen Grundstrukturen der Entwicklung z. B. des Raum- und Zeitbewusstseins und der Zahlbegriffsbildung werden von den Kindern in Abhängigkeit von deren soziokulturellem Umfeld inhaltlich anders geprägt, weil sie zunächst die familien- und schichtspezifischen Gebrauchsformen z. B. des Geldes, der Zeitmessung, der Verkehrsmittel und anderer alltäglicher Handlungen lernen und ebenso spezifische Erlebnisweisen der Zeit und der Lebensräume realisieren (Nestle, 2002, S. 32-35). Daraus folgt, die Lernprozesse der Kinder an die Alltagserfahrungen zu knüpfen. Im Rahmen eines Unterrichts über Zeit und Zeitmessung äußerten sich Kinder folgendermaßen über die Zeit: „Mit der Uhr, Sekundenuhr, Stoppuhr kann man abmessen, wie lange man braucht.“ „Mit der Zeit kommt Neues, Altes geht.“ „Es gibt viel Zeit, aber auch wenig Zeit.“ „Die Zeit ist ein Geschenk.“ „Jede Sekunde, jede Minute ist kostbar für uns“ (Nestle, 2000, S. 54, 56). Die Kinder zeigten in ihren Äußerungen einen pragmatischen Umgang mit der Zeit und deuteten die Zeit auch existentiell. Schon aus diesen wenigen Aussagen kann geschlossen werden, dass sich bei Kindern ein breites Spektrum von Zeitperspektiven und Zeitvorstellungen entwickelt. Dieser Vielfalt kindlicher Zeitvorstellungen stehen lineare Entwicklungstheorien gegenüber, die bei Kindern nur die Entwicklung des homogenen, metrischen Zeitschemas erforschen. Es handelt sich um das physikalische Zeitverständnis Newtons, das Piaget bei Kindern untersuchte. Bei Piaget ist Zeit im physikalischen wie im psychischen Bereich lediglich „die Koordination der Bewegungen“, bei der eine Synthese aus der operativen Reihenbildung und der Klasseninklusion vorausgesetzt wird (Piaget, 1955, S. 14, 160, 346, 361, 389). Piaget deutet die Entwicklung der Begriffe vom Endstadium aus rückwärts. Wahrgenommen wird dabei nur, was z. B. bei der Zeit in das vorgegebene Schema des physikalischen Zeitbegriffs passt. Die Vielfalt kindlicher Denkfiguren, Zeitperspektiven, Erfahrungen und Fragen wird nicht beachtet. Deshalb sollten Kinder nicht nur nach inhaltsneutralen Entwicklungstheorien beurteilt werden, nach denen vor allem lernbehinderte Kinder eher als defizitär beschrieben werden. Dagegen werden im sozialwissenschaftlichen Diskurs Kinder und Jugendliche als kompetente Interpreten ihrer Lebensverhältnisse betrachtet; sie werden in die Forschung einbezogen und berichten über ihre Erfahrungen und Gefühle und über das Leben in ihrer Kinder- und Jugendkultur. Entwicklungsprozesse werden in Bezug auf die Auseinandersetzung des Kindes und des Jugendlichen mit seiner Lebenswelt erforscht, um seine Ontogenese zu rekonstruieren (Honig, Lange & Leu, 1999, S. 9-32). Dieses Forschungsdesign weicht stark ab von traditionellen entwicklungspsychologischen Ansätzen, in denen die Denkweise der Erwachsenen in die Kindheit zurückverfolgt wird, um dort die Anfänge des arithmetischen, räumlichen und physikalischen Denkens aufzuspüren. Kinder sollten mit Hilfe offener Interpretationsmuster verstanden werden, statt sie an der fertigen und feststellenden Erwachsenenlogik zu messen. Angesichts der pluralen Eigenwelten der Kinder ist die Anwendung universaler Werkzeuge (kognitiver Strukturen) zur Entwicklungsforschung nicht mehr plausibel. Die Konsequenz aus der Pluralisierung der Lebenswelten sind Forschungen, welche die sozialen
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und individuellen Eigenheiten der kindlichen Erfahrungswelten berücksichtigen. Vor allem im Interesse lernbehinderter Kinder und Jugendlicher sollten die individuellen Entwicklungen mehr beachtet werden. Die einheitliche kognitive Entwicklung ist lediglich ein Konstrukt und sollte als solches relativiert werden. Kann auf Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung nicht auch Bourdieus Begriff des „Habitus“ angewandt werden? Dieser Begriff meint, dass normative und kognitive Muster einer Kultur funktionieren, weil sich die Kultur einerseits selbst ständig reproduziert und andererseits die Menschen in dieser Kultur so erzogen werden, dass sie in die vorgegebenen kulturellen Muster passen. Ergebnis dieses Wechselwirkungsprozesses ist der Habitus. „Der Habitus ist also etwas wie eine Schleife: die Kultur ist Kultur, weil sie von dem Habitus aus gesehen, erlebt wird, den sie andererseits selbst herstellt“ (Waltz, 2003, S. 345). Könnte es sein, dass Piagets kognitive Strukturen, die als universell betrachtet werden, nichts Anderes sind als der kognitive Extrakt sozialer Handlungspraktiken und Denkmuster, die ständig tradiert werden?
7.4 Das lerntheoretische Paradigma Der Konstruktivismus kann als eine Neuakzentuierung der kognitivistischen Lerntheorien betrachtet werden. Als gemeinsame Grundlage sieht von Glasersfeld Piagets Modell der Akkomodation und Assimilation (von Glasersfeld, 1997, S. 98-131). Ein Unterschied besteht darin, dass im Kognitivismus davon ausgegangen wird, Probleme seien objektiv gegeben und könnten gegenständlich, bildhaft und symbolisch repräsentiert werden. Probleme müssen demnach nur noch gelöst werden. Aber nach dem konstruktivistischen Lernkonzept müssen Probleme zuerst erfunden bzw. konstruiert werden, um sie dann zu lösen. Ein Argument der Kritik am Kognitivismus aus konstruktivistischer Perspektive ist, dass im Verzicht auf Problemgenerierung das idealistische Konzept des Subjekt-ObjektDualismus zum Ausdruck kommt, wonach sich Subjekt und Objekt gegenseitig erschließen. Die im Subjekt angelegten Bildungskräfte würden sich in der Auseinandersetzung mit der vorstrukturierten Wirklichkeit entfalten. Die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus wollen dieses Paradigma überwinden. Sie sehen keine Möglichkeit, die Realität „objektiv“ zu beschreiben und sie im Sinne einer Abbildtheorie zu repräsentieren. „Realität“ ist vielmehr ein Konstrukt des Menschen. Sprache, Bilder, Theorien und Begriffe repräsentieren nicht „die Welt der Dinge,“ sondern menschliches Handeln und Denken. Jeder Lernprozess baut auf früheren Lernprozessen auf. Vorwissen ist die Voraussetzung für neues Wissen; dieses wird in bereits vorhandene Strukturen integriert (Siebert, 1999, S. 16). Dieser Vorgang wird neurobiologisch begründet: „Neurowissenschaftlich lassen sich erlernte Wissensbestände als neuronale Netzwerke beschreiben. Lernen stärkt die Synapsen, Verlernen schwächt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen“ (Siebert, 1999, S. 17). Strukturveränderung bedeutet: Veränderung der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, der Wirklichkeitskonstruktion und der Problemlösestrategien. Auf den schulischen Lernprozess bezogen heißt das: Durch Lernarrangements (z. B. Gespräche, Medien und Materialien) können die Schülerinnen und Schüler angeregt
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| Teil II: Theoretische Ansätze werden, ihre Vorstellungen und Wissensbestände umzustrukturieren, um ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Dies kann gelingen durch Wahrnehmung von Differenzen im Lernarrangement: neue Perspektiven, andere Fragen und Beobachtungen, Kommunikation mit anderen Menschen. Durch diese Differenzerfahrungen wird das Lernen in Gang gesetzt. Dieser Vorgang wird als „Perturbation“ bezeichnet (Siebert, 1999, S. 200). Aber durch Perturbation im Lernarrangement werden lernende Subjekte nicht zu eindeutigen Reaktionen veranlasst. Es kann im Lernarrangement nicht gelingen, durch bestimmte Reize beabsichtigte Reaktionen hervorzubringen oder durch Probleme erwartete Lösungen zu veranlassen. „Lernende Systeme können von der Umwelt nicht determiniert, wohl aber perturbiert werden“ (Siebert, 1999, S. 38), das heißt, sie können zu Reaktionen und Problemlösungen nur angeregt werden. Diese Anregungen und Beobachtungen treffen auf das Nervensystem. Es ist „selbstreferentiell“, das heißt, es beobachtet und registriert nur die Zustände des eigenen Systems. Was neu, wichtig oder interessant ist, gilt immer nur für den betreffenden Menschen im Verhältnis zu seinem eigenen Wissen. Nur was in die bereits vorhandenen emotionalen und kognitiven Strukturen passt, wird assimiliert. Dieser Vorgang wird auch als „Strukturdeterminiertheit“ diskutiert (Siebert, 1999, S. 201). „Als strukturdeterminierte Wesen hören wir, was wir hören – nicht, was andere sagen“ (Maturana, 1996, S. 236). Das strukturdeterminierte Nervensystem wird als „Autopoiesis“ gedacht, als ein sich selbst entwickelndes und sich selbst erhaltendes System. Der Begriff „Autopoiesis“ wurde von Maturana und Varela (1987) im Kontext biologischer Systeme verwendet und bezieht sich dort auf die Überlebenschancen von Lebewesen. Von Glasersfeld übertrug den Begriff auf psychische und kognitive Systeme. Auch dort gilt, dass sich Systeme selbst erzeugen, erhalten und organisieren. Diese Systeme sind autonom, das heißt sie sind befähigt, eigene Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus und der Funktion zu entwickeln. Mit dem Begriff „Viabilität“ wird im Radikalen Konstruktivismus die Brauchbarkeit und Nützlichkeit des assimilierten Wissens bezeichnet. Das lernende Subjekt entscheidet, ob und in wie fern das Gelernte „lebensdienlich“ (passend, brauchbar, funktional) für ihn selbst ist. „Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität bestimmt“ (von Glasersfeld, 1997, S. 43). Aus den Postulaten des Radikalen Konstruktivismus lassen sich die im Folgenden dargestellten kritischen Anmerkungen ableiten.
7.5 Selbstreferenz (Autopoiesis) Einerseits steht im Radikalen Konstruktivismus das Subjekt im Mittelpunkt: Das Lernen soll sich am einzelnen Subjekt orientieren. Aber das Subjekt wird nicht näher bestimmt. Die Frage lautet, wer konstruiert das Wissen? Im Radikalen Konstruktivismus ist es das Gehirn und nicht das Subjekt, dem konstruktive Tätigkeit zugeschrieben wird: „Es gibt kein Ich, das die Welt konstruiert . . . sondern es existieren nur Konstrukte von Gehirnen. Wir selbst sind Konstrukte“ (Roth, persönl. Mitteilung, in Pörksen, 2001, S. 146). Mit
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dieser Aussage wird deutlich, „dass damit jegliche Selbstbestimmung dahinfällt. Wenn nicht ich als erfahrendes Subjekt der Konstrukteur bin, sondern mein Gehirn, bleibt höchstens dieses reale Gehirn dort irgendwo in der unzugänglichen Welt-an-sich als Verantwortliches für meine Wirklichkeit übrig, und auf dieses müsste absurderweise das Verantwortlichkeitspostulat angewendet werden“ (Diesbergen, 2000, S. 255). Wenn die Selbstbestimmung aber auf das Gehirn übertragen wird, entfällt auch die Möglichkeit der Selbstverantwortung. Wenn davon ausgegangen wird, dass das Gehirn ein geschlossenes System ist, das nur die eigenen Empfindungen wahrnehmen und beschreiben kann und nicht auch die äußere Realität, wird dem lernenden Subjekt die Möglichkeit genommen, bewusst und kritisch eigene Irrtümer zu suchen und durch Erfahrung und Erkenntnis diese Irrtümer zu beseitigen. Diesbergen (2000, S. 193) macht darauf aufmerksam, dass auch autopoietisches Konstruieren Voraussetzungen braucht: Konstruktionsmaterial, einen bewusst arbeitenden Konstrukteur, Regeln zum Konstruieren und Konstruktionspläne. Nach Diesbergen (2000, S. 194) lässt sich die These der Geschlossenheit des menschlichen Gehirns nicht halten, weil diese Voraussetzungen zur Selbstkonstruktion im Lernkonzept des Radikalen Konstruktivismus fehlen. Außerdem zeigen wissenschaftliche Forschungen, dass das Nervensystem nicht in sich geschlossen ist. Das Nervensystem wird von radikalen Konstruktivisten nur so interpretiert (Diesbergen, 2000, S. 219). Kritische Anmerkungen aus pädagogischer Perspektive sind: „Diese Subjektlosigkeit ... ist das Kernproblem des konstruktivistischen Lernkonzepts. Das Problem, die Entstehung von Deutungen erklären zu müssen, wird im Konstruktivismus als ontologische Setzung von Autopoiesis gelöst ... Für den Bereich begründeter menschlicher Handlungen mit seinen prinzipiell diskursfähigen Bedürfnissen und Interessen ist dieser erkenntnistheoretische Zugang wenig erhellend“ (Ludwig, 1999, S. 671). Das Lernen ohne Subjekt widerspricht den grundlegenden pädagogischen Zielsetzungen der Aufklärung, Mündigkeit und Emanzipation.
7.6 Viabilität Das Kriterium, das ich vorschlage, ist die Brauchbarkeit bzw. Viabilität. Den Begriff der Viabilität, der zu jenem der Anpassung in einer engeren Beziehung steht, habe ich aus der Evaluationstheorie übernommen; er dient dazu, im Bereich der Erfahrungswelt den klassischen philosophischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, der eine exakte Abbildung der Realität annimmt. Ein Organismus ist dann, so möchte ich definieren, viabel, wenn es ihm gelingt, unter den gegebenen Beschränkungen und den gegenwärtigen Umständen zu überleben. Und brauchbar oder viabel nenne ich Handlungsund Denkweisen, die an allen Hindernissen vorbei zum gewünschten Ziel führen. Allerdings ist die Feststellung, ob eine Konstruktion viabel ist, von den eigenen Werten abhängig. Sie enthält ein subjektives Moment und verlangt ein persönliches Urteil. Die Wahl der Werte, die Ethik, lässt sich nicht durch den Konstruktivismus begründen. Es handelt sich um Setzungen (von Glasersfeld, persönl. Mitteilung, in Pörksen, 2001, S. 52 f.).
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| Teil II: Theoretische Ansätze Die vom Gehirn konstruierten Denk- und Handlungskonzepte können an der Erfahrung scheitern. Das Gütekriterium für Lernkonzepte ist demnach funktional. Intersubjektiv gültige Wahrheiten innerhalb eines Handlungs- und Wissenssystems sind nicht möglich. Diese normativen Implikationen des Radikalen Konstruktivismus werden aus verschiedenen Perspektiven kritisiert. Vom radikal-konstruktivistischen Standpunkt aus machen Emanzipation und Aufklärung als Bildungsziele keinen Sinn mehr, denn wovon soll sich ein strukturdeterminiertes, selbstreferentielles System noch emanzipieren und was kann Aufklärung noch heißen, wenn sich jeder eine eigene Welt erfindet?“ (Diesbergen, 2000, S. 257). Siebert sieht diese Mängel und fordert, über das Konzept der Viabilität hinauszugehen und die Zwecke und Ziele zu verhandeln. Kriterien dafür sind Vernunft und Verantwortung. Siebert schlägt vor, folgende Begriffe „als pädagogische Leitideen komplementär zu verwenden: – den konstruktivistischen Begriff Viabilität, – den ökologischen Begriff der Nachhaltigkeit, – den aufklärerischen Begriff der Vernunft“ (Siebert, 1999, S. 49). Damit will Siebert an einem Bildungsbegriff festhalten, der kritisch und aufgeklärt ist, auch im Hinblick auf die Risiken und Widersprüche des Lebens, in dem „die modernen Vorgaben die Selbstorganisation und Selbstthematisierung der Biographie geradezu erzwingen“ (Beck, 1996, S. 42). Terhart (1999) stellt in einer kritischen Bewertung fest, dass die konstruktivistische Didaktik keine wirklich radikal neuen Formen für die Praxis des Unterrichtens anzubieten hat, sondern sich an solchen (bekannten) methodischen (!) Formen orientiert, die selbständiges Lernen, entdeckendes Lernen, praktisches Lernen, kooperatives Lernen in Gruppen sowie erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen fördern wollen. Die neue konstruktivistische Didaktik – eine alte Methodik? Die Inhaltlichkeit, der Sachanspruch selbst – und damit der weitere Horizont einer bildungstheoretisch zu begründenden Auswahl und Anordnung der Inhalte – kann letztlich im Rahmen auch nur halbwegs radikalen konstruktivistisch-didaktischen Denkens gar kein gravierendes Problem mehr sein, da Substanzfragen konsequent entmaterialisiert und prozessualisiert worden sind (S. 645). Das heißt, die alte Frage nach den Inhalten, den unterschiedlichen Lernformen und den Bildungszielen wird im Radikalen Konstruktivismus nicht einmal gestellt. Außerdem entfällt jede Art von intersubjektiver Bewertung von Lernergebnissen, weil es in konstruktivistischer Sicht kein intersubjektiv gültiges Wissen gibt und die Brauchbarkeit des Gelernten von der Viabilität abhängt, über die aber nur der Einzelne entscheidet. Korrekturen des eigenen Verhaltens und Denkens sind oft mit Verunsicherung, Unlust und Kränkungen verknüpft. Deshalb bleibt ungewiss, ob lernende Subjekte tiefgreifende Veränderungen und Korrekturen durchführen, wenn sie bemerken, dass ihr Wissen und Können nicht viabel ist.
7.7
Offene Fragen
Lernen nach dem Konstruktivismus kann für Kinder und Jugendliche schwieriger werden, weil sie selbst verantwortlich sind für ihr Lernen. Wie reagieren Lehrerinnen und
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Lehrer darauf? Konzentrieren sie sich auf ein optimales Lernarrangement und auf eine qualifizierte Lernbegleitung der Schüler oder bilanzieren sie Misserfolge der Schüler als deren persönliches Versagen? Was ist zu tun, wenn sich Schüler gefährden mit den selbst gelernten, aber „falschen“ Kenntnissen und Fertigkeiten? Radikalkonstruktivistische Kernideen werden popularisierend und unkritisch in vielen pädagogischen und psychologischen Beiträgen referiert. Setzt sich das Konstrukt durch, dass das Gehirn des Lerners selbstreferent sei und nur über die Viabilität Rückkoppelungen zum Lerner möglich seien, wird sich Unterricht möglicherweise radikal verändern und die Bildungschancen werden noch weiter auseinander klaffen: Lehrer werden direkte Einwirkungen auf Schüler vermeiden und möglicherweise auf Lernberatung und Überprüfung von Lernprozessen verzichten, um dem radikalen Postulat der Selbstbildung zu entsprechen. Davon profitieren in erster Linie Kinder und Jugendliche, die bereits über eine hohe Lern- und Selbstkompetenz verfügen. Aber dazu gehören Förderschüler in der Regel nicht. Die Frage, wie lernbehinderte Kinder und Jugendliche im Lernkonzept des Radikalen Konstruktivismus zur Lebenstauglichkeit erzogen werden können, bleibt offen. Bei der Forderung nach Selbstkonstruktion im schulischen Lernen wird übersehen, dass sich im Leben der Kinder und Jugendlichen folgende Polarität herausbildet: Für das schulische Lernen wird aus lernpsychologischen und reformpädagogischen Gründen immer stärker für selbstbestimmtes Lernen argumentiert. Zugleich wird aber übersehen, was sich außerschulisch entwickelt: Medien, Instanzen des Marktes und des Konsums tendieren zu eher indirekten, aber umso wirksameren Beeinflussungen und Manipulationen. Eine Schule, die sich nicht mehr bewusst als Instanz versteht, durch Aufklärung und Emanzipation den manipulierenden außerschulischen Instanzen entgegenzuwirken, gibt ihren Bildungsauftrag ab. Weinert verweist auf eine Gemeinsamkeit zwischen kognitiven Entwicklungstheorien, konstruktivistischen Lerntheorien und reformpädagogischen Konzepten: Die Ablehnung einer lehrerdominanten Instruktion, die „ein zielgerichtetes, systematisches, kumulatives Lernen gewährleisten soll ...“ (Weinert, 1996, S. 3). Er überprüft diese Forderungen anhand psychologischer Forschungsergebnisse und fragt, ob durch eine Entschulung des Lernens „die notwendige Systematik kumulativen Lernens, die sachlogische Ordnung des allgemeinen Kenntniserwerbs und die erforderliche Automatisierung vieler Routinefertigkeiten gewährleistet werden kann“ (Weinert, 1996, S. 5). Weinerts Fazit ist, dass gerade bei Lernschwierigkeiten und Störungen im Lernprozess eine kompetente Lernhilfe besonders wichtig ist (Weinert, 1996, S. 7). Lernhilfen sind oft personale Hilfen. Aber solche direkte Einflussnahme ist im konstruktivistischen Lernkonzept nicht vorgesehen.
7.8 Beispiele konstruktivistischer Lerntheorien Reich (2002) legt eine „Konstruktivistische Didaktik“ vor, in der Lernen und Lehren ohne die Postulate „Autopoiesie“ und „Viabilität“ beschrieben und begründet werden. Das Buch enthält aber keine entwicklungs- und lerntheoretische Auseinandersetzung mit den Inhalten und Medien der Bildung und Erziehung. Ein konstruktivistisches Lernkonzept enthält auch der Mehrperspektivische Unterricht (Giel, 1974; Hiller & Popp, 1994; Nestle, 1979). Ein Postulat dieses Konzepts ist, dass es
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| Teil II: Theoretische Ansätze angesichts pluraler und sich permanent verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse keinen Sinn mehr macht, sich Lernen als kognitiv begrenzt und einer allgemeinen kognitiven Struktur folgend vorzustellen. Lernen wird in dieser konstruktivistischen Perspektive als Praxis verstanden, unter Bezug auf alltägliche Handlungen und Erfahrungen eigene Wissens- und Bedeutungsmuster zu konstruieren und mit anderen sozialen Gruppen auszuhandeln. Für dieses konstruktivistische Lernen wurden Materialien entwickelt, die von einer ontologischen Präsentation der Inhalte absehen und stattdessen die Sachen perspektivisch als durchschaubare Konstrukte präsentieren, die für unterrichtliche „Spielfelder“ zur Verfügung stehen. Verschiedene didaktische Spieltypen ermöglichen den Schülern, die Materialien in eigene Konstruktionen zu transferieren. Eine lineare, auf einzelne Fähigkeitsbereiche beschränkte Entwicklungstheorie wird für konstruktivistische Lernprozesse dysfunktional. Gefragt sind Entwicklungstheorien, die zeigen, wie sich Kinder und Jugendliche bei der Aneignung ihrer Lebenswelt entwickeln und welche sozialen Situationen sie für ihre Selbstentwicklung bevorzugen.
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8 Das systemisch-konstruktivistische Paradigma Rolf Werning Das systemisch-konstruktivistische Paradigma hat seit den 1990er Jahren verstärkt im erziehungswissenschaftlichen Bereich an Einfluss gewonnen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine völlig neue Perspektive. Systemische und konstruktivistische Ansätze, die durchaus eine getrennte Entwicklung hatten, gibt es schon seit längerem. Die Anfänge systemischen Denkens liegen in den Arbeiten des Biologen von Bertalanffy und des Mathematikers Rapoport, die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Gesellschaft für allgemeine Systemforschung gründeten. Aus einer interdisziplinären Orientierung heraus war es das Ziel, Strukturähnlichkeiten von Ganzheiten in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen darzustellen, um zu übergreifenden Konzepten zu gelangen (vgl. Bertalanffy & Rapoport, 1956). Eine weitere Wurzel systemischer Ansätze liegt in der in den 1940er Jahren entwickelten Kybernetik. Dabei handelt es sich um ein wissenschaftliches Programm zur Beschreibung der Regelung und Steuerung komplexerer Systeme, die die Eigenschaft besitzen, durch Rückkopplungen spezifische Gleichgewichtszustände gegenüber äußeren Einflüssen aufrecht zu erhalten. Die Anfänge der Systemtheorie und Kybernetik waren dabei noch keineswegs konstruktivistisch geprägt. Man wollte vielmehr beschreiben, wie Systeme wirklich sind, welche Eigenschaften sie haben, wie man sie kontrollieren und steuern kann (zur Entwicklung systemischer Ansätze vgl. ausführlicher Balgo, 2002, S. 75 ff.). Im psychiatrisch/psychotherapeutischen Bereich finden sich erste systemische Ansätze in den Studien der Palo Alto Gruppe über Paradoxien der Abstraktion in der Kommunikation. Besondere Beachtung fanden hier die double-bind Theorie zur Schizophrenie (vgl. Bateson, 1985, S. 353 ff.) und der Entwurf einer pragmatischen Kommunikationstheorie durch Watzlawick, Beavin und Jackson (1967). In den frühen systemischen Ansätzen stand vor allem die Frage der Konstanz von Systemen (ihre Homöostase), die Aufrechterhaltung der Systemparameter unter wechselnden Umweltbedingungen, im Mittelpunkt. In den Naturwissenschaften gab es aber interessante Forschungsergebnisse, die zeigten, dass komplexe und dynamische Systeme durchaus nicht nur homöostatische Tendenzen aufweisen, sondern unter spezifischen Bedingungen spontan neue Ordnungen entwickeln, ohne dass hierzu eine ordnende Kraft von außen eingreift (vgl. z. B. Prigogine & Stengers, 1981; Haken, 1981). Prozesse der Selbststeuerung sowie der Entwicklung von Ordnung aus Chaos wurden bei systemischen Konzepten auch in humanwissenschaftlichen Bereichen zunehmend interessanter (vgl. ausführlich Kritz, 1999). Seit den 1980er Jahren ist zudem eine konstruktivistische Wende erkennbar. Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnis- oder Wissenstheorie, die psychologische, neurobiologische und anthropologische Bereiche umschließt. Der Grundgedanke – den von Glasersfeld (1996) bis zu den Vorsokratikern im 4. Jahrhundert vor Christus zurückführt – besteht darin, dass wir als erkennende Subjekte keinen Zugang zu einer von uns unabhängigen Wirklichkeit haben. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist vielmehr Prozess und Ergebnis unseres Zusammenlebens, unserer Kommunikationen und Interaktionen. Damit ist die Erfahrungs- und Lebenswelt, die abhängig ist von unseren Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die einzige uns zugängliche Wirklichkeit. Konstruktivistische
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Aspekte konnte man auch bisher schon in verschiedenen theoretischen Konzepten finden, die gerade in der Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen bis heute relevant sind. Dazu gehören u. a. der Symbolische Interaktionismus (Mead, 1973; Blumer, 1973), die damit eng verbundenen Stigma- und Labelingtheorien (vgl. Goffmann, 1967; Homfeldt, 1974; Brusten & Hurrelmann, 1973) sowie die genetische Entwicklungstheorie von Piaget. In neuerer Zeit wurden entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung des systemisch-konstruktivistischen Paradigmas durch die Theorie der Autopoiese der Neurobiologen Maturana und Varela (vgl. Maturana, 1982; Maturana & Varela, 1987) sowie durch die Systemtheorie des Soziologen Luhmann (1993, 2002) gegeben. In Anbetracht der unterschiedlichen Facetten dieses Ansatzes kann man nicht von einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive sprechen. Dennoch gibt es einige zentrale theoretische Grundlagen, auf denen dieses Konzept in seinen unterschiedlichen Spielarten basiert. In dem folgenden Abschnitt sollen diese Grundlagen skizziert werden, um anschließend daraus abgeleitete Überlegungen für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens vorzustellen.
8.1 Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive Ein entscheidender Zugang zu komplexen und dynamischen Systemen ist die in den 1970er Jahren von Maturana und Varela entwickelte Theorie der Autopoiese zur Beschreibung lebender Systeme. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie operational geschlossen sind und durch ihr Operieren fortwährend ihre eigene Organisation erzeugen und erhalten: „Dennoch ist den Lebewesen eigentümlich, dass das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Organisation“ (Maturana & Varela, 1987, S. 56). Lebende Systeme reproduzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe jener Elemente, aus denen sie bestehen. Alle Lebewesen besitzen demnach die gleiche autopoietische Organisation, die sie aber mit Hilfe ganz unterschiedlicher Strukturen (z. B. als Pflanzen, als Einzeller, als Fische, Vögel, Reptilien oder Säugetiere etc.) realisieren. „Während der Begriff der Organisation auf die Einheit des zirkulären Produktionsprozesses der Systemkomponenten abstellt, meint der Begriff der Struktur die konkreten Relationen zwischen den Bestandteilen. Diese Struktur, das heißt die jeweilige Abfolge und Verkettung der Bestandteile im fortlaufenden Prozess der Produktion, ist somit auch änderbar. Autopoietische Systeme sind, zumindest solange sie am Leben bleiben, organisationsinvariante und zugleich strukturveränderbare Systeme“ (Kneer & Nassehi, 1994, S. 49 f., Kursivdruck im Original). Autopoietische Systeme können folgendermaßen beschrieben werden: – Sie sind strukturdeterminiert, das bedeutet, die jeweils aktuelle interne Struktur bestimmt, wie und in welchen Grenzen sich ein Lebewesen verändern kann, ohne seine autopoietische Organisation zu gefährden, also zu sterben. – Ihre Aufgabe besteht darin, sich selbst zu reproduzieren. Alle anderen Aussagen über ihren Sinn werden durch Beobachter über sie gemacht.
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| Teil II: Theoretische Ansätze – Sie sind operational geschlossen und können nur mit ihren Eigenzuständen operieren. Sie sind somit von außen (durch die Umwelt) nicht instruierbar bzw. formbar. Dabei sind sie aber durchaus umweltsensibel. Sie können Informationen aufnehmen und verarbeiten. Die Art und Weise der Aufnahme von Umweltinformationen wird aber durch die interne Struktur definiert und nicht durch die Umwelt (Strukturdeterminiertheit). „Die Außenwelt wird nur soweit zur relevanten Umwelt (und von dort kommende Informationen werden nur soweit zu relevanten Informationen), wie sie im System Eigenzustände anzustoßen, zu ‚verstören‘ vermag“ (Schlippe & Schweitzer, 1999, S. 68). Umweltkontakte können ein autopoietisches System immer nur zu Selbstkontakten anregen. Luhmann übertrug das Autopoiese-Konzept auch auf psychische Systeme (Bewusstsein) und soziale Systeme (Kommunikation). Autopoietische Systeme sind für ihn dadurch gekennzeichnet, dass sie die Elemente, aus denen sie bestehen, „durch ein Netzwerk eben dieser Elemente reproduzieren und sich dadurch von der Umwelt abgrenzen“ (Luhmann, 1986, S. 266). Die Erzeugung einer Unterscheidung von Innen (System) und Außen (Umwelt), also die Konstruktion einer Grenze, ist somit – als Resultat der Autopoiese – der zentrale systemkonstruierende Prozess. Dabei ist zu beachten, dass die Operationen des Systems immer selbstrückbezüglich (rekursiv) gestaltet sind. Das heißt, autopoietische Systeme verwenden in einem fortlaufenden Prozess die Produkte bzw. Ergebnisse ihrer Operationen als Ausgangspunkt für weitere Operationen. In psychischen Systemen knüpfen Gedanken an Gedanken an, die wiederum an Gedanken anknüpfen. In sozialen Systemen erzeugt Kommunikation Kommunikation, die wiederum Kommunikation erzeugt. Autopoietische Systeme werden deshalb als operational geschlossene und strukturdeterminierte Systeme beschrieben. Operationale Schließung bedeutet, dass autopoietische Systeme immer nur mit ihren eigenen Zuständen operieren. Weder kann Kommunikation in ein psychisches System eindringen, noch kann ein Gedanke oder ein Gefühl in ein soziales System gelangen. Ebenso wenig ist es möglich, dass ein Gedanke oder ein Gefühl von einem psychischen System in ein anderes übertragen wird. Eine direkte Beeinflussung autopoietischer Systeme ist somit von außen nicht möglich. Dies bedeutet aber nicht, dass solche Systeme völlig autark sind. Sie können durch Anregungen von außen vielmehr zu Selbstkontakten, das heißt zu eigenen Operationen, angeregt werden. So können z. B. soziale Systeme durch kognitive Systeme (und umgekehrt natürlich auch) perturbiert bzw. angeregt werden. Zwischen diesen beiden Systemarten existiert zudem eine besondere Beziehung. Diese ergibt sich aus dem gemeinsamen Medium, in dem sie operieren: Sinn. Soziale und psychische Systeme sind sinnkonstituierende und sinnkonstituierte Gebilde. „Sie erzeugen kontinuierlich systemspezifischen Sinn und werden doch selbst erst durch Ausbildung bestimmter Sinnstrukturen in Existenz gebracht“ (Willke, 1982, S. 35). Sinn ist dabei eine Form des Umgangs mit Komplexität. Kommunikation in sozialen Systemen ist immer sinnbezogen. Spezifische soziale Systeme, wie z. B. eine Schulklasse, eine Familie, eine Freundesgruppe, selektieren spezifische – sinnvolle – Formen von Kommunikation und schließen andere aus. Auch Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. „Zu jedem Gedanken gehört ein bestimmter Gehalt, ein Gedankeninhalt; Bewusstsein ist, anders formuliert, also immer Bewusstsein von etwas“ (Kneer & Nassehi,
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1994, S. 76). Und dieses Etwas ist eine spezifische Auswahl aus der unbegrenzten Menge von Möglichkeiten, auf die sich unser Bewusstsein richten könnte. Sinn reduziert damit Komplexität und Sinn erzeugt Grenzen, so dass ein selektiver Zugriff, eine momentane Auswahl möglich wird. Dieses gemeinsame sinnhafte Operieren psychischer wie sozialer Systeme bedeutet aber keineswegs, dass sie sich doch an bestimmten Stellen überschneiden. Wie die Kommunikation (z. B. im Rahmen von Unterricht) von einem psychischen System (z. B. eines Schülers) verarbeitet wird, hängt nicht von der Kommunikation, sondern von der Struktur des psychischen Systems ab. Wäre das nicht so, gäbe es die Möglichkeit instruierender Interaktionen. Das heißt, über Kommunikation könnten z. B. die Operationen eines psychischen Systems von außen festgelegt werden. Auch wenn sich dies manche Lehrkräfte, aber auch Verkäufer, Therapeuten oder Prediger wünschen, zeigt doch auch unser Alltagsverständnis, dass die „Gedanken frei sind“. Um dies zu verdeutlichen, sei auf die von Heinz von Förster (1987) vorgenommene Unterscheidung zwischen nicht-trivialen und trivialen Systemen hingewiesen. Triviale Systeme – oder allopoietische Systeme – sind durch lineare Input-Output-Verknüpfungen gekennzeichnet. Jedes Mal wenn ich einen bestimmten Input X gebe, gibt es den gleichen Output Y. Drücke ich bei meinem Staubsauger auf den Einschaltknopf, erwarte ich, dass er anfängt zu saugen. Schon bei solch trivialen Systemen entscheidet übrigens nicht mein Drücken (also der Input), was das Gerät tut. Vielmehr legt die Struktur des Staubsaugers (als triviales System) fest, wie mein Druck verarbeitet wird. Drücke ich z. B. die Einschalttaste meines Toasters, fängt dieser (hoffentlich) nicht an zu saugen. Ergo: Nicht der Input bestimmt den Output. Der Input trifft vielmehr auf eine spezifische Struktur, die einen bestimmten Output erzeugt. Dies bezeichnet man als Strukturdeterminierung von Systemen. Bei trivialen Systemen ist nun diese Beziehung zwischen Input und Output invariant. Bei nicht-trivialen Systemen ist dies nicht so. Sie sind durch eine dynamische, flexible Struktur gekennzeichnet. Jede interne Operation kann die Strukturen so verändern, dass der gleiche Input zu unterschiedlichen Zeiten völlig unterschiedliche Outputs anregen kann. Nicht-triviale Systeme (wie z. B. die kognitiven Systeme von LehrerInnen wie von SchülerInnen) erhalten dadurch die Fähigkeit, spontan, kreativ und innovativ zu agieren, sie können sich entwickeln und sind lernfähig. Nicht-triviale Systeme sind also in der Lage, ihre Strukturen durch Selbst- oder Umweltkontakte zu verändern, so dass neue Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkoperationen entstehen können. Lernen ist aus dieser Perspektive die Konstruktion von Wirklichkeiten, die die eigene Handlungsfähigkeit schützen, erhalten und/oder erweitern können. Entscheidend für ein systemisch-konstruktivistisches Lernverständnis bleibt aber, dass psychische Systeme nicht von außen determinierbar sind. Diese Orientierung wird auch durch neurobiologische Forschungsergebnisse untermauert. So konstatiert Roth (1999, S. 21): „Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verlässlichen Informationen über die Umwelt. Vielmehr muss das Gehirn über den Vergleich und die Kombination von sensorischen Elementarereignissen Bedeutungen erzeugen und diese Bedeutungen anhand interner Kriterien und des Vorwissens überprüfen.“ An anderer Stelle führt er weiter aus: „Gehirne ... können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; sie müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in
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| Teil II: Theoretische Ansätze seiner Umwelt überleben kann. Dies Letztere garantiert, dass die vom Gehirn erzeugten Konstrukte nicht willkürlich sind, auch wenn sie die Welt nicht abbilden (können)“ (Roth, 1999, S. 23, Kursivdruck im Original). Dies entspricht dem Prinzip der Viabilität, das von Glasersfeld (1985, 1996) aus konstruktivistisch-erkenntnistheoretischer Perspektive formuliert hat. Viabilität soll ausdrücken, dass unsere Erkenntnis die Welt, in der wir leben, nicht mehr oder minder genau abbildet, sondern an diese so angepasst ist, dass die Erkennenden in dieser Welt überleben können. Ob die Erkenntnis dabei etwas von der Welt erfasst, ist unbekannt. Es ist auch unnötig: Der Maßstab der Güte der Erkenntnis liegt im Überleben der Erkennenden, nicht im Erkannten. Trotz dieser Eigenschaft der Strukturdeterminierung erleben wir in unseren sozialen Beziehungen auch Kooperation, Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit. Wäre dies nicht so, könnte man sich das Zusammenleben kaum vorstellen. Desgleichen erleben wir, dass spezifische Interaktionen (z. B. im Unterricht) effektiver und sinnvoller sind als andere. Solche Formen der In-Beziehung-Setzung zwischen autopoietischen Systemen werden als strukturelle Koppelungen bezeichnet. Maturana und Varela (1987, S. 85) verstehen darunter: „Dass sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben“. Das heißt, die autopoietischen Systeme haben einen Bereich wechselseitig kompatibler Interaktionen herausgebildet. Rekursiv bedeutet dabei: Die gegenseitigen Perturbationen passen so zueinander, dass sie wechselseitig in anschlussfähiger Weise verarbeitet werden können. Man spricht in solchen Fällen von einem gemeinsamen „driften“. Dies geschieht auch im sozialen Bereich. Auf der Grundlage der Herausbildung rekursiver – also sich wechselseitig anregender – Interaktionsmuster entwickeln sich zwischen Personen strukturelle Kopplungen. Hieraus entstehen im zwischenmenschlichen Bereich Koordinationen von Handlungen. So wird im sozialen Miteinander ein konsensueller Bereich entwickelt, der die Grundlage aller weiterführenden Konsensbildung höherer Ordnung bildet, wie sie letztlich durch sprachliche Kommunikation erreicht wird (vgl. Schmidt, 1986). Ein weiteres zentrales Konzept der systemisch-konstruktivistischen Perspektive liegt in dem Verständnis der Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit, in der wir leben: Alles was wir wahrnehmen, alles was wir denken und alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter (einem beobachtenden System) wahrgenommen, gedacht oder gesagt. Im systemisch-konstruktivistischen Kontext wird dabei unter Beobachtung nach Spencer-Brown (1969) das Treffen einer Unterscheidung verstanden. Man kann z. B. zwischen lernbehindert/nicht lernbehindert, zwischen begabt/nicht begabt, zwischen Junge/Mädchen oder deutsch/nicht deutsch unterscheiden, wobei bei der Unterscheidung eine der beiden Seiten bezeichnet wird. Diese Bezeichnung einer Seite anhand einer Unterscheidung, also z. B. lernbehindert oder begabt oder Mädchen oder nicht deutsch macht eine Beobachtung aus (vgl. Kneer & Nassehi, 1994, S. 96 ff.). Beobachtungen setzen die Fähigkeit eines Systems voraus zu diskriminieren, indem es Differenzen oder Unterscheidungen setzen und bezeichnen kann. Bezeichnend ist dabei, dass die Beobachtungen in erster Linie etwas über die Logik des Systems, Unterscheidungen zu treffen, aussagt, und nicht über das Phänomen, das beobachtet wird. Beobachtungen öffnen das System gegenüber Differenzen, die es als sinnvoll definiert (vgl. Willke, 1994,
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S. 15). Beobachtungen sind deshalb immer systeminterne Operationen und stellen keine Abbildungen einer ontischen Umwelt, sondern Konstruktionen des Systems über die Umwelt oder über sich selbst dar. Welche Beobachtungen möglich oder nicht möglich sind, hängt ferner vom Möglichkeitsraum der Beobachtung ab. Dieser ist definiert durch die Instrumente des Beobachtens. Dies sind zum einen technische Instrumente wie z. B. Ferngläser oder Intelligenztests und zum anderen kognitive Strukturen, Begriffe, Theorien und Weltsichten (vgl. Willke, 1994, S. 23). Das Treffen einer Unterscheidung und die Bezeichnung einer Seite wird dabei als Beobachtung I. Ordnung definiert. Bei der Beobachtung I. Ordnung geht der Beobachter davon aus, dass er von ihm unterschiedene Objekte (also andere Menschen, Gegenstände, Tiere oder abstrakte Konstrukte – wie z. B. Intelligenz oder Hyperaktivität oder Lernbehinderung) in der Außenwelt beobachten kann. Es handelt sich hierbei also um einen nicht-konstruktivistischen Standpunkt. Der Beobachter ist vielmehr bemüht, zwischen sich als Beobachter und dem Beobachteten streng zu unterscheiden – also möglichst objektiv zu sein. Der Beobachter erkennt dabei nur das, was mit Hilfe der getroffenen Unterscheidung erkannt werden kann. Er erkennt nicht, was er mit dieser Differenzsetzung nicht sehen kann. Es gibt jedoch auch die Beobachtung II. Ordnung, die die Unterscheidung beobachtet, die der Beobachtung I. Ordnung zugrunde liegt. Bei der Beobachtung II. Ordnung versteht sich der Beobachter als Teil dessen, was er beobachtet. Er stellt nicht mehr allein die Frage „Was beobachte ich“, sondern „Wie beobachte ich“. Hiermit kann er die Wahl seiner Unterscheidung beobachten, die die Beobachtung erzeugt (Warum beobachte ich so und nicht anders?). Die Relevanz bestimmter Unterscheidungen kann so in Frage gestellt werden, um zu überlegen, ob andere Differenzsetzungen sinnvoller bzw. hilfreicher sein könnten. Damit gibt es immer mehrere Unterscheidungsmöglichkeiten, die unterschiedliche Beobachtungen und damit unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen. Im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen kann z. B. statt einer Unterscheidung „lernbehindert/nicht-lernbehindert“ auch die Unterscheidung zwischen „bisher erfolgreiche Förderung/bisher nicht erfolgreiche Förderung“ gewählt werden. Die Beobachtungen, die dadurch erzeugt werden, richten sich nicht auf Selektion, sondern auf Reflexion bezüglich der bisherigen Fördermaßnamen (vgl. Werning, 2003). Aus dieser Haltung wird deutlich, dass die Art und Weise, wie beobachtet wird, das Was der Beobachtung definiert (vgl. auch Balgo, 2003). Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive wird deshalb jede Form von Objektivität, also die Möglichkeit einer vom Beobachter unabhängigen, wahren oder richtigen Beobachtung, in Frage gestellt. „Objektivität ist die Selbsttäuschung des Subjekts, Beobachtung sei ohne ihn möglich. Die Anrufung der Objektivität ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Verantwortlichkeit; darin liegt ihre Popularität begründet” (von Förster, zit. nach Schmidt, 1986, S. 2). Keeney (1987) formuliert, „dass das, was man sieht, immer eine Folge dessen ist, wie man handelt ... So gesehen enthüllen Beschreibungen von Beobachtern immer die Handlung des Beobachters“ (S. 13). Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass die Welt nicht objektiv abbildbar ist, sondern vielmehr im Prozess der Beobachtung konstruiert wird. Das heißt, dass wir als Personen für die Konstruktionen, die unsere Wirklichkeit ausmachen, Verantwortung übernehmen müssen. Wir müssen unsere Entscheidung
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| Teil II: Theoretische Ansätze bezüglich der Präferenz für Konstruktionen begründen. Dies führt dazu, dass nach der Verantwortbarkeit, nach der Sinnhaftigkeit der jeweils getroffenen Unterscheidungen, die die Beobachtungen I. Ordnung qualifizieren, zu fragen ist. Die Auswirkungen dieser Perspektive auf diagnostische Prozesse sind an anderer Stelle ausführlicher dargestellt (vgl. Werning, 2002b). Kommen wir nun zu den Überlegungen, welche Bedeutung eine systemisch-konstruktivistische Perspektive für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens hat.
8.2 Systemisch-konstruktivistische Perspektiven in ihrer Bedeutung für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens Im humanwissenschaftlichen Bereich hat sich der systemisch-konstruktivistische Ansatz besonders in Beratungs- und Therapiekontexten etabliert (vgl. Schlippe & Schweitzer, 1999; Schiepek, 1999). In diesem Bereich liegt eine Vielzahl von Prozess- und Evaluationsstudien vor, die die Effektivität dieser Beratungs- bzw. Therapierichtung nachweisen können (vgl. dazu die ausführliche Zusammenstellung bei Schiepek, 1999). Das systemisch-konstruktivistische Paradigma hat sich aber auch in unterschiedlichen pädagogischen Diskussionszusammenhängen etabliert. Dies gilt u. a. für die Schulpädagogik (vgl. z. B. Huschke-Rhein, 1994; Voss, 2002; Duffy, Lowyck & Jonassen, 1993), für die Didaktik (vgl. z. B. Kösel, 1993; Reich, 1996; Ruf & Gallin, 1998), für die Erwachsenenbildung (vgl. z. B. Arnold & Siebert, 1995; Siebert, 2003), für den Schriftspracherwerb (vgl. z. B. Brügelmann & Brinkmann, 1998), für die Physikdidaktik (vgl. z. B. von Aufschnaiter, Fischer & Schwedes, 1992), für die Didaktik der Mathematik (vgl. z. B. Wittmann, 2002; Schifter, 1995), für die Fremdsprachendidaktik (vgl. z. B. Bach & Viebrock, 2002) für die Didaktik der Biologie (vgl. Fisher & Kibby, 1996), für den Sachunterricht (vgl. z. B. Klein & Oettinger, 2000; Soostmeyer, 2002), für die Medienpädagogik (vgl. z. B. Schwetz, Zeyringer & Reiter, 2001), für die Sportdidaktik (vgl. Vollmuth, 2002), für die Schulentwicklung (vgl. z. B. Fried, 2002) und für die Sonderpädagogik (vgl. z. B. in der Frühförderung: Jetter, 1994; in der Blindenpädagogik: Walthes, 1995; in der Psychomorik: Balgo, 1998; in der Beratung: Palmowski, 1995; Spiess, 1998; in der Pädagogik bei Lern- und Verhaltensbeeinträchtigungen: Werning, 1996; 2002a; Balgo & Werning, 2003; Werning & Reiser, 2002; vgl. weiterhin Lindemann & Vossler, 1999). In den genannten Bereichen finden sich vielfältige Konzeptionen, pädagogische Erfahrungsberichte sowie kontrollierte Beobachtungen zur Umsetzung systemisch-konstruktivistischer Perspektiven in pädagogischen Kontexten. An dieser Stelle sollen nun die dargestellten Grundannahmen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive in ihren Auswirkungen auf pädagogisches Denken und Handeln untersucht werden. Die Annahme, dass psychische Systeme (und damit das Denken und Fühlen von Personen) und soziale Systeme (wie z. B. der Unterricht) jeweils autopoietische und damit operational geschlossene Systeme darstellen, führt zu einer radikalen Infragestellung eines Lehr-Lern-Kurzschlusses, wie ihn Holzkamp (1993, S. 391 ff.) in „schuloffiziellen“ Kontexten wie zum Beispiel in Rahmenplanungen aufzeigt und kritisiert.
Kapitel 8: Das systemisch-konstruktivistische Paradigma | 135
Im Folgenden sollen das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen sowie von Förderung aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive skizziert werden. 8.2.1 Das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen Lehr-/Lernprozesse sind aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive keine linearen, instruktiven Vorgänge, bei denen von der Lehrkraft vorgegebene(s) Wissen, Informationen, Kenntnisse oder Kompetenzen vom Schüler bzw. von der Schülerin aufgenommen und verarbeitet werden. Modellvorstellungen wie Sender und Empfänger, Input und Output, Aufnahme und Speicherung für Lernprozesse werden als reduktionistisch abgelehnt. Lernen ist vielmehr ein Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit im psychischen System. Und solche Lernprozesse können nicht determiniert werden. Unterrichten (als Kommunikation) ist somit der Versuch, autonome psychische Systeme, die nach ihrer eigenen Logik operieren, anzuregen, neue strukturelle Kopplungen aufzubauen, sich weiter zu differenzieren, um damit neue oder erweiterte Handlungsoptionen zu entwickeln. Die exakte Vorgabe von Lernzielen, die man durch Lehrprozesse beim Lernenden erreichen möchte, ist somit aus dieser Perspektive eine Illusion. „Auch dann, wenn nach einem Unterrichtsvorgang die Schüler die gewünschte Mathematikaufgabe lösen können, wenn sie ein gewünschtes Gedicht auswendig aufsagen oder die Vokabeln der letzten Englischstunde wiedergeben, ist es eine Selbsttäuschung zu glauben, dass alle Schüler das gleiche Lernziel erreicht hätten. Sie reproduzieren – unter dem Druck der Verhältnisse – vielmehr bestimmte Erwartungen. Das, was das Gelernte für sie bedeutet, ist indessen völlig unterschiedlich“ (Lenzen, 2002, S. 156). Schülerinnen und Schüler werden jedoch im schulischen Kontext sehr schnell als triviale Systeme gesehen, die auf einen gleichen Input mit immer demselben Output reagieren sollen. Schulische Homogenisierungsversuche, z. B. durch die verschiedenen Formen der äußeren Leistungsdifferenzierung in unterschiedliche Schultypen oder durch Kurs- bzw. Fördersysteme, untermauern und reproduzieren solche Trivialisierungsbemühungen: Es wird davon ausgegangen, dass eine möglichst leistungsähnliche Lerngruppe – quasi im Gleichtakt – die von Lehrkräften präsentierten Lerninhalte in konvergenter Form aufnehmen kann. Abweichungen werden sowohl bei besonderen (z. B. so genannten Hochbegabungen) wie bei eingeschränkten Lernleistungen (so genannten Lernbeeinträchtigungen) als Störungen wahrgenommen. Aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive des Lernens ergeben sich damit aber Dysfunktionalitäten, denn Lernprozesse können durch die Trivialisierung von Lehrprozessen behindert werden. Lernen ist aus konstruktivistischer Perspektive immer „Selbstlernen“ (Begemann, 1996). Die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler sind durch ihre je subjektiven Regeln und Erfahrungsbereiche (vgl. von Bauersfeld, 1983), ihre Vorerfahrungen und ihre individuellen Verständniszugänge – sprich aus den kontextuellen Verschachtelungen ihrer bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen – heraus bestimmt, was auch im Rahmen verschiedener Studien bestätigt werden konnte (vgl. dazu ausführlich Begemann, 1996; Werning, 2002a; Werning & Lütje-Klose, 2003).
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| Teil II: Theoretische Ansätze Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive ist Lernbehinderung somit kein individueller Defekt. Lernbehinderung ist vielmehr Kennzeichen einer nicht erfolgreichen strukturellen Koppelung zwischen dem (psychischen System des) Schüler(s) und dem sozialen System Schule. Die Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, können sehr unterschiedlich sein. Helmke und Weinert (1997, S. 73) kommen nach der Analyse einer Vielzahl von Wirkungsstudien von Lern- und Leistungsbedingungen zu dem Urteil, dass keine eindeutigen und stabilen Ergebnisse vorliegen, die klare Zusammenhänge zwischen einzelnen Schülern, Unterrichts- und Kontextvariablen auf der einen und Indikatoren für die Schulleistung auf der anderen Seite aufzeigen können. Hieraus ergibt sich die Einsicht, dass Lernen und auch die Behinderung des Lernens in einem komplexen Netzwerk sich gegenseitig bedingender, miteinander interagierender sowie zirkulär und damit auf sich selbst zurückwirkender Faktoren stattfindet. Bestimmte Faktoren können andere kompensieren, negativ oder positiv beeinflussen, verstärken oder vermindern. So kann z. B. ein besonders guter Unterricht und intensive Fürsorge und Förderung eines Schülers durch die Lehrkraft geringe kognitive Fähigkeiten und/oder soziale Benachteiligungen ausgleichen. Ebenso kann aber auch abwertendes und stigmatisierendes Lehrerverhalten und/oder ein schlechter Unterricht die Lernschwierigkeiten eines Schülers verstärken bzw. chronifizieren. Die sehr hohe Zahl von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern sowie die deutliche Überrepräsentation von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft an Schulen für Lernhilfe (Kornmann, 1998; Kornmann & Kornmann, 2003) verweist jedoch auf ein prinzipielles Problem: Es gelingt der allgemeinbildenden Schule gerade bei diesen Schülerinnen und Schülern nicht, an die mitgebrachten Wirklichkeitskonstruktionen anzuknüpfen. Dabei zeigen vielfältige Untersuchungen, dass in besonderem Maße das Vorwissen der Schüler (also deren bisherige Konstruktionen über die Lerngegenstände) einen entscheidenden Einfluss auf den Lernerfolg haben (vgl. ausführlicher Werning & Lütje-Klose, 2003, S. 52). Wenn man berücksichtigt, dass das Vorwissen von Grundschülern in hohem Maße von der familiären Sozialisation abhängt, so lässt sich die Überlegung nicht von der Hand weisen, dass Schüler aus benachteiligten sozialen Milieus geringere Chancen zum Aufbau einer erfolgreichen strukturellen Koppelung mit dem Sozialsystem Schule haben. Hier spielt sicherlich auch die Verknüpfung von kognitiven und emotionalen Dimensionen (vgl. Ciompi, 1997; Piaget, 1995) eine bedeutende Rolle. Im psychischen System liegt eine enge Verflechtung zwischen kognitiven und emotionalen Anteilen vor. Es gibt weder eine Kognition ohne Emotion, noch eine Emotion ohne Kognition. Dass Lernen durch Emotionen positiv oder negativ beeinflusst werden kann, ist ja auch eine Binsenweisheit. Wenn Schüler die Schule als Institution, den Lehrer oder Unterrichtsinhalte als bedrohlich und fremd erleben, wenn sie sich selbst als dumm oder unbegabt ansehen, wenn auf ihre Lebensgeschichte und auf ihre in ihrer Lebenswelt erworbenen Lernerfahrungen sowie auf ihre Bedeutungskonstruktionen wenig oder gar nicht eingegangen wird, ist mit der Behinderung von Lernen zu rechnen. Zu beachten ist ferner, dass gerade bei Schülern aus sozial randständigem Milieu von einer verstärkten emotionalen Belastung auszugehen ist. Erfahrungen von Armut, sozialer Unsicherheit, Zukunftsängsten etc. können Emotionen hervorrufen, die die Konzentrationsfähigkeit, die Gedächtnisleistung sowie die Lernmotivation und damit die schulische Leistungsfähigkeit deutlich negativ beeinflussen.
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Auf einen knappen Nenner gebracht können Lernbeeinträchtigungen somit als wenig hilfreiche strukturelle Koppelung zwischen dem Sozialsystem Schule und dem psychischen System des Schülers verstanden werden. Statt der Diagnose individueller Schwierigkeiten oder Defizite geht es somit um eine Beziehungsdiagnose, wobei die Ansätze einer pädagogischen Förderung an den vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen der Schüler ansetzen müssen (vgl. Werning, Balgo, Palmowski & Sassenroth, 2002; Werning & Lütje-Klose, 2003). 8.2.2 Pädagogische Förderung Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive dürfen Förderkonzepte nicht hinter die dargestellte Komplexität des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes zurückfallen. Förderung kann nicht die linear-kausale Beeinflussung spezifischer Bereiche (Wahrnehmung, Motorik, Kognition etc.) intendieren. Vielmehr ist jede Förderung in ein komplexes Interaktionsnetzwerk eingewoben. Ein Grundsatz der systemisch-konstruktivistischen Perspektive lautet deshalb, dass es nicht um isolierte Phänomene (z. B. die Lese-Rechtschreib-Schwäche oder die Rechenschwäche), sondern um Wechselwirkungen in sozialen Kontexten geht. Eine pädagogische Beobachtung, die sich dieser Sichtweise verpflichtet fühlt, kann nicht mehr die isolierte Betrachtung von Defiziten bzw. Auffälligkeiten als Ausgangspunkt von Förderung zum Gegenstand haben. Insbesondere bei der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten im Lern- und Leistungsbereich müssen als Grundlage für die Entwicklung pädagogischer Förderansätze die verschiedenen Integrationsniveaus der Person im Kontext der Lebenswelt in ihrer wechselseitigen Verbundenheit beachtet werden. Physiologische Aspekte (z. B. Wahrnehmung und Motorik), psychologische Komponenten (z. B. Motivationsstruktur, Misserfolgsorientierung, Selbstkonzept, Lernstrategien, vorhandene Konstruktionen über den Lerngegenstand), schulische Komponenten (Vermittlungsstil des Lehrers, Unterrichtsinhalte, Lernkultur, Schulklima, schulische Normen etc.) und familiäre Bedingungen (Wohnraum, Erziehungsverhalten der Eltern, Distanz zur Schule etc.) sind hier zu nennen. Eine so ausgerichtete pädagogische Förderung lässt sich damit auf die Auseinandersetzung mit komplexen sozialen Systemen ein. Hieraus leiten sich spezifische Anforderungen ab, die zum Abschluss vorgestellt werden sollen: Pädagogische Förderung ist hypothesengeleitet. Die Auseinandersetzung mit einer pädagogischen Problemsituation ist aus systemisch-konstruktivistischer Sicht als ein Prozess des hypothesengeleiteten Suchens zu verstehen. Eine Hypothese ist dabei immer eine vorläufige, im weiteren Handlungsprozess zu überprüfende Annahme über die Bedingungsfaktoren der Problemsituation. Schlippe und Schweitzer (1999, S. 117) differenzieren zwischen der Ordnungs- und der Anregungsfunktion von Hypothesen. Die Ordnungsfunktion umfasst die notwendige Reduktion von Komplexität. Vielfältige Informationen aus unterschiedlichen diagnostischen Zugängen werden so zu Hypothesen verdichtet. Für die praktische Umsetzung sei auf das Konzept der Kooperativen Lernbegleitung (vgl. Werning & Lütje-Klose, 2003, S. 144 ff.) verwiesen. Die Anregungsfunktion von Hypothesen ergibt sich aus ihrem Potenzial, neue pädagogische Handlungs- und Fördermöglichkeiten zu entwickeln. Die Anregungsfunktion kann dabei immer erst
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| Teil II: Theoretische Ansätze festgestellt werden, wenn daraus konkrete pädagogische Förderansätze abgeleitet werden, deren Wirksamkeit im pädagogischen Alltag von den beteiligten Personen zu überprüfen ist. Die Erlebenswelt der interagierenden Personen (SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern) bildet den Prüfstein, ob die entwickelten Förderorientierungen hilfreich, nützlich bzw. sinnvoll sind oder nicht. Sie werden an der Praxis validiert. Pädagogische Beobachtung und pädagogische Förderung sind direkt miteinander verknüpft. Die Erstellung einer Diagnose, das einmalige Feststellen eines Förderbedarfs oder das Festschreiben eines Förderplans ist aus der hier vorgestellten Perspektive nicht sinnvoll. Notwendig ist vielmehr das prozessbegleitende Zusammenspiel von verschiedenen Aktivitäten. Dazu gehört die sensible Beobachtung und die Reflexion der Beobachtungen (möglichst im kollegialen Austausch). Daraus ergeben sich Ansatzpunkte zur Bildung von Hypothesen über Entwicklungsmöglichkeiten, die dann in einer Planung und Realisierung pädagogischer Fördermöglichkeiten konkret umgesetzt werden können. Die Auswirkungen dieser Arbeit müssen wiederum beobachtet und reflektiert werden, um die Fortführung, Veränderung oder völlige Neukonzipierung der Fördermaßnahmen zu gewährleisten. Pädagogische Beobachtung, Hypothesenbildung und pädagogische Förderung stehen somit in einem zirkulären Verhältnis zueinander. Bei der pädagogischen Beobachtung ist ferner die Einbindung in einen Kontext der Selbstbeobachtung zu berücksichtigen. Die Beschreibungen von Lernschwierigkeiten sind Konstruktionen, die im interaktiven Prozess (strukturelle Kopplung) zwischen Beobachter und Kind gebildet werden. Diese Beobachtungen sind abhängig von den Normen, Regeln, den Vorerfahrungen und Verständniszugängen, den theoretischen Zugängen sowie den Untersuchungsmethoden und -instrumenten des Beobachters. Die Suche nach objektiven Beobachtungen bzw. Diagnosen weicht der Auffassung, dass die jeweiligen Beobachtungen und Erkenntnisse von den gewählten Herangehensweisen abhängen. Deshalb gibt es keine unbeteiligten, „objektiven“ Beobachter, Diagnostiker oder Lernförderer, sondern immer nur aktive Interaktionspartner. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Selbstbeobachtung des Beobachters. Stärken- und Ressourcenorientierung. Eine systemisch-konstruktivistisch fundierte pädagogische Förderung darf sich nicht allein auf die Störung, die Defizite und Unzulänglichkeiten beschränken. Eine solche Defektorientierung behindert den Blick auf ein umfassendes Bild von dem Kind in seinem lebensweltlichen Kontext (vgl. Milani-Comparetti & Roser, 1982). Sie führt zu einer Reparaturdienstorientierung, bei der versucht wird, direkt ein Symptom, eine Störung zu beeinflussen. Dieses Vorgehen hat schon Dörner (1976) in seinen interessanten Experimenten zur Intervention in komplexe sozial-ökologische Systeme als einen zentralen Fehler herausgestellt. Auch die effektive Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen muss neben der Erfassung der Problembereiche ein besonderes Augenmerk auf vorhandene Potentiale, Fähigkeiten und Ressourcen der Personen in ihren Lebenswelten legen (vgl. dazu z. B. Betz & Breuninger, 1993; Werner, 2003; Daum, 2003; Reinhard, 2003). Zugespitzt kann man formulieren: Jede erfolgreiche Förderung baut auf den Kompetenzen und Fähigkeiten des Subjekts auf.
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8.3 Ausblick Systemisch-konstruktivistische Perspektiven erfinden die Pädagogik – auch bei Lernbeeinträchtigungen – nicht neu. Sie lassen sich vielmehr mit einigen bestehenden Paradigmen besser (z. B. mit humanistischen oder interaktionistischen), mit anderen schlechter oder gar nicht (z. B. mit normativen oder individuumzentrierten) verknüpfen. Dabei beansprucht die systemisch-konstruktivistische Perspektive auch nicht, die einzig richtige oder wahre zu sein – sonst würde sie sich ja selbst ad absurdum führen. Aus systemischkonstruktivistischer Sicht stellt sich selbstreflexiv vielmehr die Frage nach der Viabilität (vgl. von Glasersfeld, 1985), das heißt nach der Nützlichkeit, der Sinnhaftigkeit und Lebensdienlichkeit dieses Ansatzes. Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive können auch nicht direkt pädagogische Handlungsorientierungen abgeleitet werden. Vielmehr wirkt sich eine systemisch-konstruktivistische Haltung auf die Beobachtungen und auf die Handlungen von Pädagoginnen und Pädagogen aus. So werden weder spezifische Objekttheorien wie zum Beispiel zum Schriftspracherwerb oder zur Entwicklung mathematischer Einsichten oder zur Leistungsmotivation etc. überflüssig, noch verwirft der systemisch-konstruktivistische Ansatz eine erfahrungsorientierte Erforschung von (konstruierter) Wirklichkeit. Vielmehr werden die theoretischen wie empirischen Aussagen als Hypothesen über die Wirklichkeit verstanden. In der Praxis ist dann zu überprüfen, ob sich hieraus hilfreiche, lebensdienliche Handlungsoptionen entwickeln lassen. Das systemisch-konstruktivistische Paradigma stellt sich so als ein integrativer Ansatz dar, der sich der Komplexität von Wirklichkeit und der Autonomie lebender, psychischer wie sozialer Systeme stellt und sich gegen eine Trivialisierung und Sozialtechnologisierung auch im Verständnis von und im Umgang mit Lernschwierigkeiten richtet.
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Teil III
Diagnostik
Einführung Die vorangegangenen Kapitel haben verdeutlicht, dass unterschiedliche Erklärungen von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung zu unterschiedlichen Konsequenzen für den Gebrauch diagnostischer Mittel und zu unterschiedlichen Konzepten einer der Diagnostik folgenden Förderung führen. Es ist nun an Karl Dieter Schuck, in Form von Wegmarkierungen zu klären, in welcher Weise sich die Diagnostik unterschiedlicher Persönlichkeitsmodelle, Methoden und Strategien bedient, um ihren „Gegenstand“ zu bearbeiten. Der „diagnostische Gegenstand“ sind unterschiedliche Formen der Nichterfüllung von Leistungsanforderungen im schulischen Kontext und den dortigen Erziehungs- und Bildungsbemühungen. Dabei ist zu bedenken, dass Diagnostik in schulstrukturelle Kontexte, institutionelle Bedingungen und Verwertungszusammenhänge eingebunden ist und ihre Wirkungen nur je nach Maßgabe der jeweils wirksamen Vorstellungen über Bildung, Erziehung, Lernen und Förderung entfalten kann. Für Joachim Schwohl finden bei der Identifikation von Lernschwierigkeiten und so genannten Lernstörungen zunehmend subjektorientierte Theorien Berücksichtigung. Genannt seien Ansätze wie etwa der von Schlee, bei dem es um die Feststellung subjektiver Theorien und deren planvolle Veränderung geht, oder der von Kautter, der es zum Ziel des diagnostischen Prozesses erhebt, Zugang zu der inneren Realität des Subjekts zu finden. In Abgrenzung dazu bezieht sich der Autor auf eine Position, die vom subjektwissenschaftlichen Verständnis der Kritischen Psychologie ausgeht und die nicht nur den Subjektstandpunkt würdigt, sondern genauso die ‚Weltseite‘ berücksichtigt und dabei den individuellen Lebensprozess im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess rekonstruiert. Diese doppelseitige Betrachtung ist angezeigt, da das Subjekt die Welt und die Erscheinungen dieser Welt nur so erleben kann, wie sie ihm begegnen. Wolfgang Lemke behandelt im Duktus der Darstellung diagnostischer Strategien die „Kind-Umfeld-Analyse“ bzw. „Kind-Umfeld-Diagnose“ sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der Form, wie sie in den Empfehlungen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert ist. Diese diagnostische Strategie verdient eine separate Erörterung, weil die Kind-Umfeld-Analyse im Gefolge der jüngsten KMK-Empfehlungen in mehreren Bundesländern Eingang in die schulrechtlichen Verordnungen und Vorschriften zur Feststellung von Sonderpädagogischem Förderbedarf gefunden hat. Aber auch der Umstand, dass die Kind-Umfeld-Analyse sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der in den KMK-Empfehlungen realisierten Auffassung durchaus kritisch zu bewerten ist, muss an dieser Stelle entsprechend gewürdigt werden. Gabi Ricken und Annemarie Fritz betrachten gegenstandstheoretische Konzepte als eine wichtige diagnostische Basis. Anhand ausgewählter Beispiele wird dargestellt, dass diagnostisches Arbeiten außer der Kenntnis methodologischer und methodischer Prinzipien besonders auch Theorien über pädagogisch relevante Konzepte (Intelligenz, Schriftspracherwerb, Zahlbegriffsentwicklung, Denkentwicklung etc.) erfordert. Jede diagnostische Strategie muss nach Meinung der Autorinnen in einer Theorie der Entstehung
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| Teil III: Diagnostik von Entwicklungsproblemen verankert sein. Dieses Postulat wurde in der Vergangenheit zwar immer wieder erhoben, jedoch keineswegs durchgängig umgesetzt. Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl beleuchten anschließend aus diagnostischer Sicht die unterschiedlichen Facetten und Definitionen von Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung. Im Rahmen der Förderplanung sind die Aufgaben einer lernprozessbegleitenden Diagnostik wie folgt definiert: Es gilt (1.) Begründungsmuster für Lernhandlungen bzw. für widerständiges Lernen gemeinsam mit dem Schüler zu reflektieren bzw. Hypothesen darüber zu erstellen. Es sind (2.) die externen Bedingungen zu beschreiben, die die individuellen Aktivitäten zur Veränderung innerer Repräsentationen in Gang brachten bzw. verhinderten. Es handelt sich um die materiellen und personalen Gegebenheiten des Lernumfeldes, insbesondere die Aktivitäten der Kooperationspartner zur Anregung und Begleitung der Lernhandlungen. Und schließlich ist (3.) der operative Aspekt zu erfassen, d. h. das zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichte gegenstandsspezifische Repräsentationsniveaus der erreichten Fertigkeiten und Kompetenzen.
9 Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte Karl Dieter Schuck Die vorangegangenen Kapitel haben verdeutlicht, dass unterschiedliche Erklärungen von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung zu unterschiedlichen Konsequenzen für den Gebrauch diagnostischer Mittel und Konzepte der Diagnostik und der folgenden Förderung führen. Es ist nun zu klären, in welcher Weise sich die Diagnostik unterschiedlicher Persönlichkeitsmodelle, Methoden und Strategien bedient, um ihren „Gegenstand“ zu bearbeiten. Der „diagnostische Gegenstand“ sind unterschiedliche Formen der Nichterfüllung von Leistungsanforderungen im schulischen Kontext und den dortigen Erziehungs- und Bildungsbemühungen. Dabei ist zu bedenken, dass Diagnostik in schulstrukturelle Kontexte, institutionelle Bedingungen und Verwertungszusammenhänge eingebunden ist und ihre Wirkungen nur je nach Maßgabe der jeweils wirksamen Vorstellungen über Bildung, Erziehung, Lernen und Förderung entfalten kann. Die Entwicklung diagnostischen Denkens befindet sich derzeit in einer Übergangssituation. Einerseits kann sie in Anlehnung an Fisseni (1990, S. 2) als eine Disziplin gesehen werden, die mit der Bereitstellung von diagnostischen Methoden und Verfahren psychologisches Wissen in einem Praxisfeld anwendet. Entsprechend wird bis heute noch immer der Begriff der „Psychodiagnostik“ in der Behindertenpädagogik benutzt und darunter eine Disziplin verstanden, die auf der Grundlage von Persönlichkeitsmodellen inter- und intraindividuelle Unterschiede beschreibt, dieses Wissen zur Identifikation und Klassifikation menschlicher Variabilität heranzieht und es für Entwicklungsprognosen, Fördervorschläge und Schullaufbahnempfehlungen nutzt. Andererseits schickt sich die klassische Psychodiagnostik seit geraumer Zeit an, zu einer pädagogischen Diagnostik zu werden, deren Ziel die Anregung und Begleitung von Prozessen der Erziehung und Bildung in institutionellen und außerinstitutionellen Kontexten unter unterschiedlichen individuellen und systemischen Bedingungen ist. Eine solche Diagnostik definiert ihre Ziele und Verfahrensweisen auf dem Boden erziehungswissenschaftlicher und bildungstheoretischer Konzepte, bedient sich aber gleichwohl des psychologischen Wissens um Lernen und Entwicklung sowie erkenntnistheoretischer und methodischer Grundlagen empirischer Forschung. Im Kern ist jede Diagnostik eine systematische Erkenntnistätigkeit. Aufgrund der Heterogenität des fachlichen Diskurses heute und in der Vergangenheit bedient sich die Diagnostik unterschiedlicher Menschenbilder, unterschiedlicher Konzepte der Förderung, unterschiedlich elaborierter Methoden und Strategien der Erkenntnisgewinnung, und sie nimmt in unterschiedlicher Weise Bezug auf die je aktuellen gesellschaftlichen und institutionellen Verwertungszusammenhänge. Die Art und Weise der Verwendung und Koordination der Bezugskonzepte gilt es nunmehr darzustellen und zu bewerten.
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| Teil III: Diagnostik
9.1 Diagnostik zwischen institutionellen Erfordernissen und fachwissenschaftlichen Bezügen Die aktuell vorfindbaren diagnostischen Methoden und Strategien in pädagogischen Handlungsfeldern sind mit Schuck (2000, S. 233 ff.) in einem zweidimensionalen Raum einer institutionellen und individuellen Dimension lokalisierbar. Sie sind einerseits Teil eines Verwaltungsaktes im Rahmen anstehender schuladministrativer Entscheidungen und andererseits das Ergebnis fachwissenschaftlicher Operatonalisierungsversuche unterschiedlicher Konzepte über Menschen, Schule und Gesellschaft sowie Erziehung und Bildung. 9.1.1 Der institutionelle Kontext Die verwaltungstechnische Seite wird darin deutlich, dass diagnostisches Handeln in unseren Schulen von Staatsbeamten als staatlicher Verwaltungsakt auf der Grundlage entsprechender Verordnungen und Erlasse in Auftrag gegeben und durchgeführt wird. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) wirkt mit ihren Empfehlungen, die wiederum durch den jeweiligen fachwissenschaftlichen Geist der Zeit geprägt sind, in die diesbezügliche Gesetzgebung der Länder hinein und formt damit die realisierte Praxis. Die KMK-Empfehlungen „zur Sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ von 1994 (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1994; im Folgenden abgekürzt mit KMK) haben dabei in der Überwindung der KMK-Empfehlung von 1972 „zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1972) und deren Eigenschaftsorientierung neue Akzente gesetzt und Räume geöffnet für eine auf den individuellen Bildungs-, Entwicklungs- und Lernprozess von Menschen bezogene Pädagogik und Diagnostik. Die historisch wichtigen Auseinandersetzungen zur „Selektions-“ und „Förderdiagnostik“ (z. B. Schlee, 1985a, b) könnte unter den Perspektiven der KMK-Empfehlungen von 1994 Geschichte sein, wenngleich die KMK-Empfehlung von 1972 in ihrer Betonung des dreigliedrigen Schulsystems und der darin notwendigen Selektionsorientierung diagnostisches und pädagogisches Handeln, schulstrukturelle Entwicklungen und Ausbildungsstrukturen an den Universitäten noch immer bestimmt. Die KMK-Empfehlung von 1972 wird von der Idee getragen, dass unterschiedlich klassifizierbare Kinder ihren Behinderungen entsprechend unterschiedliche Schulformen vorfinden müssen. In diesem Denken bestimmen die Ätiologie der jeweils operationalisierten Behinderung und die darauf bezogenen und für notwendig gehaltenen pädagogischen Aktivitäten die Wahl der Schulform unter der prinzipiellen Annahme, dass eine optimale Entwicklungsförderung in homogenisierten Lerngruppen am besten zu realisieren sei (vgl. Schuck, 2000, S. 235). Diese Idee führte im klassischen Überweisungsverfahren zu der mit diagnostischen Mitteln zu beantwortenden klassifikatorischen Frage nach der grundlegenden Behinderung und den daraus ableitbaren Entscheidungen für die Zuweisung zu spezifischen Schulformen. Das gegliederte Schulsystem fordert von der Diagnostik dabei eine prospektive, auf langfristige Entwicklungen bezogene
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Aussage darüber, in welcher Schulform sich gewünschte Entwicklungs-, Lern- und Bildungserfolge am ehesten einstellen werden. Intelligenztests avancierten, beginnend mit dem ersten Intelligenztest von Binet zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zum zentralen Klassifikations- und Prognosekriterium. Sie gelten vielfach bis heute als die Operationalisierung der als grundlegend gedachten kognitiven, den aktuellen und den zukünftigen Schulerfolg bestimmenden Eigenschaft. Dieser Verwertungszusammenhang diagnostischer Methoden wurde intensiv diskutiert, dabei die der Diagnostik zugeschriebene Selektions- und Alibifunktion herausgestellt und die begrenzten Möglichkeiten dieses Ansatzes sowohl nach testtheoretisch-internen Gesichtspunkten als auch unter der Idee einer wünschenswerten Einheit von Diagnose und Förderung gezeigt (Schuck & Eggert, 1982). In allen neuen Schulgesetzen wird unter Beibehaltung des gegliederten Schulsystems den KMK-Empfehlungen von 1994 gefolgt und vorbehaltlich bereitstellbarer Ressourcen die allgemeine Schule zum primären Ort der Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder erhoben und die Subsidiarität des Sonderschulwesens betont. Diese Entwicklung zeigt sich in schulgesetzlichen Formulierungen, die bestimmen, dass die allgemeinen Schulen und Sonderschulen in enger Zusammenarbeit auf eine Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Unterricht der allgemeinen Schule hinein zu wirken haben. In dieser schulgesetzlichen Neuorientierung wird ein konzeptioneller Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung des Schulsystems und eine Zentrierung auf eine personenbezogene, individualisierende und schulformunabhängige Förderung gesehen (Bleidick, Rath & Schuck, 1995). Tatsächlich könnte sich die Diagnostik unter diesen Bedingungen vom Makel der „Selektion“ befreien (Schuck, 1993, S. 73) und sich am gegebenen Lernort auf jene „fördernden und behindernden individuellen und vor allem außerindividuellen Bedingungen schulischer und außerschulischer Lern- und Interaktionsfelder“ konzentrieren, „die den aktuellen Entwicklungs- und Lernstand eines Kindes entstehen ließen“, „die zur Förderung der weiteren schulischen Entwicklung des Kindes veränderbar sind“ und „deren Veränderung geplant, durchgeführt und kontrolliert werden kann“ (Ahrbeck, Lommatzsch & Schuck, 1984, S. 50). Der Begriff der Förderung und der des Förderbedarfs wurden in der Folge der KMK-Empfehlungen von 1994 zu neuen Leitbegriffen, die schillernde und divergente Definitionen erfuhren. Schuck (2001, S. 63 f.) definiert wie folgt: „Der Begriff der pädagogischen Förderung bezeichnet pädagogische Handlungen bzw. Qualitäten, die gemäß eines impliziten oder expliziten Förderkonzepts auf die Anregung und Begleitung einer an Bildungszielen orientierten, für wertvoll gehaltenen Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften und an den sozialen Folgen von Benachteiligungen und Behinderungen ausgerichtet sind. Pädagogischer Förderbedarf ist dabei das, was ein Individuum in seinen Lern- und Lebensgemeinschaften an Unterstützung benötigt, um die intendierten Ziele zu erreichen. Sonderpädagogische Förderung und Sonderpädagogischer Förderbedarf sind nichts anderes. Denn alle heranwachsenden Menschen, auch behinderte und benachteiligte, bedürfen einer pädagogischen, institutionell übergreifenden Förderung bzw. Anregung und Begleitung ihrer Entwicklung (Bleidick, 1999), gegebenenfalls unter erschwerten Bedingungen und unter einer notwendig werdenden Nutzung problemspezifisch unterschiedlicher
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| Teil III: Diagnostik Qualifikationen auf der Seite der Pädagoginnen und Pädagogen und unterschiedlicher institutioneller bzw. organisatorischer Arrangements. Jede Form der Förderung hat sich damit ihrer Ziele, ihrer Wege und ihrer institutionellen Verankerung zu vergewissern. Bildungstheorien, Erziehungstheorien und Theorien der Institutionen geben hierzu die erziehungswissenschaftlichen, Entwicklungs- und Lerntheorien die psychologischen Bezugspunkte ab, die in ihrer Interpretation unter ein pädagogisches Konzept zu stellen sind.“ Diese Definition beinhaltet die Begriffe, über die eine weitere Verständigung auch unter diagnostischer Perspektive geboten erscheint. Immerhin deutet sich in dieser Definition ein neuer Arbeitsauftrag an die Diagnostik an: Gefragt ist im Falle von nicht anforderungsgemäßen Leistungen und erwartungswidrigem Verhalten nicht mehr Klassifikation und Prognose, sondern die bildungszielorientierte Entwicklung und Evaluation eines Förderkonzepts zur Anregung, Begleitung und Unterstützung gewünschter Veränderungen der Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften unter Nutzung diagnostischer und pädagogischer Mittel. Unter diesen Prämissen sollte sich die prospektive, institutionell orientierte Diagnostik zu einer auf bestmögliche Förderung gerichteten, personorientierten und evaluativen Diagnostik entwickeln, wie es seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder gefordert worden ist (Schlee, 1985a, S. 99; Kolt & Rother, 1984, S. 345). 9.1.2 Die fachwissenschaftlichen Bezüge: Menschenbildannahmen Unterschiedliche Positionen der Wissenschaften vom Menschen haben Theorien darüber entwickelt, wie der Mensch als Abstraktum ‚funktioniert‘, welches die treibenden Kräfte seiner Entwicklung sind, aufgrund welcher Bedingungen es zu Unterschieden zwischen den Menschen kommt und warum Kontinuität und Wandel in individuellen Biographien entstehen. Die leitenden Entwicklungsvorstellungen als Gegenstandsverständnis vom Menschen stellen dementsprechend für Schuck (2000, S. 234, 236) die zweite Dimension im zweidimensionalen Raum der Lokalisation diagnostischer Methoden dar. Schuck bezeichnet es als Problem der verwendeten diagnostischen Konzepte, dass sie vorwiegend unter einem deterministischen Menschenbild entstanden seien und damit dem Anspruch der Psychologie als Wissenschaft vom Subjekt allenfalls näherungsweise genügen könnten. Den meisten diagnostischen Konzepten liegen, einem Ordnungsversuch entwicklungspsychologischer Schulen durch Montada (2002, S. 5 ff.) folgend, entweder endogenistische oder exogenistische Entwicklungstheorien zugrunde, die den Menschen als passiven Erdulder der Entfaltung genetischer Bedingungen oder von außen einwirkender Einflüsse im behavioristischen Modell konzipieren. Ihnen sei das Passivitätspostulat gemeinsam. Stabilität und Veränderung werden in diesen Modellen gedeutet als Auswirkungen innerer und äußerer Bedingungen, die scheinbar ungebrochen menschliches Verhalten bestimmen. Im Zuge der kognitiven Wende der späten sechziger Jahre habe sich, so Schuck (2000, S. 237), ein neues Verständnis vom Menschen, ein neues Subjektmodell (Groeben & Scheele, 1977; Schlee, 1998) entwickelt, welches sich in diversen Handlungstheorien entäußere (vgl. Franke & Greif, 1984) und die Aktivitätsannahme zur Grundlage habe. Montada unterscheidet unter der Aktivitätsannahme eher
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konstruktivistische Positionen, die sich auf die Konstruktionsprozesse beim Individuum zentrieren, von solchen, die die Welterschließung als unterschiedlich gefasste, transaktionale Austauschprozesse zwischen Menschen von Lebensgemeinschaften konzipieren und Entwicklung als die Verschränkung von Person- und Umweltveränderungen begreifen (vgl. z. B. Lazarus, 1981; Jantzen, 1998, S. 343). Die Konsequenzen dieses Menschenbildes beträfen alle Bereiche der Pädagogik und Psychologie, die Weiterentwicklung von Lerntheorien (vgl. Holzkamp, 1995), von Behinderungsbegriffen (vgl. Schönberger, 1987) und Forschungsmethoden. Einige diagnostische Konzeptionen folgten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und verschiedenen Zugriffsweisen diesem Paradigma. Sie müssten allerdings in einer Bildungstheorie aufgehoben sein, die die Unterstützung der konstruierenden Aktivitäten von Individuen in Lern- und Lebensgemeinschaften als eines der Zielkriterien versteht (Schuck, 1987; Schuck, 1992; Ahrbeck, Schuck & Welling, 1992; Schönberger, 1987; Jetter, Schmidt & Schönberger, 1983).
9.2
Prominente Modelle diagnostischen Denkens
Modelle diagnostischen Denkens unterscheiden sich darin, in welcher Weise sie unterschiedliche Bezugssysteme zur Beurteilung individueller Leistungsunterschiede benutzen und auf welchen Abstraktionsebenen die diagnostischen Schlussfolgerungen vollzogen werden. In der Geschichte der Diagnostik können unter Bezugnahme auf den von Schuck (2000) konzipierten zweidimensionalen Raum zur Lokalisation diagnostischer Methoden drei Modelle prototypisch beschrieben werden: Das normorientierte, das lernzielorientierte und das entwicklungsorientierte Modell. Gemeinsam ist diesen Modellen die Notwendigkeit, von diagnostischen Situationen – als eine Variante des Beobachtbaren – auf nicht direkt Beobachtbares der Konstruktebene und auf prinzipiell Beobachtbares, jedoch in der diagnostischen Situation nicht selbst Abgebildetes, zu schließen. 9.2.1 Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen wurde in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf dem Hintergrund der klassischen sonderpädagogischen Fragestellung im Sonderschulüberweisungsverfahren – nämlich: der Zuordnung von Schülern zu Schulformen – intensiv diskutiert und dabei auch die Frage der pädagogischen Wirksamkeit des dem Modell eigenen Normbezugs beleuchtet. Schulpraktisch relevanter Hintergrund war die KMK-Empfehlung von 1972, in der als Orte der Förderung behinderter Kinder spezifische Sonderschulen konzipiert sind und zugleich die Klientel der neun verschiedenen Sonderschulformen beschrieben ist. Wenn schließlich Intelligenztestergebnisse in der sonderpädagogischen Diagnostik als maßgebliche Entscheidungskriterien bei der Zuweisung zu Sonderschultypen benutzt wurden, so zeigen sich darin diagnostische Abgrenzungsbemühungen der Definition und Operationalisierung differenter Leistungsund Verhaltensformen im schulischen Kontext. Maßgeblich hat das Gutachten von Kanter (1974) über „Lernbehinderungen, Lernbehinderte, deren Erziehung und Rehabilitation“ bis in die Erlasse und Verwaltungsvorschriften der Bundesländer hinein gewirkt. Seit-
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| Teil III: Diagnostik dem gelten solche Kinder als lernbehindert im engeren Sinne, die „1. in einem validen Intelligenzmeßverfahren einen Gesamt-IQ von 75 nicht überschreiten (Untergrenze zur geistigen Behinderung IQ 55), 2. bezogen auf die Altersnorm im Primarbereich einen schulischen Leistungsrückstand von 2 oder mehr Jahren aufweisen bzw. erwarten lassen und 3. ein retardiertes Sozialverhalten (z. B. nach der Vineland Mental Maturity Scale) aufweisen, ohne dass diese Beeinträchtigungen primär auf Sinnesschäden, Körperbehinderungen, Sprachschädigungen, Verhaltensstörungen (Schwererziehbarkeit), schwere geistige Behinderung oder bestimmte Krankheitszustände rückführbar wären“ (Kanter, 1974, S. 165). Demgegenüber beschreibt Kanter die Kinder und Jugendlichen mit Lernstörungen, -schwächen und -irregularitäten bzw. mit Verhaltensauffälligkeiten und mit Milieuschädigungen operationalisierend wie folgt: „Als lerngestört in diesem Sinne gelten Kinder und Jugendliche mit deutlichen Leistungsminderungen und diskrepanten Leistungs- und Verhaltensformen, ohne einen insgesamt herabgesetzten Intelligenzmeßwert (IQ unter 80/75) aufzuweisen oder primär durch Sinnesschäden, Körperbehinderungen oder Sprachschädigungen beeinträchtigt zu sein“ (Kanter, 1974, S. 167). Kanters Definitionsvorschläge wurden nicht, wie von ihm vorgeschlagen, für die Organisation unterschiedlicher Stütz- und Fördermaßnahmen in einem Gesamtschulsystem, sondern für die Zuweisung von Kindern und Jugendlichen zu Kategorien eines expandierenden Sonderschulwesens verwendet. Danach galt es, „Lernbehinderte im engeren Sinne“ per (Intelligenz-)Diagnostik zu definieren und für sie eine Beschulung in einer Sonderschule für Lernbehinderte vorzusehen sowie Kinder mit Lernstörungen gegebenenfalls an der Grundschule zu belassen. Wenn sich das diagnostische Problem bei auftretenden Lernstörungen in der Allgemeinen Schule in dieser Weise stellt, nämlich Lernbehinderte im engeren Sinne von Lernstörungen zu unterscheiden, so ist die erkenntnistheoretische Frage die, ob die gebräuchlichen diagnostischen Verfahren mit ihrem jeweiligen entwicklungs- und testtheoretischen Hintergrund diesem Anforderungsprofil entsprechen bzw. prinzipiell entsprechen können. Diese Frage hat in der Auseinandersetzung mit dem Umschulungsverfahren in die Sonderschule zunächst zu einer jahrelangen Kontroverse um die testtheoretische Qualität der Binet- und Wechsler-Verfahren sowie der Tauglichkeit der unterschiedlichen Operationalisierungen von Entwicklungsniveaus – Äquivalenzintelligenzquotienten bei Binet und Abweichungsintelligenzquotienten bei Wechsler – geführt. Testtheoretisch betrachtet können dem Abweichungsintelligenzquotienten durchaus messtechnische Vorteile zugesprochen werden, da die Intelligenzquotienten für unterschiedliche Altersgruppen quantitativ in Prozenträngen ausgedrückt die gleiche Bedeutung bezogen auf die relative Distanz zum Durchschnittswert der Normstichprobe haben. Die entwicklungstheoretische Verankerung der unterschiedlichen Aufgabentypen in den Binet- und WechslerTests und die dortigen Vorteile der Binet-Tests wurden in der testtheoretisch dominierten Diskussion jedoch häufig nicht gewürdigt (vgl. hierzu auch Kautter & Munz, 1974). Mit Erscheinen des HAWIK-R (Tewes, 1983) im Jahre 1983 flammte die Auseinandersetzung um den Sinn und Unsinn der Intelligenzdiagnostik mit teilweise anderen Schwerpunkten und unter besonderer Betrachtung der Verwertungszusammenhänge wieder auf (vgl. u. a. Eggert, Schuck & Tewes, 1984; Schuck & Ahrbeck, 1986). Alle Wechsler-Intelligenztests vom Vorschul- bis zum Erwachsenenalter (für das Vorschulalter: Schuck und Eggert (1976); für das Kindesalter: Tewes (1983) sowie Tewes,
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Rossmann und Schallberger (2002); für das Erwachsenenalter: Tewes (1991) bzw. Tewes, Neubauer und von Aster (in Vorbereitung)) gehen auf das Intelligenzkonzept Wechslers zurück, welches erstmals 1939 mit dem ersten Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene in Amerika veröffentlicht wurde. Wechsler verstand dabei Intelligenz als „die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen“ (Wechsler, 1964, S. 13). Alle Versionen der Wechsler-Tests bestehen aus bis zu 11 Untertests, die zunächst altersspezifisch ausgewertet und zu einem Verbal-IQ, einem Handlungs-IQ und einem Gesamt-IQ verrechnet werden. Die Wertpunkte für die Untertests sowie die IQ-Werte für den Verbal- und Handlungsteil bzw. für den Gesamttest sind relative Positionsbestimmungen und drücken aus, wie gut z. B. ein getestetes Kind die Aufgaben des Tests im Vergleich zu den Kindern der Normstichprobe lösen konnte. Sodann wird dieses Ergebnis im Sinne der Logik des Modells indirekter Schlussweisen als Ausmaß des Vorhandenseins der hypothetischen Eigenschaft, der Intelligenz, interpretiert. Insofern zählen die Wechsler-Tests zu den eigenschafts- und normorientierten Verfahren. Untersucht wird das hypothetische Konstrukt – verstanden als Eigenschaft – und interpretiert wird die individuelle Ausprägung dieser Eigenschaft auf der Grundlage der mutmaßlichen, durch empirische Normen erschlossenen Verteilung dieser Eigenschaft in der Population und der weiteren Annahmen zum Konstrukt. Charakteristisch für normorientierte Tests ist das zugrunde liegende Modell indirekter diagnostischer Schlussweisen (Goldfried & Kent, 1974). Über mehrere Schlussfolgerungsebenen hinweg (vgl. Abbildung 1) wird in diesem Modell unter Verwendung der klassischen Testtheorie von der Beobachtung in einer Testsituation auf die Ausprägung der in den Testaufgaben operationalisierten Eigenschaft geschlossen. Diese Merkmalsausprägung ist sodann die Grundlage für die Erklärung beobachtbaren oder die Prognose zukünftigen Verhaltens. Die Gütekriterien der klassischen Testtheorie lassen sich den einzelnen Beobachtungs- und Schlussfolgerungsebenen des Modells zuordnen. Ausgangs- und Zielpunkt diagnostischer Schlussweisen sind im indirekten Modell (vgl. Goldfried & Kent, 1974, S. 15) unterschiedliche Kategorien beobachtbarer Situationen: die systematisch herbeigeführten, in der Regel standardisierten ‚Test‘-Situationen einerseits sowie die ‚Kriteriums‘-Situationen andererseits. Beide Situationen, die Test- und Kriteriumssituation, sind über eine Reihe gedanklicher Konstruktionen der Induktion und Deduktion sowie durch das übergeordnete Persönlichkeitskonstrukt miteinander verbunden. Die unabdingbare messtheoretische Grundlage dieses Konzepts diagnostischen Denkens ist die klassische Testtheorie mit den Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität und mit dem Nebengütekriterium der Normierung. Zentrales Bewährungskriterium für die Güte einer solchen konstruktgeleiteten, indirekten Diagnostik ist die Validität: der Zusammenhang zwischen Test- und Kriteriumssituation. Soll eine diagnostische Situation – die ‚Test‘-Situation – von praktischer Bedeutung für die zu erklärende bzw. vorherzusagende ‚Kriteriums‘-Situation sein, so muss ein hoher Zusammenhang zwischen den Ergebnissen in beiden Situationen existieren, der in repräsentativen Stichproben nachgewiesen wird. Die quantitative Ausprägung des Zusammenhangs wird als Korrelation zwischen ‚Test‘ und ‚Kriterium‘ als Validitätskoeffizient ausgedrückt, wofür es anerkannte Anforderungen an die Höhe dieser Koeffizienten für unterschiedliche diagnostische Fragestellungen gibt. Für die
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| Teil III: Diagnostik Schlussfolgerungsebenen: Dritte Ebene: Annahmen zum Zusammenhang von Konstrukt und den Operationalisierungsversuchen Zweite Ebene: Annahmen zum Verhältnis individueller und Populationsleistungen (Normen)
Erste Ebene: Annahmen zur Präzision der Beobachtung (Reliabilität)
Das Persönlichkeitskonstrukt
‚Population‘ möglicher Antworten
‚Population‘ des möglichen Kriteriumsverhaltens
‚Wahre‘ Testantworten
‚Wahres‘ Kriteriumsverhalten
Erschlossenes Beobachtbares
Beobachtungen (Objektivität)
Beobachtungen in der ‚Test‘situation
Der induktive Schluss von der Beobachtung zum Konstrukt (Test-Schlüsse)
Beobachtungen in der ‚Kriteriums‘situation
Die Deduktion vom Konstruk zum Kriteriumsverhalten (Validierungs-Schlüsse)
Abbildung 1: Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen, modifiziert nach Goldfried und Kent (1974)
Individualdiagnostik sollten Validitätskoeffizienten von mindestens r = .70 vorliegen (vgl. z. B. Lienert, 1969, S. 310), die im Anwendungsfall der Erklärung bzw. Vorhersage von Schulleistungen aus Intelligenztestergebnissen als einfache Validitätskoeffizienten jedoch nicht erreicht werden. So konnten Schuck und Ahrbeck (1986) für den HAWIK-R eine mittlere Korrelation des HAWIK-Gesamtergebnisses mit den Schulnoten von Grundschülern von r = .55 ermitteln. Damit weisen Schulnoten und Intelligenztestergebnisse etwa 30 % an gemeinsamer Varianz auf. Dieser niedrige Anteil gemeinsamer Varianz spricht für eine allenfalls dürftige Erklärbarkeit der Varianz der Schulnoten durch Intelligenztestergeb-
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nisse. Es wurde herausgearbeitet, dass eine derartige – zwar theoretisch relevante, aber praktisch bedeutungslose – Korrelation nicht geeignet sein kann, verantwortbare Zuordnungsentscheidungen für Schultypen und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebenschancen zu treffen. Intelligenztests gelten vielfach als Methode der Erfassung des hypothetisch angenommenen, schulisch relevanten, umweltunabhängig gedachten Intelligenzpotenzials eines Kindes. Unter anderem vor diesem Hintergrund wurde bei allen Versionen des HAWIK bemängelt, dass besonders die Aufgaben des Verbalteils die Wertmaßstäbe und Normvorstellungen der sozialen Mittelschicht einer „westlich“ orientierten Gesellschaft repräsentieren würden, wodurch Kinder der sozialen Unterschicht allein durch das Aufgabenmaterial gehindert würden, ihre tatsächlichen Leistungsmöglichkeiten zu zeigen. Für eine Stichprobe von Kindern aus Hamburg konnten Schuck und Ahrbeck (1986) z. B. zeigen, dass für Grundschüler signifikante Korrelationen zwischen den HAWIK-Ergebnissen und Schulnoten zwischen .47 für den Handlungsteil, .61 für den Verbalteil und .55 für den Gesamt-IQ bestehen. Bei Auspartialisierung des Sozialstatus sanken ehemals signifikante Zusammenhänge unter die Signifikanzgrenze. Schuck und Ahrbeck (1986, S. 15 f.) sahen in diesen Ergebnissen „einen Beleg für die Annahme, dass sich in den HAWIK-R-Ergebnissen, wie auch in den Schulnoten, die soziale Schichtenzugehörigkeit mit allen damit verbundenen Effekten auf die Persönlichkeitsentwicklung ausdrückt. Diese Effekte werden im schulischen Selektionsprozess und auch im HAWIK-R-Ergebnis als positiv oder negativ bewertet; sie sind Ausdruck jener spezifischen Anregungsdefizite, Sozialisationserfahrungen und vielfältiger Benachteiligungen, die bei der Mehrzahl der Kinder aus Sonderschulen für Lernbehinderte im Vergleich zu ‚normalen‘ Grundschülern besonders verstärkt auftreten und charakteristisch für den unteren Leistungsbereich in unseren Schulen sind.“ Mit dem HAWIK-R und allen anderen Intelligenztests wird damit keineswegs das kognitive Leistungsvermögen, sondern es werden unterschiedliche, schichtenspezifische und schulrelevante Anregungsbedingungen und Wirkungen der Lebenswelten der Kinder erfasst. Der HAWIK-R kann damit keine Begründung für Schulversagen im Sinne einer umweltunabhängig gedachten Intelligenz liefern; er doppelt allenfalls die Informationen, die die Schule schon längst im Umgang mit einem Kind gewonnen hat, wenn es nicht die erwarteten Anforderungen einer mittelschichtorientierten Leistungsgesellschaft erfüllt. Diese Nichterfüllung von in der Regel nicht in Frage gestellten schulischen Anforderungen, die eine unterschiedliche Nähe zu den Lebenswelten der je verschiedenen Kinder haben, wird einmal ausgedrückt im „Schulversagen“ und dann in der scheinbar individuellen Begründungskategorie des „Intelligenzmangels“. Mit diesem Ergebnis und seinen Interpretationen werden viele Analyseergebnisse der siebziger Jahre repliziert, die neuerdings in großen internationalen Leistungsvergleichen wieder in Erscheinung treten: Werden Intelligenzleistungen von Kindern im Vergleich mit Intelligenztestleistungen „repräsentativer Stichproben“ bestimmt, so werden sich in den Ergebnissen – vermittelt durch die spezifischen Aufgaben und durch das Konstrukt der „repräsentativen Stichprobe“ – gesellschaftliche Differenzen widerspiegeln. Gesellschaftlich determinierte Chancenungleichheiten werden als individuelle Unzulänglichkeiten interpretiert und zum Alibi für schulische Selektionsentscheidungen herangezogen. „Die entscheidenden Bedingungen für das Versagen eines Schülers werden in ihm selbst gesucht und sein schulisches Versagen, das in sehr differenzierter Weise durch schulische
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| Teil III: Diagnostik und gesellschaftliche Interaktionsprozesse und ein Versagen der Schulstruktur zustande gekommen ist, wird als individuelles Problem deklariert. Schulorganisatorisch wird darauf mit einer Umschulung reagiert“ (Schuck & Ahrbeck, 1986, S. 20 f.). Die Intelligenzdiagnostik, so wie sie in schulischen Kontexten gerne verwendet wird, erweist sich damit als Zirkelschluss, der nicht nur aus diesem Grunde diagnostisch, vor allem aber pädagogisch bedeutungslos und ethisch fragwürdig ist. Zu erwähnen bleibt, dass im diagnostischen Konzept Wechslers sein Intelligentest eine andere Bedeutung hat als die, die ihm in der pädagogischen Diagnostik zugerechnet wird. Es ist im Ursprung ein klinisches Verfahren und dient dort der Testung von Hypothesen über das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen bei bekannten, vorwiegend exogenen Schädigungen des zentralen Nervensystems. Darauf wird andauernd verwiesen, ohne dass sich die Anwendungsgewohnheiten in der Schule verändert hätten (vgl. u. a. Eggert, Schuck und Tewes (1984) sowie alle Handbücher zu unterschiedlichen Formen des HAWIK und HAWIE). Die gängige Praxis sonderpädagogischer Diagnostik ist damit aufgrund testtheoretischer Erwägungen und der sozialen Determiniertheit sowohl von Testergebnissen als auch des Erreichens von Erfolgskriterien in der Schule mehr als fraglich. Hinzu kommt ein weiteres, auf die schulstrukturellen Zusammenhänge bezogenes erkenntnistheoretisches Argument: Wird aufgrund diagnostischer Informationen eine Neubestimmung des Lernortes vorgenommen, kann sich diese Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen unseres Schulsystems fast nicht mehr als falsch erweisen. Allein die Beschulung in einer Sonderschule führt zu einer weiteren Öffnung der Leistungsschere zwischen den Schülerinnen und Schülern der allgemeinen Schule und der Sonderschule. Tatsächlich finden im bundesrepublikanischen Gesamtzusammenhang weniger als ein Prozent von Schülerinnen und Schülern der Schule für Lernbehinderte den Weg zurück in die allgemeine Schule, obwohl unter alternativen pädagogischen Konzepten Schülerinnen und Schüler der Schule für Lernbehinderte Hauptschulabschlüsse erreichen können (vgl. Wilkens & Schuck, 1986). Im historischen Prozess der Auseinandersetzung um diagnostische Methoden und Strategien gab es eine Phase ‚systemimmanenter Kritik‘ (vgl. Schuck & Eggert, 1982), in der man sich mit dem Anspruch auseinandersetzte, aufgrund diagnostischer Daten punktuelle Schullaufbahnentscheidungen hoher Gültigkeit treffen zu wollen, für die vor allem die eigenschaftsorientierten Verfahren wie geschaffen schienen. Frühes Ergebnis dieser Diskussionen ist die Erkenntnis, dass ein diagnostisches Instrumentarium so reliabel und valide wie nur denkbar sein kann, ohne dass die für eine ‚fehlerfreie‘ und verantwortbare Zuordnung zu den relativ undurchlässigen Kategorien des Schulsystems notwendige Präzision je erreicht werden könnte. Bei der Einschulungsdiagnostik wurde dieses Dilemma in besonderer Weise herausgearbeitet (Krapp & Mandl, 1977) und gefolgert, dass dem selektiven und damit prospektiven Anspruch an die Diagnostik ein evaluativer, die Förderung konzipierender und begleitender Anspruch entgegenzusetzen sei. Doch taugen die Beurteilungsperspektiven norm- und kriteriumsorientierter Verfahren für eine solche Verflechtung von Diagnostik und Förderung? Bei einer normorientierten wie auch bei einer kriteriumsorientierten Leistungsbeurteilung erfährt der Diagnostiker bei einem eventuellen Abstand zum imaginären Durchschnitt oder dem lehrplanorientiert definierten Kriterium nur, dass eine besondere Förderung notwendig ist, wenn man eine Angleichung der Schülerinnen und Schüler an wie auch immer definierte Erwartungs-
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werte aus dem verwendeten Bildungsbegriff heraus überhaupt verfolgen will. Das kann eine sinnvolle Information sein, sie hilft aber in der Regel nicht bei der inhaltlichen Gestaltung einer Förderung. „Denn werden die Leistungen eines Individuums an den Leistungen einer Gruppe gemessen und seine ‚Fähigkeiten‘ im Spiegel der Leistungen anderer bestimmt, so ist das Ergebnis dieses Bestimmungsvorganges fast vollständig abhängig von den Leistungen anderer und keineswegs ein Faktum, was ganz allein dem Individuum zuzurechnen wäre. Die Individualität eines diagnostizierten Subjektes wird damit im Spiegel des als allgemein gedachten Konstrukts einer an sich vorhandenen Fähigkeit verobjektiviert, ohne dass durch die relative Positionsbestimmung erkennbar werden könnte, welche Förderung angezeigt ist“ (Schuck, 2000, S. 240). 9.2.2 Lernziele als Bezugssysteme für die Beurteilung individueller Leistungen Als Konsequenz der Kritik am indirekten Modell diagnostischer Schlussweisen schlagen Goldfried und Kent (1974, S. 3 ff.) die verhaltensorientierte Diagnostik vor. Dort erfolgt die Vorhersage des Kriteriumsverhaltens direkt und ohne Rückgriff auf ein Merkmalskonstrukt auf der Grundlage der in der Testsituation erhobenen Verhaltensstichprobe. Die Autoren beschreiben den Unterschied zwischen der eigenschafts- und verhaltensorientierten Diagnostik wie folgt: „Im Gegensatz zur psychodynamischen Orientierung, die ihr Augenmerk auf die Charakteristika richtet, die ein Individuum ‚hat‘, betont der behavioristische Ansatz mehr, was eine Person in verschiedenen Situationen ‚tut‘“ (S. 8). Es wird somit nicht mehr versucht, in der Testsituation eine hypothetische ‚Eigenschaft‘ zu operationalisieren, sondern es gilt, in den Testsituationen das Kriteriumsverhalten repräsentativ abzubilden. Goldfried und Kent sehen damit den diagnostischen Schlusskreis um eine Schlussfolgerungsebene verkürzt und die Präzision der Vorhersage erhöht. Geblieben ist die Passivitätsannahme, die nun zwar nicht mehr von der Wirkung eines Persönlichkeitsmerkmals ausgeht, sondern im behavioristischen Sinne von der determinierenden Kraft der Umwelteinflüsse. Die so genannte lernzielorientierte bzw. kriteriumsorientierte Diagnostik bedient sich einer in dieser Weise direkteren Diagnostik. Die Aufgaben lernzielorientierter Tests sind von der Konzeption her repräsentative Aufgabensammlungen des Konstrukts. Das Konstrukt sind die gesetzten Normen dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gekonnt werden soll. So ist die Orientierung der Leistungsmessung in der Schule an extern gesetzten Lernzielen eine konstituierende Bedingung. Im Gegensatz zur normorientierten Messung wird in der lernziel- bzw. kriteriumsorientierten Diagnostik konzeptionell eine individuelle Leistung im Hinblick auf einen definierten Leistungsstandard hin interpretiert. Die individuelle Leistung wird auf dem Hintergrund der Folie der in Standards ausgedrückten erwarteten Leistungen interpretiert und dabei festgestellt, ob und in welchem Ausmaß gesetzte Lernziele erreicht wurden. Die Ergebnisse jedes Schulleistungstests können dabei sowohl norm- als auch lernzielorientiert interpretiert werden. In unserem Schulsystem dominiert aufgrund der vorherrschenden Selektions- und Vorhersagefragen jedoch die normbezogene Interpretation. Ob normoder kriterienbezogen gemessen und interpretiert wird, hängt damit von der Funktion ab, die ein diagnostisches Datum im Rahmen einer pädagogischen Entscheidung haben
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| Teil III: Diagnostik soll. So ist im britischen Schulsystem die lernzielorientierte Perspektive allgegenwärtig. Gefragt wird nicht, wie gut oder schlecht ein Kind im Vergleich zu anderen ist, sondern im Mittelpunkt des Interesses steht, was ein Kind zu einem gegebenen Zeitpunkt bezogen auf hierarchisierte Curricula bereits kann und welche Aspekte des Lerngegenstandes auf der extern gesetzten Curriculumsleiter nunmehr in Sicht kommen. Die lernzielorientierte Diagnostik darf im Hinblick auf die Frage der Nutzbarkeit diagnostischer Informationen für die anschließende Förderung durchaus als Fortschritt gesehen werden. Die gegenwärtige individuelle Leistung erhält ihre Bedeutung nicht durch die Leistungen anderer, sondern allein die Differenz zum extern gesetzten Standard ist in der lernzielorientierten Diagnostik die konzeptionelle Beurteilungsfolie. 9.2.3 Der Entwicklungsbezug und das Modell der strukturorientierten Diagnostik Norm- wie lernzielorientierte Messungen beziehen sich durchweg auf außerindividuelle Bezugspunkte, die nach teststatistischen Kriterien operationalisiert werden. Die Logik des Gegenstandes und die Perspektive des Subjekts sind bei einer solchen Messtechnik allenfalls indirekt angesprochen. Das Modell einer strukturorientierten Diagnostik (Probst, 1982; vgl. z. B. auch Waniek, 1999) konzipiert Diagnose und Förderung unter einem theoretischen Dach und geht zudem auf Basis der Aktivitätsannahme von der Idee aus, dass es jedem Individuum aufgegeben ist, die Logik der Welt bzw. der Lerngegenstände durch eigene geistige Aktivitäten zu rekonstruieren (vgl. Schuck, 2000, S. 240 ff.). Das Modell unterscheidet zwei Konstrukte: (1) die Strukturen, d. h. die ‚Entwicklungslogik‘ des Gegenstandes, und (2) auf der Seite des Individuums das bereits erreichte Niveau der Aneignung des Gegenstandes. Das individuelle Aneignungsniveau ist die diagnostische Kategorie, mit der in Kenntnis einer personunabhängigen Logik des Gegenstandes danach gefragt wird, welche Strukturen des Gegenstandes das Individuum bereits in eigene, innere Strukturen transformiert hat und welchen nächsten Entwicklungsschritt das Kind bezogen auf die qualitativen und standardisiert erfassbaren Strukturen des Gegenstandes ansteuern kann. Diagnose und Schlussfolgerungen für den nächsten Entwicklungsschritt sowie die Schaffung förderlicher Anforderungen für die Anregung des weiteren Rekonstruktionsund Konstruktionsprozesses des Kindes werden aus einem entwicklungspsychologisch begründeten Bezugssystem heraus gewonnen, so dass die Einheit zwischen Diagnose und Förderung hergestellt wird (vgl. Probst, 1983, S. 79). Die Einheit von Diagnose und Förderung wird damit nicht über extern gesetzte Lernziele hergestellt, sondern durch die Verallgemeinerung entwicklungspsychologischen Wissens. Was mit dieser in einigen diagnostischen und didaktischen Materialien umgesetzten Programmatik verfolgt wird, ist Teil vieler impliziter und expliziter didaktischer Konzeptionen. So hat jede Pädagogin und jeder Pädagoge für sich Vorstellungen darüber entwickelt, wie ein ‚Lerngegenstand‘, z. B. die Schriftsprache oder das Rechnen, ‚aufgebaut‘ ist und wie sich Kinder ihn am besten aneignen. Dementsprechend gestalten Lehrkräfte ihren Unterricht und führen Lernkontrollen durch, mit denen sie prüfen, ob ein Schüler bereits in den Stoff (in wünschenswerter oder vergleichbarer Weise) eingedrungen ist.
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Entsprechendes Material wird entweder ausgewählt oder hergestellt. Es wird, wie es im Modell der strukturorientierten Diagnostik geschieht, die Lerntätigkeit des Kindes und das Niveau seiner aktuellen Leistungen mit dem eigenen Vergleichswissen über kindliche Lerntätigkeit und den Strukturen des Lerngegenstandes konfrontiert, um aus diesem Ergebnis Schlussfolgerungen für die nachfolgende Förderung ziehen zu können. Diese Denkfigur wird im Modell der strukturorientierten Diagnostik aufgenommen und in Forschungen zur Entwicklungslogik sowie zur materialen Repräsentation der gedachten Entwicklungsstufen von Lerngegenständen überführt. Hier sieht Probst den Schnittpunkt, in dem sich Einsichten über die Struktur und Didaktik von Lerngegenständen der Pädagogen mit der messtechnischen Phantasie von Psychologen zur Entwicklung qualitativer, lernprozessorientierter, auf die Struktur des Lerngegenstandes bezogener Materialien treffen müssen (vgl. Probst, 1992, S. 170, 176 f., 1994). Anders als Modelle normorientierter und lernzielorientierter Diagnostik, die die inneren Vorgänge der Aneignung eines Gegenstandes nicht zum Thema machen, können im Modell der strukturorientierten Diagnostik aus der relativen Positionsbestimmung eines Individuums im Hinblick auf den Gegenstand gegenstandsbezogene Anforderungen für ein Förderkonzept abgeleitet werden, die eine Lerntätigkeit in der ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ ermöglichen. Die relative Positionsbestimmung ist nicht mehr ein quantitativer Vergleich, sondern ein Vergleich der Handlungsmöglichkeiten des Individuums mit den qualitativen Stufen des Lerngegenstandes. Derzeit sind bereits zentrale Entwicklungsbereiche so weit bekannt und durchgearbeitet, dass strukturbezogene Materialien zur Gestaltung der diagnostischen Tätigkeit und des pädagogischen Handelns verfügbar sind. Hierzu zählen die Entwicklung von Oberbegriffen (Probst, 1981), die Entwicklung des Zahlbegriffs (Kutzer & Probst, o. J.) und neuere Arbeiten zur Entwicklung der Schriftsprache (Probst, 1996). Aufs Ganze gesehen sind die unter dem Etikett der strukturorientierten Diagnostik beschriebenen Ansätze schon jetzt praktisch äußerst hilfreiche Konzeptionen, wenn ihre Anwendung mit allen Konsequenzen für die Förderung in einem passenden Schulkonzept aufgehoben ist, z. B. in einem struktur-niveauorientierten Unterricht nach Kutzer (1982, 1999). Die Idee der strukturorientierten Diagnostik wird allerdings sofort ad absurdum geführt, wenn der Lehrer sein Wissen um das erreichte Aneignungsniveau beim Kind am Ende einer Unterrichtsphase nur in eine Note, d. h. in einer an den Leistungen anderer Kinder orientierten relativen Positionsbestimmung, umwandelt und dem Kind keine seinem Aneignungsniveau entsprechende Unterstützung gewährt, ihm keine Zeit gibt und keine Chance lässt oder lassen kann, das gewünschte und mögliche Aneignungsniveau zu erreichen.
9.3
Diagnostische Strategien
Die Qualität diagnostischen Handelns wird nicht nur bestimmt durch die Qualität und den theoretischen Hintergrund der verwendeten Methoden, sondern vor allem durch die Güte einer Strategie der Informationssammlung, der Interpretation der Information und deren Verwertung. Die strategische Frage wird neuerdings durch die allgemein betonte Notwendigkeit der Entwicklung von Förderplänen und deren Evaluation neu aufgeworfen (vgl. dazu Kapitel 13, Schuck, Lemke & Schwohl in diesem Band).
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| Teil III: Diagnostik 9.3.1 Das lineare Modell einer einfachen Hypothesenprüfung Im klassischen Überweisungsverfahren zur Sonderschule für Lernbehinderte wurde traditionell eine einfache, schulsystemkonforme diagnostische Strategie und Hypothesenprüfung verwendet. Leitend war dabei das Gutachten Kanters (1974) und die daraus abgeleitete Operationalisierung, dass eine Lernbehinderung dann angenommen werden könne, wenn die Intelligenzleistung im Bereich zwischen der negativen ersten und dritten Standardabweichung eines validen standardisierten Intelligenzmessverfahrens liege und wenn zugleich ein erhebliches Schulversagen gegeben oder zu erwarten sei (Deutscher Bildungsrat, 1973, S. 38). Auf dem Boden dieser Definition, die in viele Erlasse und Verordnungen der Bundesländer übernommen wurde, sind jahrzehntelang sonderpädagogische Gutachten nach einer einfachen, linearen diagnostischen Strategie verfasst worden. Zumeist wurde das von der meldenden Schule attestierte Schulversagen nicht einmal geprüft, sondern als gegeben hingenommen und nur noch eine Überprüfung der Intelligenz vorgenommen, um mit Bezug auf kritische Intelligenztestwerte oder -bereiche eine Entscheidung über die „Sonderschulbedürftigkeit“ zu treffen. In einer ersten Stufe der Qualitätsverbesserung sonderpädagogischer Gutachten wurde wenigstens mit dem S-L-S (Reinartz, 1974), dem Schulleistungstest für lernbehinderte Schüler, aufgrund der festgestellten Schulleistungen eine Einstufungsentscheidung innerhalb der Sonderschule vorgenommen (vgl. Schuck & Eggert, 1982). 9.3.2 Zyklische Modelle der Diagnostik Ein qualitativer Sprung wurde durch die Veröffentlichung von Kautter und Munz (1974) eingeleitet, die viele Vorschläge für komplexe Datenerhebungsstrategien (z. B. Kornmann, 1983; Kleber, 1978; Kautter, Munz, Sautter & Schoor, 1985; Schuck, zuletzt 2003) zur Folge hatte. Es sind nach heutiger Terminologie in der Regel ökosystemische Ansätze (vgl. Hildeschmidt & Sander, 1988), die das Schulversagen als multidimensional bedingt ansehen, es nicht mehr allein durch Personvariablen erklären und Bedingungen des gesamten schulischen (vor allem unterrichtlichen) und familiären Sozialisationshintergrundes in eine hypothesengenerierende und -prüfende Strategie der Diagnostik und der darauf bezogenen, nachfolgenden Förderung einbeziehen. Diagnostik wird nicht mehr als punktuelles Ereignis verstanden, sondern als mehrphasiger Prozess konzipiert. Der umfassende Vorschlag von Kautter und Munz (1974) zur Gestaltung der sonderpädagogischen Diagnostik geht auf ein entsprechendes handlungstheoretisch inspiriertes Modell Kaminskis (1970) für die klinische Psychologie zurück. Zentral ist dabei die Frage des Zusammenhangs von Diagnose und Förderung sowie der Wunsch, mit komplexen diagnostischen Strategien Prozesse des Lernens, der Entwicklung und der Förderung zu planen, anzuregen und zu begleiten, wobei umfassend alle individuellen und ökosystemischen Bedingungen zu berücksichtigen sind, die mit eben jenen Prozessen in Verbindung stehen könnten. Immanent werden in den vorliegenden Handlungsmodellen zur Diagnostik die zentralen Gesichtpunkte des TOTE-Modells von Miller, Galanter und Pribram (1973) zur Beschreibung kleinster Handlungseinheiten aufgenommen, auf das schon Kaminski (1970) zurückgegriffen hat. Es geht nach diesem Modell bei allen
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Formen der Handlungsregulation um IST-SOLL-Diskrepanzen und deren Ausgleich. Gewissermaßen in einem ersten diagnostischen Schritt wird nach diesem Modell zunächst ein IST-SOLL-Vergleich durchgeführt, sodann werden in einem zweiten Schritt Aktivitäten zur Auflösung möglicher Differenzen eingeleitet und schließlich im dritten Schritt mit einem weiteren diagnostischen Zugriff überprüft, ob die IST-SOLL-Diskrepanzen wirklich nicht mehr existieren und das System sich damit im Gleichgewicht befindet. Gewendet auf schulische Zusammenhänge wäre mit einer entsprechend inspirierten pädagogischen Strategie nach eventuellen Diskrepanzen zwischen pädagogischen Zielen, Anforderungen und Erwartungen einerseits und den Leistungen, dem Verhalten, dem Entwicklungsniveau auf der Seite der Schülerinnen und Schülern andererseits zu fragen. Dem hätten Aktivitäten zur Verringerung der eventuell gefundenen Diskrepanzen zu folgen, und schließlich müsste in einer weiteren diagnostischen Phase geprüft werden, ob die ehemals gefundenen Diskrepanzen zwischen IST- und SOLL-Zuständen nicht mehr bestehen. Konsequent konzipieren Kautter und Munz (1974, S. 329 f.) diagnostisches und damit pädagogisches Handeln als einen zweistufigen Prozess: Zunächst werden in einer diagnostischen Phase (1) Hypothesen über den gegenwärtigen Zustand und seinen Bedingungshintergrund, (2) Hypothesen über den zu erreichenden Zielzustand und (3) über die Änderungsumstände entwickelt. Die diagnostische Phase ist beendet, sobald dem Diagnostiker die Hypothesen für den Einstieg in die Planung und Durchführung der praktischen Phase ausreichen. Nach geraumer Zeit der Realisierung der praktischen Phase wird entweder lernprozessbegleitend oder punktuell unter Einsatz diagnostischer Mittel gefragt, ob die beobachteten Entwicklungen sich in Übereinstimmung mit den Eingangshypothesen befinden. Wenn das so ist, sind die Ziele der Handlungssequenz erreicht. Wenn nicht, wäre nach Kautter und Munz entweder die praktische Phase zu modifizieren oder durch eine neuerliche große Diagnostik das Hypothesengebäude über die IST- und SOLL- sowie die Änderungsumstände, d. h. über die auf diesem neuen Hintergrund notwendigen pädagogischen Maßnahmen, zu erweitern. Der Kerngedanke dieses und der vielen Folgemodelle liegt in der Auffassung, dass verantwortbare Diagnostik in eine gewissermaßen experimentelle Strategie auf kritischrationalistischem Hintergrund eingebunden ist, die systematisch Hypothesen vor allem zur notwendigen Förderung generiert und sie in einer praktischen Phase überprüft. Die kritisch-rationalistische Grundidee dieser Modelle weist den jeweiligen Diagnoseergebnissen nur einen vorläufigen, hypothetischen Charakter zu und akzeptiert Hypothesen nur so lange als wahr, wie sie im nachfolgenden Prozess der Förderung nicht falsifiziert werden konnten. Diagnostische Schlussfolgerungen müssen sich erst im pädagogischen Prozess bewähren, um vorläufig und weiterhin handlungsleitend sein zu können (vgl. Schuck, 1990, S. 109 ff.). Ein solches Denken verlangt flexible schulische Strukturen, unter denen sich diagnostische Hypothesen als falsch bzw. als erweiterungsbedürftig herausstellen können. Diese Bedingung ist im gegliederten Schulsystem eher nicht gegeben. Denn die Ergebnisse in den ersten diagnostischen Phasen führen, so lange es Sonderschulen gibt, zu einer Neubestimmung des Lernortes. Die dort verwirklichte Pädagogik führt jedoch regelhaft zu individuellen Entwicklungen im Leistungsbereich, die eine neuerliche Neubestimmung des Lernortes als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Immerhin wären auf dem Hintergrund der KMK-Empfehlungen von 1994 jene Schulstrukturen zu schaffen, die ein solches experimentelles Verfahren der Diagnose und Förderung ermöglichen könnten.
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| Teil III: Diagnostik Kautter und Munz (1974) sind wie viele Autoren ihrer Zeit einem kritisch-rationalistischen Denken verpflichtet, welches die Verifikation nicht kennt und im experimentellen Design alle Anstrengungen unternimmt, um die handlungsleitenden Hypothesen zu falsifizieren und hernach zu modifizieren. Die ‚Wahrheit‘ an sich gibt es in diesem Denken nicht, sondern nur die vorläufige Beibehaltung nicht falsifizierter Hypothesen. Oder anders gewendet: Hypothesen werden so lange nicht modifiziert, wie sie sich unter den nachfolgenden pädagogischen Aktivitäten bewähren. Zum Wahrheitskriterium wird die nach akzeptierten Regeln der sozialwissenschaftlichen Forschung ablaufende Überprüfung von Hypothesen, was an sich schon ein Fortschritt war, aber im Modell eines reflexiven Subjekts (Groeben & Scheele, 1977) eine Revision fand. Die Aktions- bzw. Handlungsforschung (vgl. Moser, 1977) hat dort einen alternativen ‚Wahrheitsbegriff‘ entwickelt, dem in pädagogischen und Therapiesituationen verstärkt Geltung verschafft werden sollte. Wenn schon ein Bild gebraucht wird, in dem sich der Mensch selbstreflexiv, eigenaktiv, autonom und in eigener Verantwortlichkeit entwickelt, so ist der ‚Proband‘ in der klassischen Terminologie in neuer Weise in den Prozess der Diagnose und Förderung als gleichberechtigter Partner einzubinden. Die Handlungsmaximen und Handlungsstrukturen der Partner sollten in diesem Modell in einem diskursiven Prozess rekonstruiert und weiter entwickelt werden. ‚Objektivität‘ im klassisch-testtheoretischen Sinne als die Grundlage für eine ‚Wahrheitsfindung‘ wird in Konzepten der Handlungsforschung abgelöst durch die ‚Wahrheit im Diskurs‘, durch die immer währende Überprüfung gemeinsamer Erkenntnisse der Partner in Förder- bzw. Therapiesituationen und der immer währenden, kooperativen Fortentwicklung von Handlungsorientierungen für die nächsten Schritte in der Verwirklichung eines pädagogischen Konzepts (vgl. Schuck 1987, S. 81 f., 1990, S. 119 f.).
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Kapitel 9: Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte | 163
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| Teil III: Diagnostik Tewes, U., Neubauer, A. & von Aster, M. (Hrsg.). (in Vorbereitung). HAWIE-III. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene – Dritte Auflage. Manual. Übersetzung und Adaption der WAIS-III von David Wechsler. Bern: Huber. Tewes, U., Rossmann, P. & Schallberger, U. (Hrsg.). (2002). HAWIK-III. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III – Dritte Auflage. Manual. Übersetzung und Adaption der WISC-III Wechsler Intelligence Scale for Children – Third Edition von David Wechsler (3. neu bearbeitete Aufl.). Bern: Huber. Waniek, D. (1999). Überlegungen zum Konzept einer lernstrukturorientierten Diagnostik und Didaktik und zu dessen Bedeutung im elementaren Mathematikunterricht. In H. Probst (Hrsg.), Mit Behinderungen muss gerechnet werden. Der Marburger Beitrag zur lernprozessorientierten Diagnostik, Beratung und Förderung (S. 70-104). Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel. Wechsler, D. (1964). Die Messung der Intelligenz Erwachsener. Textband zum Hamburg-WechslerIntelligenztest für Erwachsene [HAWIE] (3. Aufl.). Bern: Huber (Original erschienen 1939: The measurement of adult intelligence). Wilkens, K. & Schuck, K. D. (1986). Sonderschule und was dann? Zeitschrift für Heilpädagogik, 37 (5), 312-321.
10 Diagnostik vom Standpunkt des Subjekts Joachim Schwohl Bei der Identifikation von Lernschwierigkeiten und so genannten Lernstörungen finden zunehmend subjektorientierte Theorien Berücksichtigung; seien es Ansätze wie etwa der von Schlee (1998, 2000), bei dem es um die Feststellung subjektiver Theorien und deren planvolle Veränderung geht, oder der von Kautter (1998), der es zum Ziel des diagnostischen Prozesses erhebt, Zugang zu der inneren Realität des Subjekts zu finden. Im Folgenden wird sich in Abgrenzung dazu auf eine Position bezogen, die vom subjektwissenschaftlichen Verständnis der Kritischen Psychologie (Holzkamp, 1985) ausgeht und die nicht nur den Subjektstandpunkt würdigt, sondern genauso die ‚Weltseite‘ berücksichtigt (vgl. Holzkamp, 1985, S. 539) und dabei den individuellen Lebensprozess im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess rekonstruiert. Diese doppelseitige Betrachtung ist angezeigt, da das Subjekt einerseits die Welt und die Erscheinungen dieser Welt nur so erleben kann, wie sie ihm begegnen. Andererseits hat die Welt eine objektive Bedeutung: auf Grund der in ihr durch gesellschaftliche Arbeit produzierten allgemeinen Gebrauchszwecke („Verallgemeinertes-Gemachtsein-Zu“ von Gegenstandsbedeutungen (Holzkamp, 1995, S. 282)) sowie durch die sozialen Verhältnisse, die sich wiederum aus der Art und Weise der Produktion der Gebrauchszwecke ergeben (vgl. Holzkamp, 1985, S. 291 ff., 1995, S. 22). Die ontogenetische Entwicklungsaufgabe des Subjekts besteht unter dieser Perspektive darin, die gesellschaftlich gewordenen, objektiven Bedeutungen der Welt für sich durch Lernen als eine spezifische Form menschlichen Handelns zu erschließen. Im diagnostischen Prozedere zur Analyse der Lernaktivitäten eines Heranwachsenden muss deshalb zunächst eine Vorstellung davon entwickelt werden, wie Lernen als Zugang zu den sachlich-sozialen Bedeutungszusammenhängen zu verstehen ist und welche Gründe Schüler und Schülerinnen für ihr Lernen in der Schule haben. Obwohl mittlerweile im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend die Aktivitätsannahme (vgl. 9.1.2, Schuck in diesem Band) favorisiert wird und somit davon ausgegangen wird, dass Lernen ein aktiver und selbstgesteuerter Prozess des Lernenden ist, wird Lernen in der schulischen Praxis nach wie vor mit reglementiertem Lernen gleichgesetzt (vgl. Holzkamp, 1995, S. 13). In der schulischen Praxis dominiert noch immer das Verständnis, dass es im Unterrichtsprozess nur ein Subjekt gäbe, nämlich den Lehrer oder die Lehrerin. Holzkamp (1995) hat dieses Verständnis in den Begriffen „Lehrlernen“ (S. 391) bzw. „Lehrlernkurzschluss“ (S. 395) gefasst. Der Lernende wird nur als abhängige Größe, als Objekt in einem von der Lehrkraft bereitgestellten ‚Lernarrangement‘ verstanden. Dieses „Lehrlernen“ spiegelt im Prinzip die Struktur variablenpsychologischer Experimente wider. Wie der Versuchsleiter, so stellt auch die Lehrkraft Bedingungen für die Schüler und Schülerinnen her und untersucht, wie sie auf diese reagieren (vgl. Kruse, 1996, S. 53). In seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Lerntheorien weist Holzkamp (1995) nach, dass nicht die (Versuchs-) Bedingungen an sich zu bestimmten Handlungen führen, sondern, dass diese Bedingungen Begründungen implizieren, die ein bestimmtes Handeln nahe legen. So lassen sich z. B. „die Wirkungen ‚positiver‘ Verstärkung beim instrumentellen bzw. operanten Konditionieren mühelos als BGM [Begründungsmuster; Anm. d. Verf.] formulieren: Wenn jemand für eine bestimmte Handlung mehrfach eine
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Belohnung erhalten hat, dann führt er (bei Abwesenheit anderer Begründungsprämissen) vernünftigerweise diese Handlung zum Zwecke der neuerlichen Herbeiführung des belohnenden Ereignisses wieder aus“ (Holzkamp, 1991, S. 10). Daraus schlussfolgert Holzkamp (1995, S. 24): „‚Äußere‘ Ereignisse [gehen] zwar auch in Handlungsbegründungen ein, ebenso können dabei kausale Zusammenhänge berücksichtigt werden, aber nicht unter dem Aspekt ihrer direkten Ein- bzw. Auswirkungen, sondern (in der Art, wie ich sie erfahre) als ‚Prämissen‘ für die Begründungen meiner Handlungsvorsätze: Derartige Prämissen sind nicht eindeutig von außen determiniert, sondern vom Subjekt im Kontext seiner Handlungen aktiv selegiert bzw. hergestellt, mithin sowohl Voraussetzung wie Resultat des Handlungsverlaufs.“ Oder verallgemeinert: Die gesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten determinieren nicht direkt das jeweilige Handeln der Individuen, sondern diese Bedingungen enthalten für das Subjekt immer auch die Möglichkeit, sich zu diesen Bedingungen zu verhalten. „Demzufolge sind die individuellen Handlungen nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt, sondern – wie immer vermittelt – in diesen ‚begründet‘, wobei die jeweils erfahrenen Lebensbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Lebensinteressen des Individuums die wesentlichen ‚Prämissen‘ für derartige Handlungsgründe sind“ (Holzkamp, 1997a, S. 35). Menschliches Handeln und damit auch Lernen ist daher nicht mit so genannten ‚Wenn-dann-Hypothesen‘ zu konzeptionalisieren. Aus diesem Grund kann die Analyse von Lernprozessen nicht im „Bedingtheitsdiskurs“, sondern muss im „Begründungsdiskurs“ geführt werden (vgl. Holzkamp, 1995, S. 30 ff. – Hervorhebungen v. Verf.). Lernen liegt im genuinen Interesse des Menschen, weil es nicht nur dazu beiträgt, die Einschränkung der Lebensverhältnisse schrittweise zu reduzieren, sondern auch hilft, die Verfügung über die für das Subjekt jeweils relevanten Lebensbedingungen zu erweitern (vgl. Holzkamp, 1995, S. 190). Lernen findet dann statt, wenn eine Handlungsproblematik nicht mit dem Handlungsrepertoire zu bewältigen ist, welches bis dahin angeeignet wurde. Zwar gibt es vielfältige Widersprüche bzw. Problematiken, die nicht erst durch Lernen zu bewältigen sind, sondern durch unmittelbares Handeln. „Diese werden zu ‚Lernproblematiken‘ erst dann, wenn das Subjekt einerseits eine bestimmte Handlungsproblematik nicht direkt überwinden kann, aber andererseits antizipiert, dass durch das Dazwischenschieben einer Lernphase eine solche Überwindung der Handlungsproblematik möglich sein wird“ (Holzkamp, 1997b, S. 223). Das heißt, Lernen kommt nicht ‚einfach so‘ in Gang und auch nicht dadurch, dass von dritter Seite entsprechende Lernanforderungen an das Subjekt gestellt werden. Lernanforderungen werden eben nur dann zu einer Lernproblematik, wenn das Subjekt sie ‚bewusst‘ als solche übernimmt, was aber die Einsicht voraussetzt, dass es hier etwas für sich zu lernen gibt. Für die Förderdiagnostik und bei der anschließenden Benennung etwaiger Förderziele ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, den Standpunkt des bzw. der Lernenden entsprechend zu berücksichtigen. Andernfalls sind die Förderziele nichts anderes als von außen herangetragene Lernanforderungen, die nicht zwingend eine Handlungs- bzw. eine Lernproblematik für das Subjekt darstellen müssen, auf die dann mit Lernen ‚reagiert‘ wird. Hilfreich bei der Analyse des Handelns von Schülerinnen und Schülern in der Schule ist Holzkamps Untergliederung von Lernprozessen in expansives und defensives Lernen. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann aufgezeigt werden, wie Lernarrangements das Lernen behindern können. Holzkamp (1995, S. 190) spricht vom expansiven Lernen,
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wenn der Lernende den „Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluß, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität“ herstellen bzw. antizipieren kann. Die Anstrengungen und Risiken des Lernens werden in solchem Fall vom Lernenden unter der Prämisse übernommen, dass sie seine Handlungsmöglichkeiten erweitern. „Expansiv begründetes Lernen bedeutet ... nicht Lernen um ‚seiner selbst‘, sondern Lernen um der mit dem Eindringen in einen Gegenstand erreichbaren Erweiterung der Verfügung/Lebensqualität willen“ (Holzkamp, 1995, S. 191). Anders liegt der Fall beim defensiven Lernen, bei dem die Gründe des Subjekts für die Realisierung von Lernhandlungen in der Abwehr einer Einschränkung seiner „Weltverfügung/Lebensqualität“ liegen. Das Subjekt sieht sich „begründetermaßen gezwungen zu lernen, obwohl die Möglichkeit der motivationalen Lernhandlung“ für das Subjekt nicht besteht, da es nicht die Alternative hat, sich der Lernanforderung zu entziehen (Holzkamp, 1995, S. 191). Nach Holzkamp geht es beim defensiven Lernen nicht um die Bewältigung einer Lernproblematik, sondern lediglich um die Bewältigung einer Handlungsproblematik (Holzkamp, 1995, S. 191). Wenn sich aber bewusst gemacht wird, welches die eigenen Gründe des Lernens sind, und dabei realisiert wird, dass es sich um defensive Lerngründe handelt, dann eröffnet sich dem Subjekt die Alternative der Lernverweigerung oder die der Gewinnung eines umfassenderen Zugangs zum Lerngegenstand. Während sich das Subjekt beim defensiven Lernen von den von außen herangetragenen Anforderungen und der damit verbundenen Abwehr von Bedrohungspotenzialen leiten lässt, sind seine Lernaktivitäten beim expansiven Lernen durch die sachlichen Notwendigkeiten bestimmt, die sich aus dem Prozess des Eindringens in den für das Subjekt problematischen Lerngegenstand ergeben. In der Regel lernen die Schülerinnen und Schüler in der Schule nicht, weil sie die dargebotenen Lerngegenstände als relevant für die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten erachten, sondern ihnen geht es um die Situationsbewältigung mittels Lernens. „Dabei sind Ausmaß und Art des Lernens nicht primär am Lerngegenstand orientiert, sondern werden letztlich daran bemessen, wieweit sie für die Vermeidung der antizipierten Nachteile und Bedrohungen taugen“ (Holzkamp, 1997c, S. 199). Zweifellos gibt es für die Schülerinnen und Schüler in der Schule eine Menge Nützliches und Wissenswertes zu lernen. Allerdings werden ihre subjektiven Lerngründe nur unzureichend zur Kenntnis genommen, wenn nicht gar negiert. Damit werden die in der Schule gegebenen Lernmöglichkeiten in spezifischer Weise eingeschränkt. Für den Schüler erscheint es so, als ob das Lernen nicht etwas ist, was in seinem Lebensinteresse liegt und bei dem er lediglich Unterstützung benötigt, sondern etwas, zu dem er von der Schulorganisation gezwungen werden muss. „Man geht hier offenbar davon aus, daß ich aus freien Stücken – also ohne die konzentrisch ... angeordneten schulischen ‚Maßnahmen‘ (Schulpflicht, Ordnungsmaßnahmen, Aufsicht, Anwesenheits- und Aufmerksamkeitspflicht, Bewertung/Abwertung etc.) – mich dem ‚Unterricht‘ als schulischer Lernbedingung nicht aussetzen würde“ (Holzkamp, 1995, S. 446). Dies legt den Schülerinnen und Schülern letztlich nahe, ihre Lernproblematik nicht im dargebotenen Lerngegenstand zu suchen, sondern ihr eigentlicher Lerngegenstand ist: „Die Institution Schule und die Möglichkeit, in ihr zu überleben“ (Hackl, 1993, S. 46). Als Beispiele hierfür lassen sich das Täuschen bei Klassenarbeiten oder das Abschreiben von Hausaufgaben anführen. Aber ebenso Unterrichtsstörungen oder auch die Verweigerung der Mitarbeit im Unterricht lassen sich durch diesen Umstand erklären. Die in der Schule dargebotenen Lerngegenstände
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werden nicht als Potenzen gesehen, die der Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten dienen, sondern treten den Schülerinnen und Schülern als Lernzwang gegenüber. Deswegen muss es Ziel einer subjektwissenschaftlich orientierten Diagnostik sein, gemeinsam mit dem/der Betroffenen die Begründungsstrukturen für defensives Lernen herauszuarbeiten. Dies ist sogleich die Voraussetzung, um Möglichkeiten für expansives Lernen zu eröffnen. Obwohl schon Freire (1973, S. 57 ff.) die Kritik am wissenakkumulierenden Lernen/ Lehren im Vergleich der Lernenden mit einem Container, der von den Lehrkräften zu füllen ist, zugespitzt hat, legen es die schulischen Rahmenbedingungen bis heute den Lehrkräften nahe, die Vermittlung von Wissen in den Vordergrund des Unterrichts zu rücken. Unbeachtet bleibt, dass durch die Vermittlung von Wissen auch Lernwiderstände erzeugt werden können, wenn den Schülerinnen und Schülern der Sinn ihres Lernens verborgen bleibt, z. B. deshalb, weil sich die Lernanforderung subjektiv gegen ihre momentanen Interessen richtet. Solche „Lernwiderständigkeiten“ sind nach Holzkamp (1987, S. 7) „Enteigentlichung, Zurückgenommenheit, Unengagiertheit, Halbherzigkeit“ bei der Aneignung des jeweiligen Lerngegenstandes. Widerständiges Lernen wird jedoch in traditionellen Lerntheorien nicht bearbeitet und ist mit ihren Kategorien nicht abbildbar. Damit können Lernprobleme von Kindern und Jugendlichen im Denkrahmen traditioneller Lerntheorien nur ungenügend diagnostiziert werden, mit der Folge, dass die Lösung von Lernproblemen an Symptomen orientiert ist, die die eigentliche Lernproblematik nicht berühren (vgl. Holzkamp, 1987, S. 9 ff.). Für einen Schüler kann es subjektiv funktional sein, sich dem Lernen zu verweigern, selbst wenn er damit – aus Sicht des Außenbeobachters – gegen seine eigenen Interessen handelt. Dies wäre ein Fall von Selbstbehinderung (vgl. Holzkamp, 1987, S. 25). Ein Beispiel hierfür: Ein Schüler möchte sich Informationen über ein Tier aus einem Buch aneignen, legt aber das Buch auf Grund seiner Leseschwierigkeiten von vornherein beiseite. Der Schüler kann zugleich „die Erweiterung und die Zurückdrängung seiner Selbstverfügung, die Ausdehnung und Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten antizipieren. Die notwendige Widersprüchlichkeit seiner Erwartungen spiegelt sich in der Folge in einer strukturell typischen ambivalenten Motivationslage wider: Er ‚will und will zugleich nicht‘ ...“ (Hackl, 1993, S. 44; vgl. auch Holzkamp, 1987, S. 25). Vor diesem Hintergrund kann sich die pädagogische Diagnostik nicht allein mit dem Kind an sich beschäftigen. Thema muss vielmehr das Kind in der Situation und in Abhängigkeit vom Unterstützungsrahmen sein. Denn hieraus ergeben sich die Begründungen für das Handeln der Subjekte. Nur wenn es im diagnostischen Prozess gelingt, Begründungsmuster offen zu legen, die einen Schüler bisher in seinem Lernen behindert haben, kann die Diagnostik einen Beitrag zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen leisten. Es geht dabei gerade nicht darum, Lebenslagen, Haltungen, Einstellungen aus der Sicht des Subjekts als Außenbeobachter zu deuten. Auch können die oben eingeführten Kategorien nicht für die Klassifizierung von Lernverhalten als ‚defensiv‘ und ‚widerständig‘ verwendet werden. Die Kategorien dienen vielmehr der Selbstklärung, denn „Forschung vom Standpunkt des Subjekts heißt ..., dass das Subjekt Forscher seiner selbst wird, und dass es aus der je eigenen Perspektive das je eigene Handeln darauf überprüft, inwieweit es dazu dient, die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern oder es dazu beiträgt, Konflikte zu vermeiden und sich mit den gegebenen
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Verhältnissen zu arrangieren“ (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 241). Methodologisch bedeutet dies, die Trennung zwischen den forschenden Experten einerseits – also in diesem Fall den Diagnostizierenden – und den beforschten Schülerinnen und Schülern andererseits, die im traditionellen Forschungsverständnis Objekt der Diagnostik sind, aufzuheben. Damit hebt sich ein in dieser Weise begründeter Ansatz von einer bloßen Subjektorientierung ab, denn letzterer unterscheidet sich von einer Wissenschaft vom Außenstandpunkt im Wesentlichen nur dadurch, dass es zwar „nicht um die Erfassung ‚objektiver‘, direkt beobachtbarer Merkmale und Verhaltensweisen, sondern persönlicher Erfahrungsdaten geht, die allein mit Hilfe der ‚beforschten‘ Subjekte zu erheben sind“ (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24), wobei diese dann letztlich nach wie vor „bloße Objekte der Forschung“ bleiben, weil sie sowohl von der Problemstellung als auch von der Interpretation und Theoretisierung der erhobenen Daten ausgeschlossen bleiben (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24). Eine Diagnostik, die den Standpunkt des Subjekts wirklich berücksichtigt, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Begründungsdiskurs. Dieser ist zwar nur vom je eigenen Standpunkt aus zu führen, da aber die Gründe im Diskurs offen gelegt werden, ist er auch einer intersubjektiven Analyse zugänglich. „Sofern meine Handlungen für mich tatsächlich aus meinen Bedürfnissen und Lebensinteressen ‚begründet‘ sind, müssen diese Gründe prinzipiell auch ‚für Andere‘ einsehbar, also intersubjektiv ‚verständlich‘ sein“ (Holzkamp, 1985, S. 350). Falls sie dem Diagnostizierenden nicht verständlich sein sollten, bedeutet dies keinesfalls, dass die Gründe des anderen irrational sind, sondern dann sind ihm lediglich die Prämissen, aus denen sich die Verständlichkeit, Begründetheit bzw. die subjektive Funktionalität der Handlung ergibt, noch nicht ausreichend deutlich geworden. Über die Orientierung am Begründungsdiskurs hinaus kommt eine subjektwissenschaftliche Diagnostik nicht umhin, Lernstände, Teilfertigkeiten oder Kompetenzen zu untersuchen. Dabei ist jedoch die Frage zu klären, wie das Subjekt zu seinen Teilfertigkeiten steht. Hierbei ist die begriffliche Unterscheidung von thematischem und operativem Lernaspekt (Holzkamp, 1995, S. 187 ff., S. 248 ff.) hilfreich. Der thematische Lernaspekt ist an der Bezugshandlung orientiert, während sich der operative Lernaspekt auf die Ebene der individuellen Antizipation und Regulation von Lernzielen bzw. Lernhandlungen bezieht. Im diagnostischen Prozess wird in der Regel bei der Feststellung von Teilfertigkeiten lediglich auf den operativen Lernaspekt abgehoben. An einem von Kruse (2003, S. 298 ff.) dargestellten Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Kinder einer dritten Klasse sollen ein Rätsel entwickeln, indem sie einen Gegenstand beschreiben, ohne diesen beim Namen zu nennen. Der thematische Lernaspekt liegt dabei in der genauen Beschreibung eines Gegenstandes, damit die anderen erraten können, um welchen Gegenstand es sich handelt. Hierbei ist es hilfreich, wenn das Beherrschen orthographischer Normen zur besseren Lesbarkeit des produzierten Textes führt. Das Beherrschen orthographischer Normen stellt bei dieser Aufgabenstellung jedoch nur den operativen Aspekt dar. Lehrpersonen nutzen diese Aufgabenstellung häufig jedoch als Schreibanlass, um die Schreibprodukte – besonders die der rechtschreibschwachen Kinder – hinsichtlich der Verwendung von Rechtschreibstrategien zu analysieren. Somit wird der operative Lernaspekt in den Vordergrund gerückt und daraus werden Fördermaßnahmen abgeleitet. Der thematische Lernaspekt, verbunden mit den Absichten,
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Vorhaben und Intentionen des Kindes gerät damit aus dem Blick. Für das Kind bleibt es so unersichtlich, wie die abgeleiteten Fördermaßnahmen mit dem Lerngegenstand, ein Rätsel für andere zu erstellen, in Verbindung stehen. Es weiß also nicht, welche Handlungsmöglichkeiten durch das Lernen erschlossen werden können. Aufgabe einer subjektwissenschaftlichen Diagnostik muss es deshalb sein, die von den Schülern und Schülerinnen wahrgenommenen Beziehungen zwischen den operativen und thematischen Lernaspekten bzw. die Rolle zu untersuchen, die die Operationen in der Entwicklung der je individuellen Handlungsfähigkeit einnehmen. Eine subjektwissenschaftliche Diagnostik sollte der Selbstverständigung der Subjekte über eigene Interessen, Motive und Gründe dienen, um das eigene Handeln analysieren und die daraus folgenden Konsequenzen beurteilen zu können. Wie dargestellt, geht es dabei zum einen um Begründungsmuster auf Seiten der Lernenden, die die Lernprozesse im Sinne expansiven Lernens behindern. Zum anderen müssen aber auch die Diagnostizierenden ihre Interessen, Motive und Gründe analysieren. Auch Lehrende bzw. Diagnostiker sind den Bedeutungsstrukturen der Schule unterworfen, wodurch ihre Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Förderung von Heranwachsenden ebenfalls beeinträchtigt ist (vgl. Schwohl, 2000, S. 107 ff.). Dabei ergibt sich die Frage, inwieweit die Lehrpersonen oder Diagnostizierenden beispielsweise mit ihrem Verhalten die Schwierigkeiten, die sie nicht lösen können, selber mit erzeugen und welche Funktion dieses Verhalten für sie in ihrer täglichen Lebensbewältigung haben könnten. Damit wird die eigene pädagogische bzw. diagnostische Praxis zum Gegenstand der Verständigung respektive der Selbstverständigung und somit ebenfalls zu einem Forschungsgegenstand, verbunden mit der Notwendigkeit, sich mit anderen über das eigene Handeln zu verständigen und die eigenen Prämissen hinterfragen zu lassen. „In einer Wissenschaft vom Subjektstandpunkt geht es ... um Klärung der eigenen Einbezogenheit in bestehende Machtverhältnisse“ (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24 f.). Subjektwissenschaftliche Diagnostik stößt dann an ihre Grenzen, wenn sie zum Ziel hat, Fördervorschläge für Kinder zu entwickeln, die ‚ihre Problematik‘ in der Schule als nicht handlungsbestimmend erleben. Weil vom Standpunkt ihrer Lebens- und Lerninteressen häufig keinerlei subjektive Notwendigkeit besteht, in Kooperation mit den Beteiligten auf die Erweiterung der Verfügung über die für sie jeweils relevanten Lebensbedingungen hinzuwirken, erscheinen die dargestellten Prinzipien einer subjektwissenschaftlichen Diagnostik als nicht umsetzbar. Dies legitimiert dennoch nicht die Klassifizierung und Etikettierung von Kindern und deren Problemlagen, da der Diagnostizierende über mögliche Begründungen für das Handeln der betroffenen Subjekte in dieser Situation nur spekulieren kann. Nicht das Kind hat ein Problem an sich, welches etwa ontologisiert – d. h. in das Kind hineinverlagert – werden könnte, sondern vielmehr hat der Diagnostizierende als jemand, der die Lernprozesse des Kindes analysieren möchte und muss, ein Problem, insbesondere dann, wenn das diagnostische Handeln darauf ausgerichtet ist, Unterstützungstätigkeiten, das heißt Förderung, zu entwickeln. Falls das Kind sich nicht in kooperativer Weise an der Offenlegung seines Begründungsdiskurses beteiligt, dann ist der Diagnostiker darauf verwiesen, Hypothesen über mögliche Handlungsgründe zu entwickeln, sie im Unterstützungsprozess zu prüfen und den Unterstützungsprozess insgesamt darauf abzustimmen, dass Schülerinnen und Schüler die Prämissen ihrer Handlungsbegründungen verändern können.
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11 Die Kind-Umfeld-Analyse Wolfgang Lemke Im Duktus der Darstellung diagnostischer Strategien (vgl. 9.3, Schuck in diesem Band) kann die „Kind-Umfeld-Analyse“ bzw. „Kind-Umfeld-Diagnose“ (Sander, 1998) sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander (z. B. 1993, 2002) als auch in der Form, wie sie in den Empfehlungen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden immer mit KMK abgekürzt; KMK, 1994 ff.) konzipiert ist, als Ansatz gelten, dem ein zyklisches Diagnosemodell zu Grunde liegt. Nicht nur, weil die Kind-Umfeld-Analyse im Gefolge der jüngsten KMKEmpfehlungen in mehreren Bundesländern Eingang in die schulrechtlichen Verordnungen und Vorschriften zur Feststellung von Sonderpädagogischem Förderbedarf gefunden hat (Sander, 1998, S. 6), verdient sie eine separate Erörterung. Auch der Umstand, dass die Kind-Umfeld-Analyse sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der in den KMK-Empfehlungen realisierten Auffassung durchaus kritisch zu bewerten ist, muss an dieser Stelle entsprechend gewürdigt werden. Der ökosystemische Ansatz der Kind-Umfeld-Diagnose von Hildeschmidt und Sander blickt auf eine mehr als fünfzehnjährige Geschichte zurück (vgl. Hildeschmidt & Sander, 1988). Ursprung und Zielsetzung der Kind-Umfeld-Analyse liegen in der Frage nach der gemeinsamen Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in Allgemeinen Schulen begründet, also in einer Frage, die ab dem Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Sonderpädagogik verstärkt thematisiert wurde, nachdem die Gesamtschuldebatte „von der Sonderpädagogik aufgenommen worden war und die Forderung nach Nicht-Aussonderung Behinderter aus der allgemeinen Schule aufgeworfen hatte“ (Eberwein, 1996, S. 10). Entsprechend ist das Ziel der „Kind-UmfeldDiagnose [...] nicht primär die Plazierung eines Kindes in eine Schullaufbahn, sondern handlungsleitende Informationen für die adäquate Unterrichtung eines Kindes zu ermitteln – Förderdiagnostik, nicht Plazierungsdiagnostik“ (Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 6). Dieses Ziel wird auch auf den Kindergartenbereich ausgeweitet (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). Dabei soll die Kind-Umfeld-Analyse unter der beschriebenen Zielperspektive der Nichtaussonderung sowohl bei der Eingangsdiagnostik zum Einsatz kommen als auch Grundlage für die begleitende Beratung bzw. Förderplanung sein, wobei ein flexibler, den jeweiligen Erfordernissen angepasster Einsatz der ökosystemischen Beratung nötig sei (vgl. Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304 ff.). Prinzipiell sei jedoch eine Kind-Umfeld-Analyse auch in den Fällen nützlich, in denen eine integrative Förderung eines Kindes in Schule oder Kindergarten auf Grund verwaltungsrechtlicher oder ressourcenbedingter Einschränkungen (noch) nicht möglich sei, „denn auch in Förderoder Sonderschulen geht es um die unter den dort gegebenen Bedingungen bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes“ (Sander, 1998, S. 7). Das namensgebende Charakteristikum des Verfahrens liegt im Unterschied zu einer rein kindzentrierten Diagnose darin, dass auch das Lebensumfeld des Kindes, z. B. das Elternhaus, der konkrete Unterricht der jeweiligen Schule, die das Kind besucht oder künftig besuchen wird, oder seine Freizeitkontakte einbezogen würden (Carle, 1997, S. 711). Inhaltlich bedeutet eine kind- und umfeldbezogene Diagnose für Hildeschmidt
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und Sander (2002, S. 306), die „Fähigkeiten und Needs des Schülers“ – Letzteres im Sinne von Bedürfnissen (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 305) – „vor dem Hintergrund der beteiligten Systeme (Familie, Schule) zu beraten“. Die Zielperspektive der Ermöglichung gemeinsamer Unterrichtung rücke das System Schule dabei stärker in den Blickpunkt als andere Bezugssysteme (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 306). Das Kind-Umfeld-System bestehe jedoch auch über die Mikrosystem-Ebene hinaus, nämlich als Meso-, Exo- und Makrosystem, wobei die Autoren auf Bronfenbrenner (1981) rekurrieren. Auf der Grundlage der nachfolgenden Definitionen dieser Kategorien, mit denen Bronfenbrenner (1981, S. 38) die „Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinandergeschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten Struktur umschlossener Strukturen“ beschreibt, ist der Verweis von Hildeschmidt und Sander (2002, S. 309) auf die „Lebensbedingungen größerer Reichweite (z. B. in Stadtviertel, Gemeinde, Bundesland, Kulturkreis, Gesellschaft)“ zu sehen, die auch eine Rolle spielten: I. „Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 38 – Hervorhebungen v. Verf.). II. „Ein Mesosystem umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind etwa die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis)“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 41 – Hervorhebungen v. Verf.). III. „Unter einem Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selber beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42 – Hervorhebungen v. Verf.); z. B. für ein kleines Kind: „der Arbeitsplatz der Eltern, die Schulklassen älterer Geschwister oder der Bekanntenkreis der Eltern“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42). IV. „Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42 – Hervorhebungen v. Verf.). Carle (1997, S. 712 f.) weist daraufhin, dass sich der Systembegriff Bronfenbrenners deutlich von dem neuerer Systemtheorien (z. B. Maturana & Varela, 1987; von Förster, 1993) unterscheide, und verwendet in Bezug auf Bronfenbrenners Ansatz den Begriff „sozialökologisch“. Konsequenz aus der sozialökologischen Sichtweise sei zudem ein aktiver Lernbegriff, der jedes Kind als Akteur seiner Entwicklung ansehen müsse. Hildeschmidt (1998, S. 182) umreißt die der Kind-Umfeld-Analyse zu Grunde liegende Entwicklungsvorstellung im Gegensatz zu Carles Differenzierung als eine, „die das Individuum in Interaktion mit sich selbst und mit den unterschiedlichen Anforderungen der Umfelder als selbstorganisierendes System seiner Entwicklung“ ansehe, ohne jedoch die Selbstorganisationsthese genauer zu erläutern. In Sanders (1996, S. 55) Fassung des ökosystemischen Entwicklungsbegriffs wird entsprechend eher auf das sozialökologische
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Modell Bronfenbrenners abgehoben als auf die neueren Systemtheorien: Die Entwicklung jedes Kindes sei zu begreifen „als fortwährendes, komplexes Zusammenspiel zwischen Kind und den vielen Komponenten seines näheren und ferneren Umfeldes“. Das Kind werde von seinem sozialen und materialen Umfeld beeinflusst, und es beeinflusse „gleichzeitig sein Umfeld; Kind und Umfeld bilden ein zusammenhängendes, veränderliches, sich entwickelndes System“ (Sander, 1998, S. 7). Eine Kind-Umfeld-Analyse müsse demnach „möglichst alle relevanten personellen und materiellen Gegebenheiten im Umfeld eines Kindes“ erfassen, um sie auf „hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in den schulrelevanten personellen und materiellen Umfeldern“ hin zu analysieren und „erforderlichenfalls auf notwendige Umfeldveränderungen“ hinweisen (Sander, 1998, S. 7). Der mit der Kind-Umfeld-Analyse verbundene ökosystemische Behinderungsbegriff lässt sich wie folgt skizzieren: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein Mensch-Umfeld-System integriert ist. Das soziale und materiale Umfeld eines Menschen mit Schädigung oder Leistungsminderung entscheidet weitgehend darüber, wieweit dieser Mensch partizipieren kann, wieweit er sich angenommen und dazugehörig fühlt bzw. wieweit er sich als behindert erlebt“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). „Gestörte oder ungenügende Integration“ sei im ökosystemischen Begriffsverständnis „nicht eine Folge von Behinderung und auch nicht ein Aspekt von Behinderung, sondern sie ist die Behinderung selbst. Die Behinderung besteht in ungenügender Integration“ (Sander, 2002, S. 106). Folglich sei in ökosystemischer Sicht Behinderung „auch dadurch beeinflussbar, dass an den konkreten Umfeldbedingungen integrationsorientiert gearbeitet wird“ (Sander, 2002, S. 107). Das daraus resultierende diagnostische Vorgehen lässt sich mit Sander (1998, S. 14) bzw. Hildeschmidt und Sander (1993, S. 10) wie folgt zusammenfassen: I. Gegenstand der Diagnose kann nicht das Kind allein sein, sondern das konkrete Kind-Umfeld-System. II. Weil es um den Schulbesuch gehe, müssten neben den „schulrelevanten Fähigkeiten des Kindes“ auch die „kindrelevanten Gegebenheiten“ der Schule untersucht werden, deren Besuch für das Kind angestrebt werde. III. Eine reine Erfassung der schulischen Gegebenheiten sei nicht das Ziel der Diagnose. Vielmehr müssten im Einzelfall die notwendigen schulischen Veränderungen herausgearbeitet werden. IV. Die Kind-Umfeld-Analyse müsse im Team durchgeführt werden. V. Eine Wiederholung der Kind-Umfeld-Analyse in bestimmten Zeitabständen sowie bei Veränderungen des Kind-Umfeld-Systems sei zwingend. VI. Die subjektiven Sichtweisen der Beteiligten müssten in die diagnostische Urteilsbildung einbezogen werden und diese reflektieren. VII. Im Schulleistungsbereich müssten bei der Kind-Umfeld-Analyse verschiedene Maßstäbe berücksichtigt werden: neben dem klassenbezogenen und dem lehrplanbezogenen auch der individuelle Bewertungsmaßstab. Als Arbeitshilfen zur Durchführung einer Kind-Umfeld-Analyse sind im Laufe der Jahre verschiedene Fassungen eines „Leitfadens“ entstanden (vgl. z. B. Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 18 ff.; 2002, S. 310 ff.; Sander, 1998, S. 21 ff.). Während frühere Fassungen spe-
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ziell auf Integrationsanträge hin konzipiert gewesen wären, könnten neuere Fassungen sowohl bei der Integration in die Allgemeine Schule als auch bei der Aufnahme in die Förderschule verwendet werden. Sander (1998, S. 14) betont, dass diese Leitfäden jedoch keinen sukzessiv abzuarbeitenden Fragebogen darstellten, weil sonst die Gefahr einer schematischen Betrachtung bestehe, die dem Einzelfall nicht mehr gerecht werde. Mit einem spezifischem Fokus hat Hiller (2004) jüngst einen auf Lehrkräfte „zielenden [Fragenkatalog] einer ökosystemischen Förderdiagnostik“ (Hiller, 2004, S. 108) sowie einen „Entwurf zu einem Leitfaden für ein schuldiagnostisches Interview mit der Leitung einer Einzelschule“ (Hiller, 2004, S. 110 – Hervorhebungen v. Verf. entfernt) vorgelegt (vgl. Hiller, 2004, S. 108 ff.). Die Notwendigkeit für Ersteren bestehe darin, dass es auch unter den Lehrkräften „,Lernbehinderte‘ und ,Verhaltensgestörte‘ gibt“, die so manchen Schülerinnen und Schülern „zum Verhängnis werden“ (Hiller, 2004, S. 108). Letzterer sei darin begründet, dass es anders kaum auszumachen sei, wo in einzelnen Schulen und Schullandschaften einer Region welche konzeptionellen, personellen und sächlichen Ressourcen bereits tatsächlich vorhanden seien, um sowohl auf die Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler als auch auf die spezieller schulischer Risikogruppen insgesamt (z. B. von Mädchen aus Familien von Arbeitsmigranten, von Jungen und jungen Männern aus Aussiedlerfamilien, von Flüchtlings- und Asylbewerberkindern, von Grundschülern aus Milieus unterhalb der Respektabilität usw.) „mit schulischem Sachverstand“ angemessen reagieren zu können (Hiller, 2004, S. 108). Zweifelsohne geht von Hillers Überlegungen schon in Teilen der hier zitierten Passagen eine Provokation aus, wenn nun nicht mehr Schülerinnen und Schüler in den diagnostischen Fokus geraten sollen, sondern Lehrkräfte und Schulen. Aus dem Anspruch einer ökosystemischen Diagnostik geht Hillers schulkritische Blickerweiterung, die die „selbstgefälligen Ideologien (sonder-)pädagogischer Institutionen und damit auch [...] den emotionalen Habitus ihrer professionellen Protagonisten [...] entlarven“ (Hiller, 2004, S. 115) will, jedoch nur folgerichtig hervor, wenngleich damit viele der Probleme bei der Realisierung einer solchen Diagnostik wiederkehren, von denen nachfolgend noch die Rede sein wird. Die Kind-Umfeld-Analyse ist in der Vergangenheit hinsichtlich ihrer theoretischen Konzeption und ihrer Umsetzung in die Praxis kritisiert worden: Obwohl der Kind-Umfeld-Analyse ein interaktionistischer Entwicklungsbegriff zu Grunde liegt (s. o.) und sie sich damit der Aktivitätsannahme (vgl. 9.1.2, Schuck in diesem Band) als leitender Entwicklungsvorstellung subsummieren lässt, wurde in der Vergangenheit die Offenheit der Kind-Umfeld-Analyse für unterschiedliche Verursachungs- und Veränderungstheorien bemängelt (Schuck, 1990, S. 114; Ahrbeck, 1993, S. 171). Verdeutlichen lässt sich dies an der punktuellen Undifferenziertheit in den Ausführungen von Hildeschmidt und Sander: Neben dem als fortschrittlich zu bewertenden diagnostischen Blick auf das Umfeld des Kindes steht auch das Kind weiterhin im Fokus, wobei die diagnostische Befassung mit den „ ‚objektivierbaren‘ Fähigkeiten bzw. Defizite[n] einer Person“ (Hildeschmidt, 1998, S. 187; vgl. auch Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 5) einer eher traditionellen diagnostischen Herangehensweise Anknüpfungspunkte bietet. Ganz im Sinne dieser Kritik bleibt auch Sanders (1998, S. 7) Auffassung, die Kind-Umfeld-Analyse stelle nicht das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen isoliert in den Mittelpunkt, sondern erweiterte den Blick auf das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen im ‚System‘,
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dem unspezifischen Bedingtheitsdiskurs sensu Holzkamp (1991, S. 6) partiell verhaftet (vgl. auch Wember, 1992, S. 262). Sanders Terminologie eignet sich weder dazu, nach dem von Schwohl (vgl. Kap. 10 in diesem Band) auf Grundlage der Kritischen Psychologie skizzierten Zusammenhang zwischen äußeren Bedingungen und Handlungsbegründungen des Subjekts zu fragen, noch, um „den Kern der mehrperspektivischen Diagnose“ (Hildeschmidt, 1998, S. 190) vollends zur Geltung zu bringen: die „Sichtweise der Betroffenen“ (Hildeschmidt, 1998, S. 190), die nicht zuletzt auch für den ökosystemischen Behinderungsbegriff konstitutiv ist. Wie gezeigt (s. o.) speist sich dieser u. a. aus dem subjektiven Erleben von Angenommensein bzw. aus dem subjektiven Erleben von Behindertsein (vgl. Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). Diesbezüglich bleibt festzuhalten, dass ein solcher Behinderungsbegriff eigentlich keiner weiteren Legitimation im Rekurs auf die Begriffe „Schädigung“ oder/und „Leistungsminderung“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304) bedarf, jedenfalls dann nicht, wenn pädagogische Förderung so definiert wird, wie durch Schuck (2001, S. 63 f.; vgl. auch 9.1.1, Schuck in diesem Band) geschehen: Alle heranwachsenden Menschen bedürften einer pädagogischen, institutionell übergreifenden Förderung bzw. Anregung und Begleitung ihrer Entwicklung. In den „subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen des zum Entscheidungsprozess anstehenden Kind-Umfeld-Systems“ (Hildeschmidt, 1998, S. 182) können – schon allein auf Grund der Einbettung in institutionelle Zusammenhänge – Schädigungen oder/und Leistungsminderungen natürlich eine Rolle spielen, aber für das Zustandekommen einer Situation, in der eine pädagogische Entscheidung ansteht, sind sie keinesfalls konstitutiv. Nicht zuletzt hat Sander (1996, S. 61) selbst darauf hingewiesen, dass „Dekategorisierung“ und „Deklassifikation von Kindern“ eine wichtige Voraussetzung ökosystemisch orientierter Pädagogik sei. Zudem sei die Kind-Umfeld-Analyse eben nicht auf das „im engeren Sinne sonderpädagogische Arbeitsfeld“ beschränkt, sondern könne in „fast allen pädagogischen Problemfeldern sinnvolle Anwendung“ finden (Sander, 1998, S. 17). Die KMK-Empfehlungen (1994 ff.), in denen auf die „Kind-Umfeld-Analyse“ Bezug genommen wird, können als prominentes Beispiel angesehen werden, wie sich die kritisierten Unzulänglichkeiten des ökosystemischen Ansatzes reproduzieren: Die von der KMK (1994, S. 2) präferierte „eher personenbezogene, individualisierende und nicht mehr vorrangig institutionenbezogene Sichtweise sonderpädagogischer Förderung“ kann zwar mit Sander (1996, S. 59) als „Öffnung für ökosystemisch orientiertes Denken“ angesehen werden, „denn eine personenbezogene, individualisierende Sichtweise führt fast notwendig zur Analyse des konkreten Kind-Umfeld-Systems“ (Sander, 1996, S. 59). Folgerichtig kann der Empfehlungstext unter ökosystemischer Fragestellung daraufhin untersucht werden, ob und inwieweit darin auf die notwendige Veränderbarkeit der schulischen Gegebenheiten abgehoben wird, wie es Sander (1996) tut. Jedoch: Gerade unter der Prämisse, dass aus der ökosystemischen Sicht ein interaktionistischer Entwicklungsbegriff folgt und damit auch ein Lernbegriff, der sich entsprechend der Aktivitätsannahme subsummieren lässt (s. o.), sind die Begrifflichkeiten der KMK zu kritisieren, die Sander (1996, S. 60) hingegen lediglich lapidar als die „herkömmlichen personenbezogenen ‚psychologischen‘ Diagnosebereiche“ bezeichnet. Die Analyse der theoretischen Bezugspunkte der KMK-Empfehlungen durch Lemke und Schuck (2002) zeigt nämlich, dass die KMK in den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen“ (KMK, 1999) sowohl auf endogenistische Reifungsvorstellungen und Fähigkeitskonzepte als auch mit
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erheblichen Verkürzungen auf interaktionistische Entwicklungsvorstellungen abhebt (vgl. KMK, 1999, S. 2). In diesem Gemenge divergenter theoretischer Versatzstücke kristallisiert sich letzen Endes ein passiver Lernbegriff heraus: Lernen mit allen Sinnen (Lemke & Schuck, 2002, S. 92 ff.). Zudem bietet die Propagierung von „elementaren Bereiche[n] der Entwicklung wie Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Motivation, sprachliche Kommunikation, Interaktion, Emotionalität und Kreativität“, deren „Voraussetzungen und Perspektiven [...] in eine Kind-Umfeld-Analyse einzubeziehen“ seien (KMK, 1994, S. 6), Anknüpfungspunkte für gängige Fassungen des Teilleistungskonzepts. Schulminderleistungen werden hier erklärend entweder auf schwache psychische Grundfunktionen zurückgeführt oder darüber hinaus im Sinne eines ätiologisch-explanativen Konstruktes als Symptom einer Hirnfunktionsstörung begriffen (vgl. Wember, 1997, S. 391). Vor dem Hintergrund der das Teilleistungskonzept kennzeichnenden statischen Entwicklungsvorstellungen sowie des passiven und mechanistischen Lernbegriffs (Zwack-Stier & Börner, 1998, S. 225; vgl. auch Naggl, 1994, S. 7) scheint das vielfach von der KMK (1998a, S. 4, 11 f.; 1998b, S. 11 f.; 1999, S. 12; 2000, S. 17) als Wahrnehmungsförderung propagierte Lernen mit allen Sinnen folgerichtig aus dem Teilleistungskonzept hergeleitet, was auch für seine Konzeptualisierung im Rahmen des Informationsverarbeitungsansatzes gelte (vgl. Lemke & Schuck, 2002, S. 94 f.). Weil die damit eingenommene Orientierung der KMK an hierarchischen Entwicklungsmodellen mit „kausal-interpretativen Argumentationsfiguren“ auf eine Kontinuität einer am medizinischen Modell ausgerichteten Betrachtungsweise kindlicher Lern- und Entwicklungsprobleme schließen lasse (Lemke & Schuck, 2002, S. 90 f.) – und damit auf eine längst überwunden geglaubte Sichtweise (vgl. auch Rödler, 1999; Schlee, 1993, S. 235) –, bezeichnen Lemke und Schuck (2002) diese diagnostische Gegenstandsbestimmung in Anlehnung an Kornmann (1995) als „Defizitorientierung“. Als zweiten, divergenten Pol der theoretischen Bezugspunkte der KMK-Empfehlungen arbeiten die Autoren eine „Entwicklungsorientierung“ als konzeptionelle Grundlage diagnostischen Handelns heraus. Diese könne jedoch nur mit dem theoretischen Bezugspunkt der Aktivitätsannahme und dem ihr inhärenten Subjektbezug ein „pädagogisches Förderkonzept“ (z. B. KMK, 1998a, S. 5) überhaupt nach sich ziehen bzw. im Bildungsbegriff verankert werden (vgl. Lemke & Schuck, 2003, S. 549 f.) und auf diese Weise das von der KMK (1994, S. 5) gesteckte Ziel der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern gegenstandsadäquat realisieren helfen. Der von Lemke und Schuck (2002) aufgezeigte „Widerspruch zwischen Entwicklungs- und Defizitorientierung“ konterkariert diese eigentliche Programmatik der KMK-Empfehlungen (1994 ff.) und spiegelt nicht nur ein wissenschaftstheoretisches Defizit der KMK. Vielmehr sei dies einem mangelnden Problembewusstsein weiter Teile der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis geschuldet (Lemke & Schuck, 2002, S. 95 f.; vgl. auch Kornmann, 1995), von dem auch die Kind-Umfeld-Analyse sensu Hildeschmidt und Sander nicht freizusprechen ist, wie hier anhand verschiedener Veröffentlichungen der Autoren gezeigt wurde. Im Rahmen ihrer mehrperspektivischen Betrachtung gehen die Autoren eben auch ausgesprochen ‚herkömmlich‘ und nicht nur ökosystemisch vor: Rekonstruiert werden sollen auch hier „einzelne Entwicklungsbereiche und nächste Entwicklungsaufgaben“, u. a. „motorische Entwicklung“ und „Wahrnehmungsdifferenzierung“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 311). So droht auch in diesem Ansatz letzten Endes die „Pathologisierung kindlicher Subjektivität“ (Lemke & Schuck, 2002, S. 98)
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durch den für das Teilleistungskonzept konstitutiven Modus der „operative[n] Verkürzung des Begreifens menschlicher (Lern-) Handlungen“ (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 249). Eine ökosystemischen Sichtweise müsste sich genau dagegen verwehren, denn schon Bronfenbrenner (1981, S. 268) hat ausdrücklich dafür plädiert, das Defizitmodell zu verwerfen. Auch im Hinblick auf die Ebene der praktischen Umsetzung der Kind-Umfeld-Analyse sind Verbesserungen anzumahnen: Sander (1998, S. 17) beklagt ein Missverhältnis zwischen der Effektivität von Kind-Umfeld-Analysen am Beginn der Schullaufbahn in Bezug auf grundlegende Entscheidungen für die Förderung eines Kindes und dem vielfachen Fehlen „detaillierter Empfehlungen für die schulische Förderung in den einzelnen Entwicklungsbereichen und Unterrichtsfächern“. Die notwendige Differenzierung bzw. Ergänzung des Verfahrens durch andere „diagnostische Methoden“ (Sander, 1998, S. 17) kann allerdings nur durch die Auswahl geeigneter diagnostischer Methoden gelingen (vgl. auch Hofmann, 2000, S. 115). Vergleichbares gilt bezüglich des Sachverstandes des diagnostischen Teams, der die Qualität einer Kind-Umfeld-Analyse maßgeblich bestimme (Sander, 1998, S. 16). Die „höhere Gültigkeit“, die Sander (1998, S. 12) Teamdiagnosen aus Förderausschüssen gegenüber Diagnosen von einer einzelnen Person „in der Regel“ beimisst, wird sich danach keineswegs automatisch durch die Beteiligung mehrer Personen einstellen (Lemke & Schuck, 2002, S. 96). Des Weiteren ist anzumerken, dass sich der wünschenswerte Einbezug der Schülerinnen und Schüler in offiziellen Diagnose-Gremien noch nicht durchgesetzt habe (Hildeschmidt, 1998, S. 190; vgl. auch Sander, 1998, S. 16). Carle (1997, S. 725) vermutet einerseits unter Verweis auf Holzkamps (1995) Analysen, dass ein Grund dafür in der „traditionell mangelnden Subjektorientierung“ praktizierter sonderpädagogischer Diagnostik und Pädagogik liegen könne (vgl. dazu auch Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Denkbar sei andererseits auch die Vermeidungsabsicht von Überforderung des (behinderten) Kindes bei weit reichenden Diskussionen im Diagnoseteam über schulische Fördermöglichkeiten. Diese könnten sich ergeben, „weil Erwachsene sich nicht in der Lage sehen, ihren Diskussionsprozess in eine für das Kind nachvollziehbare Sprache zu übersetzen“ (Carle, 1997, S. 725). Da jedoch für eine wirksame Förderung diese Transformation ebenfalls gelingen müsse, schlägt Carle vor, die Konzeption der Kind-UmfeldAnalyse nur auf einer sehr allgemeinen Ebene zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs einzusetzen, „um deren Ausgestaltung bewußt für die Beteiligung des Kindes in seinem alltäglichen Lebensfeld offenzulassen“ (Carle, 1997, S. 725). Ob die Beratungen im Förderausschuss nun mit oder ohne Beteiligung des Kindes stattfindet: Die Teamarbeit dürfe keinesfalls „von einer Hierarchie des Expertentums“ bestimmt werden, sondern müsse von partnerschaftlicher, kooperativer Haltung getragen werden (Sander, 1998, S. 16). Nicht nur die subjektwissenschaftliche Herangehensweise der Kritischen Psychologie (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) vermag schulsystemimmanente Grenzen aufzuzeigen, die genau diesem Prozess entgegenstehen. Auch Sander (1994, S. 67) verweist mit Blick auf die gegenwärtige Verfasstheit des Bildungssystems darauf, dass Schulversagen politisch keineswegs ungewollt sei. „Wer den Leistungswettbewerb will, der will auch die Leistungsversager. Schulversagen ist deshalb die notwendige Kehrseite unseres leistungsorientierten Schulwesens“ (Sander, 1994, S. 67). Die Problematik des Schulversagens sei aus ökosystemischer Sicht nur durch die Ände-
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rung der „auf der Makroebene definierten Strukturen der Schule“ zu lösen, d. h. durch die Individualisierung der Lehrplanziele, die Akzeptanz interindividueller Unterschiede und die Intendierung von Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Der individuelle Schulerfolg eines jeden Kindes müsse öffentliche Aufgabe sein (Sander, 1994, S. 71). Dieser Forderung ist – aktueller denn je – vollends zuzustimmen.
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12 Gegenstandstheoretische Konzepte als diagnostische Basis Gabi Ricken und Annemarie Fritz Anhand ausgewählter Beispiele soll im Folgenden dargestellt werden, dass diagnostisches Arbeiten außer der Kenntnis methodologischer und methodischer Prinzipien Theorien über pädagogisch relevante Konzepte erfordert. Jede diagnostische Strategie muss in einer Theorie der Entstehung von Entwicklungsproblemen verankert sein; dies wurde zwar immer wieder angemahnt, geschieht jedoch keineswegs durchgängig.
12.1 „Bedingungslisten“ Erklärungsansätze für allgemeine Lernbeeinträchtigungen (Schröder, 2000) und für Probleme in der Schriftsprachaneignung (Valtin, 2003) und im Rechnen (Fritz, Ricken & Schlottke, i. D.) nehmen verschiedene Faktoren als Ursachen und Bedingungen an. Diese wurden in einer Reihe von Leitfäden zusammengetragen und stehen als Checklisten zur Verfügung (z. B. Sander, 1998; Heuer, 2003; Kretschmann & Arnold, 1999). Unterschiede bestehen im Umfang und der Differenziertheit der Berücksichtigung schulischer, familiärer oder individueller Merkmale und ihrer erkennbaren theoretischen Verankerung. Kretschmann (2003) z. B. publizierte einen Leitfaden für die Erfassung der Bedingungen von Rechenschwächen, in dem soziale und individuelle Bedingungen als unterstützende oder gefährdende bewertet werden. Des Weiteren unterscheidet er jeweils spezifisch und unspezifisch wirkende Faktoren. Zu den gefährdenden Bedingungen gehören z. B. unzweckmäßige Aneignungsstrategien der Kinder, während die materielle Sicherheit der Familie und die mathematische Vorbildung der Eltern zu den mittelbar unterstützend wirkenden Bedingungen des Umfeldes gezählt werden. Einige Bewertungen der Bedingungen erscheinen intuitiv gut nachvollziehbar, während andere als mehrdeutig interpretiert werden können. So wirken „wissende Eltern“ nicht immer unterstützend. Dennoch sind Leitfäden dieser Art als Beobachtungs- und Reflexionshilfen für die Analyse von Lernschwierigkeiten in Lern- und Lebenssituationen brauchbar. Diagnostische Daten lassen sich mit ihrer Hilfe systematisieren und zusammenfassen. Zwei Probleme der Leitfäden müssen jedoch bei ihrer Verwendung berücksichtigt werden: Erstens bauen sie auf Ergebnissen korrelativer Studien aus bedingungsanalytischer Perspektive auf und legen Kausalitäten nahe, die im Einzelfall gerade so nicht charakteristisch für den vom Subjekt verantworteten Entwicklungsprozess sind. Zweitens handelt es sich ausschließlich um additive Listen, in denen Bedingungen aufgeführt werden, deren Bedeutung für Schulleistungen entweder auf Alltagserfahrungen oder einzelnen empirischen Daten oder theoretischen Ableitungen basiert. Zum Teil entstehen so umfangreiche Listen, die den Eindruck einer allumfassenden, gründlichen Datenbasis erzeugen. Kretschmann (2003, S. 181) weist darauf hin, dass „Typologien transaktionaler Beziehungen von personalen und Umfeldvariablen“ fehlen. Entsprechend fehlen Gewichtungen der einzelnen Bedingungen im Kontext der jeweils anderen, so dass diese ungenügende Forschungslage der
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Beliebigkeit in der Auswahl und Bewertung individueller Entwicklungsdaten Vorschub leistet. Eine Begründung der Datenerhebungsplanung ist für die Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit des diagnostischen Prozesses deshalb unerlässlich und erfordert die Beantwortung der Frage, welche und wie viele Bedingungen und welche Bedingungsgefüge im Einzelfall zu beachten und wie diese im Hinblick auf die Fragestellung zu untersuchen und zu bewerten sind.
12.2 Schulleistungen als komplexer Gegenstand Für Schulleistungsschwierigkeiten existieren keine allseits befriedigenden Theorien. Zunächst muss deshalb auf Ansätze empirischer Bildungsstudien zur Entwicklung von Schulleistungen insgesamt zurückgegriffen werden. In den aktuellen Studien (SCHOLASTIK [Weinert & Helmke, 1997] oder auch MARKUS [Helmke & Jäger, 2002]) werden folgende Bedingungen untersucht: 1. vielfältigste schulische Bedingungen wie Unterrichtsquantität, Klassenzusammensetzung, Unterrichtsqualität, Lehrermerkmale, Lehr- und Lernmaterial; 2. familiäre Bedingungen wie Bildungsnähe und Erwartungen der Eltern, Schulabschlüsse der Eltern, Buchbestand sowie 3. individuelle Bedingungen wie Freizeitverhalten, Motivation, Intelligenz, Konzentration, Arbeitsweisen u. a. All diese Bedingungen sind in großen Stichproben korrelativ mit schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbunden. So korrelieren die Mathematikleistungen bei Achtklässlern jeweils mit leistungsbezogenem Selbstvertrauen, Lernmotivation, Selbständigkeit, Belastbarkeit und Lernmanagement ebenso wie die einzelnen Kriterien paarweise untereinander (Helmke, Hosenfeld & Schrader, 2002). Andere, zunächst auch plausible Variablen wie die „Zeit für die Hausaufgaben“ stehen in keinem Zusammenhang mit den Leistungen in Mathematik. Vergleichbar zu diesem Beispiel findet man unterschiedliche Ergebnisse zur Bedeutung der einzelnen Faktoren. Dies ist mit dem unterschiedlichen Alter der Kinder oder der Differenziertheit der benutzen Parameter zu begründen. In jedem Fall ist aber davon auszugehen, dass Korrelationen nur die gemeinsame Variation zweier Merkmale beschreiben, d. h. einzelne Bedingungen für sich gesehen stehen mit dem Lernergebnis im Zusammenhang, ohne zu wissen, in welcher Weise dritte Bedingungen den jeweils untersuchten Zusammenhang nur scheinbar hervorgebracht haben. Somit ist z. B. der Schluss, die „Zeit für Hausaufgaben“ aufgrund fehlender Korrelationen nicht zu erheben, als vorschnell zu bewerten, solange nicht die komplexen Bedingungsgefüge bekannt und verstanden sind, zu denen die Variable „Zeit für Hausaufgaben“ gehört. Selbst Pfadanalysen, mit denen aus Korrelationen vieler Variablen Bedingungshierarchien dargestellt werden können, verbleiben in ihrem Aussagewert eben auf einer korrelativen Ebene. Ergebnisse müssen auch für diese komplexen Betrachtungen stichprobenspezifisch und je nach Beachtung unterschiedlicher Bedingungen unterschiedlich ausfallen. Während beispielsweise van Aken, Helmke und Schneider (1997) für Leistungen in Mathematik nachweisen, dass erworbene Leistungen das fachspezifische
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Selbstkonzept in der folgenden Klassenstufe vorhersagen (von 2. zu 3. Klasse und von 3. zu 4. Klasse), dagegen das Selbstkonzept mit späterer Leistungen nicht korreliert, nehmen Rauer und Schuck (2003) aufgrund ihrer Ergebnisse zur emotional-sozialen Selbsteinschätzung von Schülerinnen und Schülern erster bis vierter Grundschulklassen an, dass gerade die Erfassung des Selbstkonzepts wesentlich sei, um individuelle Entwicklungsbedingungen und -ergebnisse aus der Perspektive der Schüler in Erfahrung zu bringen und Entwicklungen verstehen zu können. Damit ist die Frage nicht zu beantworten, ob das Selbstkonzept im Rahmen von Schulleistungsanalysen zu erfassen ist oder nicht. Diese kann erst anhand von Interventionsstudien erfolgen. Wie sehen Schulleistungsstudien bei Kindern mit Schul- und Leistungsschwierigkeiten aus? Empirische Aussagen zu Lernschwierigkeiten basieren hier vorerst auf kleinen Stichproben und beziehen sich in der Regel auf einzelne Faktoren. So werden kognitive und metakognitive (z. B. Lauth, 2000; Fritz & Funke, 2003), soziale Bedingungen (Benkmann, 2003) oder auch Kombinationen beider Bereiche (Kurth & Streibhardt, 1998) bei lernschwächeren Kindern beschrieben. Werden leistungsstarke und -schwache Kinder hinsichtlich der Faktoren, die als entwicklungshemmend gelten, miteinander verglichen, zeigt sich für lernschwache Kinder eine größere Belastung durch eine Kumulation von individuellen und sozial ungünstigen Bedingungen. Je mehr ungünstige Faktoren für ein Kind gefunden werden, um so mehr muss mit gravierenden Lernbeeinträchtigungen gerechnet werden. Welche konkreten Bedingungen zu betrachten sind, kann jedoch immer nur vorläufig bestimmt werden. Beispielsweise galt bei der Untersuchung von Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb noch vor einigen Jahren die visuelle Wahrnehmung als eine wichtige Komponente. Aktuelle Befunde sprechen dagegen für Störungen der sprachlich-phonologischen Verarbeitung oder des Arbeitsgedächtnisses (Walter, 2000; Hasselhorn, Tiffin-Richards, Woerner, Banaschewski & Rothenberger, 2000). Die Erfassung sozialer Bedingungen der Kinder scheint auf den ersten Blick klarer zu sein. Soziale Bedingungen und Schulleistungen korrelieren in heterogenen Schülergruppen durchweg signifikant. Leistungsschwächste Kinder stammen eher aus untersten sozialen Schichten (u. a. Probst, 1973; Benkmann, 2003). Werden jedoch Schüler eines Bildungsganges analysiert, finden sich kaum mehr bedeutsame Korrelationen (Helmke et al. 2002). Das ist ein vorhersagbares empirisches Ergebnis im Kontext deutscher Auslesetechnologie, die im Ergebnis die Kinder nach ihrem familiären Hintergrund in Schulformen homogenisiert. Damit können Zusammenhänge zwischen Leistungen und sozialer Lage innerhalb der homogenisierten Gruppen durch die Varianzeinschränkung der sozialen Lage der Kinder korrelationstechnisch nicht dargestellt werden. Keinesfalls ist dieser Befund so zu interpretieren, dass die familiären Bedingungen bedeutungslos für die Schulleistungen seien. Anhand differenzierter Untersuchungen lässt sich zeigen, dass Häufungen vieler ungünstiger Bedingungen in den frühen Lebensphasen das Risiko ungünstiger Leistungsentwicklung erhöhen. Dennoch ist das Ausmaß der Folgen sozialstrukturell deprivierter Lebenssituationen schwer vorherzusagen, da die Handlungskompetenzen der Betroffenen oder auch die Qualität der Interaktionen als abfedernde Bedingung wirken (Benkmann, 2003). Die Schwierigkeit der Bestimmung einer Wirkungsrichtung von Bedingungen trifft in gleicher Weise für Ressourcen zu, die mutmaßlich für die weitere Entwicklung genutzt werden können. Risiko- und Resilienzfaktoren existieren nicht an sich. Sie wirken auf
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der Basis der bisherigen Entwicklung und der individuellen und sozialen Lebensbedingungen des Kindes (Vulnerabilität und Resilienz) zusammen. Scheithauer, Niebank und Petermann (2000) verweisen auf Befunde der Risiko- und Resilienzforschung für die Entwicklung von Kindern. Aussagen zu Risikofaktoren sind Wahrscheinlichkeitsaussagen und keinesfalls kausal zu interpretieren. Anzunehmen sind Vernetzungen und hierarchische Strukturen von Entwicklungsfaktoren, die jedoch derzeit weitgehend unbekannt sind (Reichert, 2003). Vermutlich existieren derartige Strukturen nicht an sich, sondern werden durch verschiedene andere Bedingungen wie betrachtete Zeitpunkte modifiziert. So wirkt z. B. das Engagement der Eltern für Hausaufgaben bei schwachen Leistungen der Kinder unterstützend, bei starken Leistungen störend (Helmke et al., 2002). Für jedes diagnostische Vorgehen folgt daraus, dass Annahmen über das Zusammenwirken von Bedingungen, vor allem über die Wirkrichtung der Bedingungen (gefährdend oder unterstützend) ausgesprochen sorgfältig entwickelt werden müssen. Weinert und Stefanek (1997) halten gerade aufgrund der Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie weitere mikrogenetische Studien für erforderlich, um die Entstehung von Schulleistungen aufklären zu können. „Aus den einschlägigen Metaanalysen [...] könnte man den Eindruck gewinnen, daß vieles für die Schulleistung irgendwie bedeutsam ist, daß aber gleichzeitig auch alles irgendwie unwichtig erscheint. [...] Vermutlich sind es eben nicht molekulare Elemente (wie z. B. induktive Lehrstrategien für leistungsschwache Schüler), sondern molare Konstellationen (z. B. effektive, aber durchaus variable Nutzung der Lernzeit für akademische Ziele) des Unterrichts, die sich auf das Verhalten, das Lernen und die Leistungen verschiedener Schüler in unterschiedlicher Weise auswirken“ (S. 425). Diese Zurückhaltung in der Verknüpfung von Lernbedingungen sollte unseres Erachtens auch für die Beschreibung von Lernschwierigkeiten gelten. Vereinfachende Kausalitätsannahmen sind falsch, anstelle derer müssen individuelle Rekonstruktionen der Bedingungen vorgenommen werden (Jantzen, 2003). Komplexe systemische Modelle, die die Basis für eine fundierte Kind-Umfeld-Analyse bilden können, sind zurzeit nur hypothetisch zu beschreiben und stehen vor einer notwendigen Bewährung in der pädagogischen Arbeit. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche theoretischen Annahmen für Konstrukte existieren, die auf der Seite des Kindes zur Entstehung der Schulleistungen beizutragen scheinen. Dabei wird aufgezeigt, dass mit der Wahl der Konzepte zugleich die Erkenntnismöglichkeiten bestimmt werden.
12.3 Intelligenz und Schulleistungen Ungeachtet der seit den 70er Jahren in der Sonderpädagogik heftig und kontrovers geführten Diskussion zur Berechtigung der Intelligenzdiagnostik im Rahmen der Schulleistungsdiagnostik hat diese ihren zentralen Stellenwert bis heute bewahrt. In unterschiedlichen Pfadanalysen zur Determination von Schulleistungen erwies sich der Faktor Intelligenz, operationalisiert mit Intelligenztests, tatsächlich stets als hochbedeutsam. Er gilt als einer der besten Prädiktoren zur Vorhersage schulischer Leistungsfähigkeit im Grundschulalter (z. B. Helmke, 1997), und zwar ungeachtet dessen, dass verschiedene Tests unterschiedliche Fähigkeiten abbilden, die wiederum in unterschiedlich engem Zusammenhang zu
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Schulleistungen stehen (Schuck & Eggert, 1982). Die quantitative Ausprägung der Intelligenz hängt dabei ihrerseits ab von sozioökonomischen und familiären Umfeldbedingungen, wie der Schichtzugehörigkeit, dem Bildungsstand und den Bildungsansprüchen sowie dem Leistungsdruck und dem Sanktionsverhalten der Eltern. Diese korrelativen Befunde gelten für beide Ausprägungen der Intelligenzskala: Während hochbegabte Kinder eher aus Oberschicht-Elternhäusern mit hohen Bildungsansprüchen stammen (Rost, 2000), finden sich Kinder mit geringem Leistungsvermögen vermehrt in sozioökonomisch schwachen Familien (Probst, 1973). Damit sind individuelle Entwicklungen intelligenter Fähigkeiten keinesfalls festgelegt. Studien zur kognitiven Förderung haben gezeigt, dass systematisch organisierte Lernbedingungen sowohl zur Steigerung der Intelligenz der Kinder als auch deren Schulleistungen führen (Klauer, 1997). Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die differenzierte Betrachtung kognitiver Strukturen und Prozesse zur Planung gezielter Fördermaßnahmen bedeutungsvoll. 12.3.1 Klassische Intelligenzmodelle: Erfassung kognitiver Strukturen und Teilleistungen Um „zurückgebliebene“ Kinder zu erkennen und für sie eine besondere Förderung zu erreichen, entwickelte Binet (Binet & Simon, 1907) den ersten Intelligenztest und führte damit die psychometrische Diagnostik in die Schulleistungsdiagnostik ein. Die Messung der Intelligenz sollte dabei nach Binet und Simon standardisierten schulischen Aufgaben zur Erfassung der schulischen Kenntnisse nachgeordnet werden, denen sie Priorität in Zusammenhang mit Schullaufbahnentscheidungen zumaßen. Binet und Simon verstanden Intelligenz als ganzheitliche homogene Fähigkeit. Ihr eindimensionaler Test hatte das Ziel, das Intelligenzalter des Kindes zu erfassen. Auf der Basis von Lösungshäufigkeiten wurden so genannte alterstypische Aufgaben bestimmt. Durch den Vergleich der gelösten Aufgaben mit den Aufgaben der Altersgruppe konnte dann das Intelligenzalter des Kindes festgestellt werden. Nachfolgende Intelligenztestkonzeptionen gehen entweder ebenfalls von einer EinFaktor-Konzeption aus und definieren Intelligenz als ganzheitliche, homogene Fähigkeit, nämlich der „allgemeinen Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ (Stern, 1912). Andere Autoren betrachten Intelligenz als das Zusammenwirken mehrerer, voneinander unabhängiger Faktoren: „Intelligenz ist die Fähigkeit des Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, numerischen oder raum-zeitlichen Beziehungen zu denken [...]“ (Groffmann, 1983, S. 53). Die unterschiedlichen Modellvorstellungen fanden ihren Niederschlag in entsprechenden Testkonstruktionen: Die Definition von Intelligenz als globaler Fähigkeit erfordert Messverfahren, in deren Zentrum Anforderungen zum schlussfolgernden Denken stehen, die auf einer eindimensionalen Skala abgebildet sind. Ein Beispiel sind die Progressiven Matrizen von Raven (1938), bei denen ein Muster korrekt zu ergänzen ist. Nach Rost (2000) gelten Tests zur Erfassung der generellen Intelligenz (g-Faktor) als die „besten singulären Prädiktoren für den überhaupt aufklärbaren [...] Varianzanteil vielfältiger Leistungskriterien in unserer Gesellschaft [...]“ (S. 24). Sie liefern allerdings
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nur einen Wert für die Leistungsfähigkeit insgesamt, aber keine Aussagen über die Zusammensetzung der kognitiven Funktionen. Mehr über das „kognitive Funktionieren“ zu erfahren, ist Ziel derjenigen Modelle, in denen Intelligenz als zusammengesetzt aus einer Vielfalt unabhängiger Einzelfaktoren betrachtet wird. Die größte Bedeutung in der Erfassung einer zusammengesetzten, allgemeinen geistigen Leistungsfähigkeit hat das Konzept von Wechsler (1964) erlangt (vgl. auch 9.2.1, Schuck in diesem Band). Grundlage des HAWIK-III (Tewes, Rossmann & Schallberger, 2002) z. B. sind elf Skalen, deren Zusammenstellung unter dem Aspekt erfolgte, eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher geistiger Fähigkeiten im Sinne von Teilleistungen und Teilfertigkeiten des Gesamtkonstrukts zu erfassen. Der Anspruch derartiger Testbatterien besteht darin, mittels einer Profilanalyse eine differenzierte Beschreibung der Leistungsfähigkeit der einzelnen Person zu erhalten. Im Falle der Wechsler-Tests gilt dies zunächst für die beiden Testteile – Verbal- und Handlungsteil –, die sich in Faktorenanalysen in Zweifaktorenlösungen immer wieder bestätigen ließen. Darüber hinaus haben weitere Faktorenanalysen vier (je nach Altersgruppe drei bis fünf) deutlich abgrenzbare Faktoren ergeben: sprachliches Verständnis, Wahrnehmungsorganisation, Unablenkbarkeit und Arbeitsgeschwindigkeit, ohne dass deren Bedeutung für die Vorbereitung und Begleitung von Förderung in einem Forschungskontext geklärt worden wäre. Die Aufgaben des HAWIK-III erfassen einerseits kulturabhängiges Wissen (z. B. Allgemeines Wissen, Allgemeines Verständnis, Rechnerisches Denken), andererseits aber auch kognitive Funktionen und Teilleistungen (Mosaik-Test, Figurenlegen, Zahlennachsprechen). Diese unterschiedlichen Testanforderungen werden auf der Basis der Faktorenlösungen zu Skalen zusammengefasst. Lässt sich jedoch die Beziehung zwischen den Subtests genau genug benennen? Welche gemeinsamen kognitiven Prozesse laufen beim Lösen so verschiedener Anforderungen ab? Die Bedeutung derartiger Subtest- und Profildaten ist trotz durchaus plausibler und klassischer Interpretationsgewohnheiten allenfalls für die Leistungshöhe pro Faktor, nicht aber für die Prozessmerkmale intelligenter Leistungen geklärt. 12.3.2 Analyse der Intelligenz unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung Die K-ABC (Kaufman-Assessment Battery for Children) (Kaufman & Kaufman, 1983; Melchers & Preuß, 1994) gehört zu den Ansätzen, mit denen zugrunde liegende Prozesse der Informationsverarbeitung operationalisiert sind. Kaufman und Kaufman (1983) nehmen an, dass Aufgaben eher sequentiell oder simultan bearbeitet werden. Sie entwickelten eine Testbatterie „zur Messung dieser zwei Arten mentaler Funktionen“, mit einer „Skala einzelheitlichen Denkens“, die Aufgaben enthält, die durch folgerichtiges oder serielles Denken gelöst werden müssen (z. B. Zahlen nachsprechen, Wiederholen einer Folge von Handbewegungen oder Wörtern). Die zweite „Skala ganzheitlichen Denkens“ enthält Aufgaben, die räumlich-gestalthaft vorgegeben sind und durch gleichzeitige Bearbeitung und Integration der Reize oder durch Analogieschlüsse verarbeitet werden (z. B. räumlich angeordnete Reize erinnern, eine unvollständig gemalte Zeichnung erkennen,
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ein abstraktes Muster mit einer Anzahl gleicher Dreiecke nachlegen). Daneben prüft die „Fertigkeitenskala“ Faktenwissen und Fertigkeiten, die durch schulischen Unterricht und „durch Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt erworben werden“ (Melchers & Preuß, 1994). In einer Vielzahl kognitionspsychologischer, neuropsychologischer und faktorenanalytischer Studien fanden Kaufman und Kaufman (1983) ihre Annahme einer grundlegenden Dichotomie der Verarbeitung bestätigt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Bewältigung komplexer kognitiver Anforderungen letztlich die Integration einzelheitlichen und ganzheitlichen Denkens erfordert, so dass die Testbatterie Aufgaben enthält, die lediglich vorrangig den einen oder anderen Verarbeitungsstil verlangen. Signifikante Diskrepanzen zwischen den Werten der Skalen des einzelheitlichen und des ganzheitlichen Denkens deuten allgemein auf die Überlegenheit eines Informationsverarbeitungsstils gegenüber dem anderen hin. Damit werden Stärken und Schwächen im kognitiven Stil der Verarbeitung erfasst, jedoch keine Erkenntnisse über den Prozess im Sinne des Zustandekommens der einzelnen Leistungen gewonnen. Auch kann letztlich nicht bestimmt werden, was diese Stärken und Schwächen im Einzelnen bedeuten, da z. B. auch entwicklungstheoretische Konzepte zur Entwicklung der Dichotomie fehlen. Es können folglich keine Aussagen darüber gemacht werden, welche Stufen der Entwicklung das Kind erreicht hat oder welche Bedeutung diese Prozesse für den Fertigkeitenerwerb haben. Kaufman und Kaufman (1983) ihrerseits schlagen eine Differenzierung der Profilinterpretationen vor, indem Untertests hinsichtlich gemeinsamer Merkmale zusammengefasst werden (z. B. Verständnis der Beziehung Teil/Ganzes; schlussfolgerndes Denken). Diesen hypothesengeleiteten Prozess, in dem es um die Gemeinsamkeiten zwischen Leistungen in den Untertests geht, bezeichnen Kaufman und Kaufman (S. 175) als flexible und einsichtsvolle „Detektivarbeit“, in der die 15 Untertests „nach verschiedensten Möglichkeiten kombiniert, neu geordnet und neu kombiniert werden müssen, ohne zu berücksichtigen, welcher Skala sie im einzelnen zugeordnet sind“. Im Ergebnis dieser Aufgabengruppierung entsteht ein individuelles Muster von Stärken und Schwächen. So plausibel diese Zusammenfassung auch sein mag, sie wurde empirisch nicht nachgewiesen und enthält eher Aussagen über gemeinsame Merkmale der Aufgaben als über Prozesse, die bei der Lösung der Aufgaben ablaufen. Somit erhält man auch mit diesem Test nur quantitative Daten, auf deren Grundlage auf die Informationsverarbeitungsstile geschlossen und empfohlen wird, für die Förderung von dem besser entwickelten Stil auszugehen. In dem Modell der zentralen Verarbeitungstheorie von Luria (1966), auf das sich Kaufman und Kaufman (1983) beziehen, wird neben den zwei Verarbeitungsprozessen eine dritte, übergeordnete Komponente der Planung und Entscheidung konzipiert. Möglicherweise sind es gerade diese – metakognitiven – Prozesse der Planung und Steuerung des Handelns, die einen höheren Erklärungswert haben. 12.3.3 Analyse metakognitiver Fähigkeiten Naglieri und Das (1990), die gestützt auf die zentrale Verarbeitungstheorie von Luria (1966) Intelligenz und Planungsleistungen untersuchten, fanden einen bedeutsamen
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Zusammenhang zwischen Planungsleistungen und den Gesamtleistungen der Kinder in der Schule, der über die Schuljahre hinweg (2. bis 10. Schuljahr) immer enger wurde. Sternberg (1985) schließt in seinem Modell der triarchischen Intelligenz derartige metakognitive Fähigkeiten mit ein. Die Informationsverarbeitung umfasst in diesem Modell drei Arten kognitiver Komponenten: Meta-, Performanz- und Wissenserwerbskomponenten. Metakomponenten sind exekutive Prozesse der Planung, Steuerung und Kontrolle von Handlungen. Die Performanzkomponenten sind den Metakomponenten untergeordnet und führen die Pläne und Strategien aus (vgl. auch Kap. 16, Schröder in diesem Band). Sie beinhalten Basisoperationen wie Kodieren und Dekodieren von Reizen, Kombinieren und Vergleichen, Verknüpfen neuer Informationen mit altem Wissen, Regelerkennen und Regelfinden (induktives Denken) und entsprechen den kognitiven Prozessen, die in „klassischen Theorien“ im Zentrum stehen. Aufgabe der Wissenserwerbskomponenten ist es, die für die Problemlösung relevanten Informationen auszuwählen, neue Informationen und vorhandenes Wissen miteinander zu vergleichen und zusammenzufügen sowie die neuen Erkenntnisse in das vorhandene Wissen zu integrieren. Eine Umsetzung dieses Modells zu einem Intelligenztest ist – möglicherweise gerade wegen seines umfassenden Anspruchs – nicht erfolgt. Sowohl Wissenserwerbs- als auch Metakomponenten haben bisher keine Aufnahme in Intelligenztests gefunden. Dies, obwohl ein enger Zusammenhang zwischen metakognitiven Prozessen der Planung und Steuerung von Handlungen und schulischen Lernleistungen zu bestehen scheint. Für einen Teilbereich metakognitiver Fähigkeiten – die Planungsfähigkeit – wurde von Fritz und Hussy (2000) ein Verfahren publiziert, aus dem sich Aussagen zu Planungsprozessen ableiten lassen, die in Prozessen der Planrealisierung zusammenspielen. Als Aufgabe wurde im Zoo-Spiel ein handelnd zu bewältigendes Organisationsproblem verwendet: Sechs Tiere, die sich in unterschiedlichen Gehegen befinden, sollen auf dem kürzesten Weg zur gemeinsamen Futterstelle gebracht werden. Zwei Tiere haben auf dem Wagen Platz, nicht jedes Tier kann mit jedem fahren. Vor Antritt der Fahrt ist zu planen, wie die Tiere zu kombinieren sind. Über drei Klassenstufen (1.-3. Klasse) hinweg ergab sich für die Stichprobe (n = 1092) ein deutlicher Anstieg: Das effizientere Planungsverhalten zeigte sich besonders darin, dass zwei Dimensionen gleichzeitig beachtet werden können (Transport- und Umwegregel). Da sich entwicklungspsychologische Untersuchungen zur Entwicklung von Prozessen der Planung, Steuerung und Kontrolle von Handlungen bisher eher auf die Erfassung von Überwachungsprozessen (monitoring) beschränken, stehen hier noch weitere Untersuchungen zu den Komponenten der Planung und Kontrolle aus. Für die Gruppe der Kinder mit Lernschwierigkeiten ist dies besonders bedeutsam, da ihre Probleme, ihr Handeln zu planen und zu steuern, vielfach als zentral für ihre Problematik beschrieben wurden (Campione, Brown & Ferrara, 1982; Wong, 1987; Schröder, 2000). 12.3.4 Erfassung von Strukturen und Prozessen als Zugang zur Intelligenz Die Betrachtung hat gezeigt, dass auf der Basis klassischer Intelligenztests letztlich wenig über Strukturen und Prozesse kognitiver Leistungen ausgesagt werden kann.
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Nur wenige Ansätze haben in diesem Sinne experimentelle Befunde zu diagnostisch nutzbaren Verfahren umgesetzt. Ein Ansatz, mit dem die hinter den Quantitäten von Leistungen stehenden Entwicklungsprozesse deutlich gemacht werden können, ist die von Schuck (vgl. 9.2.3 in diesem Band) skizzierte strukturorientierte Diagnostik von Probst (1982). Bei der Analyse von Oberbegriffsbildungen wird nach den Merkmalen gesucht, die Kinder verwenden, um Klassen von Objekten zu bilden. In Anlehnung an z. B. Olver und Hornsby (1971) geht Probst (1981, S. 36) davon aus, dass die Begriffsbildung im individuellen Entwicklungsverlauf auf unterschiedlichen Niveaus erfolgt. Zu unterscheiden sind: I. egozentrische Kategorisierung: Entscheidend für die Klassifikation ist die subjektive Beziehung zum Gegenstand; II. perzeptive Kategorisierung: Klassifikation erfolgt aufgrund des äußeren Aussehens; III. funktionale Kategorisierung: Klassifikation erfolgt aufgrund des Verwendungszwecks; IV. nominale kategoriale oder formale Kategorisierung: Klassifikation erfolgt anhand kategorialer Oberbegriffe. Für die Klassifikationsaufgabe werden Objekte zusammengestellt, die nach den verschiedenen Merkmalen zu einem vorgegebenen passen (Was passt zu Apfelsine? Stecker [egozentrisch], Ball [perzeptiv] oder Scheibe Brot [funktional]?) (Probst, 1981, S. 37). Anhand einer Serie solcher Aufgaben wird analysiert, ob Kinder Objekte einer Merkmalsart bevorzugen. Gibt es solche Häufungen über alle Aufgaben, wird auf das Begriffsbildungsniveau des Kindes geschlossen. Einerseits ist diese systematische Analyse nachvollziehbar. Andererseits ist die Interpretation von Begriffsbildungsniveaus nicht immer eindeutig. Die Phasen sind nicht stringent bestimmten Altersgruppen zuzuordnen, Kinder verwenden gleichzeitig verschiedene Klassifikationsprinzipien. Aktuelle Befunde lassen darauf schließen, dass bei höheren geistigen Leistungen ein Wechseln zwischen verschiedenen Repräsentationsformen und eben hier den Begriffsbildungsniveaus möglich ist (van der Meer, 1998). Werden in der strukturorientierten Diagnostik Prozesse auf der Basis der Systematik der Lösungsvarianten interpretiert, so werden in der Lerntestkonzeption von Guthke (vgl. auch Guthke, Wolschke, Willmes & Huber, 2002) Prozessanalysen durch die Variation von Prozessbedingungen möglich. Je nach Lösungsverhalten des Kindes werden während der Bearbeitung von Aufgaben standardisierte Hilfen (beginnend mit der Wiederholung von Aufgaben, Hinweise auf Fehler, Demonstrationen) gegeben. Aus dem Vergleich von Prä- und Posttestwerten wird geschlossen, ob die definierten Unterstützungen den Lösungsprozess leistungssteigernd beeinflusst haben. Mit diesem Vorgehen kann der Wissenserwerb in einzelnen Schulfächern insbesondere bei leistungsschwächeren Kindern besser vorhergesagt werden als über die Intelligenzhöhe (Guthke et al., 2002; Klauer, 2003). Dass in diesem Sinne Analysen für einige gut beschriebene Prozesse wie das Analoge Schließen möglich sind, haben Schaarschmidt, Ricken, Kieschke und Preuß (2004) mit dem kürzlich publizierten Verfahren BIVA gezeigt.
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12.4 Vorwissen und Wissen Neben der Intelligenz kommt damit dem Wissen (Vorwissen) eine bedeutende Rolle für das schulische Lernen zu: Was der Lernende bereits weiß, wird immer bedeutsamer für den weiteren Lernerfolg (Helmke, 1997). Betrachtet man den Verlauf schulischer Erwerbsprozesse, dann zeigt sich z. B., dass der Zusammenhang zwischen der Intelligenzleistung und der Mathematikleistung abnimmt, wohingegen der Einfluss der Vorkenntnisse auf die schulische Leistung stärker wird (Stern, 1997). Vorwissen wird damit zu einem ausgezeichneten Prädiktor für späteren Schulerfolg. Entscheidend für die Anwendbarkeit und effektive Nutzung des domänenspezifischen Wissens ist die Strukturiertheit und Vernetzung des Wissens. Bei Anforderungen wie dem Lösen von Textaufgaben, die mathematische Kenntnisse und eine Verarbeitung der im Text gegebenen Situation erfordern (vgl. Weinert & Stefanek, 1997), spielt die Intelligenz wiederum eine größere Rolle (Stern, 1997). Dass auch Vorwissen theoriebezogen mittels Prozess- und Voraussetzungsanalysen untersucht werden kann, soll im Folgenden aufgezeigt werden. 12.4.1 Erfassung mathematischer Kompetenzen Bemühungen, den Fertigkeitserwerb des Rechnens entwicklungspsychologisch zu betrachten, haben sich bislang als problematisch erwiesen. Für die Entwicklung des Rechnens liegen keine allgemein akzeptierten Entwicklungsmodelle vor. Welche fertigkeitsspezifischen Voraussetzungen für das Rechnenlernen von Bedeutung sind, ist insgesamt bekannt, nicht aber, wie sich die Verknüpfung dieser „Teilleistungen“ untereinander vollzieht und welche Bedeutung ihnen jeweils zukommt (vgl. jeweils 25.1, Werner; 25.2, Scherer; 25.3, Gerster; 25.5 Häsel-Weide in diesem Band). Welchen spezifischen Teilleistungen (Invarianz, Teil-Ganzes-Relationen usw.) dabei die Bedeutung eines frühen Indikators für die Schwierigkeiten im Erwerbsprozess zukommt, ist bisher nicht geklärt. Fraglich ist auch, inwieweit über die fertigkeitsspezifischen Inhalte hinaus kognitive Teilleistungen (Wahrnehmung, sprachliche Leistungen) zu berücksichtigen sind (Dornheim & Lorenz, i. Vorb.). Auf diesem Stand der Theorieentwicklung (vgl. auch Fritz, Ricken & Schmidt, 2003) ist eine Diagnostik in zweierlei Weise möglich: erstens durch Verfahren, die auf Lehrplänen basieren, und zweitens durch Verfahren, die fertigkeitsspezifische, entwicklungsrelevante Aufgaben enthalten. 12.4.1.1 Curriculumorientierte Verfahren Curriculumorientierte Verfahren werden auf der Basis der Lehrpläne der verschiedenen Bundesländer zusammengestellt. Durch den Vergleich der Leistungen in den Untertests können Stärken und Schwächen eines Kindes in Bezug zu den Aufgabentypen, d. h. bezogen auf curriculare Anforderungen, quantitativ ausgewiesen werden. Eine qualitative Analyse der spezifischen Leistungen ist jedoch in der Regel nicht möglich, da die
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Aufgaben nach testtheoretischen und nicht nach gegenstandsbezogenen Kennwerten ausgewählt wurden (vgl. Ricken, 2003). Mit dem DEMAT 1+ (Krajewski, Küspert & Schneider, 2002) wurde ein Verfahren vorgelegt, mit dem der Stand des Kindes in diesem Sinne bezüglich der Anforderungen der ersten Klassen zu bestimmen ist. Geprüft werden die Aufgabentypen: Addition, Subtraktion, Zerlegen in Mengen, Ungleichungen lösen, Sachaufgaben, Zahlraumkenntnis und Mengen verändern/vergleichen. Obwohl vorgeschlagen, ist von einer Profilauswertung abzuraten, da auf der Basis von 3-4 Items pro Untertest geringe Reliabilitäten (.38 bis .84) erreicht werden. Somit reduziert sich das Ergebnis auf einen Gesamtwert, der den Abstand zum Lernziel der Klassenstufe ausdrückt. 12.4.1.2 Entwicklungsorientierte Verfahren Für die zweite Gruppe der Verfahren, die auf Annahmen über den Fertigkeitenerwerb aufbauen, kann noch einmal unterschieden werden, ob eher Prozessverläufe oder Voraussetzungen untersucht werden. Während es bei der Voraussetzungsanalyse um Teilfertigkeiten geht, die im Zusammenhang mit weiteren Entwicklungsschritten stehen, sind bei den Prozessanalysen Fragen danach von Interesse, auf welcher Ebene Prozesse ablaufen und ob Vorgehensweisen rekonstruierbar sind. Beide Prinzipien, die nur bedingt trennbar sind, sollen an Beispielen vorgestellt werden (Ricken, 2003). Prozessanalysen Die Prozessdiagnostik mathematischer Kompetenzen von Behring, Kretschmann und Dobrindt (1999) nutzt beide Prinzipien. Außerdem werden Lehrplanbezüge hergestellt, indem eine Zuordnung der Anforderungen zu Etappen (Schuljahresabschnitte: Halbjahre Klasse 1 und 2) erfolgt. So sollten Schüler am Ende des ersten Halbjahres von Klasse 1 u. a. Zahlenlesen, das Zusammensetzen von Mengen und additives Ergänzen beherrschen. Diese Zuordnung erscheint weitestgehend plausibel, ist jedoch nicht anhand von Daten belegt. Bei der Interpretation ist in jedem Fall zu bedenken, dass eine Kompatibilität zum Unterricht, den das betreffende Kind erlebt hat, gegeben sein muss. Neben einer Beschreibung der Leistungen eines Kindes mit diesem Lehrplanbezug liegt das Besondere dieses Ansatzes darin, dass die qualitative Kompetenzveränderung sowohl in der jeweils aktuellen Auseinandersetzung mit den Aufgaben als auch im Schuljahresverlauf im Mittelpunkt steht. Prozessbeschreibungen erhält man mit dem Ansatz von Behring et al. (1999), indem das Kind beim Lösen der Aufgaben beobachtet wird und indem Aufgaben systematisch variiert werden. Diagnostiziert werden das aufgabenbezogene Lösungsverhalten und die Wirkung der Variation der Aufgabenbedingungen auf die Lösungsprozesse. Die Grundlage für dieses Vorgehen sind Annahmen von z. B. Bruner (1966) oder den Autoren der kulturhistorischen Schule über Stufenfolgen in der kognitiven Entwicklung. Grundlage der Entwicklung ist die praktisch-gegenständliche Handlung, die allmählich „verinnerlicht“ wird. Dabei werden folgende Stufen durchlaufen: I. Ebene des konkreten Handelns mit gegenständlichem Material. II. Ebene der bild- oder modellhaften Veranschaulichung. Objekte liegen lediglich in
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einer von den Objekten abstrahierten Form vor (Bild, Skizze, Modell), die gegenüber der ursprünglichen Form Symbolfunktion hat. III. Ebene der Verkürzung und Abstraktion der Rechenhandlung, auf der mit Ziffern umgegangen wird. Im Stufenmodell der kulturhistorischen Schule folgt auf die Ebene der materialisierten Handlung die Übertragung auf die Ebene der Sprachhandlung, die durch eine allmähliche Verkürzung zur reinen Denkhandlung wird. Auch dieser Aspekt ist für das Rechnenlernen bedeutsam, das darauf abzielt, Rechenprozesse ohne jede äußere Hilfe auch „im Kopf“ vollziehen zu können. Mit der Übertragung der Rechentätigkeit auf zunehmend abstraktere Handlungsebenen wird der eigentliche Rechenprozess verkürzt und automatisiert, wodurch Verarbeitungskapazität für den Umgang mit komplexeren Anforderungen frei wird. Behring et al. (1999) variieren Aufgaben auf der bildlichen und symbolischen Ebene. Für den Mengenvergleich z. B. werden zunächst gleiche Bildmengen ausgewählt, die nach Form, Größe und Art der Objekte immer unähnlicher werden, bis zu Aufgaben auf der Ziffernebene. Über die Aufgabentypen hinweg lässt sich dann vergleichen, ob das Kind Aufgaben eines Präsentationsniveaus lösen kann und auf welchem dies nicht möglich ist. Diese Systematik, die auch in anderen Testverfahren umgesetzt wurde (vgl. Wagner & Born, 1994; Moog & Schulz, 1999), ist jedoch nicht unproblematisch. Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Stufen als streng aufeinander aufbauende zu verstehen sind, die nacheinander ausgebildet werden. „It is not that these are stages in any sense“ (Bruner, 1966, 28), vielmehr sind stets mehrere Repräsentationsformen an menschlichen Handlungen beteiligt: kein Denken ohne beteiligtes oder vorgestelltes Handeln; kein Bildverstehen ohne Symbolbeteiligung; kein konkretes Handeln ohne orientierende Vorstellungen und Zeichen. Daher ist es zu einfach, anzunehmen, dass die Variation der Präsentationsebenen für alle Kinder in gleicher Weise die Aufgabenschwierigkeit erhöht oder senkt. Dazu kommt, dass auch Materialien und Veranschaulichungen der Interpretation bedürfen und sich nicht unmittelbar „von selbst“ erschließen. Die Variation der Aufgaben ist ein Versuch, das individuelle Lösungsverhalten zu den Aufgabenmerkmalen in Beziehung zu setzen und daraus Hypothesen über das Repräsentationsniveau, auf dem Operationen erfolgen können, zu bestimmen. Gezielte Zusammenstellungen von Aufgaben eines Anforderungstyps nach der Komplexität, nach der Instruktion, nach sprachlichen Bedingungen oder nach Situationsmodellen und der Vergleich der Lösungen ergänzen Prozessanalysen (Fritz, Ricken, & Schlottke, i. D.). Erforderlich sind jeweils Aufgabenmengen, die alle relevanten Merkmale des Anforderungstyps repräsentieren (bei Behring et al., 1999, sind es die dem Lehrplan zugeordneten Gruppen). Es kann geprüft werden, ob Kinder die Aufgabengruppen unterschiedlich bewältigen (vgl. Wagner & Born, 1994). So können zählende Strategien dann angenommen werden, wenn Aufgaben mit kleinerem Summanden vorn (4+13) langsamer und fehlerhafter gelöst werden als Aufgaben mit großem Summanden vorn (13+4). Im Sinne von Strategieanalysen können Kinder gebeten werden, Lösungswege vor und nach der Lösung zu erklären, zu begründen und zu bewerten. Ihr Wissen über bestimmte Rechenstrategien wie Rechenvorteile oder Ableitungsstrategien (Tausch-,
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Umkehr-, Nachbaraufgaben, dekadische Analogien, Aufgabenfamilien) kann im Dialog „sichtbar“ gemacht werden (Gerster & Schultz, 2000). Allerdings müssen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um diese Einsichten angemessen darzustellen. Hypothesen über Prozesse und Strategien lassen sich ebenso über die Analyse der Fehllösungen entwickeln, wenn dies in Bezug auf Aufgabenmerkmale erfolgt (vgl. z. B. Wagner & Born, 1994; 25.3, Gerster in diesem Band). Radatz (1980) klassifiziert Fehler nach Informationsverarbeitungsaspekten: I. Mangelndes Sprach- und Textverständnis; II. Übertragung von Strategien vorangegangener Aufgaben auf neue Aufgaben; III. Festhalten an spezifischen Repräsentationen, so dass Verallgemeinerungen erschwert werden; IV. Schwierigkeiten bei der Analyse von Veranschaulichungen; V. Nichtberücksichtigen relevanter Bedingungen der mathematischen Aufgabe bzw. des Problems; VI. Verlieren von Zwischenschritten im Lösungsprozess. Damit gewinnen Fehler einen ‚diagnostischen Wert‘, der in schulischen Kontexten oft übersehen wird. Erfassen von Teilfertigkeiten und Voraussetzungen Prozessanalysen können auch erfolgen, indem nach Korrelationen zwischen Teilfertigkeiten und der Gesamtleistung gesucht wird. Je nach theoretischer Ausrichtung werden unspezifische und spezifische Teilfertigkeiten unterschieden. Zur ersten Gruppe gehören z. B. ineffektive Arbeitsweisen, eine geringe Merkfähigkeit, Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsverarbeitung, der räumlichen Orientierung, des Körperschemas oder der Bewältigung visuo-motorischer Anforderungen (Lorenz, 1992; Schrodi, 1999). Störungen dieser Art gelten als unspezifisch (von Aster, 2003), da sie in vergleichbarer Weise für Kinder beschrieben werden, deren schriftsprachliche Entwicklung problematisch verläuft. In der Tradition der Zahlbegriffsentwicklung wurden demgegenüber fertigkeitsspezifische Teilleistungen analysiert, die sich beim Übergang vom pränumerischen zum numerischen Bereich entwickeln. Dazu zählen u. a. die Klassifikation, Einsichten in Invarianzen, Seriation, Zahlwortkenntnis, Vergleichen von Mächtigkeiten (Probst & Waniek, 2003). Von Interesse ist dabei, ob Teilleistungen in Beziehung zu einander stehen. Solche Voraussetzungsstrukturen wurden im bereits dargestellten Ansatz der struktur- und niveauorientierten Diagnostik (Strukturbezogene Aufgaben zur Prüfung Mathematischer Einsichten, 1. Teil) von Kutzer und Probst (o. J.) für einen Teil relevanter Fertigkeiten nachgewiesen. Die Lernvoraussetzungen des Einzelnen werden zur Struktur des Lerngegenstandes in Beziehung gesetzt. Für 8- bis 12-jährige Lernbehinderte ließ sich eine hierarchische Struktur der Anforderungen mit sechs Niveaustufen feststellen: Die unterste und gleichzeitig leichteste Ebene (I) besteht aus pränumerischen Anforderungen: Benennen von Eigenschaften, Verknüpfung von Eigenschaften, Stück-für StückZuordnungen von Mengen, Vergleiche hinsichtlich ‚gleich‘, ‚mehr‘ oder ‚weniger‘. Die darauf aufbauende Ebene (II) enthält: Zahleninvarianz (Anordnung und Repräsentanz) und Klassifikation. Diese Ebene ist Voraussetzung für das Lösen von Seriationsaufgaben
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und Zahloperationen im Bereich bis 6 und bis 9 (Ebene III). Wenn dies gelingt, können Kinder im erweiterten Zahlenraum bis 18 operieren (Ebene IV). Auf den Ebenen V und VI gelingt dann die Erklärung von Zahloperationen zunächst bis 9 und dann im Zahlenbereich bis 18. Mit dieser Struktur kann abgeleitet werden, auf welchem Niveau das Kind zurzeit steht, welche Niveaus bewältigt sind und welche Ebene als nächste erreichbar ist. Insofern liegt mit diesem hierarchischen System ein sehr komplexes diagnostisches Hilfsmittel vor. Jedoch stehen weitere Validierungsdaten aus und mit Klauer (2003) ist zu fragen, ob solche Strukturen tatsächlich generalisierbar sind. 12.4.2 Erfassen schriftsprachlicher Kompetenzen Für die Diagnostik des Schriftspracherwerbs kann auf fundierte Annahmen über den Entwicklungsverlauf, d. h. über Voraussetzungen und Teilfertigkeiten, zugegriffen werden (vgl. auch 24.1, Walter; 24.2, Tacke; 24.3, Walter; 24.4, Scheerer-Neumann, in diesem Band). Deshalb sollen Skizzen dieser Ansätze dargestellt werden, während auf curriculumorientierte Verfahren verzichtet wird. Die Analyse der schriftsprachlichen Entwicklung bzw. deren Defizite hat zur Unterscheidung sprachunspezifischer und sprachspezifischer Teilfertigkeiten geführt (Walter, 2000). Weitgehend akzeptiert ist, die schriftsprachliche Entwicklung als Prozess aktiver Konstruktion aufzufassen, der sich auf mehr oder weniger gut abgrenzbaren Stadien oder Stufen vollzieht. An den Entwicklungsprozessen sind neben den Fertigkeiten und Voraussetzungen beim Kind familiäre und schulische Bedingungen beteiligt. Nachgewiesen sind Korrelationen zwischen der schriftsprachlichen Kompetenz und z. B. den Bildungsabschlüssen der Eltern, deren Unterstützung und Interesse am schulischen Lernen, dem emotionalen Klima in den Familien und insbesondere der familiären Literalität wie gemeinsames Lesen, Einstellung zu Büchern und Lesegewohnheiten (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, i.D.). Zu den gesicherten schulischen Bedingungen gehören u. a. die didaktisch-methodischen Kompetenzen der Lehrer und vor allem die Anwendung der analytisch-synthetischen Methode (Valtin, 2003). Beim Erwerb der Schriftsprache wird von den Einflüssen „stützender Fähigkeiten“ ausgegangen, die mit den bereichsspezifischen Einflüssen zusammenwirken. Dazu gehören neben Motivation, Konzentration und Selbstkonzept auch Lern- und Arbeitsstrategien (z. B. Valtin, 2003). Jedoch zeigen sich eher niedrige Korrelationen, wenn diese Konstrukte im generalisierten Sinn geprüft werden. Folglich müssen diese Faktoren spezifisch in konkreten Handlungszusammenhängen betrachtet werden. So korrelieren fähigkeitsspezifische Selbstkonzeptwerte nahezu ähnlich hoch wie Intelligenz und Vorwissen mit den entsprechenden Schulleistungen (Helmke, 1997). Lernmotivation zielt auf Lernzuwachs in ganz konkreten Lernaktivitäten (Rheinberg & Fries, 1998). Damit sind Motivationsprozesse (Zielbildungen, Attributionen und Selbstbewertungen) an konkrete Lese- und Schreibanforderungen und deren Bewältigung gebunden. Ebenso wenig erklärt die Merkfähigkeit an sich Erfolg und Misserfolg. Vielmehr ist von Bedeutung, wie spezifisches Wissen über Graphem-Phonem-Verbindungen, die Verbindung zwischen „Schriftwort“ und „Sprechwort“ (Landerl, Wimmer & Moser, 1997) gespeichert ist. Marx (2000, S. 196) geht davon aus, dass die spezifischen Repräsentationen im Gedächtnis
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dann entstehen können, wenn durch „eine aufmerksamkeitskontrollierte Verarbeitung der orthografischen Besonderheiten von Wortmaterialien [...] die schriftsprachspezifischen Abfolgen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen“ entdeckt werden. Aktuelle Studien (Hasselhorn, Tiffin-Richards, Woerner, Banaschewski & Rothenberger, 2000) zeigen Zusammenhänge zwischen dem Arbeitsgedächtnis und dem Schriftspracherwerb, insbesondere dem Rekodieren (Buchstaben werden Lauten zugeordnet). Während für die Erfassung von Arbeitsgedächtniskomponenten gegenwärtig ein diagnostisches Verfahren erarbeitet wird (Hasselhorn et al., 2003), liegen für die anderen „stützenden“ Fähigkeiten keine diagnostischen Instrumente vor, sieht man vom Interviewleitfaden von Kretschmann, Dobrindt und Behring (1998) ab, mit dem einige der motivationalen Aspekte des Schreibens und Lesens von den Kindern erfragt werden. Diese unterschiedlichen Faktoren in einzelnen Schriftspracherwerbsprozessen im Zusammenwirken zu beobachten, gelingt nicht. Möglich sind aber Korrelationsbetrachtungen zwischen Teilkomponenten und schriftsprachlichen Leistungen oder Bedingungsvariationen und Fehleranalysen. 12.4.2.1 Teilfertigkeiten und Voraussetzungen im Schriftspracherwerb Teilfertigkeiten können als notwendige Voraussetzungen zu Beginn des Erwerbsprozesses oder als integrale Bedingungen des Lese- und Schreibprozesses analysiert werden. Voraussetzungen im Vorschulalter Zu den sprachlichen Voraussetzungen, die die Entwicklung der Schriftsprachkompetenz bereits im Vorschulalter vorhersagen können, gehört die phonologische Bewusstheit (vgl. 24.1, Walter in diesem Band). Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Aufmerksamkeit von der Bedeutung des Gesprochenen auf die formalen Aspekte der Sprache zu lenken (u. a. Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999). Wenn der Klang eines Wortes zum Gegenstand des Nachdenkens wird, können einzelne Laute aus einem Wort isoliert werden. Eine nicht ausreichend entwickelte phonologische Bewusstheit kann bei LRS-Kindern beobachtet werden (z. B. Hasselhorn et al., 2000) und ist möglicherweise eine Bedingung, die den Erwerb schriftsprachlicher Fertigkeiten erschwert. Es wird davon ausgegangen, dass die zu Beginn des Erwerbsprozesses bedeutungsvolle phonologische Bewusstheit in der Schule weiter verbessert wird (vgl. ausführliche Darstellung der Studie von Ehri et al. [2001] in 24.1, Walter in diesem Band). Ein Verfahren, mit dem die phonologische Bewusstheit vor der Einschulung erfasst werden kann, ist das Bielefelder Screening (BISC) von Jansen et al. (1999). Mit diesem Test können Risikokinder identifiziert und gezielt gefördert werden. Im BISC werden neben der phonologischen Bewusstheit Gedächtnisprozesse wie Abruf und Speicherung erfasst, denen eine ebenso große Bedeutung für die Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten beigemessen wird. Die im BISC erfassten Leistungen sind Indikatoren für spezifische Fertigkeiten, die sich wesentlich vor der Schule, ohne systematischen Unterricht entwickeln.
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Aus der Analyse von Schwierigkeiten wurde lange Zeit auf eine bedeutsame Rolle von Wahrnehmungsprozessen (visuelle und akustische) im Lesen geschlossen. Studien zur Verbesserung der schriftsprachlichen Kompetenzen durch die Förderung der Wahrnehmungsleistungen führten jedoch zu keinen klaren Ergebnissen (Walter, 2000; Valtin, 2003). Eindeutiger fallen Befunde dann aus, wenn direkt an der sprachlich-phonologischen Verarbeitung beteiligte Fertigkeiten gefördert werden. Für das Lesen sind das beispielsweise Prozesse des Rekodierens (Umsetzung graphischer Informationen in phonologische) und des Dekodierens (Verknüpfung phonologischer Informationen mit vorhandenem Wissen). Beide Prozesse sind an der Worterkennung beteiligt und bilden eine Basis für das Verstehen gelesener Texte (vgl. 24.2, Walter in diesem Band). Marx (1998, 2003) hebt davon die Fertigkeit des Hörverstehens auf Satz- und Textebene ab. Validitätsuntersuchungen belegen die Unterscheidbarkeit dieser Fertigkeiten. Mit Hilfe von Knuspels Leseaufgaben (KNUSPEL-L; vgl. Marx, 1998) können diese Teilfertigkeiten durch einzelne Untertests erfasst und unterdurchschnittlich entwickelte Teilfertigkeiten identifiziert werden, die an Störungen der Leseprozessentwicklung beteiligt sein könnten. Für die Abbildung der Leseleistung unterscheiden Lehmann, Peek und Poerschke (1997) im Hamburger Lesetest für 3. und 4. Klassen (HAMLET 3-4) die Dekodierleistungen weiter: Elementares Leseverständnis (aus Texten können einfache sprachliche Informationen entnommen werden), generalisiertes Leseverständnis (Informationen können von der sprachlichen Form gelöst werden) und evaluiertes Leseverständnis: aus Texten können Schlussfolgerungen gezogen und Interpretationen vorgenommen werden (Lehmann et al., 1997). 12.4.2.2 Prozessanalysen im Schriftspracherwerb Der Ansatz von Marx (1998) stellt bereits ein Prozessmodell dar, bei dem die beteiligten Komponenten im Vordergrund stehen. Für Lese- und Schreibprozesse existieren darüber hinaus Modelle, in denen die Prozesse nach aufeinander aufbauenden Entwicklungsphasen bzw. -stufen unterschieden werden. Für das Lesen werden z. B. folgende Phasen unterschieden: I. Erkennen von Symbolen, II. logographemisches Worterkennen, III. logographemisches Worterkennen mit lautlichen Elementen, IV. beginnendes Erlesen, V. vollständiges Erlesen (alphabetische Strategie), VI. Erlesen größerer Einheiten (Silben, Morpheme, Signalgruppe) und VII. automatisches Worterkennen (nach Valtin, 2003). Je nach betrachteten Entwicklungsbereichen unterscheiden sich die genutzten Stufen in ihrer Untergliederung: Für das Schreiben werden logographemische, alphabetische, orthografische und morphematische Stufen unterschieden. Die Stufen und Phasen erlauben prinzipiell die Operationalisierung von Aufgaben, die Aussagen über die erreichten Aneignungsniveaus ermöglichen (z. B. Kretschmann et al., 1998). Dehn (1988) beobachtet die Entwicklung der alphabetischen Strategie im Sinne einer Vervollkommnung
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von ersten rudimentären Versuchen zum lautlich/orthografisch richtigen Verschriften differenzierter. Die Kinder schreiben dazu in Abständen im Verlauf des ersten Schuljahres jeweils die gleichen Wörter auf (rt-raita-Reiter). Im Salzburger Lese- Rechtschreibtest (SLRT) von Landerl et al. (1997) wird die Annahme über die erreichte Stufe aus den Schreibfehlern abgeleitet. Sie werden danach beurteilt, ob die Worte orthografisch falsch, aber lautgetreu oder falsch und nicht lautgetreu aufgeschrieben wurden. Zusätzlich wird die Groß- und Kleinschreibung als Hinweis auf orthografisches Wissen ausgewertet. In der Hamburger Schreib-Probe (HSP) von May (2002) erfolgt die Auswertung über die Variationen, die im zu schreibenden Wortmaterial enthalten sind. May konzipiert so genannte Lupenstellen, deren richtige bzw. falsche Verschriftung als Indikator für die Schreibstrategien zu werten ist. Folgende Stufen bzw. Strategien werden geprüft und anhand von Beispielen operationalisiert: I. Die alphabetische Strategie: Sprechwörter werden in Laute gegliedert und Lauten werden Buchstaben zugeordnet. II. Die orthografische Strategie: Regeln werden beachtet. III. Die morphematische Strategie: Wortbausteine werden verwendet. SLRT und HSP können normorientiert ausgewertet werden, indem die Fehlerhäufigkeit pro Fehlerklasse bestimmt und mit den Klassennormen verglichen werden. Es kann jedoch darüber hinaus eine entwicklungsorientierte Auswertung im Hinblick auf die dominant verwendete Rechtschreibstrategie erfolgen. Dabei ergibt sich die Frage (vgl. Tacke, Völker & Lohmüller, 2001), ob die Strategien oder Stufen in der Entwicklung der Kinder gut voneinander trennbar sind, oder ob eine Parallelität in der Verwendung der Schreibstrategien besteht. So weist Walter (2000) nach, dass Kinder (auch Förder- und Hauptschüler) eher alle Strategien gleichzeitig benutzen. Landerl et al. (1997) unterscheiden Prozesse nach der Art, wie aus der Buchstabenreihe die Lautstruktur abgeleitet wird. Einmal kann dies durch einen synthetischen Leseprozess erfolgen, in dem die den Buchstaben zugeordneten einzelnen Laute nacheinander artikuliert und zusammengefasst werden. Während der weiteren Entwicklung entsteht eine Verbindung von Buchstabenfolge und Wort, die nach Landerl et al. rasch direkt abgerufen werden kann. Im Salzburger Lese- und Rechtschreibtest werden beide Prozessarten dadurch geprüft, dass Kinder bekannte und Pseudoworte lesen. Bestimmt wird die Lesezeit, für die klassenstufenbezogene Normwerte vorliegen. Eventuelle Differenzen zwischen dem Lesen bekannter Worte und Pseudoworte werden daraufhin interpretiert, ob eher die direkte Worterkennung oder die Fähigkeit zum synthetischen Lesen beeinträchtigt ist.
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13 Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl Der mit den KMK-Empfehlungen von 1994 (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, im Folgenden immer mit KMK abgekürzt) eingeführte Begriff des ‚Sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ holt eine englische Entwicklung der siebziger Jahre nach (vgl. Warnock, 1978) und ist die Übersetzung von ‚special educational needs‘. ‚Needs‘ bedeutet zuallererst ‚Bedürfnisse‘ und sodann ‚Notwendigkeiten‘. Mit ‚special educational needs‘ werden im angloamerikanischen Sprachgebrauch dem entsprechend nicht nur besondere pädagogische Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, sondern vor allem besondere, vom Schulsystem zu realisierende pädagogische Notwendigkeiten bezeichnet, deren Umsetzung dort streng kontrolliert wird. Im Begriff der educational needs mischen sich damit einerseits personale Aspekte, die individuellen Bedürfnisse, und andererseits herzustellende, institutionelle Bedingungen im System der Förderung. Was allerdings Bedürfnisse heranwachsender Menschen sind und wie sie in den Prozess der Förderung hineinspielen, wird je nach gewähltem theoretischen Kontext unterschiedlich zu beurteilen sein. Dynamischen und lebensweltlich orientierten Bedürfnistheorien liegt ein Menschenbild zugrunde, in dem der aktive Mensch in alltäglichen Austauschprozessen mit den Bezugspersonen seiner Lebenswelten Bedürfnisse nach Anerkennung, nach Teilhabe, nach einer wertorientierten Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung, nach emotionaler Bindung, Identität und Persönlichkeitsentwicklung realisiert (Beck, 1996). In Anlehnung an Holzkamp (1995, S. 189) wird hier anstelle von Bedürfnissen von Lebens- und Lerninteressen gesprochen. Diese sind darauf ausgerichtet, die Verfügung über die jeweils individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu erhöhen (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Gängige Definitionen dessen, was Förderbedarf ist, zentrieren demgegenüber keineswegs auf die subjektiven Lebens- und Lerninteressen. So betonen Arnold und Kretschmann (2002, S. 266 f.), dass sonderpädagogische Förderung indiziert sei, wenn es zu Passungsproblemen in der allgemeinen Schule zwischen den lehrplanbezogenen Leistungsanforderungen und den Schülerleistungen oder zwischen dem sozialen Verhalten des Einzelnen und den Interaktions- und Kommunikationsregeln der Klassengemeinschaft gekommen ist. Die Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sonderpädagogische Förderung bestehen in dieser Vorstellung in der Präzisierung der unterschiedlichen Passungsprobleme und im Versuch, die Passungsprobleme durch eine kompensierende oder zieldifferente Förderung zu lösen. Die Präzisierung von Passungsproblemen geht in der Regel einher mit Operationalisierungen unterschiedlicher, schulisch für bedeutsam gehaltener Persönlichkeits- und Leistungsaspekte. Sie sind in den KMK-Empfehlungen (1994 ff.) bereits durch das Konzept der Förderschwerpunkte und verschiedener Förderbereiche wie die Sensorik, Motorik, die Kognition, die Kommunikation, das Sozialverhalten, die Emotionalität, die Motivation und das Lern- und Arbeitsverhalten angedeutet (vgl. KMK, 1994, S. 6; 1999, S. 7). Auf der Ebene praktischer Umsetzungen führten derartige Operationalisierungen zu langen Defizitlisten, die
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der Bestimmung individueller Förderschwerpunkte und Förderbedarfe dienen und der weiteren Unterrichtsplanung zugrunde gelegt werden. In diesem Spannungsfeld bewegt sich jede Pädagogik und damit jede pädagogische Diagnostik: Auf der einen Seite können wie auch immer bestimmbare Lebensinteressen von Menschen nach einer Erweiterung der Verfügung über ihre jeweils relevanten Lebensbedingungen vermutet werden und auf der anderen Seite gibt es Feststellungen darüber, in welcher Weise Schülerinnen und Schüler die Erwartungen an ihre Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht erfüllen. Erfolgreiche pädagogische Aktivitäten brauchen einen weiteren Ankerpunkt, nämlich die Suche danach, warum sich die Schülerinnen und Schüler mit den schulischen Lerngegenständen gerade so beschäftigt haben, dass es zu den festgestellten Passungsproblemen kommen musste. Eine psychodynamische Sicht der Dinge fragt zunächst nicht nach Begabung und Intelligenz, sondern nach Motiven, Bedürfnissen sowie nach Handlungen und deren Begründungen. Wird z. B. die Aneignung der Schriftsprache als ein vom Individuum ausgehender aktiver Prozess verstanden, so sind es die Lernhandlungen des Individuums, die den Erfolg oder Misserfolg erklären. Nicht die festgestellten Defizite sind demnach der Schlüssel zu einer besseren Förderung, sondern taugliche Hypothesen darüber, warum sich ein Subjekt mit den Lerngegenständen so und nicht anders auseinandergesetzt hat und welches die Begründungen seiner Handlungen waren (vgl. Koch, Schuck & Schwohl, 2001; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Förderplanung und Förderung haben, folgt man der Definition von Schuck (2001a, S. 63 f., vgl. auch Kap. 9.1.1, Schuck in diesem Band), die „Anregung und Begleitung einer an Bildungszielen orientierten, für wertvoll gehaltenen Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften“ zum Ziel. Es liegt also nahe, diesen Veränderungsprozess zu analysieren, einschließlich der Handlungsbegründungen des Subjekts, die aus der veränderten Prämissenlage (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) hervorgegangen sind. Mittel zum Zweck ist die derzeit auch von der KMK (1994, S. 9) favorisierte lernprozessbegleitende Diagnostik, mittels derer die den Förderangeboten zugrunde liegenden Hypothesen geprüft, gegebenenfalls falsifiziert oder modifiziert werden. Damit ist die lernprozessbegleitende Diagnostik die Tätigkeit, die den Förderprozess evaluiert. Der Förderprozess hat somit mindestens zwei Seiten: Es sind einmal die internen Prozesse der Auseinandersetzung des Subjekts mit einem Lerngegenstand, seine Lernhandlungen und deren Begründungen. Zum anderen sind es die externen Prozesse der versuchten Beeinflussung und Begleitung der Lernhandlungen durch die pädagogischen Akteure. Aus aktuellen psychologischen Theorien und der daraus abgeleiteten strukturorientierten Diagnostik (vgl. Kap. 9.2.3, Schuck in diesem Band) folgt zudem, dass es Ziel der lerngegenstandsbezogenen Förderung sein muss, innere Repräsentationen des Lerngegenstandes und damit subjektive Theorien über den Gegenstand sowie erweiternd über sich selbst zu verändern. Die Veränderung innerer Repräsentationen kann nur durch die Aktivitäten der Individuen selbst hervorgerufen werden. Entwicklungspsychologisch begründete didaktische Konzepte setzen dabei auf die aktivitätsanregenden Wirkungen gemäßigt neuartiger Anforderungen. Der individuelle Entwicklungsprozess zeigt sich in diesem Denken im Erreichen eines höheren Repräsentationsniveaus bei der nächsten Messung. Unter der Aktivitätsannahme (vgl. auch Kap. 9.1.2, Schuck in diesem Band) ist damit die Feststellung eines Aneignungsniveaus
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zugleich ein Blick auf den bisherigen Lernprozess, der sich dem Diagnostizierenden durch das Wissen über einen Lerngegenstand erschließt. Ziel der lernprozessbegleitenden Diagnostik ist es demnach, das jeweilige Aneignungsniveau und die Zone der nächsten Entwicklung zu bestimmen. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, unter welchen spezifischen Lernarrangements die Zone der nächsten Entwicklung erreicht werden kann. Noch viel weniger kann die lernprozessbegleitende Diagnostik dazu dienen, Erklärungen zu liefern, warum trotz vielfältiger Unterstützungsmaßnahmen die Zone der nächsten Entwicklung nicht erreicht wurde. Hierzu bedarf es einer Analyse der von den Lernenden hergestellten und von ihnen bewerteten Zusammenhänge zwischen Handlungen und Operationen (vgl. Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 248 ff.; Koch, Schuck & Schwohl, 2001, S. 9 ff.; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Im Rahmen der Förderplanung sind damit die Aufgaben einer lernprozessbegleitenden Diagnostik wie folgt definiert: Es gilt (1.) Begründungsmuster für Lernhandlungen bzw. für widerständiges Lernen gemeinsam mit dem Schüler zu reflektieren bzw. Hypothesen darüber zu erstellen. Es sind (2.) die externen Bedingungen zu beschreiben, die die individuellen Aktivitäten zur Veränderung innerer Repräsentationen in Gang brachten bzw. verhinderten. Das sind die materiellen und personalen Gegebenheiten des Lernumfeldes, insbesondere die Aktivitäten der Kooperationspartner zur Anregung und Begleitung der Lernhandlungen. Und schließlich ist (3.) der operative Aspekt zu erfassen, d. h. das zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichte gegenstandsspezifische Repräsentationsniveau der erreichten Fertigkeiten und Kompetenzen. In den gesetzlichen Grundlagen vieler Bundesländer (vgl. Pluhar, 2003, S. 76 ff.) wie in anderen konzeptionellen Entwürfen scheint es eine Übereinstimmung darin zu geben, dass dem wie auch immer festgestellten pädagogischen oder sonderpädagogischen Förderbedarf ein Förderplan zu folgen habe, der die Ausgangslage und die Ziele der Förderung sowie die darauf bezogenen pädagogischen Notwendigkeiten und Aktivitäten evaluierbar beschreibt. Im Kontext der Entwicklung diagnostischen Denkens sollte die dazu notwendige Diagnostik dem Modell Kaminskis (1970) folgend als ein aus einer diagnostischen und praktischen Phase bestehender einheitlicher Prozess der Hypothesenbildung und -prüfung konzipiert werden (vgl. Kap. 9.2.3, Schuck in diesem Band), mit dem es unter heutiger Diktion möglich sein sollte, „didaktische Maßnahmen auf ihre Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit“ hin zu überprüfen (Schlee, 1985, S. 99; vgl. auch Eberwein & Knauer, 1998, S. 10; Kolt & Rother, 1984, S. 345). Gleiches wäre auch für den Komplex der „Förderplanung“ (KMK, 1994, S. 8; vgl. auch Mutzeck, 2000; Schuck, 2003a, b) in Anspruch zu nehmen. Dieser Prozess sollte zunächst in der eingangsdiagnostischen Phase zu einem Förderkonzept führen, welches sich in der praktischen Phase, d. h. in der Umsetzung des Förderkonzeptes, zu bewähren hätte (Kautter & Munz, 1974; Schuck, 2001a, b). Es ist dabei durchaus sinnvoll, das Förderkonzept vom Förderplan nach folgendem Kriterium zu unterscheiden: Das Förderkonzept dient der Bestimmung der systemunabhängigen und von der Machbarkeit her unabhängigen pädagogischen Notwendigkeiten. Der Förderplan hingegen bewegt sich auf dem Boden der Realität, benennt das Machbare und hält das im zeitlichen Verlauf Kontrollierbare fest. Das eigentliche Problem liegt hierbei wiederum in Auffassungen von Förderung, die bei der Entwicklung eines Förderkonzeptes und eines daraus abgeleiteten Förderplans zugrunde gelegt werden. Es sollte deutlich geworden sein, dass unter der Prämisse des subjektwis-
210
| Teil III:
Diagnostik
senschaftlichen Ansatzes die Entwicklung eines Förderkonzeptes nur in Kooperation mit dem ‚zu fördernden‘ Subjekt möglich ist. Förderpläne stehen in der Gefahr, in einen neuen „Lehrlernkurzschluss“ (Holzkamp, 1995; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) zu führen, nämlich in die Überzeugung, dass das Subjekt schon die wünschenswerten und ihm aufgenötigten Entwicklungen vollziehen wird. Gemäß dieser Erwartung wird in Vorschlägen für Förderpläne empfohlen, Lernziele in grundlegenden Entwicklungsbereichen und schulischen Kompetenzbereichen mehr oder weniger gut operationalisiert festzuhalten. Diesen Operationalisierungen sollten nach den Empfehlungen zeitliche Perspektiven und Erwartungen sowie Angaben zu notwendigen pädagogischen Aktivitäten beigegeben werden. Es sollen schließlich Leistungsvereinbarungen zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Vereinbarungen zu Strategien der Evaluation getroffen werden. Das sind durchaus sinnvolle Elemente von Förderplänen, die jedoch neue Versuche der Verobjektivierung des Subjektes unter den lehrplanmäßigen Anforderungen des Schulsystems sein können, die mit allerlei Kontrollmöglichkeiten sowohl der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler als auch der Aktivitäten der Pädagoginnen und Pädagogen versehen sind. Der Begriff der Förderung reduziert sich dabei schnell auf die technokratische und mutmaßliche Behebung festgestellter Passungsprobleme im Leistungs- und Verhaltensbereich ohne Einbezug des Subjektstandpunktes, womit sich letztlich der „Lehrlernkurzschluss“ reproduziert. Demnach kann die Förderplanung nur vom Subjektstandpunkt aus gelingen, indem die Frage bearbeitet wird, welche Handlungsmöglichkeiten vom Subjekt in seinen Handlungsbegründungen aufgegriffen wurden und welche anderen Handlungsmöglichkeiten bei alternativer Begründungslage vorhanden sein könnten und für Förderung nutzbar sind. Dabei kommen selbstverständlich die Weiterentwicklung und Kompensation von Operationen in den Blick. Nur: Eine Zusammenstellung von operativen Defiziten erklärt weder die Ursache für eine Lern- und Entwicklungsschwierigkeit noch die Zusammenhänge zwischen Operationen und Handlungen. Und: Die operative Ebene der Förderung erhält erst unter Berücksichtigung der Handlungszusammenhänge ihren Stellenwert. Ein tauglicher Förderplan kann sich dementsprechend nicht in Angaben darüber erschöpfen, mit welcher Technologie ein Individuum in einem festgelegten Zeitraum vom Kenntnis- und Fähigkeitsstand A zum Kenntnis- und Fähigkeitsstand B gebracht werden kann. Gegenstand des Förderkonzeptes, des Förderplans und der Förderung ist zuallererst das handelnde Subjekt und dabei die Schaffung von Möglichkeitsräumen, die für das Subjekt anregend genug sein können, neue und andere Handlungsbegründungen aufzugreifen (Koch, Schuck & Schwohl, 2001, S. 10) und sich mit der Weiterentwicklung der operativen Aspekte seiner Handlungsfähigkeit in neuer Weise zu beschäftigen sowie, gestützt durch adäquate Arrangements der Pädagoginnen und Pädagogen, das Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung zu bewältigen. Die dazu notwendigen pädagogischen Aktivitäten, Kooperationsfelder und Diskurslandschaften im unmittelbaren schulischen und auch außerschulischen Umfeld sind dafür im Förderplan zu beschreiben und so weit zu operationalisieren, dass ihre Evaluation und gegebenenfalls Modifikation in Zukunft möglich ist. Erfolgskriterien eines in dieser Weise auf das „System“ bezogenen Förderkonzeptes und Förderplans zur Erhöhung der pädagogischen Professionalität und Qualität wären auf der Seite der Schülerinnen und Schüler veränderte Handlungsbegründungen und
Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 211
I:
Bestandsaufnahme als Entwicklung eines Förderkonzeptes (erste diagnostische Phase)
a. Aussagen (Hypothesen) zur gegenwärtigen Situation, zu den wirksamen Bedingungen und den verfügbaren Ressourcen – Das Problem, die Hintergründe. – Verfügbare individuelle und lebensweltliche Ressourcen. – Behindernde individuelle und lebensweltliche Bedingungen. b. Aussagen (Hypothesen) über die kurz-, mittel- und langfristig zu erreichenden und erreichbaren Ziele der Förderung - bezogen auf das Individuum und - bezogen auf die Lebenswelten. c. Das Förderkonzept: Aussagen (Hypothesen) über die allgemeinen und spezifischen pädagogischen Notwendigkeiten zur Eröffnung von Entwicklungsräumen - bezogen auf das Individuum und - bezogen auf die Lebenswelten.
II:
Der Förderplan
d. Die realisierbaren und vorgesehenen pädagogischen Maßnahmen zur Eröffnung von Entwicklungsräumen – bezogen auf das Individuum und – bezogen auf die schulischen und außerschulischen Lebenswelten. e. Entscheidungen über den institutionellen Ort der Förderung. f. Zeithorizonte für die Veränderung grundlegender Handlungen, Entwicklungsund Kompetenzbereiche. g. Vereinbarungen zwischen den am Prozess der Förderung Beteiligten über die zu erbringenden Unterstützungsleistungen. h. Vereinbarungen zu Strategien der Evaluation des Förderplans und solcher der Modifikation des Förderplans und des Förderkonzeptes. i. Definition der Erfolgskriterien der Förderung.
III: Lernprozessbegleitung und Evaluation (pädagogische und zweite diagnostische Phase) j. Umsetzung der Planungsvorgaben im pädagogischen Arrangement. k. Dokumentation der Veränderungen. l. Bewertung der Veränderungen - im Hinblick auf die definierten Erfolgskriterien und die gelungene/ misslungene Umsetzung des Förderplans, - bezogen auf notwendige Veränderungen des Förderplans und - bezogen auf notwendige Veränderungen des Förderkonzepts.
Abbildung 1: Diskursive Prozesse der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation eines Förderkonzeptes
212
| Teil III:
Diagnostik
Handlungen, eine veränderte emotionale und soziale Situation der Schülerinnen und Schüler (vgl. Rauer & Schuck, 2003), veränderte subjektive Theorien über sich selbst und die maßgeblichen Lerngegenstände sowie selbstverständlich weiterentwickelte operative Kompetenzen. Auf der Seite der Pädagoginnen und Pädagogen sind es veränderte Formen der Betrachtung, Anregung und Begleitung individueller Lernhandlungen und Lernergebnisse und andere Formen der Kooperation zwischen den Lehrkräften sowie zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Arbeitsschritte für die Entwicklung eines Förderkonzeptes und seiner evaluativen Begleitung wie folgt planen und durchführen (vgl. Abbildung 2). Die diesem Schema zugrunde liegenden Ideen sind so alt (vgl. z. B. Kautter & Munz, 1974) wie weitgehend ohne wirklichen Rückhalt in der aktuellen Praxis behindertenpädagogischer Begutachtung: I. Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme. Sie dient der Vergewisserung über die gegenwärtige Situation, die wirksamen Bedingungen im Entwicklungsprozess sowie die verfügbaren individuellen und lebensweltlichen Ressourcen. Des Weiteren sind die allgemeinen und spezifischen, auf das Individuum und seine Lebenswelten bezogenen pädagogischen Notwendigkeiten zu konzipieren, und zwar unabhängig davon, ob sie unter dem möglichen Ressourceneinsatz auch realisierbar sind. Entwickelt wird ein Förderkonzept. II. Im Förderplan sind auf dem Hintergrund verfügbarer Ressourcen und Möglichkeiten die pädagogischen Maßnahmen zur Eröffnung von Entwicklungsräumen bezogen auf das Individuum sowie die schulischen und außerschulischen Lebenswelten festzuhalten. Im Förderplan sind Aussagen über den institutionellen Ort der Förderung und die Zeithorizonte erwarteter Veränderungen zu treffen. Zugleich enthält der Förderplan Vereinbarungen zwischen den am Prozess der Förderung Beteiligten über die zu erbringenden Unterstützungsleistungen. Darin eingeschlossen sollten auch Vereinbarungen mit den Eltern sein. Der Förderplan enthält schließlich Vereinbarungen über die Strategien der Evaluation des Förderplans und die Erfolgskriterien der Förderung. III. Der Bestandsaufnahme und der formellen Erstellung des Förderplans folgt die praktische Phase, das heißt die Umsetzung des Förderplans in konkreten Unterricht und konkrete Maßnahmen der unterrichtsintegrierten und unterrichtsbegleitenden Förderung. Gegebenenfalls sind die im Förderplan festgehaltenen Maßnahmen der außerschulischen Unterstützung (zum Beispiel des Familiensystems) umzusetzen. Die Umsetzung wird begleitet durch eine Dokumentation der Veränderung und ihrer Bewertung, bezogen auf die definierten Erfolgskriterien, die notwendigen Veränderungen des Förderplans und bezogen auf eine gegebenenfalls notwendige Veränderung des Förderkonzeptes. Es bleibt nach diesem Entwurf einer Strategie der Förderplanung und der Evaluation des Förderplans die Frage danach, welche Persönlichkeits- und Leistungsbereiche Gegenstand eines individuellen Förderplans sein sollten. Die Richtung ist gewiesen: Diagnostik in der ersten Phase ist ein hypothesenbildender und -prüfender, auf das Individuum und seine Lern- und Lebenswelten bezogener Prozess. Es verbietet sich die routinemäßige Verwendung eines Standardsatzes diagnostischer Materialien. Gefordert sind vielmehr
Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 213
auf die individuellen Problemlagen bezogene Fragen, denen nach ihrer Beantwortung durch geeignete diagnostische Mittel jeweils neue Fragen zu folgen haben, bis ein tragfähiges Hypothesengerüst zu den Aspekten a. bis c. der Abbildung 1 entstanden ist. Als tragfähig kann ein Hypothesengerüst bezeichnet werden, wenn es Eingang finden kann in die folgende pädagogische Phase und sich dort auch noch bewährt. Hilfreich kann es sein, unabdingbare diagnostische Mittel von wahlweise und je nach individueller Problemlage zu verwendenden diagnostischen Mitteln zu unterscheiden. Prinzipiell werden bei Kindern mit Lernproblemen die in der folgenden Abbildung 2 genannten diagnostischen Gegenstandsbereiche in den Blick kommen können. Dabei wird sich die Professionalität der
Das Individuum
Die Systeme / Lebenswelten
1. Fragen hinsichtlich des aktuellen Lern- und Leistungsstandes in einzelnen Schulfächern: Erreichtes Aneignungsniveau im Rechnen, Lesen und Schreiben, Beherrschung der deutschen Sprache bzw. der Muttersprache als Bedeutungsträger und zur Bedeutungsvermittlung.
6. Die Lernsituation in der Klasse: Dominierende Interaktionsformen zwischen den Schülern und zwischen Lehrern und Schülern, die psychosoziale Situation des Kindes in der Klasse, Unterrichtsklima, Erschwernisse durch die verwendeten Unterrichtsmaterialien, Erschwernisse durch die Sozialbeziehungen, Erschwernisse durch die Unterrichtsformen.
2. Formen der Beschäftigung/Auseinandersetzung mit einzelnen Lerngegenständen: Arbeitsverhalten, Arbeitsstrategien und Leistungsmotivation. 3. Individuelle Handlungsgrundlagen und lerngegenstandsspezifische Voraussetzungen: Sinnesphysiologie (Sehen und Hören), Motorik,Umweltkenntnisse und Umwelterfahrungen, allgemeines kognitives Leistungsniveau, sozialemotionale Voraussetzungen, Persönlichkeits- und Motivationsstruktur.
7. Die schulische Gesamtsituation: Einzugsgebiet, Strukturen und Orientierungen des Lehrerkollegiums, das Schulklima. 8. Außerschulische Entwicklungsund Lernbedingungen: Psychosoziale Situation der Familie, Normen und Werte in der Familie, Erziehungsstrategien und -verhalten der Eltern, Anregungsbedingungen der familiären und außerfamiliären Umwelt, Kontakte innerhalb und außerhalb der Familie.
4. Prämissen und Begründungen von Handlungen 5. Emotionale und soziale Schulerfahrungen Selbstkonzept, soziale Integration, Sozialklima, Lernfreude, Anstrengungsbereitschaft, Schuleinstellung, Gefühl des Angenommenseins.
Abbildung 2: Mögliche Themen bei der Entwicklung eines Förderkonzeptes und bei der Begleitung einer Förderung
214
| Teil III:
Diagnostik
Diagnostikerinnen und Diagnostiker darin zeigen, ob sie das zur Lösung des individuellen Problems notwendige diagnostische und in der Folge pädagogische Methodenrepertoire zur Verfügung haben und verwenden können. Letzten Endes kehren unter dem Etikett der Förderplanung alle Facetten und Probleme in die Diskussion zurück, die schon die Auseinandersetzungen um die Förderdiagnostik geprägt haben.
Literatur Arnold, K.-H. & Kretschmann, R. (2002). Förderdiagnostik, Förderplan und Förderkontrakt: Von der Eingangsdiagnose zu Förderungs- und Fortschreibungsdiagnosen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 53 (7), 266-271. Beck, I. (1996). Behinderung – spezielle Erziehungsbedürfnisse – sonderpädagogischer Förderbedarf: Theoretische Begründungs- und Vermittlungsprobleme einer „lebensweltlich“ und final orientierten Bestimmung des individuellen Bedarfs an Hilfen. Die neue Sonderschule, 41 (6), 443-456. Eberwein, H. & Knauer, S. (1998). Einführung und Problemstellung. In H. Eberwein & S. Knauer (Hrsg.), Handbuch Lernprozesse verstehen. Wege einer neuen (sonder-)pädagogischen Diagnostik (S. 7-14). Weinheim: Beltz. Holzkamp, K. (1995). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung (Studienausgabe). Frankfurt am Main: Campus. Kaminski, G. (1970). Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation. Entwurf einer integrativen Theorie psychologischer Praxis am Individuum. Stuttgart: Klett. Kautter, H. & Munz, W. (1974). Verfahren der Aufnahme und Überweisung in die Sonderschule. In Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Sonderpädagogik 3 (Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 34, S. 235-385). Stuttgart: Klett. Koch, K., Schuck, K. D. & Schwohl, J. (2001). Diagnose und Förderung im subjektwissenschaftlichen Paradigma – Ein anderes Verständnis von Lern- und Entwicklungsproblemen. In Verband Deutscher Sonderschulen, Fachverband für Behindertenpädagogik (Hrsg.), Entwicklung fördern – Impulse für Didaktik und Therapie (Sonderpädagogischer Kongress 2001, Bd. II, S. 6-11). Würzburg: Selbstverlag. Koch, K., Schwohl, J., Schuck, K. D. & Kornmann, R. (2000). Redefinitionsversuche der Begriffe „Diagnostik“ und „Förderung“ angesichts des subjektwissenschaftlichen Paradigmas. In E. H. Funke & Th. Rihm (Hrsg.), Subjektsein in der Schule? Eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff Klaus Holzkamps (S. 239-254). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kolt, C. & Rother, H.-J. (1984). Förderdiagnostik in der Sackgasse. Behindertenpädagogik, 23 (4), 343-349. Mutzeck, W. (Hrsg.). (2000). Förderplanung. Grundlagen – Methoden – Alternativen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Pluhar, C. (2003). Sonderpädagogischer Förderbedarf aus der Sicht eines Mitglieds der KMK-Arbeitsgruppe. In G. Ricken, A. Fritz & C. Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 67-82). Lengerich: Papst. Rauer, W. & Schuck, K. D. (2003). FEESS 3-4. Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern dritter und vierter Klassen. Manual. Göttingen: Beltz Test GmbH. Schlee, J. (1985). Förderdiagnostik – eine bessere Konzeption? In R. S. Jäger, R. Horn & K. Ingenkamp (Hrsg.), Test und Trends 4. Jahrbuch der Pädagogischen Diagnostik (S. 82-108). Weinheim: Beltz.
Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 215
Schuck, K. D. (2001a). Fördern, Förderung, Förderbedarf. In G. Antor & U. Bleidick (Hrsg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis (S. 63-67). Stuttgart: Kohlhammer. Schuck, K. D. (2001b). Psychodiagnostik und Begutachtung. In G. Antor & U. Bleidick (Hrsg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis (S. 260-264). Stuttgart: Kohlhammer. Schuck, K. D. (2003a). Lernprozessdiagnostik und individuelle Förderplanung. Sonderpädagogische Förderung in NRW, 41 (3), 19-34. Schuck, K. D. (2003b). Sonderpädagogischer Förderbedarf oder: Stellen wir die richtigen Fragen im Prozess von Diagnose und Förderung. In G. Ricken, A. Fritz & C. Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 54-67). Lengerich: Papst. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (1994). Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 06.05.1994. o. O.: Selbstverlag. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (1999). Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.10.1999. o. O.: Selbstverlag. Warnock, H. M. (1978). Special Education Needs. Report of the Commitee of Enquiry into the Education of Handicapped Children and Young People. London: Her Majesty’s Stationary Office.
Teil IV
Prävention
Einführung Prävention habe Vorrang vor Intervention! Diese Forderung ist bei besonderem pädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens oft zu hören, denn sie ist intuitiv ansprechend: Warum soll man warten, bis sich bei einem Kind Lernstörungen manifestieren? Ist es nicht besser, man versucht durch frühzeitiges und vorsorgendes Eingreifen zu verhindern, dass sich überhaupt Störungen entwickeln? Gerhard Klein zeigt in seinem einleitenden Kapitel zur Frühförderung in früher Kindheit und Vorschulalter, dass frühe Förderung nicht nur die Kinder und Eltern entlasten, sondern auch helfen kann, konsekutive Störungen zu verhindern, da die ersten Lebensjahre maßgebend für das lebenslange Lernen sind. Frühförderung, argumentiert Klein, setzt zum einen Früherkennung voraus, denn eine generelle Prävention ist weniger effizient als eine spezifische Prävention, bei der förderliche Maßnahmen konzentriert und speziell für bedürftige Kinder angeboten werden. Hier zeigen sich Desiderata, denn viele Kinder mit Lernstörungen und Lernschwierigkeiten werden zu spät, nämlich erst bei der Einschulungsuntersuchung identifiziert. Frühförderung, zeigt Klein, setzt zum anderen voraus, dass man über bewährte Methoden der gezielten Förderung verfügt sowie über eine entsprechende institutionelle Infrastruktur zur praktischen Umsetzung dieser Methoden. Der Autor zeichnet die Entwicklung hin zu zunehmend integrierten, kooperativ arbeitenden und vernetzten Frühberatungsstellen auf, die sich am Lebenskontext der Kinder mit psychosozialen Entwicklungsrisiken orientieren, erörtert Möglichkeiten der Förderung in Kinderkrippen, Kindergärten und Eltern-Kind-Programmen und stellt spezielle umschriebene Programme zur systematischen Elementarerziehung und Schulvorbereitung vor, die er in einen ganzheitlichen Kontext stellt, der die Eigenaktivität des Kindes in den Mittelpunkt rückt. Rudolf Kretschmann stellt Möglichkeiten vor, die schulischen Lern- und Lebensbedingungen so zu gestalten, dass möglichst alle Lernenden bestmögliche Entwicklungsbedingungen vorfinden. Ausgehend von systemischen und entwicklungsökologischen Überlegungen präsentiert er Beispiele für effektive pädagogische Angebote im Elementarbereich, zeigt Möglichkeiten zur Erleichterung von Übergängen zwischen Bildungseinrichtungen auf und erörtert Möglichkeiten der Prävention auf Unterrichtsebene. Als besondere Angebote für Kinder mit hohem Risiko für Schulversagen stellt er die Vor- und Nachteile von Schulkindergärten, jahrgangsübergreifenden Schulklassen, integrativen Regelklassen, Ganztagsschulen und Familien ergänzenden Diensten vor.
14 Frühe Kindheit und Vorschulalter Gerhard Klein
14.1 Das System Frühförderung Frühförderung als sonderpädagogische Maßnahme für Kinder mit Behinderungen hat sich in Deutschland in den vergangenen 35 Jahren entwickelt. Die Praxis der Frühförderung in der Bundesrepublik wird bestimmt durch ein Netz von Frühförderstellen, das in den einzelnen Bundesländern von sehr unterschiedlicher Dichte ist, und durch die Mitarbeit sehr unterschiedlicher Fachkräfte. Neben den Ärzten sind es Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Diplompädagogen, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Psychologen, die im Feld der Frühförderung kooperieren. Da in der Frühförderung mehrheitlich Frauen arbeiten, wird im folgenden Text nur die weibliche Form gewählt. Es waren hauptsächlich zwei Gründe, die es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als notwendig und sinnvoll erscheinen ließen, spezielle Förderangebote in den frühen Lebensjahren für behinderte Kinder zu schaffen. Zum einen waren viele Eltern nicht nur tief getroffen von der Tatsache, dass ihr Kind behindert ist, sondern auch verunsichert und oft hilflos im Umgang mit dem Kind. Diese Eltern suchten fachlichen Rat und Hilfe und verbanden damit die Hoffnung, etwas für eine positive Entwicklung ihres Kindes tun zu können. Den zweiten Grund lieferten die damals aktuellen Erkenntnisse entwicklungspsychologischer Forschung, wonach die ersten Lebensjahre maßgebend für die weitere Entwicklung eines Kindes sind. Vor allem für Kinder mit Sinnesschädigungen wurde erkannt, wie durch frühzeitige Hilfen noch vorhandene Restfähigkeiten des Sehens und Hörens erhalten und entwickelt werden können. Mit den Gutachten des Deutschen Bildungsrates zur Früherkennung und Frühförderung (Klein, 1973; Speck, 1973) und den Empfehlungen der Bildungskommission „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ (Deutscher Bildungsrat, 1973) erfuhr die Frühförderung in der Bundesrepublik einen wesentlichen Impuls zu einem flächendeckenden Auf- und Ausbau. Frühförderung erfahren Kinder im Alter von 0–6 Jahren. Mit der Frühförderung ist die Beratung der Eltern verbunden. Voraussetzung für die Gewährung und Finanzierung von Frühförderung ist jedoch, dass bei dem Kinde, das gefördert werden soll, eine Behinderung oder eine drohende Behinderung festgestellt wurde. Frühfördermaßnahmen umfassen eine breite Palette von Hilfeangeboten: Beratung der Eltern, medizinische und psychologische Diagnose, Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprachtherapie, Spielförderung, pädagogische Förderung. Der zeitliche Umfang der Fördermaßnahmen beträgt etwa eine Stunde pro Woche. In der Praxis haben sich zwei Organisationsformen herausgebildet, nämlich die ambulante Frühförderung in den Beratungsstellen oder therapeutischen Praxen, in welche die Kinder zur Behandlung gebracht werden, und die mobile Frühförderung oder Hausfrüherziehung, bei der die Förderung der Kinder in ihren Familien erfolgt. Die Rahmenbedingungen und Organisationsformen der Frühförderung sind bis heute von einer behinderungsspezifischen Ausrichtung geprägt, wie sie in den Anfangsjah-
Kapitel 14: Frühe Kindheit und Vorschulalter | 221
ren der Frühförderung gefordert und praktiziert wurde (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1973). Demnach wird Frühförderung zuerst und hauptsächlich als spezielle Hilfe für Kinder mit spezifischen Behinderungen wie z. B. Sehschädigung, spastische Lähmung, Down-Syndrom usw. verstanden. Bei diesem Verständnis von Frühförderung wird davon ausgegangen, dass die reguläre Pflege und Erziehung eines Kindes von den Eltern wahrgenommen wird, wie es das Grundgesetz vorsieht: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Grundgesetz, Art. 6, Abs. 2). Aufgabe der Frühförderung dagegen ist es, die Eltern in der erschwerten Pflege und Erziehung eines behinderten Kindes zu unterstützen und durch spezielle Fördermaßnahmen die Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes trotz seiner Behinderung zu ermöglichen. Für Kinder, die im Schulalter als lernbehindert gelten und dem Bildungsgang unserer Schulen nicht zu folgen vermögen, erweist sich dieses Verständnis von Frühförderung in mehrfacher Hinsicht als problematisch.
14.2 Probleme der Früherkennung Für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen beginnt die spezielle Problematik der Frühförderung mit der Früherkennung, die ja Voraussetzung für jede Frühförderung ist. Bei einem Säugling oder Kleinkind unter drei Jahren erkennen zu wollen, ob er oder es im Schulalter als lernbehindert erscheinen wird, wäre vermessen. Entwicklungsverzögerungen als Anzeichen einer drohenden Behinderung lassen sich erst dann bei einem Kind erkennen, wenn in seiner Entwicklung die entsprechenden Funktionen (Sprache, kognitive Leistungen, Wahrnehmung usw.) ausgebildet werden und entsprechende Fähigkeiten zu erwarten sind. Die Mehrzahl der Kinder, die nur durch Entwicklungsverzögerungen auffallen, werden daher erst ab drei, vier und oft erst mit fünf oder sechs Jahren als förderungsbedürftig erkannt. Meist fällt die verzögerte Sprachentwicklung zuerst Tabelle 1: Lebensalter der Kinder bei ihrer Erstvorstellung in einer Frühfördereinrichtung – Angaben in Prozent (Trost, 1992, S. 51) Lebensalter
Total
G
K
H
B
S
BF
Fr.Tr.
0–1 Jahre
6,2
18,9
8,5
8,3
38,4
0,1
0
22,2
1–2 Jahre
9,8
19,4
15,4
31,4
26,9
0,3
0
14,7
2–3 Jahre
8,9
21,7
20,2
20,0
9,3
2,1
0,8
17,1
3–4 Jahre
14,9
18,0
14,1
16,7
11,3
13,5
15,9
15,7
4–5 Jahre
41,4
13,1
16,1
13,0
8,3
42,6
36,1
17,0
mehr als 5 J.
30,7
9,0
25,7
10,5
5,8
41,5
47,3
13,4
(G = Beratungsstellen f. geistig Behinderte; K = Beratungsstellen f. Körperbehinderte; H = Beratungsstellen f. Gehörlose/ Schwerhörige; B = Beratungsstellen f. Blinde/Sehbehinderte; S = Beratungsstellen f. Sprachbehinderte; BF = Beratungsstellen f. besonders Förderungsbedürftige; Fr.Tr. = Beratungsstellen f. in freier Trägerschaft)
| Teil IV:
Prävention
160
141
140
Anzahl der Kinder
222
112
120 100
79
80
67
60 40 20
12
25
27
1–2 Jahre
2–3 Jahre
0 0–1 Jahr
3–4 Jahre
4–5 Jahre
5–6 Jahre
>6 Jahre
Abbildung 1: Altersgruppe der Frühförderkinder in Brandenburg (Überregionaler Arbeitskreis der Frühförder- und Beratungsstellen 1995; Sohns, 2000, S. 273)
auf, was dazu führt, dass diese Kinder in der Frühförderung zunächst und hauptsächlich Sprachförderung erfahren. Oft werden lernbehinderte Kinder erst der Frühförderung zugeführt, wenn sie bei der Einschulung wegen fehlender Schulreife auffallen. Diese Feststellung wird durch die Ergebnisse einiger empirischer Untersuchungen belegt. In der Bestandsaufnahme zur Frühförderung in Baden-Württemberg von Trost (1992) etwa zeigte sich, dass gerade „besonders förderungsbedürftige“ (später lernbehinderte) Kinder erst spät durch die Frühfördermaßnahmen erreicht werden. 47,3 % der „besonders Förderungsbedürftigen“ (BF) sind bei ihrer Erstvorstellung fünf Jahre und älter. In den ersten drei Lebensjahren wird nicht einmal 1 % dieser Kinder erreicht. Auch eine Untersuchung aus Brandenburg (Sohns, 2000, S. 273) belegt, dass für die Mehrzahl der Kinder Frühförderung erst nach dem dritten Lebensjahr beginnt. In dieser Untersuchung ist zwar die Gruppe der Lernbehinderten nicht gesondert ausgewiesen, doch zeigen andere Untersuchungen, dass sinnesgeschädigte, körper- und geistigbehinderte Kinder schon in den ersten Lebensjahren durch Frühförderung erreicht werden. Von allen Kindern, die eine Förderschule für Lernbehinderte besuchen, erfahren nur sehr wenige überhaupt Frühförderung. 1989 waren es 15,9 % (Klein, 1990) und 1997 lag der Anteil der deutschen Kinder, die Frühförderung erfahren haben, bei 13,1 %, während von den ausländischen Kindern nur 8,8 % durch die Frühförderung erreicht wurden (Klein, 2001). Wie groß die Zahl der förderungsbedürftigen Kinder ist, die durch das gegenwärtige System der Frühförderung nicht erreicht werden, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass etwa 60 % aller Sonderschüler die Förderschule/Schule für Lernbehinderte besuchen und von diesen kaum ein Viertel Frühförderung erfahren hat. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Kinder, die im Schulalter als lernbehindert erscheinen, werden durch das gegenwärtige System der Frühförderung in Deutschland kaum erreicht, und wenn sie erreicht werden, dann erst sehr spät. Von Frühförderung bei diesen Kindern zu sprechen, ist nicht berechtigt, allenfalls von einer verspäteten Frühförderung. Die Erfolge sind daher auch gering. Es scheint so, als liege die ver-
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spätete Frühförderung von entwicklungsverzögerten Kindern in der Natur der Sache, da ja Entwicklungsverzögerungen erst erkannt werden können, wenn die psychischen Funktionen sich entwickelt haben sollten. Diese Überlegung ist nur z. T. richtig, denn Früherkennung darf sich nicht allein auf die Möglichkeit beschränken, eine eingetretene Entwicklungsverzögerung am Kind selbst zu erkennen. Aufgabe der Früherkennung ist es auch, nach den Ursachen von Entwicklungsverzögerungen zu fragen, diese zu beheben und so Frühförderung als eine präventive Maßnahme zu ermöglichen.
14.3 Ursachen von Lernbehinderungen Die Mehrzahl der lernbehinderten Kinder kommt aus ungünstigen und z. T. deprivierenden Lebens- und Erziehungsbedingungen (Begemann, 1970; Klein, 1973, 1985, 2001, 2002). Psychosoziale Risiken beeinträchtigen die Entwicklung dieser Kinder schon während der Schwangerschaft und bei der Geburt, vor allem aber im Säuglings- und Kleinkindalter. Der Anteil lernbehinderter Kinder, die aus günstigen familiären Bedingungen kommen, liegt zwischen 15 und 30 %. Bei diesen Kindern sind die Ursachen ihrer Entwicklungsverzögerung meist organischer Natur. Die „Rahmenkonzeption zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in Baden-Württemberg“ führt im Einzelnen folgende psychosozialen Risikofaktoren auf: – deprivierende Lebensbedingungen (unzureichende Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Nahrung, Bewegung, emotionaler Sicherheit und kommunikativer Anregung) – psychische Störungen der Eltern oder eines Elternteils, – Alkoholismus/Drogenhabhängigkeit der Eltern, – Häufung ökonomischer Probleme (beengte Wohnung, Verschuldung, Sozialhilfe), – Überlastung bzw. Überforderung der Mutter, – eingeengte Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten (Sozialministerium BadenWürttemberg, 1998, S. 9). Die Grundbedürfnisse eines Säuglings und Kleinkindes sind kulturübergreifend, sogenannte Universalia, die in allen Kulturen gelten und von deren Befriedigung die gedeihliche Entwicklung eines Kindes abhängt (Leyendecker, 1997). Zu diesen Universalia zählt, dass das neugeborene Lebewesen Mensch in seiner Hilflosigkeit und Weltoffenheit der Pflege, der verlässlichen Sicherheit und emotionalen Annahme sowie der Ansprache durch eine menschliche Stimme bedarf, um die Potenziale seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden zu können. Das Fehlen solcher Grundvoraussetzungen einer guten Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes hat gravierendere und dauerhaftere Schädigungen in den Gehirnstrukturen zur Folge als schichtspezifischer Sprachgebrauch oder autoritärer Erziehungsstil. Die Ergebnisse der Deprivationsforschung belegen dies sehr eindrücklich. Eine naturwissenschaftliche Erklärung liefern die Erkenntnisse der Gehirnforschung. Die Ausbildung der Gehirnstrukturen in den ersten Lebensjahren hat sich in hohem Maße als umweltabhängig erwiesen (Dichgans, 1994; Spitzer, 2002; Vester, 1978). Zwar gilt generell, dass Lernbehinderungen multifaktoriell bedingt sind, doch in den meisten Fällen sind sie die Folge einer in früher Kindheit beginnenden Kumulation
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100
Prävention
% psychisch auffällig
80 61,6
60
40
20
12,2
14,0
0
1
29,8
31,0
2
3
35,7
36,8
4
5
40,0
0 6
>=7
Anzahl von Risikofaktoren
Abbildung 2: Kumulativer Effekt psychosozialer Risikofaktoren (Laucht et al., 1999, S. 101)
von beeinträchtigenden Faktoren für die kindliche Entwicklung (Kanter, 1974). Belegt wird diese These durch eine Reihe von Längsschnittstudien über Risikokinder. So zeigte sich in der Kauai-Studie (Werner, 1999; Werner & Smith, 1989), dass zwei Drittel der Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, in der Folge auch schwere Lern- und Verhaltensprobleme in der Schulzeit entwickelten (Werner, 1999, S. 26). Die Mannheimer Längsschnittstudie (Laucht, Esser & Schmidt, 1999, S. 7) zeigte ebenfalls, dass mit der Risikokumulation die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsbeeinträchtigung wächst. Folgende Abbildung zeigt, wie die Rate psychisch auffälliger Kinder bei 8-Jährigen mit der Anzahl frühkindlicher psychosozialer Risiken kontinuierlich zunimmt. Als prognostisch bedeutsamste Faktoren familiärer Belastung ergaben sich bei der Mannheimer Längsschnittstudie unerwünschte Schwangerschaft, Delinquenz des Vaters, Herkunft der Eltern aus zerrütteten Familien und niedriges Bildungsniveau der Eltern. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die Rostocker und die Regensburger/Bielefelder Längsschnittstudien (Meyer-Probst & Reis, 1999; Zimmermann, Suess, Scheurer-Englisch & Grossmann, 1999). In der Züricher Längsschnittstudie kommt Largo (1995, S. 17) zu dem Ergebnis, dass der sozioökonomische Status die intellektuelle Entwicklung weit mehr bestimme als sämtliche erfassbaren pränatalen und perinatalen Risikofaktoren.
14.4 Umgestaltung der Früherkennung und Frühförderung Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich Konsequenzen für die Früherkennung und Frühförderung lernbehinderter Kinder. Das bestehende System der Frühförderung
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kann zwar angemessene Hilfe bieten, sofern es sich um Kinder mit ausschließlich organisch bedingten Entwicklungsbeeinträchtigungen handelt. Für die Mehrzahl der Kinder, die heute eine Förderschule/Schule für Lernbehinderte besuchen, sind jedoch die bestehenden Möglichkeiten zur Früherkennung und Frühförderung völlig unbefriedigend. Denn ehe es zum Erstkontakt mit einer Frühberatungsstelle kommt, muss das Kind zuvor einer Person aus seiner Umgebung aufgefallen sein und die Erziehungsberechtigten müssen bereit sein, das Kind in einer Beratungsstelle oder bei einem Arzt vorzustellen. Beide Punkte bilden für die Früherkennung bei Kindern aus sozial randständigem Milieu oft unterschätzte oder übersehene Barrieren. Zwar bieten die Vorsorgeuntersuchungen U1-U9 durch den Kinderarzt eine Chance zur Früherkennung, aber eben nur, wenn diese Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen werden. Mütter aus sozial randständigem Milieu bringen ihre Kinder, je älter diese werden, immer seltener zu Vorsorgeuntersuchungen. Nach einer Untersuchung von Koch (1999, S. 57 ff.) hat dies in der DDR besser funktioniert. Doch selbst wenn diese Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen werden, bleibt das Verfahren für Kinder mit psychosozialen Risiken unbefriedigend, denn die Untersuchungen sind in erster Linie darauf ausgerichtet, Entwicklungsverzögerungen oder Entwicklungsauffälligkeiten am Kind festzustellen und nicht psychosoziale Risikofaktoren in seiner Umwelt zu erfassen, deren Auswirkungen zu Entwicklungsverzögerungen führen. Erst wenn die festgestellten Entwicklungsstörungen als Anzeichen einer drohenden Behinderung eingeschätzt werden, kann ein Kind Frühförderung erfahren. Sollen für Kinder mit psychosozialen Risiken rechtzeitig Maßnahmen zur Frühförderung eingeleitet werden, dann müssen diese Risiken in der Umwelt des Kindes erkannt werden, ehe sich ihre Auswirkungen als Entwicklungsverzögerungen am Kind manifestieren. Die üblichen Verfahren zur Früherkennung (Entwicklungstabellen, Screenings) sind dafür ungeeignet, da es dabei in erster Linie um den Entwicklungsstand des Kindes geht und Fragen nach der Lebenswelt und den Erziehungsbedingungen kaum vorkommen. Die Checkliste der Vorsorgeuntersuchungen U3-U8 weist nur zwei Fragen in dieser Richtung auf. Unter den von Thurmair und Naggl (2002, S. 63-69) aufgeführten 17 Screening-Verfahren, die als Hilfsmittel für eine fachspezifische Diagnostik dienen, erscheint bei den Inhaltsbereichen nur einmal die Frage nach familiärer und psychosozialer Belastung in dem Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungsrückständen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK) von Mayr (1998). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung von Meisels und Wasik (1990) in den USA. Zusammenfassend stellen die Autoren fest: 1. Die Messwerte bei der Geburt eines Kindes haben einen äußerst geringen Vorhersagewert für die spätere Intelligenz- und Sprachentwicklung. 2. Die standardisierten Messinstrumente für die kindliche Entwicklung sind während des ersten Lebensjahres von begrenztem Wert. 3. Aus der Mutter-Kind-Interaktion und den Umweltfaktoren lassen sich Langzeitentwicklungen gut vorhersagen. 4. Familienökologische Variablen (Stress, soziale Unterstützung oder mütterliche Erziehung) sagen spätere intellektuelle Fähigkeiten besser vorher als irgendwelche Testergebnisse aus dem ersten Lebensjahr und ungefähr gleich gut wie Testergebnisse im zweiten Lebensjahr.
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Prävention
Meisels und Wasik (1990) schlagen daher für die Früherkennung einen am Lebenskontext orientierten Ansatz vor (contextual approach). Solche am Lebenskontext orientierten Verfahren zur Früherkennung gibt es noch nicht, obwohl die Schaffung von entsprechenden Instrumentarien zur Früherkennung schon in den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973, S. 47) gefordert wurde. Als Orientierungshilfe für solche Verfahren zur Diagnose des Lebenskontextes könnte z. B. die Auflistung psychosozialer Risiken aus der Mannheimer Längsschnittstudie (Laucht et al., 1999, S. 77) dienen, die folgende Punkte aufführt: 1 Niedriges Bildungsniveau der Eltern 2 Beengte Wohnverhältnisse 3 Psychische Störung eines Elternteils 4 Anamnestische Belastung der Eltern 5 Disharmonische Partnerschaft 6 Frühe Elternschaft 7 Ein-Eltern-Familie 8 Unerwünschte Schwangerschaft 9 Mangelnde soziale Integration und Unterstützung 10 Ausgeprägte chronische Schwierigkeiten 11 Mangelnde Bewältigungsfähigkeit der Eltern Vor einer unreflektierten Anwendung dieser Punkte als Checkliste zur Früherkennung muss allerdings gewarnt werden. Einmal gilt es zu beachten, dass die Autoren nur bei einer Kumulation von drei und mehr Punkten von einer Gefährdung durch psychosoziale Risiken sprechen. Zum andern muss nicht in jedem Fall eine Häufung der aufgeführten Faktoren zu Entwicklungsverzögerungen führen; viel wichtiger ist die tatsächliche Interaktion mit dem Kind, dessen Pflege und Erziehung. Vom Deutschen Kinderschutzbund und dem Institut für soziale Arbeit e.V. in Münster wird die Problematik der Entwicklungsgefährdung durch psychosoziale Risiken unter dem Begriff der Vernachlässigung behandelt. Eine Broschüre zum Thema „Kindesvernachlässigung“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000) versucht, praktische Hilfestellung zur Erkennung von Situationen zu geben, in denen die kindliche Entwicklung gefährdet ist. Mit folgender Auflistung werden die Risiken umrissen und zugleich deutlich gemacht, dass ihre Kumulation die Wahrscheinlichkeit der Vernachlässigung steigert: „Je geringer die finanziellen und materiellen Ressourcen ... [und] je schwieriger das soziale Umfeld ... [und] je desorganisierter die Familiensituation ... [und] je belasteter und defizitärer die persönliche Situation der erziehenden Eltern ... [und] je herausfordernder die Situation und das Verhalten des Kindes ... um so höher ist das Risiko, dass sich eine Vernachlässigungssituation für das Kind entwickelt“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 27; Hervorhebungen ausgelassen). Einschränkend weisen die Verfasser jedoch darauf hin, dass der Umkehrschluss nicht erlaubt sei, wonach bei einer Häufung der Faktoren immer auch Vernachlässigung vorliegen müsse. „Dies würde gerade jenen Eltern und Familien nicht gerecht, die trotz immenser Belastungen eine unter diesen Umständen hervorragende Betreuung und Erziehung ihrer Kinder gewährleisten“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 27). Ergänzend zur dieser Auflistung relativ allgemein gehaltener Risikofaktoren bietet die Broschüre sehr konkrete, operationalisierte Fragen zu den alltäglichen Lebensbedin-
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gungen von Säuglingen und Kleinkindern. Zwei Beispiele daraus sollen hier wiedergegeben werden: Geeigneter Wach- und Schlafplatz – Liegt das Kind tagsüber stundenlang in einem angedunkelten oder künstlich beleuchteten Raum und bekommt kaum Tageslicht? – Sind Matratzen und Kissen ständig nass und muffig? – Liegt das Kind immer in der Wippe, der Tragetasche oder im Bett? Zärtlichkeit, Anerkennung und Bestätigung – Wird das Kind beim Füttern in den Arm genommen oder bekommt es lediglich eine Flasche, die es allein austrinken muss? – Erfolgt das Wickeln grob und ohne Ansprache? – Wird dem Kind bei Krankheit oder Verletzung Trost verweigert? – Wird der Säugling bei unerwünschtem Verhalten (z. B. Strampeln beim Wickeln) gezüchtigt, geschlagen, gekniffen, geschüttelt usw.? (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 41 f.) Solche Fragen können allerdings nur von Personen beantwortet werden, die in unmittelbarem Kontakt mit den Familien und vor allem den Müttern stehen, wie z. B. Hebammen und Kinderschwestern der Entbindungsstationen, Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, des Kinderschutzbundes oder Erzieherinnen in Kindertagesstätten. Zur Erfassung der pädagogischen Qualität in unterschiedlichen Betreuungssettings können auch die Skalen von Tietze, Schuster, Grenner und Roßbach (2001) verwendet werden. Das Fehlen von Frühfördermaßnahmen für lernbehinderte Kinder wurde bisher häufig mit dem Einwand begründet, man könne diese Kinder ja so früh nicht erkennen und darum auch keine Frühförderung für sie bieten. Dieser Einwand ist nicht länger haltbar. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass alle Bemühungen um Früherkennung nur sinnvoll sind, wenn es auch entsprechende Hilfeangebote für die Mütter, die Familien und die Kinder gibt. Um solche Hilfeangebote zu schaffen, muss unter Umständen der Bedarf nachgewiesen werden. In solchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, die Früherkennung schon durchzuführen, wenn noch keine entsprechenden Hilfeangebote bestehen. Neben diesen gezielten Bemühungen um Früherkennung vernachlässigter Kinder sind auch andere Strategien denkbar, wenn man punktuelle Lösungen akzeptiert und nicht auf flächendeckenden Lösungen beharrt. So können z. B. in sozialen Brennpunkten oder in sanierungsbedürftigen Altstadtvierteln Hilfeangebote für Mütter und Kleinkinder installiert werden. In der Zusammenarbeit mit Entbindungskliniken können sich Hinweise auf psychosoziale Risiken der dort entbundenen Kinder ergeben. In der Längsschnittuntersuchung von Becker (1991, S. 48), die noch zu DDR-Zeiten durchgeführt wurde, zeigte sich, dass Kinder, die im vierten bis fünften Lebensjahr als entwicklungsauffällig eingestuft wurden, schon in den ersten Lebenstagen als „sozial betreuungsbedürftig“ erschienen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen der Frühförderung und den Jugendämtern kann ebenfalls die Früherkennung vernachlässigter Kinder ermöglichen.
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Prävention
14.5 Maßnahmen zur Frühförderung 14.5.1 Orientierungspunkte und Rahmenbedingungen Maßnahmen zur Frühförderung müssen sich an den besonderen Bedürfnissen der Kinder, die gefördert werden sollen, orientieren und nicht an deren Entwicklungsdefiziten. Damit dies gelingt, müssen alle Bemühungen um Förderung dieser Kinder deren gesamte Lebenslage mit in Betracht ziehen. Die positiven Wirkungen früher Hilfen für Kinder mit psychosozialen Risiken wurden in den USA durch eine Reihe von Untersuchungen gut belegt (vgl. Dunst, Snyder & Mankinen, 1989; Farran, 1990; Haskins, 1989; Mayr, 2000; White, 1985/86). Als entscheidende Merkmale erfolgreicher Frühförderung ergaben sich dabei folgende Punkte, die als Orientierungshilfe für eine den Bedürfnissen der Kinder angemessene Gestaltung der Frühförderung dienen können: – Der frühe Beginn, möglichst schon während der Schwangerschaft oder bei der Geburt. – Die Befriedigung der alltäglichen Grundbedürfnisse des Kindes und die Stabilisierung der Lebenslage der Eltern. – Der Aufbau einer guten emotionalen Beziehung und Bindung sowie eine sensible Interaktion mit einer verlässlichen Bezugsperson. – Die Ermöglichung spontaner Eigenaktivität des Kindes in selbstgestalteten Lernprozessen. Für die Gruppe der Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, die aus günstigem familiärem Umfeld kommen, bieten die gegenwärtigen Einrichtungen zur Frühförderung geeignete Hilfen und Fördermaßnahmen. Die rechtlichen Grundlagen dazu finden sich – trotz der gegenwärtigen Unsicherheiten – im neunten Band des Sozialgesetzbuches (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) in den §§ 11 „Heilpädagogische Maßnahmen“ und 56 „Heilpädagogische Leistungen“. Allerdings besteht bei diesen Kindern manchmal die Tendenz, ihnen zuviel an Fördermaßnahmen zuzumuten, wollen doch die Eltern nichts unversucht lassen, um ihrem Kind zu einer regelgerechten Entwicklung zu verhelfen. So kann es geschehen, dass ein Kind an mehreren Tagen in der Woche zu wechselnden Therapien gebracht wird und den Eltern auch noch nahe gelegt wird, zu Hause weiterzuüben. Bei einem solchen Übermaß an Übungs- und Trainingssequenzen kommt die Eigenaktivität eines Kindes oft zu kurz. Das Bemühen der Erwachsenen nach dem Motto „Viel hilft viel“ übersieht, dass kindliche Entwicklung von der Eigenaktivität der Kinder getragen werden muss. Allzu forciertes Drängen und Trainieren führt schnell zu Verweigerung und Desinteresse. In diesem Sinne fasst Wilken ihre langjährigen Erfahrungen zusammen: Wir können somit für das Kind zwar günstige Bedingungen für seine Entwicklung gestalten, aber wir müssen bedenken, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, den das Kind selbst leisten muss. Eine überzogene Aktivität der Bezugsperson kann deshalb dazu führen, dass die kindliche Eigenaktivität eingeschränkt bzw. gestört wird. (1999, S. 111)
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Für die große Zahl der Kinder, die in sozial randständigen, durch Armut geprägten Familien aufwachsen, bietet das bestehende System der Frühförderung kaum zureichende Fördermöglichkeiten. Ähnlich wie bei der Früherkennung ist eine enge Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe notwendig. Da die Maßnahmen zur Frühförderung zeitlich meist auf eine oder zwei Stunden pro Woche begrenzt sind, müssen sie durch Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe ergänzt werden. Dazu ist der Aufbau von multiprofessionellen Netzwerken erforderlich, wie ihn Schone (2000, S. 85) vorschlägt. Die allgemeinen und speziellen Dienste der Jugendhilfe, des Gesundheitswesens, Familien- und Vormundschaftsgerichte sowie die psychologisch-pädagogischen und therapeutischen Dienste müssen zu diesem Zweck eng kooperieren. Folgende Beispiele sollen Möglichkeiten der Kooperation und Vernetzung deutlich machen. 14.5.2 Beispiele der Kooperation und Vernetzung Familienhebammen, wie es sie in Bremen und in Hannover gibt, arbeiten vor allem in Familien aus sozialen Brennpunkten. Sie kümmern sich neben ihrer Hebammentätigkeit im engeren Sinn auch um die ganze Familie, die psychosozialen Rahmenbedingungen bei Schwangerschaft und Geburt (Schone, 2000). Stadtteilorientiertes Bindungsförderungsprojekt: In dem Kölner Projekt „Frühe Kindheit“ wird gezeigt, wie Kinderschutz und Jugendhilfe zur Unterstützung einer guten Eltern-Kind-Beziehung zusammenarbeiten (Blum-Maurice & Bächer, 2003). Interdisziplinäre Frühberatungsstellen z. B. in sozialen Brennpunkten in Bremen (Beyersmann, 2000), München (Pommer-Irmisch, 2000) oder Hamburg (Barth, 2000) arbeiten zusammen mit Kinderärzten, Säuglingsschwestern, dem Allgemeinen Sozialen Dienst und der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Wie ein solches Netzwerk, das Frühförderung und lebensweltorientierte Sozialarbeit verbindet, auf überregionaler Ebene konzipiert und umgesetzt werden kann, zeigt die britische Regierung mit ihrem Programm „Sure Start“, das sie 1999 begonnen und mit einem Finanzvolumen von 1.690.000 e bis zum Jahr 2004 ausgestattet hat. Lokale Initiativen in Quartieren mit vielen armen Familien werden durch dieses Programm unterstützt. Diese Initiativen arbeiten mit Eltern und werdenden Eltern zusammen. Kernangebote der lokal unterschiedlichen Programme sind: aufsuchende Arbeit und Hausbesuche, Unterstützung der Familien und Eltern, Unterstützung bei qualifiziertem Spiel, beim Lernen und beim Gewinnen guter Erfahrungen in der täglichen Fürsorge für die Kinder, grundlegende und gemeindebezogene Gesundheitsdienste, Unterstützung von Kindern und Eltern mit besonderen Bedürfnissen einschließlich der Kontaktvermittlung zu speziellen Diensten (vgl. hierzu die Rubrik Stichwort in der Zeitschrift Frühförderung interdisziplinär, 2003, S. 38). 14.5.3 Möglichkeiten zur Frühförderung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) enthält eine Reihe von Maßnahmen, die als Frühfördermaßnahmen für Kinder mit psychosozialen Risiken geeignet sind.
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1. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a)
Unter seelischen Behinderungen ... können ... alle psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter zusammengefasst werden, die sich – einerseits als Entwicklungsstörungen gegenüber der geistigen Behinderung abgrenzen lassen und – als chronische Störungen trotz einer laufenden begleitenden ärztlichen Behandlung oder auch unabhängig von einer solchen die psychosoziale Entwicklung und Integration des Kindes und Jugendlichen nachdrücklich beeinträchtigen. (Lempp, 1999, S. 25 f.)
2. Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder (§ 19)
Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, sollen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. (Kinder- und Jugendhilfegesetz, § 19, Abs. 1) Diese gemeinsamen Wohnformen sind für sehr junge, alleinerziehende Mütter oder Väter gedacht.
3. Tagespflege – Tagesmütter (§ 23) 4. Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31)
Sozialpädagogische Familienhilfe muss dann gewährt werden, „...wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27, Abs. 1). Adressaten der sozialpädagogischen Familienhilfe sind Familien mit Schwierigkeiten in mehreren Lebensbereichen: geringes Einkommen, beengte Wohnung, Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau, Krankheit und geringe soziale Partizipation.
5. Vollzeitpflege (§ 33)
Neben der regulären Vollzeitpflege sieht das Gesetz im Satz 2 des § 33 ausdrücklich vor, dass für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen sind. Allerdings hinkt auch in diesem Punkt die Realität den gesetzlichen Verpflichtungen noch nach.
Die hier in sehr verkürzter Form wiedergegebenen Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe werden für die Frühförderung von Kindern mit psychosozialen Risiken noch viel zu wenig in Anspruch genommen. Die Kooperation zwischen Frühförderstellen und Jugendämtern muss darum intensiviert werden. Mit den bisher dargestellten Maßnahmen zur Frühförderung wurden Organisationsformen und Rahmenbedingungen beschrieben, die allerdings noch durch die konkrete pädagogische Arbeit ausgefüllt werden müssen. Qualität und Effizienz dieser Maßnahmen hängen somit in hohem Maße von den Kompetenzen und der Persönlichkeit der beteiligten Personen ab.
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14.5.4 Kinderkrippen Eine pädagogisch konzipierte und gestaltete Einrichtung zur ganztägigen Erziehung von Kleinkindern ist die Kinderkrippe oder Kindertagestätte. In ihrer heutigen Form hat sie nur noch wenig mit den Kinderkrippen gemeinsam, die über hundert Jahre der Beaufsichtigung und Pflege von Säuglingen und Kleinkindern dienten. Die negativen Vorurteile über Krippen stammen aus jener Zeit und wurden noch verstärkt durch das Klischee von DDR-Krippen als Anstalten zur Indoktrination. Heute sind die meisten Kindertagestätten so geführt, dass sich Kinder dort wohl fühlen, Menschen finden, die sie annehmen, sich um ihre großen und kleinen Bedürfnisse kümmern und ihnen eine sichere Basis bieten, von der aus sie eine gut vorbereitete Umgebung erkunden können. Emmi Pikler, die ungarische Kinderärztin, fasst ihr Konzept zur Gestaltung von Tageseinrichtungen für Säuglinge und Kleinkinder in fünf Grundannahmen zusammen: 1. Jedes Kind ist Subjekt seiner Entwicklung und hat seinen eigenen Entwicklungsrhythmus. 2. Ein „normales“ Kind weiß am besten selbst, was seine Aufmerksamkeit erregt; es muß nicht beschäftigt werden, braucht keine Stimulanz, sondern beschäftigt sich selbst, wenn es Ruhe, Raum und Material dazu hat. 3. Erwachsene sollen dem Kind keine Fähigkeiten beibringen, sondern das Kind den jeweils nächsten Entwicklungsschritt finden lassen. 4. Entscheidend ist nicht, wann ein Kind etwas „schon“ macht, sondern wie es das macht. 5. Beziehungen zwischen Erwachsenem und dem Kind entstehen vor allem während der gemeinsamen Tätigkeiten des täglichen Lebens, also vor allem in den Pflege- und Füttersituationen. (Pikler, 1979, zitiert nach Kokigei & Prott, 1985, S. 16; Hervorhebungen ausgelassen) Für weitere spezielle Fragen zur Krippenerziehung sei auf ausführlichere Darstellungen verwiesen (Erath, 1992; Klein, 2002; Petersen, 1991; Reyer & Kleine, 1997). 14.5.5 Das Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP) Das Prager-Eltern-Kind-Programm wurde in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts von dem Psychologen Jaroslaw Koch in Prag entwickelt. Es ist ein Angebot für Mütter und Väter mit Säuglingen im Alter von fünf Wochen bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Die Eltern werden dabei angeleitet, in entspannter Atmosphäre mit ihren Kindern zu spielen. Dies geschieht in Gruppen von acht bis zehn Erwachsenen samt Säuglingen. Das Programm war zuerst für Krippen- und Heimkinder gedacht, wurde aber dann erweitert für Kinder und Mütter, die aus sozialen Gründen im „Heim für Mutter und Kind“ lebten. Koch hatte erkannt, wie schwer sich die sehr jungen Mütter in ungesicherter Lebenslage tun, mit ihren Säuglingen anregend zu spielen. Offenbar ist es Koch gelungen, das intuitive Verhalten der Mütter im Umgang mit ihren Säuglingen zu aktivieren. Solche PEKiPGruppen werden inzwischen durch ausgebildete Gruppenleiterinnen an vielen Orten in Deutschland angeboten. Eine ausführliche Darstellung der Anregungen und Spiele des
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Prävention
Programms gibt Polinski (1993). Wahrgenommen werden diese PEKiP-Gruppen jedoch vorwiegend von interessierten und informierten Müttern und weniger von den Müttern, für die das Programm ursprünglich von Koch entwickelt wurde. Es wäre wünschenswert, dass das PEKiP-Programm zum festen Bestandteil der Frühfördermaßnahmen für Säuglinge und deren Mütter gemacht wird. Gerade im ersten Lebensjahr ist es wichtig, dass Mütter und Väter in die pädagogische Frühförderung aktiv mit einbezogen werden. 14.5.6 Kindergarten Auch der Kindergarten ist eine wichtige Einrichtung für die Frühförderung. Da jedes Kind ab dem vollendeten dritten Lebensjahr das Recht auf einen Kindergartenplatz hat, ist der Kindergarten die erste familienergänzende Erziehungseinrichtung, in der alle Kinder eines Jahrgangs erreicht werden können. Für Kinder aus sozial randständigen Familien ist es allerdings nicht selbstverständlich, dass sie einen Kindergarten besuchen. Nicht der zu bezahlende Kindergartenbeitrag ist das Problem, sondern die Entfernung von der Wohnung. Soll ein Kind einen Kindergarten besuchen, der etwa einen Kilometer von der Wohnung entfernt ist, so heißt das für die Mutter, sie ist jeden Tag etwa zwei Stunden zu Fuß unterwegs, um das Kind am Vormittag hinzubringen, es am Mittag abzuholen, und am Nachmittag noch einmal dieselbe Wegstrecke. Sind noch weitere Kinder in der Familie, so bedeutet das eine solche Überforderung für die Mutter, dass sie das Kind nur sporadisch oder gar nicht in den Kindergarten bringen wird. Eine Aufgabe der Frühförderstellen wäre es, diesen Kindern einen regelmäßigen Besuch eines Kindergartens zu ermöglichen, was am besten durch einen Fahrdienst geschehen könnte. Viele Kinder mit Entwicklungsverzögerungen werden erst im Kindergarten auffällig, da die Erzieherinnen die Kinder objektiver als die Eltern und im Vergleich mit anderen Kindern desselben Alters sehen. Jeder Kindergarten muss daher mit den örtlichen Frühförderstellen zusammenarbeiten. Der Besuch eines Kindergartens ist in mehrfacher Hinsicht ein Beitrag zur Frühförderung. Die Bedeutung des Kindergartens für die Sozialerziehung ist bekannt. Für Kinder aus beengtem und anregungsarmem Umfeld bietet ein Kindergarten viele Anregungen und Lerngelegenheiten. Als ein Ort zur Früherkennung haben Kindergärten eine wichtige Funktion, obwohl man bei Dreijährigen und Älteren kaum mehr von Früherkennung reden kann. Spezielle zusätzliche Fördermaßnahmen können entwicklungsbeeinträchtigte Kinder im Kindergarten oft leichter erfahren als in den Familien. Für behinderte Kinder gibt es zwar nach wie vor Sonderkindergärten mit speziellen Einrichtungen, einem reduzierten Gruppenschlüssel und einem eigenen Fahrdienst. Über die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 40 des Bundessozialhilfegesetzes wurden jedoch die Möglichkeiten zur Integration behinderter Kinder in allgemeine Kindergärten erweitert. Die Regelungen in den einzelnen Bundesländern sind unterschiedlich.
14.6 Frühförderung als Spielförderung Wer in der Frühförderung arbeitet, muss sich oft der kritischen Rückfrage der Eltern stellen, warum mit ihrem Kind so viel gespielt werde. Darin zeigt sich die weit verbrei-
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tete Vorstellung, bei Frühförderung gehe es um ein spezielles Training, durch das unterentwickelte Funktionen geübt und Entwicklungsrückstände aufgeholt werden. Gestalt gewonnen hat diese Vorstellung in Trainingsprogrammen, bei denen es vor allem auf die Frühförderinnen ankommt, die durch geschickte Motivation die Kinder dazu bringen, die Übungen des Programms auszuführen. Frühförderinnen oder Therapeuten werden so für die erreichten oder ausbleibenden Entwicklungsfortschritte verantwortlich gemacht. Unausgesprochen steckt darin die Vorstellung, dass nichtbehinderte Kinder sich wie von selbst entwickeln, während behinderte oder entwicklungsverzögerte Kinder angeregt und vor allem trainiert werden müssen, damit ihre Entwicklung sich vollzieht. Diese Vorstellungen werden von einem technologischen Denken bestimmt, demzufolge alles machbar ist. Dabei wird übersehen, dass das Menschenkind keine zu formende Materie ist, die es nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten gilt. Jedes Kind wirkt von Geburt an aktiv an seiner Entwicklung mit. Darum ist menschliche Entwicklung nicht machbar und lässt sich nicht durch steuernde Eingriffe beschleunigen. Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung haben uns gezeigt, dass es die Eigenaktivität, die selbsttätige Auseinandersetzung eines Kindes mit seiner Umgebung ist, durch die ein Kind seine Fähigkeiten entwickelt und seine Fertigkeiten ausbildet (Leont’ev, 1977; Montessori, 1972; Piaget, 1969; Winnicott, 1997). Diese aktive Auseinandersetzung mit seiner Welt geschieht beim Kleinkind im Spiel. Im Spiel bildet es seine neuen Fähigkeiten aus, entwickelt sich und macht durch das Spielen Entwicklungsfortschritte. Die tiefe Verwurzelung des Spiels in der kindlichen Entwicklung, sein spontanes Auftreten und seine Universalität über alle Kulturen hinweg sprechen dafür, daß Spiel nicht nur als austauschbares Hilfsmittel für Entwicklung angesehen werden kann, sondern eine basale Funktion haben muß. (Oerter, 1996, S. 267) Wenn die frühkindliche Entwicklung sich vor allem dadurch vollzieht, dass ein Kind spielt, und wenn wir zugleich beobachten, dass behinderte oder entwicklungsverzögerte Kinder wenig spielen, dann müssen wir nach den Ursachen mangelnder Spielfähigkeit fragen. Sehr oft fehlt es an der Befriedigung der Grundbedürfnisse eines Kindes, wenn es nicht oder nur sehr oberflächlich spielt. Nur ein Kind, das sich wohl und geborgen fühlt, spielt. Während einer Krankheit spielt ein Kind weniger als in gesunden Tagen oder gar nicht mehr. Ist ein Kind müde, traurig oder fühlt es sich allein gelassen, wirkt sich sein Befinden auf sein Spiel aus. Das physische und psychische Wohlbefinden ist eine notwendige Voraussetzung, damit ein Kind spielen kann. (Largo, 1993, S. 226; Hervorhebungen ausgelassen) Auf die Bedeutung einer sicheren emotionalen Bindung eines Kindes an eine Bezugsperson als Voraussetzung für intensives Spielen weisen die Untersuchungen von Main (1977) hin. Fehlende Anregungen zum Spiel und fehlende Spieldinge können, wenn auch seltener, die Ursache für mangelndes Spielen eines Kindes sein. Organische Schädigungen können das kindliche Spielen beeinträchtigen. Durch restriktives Erzieherverhalten kann das Spielen vor allem bei lebhaften Kindern unterdrückt werden. Diesen Ursachen fehlender oder verminderter Spielfähigkeit bei Kleinkindern können wir Hinweise für die Gestaltung von Frühförderung als Spielförderung entnehmen.
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Spielen zu trainieren oder üben zu wollen, wäre ein Widerspruch in sich. Spielförderung wird sich also darauf beschränken müssen, die Voraussetzungen zu schaffen, die Kinder brauchen, damit sie mit Lust und Interesse spielen können. Die Voraussetzungen, die kindliches Spielen ermöglichen und fördern können, sollen darum im Einzelnen aufgeführt werden: – Die Befriedigung der Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Pflege und Bewegung. – Eine sichere Bindung des Kindes an eine erwachsene Bezugsperson. Das Kind braucht eine „sichere Basis“, von der aus es die Welt erkundet und die es ihm erlaubt, sich intensiv in ein Spiel zu versenken. – Lenkende oder korrigierende Eingriffe durch Erwachsene in das kindliche Spiel stören dieses und verunsichern das Kind. Es muss in seinem Spiel selbstbestimmend sein (Largo, 1993, S. 228). – Thema und Inhalt der Spielhandlungen soll das Kind frei wählen können. Nur so kann das Spiel dem aktuellen Entwicklungsbedürfnis eines Kindes entsprechen und von Interesse getragen sein. – Das Kind sollte in seiner Umgebung Dinge vorfinden, die es zum Spielen anregen. – Vor allem für Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter sind Erwachsene als einfühlsame Spielpartner unerlässlich. Aber auch ältere Kinder sind glücklich, wenn Erwachsene mit innerer Beteiligung mit ihnen spielen.
14.7 Spezielle Programme und Methoden der Frühförderung In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde eine Reihe von Programmen und Methoden zur Frühförderung entwickelt. Solche Frühförderprogramme können eine Hilfe sein für Frühförderinnen, die in ihrem Berufsfeld noch wenig Erfahrung haben, die bei einem Kind unsicher sind, wie sie vorgehen sollen, oder auch wenn sie durch die Eltern unter Handlungsdruck geraten (vgl. Thurmair & Naggl, 2002, S. 167). Auf die Problematik eines unkritischen Gebrauchs solcher Förderprogramme wurde mehrfach hingewiesen (Klein, 1996, 2002). Im Rahmen dieses Beitrags können die verschiedenen Methoden und Programme nur kurz erwähnt werden, ohne sie im Einzelnen kritisch zu würdigen. Eine sehr hilfreiche und knappe Übersicht über mehrere Frühförderprogramme geben Thurmair und Naggl in ihrem Buch „Praxis der Frühförderung“ (2002, S. 167 ff.). Sensorische Integrationstherapie nach Jean Ayres (1984) betont die Bedeutung der körperlichen Bewegung für die Entwicklung des Kleinkindes und für dessen Lernfähigkeit. Im Zentrum dieser Therapie steht die Bedeutung vestibulärer, propriozeptiver und taktiler Informationen für die Verbindung und Zusammenführung der Wahrnehmungen. Während vestibuläre Informationen Gleichgewicht und Raumlage und propriozeptive Informationen die Selbstwahrnehmung der Muskelspannung betreffen, hängen taktile Informationen mit Tasterfahrungen zusammen. In der therapeutischen Praxis (bei Ergotherapeuten) spielen Geräte wie Schaukeln, Rollbretter, Hängematten u. ä. eine Rolle. Durch sie sollen vor allem vestibuläre, kinästhetische und taktile Erfahrungen vermittelt werden. Die Einführung in die Methode der Sensorischen Integration geschieht in sehr praktisch ausgerichteten Fortbildungskursen (vgl. Ayres, 1984; Doering & Doering, 1990; Kesper, 2002).
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Psychomotorische Förderkonzepte sehen in der Bewegung ein tragendes Element der gesamten Entwicklung eines Kindes. Durch eine Vielfalt von Bewegungsspielen sowie durch Geräte und Materialien, die zur Bewegung anregen, wie Rollbretter, Trampolin, Sprossenwand, Seile, Rutschen, Wasser, Sand u. a. soll die Freude an Bewegungen geweckt und die Lust am selbständigen Beherrschen des Körpers erfahren werden (vgl. einführend Eggert, 1994 und in diesem Band; Esser, 2000; Kiphard, 1998; Hölter in diesem Band). Förderung der visuellen Wahrnehmung: Das von Marianne Frostig entwickelte und praktizierte Programm zur Wahrnehmungsförderung hat seinen Niederschlag in Arbeitsbögen gefunden, auf denen die Übungsaufgaben dargestellt sind. Es sind Aufgaben zum Nachfahren, Nachzeichnen, Ausmalen, Auffinden und Wiedererkennen. Die Lebendigkeit, mit der Marianne Frostig die Kinder zum Mitmachen anregen konnte, ist in den gedruckten Blättern nicht mehr zu erkennen und muss von den Erwachsenen, die damit arbeiten, eingebracht werden. Das in den Blättern vorgesehene Training der Wahrnehmung wird ergänzt durch sensomotorische, sprachliche und kognitive Übungen. Dem Frostig-Programm liegt die Annahme zu Grunde, dass die visuelle Wahrnehmung für eine ungestörte kindliche Entwicklung unverzichtbar ist. In Wahrnehmungsstörungen werden oft die Ursachen für Lernstörungen und für Probleme beim Schriftspracherwerb gesehen (siehe auch Fischer, 1998; Lockowandt, 1994; Reinartz & Reinartz, 1977 oder Greisbach in diesem Band). Frühförderung konkret wurde als spezielles Frühförderprogramm für behinderte Kinder von Straßmeier erstellt und ist 2002 in 5. Auflage erschienen. Die Aufgaben sind auf die Entwicklungsbereiche Selbstversorgung, Sozialentwicklung, Feinmotorik, Grobmotorik, Sprache, Denken und Wahrnehmung abgestimmt und den verschiedenen Altersstufen entsprechend gestaltet. Weitere Methoden und Förderprogramme, die vor allem der Sprache gelten, die aber immer auch Wahrnehmungsübungen mit einschließen, seien nur kurz genannt: Affolter (2001), Anderlik (1999), Britton (1999), Küspert und Schneider (1999) sowie von v. Oy und Sagi (1979).
14.8 Förderung bei Störungen des Spracherwerbs Da die sprachliche Entwicklung am besten auch den allgemeinen psychologischen Entwicklungsstand eines Kindes anzeigt und zuverlässig spätere Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten vorhersagen lässt, kann die frühest mögliche Diagnose von Verzögerungen beim Spracherwerb ein Weg sein, sich anbahnende Entwicklungsverzögerungen schon früh zu erkennen (Grimm & Doil, 2000, S. 7 f.). Wurde die Entstehung der meisten Sprachstörungen bisher erst nach dem 4. Lebensjahr angesetzt (Grohnfeldt, 1993, S. 180), so lassen die Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung heute sehr viel früher Verzögerungen im Spracherwerb erkennen. Die Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA) (Grimm & Doil, 2000) können schon bei den Vorsorgeuntersuchungen U6 (1.–12. Lebensmonat) und U7 (21.–24. Lebensmonat) eingesetzt werden. Einige Hinweise zum Problem Sprachförderung seien darum noch angefügt.
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Ältere Sprachförderprogramme waren auf Wortschatzerweiterung, Sprechfehlerkorrektur und Satzbauübungen ausgerichtet und nach dem Grundmuster konzipiert, dass geübt werden muss, was in den Bereichen Sprechfähigkeit und Sprachverständnis noch nicht altersgemäß entwickelt ist. Der Schwerpunkt dieser Art von Sprachförderung bestand darin, die Kluft zwischen Störung und Norm zu überwinden (Zollinger, 1999, S. 126). Neuere Ansätze (Dannenbauer, 1994; Grimm, 1999; Zollinger, 1999) sehen in einer „entwicklungsproximalen Intervention“ den besseren Weg. Dass heißt die Fördermaßnahmen orientieren sich an der normalen Sprachentwicklung und den dort beobachteten Spracherwerbsprozessen und versuchen die Förderangebote so zu gestalten, dass ein Kind dem Weg des normalen Spracherwerbsprozesses folgen kann. Die Spracherwerbsforschung hat vor allem auf die Vorausläuferfähigkeiten aufmerksam gemacht (Grimm, 1999). Solche Vorausläuferfähigkeiten werden in den ersten Lebensjahren entwickelt, z. B. Aufmerksamkeit auf Gesicht und Stimme der Mutter, Imitation, Gesten, Nutzung prosodischer Merkmale, Präferenz für mütterliche Stimme. Eine der wichtigsten Wurzeln des Spracherwerbs sieht Largo (1993, S. 309) im Beziehungsverhalten zwischen Säugling und Mutter oder einer anderen Bezugsperson. Die für die Sprachentwicklung grundlegende Bedeutung der „Ammensprache“ oder des „Baby-Talks“ haben die Untersuchungen des Ehepaars Papoušek (1994) gezeigt. Dem erwähnten Elternfragebogen ELFRA (Grimm & Doil, 2000) sind kurzgefasste Elternratgeber beigefügt, die diesen Erkenntnissen Rechnung tragen. Als Lehrstrategie, die die Mütter im 2. Lebensjahr eines Kindes anwenden, wurde die „stützende Sprache“ (scaffolding, engl. scaffold = Gerüst) und für den Beginn des 3. Lebensjahres (24.–27. Monat) die „modellierende Sprachstrategie“ beschrieben (Bruner, 1987; Grimm, 1999). Auf die Bedeutung der Eigenaktivität des Kindes beim Spracherwerb hat vor allem Zollinger (1999, S. 99) hingewiesen. Auf Grund langjähriger praktischer Erfahrungen konnte sie zeigen, wie der gestörte Spracherwerbsprozess dann wieder in Gang kommt, wenn es gelingt, die spontanen Tätigkeiten eines Kindes zur Orientierung in der Sprachförderung zu machen und das Interesse für das Sprachverständnis zu wecken. Für die Sprachförderung ist es nach Zollinger darum wichtig, bedeutungsvolle Situationen zu schaffen (Zollinger, 1999, S. 116). „Das Ziel der Therapie ist dann erreicht,“ schreibt Zollinger (1999, S. 99), „wenn das Kind seine Lust wieder entdeckt hat, d. h. wenn es den Anderen nonverbal oder verbal Fragen stellt und sich im Spiel mit den Gegenständen auseinandersetzt.“ In unserem Zusammenhang sind diese Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung insofern von Interesse, als sie deutlich machen, 1. dass Sprachförderung nicht erst dann einsetzen darf, wenn eine Sprachentwicklungsverzögerung festgestellt wurde, sondern schon im ersten Lebensjahr, wenn die Vorausläuferfähigkeiten entwickelt werden. 2. dass sich Sprachförderung in den späteren Lebensjahren an den mütterlichen Lehrstrategien orientieren sollte (vgl. Grimm & Doil, 2000). 3. dass es nicht um die Korrektur einer Störung geht, sondern um die Wiedergewinnung des ursprünglichen Zugangs zu Sprache und ihrer bedeutungserschließenden Funk tion. Damit wird auch deutlich, dass Sprachförderprogramme, deren Zielsetzungen vom Sprach entwicklungsstand des Schulanfängers bestimmt werden, voraussetzen, dass die frühen
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Formen des Spracherwerbs stattgefunden haben und es nun darum geht, das sprachliche Angebot in kompensatorischer Absicht zu bereichern. Diese Voraussetzungen sind bei vielen Kindern nicht gegeben, was die Wirksamkeit solcher Sprachförderprogramme im Vorschulalter einschränkt.
14.9 Elementarerziehung und Schulvorbereitung 14.9.1 Problemanalyse Wie wir gesehen haben, werden entwicklungsverzögerte Kinder mit psychosozialen Risiken durch das System der Frühförderung in Deutschland, wenn überhaupt, dann sehr spät erreicht (Klein, 2002). Das heißt, dass Frühförderung für lernbehinderte Kinder für einen kleinen Teil erst im Kindergarten beginnt, für viele erst kurz vor der Einschulung oder nach der Zurückstellung vom Schulbesuch. In Grundschulförderklassen oder Diagnose- und Förderklassen soll nachgeholt werden, was in den vorausgehenden sechs Jahren versäumt wurde. So ärgerlich oder bedauerlich diese Tatsache ist, so werden Frühförderinnen, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer weiterhin mit der Aufgabe konfrontiert sein, entwicklungsverzögerte Kinder im Alter von 5-7 Jahren so fördern zu sollen, dass sie beim Schuleintritt in ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen den Erwartungen der Grundschule entsprechen. Das Maß dieser Erwartungen ist in Schulreifetests operationalisiert. Gemessen werden Gestaltgliederungsfähigkeit, Mengenerfassung, Symbolverständnis, Feinmotorik und soziale Reife. Nachdem in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Schulreife nicht mehr als das Produkt eines endogenen Reifungsprozesses verstanden wurde (Kemmler, 1967) und die Frühlesebewegung Eltern und Pädagogen erfasst hatte, entstand eine Fülle von Trainingsmaterialien, mit deren Hilfe die in der Schule geforderten Fähigkeiten erworben werden sollten. Das in den USA begonnene Programm Head Start (Barnett, 1995; Opp & Fingerle, 2000; Wember, 2000) wurde zum Vorbild genommen. Die schwungvoll begonnene Vorschulerziehung verebbte wieder und führte jahrzehntelang ein bescheidenes Dasein in der Vorschule, die sich auf einen Nachmittag pro Woche in den Kindergärten reduziert hatte. Die Reste auflagenstarker Sprachtrainingsmappen kamen dort zum Einsatz. Mit der Kritik an einer Verwissenschaftlichung der Grundschule und an einer Überbetonung der kognitiven Fähigkeiten wurde der Pflege der Phantasie, des freien Spiels und der Rollenspiele in den Kindergärten wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das öffentliche Interesse an Kindergärten reduzierte sich allerdings weitgehend auf die Rahmenbedingungen wie Öffnungszeiten und Betreuungssätze. Dass darüber die Interessen und Fähigkeiten der Kindergartenkinder zu wenig Beachtung fanden und unterschätzt wurden, darauf hat nun Elschenbroich mit ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“ (2001) aufmerksam gemacht. Schließlich war es die Pisa-Studie, die auch die Förderung im Vorschulalter wieder ins Blickfeld bildungspolitischer Interessen rückte. In diesem Kontext wechselnder Verunsicherungen von Erzieherinnen und Eltern, Lehrerinnen und Lehrern war und ist es schwierig, einen sinnvollen Weg für die Frühförderung entwicklungsverzögerter und sozial benachteiligter Kinder zu finden. Frühförderung im Elementarbereich und als schulvorbereitende Maßnahme bewegt sich in
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dem Spannungsfeld, dessen eine Seite die Anforderungen der Schule darstellen und die Erwartungen der Eltern, dass das Kind schulfähig gemacht wird, dessen andere Seite die entwicklungsverzögerten, vernachlässigten, beunruhigten und verängstigten Kinder sind, von denen viele erstmals eine spezielle Förderung erfahren sollen. Fertigkeiten sollen eingeübt werden, für die die grundlegenden Fähigkeiten kaum ausgebildet wurden und die vom Interessenhorizont der Kinder oft weit entfernt sind. Was diese Kinder bereitwillig mitmachen, wenn sich ihnen überhaupt ein Mensch freundlich und warmherzig zuwendet, ist erstaunlich. 14.9.2 Spezielle Fördermaßnahmen Welche Entwicklungsfortschritte wodurch erreicht werden, darüber wissen wir wenig. Über positive Langzeiteffekte von speziellen Interventionsprogrammen in den USA berichten Dunst et al. (1996), Haskins (1989) und Mayr (2000). Tietze (2002, S. 511) berichtet über mehrere Untersuchungen auch aus Europa, die deutliche Zusammenhänge zwischen pädagogischer Qualität der Betreuung im Vorschulalter und positiver langfristiger Entwicklung der Kinder zeigten. Sehr positive Auswirkungen auf den Schriftspracherwerb zeigte das Würzburger Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit (Küspert & Schneider, 1999). Das „Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ (BISC) (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999) kann nach Aussage der Autoren die präventive Förderung zur Vermeidung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten unterstützen. 14.9.3 Ganzheitlichkeit und Eigenaktivität Die generelle Abkehr von isolierten, funktionsorientierten Therapien oder Trainingsprogrammen in der Frühförderung und die Betonung der ganzheitlichen Gestaltung von Fördermaßnahmen gilt auch für den Elementarbereich. Ganzheitlichkeit darf allerdings nicht additiv verstanden werden als Förderung aller Funktionsbereiche. Ganzheitlich ist eine Förderung dann, wenn ein Kind als ganze Person, als Subjekt seines Handelns, aktiv mit Leib und Seele an seinem Tun beteiligt ist. Ob dann bei einer Übung alle oder nur einzelne Funktionen Beachtung finden, ist zweitrangig. Auch für diese Altersstufe gilt die Erkenntnis, dass kindliche Entwicklungs- und Lernprozesse von der Eigenaktivität der Kinder getragen und vorangebracht werden. Im Rahmen des Reutlinger Forschungsprojektes zur Frühförderung entwicklungsverzögerter und entwicklungsgefährdeter Kinder zeigte sich, dass bei einem Kind immer dann deutliche Entwicklungsfortschritte eintraten, wenn das Kind anfing, sich selbständig und aktiv mit seiner Welt auseinanderzusetzen und sich diese so anzueignen. Der abschließende Bericht erhielt darum den Titel „Das Kind als Akteur seiner Entwicklung“ (Kautter, Klein, Laupheimer & Wiegand, 1998). Vergleichbare Erfahrungen schildert Zollinger (1999) aus der Sprachförderung. Über unerwartet positive Entwicklungen von schwierigen Schülerinnen und Schülern in der Eingangsstufe einer Förderschule/Schule für Lernbehinderte berichtet auch die
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Sonderschullehrerin Braun (2003), nachdem sie ihren Unterricht und das Klassenzimmer umgestaltete. Sie unterteilte das Klassenzimmer in einen Arbeitsbereich und einen Spielbereich. Die so gestaltete Umgebung und die veränderte Haltung der Lehrerin waren die Voraussetzung für die Entfaltung der Eigenaktivität der Kinder im Spiel und in der Freiarbeit. In einem Erfahrungszeitraum von fünf Jahren konnten nach dem Besuch der ersten Klasse der Förderschule 38 % der Kinder mit Erfolg die Allgemeine Schule besuchen (Braun, 2003, S. 220). In diesem Konzept einer offenen Unterrichtsgestaltung zeigt sich eine gelungene Balance zwischen dem entwicklungsfördernden Spiel und der schulvorbereitenden Einübung in selbständiges Arbeiten. 14.9.4 Ausbilden von Lernstrategien Im Hinblick auf die Anforderungen der Schule ist es sicher sinnvoll, zweckmäßige Lernstrategien auszubilden, wie sie Kretschmann, Dobrindt und Behring (1997) beschrieben haben. Im Kindergarten und in der Schule bietet die Montessori-Pädagogik dafür eine gute Möglichkeit, denn genau die von Kretschmann et al. (1997) beschriebenen Maßnahmen sind feste Bestandteile einer Arbeit im Sinne Montessoris. – Der Zeitdruck wird vom Kind genommen, da jedes Kind Zeitpunkt und Dauer seiner Arbeit mit den Materialien selbst bestimmt. Ein leitendes Motto der MontessoriPädagogik lautet „Lasst uns Zeit“ und wird oft mit dem Symbol der Schnecke verbunden. – In den „Lektionen“ wird jedem Kind einzeln gezeigt, was und wie es etwas tun soll. Die eindrückliche Demonstration der Lösungswege durch eine Modellperson erweckt in den Kindern die Lust zur Nachahmung. – Wettbewerbssituationen werden dadurch vermieden, dass jedes Material nur einmal vorhanden ist. Der bewusste oder unbewusste Leistungsvergleich, der dem Frontalunterricht immanent ist, kann nicht stattfinden, da jedes Kind etwas anderes arbeitet und nur seinen eigenen Leistungsfortschritt registriert. – Die Möglichkeit zur Selbstkontrolle ist ein fester Bestandteil der Freiarbeitsmaterialien und schützt das Kind vor der beschämenden Bloßstellung seiner Fehler. – Wenn Kretschmann et al. die Aufgabe der Förderlehrerin „in der Suche nach Angeboten, die das Kind interessieren“ (1997, S. 148) sehen, dann entspricht das der Aufgabe des Beobachtens in Montessori-Klassen. Die Lehrenden sollen durch ihr Beobachten der Kinder erkennen, wofür ein Kind Interesse zeigt, wo sich eine „sensible Phase“ für eine Sache ankündigt. Aufgabe der Lehrenden ist es dann, entsprechende Materialien dem Kind anzubieten und es in den Gebrauch durch eine Lektion einzuführen. – Der „Polung der Aufmerksamkeit“ (Kretschmann et al., 1997, S. 144) dient das ganze Arrangement der Montessori-Pädagogik (vorbereitete Umgebung, Wahlfreiheit, Zeitfreiheit, Zurückhaltung der Lehrenden usw.) mit dem Ziel, den Kindern die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ (Montessori) zu ermöglichen. – Das konzentriert arbeitende Kind vor Störungen durch andere zu schützen, ist eine wesentliche Aufgabe der Lehrerin. Sie selbst hält sich zurück und gewährt nur dem Kind Hilfe, das darum bittet. Dies entspricht dem allmählichen Ausblenden von Hilfestellung und Hilfen, wie es Kretschmann et al. (1997, S. 148) fordern.
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14.9.5 Übergang zur Schule Die Bemühungen, durch Frühförderung und schulvorbereitende Hilfen entwicklungsverzögerten Kindern zu einem guten Schulanfang zu verhelfen, können durch die Einschulungspraxis zunichte gemacht werden. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Tina hatte nach zweieinhalb Jahren in einem Förderkindergarten ihre starke Scheu und Zurückhaltung überwunden und ihre anfängliche Sprachverweigerung aufgegeben. Nach gründlicher Prüfung erschien sie allen Beteiligten als schulfähig. In Gesprächen mit dem Schulleiter der zuständigen Grundschule und mit der künftigen Klassenlehrerin wurde die Einschulung vorbereitet. Der Schulleiter versprach, darauf zu achten, dass das Mädchen mit benachbarten Kindern aus seinem Wohnblock in eine Klasse komme. – Drei Wochen nach Schuljahresbeginn rief eine Klassenlehrerin im Kindergarten empört an und fragte, was man ihr da für eine Autistin geschickt habe. – Was war geschehen? Die vorgesehene Klassenlehrerin war an eine andere Schule versetzt worden. Die Zuteilung der Kinder zu den einzelnen Klassen hatte die Sekretärin des Rektors nach dem Alphabet vorgenommen. Die neue Klassenlehrerin wusste von all den Absprachen nichts. Nach wenigen Wochen wurde das Mädchen an eine Förderschule umgeschult. Die Einschulung in eine Grundschule oder auch in eine Förderschule bedarf darum der sorgfältigen Vorbereitung, vor allem aber der Abstimmung mit allen Beteiligten. Zunächst gilt es abzuwägen, ob der Unterricht in dieser speziellen Grundschulklasse dem Kind eine positive Fortführung der begonnenen Lernprozesse ermöglichen wird oder ob eine Rückstellung vom Schulbesuch besser ist. Wird eine Einschulung in die Grundschule empfohlen, dann muss die Frühförderstelle bereits im alten Schuljahr mit der Schulleitung und mit der künftigen Lehrerin oder dem Lehrer Kontakt aufnehmen. Dabei wird es um eingehende Informationen über die Lebenssituation und die besonderen Bedürfnisse des Kindes gehen. Gegebenenfalls sollten auch spezielle didaktische Hilfen und Materialien mitgegeben werden. Finden solche Gespräche jedoch keine positive Aufnahme bei den künftigen Lehrkräften, dann sollte die Frühförderstelle für das Kind eine andere Schule suchen. Unter Umständen kann es auch notwendig sein, ein Kind in den ersten Tagen nach Schulbeginn noch in der neuen Klasse durch eine vertraute Person zu begleiten. Denkbar ist auch, dass eine Person aus der Frühförderung mit dem einzuschulenden Kind die künftige Lehrkraft noch im Unterricht mit ihrer alten Klasse besucht. Dies alles können nur allgemeine Hinweise sein. In jedem Einzelfall gilt es, die spezielle Situation des Kindes und die Möglichkeiten der aufnehmenden Klasse zu beachten und abzuwägen, welches der bessere Weg für ein Kind ist. In einigen Fällen wird auch eine direkte Einschulung in eine Förderschule notwendig sein. In jedem Fall wird es darum gehen, die speziellen Bedürfnisse eines Kindes mit den Möglichkeiten der aufnehmenden Schule sehr konkret und zuverlässig abzustimmen und den Übergang behutsam zu begleiten.
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244
| Teil IV:
Prävention
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15 Schulalter Rudolf Kretschmann Unter Prävention soll die pädagogische Zielsetzung verstanden werden, schulische Lern- und Lebensbedingungen so zu gestalten, dass alle Lernenden bestmögliche Entwicklungschancen erhalten; vor allem aber soll unter Prävention ein Ensemble von Maßnahmen verstanden werden, welche geeignet sind zu verhindern, dass sich bei Kindern und Jugendlichen, welche „von Behinderung bedroht“ sind (Deutscher Bildungsrat, 1974), manifeste Lern- und Verhaltensprobleme ausbilden. Den Gegenstandsbereich pädagogischer Prävention bilden Lern- und Verhaltensprobleme als reaktive Störungen, welche durch inadäquate vorschulische bzw. schulpädagogische Angebote provoziert oder verstärkt werden, mit Einschränkungen auch Störungen, die ihre Ursachen zwar außerhalb des schulischen Settings haben, sich aber in der Schule manifestieren. Zwar ist die Schule häufig damit überfordert, Probleme, die außerhalb ihres Wirkungsbereichs liegen, zu lösen, aber sie ist dennoch gefordert, auf das Verhalten der Lernenden in der Schule adäquat zu reagieren.
15.1 Systemische und entwicklungsökologische Ausgangsüberlegungen Wie im ersten Handbuchbeitrag ausgeführt, sind Lernstörungen multisymptomatisch und multikausal. So wenig, wie Einzelereignisse zur Entstehung komplexer Entwicklungsergebnisse führen, so wenig lassen sich eingetretene Fehlentwicklungen durch pädagogische Einzelmaßnahmen aufhalten oder gar rückgängig machen. Wie Bronfenbrenner bereits 1974 ausführt, bleiben pädagogische oder therapeutische Beeinflussungsversuche vor allem dann wirkungslos, wenn sie auf Einzelsymptome zielen, von kurzer Dauer, von geringer Breite und geringer methodischer Vielfalt sind. Deutlich unterschiedliche Entwicklungsverläufe zeigen dagegen Kinder, wenn sie in unterschiedlichen Gesellschaften oder Subkulturen heranwachsen. Bronfenbrenner zieht daraus den Schluss, dass die Entwicklung von Individuen nicht von pädagogisch-therapeutischen Einzelmaßnahmen beeinflusst wird, sondern von Umwelten. Er folgert weiterhin, dass man Umwelten, Lebensräume als Ganze zum Positiven verändern muss, wenn man die Entwicklung von Kindern zum Besseren wenden will. Bronfenbrenner nennt seine Sicht der Dinge eine ökologische Betrachtungsweise. Die Systemforschung hat die Erkenntnisse über die relative Unwirksamkeit von Einzelmaßnahmen erweitert: Ein Förderangebot, das im Fall von Verhaltens- oder Lernproblemen realisiert wird, bedeutet einen Eingriff in ein System oder in mehrere Systeme, in unserem Fall in die Systeme Schule und Familie. Systeme aber reagieren träge; punktuelle Eingriffe in das System werden „abgepuffert“ (Vester, 1984). Werden dagegen mehrere gleichsinnige Förderangebote gebündelt, kann es zu synergetischen Wirkungen kommen, zu wechselseitigen Wirkungsverstärkungen. Richtungsweisend für eine entwicklungsförderliche Gestaltung von Systemen ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon vor Jahren getroffene Unterschei-
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| Teil IV:
Prävention
dung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Unter primärer Prävention werden Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge für die Gesamtbevölkerung verstanden. Dazu gehört z. B. der Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Lebensmittelkontrolle, aber auch die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung. Auch die regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen gehört zur primären Prävention. Die sekundäre Prävention umfasst Vorsorgeprogramme für Risikogruppen, z. B. für Personen, die von Diabetes, Bluthochdruck oder Koronarerkrankungen bedroht sind. Tertiäre Prävention ist die medizinische Behandlung von manifesten Erkrankungen. Die Unterscheidung lässt sich auf die Problematik von Lern- und Entwicklungsstörungen übertragen: – Primäre Prävention: Angemessene Ausstattung und Gestaltung institutioneller – schulischer wie vorschulischer – Lebens- und Lernbedingungen für alle Lernenden, – Sekundäre Prävention: Unterstützungsangebote für Lernende, die von Entwicklungsstörungen bzw. Schulversagen bedroht sind, einschließlich schulorganisatorischer Maßnahmen, – Tertiäre Prävention: Förderung, Therapie, Unterstützungsangebote bei manifesten Störungen. Eine solche Unterscheidung von Präventionshierarchien bedeutet ein Umdenken gegenüber traditionellen Konzepten der Förderungspädagogik: Für die traditionelle (Förderungs-)Pädagogik stehen die Bedingungen und die Anforderungen des Systems gleichsam unverrückbar fest. Durch eine Art Intensivtraining bzw. durch pädagogischtherapeutische Angebote (tertiäre Prävention) sollen Kinder dazu befähigt werden, mit den vorhandenen Bedingungen zurechtzukommen, und den definierten Anforderungen zu genügen. Bei der primären und sekundären Prävention werden dagegen die Bedingungen und die Anforderungen des Systems hinterfragt und ggf. den Lernvoraussetzungen der Kinder oder Jugendlichen angepasst. „Von der Einzelfallhilfe zur Organisationsentwicklung“ – auf diesen Nenner könnte der notwendige Umdenkungsprozess gebracht werden, wobei die Einzelfallhilfe im Sinne tertiärer Prävention keineswegs als überflüssig erachtet wird, aber eben auch nicht als ausreichend. Auch und gerade für die sonderpädagogische Förderung gilt die alte Weisheit „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Darüber hinaus ist von einer sonderpädagogischen Förderung nur dann eine substanzielle Wirkung zu erwarten, wenn sie die Angebote gut funktionierender pädagogischer Systeme ergänzt – nicht aber, wenn sie gehalten ist, die Mängel wenig optimierter pädagogischer Systeme zu kompensieren. Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterscheiden sich in den Zielrichtungen und in den Zuständigkeiten: – Primäre Prävention zielt auf die Optimierung von Systemen, im konkreten Fall von Bildungseinrichtungen, die Kindern und Jugendlichen zum Erwerb eines größtmöglichen Bestandes von Einsichten, Fertigkeiten und Kenntnissen sowie zu einer optimalen Entfaltung ihrer Möglichkeiten verhelfen sollen. Mittelbar und in erster Linie zielt sie damit auf die Personen, die in den Institutionen gefördert werden sollen. Vor dem Hintergrund sich ständig verändernder Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen (Rolff & Zimmermann, 1985; Fölling-Albers, 1988) ist es angezeigt, die schulischen Angebote immer wieder darauf hin zu überprüfen, ob sie den pädagogischen Bedarfen der Lernenden noch gerecht werden. Verantwortlich für die
Kapitel 15: Schulalter | 247
Realisierung von Maßnahmen Primärer Prävention sind zunächst die an einer Schule tätigen Lehrkräfte, aber der Kreis der Verantwortlichen geht weit über das pädagogische Personal der Institutionen hinaus: In zentraler Verantwortung steht die Schulund Bildungspolitik, die durch Ressourcen- und Strukturentscheidungen sowie durch die von ihr vorangetragenen Bildungsziele die institutionellen Rahmenbedingungen setzt. Ein wesentlicher Grund für geringe Effizienz dürfte die Unterfinanzierung weiter Teile des Bildungssystems sein, nicht selten aber auch reaktive, kurzatmige und auf besonders spektakuläre Fehlentwicklungen zielende Einzelmaßnahmen. Gerade die Bildungspolitik, die Entscheidungen von großer zeitlicher, finanzieller und gesellschaftlicher Tragweite zu verantworten hat, sollte lernen, in systemischen und entwicklungsökologischen Kategorien zu denken, Gesamtkonzepte zu entwickeln und die daraus abzuleitenden Maßnahmen planvoll und mit nachhaltiger Prozessbegleitung umzusetzen. – Die tertiäre Prävention zielt als Intervention auf den Einzelfall, auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen ab, die manifeste Lernrückstände oder Entwicklungsstörungen ausgebildet haben. Zuständig sind im Idealfall multiprofessionelle Teams, in denen je nach Erfordernis Lehrkräfte, Sonderschullehrkräfte, Sozialarbeiter und Psychologen mitarbeiten: Fachleute, welche die pädagogisch-therapeutischen Bedarfe von Kindern diagnostisch abklären, um darauf aufbauend individuelle Entwicklungspläne auszuarbeiten und umzusetzen. – Sekundäre Prävention nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den o.a. Präventionsebenen. Zum einen sind für wiederkehrende Problemlagen Strukturen aufzubauen und Ressourcen bereitzustellen, was zunächst auf der Systemebene zu geschehen hat, etwa für Kinder, welche die deutsche Sprache nur unzulänglich beherrschen oder für Lernende mit unzweckmäßigem Arbeitsverhalten oder Sozialisationsrückständen. Die Fördermaßnahmen müssen vorbeugend angesetzt werden, wenn Schwierigkeiten sich andeuten, aber noch nicht manifest geworden sind. Auf der anderen Seite ist jedes Kind in seinem pädagogischen Bedarf einzigartig, und auch wenn vorbeugend Förderressourcen bereit gestellt und Fördergruppen eingerichtet werden, wird eine nachhaltige Prävention nur dann erreicht werden, wenn auch für diese Kinder individuelle Entwicklungspläne erstellt und abgearbeitet werden. Tabelle 1 zeigt exemplarisch eine Übersicht über Präventionsebenen und –bereiche für die Institution Schule. Letztendlich handelt es sich um Akzentuierungen mit Überlappungen und fließenden Übergängen. Eine planvolle Organisation von Präventionsangeboten erfordert, – sich einen Überblick zu verschaffen, welche Angebote in einer Institution bzw. einer Region bereits existieren und wo ggf. Handlungsbedarf besteht, – die Ziele im Hinblick auf eine konkrete Region, einen konkreten Standort zu operationalisieren, – auszuwählen, welche Ziele realisierbar sind, – bzw. bei welchen die beste Kosten-Nutzen-Relation gegeben ist, – auszuwählen, welche kurz-, mittel- und langfristig verfolgt werden sollen, – einen Zeitplan zu erstellen, – die Zuständigkeiten und die Verantwortlichkeiten zu klären,
Regelmäßiges und frühzeitiges Screening der Lernentwicklung. Unterrichtsintegrierte oder unterrichtsergänzende Angebote für entwicklungsgefährdete Lernende z. B. – zur Verbesserung der Sprachkompetenz – zur Ausbildung zweckmäßigen Arbeitsverhaltens – zur Ausbildung von Erfolgszuversicht und Selbstwertgefühl – zur Förderung der Sozialkompetenz Hausaufgabenhilfe, Förderunterricht Familienergänzende Angebote für sozial gefährdete Kinder und Jugendliche. Individuelle Entwicklungspläne mit operationalen Entwicklungszielen.
Diagnostische Ermittlung der Zone der aktuellen Leistung (Lesen und Schreiben) Diagnostische Ermittlung der emotionalen Einstellung zum Lerngegenstand. Ggf. diagnostischer Ermittlung lernförderlicher und lernhemmender innerer und äußerer Bedingungen (einschließlich organischer Beeinträchtigungen). Erkennen, Würdigen und Fördern von Stärken des Kindes, um das Selbstwertgefühl zu heben bzw. dem Kind Kompensationsmöglichkeiten zu eröffnen. Erstellen operationaler individuelle Entwicklungspläne. Passung der Angebote an die Lernausgangslage des Kindes. Förderangebote mit subjektivem Erlebnis- und Gebrauchswert (Verknüpfung mit persönlichen Interessen). Ausgiebige Bearbeitung der besonderen Schwierigkeiten des Lerngegenstands. Modellhafte Demonstration und entlastende Hilfestellungen bei besonderen Schwierigkeiten. Ausgiebige Gelegenheit zu Automatisierung und Verfestigung.
Auf Unterrichtsebene: Didaktisch sinnvolle Stoffauswahl, Inhalte mit Gebrauchs- und Erlebniswert und Lebensweltbezug Effiziente und motivierende Methoden Passung der Angebote an die individuellen Ausgangslagen der Lernenden. Binnendifferenzierung, Niveaudifferenzierung, Effiziente Unterrichtsorganisation. Ausgiebige Bearbeitung besonderer Schwierigkeiten der jeweiligen Lerngegenstände. Gelegenheit zur Automatisierung des Gelernten für alle Lernenden. Kontinuierliche Entwicklungsdokumentation für alle Lernenden. Respektierende und freundliche Umgangsformen. Auf Schul- und Kollegiumsebene: Aktives Schulleben, Schulprofile Kontinuierliche und planvolle Bemühungen um adäquate pädagogische Angebote und Profile. Kontinuierliche und planvolle Bemühungen um einen pädagogischen Konsens. Kontinuierliche Kooperation mit den abgebenden und aufnehmenden Institutionen (z. B. Kindergarten, weiterführende Schule). Kontinuierliche Kooperation mit anderen bildungsfördernden Institutionen (z. B. Bibliotheken, Sportvereinen, Mal- und Musikschulen etc.).
Prozedurale Bedingungen, Angebote und Aktivitäten
Tertiäre Prävention
Respektierende Grundhaltung den Lernenden gegenüber. – Respektierende Grundhaltung der Lehrenden im Umgang miteinander. – Ermutigungskultur. – Aufgeschlossenheit der Lehrkräfte gegenüber Austausch und Kooperation. – Akzeptanz der Verschiedenheit. – Begreifen von Heterogenität als Chance. – Selbstverpflichtung, keinen Schüler, keine Schülerin zurück lassen zu wollen . – Überwinden von Schwierigkeiten als eine Aufgabe der Institution begreifen.
Sekundäre Prävention
| Teil IV:
Orientierung
Primäre Prävention
Tabelle 1: Präventionsebenen im Bereich Schule
248 Prävention
Strukturelle und organisatorische Bedingun gen, Ressourcen, Infrastrukturen
Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote. – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben. – Training von Lifeskills, Sozialverhalten und Kommunikationskompetenz. – Binnendifferenzierender Unterricht, Bemühen um größtmögliche Passung der Angebote. – Anforderungsfreie Begegnungsmöglichkeiten (Arbeitsgemeinschaften, Freizeiten). – Ganztagsunterricht. – Regelmäßige Abstimmung und Kooperation. – Bemühen um einen pädagogischen Konsens. – Präventions- und Förderangebote für lern- und entwicklungsgefährdete Kinder.
Kontinuierliche Kooperation mit Eltern und Elternvertretungen.
– Bereitstellen von personellen Ressourcen zur präventiven Begegnung wiederkehrender Problemlagen bei Lernenden (ausreichende Deputate und einschlägig qualifiziertes Personal). – Bereitstellen von Zeiten, Räumlichkeiten und Materialien, um anstehende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. – Festlegen von Verfahrensabläufen zur Identifikation entwicklungsgefährdeter Schülerinnen und Schüler.
– Bereitstellen von personellen Ressourcen zur Intervention bei manifesten Problemen von Lernenden (ausreichende Deputate und einschlägig qualifiziertes Personal). – Bereitstellen von Zeiten, Räumlichkeiten und Materialien, um ausgelassene Lernschritte nachzulernen. – Festlegen von Verfahrensabläufen zur Diagnose und Förderung von Lernenden mit manifesten schulischen Problemen. – Ermöglichen nichtdiskriminierender Lernzeitverlängerung (z. B. längerer Verbleib in jahrgangsübergreifenden Klassen). – Kooperationsstrukturen mit unterstützenden Diensten und Institutionen (Schulpsychologie, Jugendhilfe). – Regelmäßige Hilfekonferenzen. – Coaching und Supervisionsangebote für das pädagogische Personal.
Ermutigung, Bestätigung, Vermittlung von Kompetenzerlebnissen und Erfolgszuversicht. Verringern von innerer und äußerer Ablenkung. Familienergänzende Angebote (Mahlzeiten, Randzeitenbetreuung). Kooperation d. Lehrkräfte mit außerschulischen Diensten. Elterngespräch, Elternberatung. Außerschulische Betreuungsangebote, Hort, Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe. Einschalten von schulpsychologischem oder sozialem Dienst. Familienhilfe, Familientherapie.
Kapitel 15: Schulalter | 249
– Ermöglichen nichtdiskriminierender Lernzeitverlängerung (z. B. längerer Verbleib in jahrgangsübergreifenden Klassen). – Kooperationsstrukturen mit unterstützenden Diensten und Institutionen (Schulpsychologie, Jugendhilfe). – Infrastrukturen mit ehrenamtlichen Helfern („Lesehelfer“). – Coaching und Supervisionsangebote für das pädagogische Personal.
Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung. – Hinreichend umfangreiche Stundentafel. – Ausreichende Zahl von Planstellen. – Ausreichende Zahl besetzter Stellen. – Krankheits- und Vertretungsreserven. – Doppelbesetzung in schwierigen Lerngruppen. – Überschaubare Klassenfrequenzen. – Für die Unterrichtsaufgaben hinreichend qualifiziertes Personal. – Kontinuierliche Personalentwicklung. – Nichtunterrichtendes pädagogisches Personal (z. B. Schulsozialarbeiter).
Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Schule, – zweckmäßiges Raumangebot, – ausreichendes und funktionelles Pausengelände – guter baulicher Erhaltungszustand, – ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung. Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Bibliothek, PC, Werkstoffe, didaktische Materialien)
Tertiäre Prävention
| Teil IV:
Kinder – Wiederkehrend motivierte und bildungsinteressierte Schülerschaft.
Sekundäre Prävention
Primäre Prävention
Tabelle 1 (Fortsetzung)
250 Prävention
Kapitel 15: Schulalter | 251
– die Ressourcen bereitzustellen, – Maßnahmen zur Prozessbegleitung zu organisieren und – festzulegen, wie die Zielannäherung erkannt und wie eine Prozesssteuerung erfolgen soll. Viele Reformkonzepte scheitern daran, dass sie nach dem Muster traditioneller Bürokratiemodelle von Entscheidungsträgern in der übergeordneten Bildungsverwaltung verordnet werden, ohne dass vor Ort in den Schulen eine Prozessbegleitung und eine Erfolgskontrolle erfolgen. Wenn derartige Verordnungen die Institutionen in raschem Wechsel und nicht selten verbunden mit krassen Richtungsänderungen erreichen, ist eine Effizienzsteigerung im Sinne primärer Prävention eher unwahrscheinlich. Eher wird das Gegenteil erreicht: Die Lehrkräfte werden demotiviert. Tabelle 1 enthält die Ziele nur in Stichworten. An ausgewählten Beispielen sollen konkrete Präventionsmöglichkeiten erläutert werden. Die Beispiele beschränken sich auf Maßnahmen primärer und sekundärer Prävention, denn die tertiäre Prävention ist durch zahlreiche eigene Beiträge in Teil 5 und 6 dieses Handbuches repräsentiert.
15.2 Beispiele primärer Prävention 15.2.1 Prävention durch eine leistungsfähige Elementarerziehung 15.2.1.1 Die Bedeutung der vorschulischen Entwicklung für den späteren Schulerfolg Viele Jahre und Jahrzehnte lang konzentrierten sich, wenn es um die Frage ging, wie Bildungsstandards angehoben oder sozialisationsbedingte Nachteile ausgeglichen werden können, die bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Bemühungen zum überwiegenden Teil auf die Schule. In jüngster Zeit jedoch mehren sich die Erkenntnisse, wonach für die schulische Lernentwicklung nicht weniger wichtiger ist, was vor der Schule geschieht, als das, was in der Schule an pädagogischen Angeboten erfolgt. Die Ergebnisse der European Child Care and Education Study (Krumm et al., 1999) wurden bereits im ersten Kapitel dieses Handbuchs dargestellt. Den Einfluss der vorschulischen Entwicklung belegt auch ein Teilergebnis der Logik- und Scholastik-Studien (Helmke, 1997). In diesen Untersuchungsvorhaben wurde die Entwicklung von bis zu 220 Kindern vom 4. bis zum 12. Lebensjahr verfolgt, das ist die Zeit vom Kindergartenbesuch bis zum Ende des fünften Schuljahres. Wie sich in den Untersuchungen zeigte, bleiben die Leistungsunterschiede der Lernenden über alle Schuljahre nahezu konstant: Bei einem Teil der ursprünglichen Spitzenschüler sinken die Leistungen auf ein niedrigeres Niveau, welches jedoch immer noch über dem Durchschnitt liegt, während bei einem Teil der ursprünglich durchschnittlichen Lernenden die Leistungen auf ein leicht überdurchschnittliches Niveau ansteigen. Alle Schülerinnen und Schüler aber, welche die Grundschulzeit mit niedrigen Leistungen beginnen, behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei. Ein Aufholen der Schwächeren findet nicht statt. Im Rahmen dieser Studien wurden bei Kindergartenkindern diverse Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen ermittelt und später mit den Schulleistungen in Beziehung
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| Teil IV:
Prävention
gesetzt (Schneider, Stefanek & Dotzler, 1997). Ermittelt wurden die Intelligenz, gemessen mit einem nonverbalen Intelligenztest, Vorläuferkompetenzen des Rechnens (Zählen und Mengen schätzen), Vorläuferkompetenzen des Schreibens, z. B. phonologische Operationen wie Reime erkennen, Silben klatschen etc. Im Rahmen der Längsschnittuntersuchungen zeigte sich, dass bis zu 30 Prozent des späteren Schulerfolges durch Fertigkeiten und Kenntnisse vorhergesagt werden können, die sich bereits im Vorschulalter erheben lassen. Das ist ein vergleichsweise hoher Wert. Insbesondere stellte sich heraus, dass Schulleistungen wie Lesen, Rechtschreiben oder Zahlenrechnen weitaus besser durch die Vorläuferkompetenzen des Lesens, Schreibens und Rechnens vorhergesagt werden konnten als durch den IQ und dass dieser nur bei Aufgaben, die weniger auf Wissen als auf Denkfähigkeit beruhten, eine höhere Bedeutung hatte. Das bedeutet: Wer im Vorschulalter schon bereichsspezifisches Vorwissen zum Lesen, Schreiben und Rechnen erwirbt, verschafft sich eine günstige Ausgangsposition, um sich in der Schule weiteres Wissen anzueignen, d. h. beim Lesen, Schreiben und Rechnen erfolgreich zu sein. Kinder, die ohne solches Vorwissen zur Schule kommen, bleiben in den meisten Fällen während ihrer gesamten Grundschulzeit und oft noch weit über diese Zeit hinaus am unteren Ende der Leistungsskala. 15.2.1.2 Pädagogische Angebote im Elementarbereich In der Vergangenheit wurde auf die Vermittlung schulisch relevanter Vorläuferkompetenzen in deutschen Kindergärten offenbar wenig Wert gelegt. Handlungsleitendes Konzept der Vorschulerziehung der letzten Jahre war der so genannte „Situative Ansatz“ mit Betonung der Ausbildung von Sozialkompetenz (Zimmer, 1986, S. 22): „Es besteht ein Primat sozialen Lernens. Sachbezogenes Lernen, der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten wird sozialem Lernen untergeordnet und nach Möglichkeit auf soziale Zusammenhänge bezogen.“ Tatsächlich zeigt ein Vergleich der OECD, dass in anderen Ländern durchaus andere Gewichtungen bestehen und dass soziales Lernen und Schulvorbereitung sich offenbar nicht ausschließen müssen (vgl. Bairrao & Tietze, 1993, zit. n. Hacker, 1998): In Deutschland hat die Förderung der sozial-emotiven Entwicklung einen hohen Stellenwert. Förderangebote zur Schulvorbereitung und zur kognitiven Entwicklung wurden eher selten beobachtet. Frankreich bietet das genaue Kontrastprogramm: Hier haben Schulvorbereitung und kognitive Förderung einen hohen Stellenwert, während der Förderung der sozial-emotiven Entwicklung eine geringe Bedeutung beigemessen wird. In Erstaunen versetzt ein Land wie Griechenland: Hier konnten die Untersucher in allen drei Bereichen gezielten Förderung beobachten, etwas abgeschwächt auch in Belgien. In diversen Untersuchungen (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999; Schneider et al., 1997) hat sich gezeigt, dass beim Lesen- und Schreibenlernen die so genannten „phonologischen Operationen“ eine wichtige Rolle spielen (vgl. Kapitel 24.1, Phonologische Bewusstheit). Kinder, die im Vorschulalter schon in der Lage sind, Reimpaare zu erkennen, Silben zu klatschen, Anlaute von Wörtern zu erkennen, sind später beim Lesen- und Schreibenlernen erfolgreicher als solche, die über solche „phonologische Bewusstheit“ nicht oder nur in Ansätzen verfügen. Das Wissen um den Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und dem späteren Leseerfolg hat bereits zu
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praktischen Konsequenzen geführt, denn es gibt Verfahren zur Diagnose phonologische Operationen im Vorschulalter (z. B. das Bielefelder Screening von Jansen et al., 1999) und es gibt Trainingsprogramme, um solche Kompetenzen gezielt zu fördern (z. B. das Programm „Hören, lauschen, lernen“ von Küspert & Schneider, 1999). Man sollte die Verbesserung der vorschulischen Angebote jedoch nicht auf ein bloßes phonologisches Funktionstraining reduzieren, denn phonologische Bewusstheit ist ein Sozialisationsergebnis von bildungsnahen und literalen Milieus. Es ist nur eines von mehreren Ergebnissen: Über regelmäßiges Vorlesen, über eigene Bücher und über die Beachtung ihrer ersten Schreibversuche entwickeln Kinder nicht nur ein phonologisches Verständnis, sondern auch eine positive emotionale Beziehung zur Schrift. Sie entwickeln eine freudige Erwartung, in der Schule endlich das Lesen zu erlernen. Will man also schon im Kindergarten auf den Schriftspracherwerb hinarbeiten, dann sollte dies nicht nur durch ein isoliertes Training phonologischer Operationen geschehen, sondern auch durch Sprachförderung im Allgemeinen, durch die Schaffung eines literalen Umfelds, welches möglichst dem nahe kommt, was Kinder aus bildungsnahen Familien in ihren Elternhäusern vorfinden, sowie insbesondere durch eine gezielte Sprachförderung für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. Für einen größeren intellektuellen Anregungsgehalt der Elementarerziehung plädiert u. a. auch Elschenbroich (1997). Vehement setzt sie sich für eine stärkere Verortung des Weltwissens in der Vorschulpädagogik ein und illustriert ihre Forderung mit Beispielen: „In einem (...) Kanon des Weltwissens von Siebenjährigen wird die Nachtwanderung enthalten sein, bei der jedes Kind einige Sternbilder kennen gelernt hat. Die Blindenschrift, mit der jedes Kind in Berührung gekommen sein sollte. Jedes Kind sollte während der ersten sieben Jahre die Chance gehabt haben, ein Musikinstrument zu bauen und die Stille als einen Teil von Musik zu erleben“ (S. 9). Diese Forderungen klingen z. T. exotisch und müssten im Einzelnen diskutiert werden. Aber sie zeigen eine Richtung auf, die bei allem berechtigten Interesse am sozialen Lernen vielleicht zu Unrecht in den Hintergrund getreten ist. Ursprünglich aus England stammt eine Initiative, die Kindern möglichst früh und lebensweltbezogen Naturkenntnisse wissenschaftlich nahe bringen will. In den Jahren 1960 bis 1993 wurden von der Nuffield Foundation Aktivitäten zur naturwissenschaftlichen Curriculumentwicklung und zur Lehreraus- und Fortbildung gefördert. Die Anregungen wurden praktisch in allen Regionen des englischen Sprachraums aufgenommen und sie wirken auch noch weit in die Gegenwart hinein. Für den Anfangsunterricht der fünfjährigen Grundschüler wurden zahlreiche didaktische Materialien und Ideen entwickelt, die teilweise auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Zwischen sekundärer und tertiärer Prävention anzusiedeln sind Bemühungen, Sprachprüfungen bei Vorschulkindern durchzuführen, um bei Kindern mit Sprachproblemen Fördermaßnahmen einzuleiten. Bezogen auf die aktuelle Situation wäre dies eine pädagogisch-therapeutische Intervention. Im Hinblick auf die zu erwartenden Anforderungen sind solche Maßnahmen als sekundäre Prävention einzustufen: Den Kindern sollen schulische Lernschwierigkeiten infolge sprachlicher Defizite erspart bleiben. So z. B. wird in Bremen seit 2003 regelmäßig die Sprachkompetenz fünfjähriger Kindergartenkinder überprüft. Für Kinder mit einem Prozentrang 15 oder niedriger wird eine Sprachförderung angeboten (Kretschmann & Schulte, 2004).
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15.2.2 Die Erleichterung von Übergängen Jeder Mensch durchläuft in seinem Leben verschiedene Lebensräume, sog. „Soziale Settings“ (Bronfenbrenner, 1974, 1989): von der Familie in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Schule, von der Schule in den Beruf, vom Berufsleben in den Ruhestand. Jedes dieser Settings konfrontiert die Person mit spezifischen Anforderungen, mit „Entwicklungsaufgaben“ (Havighurst, 1972). Je schlechter eine Person diese Entwicklungsaufgaben bewältigt, desto wahrscheinlicher sind Folgeprobleme in späteren Lebensabschnitten. Den Übergang von einem Setting in ein anderes nennt Bronfenbrenner einen Ökologischen Übergang. Ökologische Übergänge sind immer latent krisenhaft, weil sie mit neuen Entwicklungsaufgaben einhergehen. Eine Person, welche von einem Setting in das andere wechselt, muss immer erst erfahren, welche neuen Verhaltensmuster von ihr erwartet werden. Es kommt zum Scheitern oder zur Randständigkeit in dem jeweiligen Kollektiv, wenn die Person sich nicht auf die veränderten Bedingungen einstellen kann. Ein besonders kritischer Übergang ist der Schulanfang, denn die Schule ist für Kinder ein neuer, bis dahin nicht erfahrener Lebensraum; sie verlangt von Kindern Verhaltensmuster, die sie in ihren bisherigen Lebensräumen nicht oder in weitaus geringerem Maße erbringen mussten. Zudem ist der Schulbesuch verpflichtend; ein Kind, welches den Anforderungen nicht genügt, hat keine Möglichkeit, diese Anforderungen zu vermeiden; Erfolg und Scheitern in der Schule können den weiteren Lebensweg vorher bestimmen, denn noch immer ist die Schule auch ein Berechtigungssystem. Ein anerkannter Schulabschluss ist zwar keine Garantie für eine hohe Lebensqualität; umgekehrt aber ist mit einem unzulänglichen Abschluss ein Leben in sozialer Randständigkeit oft geradezu vorgezeichnet und führt nicht selten in ein Verharren in einem Teufelskreis von Armut und Inkompetenz. Wegen der großen Bedeutung, welche dem Erfolg in der Schule auch subjektiv zugeschrieben wird, stellen Eltern in dieser Zeit oft hohe und überhöhte Ansprüche an die Kinder, so dass manche Kinder unter einer doppelten Belastung stehen: Sie müssen die Anforderungen der Schule bewältigen und den Erwartungen ihrer überengagierten Eltern genügen. Die Entwicklungsanforderungen beim Schuleintritt können differieren, je nachdem, ob der Unterricht eher lehrerzentriert oder eher geöffnet, eher formal oder eher bedürfnisorientiert, die Lerngruppe homogen oder heterogen ist. Aber wie auch immer der Unterricht gestaltet sein mag: Für die Kinder ist schulisches Lernen immer Lernen in einer Lerngruppe, und zum schulischen Lernen gehört auch, dass Kinder Anstrengungen erbringen und sich Wettbewerbssituationen stellen müssen, um sich das von der Gesellschaft geforderte Wissen und Können aneignen zu können. Kern (1951) war der Auffassung, „Schulreife“ sei das Ergebnis einer biologischen Entwicklung, welches sich bei dem einen Kind früher, beim anderen später einstelle: „Wenn wir mit der Einschulung eines Kindes warteten, bis es den geforderten Entwicklungspunkt erreicht hätte, dann wäre jedem Kind ein leichtes und erfolgreiches Beschreiten und Durchschreiten der Schullaufbahn möglich“ (Kern, 1951, S. 67). Konkrete Folge dieser mit Überzeugung vorgetragenen Position war die in den siebziger und achtziger Jahren verbreitete Praxis, die Schulreife eines Kindes mittels eines Schulreifetests zu ermitteln und es ggf. ein Jahr vom Schulbesuch zurückzustellen. Dieses Vorgehen hat sich im Laufe der Jahre als
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unangebracht und ungeeignet erwiesen: Angesichts der vergleichsweise niedrigen Reliabilität und Validität von Schulreifetests lässt sich vorhersagen, dass „ ...die Gesamtzahl der Fehlentscheidungen mit Hilfe der üblichen Einschulungstests nicht geringer ist als die Zahl der Fehlentscheidungen, die zu treffen wäre, wenn man ohne jede diagnostische Informationserhebung alle Kinder eines Schülerjahrganges einschulen würde“ (Mandl, 1978, S. 957). Bedeutsamer als das testdiagnostische Argument ist jedoch die Erkenntnis, dass ein Kind die für den erfolgreichen Schulbesuch erforderlichen Kompetenzen nicht durch Reifung erwerben kann. Vielmehr handelt es sich um erfahrungsabhängige Fertigkeiten. Es kommt zu keinem nennenswerten Zuwachs an Fertigkeiten, wenn ein Kind durch Zurückstellung ein Jahr länger im gleichen Milieu verbleibt, ohne dass Maßnahmen ergriffen würden, eventuelle Entwicklungsrückstände aufzuholen. Eine Zurückstellung führt nur dann zu einer bedeutsamen Kompetenzsteigerung, wenn sie von Angeboten begleitet ist, welche die Kinder auf den Schulbesuch vorbereiten (Tiedemann, 1977). 15.2.2.1 Organisatorische Maßnahmen Wenn der Schuleintritt eine kritische Lebensphase für alle Kinder ist, ist es angezeigt, Voraussetzungen zu schaffen, die den Kindern diesen Übergang erleichtern. Dies kann durch eine wechselseitige Passung der Angebote von Schul- und Vorschulpädagogik erfolgen, z. B. durch eine organisatorische Verknüpfung der Angebote. So werden in den Niederlanden Kinder in die Grundschule aufgenommen, wenn sie das vierte Lebensjahr vollendet haben. In den ersten beiden Schulbesuchsjahren erhalten sie Angebote, welche denen unserer Kindergartenerziehung ähneln. Da Schulkinder und (in unserer Terminologie) Vorschulkinder jedoch am gleichen Lernort im gleichen System und von dem gleichen pädagogischen Personal betreut werden, wird eine Harmonisierung der pädagogischen Konzepte erleichtert und Übergangsproblemen vorgebeugt (Kats, 1992). Ein vergleichbares Modell finden wir in England. In die „infant school“ werden Kinder eingeschult, wenn sie das fünfte Lebensjahr vollendet haben. Die pädagogischen Angebote bestehen aus einer konsequenten Mischung aus Kindergartenerziehung und Schule (Kasper, 1967; Kretschmann, 1985). Die sukzessive Einschulung der Kinder in die erste Klasse ermöglicht es, mit kleinen Lerngruppen zu beginnen und die Kinder entsprechend intensiv auf die schulischen Arbeits- und Verkehrsformen vorzubereiten. Später übernehmen die Kinder, die sich bereits länger in der Institution befinden, Modellfunktion bei der schulischen Sozialisation. Unabhängig von Systemstrukturen und dem Selbstverständnis der Institutionen können Kindergärten und Schulen auch in unserem Land auf lokaler Ebene kooperieren, und vielfach geschieht dies bereits. 15.2.2.2 Kooperation und Maßnahmen vor Ort Vorbereitung der Kinder auf die nächste Entwicklungsetappe: Eine verbreitete Praxis sind Besuche der Kindergartenkinder in der Schule einige Monate vor Schulbeginn, bei denen die Kinder auch an Unterrichtsstunden teilnehmen und so erste Eindrücke
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von dem gewinnen können, was sie erwartet. Zumindest in den letzten Monaten der Kindergartenzeit sollten Kinder vermehrt mit den schulischen Arbeitsformen vertraut gemacht werden. Vor allem Kinder, die zu Hause wenige Anregungen erhalten, bekommen so Informationen, welche sich Kinder aus privilegierteren Familien im Elternhaus beiläufig aneignen. Vorbereitung der Lehrer auf die Neuankömmlinge: Eine Passung der Angebote an die Ausgangslage des Kindes setzt voraus, dass die Lehrerin etwas über das Kind weiß, das in ihre Klasse kommen soll. Zwar werden die meisten relevanten Informationen erst in den ersten Schulwochen gewonnen werden können, es kann jedoch den Beginn in der Grundschule erleichtern, wenn die Lehrerin sich mit der Kindergärtnerin und den Eltern austauscht, um etwas über die Stärken und die Vorlieben des Kindes zu erfahren, aber möglicherweise auch über besonderen Unterstützungsbedarf. Zwar lässt sich dabei nie gänzlich ausschließen, dass auch Vorurteile weiter gegeben werden, aber ohne Kenntnis der Ausgangslage sind Über- und Unterforderungen nicht zu vermeiden. Elternberatung und -gespräche: Sensorische oder kognitive Maße zur visuellen oder auditiven Wahrnehmung können kaum mehr als 10–15 % der Leistungen im Lesen und Schreiben erklären, um nur eine der wichtigsten Komponenten des Schulerfolgs zu nennen (vgl. Brügelmann, 1984; Wendeler, 1988). Als wirksamere Prädiktoren erwiesen sich die Indikatoren der häuslichen Sprach- und Schriftkultur. So konnten Mason und McCormick (1979) bzw. Wells (1987) 30–60 % des späteren Leseerfolgs auf die vorschulischen Erfahrungen der Kinder mit Schrift und Schriftprodukten zurückführen. Als besonders bedeutsam erwiesen sich das elterliche Vorbild, d. h. Lese- und Schreibaktivitäten der Eltern, das regelmäßige Vorlesen von Geschichten, die Tatsache, dass ein Kind selber über Bücher verfügte oder dass in einer Familie viel gesprochen wurde. Solche Erkenntnisse sollten Eltern möglichst früh nahegebracht werden. Schulversagen ist häufig nicht die Folge inadäquaten Verhaltens eines Kindes in der Schule, sondern die späte Folge vertaner Entwicklungschancen in früheren Lebensabschnitten. Der Schuleintritt ist auch für viele Eltern eine Entwicklungsaufgabe. Die Vorstellung, die pädagogische Verantwortung für das eigene Kind mit einer staatlichen Institution teilen zu müssen, ist für manche Eltern nicht leicht und Ängste der Kinder sind vermutlich nicht selten Reaktionen auf die Ängste von Erziehungspersonen. Ausgiebige Informationen über Konzepte und geplante Maßnahmen sind geeignet, Besorgnisse von Eltern zu reduzieren, wobei das oft sehr gespannte Verhältnis zwischen der Elternschaft und den Institutionen auch dadurch gebessert werden kann, dass man nicht nur dann an Eltern herantritt, wenn Probleme aufgetreten sind. Familientage in der Schule, Einladung zu und Beteiligung der Eltern an Aufführungen, Sportfesten etc. verringern Spannungen und erhöhen den Informationsfluss, was wiederum einer besseren Passung der Angebote dienen kann. Eine die Übergangsproblematik berücksichtigende Anfangsphase in der Grundschule: Der Übergang wird erleichtert, wenn die Schule zunächst an die Arbeitsformen anknüpft, welche die Kinder im Kindergarten gewohnt sind. Vorschläge dazu finden sich bei Portmann (1988) und Hacker (1998), sowie wiederkehrend in einschlägigen Fachzeitschriften für Grundschulpädagogik.
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15.2.2.3 Verringerung der Zahl von Übergängen Was hier relativ ausführlich für den Schulanfang dargestellt wurde gilt im Prinzip auch für andere Übergänge, z. B. für den Übergang in die Schulformen der Sekundarstufe 1. Es gibt für die Erleichterung dieses Übergangs ebenso Empfehlungen wie für den Schuleintritt (Portmann, Wiederhold & Mitzlaff, 1989). Derartige Bemühungen erübrigen sich bei einer geringeren Zahl von Übergängen: Die Dokumentation von Schmitt (1992) belegt, dass Deutschland mit Ausnahme der Bundesländer Berlin und Brandenburg das einzige Land in Europa ist, welches die Grundschulzeit auf vier Jahre beschränkt. Andere Länder kennen eine sechs-, acht- oder gar zehnjährige Grundschule. 15.2.3 Prävention auf Unterrichtsebene Veränderte Lebensbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen haben u. a. zu einer erheblichen Zunahme der Heterogenität der Schülerschaft geführt: Es gibt einerseits Kinder aus einem festgefügten familiären Milieu, die wohlbehütet und optimal gefördert aufwachsen und mit einem reichen Repertoire intellektueller, sprachlicher und emotionaler Kompetenzen die Schullaufbahn beginnen. Andererseits kommen viele Kinder aus einem sozialen Milieu, in dem die wirtschaftliche Verarmung z. B. durch Arbeitslosigkeit den Alltag bestimmt und zunehmend zu einer erzieherischen Verarmung der Kinder führt, denen dadurch auch wichtige Lernvoraussetzungen fehlen. Zusätzliche Probleme ergeben sich durch die Veränderung der Familienstrukturen. Viele Kinder stammen aus unvollständigen Familien oder haben Scheidungen mit den damit verbundenen psychischen Belastungen erlebt. Ein weiterer Grund für die gewachsene Heterogenität sind schließlich die Einwanderungsbewegungen der vergangenen Jahre. Die Kinder ausländischer Herkunft sind sicher nicht schwieriger zu erziehen als die im Lande geborenen. Aber infolge ihrer unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und Sprachprobleme sind zahlreiche schulische Angebote für viele von ihnen unverständlich und bedeutungslos. Die Folge sind Schulprobleme. Wie bereits in Kapitel 1 dieses Handbuches ausgeführt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sonderpädagogisch förderbedürftig werden bzw. die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, doppelt so hoch wie bei Lernenden deutscher Abstammung und Sozialisation. Wenn man bei der gewachsenen Heterogenität der Schülerschaft versucht, einen gleichschrittigen und verbal-abstrakten Unterricht zu organisieren, provoziert man Störungen, weil man regelmäßig einen Teil der Kinder über- und andere unterfordert. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben aus dieser Entwicklung die Konsequenz gezogen und begonnen, ihren Unterricht anders, z. B. nach den Prinzipien des geöffneten Lernens (Klewitz & Mitzkat, 1977; Sennlaub & Meis, 1983; Kretschmann, 1985) oder der Freinet-Pädagogik (Koitka, 1977; Baillet, 1983) umzuorganisieren. Das Konzept des geöffneten Unterrichts geht von folgenden Grundannahmen aus (vgl. Hartke in diesem Band): – Alle Kinder sind verschieden, die Kinder einer Schulklasse müssen daher unterschiedliche Unterrichtsangebote erhalten.
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– Sie sollen ihr je eigenes, also mithin von Kind zu Kind verschiedenes Lerntempo realisieren können. – Sie sollen nach Möglichkeit spielend, handelnd und anschaulich lernen. – Sie sollen nicht nur aufnehmen müssen, sondern vielmehr sollen ihre kreativen Fähigkeiten ständig herausgefordert werden. – Die Kinder sollen gern zur Schule kommen, weil nur ein angstfreies Lernen die Aufrechterhaltung der kindlichen Aufnahmebereitschaft und Kreativität garantiert. – Die Schule soll eine Lernumgebung sein, d. h. schon durch ihre Ausstattung und äußere Gestaltung Erkenntniszuwächse ermöglichen. – Die Schule soll ein Lebensraum sein, in dem Kinder sich wohl fühlen und ihre Bedürfnisse befriedigen können. Kinder und Jugendliche verbinden einen wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit in der Schule. Quantitativ wie qualitativ ist diese Zeit so bedeutsam, dass man die Schulzeit nicht allein als eine Vorbereitungszeit für das „eigentliche“ Leben ansehen kann. Geöffnete Unterrichtskonzepte sind darüber hinaus die Voraussetzung für eine integrative Unterrichtung für Lernende mit manifesten Behinderungen bzw. für die präventive Förderung von Kindern mit vorübergehenden Schwierigkeiten. Nur in einem binnendifferenzierenden Unterricht können individuelle Förderprogramme realisiert werden, ohne dass dies mit einer augenfälligen Besonderung der behinderten Schülerinnen und Schüler einherginge, welche tendenziell die Stigmatisierung der leistungsschwachen Lernenden fördert. 15.2.4 Kooperation und Binnenklima Rutter, Manham, Mortimore und Ouston veröffentlichten 1979 (dt. 1980) eine Untersuchung über die Effizienz schulischer Maßnahmen. Untersucht wurden 12 secondary schools im Stadtbezirk von London. Erfasst wurden vier Schülervariablen: Anwesenheit sowie Verhalten im Unterricht (Disziplin), Lernerfolg und Delinquenz. Diese Variablen wurden mit verschiedenen Variablen schulischer Betreuung in Beziehung gesetzt. Es handelt sich um eine Längsschnittuntersuchung, die sich über einen Zeitraum von 10 Jahren erstreckte. Wesentlich ist, dass der Entwicklungs- und Kenntnisstand der Schüler bereits beim Eintritt in die secondary school erfasst wurde. Dadurch war es möglich, anstelle der Abschlussleistungen einen Index für den Lernfortschritt zu errechnen, welcher den Einfluss der Schule weitaus besser abbildet als das absolute Leistungsniveau. In Bezug auf alle Schülervariablen erzielten diejenigen Schulen günstige Resultate, welche eine stärkere Leistungsorientierung aufwiesen. Als Indikatoren dieser Orientierung dienten die Vergabe und Kontrolle von Hausaufgaben im Umfang von 15–35 Minuten, die effektive wöchentliche Unterrichtszeit, die Ausstellung von Schülerarbeiten und die gemeinsame Curriculumplanung im Kollegium. Je weniger die Lehrerinnen und Lehrer jedoch in der zur Verfügung stehenden Zeit unterrichteten, desto größer war auch die Zahl der Störungen. „Ein Lehrer, der nach dem offiziellen Beginn der Stunde, – d. h., wenn die Schüler bereits ihre Plätze eingenommen haben, zunächst mit erheblichem Zeitaufwand die anstehenden Material- und Organisationsfragen klärt, muss vermutlich damit rechnen, dass die Aufmerksamkeit der Klasse sehr bald nachlässt und dass es im Verlauf des
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Unterrichts entsprechend häufiger zu Störungen kommt“ (Rutter et al., 1980, S. 146). Die einzelnen Lehrer wendeten für solche Fragen zwischen 2 und 16 % der Zeit auf. Schulen, an denen besonders viele Lehrkräfte in kooperative Planungsprozesse eingebunden waren, verzeichneten tendenziell höhere Anwesenheits- und niedrigere Delinquenzquoten. Ergebnisse solcher Kooperationen unter Lehrerinnen und Lehrern waren häufig integrierte, fächerübergreifende Unterrichtseinheiten. An den weniger erfolgreichen Schulen waren die Lehrer in der Unterrichtsplanung meist völlig auf sich allein gestellt: Sie unterrichteten ganz nach ihrem individuellen Plan, und kaum jemand schien sich dafür zu interessieren, was sie inhaltlich anboten und wie sie ihren Unterricht gestalteten. Wenn das pünktliche Erscheinen der Lehrer kaum oder gar nicht kontrolliert wurde, waren bei den Schülern überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten festzustellen. Materielle Rahmenbedingungen und die Zusammensetzung der Schülerschaft erwiesen sich im Hinblick auf die Effizienz einer Schule hingegen von geringerer Bedeutung.
15.3 Maßnahmen sekundärer Prävention Die Übergänge zwischen primärer und sekundärer Prävention sind fließend. Von sekundärer Prävention kann man dann sprechen, wenn besondere Angebote für Risikokinder bereitgehalten werden bzw. wenn Schulen sich besonders organisieren, in denen erfahrungsgemäß viele Schüler unterrichtet werden, die auffällig bzw. von Behinderung bedroht sind, oder wenn Schulen in einem schwierigen Einzugsgebiet besondere Schulprogramme entwickeln und implementieren. 15.3.1 Schulkindergärten und jahrgangsübergreifende Klassen Die bildungspolitische Reaktion auf die Erkenntnis der relativen Unwirksamkeit von Zurückstellungen war die Einrichtung von Schulkindergärten und Vorklassen: Nicht schulreife Kinder sollten hier vor allem Angebote zur Steigerung ihrer sozialen Kompetenz, zum Erlernen von Arbeitstechniken und zur Ausdifferenzierung kognitiver Kompetenzen wie Wahrnehmungsfähigkeit und Sprache erhalten. Ein bisher ungelöstes Problem ist die diagnostische Feststellung fehlender Schulreife. Wegen der geringen Tauglichkeit von Tests werden in einzelnen Bundesländern zunächst alle Kinder eingeschult und erst dann, wenn sich nach einer etwa vierwöchigen Beschulungs- und Beobachtungsphase Probleme zeigen, in einen Schulkindergarten überstellt. Dies hat den Nachteil, dass Kinder aus einer Gruppierung herausgenommen werden, in der sie vielleicht schon Freundschaften geschlossen haben. Darüber hinaus bedeutet die so offenkundige Zuweisung des Status „nicht schulfähig“ für die Kinder eine Demütigung. Faust-Siehl, Garlichs, Ramseger, Schwarz und Warm (1996) sprechen sich daher für eine gemeinsame Einschulung und eine integrative Unterrichtung aller Kinder aus. Dies ist jedoch nur vorstellbar unter der Voraussetzung zieldifferenten Lernens und wirft die Frage auf, was geschehen soll, wenn ein Kind am Ende seiner Grundschulzeit nicht die Mindestanforderungen des vierten, in Berlin und Brandenburg des sechsten Schuljahres erfüllt.
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Rathenow und Vöge (1987) zufolge entsprechen die Leistungsunterschiede von Schulanfängern dem Pensum von zwei bis drei Schuljahren. Angesichts definierter Lernziele sind Schüler mit ungünstiger Lernausgangslage gehalten, sich nicht nur den Stoff der vor ihnen liegenden Schuljahre anzueignen, sondern darüber hinaus die Rückstände aufzuholen, die sie gegenüber ihren begünstigteren Mitschülern haben – im Weltwissen, in der Sozialkompetenz, der Sprache usw. Bei der wachsenden Bedeutung, welche das Vorwissen im Laufe der Schulzeit erlangt – je mehr eine Person bereits über einen Sachverhalt weiß, desto leichter fällt es ihr sich neues Wissen anzueignen – ist dies eine Anforderung, die kaum zu bewältigen ist, zumindest dann nicht, wenn das Zeitkontingent für alle Lernenden das gleiche ist. Abhilfe schaffen könnte eine Verlängerung der Lernzeit, wobei es nicht beliebig ist, wie diese Verlängerung erfolgt. Die gängigste Form der Lernzeitverlängerung ist das Sitzenbleiben. Auf die relative Unwirksamkeit der Klassenwiederholung hat bereits Tiedemann (1977) hingewiesen. Auch die Betreuung der Kinder in einem Schulkindergarten bedeutet eine Lernzeitverlängerung, die trotz aller vorgetragener Bedenken bei geeigneten pädagogischen Angeboten Schwierigkeiten vorbeugen kann. Gezielter noch als im Kindergarten kann Kindern durch spielerisches Heranführen an schulische Lerninhalte wie durch die Vermittlung von Weltwissen und Arbeitstechniken die Bewältigung der schulischen Entwicklungsaufgaben erleichtert werden. Eine elegante Lösung der Verlängerung der Lernzeit bilden jahrgangsübergreifende Klassen, die nach dem Prinzip der Jenaplan-Pädagogik (Dietrich, 1991; Skiera, 1985) organisiert sind. Die Kinder verbleiben zwei oder drei Jahre in der gleichen Lerngruppe. Bei einem Zweijahres-Modell verlässt jeweils die Hälfte der Kinder die Gruppe, um in die nächst höhere zu wechseln, und macht Platz für Neuankömmlinge, die dann eine gleich große Gruppe von Mitschülern vorfindet, die in dieser Gruppe schon ein Jahr lang unterrichtet wurden. Einem Kind mit besonderem Förderbedarf könnten in solch einer Klasse für die Bewältigung des Lernstoffs von zwei Schuljahren drei Jahre zugestanden werden. Durch Individualisierung kann auf die besonderen Bedarfe eines Kindes differenziert eingegangen werden, namentlich dann, wenn zusätzliche Stunden für eine sonderpädagogische Förderung zur Verfügung stehen. 15.3.2 Integrative Regelklassen Ein Präventionsangebot besonderer Art stellen Integrative Regelklassen dar. Ausgehend von der Beobachtung, dass Integrationsbemühungen nur vergleichsweise selten Kinder erreichen, die Förderschulen für Lernbehinderte, Schulen für Verhaltensauffällige oder Sprachheilschulen besuchen, richtete Hamburg integrativ arbeitende Klassen ein. Bei entsprechender Ausstattung aller Jahrgänge entstehen auf diese Weise „integrative Regelschulen“. Durch eine pauschale Zuweisung von 50 % zusätzlicher Planstellen für pädagogisches Personal sollen die Klassen bzw. Schulen so integrationsfähig werden, dass sich eine Überweisung von Kindern in die o. a. Sonderschulen erübrigt. Die Vorzüge dieses Modells bestehen darin, dass die zahlenmäßig größten Problemgruppen von Schülern durch integrative Angebote erreicht werden und dass eine Zuweisung von Ressourcen ohne administrative Etikettierung der zu fördernden Kinder erfolgt. Allerdings haben sich die Erwartungen, die an dieses Modell gerichtet wurden, nicht
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durchgehend erfüllt. Zwar ist es möglich, die zu Beginn der Einschulung vorhandene Heterogenität der Schülerschaft während der gesamten Grundschulzeit zu erhalten. Die Quote der Kinder, die nach der Grundschulzeit in eine Sonderschule überwiesen werden, entspricht jedoch der Größenordnung von Schulen ohne besonderen Integrationsauftrag. Auch die Schulleistungen und das subjektive Wohlbefinden der Schüler lagen in diesen Klassen nicht über dem von Kontrollgruppen – Indikatoren dafür, dass dieses Modell noch verbesserungsbedürftig ist (Hinz et al., 1998). 15.3.3 Schulen mit familienergänzenden Aufgaben Maßnahmen primärer Prävention stoßen an Grenzen, wenn Eltern ihre Kinder nicht in ausreichendem Maße versorgen und betreuen und wenn schädigende Einflüsse, welche die Kinder außerhalb der Schule erfahren, die positiven Wirkungen des Schulvormittags zunichte machen. In vielen Familien häufen sich die durch den gesellschaftlichen Wandel entstandenen Probleme. Manche Schulen haben überproportional viele Kinder aus solchen Familien zu betreuen. Für Schulen in sozialen Brennpunkten besteht die Notwendigkeit, geeignete Entwicklungsumwelten, welche ein Gegengewicht zu ungünstigen häuslichen Bedingungen darstellen, zu schaffen; Bedingungen müssen hergestellt werden, die geeignet sind, Defizite in der Primärsozialisation zu kompensieren. Konkrete Formen solcher Entwicklungsumwelten können „Sozialpädagogische Schulen“ (Ertle, 1989), Ganztagsschulen (Böttcher, 1992) oder verlässliche Halbtagsschulen mit familienergänzender Betreuung sein: – Die Lehrerinnen nehmen vermehrt sozialpädagogische Aufgaben wahr und werden von Sozialpädagoginnen unterstützt. – Sonderpädagogische Angebote im Regelunterricht sollen der Entstehung schulischer Lern- und Entwicklungsstörungen vorbeugen, bzw. dazu dienen, Störungen abzubauen. – Die Schule bietet eine geregelte zeitliche Struktur. Statt wechselnder Schulanfänge und wechselndem Schulschluss wird die Schule als ganze Halbtagsschule oder als Ganztagsschule organisiert. – Für Kinder berufstätiger Eltern wird eine Frühbetreuung ab 7.00 Uhr angeboten. Für alle Kinder erfolgt ein Betreuungsangebot bis mindestens 13.00 Uhr. – Um unpünktliche Kinder nicht schon am Schulanfang zu diskriminieren, beginnt der Unterricht mit einer Gleitphase zwischen 8.00 und 9.00 Uhr. – Für Kinder, denen es außerschulisch an geeigneten Angeboten fehlt, wird eine Nachmittagsbetreuung organisiert. Die Weiterentwicklung zu einer Ganztagsschule ist sinnvoll. – Für Kinder, die ohne Frühstück zur Schule kommen, wird eine Mahlzeit angeboten, wie überhaupt auch in den Essenspausen für ein gesundes Ernährungsangebot gesorgt wird. Auch ein Mittagessen für bedürftige Kinder ist vorzusehen. – In den unterrichtsfreien Schulstunden erfolgt ein Freizeitangebot. – Die Kinder werden regelmäßig medizinisch untersucht. – Durch schulnahe Sozialarbeit wird ein enger Kontakt zwischen den Schulen und den Familien gehalten und die Familien werden darin unterstützt, ihre Lebensverhältnisse zu gestalten (Fatke & Valtin, 1997).
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15.3.4 Ganztagsunterricht Eine konsequente Fortführung der Idee, Kindern förderliche und anregungsreiche Lebensräume zu bieten, ist die Einrichtung von Ganztagsschulen. Im internationalen Vergleich befindet sich Deutschland mit seinem Schulsystem, das fast ausschließlich auf Halbtagsschulen beruht, in einer Sonderrolle. Im europäischen und außereuropäischen Ausland sind Ganztagsschulen so verbreitet, dass es dafür keinen eigenen Begriff gibt. Dort bedeutet „Schule“ ganz selbstverständlich, dass Schülerinnen und Schüler auch am Nachmittag unterrichtet und betreut werden. Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) unterstützt die Bundesregierung seit 2003 die Länder beim Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. Ganztagsunterricht ist in den europäischen Nachbarländern nicht gleichbedeutend mit einer höheren Zahl von Unterrichtsstunden. So ist der Umfang der Unterrichtsstunden an englischen Grundschulen keineswegs höher als in deutschen Grundschulen. Die nichtunterrichtlichen Anwesenheitszeiten der Lernenden verteilen sich auf gemeinsame Mahlzeiten, Arbeitsgemeinschaften oder betreute Freizeitangebote. Die Unterrichtsverpflichtungen der Lehrkräfte liegen mit Umfängen von 22 – 25 Stunden größtenteils sogar unter der deutscher Lehrerinnen und Lehrer. Ihre Präsenzzeiten verteilen sich über die Unterrichtstätigkeiten hinaus auf die Anleitung der o.a. Freizeiten und Arbeitsgemeinschaften. Darüber hinaus verwenden z. B. englische Lehrkräfte einen großen Teil der Präsenzzeiten für professionelle Kommunikation und Kooperation, etwa für die schulinterne Curriculumgestaltung, die gemeinsame Planung von Projekten oder den Austausch über Lernende mit besonderen Förderbedarfen. Für Maßnahmen primärer und sekundärer Prävention bietet die Ganztagsschule wesentlich bessere Voraussetzungen als der Halbtagsunterricht, erst recht für die Förderung von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf. So bezeichnet Ellger-Rüttgardt (2003, S. 62) es als einen Skandal, dass Schulen für Lernhilfe angesichts ihrer umfangreichen sozialpädagogischen Aufgaben noch immer größtenteils als Halbtagsschulen organisiert sind. Ganztagsschulen bieten durch ihr Mehr an Zeit bessere Voraussetzungen für die Lösung zentraler Probleme in unserem Schulsystem. Sie ermöglichen eine individuelle Förderung, die auf die unterschiedlichen Stärken, Interessen und Voraussetzungen des einzelnen Kindes eingeht. 15.3.5 Die Unterstützung von Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit Bei der Frage nach den Ursachen der wenig vorteilhaften PISA-Ergebnissen wiederholt sich, was in solchen Fällen häufig geschieht: Jede der an der Erziehung und Unterrichtung der Lernenden beteiligten Institutionen macht die Vorgängereinrichtung für die Probleme verantwortlich: die weiterführenden Schulen die Grundschule, die Grundschule den Kindergarten und alle gemeinsam die Eltern, die nach einhelliger Meinung der Bildungsinstitutionen eine zu geringe Erziehungsleistung erbringen. Tatsächlich kann sich niemand von den beteiligten Personen und Institutionen von einer Mitverantwortung frei sprechen. Grundschule und weiterführende Schulen haben den Auftrag, die Bildung der Kinder fortzusetzen, die Eltern und Kindergarten im Vorschulalter angelegt haben. Die
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Vorschuleinrichtungen haben die Erziehungsarbeit der Eltern zu ergänzen und in den Grenzen ihrer Möglichkeit auch zu kompensieren. Die Erstverantwortung liegt bei den Eltern. Es wäre weitgehend eine Scheinlösung, lediglich an Eltern zu appellieren, sich auf ihre Erziehungspflichten zu besinnen. Denn gerade bei den am stärksten gefährdeten Kindern liegt es nicht nur an mangelndem Elternwillen, sondern auch am fehlenden Können. In England und den USA werden für bildungsferne Familien sog. „family literacy“ Programme aufgelegt. Die Förderung setzt nicht direkt beim Kind an, sondern bei den Eltern. Schon im Vorschulalter der Kinder werden Eltern dazu bewegt, sich selber im Lesen und Schreiben weiterzubilden und es wird ihnen nahe gebracht, wie wichtig es ist, dass sie mit ihren Kindern sprechen, ihnen Geschichten vorlesen, sie auf die Schrift aufmerksam machen oder die Kinder bekräftigen, wenn sie Interesse am Lesen und Schreiben zeigen. Es konnte empirisch belegt werden, dass dies die Chancen der Kinder in der Schule verbessert (Yates, 2001; Nickel, 2004). Das HIPPY-Programm (Home Instruction Program for Preschool Youngsters), in Israel zur Integration von Migranten konzipiert, dient sowohl zur Integration von Kindern kultureller Minderheiten als auch zur Unterstützung sozial benachteiligter Kinder. Ziel ist die Förderung der Lernfähigkeit und dabei besonders der Schulung kognitiver Fähigkeiten. Außerdem soll das Programm auch zur Entwicklung und Intensivierung der Mutter-Kind-Beziehung beitragen. In einem zweijährigen Training lernen die Mütter zu Hause, wie sie ihr Kind spielend fördern können. Die Trainerinnen haben den gleichen kulturellen Hintergrund wie die Mütter. In 14-tägigen Zusammenkünften lernen die Mütter neue Materialien kennen und tauschen sich aus. Bislang wird dieses Programm als hochwirksam und effizient eingeschätzt (Kiefl & Pettinger, 1997).
15.3 Schluss Durch Präventionsmaßnahmen soll erreicht werden, dass Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen, die von Behinderung bedroht sind, eskalieren und zu einer Sonderschulüberweisung führen, nicht zuletzt weil eine Sonderbeschulung keineswegs eine Garantie für größere Lernzuwächse ist (Kniel, 1979). Wie Haeberlin, Bless, Moser und Klaghofer (1990) gezeigt haben, sind die Lernfortschritte bei Kindern mit manifesten Lernbeeinträchtigungen, die ohne besondere Fördermaßnahmen in Regelschulen verbleiben, größer als bei Schülern, die bei vergleichbaren Problemen an Sonderschulen unterrichtet wurden. Allerdings hatten diese Schüler größere emotionale Probleme. Angesichts der Tatsache, dass es für die Schüler weder besondere Angebote gab noch zusätzliche Ressourcen für die Schulen, sind die Ergebnisse keineswegs entmutigend. Die bloße Vermehrung von Ressourcen reicht, wie die Erfahrungen mit den integrativen Regelklassen zeigen, offenbar nicht aus, um eine nachhaltige Präventionswirkung zu erzielen. Offenbar müssen zu einer hinreichenden Ressourcenausstattung begründete Diagnose- und Förderkonzepte hinzukommen. Die von Rutter et al. (1980) vorgestellten Ergebnisse lassen hoffen, dass mit Schulprogrammen und pädagogischer Konsensbildung an einem Schulstandort weitere Fortschritte erzielt werden können.
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Prävention
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Prävention
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Teil V
Interventionen
Einführung Ulrich Schröder klärt in seinem Beitrag zunächst den Begriff der Metakognition samt seiner sonderpädagogischen Relevanz, um dann die Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen auf dem Gebiet metakognitiven Verhaltens bei schulischen Leistungsanforderungen aufzuzeigen. Es werden Möglichkeiten der Abhilfe, also der Förderung Lernbehinderter in Metakognition, angesprochen. Schließlich erfolgt eine Fokussierung auf die Unterrichtstätigkeit von Lehrpersonen. Trainingsverfahren für Einzelpersonen oder „Minigruppen“ werden eher am Rande behandelt. Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn sprechen in ihrem Beitrag zwei bedeutsame Bereiche an, in denen wissenschaftlich evaluierte Maßnahmen zur Förderung von Lernund Gedächtnisleistungen bei stark lernbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entwickelt worden sind: Vermittlung von spezifischen deklarativen Wissensinhalten und Förderung selbstregulatorischer Lernkompetenzen. Die bisherigen Erfolge zur Vermittlung von schulrelevantem Faktenwissen sind sehr überzeugend. Es gibt zahlreiche internationale Laborstudien zur Wirksamkeit von Mnemotechniken bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten, die durch Evaluationsstudien in der Schule ergänzt worden sind. Im deutschen Sprachraum fehlen bislang solch schulnahe Interventionsstudien bei Lernbehinderten. Beim derzeitigen Stand der Forschung scheint eine besonders erfolgreiche Förderung der Lern- und Gedächtnisleistungen Lernbehinderter dann möglich zu sein, wenn Interventionen gewählt werden, in denen ein gezieltes und informiertes Einüben bereichsspezifischer Strategien und deren metakognitiver Regulation erfolgt. Heutzutage findet in Schulen keinerlei systematische Denkerziehung mehr statt. Man verlässt sich darauf, dass die geistigen Fähigkeiten hinreichend in der Auseinandersetzung mit dem regulären Unterrichtsstoff entwickelt werden. Zentrale These des Beitrags von Karl Josef Klauer ist aber, dass damit vielen Kindern ein Schaden zugefügt wird, denn man enthält ihnen so die Möglichkeit vor, ihre Kompetenzen besser zu entwickeln, um dadurch mehr und effektiver zu lernen. Er zeigt, dass das Training des induktiven Denkens aus seiner Sicht nachweislich nicht nur die intellektuelle Kapazität fördert, sondern in noch stärkerem Maße das Lernen in der Schule. Von daher bietet es sich an zu prüfen, ob die Strategie nicht systematisch in Schulen gelehrt werden sollte, zumal entsprechendes Material zur Verfügung steht. Michaela Greisbach beschäftigt sich mit der Förderung der Wahrnehmung. Nach der Definition des Gegenstandbereichs stellt sie wichtige Tests und empirisch evaluierte Förderprogramme aus diesem Gebiet dar. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff der Wahrnehmungsstörung in der Regel eine unspezifische, nicht näher differenzierte Diagnosekategorie kennzeichnet, die kaum einen sinnvollen Zugang bietet. Der Begriff der Wahrnehmungsstörung bietet für die in der Praxis zu beobachtenden Auffälligkeiten von Kindern weder einen ausreichenden Beschreibungshintergrund noch liefert er überprüfbare Hypothesen über die Ursachen ihrer abweichenden Verhaltensweisen. Eine genaue Abgrenzung zu anderen Störungsbildern gibt es nicht. Im Gegenteil: Sie erinnert in weiten Teilen an die lange Zeit übliche Diagnose einer minimalen cerebralen
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| Teil V: Interventionen Dysfunktion. Am Beispiel der visuellen Wahrnehmungsförderung wird aufgezeigt, dass die Erwartungen an nicht triviale Effekte hinsichtlich einer Verbesserung der Schulleistungen (und insbesondere der Leseleistungen) nicht erfüllt werden können. Dietrich Eggert und Christina Reichenbach betonen in ihrem Beitrag, dass in verschiedenen Effektivitätsstudien nachgewiesen wurde, dass die Wirkungen einer psychomotorischen Förderung vorwiegend im Bereich einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und einer Stabilisierung der Persönlichkeit in ihrer Beziehung zum Lebenskontext liegen. Die beiden Autoren beschreiben dann ausführlich Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung, Methoden einer psychomotorischen Förderung sowie Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik. Sie stellen auch fest, dass bei zunehmendem Alter des Kindes immer weniger in kognitiven oder sprachlichen Bereichen eine direkte Einwirkung von der Motorik aus stattfinde; selbst eine direkte Bewegungsförderung verbessere nicht immer auch die Motorik. Nachdem Kerstin Naumann und Gerhard Lauth zunächst pädagogische, psychologische sowie medizinische Determinanten von Aufmerksamkeit dargestellt haben, beschäftigen sie sich schwerpunktmäßig mit der unterrichtsintegrierten Förderung von Aufmerksamkeit. Wichtigen Komponenten sind hier die Vermittlung grundlegender Kenntnisse, die Strukturierung von Lern- und Unterrichtssituationen durch den Lehrer, die Verbesserung der Lernaktivitäten des Kindes, die Verhaltensmodifikation (Kontingenzmanagement) sowie die Zusammenarbeit mit den Eltern. Die vorliegenden Programme haben insgesamt überwiegend den Charakter von kindzentrierten Trainings, die im schulischen Kontext durchgeführt werden. Was noch weitgehend aussteht, ist hingegen ein breit angelegtes, didaktisch gut aufbereitetes und standardisiertes Trainingsprogramm zur Lehrerfortbildung, das die Lehrkräfte befähigt, sowohl therapeutische Maßnahmen (etwa die Vermittlung von Selbstinstruktionen) im Unterricht aufzugreifen als auch den laufenden Unterricht für betroffene Kinder förderlicher zu gestalten (etwa durch strukturierende Maßnahmen, Einführung von Ritualen, geeignete Sitzplatzwahl etc.). In seinem Beitrag klärt Johann Borchert zunächst einige wichtige Begriffe. Im schulischen Kontext werden nämlich in der sonderpädagogischen Psychologie die Begriffe Leistungs- und Lernmotivation, von der Sonderpädagogik eher der Terminus Interesse favorisiert, wenn es um Motivation geht. In Anlehnung an Rheinberg und Krug ist allen Begriffen gemeinsam, dass Personen Ziele vor Augen haben, die erreicht werden sollen, sich deshalb bemühen und anstrengen und sich durch andere Reize nicht ablenken lassen. Der Autor gibt dann einen Überblick über Programme zur Motivationsförderung und zum Attributionstraining. Dabei versäumt er nicht, die empirische Evaluation solcher Trainingsmaßnahmen in den Mittelpunkt zu rücken.
16 Förderung der Metakognition Ulrich Schröder Wenn man im Internet einen Suchauftrag mit dem Stichwort „Metacognition“ erteilt, muss man den Eindruck haben, dass man zumindest in den USA auf ein Modethema – auch in der pädagogischen Landschaft – gestoßen ist. In Deutschland lässt sich dieses Ergebnis, jedenfalls was die (sonder)pädagogische Rezeption angeht, nicht bestätigen, obwohl in der so vielzitierten PISA-Erhebung der OECD ein Großteil der Resultate in das Metakognitionskonzept einzuordnen ist. Im vorliegenden Beitrag ist jedoch zunächst der Begriff „Metakognition“ samt seiner sonderpädagogischen Relevanz zu klären, sodann sind die Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen auf dem Gebiet metakognitiven Verhaltens bei schulischen Leistungsanforderungen aufzuzeigen, bevor Möglichkeiten der Abhilfe, also der Förderung Lernbehinderter in Metakognition, angesprochen werden. In diesem dritten Teil erfolgt eine Fokussierung auf die Unterrichtstätigkeit von Lehrpersonen; Trainingsverfahren für Einzelpersonen oder „Minigruppen“, wie sie im Unterricht mit Lernbehinderten kaum realisierbar sind, werden dementsprechend höchstens am Rande behandelt.
16.1 Zum Begriff der Metakognition Am Zustandekommen von Leistungen, wie sie in Schulen gefordert werden, sind kognitive Funktionen ganz wesentlich beteiligt: aktive, selektive Wahrnehmung, Einsatz von Gedächtnis und Wissen, Analysieren, Vergleichen, Klassifizieren usw. Aber es kommen weitere psychische Aktivitäten hinzu, außer Gefühl, Motivation u. a. auch solche – und die sind hier Gegenstand –, die sozusagen „hinter“ den kognitiven Funktionen stehen: Wissen über das eigene Vermögen, die Aufgabe zu lösen, und über die dafür aufzubringende Zeit und Anstrengung z. B. oder Vor‑Überlegungen über die Herangehensweise oder Strategie, oder ein ständiges ‚Aufpassen‘, ob der Weg bisher der richtige war, oder am Schluss die kritische Überprüfung dessen, was herausgekommen ist. Für diese Aktivitäten, die sich nur begrenzt an beobachtbarem Verhalten ablesen lassen, wurde in den siebziger Jahren der Begriff „Metakognition“ geprägt (Kluwe, 1981; Flavell, 1984; Brown, 1984; Hasselhorn & Mähler, 1990; Schröder, 2000a, 2000b, S. 129 ff.). Dabei sind zwei Komponenten zu unterscheiden: einerseits das Wissen über Kognitionen und anderseits die als „exekutive Prozesse“ bezeichneten Funktionen, mit denen eine „Regulation“ der kognitiven Funktionen bewirkt wird. Zur ersten Art von Metakognition zählt außer dem oben genannten Wissen insbesondere die Kenntnis von Strategien zur Aufgabenlösung, dabei auch, wo und wann sie einzusetzen sind. Solches Wissen über Kognitionen im Allgemeinen und über die eigenen Kognitionen im Besonderen entwickelt sich erst allmählich, bleibt dann aber ziemlich stabil. Es ist in der Regel bewusst und sprachlich formulierbar (Brown, 1984, S. 63), damit aber auch abhängig von der Ausdrucksfähigkeit der Kinder. Im Falle der Lernbehinderten, deren „typische“ Sprachform für die Beschreibung innerpsychischer Vorgänge nicht günstig ist, muss hier mit Benachteiligungen gerechnet werden.
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| Teil V: Interventionen Die „exekutiven Prozesse“ oder Regulationen sind aus diesem Grunde und auch, weil sie den Abläufen des Lernens und der pädagogischen Interventionen näher sind, von größerem Interesse und stehen als die sonderpädagogisch bedeutsamere Komponente im Folgenden im Mittelpunkt. Es geht bei ihnen um die In-Gang-Setzung und Ausführung der Bewältigungsstrategien, um das Wie des Zustandekommens von Textverständnis (vgl. Walter in diesem Band) und Textproduktion oder von Lösungen für Probleme aus dem Alltag oder aus der Mathematik (vgl. jeweils Werner und Scherer in diesem Band). Dabei lassen sich wiederum drei hauptsächliche Teilbereiche unterscheiden: das Planen, die Überwachung während des Ausführens und die Kontrolle oder Evaluation am Schluss: – Am Beginn des Lösungs- oder Verstehensvorganges gehören zur Planung Fragen wie: Was ist meine Aufgabe, worin besteht sie? Lässt sie sich in Teilaufgaben zerlegen und, wenn ja, in welche (Aufgabenanalyse)? Welche geeigneten Vorgehensweisen oder Strategien kenne ich schon dafür (Strategieauswahl) – oder muss ich vielleicht selber erst einen Weg der Bewältigung (er)finden? Welches Vorwissen brauche ich und muss ich aktivieren? Kann ich sofort losprobieren oder sollte ich eher abwartend noch mehr Einblick in die Aufgabenstellung anstreben? Wo und wie setze ich an? – Die „Überwachung“ unterzieht alle kognitiven Abläufe der aufmerksamen Betrachtung wie auf einem Kontroll-Bildschirm („monitoring“): Wird die gewählte Herangehensweise oder Strategie umgesetzt und eingehalten? Bewährt sie sich? Wie komme ich weiter? Wie setze ich mein Vorwissen ein? Gibt es Stellen, auf die mehr Aufmerksamkeit, Mühe und/oder Zeit verwandt werden müssen, und wo sind sie? Erweist sich die gewählte Strategie als geeignet oder muss ‚umdisponiert‘ werden? Ändern sich vielleicht sogar während der Bearbeitung die Bedingungen der Aufgabenlösung (Revidieren und Umplanen)? – Schließlich ist zu kontrollieren, wie das Ergebnis der Bemühungen ausgefallen ist. Diese Evaluation erfolgt zwar am Schluss, sollte aber besser in den gesamten Lösungsprozess integriert sein (und fällt so teilweise mit dem monitoring zusammen). Überhaupt ist festzuhalten, dass Planen, Überwachen und Evaluieren nicht in starr linearer Abfolge zu denken sind, sondern jederzeit ineinander greifen können, wenn es die Bedingungen der Aufgabe und der jeweilige Stand des Lösungsprozesses erfordern. So können Revisionen der Planung und Kontrollprozesse im gesamten Ablauf wiederholt auftreten. Anfänge der exekutiven Prozesse gehen schon in die frühe Kindheit zurück, sie entwickeln sich beim Erfüllen kognitiver Anforderungen. Anderseits sind sie von situativen Bedingungen wie dem Sachgebiet oder der Schwierigkeit der Aufgabenstellung abhängig, sind also nicht unbedingt stabil. Sie entgehen oft ganz der Selbstbeobachtung und sind daher nicht immer willkürlich verfügbar und schwer sprachlich formulierbar, jedoch auch nicht so abhängig von der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit wie das metakognitive Wissen (vgl. Brown, 1984, S. 63 f.; Butler, 1998, S. 283). Die Unterscheidung von Wissen über Kognitionen einerseits und exekutiven Prozessen, also Steuerung, Regulation der Kognitionen, anderseits, bedeutet nicht, dass man übersehen darf, wie beide Komponenten sich gegenseitig beeinflussen. So fördern exekutive Prozesse den Erwerb von Wissen, und umgekehrt bildet metakognitives Wissen die Grundlage für eine angemessene Auswahl von Strategien.
Kapitel 16: Förderung der Metakognition | 273
Wenn Schülerinnen und Schüler Metakognition einsetzen, hat das sicher auch mit Überzeugungen der „Selbstwirksamkeit“ (self-efficacy) und mit „Kausalattributionen“ zu tun, mit Überzeugungen also, eigene Kompetenz und Anstrengung könnten positive Wirkungen bei den Lösungsbemühungen haben, bzw. umgekehrt, Lösungserfolge seien auf den eigenen Einsatz zurückzuführen. Mit Hilfe des „Allgemeinen Strategiewissens“ – des Wissens, dass Anstrengung zum strategischen Lernen notwendig und dass dieses strategische Lernen leistungsfördernd ist – hat Borkowski ein um motivationale Bereiche erweitertes Konzept der Metakognition eingeführt, das große Verbreitung erfahren hat (Borkowski & Turner, 1990; Borkowski & Muthukrishna, 1992; vgl. Butler, 1998, S. 284 ff.). Hier kann darauf nicht weiter eingegangen werden; stattdessen wird auf den einschlägigen Handbuchbeitrag zur Motivation verwiesen (vgl. Borchert in diesem Band). Da die Metakognition in die kognitiven Funktionen eingebettet ist (vgl. Paris & Winograd, 1990), ist es zuweilen kaum möglich, zwischen der Kognition und der sich darauf beziehenden Metakognition zu unterscheiden. Dies muss jedoch weder die inhaltliche Relevanz des theoretischen Ansatzes noch seine unterrichtliche Nutzung in Frage stellen.
16.2 Metakognition bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich schulischen Lernens weisen im Vergleich mit durchschnittlichen Kindern eklatante Schwächen im Einsatz der Metakognition, insbesondere in den exekutiven Prozessen des Planens, Überwachens und Kontrollierens, auf (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993; den deutschen Daten können solche aus anderen Ländern mit vergleichbaren Schülerpopulationen zugesellt werden; vgl. Brown, 1984; Campione, 1984; Klauer & Lauth, 1997; Lauth, 1998; Schröder, 2000a, 2000b). Daher könnte man durchaus erwägen, auf diesen Gebieten die deutlichsten Kennzeichen dafür zu suchen, was mit „Lernbehinderung“ benannt wird. Natürlich bedeutet das nicht, dass die im Folgenden genannten Auffälligkeiten jedes lernbehinderte Kind betreffen oder dass betroffene Kinder alle Auffälligkeiten zeigen müssen; eine Prüfung jedes Einzelfalles ist unabdingbar. Beim metakognitiven Wissen sind in der Regel geringere Kenntnisse über die eigenen Kognitionen festzustellen. Vor allem kennen die Kinder weniger Strategien zum Verstehen und Aufgabenlösen, sodass sie entweder wegen dieses Mangels sofort scheitern oder aber beim Auftreten von Schwierigkeiten nicht wissen, wie sie diese überwinden können, da sie für eine nicht erfolgreiche Lösungsstrategie keine Alternative verfügbar haben. Bei Bedarf spontan selbst geeignete Strategien zu erfinden, gelingt ihnen meist nicht. Auch die Anwendung bekannter Strategien bedarf oft äußerer Anstöße, vor allem, wenn diese nicht in dem engen Kontext, in dem sie erworben wurden, eingesetzt werden müssten, sondern flexibel und generalisiert. Was Auswahl und Einsatz geeigneter Strategien angeht, muss also insgesamt mit Einschränkungen gerechnet werden. Dazu kommt noch, dass diese Kinder auch auf Strategien, die sie eigentlich beherrschen, oft nicht zugreifen können und sie nicht aufgabengerecht zu aktivieren vermögen.
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| Teil V: Interventionen Die am Beginn eines kognitiven Prozesses erforderliche Analyse der Problemstellung und ihrer wesentlichen Variablen, z. B. der Schwierigkeit oder der Aufgabenstruktur, kann meist nicht effektiv geleistet werden. Dasselbe gilt für die Notwendigkeit, sich Rechenschaft über die Ziele der in Angriff zu nehmenden Aufgabe zu geben; so gelingt es ihnen z. B. kaum, die Art des Lesens (rasches Überfliegen oder gründliches Durchlesen) dem Zweck der Lektüre anzupassen. Kinder mit Lernschwierigkeiten machen sich ihr Wissensniveau, d. h. was sie wissen und was sie nicht wissen, nicht bewusst (Butler, 1998, S. 291). Damit zusammenhängend „fragen [sie] vorhandenes Vorwissen in geringerem Maße ab“ (Lauth, 1998, S. 212). Im Laufe der Lösungs- oder Lernprozesse mangelt es generell an Selbst-Regulation, an der ständigen Überwachung und Überprüfung des eigenen Vorgehens. Angewandte Strategien werden nicht immer genau befolgt, deren gegebenenfalls erforderliche Modifizierung oder Revidierung gelingt kaum. Darunter leidet nicht nur die frühzeitige Entdeckung von Irrwegen und Fehlern, sondern auch die Anpassung an veränderte Aufgabenbedingungen, z. B. an erhöhte oder verminderte Schwierigkeit. Besonders auffällig ist die Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit: In der Regel sind die Lernbehinderten schneller ‚fertig‘ als Grundschüler (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993; vgl. Butler, 1998), und es gelingt ihnen meist nicht, die Zeit in differenzierter Weise einzuteilen – leichtere Teilprozesse rascher zu durchlaufen, schwierigeren längere Zeit zu widmen. Ebenso bereitet es große Schwierigkeiten, die Intensität der Bemühungen den Anforderungen entsprechend abzustufen. Probleme bereitet es insgesamt, sich Rechenschaft über den bisher zurückgelegten Lern- bzw. Lösungsweg zu geben und so den jeweiligen Stand des Lernens zu überwachen. Und schließlich wird die ständig, aber besonders am Schluss obligatorische Kontrolle nur unzureichend ausgeübt und erfährt keine Rückbindung auf den eingeschlagenen Lösungsweg und mögliche Fehlerquellen. Auf die Dauer verursacht der geringe Einsatz von Metakognition bei den lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern ein Stagnieren in der Lern- und Denkentwicklung (vgl. Klauer & Lauth, 1997). Die aufgezählten Schwächen und Diskrepanzen gegenüber durchschnittlich Lernenden fallen umso deutlicher aus, je komplexer die Aufgabenstellung ist, je höherrangig demnach die erforderlichen Metakognitionsleistungen sind. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass entsprechend dem Metakognitionsansatz selbst die obige „Negativ-Liste“ nicht zu einer globalen negativen Qualifizierung der Problemlöse- oder Lernfähigkeit Lernbehinderter führen muss, sondern im Gegenteil erlaubt, die im Einzelnen und differenziert bezeichneten Defizite als sonderpädagogische Förderungsbedürfnisse zu interpretieren und zu versuchen, sie durch eine entsprechende fördernde Intervention anzugehen.
16.3 Zur Anbahnung und Steigerung metakognitiver Aktivitäten bei Lernbehinderten Wie schon einleitend bemerkt, sollen im Folgenden Trainingsversuche zurücktreten zugunsten von Möglichkeiten der Förderung metakognitiver Aktivitäten im üblichen Unterricht. Es soll also um Metakognitionsförderung mit didaktischen Mitteln gehen.
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Anderseits hielte ich es für überzogen, von einer „metakognitiven Didaktik“ (Ianes, 1996; De Beni, 1999) zu sprechen. Es kann auch „nicht [darum gehen], Metakognition als ein Lehrziel im Curriculum zu etablieren“ (Paris & Winograd, 1990, S. 7). Die Frage ist vielmehr, wie metakognitive Ansätze in die alltägliche unterrichtliche Arbeit integriert werden können, wie der Unterricht bei Lernbehinderten in den vorgegebenen Lernbereichen so gestaltet werden kann, dass sich der Effekt gesteigerter und erfolgreicher metakognitiver Aktivitäten einstellt (vgl. Taylor, Sternberg & Richards, 1995, S. 62-69). Freilich ist in Kauf zu nehmen, dass es dabei – im Gegensatz zu formellen Trainingsverfahren – kaum empirische Absicherung gibt. Summarisch könnte zunächst gesagt werden, Lehrer und Lehrerinnen sollten alle in den Erläuterungen der Metakognition und der Auffälligkeiten bei Lernbehinderten genannten Merkmale so verinnerlichen, dass sie den Prozessen, die strategisches, metakognitiv gesteuertes schulisches Lernen impliziert, eine ständige Aufmerksamkeit widmen, sozusagen eine stabile metakognitionsorientierte Einstellung zur Planung und reflektierten Durchführung ihres Unterrichtes bilden (vgl. De Beni, 1999, S. 246). Dies ist mit Sicherheit weit schwieriger, als es formuliert ist. Aber man kann es sich zur Gewohnheit machen, bei allen Entwürfen und auch im Ablauf des Unterrichtens immer die Frage präsent zu haben, wo darin jeweils Prozesse des Planens, Überwachens und Evaluierens impliziert sind oder beteiligt werden können. Darüber hinaus können Lernsituationen so arrangiert werden, dass sie es „den Schülern erleichtern, ein optimales Verständnis von Aufgaben und Lernprozessen zu bilden“ (Butler, 1998, S. 297); das heißt, die Lernsituationen müssen Strukturierungen anbieten, dürfen also nicht zu komplex, aber auch nicht zu simpel und schon gar nicht routinemäßig zu bewältigen sein. Insbesondere Personen mit sehr geringen bisherigen Lernerfolgen bedürfen dabei stetiger Ermunterung und Ermutigung, sich auf die exekutiven Prozesse einzulassen. Letzten Endes soll ja die Anleitung zu metakognitivem Lern- und Problemlöseverhalten durch Lehrpersonen allmählich zurücktreten zugunsten der Eigenaktivität und Selbständigkeit der Lernenden (das ist – mit Verlaub – dann das größte didaktische Kunststück; vgl. Ianes, 1996, S. 44 ff.). Nicht geeignet sind, wie oben schon angedeutet, Aktivitäten im Lernvorgang, die Routine geworden sind und berechtigterweise bleiben sollen; bei ihnen würde metakognitives Reflektieren nur zu Verzögerungen und Verunsicherung führen. Zur allgemeinen Einstellung der Lehrpersonen gehört auch, dass der im engeren Sinne metakognitive Bereich überschritten und – nun im Sinne der Sichtweise Borkowskis – im Unterricht vermittelt wird, wie nützlich fürs Lernen neben dem Einsatz eigenen Strategiewissens und des Überwachens auch die allgemeine Überzeugung von der Bedeutung planvollen Vorgehens sowie das Vertrauen in die eigene Anstrengung und das motivierte Durchhalten sind (Borkowski & Muthukrishna, 1992; Borkowski & Turner, 1990; vgl. 16.1 und Butler, 1998). Aus Banduras Theorie des Sozialen Lernens und aus dem Selbstinstruktionstraining (Lauth, 1998) lässt sich die Funktion der Lehrperson als Modell metakognitiven Verhaltens für die Schülerinnen und Schüler ableiten: Die Lehrperson kann im Unterricht „laut denkend“ vor der Klasse die Aufgabenstellung und ihre Ziele analysieren sowie ein nicht überhastetes, planendes, überwachendes und regulatives Verhalten demonstrieren und dabei auf seine Vorteile hinweisen.
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| Teil V: Interventionen Eine direkte Unterweisung betrifft nützliche Lernstrategien. Lernschwachen oder retardierten Kindern mit ihrem meist unzureichenden Repertoire an Strategien, z. B. zum Textverständnis oder zum Lösen von mathematischen Textaufgaben, sind Kenntnisse von Strategien zu vermitteln. Allerdings sollte man nur wenige auf einmal lehren und ihre positive Wirkung durch Modelllernen unterstreichen. Nun liegt das Wesentliche aber nicht im Wissen über Strategien, sondern in ihrer richtigen Anwendung; außerdem stellen sich sehr bald die Probleme der Übertragbarkeit und Dauerhaftigkeit der gelernten Strategien heraus. Daher ist – wie Campione es in Bezug auf Trainingsverfahren bei Lernbeeinträchtigten ausgedrückt hat – das „expliziteste Training“ notwendig, das nicht nur vermittelt, welche Strategien es gibt, sondern auch, wann und wie sie anzuwenden und wie sie zu überwachen und zu evaluieren sind (Campione, 1984, S. 125; vgl. Borkowski & Muthukrishna, 1992; Taylor et al., 1995; De Beni, 1999). Und es ist wesentlich, dass die Lehrpersonen den Lernenden dabei helfen, die Strategien, die sie nach und nach erwerben, auf neue Situationen zu generalisieren (vgl. Borkowski & Muthukrishna, 1992). Um die Überwachung und die allgemeine Aktivierung der „passiven Lerner“ zu fördern, wird empfohlen, die Schülerinnen und Schüler zum Verbalisieren der Lösungsschritte und zur Selbstbefragung hinsichtlich der Teilprozesse des Planens, Überwachens, Regulierens und Kontrollierens anzuregen: Was soll ich machen (z. B. wozu soll ich den Text lesen)? Was mache ich zuerst? Wie viel Zeit habe ich zur Verfügung? Bin ich auf dem richtigen Weg? Wie weit ist mein Verständnis des Textes gekommen? Ist mein Rechenergebnis korrekt? Hätte ich die Aufgabe auch anders bewältigen können? usw. (vgl. oben 16.1; Taylor et al., 1995). Fragen nach dem eigenen Vorgehen können jedoch Lernbehinderte und allgemein jüngere Kinder kaum beantworten, so dass hier vor Überforderung gewarnt werden muss. Darüber hinaus gilt generell, dass man zum Fragestellen bereits allerhand Vorkenntnis von einer Sache haben muss: „Um eine Frage zu stellen, muss man genug wissen, um zu wissen, was [noch] nicht bekannt ist“ [Übers. v. Verf.] (Miyake & Norman, 1979). Der Einwand gilt allerdings wohl weniger für die Selbstbefragung in Bezug auf das sachliche Vorwissen, das für eine Aufgabe erforderlich ist, z. B.: Welche Aufgabe aus dem Einmalsieben kann ich schon perfekt, welche noch am wenigsten? Welche Länder, aus denen Apfelsinen kommen können, weiß ich? Eine allgemeine Voraussetzung für die Entwicklung und den Einsatz von Metakognition ist, dass die Personen relativ frei von Angst sind. Auch Zeitdruck ist keineswegs förderlich. Daher sollte Zeit für komplexe Aufgaben, bei denen Metakognition einzusetzen ist, ausreichend zur Verfügung stehen (bei Routinetätigkeiten kann dagegen eine Zeitbegrenzung sinnvoll sein). Angesichts der vielfach empirisch belegten Tatsache, dass Lernbehinderte und andere Personen, die wenig Metakognition einsetzen, charakteristischerweise weniger Zeit für die Lösung von Aufgaben aufwenden bzw. sich oft zu schnell für eine Lösung entscheiden (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993), sollten diese geradezu zum Sich-Zeit-Lassen aufgefordert werden. Um einen bewussteren und günstigeren Umgang mit der Zeit zu erreichen, kann man vor einer kognitiven Unternehmung die dafür wohl erforderliche Zeit schätzen lassen. Überforderung, aber ebenso sehr Unterforderung, ist zu vermeiden. Im einen Falle wird – wie bei der emotionalen Belastung der Angst oder bei Zeitmangel – Druck erzeugt, der keinen Freiraum für Metakognition lässt, im anderen besteht keinerlei Anlass
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zu besonderer kognitiver Anstrengung. Unterforderung tritt jedoch zuweilen subjektiv als Täuschung auf, wenn nämlich Kinder sich überschätzen. Bei „impulsiven“ Kindern, die dazu neigen, lässt sie sich leichter reduzieren als das umgekehrte Phänomen der Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten bei „zögerlich-ängstlichen“ Kindern (Mathes, Hofmann & Emmer, 1999). Problemlöse- und Lernprozesse paarweise bearbeiten zu lassen, kann die Schülerinnen und Schüler dazu bringen, ihre Überlegungen und (Selbst‑)Beobachtungen dabei auszutauschen und so zugleich ihr Augenmerk auf steuernde und überwachende Aktivitäten zu richten. Zu einigen schulischen Fächern bzw. Lernbereichen sind ausgearbeitete und überprüfte Modelle der Metakognitionsförderung vorgelegt worden. So befasst sich seit Jahren eine Arbeitsgruppe um C. Cornoldi von der Universität Padua mit der Propagierung eines metakognitiv geprägten Unterrichtens, insbesondere auch für Stützmaßnahmen bei Lernbeeinträchtigten (vgl. Schröder, 2000b, S. 212 f.). Am bekanntesten wurde indessen das von A. L. Brown und A. S. Palincsar vorgestellte Konzept des wechselseitigen Unterrichtens, des „reciprocal teaching“, das zunächst zur Verbesserung des Textverständnisses entwickelt worden ist (Palincsar & Brown, 1984; Palincsar & Brown, 1986; vgl. Hasselhorn & Mähler, 1990). Ausgangspunkt ist auch die Erfahrung, dass „schwächere Leser... weniger den Zweck des Lesens wahr[nehmen]“ und „sich mehr auf das Dekodieren der Wörter und auf richtiges Lesen als auf die Sinnentnahme aus dem Text“ konzentrieren (Butler, 1998, S. 288; dass dies auch eine Folge falsch akzentuierten Unterrichtes sein könnte, diskutiert die Autorin nicht). Es werden vier das Verständnis fördernde Überwachungsstrategien erarbeitet: Zusammenfassen – Formulierung von Fragen zum Text – Identifizierung und Beseitigung von Unklarheiten – Vorhersage des noch Folgenden. Sie werden zuerst einschließlich ihrer Verwendung und ihres Nutzens erklärt, danach durch Unterweisung und Modellieren durch die Lehrperson vermittelt; spätestens vom Praktizieren durch die Schülerinnen und Schüler an (anfänglich noch unter Anleitung) tritt die Rolle der Lehrperson mehr und mehr zurück, die Rollen werden getauscht, und die Lernenden übernehmen die Verantwortung für den metakognitiven Dialog. Die vier Strategien müssen übrigens nicht isoliert und streng nacheinander erarbeitet werden; dies kann – je nach Vermögen der Kinder – auch teilweise gleichzeitig geschehen, damit die Strategien sich gegenseitig unterstützen können. „Das Kennzeichen dieser Unterrichtsform ist ihre interaktive Natur“, die sich im Dialog manifestiert (Palincsar & Brown, 1986, S. 773). Sie hat nicht nur für das Lesen zur Sinnentnahme ihre Eignung nachgewiesen, sondern auch in anderen Lernbereichen, selbst – mit entsprechender Modifikation – bei Schülerinnen und Schülern, die die Lesetechnik noch nicht beherrschen. Sie lässt sich in die schulischen Lehrgänge integrieren und kann an den geistigen und schulischen Entwicklungsstand der Lernenden angepasst werden (vgl. Taylor et al., 1995, S. 69). Auch die Gruppengrößen, in denen das reciprocal teaching eingesetzt wird, können stark variieren; Phasen innerer Differenzierung bieten sich freilich didaktisch am ehesten an. Andere Vorschläge zur Förderung des Textverständnisses beruhen auf der Technik der (mündlichen oder schriftlichen) Selbst-Befragung, die die Ziele der Lektüre betreffen kann, die Suche nach den Hauptgedanken (die anschließend im Text hervorgehoben werden), den Stand des Verstehensprozesses und verbliebene Unklarheiten (vgl. Walter in
278
| Teil V: Interventionen diesem Band). Ferner ist die Strategie zu vermitteln, dass man je nach Zweck des Lesens unterschiedliche Vorgehensweisen vom „Überfliegen“ bis zum gründlichen Durchlesen wählen kann und die Anstrengung entsprechend gezielt einteilen sollte. Für die Textproduktion, die schreibbegleitend planende und überwachende Aktivitäten erfordert, hat Englert eine metakognitive Förderung mit Hilfe von „Denkzetteln“ entwickelt (Englert, 1990). Zur Überwindung ineffektiver Schreibstrategien wie „Alles-erzählen-was-ich-weiß“ und mangelnder Adressatenbezogenheit erhalten die Kinder Arbeitsblätter, die sie auf Planung (Zweck, Hintergrundwissen usw.), Organisation, Überprüfen und Revidieren hinlenken, bevor die endgültige Fassung entsteht. Offen bleibt, wie in diesem Konzept der Übergang zu der für Metakognition grundlegenden Selbständigkeit der exekutiven Prozesse bei den Lernenden erfolgen soll (solange sie die „Denkzettel“ benutzen, kann von eigenständiger Metakognition noch keine Rede sein). Weitere unterrichtliche Vorschläge zur Metakognitionsförderung – z. B. in Mathematik oder unter Einsatz von Spielen (Fritz & Hussy, 1996) – können hier nur genannt, jedoch nicht weiter behandelt werden. Viele der Vorschläge laufen darauf hinaus, dass „dieser [meta]kognitive Modellansatz die Betonung auf Lernen, wie man lernt, legt“ (Taylor et al., 1995, S. 62). Doch darf da kein Missverständnis entstehen: Dieses „das Lernen lernen“ stellt keinen Gegensatz zum Erwerb von „Lernstoff“, also von inhaltlichem Wissen auf Sachgebieten, dar. Vielmehr ist hinreichend belegt, dass sogenanntes bereichsspezifisches Wissen Entwicklung und Einsatz von Metakognition erleichtert (Borkowski, Schneider & Pressley, 1989); schon zur Planungsphase der exekutiven Prozesse (vgl. 16.1) gehört die Analyse des Vorwissens. Umgekehrt haben schon bei Schulbeginn Kinder mit einem aus sozio-kulturellen oder anderen Gründen geringen oder weniger strukturierten bereichsspezifischen Wissen schlechte Chancen, Metakognition zu entwickeln und zu entfalten (vgl. Schröder, 2000b); „eine nur wenig entwickelte Wissensbasis wird manche unterrichtliche Bemühung um Strategien bei lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern frustrieren und einschränken“ (Borkowski et al., 1989, S. 178). Es mag paradox klingen: Wer Metakognition fördern will, muss auch als Basis Sachwissen fördern. Allerdings erfordert diese Wissensvermittlung didaktisch eine Orientierung an den Interessen der Kinder und vor allem Organisation, Verknüpfung und Hierarchisierung des Wissens, damit es gut und schnell verfügbar ist und sicher eingesetzt werden kann. So wird es möglich, das neuerworbene Wissen zum Gegenstand von Planungs-, Überwachungs- oder Selbstbefragungsprozessen zu machen.
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280
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17 Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn
17.1 Vorbemerkung Versteht man in Anlehnung an den Deutschen Bildungsrat (1973; vergl. auch Klauer & Lauth, 1997) unter Lernbehinderung eine chronifizierte Form von generalisierten Lernschwierigkeiten mit gravierenden Rückständen von ca. zwei bis drei Jahren in den schulischen Leistungen und einem unterdurchschnittlichen IQ im Bereich zwischen 85 und 55, dann ergeben sich konzeptuelle Überlappungen mit zwei Kategorien mentaler Retardierung, wie sie in den Internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSMIV-TR verwendet werden: borderline intellectual functioning (IQ zwischen 71 und 84) und mild mental retardation (IQ zwischen 50 und 70) (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2000; Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003). In der einschlägigen Literatur finden sich viele Arbeiten mit Personen, die in die Kategorie mild mental retardation passen, wenige (vor allem deutschsprachige) Arbeiten mit Lernbehinderten gemäß der Definition des Deutschen Bildungsrates und so gut wie keine mit Kindern, die als borderline intellectual functioning klassifiziert wurden. Um ein empirisch tragfähiges Bild der Möglichkeiten zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Lernbehinderung zu zeichnen, beziehen wir uns im Folgenden nicht nur auf Studien mit lernbehinderten Kindern, sondern zusätzlich auf Untersuchungen mit mental retardierten Personen. Dies scheint uns gerechtfertigt, da es eine nicht unbedeutende Überlappung zwischen diesen beiden Gruppen gibt und sich gezeigt hat, dass sich das Lernverhalten beider Gruppen durch ähnliche Schwierigkeiten charakterisieren lässt.
17.2 Charakteristische Merkmale von Lernen und Gedächtnis bei generalisierten Lernschwierigkeiten (Lernbehinderung und mentale Retardierung) Neben ungünstigen Ausprägungen des Leistungsmotivsystems gelten vor allem Beeinträchtigungen der dem Lernverhalten zugrundeliegenden kognitiven Funktionen als Ursache der schulischen Leistungsrückstände und der unterdurchschnittlichen kognitiven Leistungsfähigkeit bei Personen mit diagnostizierter Lernbehinderung (Campione, Brown & Ferrara, 1982; Detterman, 1987; Ferretti & Cavalier, 1991). Als heuristisch fruchtbar für ein Verständnis der spezifischen kognitiven Schwierigkeiten der Betroffenen haben sich die Basisannahmen der Theorie der Informationsverarbeitung erwiesen, (1) dass Information mehrere Speicherstrukturen (sensorisches Register, Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) mit unterschiedlicher Speicherkapazität und Speicherdauer durchlaufen muss, bevor sie langfristig als Wissen abgespeichert werden kann und (2) dass automatisierte und kontrollierte Verarbeitungsprozesse stattfinden, die in unterschiedlichem Ausmaß kognitive Ressourcen beanspruchen. Die empirischen Befunde zur Informationsverarbeitung mental Retardierter deuten mehrheitlich darauf hin, dass
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| Teil V: Interventionen deren Lernschwierigkeiten weder auf Unzulänglichkeiten in Speicherstrukturen noch auf Beeinträchtigungen in solchen Verarbeitungsprozessen zurückgeführt werden können, die weitestgehend automatisiert ablaufen und wenig mentale Ressourcen beanspruchen, sondern in erster Linie durch unzureichende kontrollierte Verarbeitungsprozesse bedingt sind (Campione & Brown, 1978). Als bedeutsame Determinanten von Lern- und Gedächtnisleistungen gelten bei unauffälligen Kindern und Jugendlichen Kapazität von Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, strategisches Verhalten, Metagedächtnis und Vorwissen (Schneider & Büttner, 2002). Mental retardierte Kinder und Jugendliche zeigen in allen vier Determinanten Besonderheiten. Arbeitsgedächtnis. Beim schulischen Lernen spielt die Fähigkeit, neue Information in einem Arbeitsspeicher über eine kurze Zeitspanne für kognitive Verarbeitungsprozesse präsent zu halten, eine bedeutsame Rolle. Die inhaltliche Bedeutung eines Satzes zu erfassen ist z. B. nur dann möglich, wenn der Anfang des Satzes so lange im Arbeitsgedächtnis erhalten bleibt, bis das Satzende erreicht ist. Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weniger Information simultan verarbeiten können und eine geringere Kapazität des Kurzzeit- und Arbeitsspeichers aufweisen als unauffällige Peers (Gathercole & Pickering, 2001; Henry & MacLean, 2002; Mähler & Hasselhorn, 1990). Für diese Kapazitätsprobleme werden Besonderheiten in kognitiven Verarbeitungsprozessen verantwortlich gemacht. Die Geschwindigkeit, mit der sprachliche Einheiten artikuliert werden können, ist bei Lernbehinderten reduziert (Das, 1985). Darüber hinaus finden bei ihnen subvokale Rehearsalprozesse, die dazu beitragen, Information im Arbeitsspeicher aufrechtzuerhalten, nur in eingeschränktem Maße statt (Mähler & Hasselhorn, 2003; Rosenquist, Conners & Roskos-Ewoldsen, 2003). Strategiegebrauch. Mental retardierte Kinder und Jugendliche haben relative Stärken in Gedächtnisprozessen, die als nichtstrategisch gelten und vergleichsweise wenig sprachbasiert sind. Visuelles Wiedererkennen oder Erinnern von Lokationen funktionieren bei ihnen ähnlich effizient wie bei Nicht-Retardierten (Ellis, Katz & Williams, 1987; Woodley-Zanthos, 1993). Beeinträchtigungen zeigen sich insbesondere in solchen Gedächtnisleistungen, die aktive, sprachorientierte und strategische Verarbeitungsprozesse voraussetzen (Bebko & Luhaorg, 1998; Bray, Fletcher & Turner, 1997). Rehearsal oder Organisieren nach Oberbegriffen werden von Kindern und Jugendlichen mit leichter mentaler Retardierung seltener spontan eingesetzt als von unauffälligen Peers. Der Entwicklungsverlauf in diesen strategischen Verhaltensweisen ist zum Teil stark verlangsamt (Bray, Hersh & Turner, 1985; Bray, Turner & Hersh, 1985; Turner, Hale & Borkowski, 1996). Sind die Aufgabenbedingungen allerdings günstig (z. B. wenn den Probanden Gelegenheit gegeben wird, sich Lernmaterial mehrfach anzuschauen), zeigen auch mental Retardierte verstärkt Anzeichen von strategischem Verhalten (Turner & Bray, 1985). Dies deutet darauf hin, dass strategische Kompetenzen vorhanden sind, die zur Steigerung von Lernleistungen genutzt werden können, wenn sie durch externe Maßnahmen unterstützt werden. Metagedächtnis. Die Probleme retardierter Kinder und Jugendlicher in der Anwendung von Gedächtnisstrategien werden mit einem unzureichenden deklarativen und prozeduralen Metagedächtnis in Verbindung gebracht. Im Vergleich zu unauffälligen Peers sind Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten weniger sensitiv gegenüber Begrenzungen des eigenen Gedächtnisses und sie haben ein geringeres Wissen darüber, welche Strategien
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angewandt werden können, um Lernleistungen zu verbessern (Cornoldi & Vianello, 1992; Justice, 1985; Turner, Hale & Borkowski, 1996). Ihre Schwierigkeiten liegen insbesondere darin, komplexere Aspekte des Strategiegebrauchs wie z. B. die Abhängigkeit des Strategieeinsatzes von situativen Bedingungen adäquat zu erfassen (Borkowski & Kurtz, 1987). Vorwissen. Einen bedeutsamen Einfluss auf Gedächtnisleistungen hat die vorhandene Wissensbasis. Bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten wird davon ausgegangen, dass ihr allgemeines und ihr bereichsspezifisches Vorwissen vergleichsweise wenig elaboriert und differenziert ist (McFarland & Wiebe, 1987). In Übereinstimmung mit dieser Auffassung stehen die Befunde, dass mental Retardierte zu vorgegebenen Kategorien weniger Exemplare wiedergeben können als unauffällige Peers (Glidden & Mar, 1978) und dass es ihnen weniger gut gelingt, Bezeichnungen von bildlich dargestellten Objekten abzurufen (Winters & Brzoska, 1975). Auch die Entscheidung, ob eine Aussage über Eigenschaften eines Objektes zutrifft, fällt ihnen vergleichsweise schwer (McCauley, Sperber & Roaden, 1978). Darüber hinaus können sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Exemplaren einer Kategorie (z. B. Tiere) weniger gut beschreiben als Peers ohne kognitive Auffälligkeiten (Scott & Greenfield, 1992). Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass lernbeeinträchtigte Kinder in allen vier Determinanten von Lern- und Gedächtnisleistungen Defizite aufweisen. Die Frage allerdings, ob es sich dabei jeweils um verursachende Defizite der Lernbeeinträchtigung handelt oder eher um deren Folgen, lässt sich aufgrund vorliegender Untersuchungen nur vage beantworten. Lediglich für die automatische Aktivierung zentraler Prozesse zur Verarbeitung sprachlicher Information im Arbeitsgedächtnis liegen zur Zeit überzeugende Belege dafür vor, dass in diesem Bereich ein Funktionsdefizit lernbeeinträchtigter Kinder vorliegt, das deren Leistungsprobleme mit verursacht (Mähler & Hasselhorn, 2003).
17.3 Verfahren zur Diagnostik gravierender Gedächtnisprobleme Zur Diagnostik von Gedächtnisproblemen bei Kindern und Jugendlichen mit generalisierten Lernschwierigkeiten fehlt es an standardisierten Verfahren mit differenzierten Normen für den angezielten Personenkreis. Notwendig wären diagnostische Instrumente, mit denen man abklären kann, in welchen Bereichen (kapazitative Aspekte von Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, deklaratives und prozedurales Gedächtniswissen, Anwendung strategischer Verhaltensweisen, allgemeines und bereichsspezifisches Weltwissen) spezifische Beeinträchtigungen vorhanden sind. Am ehesten wird diese Anforderung im Bereich der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses erfüllt, die mit Hilfe der Gedächtnisspanne (z. B. Zahlen nachsprechen vorwärts oder rückwärts) erfasst werden kann. Entsprechende Subtests sind in mehreren Intelligenztests (HAWIK-III, AID 2, K-ABC) vorhanden. Eine Alternative stellt der Mottier-Test aus dem Zürcher Lese-Test (Linder & Grissemann, 1996) dar, bei dem Kunstwörter nachgesprochen werden sollen. Zur Differentialdiagnostik weiterer basaler Funktionen des Arbeitsgedächtnisses liegen zusätzliche Testaufgaben vor, für die erste Vorarbeiten geleistet worden sind (Hasselhorn, Grube, Mähler, Zoelch, Gaupp & Schumann-Hengsteler, 2003).
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| Teil V: Interventionen Ein standardisiertes Verfahren zur Erfassung von metamemorialem Wissen stellt die Würzburger Testbatterie zum deklarativen Metagedächtnis (Schlagmüller, Visé & Schneider, 2001) dar. Sie kann im Grundschulalter eingesetzt werden, stellt allerdings vergleichsweise hohe Anforderungen an die verbalen Fähigkeiten der Probanden und ist deshalb im Lernbehindertenbereich nur begrenzt geeignet. Ob tatsächlich Gedächtnisstrategien angewendet werden (Strategiegebrauch) und ob das Verhalten gezielt geplant, kontrolliert und bei Bedarf reguliert wird (prozedurales Metagedächtnis), kann am ehesten mit systematischer Verhaltensbeobachtung bei Lernaufgaben und mit Arbeitsproben abgeklärt werden.
17.4 Interventionen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen wurden verschiedene kognitive Interventionen entwickelt, die sich in Anlehnung an Mastropieri und Scruggs (1991) grob in zwei Richtungen einteilen lassen: – Interventionen mit der bevorzugten Zielsetzung, den Erwerb von deklarativen Wissensinhalten zu optimieren. In erster Linie geht es hierbei um Hilfestellungen, die darauf ausgerichtet sind, die Integration von neu zu erwerbenden Wissensinhalten in bereits vorhandenes Vorwissen zu erleichtern. – Interventionen mit der bevorzugten Zielsetzung, selbstreguliertes Lern- und Gedächtnisverhalten einzuüben und den Transfer dieses Verhaltens auf neue Lernsituationen zu unterstützen. In erster Linie geht es hierbei um die Vermittlung der Fähigkeit, strategisches Verhalten in verschiedenen Lernsituationen und bei verschiedenen Materialarten einsetzen zu können. 17.4.1 Interventionen zur Optimierung von Wissenserwerb In der gedächtnispsychologischen Grundlagenforschung sind verschiedene Merkmale von Lernmaterial analysiert worden, die Einfluss auf den Lernprozess und das Lernergebnis haben. Weitgehend gesichert ist, dass Inhalte, die bedeutungshaltig, konkret und anschaulich sind, leichter gelernt werden können als bedeutungsarme, abstrakte und unanschauliche Inhalte. Schulische Inhalte weisen jedoch zum Teil die lernförderlichen Materialeigenschaften nicht oder nur unzureichend auf, weil sie zu unanschaulich oder für die Schülerinnen und Schüler zu wenig bedeutungshaltig sind. Das Lernen solcher Inhalte kann gefördert werden, indem sie elaboriert werden. Unter Elaborationen werden verbale oder bildhafte Anreicherungen des Lernmaterials verstanden, die geeignet sind, in irgendeiner Weise eine Verbindung zwischen dem neuen Lernstoff und dem bereits vorhandenen Vorwissen herzustellen. Elaborationen lassen sich differenzieren in transformative und nichttransformative Varianten (Pressley, Johnson & Symons, 1987). Zu den transformativen Varianten zählen die Mnemotechniken, zu den nichttransformativen Varianten gehören die verstehensorientierten elaborativen Fragen.
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Mnemotechniken. Transformative Elaborationen verändern den Lernstoff. Sie sind insbesondere dann erforderlich, wenn bedeutungsarme Fakten (z. B. Vokabeln, Bezeichnungen, Jahreszahlen) zu lernen sind. Bei transformativen Elaborationen werden die Lerninhalte in neue Zusammenhänge eingebettet, die eine größere Bedeutungshaltigkeit aufweisen und deshalb leichter zu behalten sind. Die Abfolge der Planeten unseres Sonnensystems nach ihrer Entfernung zur Sonne z. B. ist eine Information mit geringem Bedeutungsgehalt, deren Verankerung im Langzeitgedächtnis schwer fällt. Sie kann jedoch als transformierte Information vergleichsweise leicht rekonstruiert werden, wenn sie in den bedeutungshaltigen und daher leicht zu lernenden Satz „Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel“ eingebettet wird, da die Abfolge der Wortanfänge die Abfolge der Planeten repräsentiert (Mond, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun). Zu den wirkungsvollsten Mnemotechniken zählen u. a. die Schlüsselwortmethode (keyword method), die Methode der Orte (loci method) und die Aufhängermethode (pegword method). Die Schlüsselwortmethode ist hilfreich, wenn wenig geläufige Begriffe (z. B. Bankrott) gelernt werden sollen, während die Methode der Orte und die Aufhängermethode geeignet sind, die Abfolge von Ereignissen (z. B. geschichtliche Abläufe) leichter zu lernen. Ein umfassender Ansatz zur Vermittlung von biologischem, historischem und sozialwissenschaftlichem Faktenwissen, in den verschiedene Mnemotechniken integriert worden sind und der sowohl in Labor- als auch in Schulversuchen evaluiert worden ist, wurde von Scruggs und Mastropieri (1989; Mastropieri & Scruggs, 1991, 2004) entwickelt. Kernelemente dieses Ansatzes sind sogenannte rekonstruierende Elaborationen (reconstructive elaborations), die darauf ausgerichtet sind, neu zu lernende Wissensinhalte durch bildhafte, symbolische oder akustische Repräsentationen bedeutungshaltiger zu machen. Mnemotechniken haben sich in zahlreichen Studien, in denen verschiedene Maßnahmen zur Optimierung von Wissenserwerb vergleichend untersucht wurden, bewährt. In einer Metaanalyse, in der 24 Einzelergebnisse zusammen gefasst wurden, die bei Personen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gewonnen worden waren (bereichsspezifische Lernschwierigkeiten, leichte mentale Retardierung, Verhaltensauffälligkeiten), fanden Mastropieri und Scruggs (1989) eine mittlere Effektstärke von 1.62. Dieser Wert bringt zum Ausdruck, dass die Vermittlung von Wissen mit Hilfe von mnemotechnischen Verfahren zu einem Leistungsgewinn führte, der durchschnittlich mehr als eineinhalb Standardabweichungen über dem Leistungsgewinn bei alternativen Instruktionsmethoden lag. Exakt den gleichen Wert fanden die Autoren ein Jahrzehnt später bei einer Metaanalyse über 34 Einzelergebnisse (Scruggs & Mastropieri, 2000). Im Vergleich zu sonstigen kognitiven Interventionen im sonderpädagogischen Feld weisen Mnemotechniken mit deutlichem Abstand die höchsten Effektstärken auf (Walter, 2002). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Unterschiede in der Lernfähigkeit zwischen mental Retardierten und unauffälligen Peers auch durch Mnemotechniken nicht kompensiert werden können. Der Leistungsvorsprung der unauffälligen Peers bleibt erhalten, wenn beide Gruppen darin instruiert werden, mnemotechnische Strategien anzuwenden. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass Mnemotechniken in der Gruppe der Lernbehinderten je nach intellektuellem Leistungsvermögen differenziell wirksam sind. Lernbehinderte, die der Borderline-Gruppe zuzuordnen sind (IQ über 70) profitieren von mnemotechnischen Verfahren stärker als Lernbehinderte aus der Kategorie mild mental retardation (IQ zwischen
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| Teil V: Interventionen 50 und 69). Den geringsten Effekt zeigen Mnemotechniken bei Geistig Behinderten mit einem IQ unter 50 (Forness & Kavale, 1993). Elaborative Fragen. Nichttransformative Elaborationen wie z. B. veranschaulichende Abbildungen in einem Text verändern den Lernstoff nicht substanziell. Eine bedeutsame Variante dieser Vorgehensweise sind elaborative Fragen (elaborative interrogations), die bei bedeutungshaltigem Lernmaterial (z. B. wenn Zusammenhänge zwischen spezifischen Merkmalen des Körperbaus von Tieren und deren Lebensumständen zu lernen sind) zu einem tieferen Verständnis der Lerninhalte führen können. Elaborative Fragen (Warum macht es Sinn, dass pflanzenfressende Tiere breite Backenzähne haben?) sollen dazu anregen, durch schlussfolgerndes Denken nach Erklärungen für den zu erwerbenden Wissensinhalt zu suchen und dadurch die Zusammenhänge besser zu verstehen. Elaborative Fragen sind bisher als Verfahren zur Wissensvermittlung bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen weniger intensiv validiert worden als Mnemotechniken. Die vorhandenen Befunde beziehen sich zudem in erster Linie auf Studien, in denen sich die Experimentalgruppen nur zu einem geringen Anteil aus Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten zusammen setzten und hauptsächlich Kinder mit umgrenzten Lernstörungen umfassten (z. B. Scruggs, Mastropieri & Sullivan, 1994). Einige Studien deuten darauf hin, dass die Wirksamkeit elaborativer Fragen durch geringes Vorwissen beeinträchtigt wird (z. B. Wood, Willoughby, Bolger, Younger & Kaspar, 1993). Da bei generalisierten Lernschwierigkeiten davon auszugehen ist, dass die Wissensbasis vergleichsweise eingeschränkt ist, muss vorläufig offen bleiben, ob die verstehensorientierte Methode bei Kindern mit Lernbehinderung eine geeignete Methode zur Vermittlung schulischer Wissensinhalte darstellt, auch wenn sie bisher bei Kindern mit umgrenzten Lernstörungen mit Gewinn eingesetzt werden konnte. Eine Studie von Kendall, Borkowski und Cavanaugh (1980) mit mental retardierten Kindern gibt allerdings Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Beim Lernen von willkürlich kombinierten Bildpaaren (z. B. nurse – toaster) führten elaborative Fragen, mit denen eine bedeutungshaltige Beziehung zwischen den Bildern hergestellt wurde, zu besseren Gedächtnisleistungen als das reine Auswendiglernen der Paarassoziationen. Diese Studie zeigt zumindest, dass die Fragetechnik von mental Retardierten mit Gewinn angewandt werden kann, auch wenn die Fragen nicht darauf ausgerichtet waren, vorhandene Verstehenszusammenhänge zu rekonstruieren, sondern neue bedeutungshaltige Zusammenhänge zu generieren. Eine weitere Einschränkung ergibt sich bei den elaborativen Fragen daraus, dass sich die bisherigen Evaluationsversuche auf Laborsituationen mit Zweierinteraktionen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind beschränkten, so dass der empirische Nachweis noch aussteht, dass das Verfahren auch in kleinen Gruppen oder in der Schulklasse effizient eingesetzt werden kann. 17.4.2 Interventionen zur Förderung selbstregulierten Lern- und Gedächtnisverhaltens Selbstreguliertes Lern- und Gedächtnisverhalten setzt sich aus verschiedenen Einzelverhaltensweisen zusammen, die dynamisch aufeinander bezogen sind. Selbstregulation erfordert beim Lernen generell eine Entscheidung darüber, welche strategische Ver-
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haltensweise bei welcher Art von Aufgabe anzuwenden ist. Eine solche Entscheidung setzt voraus, dass die Aufgabenstellung und das vorhandene Strategierepertoire geprüft werden. Darauf aufbauend ist das strategische Vorgehen zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. In Abhängigkeit von dem Lernprozess und dem Lernergebnis ist das Verhalten gegebenenfalls zu revidieren. Die experimentelle Trainingsforschung der letzten drei bis vier Jahrzehnte hat deutlich werden lassen, dass Interventionen zur Vermittlung eines solch komplexen und dynamischen Systems von Einzelverhaltensweisen an mehreren Ebenen (kognitiv, metakognitiv, motivational) ansetzen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sich die Interventionen auf Kinder und Jugendliche mit generalisierten Lernschwierigkeiten richten (Whitman, 1990). In einer beträchtlichen Anzahl von Studien konnte nachgewiesen werden, dass mental retardierte Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage sind, strategische Verhaltensweisen zu erwerben und damit zusammenhängend ihre Gedächtnisleistungen zu verbessern (z. B. Gonser, Stemmler & Masendorf, 1999; Hasselhorn & Mähler, 1992; Perleth, Schuker & Hubel, 1992). Die Trainingserfolge konnten teilweise bis zu einen Zeitraum von einem halben bzw. einem ganzen Jahr aufrechterhalten werden und erfüllten damit das Kriterium der Nachhaltigkeit (z. B. Brown, Campione & Barclay, 1979; Engle & Nagle, 1979). Trainingserfolge nach dem aus der Perspektive selbstregulatorischen Verhaltens besonders bedeutsamen Kriterium der Generalisierung blieben jedoch weitgehend aus. Ein Transfer der eingeübten strategischen Verhaltensweisen auf nicht trainierte Aufgabenstellungen gelang kaum (Blackman & Lin, 1984; Borkowski & Cavanaugh, 1979; Brown, Campione & Murphy, 1974). Der geringe Generalisierungsgrad der Trainingserfolge mag teilweise darauf zurückgeführt werden, dass der Strategiegebrauch meist isoliert eingeübt wurde. Belmont, Butterfield und Ferretti (1982) kommen nach Sichtung einer größeren Anzahl von Trainingsstudien zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit zum Transfer von trainiertem strategischen Verhalten davon abhängig ist, ob neben dem aufgabenspezifischen Strategiegebrauch auch allgemeine selbstregulatorische Verhaltens aspekte eingeübt werden. Nur die kombinierte Vermittlung strategiespezifischer und metamemorialer Wissens- und Verhaltensaspekte erwies sich als eine erfolgversprechende Vorgehensweise. Vor dem Hintergrund solcher Befunde nimmt bei Maßnahmen zur Förderung von Lernverhalten neben der Einübung von strategischem Verhalten das systematische Informieren über den Nutzen und die Anwendungsmöglichkeiten von Gedächtnisstrategien einen besonderen Stellenwert ein (Campione, Brown & Ferrara, 1982). Vermittelt werden sollte also nicht nur der Strategiegebrauch an sich, sondern auch das Wissen, dass die Strategie funktioniert und dass der Strategiegebrauch sich lohnt. Ein wesentliches Element erfolgreichen Trainings besteht dementsprechend darin, die Probanden anhand von konkreten Lernergebnissen erfahren zu lassen, dass strategisches Verhalten zu einer Verbesserung von Gedächtnisleistungen führt und sie explizit darauf hinzuweisen, dass der verbesserte Lernerfolg mit der Anwendung der Strategie zusammen hängt. Von Vorteil ist darüber hinaus, den Strategiegebrauch in verschiedenen Aufgabenkontexten und mit unterschiedlichem Übungsmaterial einzuüben, da sich dadurch ebenfalls die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Transfer auf neue Aufgabenbereiche stattfindet (Belmont, Butterfield & Borkowski, 1978). Für eine erfolgreiche Intervention bei lernbeeinträch-
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| Teil V: Interventionen tigten Kindern ist letztlich von entscheidender Bedeutung, dass die Instruktionselemente an deren Bedürfnisse angepasst werden und umso mehr Hilfestellungen enthalten (z. B. Vereinfachung und Konkretisierung, strukturiertes Vorgehen, ausführliche Übung), je geringer die Lernvoraussetzungen der Kinder sind.
17.5 Resümee Wir haben zwei bedeutsame Bereiche angesprochen, in denen wissenschaftlich evaluierte Maßnahmen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen bei stark lernbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entwickelt worden sind: Vermittlung von spezifischen deklarativen Wissensinhalten und Förderung selbstregulatorischer Lernkompetenzen. Die bisherigen Erfolge zur Vermittlung von schulrelevantem Faktenwissen sind sehr überzeugend. Es gibt zahlreiche internationale Laborstudien zur Wirksamkeit von Mnemotechniken bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten, die durch Evaluationsstudien in der Schule ergänzt worden sind. Im deutschen Sprachraum fehlen bislang solch schulnahe Interventionsstudien bei Lernbehinderten. Dies ist bedauerlich, zumal unklar ist, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen Maßnahmen dieser Art unter den Alltagsbedingungen im Klassenzimmer und im regulären Unterricht erfolgreich umgesetzt werden können. Der Forderung nach schulnahen Förderansätzen selbstregulatorischer Lernkompetenzen steht in der einschlägigen Literatur ein eher uneinheitliches Bild der kognitiven Kompetenzen lernbehinderter Kinder gegenüber. Auf der einen Seite werden die beeinträchtigten Kinder und Jugendlichen häufig als passive Lernende bezeichnet, mit ausgeprägten Defiziten im Strategiegebrauch und dessen metakognitiver Regulation (Bray & Turner, 1986; Justice, 1985). Eine Interventionsforschung, die sich an dieser Charakterisierung orientiert, versucht in erster Linie Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Strategiedefizite durch direktes Training ausgeglichen werden können. Auf der anderen Seite wurde in jüngerer Zeit deutlich, dass die hier betrachtete Gruppe von Kindern unter günstigen Aufgabenbedingungen über weit mehr strategische Kompetenzen verfügen als ursprünglich vermutet. So zeigte sich, dass Strategien, die wenig sprachgebunden sind (z. B. auf einen Gegenstand deuten, Objekte als Erinnerungshilfe anordnen), von Lernbeeinträchtigten im höheren Jugendalter auch ohne Training ähnlich effizient angewandt werden wie von unauffälligen chronologisch gleichaltrigen Peers, wenn situationsadäquate Hinweisreize zum Strategiegebrauch gegeben werden (Bray et al., 1999; Bray, Fletcher & Turner, 1997; Fletcher, Huffman & Bray, 2003). Derartige Befunde eröffnen auch für die Interventionsforschung eine neue Perspektive. Ergänzend zu den skizzierten Trainingsbemühungen werfen sie die Frage auf, ob sich spezifische Situationen finden lassen, unter denen lernbehinderte Kinder ohne explizites Training Strategien entdecken und erfolgreich anwenden können. Beim derzeitigen Stand der Forschung scheint uns eine besonders erfolgreiche Förderung der Lern- und Gedächtnisleistungen Lernbehinderter dann möglich zu sein, wenn Interventionen gewählt werden, in denen ein gezieltes und informiertes Einüben bereichsspezifischer Strategien und deren metakognitiven Regulation erfolgt (vgl. Hasselhorn & Mähler, 1990), in denen subjektive Erfolgserlebnisse beim Lernen statt-
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finden, um die Anstrengungsbereitschaft für weitere Lernbemühungen zu erhöhen und in denen eventuell Übungen zum Automatisieren der Verarbeitungsprozesse sprachlicher Informationen im Arbeitsgedächtnis realisiert werden, weil diese Funktion sich als Ursachenfaktor der Lernbehinderung erwiesen hat (s.o.). Ob solche Übungen allerdings erfolgreich gestaltet werden können und wie diese im Einzelnen aussehen könnten, ist derzeit nicht bekannt.
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| Teil V: Interventionen Schneider, W. & Büttner, G. (2002). Entwicklung des Gedächtnisses bei Kindern und Jugendlichen. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5. Aufl., S. 495-516). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Scott, M. S. & Greenfield, D. B. (1992). A comparison of normally achieving, learning disabled and mildly retarded students on a taxonomic information task. Learning Disabilities Research & Practice, 7, 59-67. Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (1989). Reconstructive elaborations: A model for content area learning. American Educational Research Journal, 26, 311-327. Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (2000). The effectiveness of mnemonic instruction for students with learning and behavior problems: An update and research synthesis. Journal of Behavioral Education, 10, 163-173. Scruggs, T. E., Mastropieri, M. A. & Sullivan, G. S. (1994). Promoting relational thinking: Elaborative interrogation for students with mild disabilities. Exceptional Children, 60, 450-457. Turner, L. A. & Bray, N. W. (1985). Spontaneous rehearsal by mildly retarded children and adolescents. American Journal of Mental Deficiency, 90, 57-63. Turner, L. A., Hale, C. & Borkowski, J. G. (1996). Influence of intelligence on memory development. American Journal on Mental Retardation, 100, 468-480. Walter, J. (2002). „Einer flog übers Kuckucksnest“ oder welche Interventionsformen erbringen im sonderpädagogischen Feld welche Effekte? Ergebnisse ausgewählter us-amerikanischer Meta- und Mega-Analysen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 53, 442-450. Whitman, T. L. (1990). Self-regulation and mental retardation. American Journal on Mental Retardation, 94, 347-362. Winters, J. J. & Brzoska, M. A. (1975). Development of lexicon in normal and retarded persons. Psychological Reports, 37, 391‑402. Wood, E., Willoughby, T., Bolger, A., Younger, J. & Kaspar, V. (1993). Effectiveness of Elaboration strategies for grade school children as a function of academic achievement. Journal of Experimental Child Psychology, 56, 240-253. Woodley-Zanthos, P. (1993). The effects of level of processing on long-term recognition memory in retarded and nonretarded persons. Intelligence, 17, 205-221.
18 Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens Karl Josef Klauer Im Jahre 1806 veröffentlichte K. A. Schaller, Feldprediger zu Halle, ein Buch mit dem etwas länglichen Titel „Magazin der Verstandesübungen als Vorbereitung zu eigentlich wissenschaftlichen Studien zum Gebrauch öffentlicher Lehranstalten und beim Privatunterricht“. Der Text enthält eine Fülle von Übungen zur Denkerziehung, wie man sie auch anderen Veröffentlichungen aus älterer und jüngerer Zeit entnehmen kann. Früher gab es auch eine Menge Lehrmaterial zum systematischen Gedächtnistraining (z. B. Kallas, 1897; Engelen, 1927) – alles Materialien, die auf eine formale Bildung hoffen ließen und heute eher skeptisch betrachtet werden. Heutzutage findet in Schulen keinerlei systematische Denkerziehung mehr statt, und man schüttet damit das Kind vielleicht doch mit dem Bade aus. Heute verlässt man sich darauf, dass die geistigen Fähigkeiten hinreichend in der Auseinandersetzung mit dem regulären Unterrichtsstoff entwickelt werden. Zentrale These dieses Beitrags ist aber, dass damit vielen Kindern ein Schaden zugefügt wird, denn man enthält ihnen so die Möglichkeit vor, ihre Kompetenzen besser zu entwickeln, um dadurch mehr und effektiver zu lernen. Das soll im Folgenden dargelegt werden. Konkret geht es um die kognitive Strategie des induktiven Denkens und ihre metakognitive Steuerung. Es wird gezeigt werden, dass es sich um eine relativ einfache Strategie handelt, die in Wissenschaft und Alltag häufig gefordert ist, die lehr- und lernbar ist und nachweislich nicht nur die intellektuelle Kapazität fördert, sondern in noch stärkerem Maße das Lernen in der Schule. Von daher bietet es sich an zu prüfen, ob die Strategie nicht systematisch in Schulen gelehrt werden sollte, zumal entsprechendes Material zur Verfügung steht. Der Beitrag geht zunächst kurz auf die Theorie des induktiven Denkens ein, stellt dann das Trainingskonzept dar, um anschließend einen Überblick über die empirische Erprobung des Trainings zu geben. Im Diskussionsteil werden Konsequenzen beleuchtet und verschiedene Einwände diskutiert, so dass man sich auf Grund der Datenlage selbst ein Urteil bilden kann.
18.1 Theoretischer Hintergrund 18.1.1 Zur Theorie des induktiven Denkens Induktiv nennt man das Denken, bei dem Regelhaftigkeiten induziert, das heißt entdeckt oder herausgefunden werden. Dies geschieht durch die Entdeckung von Gemeinsamkeiten. Das soll an zwei Beispielen erläutert werden. Beispiel 1: Sturm, Regen, Nebel, Hagel, Schnee, Dampf. Diese Phänomene sind alle ……………..…?
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| Teil V: Interventionen Hier geht es um eine gemeinsame Eigenschaft oder um ein gemeinsames Merkmal. Alle genannten Phänomene haben etwas mit dem Wetter zu tun, aber auch mit Wasser. Man könnte also von Wetterphänomenen oder von Erscheinungsformen des Wassers sprechen. Immer dann, wenn gemeinsame Merkmale von Objekten festgestellt werden, handelt es sich um die Bildung von Allgemeinbegriffen oder um Oberbegriffe. Und immer dann, wenn gemeinsame Beziehungen vorliegen, handelt es sich wie in Beispiel 2 um Regelhaftigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten. Beispiel 2: 3 5 7 9
– – – –
6 10 14 ?
Das Fragezeichen ist hier zu ersetzen, offensichtlich durch die Zahl 18. Wie kann man dessen sicher sein? Man erkennt zunächst, dass die zweite Zahl einer Zeile durch Verdoppelung der ersten entsteht. Man erkennt darüber hinaus, dass die Zahlen der linken Reihe (3, 5, 7, 9) ungerade sind und immer um 2 zunehmen. Analog wachsen die geraden Zahlen 6, 10, 14, 18 der rechten Reihe um 4, also um doppelt so viele. Die Zahlenpaare haben einiges gemeinsam, die Zahlenpaare von links nach rechts die Verdoppelung, die Paare in den Reihen das Anwachsen um 2, beziehungsweise um das Doppelte von 2. Hier sind also gleichzeitig mehrere Regelhaftigkeiten zu erkennen, von denen eine schon genügte, um die Aufgabe zu lösen. In allen diesen Fällen handelt es sich um gemeinsame Beziehungen. Regelhaftigkeiten entdecken schon Kleinkinder, und sie bilden auch Allgemeinbegriffe. Dabei unterlaufen ihnen aus Erwachsenensicht mitunter Fehler. Spontan neigen noch ältere Kinder dazu, den Wal als Fisch einzuordnen und den Strauß nicht als Vogel zu identifizieren. Übergeneralisierung nennt man den ersten Fehler, Untergeneralisierung den zweiten. Wir werden sehen, dass diese beiden Fehler bei allen induktiven Leistungen möglich sind. Wissenschaftler bilden ebenfalls neue Allgemeinbegriffe und entdecken neue Gesetzmäßigkeiten. Deren Ergebnis bietet sich Schulkindern wie Studierenden als Lehrstoff dar. Von daher wundert es nicht, dass in allen schulischen Lehrstoffen und in allen Wissenschaften induktives Denken eine dominante Rolle spielt. Das konnte auch schon empirisch nachgewiesen werden. Csapó (1997) fand eine enge Korrelation zwischen Maßen des induktiven Denkens und dem Lernerfolg in der Schule. Darüber hinaus ist sehr gut belegt, dass induktives Denken eine zentrale Leistung der menschlichen Intelligenz darstellt (Snow, Kyllonen & Marshalek, 1984; van de Vijver, 1991). Eine Förderung des induktiven Denkens sollte sich daher sowohl im schulischen Lernen als auch allgemein in der Förderung der intellektuellen Kapazität auswirken. Um Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt sich, zwischen induktivem Denken und induktivem Schließen zu unterscheiden. Beim induktiven Denken werden Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten erkannt, während beim induktiven Schließen darüber hinaus angenommen wird, dass die Regelhaftigkeit für die ganze Grundgesamtheit (für „alle Schwäne“) gilt. Wie schon die beiden Beispiele oben zeigen, geht induktives Denken nie über die empirisch gegebene Datenbasis hinaus, was beim induktiven Schluss aber grundsätzlich der Fall ist. Induktive Schlüsse sind wie Generalisierungen auf eine
Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 295
Grundgesamtheit oft problematisch. Wir befassen uns im Folgenden nur mit dem induktiven Denken. 18.1.2 Die Strategie des induktiven Denkens Eingehende Analysen induktiver Aufgaben haben mich dazu geführt, eine Strategie zu entwickeln, mit deren Hilfe alle induktiven Aufgaben prinzipiell gelöst werden können. Wir haben gesehen: Regelhaftigkeiten entstehen dadurch, dass Gemeinsamkeiten vorliegen. Die moderne Logik zeigt, dass Gemeinsamkeiten entweder auf gemeinsamen Merkmalen oder auf gemeinsamen Beziehungen (Relationen) beruhen, weitere Möglichkeiten gibt es nicht. Will man also Regelhaftigkeiten entdecken, so muss man auf gemeinsame Merkmale von Objekten oder auf gemeinsame Beziehungen zwischen Objekten achten, wobei es allerdings entscheidend ist, relevante Unterschiede nicht zu übersehen. Zentral geht es also darum, gemeinsame Merkmale oder gemeinsame Beziehungen zu entdecken, aber Unterschiede zu beachten, um Übergeneralisierungen zu vermeiden. Dabei kommt Vergleichsprozessen entscheidende Bedeutung zu. Wir können daher definieren: Die Strategie des induktiven Denkens besteht in der Entdeckung von Regelhaftigkeiten durch Vergleichen, also durch Feststellung der Gleichheit, der Verschiedenheit oder der Gleichheit und Verschiedenheit entweder bei Merkmalen von Objekten oder bei Relationen zwischen Objekten. Vergleichen bedeutet nichts anderes als Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, Gleichheit und Verschiedenheit zu beachten. Die Strategie des Vergleichens ist demnach entscheidend beim induktiven Denken. Im Training wird eben diese Strategie vermittelt. Wie aus der Definition herzuleiten ist, gibt es genau sechs Klassen induktiver Aufgaben, nicht mehr und nicht weniger. In Tabelle 1 sind die sechs Klassen erläutert und mit solchen Beispielen versehen, wie man sie aus Intelligenztests kennt. Es wäre Tabelle 1: Die sechs Kernaufgaben des induktiven Denkens Name und Abkürzung
Festzustellen ist ...
Beispiele aus Intelligenztests
Generalisierung GE
Gleichheit von Merkmalen
Klassen bilden Klassen ergänzen Gemeinsamkeiten finden
Diskrimination DI
Verschiedenheit von Merkmalen
Unpassendes streichen
Kreuzklassifikation KK
Gleichheit und Verschiedenheit von Merkmalen
Vierfelderschema
Beziehungserfassung BE
Gleichheit von Beziehungen
Folgen ergänzen Folgen ordnen Analogien
Beziehungsunterscheidung BU
Verschiedenheit von Beziehungen
Gestörte Folgen
Systembildung SB
Gleichheit und Verschiedenheit von Beziehungen
Matrizenaufgaben
296
| Teil V: Interventionen ebenso gut möglich, die Beispiele aus einem Wissensgebiet zu entnehmen, etwa aus der Grammatik, der Erdkunde, der Mathematik, einer beliebigen Naturwissenschaft oder der Geschichte. Das macht deutlich, warum Transfer des Trainings auf schulisches Lernen zu erwarten ist. Die Lösung der sechs Kernaufgaben des induktiven Denkens mit Hilfe der Strategie des Vergleichens ist Gegenstand einer systematischen Denkerziehung. 18.1.3 Die Trainingsprogramme Für Kinder und Jugendliche stehen drei Programme zur Verfügung (Klauer, 1989, 1991, 1993): – „Denktraining für Kinder I“ für etwa 5- bis 8-jährige Kinder, – „Denktraining für Kinder II“ für etwa 10- bis 13-jährige Kinder, – „Denktraining für Jugendliche“ für junge Menschen etwa ab 15 Jahren. Tabelle 2: Trainingsziele der zehn Lektionen Lektion
Trainingsziel
Erläuterung
1
Naives Problemlösen.
Aufgaben lösen lassen, ohne auf die Art der Lösung oder der Aufgaben einzugehen. Vertrautwerden mit dem Material.
2
Unterscheiden von Merkmalen und Relationen.
Einführung der Begriffe »Eigenschaft« und »Beziehung«. Alle bisherigen Aufgaben entsprechend sortieren.
3
Die drei Merkmalsklassen kennen.
Die drei Klassen unterscheiden lernen. Alle bisherigen Merkmalsaufgaben entsprechend einordnen.
4
Die drei Relationsklassen kennen.
Die drei Klassen unterscheiden lernen. Alle bisherigen Relationsaufgaben einordnen.
5
Lösungs- und Kontrollprozess bei Gleichheit von Merkmalen bzw. Relationen kennen.
Herausarbeiten, wie GE- und BE-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung durch die Gegenoperation prüft.
6
Lösungs- und Kontrollprozess bei Verschiedenheit von Merkmalen bzw. Relationen kennen.
Herausarbeiten, wie DI- und BU-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung durch die Gegenoperation prüft. Wiederholung des Sortierens.
7
Lösungs- und Kontrollprozess bei Gleichheit und Verschiedenheit kennen.
Herausarbeiten, wie KK- und SB-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung überprüft. Wiederholung des Sortierens.
8
Merkmalsaufgaben wiederholen und Prozesse automatisieren.
Einübung und Festigung der Erkennens-, Lösungsund Kontrollprozesse bei Merkmalsaufgaben.
9
Relationsaufgaben wiederholen und Prozesse automatisieren.
Einübung und Festigung der Erkennens-, Lösungsund Kontrollprozesse bei Relationsaufgaben.
10
Gemischte Wiederholung zur Automatisierung der Prozesse.
Einübung und Festigung der Erkennens-, Lösungsund Kontrollprozesse bei allen Arten von Aufgaben.
Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 297
Das Denktraining für Jugendliche ist speziell für lernschwache junge Menschen gedacht, bei denen mit Problemen bei der beruflichen Eingliederung zu rechnen ist. Denktraining II ist relativ anspruchsvoll und kommt für Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten in Frage. Das Denktraining I kann gut begabten Kindern schon früher, lernschwachen Kindern jedoch auch deutlich später mit Erfolg gegeben werden. Die drei Programme sind völlig analog konstruiert. Sie bieten jeweils 20 Aufgaben für jede der sechs Aufgabenklassen, also insgesamt 120 Aufgaben. Dabei wird vorgeschlagen, die Programme in zehn Lektionen zu je zwölf Aufgaben durchzunehmen. Bewährt hat sich, pro Woche zwei Lektionen zu geben, so dass das Programm in fünf Wochen durchgeführt ist. Für jede Lektion besteht ein eigenes Lehrziel, das Tabelle 2 zu entnehmen ist. Wie man sieht, werden nicht nur kognitive Ziele vermittelt, sondern auch metakognitive: Die Probanden sollen die Aufgabenklassen mindestens so kennen lernen, dass sie die Anforderungen einer neuen Aufgabe identifizieren sowie ihr Vorgehen planen, steuern und überwachen können, und schließlich sollen sie in der Lage sein, ihre Lösungen selbst zu kontrollieren. Nach ähnlichen Prinzipien ist ein Trainingsprogramm aufgebaut, das für Senioren zum Selbsttraining geeignet ist und jene kritischen Funktionen trainiert, die im Alter vom Abbau bedroht sind (Klauer, 2002a).
18.2 Ergebnisse der empirischen Erprobungen Inzwischen – Stand Herbst 2003 – sind 74 experimentelle Erprobungen veröffentlicht worden, in denen eines der Programme durchgeführt und seine Effekte mit dem Effekt des regulären Schulunterrichts, zum Teil auch mit dem Effekt eines anderen Trainingsprogramms verglichen wurden. Davon stammen 33 aus dem eigenen Arbeitskreis, während 41 von anderen Autoren publiziert wurden. Über 3.200 Kinder waren in diese Untersuchungen einbezogen, eine Datenbasis, die kein anderes deutsches Trainingsprogramme bisher aufzuweisen hat. Die Ergebnisse sollen metaanalytisch zusammengefasst werden (zur Methodik dieser Metaanalysen vgl. Klauer, 2001, S. 180 ff.; Walter in diesem Band), wobei ich hier nur auf das Maß der Effektstärke d kurz eingehe. Das d-Maß ist definiert als standardisierte Differenz der Mittelwerte von Trainings- und Kontrollgruppe. Dabei wurden Leistungsunterschiede, die schon vorher zwischen den Gruppen bestanden, durch ein Korrekturverfahren dkorr ausgeglichen (dkorr = dpost – dprä). Eine Effektstärke von 1 bedeutet, dass ein trainiertes Kind ein nicht trainiertes um durchschnittlich eine Standardabweichung trainingsbedingt übertrifft. Das entspricht einer Verbesserung des Durchschnittskindes um 36 Rangplätze. Die Effektstärke von 0,5 entspricht einer Verbesserung des Durchschnittskindes um 19 Rangplätze. Abbildung 1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der Effektstärken, die in den Trainingsexperimenten auf Intelligenztests erzielt worden sind. Man entnimmt der Abbildung, dass es eine große Variabilität gibt: Wenige Experimente zeigten überhaupt keine Effekte, andere mäßige, während das Gros mittlere und viele sehr hohe Effektstärken brachten. Die nächstliegende Erklärung ist, dass es große Unterschiede im Hinblick darauf gibt, wie die einzelnen Trainerinnen und Trainer mit den Kindern und dem Programm zurechtkommen, was auch sonst für pädagogische Interventionen gilt.
| Teil V: Interventionen
16 14 Häufigkeiten
12 10 8 6 4 2 0 0
0,13 0,25 0,38
0,5
0,63 0,75 0,88
1
1,13 1,25
Effektstärke
Abbildung 1: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztestleistung (Gesamtgruppe)
Halten diese Effekte auch vor? In 25 Experimenten bestand die Möglichkeit, den Intelligenztest längere Zeit nach dem Training erneut zu geben. Dieser Retest fand zwischen 3 und 15 Monaten nach Abschluss des Trainings statt – im Mittel nach 7 Monaten. Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, kann von einem Abfall keine Rede sein. Tatsächlich wächst der Trainingseffekt sogar mit der Zeit. Die Partialkorrelation zwischen der Anzahl der Monate und der Effektstärke beim späteren Test unter Auspartialisierung der Effektstärke unmittelbar nach dem Training ist signifikant positiv (rp = 0,42, p < 0,05, FG = 22). Die trainierten Kinder wenden die Strategie des induktiven Denkens nicht nur auch später noch an, sondern offenbar später sogar noch etwas besser.
1
Effektstärke
298
0,8 0,6 0,4 0,2 0 Unmittelbar nach dem Training
Ca. 7 Monate später
Abbildung 2: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztests unmittelbar nach dem Training und 7 Monate später (Gesamtgruppe)
Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 299
1
Effektstärke
0,8 0,6 0,4 0,2 0 Intelligenz
Lernen
Abbildung 3: Effekt des Denktrainings auf Intelligenz und schulisches Lernen (Gesamtgruppe)
In 46 Experimenten wurde der Trainings- und der Kontrollgruppe gemeinsam nach Abschluss der Trainingsphase eine Unterrichtsstunde gegeben, z. B. in Erdkunde, Biologie, Gemeinschaftskunde, Mathematik usw. Danach wurden die Ergebnisse des Lernens durch einen entsprechenden lehrzielorientierten Test am Ende der Unterrichtsstunde festgestellt. Abbildung 3 zeigt die im Mittel erzielten Ergebnisse. Das Training wirkte sich offensichtlich auf schulisches Lernen noch besser aus als auf die Intelligenz. Die genauen Mittelwerte der Effektstärken in den Abbildung 1, 2 und 3 lauten so: Md = 0,60 auf Maße der Intelligenz unmittelbar nach dem Training, Md = 0,77 auf Maße der Intelligenz zwischen 3 und 15 Monaten später und Md = 0,70 auf Maße des schulischen Lernens. Diese Werte beziehen sich auf die Gesamtgruppe. Von besonderem Interesse dürften aber auch die Werte sein, die in der Teilgruppe von behinderten und benachteiligten Kindern erzielt worden sind. Zu der Teilgruppe der Lernschwachen wurden alle Kinder aus Sonderschulen zusammengefasst, aber auch ältere Behinderte aus einer Behindertenwerkstatt sowie (gemäß einer großen niederländischen Trainingsstudie) Immigrantenkinder aus niedrigem sozioökonomischen Status. Insgesamt besteht die Teilgruppe der Lernschwachen aus 1.231 Probanden. Abbildung 4 zeigt die Verteilung der 24 Effektstärken, die bei Trainingsexperimenten in der Gruppe der Lernschwachen auf Intelligenztests erzielt worden sind. Wie in Abbildung 1 findet man auch hier eine beachtliche Variabilität, wobei in der Mehrzahl der Fälle jedoch bemerkenswerte Effekte resultierten. Leider war es nur in 6 Experimenten möglich, den Intelligenztest in der Gruppe der Lernschwachen Monate später erneut zu geben. Das geschah zwischen 3 und 10 Monaten später, im Mittel rund 6 Monate später. Abbildung 5 macht deutlich, dass auch in dieser Gruppe von einem Abfall des Effekts keine Rede sein kann. In der Gruppe der Lernschwachen waren 15 Experimente so angelegt, dass der Transfer des Trainings auf das Lernen in einer gemeinsamen Unterrichtsstunde ermittelt werden konnte. Wie aus Abbildung 6 hervorgeht, wirkte sich das Training hier noch stärker
| Teil V: Interventionen 8
Häufigkeiten
6 4 2 0 bis 0,1
0,3
0,5
0,7
0,9
1,1
1,3
Effektstärken Abbildung 4: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztestleistung (Lernschwache Probanden)
1
Effektstärke
300
0,8 0,6 0,4 0,2 0 Unmittelbar nach dem Training
Ca. 7 Monate später
Abbildung 5: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztests unmittelbar nach dem Training und 7 Monate später (Lernschwache Probanden)
auf das Lernen als auf die Intelligenz aus, ein Ergebnis, das sich in der Gesamtgruppe schon so dargestellt hatte. Die entsprechenden Mittelwerte zu den Abbildungen 4, 5 und 6 lauten: Md = 0,60 auf Maße der Intelligenz unmittelbar nach dem Training, Md = 0,63 auf Maße der Intelligenz zwischen 3 und 10 Monaten später und Md = 0,95 auf Maße des schulischen Lernens.
Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 301
1
Effektstärke
0,8 0,6 0,4 0,2 0 Intelligenz
Lernen
Abbildung 6: Effekt des Denktrainings auf Intelligenz und schulisches Lernen (Lernschwache Probanden)
18.3 Diskussion und Schlussfolgerungen Zunächst ist festzuhalten, dass das Denktraining bei normal begabten, bei hochbegabten, aber auch bei lernschwachen Kindern zu einer deutlichen Steigerung intellektueller Leistungen führt. Diese Leistungssteigerung ist nicht vorübergehender Natur. Sie überdauert den bisherigen Beobachtungszeitraum deutlich, ja sie nimmt sogar im Laufe der Zeit nachweislich noch zu. Die Schere zwischen Kindern, die das Training erhalten haben, und Kindern, die es nicht erhalten haben, öffnet sich im Laufe der Zeit weiter. Solche Schereneffekte sind in der Literatur gelegentlich schon nachgewiesen worden (Cook, Appleton, Connor & Schaffer, 1975; Walberg & Tsai, 1983). Allerdings stellten sie sich nur relativ selten ein. In aller Regel wird Gelerntes, wenn es nicht dauernd gebraucht wird, früher oder später vergessen. Insofern sind Schereneffekte, wenn sie denn nachzuweisen sind, besonderer Erklärung bedürftig. Zur Erklärung lassen sich zwei Überlegungen heranziehen. Die eine nimmt an, dass das im Training Gelernte auch weiterhin spontan und außerhalb des Trainings genutzt wird. Da im vorliegenden Fall das Training auch auf reguläres Lernen im Unterricht nachweislich transferiert, spricht Vieles dafür, dass die Strategie des induktiven Denkens in der Tat auch außerhalb des Trainings eingesetzt und somit durch weitere Übung verbessert wird. Die zweite Überlegung nimmt an, dass die erzielten Effekte ihrerseits Ursache werden für neue Effekte. Das kann man sich so vorstellen: Angenommen, ein Kind lernt früh lesen und gewinnt Spaß am Lesen und erwirbt auf diese Weise viel neues Wissen, mehr als andere weniger motivierte Kinder. Nun ist bekannt, dass spezifisches Vorwissen einerseits und Motivation andererseits neues Lernen stark begünstigen. Insofern ist verständlich, dass ein solches Kind auch zukünftig mehr Wissen erwirbt, dass sich also die Schere weiter öffnet. Ähnlich kann man sich vorstellen, mit Hilfe der gelernten Strategie des induktiven Denkens würde weiteres Wissen erworben, das sich auf den späteren Wissenserwerb
302
| Teil V: Interventionen förderlich auswirkt. So können langfristige Wirkungen eines relativ kurzen Trainings erklärbar werden. Weiterhin ist von besonderem Interesse, dass der Effekt des Trainings auf das Lernen deutlich größer ist als auf die Intelligenz. Es gibt einige mögliche Erklärungen für diesen Befund. Die einfachste wäre wohl, den unterschiedlichen Effekt in den unterschiedlichen Materialarten von Training, Intelligenztests und Unterricht zu suchen. Das Training bietet weit überwiegend sinnvolles Material, wie es Kindern auch im Unterricht begegnet, wohingegen die meisten der eingesetzten Intelligenztests sinnfrei-abstraktes Material enthalten. So könnte der Transfer auf anderes sinnvolles Material leichter sein als auf das abstrakte sinnarme Material der Intelligenztests. Ob diese Erklärung ausreicht, wäre noch näher zu untersuchen. In jedem Fall dürften Eltern wie Lehrkräfte den starken Effekt auf das Lernen begrüßen. Sieht man von den Mittelwerten einmal ab, so interessiert die Frage, wie sich die Effekte auf Einzelfallebene darstellen, also bei einzelnen Kindern. In einem größeren Trainingsprojekt mit 279 Erstklässlern konnte dieser Frage nachgegangen werden (Klauer, 2002b). Dabei ergab sich Folgendes: 68 % der trainierten Kinder profitierten im Laufe der Zeit überdurchschnittlich, was nur 10 % der nicht trainierten Kinder gelang. Wurden zwei Tests herangezogen, so erhöhte das Training die Wahrscheinlichkeit, in beiden überdurchschnittlich zuzulegen, sogar um das Siebenfache. Bei rund einem Drittel der Kinder hat das Training nichts gebracht, geschadet hat es dagegen praktisch nie. Allerdings entwickelte sich über die Hälfte der Kinder, die kein Training erhalten hatten, in der Folge unterdurchschnittlich. Man wird also zusammenfassend feststellen können, dass es ein entschiedener Vorteil für ein Kind ist, wenn es am Training teilnehmen kann, und ein entschiedener Nachteil, wenn ihm das Training vorenthalten wird. Da das Training aber nur auf 10 Lektionen konzipiert ist, lässt sich schwer vertreten, es nicht durchzuführen. Bei Effektstärken wie den vorliegenden würde man in der Medizin von einem unverzeihlichen Kunstfehler sprechen, wenn eine solche Behandlung unterlassen würde. Hager und Hasselhorn (1993, 1995) haben insgesamt drei verschiedene Hypothesen vorgetragen, um die Effekte anders zu erklären. Diese Bedenken haben viel Aufmerksamkeit gefunden und veranlassten die unterschiedlichsten Autoren zu eigenen gezielten Untersuchungen. Eine der Alternativhypothesen war, das Denktraining fördere nur Wahrnehmungsleistungen, eine Hypothese, die heute schon deshalb widerlegt ist, weil die vielfältigen Effekte auf schulisches Lernen nicht durch bloße Wahrnehmungsförderung erklärbar sind. Des Weiteren haben sie die Effekte für solche gehalten, die auf die bloße Zuwendung zurückzuführen sind. Mehrfach wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dass sich die Effekte von denen einer Zuwendungs- oder einer andersartig trainierten Gruppe signifikant unterscheiden (z. B. Langfeldt & Schlieper, 1999; Souvignier, 1998). Schließlich hielten sie für möglich, die Effekte könnten als Effekte von Testcoaching verstanden werden, die rasch verschwinden (Hager, Hübner & Hasselhorn, 2000). Die langfristig überdauernden Effekte widerlegen jedoch auch diese Annahme. Nimmt man alles in allem, so trugen die Einwände jedoch dazu bei, das Denktraining zu dem mit Abstand am besten evaluierten deutschsprachigen Training zu machen.
Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 303
Literatur Cook, T. D., Appleton, H., Connor, R. & Schaffer, A. (1975). Sesame street revisited: A case study in evaluation research. New York: Russel Sage. Csapó, B. (1997). The development of inductive reasoning: Cross-sectional assessments in an educational context. International Journal of Behavioral Development, 20, 609-626. Engelen, P. (1927). Gedächtniswissenschaft und die Steigerung der Gedächtniskraft (9. Auflage). München: Verlag der Ärztlichen Rundschau. Hager W. & Hasselhorn, M. (1993). Induktives Denken oder elementares Wahrnehmen? Prüfung von Hypothesen über die Art der Wirkung eines Denktrainings für Kinder. Empirische Pädagogik, 7, 421-458. Hager, W. & Hasselhorn, M. (1995). Zuwendung als Faktor der Wirksamkeit kognitiver Trainings für Kinder. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 9, 163-179. Hager, K., Hübner, S. & Hasselhorn, M. (2000). Zur Bedeutung der sozialen Interaktion bei der Evaluation kognitiver Trainingsprogramme. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 14, 106-115. Kallas, R. G. (1897). Gedächtnislehre. Dorpal: Laakmann. Klauer, K. J. (1989). Denktraining für Kinder I. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (1991). Denktraining für Kinder II. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (1993). Denktraining für Jugendliche. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (2001). Training des induktiven Denkens. In K. J. Klauer (Hrsg.), Handbuch Kognitives Training (S. 165-209). Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (2002a). Denksport für Ältere. Geistig fit bleiben. Bern: Huber. Klauer, K. J. (2002b). Wie viele haben denn nun wirklich von dem Training profitiert? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 210-218. Langfeldt, H.-P. & Schlieper, J. (1999). Aspekte der konvergenten und diskriminanten Validität des „Denktrainings für Kinder I“ von K. J. Klauer. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 46, 1-6. Schaller, K. A. (1806). Magazin der Verstandesübungen als Vorbereitung zu eigentlich wissenschaftlichen Studien zum Gebrauch öffentlicher Lehranstalten und beim Privatunterricht. Halle: Hemmerde & Schwetschke. Snow, R. E., Kyllonen, P. C. & Marshalek, B. (1984). The topography of ability and learning correlations. In R. J. Sternberg (Hrsg.), Advances in the psychology of human intellgence, (Vol. 2, S. 47-103). Hillsdale, N. J.: Erlbaum. Souvignier, E. (1998). Effekte kognitiver Trainingsprogramme der Vorstellungsfähigkeit und des induktiven Denkens auf die Problemlösefähigkeit. Zeitschrift für Experimentelle Psychologie, 45, 20-28. Van de Vijver, F. (1991). Inductive thinking across cultures: An empirical investigation. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Tilburg. Walberg, H. J. & Tsai, S.-L. (1983). Matthew effects in education. American Educational Research Journal, 20, 259-373.
19 Förderung der Wahrnehmung Michaela Greisbach Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, bei dem sich der Mensch mit allen Sinnen die Umwelt aneignet und sich mit ihr auseinandersetzt. Unter Wahrnehmung versteht man nicht nur die Aufnahme, Weiterleitung und Speicherung von Reizen, sondern auch die Verarbeitung der Sinneseindrücke zu individuell bewerteten Empfindungen. Zimmer definiert Wahrnehmung daher ... als den Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) und der Weiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn. ... In der Regel folgen der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen Reaktionen in der Motorik oder im Verhalten eines Menschen, die wiederum zu neuen Wahrnehmungen führen. (Zimmer, 2003, S. 32)
19.1 Der Prozess der Wahrnehmung Der Wahrnehmungsprozess ist ein ganzheitlicher Vorgang, auf den verschiedene Faktoren einwirken. Neben der aktuellen emotionalen Befindlichkeit (Aufmerksamkeit, Motivation etc.) wird die Informationsverarbeitung von der individuellen emotionalen Wertung eines Reizes (Erwartungen und Überzeugungen) und der Verknüpfung mit zuvor gespeicherten Erfahrungen beeinflusst. Zimbardo und Gerrig (1999) teilen den Wahrnehmungsvorgang, d. h. die Aufnahme und Auswertung von Informationen aus der Umwelt, in drei Stufen ein: Empfinden, Organisieren sowie Identifizieren und Einordnen.
1. Reiz-Aufnahme über Sinnesorgane (Input)
9. Rückmeldung
8. Reaktion (Output)
2. Weiterleitung zum Gehirn
3. Auswahl und Filterung
4. Speicherung
7. Einordnen, Erkennen
6. Integration verschiedener Sinnesmodalitäten 5. Vergleichen mit bisher Wahrgenommenem
Abbildung 1: Sensu-motorischer Regelkreis (Muders, 1991, S. 310)
Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 305
Empfinden (Empfindung) bezieht sich auf die Umwandlung physikalischer Energie in neural kodierte Information, die vom Gehirn weiterverarbeitet werden kann. Auf der nächsten Stufe, der Organisation der Wahrnehmung (perzeptuelle Organisation), wird eine innere Repräsentation des Objekts oder Ereignisses aufgebaut und ein Perzept des äußeren Reizes gebildet. Beim Identifizieren und Einordnen („recognition“), dem dritten Schritt der Wahrnehmungssequenz, werden Perzepten Bedeutungen zugewiesen. (Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 148 f.) Abbildung 1 zeigt: Die aufgenommenen Reize werden über afferente Nervenbahnen geleitet und zunächst im Hirnstamm gesammelt. Selektionsprozesse unterdrücken schon an dieser Stelle bis zu 99 % aller Reize. Die verbleibenden Nervenimpulse werden zum größten Teil auf niederem Hirnniveau weiterverarbeitet. Nur ein minimaler Rest der Sinneseindrücke wird bewusst wahrgenommen. Durch das Filtern der Körper- und Umweltreize ist eine Konzentration auf relevante Informationen – und somit auch Lernen – erst möglich.
19.2 Die Bedeutung der Wahrnehmung Sinneserfahrungen bilden die Basis menschlichen Lernens. Gerade in der Embryonalphase und in den ersten Lebensjahren sind neben Reifungsprozessen die Sinneseindrücke von wesentlicher Bedeutung für die Gehirnentwicklung. Nervenzellen sind zwar bei der Geburt ausgebildet, eine Differenzierung muss jedoch noch erfolgen. Dies geschieht in Abhängigkeit von den Reizen, welche die Umwelt dem Säugling und Kleinkind bietet. Dabei werden die Nervenzellen aktiviert, sie bilden Dendriten und neuronale Verbindungen (Synapsen) aus. Wahrnehmungsprozesse sind folglich überaus wichtig für die menschliche Entwicklung, denn die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von Reizen ist Voraussetzung für die Gehirnentwicklung. Gleichzeitig beeinflussen diese gespeicherten Informationen die Aufnahme, Speicherung und Verknüpfung neuer Reize. Somit kommt der Umwelt eine große Bedeutung zu. Sie bestimmt die Art, die Quantität und die Qualität der Reizdarbietung sowie die Vielfalt der Wahrnehmungseindrücke (Modalitäten). Nicht ohne Grund wird an dieser Stelle in der Literatur häufig auf eine sich verändernde Kindheit hingewiesen. Die zunehmende Technisierung und Mediatisierung führt bei Kindern zu einem Überangebot an optischen und akustischen Reizen.
19.3 Wahrnehmungsstörungen Grundsätzlich können drei Arten von Störungen im Wahrnehmungsprozess unterschieden werden (Muders, 1991, S. 310). Liegen Veränderungen bzw. Einschränkungen bei der Reizaufnahme durch die Sinnesorgane oder bei der Weiterleitung der Impulse über die afferenten Bahnen vor, so spricht man von Sinnesbeeinträchtigungen. Eine zentrale Wahrnehmungsstörung betrifft die zentralnervösen Informationsverarbeitungsprozesse. „Diese kann in ihrem gestörten Funktionsanteil nicht exakt lokalisiert werden, sie lässt sich nur an ihrem Ergebnis, der nicht angepassten motorischen, sprach-
306
| Teil V: Interventionen lichen oder Verhaltensreaktion, ablesen“ (Muders, 1991, S. 310). Zimmer (2003, S. 160) unterteilt Wahrnehmungsstörungen in a) modalitätsspezifische Störungen (Verarbeitungsprobleme in einzelnen Bereichen der visuellen, auditiven, taktilen, kinästhetischen und vestibulären Wahrnehmung), b) intermodale Störungen (Beeinträchtigung bei der Verknüpfung der Sinneseindrücke) und c) seriale Störungen (mangelnde Fähigkeit, ein räumliches oder zeitliches Nacheinander von Reizen zu erkennen). Störungen in lediglich einem Wahrnehmungsbereich sind nur selten zu beobachten (Brand, Breitenbach & Maisel, 1988, S. 66). Zentrale Wahrnehmungsstörungen sind nicht nur schwer lokalisierbar, auch deren Ursache ist meist nicht eindeutig feststellbar. Multifaktorielle Erklärungsansätze (z. B. Zimmer, 2003, S. 158 ff.) nennen als Faktoren organische Beeinträchtigungen (Hirnfunktionsstörungen wie eine verminderte neuronale Vernetzung oder Störungen der Transmitterausschüttung) und hemmende Einflüsse der Umwelt. Neben genetischen Dispositionen werden als organische Ursachen pränatale Schädigungen (Infektionskrankheiten in der Schwangerschaft, toxikologische Einwirkungen durch Nikotin, Alkohol, Drogen), perinatale Einwirkungen (Sauerstoffmangel durch Komplikationen während der Geburt) oder postnatale Beeinträchtigungen (z. B. Hirnhauterkrankungen, SchädelHirn-Traumata, Mangelernährung) vermutet. Als umweltbedingte Ursachen kommen ein Mangel an Entwicklungsreizen oder unausgewogene Reizeinflüsse in Frage. Quantität und Qualität von Wahrnehmung sind abhängig von Erwartungen, vorhandenen Gedächtnisinhalten, Motivation etc. Somit können bei intakter Reizaufnahme und -verarbeitung auch mangelnde oder veränderte Umweltreize Einfluss auf den Wahrnehmungsprozess nehmen. Dies kann zu einer erfahrungs- oder soziokulturell bedingten Wahrnehmungseinschränkung führen. Wahrnehmungsstörungen werden häufig im Zusammenhang mit Erklärungsmodellen zur Entstehung von Lernbehinderung genannt (z. B. Kanter, 1980; Schröder, 2000). Auch wenn der direkte Einfluss von Defiziten in der Wahrnehmungsleistung auf spezifische Schulleistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nicht ausreichend empirisch belegt ist, betonen Forschungsergebnisse beispielsweise aus der Neuropsychologie die Bedeutung von Körper- und Umweltreizen auf die frühe Entwicklung des Zentralnervensystems (Breitenbach, 1996, S. 408). Ausgehend von der Plastizität des Gehirns wird in diesem Zusammenhang auch die Relevanz der frühen Förderung potentiell lernbehinderter Kinder abgeleitet, wächst doch ein hoher Prozentsatz in anregungsarmer Umgebung auf. Gefordert wird eine Anregung der Lernprozesse über die Förderung von Wahrnehmung, Sprache und Motorik im sozial-emotionalen Kontext (Kiphard, 1993; Schmutzler, 1999). Im Folgenden sollen am Beispiel der Diagnostik und Förderung der visuellen Wahrnehmung Möglichkeiten und Grenzen der Anregung von Wahrnehmungsprozessen aufgezeigt werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Störungen visueller Verarbeitungsprozesse häufig als Ursachen für ein Versagen beim Erwerb der Kulturtechniken genannt werden, ohne dies kritisch zu hinterfragen.
19.4 Diagnostik Im Bereich der Diagnose visueller Wahrnehmungsstörungen sind verschiedene normierte Testverfahren im Einsatz. Tabelle 1 führt die Verfahren auf, die sich mit dieser spezi-
Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 307
Tabelle 1: Testverfahren zur Überprüfung der visuellen Wahrnehmungsleistungen Testverfahren
Altersnormierung
DTVP-2
Developmental Test of Visual Perception (Hammill, Pearson & Voress, 1993)
4;0 – 9;11
FEW
Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (Lockowandt, 2000)
4;0 – 8;11
POB-4
Prüfung optischer Differenzierungsleistungen bei Vierjährigen (Sauter, 2001)
4;0 – 4;11
POB
Prüfung optischer Differenzierungsleistungen (Sauter, 1979)
5;0 – 7;7
VSRT
Visuomotorischer Schulreifetest (Esser & Stöhr, 1990)
5;6 – 6;11
fischen Problematik beschäftigen. Die jeweiligen Altersangaben beziehen sich auf den Einsatzbereich, für den der Test Vergleichswerte bietet. Unberücksichtigt bleiben dabei allgemeine Entwicklungstests wie z. B. die Basisdiagnostik für umschriebene Entwicklungsstörungen im Vorschulalter (BUEVA) von Esser (2002), die zur diagnostischen Abklärung neben anderen Bereichen auch Wahrnehmungsleistungen überprüfen. Im deutschsprachigen Raum ist der bekannteste Test der FEW, Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (Lockowandt, 2000). Dieser geht auf den Developmental Test of Visual Perception zurück, den Marianne Frostig und Mitarbeiter zwischen 1958 und 1963 in den Vereinigten Staaten entwickelten. Die Übertragung ins Deutsche erfolgte durch Lockowandt (erste Veröffentlichung 1972). Die jetzige, in neunter Auflage vorliegende Form unterscheidet sich nur wenig von der ursprünglichen Fassung. Neben einer Veränderung der Skalen wurde lediglich die Normierung (1 200 Kinder aus dem Raum Bielefeld) um 300 Kinder im Alter von acht Jahren aus dem gleichen Einzugsgebiet erweitert. Der FEW misst das Verhalten der Ruhewahrnehmung (static perception), also Wahrnehmungsbereiche, denen keine Veränderung in der Zeit zu Grunde liegen. Überprüft werden die Wahrnehmungsfunktionen Visuo-motorische Koordination (kontrollierte Augen- und Handbewegungen), Figur-Grund-Unterscheidung (Wahrnehmung von Figuren auf zunehmend komplexerem Grund), Formkonstanz-Beachtung (Wiedererkennung von Figuren unterschiedlicher Größe und Lage), Erkennen der Lage im Raum (Unterscheidung von Objekten von spiegelbildlich oder gedrehten Objekten) sowie Erfassen räumlicher Beziehungen (Abzeichnen von Strichmustern in Punktmatrizen). Die in den fünf Untertests operationalisierten Wahrnehmungsfähigkeiten stehen nicht – wie manchmal fälschlich angenommen – für die Gesamtheit des visuellen Wahrnehmungsprozesses. Bei ihnen handelt es sich nach Frostig um „wichtige Komponenten des Prozesses, denen besondere Bedeutung für die Schulleistung zuzukommen scheint“ (1963, S. 464, zitiert nach Lockowandt, 2000, S. 11). Somit ist auch mit dem (im Vergleich zu den anderen genannten Wahrnehmungstests) umfangreichen Inventar keine generelle Diagnose der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit möglich. Weiterhin lässt sich
308
| Teil V: Interventionen eine Aussage über die – von Frostig postulierte – Spezifität der in den fünf Untertests geprüften Wahrnehmungsfunktionen auf Grund der Ergebnisse verschiedener Studien nicht abschließend treffen (Lockowandt, 2000, S. 14). So ermittelte Dacheneder (1993) in einer Faktorenanalyse des FEW nur zwei Faktoren der visuellen Wahrnehmung, von ihm interpretiert als graphomotorische Kompetenz und als Fähigkeit des Form- und Gestalterfassens. Zudem liegt aufgrund der hohen Korrelation des FEW mit Intelligenztestwerten die Vermutung nahe, dass hier Intelligenzfunktionen (mit)gemessen werden (Larsen & Hammill, 1975; Wember, 1982). Die Resultate dieser und weiterer Faktorenanalysen zeigen deutlich, dass eine Interpretation des FEW auf der Ebene einzelner Untertests nicht möglich ist. Somit kann auch eine Förderung der visuellen Wahrnehmung (also spezifische Förderziele) nicht aus Einzelergebnissen der getesteten Teilbereiche abgeleitet werden. Neben der Interpretation auf der Basis von Untertestergebnissen ist auch die generelle Aussagekraft des FEW problematisch. Als eigentliches Ziel verfolgte Frostig die Ableitung spezifischer Förderschwerpunkte (vgl. 19.5) bei Kindern mit Lernstörungen im schulischen Bereich. Sie berichtet von zwei Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und der späteren Leseleistung fanden. Valtin (1972), Ohnmacht und Olson (1968) sowie Olson und Johnson (1970) konnten dagegen nur eine niedrige prognostische Validität des FEW hinsichtlich der Leseleistung ermitteln. Lockowandt kommt aufgrund der referierten Untersuchungsergebnisse zu dem Schluss, dass die Wahrnehmungsfunktionen des FEW nur eine untergeordnete Rolle für die Leseleistung spielen. „Die gefundenen Zusammenhänge lassen dann auf eine nur sehr geringe Beteiligung eigentlicher Wahrnehmungsfunktionen beim Lesen schließen, jedenfalls insofern und insoweit der FEW die visuelle Wahrnehmung diagnostiziert“ (Lockowandt, 2000, S. 27). Somit kann die Annahme von Frostig, welche die Defizite in der visuellen Wahrnehmung zwar nicht als einzige Ursache für Probleme beim Lesen lernen aber zu deren wichtigsten Faktoren zählt, nicht unterstützt werden. Neuere Forschungsansätze zur Leseforschung haben gezeigt, dass vielmehr Faktoren wie die phonologische Rekodierung von zentraler Bedeutung für das Lesenlernen sind (z. B. Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995). Neben dem Verweis auf eine mögliche Überschätzung der Testergebnisse hinsichtlich ihrer prognostischen Aussagefähigkeit werden weitere Kritikpunkte am FEW genannt. So bemängelt Dacheneder (1997, S. 143 f.) die Durchführungsform als PapierBleistift-Test, die ausschließlich graphomotorische Tätigkeiten erfordert. Zudem benachteiligt zumindest der Untertest Erfassen räumlicher Beziehungen linkshändige Kinder, da diese mit der Schreibhand die Vorlage, die abzuzeichnen ist, verdecken. Dacheneder kritisiert ebenfalls die Signierung der Aufgaben. Eine differenzierte Auswertung hinsichtlich teilweise richtig gelöster Aufgabenstellungen ist meist nicht möglich, was nach Lienert und Raatz (1998) eine Erhöhung der Reliabilität des Tests zur Folge hätte. Mit dem DTVP-2, dem Developmental Test of Visual Perception, liegt nun seit 1993 eine Überarbeitung und Neukonstruktion des DTVP vor, bei der Hammill, Pearson und Voress verschiedene Kritikpunkte, insbesondere die Ergebnisse von Faktorenanalysen, aufgegriffen haben. Der DTVP-2 besteht aus acht Untertests. Bei der Hälfte der Untertests bleiben die graphomotorischen Anforderungen hoch, denn die Aufgaben sind weiterhin als Papier-Bleistift-Test konzipiert. Bei der anderen Hälfte ist dagegen eine geringe Motorikbeteiligung erforderlich. Hier sollen die Kinder lediglich auf die richtige Lösung
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Tabelle 2: Untertests des DTVP-2 (Hammill, Pearson & Voress, 1993) unter Berücksichtigung der graphomotorischen Anforderungen (Dacheneder, 1997, S. 146) Motorikbeteiligung hoch Eye-Hand-Coordination
Auge-Hand-Koordination
Position in Space
Lage im Raum
Copying
Nachzeichnen
Figure-Ground
Figur-Grund
Spatial Relations
räumliche Beziehung
Visual Closure
Gestaltschließen
Visual-Motor-Speed
visuo-mot. Geschwindigkeit
gering
+ + + + + + +
(oder die richtigen Lösungen) zeigen. Die Abfolge der Untertests ist so angeordnet, dass sie abwechselnd eine hohe und eine geringe motorische Leistung verlangen. Beim Untertest Copying, bei dem das Kind Formen nachzeichnen muss, sind die Kästchen mit der Vorlage jetzt so angeordnet, dass Linkshänder nicht mehr benachteiligt werden. Auch die Signierung ist überarbeitet worden. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die acht Untertests. Nach Dacheneder (1997) liegt mit dem DTVP-2 eine gelungene Überarbeitung des Developmental Test of Visual Perception von Marianne Frostig und Mitarbeitern vor.
A
B
C
D
Abbildung 2: Aufgabenbeispiele aus dem DTVP-2 (Hammill, Pearson & Voress, 1993): Visual-motor Speed (A), Copying (B), Figure-Ground (C), Visual Closure (D)
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| Teil V: Interventionen Sowohl hinsichtlich der methodischen als auch der inhaltlichen Mängel sind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. Aber auch ideologisch ist ein Wandel zu verzeichnen. Die Testautoren distanzieren sich von der von Frostig hervorgehobenen Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für schulische Lerninhalte. „Damit emanzipiert sich die Behandlung visueller Wahrnehmungsstörung von der ausschließlichen Legitimation durch Schulprobleme“ (Dacheneder, 1997, S. 157).
19.5 Förderprogramme Programme zur Förderung der Wahrnehmung zeigen ein weites Spektrum an Ansätzen. Von isolierten Funktionstrainings über psychomotorische Behandlungen bis hin zu esoterisch anmutenden Therapien reicht das Angebot. Im Folgenden wird das Wahrnehmungstraining nach Frostig vorgestellt. Zum einen gehört dieser Ansatz zu den wenigen, über die auch Evaluationsstudien vorliegen. Zum anderen ist das Programm häufig Bestandteil von Frühförderkonzepten, was auch die Neuauflage des Programms von 2000 zeigt. Marianne Frostig (1906-1985) interpretierte Lernschwierigkeiten als Entwicklungsverzögerung; Wahrnehmungsstörungen sah sie dabei als eine zentrale Ursache an. Zu Unrecht wird ihr jedoch häufig unterstellt, dass sie eine Verfechterin einseitiger visuell-perzeptiver Trainingsmaßnahmen gewesen sei (Kiphard, 1993, S. 140). Zwar weist Kiphard zu Recht darauf hin, dass die Arbeitshefte, welche die zweidimensionalen Papier-Bleistift-Aufgaben enthalten, den Benutzer dazu verleiten können, auf eine Förderung im Gesamtkonzept zu verzichten, denn selbst Interventionsstudien wie die von Sander (1973) oder Seidel und Biesalski (1973) verwenden lediglich die Arbeitsblätter, obwohl Frostig immer ein isoliertes Training der visuellen Wahrnehmung zur Behebung von Lernschwierigkeiten abgelehnt hat. Im Gegenteil: Eine erfolgreiche Förderung von Wahrnehmungsleistungen muss die Förderung von Bewegung und Sprache sowie das kognitive Niveau und die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes einbeziehen. „Zu einem optimalen Fortschritt kommt es nur, wenn die Wahrnehmungsförderung mit Übungen der sensomotorischen Fertigkeiten, der Sprache und der höheren Denkprozesse verbunden ist“ (Frostig & Horne, 2000, S. 5). Dieser multidimensionale Ansatz spiegelt sich auch in der von Frostig verwendeten Testbatterie zur Eingangsdiagnostik wider. Neben Anamnese und Verhaltensbeobachtung werden Tests zur motorischen Entwicklung, visuellen Wahrnehmung, auditiven Diskrimination, sprachlichen Entwicklung und Intelligenz durchgeführt. Für die beiden erstgenannten Bereiche entwickelte sie an dem von ihr gegründeten und von 1947-1972 geleiteten Marianne Frostig Center of Educational Therapy in Los Angeles zusammen mit ihren Mitarbeitern standardisierte Testverfahren, den Developmental Test of Visual Perception (siehe 19.4) und den Frostig Movement Skills Test Battery (Frostig Test der motorischen Entwicklung (FTM), Frostig, 1985). Ausgehend von den ermittelten Testergebnissen wird für jedes Kind ein individuelles Förderprogramm erstellt (vgl. Reich, 1993). Für die visuelle Förderung steht dabei das Trainingsprogramm Visuelle Wahrnehmungsförderung (Frostig & Horne, 2000) zur Verfügung (bedauerlicherweise auch in der neuen Auflage ohne grafische Überarbeitung). Drei Übungshefte mit Arbeitsblättern sind den fünf Wahrnehmungsbereichen, die im FEW in den Untertests überprüft werden, zu-
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geordnet: Visuo-motorische Koordination, Figur-Grund-Wahrnehmung, Wahrnehmungskonstanz, Wahrnehmung der Raumlage sowie Wahrnehmung räumlicher Beziehungen. Diese zweidimensionalen Papier-Bleistift-Aufgabenstellungen können nach Frostig und Horne (2000) ihre volle Wirksamkeit jedoch nur entfalten, wenn zuvor und gleichzeitig sogenannte vorbereitende und ergänzende Übungen durchgeführt werden. Dazu gehören u. a. Übungen zum Körperbegriff, zum Körperschema, zum Seiten- und Richtungserkennen und sensomotorische Übungen. Durch Einbeziehen dreidimensionalen Materials und vielfältiger sprachlicher Anregungen richtet sich das Programm nach dem individuellen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Sprachförderung, sollen hier doch die Bildung neuer Begriffe im Sinne einer Wortschatz erweiterung angeregt werden, um Erfahrungen einordnen zu können, Klassifizierungen und Oberbegriffe bilden zu können.
19.6 Evaluationsstudien Verschiedene Evaluationsstudien zum visuellen Wahrnehmungstraining von Frostig erbrachten ein sehr uneinheitliches Bild. Frostig (1963), Rosen (1965) und Ritz (1969) (alle drei Untersuchungen zitiert in Lockowandt, 2000, S. 71) konnten zwar Verbesserungen in den Wahrnehmungsleistungen nachweisen, die Leseleistungen veränderten sich jedoch nicht. Auch Sander (1973) oder Seidel und Biesalski (1973) berichten lediglich von Verbesserungen der Wahrnehmungsleistungen nach einem Training mit dem Frostig-Programm. Wember (1982) kommt in einem Überblicksartikel zu dem Schluss, dass manche Untersuchungen eine Verbesserung der visuellen Wahrnehmungsleistung, also einen trivialen Transfer, nachweisen konnten, aber keine Verbesserung der Leseleistung. Andere Untersuchungen, die eine Verbesserung der Leseleistung erreichten, konnten mit dem Training dagegen keine positive Veränderung im FEW nachweisen. Der fehlende Transfer einer Förderung der visuellen Wahrnehmung auf schulische Leistungen beeinflusste auch die Lese-Rechtschreibforschung. Traditionelle Ansätze sahen kognitive Funktionsstörungen – und hier insbesondere Wahrnehmungsstörungen – als eine Hauptursache für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten an (Walter, 1996, S. 35 ff.). Oehrle (1975) konnte in einer Untersuchung sogar die Überlegenheit schwacher Leser gegenüber guten Lesern hinsichtlich der Wahrnehmungsleistung nachweisen. Zu Recht bemerkt Walter (1996, S. 40) hierzu, dass dies den Praxiserfahrungen entspricht. Kinder mit einer Leseschwäche fallen oftmals im Unterricht erst sehr spät auf, da sie zuvor mit der Taktik, sich Wörter oder Texte als Ganzes zu merken, bei dem im Anfangsunterricht begrenzten Wortschatz erfolgreich sind. Diese Annahme wird von zahlreichen Untersuchungen gestützt, die keinen positiven Zusammenhang zwischen visueller Wahrnehmungsfähigkeit und schulischem Lernen nachweisen konnten (z. B. Meyers & Hammill, 1976; Robinson & Schwartz, 1973; Wendeler, 1986). Ebenso wenig ist die Hypothese aufrecht zu halten, dass visuelle Wahrnehmungsstörungen insbesondere das Lesenlernen beeinträchtigen. Metzger und Werner (1984) konnten umgekehrt auch keinen Beweis dafür erbringen, dass Schüler mit Leseschwierigkeiten an visuellen Wahrnehmungsstörungen leiden. Somit ist von einem isolierten visuellen Wahrnehmungstraining bei Lernschwierigkeiten abzuraten (Hammill
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| Teil V: Interventionen & Bartel, 1982; Kavale & Mattson, 1983; Kiphard, 1997; Leigh, 1986; Ross, 1987), wenn die schulischen Leistungen im Lesen oder Rechnen verbessert werden sollen. Es ist allenfalls bei sorgfältig diagnostizierten Rückständen in der Wahrnehmungsentwicklung ratsam und lässt dann auf Effekte im Wahrnehmungsbereich hoffen.
19.7 Fazit Der Begriff der Wahrnehmungsstörung wird in der Regel als eine unspezifische, nicht näher differenzierte Diagnose gebraucht. Sie „bietet kaum einen sinnvollen Zugang, die in der Praxis zu beobachtenden Auffälligkeiten von Kindern hinreichend zu beschreiben und überprüfbare Hypothesen über die Ursachen ihrer abweichenden Verhaltensweisen zu bilden“ (Nußbeck, 2002, S. 237). Eine genaue Abgrenzung zu anderen Störungsbildern gibt es nicht. Im Gegenteil: Sie erinnert in weiten Teilen an die lange Zeit übliche Diagnose einer minimalen cerebralen Dysfunktion. Am Beispiel der visuellen Wahrnehmungsförderung wurde aufgezeigt, dass die Erwartungen an nicht triviale Effekte hinsichtlich einer Verbesserung der Schulleistungen (und insbesondere der Leseleistungen) nicht erfüllt werden können. Dies wird bestätigt von den Ergebnissen einer Metaanalyse von Kavale und Mattson (1983). Bei der Berücksichtigung von 180 Untersuchungen zu psychomotorischen Wahrnehmungstrainings ergab sich eine niedrige mittlere Effektstärke von 0.08. „Von den 637 Effektmaßen waren 48 % negativ, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ein positives Ergebnis zu erhalten, gerade mal etwas höher war als der Zufall“ (Walter, 2002, S. 449 und in diesem Band). Trotz dieser eindeutigen Untersuchungsergebnisse werden u. a. von Schulbuchverlagen Trainingsprogramme zur Förderung der visuellen Wahrnehmung vertrieben. Klappentexte und Übungen, die Buchstaben und Zahlen einbeziehen, vermitteln den Eindruck, dass durch den Einsatz dieser Materialien eine wesentliche Voraussetzung zum Lesen-, Schreiben- und Rechnen lernen geschaffen wird. So wird eine Alltagsüberzeugung im pädagogischen Bereich weiter bestärkt, die empirisch bislang nicht verifiziert werden konnte.
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Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 313
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20 Psychomotorische Förderung Dietrich Eggert und Christina Reichenbach
20.1 Allgemeiner Überblick und historische Entwicklung Psychomotorische Förderung ist eine weit verbreitete Praxis Kindern mit verschiedenartigen Lern- und Entwicklungsverzögerungen durch das Medium Bewegung besser an schulische und außerschulische Lernanforderungen heranzuführen. Ihre Effektivität ist in verschiedenen Studien nachgewiesen worden (vgl. Eggert & Lütje-Klose, 1994), wenngleich Studien von Kavale und Mattson (1983) in Bezug auf die amerikanische Praxis Zweifel angemeldet haben. Den Kindern soll es durch individuell ausgerichtete psychomotorische Fördersituationen ermöglicht werden, soziale Fertigkeiten zu entwickeln, ihr Selbstkonzept zu verbessern sowie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu erleben. Darüber hinaus werden die Beziehungsmuster zum Lebenskontext positiv beeinflusst. Dieser Aspekt war bislang aber noch nicht Gegenstand in empirischen Studien zur Psychomotorik. Psychomotorische Förderung wird primär im Vorschul- und Grundschulalter eingesetzt. Die Orte der Förderung reichen dabei vom Kindergarten, über die Schule, hin zu eigenständigen pädagogisch-therapeutischen Praxen, Ergo- und Physiotherapie u. a. Eine psychomotorische Intervention ist in der Regel durch eine hohe Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit des Vorgehens gekennzeichnet. Bei näherer theoretischer Betrachtung sind jedoch die oft sehr einfachen psychomotorischen „Regeln“ (vgl. Kiphard, 1982; Zimmer, 1993, 1999) lediglich Praxeologien und Vereinfachungen von Theorien. Die vorliegenden Sachverhalte und Bedingungen sind ungleich komplexer, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Die damals formulierten Einfach-Kategorien halten inzwischen einer theoretischen Reflexion nur unvollkommen stand. Aus dem ursprünglichen Ansatz der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“ (Kip hard, 1960), der in den Jahren zwischen 1955 und 1980 entstand, hat sich inzwischen eine Erweiterung in verschiedene Richtungen v. a. bzgl. der theoretischen Ansatzpunkte und Fundierung ergeben. Die Grundlage der Psychomotorik nach Kiphard ist kurz zusammengefasst eine Erziehung durch Bewegung, so dass das Kind durch kindgemäßes Handeln, Selbstfinden, Explorieren und Experimentieren als methodische Prinzipien zu einer handlungskompetenten Persönlichkeit wird. Die gewünschte Erlebnis- und Persönlichkeitsorientierung, die Ausrichtung am Prozess des Lernens und nicht an dessen Produkt, die Gewährung von freien Handlungsmöglichkeiten in offenen Bewegungssituationen etc. werden im Bereich der Psychomotorik nach Kiphard (1982), Irmischer (1987) u. a. durch eine sehr einfache entwicklungsbezogene Strukturierung erreicht, die in folgenden Stufen erfolgt: Körpererfahrung, Materialerfahrung und Sozialerfahrung. Da sich diese Stufen mehrfach überschneiden, aber sich ausschließlich auf die Fähigkeiten des Kindes beziehen, ist ihr Erklärungswert gering. Genauso praktisch einfach, aber theoretisch unbefriedigend sind die Stufen der Förderung von der Sensomotorik über die Psychomotorik zur Soziomotorik (vgl. Kiphard, 1982), die im Akt der psychomotorischen Förderung nicht voneinander zu trennen sind. In einer psychomotorischen Förderung spielt dagegen eine Fülle miteinander verknüpfter Bedingungen und Beziehungen eine Rolle, die sich
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| Teil V: Interventionen nur unvollkommen auf einfache Regeln reduzieren lässt. Die neueren theoretischen Ansätze sind interessanterweise nicht mehr auf eine Komplexitätsreduktion, sondern auf eine Ausweitung der psychomotorischen Handlungsprinzipien, auf eine Betrachtung der Förderung aus eher psychotherapeutischer (vgl. Hölter, 1993; Seewald, 1993) oder ökosystemischer Sicht (Eggert, Reichenbach & Bode, 2003; Eggert & Wegner-Blesin, 2000) ausgerichtet.
20.2 Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung Amft und Amft (2003) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Frage nach dem Klientel der psychomotorischen Förderung die gleiche Situation wie bei der theoretischen Orientierung herrscht: Es gibt eine gut funktionierende praxeologische Übereinkunft darüber, welche Kinder eine psychomotorische Therapie brauchen und welche am meisten davon profitieren können. In den meisten Fällen ist es aber durchaus unklar, ob diese Kinder mit eher motorischer oder eher psychosozialer Problematik in eine psychomotorische Förderung kommen. Dies wird zum Teil bereits in der folgenden Liste deutlich, in der verschiedene Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung zusammengestellt sind: – Kinder mit vielfältigen Entwicklungsrückständen (emotional, motorisch, kommunikativ, kognitiv, ...), – Kinder mit sog. Bewegungsstörungen (Ungeschicklichkeit, Unruhe, Gehemmtheit, ...), – Kinder mit sog. Wahrnehmungsstörungen (auditiv, visuell, kinästhetisch, ...), – Kinder mit mangelnder Konzentration und Unaufmerksamkeit, – Kinder mit Sprachproblemen, – Kinder mit Lernproblemen, – Kinder mit sog. Verhaltensauffälligkeiten (Aggression, Ängstlichkeit, u. a.) und – Kinder mit Migrationshintergrund. Es ist anzunehmen, dass Kinder in der Schule oder im Kindergarten auf Grund motorischer Probleme auffallen, wobei es sich dann häufig zeigt, dass psychologische oder psychosoziale Problemstellungen vorhanden sind. Zusammenfassend kann vorerst festgehalten werden, dass eine psychomotorische Förderung für die Kinder angezeigt ist, die in verschiedenen Entwicklungsbereichen (sozial-emotional, motorisch, perzeptiv, kognitiv, kommunikativ) einen Förderbedarf haben, dem über das Medium Bewegung entsprochen werden kann.
20.3 Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung In verschiedenen Effektivitätsstudien (vgl. zusammenfassend Eggert & Lütje-Klose, 1994) wurde nachgewiesen, dass die Wirkungen einer psychomotorischen Förderung vorwiegend im Bereich einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und einer Stabilisierung der Persönlichkeit in ihrer Beziehung zum Lebenskontext liegen. Es konnte gezeigt werden, dass eine psychomotorische Förderung ein Kind in seiner Entwicklung voran bringt und es fördert. Die Wirkungen gehen dabei zurück auf:
Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 317
– die Verbesserung der Wahrnehmung bzgl. der Möglichkeiten des eigenen Körpers; der Ausdrucks- und Haltungspotentiale; der Fähigkeit, Wünsche und Ziele auszudrücken (Körperkontrolle, Körperausdruck, Körperwahrnehmung), – die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. Eggert, Bode & Reichenbach, 2003), – die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten im Kontakt mit anderen (im Ausdruck von Gefühlen für und mit anderen) und von Empathie für andere, – die Entwicklung von Kooperation mit anderen (Vertrauen in sich selbst und andere setzen), – das Erfahren rhythmisierender Handlungen, d. h. sich Einfühlen lernen durch Spannung und Entspannung, – den Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen durch Rollenspiel, – eine Erkundung der Umwelt durch Ausprobieren von unterschiedlichen Lösungen mit verschiedenen Materialien, – die Erfahrung von Raum und Zeit als Voraussetzung des schulischen Lernens (vgl. Eggert & Bertrand, 2002), – die Stabilisierung der Persönlichkeit durch erfolgreiches soziales Handeln und – das Erleben positiver Beziehungen innerhalb und außerhalb des sozialen Lebenskontextes. Bei zunehmendem Alter des Kindes findet immer weniger in kognitiven oder sprachlichen Bereichen eine direkte Einwirkung von der Motorik aus statt und selbst eine direkte Bewegungsförderung verbessert nicht immer auch die Motorik (vgl. Eggert & Lütje-Klose, 1994; Moser & Christiansen, 1997). Es ist unbestritten, dass die Beziehungsgestaltung ein wichtiger Wirkfaktor in pädagogischen Prozessen ist. Die Frage nach der Beziehungsgestaltung ist für eine psychomotorische Förderung insofern bedeutend, dass die Frage besteht, inwiefern Beziehungen so gestaltet werden (können), dass sie entwicklungsfördernd oder -hemmend sind. Dabei ist die Art der Beziehungsgestaltung u. a. von der Persönlichkeit des Pädagogen abhängig (vgl. Hölter, 1993, S. 13), d. h. sie ist geprägt durch seine Biografie, sein Ausmaß an Selbsterfahrung, sein pädagogisch-therapeutisches Selbstverständnis, sein Menschenbild, seine Persönlichkeitscharakteristika, seine Reflexionsfähigkeit, seine individuelle Vorgehensweise, seine theoretische Verankerung und sein Handlungsrepertoire. Diese Beziehung selbst zeigt sich dann u. a. – in der Sichtweise bzgl. des Kindes (Respekt, Anerkennung ...), – in der verbalen und nonverbalen Kommunikation mit dem Kind (Zugewandtheit, Körperkontakt ...), – im Umgang mit dem Kind während der Arbeit (führend, folgend, partnerschaftlich ...), – in den eigenen emotionalen Äußerungen und Reaktionen (Freude, Ärger, Angst, Offenheit, Klarheit ...). Bedeutende Faktoren für eine psychomotorische Entwicklungsförderung sind: – der Einbezug des Kindes und die Orientierung am Kind, – ein positiver Beziehungsaufbau und eine positive Beziehungsgestaltung als wesentliche und grundlegende Elemente einer Förderung,
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| Teil V: Interventionen – – – – – – –
die Kommunikation als wesentliches Element der Förderung – zur Vermittlung von Inhalten, – zur Erreichung von Entwicklungszielen, – zur Bestätigung bzw. Rückmeldung an das Kind, – zum gegenseitigen Austausch von Ansichten, Gefühlen, Stimmungen etc., die Grundprinzipien Empathie, Echtheit und Achtung gegenüber dem Kind, die ritualisierte Handlungen als Rahmen und Strukturierungsmöglichkeit für Interventionsprozesse, eine Transparenz des Vorgehens und der Handlungen des Pädagogen, eine Flexibilität im Sinne der Bedürfnisorientierung, eine gemeinsame Präsentation der „Arbeitsergebnisse“ und eine konstante Reflexion des Verhaltens, Könnens, Vorgehens etc. gemeinsam mit dem Kind.
20.4 Methoden einer psychomotorischen Förderung Eine psychomotorische Förderung bedient sich verschiedener Methoden bzw. Vorgehensweisen, welche wiederum von den Zielen der Intervention abhängig sind. Wir sehen hierbei die ausgewählten Methoden als einen Weg zu dem jeweiligen individuellen (Förder-)Ziel. Mögliche Methoden wären: Übung, Training, freies Spiel/eigenständiges Ausprobieren, strukturiertes Spiel/Vorgehen, Geschichten, Bewegungsbaustellen und/ oder Arbeit mit bestimmten Inhalten bzw. an verschiedenen Themen. In diesem Zusammenhang sollten auch Fragen nach den Sozialformen (Einzelförderung, Kleingruppenförderung, Großgruppenförderung), nach der Interaktionsgestaltung, nach dem verwendeten Material sowie nach dem Aufbau bzw. der Planung der einzelnen Stunden gestellt und beantwortet werden. Die Inhalte einer psychomotorischen Förderung können in Anlehnung an eine von Hölter erstellten Literaturübersicht (vgl. 1993, S. 28) folgenden Ordnungskriterien zugeteilt werden: – Ausmaß der Bewegungsintensität (passiv, aktiv), – Art der Interaktion (Einzel- oder Gruppenmaßnahmen), – Sport- und Bewegungsformen (Gymnastik, kleine Spiele, Entspannung), – Erfahrungsbereiche (Körper-, Material-, Sozialerfahrung), – Bedeutungs- und Sinndimension von Bewegungshandlungen (instrumentell, explorativ, sozial, personal...). Wichtig ist, dass die Inhalte in Bezug zur „Problematik“ des Kindes stehen bzw. diese für das Kind bedeutend sind und als Ziel für das Kind erstrebenswert, denn nur so können auch die Ziele der Intervention erreicht werden. Dabei ist nicht die Vielzahl von LernInhalten entscheidend für den Erfolg einer Förderung, sondern der Einsatz der Inhalte zu erfolgsversprechenden Zeitpunkten, denn wie es Hölter ausdrückt: „Inhalte sind Werkzeuge und ihr geschickter Einsatz kennzeichnet den guten Handwerker“ (1993, S. 29). Für den gesamten Prozess der Förderung ist eine ständige Reflexion bedeutsam, wobei die Schwerpunkte wiederum von der jeweiligen Konzeption und der Arbeitsweise des
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Pädagogen abhängig sind. Eine Reflexion kann auf verschiedenen Ebenen und bzgl. verschiedener Inhalte stattfinden: – Reflexion des Therapeuten allein und/oder – Reflexion mit den Kindern gemeinsam über – das Stundengeschehen (Verlauf, Struktur, Organisation), – das Verhaltens der Kinder, – das eigene Verhalten und – die Fördererfolge/Fortschritte (Vergleiche). Reflexionen selbst können unterschiedliche Ziele haben: Bestätigung, Veränderung der Organisation (zeitlicher Ablauf etc.), Eingehen auf alle oder einzelne Kinder, Veränderung des Verhaltens der Kinder, Veränderung des eigenen Verhaltens und Dokumentation des Fördererfolges. – Das folgende Beispiel zeigt ein mögliches Vorgehen im Rahmen einer psychomotorischen Förderung. • •
gemeinsames Eintreten in die Halle Beginn auf einer gemeinsamen Matte, die in einer Ecke liegt – Begrüßung – Erzählen von Ereignissen, die innerhalb der letzten Woche das Kind (und Pädagogen) beschäftigt haben – kurze Übersicht über Ablauf der Stunde durch Pädagogen
à Ziele:
Kommunikation miteinander (Bericht + Rückfragen); Darstellung von Interessen, Wünschen, Gefühlen; Orientierung und Strukturgebung
• Aufwärmspiel – frei durch Kinder gewählt, abgestimmt oder ausgesucht
à Ziel:
Warmmachen und Ankommen
• Hauptteil – abhängig von Gruppe und individuellen Bedürfnissen – bedeutend: Abstimmung auf Bedürfnisse der Kinder mit den Kindern à gemeinsames Erarbeiten und Planung (Übersicht) – Möglichkeiten: – Arbeit an einem Thema über einen längeren Zeitraum (2-4 Monate) – Wechsel der Themen in jeder Stunde – Vorgehen: – Maß bzw. Form der Strukturierung; Rolle des Pädagogen – Bedeutung des gemeinsamen Handelns – Bedeutung der Kommunikation und Handlungsorientierung – Bedeutung der Präsentation
à Ziele:
Bedürfnis- und Zielorientierung; Kommunikation miteinander; gemeinsame Handlungsplanung und -umsetzung
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| Teil V: Interventionen • Schlussteil – gemeinsames Aufräumen – Entspannungsphase à kann ritualisiert sein – Reflexionsphase à Was hat (nicht) gefallen? Was sollte sich wie verändern? à Vorschau auf nächste Stunde – gemeinsames Verlassen der Halle
à Ziele:
Kommunikation miteinander (Bericht); Zur Ruhe kommen; Darstellung von Ansichten, Gedanken und Gefühlen; Perspektiven aufzeigen, Vorschau; Orientierung, Struktur
20.5 Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik In den vergangenen zehn Jahren hat sich der theoretische Rahmen auch in der Psychomotorik in Abhängigkeit von den Veränderungen in der Psychologie zur Psychotherapie von einem linear-kausalen Ansatz („Ich mache Psychomotorik, also muss ich auch durch mehr Bewegung mehr Entwicklungsanreize auslösen.“) hin zu einem vernetzten, prozessualen Denken („Ich mache Psychomotorik und erreiche dadurch weniger Bewegungsförderung als vielmehr psychosoziale Fähigkeiten.“) im Verbund mit Faktoren des Lebenskontextes entwickelt. Der folgende Abschnitt ist als Skizze eines Übergangskonzeptes zu verstehen. Dabei soll diese theoretische Begründung dazu dienen, dem praktischen Handeln einen veränderten Bezugsrahmen zu schaffen. Eine systemisch orientierte Psychomotorik steht dabei immer noch durchaus im Rahmen der bisherigen Prinzipien psychomotorischen Handelns wie: – einer Begründung des praktischen Handelns auf der (klinischen) Entwicklungspsychologie, d. h. auf der Grundlage einer Theorie der Entwicklung in fördernden und hemmenden Bedingungen, – einer Betonung von Interaktion und Kommunikation (im spezifischen Umfeld des Kindes), – der Betonung einer bedeutungsvollen pädagogischen Kooperation mit dem Kind, – der Betonung einer ökosystemischen Förderdiagnose und Intervention im spezifischen Umfeld des Kindes (Eltern u. a.) und – einer Betrachtung der individuellen Handlungen im Beziehungsmuster dyadischer und triadischer Art (Kind-Familie; Familie-Schule; Kind-Peers; Peers-Schule; KindFamilie-Schule-Peers etc.). Hinzu kommen neue Konzepte wie etwa: – die Funktion eines Verhaltens im Zusammenhang mit der spezifischen Umwelt (Bronfenbrenner, 1989), – die Betonung der Eigenaktivität und Handlungsfähigkeit jedes Kindes als Lösungsmöglichkeit für bestehende Probleme – wenn wir denn aus der Sicht der ökosystemischen Theorie überhaupt von Problemen sprechen können –, – die Gleichwertigkeit von Therapeut/Pädagogen und Kind im Prozess,
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– eine Perturbation (Irritation statt Behandlung), etwa erhoffte Ziele in der Interaktion nur anstoßen und nicht gezielt anstreben zu können und – die Erkenntnis, dass Ziele nicht linear erreicht werden können. 20.5.1 Ziele und Wege einer ökosystemischen psychomotorischen Förderung Das Ziel des Vorgehens in der Psychomotorik hat sich unter dem Einfluss des ökosystemischen Denkens verändert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Verbesserung der Entwicklung des Kindes durch Bewegung, sondern 1. der Glaube an die konstruktiven Potentiale des aktiven Kindes, 2. die Entwicklung eines stabilen Selbstkonzeptes als Mittel zur Entwicklung einer positiven Identität, 3. die Auseinandersetzung mit den bedeutsamen Menschen und Faktoren seiner spezifischen Umwelt (Kind in seinem Lebenskontext). Eine psychomotorische Förderung beginnt mit dem Versuch, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken und versucht von dort aus dem Individuum in seiner spezifischen Situation (Umfeld) bessere Möglichkeiten an die Hand zu geben, den Anforderungen komplexer Situationen individuell erfolgreich zu entsprechen. Durch diese Art des Vorgehens in einer PMF und den damit verbundenem Transfer in den Alltag des Kindes, können auch Beziehungsmuster zu Personen, die für das Kind in seinem Umfeld eine hohe Bedeutung haben, besser gestaltet werden, was wiederum ein effektiveres Lernen und Handeln für das Kind ermöglicht. Das erste Ziel ist es nicht, dem Kind eine unmittelbare Hilfe zu geben, sondern ihm zu helfen aus sich heraus Impulse für ein effektiveres Handeln zu finden. Der Erforscher der Lebenssituation des Kindes (das ist die Rolle des Pädagogen/ Therapeuten in einer ökosystemischen Therapie) sollte versuchen, das System Kind mit sanften Impulsen zu einer Veränderung hin zu bewegen und dazu die maximale Kapazität des Systems nutzen, sich selbst zu verändern. Damit ist die Rolle des Therapeuten im übertragenen Sinne, für ein Kind eine an seine spezielle Situation angepasste individuelle Fördermethode zu entwickeln und nicht das Kind im Rahmen einer vorgegebenen Methode zu behandeln. Diese Forderung birgt natürlich eine große Zahl von Risiken in sich. Verfügt der Therapeut über ein so großes Methodeninventar wie das Kind über ein Inventar an Verhaltensproblemen verfügt? Wie kommt man von einem individuellen Förderplan zu einem Gruppenplan, denn als Lehrer, Pädagoge oder Therapeut hat man es ja meist mit Gruppen von Kindern und nicht mit einzelnen Kindern zu tun? Und gibt es genügend Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kindern, um sie gemeinsam ansprechen zu können? In diesem Prozess kann der Pädagoge/Therapeut ein Helfer des Kindes sein oder ein Mit-Spieler oder auch ein sorgsamer Beobachter auf der Basis einer balancierten vertrauensvollen Kooperation zwischen dem Kind und ihm. Die dabei entstehende Beziehung ist die Grundlage einer angemessenen Diagnose und Förderung. Der Erforscher der Lebenssituation des Kindes kann nicht Halt bei der inneren Situation des Kindes machen, sondern muss sich auf den Weg in das Beziehungsmuster des
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| Teil V: Interventionen Kindes zu seinen Eltern und der Familie machen und nach den Mustern spüren, die diese Beziehung ausmachen. Bei der Analyse der Lebenskonstellation und der Lebensbedingungen sind u. a. folgende Fragen bedeutend: Welche Rolle hat das Problem des Kindes für den Erhalt einer stabilen Beziehung? Welche Funktion hat die Aufrechterhaltung eines Symptoms für die Stabilität der Familienbeziehungen? Welche Einstellungen haben die Eltern/die Familie (Vater, Mutter, Großvater, Großmutter etc.) dem Kind gegenüber und wie prägen ihre Vorstellungen vom notwendigen Verhalten des Kindes wiederum ihr Verhältnis zum Kind? Wie haben sich diese Einstellungen aufgebaut und zu welchen Reaktionen führen sie? Was wird vom Kind erwartet? Was erwarten Eltern, Peers, Großeltern u. a.? Welche Generationenaufträge soll es erfüllen? Was soll es v. a. nicht tun? Wie würden Veränderungen beim Kind beurteilt? In einer weiteren Stufe spielt die Frage eine Rolle, welche Position das Kind im komplexen System der Schulklasse einnimmt und wie es diese Rolle auszufüllen versucht. Wie sieht z. B. der Lehrer das Kind? Nimmt er das Kind als gleichwertigen Partner wahr oder wie sieht er das Kind? Welche Einflussmöglichkeiten auf das Kind hat er? Nun könnte man der Ansicht sein, dass die Komplexität dieser Fragen einen praktisch Handelnden überfordern würde – und hätte vermutlich dabei nicht einmal so Unrecht. Es kommt darauf an, den Rahmen für eine Analyse eines individuellen Problems und seiner Funktion für das Kind und seine Interaktionspartner so weit wie möglich zu stecken und das Kind in seinen Lebenszusammenhängen zu verstehen. Auch wenn man nicht immer in diesem Rahmen eine Intervention ansiedeln kann, bleibt das Verständnis für die Situation eines Kindes unvollkommen, wenn man nur das Kind mit seinen Kompetenzen und Problemen allein sieht. Eine erweiterte Sichtweise, die es in der Ausbildung zu betonen gilt, ist nötig. Ein erweitertes allgemeines Verständnis von Förderung könnte zu folgenden Prinzipien einer ökosystemischen psychomotorischen Förderung führen (ohne dass Vollständigkeit angestrebt wird): – Individualisierung (als Förder- und Beobachtungskategorie/Eigenaktivität des Kindes), – Ganzheitlichkeit der Person und der Förderung, – die Annahme von Perturbation (Irritierung, Anregung) statt Therapie, – Vernetztheit – Einbezug der individuellen sozialen Handlungen in den Lebenskontext, – Kooperation und Teamarbeit (Solidarität) als Voraussetzung zur Entwicklungsförderung, – förderdiagnostische Orientierung (von den Stärken ausgehen und individuell diagnostizieren und fördern), – Aufstellung von individuellen Förderplänen (vgl. Eggert, 1997), – Dokumentation in individuellen Entwicklungsplänen und -protokollen, – gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung sowie aus unterschiedlichem ethnischen Hintergrund in Integration und inklusiver Erziehung, – Elternarbeit und Community Work, – Arbeit in Umweltsystemen (Vernetzte Systeme), – Qualitätssicherung (interne und externe Evaluation und Handlungskontrolle).
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Auf diesem Wege könnte man im praktischen Vorgehen versuchen, einige Anforderungen des ökosystemischen Denkens in Praxisregeln umzusetzen. Dann kann man von einer Betrachtung der individuellen Kompetenzen des Kindes ausgehen, sich in seinem speziellen Umfeld mit den bedeutsamen Personen effektiv handelnd auseinander zu setzen. Sein Selbstkonzept und seine Identität könnte man als ersten Schritt dazu in die Betrachtung einbeziehen und von dort aus zu einer Betrachtung der anderen Kompetenzen für die Auseinandersetzung mit der spezifischen Umwelt voranschreiten. Die Bewegung als sinnhafte Auseinandersetzung mit dieser Umwelt kann zugleich Abbild der motorischen Kompetenz, Spiegel der inneren emotionalen Situation des Kindes und der Beziehungen zu anderen Menschen in seinem Umfeld sein. Es geht dann darum, in der gegenwärtigen Praxis die Anknüpfungspunkte gemeinsam zu suchen, an denen man zusammen mit dem Kind beginnen könnte. Im Rahmen eines ökosystemischen Ansatzes wird also von der Vorstellung ausgegangen, dass psychomotorische Förderung ein Prozess ist, der fließend in therapeutische Interventionsformen übergeht. Der therapeutische Prozess zwischen dem Kind (dem Klienten) und dem Förderer (dem Therapeuten) in einem Dialog zwischen den beiden hängt auch von der Qualität und den Formen der Interaktion ab und wird zugleich vom Lebenskontext der Agierenden und den Zielen sowie den Inhalten des Prozesses mitbestimmt. Natürlich kann es zu Problemen kommen, wenn zwei Praktiker mit völlig unterschiedlichen Modellvorstellungen gemeinsam arbeiten – z. B. der eine mit einem klassischen medizinischen Modell im Kopf und der andere mit einem vernetzten systemischen Modell. Auch hier ist Verständnis füreinander nötig. Ohne eine Abklärung der jeweiligen therapeutischen und diagnostischen Vorstellungen kann es bei der Zusammenarbeit von zwei oder mehreren Therapeuten nicht gehen. Diese Abklärung sollte vor dem Beginn einer Förderung oder Therapie stehen. Dabei kann man nicht sofort einen vollen Erfolg der Abstimmung der therapeutischen und pädagogischen Konzeptionen erwarten. Wichtig ist jedoch, dass jeder um Vor- und Nachteile der eigenen Methode weiß und v. a. darum, mit welchen speziellen persönlichen Vorlieben der Einsatz des Denkmodells in der Praxis mit der Therapie verbunden ist. Erfahrene Therapeuten greifen eher zu einer Methodik, die ihnen auch persönlich leichter fällt als zu Methoden, die den Möglichkeiten ihrer Person eher fern stehen, oder ganz einfach: Wenn ich mich als älterer Psychomotoriker nicht mehr so ganz geeignet und fit für eine psychomotorische Praxis finde, dann greife ich eher auf verbale Elemente zurück oder widme mich der emotionalen Seite des Kindes. Jeder Therapeut realisiert diejenigen Seiten an sich besonders intensiv, die ihm leicht fallen und favorisiert sie. Das Einnehmen einer anderen Sichtweise sollte nun nicht gleichzeitig heißen, die selbst mit Mühe gefundene (systemische) Sichtweise auch gleich als die überlegene oder bessere darzustellen. Die Anerkennung der Tatsache, dass man auch mit „alten“ Methoden sinnvoll arbeiten und positive Ziele erreichen kann, fällt aber gerade jüngeren Therapeuten oft nicht leicht. Ich muss für meine Praxis sehen, mit welchen Methoden ich zufriedenstellend arbeiten kann – und diese Überlegung kann mir niemand abnehmen. Es gibt eben nicht das Rezept für eine auf Dauer unveränderbare Form der Förderung und Therapie. Ob die weitreichenden Ziele einer systemisch orientierten Therapie alle in einer Förderung angestrebt werden sollten, darüber kann man geteilter Meinung sein. Soll-
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| Teil V: Interventionen ten Psychomotoriker als halbausgebildete Laien-Familientherapeuten in Familien mit Problemen im Umgang mit einem hyperaktiven Kind tätig werden? Sicher nicht, aber die Perspektive aus der heraus man sich mit dem Kind und seinen Lebensmöglichkeiten beschäftigt, sollte so weit(sichtig) wie möglich sein. 20.5.2 Der psychomotorische Dialog als Prinzip psychomotorischer Förderung Die Wirkung einer psychomotorischen Intervention stellt sich als Ergebnis einer Kommunikation zwischen dem oder den Klienten und dem oder den Therapeuten dar – dem psychomotorischen Dialog. Zusätzlich spielt die vom Therapeuten mit dem Kind zusammen gewählte Aufgabenauswahl, also die Inhalte der psychomotorischen Förderung, eine wichtige Rolle. Bestimmt wird das Ergebnis der Interaktion vom Rahmen des Lebenskontexts der Beteiligten. Unter „Dialog“ wollen wir dabei eine Form der Kommunikation zwischen gleichberechtigten Partnern verstehen. Der Therapeut darf nicht bestimmen wollen, was für den Klienten gut und förderlich sein kann, sondern das Ausgehen von den Stärken des Klienten und von seinen Bedürfnissen ist wirksam. Der „Defekt“ eines beeinträchtigten Kindes spielt dabei eher als empfundene Inkompetenz eine Rolle, nicht aber als Nichtkönnen an sich. Das Kind soll den Weg in die Therapie im Miteinander mit dem Therapeuten anregen und steuern – so weit es dies vermag. Diagnose, Besserwissen und Fachjargon spielen eine geringere Rolle. Indem ich die individuellen Wege des Klienten als seine Stärken betrachte, kann ich ihm Anregungen und Impulse zu einer Optimierung seiner Strukturen geben. Dafür eignet sich das Konzept vom Dialog (Milani Comparetti, 1996 nach Lüpke & Voss, 2000, S. 5). Hier geht es nicht darum, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, sondern im Zusammenspiel mit dem Partner (den Partnern) zu gemeinsamen, nicht vorhersehbaren, auch für die Beteiligten selbst immer wieder überraschenden Resultaten zu gelangen. „Die Helfer geben keine Ziele an ... , sie begleiten, bieten einen Kontext für Erfahrungen, um damit die eigene Entwicklung zu „konstruieren“. Zuhören und Beobachten werden wichtiger als „Machen“ (Lüpke & Voss 2000, S. 5 f.). Was im psychomotorischen Dialog in dieser gemeinsamen Konstruktion einer therapeutisch-pädagogischen Realität geschieht, spielt sich auf sehr verschiedenen Wegen ab. Erstens versucht der Therapeut die Aufmerksamkeit der Klienten zu gewinnen, die Kinder in ihrer Eigenheit anzunehmen und mit ihnen zusammen den Spielraum zu gewinnen, in der Kooperation Inhalte und Methoden der psychomotorischen Interaktion zu wählen, um den Klienten zu helfen, sich wirkungsvoller mit ihrer Lebens- und Lernumwelt auseinander zu setzen und damit eine höhere Zufriedenheit zu erreichen. Die Aufgabe des Therapeuten ist dabei die Hinführung zum Selbermachen zu geben, damit die Kinder Selbstwirksamkeit erleben können. Über das Selbermachen sollen die Klienten in einer Gruppe unzweckmäßiges, schädliches, problematisches Verhalten abbauen und positiv erlebtes Handeln erfahren. Die Hinführung zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist das erste Moment der Psychomotorik. Die harmonisch sich entwickelnde Persönlichkeit des Klienten ist ein wichtiges weiteres Element von Psychomotorik im Dialog.
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Zweitens reagieren die Mitglieder einer therapeutischen Gruppe in besonderer Weise auf die vom Therapeuten gewählten Ziele und Methoden der Intervention und auf die Persönlichkeit des Therapeuten. Diesem sollte bewusst sein, dass Ziele seines Handelns für den Klienten nur im Rahmen seiner Persönlichkeitsstruktur erreichbar sind, d. h. dass jede Therapeutenpersönlichkeit nur bestimmte Ziele (bei ganz bestimmten Klienten) zulässt. Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung spielen dabei eine bedeutende Rolle. Drittens bestimmt der gewählte Inhalt zur Erreichung des Therapieziels den psychomotorischen Dialog. Bestimmte Inhalte erleichtern den Zugang zum Kind, andere wieder erschweren die Zugangsmöglichkeiten. Die Wahl der Inhalte geschieht im Rahmen der biographischen Erfahrungen des Therapeuten und wird vom Lebenskontext mitbestimmt, in dem er sich in seiner Entwicklung befunden hat und befindet. Viertens bestimmt die Wahl des Themas nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form der Kommunikation zwischen Klient und Therapeut in der stattfindenden Interaktion. Es entstehen z. B. sehr unterschiedliche Situationen in Abhängigkeit davon, ob das gewählte Spiel das Kind langweilt oder es motiviert etc. Es besteht ein Unterschied zwischen Kindern, die den Therapeuten mögen (und er sie) und Kindern, die unfreiwillig in eine Gruppe gebracht werden und lieber andere Dinge als gerade Psychomotorik machen würden. Fünftens entspricht nicht immer die Wirkung einer Intervention auch den Absichten und Zielen des Therapeuten: Oft wirkt etwas anders als beabsichtigt. Wenn man in seiner Hypothesenbildung auf eine bestimmte Reaktion des Klienten durch eine psychomotorische Perturbation im Dialog fixiert ist, kann man z. B. übersehen, dass sich eine Reaktion im kognitiven oder motivationalen Bereich einstellt, die – nicht intendiert – aber erfolgreich ist. Paradoxe Wirkungen sind bei einer individuellen Betrachtung des dialogischen Therapieprozesses normal und nicht ungewöhnlich. Sechstens reagiert das System Kind als Human-Ökosystem im Rahmen seiner Handlungskompetenzen nur soweit, wie es sich durch seinen individuellen Lebenskontext (Lebensumfeld) angeregt oder gehemmt sieht. Die Grenzen der Möglichkeiten einer therapeutischen Intervention liegen in diesem Kontext; der Dialog wird durch Kontextfaktoren indirekt oder direkt bestimmt. Siebtens spielt bei dem Versuch die Handlungsstrukturen eines Kindes zu erhellen, der diagnostische Standpunkt eine Rolle: Aus der Förderdiagnostik ist diese Frage der Kontextabhängigkeit der Diagnose bekannt. Es gibt in der Pädagogik wie in der Therapie nur sehr begrenzt die Möglichkeit zu einer objektiven Diagnose. Persönlichkeit, biographische Erfahrungen, Lebenseinstellungen und Menschenbilder bestimmen den sehr subjektiven Prozess einer Diagnose, der den Prozess der Therapie ständig begleiten sollte. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die eingangs dargestellten „klassischen Zielgruppen“ einer psychomotorischen Förderung so nicht aufrecht erhalten werden können, dass sie eher defizitär anstatt ressourcenorientiert formuliert sind. Systemisches Denken impliziert weiter, dass jedes Verhalten, also auch abweichendes oder „störendes“ Verhalten, im Person-Umwelt-Zusammenhang begriffen werden muss. Die Störungsursachen werden deshalb nicht im Individuum lokalisiert, sondern es wird davon ausgegangen, dass Störungen vielfältige Ursachen haben können, die komplex miteinander vernetzt sind und in der Wechselwirkung zwischen dem Kind und seiner Umwelt
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| Teil V: Interventionen anzusiedeln sind. „Störungen“ sind zunächst nichts anderes als Beschreibungen einer Differenz, „die den Unterschied des Andersseins hervorhebt“ (Walthes, 1993, S. 149). Unter diesem Perspektivwechsel zeigen sich kindliche Verhaltensbesonderheiten als Ausdruck einer jeweils besonderen Konfliktlage des Betroffenen (vgl. Amft, Mattner & Gerspach, 2002, S. 18 f.). Störungen sind dementsprechend aus systemischer Sicht keine individuellen Defizite, sondern Systemstörungen. Achtens spielt der Rahmen des gemeinsamen Lebenskontextes von Klient und Therapeut die entscheidende Rolle beim Erreichen von gemeinsam akzeptierten Veränderungen im Rahmen einer psychomotorischen Therapie. Klient und Therapeut leben in einem speziellen Lebenskontext, der ihre Einstellungen und ihr Handeln mit beeinflusst. Ihre jeweiligen Lebensumstände sind wirksam, aber nur bedingt miteinander kompatibel. Zudem haben sie auch einen gemeinsamen Lebenskontext, der die individuellen Lebenskontexte überspannt. Alle Lebenszusammenhänge sind angemessen im Förderplan zu berücksichtigen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass psychomotorische Förderung dem Kind zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit und zu Kontrollüberzeugung verhelfen kann, ihm Erfolge vermitteln, Kompetenzen verleihen und damit sein Selbstkonzept stärken kann. Zugleich wird das Kind sensibel für den Dialog mit einer bedeutsamen Bezugsperson (dem Pädagogen oder Therapeuten), mit der es in der Förderung kooperiert und für die Arbeit in einer Gruppe, die ihm hilft und es unterstützt. Psychomotorische Förderung kann auch positiv den Lebenskontext beeinflussen, d. h. sie kann den Kontakt zu den Eltern verbessern und die Akzeptanz des Kindes durch die Eltern erhöhen. Auf diese Weise kann durch Psychomotorik über die Förderung vielfältiger Kompetenzen über das Medium der Bewegung im Spiel ein wichtiger Beitrag zur Ausbildung eines positiven Selbst- und Weltkonzeptes und zum individuellen Lernen ermöglicht werden.
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Eggert, D. & Wegner-Blesin, N. (2000). DITKA – Diagnostisches Inventar taktil-kinästhetischer Alltagshandlungen von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter. Dortmund: borgmann. Fischer, K. (2000). Psychomotorik und kindliche Entwicklung. Metatheoretische Perspektiven. motorik, 23, 22-26. Hölter, G. (1993). Selbstverständnis, Ziele und Inhalte der Mototherapie. In G. Hölter (Hrsg.), Mototherapie mit Erwachsenen. Sport, Spiel und Bewegung in Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung (S. 12-33). Schorndorf: Hofmann. Hölter, G. (1998). Entwicklungslinien der Psychomotorik im deutschsprachigen Raum. motorik, 21, 43-49. Irmischer, T. (1987). Intentionen, Inhalte und Ziele der Motopädagogik. In Aktionskreis Psychomotorik e.V. (Hrsg.), Lehrbrief: Grundzüge der Motopädagogik (S. 13-20). Lemgo: Eigenverlag. Kavale, K. A. & Mattson, P. D. (1983). One jumped off the balance beam: Meta analysis of perceptual-motor training. Journal of learning disabilities, 16, 165-173 Kiphard, E. J. (1960). Bewegung heilt. Gütersloh: Flöttmann. Kiphard, E. J. (1982). Motopädagogik. Dortmund: verlag modernes lernen. Lüpke, H. v. & Voss, R. (2000). Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Neuwied: Luchterhand. Moser, T. & Christiansen, K. (1997). Psykomotorisk trening og kognitivt funksjonsniva hos barn – et treningseksperiment. Tonsberg: Hogskolen i Vestfold, rapport 6/97, 95 Seewald, J. (1993). Entwicklungen in der Psychomotorik. Praxis der Psychomotorik, 18, 188193. Walthes, R. (1993). Störung zwischen Dir und mir. Grenzen des Verstehens, Horizonte der Verständigung. Frühförderung interdisziplinär, 4, 145-155. Zimmer, R. (1993). Handbuch der Bewegungserziehung. Didaktisch-methodische Grundlagen und Ideen für die Praxis. Freiburg: Herder. Zimmer, R. (1999). Psychomotorik – Motopädagogik – Mototherapie. In R. Zimmer (Hrsg.), Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern (S. 19-25). Freiburg: Herder.
21 Unterrichtsintegrierte Förderung von Aufmerksamkeit Kerstin Naumann und Gerhard Lauth
21.1 Aufmerksamkeitsstörungen im schulischen Kontext Kinder, die Aufmerksamkeitsstörungen in klinisch bedeutsamer Ausprägung aufweisen, erhalten aktuell die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD, American Psychiatric Association, 2000). Betroffene Kinder zeigen die Primärsymptome Unaufmerksamkeit und/oder Impulsivität/Hyperaktivität (siehe ausführlich Lauth & Naumann, in Druck). Der Begriff der Unaufmerksamkeit bezieht sich dabei auf eine mangelnde Stetigkeit und Zielgerichtetheit des Verhaltens der Kinder. Dazu gehört, dass es ihnen schwer fällt, einmal begonnene Aufgaben konsequent zu Ende zu führen. Auch gehen sie kaum planvoll an Aufgaben heran und lassen sich leicht ablenken. Eine übermäßige Impulsivität findet in vorschnellem und unbedachtem Handeln ihren Ausdruck. Die Betroffenen antworten etwa, ohne zuvor nachzudenken, haben Schwierigkeiten zu warten, bis sie an der Reihe sind und schätzen die Konsequenzen ihres Handelns häufig nicht richtig ein. Der dritte Bereich, der oft, aber nicht immer dazu kommt, ist eine starke motorische Unruhe. Nahezu alle Studien, die sich mit der schulischen Leistungsfähigkeit aufmerksamkeitsgestörter Kinder beschäftigen, belegen in wesentlichen Bereichen Minderleistungen gegenüber unauffälligen Schülern. Aufmerksamkeitsgestörte/hyperaktive Kinder wiederholen häufiger eine Klasse, erhalten schlechtere Schulnoten und erreichen geringere Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests (vgl. etwa Tirosh & Cohen, 1998; Busch, Biedermann, Glassner-Cohen et al., 2002), wobei die Kinder, die sich durch ausgeprägte motorische Unruhe auszeichnen, deutlich mehr Schulleistungsprobleme aufweisen als jene ohne Hyperaktivität (Shaywitz & Shaywitz, 1991). Der Anteil der aufmerksamkeitsgestörten Kinder mit Lernstörungen wird auf 20 bis 25 % geschätzt (Pliszka, 2000), während von Lernschwierigkeiten sogar 80 % bis über 90 % der Kinder betroffen sind (Anderson, Williams, McGee & Silva, 1989). Dieses erhebliche Ausmaß an Lernschwierigkeiten ist einerseits auf motivationale Defizite, eine stärkere Beeinträchtigung des Arbeitsverhaltens durch soziale Konflikte und andererseits aber auch auf unmittelbare Lernbeeinträchtigungen der Kinder zurückzuführen (Lauth & Schlottke, 1997). An Sonderschulen kommen Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen so auch deutlich gehäuft vor. Beispielsweise dokumentierten Bussing, Zima, Perwien, Belin und Widawski (1998) in einer Untersuchung an 318 Sonderschülern der zweiten bis vierten Jahrgangsstufe auf der Grundlage von Eltern- und Lehrerbefragungen, dass nahezu die Hälfte dieser ausgewählten Kindergruppe Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen aufwies. Dies übersteigt die in der Allgemeinbevölkerung für diese Altersgruppe angenommene Prävalenzrate (etwa 3–7 %) bei weitem. Anzunehmen ist des Weiteren, dass der Anteil von Kindern mit subklinischer Störungsausprägung unter den Sonderschülern noch weitaus höher einzuschätzen ist.
Kapitel 21: Unterrichtsintegierte Förderung von Aufmerksamkeit | 329
21.2 Lernen und Aufmerksamkeit Beim Lernen handelt es sich um einen Prozess, der nicht direkt beobachtbar ist, sondern nur aus seinem Ergebnis erschlossen werden kann. Bezogen auf das schulische Lernen sind hier Testleistungen, mündliche Beiträge zum Unterricht oder die erfolgreiche Anwendung von vorgetragenen Inhalten zu nennen. In der wissenschaftlichen Definition bezeichnet der Begriff eine überdauernde Änderung des Verhaltens oder der Verhaltensmöglichkeiten, die auf wiederholte Erfahrungen des Lernenden in gegebenen Situationen zurückgehen (Hilgard & Bower, 1981). Zu unterscheiden ist zwischen implizitem (unbeabsichtigtem) und intentionalem (gezieltem) Lernen. Implizites Lernen geschieht, ohne dass der Lernende eine erklärte Absicht hat und ohne dass ihm ein gezieltes Lernangebot gemacht wird. Intentionales Lernen bezeichnet dagegen einen aktiven, konstruktiven und zielgerichteten Vorgang, der dem Aufbau von Wissen und dem Erwerb von Fertigkeiten dient (Glaser, 1991). Beim Lernen im schulischen Kontext handelt es sich typischerweise um ein eher absichtsvolles und „höheres“ Lernen (z. B. lernen, eine Fremdsprache zu sprechen, zu rechnen, ein Musikinstrument zu spielen). Dieses Lernen ist an vielfältige Voraussetzungen gebunden. Dazu zählen unter anderem Vorwissen, ein angemessenes Instruktionsverständnis, funktionierende Gedächtnisprozesse und in hohem Maße ein geeignetes Aufmerksamkeitsverhalten des Lernenden (Zielinski, 1998). Im Allgemeinen unterscheidet man folgende Formen von Aufmerksamkeitsverhalten (Heubrock & Petermann, 2001): selektive Aufmerksamkeit (schnelle und zuverlässige Fokussierung auf relevante Reize), geteilte Aufmerksamkeit (Aufteilung der Aufmerksamkeit auf zwei oder mehr Anforderungen, vor allem bei täglichen Routineanforderungen), Daueraufmerksamkeit bzw. Vigilanz (Aufrechterhaltung eines ausreichenden Aktivierungsgrades) und kurzfristige Aufmerksamkeitsaktivierung (engl.: alertness). Das Aufmerksamkeitsverhalten in den genannten Formen dient einer gezielten und effektiven Informationsverarbeitung sowie der Reaktion auf aktuelle Anforderungen. Darüber hinaus erlaubt es, eine große Menge an Umwelterfahrungen aufzunehmen und zu kategorisieren (Lauth & Hänsgen, 2004). Als wichtigste Form der Aufmerksamkeit für das schulische Lernen gilt die selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit. Das Ziel von selektiver Aufmerksamkeit besteht darin, sich einer Sache intensiv zu widmen und andere Dinge, die sich ebenfalls aufdrängen, unbeachtet zu lassen. Sie orientiert sich an eigenen Bedürfnissen, Zielen sowie Situationsnotwendigkeiten. Selektive Aufmerksamkeit entscheidet darüber, was Beachtung findet und was nicht, im Sinne von „auswählen“, „hervorheben“, „sich auf etwas richten“, „sich zuwenden“, „anderes vernachlässigen“, „flüchtig mustern“, „als unwichtig verwerfen“, „als uninteressant übergehen“. Die Fähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit ist mit Absichten, Entscheidungen sowie der Wahrnehmung einer Situation verbunden und hängt sehr von Vorerfahrungen ab. Folglich ist sie auch ihrerseits durch Lernprozesse beeinflussbar und damit entwicklungsfähig. Anfang der 90er Jahre wurden erstmals differenzierte Modelle der Aufmerksamkeit vorgelegt, die das Zusammenwirken einzelner Aufmerksamkeitsmechanismen beschreiben (Cohen, 1993; Neumann, 1992). Der folgenden Darstellung liegt das Komponentenmodell der Aufmerksamkeit von Neumann (1992) zu Grunde, das im Wesentlichen auf
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| Teil V: Interventionen experimentalpsychologischen Daten beruht. Angenommen werden fünf Komponenten der Aufmerksamkeit: – Verhaltenshemmung. Prinzipiell wäre der Mensch in jeder Situation in der Lage, sehr viele, durchaus unterschiedliche Dinge zu tun. Ein Schüler, der im Klassenraum sitzt, könnte beispielsweise aus dem Fenster schauen und einen Vogel beobachten, ein Papierschiff falten, dem Lehrer zuhören oder über das Fußballspiel am vergangenen Nachmittag nachdenken. Ähnliches ließe sich für jede beliebige Situation berichten. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung für erfolgreiches Handeln, dass eine Auswahl getroffen wird, was, in welcher Reihenfolge und mit welchem Ziel getan wird. Zum Beispiel kann man sich bewusst vornehmen, ein bestimmtes Ziel vorrangig zu verfolgen (etwa ein Schüler nimmt sich vor, die Logik der schriftlichen Division zu verstehen). Hierbei kommen psychologische Hemmungsmechanismen zum Einsatz. – Regulation der geistigen Wachheit. Nicht nur die Ausrichtung der Aufmerksamkeit kann sich unterscheiden, sondern auch deren Intensität: In Situationen, die eine hohe „Intensität“ der Aufmerksamkeit erfordern (etwa das Überqueren einer gefährlichen Straßenkreuzung) ist ein hohes Maß an zentralnervöser Aktivierung („geistiger Wachheit“) erforderlich. In anderen Situationen (etwa beim entspannten Musikhören am Abend) erweist sich ein geringes Maß an geistiger Wachheit als völlig angemessen und hinreichend. Die meisten Situationen im Leben des Menschen erfordern allerdings ein mittleres Maß an geistiger Wachheit, da dieses auch über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden kann. Zum Beispiel wird es einem Schüler nur dann möglich sein, den gesamten Vormittag hinweg dem Unterricht zu folgen, wenn es ihm gelingt, ein mittleres Maß an geistiger Wachheit „einzupendeln“. Dazu muss er sein Aktivierungsniveau steuern und optimal halten, etwa durch Selbstanweisungen („Ich werde jetzt zuhören!“) oder Vorstellungen zur Selbstmotivation („Wie toll wird das sein, wenn ich meiner Mutter eine gute Mathearbeit vorlegen kann.“). – Handlungssicherheit. Nur wenige Situationen im Leben des Menschen bieten optimale und vollkommen störungsfreie Rahmenbedingungen, die es erlauben, sich ungehindert einer Tätigkeit zu widmen. Durch Übung kann man allerdings erreichen, Handlungen störungsfreier auszuführen. Deshalb müssen bedeutsame Fertigkeiten ausreichend geübt werden, um weniger anfällig für mögliche Störungen zu sein. Beispielsweise wird ein Schüler sehr sicher gelernte Vokabeln auch dann wiedergeben können, wenn er ein Gespräch seiner Mitschüler am Nebentisch hört. – Handlungssteuerung durch Informationsauswahl. Gezieltes Handeln setzt Entscheidungen voraus, wobei einige Informationen ausgewählt und andere außer Acht gelassen werden. Der umgangssprachliche Begriff „beachten“ kommt dieser Auswahl von Informationen recht nahe. Die Auswahlprozesse werden durch Zielvorhaben und Erfahrungsmuster beeinflusst. Zum Beispiel orientiert sich die Auswahl von Informationen an den Fragen: „Welche Informationen bringen mich meinem Ziel näher?“ und „Was hat sich bei einer ähnlichen Anforderung als hilfreich erwiesen?“. Somit ist die Fähigkeit eines Kindes, eine geeignete Informationsauswahl zur Handlungssteuerung vorzunehmen, keine konstante Größe, sondern durch Lernerfahrungen veränderbar. – Handlungsplanung. Beim Handeln werden einzelne Fertigkeiten, die der Mensch bereits beherrscht, neu zusammengestellt und in eine sinnvolle und häufig neue Reihenfolge gebracht. So entstehen neue Handlungsmuster. Das zielgerichtete Handeln
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setzt somit Planung voraus. Beispielsweise muss ein Schüler, der erstmals im Mathematikunterricht Textaufgaben lösen soll, auf Fertigkeiten, die er bereits beherrscht, zurückgreifen (Lesen, Schreiben, Anwendung der Grundrechenarten etc.) und deren Einsatz in geeigneter Weise strukturieren (etwa zunächst die Aufgabe durchlesen, wesentliche Größen herausschreiben, eine Rechenoperation durchführen, das Endergebnis sprachlich formulieren). Dabei werden mehrere Teilhandlungen durch einen gemeinsamen Handlungsplan gesteuert. „Allgemein hat Handlungsplanung die Funktion, Verhalten ohne Lenkung durch äußere Reize“, gegebenenfalls sogar gegen Reaktionstendenzen, die durch äußere Reize motiviert werden, zu ermöglichen (Neumann, 1996, S. 75). Damit ist sie ein zentrales Instrument der Selbstregulation. Bei der Aufmerksamkeit handelt es sich also keineswegs um eine psychophysiologische Komponente, die sich der Ausführung einer Tätigkeit lediglich zugesellt, sondern um eine komplexe Handlung. Diese Sichtweise wird durch neuropsychologische Befunde gestützt, die deutlich machen, dass verschiedene Instanzen des Gehirns zusammenarbeiten, um „Aufmerksamkeit“ zu erzeugen. Im Einzelnen sind daran vor allem Regionen des limbischen Systems beteiligt, die für das Gedächtnis, die Auswertung von Sinneseindrücken, die Entscheidungsfindung sowie die Aufnahme und Beendigung von Verhaltensweisen zuständig sind (Andreasen, 1990, 137 ff.). Insgesamt arbeiten zahlreiche kortikale und subkortikale Strukturen zusammen, wobei die „Fäden“ im Frontallappen zusammenlaufen. So kann die Handlungsplanung im Wesentlichen dem Frontalhirn zugeschrieben werden (Cohen, 1993; Tucker & Derryberry, 1992). Hier wird letztlich über die Handlungsschritte und die Durchführung oder Beendigung von Verhaltensweisen entschieden. Hinsichtlich jeder der oben dargestellten Komponenten kann es zu Störungen kommen, wenn die betreffenden Mechanismen nicht voll entwickelt oder in ihrer Funktionsfähigkeit herabgesetzt sind. In der Tat lassen sich die meisten, im Alltag auffallenden Störungen des Aufmerksamkeitsverhaltens den postulierten Komponenten zuordnen. Zum Beispiel gelingt es einem Schüler nicht ... – sich vorrangige Ziele zu setzen und diese auch konsequent zu verfolgen (etwa durch Strategien der Handlungsplanung wie Zeiteinteilung), – langfristig eine geeignete Reaktionsbereitschaft aufrecht zu erhalten (etwa durch Mobilisierung von Anstrengungsreserven, Einsatz von Selbstanweisungen), – ein hinreichendes Maß an Handlungssicherheit zu entwickeln (etwa durch gezieltes Üben z. B. unter Einsatz von Memoriertechniken), – angemessene Entscheidungen darüber zu treffen, welche der Umgebungsreize als handlungssteuernd ausgewählt und welche außer Acht gelassen werden sollten (etwa durch den Einsatz von Strategien der Informationsentnahme wie selbstgerichtete Fragen), – vorhandene Fertigkeiten zu neuen Handlungsmustern zusammenzusetzen (etwa durch den Einsatz von Problemlösestrategien). In all diesen Fällen sind unmittelbare Beeinträchtigungen des schulischen Lernens zu erwarten, etwa erscheinen den Kindern Lösungsperspektiven nicht prägnant, ihre Lernmotivation sinkt auf Grund häufiger Misserfolgserlebnisse, Wissensinhalte wer-
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| Teil V: Interventionen den nur flüchtig erlernt und rasch wieder vergessen, die Kinder verwenden nur wenig Mühe darauf, einer Aufgabenstellung die relevanten Informationen zu entnehmen und einen Lösungsplan zu entwerfen. Insofern lassen sich aus dem Komponentenmodell Ansatzpunkte für Fördermaßnahmen ableiten, die vor allem auf eine Verbesserung von Fertigkeiten der Handlungsregulation und -planung sowie eine Verbesserung der Handlungssicherheit zielen. Während bei klinisch beeinträchtigten Kindern in aller Regel eine multimodale Therapie unter Einbeziehung eines kindzentrierten Einzel- bzw. Kleingruppentrainings, einer Eltern- und Lehreranleitung sowie gegebenenfalls auch medikamentöser Behandlung angezeigt ist, kann zur Unterstützung lernschwacher Kinder mit subklinischer Störungsausprägung eine schulzentrierte Förderung bereits hinreichende Verbesserungen des Aufmerksamkeitsverhaltens erbringen. Nähere Angaben zur psychologisch-therapeutischen Intervention sind bei Lauth und Naumann (in Druck) zu finden. Im Folgenden werden dagegen schwerpunktmäßig unterrichtsintegrierte Fördermöglichkeiten aufgezeigt.
21.3 Unterrichtsintegrierte Förderung Für Kinder ab dem Schulalter werden zur Intervention bei Aufmerksamkeitsdefiziten und motorischer Unruhe Maßnahmen empfohlen, die auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien basieren, insbesondere operante Verfahren (vgl. u. a. Barkley, 2006; Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2000), Selbstinstruktionstrainings und Verfahren des Selbstmanagements (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 1999). Die Begründung der kognitiv-verhaltensbezogenen Maßnahmen fußt in direkter Weise in aktuell anerkannten Erklärungsmodellen entsprechender Beeinträchtigungen. So betrifft ein grundlegender Bedingungsfaktor des aufmerksamkeitsgestörten und unruhigen Verhaltens die Regulation der zentralnervösen Aktivierung (vgl. Komponentenmodell der Aufmerksamkeit, 21.2). Demnach wird bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen als elementare Beeinträchtigung angenommen, dass sie ihre zentralnervöse Aktivierung (quasi ihre „geistige Wachheit“) nicht oder nur unzureichend regulieren können, woraufhin es zu Phasen von zentralnervöser Untererregung kommt (vgl. etwa Roth, Schlottke & Klepel, 1992; Lauth & Schlottke, 2002). Dieses grundlegende Defizit wirkt sich einschränkend auf die Verhaltensregulation aus, was seinerseits zu den beobachtbaren Verhaltensäußerungen (etwa geringe Ausdauer bei der Aufgabenbearbeitung, vorschnelles Handeln, unruhiges Verhalten) führt. Hier setzen nun strukturierende Hilfsmaßnahmen (vgl. Abschnitt b, unten) an, da sie den Kindern die Regulation ihrer Handlungen erleichtern. Die Anleitung zur verbalen Handlungsregulation (vgl. Abschnitt c, unten), dient im Weiteren dem Aufbau eigener Selbstregulationsfertigkeiten der Kinder. Die Effizienz operanter Maßnahmen wird mit der Inhibitionstheorie in Verbindung gebracht. Sie besagt, dass sich kortikal untererregte Personen aufgrund einer Schwäche, unbelohntes oder bestraftes Verhalten zu unterdrücken, weniger verstärkungskontingent verhalten. Generell weisen sie eine vergleichsweise niedrige Konditionierbarkeit auf. Hieraus folgt für die Förderung betroffener Kinder, dass die Konsequenzen für erwünschtes bzw. unerwünschtes Verhalten nachhaltiger, konsistenter und deutlicher als bei unauffälligen Kindern erfolgen müssen, damit sich ein Lerneffekt
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einstellt. Demnach sollte das Verhalten der Kinder durch häufige, prägnante und zeitnahe Rückmeldungen (vor allem Belohnungen) gesteuert werden (vgl. Abschnitt d, unten). Die genannten Maßnahmen sollten mit den wichtigsten Lehrern eines betroffenen Kindes im Zuge einer Verhaltensberatung erarbeitet und schrittweise realisiert werden (vgl. Borg-Laufs & Brack, 2001). Für diese Kooperation bieten sich folgende Inhaltsbereiche an (vgl. Naumann, 2005): a) Die Vermittlung grundlegender Kenntnisse. Als Grundlage für eine gezielte Förderung der betroffenen Kinder muss den Lehrern in einem ersten Schritt Wissen über die Themen „Aufmerksamkeit“ und „Störungen des Aufmerksamkeitsverhaltens“ vermittelt werden. Dabei wird eine verhaltensnahe Interpretation der Schwierigkeiten angestrebt. Diese Sichtweise erleichtert es, konstruktive Ziele zu bestimmen und im Unterricht zu verfolgen (z. B. das Verhalten des Kindes durch prozessorientierte Hilfen steuern anstatt vorrangig fehlerhafte Lösungsversuche zu korrigieren). Ferner erhalten Lehrer eine Einführung in die Prinzipien der Verhaltensanalyse. Anhand von Beispielen aus der Unterrichtspraxis wird herausgearbeitet, welche Situationen für das betroffene Kind besonders schwierig sind und welche bereits zufriedenstellend gelingen. Diese Situationen werden zusammen mit den Lehrern hinsichtlich der vorausgehenden und nachfolgenden Konsequenzen des Problemverhaltens analysiert, um ein verhaltensorientiertes Denken anzuregen. b) Die Strukturierung von Lern- und Unterrichtssituationen durch den Lehrer. Dieser Themenbereich umfasst Interventionen, die dem aufmerksamkeitsschwachen Kind die Steuerung seiner Aktivitäten erleichtern, indem es klare Orientierungsmöglichkeiten erhält. Grundlegend dafür ist eine förderliche Situationsgestaltung. Beispielsweise wird der Sitzplatz eines Schülers in Pultnähe verlegt, damit der Lehrer das Kind ohne größeren Aufwand beobachten und ein Abschweifen „im Ansatz“ unterbrechen kann (etwa durch Blickkontakt, vereinbarte Handzeichen). Des Weiteren beziehen sich strukturierende Maßnahmen auf die inhaltliche Präsentation des Unterrichtsmaterials und deren optische Gestaltung. Der Lehrer wird z. B. längere Aufgaben für das aufmerksamkeitsschwache Kind in kürzere Abschnitte einteilen, Schlüsselwörter in schriftlichen Aufgabenstellungen hervorheben und Zeigehilfen (Lesezeichen, Abdeckblätter) einsetzen. Aber auch die Einführung von immer wiederkehrenden, täglichen Ritualen und wenigen Verhaltensregeln sind wichtige Elemente bei der Etablierung eindeutiger und stützender Rahmenbedingungen. Dazu kann z. B. ein Ritual für den Neubeginn nach der großen Pause (kurze Entspannungsübung o. ä.) zählen. c) Die Verbesserung der Lernaktivitäten des Kindes. Als Konsequenz der häufig defizitären Informationsverarbeitung aufmerksamkeitsschwacher Kinder, bietet es sich des Weiteren an, die Förderung grundlegender Operatoren, wie etwa „genaues Hinschauen“, „systematisches Beschreiben“, etc. in den Unterricht zu integrieren. Diesem Zweck dienen Übungsphasen, in denen die Kinder aufmerksamkeitsrelevante Aufgaben wie Zuordnungs- und Vergleichsaufgaben unter gezielter Anleitung bearbeiten. Ausschlaggebend ist hierbei die Demonstration des förderlichen Verhaltens (etwa sorgfältige visuelle Analyse einer Bildvorlage, systematisches Nacherzählen einer Geschichte) durch den Lehrer oder kompetente Kinder. Das jeweilige Modell spricht seine Gedanken und Strategien bei der Aufgabenlösung laut aus und gibt somit
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| Teil V: Interventionen lösungsrelevante Kognitionen beispielhaft vor (kognitives Modellieren). Die Schüler werden angeregt, das konstruktive Lösungsverhalten schrittweise zu übernehmen und ihr Handeln sprachlich anzuleiten. Vor allem bei komplexeren Lernleistungen sind Fertigkeiten der Handlungsorganisation wie „Ziele bestimmen“ oder „Vorausplanen“ von fundamentaler Bedeutung. Da aufmerksamkeitsschwache Kinder in geringerem Maße als unauffällige über metakognitive Fertigkeiten verfügen, greifen sie weit seltener auf solche Vorgehensweisen zurück. Um diese Defizite im Rahmen des Unterrichts abzubauen, können Elemente aus standardisierten Trainingsprogrammen zur Vermittlung kognitiver Fertigkeiten (etwa Lauth & Schlottke, 2002) für die Großgruppe adaptiert werden. Im Einzelnen erlernen die Kinder dabei eine Serie von Selbstinstruktionen, die den Weg einer erfolgreichen Problemlösung nachzeichnen (u. a. „Ich fange jetzt an!“, „Was ist meine Aufgabe?“, „Halt-Stop-Überprüfen!“). Diese Maßnahme wird in der Regel durch den Einsatz von Symbolkarten, die relevante Selbstinstruktionen bildhaft veranschaulichen, unterstützt. d) Verhaltensmodifikation. Unter dem Thema „Kontingenzmanagement“ erhalten die Lehrer Informationen über die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit positiver Verstärkungen zur gezielten Lenkung des Schülerverhaltens. Mit ihnen werden Möglichkeiten besprochen, wie sie die Kinder im Unterricht für erwünschtes Lernverhalten möglichst zeitnah, häufig, konsistent und prägnant verstärken können (vgl. Barkley, 1994). Zur Verbesserung der Motivation aufmerksamkeitsschwacher Schüler ist es zudem unverzichtbar, dass die Lehrer lernen, auch ansatzweise Verbesserungen zu erkennen und diesen Beachtung zu schenken, ggf. unter Zuhilfenahme täglicher Aufzeichnungen. e) Die Zusammenarbeit mit Eltern. Schließlich werden die Lehrer zu einem regelmäßigen Informationsaustausch mit den Eltern und nach Möglichkeit zur Verabredung gemeinsamer Maßnahmen angeregt (etwa wöchentliche Telefonate, das Abzeichnen einer Hausaufgabenliste, Aufarbeitung von Lernrückständen). Als besonders hilfreich erweist sich zum Beispiel die Zusammenarbeit bei der Umsetzung eines Verstärkerplanes, wobei der Lehrer das schulische Lernverhalten mit Wertmarken oder Symbolen versieht und die Eltern dafür vereinbarte Belohnungen vergeben. Diese Aufgabenteilung erscheint besonders vorteilhaft, da die Eltern für das Kind von herausragender sozialer Bedeutung sind und somit über erfolgversprechende Verstärkungsmöglichkeiten verfügen, wie z. B. zusätzliche Unternehmungen mit der ganzen Familie. Die Effizienz schulzentrierter Interventionen zur Förderung aufmerksamkeitsgestörter/ hyperaktiver Kinder wurde im englischen Sprachraum intensiv untersucht. Eine groß angelegte Meta-Analyse zu diesem Thema legten DuPaul und Eckert (1997) vor. Hierzu wurden die Ergebnisse von insgesamt 63 Evaluationsstudien identifiziert und zusammenfassend ausgewertet. Die Resultate lassen ein günstiges Bild der in diesem Bereich bestehenden Einflußmöglichkeiten erscheinen. So ist die durchschnittliche Effektstärke für Veränderungen in den abhängigen Verhaltensmaßen – unabhängig vom experimentellen Design – positiv und signifikant (Spektrum: von .45 für Kontrollgruppen-Designs bis 1.16 für Einzelfallstudien). Kontingenzmanagement und die Unterrichtsgestaltung
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betreffende Interventionen (z. B. Verwendung markanter Hinweisreize, klar strukturierte Aufgaben) erweisen sich dabei sogar noch als effektiver zur Verhaltensänderung als kognitiv-orientierte Interventionen (z. B. Vermittlung von Selbstinstruktionen). Die vorliegenden Forschungsergebnisse betonen folglich den kompensatorischen Charakter eines (in Richtung stärkerer Handlungsstrukturierung) veränderten Lehrerverhaltens. Offenbar wird hierdurch ein Prozeß in Gang gesetzt, der in einem Ausgleich defizitärer Selbstregulationsfähigkeiten der Kinder resultiert (vgl. Barkley, 2006). Bislang liegen im deutschsprachigen Raum bereits schulzentrierte Trainingsprogramme vor, die – zumeist basierend auf Methoden des Selbstmanagements und der kognitiven Handlungssteuerung – einzelne Förderschwerpunkte in den Vordergrund stellen. So vermittelt etwa das Aufmerksamkeitstraining von Schöll (1997) metakognitive Strategien und Techniken, die sich vor allem für Arbeitsphasen eignen, in denen Schüler aufgefordert sind, allein und schriftlich zu arbeiten, z. B. Klärung von Arbeitsaufträgen („Weiß ich, was ich arbeiten soll?“). Das übergeordnete Ziel des Trainingsprogrammes von Krowatschek (2002) ist dagegen die Verbesserung des Selbstkonzeptes der Kinder. Die Trainingsschwerpunkte bestehen hier demnach in einer Förderung der Selbstwahrnehmung und sozialen Wahrnehmung (u. a. Sensibilisierung für Gefühle) sowie der Selbstakzeptanz und Akzeptanz anderer. Hierzu stellt das Trainingsprogramm insgesamt 40 Übungen bereit, die sowohl in der Schulklasse wie auch im Rahmen von therapeutischer Arbeit eingesetzt werden können. Das „Training zur Steigerung der Aufmerksamkeit bei Problemlöseprozessen“ (Drewlani, Eichholz-Schumann, Haupt, Lohr & Zapf, 1996) beinhaltet eine Adaption des Aufmerksamkeitstrainings von Lauth & Schlottke (in seiner Fassung von 1993) für die Großgruppe und zielt insbesondere auf die Vermittlung grundlegender Operatoren und handlungsregulierender Selbstinstruktionen. Dazu werden spezielle Übungsmaterialien zur Verfügung gestellt. Die vorliegenden Programme haben insgesamt überwiegend den Charakter von kindzentrierten Trainings, die im schulischen Kontext durchgeführt werden. Was noch weitgehend aussteht ist hingegen ein breit angelegtes, didaktisch gut aufbereitetes und standardisiertes Trainingsprogramm zur Lehrerfortbildung, das die Lehrkräfte befähigt, sowohl therapeutische Maßnahmen (etwa die Vermittlung von Selbstinstruktionen) im Unterricht aufzugreifen wie auch den laufenden Unterricht für betroffene Kinder förderlicher zu gestalten (etwa durch strukturierende Maßnahmen, Einführung von Ritualen, geeignete Sitzplatzwahl etc.).
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Kapitel 21: Unterrichtsintegierte Förderung von Aufmerksamkeit | 337
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22 Motivationsförderung und Attributionstraining Johann Borchert Im schulischen Kontext werden in der sonderpädagogischen Psychologie die Begriffe Leistungs- und Lernmotivation, von der Sonderpädagogik eher der Terminus Interesse favorisiert, wenn es um Motivation geht. In Anlehnung an Rheinberg und Krug (1999) ist allen Begriffen gemeinsam, dass Personen – Ziele vor Augen haben, die erreicht werden sollen, – sich deshalb bemühen und anstrengen und – sich durch andere Reize nicht ablenken lassen. In der Literatur werden weitere Begriffe wie „Wille“ (Volition) oder Anstrengungsvermeidung (vgl. Rollett & Bartram, 1997) diskutiert. Forschungen zu diesen Konstrukten wurden eher selten an Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder an Sonderschulen gewonnen (vgl. Rudolph, 2003).
22.1 Definitionen und Verlauf Motivation ist am ehesten als Interaktion, als kurzfristiger Prozess eines zielgerichteten Handelns verstehbar. Ein Motiv hingegen ist im Sinne eines überdauernden Persönlichkeitsmerkmals zu definieren, z. B. als Wunsch noch hoher Leistung. Zwar gibt es demnach viele unterschiedliche Motivationen, aber vergleichsweise wenige Motive. Mit Leistungsmotivation ist die Auseinandersetzung mit einem Tüchtigkeitsmaßstab oder das Bestreben gemeint, „die eigene Tüchtigkeit in all jenen Tätigkeiten zu steigern, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält, und deren Ausführung entweder gelingen oder misslingen kann“ (Heckhausen, 1965, S. 604). Der für die Motivationsförderung wichtige Zusammenhang zwischen eigenem Bemühen und der Freude über Leistungserfolge wird hergestellt: Erfolge werden gesucht, Misserfolge möglichst gemieden. Lernmotivation ist die „Bereitschaft der Person, bestimmte Lernaktivitäten vornehmlich deshalb auszuführen, weil sie sich von ihnen Lernzuwachs verspricht“ (Rheinberg & Fries, 1998, S. 168). Ziel ist ein Kompetenz- und Lernzuwachs in Lernsituationen. Unterschieden wird zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation. Erfolgt eine Kontrolle kindlichen Verhaltens von außen (z. B. durch materielle Belohnungen), liegt eine extrinsische Motivation vor, da das Verhalten erst aufgrund von Belohnungen erzeugt worden ist. Der Zugang zu unmotivierten Kindern ist über materielle Belohnungen oder Token (u. a. Wertmarken, Chips) zu suchen, indem für Leistungen vorübergehend Belohnungen vergeben werden. Lerngeschichtlich entsteht offenbar die extrinsische vor der intrinsischen Motivation. Mit dem Begriff der Attribution – es handelt sich dabei meist um ein typisches, innerliches Begründungsmuster für Erfolge bzw. Misserfolge – ist es in diesem Zusammenhang möglich, die vom Individuum vermuteten Ursachen für eigenes und fremdes Handeln und damit für auftretende Handlungserfolge bzw. -misserfolge zu erfassen: Während sich erfolgsgewohnte Kinder (in Übereinstimmung mit ihren bisherigen Lern
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erfahrungen) auftretende Erfolge mit großer Begabung und den eigenen Anstrengungen „erklären“, attribuieren misserfolgsgewohnte Kinder ausbleibende Erfolge mit ihren unzureichenden Fähigkeiten (siehe auch Tab. 1). Wird die Hinwendung zu einem Lerngegenstand z. B. aus Freude an der Betätigung gesucht, liegt bereits eine intrinsische Motivation und damit selbstbestimmtes Lernen vor. Hohe intrinsische Motivation vermag kognitive Defizite zu kompensieren, ein Befund, der insbesondere für Förderschulkinder bedeutsam ist. Unterläuft Lehrkräften allerdings der Fehler, intrinsisch bereits motivierte Schüler für ihr Verhalten extern zu belohnen, vermindert sich die intrinsische Motivation, insbesondere, wenn Lehrerbelohnungen als Versuch einer Kontrollausübung erlebt werden: Das Gefühl der Kinder, über äußere Belohnungen kontrolliert zu werden, reduziert das Gefühl selbstbestimmten Handelns – zusätzliche externe Verstärkungen können sich bei bereits vorhandener intrinsischer Motivation demnach ungünstig auswirken (s. Abb. 1).
hoch Selbstbestimmung
internal motiviert external motiviert
unmotiviert
niedrig
gering
Anreiz der Lerninhalte
hoch
Abbildung 1: Zusammenhänge zwischen Lerninhalten, Selbstbestimmung und Lernmotivation (in Anlehnung an Prenzel, 1997)
Eine wichtige Komponente der intrinsischen Motivation ist das Interesse (Schiefele & Schiefele, 1997). Interessen sind gegenstandsspezifisch (Krapp, 1998), d. h. ein Lerngegenstand kann hohe oder geringe Attraktivität besitzen. In den Interessen werden individuelle Vorlieben und Wertorientierungen erkennbar, die – im Unterschied zur eher rational-reflexiven Leistungsmotivation mit leistungsthematischem Bezug – stets auf spezifische Inhalte und Gegenstände bezogen sind. Gegenstandsspezifität und Wertbezug sind neben der handlungsbegleitenden Freude die beiden entscheidenden Definitionskrite rien des Interessenkonstrukts (Krapp, 1992), d. h. Kinder wiederholen Tätigkeiten mit Freude und ohne äußere Veranlassung. Krapp unterscheidet zwei Interesseformen: Individuelles Interesse: Das Interesse wird in der Regel als ein stabiles, persönlichkeitsspezifisches Merkmal aufgefasst, das zur Vorhersage schulischer Erfolge geeignet ist. Die mittleren Korrelationen zwischen individuellen Interessen und schulischen Leistungen (sowie zwischen Interesse und Fähigkeiten) liegen bei r = .30 (Oerter, 1995). Da allerdings vor der Pubertät die Interessen weniger ausgeprägt sind (auch wenn Vorläuferformen bereits im Vorschulalter beobachtbar sind), fallen hier die entsprechenden Korrelationen noch niedriger aus. Erst mit zunehmendem Alter stabilisieren sich die Interessen, wohl auch aufgrund ihrer Bedeutung für das eigene Selbstbild. Interessantheit: Schulische Reizbedingungen, wie z. B. neue Materialien, können interessant gestaltet sein, wobei Wichtigkeit und Interessantheit der Informationen nicht
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| Teil V: Interventionen miteinander korrespondieren müssen. Allerdings führt ein interessant aufbereiteter Stoff oftmals nur dann zu Leistungssteigerungen, wenn die Kinder bereits vorher an den vermittelten Inhalten interessiert waren. Uninteressierte Kinder ließen sich, wie Untersuchungen zum Chemie-, Physik- und Biologieunterricht zeigen (Krapp, 1992), von interessanten Materialien wohl deshalb nicht beeindrucken, weil die angesprochenen Themen den persönlichen Bezug vermissen ließen. Lernprozesse können durch „Interessantheit“ behindert werden, denn wenn z. B. aus „motivationalen“ Gründen spannende Anekdoten in den Unterricht eingefügt werden, so behalten die Kinder langfristig eher die interessanten, u.U. aber unwichtigen Informationen – ein ziemlich unerfreuliches Ergebnis. Dieses Ergebnis ist für die am Unterrichtsbeginn häufig genutzten Einstiegs- und Motivierungsphasen bedeutungsvoll: Ein packender Beginn als methodischer Trick kann das Interesse der Schüler auf lernirrelevante Inhalte lenken und damit den Lernprozess behindern. Zwar korrelieren Interessen und schulische Leistungen (wenn auch gering) miteinander, doch mit zunehmender Schulbesuchsdauer scheint das Interesse der Kinder an den Schulfächern abzunehmen (Spinath, 2002), es steigt aber unmittelbar an, wenn es gelingt, Querbezüge zur Erfahrungswelt der Schüler herzustellen (Krapp, 1998). Da individuelle Interessen von Kindern oft nur partiell im Unterricht eingebunden werden können, kommt die Schule nicht ohne äußere Lernanreize aus, so dass zur Erreichung vorgegebener Lerninhalte oftmals Lernkontrollen und externe Verstärkungen notwendig sind. Schon im Kleinkindalter beginnen die Kinder, sich in ihren Motivationen zu unterscheiden: Bereits das „Selbermachenwollen“ wird als Vorläufer der Leistungsmotivation gesehen und steht im Zusammenhang mit der Neugiermotivation. Mindestvoraussetzung ist, dass durch Handeln ein Effekt erzielt wird, der dann auch als Effekt des eigenen Handelns wahrgenommen werden kann. Eine hohe Neugiermotivation des Kindes ist mit einer besseren kognitiven Entwicklung verknüpft (Oerter, 1995). Bereits im Vorschulalter sind Unterschiede bei den Kindern hinsichtlich ihrer Erfolgs- bzw. Misserfolgsorientierung, von der das individuelle Leistungsverhalten abhängt, zu beobachten. Die Leistungsmotivation entwickelt sich günstig, wenn Kinder sich selbst eine hohe Begabung oder Fähigkeit zuschreiben. Überwiegt bei ihnen hingegen aufgrund zahlreicher Misserfolge die Überzeugung, dass die Mühe der eigenen Anstrengungen nicht lohnt, spricht man mit Seligman (1995) von erlernter Hilflosigkeit. Zur Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Seligman (1995): Werden Menschen mit Konsequenzen, die unabhängig von ihrem Verhalten sind, konfrontiert, so lernen sie, genau eben dies. Eine Motivation zum Handeln ist dann nur minimal entwickelt. Eine Umkehrung dieses empirisch immer wieder bestätigten Befundes bedeutet: Der (hohe) Antrieb zu willentlichen Reaktionen, um nachfolgende Konsequenzen zu kontrollieren, resultiert aus der Erwartung, dass die eigenen Reaktionen entsprechende Konsequenzen erzeugen können. Mit dem Gefühl von Selbstwirksamkeit nimmt die Erfolgszuversicht und damit auch die Leistungsfähigkeit zu. Geringe Selbstwirksamkeit (self-inefficacy, Kontrollverlust) hingegen ist mit Mutlosigkeit und Apathie verbunden, äußere Umstände werden als nicht beeinflussbar erlebt und Hilflosigkeit ist die Folge (Seligman, 1995). Erlernte Hilflosigkeit und die darin enthaltene Misserfolgsorientierung kann mittels „Erfolgsserien“, also mit hohem therapeutischem Aufwand, verändert werden, so dass Kontrolle über das eigene Verhalten und damit „Verursachungserleben“ ermöglicht wird.
Kapitel 22: Motivationsförderung und Attributionstraining | 341
Denn für eine hoch entwickelte Motivation ist mitentscheidend, inwieweit die Ursachen für ausgelöste Effekte im eigenen Handeln lokalisiert werden. Aufgrund der kognitiven Voraussetzungen für die Entwicklung der Leistungsmotivation und des Anspruchsniveaus (d. h. der aufgewendeten Anstrengung) sind Kinder in der Regel ab 3–3 ½ Jahren in der Lage, ihre eigenen Erfolge und Misserfolge einzuschätzen und hierfür das Erleben der eigenen Tüchtigkeit als Ursache mitverantwortlich zu sehen, d. h. den Kindern gelingt es mit zunehmendem Alter immer besser, den für die Entwicklung der Leistungsmotivation so wichtigen Zusammenhang zwischen der eigenen Anstrengung und dem daraus resultierenden Leistungserfolg herzustellen.
22.2 Einige bedeutsame Befunde Hohe und (noch) realistische elterliche Erwartungen an die Selbständigkeit fördern die Leistungsmotivation, insbesondere dann, wenn die Interaktion zum Kind durch emotionale Wärme, Anerkennung und Lob getragen wird. Sind hingegen die hohen Leistungserwartungen an die Kinder mit Überforderung verbunden, bleibt aufgrund gering entwickelter Erfolgszuversicht eine angemessene Leistungsmotivation aus. Oerter (1995, S. 802 f.) berichtet über Befunde, wie Eltern die kindliche Leistungsmotivation fördern können, durch – Engagement, d. h. das elterliche Interesse am Kind, – Unterstützung für autonomes Verhalten, z. B. durch elterliche Anregungen zum eigenen Handeln, – Struktur, d. h. durch die Vorgabe klarer Regeln und Erwartungen. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler schätzt sich offenbar schulisch positiv motiviert ein. Hohe Schulleistungsbereitschaft ist durch spezifisches Lehrerverhalten mitbedingt: Die in der Schulklasse gewährte Autonomie sowie das Interesse der Lehrkräfte am einzelnen Schüler sollten vorhanden sein, wenn die Anstrengungsbereitschaft wachsen soll. Geringe Leistungsmotivation korreliert mit der Höhe der Schulangst und mit niedrigen Schulleistungen jeweils mit ca. r = .30. Ständiger Stress und mangelnde emotionale Stabilität führen entweder zu unrealistisch-überhöhten oder zu niedrigen Zielsetzungen mit entsprechenden Störungen in der Motivation.
22.3 Diagnostik Schnell und ökonomisch einsetzbare Verfahren zur Erfassung der Motivation existieren bisher nicht (vgl. Spinath & Schöne, 2003; Schmalt, 2003). Für ältere Kinder existiert zur Messung der Anstrengungsvermeidung der Anstrengungsvermeidungstest von Rollett und Bartram (1997). Für jüngere Kinder mit eventuellen Leseproblemen ist dieser Test nicht valide, weil er dann eher die Leseleistung als die Anstrengungsvermeidung erfasst. Mit dem Fragebogen zur Erfassung des Attributionsstils (ASF-KJ) von Stiensmeier-Pelster, Schürmann, Eckert und Pelster (1994) können bei Kindern und Jugendlichen (von 8-16 Jahren) die Internalität sowie die Stabilität und Globalität
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| Teil V: Interventionen der Ursachenzuschreibungen nach Erfolg und Misserfolg diagnostiziert werden. Ein Ausweg zur Diagnose der Motivation sind systematische Verhaltensbeobachtungen in unterschiedlichen Situationen: – im Einzel-, Gruppen- und Klassenunterricht (z. B. fehlende Bereitschaft zur Tätigkeitsaufnahme) – in unterschiedlichen Schulfächern – bei der Hausaufgabenanfertigung (z. B. leichte Ablenkbarkeit) – im (motivierenden) Antwortverhalten der Lehrkraft gegenüber Schülern (s.u.). Die Einbeziehung von Zeugnissen, Schulnoten und Klassenarbeiten sowie Daten aus Eltern- und Schülergesprächen können zur Diagnose der Motivation beitragen. Ist die Motivation eines Kindes in unterschiedlichen Situationen gering, nimmt die Validität der Informationen zu. Aufwändiger ist die Untersuchung des Leistungsverhaltens unmotivierter Kinder. Tabelle 1 liefert Hinweise, in welcher Weise sich motivierte und unmotivierte Kinder unterscheiden. So suchen sich unmotivierte Kinder eher zu leichte oder zu schwierige Aufgaben aus – mit der dann für die Kinder ungünstigen Folge, mit einer Aufgabe gar nicht erst beginnen zu müssen. Mit dieser Strategie gelingt es ihnen, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden: Leichte Aufgaben werden natürlich gekonnt, zu schwere sind nicht zu schaffen und werden daher nicht bearbeitet. Tabelle 1: Ein sich selbst stabilisierendes System (nach Rheinberg & Krug, 1999, S. 37) „gute“ Schüler: erfolgszuversichtlich
„schwache“ Schüler: misserfolgsvermeidend
Zielsetzung
realistisch: mittelschwere Aufgaben
unrealistisch: – zu leichte oder – zu schwere Aufgaben
Attributionsmuster
Ursachen des eigenen Erfolgs: – Anstrengung – Kompetenzzuwachs Ursachen des eigenen Misser folgs: – mangelnde Anstrengung – Pech
Ursachen des eigenen Erfolgs: – zu leichte Aufgaben – Glück, Zufall Ursachen des eigenen Misserfolgs: – mangelnde Begabung – Unfähigkeit
Selbstbewertung
positive Gefühle nach Erfolg stärker als negative Gefühle nach Misserfolg: positive Bilanz der Selbstbewer tung
negative Gefühle nach Misser folg stärker als positive Gefühle nach Erfolg: negative Bilanz der Selbstbewer tung
Aus Verhaltensbeobachtungen kann erschlossen werden, ob unmotivierte Schüler sich unrealistische Ziele setzen oder Erfolge und Misserfolge ungünstig interpretieren. Zusätzlich liefert die von Lehrkräften favorisierte Bezugsnormorientierung wichtige Hinweise zur Entstehung einer (mangelnden) Lern- und Leistungsmotivation.
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22.4 Interventionen 22.4.1 Pädagogische Interventionen Motivation und Interesse können sich im Unterricht nur schwer entwickeln, wenn elementare kindliche Bedürfnisse vernachlässigt werden. Darauf hat bereits Maslow (1977) mit der von ihm entwickelten Theorie der menschlichen Bedürfnisse aufmerksam gemacht (s. Abb. 2). Sie macht verständlich, warum Schüler dem Unterricht u.U. nicht folgen können: Hungrige und müde Kinder z. B. – man trifft sie insbesondere in Förderschulen, was dann z. B. ein gemeinsames Frühstück in der Schulklasse sinnvoll erscheinen lässt – sind zunächst darauf aus, ihre physiologischen Bedürfnisse zufrieden zu stellen, bevor sie weitere Bedürfnisse z. B. nach Sicherheit oder Selbstverwirklichung verfolgen können. Mangelbedürfnisse – Physiologische Bedürfnisse – Bedürfnis nach Sicherheit – Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit – Bedürfnis nach Achtung Wachstumsbedürfnisse – Ganzheit – Vollkommenheit – Schönheit usw.
Abbildung 2: Bedürfnishierarchie nach Maslow (1977)
Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen zur Entwicklung von Interessen sind das Bedürfnis nach 1. Autonomie, 2. Kompetenz und 3. sozialer Einbettung (Rheinberg & Fries, 1998). Gezielte Trainingsprogramme zur Förderung von Interessen existieren bisher nicht. Es existiert hingegen eine Reihe von Vorschlägen, wie Lehrkräfte das Interesse der Kinder fördern können. Zunächst erscheint es wünschenswert, so weit wie möglich die bereits vorhandenen Schülerinteressen zu berücksichtigen. Voraussetzung hierfür ist z. B. ein interessant gestalteter Unterricht, in dem bedeutungsvolles Lernen erleichtert wird. Verbindungen zum offenen Unterricht werden deutlich. Ein Vorschlag für interessanten und interessefördernden Unterricht ist die Schaffung günstiger Lernumwelten (vgl. Schiefele & Schiefele, 1997; Hartinger & Fölling-Albers, 2002; Richter & Plath, 2005): – Problembereiche sollten von den Lernenden selbständig erkundet werden, Wahlmöglichkeiten über Lerninhalte und Lernwege sind zuzulassen. – Aufgrund autonomie- und kompetenzunterstützender Anleitungen kann vermitteltes Wissen in Problemfeldern aktiv erfahren werden, die individuelle und lebenspraktische Bedeutsamkeit der Inhalte ist anwendungsbezogen zu vermitteln. – Die Unterstützung kooperativer Lernformen und die Schaffung eines angenehmen Klassenklimas erleichtern die Interessenentwicklung. Vorhandene Interessen sind – insbesondere für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – ein wichtiger Schutzfaktor, weil es zukünftig stärker darum geht, sie auf ein
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| Teil V: Interventionen mögliches Leben ohne berufliche Perspektive angemessen vorzubereiten. Gut entwickelte Interessen gelten nicht nur „als wichtige Komponente gelungener Bildung“ (Krapp, 1998, S. 187), sie können dazu beitragen, auch ohne Beruf die Zeit sinnvoll und ausgefüllt zu gestalten. Rheinberg und Fries (1998, S. 176 f.) unterscheiden zwischen kurzfristigem und langfristigem Vorgehen zur Motivierung. Bei der Anfangsmotivierung ist darauf zu achten, dass – bei der Darbietung des Unterrichtsstoffes universelle Bedürfnisse (wie Neugier oder Autonomiebedürfnis) angesprochen werden, – das Angebot inhaltlich unterschiedlicher Unterrichtsthemen sowie selbstgewählter Arbeitsformen das Problem reduziert, bei nur einem Teil der Schüler auf Interesse zu stoßen, – die Lernsituation weniger durch eine Unterhaltungswertsteigerung als durch Anreize, die in der Tätigkeit selbst liegen, verbessert wird, – Bedingungen wie „sich den Lernstoff selber aussuchen“ oder unmittelbare Rückmeldungen über Erfolge den Motivierungsprozess erleichtern können. In Umkehrung dieser Befundlage hinsichtlich der Interessenentwicklung sollte demnach vermieden werden (vgl. Krapp, 1998, S. 197), den Schülern – minutiös vorzuschreiben, wie sie vorgehen sollten – das Gefühl zu vermitteln, z. B. mittels inadäquater Rückmeldungen kontrolliert zu werden oder – partnerschaftliches Vorgehen zu erschweren. Auch das Schulklima hat Auswirkungen auf die Interessen der Schüler. Ist das Schulklima aufgrund hoher Schülerorientierung sowie niedrigen Leistungs- und Sozialdrucks günstig, werden die generellen Interessen an schulischen Inhalten insgesamt stark gefördert. Ein Befund, der für Berufsschulen bedeutsam lautet: Jugendliche treffen schließlich ihre Ausbildungsentscheidung aufgrund individueller Interessen. Ist das Schulklima hingegen kühl und unfreundlich, sind die Schüler eher an außerschulischen Inhalten interessiert. Gruppenarbeit im Unterricht motiviert zwar in der Regel die Kinder zur verstärkten Mitarbeit, sie kann die Mitarbeit aber auch gefährden (vgl. Hartinger & Fölling-Albers, 2002, S. 132 f.), wenn von den Lehrkräften die Gruppenleistung bewertet wird und sich einige Kinder dann auf die Arbeit anderer verlassen oder stark motivierte Kinder sich ausgebeutet fühlen. Unter- und insbesondere Überforderungen unterstützen eine ungünstige Motivationsentwicklung. Besonders bei lernschwachen und verhaltensauffälligen Schülern ist eine Orientierung an der intraindividuellen Bezugsnorm (Vergleich der Leistungen „mit sich selbst“) wich tig, die interindividuelle (soziale) Bezugsnorm (z. B. Zensuren) ist bei diesen Schülern hingegen aufgrund zahlreicher Misserfolgserfahrungen eher problematisch. Positive Leistungsrückmeldungen im Unterrichtsfach erhöhen nicht nur das individuelle Selbstkonzept, sondern führen auch dazu, dass die Schüler dieses Fach gern mögen. Lehrkräfte müssen allerdings nicht auf eines der beiden Normsysteme festgelegt sein, denn die Berücksichtigung beider Systeme erlaubt ein differenzierendes Vorgehen: Während Schüler mit durchschnittlichen Leistungen am zufriedensten sind, wenn in der Klasse unter
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sozialer Bezugsnormorientierung unterrichtet wird, so sind sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Schüler zufriedener, wenn im Unterricht intraindividuelle Bezugsnormen vorherrschen. Empirische Untersuchungen zeigen aber auch (z. B. Köller, Baumert & Schnabel, 2000), dass die im Unterricht üblichen Noten und Klassenarbeiten im Sinne der sozialen Bezugsnorm die extrinsische Motivation unterstützen und den Aufbau intrinsischer Motivation erschweren – und dass mit zunehmender Schulbesuchsdauer fremdbestimmte, extrinsische Anteile zunehmen (Buff, 2001). Rheinberg und Fries (1998) bezeichnen die Berücksichtigung beider Normen als ein geradezu „naturwüchsiges Trainingsprogramm“. Die Verwendung beider Bezugsnormen spiegelt u. a. die grundsätzliche Einstellung der Lehrkräfte zu ihren Schülern wider, mit unterschiedlichen Folgen für die Betroffenen (vgl. Borchert, 2000). 22.4.2 Lerntherapeutische Interventionen Motivationstrainings sollen den Schülern bei realistischer Zielsetzung den Zusammen hang zwischen eigenen Anstrengungen und den dann verbundenen Leistungserfolgen erfahrbar machen. Anspruchsniveausetzungen etwas oberhalb des individuellen Leistungsniveaus vermitteln dabei wohldosierte Diskrepanzerlebnisse. Leistungssteigerungen sind nach diesem Ansatz vor allem durch vermehrte Anstrengungen, die in der Regel z. B. in einem Trainingsprogramm provoziert werden, zu erreichen. Insbesondere durch die Einübung realistischer Zielsetzungen, die angemessene Selbstbewertung der eigenen Leistung und durch eine angemessene Kausalattribuierung, dem spezifischen Erklärungsmuster für Erfolge oder Misserfolge, ist die Motivation im Grundschulalter zu steigern (zusammenfassend Rheinberg & Krug, 1999; Dresel, 2004). Einüben realistischer Zielsetzungen: Aufgaben, die eine geringe bis mittlere Schwierigkeit haben (d. h. anspruchsvoll, aber noch lösbar sind), eignen sich bei wenig motivier ten Schülern am ehesten zur Steigerung der Motivation. Mit derartigen Anforderungen kann am besten ein Zusammenhang zwischen der eigenen Anstrengung und dem daraus resultierenden Leistungserfolg vermittelt werden, so dass im Verlaufe einer erfolgreichen Förderung die Aufgabenschwierigkeiten gesteigert werden müssen. So ist das Leistungsziel – die Anzahl der richtig zu lösenden Aufgaben (z. B. bei einem 24er Rechenblock) – vom Schüler vor Übungsbeginn einzuschätzen und zu notieren (Orientierung an der intraindividuellen Bezugsnorm). Nach sofortiger Korrektur sind die Bewertung der eigenen Leistung (Selbstbewertung) und die Kausalattribuierung zu erfragen (s. Tabelle 2 und 3). Rheinberg und Krug (1999) variieren die Grundzüge dieses Trainingsprogramms für den Deutschunterricht, das je nach Klassenstufe prinzipiell veränderbar erscheint und nicht nur beim Auswendiglernen von Texten, sondern z. B. bei Satzzeichenübungen (Texten ohne Satzzeichen) anwendbar ist. Grundsätzlich kann das beschriebene Verfahren vor allem bei zu festigenden und zu übenden Unterrichtsinhalten vorgeschlagen werden, auch wenn die bisherigen Trainings nur bedingt zu besseren Schulleistungen führten. Eine mögliche Erklärung für mangelnde Trainingserfolge sehen Rheinberg und Fries (1998) u. a. in einer unzulänglichen Motivation von Lehrkräften, ein derartiges Training ausreichend umsetzen zu wollen: Zahlreiche empirische Befunde zeigen, dass
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| Teil V: Interventionen Tabelle 2: Einüben realistischer Zielsetzungen Mathematik „Ich will möglichst viele Aufgaben lösen. Bevor ich mit den ersten 6 Aufgaben starte, soll ich im voraus angeben, wie viele der ersten 6 Aufgaben ich voraussichtlich richtig lösen kann: Ich kreuze bei „Ziel“ die 1, 2, 3, 4, 5 oder 6 an. Nachdem die gerechneten Aufgaben korrigiert worden sind, trage ich bei „Ergebnis“ ein, wie viele Aufgaben ich richtig gelöst habe“. Ziel:
1 3 + 7 =
2 8 + 1 =
Ziel:
1 7 + 3 = 2 5 + 4 =
3 4 + 2 =
3 6 + 3 =
4 7 + 4 =
4 5 + 1 =
5 1 + 3 = 5 0 + 7 = 6 6 + 2 = 6 8 + 2 = Ergebnis: __________
Ergebnis: __________ Ziel:
Ziel:
1 9 + 1 =
1
6+3=
2 1 + 7 =
2
5+5=
3 3 + 3 =
3
4+3=
4 3 + 7 =
4
2+7=
5 6 + 0 = 5
3+6=
6 1 + 8 = 6
5+4=
Ergebnis: __________
Einüben realistischer Zielsetzungen
Ergebnis: __________
unmotivierte Lehrkräfte den Erfolg von Interventionen erheblich gefährden können. Die Effekte fielen hingegen günstig aus, wenn die Lehrkräfte das Training im Sinne deCharms (1979; s.u.) eigenverantwortlich gestalteten und für ihre besondere schulische Situation individuell veränderten. Eine realistische Einschätzung der eigenen Leistungsmöglichkeiten ist bei lernschwa chen und verhaltensauffälligen Schülern selten. Zu Beginn einer gezielten Förderung unterschätzen sie ihre eigene Kompetenz – und erleben in der Regel aufgrund der von Lehrkräften induzierten Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichem Leistungsvermögen Kompetenz. Die Gründe für den Erfolg und Misserfolg werden abschließend erfragt (Kausalattribuierung). Eine zusätzlich ermutigende, belohnende Rückmeldung durch die Förderlehrkraft unter Hinweis auf richtige Lösungen ist natürlich außerdem hilfreich. Bei Misserfolgen sind neutrale und sachbezogene Äußerungen eher angemessen als (negative) Kritik. Angemessene Selbstbewertung der eigenen Leistung: Durch das in den Tabellen 2 und 3 skizzierte Vorgehen – mehrmals innerhalb einer Förderstunde angeboten – wird eine angemessene Selbstbewertung der eigenen Leistung provoziert. Wenn Kinder positive
Kapitel 22: Motivationsförderung und Attributionstraining | 347
Tabelle 3: Das Einüben realistischer Zielsetzungen, die Erfolgs- bzw. Misserfolgsattribution und die Selbstbewertung der eigenen Leistung im Mathematikunterricht (nach Rheinberg & Krug, 1999) „Ich vergleiche zwischen Ziel und Ergebnis“: Ich hatte immer Erfolg Ich hatte meistens Erfolg Ich hatte meistens Misserfolg
Einüben realistischer Zielsetzungen
Ich hatte immer Misserfolg ............................................................................. „Ich überlege, wieso ich Erfolg oder Misserfolg hatte“: Ich habe das Ziel
richtig gewählt
falsch gewählt Ich habe Glück gehabt
Ich habe mich
Erfolgs- bzw. Misserfolgsattribution
Pech gehabt
richtig angestrengt nicht richtig angestrengt
Ich bin eben
gut
schlecht .............................................................................. „Zum Schluss frage ich mich, ob ich mit meinem Ergebnis zufrieden bin“: sehr zufrieden zufrieden etwas zufrieden
Selbstbewertung der eigenen Leistung
überhaupt nicht zufrieden
Folgen sehen, werden sie besser lernen. Bei realistischer Einschätzung darf der Schüler sich zusätzlich selbst verstärken, indem er sich z. B. einen Chip nimmt. Dabei ist die Selbstverstärkung relativ großzügig zu handhaben und die Orientierung an der eigenen Leistung zu beachten. Kausalattribuierung der eigenen erfolgreichen Leistung: Die Lerngeschichte lern- und verhaltensauffälliger Schüler ist durch häufige Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet. In Förderstunden sollte ihnen aufgrund einsetzender („induzierter“) Erfolge eine Uminterpretation der Lernergebnisse ermöglicht werden, denn bisher seltene Erfolge werden von ihnen mit äußerlichen Faktoren („zu leichte Aufgaben“ oder „Glück“) erklärt; die eigenen Misserfolge hingegen werden von ihnen eher durch mangelnde Begabung erklärt (vgl. Tab. 1). Mittelschwere Aufgaben haben nur bei erfolgszuversichtlichen Schülern den höchsten Aufforderungscharakter, denn sehr leichte Aufgaben werden von ihnen als langweilig, schwierige als unangemessen erlebt und daher gemieden. Misserfolgsgewohnte Schüler hingegen suchen eher zu leichte oder zu schwierige Aufgaben.
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| Teil V: Interventionen Wenn Schüler lernen sollen, ihre Misserfolge mit mangelnder Anstrengung und nicht mit mangelnder Begabung zu erklären, setzt dies voraus, dass die Lehrkraft dies unterstützt und ihre Kommunikation entsprechend ausrichtet. Die Aufgabe der Förderlehrkraft ist es, in Übereinstimmung mit der eigenen Überzeugung die auftretenden Erfolge der Schüler mit „Begabung“, ihre Misserfolge hingegen mit „mangelnder Anstrengung“ zu deuten und zu verbalisieren. Diese Interpretationen sind während der Förderstunde kontinuierlich anzubieten, sie müssten sich aber bereits aufgrund der erlebten häufigen Erfolge bzw. seltenen Misserfolge (wie von selbst) bei den Schülern im Sinne einer Selbstwirksamkeitsüberzeugung einstellen (s. a. Tab. 1). Demnach ist das Verursachererleben der eigenen Erfolge von entscheidender Bedeutung für die Motivation, was u. a. von Seligman (1995) mit zahlreichen Experimenten aus der Hilflosigkeitsforschung bestätigt wird. Emmer, Hofmann und Matthes (2000) haben die skizzierten lerntherapeutischen Elemente in ein umfangreiches „Elementares Training bei Kindern mit Lernschwierigkeiten“ eingebunden. Es beinhaltet (neben einem Lernfähigkeitstraining) ein Motivationstraining mit zwei Trainingsbausteinen, konzipiert für jeweils ca. 2 Kinder und 12 Trainingssitzungen. Das Training startet zunächst mit außerschulischen Materialien (z. B. einem Würfelspiel), ab der 8. Sitzung werden dann verstärkt schulische Inhalte (zunächst Mathematikaufgaben, später z. B. Diktate) eingebunden. Optimierungsinteressierten Lehrkräften ist hinsichtlich der Unterstützung schulischer Motivation zu empfehlen, ihr Unterrichtsverhalten nach dem vorliegenden Modell auszurichten. Sie sollten im Rahmen einer Kleingruppenarbeit konkret und individuell klären, wie die Umsetzung realistischer Zielsetzungen, Kausalattribuierungen und Selbstbewertungen zu realisieren ist („Konzept der erlebten Selbstwirksamkeit“ oder „Origin-Pawn“Konzept von deCharms, 1979). Mit gegenseitigen Rückmeldungen über angemessenes Motivierungsverhalten können sich Lehrkräfte erfolgreich unterstützen, insbesondere dann, wenn eine Umsetzung auf dem Hintergrund der eigenen Lerngeschichte, der jeweiligen Klasse usw. erfolgt. deCharms hat aus seinem berühmt gewordenen dreijährigen Interventionsprojekt mit Lehrkräften über das dabei sich entwickelnde „Origin-Feeling“ (Erleben der Selbstwirksamkeit) berichtet: Nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die von ihnen unterrichteten Schüler erlebten sich im Verlaufe der Zeit in ihrem Handeln als zunehmend autonom, was insbesondere die Setzung eigener Ziele erleichterte und langfristig die schulischen Leistungen verbesserte. Diese Art der Vermittlung ist einer reinen Wissensvermittlung weit überlegen.
Literatur Borchert, J. (2000). Motivation. In J. Borchert (Hrsg.), Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie (S. 703-717). Göttingen: Hogrefe. Buff, A. (2001). Warum lernen Schülerinnen und Schüler? Eine exemplarische Studie. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 33, 157-164. deCharms, R. (1979). Motivation in der Klasse. München: Moderne Verlags-GmbH. Dresel, M. (2004). Motivationsförderung im schulischen Kontext. Göttingen: Hogrefe. Emmer, A., Hofmann, B. & Matthes, G. (2000). Elementares Training bei Kindern mit Lernschwierigkeiten. Training der Motivation. Training der Lernfähigkeit. Neuwied: Luchterhand.
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Hartinger, A. & Fölling-Albers, M. (2002). Schüler motivieren und interessieren. Ergebnisse aus der Forschung, Anregungen für die Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Heckhausen, H. (1965). Leistungsmotivation. In H. Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band II, S. 602-702). Göttingen: Hogrefe. Köller, O., Baumert, J. & Schnabel, K. (2000). Zum Zusammenspiel von schulischen Interessen und Lernen im Fach Mathematik. Längsschnittanalysen in den Sekundarstufen 1 + 2. In U. Schiefele & K.-P. Wild (Hrsg.), Interesse und Lernmotivation. Untersuchung zu Entwicklung, Förderung und Wirkungen (S. 163-181). Münster: Waxmann. Krapp, A. (1992). Konzepte und Forschungsansätze zur Analyse des Zusammenhangs von Interesse, Lernen und Leistung. In A. Krapp & M. Prenzel (Hrsg.), Interesse, Lernen, Leistung. Neuere Ansätze der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung (S. 7-52). Münster: Aschendorff. Krapp, A. (1998). Entwicklung und Förderung von Interessen im Unterricht. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 44, 185-201. Maslow, A. H. (1977). Motivation und Persönlichkeit. Freiburg: Walter. Oerter, R. (1995). Motivation und Handlungssteuerung. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch (S. 758-822). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Prenzel, M. (1997). Sechs Möglichkeiten, Lernende zu demotivieren. In H. Gruber & A. Renkl (Hrsg.), Wege zum Können, Determinanten des Kompetenzerwerbs (S. 32-44). Bern: Huber. Rheinberg, F. & Fries, S. (1998). Förderung der Lernmotivation: Ansatzpunkte, Strategien und Effekte. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 44, 168-184. Rheinberg, F. & Krug, S. (1999). Motivationsförderung im Schulalltag. Göttingen: Hogrefe. Richter, K. & Plath, M. (2005). Lesemotivation in der Grundschule. Empirische Befunde und Modelle für den Unterricht. Juventa: Weinheim. Rollett, B. & Bartram, M. (1997). Anstrengungsvermeidungstest (AVT). Braunschweig: Westermann. Rudolph, U. (2003). Motivationspsychologie. Weinheim: Beltz. Schiefele, U. & Schiefele, H. (1997). Motivationale Orientierungen und Prozesse des Wissenserwerbs. In H. Gruber & A. Renkl (Hrsg.), Wege zum Können (S. 14-31). Huber: Bern. Schmalt, H.-D. (2003). Leistungsmotivation im Unterricht: über den Einsatz des LM-Gitters in der Schule. In J. Stiensmeier-Pelster & F. Rheinberg (Hrsg.), Diagnostik von Motivation und Selbstkonzept (S. 105-127). Göttingen: Hogrefe. Seligman, M. E. P. (1995). Erlernte Hilflosigkeit. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Spinath, B. (2002). Entwicklung motivationaler Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern als gemeinsame Aufgabe von Schule und Universität. In B. Spinath & E. Heise (Hrsg.), Pädagogische Psychologie unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen (S. 69-83). Hamburg: Kovac. Spinath, B. & Schöne, C. (2003). Ziele als Bedingungen von Motivation am Beispiel der Skalen zur Erfassung der Lern- und Leistungsmotivation (SELLMO). In J. Stiensmeier-Pelster & F. Rheinberg (Hrsg.), Diagnostik von Motivation und Selbstkonzept (S. 29-40). Göttingen: Hogrefe. Stiensmeier-Pelster, J., Schürmann, M., Eckert, C. & Pelster, A. (1994). Attributionsstil – Fragebogen für Kinder und Jugendliche. Göttingen: Hogrefe.
Teil VI
Schule und Unterricht
Überblick Sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich des Lernens tritt vornehmlich im Bereich von Schule und Unterricht auf. Diese Feststellung ist faktisch noch heute gültig, auch wenn in zeitgenössischen Konzeptionen von Lernstörungen und Lernbehinderung mehr als in der Vergangenheit die Lebenslaufperspektive eingenommen wird und man die Bedeutung von Früherkennung und Frühförderung vor der Einschulung ebenso betont wie die Bedeutung berufsvorbereitender und ausbildungsunterstützender Hilfen nach Schulabschluss. Das vorliegende Handbuch erörtert Fragen der Früherkennung und Frühförderung und Maßnahmen zur schulischen Prävention von Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen in Teil IV. Die Kapitel in diesem sechsten Teil spiegeln die zentrale Bedeutung von Schule und Unterricht wider, indem sie den gesamten Bereich in Konzeptionen und Lernbereiche ausdifferenzieren, und sie zeigen zugleich die erweiterte Sichtweise, indem sie über die eigentliche Schulzeit hinaus blicken: In Kapitel 23 werden unterschiedliche Konzepte und Methoden des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen vorgestellt und kritisch diskutiert. In den Kapiteln 24 und 25 werden Ansätze zur Diagnose und Förderung in den zentralen Lernbereichen Schriftsprache und Mathematik vorgetragen. Kapitel 26 behandelt didaktische und methodische Fragen in ausgewählten musischen und sachkundlichen Lernbereichen. Während Probleme und Methoden der Früherkennung und Frühförderung bereits in Teil IV erörtert wurden, stellt Kapitel 27 systematische Maßnahmen der Hilfe und Unterstützung bei Berufswahlvorbereitung, beruflicher Ausbildung und beruflicher Eingliederung vor.
23 Konzepte und Methoden Einführung Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit Konzeptionen und Methoden des Unterrichts bei sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens. Alle dargestellten Ansätze stehen im Spannungsfeld von Sonderbeschulung einerseits und integrativer Beschulung andererseits, denn der lange Jahre gültige stillschweigende Konsens, dass die Hilfsschule, Sonderschule oder Förderschule der richtige Ort für die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung sei, wird seit den 1970er Jahren kontrovers diskutiert. Angeregt von engagierten Eltern haben zunehmend auch professionelle Pädagoginnen und Pädagogen darauf verwiesen, dass die besondere Schule den besonderen Unterricht praktisch immer durch ein häufig als demütigend erfahrenes Überweisungsverfahren erkauft, dass die Beschulung der Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten an einem besonderen Ort deren Stigmatisierung unterstützt und dass die Effektivität des dort erteilten Unterrichts zwar unterstellt werde, aber nicht hinreichend erwiesen sei. Ulrich Heimlich eröffnet die Diskussion, indem er sich mit der Didaktik des gemeinsamen Unterrichts befasst, der – wie er belegt – lange vernachlässigten Frage, wie denn der vielfach geforderte integrative Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen konkret aussehen soll. Heimlich beschreibt Prinzipien und Formen des gemeinsamen Unterrichts, stellt ausgesuchte empirische Forschungen zu den Varianten gemeinsamen Unterrichts vor und erörtert vergleichend drei theoretische Modelle integrativer Didaktik: ein materialistisches, ein interaktionistisches und ein ökologisches Modell. Der Autor empfiehlt, Elemente offenen und kooperativen Lernens mit Methoden strukturierten und lehrerzentrierten Unterrichts in situierten Lernumgebungen zu verknüpfen, um qualitativ guten Unterricht möglichst allen Schülerinnen und Schülern anbieten zu können und nicht nur den Lernenden mit besonderem Förderbedarf. Gérard Bless und Kathrin Mohr stellen den aktuellen empirischen Forschungsstand zu den Auswirkungen integrierender und separierender Schulformen vor. Unter der leitenden Zielvorstellung, dass die schulische Integration Mittel zur Erreichung der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten sei, beleuchten sie nicht nur die Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die kognitiven Lernfortschritte, sondern auch auf das Selbstkonzept und auf die soziale Stellung in der Lerngruppe. Autor und Autorin konstatieren einen hohen empirischen Bewährungsgrad des gemeinsamen Unterrichts, denn die Ergebnisse früherer Studien und Metaanalysen konnten in den letzten zehn Jahren bestätigt werden. Bless und Mohr stellen neuere Erkenntnisse zum Selbst- und Begabungskonzept sowie zum Selbstwirksamkeitsglauben von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen vor, beklagen jedoch einen Mangel an Langzeitstudien und insgesamt einen Rückgang der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich. Es zeichnet sich ab, dass die individuell angepasste Förderung bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen von zentraler Bedeutung für den schulischen Lernerfolg ist, allein die Platzierung im gemeinsamen Unterricht ist nicht hinreichend.
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Ausgehend von historischen Analysen diskutiert Ulrich Schröder Bildung und Erziehung in Förder- bzw. Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, indem er die subsidiäre Stellung der Hilfsschule bzw. Sonderschule gegenüber der Regelschule mit aktuellen Tendenzen in der Entwicklung der Schülerschaft vergleicht und belegt, dass die im Vergleich zu anderen Sonderschultypen ungünstigen sachlichen und personellen Bedingungen pädagogisch problematische Konsequenzen zeitigen. Der Autor zeigt, dass unter diesen Bedingungen das Curriculum oft nur ein reduziertes und deutlicher lebenspraktisch ausgerichtetes Lernangebot bereit stellt und dass die Methodik des Unterrichts an Förder- bzw. Sonderschulen in der Verfeinerung und Intensivierung der allgemeinen Unterrichtsmethodik liegt. Schröder fordert eine präventive Öffnung der Sonderschule hin zur Grund- und Hauptschule und eine Konzentration auf die Hauptaufgabe sonderpädagogischer Förderung, die nur mit dem entsprechenden personellen und sachlichen Aufwand zu realisieren sei: die intensive, methodisch durchdachte, lang dauernde und diagnostisch fundierte Förderung von Lernenden mit besonderem Hilfebedarf auf der Basis individueller Lern- und Entwicklungspläne. Die gerade im Falle von Lernschwierigkeiten und Lernbehinderung notwendige Differenzierung des Unterrichts hat ihren historischen Ursprung in der Problematik des Schulversagens, das mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht entstanden ist. Franz Wember zeigt, dass man mit der Gründung von Hilfsschulen bzw. Sonderschulen dem Problem schulischen Lernversagens durch Maßnahmen der externen Differenzierung auf schulorganisatorischer Ebene zu begegnen suchte, während innerschulische Möglichkeiten der Differenzierung in klasseninterne oder jahrgangsübergreifende Lerngruppen wenig genutzt wurden. Da die empirische Forschung zu den Auswirkungen flexibler Lerngruppenbildung belegt, dass die Inhalte und Methoden des Unterrichts wichtiger sind für den schulischen Lernerfolg als Fragen der externen Differenzierung, beleuchtet Wember die Unterrichtsorganisation an Förder- und Sonderschulen und zeigt zwei Richtungen von innerer Differenzierung auf, die Differenzierung durch Planung und Lenkung der Lehrperson und die Differenzierung durch Öffnung des Unterrichts in inhaltlicher und methodischer Dimension. Auf der Basis ausgesuchter empirischer Studien zur Effektivität differenzierten Unterrichts empfiehlt er im Falle von Lernschwierigkeiten zielerreichendes Lernen in flexibler Differenzierung durch Lenkung und Öffnung des Unterrichts bei multivalenter Zielsetzung im Bereich des kognitiven, emotionalen und sozialen Lernens. Offensichtlich kann man vielfältige Ziele einer ganzheitlich angelegten Förderung nicht in einheitlichen Curricula und nicht in methodischer Monokultur erreichen. Bodo Hartke vertieft die Diskussion um Formen des offenen Unterrichts, indem er zunächst deren theoretische Grundlegung in den reformpädagogischen Arbeiten von Maria Montessori und Célestin Freinet nachzeichnet und anschließend zeitlich begrenzte Varianten des offenen Unterrichts wie Freiarbeit, Tages- und Wochenpläne, Stationslernen oder Werkstattunterricht hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile vergleicht. Eine Analyse ausgesuchter empirischer Ergebnisse zu den Auswirkungen offenen und geschlossenen Unterrichts führt Hartke zu dem Fazit, dass insbesondere Schülerinnen und Schüler mit schwachen Schulleistungen nicht automatisch von offenen Unterrichtsangeboten profitieren; sie bedürfen vielmehr gezielter Hilfen zur Steigerung der Arbeitsintensität sowie klar strukturierter und individuell passend gestufter Lernmaterialien.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Den Gedanken der aktiven Lernhilfe durch Aktivitäten der Lehrperson greift Franz Wember auf, indem er drei Varianten direkten Unterrichts darstellt: direkter Unterricht als empirisch ermittelter Typus wirksamen Lehrverhaltens und effektiver Klassenführung, direkter Unterricht als wissenschaftlich fundierte, systematische Vermittlung von Lernstrategien und direkter Unterricht als programmatisch kodifizierte Vermittlung von Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Da alle drei Varianten hinsichtlich ihrer Effektivität empirisch überzeugend belegt sind, dürften sie sich allein und in Kombination bei der Förderung von Lernenden mit Lernschwierigkeiten anbieten, da diese Kinder und Jugendlichen mehr als alle anderen Lernenden auf qualitativ guten, erwiesenermaßen förderlichen Unterricht angewiesen sind, auch wenn das nicht heißt, dass Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten auf den lehrerzentrierten Unterricht klassischer hilfsschuldidaktischer Prägung rückverwiesen werden sollen. Direkter Unterricht betont das Moment der aktiven, intensiven und unmittelbaren Förderung, aber eine solche lässt sich sehr wohl in offenen und anregungsreichen Lernumwelten realisieren. Dass auch und gerade Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten von sozial offenen und anregungsreichen Lernarrangements profitieren können, zeigt Elmar Souvignier in seinem Kapitel zum kooperativen Lernen auf. Er stellt Organisationsformen kooperativen Unterrichts vor, charakterisiert auf der Grundlage einschlägiger empirischer Forschungen zentrale Bedingungen für produktive Partner- und Gruppenarbeit in der Schule und formuliert einige handlungsleitende Folgerungen für die Gestaltung kooperativen Lehrens und Lernens, welche die eingeschränkten Lernvoraussetzungen lernbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher im Hinblick auf gemeinsame soziale Arbeitsformen nicht ignorieren, sondern pädagogisch berücksichtigen. Souvignier stellt klassische und aktuelle Methoden kooperativen Unterrichts vor und gelangt zu dem Fazit, dass dem kooperativen Lernen auch im Falle von Lernschwierigkeiten und auch jenseits schulischer Anforderungen ein großer Wert beizumessen ist, denn zentrale kommunikative und soziale Kompetenzen können die Heranwachsenden nur erlernen, wenn sie die Gelegenheit erhalten, diese zu erproben und zu üben. Zum Thema computerunterstützter Unterricht zeigt Jürgen Walter in einer Auswertung der zurzeit vorhandenen empirischen Basis, dass computerunterstütztes Lernen moderat positive, aber relativ konsistente positive globale Effekte zeigt, die aber weniger per se dem „Medienträger“ Computer als vielmehr dem durch die Software realisierten Instruktionsmodell zuzuschreiben sind. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass vor allem langsame Lerner von dieser Form des Förderns profitieren, wenn die Software gut strukturiert, kleinschrittig ausgelegt, interaktiv gestaltet und dem Lerntempo der Schüler angepasst ist. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass der Vorteil von Multimedia im Vergleich zu „Monomedia“ zwar nicht durchgängig zu beobachten ist, dass dies aber in der Regel dann der Fall ist, wenn erstens die zu lernenden Informationen dual kodiert sind, wenn sich zweitens die unterschiedlich kodierten Informationen nicht widersprechen, sondern aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig ergänzen, und wenn es sich drittens um Lernende mit geringem Vorwissen handelt.
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23.1 Didaktik des gemeinsamen Unterrichts Ulrich Heimlich Seit über drei Jahrzehnten wird nun gemeinsamer Unterricht bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen in der BRD praktiziert. Dabei hat sich gezeigt, dass hier ein schulisches Reformmodell mit hoher Akzeptanz bei den beteiligten Lehrenden, Lernenden und Eltern vorliegt. Besonders die Erfahrung mit gemeinsamem Unterricht befördert nach vorliegenden Forschungsergebnissen die Akzeptanz der integrativen Bemühungen im Schulsystem (vgl. Preuss-Lausitz, 1997a). Auch die empirische Bildungsforschung hat sich in Gestalt der Integrationsforschung im Wege der wissenschaftlichen Begleitung an der Erforschung des gemeinsamen Unterrichts intensiv beteiligt. Dabei standen naturgemäß die Effekte des gemeinsamen Unterrichts für die Schulleistungen, die soziale Integration und die Selbsteinschätzung sowie die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund (vgl. Haeberlin, Bless, Moser & Klaghofer 1991; Bless, 1995). Es galt lange Zeit, die wesentlichen bildungspolitischen Einwände gegen den gemeinsamen Unterricht durch entsprechende empirische Überprüfung zu entkräften (vgl. den historischen Rückblick bei Schnell, 2003). Die Integrationsforschung war von daher zunächst von den Aufgaben im Bereich der Evaluationsforschung dominiert, die Grundlagenforschung musste dem gegenüber vernachlässigt werden. Inzwischen zeigt sich jedoch, dass nicht nur die Effektseite des gemeinsamen Unterrichts für die Integrationsforschung von Interesse ist, sondern ebenso die Treatment-Seite (vgl. zum Treatmentbegriff allgemein: Bortz & Döring, 1995, S. 489). Selbstverständlich gilt auch für die didaktischen Konzepte des gemeinsamen Unterrichts – wie für jegliche Unterrichtskonzepte – die Notwendigkeit des Nachweises ihrer Effektivität. Das Konzept des gemeinsamen Unterrichts kann sich aber zwischen Integrationsklassen und zwischen Bundesländern und im Vergleich mit europäischen Nachbarländern deutlich unterscheiden. Bei allem Konsens über die Prinzipien und Formen des gemeinsamen Unterrichts ist zwischenzeitlich sogar die Frage zu stellen, ob nicht bereits unterschiedliche Konzepte des gemeinsamen Unterrichts vorliegen, mindestens jedoch verschiedene Formen der Unterrichtspraxis (vgl. Boban & Hinz, 2004). Die Treatmentseite des gemeinsamen Unterrichts soll hier deshalb im Vordergrund stehen und im Hinblick auf ihre empirischen und theoretischen Grundlagen hin betrachtet werden. Dabei wird allerdings der Blick besonders auf die Schüler und Schülerinnen mit dem Förderschwerpunkt Lernen gerichtet, auch wenn bewusst bleiben muss, dass gemeinsamer Unterricht als Lehr-/Lernform eher im Sinne eines Rahmenkonzepts für unterschiedliche Förderschwerpunkte gilt. Letztlich handelt es sich um einen „Unterricht für alle“, an dem alle Kinder und Jugendlichen auf der Basis ihrer Fähigkeiten teilnehmen können und zu dem alle etwas beitragen (vgl. Heimlich, 2003). Es wird nun – ausgehend von einer vielfältigen Praxis des gemeinsamen Unterrichts und den ersten Versuchen zur Abgrenzung eines Unterrichtskonzepts für das gemeinsame Lernen (23.1.1) – nach den empirischen Grundlagen dieses Konzeptes (23.1.2) und nach seinem theoretischen Gehalt (23.1.3) gefragt. Letztlich stellt sich damit die Aufgabe, den gegenwärtigen Entwicklungsstand einer integrativen Didaktik zu beschreiben.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 23.1.1 Konzept und Praxis des gemeinsamen Unterrichts In der Regel lehnt sich die Praxis des gemeinsamen Unterrichts sehr stark an internationale reformpädagogische Unterrichtskonzepte an (vgl. Schöler, 1999; Lersch, 2001; Lumer, 2001). Explizite Bezüge können zum Jena-Plan (vgl. Petersen 1927/1972) von Peter Petersen (1884-1952) hergestellt werden, der bekanntlich neben dem Gruppenprinzip und der Altersmischung bereits mit Wochenplänen und Gesprächskreisen arbeitete und sich ausdrücklich auch öffentlich für die Integration von „Hilfsschülern“ eingesetzt hat. Wochenpläne sind dabei die entscheidende Voraussetzung für die innere Differenzierung im gemeinsamen Unterricht. Auf Maria Montessori (1870-1952) geht wiederum das Element der Freien Arbeit im gemeinsamen Unterricht zurück, das besonders die Selbst organisation und das spontane gemeinsame Lernen ermöglichen soll (vgl. Montessori 1950/2001). Auch das Unterrichtsmodell von Célestin Freinet (1896-1966) mit seiner werkstattartigen Klassenraumgestaltung und dem handlungsorientierten Zugang zum Schriftspracherwerb über die Gestaltung von eigenen Texten hat sich in der Praxis des gemeinsamen Unterrichts ausgewirkt (vgl. Freinet & Freinet 1996). Von John Dewey (1859-1952) stammen wiederum entscheidende Anstöße zum Projektunterricht, der das gemeinsame Lernen am gemeinsamen Gegenstand als übergreifende Zielsetzung des gemeinsamen Unterrichts vorwegnimmt und auch die Schüler im Rahmen einer demokratischen Pädagogik mit in den Planungsprozess des Unterrichts einbezieht (vgl. Dewey 1916/1993). Bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten erhält das Konzept des situationsorientierten Lernens von Paolo Freire (1921-1997) ebenfalls eine praktische Relevanz, weil es die Dimension der Lebenswelt in die inhaltliche Gestaltung des gemeinsamen Unterrichts einbringt (vgl. Freire 1971/ 1996). Am Beginn der Entwicklung des gemeinsamen Unterrichts in der BRD standen neben diesen – hier nur exemplarisch aufgeführten – reformpädagogischen Anleihen im wesentlichen Beispiele und Praxismodelle aus den skandinavischen Ländern, Großbritannien und Italien. Inzwischen hat sich in der didaktischen Literatur zum gemeinsamen Unterricht ein gewisser Konsens bezüglich der zentralen Elemente dieses Unterrichtskonzeptes herausgebildet. Ausgehend vom praktischen Beispiel einer integrativen Lernsituation im gemeinsamen Unterricht werden deshalb nun die wichtigsten Prinzipien und Formen des gemeinsamen Unterrichts im Überblick zusammengefasst. 23.1.1.1 „Projekt Kalender“ als Beispiel für eine integrative Lernsituation In der integrativen Klasse 2 einer Grundschule mit insgesamt 20 Kindern – davon zwei Mädchen mit Down-Syndrom, ein Junge mit Problemen in den Bereichen Motorik, Wahrnehmung und Lernen, ein Junge im Rollstuhl und ein Junge mit besonders hohem Förderbedarf im Bereich des Lernens – wird zum Ende des Jahres das Projekt „Kalender“ durchgeführt. Die Klasse wird von einer Grundschullehrerin und einer Sonderschullehrerin geleitet. Im Projekt entsteht über mehrere Schulwochen hinweg, in denen immer wieder stundenweise am gemeinsamen Thema gearbeitet wird, eine Vielzahl von Lernwegen. Ein Kalenderheft wird angelegt, zum Lied „Es war eine Mutter …“ ein Jahreskreis angefertigt, der Apfelbaum im Wandel der Jahreszeiten dargestellt,
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eine Sommergeschichte erzählt und Lernwörter geübt. Im Musikunterricht kommen weitere Lieder zum Thema dazu und ebenfalls ein Tanz zu Vivaldis „Der Frühling“. Auch der Mathematik- und ganz besonders der Sachunterricht werden auf das gemeinsame Thema bezogen. Für Kinder mit Förderbedarf werden unterschiedliche Lernhilfen eingesetzt: eine Geschichte erzählen und von einem Partner aufschreiben lassen, differenzierte Arbeitsblätter (z. B. mit Bildunterstützung oder vorgegebenen Lernwörtern), individualisierte Aufgabenstellungen bezogen auf die jeweilige Lernausgangslage (z. B. den Buchstaben „J“ üben und die Ganzwörter „Januar“, „Juni“, „Juli“), Erweiterung des Zahlenraums bis 12 usf. Im Kunstunterricht (Gestaltung von Apfelbäumen aus Salzteig) sind wiederum alle Kinder an einer gemeinsamen Aufgabe gemeinsam tätig. Ein Jahreszeitenfest, zu dem auch die Parallelklasse eingeladen wird, beschließt nach 3 Wochen die Projektarbeit. Über den Kalenderdienst und die Klassenraumgestaltung bleibt das Thema auch für den Rest des Schuljahres allen Kindern präsent. In der Reflexion wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler der integrativen Klasse über weite Strecken mit der gemeinsamen Thematik beschäftigt waren – wenn auch auf unterschiedlichen Lernniveaus. Dabei mussten neben den Phasen gemeinsamen Lernens auch Phasen des getrennten Lernens in Kleingruppen eingebaut werden (vgl. das Projektbeispiel von Hede Jagschies und Simone Wember in: Heimlich, 1999, S. 97-101). Es handelt sich in diesem alltäglichen Beispiel aus dem gemeinsamen Unterricht insofern um eine integrative Lernsituation, als allen Lernenden Gelegenheit gegeben wird, an den Prozessen des gemeinsamen Lernens teilzunehmen und etwas zum Unterrichtsgegenstand beizutragen. Dazu ist es erforderlich, Lerngegenstände so vielfältig aufzubereiten, dass sowohl kognitive und sprachliche als auch emotionale, soziale und sensomotorische Zugangsweisen entstehen. Der gemeinsame Unterricht bietet also idealerweise integrative Lernerfahrungen an. Erst wenn das Lernen in einer positiven Atmosphäre erfolgt und dabei sowohl das Denken, die Sprache und alle Sinne beteiligt sind, kann der gemeinsame Unterricht in seiner entfalteten Form stattfinden. Zweifellos handelt es sich dabei um ein anspruchsvolles Unterrichtskonzept. Inzwischen kann aber von einer qualitativ gut entwickelten Unterrichtspraxis zu diesem Konzept und einem breiten Konsens bezüglich der Prinzipien und Unterrichtsformen dieses Unterrichts ausgegangen werden. Allerdings ist mit der folgenden Übersicht allenfalls eine pragmatische Zusammenstellung gemeint, ohne dass hier schon eine theoretische Fundierung im Sinne didaktischer Modell erfolgt. 23.1.1.2 Prinzipien des gemeinsamen Unterrichts Aufbauend auf dieser Erfahrungsebene des gemeinsamen Unterrichts, die seit Anfang der siebziger Jahre in der BRD in einer zunehmenden Zahl von Praxisprojekten in Primarund Sekundarschulen entwickelt worden ist, lassen sich im Sinne einer Zwischenbilanz einige grundlegende Handlungsorientierungen für Lehrkräfte unterscheiden, die dazu beitragen, dass der Alltag des gemeinsamen Unterrichts mit seinem unmittelbaren Handlungsdruck bewältigt wird (vgl. zum Folgenden: Heimlich, 2003, S. 95 ff.):
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| Teil VI: Schule und Unterricht − Handlungsorientierung: Der Unterricht sollte handlungsorientiert sein, damit alle Schüler/-innen die Möglichkeit zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Lerngegenstand auf der Basis ihrer individuellen Kompetenzen haben. − Situationsorientierung: Die Themen und Inhalte sollten zur Erfahrungswelt der Schüler/-innen in Beziehung gesetzt werden und idealerweise aus deren Lebenswelt stammen, d. h. gesellschaftliche Praxisrelevanz besitzen. − Bedürfnisorientierung: Im Unterricht müssen die individuellen Förderbedürfnisse aller Schüler/-innen durch ein individualisiertes und differenziertes Lernangebot beantwortet werden. − Lernen mit allen Sinnen: Aufgrund der Vielfalt der Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ist das Lernangebot multisensorisch und bewegungsorientiert auszurichten. − Soziales Lernen: Ein qualitativ guter Unterricht schafft in wechselnden Sozialformen umfangreiche Gelegenheiten zur Kooperation der Lernenden untereinander, um den entwicklungsbedeutsamen Prozessen des „Voneinander-Lernens“ in der peer-group Raum zu geben. − Fächerverbindung: Der Unterricht sollte zur Überwindung von starren Grenzen zwischen Unterrichtsfächern beitragen, übergreifende Themenstellungen (z. B. Umweltbildung) aufgreifen und Zusammenhänge sowie Vernetzungen zwischen den verschiedenen Rahmencurricula stärker betonen. − Selbsttätigkeit: Im Unterricht werden die Lernenden aufgefordert, ihr Lernen stärker selbst zu planen und zu kontrollieren, um so zu mehr Selbstbestimmung zu gelangen. − Zielorientierung: Der Unterricht sollte an differenzierten Zielsetzungen ausgerichtet sein, die gemeinsamen Lerngegenstände auf die jeweiligen Entwicklungsniveaus beziehen und die Einbeziehung der jeweils erforderlichen sonderpädagogischen Unterstützung ermöglichen. Ein Unterricht, in dem nach diesen Prinzipien gelehrt und gelernt wird, kommt nach vorliegenden Erfahrungen allen Kindern und Jugendlichen zugute – nicht nur den Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Für Sonderpädagogen/-innen sind allerdings die Prinzipien Handlungsorientierung, Bedürfnisorientierung und Lernen mit allen Sinnen von besonderem Interesse. Über die Realisierung dieser Prinzipien im gemeinsamen Unterricht sichern sie die Möglichkeiten der Teilhabe aller Schüler/-innen am gemeinsamen Lernen. 23.1.1.3 Formen des gemeinsamen Unterrichts Darüber hinaus hat sich in der Praxis des gemeinsamen Unterrichts gezeigt, dass eine methodische Monokultur mit Schwerpunkt auf Frontalunterricht und Einzelarbeit nicht geeignet ist, die vielfältigen Lernerfahrungen bereitzustellen, die in einer heterogenen Lerngruppe angeboten werden müssen, um alle Lernenden mit ihren spezifischen Lernausgangslagen zu erreichen. Es ist ein Wechsel zwischen verschiedenen Unterrichtsformen notwendig, auch wenn das Projektlernen mit dem gemeinsamen Lern-
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gegenstand dabei eine Mittelpunktstellung einnimmt (vgl. zum Folgenden: Heimlich, 2003, S. 98 ff.): − Freiarbeit: Regelmäßige Freiarbeitsphasen bieten ein Höchstmaß an Möglichkeiten zur Differenzierung, Individualisierung und vor allem Selbsttätigkeit. − Wochenplan: Das Unterrichten mit Wochenplänen erleichtert die Organisation eines Unterrichtsgeschehens, das auf individuelle Lernwege ausgerichtet ist und bis hin zu Tages- und Förderplänen reicht. − Stationenlernen: Die Lerninhalte einer Unterrichtseinheit können auch gleichzeitig als Stationen zum Selbstentdecken angeboten werden, die ebenfalls eine gute Vorbereitung für selbsttätige Lernphasen beinhalten. − Gesprächskreis: Der Gesprächskreis bildet häufig eine Art Drehscheibe für das soziale Geschehen im Klassenraum und ergänzt auf diese Weise das gemeinsame Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand noch einmal um soziale Lernprozesse. − Lehrgang: Ein handwerklich gut gemachter Unterricht mit der gesamten Lerngruppe, der zwar vom Lehrer gesteuert wird, in dem aber mit innerer Differenzierung gearbeitet wird, hat weiter seine Berechtigung insbesondere in der Sekundarstufe I und II und wenn es z. B. um die gemeinsame Erarbeitung eines neuen Lerninhaltes für eine Lerngruppe geht. − Übung: Ein reformpädagogischer Unterricht – und als solcher wird der gemeinsame Unterricht verstanden – enthält auch ein verändertes Verständnis von Übung und Wiederholung, das nicht nur reproduktive sondern insbesondere auch produktive Methoden des Übens beinhaltet. − Einzel- und Kleingruppenförderung: Bei allem Bemühen um ein kooperatives Lerngeschehen im gemeinsamen Unterricht kann es gleichwohl notwendig werden, dass besondere Förder- und Therapieangebote in kleinen Gruppen oder für einzelne Kinder angeboten werden, wobei die Gefahr der sozialen Ausgrenzung zu beachten ist. Sonderpädagogen/-innen kommt hier die Funktion zu, in den genannten Formen des gemeinsamen Unterrichts unterschiedliche Muster der Lernbegleitung anzubieten. In der Einzel- und Kleingruppenförderung sowie im Stationenlernen, bei der Übung und in Bezug auf die Wochenpläne lassen sich auch Maßnahmen der sonderpädagogischen Förderung im gemeinsamen Unterricht verankern. Während dieser Praxiszusammenhang des gemeinsamen Unterrichts vor allem in Primarschulen inzwischen gut etabliert ist (wenn auch nicht bedarfsgerecht ausgebaut), so steht die empirische und theoretische Grundlegung dieses Unterrichtskonzepts noch am Anfang. Es wird deshalb nun nach den Ergebnissen der Integrationsforschung zum gemeinsamen Unterricht als „treatment“ gefragt. 23.1.2 Empirische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts Die Integrationsforschung zum gemeinsamen Unterricht hat sich im deutschsprachigen Raum überwiegend auf die Wirkungen dieses Unterrichtskonzeptes konzentriert (vgl. den Beitrag von Bless in diesem Band). Es ist jedoch gleichwohl eine Sekundäranalyse vorhandener empirischer Studien zum gemeinsamen Unterricht möglich, in der die jeweils
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| Teil VI: Schule und Unterricht zugrunde gelegten „treatments“ herausgearbeitet werden – auch wenn dies im vorliegenden Zusammenhang nur in exemplarischer Form und bezogen auf die deutschsprachige Diskussion geschieht. Dabei sollte jedoch bewusst bleiben, dass der überwiegende Teil der empirischen Studien zum gemeinsamen Unterricht im deskriptiv-statistischen Bereich bleibt (vgl. Klauer, 2000). Im strengen Sinne experimentelle Studien sind im Rahmen der Integrationsforschung kaum zu realisieren, da es meist nicht gelingt, Experimental- und Kontrollgruppe (also z. B. Integrations- und Regelklasse) zufällig zusammen zu setzen. Selbst quasi-experimentelle Studien treffen insofern auf erschwerte Bedingungen im Forschungsfeld, als häufig in integrativen Schulen nicht nur innerhalb der integrativen Klassen ein reformpädagogischer Unterricht realisiert wird. Auf der „treatment“-Ebene würde in diesem Fall kaum ein Unterschied zwischen Integrations- und Regelklassen bestehen, wie das auch in der Studie zu den Integrativen Regeklassen in Hamburg erneut bestätigt wurde (vgl. Katzenbach, Rauer, Schuck & Wudtke, 1999; Roeder, 1999). Allerdings hat die Integrationsforschung bereits in den achtziger Jahren bedingt durch die quantitative Ausdehnung der integrativen Unterrichtsangebote die Reduzierung auf kleine Stichproben überwinden können. Es liegen inzwischen groß angelegte Studien mit umfangreichen Untersuchungsgruppen vor, die über das einzelne jeweils untersuchte Integrationsprojekt deutlich hinausweisen. Dabei wird das gesamte Repertoire der empirischen Sozialforschung genutzt (Befragung, Beobachtung usw.). In Abhängigkeit von der jeweils untersuchten Fragestellung besteht ebenfalls eine Tendenz zur Einbeziehung qualitativer Forschungsmethoden (z. B. Gruppendiskussion, teilnehmende Beobachtung, Einzelfallstudien usw.). In exemplarischer Reduktion können mehrere Schwerpunkte dieser treatmentorientierten Forschung zum gemeinsamen Unterricht unterschieden werden. 23.1.2.1 Schüleraktivität im gemeinsamen Unterricht Eine der wenigen, methodisch anspruchsvoll ausgeführten Beobachtungsstudien zum gemeinsamen Unterricht, die auch mit Parallelgruppen arbeitet, ist von Dieter Dumke (1993) in den Bonner Integrationsklassen im Primar- und Sekundarbereich durchgeführt worden. Es wurden 59 nichtbehinderte Schüler insgesamt 74 Stunden und 24 behinderte Schüler 92 Stunden in Integrationsklassen mit Hilfe eines differenzierten Kategoriensystems (vgl. Schäfer, 1993) beobachtet. Basis der Datenauswertung sind mehr als 5000 Beobachtungsminuten in Integrationsklassen und gut 4000 Beobachtungsminuten in den (nicht-integrativen) Parallelklassen. Ein Drittel der Schüler werden der Gruppe der Lernbehinderung zugeordnet (vgl. Dumke & Mergenschröer, 1993, S. 161 ff.). Zusammenfassend kann als nachgewiesen gelten, dass nichtbehinderte Schüler in Integrationsklassen mehr individuelle Betreuung durch den Lehrer erhalten, ihre Gefühle erheblich häufiger zum Ausdruck bringen, beständiger arbeiten, etwas häufiger um Hilfe bitten, mehr Schülerhilfe erhalten und auch selbst geben, mehr Partnerkontakte haben und ihren Mitschülern häufiger zuhören oder sie häufiger anschauen als in den Parallelklassen (a.a.O., S. 185-195). Im Vergleich zu nichtbehinderten kann über behinderte Schülerinnen und Schüler in Integrationsklassen gesagt werden, dass sie − mehr individuelle Betreuung erfahren, − ihre Gefühle häufiger zum Ausdruck bringen,
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− häufiger um Hilfe bitten, − mehr Schülerhilfe erhalten, mehr Partnerkontakte haben und ihren Mitschülern häufiger zuschauen und zuhören, − allerdings auch weniger beständig arbeiten. Bei Anwesenheit von zwei Lehrpersonen ist die individuelle Betreuung einzelner Kinder in Integrationsklassen viel häufiger möglich, diese äußern dann auch häufiger ihre Gefühle, allerdings ist die Beständigkeit der Arbeitsweise bei Anwesenheit von nur einer Lehrkraft höher. Insofern wirkt sich die Zahl der Lehrkräfte im gemeinsamen Unterricht vor allem auf den Leistungs- und Förderbereich aus. In der Lernsituation der Freien Arbeit zeigt sich, dass alle Lernenden in Integrationsklassen häufiger von einer Lehrkraft einzeln betreut werden. Behinderte Schülerinnen und Schüler haben in dieser Situation mehr verbalen Kontakt zur Lehrkraft, bitten etwas häufiger um Hilfe als in anderen Lernsituationen (wie Klassenunterricht, Einzelarbeit usw.). Alle erfahren deutlich mehr Hilfe von Mitschülerinnen und haben mehr Partnerkontakte. 23.1.2.2 Unterrichtsorganisation im gemeinsamen Unterricht Die Forschungsgruppe um Dumke (1993) untersuchte ebenso die Unterrichtsorganisation in den Bonner Integrationsklassen. Dabei waren ebenfalls die Grundschule Bonn-Friesdorf (2 Integrationsklassen, 9 behinderte Schüler/-innen), die Grundschule Bonn-Beuel (8 integrativ geführte Klassen mit 14 behinderten Schülern/-innen, 4 Parallelklassen) und die Gesamtschule Bonn-Beuel (3 Integrationsklassen mit 15 behinderten Schüler(n)/ ‑innen, 2 Parallelklassen) einbezogen. Die Beobachtungszeiten lagen zwischen 20 und 40 Unterrichtsstunden. Zur Auswertung lagen in den Schulen zwischen gut 3.000 und gut 7.000 Beobachtungseinheiten (in Minuten) vor. Als eines der wichtigsten Ergebnisse ist hervorzuheben, dass die „Schülerselbsttätigkeit“ in den Integrationsklassen in allen beteiligten Schulen deutlich höher war als in Parallelklassen. Zwischen 46 und 59 % der beobachten Unterrichtsformen fallen in diesen Bereich (vgl. Dumke, Kellner & Kranenburg, 1993, S. 125), darunter vor allem Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit im Gegensatz zum Klassenunterricht. Gleichzeitig lässt sich in Integrationsklassen ein deutlicher Schwerpunkt bei den differenzierenden und individualisierenden Maßnahmen konstatieren, verbunden mit einer hohen Aufmerksamkeit der Schüler/-innen. Lehrkräfte müssen wegen störenden Schülerverhaltens nur vergleichsweise wenig eingreifen. Diese Befunde lassen sich auch über verschiedene Unterrichtsfächer nachweisen. Nur in der Sekundarstufe (Gesamtschule) fallen die Unterschiede zwischen den Integrationsklassen und den Regelklassen geringer aus. Die Differenzierungen bezüglich der Thematik und Ziele von Lernsequenzen ist allerdings in den untersuchten Integrationsklassen nicht so stark ausgeprägt (rund 10 % der beobachteten Unterrichtszeit, a.a.O., S. 157). Lediglich in der Grundschule Bonn-Friesdorf gelingt die „themenverschiedene Differenzierung“ mit einem Anteil von 35 % in größerem Umfang (ebd.). Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Unterrichtsorganisation in Integrationsklassen wesentlich deutlicher einem schülerzentrierten Konzept folgt. Allerdings bestätigt auch die Studie von Dumke, dass
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| Teil VI: Schule und Unterricht sich die Unterrichtskonzeptionen zwischen Integrations- und Parallelklassen durchaus überschneiden. Schülerzentrierte Konzepte mit mehr Möglichkeiten zur Selbsttätigkeit für Schüler/-innen werden zwischenzeitlich auch im Sekundarbereich häufiger realisiert. Für Integrationsklassen gilt jedoch, dass dieses Unterrichtskonzept sich in besonderer Weise eignet, um die gewollte Ausweitung der Heterogenität in den Lernvoraussetzungen der jeweiligen Lerngruppe zu bewältigen. 23.1.2.3 Öffnung von Unterricht Eher umstritten ist hingegen die empirische Bedeutung der Forderung nach einem offenen Unterricht bezogen auf das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Schülern/-innen. In einer Befragung von 64 Grund- und Sonderschullehrkräften aus Integrationsklassen in Rheinland-Pfalz (vgl. Krawitz, Theis-Scholz & Thümmel, 1996, S. 278 f.) gaben beispielsweise 70 % der Befragten den Anteil des offenen Unterrichts mit 25 % oder weniger an. Bei den praktizierten Formen des offenen Unterrichts rangiert die Freiarbeit mit fast 60 % an der Spitze (diese und alle weiteren Prozentangaben gerundet), gefolgt von der Binnendifferenzierung mit knapp 37 %, den Spielen mit 19 %, dem Wechsel der Sozialformen (16 %), der Projektarbeit (8 %) und dem Stationenlernen (gut 3 %). Hier zeigt sich möglicherweise ein Widerspruch zwischen den eigenen Ansprüchen an die angestrebte Konzeption für den gemeinsamen Unterricht und der tatsächlich realisierten Unterrichtspraxis. Offen bleibt dabei, welchen Anteil an offenen Unterrichtsformen eine Fremdeinschätzung des gemeinsamen Unterrichts erbringen würde (vgl. Graumann, 2002, S. 164). Zusätzlich ist nicht erst durch die Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie (vgl. Helmke & Weinert, 1997) bekannt, dass gerade Schüler/-innen mit erheblichen Lernschwierigkeiten von einem strukturierten sowie lehrerzentrierten Unterricht profitieren und hier eine hohe Arbeitsintensität erreichen. Dies gilt allerdings insbesondere bezogen auf die kognitiven Kompetenzen, während emotionale und soziale Kompetenzen in diesen Studien häufig nicht erfasst werden (vgl. Kasper, 1994, S. 106 f.). Von daher sollte auch ein effektiver gemeinsamer Unterricht stets durch eine Balance zwischen schüler- und lehrerzentrierten Unterrichtsformen gekennzeichnet sein. 23.1.2.4 Gemeinsamer Unterricht aus Lehrer- und Schülersicht Durch die Befragungen im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der brandenburgischen Integrationsentwicklung (vgl. Preuss-Lausitz, 1997a, 1997b) ist ein Vergleich der Einschätzung des gemeinsamen Unterrichts aus Lehrer- und Schülersicht möglich. Die befragten Lehrkräfte (n = 90) nennen zu jeweils über 90 % die innere Differenzierung, Regeln und feste Rituale, Singen und Spielen sowie Bewegungsangebote als Unterrichtsformen für den gemeinsamen Unterricht. Freiarbeit (gut 85 %), fächerübergreifender Unterricht (etwas mehr als 70 %), Morgenkreis (70 %), Projekt (65 %) und auch der Frontalunterricht (gut 50 %) wird von mehr als der Hälfte der Befragten als unverzichtbar für den gemeinsamen Unterricht angesehen. Den Wochenplan sehen 46 % der Befragten als unverzichtbar an (vgl. Preuss-Lausitz, 1997a, S. 135 f.). Hier wird also der Frontalun-
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terricht auch mit in die Vielfalt der Unterrichtsformen für den gemeinsamen Unterricht aufgenommen. Knapp ein Viertel der Befragten hält den Frontalunterricht zwar für weniger wichtig, es ist jedoch davon auszugehen, dass auch der Gemeinsame Unterricht nach Einschätzung der Lehrkräfte durch lehrerzentrierte Formen geprägt wird. Bei den Schülerinnen und Schülern (n = 584, darunter 43 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) aus 16 Integrationsklassen und 14 Vergleichsklassen wurde hauptsächlich nach der Zufriedenheit mit den wesentlichen Formen eines modernen Grundschulunterrichts gefragt (vgl. Preuss-Lausitz, 1997b, S. 194 ff.). Dabei fiel das Votum eindeutig für den Morgenkreis (fast 67 %) und den Wochenplan (knapp 60 %) als besonders beliebte Unterrichtsformen aus. Selbst entscheiden, wann man fertig wird, möchten gut 60 % der Befragten. Allerdings akzeptiert die Gesamtgruppe erst zum geringeren Teil, dass auch ein langsameres Arbeitstempo toleriert werden sollte (knapp 27 %) oder wenn sie Lernberichte statt Zensuren erhalten (24 %). Auch die Anwesenheit einer zweiten Lehrkraft in der Klasse wird von der Gesamtgruppe keineswegs einhellig positiv gesehen (fast 33 %), während den Förderkindern (58, %) dies wiederum gut gefällt. Dies gilt im Übrigen auch für das Arbeitstempo und die Lernberichte. Beide Bestandteile werden von den Förderkindern in Integrationsklassen positiver gesehen als von den Kindern in Nicht-Integrationsklassen. Insofern wird aus der Sicht der Lernenden insgesamt noch einmal klar die Bedeutung selbsttätiger Lernformen herausgestellt. Förderkinder erkennen allerdings sehr genau, dass sie dabei auf Hilfe angewiesen sind und eine gewisse Rücksichtnahme der anderen Kinder benötigen. 23.1.2.5 Kooperatives Lernen im gemeinsamen Unterricht Neben der Selbsttätigkeit ist auch das kooperative Lernen in der deutschsprachigen Integrationsforschung zum gemeinsamen Unterricht ein Thema, allerdings weniger durch eigene empirische Studien vertreten als vielmehr durch die Rezeption angloamerikanischer Forschungsergebnisse. Benkmann (1997) unterscheidet dabei zwei Grundkonzeptionen kooperativen Lernens, das peer tutoring und die peer collaboration. Peer tutoring besteht im Wesentlichen aus einem kooperativen Lehr-Lernprozess zwischen älteren und jüngeren Schüler(n)/-innen. Diese Methode ist vor allem in den nordamerikanischen mainstreaming-Klassen bei Kindern mit Lernschwierigkeiten (learning disabilities) eingesetzt worden. Man unterscheidet vier Grundformen (vgl. Benkmann, 1997, S. 90): – Regelschüler unterrichten Lernende mit Behinderung. – Lernende mit Behinderung unterrichten andere Lernende mit Behinderung. – Lernende mit Behinderung unterrichten Regelschüler. – Die Rollen zwischen Tutor und Tutee wechseln ständig. Meist wird das peer tutoring mit der ganzen Klasse praktiziert. Dieses Class Wide Peer Tutoring (CWPT) hat sich in mehreren Studien als äußerst effektiv bezogen auf die Schulleistungsentwicklung von Kindern mit Lernschwierigkeiten erwiesen und war dabei sogar dem lehrerzentrierten Klassenunterricht überlegen. Demgegenüber wird in der Peer Collaboration mit Partnern gleichen Alters und gleichen Kompetenzniveaus kooperatives Lernen angeregt. In empirischen Studien
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| Teil VI: Schule und Unterricht konnte jedoch ein Vorteil dieser Form des kooperativen Lernens nur für Mädchen mit Lernschwierigkeiten nachgewiesen werden, Jungen mit Lernschwierigkeiten profitieren von dieser Kooperationsform in ihrer Schulleistungsentwicklung eher weniger. Die von Benkmann referierten Befunde können demnach als ein Plädoyer für die Vorteile heterogener Lerngruppen interpretiert werden. Heterogenität ist von daher nicht nur eine Last, die im gemeinsamen Unterricht bewältigt werden muss. Sie ist zugleich eine Chance für die Unterstützung der Leistungsentwicklung in Integrationsklassen. Allerdings setzt dies auch voraus, dass in die Didaktik des gemeinsamen Unterrichts entsprechende Trainingsmaßnahmen eingebaut werden, die auf das selbst organisierte Lernen in der peer-group vorbereiten. Die Bereitschaft für eine gezielte Förderung der Kooperationskompetenzen im Unterricht scheint allerdings in jüngster Zeit auch im deutschsprachigen Raum zuzunehmen (vgl. Weidner, 2003). Wenn der gemeinsame Unterricht als Konzept auf empirischer Basis gekennzeichnet werden sollte, so kann auf dem Hintergrund zentraler Studien der Integrationsforschung gesagt werden, dass es sich um einen Unterricht handelt, − in dem ein hohes Maß an Selbsttätigkeit für alle Lernenden realisiert wird, − der sowohl mehr Lehrer- als auch mehr Schülerhilfe ermöglicht, − der von den Grundelementen des offenen Unterrichts wie Freiarbeit, Spiel, Morgenkreis, Projekt, Wochenplan geprägt sein sollte, − der aber ebenso strukturiert-lehrerzentrierte Elemente enthält wie Klassenunterricht oder Regeln und Rituale und − in dem das kooperative Lernen in heterogenen Lerngruppen gezielt gefördert wird (vgl. Kap. 23.2 in diesem Band). Durch die empirische Untersuchung des gemeinsamen Unterrichts muss insbesondere die Betonung des offenen Unterrichts als konzeptioneller Bezugspunkt für Integrationsklassen neu bewertet werden. Hier klafft offenbar nach wie vor eine große Lücke zwischen Zielvorstellungen, die von vielen Lehrkräften (und in Teilbereichen auch von den Lernenden) geteilt werden, und der eigenen Unterrichtspraxis, die vielfach erst in Teilbereichen dieser Idealform eines Unterrichts in heterogenen Lerngruppen entspricht. Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“ muss besonders betont werden, dass sie in der Lage sind, für sie bedeutsame Aspekte des gemeinsamen Unterrichts zu erkennen (Zwei-LehrerSystem, individuelles Lerntempo, Lernberichte) und positiv zu bewerten. Weitgehend offen bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch der gemeinsame Unterricht im Sekundarbereich. Erste Befunde aus kleineren Studien legen die Vermutung nahe, dass es zumindest zu Akzentverschiebungen im Sekundarbereich kommt. Ab der Klasse 5 scheint der Wochenplan eine sehr viel größere Bedeutung für den gemeinsamen Unterricht zu erhalten als in der integrativen Grundschule, während der Stellenwert des Morgenkreises in den höheren Klassen abnimmt (vgl. Heimlich & Jacobs 2001, S. 122 ff.). Als neues Problem entsteht im Sekundarbereich die integrative Gestaltung des Fachunterrichts, der nicht immer im Zwei-Lehrer-System gehalten wird. Dabei zeigt sich gleichzeitig, wie eng die Qualität des gemeinsamen Unterrichts mit den realisierten Rahmenbedingungen zusammenhängt (vgl. Heimlich & Jacobs, 2001). Über solche empirischen Befunde hinaus hat die Integrationsforschung aber auch die Theoriebildung
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zum gemeinsamen Unterricht nachhaltig beeinflusst. Dabei wird zwischenzeitlich der Anschluss an die Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik verstärkt angestrebt. 23.1.3 Theoretische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts Letztlich ist mit dem gemeinsamen Unterricht das Grundproblem eines adaptiven Unterrichts im Allgemeinen angesprochen (vgl. Wember, 2001). Im Gegensatz zum selektiven Grundcharakter des Bildungs- und Erziehungssystems in der BRD, der auch durch die PISA-Studie noch einmal nachdrücklich bestätigt worden ist (Baumert, Klieme, Neubrand et al. 2001), zielt der gemeinsame Unterricht darauf ab, eine bessere Passung zwischen dem Unterrichtsangebot und den Lehr- und Lerninhalten auf der einen Seite sowie den heterogenen Lernvoraussetzungen der Lernenden auf der anderen Seite zu erreichen. Diese „Adaption“ des Unterrichts an den jeweiligen Entwicklungsstand der Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers ist somit zugleich der Aufbruch in ein verändertes Bildungs- und Erziehungssystem, in dem die Selektionsfunktion von Schule nicht mehr im Mittelpunkt steht. Gerade die Studien aus dem angloamerikanischen Raum zeigen, dass adaptiver Unterricht praktisch realisiert werden kann und Erfolge bei allen Schülern/-innen erzielt– also auch bei Kindern und Jugendlichen mit gravierenden Lernschwierigkeiten (vgl. die Übersicht bei Wember 2001). Das gilt beispielsweise für das Konzept das mastery learning, in dem die Ziele des Unterrichts durch Gewährung von mehr Lernzeit erreicht werden sollen (zielerreichendes Lernen, vgl. Kap. 23.4 in diesem Band). Aber auch das remedial teaching als Versuch, Lernprobleme direkt zu fördern und vorhandene Lernlücken zu schließen, stellt als Ergebnis der Aptitude-Treatment-Interaction-Forschung ein Beispiel für adaptiven Unterricht dar (vgl. Walter, 2004, S. 163 ff. und Kap. 23.4 in diesem Band). Allerdings sind damit eher Modelle des zielgleichen Lernens gemeint. Die adaptiven Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass die Kinder mit Lernschwierigkeiten die Ziele der Allgemeinen Schule erreichen. Eine Differenzierung der Ziele wird als Möglichkeit der Adaption nicht thematisiert. Adaptiver Unterricht würde sich somit als Konzept keineswegs auf die Aufgabe der Anpassung von Lernvoraussetzungen der Schüler/-innen an unveränderliche Unterrichtsziele reduzieren lassen. Ebenso ist zu fragen, inwieweit die Unterrichtsziele und -inhalte soweit modifiziert werden können, dass alle Schüler/-innen auf der Basis ihrer Fähigkeiten an den gemeinsamen Lerngegenständen partizipieren können. Ein solcher Ansatz lässt sich beispielsweise in dem umfassenden Konzept des Adaptive Learning Environment Model (Wang, 1992) wiederfinden. Diesem Ganztagsprogramm liegt ein hoch strukturiertes Curriculum mit vielfältigen Lernmöglichkeiten in Verbindung mit optimalen Lernumgebungen, Familienkontakten, altersheterogenen Gruppen und gezielten Hinweisen für die Lehrkräfte zugrunde (vgl. Wember, 2001). Zweifellos ist das Problem der Adaption des Unterrichts im deutschsprachigen Raum nicht zu realisieren, ohne die Unterrichtsqualität in der Allgemeinen Schule erheblich zu verbessern. Ein möglicher Weg dazu besteht darin, den Unterricht so zu verändern, dass mehr Heterogenität in einer Lerngruppe bewältigt werden kann. Die gegenwärtigen Versuche zur Begründung einer integrativen Didaktik sind als Beitrag zu dieser Zielsetzung zu verstehen. Sie entwickeln sich derzeit im Anschluss an materialistische, interaktionistische und ökologische Modelle einer integrativen Päd-
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| Teil VI: Schule und Unterricht agogik. Bezogen auf den Förderschwerpunkt „Lernen“ besteht die zentrale Frage darin, inwiefern das Problem der zieldifferenten Integration berücksichtigt wird. 23.1.3.1 Materialistisches Modell integrativer Didaktik In Verbindung mit den Bremer Integrationsprojekten in Kindergarten und Schule entwickelt Georg Feuser sein Konzept einer integrativen Didaktik, nicht ohne das Fehlen einer grundlegenden Didaktikdiskussion in der integrativen Pädagogik zu kritisieren. Feuser versucht diese Lücke im Anschluss an das kritisch-konstruktive Modell einer Allgemeinen Bildung von Wolfgang Klafki (1996) zu schließen. Eine Didaktik des gemeinsamen Unterrichts enthält für Feuser letztlich auch die Frage nach einer Allgemeinen Pädagogik in einem basalen Sinne, die erst neu zu entwickeln wäre, damit sie auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung mit einbezieht. Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit sind die zentralen Ziele einer solchen „Bildung für alle“, die über die Auseinandersetzung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen zur Herausbildung entsprechender Kompetenzen (bzw. Schlüsselqualifikationen) beitragen soll. Feuser bezeichnet seine Konzeption einer integrativen Didaktik auch als subjektorientierte und entwicklungslogische Didaktik (vgl. Feuser, 1998, S. 28). Damit knüpft er zum einen an der Theorie der menschlichen Entwicklung des russischen Psychologen Lev S. Vygotskij (1894-1934) an, der bekanntlich von einem kompetenzorientierten Menschenbild ausgehend von der „Zone der nächsten Entwicklung“ gesprochen hat (vgl. Vygotskij 2002, S. 330 ff.). Zum anderen bezieht Feuser auch konstruktivistische Ansätze mit in seinen Didaktik-Entwurf ein, die Prozesse der Selbstorganisation und Ko-Ontogenese betonen. Eine Didaktik des gemeinsamen Unterrichts kann nach Feuser folglich nicht nur bei der Analyse der Sachstruktur eines gemeinsamen Lerngegenstandes stehen bleiben. Zweifellos ist damit auch im gemeinsamen Unterricht der zentrale inhaltliche Bezugspunkt benannt. Ebenso bedeutsam ist jedoch die Tätigkeits- und die Handlungsstruktur. Subjektund Objektseite des gemeinsamen Unterrichts müssen also möglichst optimal aufeinander abgestimmt sein. Verbunden werden diese nur analytisch zu unterscheidenden Momente der didaktischen Struktur des gemeinsamen Unterrichts durch die Tätigkeit der Lehrenden und der Lernenden. Im gemeinsamen Unterricht gewinnt die gemeinsame Tätigkeit der Lernenden deshalb eine besondere Bedeutung. So definiert Feuser auch Integration im Bereich des Unterrichts tätigkeitsbezogen. Integration findet dann statt, wenn …alle Kinder und Schüler in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau … an und mit einem ‚Gemeinsamen Gegenstand‘ spielen, lernen und arbeiten. (Feuser, 1995, S. 183 f.) Entscheidende Voraussetzung für einen gelingenden gemeinsamen Unterricht ist somit die „kooperative Tätigkeit“. Damit kommt für Feuser dem Projektunterricht eine zentrale Stellung bei der Verwirklichung des gemeinsamen Unterrichts zu (vgl. auch Heimlich 1999). Kooperation schließlich wird von Feuser anthropologisch fundiert und ausgehend von der dialogischen Philosophie Martin Bubers (1878-1965) als grundlegendes Merkmal menschlichen Seins verstanden (vgl. Buber 1997). Ohne Kooperation kann „menschliche Existenz nicht realisiert werden“ (Feuser, 1995, S. 183).
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Feuser bezieht hier eine beträchtliche Theorievielfalt in seinen Didaktikentwurf ein, der im Wesentlichen durch die materialistische Behindertenpädagogik (vgl. Jantzen, 1985) geprägt ist. Nach wie vor kann seine Definition vom gemeinsamen Lernen am gemeinsamen Gegenstand für sich beanspruchen, den Kern des integrativen Unterrichts schlüssig zu erfassen. Empirisch gewendet stellen sich allerdings erhebliche Probleme in der Passung zwischen dieser Theorie einer integrativen Didaktik und der Praxis des gemeinsamen Unterrichts ein. Die vorliegenden empirischen Studien zeigen, dass dieses gemeinsame Lernen am gemeinsamen Gegenstand nur einen kleinen Teil der tatsächlichen beobachtbaren Lernprozesse umfasst (s. zum Vergleich die Ergebnisse der Studien von Dumke weiter oben). Insofern steht auch die integrative Didaktik von Feuser im Spannungsfeld deskriptiver und präskriptiver Aussagen. Die entfaltete Form des gemeinsamen Unterrichts wird als Idealtypus durch den Prozess des gemeinsamen Lernens am gemeinsamen Gegenstand geprägt. Die Realität des gemeinsamen Unterrichts befindet sich offenbar immer noch auf dem Weg zu diesem Ziel hin. Gleichwohl vermag der Ansatz von Feuser bis dato das entscheidende Qualitätskriterium für den gemeinsamen Unterricht zu liefern. Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich für dieses Konzept aus der Diskussion mit der dialektisch orientierten Didaktik im Anschluss an Klingberg (vgl. Jank & Meyer, 1994, S. 240 ff.), zumal angesichts der gemeinsamen theoretischen Quellen. 23.1.3.2 Interaktionistisches Modell integrativer Didaktik Auch Hans Wocken (1998) kritisiert auf der Basis der Hamburger Integrationsprojekte und unter Rückgriff auf Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung in Hessen und Schleswig-Holstein das Theorem des gemeinsamen Gegenstands. Offenbar ist ein Konzept des gemeinsamen Unterrichts nicht ausschließlich über die Elemente Kooperation, gemeinsamer Gegenstand und Projektorientierung zu gewinnen. Wocken stellt dem eine „Theorie der gemeinsamen Lernsituationen“ (Wocken, 1998, S. 40) gegenüber. Erkenntnisleitend ist für ihn die anthropologische Grundannahme von der Gleichheit und Verschiedenheit aller Menschen (ebd.). Aus der Dialektik dieser beiden Pole menschlicher Grundrechte folgt nach Wocken eine „dynamische Balance von differenzierenden und integrierenden Lernsituationen“ (ebd.). Der gemeinsame Unterricht enthält nach Wocken also nicht nur gemeinsame Lernsituationen, sondern ebenso individualisierende. Theoretisch beeinflusst ist dieses Modell der integrativen Didaktik insbesondere durch die „Theorie integrativer Prozesse“ der Frankfurter Arbeitsgruppe zur Integrationsforschung (vgl. Reiser, Klein, Kreie & Kron, 1986, S. 120 ff.). Kommunikationstheoretisch werden Inhalts- und Beziehungsaspekt von gemeinsamen Lernsituationen systematisch unterschieden. Wocken differenziert vor diesem Hintergrund koexistente, kommunikative, subsidiäre und kooperative Lernsituationen. In koexistenten Lernsituationen dominieren die individuellen Tätigkeiten, soziale Beziehungen haben demgegenüber eine untergeordnete Bedeutung (Beispiel: Freie Arbeit, Wochenplanunterricht). Kommunikative Lernsituationen werden geprägt durch die sozialen Beziehungen der Lernenden, während nun der Unterrichtsinhalt eher ausgeblendet wird (Beispiel: Frühstück, offener Unterrichtsbeginn, Pause). Häufig kommt es im gemeinsamen Unterricht – wie bereits gezeigt wurde – zu
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| Teil VI: Schule und Unterricht Lehrer- und Schülerhilfe. Diese Lernsituation bezeichnet Wocken als subsidiär, weil sie durch Hilfeleistungen für Mitschüler/-innen gekennzeichnet sind. Dabei dominiert entweder der unterstützende Aspekt (Beispiel: gegenseitige Hilfe in der Partnerarbeit) oder der prosoziale Aspekt (Beispiel: 1 Schüler mit Schreibkompetenz notiert den Aufsatz für einen Schüler ohne Schreibkompetenz nach dessen Erzählung). Als „Sternstunden“ des gemeinsamen Unterrichts bezeichnet Wocken schließlich kooperative Lernsituationen: Kooperative, solidarische Lernsituationen vereinigen in höchster Form alle gemeinsamkeitsstiftenden, integrationsförderlichen Faktoren: Die Aufgaben und Ziele sind aufeinander bezogen, die Tätigkeiten und Arbeitsprozesse sind koordiniert und wechselseitig abgestimmt, es gibt einen Fundus an gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen. (vgl. Wocken, 1998, S. 50) Werden in kooperativen Lernsituationen eher unterschiedliche Ziele von den Lernenden verfolgt, so spricht Wocken von komplementären Lernsituationen. Der gemeinsame Unterricht wird durch diese vier Grundformen gemeinsamer Lernsituationen geprägt – und nicht nur durch kooperative, solidarische Lernsituationen. Außerdem sind ebenso individuelle Lernsituationen erforderlich. Mit dieser klaren begrifflichen Trennung von unterschiedlichen Typen gemeinsamer Lernsituationen gelingt es Wocken, insbesondere den Beziehungsaspekt des gemeinsamen Unterrichts differenziert zu beschreiben. Im Ergebnis ist damit wohl am ehesten ein Konzept des offenen Unterrichts angesprochen, in dem vielfältige Formen (wie Freiarbeit, Wochenplan, Projekt, Gespräch usf.) flexibel miteinander verbunden werden. Als weiteres Qualitätskriterium kann mit Wocken also festgehalten werden, dass gemeinsamer Unterricht eine Vielzahl gemeinsamer und individueller Lernsituationen bereithalten muss, um das gemeinsame Lernen in einem sozialen Sinne angesichts der Vielfalt der Lernvoraussetzungen realisieren zu können. Damit ist zugleich der Situationsaspekt des gemeinsamen Lernens bewusst geworden. Anschlussmöglichkeiten zur Allgemeinen Didaktik liefert, bezogen auf dieses Modell, insbesondere der Ansatz der kommunikativen Didaktik bei Schäfer und Schaller (vgl. Jank & Meyer 1991, S. 93 u. 119 ff.). 23.1.3.3 Ökologisches Modell integrativer Didaktik Die Vielschichtigkeit integrativer Lernerfahrungen wird mit den Ansätzen von Feuser und Wocken allerdings noch nicht in einem umfassenden Sinne erschlossen. Es dominiert zum einen der kognitive Aspekt und zum anderen der soziale Aspekt des gemeinsamen Lernens. Gemeinsamer Unterricht erreicht jedoch erst dann alle Schüler/-innen auf ihren jeweiligen Entwicklungsniveaus, wenn auch die emotionalen und sensomotorischen Aspekte des gemeinsamen Lernens ermöglicht werden. Dieser multidimensionale Lernbegriff ist besonders unter Rückgriff auf die demokratische Erziehungs- und Schultheorie von John Dewey und sein Konzept der Erfahrung nachvollziehbar (vgl. Dewey 1916/1993; Krüger & Lersch, 1993). Für Dewey gilt die Demokratie als eine Gesellschaftsform, die eine bestimmte Qualität des sozialen Umgangs ermöglicht. Gleichheit und Verschiedenheit als grundlegende Menschenrechte können nur dann realisiert werden, wenn sie von einer Erfahrung getragen werden, die alle teilen können und zu der
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alle beitragen. Erfahrungen haben damit nach Dewey einen passiven und einen aktiven Teil. Auch Erziehung ist in diese besondere Qualität von Erfahrungen in demokratischen Gesellschaften einbezogen. Aufbauend auf den Erfahrungen mit dem Schulversuch von Dewey hat Hartmut von Hentig (1993) in der Bielefelder Laborschule das Konzept der „Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ in die Tat umgesetzt. Es handelt sich vom Konzept her letztlich um eine Schule, die alle Kinder und Jugendlichen eines Wohnbezirks mit all ihren unterschiedlichen Kompetenzen aufnimmt und gemeinsam unterrichtet. Zum Kern des gemeinsamen Unterrichts werden so die integrativen Lernsituationen in einem umfassenden Sinne: Integrative Lernsituationen bieten eine Vielfalt an Lernerfahrungen im kognitiven, sozialen, emotionalen und sensomotorischen Bereich an, damit alle am gemeinsamen Lernen partizipieren können und alle etwas dazu beitragen. (Heimlich, 2003, S. 102) Unter der Perspektive einer didaktischen Strukturierung geht es beim gemeinsamen Unterricht also nicht nur um die differenzierende und individualisierende Gestaltung der Lernwege von Schülerinnen und Schülern in ihrer gesamten Heterogenität. Ebenso bedeutsam ist die Gestaltung angemessener Lernumgebungen, um Teilhaben und Beitragen im gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen. Dieses Denken in Kind-Umfeld-Zusammenhängen ist von Alfred Sander (1999a) in die integrative Pädagogik hineingetragen worden. Es hat sich besonders in diagnostischen Konzepten (Beispiel: Kind-UmfeldAnalyse), Beratungsmodellen und in den Beschreibungen von überregionalen Integrationsentwicklungen ausgewirkt. In der integrativen Didaktik ist ökologisches Denken jedoch bislang kaum präsent. Der Vorteil des Kind-Umfeld-Modells liegt zunächst in der Ausdifferenzierung des Umfeldbereichs, in der Regel verbunden mit der Unterscheidung mehrerer Systemebenen (vgl. Bronfenbrenner, 1989). Hilfreich ist diese Vorstellung im Rahmen der integrativen Didaktik vor allem deshalb, weil sie den gemeinsamen Unterricht in ein umfassendes Schulentwicklungsmodell einbettet. Unterrichtsentwicklung kann in modernen Bildungs- und Erziehungssystemen längst nicht mehr als Aufgabe einzelner Klassen oder einzelner Lehrkräfte verstanden werden. Sie erfordert entfaltete schulinterne und schulexterne Kooperationsstrukturen (vgl. Sander, 1999b; Heimlich & Jacobs, 2001). Ökologisches Denken ist aber auch in zunehmendem Maße in der Gestaltung des gemeinsamen Unterrichts präsent. Dies wird angesichts der gewachsenen Bedeutung von gestalteten Lernumgebungen beim gemeinsamen Lernen sichtbar. Auch die Lehr-Lernforschung konstatiert mittlerweile einen Übergang von kognitionstheoretischen und eher instruktionsorientierten Unterrichtskonzepten hin zu situierten Ansätzen (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001, S. 606 ff.), die der gemeinsame Unterricht ebenfalls im Zuge der Einführung von Integrationsklassen vollzogen hat. Situierte Lernumgebungen, in denen Lernen sich weitgehend eigenaktiv vollziehen kann und in denen Raum für soziale Konstruktionen vorhanden ist (vgl. Benkmann, 1998), eignen sich wesentlich umfassender für den Unterricht in heterogenen Lerngruppen. Damit sind die beiden Grundvorgänge der Instruktion und der Konstruktion keineswegs gegeneinander ausgespielt. Sie werden gemeinsam benötigt, müssen jedoch bezogen auf eine gemeinsame Problemstellung ausbalanciert werden. Hier schließt sich der Kreis erneut zum adaptiven
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| Teil VI: Schule und Unterricht Lernen. Das Konzept der problemorientierten Lernumgebung weist auf die grundlegende Aufgabe des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen hin: die optimale Passung zwischen Lerngegenstand und Lernvoraussetzungen. Um diese zu erreichen, sind sowohl Phasen der strukturierten Instruktion als auch Phasen der selbsttätigen Konstruktion erforderlich. Im Übrigen ist die direkte Instruktion, die sich besonders bei Schülerinnen und Schülern mit gravierenden Lernschwierigkeiten als hilfreich erwiesen hat (vgl. Kap. 23.6 in diesem Band), nicht mit herkömmlichem Frontalunterricht gleichzusetzen und keineswegs genauso erfolgreich, wenn sie mit einem autoritären Erziehungsstil kombiniert wird (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001, S. 629). In dem Maße, wie im gemeinsamen Unterricht dazu übergegangen wird, das integrative pädagogische Konzept in einer situierten Lernumgebung zu verankern, gewinnen ökologische Theorien dieser Lernumwelten an Bedeutung (vgl. Schnabel, 2001, S. 469 ff.). Unter ökologischem Aspekt müsste also die Qualität des gemeinsamen Unterrichts nicht nur bezogen auf die Lehrenden und die Lernenden sowie deren Interaktion formuliert werden, sondern ebenso auf die Lernumgebung, in dem das gemeinsame Lernen stattfindet, einschließlich weiterer Systemebenen der „Schule für alle“. 23.1.4 Ausblick Der Versuch, den gemeinsamen Unterricht in empirischer und theoretischer Hinsicht zu fundieren, führt uns letztlich zur Frage nach Qualitätsstandards. Auch wenn die empirische Forschung zum gemeinsamen Unterricht nach wie vor nur wenig experimentelle Forschung im engeren Sinne aufweist, so kann doch von einem empirisch fundierten Bild dieses Unterrichtskonzeptes gesprochen werden. Merkmale wie Selbsttätigkeit, intensive Lehrer- und Schülerhilfe, Grundelemente des offenen Unterrichts, kooperatives Lernen, aber auch strukturiert-lehrerzentrierte Elemente wie Klassenunterricht werden immer wieder als Bestandteile empirisch bestätigt. Theoretisch ergeben sich über entwicklungslogische, interaktionsbezogene und auf situierte Lernumgebungen gerichtete Modelle der integrativen Didaktik Möglichkeiten zur Beschreibung einer optimalen Qualität des gemeinsamen Unterrichts. Dies erscheint auch als viel versprechender Weg für die weitere Unterrichtsforschung in diesem Bereich, da die pädagogische Qualität des gemeinsamen Unterrichts möglicherweise über die Unterrichtsqualität in nichtintegrativen Schulen hinausgeht. Im Zuge der weiteren Verbreitung des Konzeptes der inclusive education im deutschsprachigen Raum mit der Perspektive des bedarfsgerechten Ausbaus des gemeinsamen Unterrichts würde so auch eine zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf von einer verbesserten Unterrichtsqualität profitieren.
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Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 375
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23.2 Die Effekte von Sonderunterricht und gemeinsamem Unterricht auf die Entwicklung von Kindern mit Lernbehinderungen Gérard Bless und Kathrin Mohr Absicht des vorliegenden Beitrages ist die Aktualisierung des Forschungsstandes zur Frage nach den Wirkungen integrierender und separierender Schulformen auf die Entwicklung zentraler Variablen bei lernbehinderten Kindern. Ausgangspunkt ist unter anderem ein im Jahre 2000 erschienener Aufsatz (Bless, 2000, S. 440-453) in dem Forschungsberichte bis zum Publikationsjahr 1997 berücksichtigt werden konnten. Die vorliegende Aktualisierung referiert Forschungsergebnisse, welche in den letzten sieben bis acht Jahren gewonnen wurden. Diese werden jeweils in Bezug zu den damaligen Resultaten gestellt, so dass ein umfassendes, doch aktualisiertes Bild über das empirische Wissen zur Thematik gewonnen wird. Die Forschungsaktivität der letzten Jahre rechtfertigt dieses Vorgehen. Unter Integration wird im vorliegenden Beitrag die gemeinsame Unterrichtung von lernbehinderten und nichtbehinderten Kindern in Klassen des öffentlichen Schulsystems verstanden, wobei für Kinder mit besonderen Bedürfnissen begleitend zum Unterricht die erforderliche sonderpädagogische Betreuung vor Ort unter Verzicht einer schulischen Aussonderung bereitgestellt wird. Gemeinsamer Unterricht wird als pädagogische Maßnahme verstanden, die bei gleichzeitiger Garantie einer adäquaten und individuellen Förderung aller Kinder im Hinblick auf ihre optimale gesellschaftliche Integration ergriffen wird (Mittel zur Erreichung der gesellschaftlichen Integration als Ziel). Diese Sichtweise unterstreicht, dass sich die Integration nicht auf das räumliche Zusammenführen von lernbehinderten Kindern mit Regelschulkindern in einer gemeinsamen Klasse beschränkt, sondern dass damit gleichzeitig die Bereitstellung einer bedürfnisgerechten Betreuung durch sonderpädagogisches Fachpersonal in hinreichendem Ausmaß garantiert sein muss.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Mit Sonderunterricht ist eine Beschulung lernbehinderter Kinder unter ihresgleichen in besonderen Klassen (Separation) gemeint. Separierende Klassen existieren entweder in eigenständigen Sonderschulen oder als Kleinklassen für Lernbehinderte (separierende Schulform für Lernbehinderte in der Schweiz), welche in Regelschulhäusern gemeinsam mit Regelklassen untergebracht sind. Sowohl in Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen als auch in Kleinklassen werden lernbehinderte Kinder nach Durchlaufen eines Selektionsverfahrens aufgenommen, das der Feststellung der Sonderschulbedürftigkeit bzw. des sonderpädagogischen Förderbedarfs dient. Diese Klassen weisen somit – zumindest theoretisch – nur Kinder auf, welche den Anforderungen und/oder den Unterrichtsmethoden der Regelschule nicht genügen oder nicht zu genügen scheinen und somit als ‚lernbehindert‘ bezeichnet werden. Die Analyse der Forschungsliteratur bezieht sich auf empirische Studien, welche in der Regel im Längsschnitt die Auswirkungen der Integration beziehungsweise der Separation auf die interessierenden Variablen durch Vergleiche zwischen Versuchs- und Kontrollgruppen untersuchen. Im Vordergrund stehen Effekte zur sozialen Stellung lernbehinderter Kinder in Regelklassen, zum Begabungs- bzw. Selbstkonzept sowie zur Lernentwicklung (Schulleistungen). Zusätzlich werden auch Untersuchungen zu anderen interessierenden Bereichen diskutiert. Der überwiegende Teil der für den vorliegenden Beitrag herangezogenen Veröffentlichungen stammt aus dem englischen Sprachraum. Das macht einige ergänzende Erklärungen zur Verwendung des Begriffs „Lernbehinderung“ notwendig; denn dieser erweist sich im Kontext englischsprachiger Literatur als nicht unproblematisch. Sein englisches Pendant „learning disability“ umfasst beispielsweise in den USA einen größeren Personenkreis als denjenigen der im Deutschen als „lernbehindert“ bezeichneten Menschen (Schröder 2000, S. 63). Daher steht die Verwendung des Begriffs Lernbehinderung im vorliegenden Beitrag unter einem gewissen Vorbehalt. Dieser wird indes dadurch gemindert, dass in verschiedenen Studien der jeweils angesprochene Personenkreis nicht nur durch die Bezeichnung „learning disability“, sondern auch anhand weiterer Merkmale präzise umschrieben wird. Als Schüler und Schülerinnen mit Lernbehinderung werden im vorliegenden Beitrag diejenigen bezeichnet, welche im schulischen Kontext über einen langen Zeitraum durch schwer wiegende und umfangreiche Schwierigkeiten beim Lernen auffallen. Diese Schwierigkeiten können zu deutlichen Abweichungen im Leistungsverhalten und/oder sozialen Verhalten führen. Ein weiterer Aspekt, welcher zur Erläuterung des Begriffes häufig mit angeführt wird, ist das Heranziehen des Intelligenzquotienten (vgl. z. B. Werning & Lütje-Klose, 2003). In der Schweiz geht man davon aus, dass Kinder mit einem IQ zwischen 75 und 90 zur Personengruppe der Lernbehinderten gehören. Ein IQ unter 75 gilt als geistige Behinderung (eine Zuordnung, die durch versicherungstechnische Zusammenhänge der Invalidenversicherung begründet ist; vgl. Haeberlin, Bless, Moser & Klaghofer, 1999). Allerdings ist im Zusammenhang mit dem Einordnungskriterium IQ auch auf eine Meta-Analyse von Pijl und Pijl (1998) hinzuweisen, die für ihr Untersuchungsgebiet – die Niederlande – zeigt, dass die Unterschiede im IQ zwischen Kindern mit Lernbehinderung („children with learning disabilities“; Pijl & Pijl, 1998, S. 7) und Regelschülern („regular [...] pupils“; S. 9) weniger hervorstechen als die Unterschiede in ihren jeweiligen schulischen Leistungen (bezogen auf das Lesen und die Mathematik). Die in den letzten Jahren immer wieder hervorgehobene Position,
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dass eine Differenzierung von Personengruppen allein anhand des IQ unzulässig ist, findet hier eine weitere Bestätigung. Mit den dargestellten Vorbemerkungen ist der Bezugsrahmen offen gelegt, auf dessen Hintergrund die nachstehenden Ausführungen zu verstehen sind. Der erste Abschnitt des jeweilig folgenden Kapitels ist als Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zu verstehen, welche in Bless (2000, S. 440-453) dargestellt wurden und hier aktualisiert und ergänzt werden. 23.2.1 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die soziale Stellung Lernbehinderte Kinder in Regelklassen weisen insgesamt im Vergleich zu ihren nichtbehinderten Mitschülern eine niedrigere soziometrische Stellung auf. Dies bedeutet, dass unter den Lernbehinderten signifikant mehr Kinder in den ungünstigen soziometrischen Positionen zu finden sind als unter den nichtbehinderten Mitschülern. Dieser Befund wird in der internationalen Forschungsliteratur auf eindrückliche Weise bestätigt. Insgesamt konnten 41 Studien und zwei Meta-Analysen zusammengetragen werden, welche die soziale Akzeptanz lernbehinderter Kinder in Regelklassen mit zusätzlichen sonderpädagogischen Maßnahmen mittels soziometrischer Methoden untersucht haben. Zu ergänzen ist dieser Befund mit dem bereits 1989 gewonnenen Ergebnis eines Forschungsüberblicks (Bless, 1989, S. 370; Bless, 2002, S. 18 ff. und S. 41 ff.), wonach der Grad der praktizierten Integration, die konkrete schulorganisatorische Struktur sowie die Dauer keinen Einfluss auf den soziometrischen Status integrierter Lernbehinderter zu haben scheinen. Dass lernbehinderten Schülern und Schülerinnen im Vergleich zu nichtbehinderten insgesamt eine geringere Akzeptanz (etwa als Freund, Spiel- oder Arbeitspartner) bei ihren Klassenkameraden zukommt, wird als Ergebnis in den neueren Veröffentlichungen von Le Mare und De la Ronde (2000), Kuhne und Wiener (2000), Frederickson und Furnham (2001) oder Bakker und Bosman (2003) bestätigt. Die genannten Untersuchungen stützen sich dabei auf Daten, die mit Hilfe soziometrischer Skalen bei den lernbehinderten Kindern selbst sowie bei ihren nichtbehinderten Mitschülerinnen und Mitschülern erhoben wurden. Zum gleichen Ergebnis kommen auch Kavale und Forness (1996) in ihrer Meta-Analyse, welche neben der Einschätzung der jeweiligen lernbehinderten Kinder sowie ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler zusätzlich die Einschätzungen seitens ihrer Lehrerinnen und Lehrer berücksichtigt. Dagegen wurde eine relativ hohe Akzeptanz von Schülern und Schülerinnen mit Lernbehinderung in unteren Klassenstufen in einer Studie von Kemp und Carter (2002) festgestellt, die im Übrigen neben dem Setting des Klassenraumes auch dasjenige des Spielplatzes einbezog. Allerdings sind die Ergebnisse dieser Studie aufgrund der kleinen Stichprobe (N = 22) mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren. Kemp und Carter vermuten, dass den Kindern durch die frühe Integration in eine reguläre Vorschule, welche mit dem Training sozialer Fähigkeiten einhergeht, ein Vorteil für ihre spätere Einschulung entsteht. In dieser Untersuchung wurde einerseits eine soziometrische Skala verwendet, anhand welcher die Jungen und Mädchen der Stichprobe die soziale Stellung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler einschätzten, andererseits wurden Daten über Beobachtungen und Interviews mit Eltern und Lehrpersonen erhoben.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Im Forschungsprojekt von Frederickson und Furnham (2001) wurden die Selbst- und Fremdeinschätzungen der Kinder – ebenfalls unter Berücksichtigung zweier unterschiedlicher Settings (Spielplatz und Klassenraum) – im Laufe von zwei Schuljahren überprüft. Die Ergebnisse zeigen zwischen den beiden Settings eine hohe Übereinstimmung: Der ungünstigere soziale Status von lernbehinderten Kindern bestätigt sich im Spielbereich wie im Klassenraum. Frederickson und Furnham erkannten im Rahmen ihrer Studie jedoch die Tendenz, dass über einen Zeitraum von zwei Jahren negative Einschätzungen seitens der Mitschüler und Mitschülerinnen im Setting ‚Klassenraum‘ sowohl lernbehinderten als auch nichtbehinderten Kindern gegenüber abnahmen. Diese Veränderung der Aussagen mit zunehmendem Alter wird von den Autoren mit der erhöhten Aufmerksamkeit der Kinder in Bezug auf sozial erwünschtes Verhalten in Verbindung gebracht. Keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse wurden zur Abhängigkeit der Untersuchungsergebnisse von den gewählten Erhebungs- und Auswertungsverfahren gewonnen. Den Aussagen von Chambers und Kay (1992), dass soziometrische Studien die ungünstigere soziale Stellung Lernbehinderter in Integrationsklassen eindeutig belegen und damit nicht den weitaus positiveren Ergebnissen entsprechen, die durch systematische Beobachtungen und Interaktionsanalysen gewonnen wurden, kann nichts Wesentliches hinzu gefügt werden. Aufgrund verschiedentlicher Hinweise aus der Forschung wurde in diesem Aufsatz die Vermutung geäußert, dass lernbehinderte Kinder zusätzlich zu ihren Schulleistungsproblemen häufig auch weitere Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität, Aggressivität oder mangelndes prosoziales Verhalten zeigen und dass diese Kombination von Schulleistungsschwäche und Verhaltensauffälligkeiten sich in besonderem Maße negativ auf ihre soziale Stellung in der Klasse auswirkt (Bless, 2000, S. 443). Diesen Hinweis nehmen verschiedene Studien wieder auf, wobei der vermutete Zusammenhang zum Teil bestätigt werden konnte (Kavale & Forness, 1996). Weiterhin werden Ansätze wie das Training sozialer Fertigkeiten (Social Skills Training, z. B. bei Kemp & Carter, 2002) und auch Konzepte zum kooperativen Lernen in neueren Studien angesprochen. In der Untersuchung von Le Mare und De la Ronde (2000) findet sich etwa die Anregung, dass mit den Schülerinnen und Schülern die (selbst) gewählten Lernformen hinsichtlich ihrer möglichen Folgen auf die Akzeptanz in der Klasse besprochen werden sollten. Als Resümee können somit für die letzten Jahre die früheren Aussagen zur sozialen Stellung lernbehinderter Kinder in integrativen Schulformen weiterhin bestätigt werden. Die Erforschung der sozialen Stellung wird in neueren Studien erweitert, indem verschiedene Settings wie Schulraum und Spielplatz betrachtet werden. Einzelne Untersuchungsergebnisse regen für künftige Forschungen an, die Abhängigkeit der sozialen Stellung lernbehinderter Kinder in Regelschulklassen vom Angebot und der Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen differenzierter zu betrachten. 23.2.2 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die Lernfortschritte Bei Bless (2000) wird ein Überblick zur Leistungsentwicklung von lernbehinderten Kindern in integrierenden und separierenden Schulformen gegeben. Als Fazit konnte festgehalten werden, dass integriert beschulte Kinder mit Lernbehinderung mindestens
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ebenso gute und häufig sogar bessere Lernfortschritte erreichen als vergleichbare Kinder in Sonderklassen, sofern sie individuell unterstützt werden. Die Forschungstätigkeit zu diesem Themenaspekt scheint in den vergangenen Jahren zurückgegangen zu sein, was die geringe Anzahl der dazu gefundenen Studien vermuten lässt. Jedoch findet das oben formulierte Fazit eine Bestätigung in dem niederländischen Forschungsbericht von Karsten, Peetsma, Roeleveld und Vergeer (2001, S. 201), in welchem ebenfalls betont wird, dass Kinder mit Lernbehinderungen in Sonderschulen einen weniger großen Lernfortschritt erzielen als ihre integriert beschulten Altersgenossen. Im Zusammenhang mit diesem Ergebnis wird (a.a.O., S. 202) darauf hingewiesen, dass es eine Rolle zu spielen scheint, ob die Eltern der lernbehinderten Schüler bzw. Schülerinnen in der Lage sind, das Lernen und die schulische Arbeiten ihrer Kinder zu unterstützen. Der Focus wurde in der genannten Untersuchung auf die Kinder von Migranten gerichtet, welche nach Meinung des Forscherteams besonders benachteiligt sind. Vorteile der integrativen Beschulung werden ebenfalls von Kronig, Haeberlin und Eckhart (2000) berichtet, welche die Wirkung verschiedener integrativer und separierender Schulformen unter anderem auf die Lernentwicklung schulleistungsschwacher Migrantenkinder untersuchen. Des Weiteren wird bei Karsten et al. (2001) sowie bei Addison Stone und May (2002) hervorgehoben, dass der Leistungsstand der von ihnen betrachteten Schüler und Schülerinnen mit einer Lernbehinderung zwar signifikant niedriger ist als bei ihren nichtbehinderten Mitschülern, jedoch noch im jeweiligen nationalen Durchschnitt aller Schüler bzw. Schülerinnen dieser Altersgruppe liegt. Hingewiesen sei darauf, dass es beim Vergleich der Ergebnisse verschiedener Studien deren unterschiedliche kulturellen Rahmenbedingungen – etwa hinsichtlich der Schulund Bewertungssyteme – zu berücksichtigen gilt (vgl. Bless, 2000); denn bei Karsten et al. (2001) handelt es sich um eine niederländische, bei Addison und May (2002) um eine US-amerikanische Studie. 23.2.3 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf das Selbstkonzept Die Untersuchungen zu den Effekten des gemeinsamen Unterrichts im Hinblick auf das Selbstkonzept von Schülern und Schülerinnen mit Lernbehinderung können grundsätzlich unterteilt werden in Studien, welche a) das allgemeine Selbstkonzept, b) das Begabungskonzept hinsichtlich der Schulleistungen als einen ausgewählten Teil des Selbstkonzeptes oder c) die Selbstwirksamkeit berücksichtigen. Beim Vergleich verschiedener Studien zeigt sich in der Analyse von Bless (2000, S. 444) ein widersprüchliches Ergebnis im Bezug auf das allgemeine Selbstkonzept lernbehinderter Schüler und Schülerinnen. Eindeutigere Forschungsergebnisse fanden sich demgegenüber in Bezug auf das Begabungskonzept der angesprochenen Schülerschaft (S. 444 f.): Bei lernbehinderten Schülern und Schülerinnen mit integrierter Beschulung wurde ein niedrigeres Begabungskonzept nachgewiesen, als es sowohl bei ihren nichtbehinderten Mitschülern als auch bei den lernbehinderten Schülern und Schülerinnen in der Sonderschule vorzufinden war. Weiterhin wurde die Tendenz aufgewiesen, dass das anfänglich hohe Begabungskonzept von Sonderschülern gegen Ende ihrer Schulzeit sinkt. Dies kann dem Bezugsgruppeneffekt
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| Teil VI: Schule und Unterricht zugeschrieben werden, der am Ende der Schulzeit zu einer Relativierung des zuvor überschätzten Selbstkonzeptes führt. Zu a) Unter Berücksichtigung der neueren, ab 1998 erschienenen Untersuchungen scheint sich das widersprüchliche Bild bezüglich des allgemeinen Selbstkonzepts ein wenig zu klären. Es ist eine Tendenz erkennbar, dass das Selbstkonzept integriert beschulter Lernbehinderter gleich oder niedriger ausgeprägt ist als dasjenige nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler sowie als dasjenige separiert beschulter Lernbehinderter: Einerseits sind die Untersuchungen von Harter, Whitesell und Junkin (1998) sowie von Bakker und Bosman (2003) anzuführen, denn beide Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass integrierte lernbehinderte Jugendliche ein niedrigeres allgemeines Selbstkonzept aufweisen als nichtbehinderte Schüler bzw. Schülerinnen. Nach Harter et al. (1998) gilt dies besonders für Mädchen und neben lernbehinderten auch für integriert beschulte verhaltensauffällige Jugendliche. Bakker und Bosman indessen verglichen das Selbstkonzept der integriert beschulten Lernbehinderten zusätzlich mit demjenigen von lernbehinderten Schülerinnen und Schülern an Sonderschulen, und auch hierbei erwies sich das Selbstkonzept der integriert beschulten Lernbehinderten als niedriger. Andererseits erhielten Vaughn, Elbaum, Schumm und Hughes (1998), Addison Stone und May (2002) sowie Gans, Kenny und Ghany (2003) in ihren Untersuchungen das Ergebnis eines in etwa gleich ausgeprägten allgemeinen Selbstkonzeptes von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Lernbehinderung. Dieser Befund wird auch durch die Meta-Analyse von Elbaum und Vaughn (2003) bestätigt. In den drei Meta-Analysen von Elbaum und Vaughn (2001), Elbaum (2002) und Elbaum und Vaughn (2003) werden vor allem die Effekte, die von der Art der pädagogischen Intervention auf das allgemeine Selbstkonzept ausgehen, sowie die Zusammenhänge zwischen dem Beschulungsort, der Art der Intervention und dem allgemeinen Selbstkonzept untersucht. Elbaum (2002) stellt fest, dass es zwischen dem angegebenen Selbstkonzept von Schülern und Schülerinnen mit Lernbehinderung und ihrem Beschulungsort keine systematischen Zusammenhänge gibt. Die erhobenen Daten hinsichtlich der Effekte der vorgenommenen Interventionen zeigten Unterschiede der Effektivität in verschiedenen Altersstufen: Kinder im Elementarschulbereich scheinen eher von Interventionen im Bereich akademischer Intelligenz – zum Beispiel in Form von Lernhilfen – zu profitieren. Ältere Schüler reagieren hingegen besser auf Angebote in Form von Beratung, zum Beispiel bezüglich ihrer Selbstwahrnehmung oder ihrer sozialen Fähigkeiten. Elbaum und Vaughn (2001) vertreten weiterhin die Ansicht, dass die größten Effekte der Interventionen bei lernbehinderten Schülern und Schülerinnen aller Altersgruppen im akademischen Selbstkonzept, d. h. im Begabungskonzept, zu verzeichnen sind. Die Autoren begründen diese Aussage u. a. mit der Vermutung einer einfacheren Neubewertung des akademischen Selbstkonzeptes durch die Lernenden selbst im Gegensatz zu anderen Teilbereichen des allgemeinen Selbstkonzepts. Bear, Minke, Griffin und Deemer (1998) schließlich untersuchten den Einfluss des Lehrerurteils auf die Herausbildung des Selbstkonzeptes bei Kindern mit und ohne Lernbehinderung. Die Autoren kamen dabei zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Selbstkonzepts bei beiden Gruppen bedeutend vom Lehrerurteil beeinflusst wird. Zu b) Die Ergebnisse der Forschungsprojekte der letzten Jahre zum Begabungskonzept integriert beschulter Lernbehinderter zeigen eine klare Bestätigung der vorherigen – oben
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wiedergegebenen – Zusammenfassung von Bless (2000). Vaughn et al. (1998), Hagborg (1999), Addison und May (2002), Tabassam und Grainger (2002) sowie Gans et al. (2003) kamen in ihren jeweiligen Studien übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass integrierte lernbehinderte Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu lernbehinderten Sonderschülern ein niedrigeres Selbstkonzept hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit haben. Besonders interessant scheinen in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Meltzer, Roditi, Houser und Perlman (1998) zu sein; denn die genannten Autoren stellten bei der Auswertung ihrer Studie fest, dass integriert beschulte Kinder mit Lernbehinderung sich zwar als fähig in ihren akademischen Kompetenzen wahrnehmen, ihre Selbsteinschätzung dabei aber dennoch niedriger ist als diejenige von Schülern mit durchschnittlichen Schulleistungen. Zu c) Hinsichtlich der Selbstwirksamkeit lässt sich eine Studie von Hampton und Mason aus dem Jahr 2003 anführen. In ihr wird zwischen der Selbstwirksamkeit und dem „Lernbehindertenstatus“, d. h. dem Sachverhalt, als lernbehindert zu gelten, keine direkte Verbindung festgestellt. Ein indirekter Effekt ist nach Aussage von Hampton und Mason allerdings insofern vorhanden, als dass lernbehinderte Schüler und Schülerinnen weniger Zugang zu jeglichen Quellen der Selbstwirksamkeit haben als nichtbehinderte und die somit reduzierten Informationen bezüglich ihrer Wirksamkeit in die Entwicklung ihrer Selbstwirksamkeitsüberzeugungen einfließen. 23.2.4 Fazit Die aktuellen Forschungsarbeiten zu den Wirkungen von Sonderunterricht und gemeinsamem Unterricht bestätigen insgesamt die bisherigen Ergebnisse und Erkenntnisse, welche von Bless (2000, S. 440 f.) dargestellt wurden. Damit kann von einer noch stärkeren empirischen Bewährung der bisher getätigten Aussagen ausgegangen werden. Bezüglich der Forschungsaktivitäten zur sozialen Stellung lernbehinderter Schüler und Schülerinnen wurde neu das Setting „Spielplatz“ einbezogen. Zum Thema „Effekte des gemeinsamen Unterrichts auf die Lernfortschritte“ ist eine geringere Forschungstätigkeit als bisher zu verzeichnen. Die meisten neuen Erkenntnisse sind zu den Effekten des gemeinsamen Unterrichts im Hinblick auf das Selbstkonzept lernbehinderter Schülerinnen und Schüler zu finden. Hierbei sind zwei zusätzliche Forschungsschwerpunkte zu erkennen: die Auswirkungen von Interventionen auf das Selbst- bzw. Begabungskonzept sowie die Untersuchung des Selbstwirksamkeitsglauben von Kindern mit Lernbehinderungen. Die aktualisierten Literaturrecherchen haben keinerlei neue Hinweise zu Forschungsarbeiten bezüglich der Langzeiteffekte von Integration oder Separation ergeben, so dass die bereits von Bless (2000, S. 446 f.) diskutierten Untersuchungen von Hauer (1990), Blöchlinger (1991) und Riedo (2000) nach wie vor die einzigen Studien sind, welche sich dieser wichtigen Fragestellung widmen. Abschließend sei deshalb darauf hingewiesen, dass in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum leider eine geringe Forschungsaktivität zur Thematik insgesamt feststellbar ist. Damit sind Untersuchungen gemeint, welche aufgrund ihrer Ziele und Forschungsstrategien Generalisierungen zulassen. Hilfreich sind unseres Erachtens insbesondere Studien, welche gezielt Forschungsfragen bearbeiten, die das ,Wie‘ der Realisierung integrativen Unterrichts in den Vordergrund des Interesses stellen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht
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23.3 Bildung und Erziehung in Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen Ulrich Schröder Während die anderen Beiträge im Kapitel 23 vor allem den Unterricht mit Lernbehinderten thematisieren, werden im Folgenden bildungsorganisatorische Fragen – bedingt durch die Behandlung der Sonderschule als Ort der Förderung – breiten Raum einnehmen. Dazu gehören u. a. das Verhältnis zu den übrigen Sonderschulen und zur Allgemeinen Schule und der Aufweis ihrer historischen Entwicklung. Auf Unterricht und Didaktik bezogen,
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| Teil VI: Schule und Unterricht ist allerdings zu erörtern, wie ein eigener Bildungsgang, ein eigener Lehrplan begründet werden können und welche besonderen Ziele und Inhalte dafür vorzuschlagen sind. In den letzten Jahren ist in der Begrifflichkeit der verschiedenen Länder der Bundesrepublik Deutschland ein großes Durcheinander aufgekommen. Zu den möglichen Verwirrungen und Missverständnissen trägt insbesondere die Verwendung der Bezeichnung „Förderschule“ bei, die in mindestens vier verschiedenen Bedeutungen und unterschiedlichen Begriffsumfängen erscheint (zur Kritik daran siehe Schröder, 2000, S. 85 f.). Zum Zwecke der Verständlichkeit ist daher vorab eine rigorose Sprachregelung angezeigt: Erstens. Die besondere Schule für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im „Förderschwerpunkt Lernen“ im Ausmaß einer Lernbehinderung (vgl. Schröder, 2000, S. 79 f.) wird in den Bundesländern mit sechs verschiedenen Namen belegt: Schule für Lernbehinderte, Schule für Lernhilfe, Förderschule, allgemeine Förderschule, Förderschule für Lernbehinderte und Schule zur individuellen Lernförderung. Neuerdings planen einige Bundesländer wiederum Umbenennungen (Berichte zur Hauptversammlung, 2003). Die am häufigsten gültige Bezeichnung „Schule für Lernbehinderte“ wird im Folgenden ausschließlich verwendet (siehe auch KMK, 1999, 5.3), ebenso die Kennzeichnung der Schülerinnen und Schüler als „lernbehindert“. Trotz mancher berechtigten Kritik an dieser Wortprägung vermag im Vergleich mit ihr keiner der alternativ vorgeschlagenen Begriffe angemessen zum Ausdruck zu bringen, wie gewichtig der sonderpädagogische Förderbedarf hierbei ist (zur ausführlicheren Begründung siehe Schröder, 2000, S. 67 ff.). Zweitens. Der Oberbegriff „Sonderschule“ ist in einigen Ländern ersetzt durch „Förderschule“ oder „Schule für Behinderte“. Damit wäre die „Förderschule“ im Sinne Hamburgs (= Schule für Lernbehinderte) eine Unterart der „Förderschulen“ (= Sonderschulen) im Sinne Bayerns. Im vorliegenden Beitrag wird nur der herkömmliche Ausdruck Sonderschule verwendet. Drittens. Da die immer noch anzutreffende Bezeichnung der „Normal“schule als „Regelschule“ schulrechtlich falsch ist, findet sich hier – wie in den Verlautbarungen der Kultusbehörden – ausschließlich die Formulierung „Allgemeine Schule“. Bildung und Erziehung in Sonderschulen stellen nur einen Teil der sonderpädagogischen Förderung dar, die angeboten werden kann: Präventive Maßnahmen, gemeinsamer Unterricht mit „Nichtbehinderten“ sowie die Eingliederung in Berufs- und Alltagsleben gehören ebenso dazu. Spätestens seit Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist fachwissenschaftlich die Gleichsetzung der Sonderpädagogik mit Sonderschulpädagogik überwunden, wird insbesondere ein Ausgreifen sonderpädagogischer Maßnahmen auf die Allgemeine Schule in Form einer „Fördererziehung“ diskutiert (Bach, 1970; vgl. Sander, 1982). Gleichwohl gilt faktisch weiterhin die überwältigende quantitative Dominanz der sonderschulisch separierten Förderung Lernbehinderter im deutschen Schulsystem. Und trotz zahlreicher administrativer Neuerungen in jüngster Zeit ist augenblicklich in keinem Bundesland zu erkennen, dass es bei Lernbehinderten wirklich entschieden auf schulische Integration setzen will (KMK, 2002; Berichte zur Hauptversammlung, 2003). Dieser Sachlage entsprechend, wird im vorliegenden Beitrag nicht darauf abgezielt, die Existenzberechtigung der Sonderschule zu verneinen, jedoch ebenso wenig darauf, die Unverzichtbarkeit dieser Schulform aufzuzeigen. Und es ist stets zu beachten, dass
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die relativ isolierte Abhandlung sonderschulischer Förderung zugleich eine Reduzierung der Komplexität der sonderpädagogischen Gegebenheiten bedeutet. 23.3.1 Historische Aspekte der Sonderschulerziehung Die heutige Schule für Lernbehinderte zu verstehen – ihre Ausdehnung, ihre Abgrenzung von der Allgemeinen Schule und der Schule für Geistigbehinderte, ihre Organisationsform und ihre Zielsetzung –, ist nicht möglich ohne einen Blick auf ihre Geschichte, insbesondere auf ihre Anfangsphase (s. zum Folgenden Schröder, 2000, S. 9-36). Als erste auf Selbständigkeit und Dauer ausgerichtete einschlägige Institution ist die „Schule für schwachbegabte Kinder“ in (Wuppertal-)Elberfeld von 1879 anzusehen; ihr folgten 1881 die Schulen in Braunschweig und Leipzig. Bald setzten sich sowohl die in Braunschweig geprägte Bezeichnung „Hilfsschule“ als auch das Verständnis der Schülerschaft als „schulbildungsfähig schwachsinnig“ allgemein durch. Die neue Schul einrichtung fand Interesse und Nachfolge in deutschen Städten und über Deutschland hinaus, und insbesondere nach der Gründung des Verbandes der deutschen Hilfsschulen 1898 wuchs die Zahl der Hilfsschulen in Deutschland eindrucksvoll an. Es versteht sich, dass die Hilfsschule nicht isoliert von Vorläufern (im weiten Sinne) und vom schulischen und gesellschaftlichen Kontext entstand. Zum Kontext zählen zunächst die damals bereits bestehenden sonderpädagogischen Einrichtungen mit einem schulischen Unterrichtsangebot, also die Schulen für Blinde und für Taubstumme und die sogenannten Idiotenanstalten. Während die Blindenpädagogik für die Hilfsschule keine Rolle spielt, werden die Methoden der Taubstummenpädagogik, insbesondere die zur Sprachförderung, von den frühen Hilfsschulen zu Rate gezogen. Enger ist freilich die Beziehung zu den „Idiotenanstalten“, die zwar in erster Linie die Pflege schwer geistig behinderter Personen zu leisten hatten, aber auch unterrichtliche Konzepte für den Anfangsunterricht in Lesen, Mathematik und Sachunterricht erarbeitet haben. Sie enthielten nämlich „von Anfang an eine erhebliche Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die schulischer Bildung und Erziehung zugänglich“ waren (Jantzen, 1982, S. 29; vgl. Brandenberg, 1890). Insofern haben die betreffenden Abteilungen der Anstalten auch eine gewisse Vorbildfunktion für die Hilfsschulen. Daraus wird verständlich, dass die für die ersten Hilfsschulklassen ausgewählten Lehrpersonen zu Hospitationen in die nächstgelegenen Anstalten geschickt wurden, um die Unterrichtsmethoden kennen zu lernen. Schließlich kamen einige der allerersten Vertreter der Hilfsschulpädagogik aus der Anstaltstätigkeit. Hier ist vor allem H. E. Stötzner zu nennen, der bereits 1864 in einer kleinen Schrift die Einrichtung von „Schulen für schwachbefähigte Kinder“ gefordert hat. Neben seinen Erfahrungen als Taubstummenlehrer und in einer Idiotenanstalt wirkten sich in seiner Anregung die Diskussionen in der Leipziger „Pädagogischen Gesellschaft“ aus. Die Kinder kennzeichnete er u. a. als „die Letzten in der Classe“ und ordnete sie zwischen „normal gebildeten“ und geistigbehinderten Kindern ein. Der Unterricht, der „nichts voraussetzen“ kann, soll mit basaler Förderung („Sinnenübungen“, Stäbchenlegen u. a.) beginnen, wird dann aber „dem der Volksschule mehr und mehr ähnlich“ (Stötzner, 1864; vgl. Brandenberg, 1890).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Entschieden spricht sich Stötzner gegen eine Anstaltsform aus, plädiert hingegen für eine öffentliche, wohnortnahe Schule. Dies wird auch die Position der später faktisch gegründeten Hilfsschulen sein, die sowohl in der Organisation als auch in der Orientierung der Lehrpläne als eine Form der Differenzierung des Volksschulwesens gekennzeichnet werden dürfen. Dies gilt ebenfalls für die Schülerschaft: Dass die Hilfsschüler zunächst die Allgemeine Schule besucht haben, bevor sie „überwiesen“ werden, wird bald zur Regel. Damit ist nun einer der wichtigsten Faktoren des oben erwähnten Kontextes angesprochen: die Situation der Volksschule. Einerseits machte erst ein entwickeltes und anspruchsvolleres Schulsystem die große Zahl der dramatisch an der Allgemeinen Schule scheiternden Kinder sichtbar, anderseits erlaubte der erteilte Unterricht in übervollen Klassen den zurückgebliebenen Kindern der untersten Schichten auch kaum einen Lernerfolg. Trotzdem übernahm die Hilfsschule Strukturelemente wie das Jahrgangsklassensystem samt seiner bedenklichen Konsequenz des „Sitzenbleibens“. Wenn sie grundsätzlich ebenfalls die Unterrichtsgegenstände übernahm, musste sie allerdings Modifikationen vornehmen: Einerseits waren Beschränkungen zu erwägen, anderseits wurden zusätzliche Inhalte aufgenommen wie „Artikulationsunterricht“, „Handfertigkeitsunterricht“, Spaziergänge oder Gartenarbeit. Im Übrigen wurden die didaktischen Prinzipien der Allgemeinen Schule wie Anschaulichkeit, systematisches Vorgehen „Schritt für Schritt“ usw. verstärkt. Zu den Voraussetzungen der Entstehung der Hilfsschule gehören ferner die Verstädterung und die Industrialisierung, die erst die Zusammenballungen jener Bevölkerungsschicht herbeiführten, aus der sich die Schülerschaft der neuen Sonderschule im Wesentlichen rekrutierte. Die sozialen Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler erkannten die frühen Hilfsschulpädagogen zwar, konnten sie aber nicht in Zusammenhang mit der Genese der „Hilfsschulbedürftigkeit“ bringen. Überhaupt blieb – trotz der behaupteten Ursache „Schwachsinn“ – die Unklarheit über die Schülerschaft zumindest latent bestehen. Klar war eigentlich von Anfang an nur die „intermediäre Position“, die Stellung der Hilfsschüler zwischen „normalen“ Volksschülern und Geistigbehinderten (vgl. Schröder, 2000). Strittig – auch im internationalen Vergleich – ist allerdings damals wie heute, wo die Grenzen dieser mittleren Position zu ziehen sind. Der früh geprägte Name „Hilfsschule“ galt lange, in der DDR sogar bis zu ihrem Ende. In der alten Bundesrepublik wurde er ab Anfang der 1960er Jahre durch die Bezeichnung „(Sonder)Schule für Lernbehinderte“ abgelöst, womit erklärtermaßen eine weitere Annäherung an die Allgemeine Schule intendiert war (vgl. Hofmann, 1961). Seit 1986 kamen die bereits angesprochenen erneuten Bestrebungen zur Umbenennung auf. 23.3.2 Die Stellung der Schule für Lernbehinderte im Bildungssystem Mit ihren „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ wollte die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ (im Folgenden kurz KMK genannt) bewusst eine „nicht mehr vorrangig institutionenbezogene Sichtweise“ vertreten und setzte als
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Orte, an denen sonderpädagogische Förderung zu realisieren ist, gleichrangig die Allgemeine Schule mit gemeinsamem Unterricht, kooperative Formen und die Sonderschule nebeneinander. Die Sonderschule ist danach nur ein Förderort unter anderen (KMK, 1994; siehe auch KMK, 1999). Eigentlich galt allerdings immer schon, dass sie gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität notwendig nur die letzte Möglichkeit darstellt, die für Bildung und Erziehung eines im Lernen beeinträchtigten Kindes gewählt werden kann. Die Position der Schule für Lernbehinderte wird zwar durch dieses Prinzip der Subsidiarität grundlegend charakterisiert, weitere Kennzeichnungen müssen das Bild jedoch ergänzen: In einer Zeit, in der die amtlichen Verlautbarungen sowohl der KMK als auch der einzelnen Schulministerien gemeinsamem Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler die Priorität einräumen, müsste man im Besuch der Schule für Lernbehinderte eine deutlich rückläufige Tendenz erwarten. Davon kann jedoch faktisch keine Rede sein, es gibt eher kontinuierliche Zunahmen (vgl. Berichte zur Hauptversammlung, 2003): Die Schule für Lernbehinderte nimmt 230.000 Schülerinnen und Schüler auf (Schuljahr 2000/2001; alle folgenden Daten entnommen aus oder berechnet nach: BMBF, 2002, und KMK, 2002). Das sind 55 % aller Kinder und Jugendlichen, die eine der deutschen Sonderschulen besuchen. Gemessen an der Population der Primar- und Sekundarstufe I insgesamt, machen sie etwa 2,5 % aus. Hinter diesem Durchschnittsanteil verbirgt sich ein starker Anstieg mit steigender Klassenstufe, da die meisten Lernbehinderten zunächst Einrichtungen der Allgemeinen Schule besuchen und erst nach und nach überwiesen werden; in den ersten Schuljahren liegt also der Prozentsatz unter 2,5 %, auf der Sekundarstufe darüber. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind groß: In den östlichen Bundesländern sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein nimmt die Schule für Lernbehinderte noch rund zwei Drittel oder mehr aller Sonderschüler auf (was als Hinweis auf eine geringer entwickelte Differenziertheit des übrigen sonderpädagogischen Förderangebotes verstanden werden kann), während es in Berlin, Bremen und Bayern weniger als die Hälfte ist. Die „Sonderschulbesuchsquote“ der Lernbehinderten sieht alle neuen Bundesländer weit an der Spitze mit 3,6–4,9 %, während bei den alten Bundesländern die Spanne von unter 2 % (Saarland, Bremen, Bayern) bis 2,7 % (Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) reicht. Jungen sind mit über 60 % überrepräsentiert. Dasselbe gilt für ausländische Schülerinnen und Schüler, die an Schulen für Lernbehinderte mit 18,1 % fast doppelt so stark vertreten sind, wie ihrem Anteil an der Gesamtschülerschaft entspräche – aber auch weit mehr, als ihr Anteil von 11,3 % an den übrigen Sonderschulen ausmacht (KMK, 2002). Anders gesagt: Wenn Ausländer eine Sonderschule besuchen müssen, ist dies eher als bei Deutschen eine Schule für Lernbehinderte. Die Überrepräsentierung fällt in den Ländern Niedersachsen und Baden-Württemberg am höchsten aus (die neuen Bundesländer bleiben hierbei außer Betracht, da sie so gut wie keine ausländischen Schülerinnen und Schüler aufweisen). Die Einordnung der Schule für Lernbehinderte in die Systematik der Sonderschulen ist stets problematisch geblieben: Dass ein Kind – wie eines der gängigen Kriterien lautet – einer Sonderschule bedürfe, weil es am Unterricht der Allgemeinen Schule nicht teilnehmen könne, mag bei körperbehinderten Kindern passen, trifft aber auf Lernbe-
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| Teil VI: Schule und Unterricht hinderte in der Regel nicht zu (für sie gilt vielmehr das zweite Kriterium, dass sie durch den Unterricht nicht ausreichend gefördert werden). Und wenn man als Grundlage einer Behinderung an eine (organische) Schädigung denkt, wird man diese bei Lernbehinderten kaum identifizieren können. Dementsprechend ist argumentiert worden, die Schule für Lernbehinderte besitze keine „nach Merkmalen definierte Schülerschaft“, sondern stelle nur die zweitniedrigste „Stufe unseres nach Leistung gestuften Schulsystems“ dar (Klein, 1980). Damit ist auch das Selbstverständnis dieser Sonderschule betroffen. Warum aber soll sie sich nicht zu der schulorganisatorisch definierten Aufgabe bekennen, „ein spezialisierter, individuell abgestimmter, pädagogischer Fachleistungsdienst für Kinder und Jugendliche [zu sein], denen die allgemeine Schule, auch mit zusätzlicher Hilfeleistung, nicht gerecht zu werden vermag“ (Kanter, 1977, S. 165)? Das geht freilich einher mit der schlichten Konstatierung, dass ihr Leistungsniveau generell niedriger anzusetzen ist als das der Allgemeinen Schule. Die historisch tradierte Anlehnung an die Allgemeine Schule bezieht sich auf die Schulbesuchsdauer vom 1. bis 9./10. Schuljahr wie auf der Grund- und Hauptschule (in einigen Bundesländern werden allerdings die 1. und 2. Klassen in besonderen Formen geführt). Ergänzend kann in einem 10. Schuljahr der Hauptschulabschluss erworben werden. Die Übernahme des Jahrgangsklassensystems mit seinen sonderpädagogisch bedenklichen Konsequenzen wurde bereits erwähnt. „Besonders“ ist der meist in die Schulkarriere dramatisch einschneidende Schulwechsel durch die „Überweisung“. Rücküberweisung auf die Allgemeine Schule wird von einigen Ländern heute geradezu als Ziel der Schule für Lernbehinderte propagiert, kommt jedoch insgesamt relativ selten vor. Gleichwohl ist es richtig, ja notwendig, regelmäßig zu überprüfen, ob ein Kind weiterhin einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweist, der einen Sonderschulbesuch erforderlich macht. Die Überweisung aufgrund der „Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ macht deutlich, dass das Verhältnis der Schule für Lernbehinderte zur Allgemeinen Schule neben Anlehnungen auch durch spannungsvolle Abhängigkeit und kritische Momente geprägt ist. Ihr liegt ja die Frage zu Grunde: Kann und will die Allgemeine Schule das betreffende Kind mit seinen Abweichungen von den erwarteten Leistungsergebnissen und Arbeitsweisen noch schulisch fördern? Lernbehinderung ist eben „sehr stark abhängig ... vom Förderungspotential der allgemeinen Schule“ (Kanter, 1994, S. 36). Die übliche Schullaufbahn Lernbehinderter zieht eine bedeutende Verkürzung der sonderschulischen (nicht unbedingt der sonderpädagogischen) Intervention nach sich. Die Verweildauer auf der Schule für Lernbehinderte wird zudem seit Jahren weiter verkürzt durch eine Verlagerung der „Meldungen“ in die Sekundarstufe I (vgl. Wocken, 1996). Ein besonders heikles Kapitel der Stellung der Schule für Lernbehinderte im Schulsystem betrifft ihre und ihrer Schüler notorische Schlechterstellung, ja Benachteiligung: Sowohl die Klassenfrequenzen als auch die Schüler-Lehrer-Relationen sind die schlechtesten aller Sonderschulen (wobei Nordrhein-Westfalen und Bayern besonders ungünstig abschneiden). Ein Vergleich der Schulbauten und der materiellen Ausstattung fällt in der Regel zu ihren Ungunsten aus. Zusätzliches Personal, z. B. für sozialpädagogische Aufgaben oder beim Übergang ins Berufsleben, steht ihr kaum jemals zur Verfügung. Ein Ganztagsschulbetrieb stellt für sie noch die Ausnahme dar. Sie ist die am stärksten
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von Ausländerkindern mit ihren Problemen frequentierte Schulform. Schließlich sind Lernbehinderte in Integrationsmaßnahmen notorisch unterrepräsentiert (vgl. Schröder, 2000, S. 175 ff.; KMK, 2002). Offenbar wird die Schule für Lernbehinderte von der staatlichen Bildungsorganisation wenig ernst genommen, und man ist nicht bereit, für sie größere zusätzliche Aufwendungen zu erbringen. Auch einige bildungspolitische Entscheidungen der letzten Jahre setzen die Benachteiligung fort. So wurden in Bremen bei der Umwandlung von Sonderschulen in Förderzentren die früheren Schulen für Lernbehinderte für die Gesamtheit der Förderbereiche Lernen, Sprache und soziale und emotionale Entwicklung zuständig, bekamen dafür aber nur die ungünstigere Klassenfrequenz der Schule für Lernbehinderte zugewiesen (Berichte zur Hauptversammlung, 2001, S. 416). Und im niedersächsischen Konzept des „Lernens unter einem Dach“ wurden den Grundschulen für die sonderpädagogische „Grundversorgung“ zur Förderung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen nur wenige Sonderschullehrerstunden zugewiesen; daraufhin hielt man die für andere Behinderte vorgesehenen „Integrationsklassen für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen [für] nicht mehr erforderlich“ (Niedersächsisches Kultusministerium, 1998). 23.3.3 Besonderheiten des Unterrichts in der Schule für Lernbehinderte „Der Unterricht im Förderschwerpunkt Lernen geht von den Bildungszielen und Lerninhalten der allgemeinen Schule aus. Diese Ziele und Inhalte des Unterrichts werden mit Blick auf die Lernvoraussetzungen und den Sonderpädagogischen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler modifiziert“ (KMK, 1999; vgl. Kanter, 1977, S. 166). Dass für die Didaktik der Schule für Lernbehinderte zunächst einmal die allgemeinen Lernziele und Lerninhalte gelten, war nie strittig. Problematisch war dagegen immer die Frage der Modifizierungen: Erlauben sie, von einer sonderschulspezifischen Didaktik zu sprechen? Vor allem: sind Reduzierungen gegenüber der Allgemeinen Schule gerechtfertigt? Die zitierten Empfehlungen der KMK gehen jedenfalls „in der Regel“ von „besondere[n] Lehrplänen“ aus. Zu didaktischen Modifizierungen zwingt schon die verkürzte Verweildauer der Schülerinnen und Schüler mit der Konsequenz eines „gekürzte[n] curriculare[n] Angebot[es]“ (Kanter, 1977, S. 172), aber vor allem auch die schlichte Feststellung, dass es ja gerade der Unterricht der Allgemeinen Schule war, der das schulische Scheitern der Kinder hervorgebracht hat. Der Schule für Lernbehinderte obliegt also der Auftrag, einen besseren, ihren Kindern angemesseneren Unterricht zu erteilen. Modifizierungen können erstens eine Reduktion bedeuten, sie können zweitens umgekehrt zusätzliche Ziele und Inhalte bedeuten, und drittens können sie meinen, dass allgemein Gültiges im Unterricht der Schule für Lernbehinderte eine andere Gewichtung erfährt. Außer Reduzierungen aus zeitlichen Gründen kommen solche wegen zu hoher kognitiver Anforderungen und wegen einer schärferen Auswahl von Bildungsgut unter dem Gesichtspunkt der „Lebensbedeutsamkeit“, der Relevanz für die aktuelle und zukünftige Lebensführung, in Betracht. Sie sind kaum allgemein zu verordnen, vielmehr kann über sie grundsätzlich nur im Einzelfall in pädagogischer Verantwortung entschieden werden.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Als zusätzlich kommen Ziele und Inhalte in Frage, die die Allgemeine Schule glaubt voraussetzen zu dürfen. Die Schule für Lernbehinderte muss jedoch z. B. Wahrnehmungsförderung, soziales Verhalten in Gruppen sowie motorische und sprachliche Entwicklungshilfen, die auf schulischen Unterricht erst hinführen, eigens einplanen. Auch Wissenskomponenten, auf denen Lernstrategien und andere höhere kognitive Tätigkeiten erst aufbauen können und über die nicht-benachteiligte Kinder bereits verfügen, müssen gegebenenfalls noch in der Sonderschule vermittelt werden (vgl. Kapitel 16 und Schröder, 2000, S. 210 f.). Schließlich gehört die Planung von Kontakten mit der Allgemeinen Schule hierher, für die z. B. Baden-Württemberg ausdrücklich „Begegnungs- und Kooperationsprojekte“ vorsieht. Erhöhtes Gewicht erhalten die Zusammenarbeit mit den Eltern, die Berufsvorbereitung (Arbeitslehre, Berufswahlvorbereitung, Betriebserkundungen, Betriebspraktika) und allgemein das Ziel der „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ „mit Blick auf ein selbstbestimmtes Leben“ (KMK, 1999, 5.3). Primar- und Sekundarstufe können unterschiedliche Schwerpunkte der unterrichtlichen Arbeit zugewiesen werden. Während Erstere vorrangig die schulische Leistungsfähigkeit und das Leistungsvertrauen überhaupt fördern, Arbeitstechniken und die grundlegenden Fertigkeiten für das Hineinwachsen in die Kultur vermitteln soll, wird auf der Sekundarstufe der Blick zunehmend auf die nachschulische Zeit mit beruflicher und allgemein gesellschaftlicher Eingliederung gerichtet (vgl. Kanter, 1977, S. 169 f.; Bleidick, 1998, S. 120; MSWWF, 1998, S. 32 ff.). Zur Methodik enthält dieses Handbuch einerseits mehrere eigene Artikel, anderseits bestehen die Besonderheiten im Unterricht mit Lernbehinderten im Wesentlichen in Verfeinerungen und Intensivierungen der allgemeinen Methodik: Der Unterricht muss „expliziter“ sein, insofern er wenig Voraussetzungen als gegeben annehmen kann, außerdem methodisch durchdachter sowie „intensiver“ durch bessere Schüler-Lehrer-Relation, durch Gewährung von mehr Zeit und durch mehr emotionale und motivationale Unterstützung (Torgesen, 1998). International hat sich seit Jahren das Konzept eines individuellen Erziehungsplanes für die Realisierung sonderpädagogischer Förderung durchgesetzt, insbesondere in den USA und in Italien (Schröder, 2000, S. 37 ff.). Auch die KMK propagiert in ihren Empfehlungen die Erstellung und regelmäßige Überprüfung und Aktualisierung „individuelle[r] Förderpläne auf der Grundlage begleitender Diagnostik“ (KMK, 1999; vgl. Schröder, 2000, S. 193 ff.). Sie sind bei schulischer Integration unabdingbar, haben aber auch Gültigkeit für Erziehung und Unterricht in der Sonderschule. Die einzelnen Bundesländer fordern erst zum Teil individuelle Förderpläne, weitere scheinen folgen zu wollen (Berichte zur Hauptversammlung, 2003). Hinweise für ihre Vorbereitung und gegliederte Konzipierung haben Kretschmann und Arnold (1999) vorgelegt. 23.3.4 Öffnung der Schule für Lernbehinderte zur Allgemeinen Schule hin Ungeachtet ihrer historisch angestammten, wenn auch nicht unproblematischen Nähe zur Allgemeinen Schule ist lange Zeit die Eigenständigkeit der Schule für Lernbehinderte
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überbetont worden. Spätestens seit den siebziger Jahren aber gibt es ein ausdrückliches Streben nach einer Öffnung zur Allgemeinen Schule hin. Rücküberweisung auf die Allgemeine Schule und die Ermöglichung des Hauptschulabschlusses sind die am längsten praktizierten Formen, die heute schon zum allgemeinen Bildungsauftrag der Schule für Lernbehinderte gezählt werden (KMK, 1999). Formen der Kooperation mit Grundschulen werden durch stundenweise Abordnung von Sonderschullehrpersonen realisiert. An den Grundschulen sollen diese – möglichst weitgehend eingebunden in den normalen Klassenunterricht – so früh wie irgend erreichbar Lernschwierigkeiten erkennen und ihnen durch Fördermaßnahmen begegnen, um den Sonderschulbesuch zu reduzieren. Den präventiven Charakter dieser Kooperationsmodelle tragen ebenfalls die den Schweizerischen „Kleinklassen“ (siehe Schröder, 2000, S. 64 ff.) nachempfundenen Einführungsklassen („Diagnose- und Förderklassen“, „Sonderpädagogische Förderklassen“), die erklärtermaßen noch keine Festlegung auf Sonderschulbesuch treffen sollen. In Bayern und Thüringen werden sie jedoch als „Eingangsstufe“ der Schule für Lernbehinderte geführt (die infolgedessen erst mit dem 3. Schuljahr beginnt). Die präventive Funktion wird dadurch stark in Frage gestellt. In mehreren Ländern ist eine flexible Schuleingangsphase an Grundschulen vorgesehen, die (noch) nicht segregieren, sondern präventiven Charakter haben soll und damit die Anfangsklassen der Sonderschule reduzieren wird (Berichte zur Hauptversammlung, 2003). Das „Sonderpädagogische Förderzentrum“ ist wohl die meistgenannte Neuerung in der deutschen Sonderpädagogik (KMK, 1994); dahinter steht jedoch keineswegs ein einheitliches Konzept. Einige vorgeschlagene Formen sind schulischer Integration zuzurechnen. Hier sind dagegen diejenigen Formen anzusprechen, die, vom bestehenden Sonderschulsystem ausgehend, weitere Angebote in enger Zusammenarbeit mit Allgemeiner Schule sowie anderen Personen und Diensten außerhalb der Schule für Lernbehinderte umfassen. Daraus resultieren Aufgaben der Beratung (von Lehrpersonen, Eltern u. a.), der Prävention, der Kooperation (mit Allgemeinen Schulen, Gesundheitswesen, Jugendhilfe usw.), der „Bereitstellung von Hilfen für Fördermaßnahmen der allgemeinen Schulen“ und der sonderpädagogischen Förderung (KMK, 1999, 5.5). Weiter können hinzugefügt werden: Diagnosen, Begutachtung, Freizeitangebote, berufliche Förderung (Kanter, 1994). Schließlich können auch die oben genannten Formen der Öffnung subsumiert werden. Aber „Kristallisationspunkte“ bleiben dabei „die bestehenden sonderpädagogischen Einrichtungen“ (Kanter, 1994, S. 39), die Sonderpädagogischen Förderzentren sind in diesem Verständnis „institutionelle Weiterentwicklungen von Sonderschulen“ (Stoellger, 1997, S. 100). In mehreren Bundesländern werden insbesondere Schulen für Lernbehinderte inzwischen vermehrt in so oder ähnlich konzipierte Förderzentren eingegliedert oder umgewandelt. Obwohl die Entwicklung noch nicht endgültig zu bewerten ist, darf angesichts der Ballung von Aufgaben die Frage nach Überforderung einer ohnehin in vielen Punkten benachteiligten Sonderschule und der dort Tätigen gestellt werden. Und die Vorliebe mancher Kultusministerien für die Sonderpädagogischen Förderzentren scheint zu verraten, dass sie sich bildungspolitisch nicht entscheiden wollen für eine umfassende schulische Integration, insbesondere über die Primarstufe hinaus. Dann aber sollten sie mehr Einsatz darauf verwenden, die sonderpädagogische Arbeit in der Schule für Lernbehinderte zu verbessern.
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| Teil VI: Schule und Unterricht
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Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 393
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23.4 Differenzierung des Unterrichts Franz B. Wember Als vor gut 200 Jahren nach und nach die allgemeine Schulpflicht in den Ländern Europas eingeführt wurde, entstanden Land- und Volksschulen, in denen alle Kinder eines Einzugsbezirks in altersgemischten Schulklassen von einem einzigen, meist gar nicht oder nur schlecht ausgebildeten Lehrer unterrichtet wurden. Dieser erteilte Frontalunterricht: Er führte die Klassengruppe, nicht selten mehr als 100 Schüler, in eine Thematik ein und führte bestimmte Fertigkeiten vor. Die Kinder nahmen die Darbietungen des Lehrers zunächst rezeptiv auf, um sie anschließend in zumeist stiller Einzelbeschäftigung nachzuarbeiten. Zwar richteten viele Lehrer den sog. Abteilungsunterricht ein, damit die Kinder in kleineren Gruppen altersgleicher und leistungsähnlicher Schülerinnen und Schüler in den Nacharbeitsphasen spezielle und nur für sie bestimmte Aufgaben allein oder gemeinsam erledigen konnten, aber im Kern war der Frontalunterricht undifferenziert angelegt. Alle Kinder sollten das Gleiche auf die gleiche Art und Weise und in der gleichen Zeit lernen, wie Comenius bereits 1657 in seiner Didactica Magna gefordert hatte (Comenius, 1959). Johann Friedrich Herbarth, Gründervater der wissenschaftlichen Pädagogik, hat 1823 in seinem Gutachten zur Abhilfe für die Mängel der Gymnasien und Bürgerschulen „die Verschiedenheit der Köpfe als das größte Hindernis aller Schulbildung“ beklagt als den „Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen, und alles nach einer Schnur zu hobeln veranlassen“ (zit. nach Lichtenstein-Rother, 1985, S. 15). Aus heutiger Sicht kann diese Klage erstaunen, weil wir gewohnt sind, den Frontalunterricht kritisch und die Vielfalt der Lernenden positiv zu bewerten, aber zu Zeiten Herbarths und unter den damaligen Bedingungen war der Frontalunterricht vermutlich die einzige Möglichkeit, schulische Bildung und Erziehung all denen zukommen zu lassen, die bislang davon ausgeschlossen waren. Der Frontalunterricht für Alle war ein bedeutender bildungs- und sozialpolitischer Fortschritt gegenüber der elitären Erziehung im Hausunterricht oder in den Bürgerschulen für nur Wenige, aber in seiner Undifferenziertheit war sein Scheitern von Anfang an grundgelegt: Der Lehrer orientierte sich nämlich an einem vermeintlichen Klassendurchschnitt. Abgesehen davon, dass dieser Klassendurchschnitt nicht empirisch festgestellt, sondern theoretisch angenommen und nicht selten falsch eingeschätzt wurde, steht die Lehrperson immer in der Gefahr, die jüngeren und die leistungsschwächeren Kinder zu überfordern und somit zu entmutigen, während sie die älteren und leistungsstärkeren Kinder unterfordert und langweilt. Das
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| Teil VI: Schule und Unterricht Ergebnis eines solchen undifferenzierten Unterrichts ist absehbar: Die Einen können kaum lernen, weil für sie alles neu und unverständlich ist, die Anderen lernen wenig oder nichts, weil ihnen alles mehr oder weniger längst bekannt ist. 23.4.1 Von der klassischen Hilfsschulpädagogik zum modernen Methodenmonismus Während die unzureichende Förderung der Schülerinnen und Schüler mit besonders guten Lernvoraussetzungen wenig Beachtung gefunden hat, führte die mangelnde Förderung leistungsschwacher Kinder zum so genannten Sitzenbleiberelend und zur Problematik des Schulversagens sowie letztlich zur Gründung der ersten Hilfsschulen. „Schwachsinnige Kinder“ nannte Heinrich Ernst Stötzner (1963) in einer Denkschrift aus dem Jahre 1864 die Kinder, die „in der Mitte zwischen normal gebildeten und blödsinnigen Kindern“ stehen und die „fast jede Schulklasse … aufzuweisen“ habe (S. 5). „Wohl ist sein Auffassungsvermögen gering, seine Sprache schwerfällig, sein Wollen und Empfinden schwach“, schreibt Stötzner über das Hilfsschulkind (S. 7), „aber es kann doch denken, wollen und empfinden; wenn alles auch viel langsamer geht als bei normal gebildeten Kindern“ (Hervorhebg. i. O.). Stötzner empfiehlt (1963, S. 9, i. O. kursiv): „In allen größeren Städten gründe man Schulen für schwach befähigte Kinder, damit diese … durch geeignete Persönlichkeiten und entsprechenden Unterricht zu brauchbaren Menschen herangebildet werden.“ Wie sollte der Hilfsschulunterricht aussehen? Stötzner empfahl 1864 kleinere Klassengruppen, ein konsequentes Klassenlehrerprinzip, eine Halbierung des Lerntempos, eine Reduktion der Unterrichtsinhalte auf konkrete und lebenspraktische Belange und einen kleinschrittigen, anschaulichen und methodisch abwechselungsreichen Unterricht. Diese Empfehlungen finden sich auch sechzig Jahre später bei Arno Fuchs (1922, S. 295), der als erste Forderung der Hilfsschulpädagogik „im Gegensatz zur Normalschulpädagogik“ die „sorgfältige Individualisierung auf Grund einer genauen Kenntnis des Elternhauses, der körperlichen und geistigen Beschaffenheit und der bisherigen Entwicklung jedes einzelnen Kindes“ formuliert. „Studiere das schwachsinnige Kind ganz für sich und aus sich selbst“, fordert Fuchs (1922, S. 292) den Hilfsschullehrer auf, „… denn nur dann wirst du deine Ansprüche diesem Kinde gegenüber nicht übertreiben, den Rhythmus des Fortschritts nicht übermäßig beschleunigen, nicht mehr von den geistigen und körperlichen Kräften fordern, als das Kind zu leisten wirklich imstande ist.“ Individualisierung setze den Hilfsschullehrer instand, „das Kind auf die höchste Stufe seiner Entwicklungsfähigkeit zu erheben“ (ebd.), und dieser werde bald merken, „dass die Natur der Schwachsinnigen ein Prüfstein seiner Unterrichtskunst ist.“ Kritiker der Hilfsschulpädagogik haben bemängelt, dass die in der Theorie geforderte Individualisierung in der Praxis nicht oder nur unzureichend eingelöst worden sei. Kanter (1970, S. 259) hat argumentiert, die Prinzipien des Hilfsschulunterrichts seien nur allgemeine und ungerichtete Prinzipien, die durch „die gezielte und angepasste Lernhilfe“ zu ersetzen seien. Klein (1971, S. 10) hat gewarnt, „dass die Mängel und Schwächen des lernbehinderten Kindes geradezu fixiert werden“, wenn man sich einseitig an den Defekten der Kinder orientiert und diese zum Maßstab für den Unterricht macht.
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 395
Nestle (1976, S. 168) hat von einer „reduktiven Didaktik“ gesprochen, die sich in der scheinbar schlüssigen Entsprechung von mangelnder Leistungsfähigkeit der Lernenden und reduzierter Erwartung an schulische Lernleistungen ständig reproduziere. Aber die Unterrichtskunst, von der Fuchs gesprochen hatte, scheint auch in der Gegenwart und nicht nur im Bereich der Sonderpädagogik unzureichend entwickelt zu sein. Hage et al. (1985) haben 181 Unterrichtsstunden an Gymnasien und an Haupt- und Gesamtschulen beobachtet, um das Methodenrepertoire der Lehrerinnen und Lehrer zu analysieren. Sie fanden in der großen Mehrzahl der Fälle eine „methodische Monostruktur“ (S. 46) vor, die durch lehrergelenkte Unterrichtsgespräche, selbstständige Schülertätigkeiten und Stillarbeit geprägt war, während kooperative Arbeitsformen nur selten anzutreffen waren. Die von Hage et al. (1985, S. 148) konstatierte „große Gleichförmigkeit und Lehrerdominanz ... über alle Schulformen und Fächer hinweg“ ist jedoch nicht auf Regelschulen begrenzt, sondern in einer systematischen Replikationsstudie an Sonderschulen für Lernbehinderte von Molkenthin, Kähler und Borchert (1992) bestätigt worden: Zwar war der Anteil von Einzelarbeit in den 15 untersuchten Unterrichtsstunden doppelt so hoch, aber ansonsten war „kein differenzierendes Profil der Schule für Lernbehinderte zu erkennen“ (S. 129). Das Ergebnis soll uns Grund sein, in diesem Kapitel Möglichkeiten der Differenzierung im Förderschwerpunkt Lernen auszuloten, denn: „Die Frage, ob der generelle Anspruch der Schule für Lernbehinderte tatsächlich eingelöst werden kann, besser als andere Schularten durch ausreichende Differenzierung die individuellen Schülerprobleme angemessen zu berücksichtigen, ist den Befunden zufolge eher mit Skepsis zu beantworten“ (Molkenthin et al., 1992, S. 130). 23.4.2 Formen und Ebenen der Differenzierung Über die Vor- und Nachteile der Gründung von Hilfsschulen als den historischen Vorläufern der heutigen Förder- und Sonderschulen in den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung ist kontrovers diskutiert worden (vgl. z. B. Möckel, 2000; Schröder, 2000). Für den argumentativen Gang des vorliegenden Kapitels sei nur festgehalten, dass mangelnde Differenzierung des Unterrichts im allgemein bildenden Schulwesen und dessen mangelnde Effizienz bei der Förderung der lernschwachen Kinder zur schulischen Sonderpädagogik geführt hat und dass Stötzners folgenreicher Vorschlag eine Differenzierung des Unterrichts auf der institutionellen Ebene des Schulsystems betraf: Das einfache System der einen Volksschule für alle sollte überführt werden in das komplexere, weil zweigliedrige System von Volks- und Hilfsschule. Die Volksschule sollte die „normalsinnigen“ Kinder in der bewährten Weise fördern, die Hilfsschule sollte den „schwachsinnigen“ Kindern einen besonderen, auf ihre Bedürfnisse und Leistungsmöglichkeiten zugeschnittenen Unterricht bieten. Der Hilfsschule kam dabei eine doppelte Funktion zu, denn sie sollte einerseits die ihr überwiesenen Kinder optimal qualifizieren und sie sollte andererseits die Volksschule von diesen zumeist schwierigen Schülerinnen und Schülern entlasten. Das vorliegende Kapitel befasst sich mit der Differenzierung des Unterrichts; darunter werden hier in Anlehnung an Klafki und Stöcker (1976) alle Maßnahmen verstanden, die ein relativ einfach gestaltetes Unterrichtsangebot in ein komplexeres Unterrichtsan-
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| Teil VI: Schule und Unterricht gebot verwandeln, um das schulische Lernen der Lernenden zu verbessern, indem ihnen durch die Variation der unterrichtlichen Inhalte und Methoden und durch Modifikation der schulischen Lernbedingungen unterschiedliche Lerngelegenheiten geboten werden. Dies kann auf zweifache Weise geschehen, nämlich zum Einen durch die Einteilung der Lernenden in getrennte Lerngruppen, denen dann verschiedene Arten von Unterricht zugewiesen werden, oder aber durch das Angebot verschiedener Unterrichtsvarianten an die Lernenden einer bestehenden Lerngruppe im Rahmen eines Unterrichts für Alle. Man spricht im ersten Fall von äußerer Differenzierung und im zweiten Fall von innerer Differenzierung, und beide Arten von Differenzierung lassen sich auf drei institutionellen Ebenen realisieren, nämlich auf der Ebene der Schulklasse, der Schule und des Schulsystems. Auf allen drei Ebenen können innere wie äußere Differenzierung fix oder flexibel angelegt sein, denn die Einteilung der Lernenden in unterschiedliche Gruppen kann dauerhaft erfolgen und über vorab festgelegte Zeiträume unverändert bleiben oder abhängig von etwa Unterrichtsfach, Lernstand oder Lernfortschritt der Lernenden in wechselnden Gruppen organisiert und in gewissen Zeitabständen revidiert werden. Im oberen Teil fasst Abbildung 1 die bislang unterschiedenen Ebenen und Formen der Differenzierung zusammen und führt in Anlehnung an Haußer (1981, S. 22 f.) mit der Unterscheidung zwischen manifester und latenter Differenzierung und der Ebene der Zielprioritäten weitere wichtige Kategorien ein. Manifeste Differenzierung realisiert sich in allen offenkundigen, meist geplanten, manchmal aber auch spontan erfolgenden Maßnahmen der Organisation von Lerngruppen oder Unterrichtsvarianten, also etwa bei der Einteilung von Schulen, von Jahrgangsklassen, von Fördergruppen oder von Fachleistungskursen bis hin zur Partner- und Gruppenarbeit oder von Kind zu Kind variierender Einzelarbeit im Rahmen einer Unterrichtsstunde. Latente Differenzierung hingegen entsteht spontan und nicht nach Plan; sie beruht zumeist auf Sympathie und
Organisator. Einheiten
Einzelschule
Schulsystem
Äußere Differenzierung fix Formen
latent manifest Fachliches Lernen
flexibel latent manifest Soziales Lernen
Schulklasse
Innere Differenzierung fix latent manifest Fachliches Lernen
flexibel latent Soziales Lernen
Prioritäre Ziele
Elitäre Förderung leistungsstarker Lernender
Egalitäre Förderung aller Lernenden
Egalisierende Förderung leistungsschwacher Lernender
Abbildung 1: Ebenen, Formen und Ziele der Differenzierung des Unterrichts
manifest
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 397
Antipathie in der Gemeinschaft der Lerngruppe und kann der manifesten Differenzierung zwar entsprechen, wird diese aber manchmal geradezu konterkarieren. Die soziale Hierarchie, die sich allmählich unter den Schülerinnen und Schülern einer Klasse bildet, kann völlig anders aussehen als von der Lehrerin gewünscht oder als das schulöffentliche Verhalten der Kinder vermuten lässt, und selbst der integrativ eingestellte Lehrer kann durch unbewusste differenzielle Behandlung der Kinder, etwa durch bevorzugtes Aufrufen leistungsstarker Schüler oder durch aufmerksames Beachten störfreudiger Schülerinnen, deren Status auf- oder abwerten, je nachdem, ob sich die Klassengruppe insgesamt an ihm orientiert oder nicht. Schließlich macht es einen großen Unterschied, welche Ziele mit einer pädagogischen Maßnahme vorrangig verfolgt werden; die Differenzierung des Unterrichts kann in den Dienst der elitären Förderung besonders leistungsstarker Lerner gestellt werden, sie kann auf die egalitäre Förderung aller Lernenden ausgerichtet sein oder die egalisierende Förderung leistungsschwacher Mitglieder einer Lerngruppe zum Ziel haben (Wember, 2000). Alle drei Zielprioritäten lassen sich in mindestens zwei Lern- und Leistungsbereichen verfolgen, nämlich im Bereich des kognitiv-fachlichen Lernens und im Bereich des sozialen und emotionalen Lernens; ähnlich wie bei der manifesten und latenten Differenzierung verlaufen die Effekte kognitiven und affektiven Lernens im positiven Fall parallel und unterstützen einander, während sie im negativen Fall in Konkurrenz zueinander geraten und einander schwächen, etwa, wenn in einem intensiven Förderunterricht in Mathematik die schwachen Rechner intensiv und ermüdend üben und die Leistungen zwar ansteigen, die Kinder jedoch jeden Spaß an der Mathematik verlieren. Im Folgenden werden nur die für Zwecke der sonderpädagogischen Förderung in Integrationsklassen und an Förderschulen wichtigen Formen der Differenzierung theoretisch erläutert und empirisch beleuchtet. Es werden zunächst einige für Förder- und Sonderschulen bzw. für Integrationsklassen vorgeschlagene Modelle der äußeren Differenzierung behandelt, um anschließend die für die schulische Praxis besonders wichtigen Verfahren der inneren Differenzierung vorzustellen. Die Diskussion wird sich weniger deutlich an theoretischen Modellen ausrichten, wie dies Ahrbeck, Bleidick und Schuck (1997) in ihrem Überblicksreferat getan haben, und sich stärker an den Ergebnissen der empirischen Forschung orientieren. Es wird gezeigt, dass es grundsätzlich zwei Wege gibt, Kindern unterschiedliche und hoffentlich entwicklungsgemäße Lerngelegenheiten zu bieten, nämlich entweder durch die bewusste Steuerung durch die Lehrperson oder durch die bewusste Öffnung der Lernsituation. Dabei werden alle hier zu diskutierenden Handlungsoptionen hinsichtlich dreier Kriterien kritisch zu beurteilen sein: 1. Individualisierung: Wird das Unterrichtsangebot gemäß der vielfältigen und jeweils individuellen Interessen und Fähigkeiten der Lernenden variiert? 2. Effektivität: Wird der Unterricht für möglichst viele Kinder in möglichst vielen Lernbereichen effektiv gestaltet? 3. Integration: Verbessert das Unterrichtsangebot die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Ausbildungsgängen und führt es zum Abbau sozialer Diskriminierungen? Das Kriterium der Individualisierung ist notwendiges, wenngleich nicht hinreichendes Kriterium für die Wahl einer Unterrichtsoption, denn hier fragen wir, ob Differenzierung bloß als Maßnahme der Unterrichtsorganisation oder, bezogen auf die unterschiedlichen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Förderbedarfslagen der Lernenden, als pädagogische Maßnahme umgesetzt wird. Das Kriterium der Effektivität ist notwendiges und hinreichendes Kriterium, denn hier wird festgestellt, ob eine Unterrichtsoption geeignet ist, zu einer Verbesserung des schulischen Lernens und zum Erreichen der gesetzten Ziele beizutragen. Zu beachten sind hier einerseits fachlich-kognitive, andererseits soziale Lernziele. Das Kriterium der Integration schließlich fragt, ob die Leistungsförderung durch Separation und Stigmatisierung erkauft wird, oder ob das gemeinsame Lernen aller Kinder einer Lerngruppe, z. B. eines Geburtsjahrgangs in einem bestimmten Wohnbereich, erhalten bleibt oder sogar gefördert wird. Gemäß dem besonderen pädagogischen Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten wird in diesem Kapitel vor allem die egalisierende kompensatorische Förderung als prioritäre Zielsetzung von Differenzierung des Unterrichts zu beachten sein (Wember, 2000). 23.4.3 Äußere Differenzierung Äußere Differenzierung betrifft die Bildung von mehr oder minder stabilen Gruppen von Lernenden zum Zwecke der gemeinsamen Unterrichtung. Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Modelle schulischer Unterrichtsorganisation vorgestellt, um diese anschließend hinsichtlich ihrer empirisch nachgewiesenen Effekte beurteilen zu können. Abschließend werden die vorgefundenen Formen und Effekte äußerer Differenzierung an Förder- und Sonderschulen betrachtet, welche die Notwendigkeit innerer Differenzierung deutlich werden lassen. 23.4.3.1 Modelle der Unterrichtsorganisation Wie in der Einleitung bereits dargestellt, ist die ursprüngliche und historisch geradezu klassische Art der Unterrichtsorganisation die Einteilung aller Lernenden in eine einzige Klasse (Blankertz, 1982). Während in kleinen Dorfschulen alle Kinder in eine jahrgangsgemischte Klasse gingen, stieß dieses Organisationsmodell in größeren und insbesondere in städtischen Schulen schnell an seine Grenzen und wurde durch das bis heute vorherrschende Modell der Jahrgangsklassen ersetzt: Alle Kinder eines Geburtsjahres innerhalb eines Schuleinzugsgebietes besuchen die gleiche Klasse und erhalten den gleichen Unterricht. Hinter dieser Enteilung von Schülerinnen und Schülern steht eine vermeintlich nahe liegende Überlegung, dass nämlich das Lebensalter der beste Indikator für den Entwicklungsstand eines oder einer Heranwachsenden sei und dass man sich demzufolge am Lebensalter orientieren könne, wenn man homogene Lerngruppen zum Zwecke der möglichst einheitlichen Unterrichtung schaffen möchte. Allerdings zeigte sich, dass die Jahrgangsklassen weder in Bezug auf das kognitive noch in Bezug auf das soziale Lernen so homogen waren wie erhofft. Schon Ende des 19. Jahrhunderts entstanden erste Versuche der leistungsbezogenen Differenzierung von altersgleichen Kindern und Jugendlichen: getrennte Jungen- und Mädchenklassen, weil Jungen in der Schule geistig aktiver seien als Mädchen, Klassen für Stadt- und für Landkinder, weil Stadtkinder mehr schulisch relevantes Wissen mitbrächten als die
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Kinder mit bäuerlichem Hintergrund, und schließlich die zweizügige Organisation in die „zurückbleibenden“ und in die „gut befähigten“ Schüler bzw. im sog. Mannheimer Modell die dreizügige Einteilung in die Hilfsklasse für zurückbleibende Kinder, die einfache Schulabteilung für die Kinder mit genügenden Leistungen und die erweiterte Schulabteilung für die Kinder mit guten Leistungen (Petrat, 1981). An anderen Orten entstanden zeitgleich Hilfsschulen als besondere Schulen für die Kinder, die in den Volksschulen versagten. „In allen größeren Städten gründe man Schulen für schwach befähigte Kinder“, hatte Stötzner 1864 gefordert (1963, S. 9), „damit diese … durch geeignete Persönlichkeiten und entsprechenden Unterricht zu brauchbaren Menschen herangebildet werden.“ Hilfsschulen ersetzten zunehmend die Hilfsklassen, das Modell der besonderen Schule ist bis heute die dominante Form der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf im Bereich des Lernens geblieben. Mehrzügigkeit der Jahrgangsklassen bzw. das Angebot von Regel- und Sonderschulen sind Beispiele für eine unipolare durchgängige Leistungsdifferenzierung: Sie beziehen sich auf ein einziges Schülermerkmal, nämlich die bislang gezeigten schulischen Leistungen, und sie umfassen alle Unterrichtsfächer (engl. streaming oder tracking). Als Ziel wird angestrebt, homogenere Lerngruppen zu bilden als die Jahrgangsklassen und innerhalb dieser Gruppen den Unterricht inhaltlich und methodisch anzupassen, damit das schulische Lernen effektiver wird. Im 20. Jahrhundert sind diese Bemühungen durch vielfältig ausdifferenzierte Organisationsmodelle ergänzt worden, welche die Lernenden nicht mehr unipolar und durchgängig, sondern fachleistungsspezifisch und flexibel einteilen möchten (engl. setting). Die durchgängigen Leistungszüge werden jetzt durch spezifische und durchlässige Fachleistungskurse ersetzt; eine bestimmte Schülerin kann in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache Kurse unterschiedlicher Niveaus besuchen und innerhalb eines Kursangebotes je nach Lernfortschritt im nächsten Halbjahr in weniger oder weiter fortgeschrittene Fachleistungskurse auf- oder absteigen. Durchgesetzt hat sich vor allem das ABC-Modell, bei dem mehrere Jahrgangsklassen zusammengefasst und die Schülerinnen und Schüler in drei neue Gruppen eingeteilt werden. A, B und C beschreiben dabei unterschiedliche Anforderungsniveaus. Der A-Kurs thematisiert den gesamten Lehrstoff und weiterführende Sonderaufgaben (Additum), der B-Kurs bearbeitet den Lehrstoff mit leichten Kürzungen und ohne Sonderaufgaben, während sich der C-Kurs nur mit den wichtigsten Teile des Pflichtcurriculums beschäftigt. Auch die Methodik des Unterrichts wird nicht selten angepasst, im Mathematikunterricht wird im A-Kurs z. B. abstrakt und formal gearbeitet, während im C-Kurs anschaulich und praktisch vorgegangen wird (Morawietz, 1980, S. 31-36). Eine Weiterentwicklung des ABC-Modells ist das ebenfalls fachleistungsspezifische und flexible FEGA-System, das Fortgeschrittenen-Kurse mit Fundamentum und zahlreichen Zusatzaufgaben (F), Erweiterte Kurse mit Fundamentum und einigen Zusatzaufgaben (E), Grundkurse zur Bewältigung des Fundamentums (G) und AufbauKurse zur eingeschränkten Bewältigung des Fundamentums (A) vorsieht. Falls mehrere Schulklassen zusammengefasst werden, können auf den vier Niveaustufen parallele Kurse mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten angeboten werden. In jedem Fall soll versucht werden, die F- und E-Gruppen durch Zusatzaufgaben oder durch anspruchsvolle Projekte davon abzuhalten, dass sie im Lehrstoff uneinholbar davonlaufen. Gleichzeitig soll durch die Einrichtung von zusätzlichen Stütz- und Liftkursen auf den
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| Teil VI: Schule und Unterricht
Projektgruppen
F
Liftkurse
E A
Stützkurse
G B
A C
Förderoder Sonderschule
Jahrgangsklasse der Regelschule mit/ohne Integration
Abbildung 2: Zwei Modelle und einige ergänzende Komponenten der differenzierten Organisation von Unterricht
Niveaus A und G versucht werden, das Bewältigen der Grundanforderungen für alle Schülerinnen und Schüler zu sichern; denn nur, wenn es gelingt, für alle Lerngruppen eines Verbundes insgesamt einen gewissen zeitlichen Synchronismus im Lernfortschritt sicher zu stellen, kann das Kurssystem durchlässig bleiben, andernfalls droht es zu fixen Leistungsklassen zu erstarren, in denen bestenfalls der Abstieg in schwächere Gruppen möglich ist (Morawietz, 1980, S. 37-40). 23.4.3.2 Empirische Befunde Die erste und älteste Form der äußeren Differenzierung zum Zwecke der gezielten und ausgleichenden Förderung der schulischen Leistungen Benachteiligter ist die Hilfsklasse oder Nachhilfeklasse; sie hat sich nicht bewährt und wurde innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten durch die Hilfsschule ersetzt (vgl. Myschker, 1983, S. 121-127). Über die Gründe für diese Entwicklung kann man trefflich streiten. Die Hilfsschule hat sich vielleicht etablieren können, weil sie besser als die Nachhilfeklasse die Volksschule entlastete, indem sie dieser die schwierigen Kinder abnahm, und es ist auch nicht auszuschließen, dass die berufsständischen Interessen der sich neu formierenden Lehrerschaft die Gründung eigener Schulen beförderte (Myschker, 1983, S. 128). Allein aus diesen zwei Motiven heraus ist der Erfolg der Hilfsschulen jedoch nicht zu erklären, wie Möckel (2000) gezeigt hat. Die Hilfsschulen haben sich vor gut 150 Jahren in Europa durchgesetzt, weil sie sich in der Praxis bewährt haben (Möckel, 2000, S. 8-62). Sie haben die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen erfolgreicher qualifiziert als die weniger intensiv arbeitenden Nachhilfeklassen, und sie haben unter schwierigen Bedingungen dazu beigetragen, dass benachteiligte junge Menschen beruflich und sozial integriert wurden, die sich lange Jahre erfolglos in den Volksschulen abgemüht hatten (Myschker, 1983, S. 151 ff.).
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 401
Inzwischen kann die Sonderschule jedoch nicht mehr unhinterfragt als die schulische Option der Wahl bei Lernbehinderungen gelten. Zum Einen wird im Zuge von ethischen und grundlegenden gesellschaftlichen Orientierungen wie dem Normalisierungsprinzip oder dem Integrationspostulat die separate Schule als Lernort grundsätzlich und jenseits etwaiger empirischer Befunde abgelehnt (vgl. Wember, 2003, S. 44-48), der möglichst normale Schulalltag und das gemeinsame Lernen aller Kinder mit und ohne Behinderungen werden als Grundrechte eingefordert (Muth, 1991). Zum Anderen zeigen methodisch kontrollierte Vergleichsstudien, dass die Förder- oder Sonderschule keineswegs grundsätzlich bessere Erfolge erzielt als die integrative Beschulung in allgemein bildenden Schulen. Bereits 1968 fragte Lloyd Dunn in einem folgenreichen Artikel, ob denn bei Lern- und Geistigbehinderten die Sonderschule durch Wirksamkeitsnachweise begründet werden könnte? Er sichtete nordamerikanische Studien aus den 50er und 60er Jahren und kam zu einer negativen Bilanz, auch wenn Sekundäranalysen gezeigt haben, dass sein Datenmaterial ziemlich fehlerhaft war und dass die wenigen methodisch kontrollierten Studien tendenziell positive Resultate zeigten (Hallahan, 1998). Der erste, groß angelegte narrative Review in der deutschsprachigen Literatur erschien 1979; Adrian Kniel bezog sich in der Hauptsache auf angloamerikanische Studien und kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Dunn. Inzwischen gibt es einige gut kontrollierte Studien aus Deutschland und der Schweiz, die man in Anlehnung an Bless (1995 und in diesem Band) so zusammenfassen kann: Beim fachlichen und kognitiven Lernen wirkt sich die Platzierung in Integrationsklassen tendenziell positiv auf die schulische Leistungsentwicklung Lernbehinderter aus, beim sozialen Lernen sind die Auswirkungen weniger eindeutig: Einerseits lassen sich nach der Sonderschulüberweisung anfänglich Schonraumeffekte beobachten, die sich für manche Kinder positiv auswirken dürften, weil sie in Sonderschulklassen ein positiveres Konzept der eigenen Fähigkeiten entwickeln als in Regelklassen. Andererseits ist die negativere Selbsteinschätzung Lernbehinderter in Regelklassen durchaus realistisch und der Schonraumeffekt zu Gunsten der Sonderschule verliert sich mit zunehmender Beschulungsdauer, während die Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen in Regelklassen durchgängig auf geringe soziale Akzeptanz treffen. Ohne auf Schulvergleichsstudien aus Platzgründen näher eingehen zu können (vgl. dazu Bless/Mohr in diesem Band), sollen die beiden zentralen Ergebnisse der bislang einzigen Metaanalyse zum Thema genannt werden, weil sie zeigen, wie vorsichtig man mit generalisierenden Aussagen umgehen sollte, wenn diese auf hoch aggregierten Daten beruhen. Carlberg und Kavale haben 1980 in einem Pool von 860 Untersuchungen genau 50 empirische Studien gefunden, die sich mit statistischen Mitteln auswerten ließen: Insgesamt und über alle Studien betrachtet zeigte sich ein geringer negativer Effekt von -.12 Standardabweichungen zu Ungunsten der Sonderbeschulung, aber wenn man die Intelligenz als Moderatorvariable berücksichtigte, zeigte sich, dass die Negativergebnisse auf die Studien entfielen, in denen Kinder und Jugendliche mit reduzierter Intelligenzentwicklung untersucht worden waren. Wenn man nur die Studien betrachtete, in denen Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen, aber ansonsten unbeeinträchtigter Intelligenzentwicklung beschult worden waren, zeigte sich ein positiver Befund von .29 Standardabweichungen zu Gunsten der Sonderschule bzw. der Sonderklasse. Die mehr oder minder komplexen Modelle der klasseninternen und jahrgangsübergreifenden Differenzierung des Unterrichts können die in sie gesetzten Erwartungen
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| Teil VI: Schule und Unterricht in aller Regel nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllen. Roßbach (1999; Roßbach & Wellenreuther, 2002) hat nur zwei ältere und eine neuere, nicht repräsentative deutsche Studie zum jahrgangsübergreifenden Lernen ermitteln können, in denen sich kaum Leistungsvorteile ausmachen ließen. Die Ergebnisse internationaler Metaanalysen zeigten übereinstimmend, dass im Leistungsbereich fast nie Effekte zu Gunsten jahrgangsübergreifenden Lernens gefunden wurden, während im Bereich des sozialen Lernens keine oder nur sehr geringe positive Auswirkungen zu beobachten waren. Slavin (1987) hat zunächst eine narrative Literaturübersicht zum Thema mit Techniken der vergleichenden statistischen Analyse kombiniert und später (Gutiérrez & Slavin, 1992) eine Metaanalyse von 57 methodisch ausgesuchten Einzelstudien durchgeführt: Die mittlere Effektgröße lag um 0, die Schülerinnen und Schüler lernten in Leistungsgruppen im Großen und Ganzen nicht schlechter als in Jahrgangsklassen, aber auch nicht besser. Veenman ist in seinem narrativen Review (1995) zu dem gleichen Ergebnis gekommen wie Slavin, und auch er hat sein Resultat in einer statistisch aufwändigen Metaanalyse validieren können (Veenman, 1996). Das prioritäre Ziel der egalitären Förderung Aller wird, so lässt sich folgern, in klassenübergreifenden Kurssystemen nicht besser, aber auch nicht schlechter erreicht als in Jahrgangsklassen. Im Bereich der aus sonderpädagogischer Sicht besonders wichtigen egalisierenden Förderung der leistungsschwachen Lernenden zeigen sich sogar Nachteile: In Gesamtschulstudien wie denen von Hurrelmann (1975) oder Bühlow, Clemens, Müller, Preuss-Lausitz und Weissbach (1977) profitierten vor allem die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler von der Einrichtung von A- bzw. F-Kursen. In der Praxis zeigte sich, dass die Einteilung in Niveaukurse weitgehend einer sozialschichtspezifischen Auslese folgte. Soziale Integration wurde faktisch, wenngleich ungewollt, verhindert, zumal die Kurssysteme schnell undurchlässig wurden und zu Leistungsfixierungen führten, da in den unteren Niveaukursen meist wenig anspruchsvolle Inhalte und Arbeitsweisen angeboten wurden. Houtveen, Booij, de Jong und van de Grift (1999) haben in ihrer Literaturübersicht ebenfalls auf einige Studien hingewiesen, die zeigen, dass sich leistungsschwache Schüler ungünstig entwickelten, wenn sie in niveauniedrigen homogenen Gruppen zusammengefasst wurden; auch diese Autoren vermuten, dass der Unterricht in unteren Niveaugruppen zu anspruchslos gestaltet sein könnte (S. 174). Um das Auseinanderdriften der Niveaukurse zu verhindern, wird ein Kurssystem nicht selten auf nur zwei Anforderungsniveaus reduziert, das zeigen die Erfahrungen an deutschen Grundschulen: Hopf, Krappmann und Scheerer (1980) haben in 12 Fallstudien festgestellt, dass die meisten leistungsschwachen Kinder aus anregungsarmen Familien bewusst in stabilen Kleinklassen dauerhaft zusammengefasst oder zumindest zeitweise in stabilen Fördergruppen unterrichtet worden sind. Im Förderunterricht wurden entweder Übungen in den Kulturtechniken angeboten, vor allem im Lesen und Rechtschreiben, oder es wurde nicht oder unzureichend verstandener Lehrstoff wiederholend nachgearbeitet, nicht selten mit den gleichen Medien und Methoden, die zuvor im Klassenunterricht bereits zu Lernversagen geführt hatten. Aus sonderpädagogischer Sicht nicht minder problematisch war der Befund, dass Förderunterricht für die Schwachen fast immer auf Eckstunden gelegt wurde oder sehr oft dem Lehrermangel zum Opfer fiel und dass etliche Schulen den Förderunterricht für Teilungsstunden nutzten, um mal die gute und mal die weniger gute Klassenhälfte zu unterrichten.
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Hopf (1994) berichtet ähnliche Befunde für die 1990er Jahre und vermerkt, dass die Unterrichtszeiten inzwischen flexibler genutzt würden und dass bei der Einrichtung von Fördergruppen die Probleme von Ausländerkindern zunehmend Beachtung fänden. Einsiedler (2003) hat knapp zehn Jahre später festgestellt, dass immer mehr Grundschulen jahrgangsbezogen und jahrgangsübergreifend differenzieren, weil dies zum einen die zunehmende Heterogenität der Lernvoraussetzungen und zum anderen die geringe Größe vieler Grundschulen bei sinkenden Schülerzahlen geradezu erfordert. Viele Kinder können wegen sehr ungünstiger Lernvoraussetzungen einem lehrgangsorientierten Unterricht in Jahrgangsklassen nicht mehr folgen, sie brauchen extreme Differenzierung in altersgemischten Kleingruppen. Problematisch dürfte jedoch sein, dass sich keine konsistenten Fördereffekte einstellen, selbst dann nicht, wenn es gelungen sein sollte, leistungshomogene Fördergruppen zu etablieren. Das jedenfalls zeigen Metaanalysen von Robert Slavin (1990; 1993), der auf der Sekundarstufe keine oder nur geringe Effekte konstatieren konnte. Auf der Primarstufe ließen sich keine positiven Effekte für eine eindimensionale und dauerhafte Niveaubildung ausmachen, wohl aber für die Kombination von heterogenen Klassengruppen mit klassen- und jahrgangsübergreifenden, fachleistungsdifferenzierten Fördergruppen, wenn folgende Bedingungen gegeben waren: – Die Fördergruppen waren reversibel und durchlässig angelegt, die Teilnehmer wechselten. – Die Arbeit in den Fördergruppen konzentrierte sich auf Kenntnisse und Fertigkeiten in den Kulturtechniken. – In diesen curricular zentralen Lernbereichen wurden systematische Lernstandsanalysen und unterrichtsbegleitende Lernerfolgsmessungen durchgeführt. Offensichtlich ist es wichtiger, was genau im Unterricht passiert, als wo, wann und wie Unterricht organisiert wird – ein Befund, der im Zusammenhang mit dem Vorrang der inneren vor der äußeren Differenzierung wieder aufgegriffen werden wird. 23.4.3.3 Unterrichtsorganisation an Förder- und Sonderschulen Die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen bzw. die Sonderschule für Lernbehinderte bietet in der Regel die Klassen 1 bis 9 an (Kanter, 1977). In manchen Schulen wird relativ leistungsstarken Schülerinnen und Schülern der Besuch der 10. Klasse und der Erwerb des Hauptschulabschlusses optional angeboten. In mehreren Bundesländern beginnt der Sonderschulbesuch frühestens mit der 3. Klasse, um zunächst die probeweise Beschulung an der Grundschule zu sichern, in Bayern und Thüringen werden sog. Diagnose- und Förderklassen bereit gehalten (Schaar & Schor, 1991; Benkmann, 2000), in Berlin gibt es sonderpädagogische Förderklassen (Stoellger, 1995), in Brandenburg flexible Eingangsklassen (Liebers, 2001), in zahlreichen Kantonen der Schweiz spezielle Kleinklassen zur Beobachtung und Förderung von Kindern mit schulischen Lernschwierigkeiten (Bürli, 1987). Grundsätzlich bildet die Förder- oder Sonderschule bei Förderbedarf im Lernen die „vorletzte Stufe unseres nach Leistung gestuften Schulsystems“ (Klein, 1980, S. 2), denn sie unterrichtet nach eigenen Richtlinien und vergibt ihre eigenen Abschlüsse. Sie steht seit Gründung der ersten Hilfsschulen in intermediärer
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| Teil VI: Schule und Unterricht Position zwischen der allgemeinen Schule und der Sonderschule für Geistigbehinderte bzw. der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (Schröder, 2000, S. 11 f. und S. 177) und hat den Auftrag, solche Schülerinnen und Schüler durch möglichst effektiven Unterricht besonders zu fördern, die in der Regelschule nur wenig erfolgreich lernen konnten. Die Organisation des Unterrichts dürfte an Förder- und Sonderschulen weitgehend den oben referierten Modellen äußerer Differenzierung folgen, auch wenn es dazu keine aktuellen empirischen Untersuchungen gibt. Böhm, Lohoff und Lohoff (1977) fanden Mitte der 1970er Jahre in 96 Klassen an Lernbehindertenschulen in Baden-Württemberg nur in drei Klassen flexible Fachleistungsdifferenzierung und in 16 Klassen Niveaugruppendifferenzierung vor. Stütz- und Förderkurse wurden nur in 14 Klassen angeboten, während interessegeleitete Arbeitsgruppen in jeder dritten Schulklasse anzutreffen waren und Abteilungsunterricht sogar in jeder zweiten Klasse beobachtet werden konnte, in der dieser organisatorisch realisiert werden konnte. Es handelte sich um die gezielte Förderung besonders schwacher Schülerinnen und Schüler in den ersten oder letzten Stunden des Schultages. Während Kanter noch 1977 in Zeiten hoher Schülerzahlen feststellte, die Einrichtung von zweizügigen Sonderschulen werde „angestrebt, um für Differenzierungsmaßnahmen eine größere Beweglichkeit zu erlangen“ (S. 168), beklagte er wenige Jahre später das Fehlen „basaler Voraussetzungen für die schulpraktische Arbeit“ (Kanter, 1985, S. 63) und musste konstatieren, dass die schulische Wirklichkeit weit hinter den sonderpädagogischen Ansprüchen zurück bleibt. Begemann (1985) hat das Organisationsmodell der „Jahrgangsklassenschule“ (S. 224 f.) kritisiert und gefordert, stattdessen die Schulstufe als organisatorische Grundeinheit zu betrachten, die Heterogenität der Lernenden als pädagogischen Auftrag aufzufassen und innerhalb der Schulstufen relativ verlässliche, leistungsinhomogene Stammgruppen einzurichten, die durch variable, fachleistungsdifferenzierte und relativ homogene Kleingruppen ergänzt würden. In der Fachliteratur lassen sich nur zwei ausformulierte Modelle der Unterrichtsdifferenzierung an Schulen für Lernbehinderte finden. Baier und Heil (1988) haben vorgeschlagen, drei Schulstufen mit verminderter Durchlässigkeit zwischen den Stufen einzurichten und – innerhalb dieser – Kernunterricht in leistungsheterogenen Stammgruppen anzubieten, die durchlässig sind und durch Stützkurse, Liftkurse, Förderkurse und sonderpädagogisch-therapeutisch orientierte Kleingruppen ergänzt werden. Auf der Mittel- und Oberstufe wird dieses Angebot durch Kompaktkurse zur Förderung spezieller Qualifikationen sowie durch Fachleistungskurse in den Hauptfächern und durch interessegeleitete Wahlpflichtkurse und Arbeitskreise erweitert; auf diese Weise soll sicher gestellt werden, dass auch in kleineren einzügigen Schulen alle Kinder in den verschiedenen Unterrichtsfächern auf einem ihnen angepassten Niveau lernen und zugleich eigene Neigungen und Interessen berücksichtigt finden. Letztendlich zielen Baier und Heil (1988) einen adaptiven Unterricht an, der das Sitzenbleiben an Sonderschulen überflüssig macht und möglichst alle Lernenden zu einem erfolgreichen Schulabschluss führt. Einen umfassenden curricularen Entwurf hat Böhm unterbreitet. Ausgehend von der Kritik an der Schule für Lernbehinderte (Böhm, 1980) hat er eine tief greifende innere Revision des Unterrichts an dieser Schulform gefordert, die sich an einem Konzept orientiert, das er „anspruchsvolles Lernen und Lehren“ nennt (S. 122). Böhm (1980, S. 123) empfiehlt grundsätzlich „möglichst einsichtiges Lernen, viel erfahrungsorientiertes und
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handlungsorientiertes Lernen … möglichst oft an Realsituationen und Realpersonen mit Realproblemen“ und er definiert „anspruchsvoll“ in kognitiver und sozialer Dimension: „Einmal sollen möglichst alle Lernprozesse Möglichkeiten zum Denken und damit zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten enthalten. Die Schüler sollen auch denken lernen, nicht nur memorieren. (…) Zum anderen besteht ‚anspruchsvolles Lernen‘ darin, dass bei möglichst vielen Lernprozessen möglichst viel interaktives, kommunikatives, kooperatives Lernen möglich wird. Soziale Integration lernt man in Handlungen des Alltags eher als durch Belehrung und Fiktionen“ (Böhm, 1980, S. 122 f.). Konkret schlägt Böhm ein zweiteiliges Basiscurriculum für Alle vor, das durch wahlweise zu belegende Kurse und Arbeitsgemeinschaften ergänzt wird. Das Basiscurriculum ist an die eingeschränkten Lernvoraussetzungen der Lernenden angepasst und muss von allen Kindern und Jugendlichen bewältigt werden. Teil I erstreckt sich auf die Unter- und Mittelstufe und thematisiert die zentralen schulischen Lernausfälle Lernbehinderter; denn es enthält die im Böhmschen Sinne anspruchsvolle Vermittlung der Kulturtechniken in systematisch aufgebauten Lehrgängen und ausgesuchte lebenspraktisch bedeutsame Inhalte des Sachunterrichts. Dieses erste Basiscurriculum geht im 5./6. Schuljahr allmählich in ein zweites über, das – ebenfalls gemäß dem Konzept anspruchsvollen Lernens – zum einen zentrale Probleme der privaten Lebensführung in Freizeit und Familie thematisiert und zum anderen die Vorbereitung auf die Berufs- und Arbeitswelt leisten soll, in den höheren Klassen zunehmend an außerschulischen Lernorten. Die beiden verpflichtenden Basiscurricula werden ergänzt durch optionale Zusatzcurricula. Diese bestehen in der Unterstufe aus Liftkursen „für schnell lernende Schüler in den Kulturtechniken mit dem Ziel des Klassenspringens und eventuell der Rückschulung“ (Böhm, 1983, S. 299), aus Stützkursen für die „langsamer und schwerer lernenden Schüler“ (ebd.) und aus interessegeleiteten Arbeitsgemeinschaften, „um das Nachholen bzw. Ausgleichen fehlender Spiel- und Freizeitfertigkeiten und -kenntnisse zu ermöglichen“ (ebd.). Für die Oberstufe schlägt Böhm drei Angebotsarten vor: Weiterbildungskurse in den traditionellen Schulfächern, Arbeitsgemeinschaften in musischen, handwerklichen und freizeitorientierten Lernfeldern und bei entsprechendem Förderbedarf verpflichtend zu belegende Kompaktkurse als „Stütz- und Nachholkurse für Lesen/Schreiben und eventuell in Sprecherziehung“ (Böhm, 1983, S. 301). Solch ein differenziertes Modell der Unterrichtsorganisation ist in einzügigen Schulen nur schwer zu realisieren. Böhm hat bereits 1983 die Einführung des Ganztagsbetriebs an Schulen für Lernbehinderte vorgeschlagen, zusätzliche Förderstunden gefordert und die Einrichtung von selbständigen Stufenteams empfohlen, denen die Planungskompetenz für ihre Schulstufe und der flexible, bedarfsgerechte Einsatz der Lehrkräfte zugestanden werden sollte. Leider gibt es keine empirischen Daten darüber, ob, in welchem Umfang und mit welchen Ergebnissen die Vorschläge von Baier und Heil (1988) oder Böhm (1983) an Sonderschulen umgesetzt worden sind. Die weiter oben referierten Befunde aus dem Regelschulbereich lassen jedoch vermuten, dass nicht nur Art und Ausmaß der äußeren Differenzierung wichtig sind, sondern mehr noch Art und Umfang der inneren Differenzierung; denn es kommt vermutlich weniger darauf an, unterschiedliche Lerngruppen zu organisieren, als vielmehr in diesen Lerngruppen wirkungsvollen Unterricht zu realisieren.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 23.4.4 Innere Differenzierung Seit Gründung der ersten Hilfsschulen finden sich Empfehlungen zur Gestaltung des Unterrichts an Förder- und Sonderschulen, die kaum auf systematischer Forschung basieren, aber vermutlich bis in die Gegenwart hinein akzeptiert werden, weil sie sich in der Praxis bewährt haben. Jakob Muth (1983, S. 96 f.) hat vier solche Empfehlungen formuliert, die er didaktische Konstanten für den Unterricht bei Lernschwierigkeiten nennt: den Vorrang des Klassenlehrerprinzips vor dem Fachlehrerprinzip, die Sicherung einer stabilen sozialen Bezugsgruppe im Klassenverband, das heimatliche Wohnen in einem verlässlichen Klassenraum und der weitgehende Verzicht auf Maßnahmen der äußeren Differenzierung. Bei lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern komme es auf die innere Differenzierung an, das sei der „Versuch, der Individualität des einzelnen Schülers gerecht zu werden, ohne ihn aus seiner Klasse auszusondern“ (Muth, 1983, S. 98). Nestle (1980, S. 174) hat innere Differenzierung als ein „Ensemble didaktischer Maßnahmen“ definiert, das sich auf die Inhalte, Lernziele und Methoden des Unterrichts erstreckt und dessen Handlungsschemata, Sozialformen und Präsentationsmittel einbezieht. Im Folgenden werden wir traditionelle, deutlich lehrergelenkte Formen der Differenzierung von stärker schülerzentrierten Formen der inneren Differenzierung durch Öffnung des Unterrichts unterscheiden. 23.4.4.1 Differenzierung durch Lenkung der Lehrperson Auch wenn die Schülerinnen und Schüler einer Förderklasse oder einer Sonderschulklasse in Bezug auf die schulischen Lernvoraussetzungen bereits eine Negativauslese darstellen, stellen sie keine homogene Lerngruppe dar, die sich einheitlich unterrichten ließe; denn die Kinder oder Jugendlichen unterscheiden sich interindividuell in Lerntempo und Lernkapazität, in Vorwissen und Vorverständnis, in Lernmotivation und Methodenerfahrung, und alle diese Lernvoraussetzungen variieren intraindividuell von Thema zu Thema und von Lernbereich zu Lernbereich (Muth, 1983, S. 94 f.). Muth schlägt aus diesem Grunde sechs verschiedene Formen der inneren Differenzierung vor, die es der Lehrperson ermöglichen, auf die jeweils individuelle Entwicklungs- und Lerngeschichte eines Kindes mit Lernschwierigkeiten einzugehen (1983, S. 98-103): Art und Umfang der Lehrerhilfe sind je nach Lern- und Entwicklungsstand des oder der Lernenden zu variieren. Unsichere Kinder sollten ermutigt werden, Lernende mit Verständnisschwierigkeiten werden von der Lehrerin aktiv unterstützt. Dennoch muss oberstes Ziel die größtmögliche Selbständigkeit des oder der Lernenden sein, und diese kann nur erreicht werden, wenn sich die Lehrperson zurückhält und nur notwendige Hilfestellung leistet. Das Niveau der Anforderungen kann von der Lehrperson variiert werden, indem je nach individuellem Lernstand einfachere oder anspruchsvollere Aufgaben gestellt und mehr oder minder komplexe und vollständige Lösungen verlangt werden. Die Anzahl der Aufgaben kann je nach Auffassungsgabe und Lerntempo des oder der Einzelnen variiert werden; sie sollte bei langsam und mühsam Lernenden nur behutsam gesteigert werden, während schnell und sicher Lernende durch zusätzliche Aufgaben herausgefordert werden können.
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Art und Einsatz von Medien sind an dem aktuellen Lern- und Entwicklungsstand eines bzw. einer Lernenden anzupassen; der eine Schüler braucht bei der Bearbeitung von Rechenaufgaben vielleicht enaktive Veranschaulichungen, während sein Nachbar die gleichen Aufgaben mit ikonischen Verständnishilfen lösen kann und eine dritte Schülerin auf abstrakt-symbolischer Ebene allein in der mentalen Vorstellung arbeitet. Bei erfolgreich verlaufendem Lernprozess werden Medien frühzeitig ausgeblendet, bei Lern- und Verständnisschwierigkeiten länger eingesetzt. Partner- und Gruppenarbeit erlauben die zeitweilige Bildung von leistungshomogenen oder leistungsheterogenen Partner- und Kleingruppen innerhalb der Schulklasse, die arbeitsteilig oder arbeitsgleich angelegt sein können. In homogenen Gruppen können alle Kinder die gleichen Aufgaben auf dem gleichen Schwierigkeitsniveau und vielleicht sogar mit den gleichen Medien gemeinsam bearbeiten und sich gegenseitig helfen. In heterogenen Gruppen treten das soziale Lernen und die partnerschaftliche Hilfe in den Vordergrund, denn in solchen Gruppen oder Partnerkonstellationen können die Kinder, die eine Aufgabe bereits verstanden haben, den Anderen helfen, zugleich lernen alle Kinder den förderlichen Umgang miteinander. In Bezug auf den Lernfortschritt der gesamten Klassengruppe schließlich eignet sich die arbeitsgleiche Partner- und Gruppenarbeit für Übungszwecke, während arbeitsteilig angelegte Aufgaben das gemeinsame Erarbeiten größerer Projekte ermöglichen, wenn in einer abschließenden Plenumsphase die einander ergänzenden Teillösungen zusammen getragen und integriert werden. Einzelarbeit fordert von den Lernenden die eigenständige Arbeit am Lerngegenstand, die von der Lehrperson vollständig individualisiert werden kann. Art, Umfang und Niveau der Aufgaben, die Lehr- und Lernmedien und sogar die Lehrerhilfe können dem aktuellen Lernvermögen und dem erkennbaren Hilfebedarf der einzelnen Schüler angepasst werden. Diese knappe Darstellung der sechs Formen innerer Differenzierung nach Muth zeigt, dass diese nicht unabhängig voneinander einzusetzen sind. Fast immer werden Quantität und Qualität gestellter Aufgaben aufeinander und auf das Lernniveau der Lernenden abzustimmen sein, nicht selten ergeben sich daraus Konsequenzen für die Wahl der Lehr- und Lernmittel, und offensichtlich liegen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit als Sozialformen des Unterrichts quer zu den vorgenannten didaktischen und methodischen Entscheidungsfeldern. Das allen Bemühungen um innere Differenzierung übergeordnete Leitziel ist bei Muth (1983, S. 103) ein Unterricht, der die Lernenden aktiviert statt belehrt und der ermutigt und auf soziale Zusammenarbeit der Lernenden setzt statt auf Lehrerzentrierung, denn das oberste Ziel ist die Erziehung zur möglichst weitgehenden Selbständigkeit. In diesem Zusammenhang weist Muth (1983) mehrfach auf Formen des Offenen Unterrichts hin, welche die Förderung von Selbständigkeit über eine stärker schülerzentrierte Art der inneren Differenzierung anstreben. 23.4.4.2 Differenzierung durch Öffnung des Unterrichts Die bislang erörterten Methoden der inneren Differenzierung basieren darauf, dass die Lehrperson die Inhalte, Lernziele, Aufgaben, Medien und Methoden des Unterrichts variiert und gezielt an die gemessenen oder vermuteten Lernvoraussetzungen der Schü-
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| Teil VI: Schule und Unterricht lerinnen und Schüler anpasst. Einen grundsätzlich anderen Ansatz verfolgt die inhaltliche und methodische Öffnung des Unterrichts: Die Lehrperson gibt das Planungs- und Entscheidungsmonopol zeitweise aus der Hand und überlässt den Lernenden ganz oder in Teilen die Auswahl der Themen und Materialien, der Arbeitsweisen und Sozialformen, der Zeiten und Orte des Lernens. Differenzierung stellt sich in der Theorie des offenen Unterrichts spontan, gewissermaßen auf natürliche Weise ein: Sie wird nicht von den Lehrenden im Voraus geplant, sondern von den Lernenden in der aktuellen Situation realisiert. Hinter dieser Theorie steht die Erwartung, dass dann, wenn den Lernenden die Wahl der Inhalte und Methoden überlassen wird, diese jeweils individuell solche Themen wählen, die sie interessieren, und sich jeweils individuell für solche Arbeitsweisen entscheiden, die zu ihrem Vorwissen und zu ihrem arbeitsmethodischen Entwicklungsstand passen. Das Prinzip der spontanen oder natürlichen Differenzierung wird vor allem in konstruktivistisch orientierten Unterrichtstheorien vertreten, z. B. in aktuellen Ansätzen der Mathematikdidaktik (vgl. Scherer, 1995), auch und gerade im Hinblick auf den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten. Die Lernenden werden mit offenen mathematikhaltigen Problemen konfrontiert, zu denen sie unterschiedlich schwierige Aufgaben erfinden, die sie mit unterschiedlich komplexen Lösungen und auf variierenden Niveaus bearbeiten (Scherer, 1995, S. 95 f.). Böhm (1984) spricht generalisierend vom Prinzip der Selbstdifferenzierung durch offene Aufgaben, das er bei besonderem Förderbedarf grundsätzlich und nicht nur für den Mathematikunterricht empfiehlt. Er verweist u. a. auf folgende Vorteile: – Bei der spontanen Differenzierung steht den Lernenden frei, sich gegenseitig zu helfen. Der offene Unterricht fördert also nicht nur das fachliche, sondern gleichzeitig auch das soziale Lernen. – Bei der spontanen Differenzierung werden die Lernenden nicht mit bereits getroffenen Entscheidungen der Lehrperson konfrontiert, die sie lediglich umzusetzen haben, sondern sie selbst treffen Entscheidungen und sie erleben sich als handelnde Subjekte und eigentliche Verursacher ihres Lernerfolgs, was intrinsische Lernmotivation aufbaut. – Bei der lehrerzentrierten Differenzierung trifft allein die Lehrperson die didaktischen und methodischen Entscheidungen, und sie verlässt sich dabei auf ihre Annahmen über den derzeitigen Lernstand der einzelnen Schülerinnen und Schüler; diese Annahmen können jedoch sehr wohl unrealistisch und schlichtweg falsch sein. Die völlig freie Selbstbestimmung des Lernens ist selbst in allgemein bildenden Schulen die seltene Ausnahme, der Normalfall ist die teilweise Selbstbestimmung und die von der Lehrerin angeleitete Selbstkontrolle des Lernprozesses durch die Lernenden. Tages- und Wochenplanarbeit, Lernzirkel und Stationslernen, Projektunterricht und Projektmethode sind teilstrukturierte und variabel zu handhabende Organisationsformen offenen Unterrichts, welche die Lernenden von der alleinigen Entscheidungsverantwortung entlasten und dem Lehrer ermöglichen, den Lernprozess je nach Lernstand und Lernfortschritt mehr oder weniger stark anzuleiten, zu kontrollieren und zu unterstützen (vgl. Hartke in diesem Band). Diese und andere Varianten sind gelegentlich und durchaus mit Erfolg an Förder- und Sonderschulen eingesetzt worden (vgl. z. B. Eckstein, 1986; Heimlich, 1993;
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Reiß & Reiß, 1992; Schulze, 1993; Strunk, 1992), haben hier bislang jedoch nicht die Wertschätzung und Verbreitung gefunden, die sie in der Grundschule genießen. Im integrativen Unterricht ist das ganz anders: „Ein guter Unterricht, der Kinder mit Behinderungen nicht ausschließt, sondern bewusst einbezieht, wird ein Unterricht sein, der weitgehend die Prinzipien des Offenen Unterrichts berücksichtigt“, schreibt Jutta Schöler (1993, S. 40) in ihrem Ratgeber für Eltern und Lehrer (Untertitel), und Dieter Dumke, ein in der Begleitforschung zum Gemeinsamen Unterricht erfahrener Fachwissenschaftler, beantwortet die Frage, ob denn integrativer Unterricht eine neue Lehrmethode sei, so: Für einen integrativen Unterricht gelten grundsätzlich die gleichen Lehr- und Lernmethoden wie für einen Unterricht, der auch für Klassen mit ausschließlich nichtbehinderten Schülern als angemessen gilt. Allerdings könnten bestimmte Prinzipien unter der Bedingung des gemeinsamen Lernens eine andere Gewichtung erfahren. Solche als notwendig erkannten Akzentuierungen dürften aber auch für den Unterricht mit nichtbehinderten Schülern von Vorteil sein. Sucht man nach einer knappen Skizzierung des Unterrichts in integrativ geführten Klassen, so findet man am häufigsten die Hervorhebung einer konsequenten Differenzierung und Individualisierung bei gleichzeitiger Berücksichtigung eines selbstgesteuerten Lernens. Neben der Schülerorientierung ist auch der Handlungsaspekt von Bedeutung. Hinzu kommen konkrete Formen offenen Unterrichts wie Freie Arbeit, Tages- und Wochenpläne sowie die Durchführung von Projekten. (…) Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit erhalten bei den Sozialformen einen hervorgehobenen Stellenwert. (Dumke, 1991, S. 33) Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich in der Sonderpädagogik von Gründung der ersten Hilfsschulen an die lehrerzentrierte Differenzierung im stark anleitenden Unterricht durchgesetzt hat, während in der integrativen Didaktik die Differenzierung durch Öffnung des Unterrichts nicht nur grundsätzlich und für alle Lernenden, sondern gerade auch für Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf gefordert wird. Im Folgenden wird versucht, diese beiden Differenzierungsansätze hinsichtlich ihrer empirisch feststellbaren Effekte zu vergleichen, ohne die Didaktik und Methodik des Gemeinsamen Unterrichts zu diskutieren (vgl. dazu Heimlich in diesem Band) oder dessen Effektivität im Vergleich zum Unterricht an Sonderschulen und in Sonderklassen zu behandeln (vgl. Bless/Schleenbecker in diesem Band). Der Schwerpunkt der Analyse wird bei der ausgleichenden oder egalisierenden Förderung der schwachen Lerner liegen, auch wenn sich Fragen der gezielten Förderung Aller nicht ganz außer Acht nehmen lassen. 23.4.4.3 Empirische Befunde Bei der klassischen Differenzierung des Unterrichts versucht die Lehrperson, die zu behandelnden Inhalte und die zu wählenden Arbeitsweisen an die jeweils individuellen Bedürfnisse der einzelnen Lernenden anzupassen. Sie folgt dabei implizit oder explizit dem förderdiagnostischen Modell, auch Diagnose-Förderungs-Modell oder – in Anlehnung an die internationale Fachliteratur (z. B. Arter & Jenkins, 1979) – diagnos-
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| Teil VI: Schule und Unterricht tisch-präskriptives Modell genannt. Im Rahmen dieses Modells wird versucht, zunächst unterrichtsrelevante Lernvoraussetzungen bei den Lernenden zu diagnostizieren, um auf deren Basis anschließend passende didaktische und methodische Entscheidungen zu treffen und in die Praxis umzusetzen. Im alltäglichen Unterricht erfolgt die Diagnose nicht selten informell und ohne Versuche der Validierung, und auch die anschließende Zuweisung von Unterrichtsbedingungen ist fast immer von den derzeit zur Verfügung stehenden Ressourcen gekennzeichnet und wird nicht systematisch geprüft. Aber selbst in Modellversuchen und Forschungsprojekten tun sich bei der diagnostisch-präskriptiven Passung Probleme auf. Im Grundsatz wird nicht bezweifelt, dass eine individuelle Passung des Unterrichts gerade bei Lernenden mit besonderem Förderbedarf sinnvoll ist. Schwieriger ist schon die Frage zu beantworten, wie eine solche Passung vorgenommen werden soll. Soll die Lehrperson präferenziell passen, d. h. soll sie solche Inhalte wählen, für die das Kind sich ohnehin interessiert und solche Methoden anbieten, die das Kind mag? Oder soll die Lehrperson remedial passen, d. h. gerade solche Inhalte und Methoden auswählen, die das Kind noch nicht beherrscht? Je nach individueller Ausgangslage kann beides offensichtlich richtig sein: Bei misserfolgsängstlicher Motivation und nur unzureichend ausgebildeten Lernvoraussetzungen wird die Lehrerin vielleicht die präferenzielle Passung wählen; wenn ein Kind hingegen bestimmte, wichtige Qualifikationen noch nicht erworben hat und diese bei effektivem Unterricht durchaus erwerben könnte, wird die Lehrerin die remediale Passung wählen und die erwünschten Qualifikationen direkt fördern (Wember, 2001, S. 166 f.). Aber auch eine dritte Variante der Passung wird in der schulischen Praxis zu bedenken sein: Wenn eine bestimmte Qualifikation, über die eine Lernende nicht verfügt, überhaupt nicht wichtig ist, oder wenn die Lernende diese zwar wichtige Qualifikation nicht (z. B. Schwarzschriftlesen bei Blindheit) oder nur mit übermäßigem Aufwand erreichen kann, wird die Lehrperson sich für die kompensatorische Passung entscheiden und den weiteren Unterricht so anlegen, dass die fehlenden Lernvoraussetzungen umgangen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Unterrichtserfolg neutralisiert werden (Wember, 2001, S. 167). Es hat zahlreiche Versuche gegeben, etwa im Zuge der Forschung zu den sog. Lernstilen, die Überlegenheit der einen oder der anderen Strategie der Passung von Unterricht herauszuarbeiten, aber narrative Reviews wie die von Tarver und Dawson (1978) oder Arter und Jenkins (1979) und eine Metaanalyse von Kavale und Forness (1987) haben gezeigt, dass es bislang nicht gelungen ist, eindeutige Vorteile für die eine oder andere Methode der Adaption von Unterricht heraus zu arbeiten (vgl. zusammenfassend Wember, 2001; 2003). Die Entscheidung über die präferenzielle, remediale oder kompensatorische Passung von unterrichtlichen Inhalten und Methoden wird immer höchst individuell zu treffen sein. Ein zweites Problem betrifft die Frage, welche Eigenschaften der Lernenden für welche Arten von Unterricht gemessen werden sollen. Das förderdiagnostische Modell basiert auf der grundlegenden Annahme, es gäbe bestimmte und relativ überdauernde Lernermerkmale, die sich zuverlässig diagnostizieren lassen und die systematisch und relativ stabil mit bestimmten Unterrichtsmerkmalen interagieren. Diese Annahme ist in jahrzehntelanger Forschung und in Hunderten von Operationalisierungen vor allem in Laborstudien mit relativ künstlichen Lernaufgaben geprüft worden, aber sie hat sich auch in praxisnahen Feldstudien bestätigen lassen. Einerseits treten Interaktionen zwischen
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Schüler- und Unterrichtsmerkmalen in praktisch allen Forschungen zur Effektivität von Unterricht auf, sobald man allgemeine kognitive Fähigkeiten, Vorkenntnisse oder die Lernmotivation misst und in Beziehung zum Unterrichtserfolg setzt (Snow, 1996). Andererseits hat sich mehr und mehr herausgestellt, dass solche Interaktionen situationsspezifisch moderiert werden und dass es infolge dessen sehr schwierig ist, stabile Interaktionen vorherzusagen oder gar bei der Planung von Unterricht zu nutzen. Man muss dann eine Vielzahl von empirischen Studien auf einem hohen inferenziellen Niveau aggregieren und erhält nur noch ausgesprochen allgemeine Aussagen. Snow (1996) hat dies immer wieder getan und zwei häufig validierte Interaktionen identifiziert: Ängstliche und misserfolgsorientierte Schülerinnen und Schüler sowie Lernende mit eingeschränkten Lernvoraussetzungen profitieren eher von strukturierten Unterrichtsangeboten mit deutlicher Lenkung und Anleitung durch die Lehrperson, während erfolgszuversichtliche und besonders begabte Schülerinnen und Schülern nicht nur unter allen Unterrichtsbedingungen erfolgreich lernen, sondern von offenen Unterrichtsangeboten mit geringer Lernkontrolle sogar noch mehr profitieren als alle Anderen. Forschungsmethodisch ist es ausgesprochen schwierig, Interaktionshypothesen empirisch valide zu prüfen. Dies liegt daran, dass man sowohl auf Seiten der Lernenden als auch auf Seiten des Unterrichts bestimmte Merkmale definieren und operationalisieren muss, die dann möglichst objektiv, reliabel und valide zu messen sind. Bei der Prüfung einer Interaktionshypothese addieren sich die Messfehler für abhängige und unabhängige Variablen auf, so dass man vergleichsweise schnell einen Fehler zweiter Art begehen und die Null-Hypothese irrtümlich annehmen kann, es sei denn, man forscht mit sehr großen Stichproben. Wenn man dann noch bedenkt, dass vor allem in praxisnahen Feldstudien viel Fehlervarianz in alle Erhebungen eingeht, die sich nicht wirksam kontrollieren oder gar vollständig ausschließen lässt, nimmt es nicht Wunder, wenn die wenigen in der Literatur berichteten Interaktionshypothesen von sehr allgemeiner Art sind und häufig auf Studien mit kaum vergleichbaren Stichproben beruhen. Wer im Rahmen des Offenen Unterrichts forscht, muss sich mit solchen Problemen zunächst nicht befassen. Hier ist die Diagnose lernrelevanter Lernvoraussetzungen und die gezielte Zuweisung von Lernbedingungen durch die Lehrperson auf den ersten Blick verzichtbar, denn hier soll die innere Differenzierung spontan und durch die Lernenden selbst erfolgen. Einerseits haben Berichte aus der schulischen Praxis wie die von Eckstein (1986), Goetze und Jäger (1991), Räuber (1996), Reiß und Reiß (1992) oder Strunk (1992) belegt, dass Offener Unterricht auch bei Kindern und Jugendlichen mit erheblichen Lern- und Verhaltensschwierigkeiten realisierbar ist. Andererseits hat Goetze (1992) auf konzeptionsbedingte Schwierigkeiten hingewiesen, die sich in der schulischen Praxis häufig als Disziplinprobleme zeigen dürften und vorgeschlagen, einschlägige empirische Befunde zu studieren anstatt auf ungeprüfte Theorie zu vertrauen. In der Tat ist fraglich, ob ausgerechnet Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten überhaupt in der Lage sind, sich in offenen Unterrichtssituationen zu kontrollieren und Lerninhalte und Lernwege angemessen zu differenzieren. Das älteste Sammelreferat zum Thema dürfte das von Richard Anderson sein, der 1959 bereits 32 Studien analysiert hatte, in denen der „lehrerzentriert-direktive“ mit dem „schülerzentriert-nondirektiven“ Unterricht verglichen worden war. Anderson fand in elf Studien Vorteile auf Seiten der schülerzentrierten Methoden, in acht Studien eine Über-
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| Teil VI: Schule und Unterricht legenheit der lehrerzentrierten Methoden und in den verbleibenden 13 Untersuchungen keine statistisch signifikanten Unterschiede. 20 Jahre später sichtete Horwitz (1979) in einem narrativen Sammelreferat etwa 200 empirische Studien, in denen offener und traditioneller Unterricht verglichen worden war. Er stellte fest, dass viele Studien in statistisch nicht signifikanten oder in gemischten Ergebnissen resultierten, vor allem dann, wenn die Schulleistungen, das Selbstkonzept, Schulängstlichkeit oder das Verhalten im Unterricht die abhängige Variable waren. Positive Ergebnisse zu Gunsten des Offenen Unterrichts zeigten sich hingegen bei Variablen wie Einstellung zum Unterricht, Neugier, Kreativität, Unabhängigkeit und soziale Kooperation. Narrative Sammelreferate leiden unter zwei zentralen Mängeln (vgl. auch Walter in diesem Band): Die Kriterien für die positive oder negative Bewertung einzelner Studien liegen nicht objektiv fest, sondern der Autor entscheidet subjektiv, und da letztendlich nur die Anzahl signifikanter Ergebnisse ausgezählt wird, lässt sich nicht abschätzen, wie schwach oder wie stark etwaige Effekte ausgeprägt sind. Penelope Peterson (1979) hat deshalb für 45 der von Horwitz verglichenen Studien mit metaanalytischen Mitteln durchschnittliche Effektstärken berechnet. Sie fand alles in allem ausgesprochen geringe Unterschiede, die um .10 Standardabweichungen zu Ungunsten des Offenen Unterrichts bei den Leistungsvariablen lagen, während sich positive Effekte zwischen .10 und .20 Standardabweichungen bei den sozialen und affektiven Variablen zeigten. Zwei detailliertere Befunde verdienen genauere Beachtung: – Im kognitiven Bereich war die Streuung der Ergebnisse beträchtlich; sie variierte von Studie zu Studie zwischen -.78 und +.47. – In den sieben Studien, in denen Merkmale der Lernenden als Kovariate genutzt worden waren, zeigte sich, dass Lernende mit eher ungünstigen Lernvoraussetzungen im traditionellen Unterricht bessere Leistungen erzielten als im Offenen Unterricht, während leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in der Tendenz von offenen Unterrichtsarrangements mehr profitierten als alle Anderen. In einer viel beachteten Metaanalyse, die auf immerhin 153 Einzeluntersuchungen basiert, haben Giaconia und Hedges (1982) Petersons Ergebnisse replizieren können. Sie fanden einen durchschnittlichen Effekt nahe Null im Leistungsbereich, Effektstärken um .20 für Variablen wie Freude am Lernen oder Einstellung zur Schule und Lehrerin sowie Effektstärken um .30 bei Variablen wie Kooperationsbereitschaft, Kreativität und Unabhängigkeit. Die Autoren wollten sich nicht allein mit diesen generellen Ergebnissen zufrieden geben, sondern darüber hinaus Varianz aufklären. Sie verglichen deshalb die Studien mit den höchsten und die Studien mit den niedrigsten Effektstärken und versuchten solche Unterrichts- und Schülermerkmale zu identifizieren, die für die Ergebnisse verantwortlich schienen. Sie untersuchten deshalb sieben induktiv gewonnene Merkmale Offenen Unterrichts und deren Auswirkungen auf kognitive und affektiv-soziale Merkmale der Schülerinnen und Schüler und stellten fest (Giaconia & Hedges, 1982, S. 600): Es gelingt nur in den wenigsten Fällen, die kognitiven Leistungen und zugleich die emotionalen und sozialen Variablen positiv zu beeinflussen, aber es gibt drei Merkmale Offenen Unterrichts, die sich durchgängig positiv beurteilen lassen: – Wenn die Selbstbestimmung der Kinder, in der Theorie das zentrale Merkmal Offenen Unterrichts, in der Praxis besonders konsequent realisiert wird, hat dies keine nega-
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tiven Effekte auf die Schulleistungsentwicklung, aber überaus positive Auswirkungen auf die emotionale und soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. – Wenn die Leistungen der Lernenden unterrichtsbegleitend gemessen und nicht normorientiert, sondern förderungsorientiert ausgewertet und individualisiert an die Lernenden rückgemeldet werden, zeigt dies durchgängig positive Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der Kinder, in der Lernmotivation und in der Leistungsentwicklung. – Wenn vielfältige Lehr- und Lernmittel zur Verfügung stehen, arbeiten die Lernenden im Unterricht besonders motiviert und besonders effektiv mit. Eine konsequente Individualisierung des Unterrichts hingegen wirkt sich im affektiven Bereich positiv, im kognitiven Bereich eher negativ aus, ebenso wie die Unterrichtung in altersgemischten Lerngruppen. Die Unterrichtung durch ein Lehrerteam erweist sich zwar durchaus als leistungsfördernd, wird von den Lernenden jedoch eher als belastend erfahren. Große räumliche Offenheit schließlich erweist sich in der Praxis als wenig förderlich, denn sie lässt vielfältige Störungen zu, wirkt leistungsmindernd und wird von den Lernenden nicht positiv erlebt. 23.4.5 Zielerreichendes Lernen in flexibler Differenzierung bei multivalenter Zielsetzung Die Verschiedenheit der Köpfe, die Herbarth – wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt – bereits vor fast 200 Jahren beklagt hat, ist bis heute die größte Herausforderung aller schulischen Bildungsbemühungen geblieben. Dieser Vielfalt ist nur durch Differenzierung des Unterricht zu begegnen, denn ein im Gleichschritt fortschreitender Unterricht, der sich an einem vermeintlichen Durchschnittsniveau orientiert, wird nicht nur etliche Lernende unterfordern, er wird die Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten überfordern und über kurz oder lang zurücklassen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Sonderpädagogik hat gezeigt, dass die ersten historischen Antworten die äußere Differenzierung des Unterrichts betrafen und zur Einführung von zunächst Nachhilfeklassen, dann Hilfsschulen und später Sonderschulen führten. Empirische Studien zur Effektivität dieses Sonderunterrichts belegen, dass dieser im Leistungsbereich eher suboptimal fördert, auch wenn die Effektstärken gering sind, während sich im Bereich der sozial-emotionalen Befindlichkeit zunächst positive Effekte einstellen, die jedoch nicht für alle Lernenden konstatiert werden können und die mit zunehmender Beschulung nachlassen und verschwinden. Die mehr oder minder komplexen Modelle der klasseninternen bzw. jahrgangsübergreifenden Unterrichtsorganisation, die an allgemein bildenden Schulen von einfachen Stütz- und Förderkursen über Neigungs- und Niveaukurse bis hin zu Kurssystemen für ganze Schulstufen reichen, lassen sich in vereinfachten Varianten auch an einigen Förder- und Sonderschulen finden. Die empirischen Befunde zeigen, dass sich selbst komplexe Organisationsmodelle im Durchschnitt nur wenig auf die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirken, dass hingegen aus Sicht einer egalisierend ausgleichenden Förderung festzustellen ist, dass alle Versuche der leistungshomogenen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Gruppenbildung in der Praxis schnell zu fixen und zumeist sozial selektiven Niveaugruppen führen, die nicht selten zu der Stigmatisierung schwacher Schülerinnen und Schüler führen, die durch das Kurssystem eigentlich vermieden werden sollte. Offensichtlich empfiehlt sich die innere vor der äußeren Differenzierung, denn aus integrativen Gesichtspunkten heraus ist es sinnvoller, Lernende mit besonderem pädagogischem Förderbedarf möglichst gar nicht aus ihrer Lerngruppe herauszunehmen. Die Fachliteratur zur didaktischen und methodischen Gestaltung des Unterrichts ist voll von Vorschlägen zur inneren Differenzierung, aber die empirische Befundlage ist ernüchternd, was die Erarbeitung von verlässlichen Interaktionen zwischen Merkmalen der Lernenden und Merkmalen des zu empfehlenden Unterrichts angeht; denn solche Interaktionen treten situativ vermittelt auf. Die von Muth (1983) aufgeführten Möglichkeiten der inneren Differenzierung lassen sich nicht an stabile Schülermerkmale knüpfen. Ob eine bestimmte Schülerin in einer bestimmten Unterrichtsstunde in Einzel- oder in Partnerarbeit arbeiten sollte, ob sie leichte oder schwierige Aufgaben bekommen sollte, ob sie die Aufgaben selbst wählen und die Arbeitszeiten selbst bestimmen darf, ob sie in einer Gruppen arbeiten darf und ob diese Gruppe viel oder wenig Hilfe durch den Lehrer erwarten kann, all dies sind überaus komplexe Fragen, die sich nicht grundsätzlich beantworten lassen. Was ist zu tun? Der diagnostisch-präskriptive Unterrichtsansatz muss situativ modifiziert und zeitlich relativiert werden. Statt nach zeitlich überdauernden und situationsübergreifenden Schülermerkmalen zu suchen, ist der förderdiagnostische Ansatz bereichsspezifisch und aktualgenetisch auszurichten: Es muss darum gehen zu diagnostizieren, wo genau ein Schüler in einem bestimmten und inhaltlich umschriebenen Lernprozess steht, welches mögliche nächste Lernschritte sein können und wie sich diese durch Lehr- und Lernmaterialien oder durch persönliche Assistenz unterstützen lassen. Zur Leitkonzeption eines solchen Unterrichts wird das zielerreichende Lernen, eine Konzeption, die John Carroll bereits 1963 (deutsch 1973) formuliert hat und die von Benjamin Bloom (1970) in ein praktikables Unterrichtsmodell umgesetzt worden ist. Die zentrale Idee des zielerreichenden Lernens besteht nach Carroll (1973) darin, Schulversagen durch bessere Anpassung der zugestandenen Lernzeit an die individuellen Lernvoraussetzungen zu vermeiden. Carroll argumentierte so: Da in einer Klassengruppe von 20 bis 30 Kindern die Lernvoraussetzungen sehr unterschiedlich entwickelt sind, kann man vorhersagen, dass diese Unterschiede im Verlaufe der Schulzeit größer werden, wenn alle Kinder den gleichen Unterricht erhalten. Besonders begabte Kinder werden dem Klassendurchschnitt immer weiter vorauseilen, während die schwächer begabten Kinder zunehmend hinter dem Klassendurchschnitt zurück bleiben. Carroll entwickelte ein vereinfachtes Modell schulischen Lernens, das nur drei personale Lernvoraussetzungen und zwei situative Bedingungen unterscheidet: Die allgemeine Eignung und Begabung für schulische Anforderungen, die Fähigkeit, dem Unterricht zu folgen und die Ausdauer bei der Bewältigung von schulischen Lernaufgaben einerseits sowie die schulisch zugestandene Lernzeit und die Qualität des Unterrichts andererseits. Carroll wies nach, dass sich das Problem schulischen Leistungsversagens, das traditionell auf mangelnde Begabung der betroffenen Kinder zurückgeführt wird, grundsätzlich auch ganz anders auffassen lässt, nämlich als Missverhältnis zwischen schulisch zugestandener Lernzeit und individuell benötigter Lernzeit. Kinder, deren persönliche Lernvoraussetzungen
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unzureichend ausgebildet sind, lernen im Unterricht weitaus langsamer als alle anderen Kinder. Sie benötigen mehr Lernzeit und müssen zunehmend zurückbleiben, wenn ihnen nur die gleiche Zeit zur Verfügung gestellt wird wie allen anderen Kindern. Benjamin Bloom hat wenige Jahre später (1970) diese Gedanken aufgegriffen und in ein praktikables Unterrichtsmodell umgesetzt. Wenn das Missverhältnis zwischen schulisch zugestandener und individuell benötigter Lernzeit verantwortlich für Schulversagen sei, müsse man eben die zugestandene Lernzeit so bemessen, dass sie der benötigten Lernzeit entspreche. Dies sei möglich, wenn man erstens genau bestimme, welche Qualifikationen alle Lernenden erwerben sollen, wenn man zweitens den Lernstoff in kleinere Einheiten unterteile und drittens für jede dieser Einheiten sowie für die angestrebten Qualifikationen selbst lernzielorientierte Kurztests entwickele, die darüber Auskunft geben, ob ein Kind eine Unterrichtseinheit erfolgreich bewältigt hat oder ob es noch weiteren Unterricht benötigt. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann die Lehrerin nach jeder Unterrichtseinheit schnell und zielsicher feststellen, welche Lernenden auf neue Lernziele zu orientieren sind und welche Kinder zusätzlichen Unterricht benötigen. Wenn solche formativen Messungen nach jedem Unterrichtsdurchgang erhoben werden, wird die zur Verfügung gestellte Unterrichtszeit an die individuell benötigte Lernzeit angepasst, und bei konsequenter Anwendung dieses Prinzips der Zielerreichung ist gewährleistet, dass kein Lernender weiterführende Qualifikationen anstreben muss, bevor er nicht sicher über vorgeordnete elementare Qualifikationen verfügt. Es ergibt sich idealiter ein lückenloses bzw. – im Falle der remedialen Förderung – ein Lücken schließendes Lernen mit hoher Erfolgsrate. Bereits 1971 konnte Block gut drei Dutzend empirische Studien präsentieren, die zeigten: Zielerreichender Unterricht lässt sich unter gewöhnlichen Schulbedingungen realisieren und er führt je nach Intensität 75 bis 90% der Lernenden zum Erfolg. Auch wenn diese frühen Studien vorrangig den Erwerb und die Vermittlung von elementaren Kulturtechniken und eher einfachen kognitiven Fertigkeiten zum Gegenstand hatten, zeigen umfangreiche und methodisch sorgfältig angelegte Metaanalysen jüngeren Datums (Guskey & Pigott, 1988; Kulik, Kulik & Bangert-Drowns, 1990), dass sich zielerreichendes Lernen sehr wohl auch zum Erwerb komplexer Fähigkeiten und Fertigkeiten anbietet. Die untersuchten Stichproben reichten allerdings vom Primarschulalter bis hin zu Universitätsstudenten und die abhängigen und die unabhängigen Variablen waren vielfältig operationalisiert worden; dementsprechend waren die Effekte inhomogen und reichten im Bereich der Lernleistungen von Ergebnissen nahe Null bis zu starken 1.70 Standardabweichungen (Guskey & Pigott, 1988, S. 203). Guskey (1997, S. 175-186) hat einige Studien genauer analysiert und argumentiert, dass das Erleben erfolgreichen Lernens vor allem bei ehedem schwachen Schülerinnen und Schülern erfreuliche affektive Auswirkungen zeigt. Viele dieser Kinder entwickeln ein positives Konzept der eigenen Fähigkeiten und nicht selten verbessert sich die Einstellung zum schulischen Lernen überhaupt. Andererseits ist bei der vergleichenden Analyse von Unterrichtsversuchen deutlich geworden, dass oft nur die Lernzeit variiert wurde, nicht jedoch die Lehrmethoden. In besonders erfolgreichen Unterrichtsversuchen hingegen variierten die meist berufserfahrenen Lehrerinnen und Lehrer auch die Inhalte und Methoden des Unterrichts, indem sie Lernvoraussetzungen und Unterrichtsergebnisse häufig und zielgerichtet diagnostizierten, die Ergebnisse in verständlicher Form an die
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| Teil VI: Schule und Unterricht Lernenden kommunizierten und den weiteren Unterricht in flexibler Weise anpassten. Offensichtlich ist Carrolls Variable „Qualität des Unterrichts“ eine besonders wichtige Einflussgröße, die eng verknüpft ist mit den Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer. Klafki und Stöcker (1976) haben in ihrem grundlegenden Aufsatz zur Differenzierung des Unterrichts gewarnt, man müsse bei jeder Differenzierung bereits deren Aufhebung anstreben. Zielerreichendes Lernen ist bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten in diesem Sinne einzubetten in eine flexible Organisation des Unterrichts, die variierende Lerngruppen mit hoher horizontaler und vertikaler Durchlässigkeit vorsieht, denn jede gut gemeinte Differenzierung birgt die Gefahr der ungewollten Stigmatisierung. Nur eine flexible Unterrichtsorganisation entspricht dem Ansatz einer bereichsspezifisch und aktualgenetisch ausgerichteten Diagnostik, welche die Lernenden nicht überdauernd zu klassifizieren sucht, sondern jedes Kind in Relation zu bestimmten, inhaltlich umschriebenen Lernbereichen und im Bezugsrahmen konkreter Lernentwicklungsprozesse beurteilt. Schulische Bildung und schulische Erziehung stehen unter einer multivalenten Zielsetzung: Einerseits soll die Schule kognitive Qualifikationen vermitteln, andererseits und zugleich soll sie die emotionale und soziale Entwicklung der Heranwachsenden fördern. Wenn im ersten Abschnitt dieses Kapitels gefordert wurde, alle Formen der äußeren und inneren Differenzierung des Unterrichts nach den Kriterien der Individualisierung, der Effektivität und der Integration zu beurteilen, dürfte im Verlaufe der Diskussion deutlich geworden sein, dass sich diese Ziele nicht immer gleichzeitig und nicht immer mit den gleichen Methoden erreichen lassen. Die Einzelarbeit wird unter dem Gesichtspunkt der Individualisierung und der Effektivität in vielen Situationen präferiert, aber sie kann sich – falls zu ausschließlich eingesetzt – unter dem Gesichtspunkt der Integration als nachteilig erweisen. Art und Umfang der Lehrerhilfe oder Anzahl und Niveau der Aufgaben sind einerseits individuell abzustimmen, andererseits wird die erfahrene Lehrerin immer wieder dafür sorgen, dass alle Kinder gemeinsam lernen. Der erfahrene Lehrer wird im Unterricht bewusst steuern, aber auch offene Lernangebote unterbreiten, denn Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit lassen sich anders kaum erwerben. Allein und eigenverantwortlich zu arbeiten, kann in lehrerunterstützter Kleingruppenarbeit angebahnt, in Einzelarbeit geübt, in Tages- und Wochenplanarbeit angewendet und in der Freiarbeit oder im Projekt vertieft werden. Kopperation lernt man nur durch Kooperieren, insofern kommt der Partner- und der Gruppenarbeit ihr spezifischer Bildungswert zu. Es ist nicht sinnvoll, im Förderunterricht für Kinder und Jugendliche allein auf offene Angebote zu vertrauen, weil diese gerade en vogue sind, aber es ist genauso wenig sinnvoll, Heranwachsende mit besonderem Förderbedarf im Lernen allein auf lehrerzentrierten Unterricht zu reduzieren. Es kommt auf ein ausgewogenes Verhältnis von helfender Lenkung und auffordernder Offenheit an, damit sich möglichst alle Kinder und Jugendlichen affektiv, kognitiv und sozial entwickeln und die Selbstständigkeit erlangen, die sie einmal im Leben außerhalb der Schule brauchen werden. Diese Forderung gilt nicht nur für Lernende mit besonderem pädagogischem Förderbedarf, aber für diese in besonderer Weise; denn sie sind in ihrem Lernerfolg mehr als alle anderen Kinder und Jugendlichen auf guten Unterricht angewiesen.
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Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 421
23.5 Formen offenen Unterrichts Bodo Hartke Die Kommunikation über offenen Unterricht sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Konzept wird durch unpräzise Begriffsbestimmungen erschwert (Hartke, 2003, S. 772). Die häufig zitierte Definition des offenen Unterrichts von Wallrabenstein (1993) „als Sammelbegriff für unterschiedliche Reformansätze in vielfältigen Formen inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Öffnung mit dem Ziel eines veränderten Umgangs mit dem Kind auf der Grundlage eines veränderten Lernbegriffs“ (S. 54) lässt verschiedene Fragen offen. Welcher veränderte Umgang mit dem Kind ist gemeint, was bedeutet veränderter Lernbegriff und ab welcher Quantität und Qualität von Wahlmöglichkeiten in inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Hinsicht ist es angebracht von Öffnung zu sprechen? Hinweise von Wallrabenstein auf namhafte Reformpädagogen wie Montessori, Freinet, Gaudig oder Petersen klären den Begriff nicht weiter, denn zwischen den angesprochenen Konzepten bestehen erhebliche Unterschiede. Außerdem unterscheidet sich auch die Unterrichtsgestaltung verschiedener Praktiker erheblich, selbst innerhalb bestimmter reformpädagogischer Orientierungen. Ähnlich verhält es sich mit Konzepten wie Freiarbeit und Wochenplanarbeit. Wenn unklar bleibt, was offener Unterricht ist, sind Aussagen über die Wirksamkeit offenen Unterrichts nur sehr eingeschränkt nachvollziehbar. Wenn Autoren Aussagen über Effekte treffen – wie Steigerung der intrinsischen Motivation, verbesserte Lehrer-Schüler-Beziehung, gesteigerte Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen, höhere soziale Kompetenz, Angstfreiheit, mehr Selbstwertgefühl, Kreativität oder Kooperationsbereitschaft – ist also zu fragen, welches Begriffsverständnis zu Grunde gelegt wurde, ob eine operationale Definition offenen Unterrichts vorliegt, welche theoretischen Annahmen für die Aussage sprechen und wie die Wirksamkeit erfasst oder wahrgenommen wurde. Insbesondere subjektive Einschätzungen und Erfahrungsberichte weisen eine sehr begrenzte Gültigkeit auf, weil sowohl verzerrende Einflussfaktoren auf Beobachtungen in Form von Selektivität und Subjektivität der Wahrnehmung, Beurteilungsfehlern, Urteilsbildungen auf Grund impliziter Kausalattribuierungen als auch die sich selbst erfüllende Vorhersage in Art und Ausmaß nicht eingeschätzt werden können. Empirische Studien zum offenen Unterricht sind hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnisse zu hinterfragen. Vermutlich sind die erzielten Ergebnisse von speziellen Bedingungen abhängig, die während der Untersuchung herrschten und nicht zu verallgemeinern auf andere Ausprägungen und Formen offenen Unterrichts. Wünschenswert wären Kenntnisse über die Wirksamkeit einzelner Formen offenen Unterrichts und über Wechselwirkungen dieser Unterrichtsformen (hier: Unterricht nach Montessori, Freinet- bzw. Wochenplanunterricht, Freiarbeit, Stationslernen und Werkstattunterricht) mit Lernvoraussetzungen von Schülern (Vorkenntnisse, Motivation und Interessen, kognitive und metakognitive Kompetenzen, Sozialverhalten, Konzentration, Alter) als auch inhaltlichen Aspekten (Lerngegenstand, Lernziele, fachwissenschaftliche Arbeitsweisen, fachdidaktische Standards). Solche differentiellen Forschungsergebnisse liegen zur Zeit nur in einem geringen Umfang vor. Häufig beruhen die Aussagen über Formen offenen Unterrichts auf Plausibilitätserwägungen und Erfahrungsberichten. Aus den wissenschaftlichen Studien über offenen Unterricht lässt
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| Teil VI: Schule und Unterricht sich allenfalls ein gewisser Trend hinsichtlich seiner Wirksamkeit ablesen (Hartke, 2003, S. 779). In diesem Kapitel sollen einzelne Formen offenen Unterrichts kurz vorgestellt und kritisch im Hinblick auf ihre Eignung für den Unterricht mit Schülern mit Lernschwierigkeiten betrachtet werden. Soweit empirische Ergebnisse über eine offene Unterrichtsform vorliegen, werden diese direkt im Anschluss an die Beschreibung des Konzeptes in die Diskussion eingebracht. Als wesentliche Aspekte eines qualitativ vertretbaren Unterrichts mit leistungsschwachen Schülern werden reformpädagogisch (konzeptimmanente), lernpsychologisch und empirisch (konzeptfern) begründete Gesichtspunkte herangezogen (siehe Tab. 1). Tabelle 1: Ausgewählte Aspekte zur Analyse von Formen offenen Unterrichts Reformpädagogische Aspekte
Lernpsychologische Aspekte
Empirische Aspekte
– Wahlmöglichkeiten im Inhalt, in der Methode, im organisatorischen Ablauf – Lebensbedeutsamkeit – Selbsttätigkeit und Produktorientierung – fächerübergreifender Unterricht – Lehrer als Lernförderer, schülerzentrierte Interaktion (Peschel, 2002a)
– Anknüpfen an – Aktivierung von Vorwissen (auch lebenspraktischer Bezug) – schrittweise Verinnerlichung, kumulativer Erwerb von Wissenssystemen – entwicklungsgemäße Sequenzierung von Unterrichtseinhalten und Lernzielen – Passung von individuellen Lernvoraussetzungen und Instruktionen insbesondere Berücksichtigung von Merkmalen der Schüler wie Aufmerksamkeitssteuerung, Motivation, Kurz- und Langzeitgedächtnis, sprachliche und soziale Kompetenz, schlussfolgerndes Denken, – operatives Üben des Problemlösens in variierenden Aufgabenstellungen (Hartke, 2000, 2003; Weinert, 1996a, 1996b; Wember, 2000a, 2001)
– Optimierung des Anteils der akademischen Lernzeit an der Unterrichtszeit – Motivation aller Kinder zu lernen – hohe Leistungserwartung an die Kinder und an ihre Eigenständigkeit – Belohnen – Anerkennen – Rückmelden von Erfolg (orientiert an der individuellen, curricularen und sozialen Bezugsnorm) – direktes Unterrichten komplexer Fähigkeiten durch Untergliederung dieser in kleine, einfache Fähigkeiten, direkte Instruktion dieser Teilfähigkeiten – lernprozessbegleitende Überprüfung des Lernfortschritts und Schließen von Lücken – soziale Wertschätzung und emotionale Akzeptanz der Schüler – Variation der Formen und Methoden des Unterrichts je nach Lehrziel, Unterrichtsgegenstand und Lernvoraussetzungen der Schüler sowie bewusster Einsatz von remedialen und kompensatorischen Förderstrategien (Hartke, 2003; Wember, 2000a, 2001)
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 423
Bei Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten erscheint auf Grundlage verschiedener Ergebnisse der Unterrichtsforschung insbesondere ein Unterricht erfolgversprechend, in dem komplexe Fähigkeiten in kleine, einfache Fertigkeiten zerlegt und direkt unter Anleitung der Lehrkraft vermittelt, in dem Lücken vermieden und Lernfortschritte an die Kinder zurückgemeldet werden, in dem Zeit und Gelegenheit zum systematischen Üben vorhanden sind und in dem remediale und kompensatorische Förderstrategien individualisiert eingesetzt und mit offenen, schülerzentrierten Formen verbunden werden (Wember, 2000a, 2001). Die im Folgenden vorgenommene Darstellung und Analyse von Formen offenen Unterrichts unter Berücksichtigung der pädagogischen Überlegungen von Montessori und Freinet sowie der Konzeptionen Wochenplanarbeit, Freiarbeit, Stationenlernen und Werkstattunterricht ist darauf ausgerichtet, Stärken und Schwächen der genannten Formen offenen Unterrichts herauszuarbeiten, um Anregungen für die Gestaltung eines individualisierten, adaptiven Unterrichts für Kinder mit Lernschwierigkeiten zu bieten. Die Themen Projektunterricht und kooperatives Lernen werden nicht in die Betrachtung einbezogen, weil sie in anderen Beiträgen ausführlich behandelt werden (vgl. 23.7 Kooperatives Lernen). Weitere Informationen über Unterrichtsformen finden sich bei Goetze (in Vorb.) und Hartke (1999, 2000, in Vorb.). Am Ende dieses Kapitels wird der bisherige Forschungsstand zum Globalkonzept offener Unterricht zusammengefasst. 23.5.1 Unterricht nach Maria Montessori Maria Montessori (1870-1952) begann ihre pädagogische Arbeit als Assistenzärztin der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom. Hier arbeitete sie mit Methoden von Itard (1775-1838) und Séguin (1812-1880), die für „schwachsinnige“ Kinder entwickelt wurden und modifizierte sie für den Unterricht mit „zurückgebliebenen“ und sinnesgeschädigten Kindern. Ermutigung der kindlichen Initiative und Selbsttätigkeit und die Kompensation der Beeinträchtigung durch spezielles Trainingsmaterial kennzeichneten von Beginn an ihre Arbeit. „Sinne und Muskeln, Beobachtungs- und Koordinationsleistungen wurden vom frühesten Alter an mit gezielten Übungen trainiert, wobei nicht nur die physischen Erfolge des übenden Kindes, sondern auch seine Selbstkontrolle, seine Arbeitshandlung, Disziplin und Selbstbeherrschung von früh an herausgefordert wurden“ (Erlinghagen, 1991, S. 142). Ermutigt durch beobachtete Entwicklungs- und Lernfortschritte bei Kindern mit Behinderungen entwickelte Montessori pädagogische Überlegungen für gesunde Kinder, die sie ab 1907 in einem Arbeiterviertel in Rom mit Kindern, die gesund, aber sozial vernachlässigt waren, im Kinderhaus „Casa dei bambini“ umsetzte. Hier wurden die Kinder ganztägig pädagogisch in Gruppen gefördert und lernten mit Hilfe der von Montessori entwickelten Materialien. Wesentliche Grundgedanken ihrer Pädagogik sind: – Das Kind ist „Baumeister des Menschen“, es bildet durch Selbsttätigkeit motorische, kognitive und sprachliche Fähigkeiten. – Die im Kind vorhandenen Potentiale (der immanente Bauplan) müssen durch eine kulturell gestaltete Umgebung in Verbindung mit der liebenden Zuwendung eines Erwachsenen angeregt werden.
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| Teil VI: Schule und Unterricht – Die Unterdrückung, Hemmung oder Verhinderung der kindlichen Eigenaktivität führt zu Störungen oder Verzögerungen der kindlichen Entwicklung. – In der Entwicklung des Kindes treten sensible Phasen auf, in denen die Lernbereitschaft für bestimmte Fähigkeiten bedeutsam erhöht ist; diese Phasen treten bei Individuen zeitlich unterschiedlich auf. Verpasste sensible Phasen sind nur schwer oder gar nicht aufzuholen. – Bei konzentriert arbeitenden Kindern gilt das Prinzip der Nichteinmischung. Der Lehrer erklärt zwar die Handhabung des Materials, hilft also, das Kind mit der vorbereiteten Lernumgebung in Kontakt zu bringen, ist aber passiv, wenn diese Beziehung erreicht ist. Seine Aufgabe besteht im Wesentlichen in der Gestaltung der Lernumgebung, im Beobachten der Kinder und im Erkennen, wann welches Kind Interesse für welches Material zeigt („Hilf mir es selbst zu tun.“) (Klein, 1994; Montessori, 2002; Ortling, 1992). Das von Montessori entwickelte Lernmaterial wurde nach vier Prinzipien gestaltet: – Isolierung der Schwierigkeiten: Das Material veranschaulicht ein einzelnes Problem (z. B. die Zehnerbündelung, Unterscheidung von Längen, Lautstärken). – Wiederholbarkeit: Das Material wird nicht verbraucht, sondern das Kind kann die Übung so oft wiederholen, bis der Lernerfolg eingetreten ist. – Fehlerkontrolle: Das Kind kann selbständig feststellen, ob die Aufgabe richtig gelöst wurde. – Einmaligkeit: Da jedes Material nur einmal vorhanden ist, finden keine direkten Leistungsvergleiche statt. Die Materialien sind für die Kinder frei zugänglich, die Klassen sind mit jeweils drei Jahrgängen altersgemischt zusammengesetzt und bieten Raum für variierende Sozialformen und Bewegung (Teppichboden, offene Regale, Arbeitsbereiche). Die Motivation der Kinder wird durch eine ästhetische Gestaltung der Materialien und ihre von den Kindern zu entschlüsselnde sachimmanente Struktur und dem damit verbundenen Aufforderungscharakter unterstützt (Busch, 1994). Sie werden nach Kategorien geordnet den Schülern dargeboten: Sinnesmaterial, Übungen des praktischen Lebens, Mathematikmaterial, Sprachmaterial, Materialien zur kosmischen Erziehung und sonstige Materialien. Eine Beschreibung des Materials findet sich z. B. bei Biewer (1994). Hinsichtlich der Spielräume zur Weiterentwicklung der von Montessori entwickelten Materialien bestehen unter Montessoripädagogen unterschiedliche Auffassungen. In der Praxis der Schulen, die sich an der Montessori-Pädagogik orientieren, zeigen sich bei einer Übereinstimmung in der pädagogischen Grundrichtung Variationen in der konkreten Ausgestaltung. Neben Fachunterricht findet in einem unterschiedlichen Umfang regelmäßig Freiarbeit statt, in der im engeren Sinne Montessoris Überlegungen realisiert werden. Die vorbereitete Umgebung wird in höheren Klassenstufen durch Nachschlagewerke, Sachbücher sowie Aufgabensammlungen und z. B. Bibliotheken gebildet (Ortling, 1992, S. 47). Ebenso wie im allgemeinen Schulwesen wird das Konzept national und international innerhalb der Sonderpädagogik nur in einzelnen Schulen praktiziert. Klein formuliert verschiedene Aussagen zum Verhältnis von Lernbehinderten- und Montessoripädagogik: „Das Phänomen, das bislang mit dem Begriff Lernbehinderung bezeichnet wird, wäre somit zu interpretieren als Folge gehemmter, unterdrückter Eigenaktivität, als Folge einer
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verhinderten selbsttätigen Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt“ (1994, S. 220). Als Prinzipien einer veränderten Lernbehindertenpädagogik im Anschluss an Montessori fordert und resümiert er: 1. Es soll ein differenziertes und qualifiziertes Angebot an Materialien zur Freiarbeit bereitgestellt werden. 2. Die Schüler sollten sich in der Schule sicher und angenommen fühlen. 3. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten durch ihre Beobachtung erkennen, wann welches Kind Interesse für welches Material zeigt. Sie sollten die Einführung in den Gebrauch der Materialien mit Sachkenntnis und innerer Beteiligung geben. Vor allem aber sollten sie sich völlig zurückhalten, sobald ein Kind anfängt, selbst mit dem Material zu arbeiten. So verstandene Freiarbeit kann in der Förderschule bzw. in der Schule für Lernbehinderte Kinder zu selbständigem, konzentriertem und sie selbst befriedigendem Arbeiten führen. (Klein, 1994, S. 224) In einer Vergleichsgruppenstudie konnte Suffenplan (1984) Effekte eines an Montessori orientierten Unterrichts in fünf Klassen der Schule für Lernbehinderte nachweisen. Hiernach traten bei lernbehinderten Schülern bezüglich Konzentration, Leistungsmotivation und Schulleistungen günstigere Langzeitwirkungen der Montessori-Methode im Vergleich zu herkömmlichen Methoden auf. Eine ältere Untersuchung von Kohlberg (1972, zitiert nach Neise, 1984) zur vorschulischen Förderung nach Montessori mit sozial deprivierten Kindern bietet Hinweise auf deutliche Intelligenz- und Konzentrationsanstiege, was allerdings auch durch andere Methoden der Frühförderung erreichbar ist (Wember, 2000b). In einem Erfahrungsbericht über freie Arbeit nach Montessori mit lernbehinderten Schülern weist Busch (1994) auf Schwierigkeiten sowie die Bedeutung von drei Grundregeln im Klassenraum hin: Mitschüler dürfen nicht gestört werden, Material räumt man an seinen Platz zurück und was begonnen wurde, wird beendet. Schwierigkeiten treten auf Grund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder auf. Von den Kindern gewählte Aufgaben könnten oft nur mittels im „Schnellverfahren“ demonstrierter Vorübungen von den Kindern selbsttätig bewältigt werden. Neue Schüler bräuchten mehrere Monate der Eingewöhnung. Die Akzeptanz von Eltern und Kollegen sei z. T. gering. Eine kritische Reflexion des Konzepts anhand ausgewählter Aspekte führt zu verschiedenen Diskussionspunkten (siehe Tab. 1). – Positive Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Die Schüler können sich ihre Zeit relativ frei einteilen; es gibt Gelegenheiten zur Zusammenarbeit mit anderen; die Schüler verfügen über Wahlmöglichkeiten; ihre Selbsttätigkeit wird unterstützt; zur Lehrkraft besteht ein partnerschaftliches Verhältnis. – Problematische Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Die Wahlmöglichkeiten beschränken sich auf eine Anzahl eher geschlossener, materialbestimmter Kurse; die Lebensbedeutsamkeit ist bei verschiedenen Materialien, z. B. den Mathematikmaterialien, gering; fächerübergreifender Unterricht wird genauso wie eine Produktorientierung nicht ausgeschlossen, aber auch nicht besonders gefördert. – Positive Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Wesentliche Elemente komplexer Wissenssysteme (elementare Unterscheidung nach Form, Größe, das dekadische System) werden schrittweise vermittelt; materialimmanente Rückmeldungen über
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| Teil VI: Schule und Unterricht Erfolg und Misserfolg sind die Regel; Problemlösefähigkeiten werden durch variierende Aufgabenstellungen angeregt; die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Material unterstützt Gedächtnisleistungen. – Problematische Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Lebenspraktische Bezüge und Vorwissen werden eher unsystematisch aktiviert; der systematische Aufbau von Wissenssystemen ist eingeschränkt auf eng überschaubare Bereiche; individualisierte, auf einzelne Schüler zugeschnittene Lernmaterialien und gezielte Instruktionen sind nicht vorgesehen. – Positive Aspekte aus empirischer Sicht: Erste Hinweise auf Effekte in Hinblick auf die Schulleistung und die Entwicklung von Problemschülern liegen vor; hohe Erwartungen an die Eigenständigkeit der Schüler, materialimmanente Rückmeldungen über Erfolg und Misserfolg und ein wertschätzender wie akzeptierender Umgang mit den Kindern kennzeichnen das Konzept (vgl. Suffenplan, 1984). – Problematische Aspekte aus empirischer Sicht: Verstärkungen durch die Lehrkräfte und ein direktes, methodisch aufgearbeitetes Unterrichten komplexer Fähigkeiten durch die Lehrkräfte sind nicht vorgesehen; ebenso wenig eine systematische Überprüfung des Lernfortschrittes in Verbindung mit lückenschließenden Übungen; eine individualisierte, geplante, adaptive Variation der Unterrichtsmethode nach Lernzielen und Lernvoraussetzungen der Schüler unter Berücksichtigung von remedialen und kompensatorischen Förderstrategien fehlt. 23.5.2 Unterricht nach Célestin Freinet Célestin Freinet (1896-1966) arbeitete ab 1920 nach dem Besuch eines Lehrerseminars, Kriegsdienst und schwerer Kriegsverletzung als Volksschullehrer in einem südfranzösischen Dorf. Er interessierte sich besonders für die nach dem ersten Weltkrieg aufkommende Reformpädagogik, pflegte internationale Kontakte zu Ovide Décroly in Belgien und zu Peter Petersen in Deutschland und entwickelte kontinuierlich sein Konzept einer modernen Schule (Ecole Moderne), in der sich die Individualität und Persönlichkeit eines jeden Kindes frei entfalten soll (Jörg, 1997, S. 170). Wesentliche Grundsätze der Freinet-Pädagogik sind: – Die Schule darf nicht die Kreativität und Spontanität des Kindes durch Reglementierungen, Erklärungen und Wissensballast ersticken, sondern hat von den Bedürfnissen der Kinder auszugehen. – Das Kind soll möglichst aus Primärerfahrungen mit Menschen, Tieren, Pflanzen, der Natur, Werkzeugen und Materialien lernen. – Eigenes Experimentieren und tastendes Versuchen und nicht die Übernahme fertiger Ergebnisse sollen den Lernprozess kennzeichnen (keine Indoktrination durch Schulbuchweisheiten). – Das Lernen soll in der Klassengruppe in gemeinsamer Verantwortung kooperativ organisiert werden. Konflikte werden im Klassenrat selbst reguliert (Dietrich, 1995, S. 27; Jörg, 1997, S. 180). Der Unterschied zu der um die Wende zum 20. Jahrhundert herkömmlichen Schulpädagogik wird insbesondere an folgenden Methoden deutlich:
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– Arbeitsateliers ausgerüstet für die Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit mit Nachschlagewerken und Informationsmaterialien, mit Werkzeugen und Geräten, Materialien für naturwissenschaftliche Experimente, einer Druckerei, Materialien für kreative, künstlerische Tätigkeiten und Holz- und Metallarbeiten, mit Orten zum Weben, Spinnen, Kochen, Nähen sowie Kleintier- und Pflanzenpflege. – Wochenplanarbeit, d. h. jeder Schüler plant ab der 5. Klasse seine Woche vor; damit er auch das staatlich vorgeschriebene Pensum bearbeitet, berücksichtigt er hierbei Lerneinheiten, die auf die Abschlussprüfung vorbereiten. – Arbeitsbücherei mit 1.000 Sachheften von 16 bis 36 Seiten, die von Fachleuten für den Gebrauch in Schulen erarbeitet wurden. – Versuchskartei, in der auf über 1.000 Sachblättern und ausgehend von einer Problemstellung Versuche im naturwissenschaftlichen, technischen und musischen Bereich, angeleitet werden. – Nachschlagekartei mit über 20.000 nach Alphabet und nach Sachgebiet geordneten Informationskarten. – Arbeitskarteien zum gesamten Grundlehrstoff der schulischen Fächer, bestehend aus einer Informationskarte, einer Aufgabenkarte und einer Lösungskarte sowie Testkarten zur Lernerfolgskontrolle. – Lernprogramme, insbesondere für den Sprach-, Sach- und Rechenunterricht. – Schuldruckerei, in der einzelne Texte, Zeitschriften und Alben sowie Linol-, Holz- und Kordeldrucke entstehen. – Korrespondenz mit anderen Klassen. – Wandzeitung, auf der die Schüler im Laufe der Woche kritische Bemerkungen, Wünsche, Vorschläge und Erfolge eintragen. Das Konzept fand sowohl in Frankreich als auch international Verbreitung über Freinet-Lehrergruppen, in denen die Materialien und Methoden vermittelt, diskutiert und weiterentwickelt wurden. Nach Ramseger hat Freinet eine pädagogische Lerntheorie formuliert. Freinet unterstellt jedem gesunden Lebewesen, speziell aber dem Menschen, eine universelle Lebenskraft („potential de vie“), die in einem fortwährenden Bemühen des Individuums, seine Bedürfnisse zu befriedigen und sich dabei die Umwelt zu eigen zu machen, ihren Ausdruck findet. Dieses Bemühen äußert sich in einem „tastenden Versuchen“, einem suchenden Forschen, das den Dingen auf den Grund gehen will und Lösungen für die Bewältigung aller Schwierigkeiten anstrebt, wenn es darum geht, selbst gesetzte Ziele zu erreichen. (Ramseger, 1991, S. 115) Einen anschaulichen Erfahrungsbericht über eine an der Freinet-Pädagogik orientierte Praxis mit Schülern mit Lernbehinderungen geben Hartmann und Hartmann (1995). Sie sprechen sich für einen schrittweisen Aufbau freier Arbeit aus. Wurde frei verfügbare Zeit in der Schule von den Kindern einer Klasse während des 3. und 4. Schuljahrs vorwiegend nicht für Aktivitäten mit den vorhandenen fachspezifischen Freiarbeitsmaterialien verwendet, sondern für Rollenspiele (Bank, Buchausleihe), Brett- und Kartenspiele, Domino oder Bewegungsspiele auf dem Schulhof, dann nahmen schulbezogene Aktivitäten wie Lesen, Drucken, Rechnen und Lernspiele in späteren Schuljahren zu.
428
| Teil VI: Schule und Unterricht Die Entwicklung der Kinder ist klar zu erkennen. Gefördert durch den Freiraum und die Atmosphäre in der Klasse, gelingt es den SchülerInnen, sich zunehmend selbst zu organisieren, Vorschläge und Anregungen einzubringen, Ideen selbständiger umzusetzen. Es scheint so, als hätten zunächst elementare Bedürfnisse nach Spiel, Bewegung, Kommunikation befriedigt werden müssen (Hervorhebung der Autoren). Genau betrachtet haben die Kinder grundlegende Dinge in den Freiarbeitsphasen erlernt, wie beispielsweise: sich einordnen in einer Gruppe, Raumorientierung, Ausdauer, Einhalten von Spielregeln, sich mitteilen, Bedürfnisse äußern ... (Hartmann & Hartmann, 1995, S. 169) Eine Literaturrecherche ergab außer einer Arbeit von Hagstedt (1994) keine Hinweise auf empirische Studien speziell zum Freinet-Konzept. Hagstedt (1994) schildert die Freinet-Arbeit in der Grundschule unter besonderer Berücksichtigung lernschwacher Schüler. Er berichtet davon, dass in der Praxis unterschiedliche methodisch und zeitlich eingegrenzte Versuche von Öffnung praktiziert werden, insbesondere Wochenplan- und Tagesplankonzepte (vgl. 23.5.3, Zeitlich begrenzte Formen des offenen Unterrichts). Als besonders motivierend und kindgemäß wird die freie Werkstattarbeit mit Holz, Werkzeug, Technikbaukästen und Holzbausteinen dargestellt (Hagstedt, 1994, S. 253). Bei der Diskussion des Konzeptes sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: – Positive Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Die Anzahl der Wahlmöglichkeiten für Schüler hinsichtlich Inhalt, Methode und Ablauf von Lernaktivitäten ist sehr hoch; die Schüler können für sie bedeutsame Themen auswählen und sind nicht an die Lernorte Klassenraum und Schulgebäude gebunden; die Kinder produzieren z. B. Texte und experimentieren zu Sachthemen, die fächerübergreifend behandelt werden; lehrerzentrierte Phasen sind auf ein Minimum reduziert, statt dessen unterstützt die Lehrkraft die selbsttätige Auseinandersetzung mit frei gewählten Inhalten als Lernförderer. – Problematische Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Lehrplanvorgaben bestimmen wesentlich die Inhalte der Wochenpläne und schränken damit die Wahlmöglichkeiten der Lernenden ein. – Positive Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Persönlich motivierte Fragestellungen können einen individuellen Problemlöse- und Erkenntnisprozess einleiten, unterschiedliche Problemlösestrategien können eingeübt werden (Nachschlagen, Experimentieren, Befragen). – Problematische Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Der systematische, kumulative Wissenserwerb ist von nachrangiger Bedeutung und von teilweise zufälligen Entscheidungen der Lernenden abhängig; es werden Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen (z. B. Vorwissen, Leistungsmotivation, Aufmerksamkeitssteuerung) vorausgesetzt, die bei Schülern unterschiedlich ausgeprägt sind und es wird nicht deutlich, wie diese Unterschiede im Unterricht berücksichtigt werden und wie sie sich auswirken; Wiederholen und Üben spielen keine wesentliche Rolle. – Positive Aspekte aus empirischer Sicht: Die Erwartung an die Leistungsfähigkeit und Eigenständigkeit der Schüler ist hoch; es besteht eine Vielzahl von methodischen Variationsmöglichkeiten, die prinzipiell eine Passung von Lernziel, Lernvorausset-
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 429
zungen und Lernaktivität zulässt; ebenso können individualisierte Förderstrategien und Materialien eingesetzt werden. – Problematische Aspekte aus empirischer Sicht: ein lehrergesteuertes, direktes Unterrichten komplexer Fähigkeiten kommt in dem Konzept nicht vor; ebenso scheinen Rückmeldungen, Anerkennung und Kritik durch die Lehrkraft nicht vorgesehen zu sein; eine Verbindung von lernprozessbegleitender Diagnostik und Unterricht entfällt. 23.5.3 Zeitlich begrenzte Formen des offenen Unterrichts In der Praxis kommen nach eigenen Beobachtungen an allgemeinen Schulen und an Sonderschulen vermutlich umfassende reformpädagogische Konzepte eher selten, zeitlich befristeter Tages-, Wochenplan- und Werkstattunterricht, Freiarbeitsphasen und Zeiten für ein Stationslernen dagegen häufiger vor. Gemeinsames Merkmal dieser Unterrichtsformen ist der befristete Verzicht auf lehrerzentrierten Unterricht zu Gunsten materialorientierten Unterrichts, während dessen sich die Schüler die Zeit selbst einteilen und Aufgaben sowie Lernort und -partner selbst auswählen können. Tages- und Wochenpläne geben den Schülern in einem überschaubaren Zeitraum die zu bearbeitenden Aufgaben vor. Die Aufträge beziehen sich im Wesentlichen auf die aktuellen Lehrplanvorgaben. Das Angebot besteht meistens aus Pflicht- und Wahlpflichtaufgaben. Eine Differenzierung kann in der Quantität und der Qualität der Anforderungen vorgenommen werden, Möglichkeiten zum handelnden Problemlösen (z. B. im Mathematikunterricht) können in das Konzept integriert werden. Oft handelt es sich bei Tages- oder Wochenaufgaben um Übungsaufgaben in den Hauptfächern. Die Kinder erhalten den Plan schriftlich oder er wird in der Klasse ausgehängt. Die Aufträge sind durch Symbole gekennzeichnet (Fach, Wahl- oder Pflichtaufgabe, Hinweise auf die Materialien und Hausaufgaben) und der Stand der Arbeit wird notiert (angefangen, erledigt, Erfolgskontrolle durch Lehrer). Der Wochenplan schließt mit einer Besprechung innerhalb der Lerngruppe ab. Zwischenbesprechungen sind möglich, ebenso eine gemeinsame Planung des nächsten Plans. Freiarbeit erkennt man daran, dass die Schüler über die Inhalte und die Art ihrer Aktivitäten sowie über Sozialform und Lernort innerhalb eines vorgegebenen Zeitraumes und bestimmter Grenzen weitgehend frei entscheiden können. Dies setzt ein reichhaltiges Lern- und Informationsmaterial im Klassenraum oder z. B. eine Bibliothek sowie Methodenkenntnisse der Schüler voraus. Die Wahlfreiheit wird durch Lernecken und Werkstätten für Kunst, technisches Werken oder Musik erhöht. Die Angebote können sich auf den Lehrplan der Klassenstufe sowie auf Inhalte vorheriger oder späterer Klassenstufen beziehen. Teilweise werden leistungsstärkeren oder -schwächeren Schülern bestimmte Lerninhalte empfohlen, die dann häufig bei letzteren einen übenden, reproduzierenden Charakter aufweisen. Vorbilder für Freiarbeitsphasen werden bei Freinet und Montessori gesucht. Stationslernen beinhaltet mehrere Lernangebote zu einem Thema, z. B. Phonem-Graphem-Korrespondenz oder Einmaleins, die nacheinander wie bei einem Zirkeltraining im Sportunterricht durchlaufen werden. Die einzelnen Stationen sind meistens so angelegt,
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| Teil VI: Schule und Unterricht dass an ihnen verschiedene Sinne angesprochen und unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt werden, welche darauf ausgerichtet sind, einen hohen Übungseffekt zu erzielen. Wenn der Wechsel zwischen den Stationen zeitlich vorgeschrieben wird, stehen die Kinder an den einzelnen Arbeitsplätzen unter Zeitdruck. Bei weiteren engen Vorgaben (Übungsaufgaben, Reihenfolge der Stationen, erledigen sämtlicher Aufgaben an den Stationen) verliert sich die Offenheit dieser Unterrichtsform weitgehend. Ein vielfältiges Angebot an Stationen, ein Verzicht auf feste Wechselzeiten und auf den Durchlauf aller Stationen sowie eine Differenzierung in den Anforderungen an den Stationen erhöht die Anzahl der Wahlmöglichkeiten für die Kinder. Werkstattunterricht beinhaltet Arbeitsaufträge für die Kinder innerhalb eines thematischen Rahmens. Vorschläge für die Sozialform und den Arbeitsablauf sind in einer Auftragsbeschreibung enthalten. Im Gegensatz zum prinzipiell ähnlichen Stationslernen sind die Arbeitsaufträge weniger auf Üben, sondern eher auf eine selbständige Auseinandersetzung mit einem Thema ausgerichtet. 20–30 vorbereitete Arbeitsaufträge, den Ablauf programmierende Plakate, Laufpässe oder Werkstattbücher sollten vorhanden sein. Bewährt hat sich nach Reichen (1991) außerdem ein tutorielles Chef- oder Expertenprinzip, d. h. jedes Angebot wird von einem Schüler betreut (Klärung von Verständnisfragen, Korrekturen, das Material ergänzen, protokollierende Liste führen). Schüler mit Schwierigkeiten im selbständigen Arbeiten können durch besondere Abmachungen (ähnlich dem Wochenplan) unterstützt werden. Die didaktische Qualität und das Ausmaß von Wahlmöglichkeiten für die Schüler in der Werkstatt hängt von dem jeweiligen Angebot an Arbeitsaufträgen und den dazugehörigen Materialien ab. Weitere Informationen zu den hier nur kurz beschriebenen sequenziellen offenen Unterrichtsformen und deren praktischer Umsetzung finden sich bei Gasser (1999), Peschel (2002a, 2002b), Reiß und Eberle (1994) sowie bei Wiechmann (1999). Erfahrungsberichte über offenen Unterricht beziehen sich oft auf die Einführung einer der hier beschriebenen zeitlich befristeten geöffneten Phasen in einer ansonsten eher traditionellen Schule. Reiß, Böhm und Eberle (1994) fassen verschiedene Berichte über offenen Unterricht mit lernschwachen Schülern zusammen. Probleme der Kinder, etwas auszuwählen, bei der Sache zu bleiben, sich Zeit für eine Sache zu nehmen, können hiernach darin begründet sein, dass das Kind Wahlsituationen im Unterricht bisher nicht kennen gelernt hat, es nur gewöhnt ist, Lösungswege unter Anleitung zu entwickeln, das Niveau der Aufgabenstellung für das Kind inhaltlich zu anspruchsvoll ist und Sozialformen wie Lernspiele in der Gruppe sehr ungewohnt sind. Deshalb sprechen sich die Autoren für eine gezielte kleinschrittige Förderung von Kompetenzen aus, die Schüler im offenen Unterricht brauchen, um in dieser Unterrichtsform erfolgreich zu lernen. Vor- und Kleinstformen von Offenheit im Unterricht (beispielsweise kleine Wahlmöglichkeiten, Selbstkontrolle bearbeiteter Aufgaben, Gespräche über Lösungswege, gemeinsame Zeitplanung) sollen diese Fähigkeiten schulen. Einen differenzierten Bericht über eine wissenschaftlich begleitete Einführung und Weiterentwicklung von freier Arbeit in der Schule für Lernbehinderte geben Reiß und Reiß (1994). Es wird geschildert, wie sowohl freie Arbeit als auch das Bearbeiten von Pflicht- oder Wahlpflichtelementen in Tages- und später in Wochenplänen in den alltäglichen Unterricht einer 4. Förderschulklasse implementiert werden konnten. Interessant erscheint dieser Bericht auch deshalb, weil hier ähnlich wie im adaptiven Unterricht (Wember, 2001) eine ausdrücklich lehrplanorientierte,
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gesteuerte Arbeitsphase mit freieren Lernformen verbunden sowie die Lernumgebung sukzessive an die veränderten Lernformen angepasst wurde. Zudem finden sich in dem Bericht Beispiele für individuelle Lehrerhilfen bei Schwierigkeiten mit der Freiarbeit und Hinweise bezüglich der (Um-)Gestaltung von Lernmaterial. Nach Goetze (1989, 1994) treten konzeptbedingt bei der Einführung offener Lernformen Probleme in schwierigen Lerngruppen auf: – Einstiegsprobleme: Irritation der Schüler, Unsicherheitsgefühle, Ungewohntheit der Umgebung, abwartende Haltungen, Skepsis. – Anfangsprobleme: fortlaufende Beachtung und Beifall des Lehrers suchen, Aktualisierung von Hilflosigkeitsproblemen, Anstrengungsvermeidung, Senkung des Anspruchsniveaus, Ablenkbarkeit, Grenzen austesten. – Dauerprobleme: Probleme des Umgangs miteinander (Kooperation), Materialnutzung bzw. -entfremdung, Materialfehlplatzierung, Reinigungsprobleme, Lärmprobleme, Interesseverlust, kurze Aufmerksamkeitsspanne, Abflachen der Arbeitsatmosphäre, planloses Herumlaufen, gezielte Störungen anderer etc. – Abschlussprobleme: Probleme in Form von Lösungsschwierigkeiten, Umstellungsprobleme auf traditionelle Settings mit anderen Erwartungen an den Schüler etc. (Goetze, 1994, S. 260). Günstig für die Bewältigung auftretender Verhaltensprobleme im offenen Unterricht sind: – ein möglichst hohes Maß der Einbindung der Schüler in unterrichtliche Aktivitäten, Erfolgserlebnisse und Motivation der Schüler, – Verhaltensmodifikation – klare Anforderungen, Verstärken positiven Verhaltens, Ignorieren von Fehlverhalten, Modellverhalten der Erwachsenen, Verträge, Time Out, Strukturierungshilfen in Form sichtbarer Signale, Raumaufteilung, – Aufbau eines Klimas der Echtheit, Kongruenz und Empathie, des Vertrauens und Zutrauens; Konfliktbewältigung nach Gordon; gemeinsame Lösungssuche; tragfähige Beziehungen, – Kanalisation des Bewegungsdrangs der Schüler; beruhigende, entspannende Phasen; Ruhezonen, – Elternarbeit, – Training sozialer Kompetenzen. Vor- und Nachteile der phasenweisen Einführung einer Form offenen Unterrichts sind differenziert zu diskutieren. – Positive Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Die Schüler erfahren zeitlich begrenzt eine erhöhte Wahlfreiheit auf unterschiedlichen Ebenen; insbesondere in Freiarbeits- oder Werkstattphasen ist eine selbständige, produktorientierte, fächer übergreifende Auseinandersetzung mit für das Kind bedeutsamen Inhalten möglich; die Lehrkräfte können in diesen Phasen verstärkt als Lernförderer auftreten. – Problematische Aspekte aus reformpädagogischer Sicht: Die Wahlmöglichkeiten für die Kinder reduzieren sich oft auf die Wahl des Zeitpunktes der Bearbeitung einer Aufgabe; geschlossene, tätigkeitsintensive, materialgebundene Kurse in engen Zeitgrenzen kommen vor und widersprechen zentralen reformpädagogischen Intentionen; eine produktive Auseinandersetzung mit frei gewählten Inhalten findet selten statt;
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| Teil VI: Schule und Unterricht
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ein Erledigen von Übungsaufgaben in verschiedenen Fächern wird fälschlicherweise als fächerübergreifender Unterricht angesehen; die Lehrerrolle verändert sich nur unwesentlich, wenn in den offenen Phasen überwiegend vorgefertigtes Übungsmaterial bearbeitet wird. Positive Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Bei einer differenzierenden Gestaltung des Übungsmaterials können individuelle Wissens- und Fertigkeitslücken geschlossen werden; durch variierende Aufgabenstellung und individuelle Hilfe kann ein selbständiges Problemlöseverhalten eingeübt werden; bei einer systematischen Verbindung von lehrerzentrierten Phasen mit offenen Phasen kann Vorwissen aktiviert werden und der Erwerb eines Wissenssystems schrittweise stattfinden. Problematische Aspekte aus lernpsychologischer Sicht: Die Wahlfreiheit des Schülers in der Reihenfolge der Übungen kann zu ungünstigen Lernwegen führen, die den Erwerb eines Wissenssystems insbesondere für leistungsschwache Schüler erschweren, weil es z. B. an Vorwissen, Fähigkeiten zur Aufmerksamkeitssteuerung und zur Selbstbeobachtung und -kontrolle der Lerntätigkeit mangelt. Positive Aspekte aus empirischer Sicht: Hohe Erwartungen an die Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit der Kinder kennzeichnen offene Phasen; individualisierte Rückmeldungen über Erfolg und Misserfolg der Lernaktivitäten sind die Regel; das Methodenspektrum für eine theoriegeleitete Passung zwischen Formen und Methoden, Lerngegenstand und Lernvoraussetzungen der Schüler wird erweitert. Problematische Aspekte aus empirischer Sicht: In Erfahrungsberichten und Studien finden sich sowohl Hinweise auf eine Steigerung als auch auf eine Verringerung der aktiven Lernzeit von Schülern; insbesondere Kinder und Jugendliche mit Schulproblemen nutzen die Lernangebote nur befristet und geben bei Schwierigkeiten schnell auf; ein direktes Unterrichten komplexer Fähigkeiten in Interaktion mit der Lehrerkraft, in Verbindung mit einer lernprozessbegleitenden Diagnostik findet selten statt; Hinweise auf eine Überlegenheit offener gegenüber lehrerzentrierter Lernformen in Hinblick auf Schulleistungssteigerungen liegen nicht vor; die Effekte im nicht leistungsbezogenen Bereich sind eher gering.
23.5.4 Forschungsstand und Fazit Die Forschungsergebnisse zum offenen Unterricht bewegen sich vermutlich auf Grund der einleitend angesprochenen Probleme der Begriffsbestimmung und unterschiedlicher theoretischer Begründungszusammenhänge auf einem eher explorativen Niveau (Hartke, 2003, S. 774). Es zeichnen sich allerdings in unterschiedlichen Studien ähnliche Trends ab, die im Folgenden anhand einiger ausgewählter Ergebnisse aufgezeigt werden. Giaconia und Hedges (1982) führten eine Metaanalyse von 150 Untersuchungen durch, in denen offener Unterricht mit traditionellem Unterricht verglichen wurde. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der vergleichenden statistischen Auswertung wiedergegeben. Bezüglich der Bereiche Sprache, Rechnen, Lesen und weiterer Schulleistungen sowie der Leistungsmotivation ergeben sich Hinweise auf eine gewisse Überlegenheit eines traditionellen Unterrichts. Sowohl die Einstellung zur Schule und zum Lehrer als auch die Ausprägung von Kooperativität, Kreativität, Neugier, Selbständigkeit und des
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 433
Tabelle 2: Durchschnittliche Effektstärke von offenem versus traditionellem Unterricht gegliedert nach Zielbereichen (nach Giaconia & Hedges, 1982, S. 587) Anzahl der Untersuchungen
Durchschnittliche Effektstärke *
Kreativität
22
0,286
Selbstständigkeit
22
0,278
6
0,229
Einstellung zum Lehrer
17
0,199
Generelle mentale Fähigkeit
16
0,183
Einstellung zur Schule
50
0,169
7
0,165
Selbstbild
60
0,071
Ort der Steuerung
16
0,007
Angst
19
– 0,010
Rechnen
57
– 0,037
Sprache
33
– 0,069
Lesen
63
– 0,083
Weitere leistungsbezogene Ergebnisse
25
– 0,153
Anpassung
9
– 0,170
Leistungsmotivation
8
– 0,262
Kooperativität
Neugier
* Werte zwischen 0.00 und 0.20 weisen auf geringe, Werte größer 0.20 weisen auf mäßige Effektstärken hin; positive Vorzeichen zeigen Überlegenheit des offenen Unterrichts an, negative Vorzeichen Überlegenheit des traditionellen Unterrichts
Selbstbildes sowie generelle mentale Fähigkeiten werden anscheinend durch offenen Unterricht etwas besser gefördert. In einer weiteren verfeinerten Auswertung der ihnen vorliegenden Studien setzten sich die Autoren darüber hinaus mit der Wirksamkeit verschiedener Dimensionen offenen Unterrichts auseinander. Hierbei interessierte sie, ob ein hoher Ausprägungsgrad von – Eigenaktivität des Kindes beim Lernen, – lernbegleitender diagnostischer Tätigkeiten und Rückmeldungen durch Lehrer, – Vielfalt/Zugänglichkeit und Freiheit im Umgang mit Unterrichtsmaterial, – individualisiertem Unterricht, – Altersheterogenität der Lerngruppen, – Flexibilität der Raumaufteilung, – Team Teaching
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| Teil VI: Schule und Unterricht zu bedeutenden Auswirkungen im Hinblick auf das Selbstbild, die Kreativität, die Einstellung zur Schule und die Schulleistungen führen (Hartke, 2002, S. 131; 2003, S. 780). Auf die nicht leistungsbezogenen Schülermerkmale positives Selbstbild, Kreativität und positive Einstellung zur Schule wirkt sich ein offener Unterricht mit einer hohen Ausprägung der Dimensionen Eigenaktivität des Kindes, lernbegleitende Diagnostik und Vielfalt, Zugänglichkeit und Freiheit im Umgang mit Unterrichtsmaterial sowie individualisierter Unterricht positiv aus. Gesteigerte Schulleistungen stehen in einem Zusammenhang mit einer hohen Ausprägung der Dimensionen Vielfalt, Zugänglichkeit und Freiheit im Umgang mit Unterrichtsmaterial sowie Team Teaching. Positive Effekte von offenem Unterricht scheinen durchgängig mit einer deutlichen Ausprägung in den Dimensionen Vielfalt, Zugänglichkeit und Freiheit im Umgang mit Unterrichtsmaterialien in Verbindung zu stehen. Durch Analyse von Befragungsergebnissen zum Lehrstil und Tests in 37 Schulklassen ermittelte Bennett (1976) Aussagen über die Wirksamkeit von formellem (traditionellem), informellem (offenem) und gemischtem Unterricht in 3. und 4. Klassen. Sowohl in den nicht leistungsbezogenen Variablen (Selbständigkeit, Angstfreiheit, Kreativität u. a.) als auch in Bezug auf die Schulleistungen schnitten in dieser Untersuchung die formell unterrichteten Kinder besser als die informell oder im Lehrstil variierend unterrichteten Kinder ab. Aber die leistungsfähigste Klasse innerhalb der gesamten Stichprobe war eine informell (offen) unterrichtete Lerngruppe. In dieser Lerngruppe kam der Beschäftigung der Schüler mit strukturierten Lernmaterialien (Leseübungen, Mathematikkurs, Lernkartei) ein besonders hoher Stellenwert zu. Zusätzlich zum Vortest-Nachtest-Vergleich wurden im Rahmen der Bennett-Studie 32 leistungsstarke, 35 leistungsschwache und 34 Schüler aus der mittleren Leistungsgruppe in ihrem Lernverhalten beobachtet. Die höchste Arbeitsintensität bestand für alle drei Leistungsgruppen im formellen Unterricht. Im informellen Unterricht kommen häufig Verhaltensweisen wie Plaudern, Herumschauen und Herumlaufen vor. Insbesondere die aktive Lernzeit leistungsschwacher Schüler war auffallend gering. Dies erscheint bemerkenswert, weil die allgemeine Unterrichtsforschung die Bedeutung der tatsächlichen aktiven Lernzeit für hohe Schulleistungen in verschiedenen Studien nachweisen konnte. Selbst wenn man die Ergebnisse der Bennett-Studie (1976) bezüglich der generellen Überlegenheit formell-traditionellen Unterrichts auf Grund der Giaconia- und Hedges-Studie (1982) sowie weiterer, neuerer Untersuchungen hinterfragen muss, so gibt diese Studie Hinweise auf Aspekte, die bei der Planung offenen Unterrichts berücksichtigt werden sollten. Lernfortschritte sind vermutlich im Wesentlichen bedingt durch die Struktur der Lernmaterialien und die Arbeitsintensität, d. h. durch die aktive Lernzeit der Schüler. Insbesondere Schüler mit schwachen Schulleistungen profitieren vom offenen Unterricht nicht automatisch, sondern bedürfen gezielter Hilfen zur Steigerung der Arbeitsintensität sowie klar strukturierter, für sie passend gestufter Lernmaterialien. Diese Überlegungen können durch neuere Ergebnisse der Unterrichtsforschung zum selbstgesteuerten Lernen weiter ausdifferenziert werden. Für einen erfolgreichen selbstgesteuerten Lernprozess erweisen sich verschiedene Lernvoraussetzungen als notwendig: ein differenziertes, leicht aus dem Gedächtnis abrufbares Vorwissen, Interesse am Thema, Fähigkeiten zur volitionalen Selbststeuerung und -kontrolle (Selbstbeobachtung, -bewertung und -verstärkung) und zur Reduktion von äußeren Lernhindernissen
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 435
(z. B. Ablenkungen), ein Wissen über eigene Fähigkeiten, Merkmale von Aufgaben und Lernstrategien sowie ein positives Selbstkonzept (Hartke, 2000, S. 373; Weinert, 1996a, 1996b, S. 22). Gage und Berliner (1996) stellen die Frage nach der Praktikabilität des offenen Unterrichts (S. 504). Sie erklären die anhaltende Dominanz des traditionellen lehrerzentrierten Unterrichts und den nachweislich wiederholten Rückgang reformpädagogischer Bemühungen an Schulen damit, dass der hohe Aufwand insgesamt eher nicht erkennbare Leistungsverbesserungen hervorbringe. Häufige Mängel in der Planung und Durchführung sowie eine fehlende konzeptionelle Klarheit des offenen Unterrichts öffneten außerdem Befürchtungen im Hinblick auf eine Vernachlässigung schulischer Grundfertigkeiten und ein Überhandnehmen chaotischer Zustände Tür und Tor. Zudem können mittels einer traditionellen Lehrweise, in der die Arbeitszeit intensiv genutzt wird, Übungsphasen häufig vorkommen und Schüler hierbei Hilfe erfahren, Inhalte verständlich erklärt werden, Differenzierung stattfindet und eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung vorherrscht, auch akzeptable pädagogische Ergebnisse erzielt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei den hier beschriebenen Formen offenen Unterrichts um Konzepte, die anhand von allgemeinen didaktischen, fachdidaktischen, lernpsychologischen und empirisch begründeten Qualitätskriterien genauso wie traditionelle lehrerzentrierte Unterrichtsentwürfe im Einzelfall kritisch geprüft werden sollten. Von einer generellen Überlegenheit eines Konzeptes gegenüber einem anderen kann auf Grund der bisher vorliegenden Forschungsergebnisse nicht ausgegangen werden. Forschungsergebnisse zum adaptiven Unterricht (Corno & Snow, 1986; Hartke, 2000, S. 368; Hartke & Borchert, 2003; Wember, 2001) weisen diesen als vielversprechende Alternative zum offenen und zum lehrerzentrierten Unterricht aus. Empirisch ermittelte Vorzüge unterschiedlicher Unterrichtsformen und Förderstrategien können innerhalb dieses Konzeptes bei sachgerechter Implementation genutzt werden.
Literatur Bennett, S. N. (1976). Teaching styles and pupil progress. London: Open Books. Biewer, G. (1994). Montessori-Pädagogik in der Schule für geistig Behinderte. Der Entwurf einer praktischen Realisierung. Geistige Behinderung, 2, 1-19. Busch, C. (1994). Freie Arbeit nach Montessori an der Schule für lernbehinderte Kinder und Jugendliche – Beispiele aus der Praxis. In G. Reiß & G. Eberle (Hrsg.), Offener Unterricht. Freie Arbeit mit lernschwachen Schülerinnen und Schülern (2. Aufl., S. 226-239). Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Corno, L. & Snow, R. E. (1986). Adapting teaching to individual differences among learners. In M. C. Wittrock (Ed.), Handbook of research on teaching (3rd ed., pp. 605-629). New York: Macmillan. Dietrich, I. (1995). Freinet-Pädagogik heute. In I. Dietrich (Hrsg.), Handbuch Freinet-Pädagogik. Eine praxisbezogene Einführung (S. 13-30). Weinheim: Beltz. Erlinghagen, K. (1991). Maria Montessori. In H. Scheuerl (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik II. Von Karl Marx bis Jean Piaget (2. Aufl., S. 140-151). München: Beck. Gage, N. L. & Berliner D. C. (1996). Pädagogische Psychologie (5., vollst. überarb. Aufl.). Weinheim: Pädagogische Verlags Union.
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Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 437
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23.6 Direkter Unterricht Franz B. Wember Direkter Unterricht, in der internationalen Literatur zumeist als direct instruction oder explicit instruction bezeichnet, meint im Grundsatz folgende handlungsleitende Vorstellung: Wenn bei Lernenden bestimmte Qualifikationsdefizite festgestellt werden, sollten diese möglichst unmittelbar behoben werden, indem die fehlenden oder unzureichend ausgebildeten Qualifikationen selbst und auf möglichst direktem Wege vermittelt werden. Direkter Unterricht wendet sich zum ersten gegen eine pädagogisch passive Haltung von „abwarten und wachsen lassen“ und fordert angesichts von erkanntem Förderbedarf eine aktive Haltung, und zwar grundsätzlich und nicht nur bei sonderpädagogischem Förder-
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| Teil VI: Schule und Unterricht bedarf. Zum zweiten wendet sich die direkte Förderung gegen alle indirekten Ansätze der Förderung von vermeintlichen Lernvoraussetzungen statt des Zielverhaltens selbst: Wenn Defizite im Leseprozess ausgemacht werden, sollte also das Leseverhalten selbst, bei entsprechend differenzierter Diagnose sogar die mangelhaft beherrschte Teilkomponente des komplexen Leseprozesses unterrichtlich thematisiert werden und nicht wirkliche oder vermeintliche Vorläuferfertigkeiten. Wenn ein Kind bestimmte Textaufgaben nicht lösen kann, ist z. B. zu prüfen, ob es an den rechnerischen Anforderungen scheitert oder ob es den mathematischen Problemgehalt der Aufgabe nicht erkennt und ob letzteres auf unzureichendes mathematisches Verständnis zurückzuführen ist oder gar allgemein auf unzureichendes Sprachverständnis; denn bei arithmetischen Kenntnislücken ist inhaltlich und methodisch im Unterricht offensichtlich anders zu verfahren als bei Sprachverständnisschwierigkeiten allgemeiner Art. Direkter Unterricht verlangt eine direkte Diagnose der Stärken und Schwächen eines Lernenden im Hinblick auf die schulisch geforderten Leistungen. Eine solche Diagnose muss grundsätzlich förderungsorientiert und curricular fundiert erfolgen, d. h. es geht immer darum, unterrichtsrelevante Lernvoraussetzungen differenziert und im Hinblick auf bestimmte, schulisch zu vermittelnde Qualifikationen zu diagnostizieren, um möglichst spezifische und gezielte Intervention nahe am eigentlich zu fördernden Zielverhalten planen und umsetzen zu können. Direkte Diagnostik wird in diesem Zusammenhang zwar Schwierigkeiten und unzureichende Lernvoraussetzungen eines Lernenden in den Blick nehmen und beschreiben, aber sie ist nicht defizit-, sondern kompetenzorientiert, denn sie steht im Dienst der systematischen Vermittlung von Qualifikationen an Lernende, die in Fällen von Lernstörungen oder Lernbehinderung mehr als andere auf wirksame schulische Hilfen angewiesen sind. Direkter Unterricht teilt seine aktive Orientierung mit den sog. Prozessansätzen und mit den Ansätzen zur Förderung von generellen Fähigkeiten, in ihrer Ausrichtung am eigentlichen Zielverhalten unterscheidet er sich von diesen Ansätzen jedoch deutlich, auch wenn diese Unterscheidung nicht immer auf den ersten Blick erkannt wird: Prozessansätze analysieren und beschreiben komplexe Verhaltensweisen wie das Lesen oder Rechnen mit Begriffen aus der Lern- und Entwicklungspsychologie und empfehlen die systematische Förderung der so analysierten Verhaltenskomponenten, also etwa der Aufmerksamkeit, der Psychomotorik oder der visuellen Wahrnehmung (vgl. Eggert, Greisbach oder Lauth/Naumann in diesem Band). Aus Sicht der direkten Förderung sind solche Programme durchaus sinnvoll, aber nur dann, wenn in dem zu trainierenden Bereich bei einem Kind wirkliche Defizite zuverlässig und valide festgestellt werden konnten, wenn es einen empirisch erhärteten Zusammenhang zwischen dem geförderten Verhalten und dem eigentlich interessierenden Zielverhalten gibt und wenn überhaupt Methoden der wirksamen Förderung bekannt sind. Das ist bei manchen weit verbreiteten Förderprogrammen mit langer sonderpädagogischer Tradition nicht immer der Fall, was neuere Metaanalysen wie die von Walter (in diesem Band) empirisch belegen. Zwar wird bei solchen Prozesstrainings Aufmerksamkeit, Psychomotorik, Wahrnehmung etc. direkt gefördert, aber in Bezug auf das eigentliche Zielverhalten, also etwa das Lesen oder Rechnen, erfolgt die Förderung indirekt: Selbst wenn die Prozesskomponenten wirksam gefördert worden sind, ist damit in aller Regel das eigentliche Problem noch nicht behoben, denn das Kind kann immer noch nicht besser lesen oder rechnen.
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Ähnlich zu beurteilen sind aus Sicht der direkten Förderung Programme zum Training genereller Fähigkeiten. Diese steigern, wenn sie erfolgreich implementiert werden, zwar übergreifende kognitive Dispositionen und verhelfen dem Kind so nicht selten zu verbesserten Voraussetzungen für schulisches Lernen, die sich durchaus in spontanen Leistungssteigerungen zeigen können (vgl. Büttner/Hasselhorn oder Klauer in diesem Band), aber auch hier gilt: Wenn das Problem eines Kindes in mangelhaftem Lesen oder Rechnen begründet ist, wird in aller Regel allein ein Fähigkeitstraining nicht ausreichen, die Leistungsdefizite zu beheben, die zu weiterem schulischem Leistungsversagen zu führen drohen. Es ist zu ergänzen durch spezifische Förderung in den relevanten Lernbereichen. Andererseits entsprechen allgemeine Trainingsprogramme in einem zentralen Punkt der Philosophie der direkten Förderung: Hier wie dort werden die Lernenden nicht sich selbst überlassen, sondern ihnen wird explizit gesagt und gezeigt, was sie tun sollen und wie sie es tun sollen; ihr Lernprozess wird aufmerksam verfolgt und bei auftauchenden Schwierigkeiten durch vorbereitete Materialien und durch gezielte Hilfen unterstützt. In der deutschsprachigen Pädagogik und Sonderpädagogik bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Dichanz & Zahorik, 1986; Grell, 1999; Souvignier, 2003) ignoriert, wird direkter Unterricht international in drei Varianten diskutiert: erstens als Oberbegriff für konkrete und auf spezifische Bereiche des schulischen Curriculums bezogene Programme der systematischen Förderung vorrangig im schriftsprachlichen und im mathematischen Lernbereich, zweitens als Oberbegriff für verschiedene Ansätze der Förderung von wirksamen Strategien der Informationsverarbeitung und drittens als Bezeichnung für eine bestimmte Art der lernförderlichen Klassenführung und Unterrichtsgestaltung. 23.6.1 Direkter Unterricht als Variante effektiven Lehrverhaltens Ursprünglich entstanden ist die Idee des direkten Unterrichts zu Zeiten der kompensatorischen Erziehung in den 1960er Jahren, die zum Ziel hatte, die gesellschaftliche Benachteiligung soziokulturell deprivierter Kinder aus armen und sozial randständigen Familien durch gezielte Bildungsbemühungen auszugleichen (Wember, 2000). Obwohl Sarah Smilansky in Israel bereits ab 1960 ein Programm für benachteiligte Kinder aus Migrantenfamilien eingerichtet hatte, das sie „direct promotion“ nannte, war das erste berühmte und von Anfang an äußerst kontrovers diskutierte Programm der direkten Förderung ein akademisch orientiertes Vorschulcurriculum, das Carl Bereiter und Siegfried Engelmann 1966 in Nordamerika präsentierten: Die Autoren argumentierten, es sei weniger wichtig und vor allem für die Betroffenen wenig hilfreich, wenn die Wissenschaftler zunächst die genauen Entwicklungssequenzen, die inneren kognitiven Mechanismen und die sprachlichen Strukturen und Prozesse benachteiligter Kinder studieren wollten, bevor sie Überlegungen zu deren systematischer Förderung anstellen würden. Stattdessen solle man sich lieber gleich an die praktische Arbeit begeben und sich auf solche Variablen konzentrieren, die man selber unmittelbar beeinflussen könne und von denen aufgrund bisheriger Erfahrungen eine hohe Wirksamkeit zu erwarten sei: die Erstellung eines sorgfältig gestuften Curriculums, das inhaltlich auf die besonderen Defizite sozial benachteiligter Kinder abgestimmt sei und das in kontrollierter und systematischer Weise unterrichtlich vermittelt wird. Lern- und Entwicklungspsychologen kritisierten das
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| Teil VI: Schule und Unterricht Programm als simplistisch, Psycholinguisten bemängelten die mechanistische Art und Weise der Sprachförderung, die sich am Drill von Sprachmustern orientierte, wie er in der Fremdsprachendidaktik seinerzeit Gang und Gäbe war, Soziolinguisten protestierten gegen die dem Programm immanente Abwertung subkultureller Sprachvarianten. Engelmann reagierte schon damals (vgl. Becker, 1977) und bis heute auf solche Kritiken vor allem mit empirischen Daten (Engelmann, 1997): Die direkte Förderung war erfolgreich. Gerade die sozial benachteiligten Kinder lernten besser als in vergleichsweise freien Lernarrangements, und so entstanden aus dem ersten Vorschulcurriculum Dutzende von Curricula für die Primar- und Sekundarstufe, und diese Entwicklung hält bis zum heutigen Tage an (s. u., Kapitel 23.6.3, Curriculare Programme direkten Unterrichts). Der Begriff der direkten Instruktion wurde gut 10 Jahre später erneut geprägt, nämlich von Barak Rosenshine (1979) und diesmal im Rahmen einer gänzlich anderen Forschungstradition, der Forschung zur Wirksamkeit von Lehrverhalten. Im geradezu klassischen Design von Untersuchungen zur Lehrereffektivität werden zunächst zu einem bestimmten Zeitpunkt die Leistungen aller Schülerinnen und Schüler einer Schulklasse gemessen. In den sich anschließenden Wochen und Monaten beobachtet und protokolliert man in Stichproben das Lernverhalten der Lernenden und das Lehrverhalten der Lehrenden. Nach einigen Monaten führt man wiederholte Leistungsmessungen durch; wenn man nun den Lerngewinn zwischen erster und zweiter Messung berechnet und auf die ursprüngliche Lernausgangslage relativiert, kann man gut und weniger gut lernende Klassen unterscheiden. Falls man solche Messungen und Verhaltensbeobachtungen bei ausreichend vielen Schulklassen durchgeführt hat, erlaubt die Stichprobe sogar Rückschlüsse auf korrelative Zusammenhänge: Kommen in besonders erfolgreichen Klassen bestimmte Lehrverhaltensweisen überzufällig häufig vor? Falls ja, ist zu vermuten, dass bestimmte Lehrverhaltensweisen besonders geeignet sind, das schulische Lernen wirksam zu unterstützen, und solche empirisch vorläufig belegten Hypothesen lassen sich sogar quasi-experimentell prüfen. Stevens und Rosenshine haben 1981 in einer selektiven Analyse der Forschungsliteratur effektiven Unterricht für sozialkulturell benachteiligte Kinder so charakterisiert: Er findet in Kleingruppen statt, ist ausdrücklich auf akademisches Lernen ausgerichtet, wird lehrerzentriert geführt und individualisierend differenziert. Otto, Wolf und Eldridge haben 1984 die wichtigsten Befunde zum Leseunterricht zusammen getragen. In Hunderten von Untersuchungen zeigte sich, dass sich sehr wohl erfolgreiche von weniger erfolgreichen Lehrerinnen und Lehrern unterscheiden lassen, auch wenn sich die in der schulischen Praxis auffindbaren Ergebnisse nicht immer mit den theoretischen Erwartungen zeitgenössischer Didaktik decken: Die meisten Kinder und besonders die Kinder mit Lernstörungen und Lernbehinderung erlernen das Lesen vor allem dann, wenn von ihnen ausdrücklich schulische Leistungen verlangt werden und wenn im Unterricht auch wirklich das Lesen gelehrt und geübt wird, wenn ihnen verständliche und nicht zu schwierige Aufgaben gestellt werden und sie ihre Lernaktivitäten nicht frei wählen können, wenn die Lehrerin diese Aktivitäten supervisiert und wenn sie die Ergebnisse kontrolliert und korrigiert, wenn der Lernfortschritt insgesamt und bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern nachgehalten und das Unterrichtstempo angemessen, aber ansprechend und fordernd angelegt wird. Rosenshine hat 1979 sechs Funktionen effektiven Lehrverhaltens aus der empirischen Literatur extrahiert, die er typologisierend zu
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einer Konzeption namens direct instruction integrierte (vgl. ausführlicher Rosenshine & Stevens, 1986, S. 379-388, bes. 379; Stevens & Rosenshine, 1981; Rosenshine, 1997): 1. Tägliche Wiederholung und Hausaufgabenkontrolle: Erfolgreiche Lehrerinnen und Lehrer beginnen die Lesestunde mit einer Kontrolle der Hausaufgaben und mit einer kurzen Wiederholung des Lernstoffs vom Vortage, um dessen Aufnahme und Verständnis bei den Lernenden zu prüfen. Sie vermitteln den Stoff bei Verständnisschwierigkeiten erneut und gehen, falls nötig, auf früher vermittelte elementare Lernvoraussetzungen zurück. 2. Schrittweise Vermittlung neuer Lerninhalte: Erfolgreiche Lehrpersonen erläutern den Kindern die Lernziele der Unterrichtstunde und geben einen Überblick über den zu erwartenden Ablauf. Sie präsentieren neuen Lernstoff in kleinen und bewusst sequenzierten Schritten, aber in ansprechendem Tempo. Sie heben wichtige Inhalte besonders hervor, bieten ausreichend Beispiele, Modelle und Demonstrationen an und prüfen das Verständnis der Lernenden durch gezielte Zwischenfragen. 3. Angeleitete Übung: Die Lernenden üben den neuen Lernstoff zunächst unter Anleitung und mit Hifestellung durch die Lehrperson, die in dieser Phase relativ einfache Aufgaben oder Aufgaben mittlerer Schwierigkeit vorgibt und bei Bedarf zusätzliche Erklärungen und mediale Hilfen bereit hält. 4. Feedback und Fehlerkorrektur: Die fehlerfrei lernenden Kinder werden positiv bestätigt und ermutigt, sie erhalten gegebenenfalls schwierigere Aufgaben. Die Kinder, die Fehler machen, analysieren und korrigieren diese gemeinsam mit anderen Kindern oder mit der Lehrperson; sie erhalten fehlerspezifische Rückmeldungen und werden zu ausreichender Übung angehalten. Die Lehrperson stellt insgesamt sicher, dass alle Kinder den neu zu erlernenden Stoff sicher beherrschen. 5. Eigenständige Übung: In Einzelarbeit wird das neu erlernte Material lange, intensiv und variantenreich geübt, damit es alle Lernenden sicher und schnell beherrschen. Die Lehrperson supervisiert und korrigiert die Arbeit der selbstverantwortlich lernenden Kinder. 6. Wiederkehrende Wiederholungen: Auf wöchentlicher und monatlicher Basis wird bereits vermittelter Lernstoff immer wieder repetiert, unter anderem in Hausaufgaben und in Leistungstests; bei Lern- und Verständnislücken wird wichtiger Lernstoff erneut unterrichtet. Rosenshine hat gemeinsam mit Stevens (1986) die korrelativen Befunde zusammen getragen, während Gage und Needles (1989) einschlägige experimentelle Befunde gesichtet haben; demnach scheinen die Funktionen 2, 3 und 5 besonders wichtig zu sein und gewissermaßen den Kern der direkten Instruktion auszumachen: Die schrittweise Vermittlung neuer Lerninhalte sorgt dafür, dass die Kinder die gewünschten Qualifikationen durch direkte und lehrerzentrierte Vermittlung überhaupt erwerben können. Die angeleitete Übung leitet die aktive individuelle Aneignung des Lernstoffs durch das Kind ein und gibt Gelegenheit zu Hilfe und Korrektur, und die selbständige Übung schließlich sorgt für das wichtige Sichern der erlernten Fertigkeiten bis hin zu einem Niveau hoher und nahezu fehlerfreier Sicherheit bei nahezu anstrengungsloser Geläufigkeit im Sinne einer Automatisierung kognitiver Fertigkeiten. Dabei wird das Anspruchsniveau der Aufgaben durchgängig kontrolliert und individualisierend adaptiert. Literaturanalysen
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| Teil VI: Schule und Unterricht jüngeren Datums haben die Bedeutung dieser Variablen bestätigt, nicht nur für eine gezielte Leseförderung, sondern auch für die systematische schulische Förderung in den sachkundlichen Lernbereichen und in Mathematik (Gersten, Baker, Pugach, Scanlon & Chard, 2001). Direkter Unterricht als Form effektiven Lehrverhaltens führt zu einem relativ direktiven und eher lehrerzentrierten Unterricht, der die kognitiven Lernziele betont und der durch deutliche Lenkung und wenig Wahlfreiheit auf Seiten der Lernenden gekennzeichnet ist. Wer die klassische Hilfsschuldidaktik kennt, wird sich an das anschauliche Lernen in kleinsten Schritten bei Isolierung der Schwierigkeiten und unter strenger Kontrolle der Aufgabenkomplexität durch den Hilfsschullehrer erinnert fühlen. Klein hat in diesem Zusammenhang schon 1971 auf eine zentrale Gefahr hingewiesen: Ein Unterricht, der sich vorrangig oder gar ausschließlich an den Defiziten eines Kindes orientiert und in seinen didaktischen und methodischen Entscheidungen diese im Sinne einer kompensatorischen Passung zu umgehen sucht, droht zu einer Fixierung gerade dieser defizitär ausgebildeten Funktionsbereiche beizutragen. Wenn ein Kind z. B. große Schwierigkeiten hat, eigenverantwortlich und selbst gesteuert nach Plan zu arbeiten, könnte die Lehrerin ihm in der Schule grundsätzlich kleine Arbeitsschritte vorgeben und deren sukzessive Abarbeitung zeitnah kontrollieren. Die Lehrerin umgeht dann zwar die arbeitsmethodischen Schwächen des Kindes und verhilft ihm vordergründig zu erfolgreichem Lernen, aber Planungskompetenz kann das Kind so nicht erwerben, eigenverantwortliches Arbeiten kann es so nicht erlernen. Die scheinbar kompetenzorientierte kompensatorische Passung des Unterrichts erweist sich langfristig als eine Strategie, die Defizite stabilisiert (Wember, 2001). Direkter Unterricht geht hier einen ganz anderen Weg: Schwach ausgebildete Funktionsbereiche werden nicht umgangen sondern direkt gefördert. Dies zeigt besonders deutlich eine zweite Variante des direkten Unterrichts, das Training kognitiver Strategien. 23.6.2 Direkter Unterricht als Vermittlung von Lernstrategien Lernende mit Lernschwierigkeiten sind wenig effektiv in der Verarbeitung von Information. Dies zeigt sich vor allem bei komplexen Aufgaben: Schwache Lerner sind oft durch eine gewisse Passivität gekennzeichnet, d. h. sie gehen eine Aufgabe weniger konsequent an als erfolgreiche Lerner, geben bei Schwierigkeiten schneller auf und arbeiten meist eher oberflächlich, während erfolgreiche Lerner Information anspruchsvoller und tiefer gehend bearbeiten (Torgesen, 1982). Lerner mit Lernschwierigkeiten arbeiten meist weniger systematisch. Sie gehen seltener planvoll vor, setzten sich nicht bewusst Ziele, können ihre Handlungen folglich kaum auf Zielführung prüfen und reflektieren nur äußerst selten über ihre Lösungen und ihre Lösungswege. Aus Sicht der direkten Förderung sollte man versuchen, das Verhalten von kompetenten Lernerinnen und Lernern zu beschreiben und zu analysieren, um Mittel und Wege zu finden, kompetentes Lernverhalten explizit zu erklären und systematisch zu vermitteln (Pressley, 1986; Pressley, Borkowski & Schneider, 1989). In den letzten 30 Jahren ist eine Vielzahl von Ansätzen entstanden, das Lernen und Problemlösen von Lernenden hilfreich zu unterstützen, die sich zunächst als Versuche der kognitiven Verhaltensmodifikation verstanden haben, sich mit zuneh-
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mender Lösung vom ursprünglichen verhaltenstheoretischen Hintergrund als Training von Lernstrategien oder von kognitiven Strategien darstellten und sich neuerdings auch als prozedurale Hilfen oder Lernstützen präsentieren (engl. procedural facilitators bzw. scaffolds, vgl. Gersten et al., 2001, S. 700). Die Vielfalt der Programme kann hier nicht dargestellt werden, weil sich diese im Detail erheblich unterscheiden, theoretisch unterschiedlich begründet werden und sich auf sehr unterschiedliche Lernbereiche beziehen: von allgemeinen Strategien der Aufmerksamkeitssteuerung und des geordneten akademischen Arbeitens bis hin zu Strategien der Kontrolle und Reflexion des eigenen Lernens im Sinne von Metakognition (vgl. Schröder in diesem Band), von speziellen Strategien des Erwerbs graphophonemischer Regeln, des Dekodierens, des Erlesens von Wörtern oder des sinnerfassenden Lesens bis hin zu Methoden des Schreibens von Texten oder des Lösens von Sachaufgaben im Mathematikunterricht (vgl. Klauer, 2002; Pressley & Woloshyn, 1995). Allen Interventionen gemeinsam ist das Ziel, die Lernenden bei der Bearbeitung von komplexen Aufgaben nicht sich selbst zu überlassen, sondern sie durch Vormachen und Mitmachen, durch Erklären und Reflektieren beim Erwerb höherer kognitiver Fertigkeiten wirksam zu unterstützen. Trotz großer Vielfalt in den Details lassen sich doch bestimmte Komponenten identifizieren, die typisch für Versuche der direkten Vermittlung von Lernstrategien sind: Aktivierung und Motivierung des/der Lernenden: In einer vorbereitenden Phase wird versucht, dem/der Lernenden die Aufgabenstellung zu erschließen, thematisches Interesse zu wecken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren. Die zu erlernende Strategie wird skizziert und begründet und ihr Nutzwert wird verdeutlicht. Modellierung und Verbalisierung der Strategie: Die Strategie wird von der Lehrperson schrittweise vorgeführt und verbal erläutert, indem die Lehrperson handlungsbegleitende Denkprozesse offen ausspricht und erklärt, was sie wann, wie, warum und in welcher Reihenfolge tut und wie sie die Ergebnisse ihrer Handlungen prüft. Übernahme der Strategie bei abnehmender Hilfestellung: Der/die Lernende imitiert zunächst das modellierte Verhalten und erarbeitet sich die Strategie unter zunehmender Selbstkontrolle, während die Lehrperson, die das Verhalten anfänglich noch genau beobachtet, eventuell sogar sprachlich begleitet und nötigenfalls korrigiert, sich mit zunehmender Sicherheit des/der Lernenden immer mehr zurück nimmt. Generalisierung: Die Lernenden variieren die anfänglich imitierten Lösungshandlungen, entwickeln eigene Lösungsvarianten und übertragen diese auf zunächst ähnliche, später auch deutlich variierende Aufgabenstellungen und Problemsituationen. Selbstkontrolle und Selbststeuerung: Die Lernenden kontrollieren ihre Handlungen gemäß Handlungsplan auf Zielerreichung und steuern ihr Verhalten zunehmend selbständig und ohne fremde Anleitung oder Hilfe. Meist wird dies dadurch unterstützt, dass die verbalen Anweisungen zunächst laut, dann nur noch leise und schließlich nur noch in der Vorstellung des Lernenden gesprochen werden. Reflexion und Selbstbewertung: Die Lernenden beurteilen ihr Lösungsverhalten im Rückblick, um besonders gelungene Handlungssequenzen ebenso zu erkennen wie Möglichkeiten der Verbesserung. Auch hier begleitet die Lehrperson die Lernenden zunächst einfühlsam in kritischen Dialogen, um sich später mehr und mehr zurück zu ziehen. Strategietrainings sind theoretisch systematisch erklärt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit explizit begründet worden, vor allem durch die sozial-kognitive Lerntheorie Ban-
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| Teil VI: Schule und Unterricht duras (1979) und die Theorie der kognitiven Verhaltensmodifikation von Meichenbaum (1979). Drei Komponenten entscheiden vermutlich über den Erfolg, nämlich das Lernen am Modell, die verbale Instruktion und die schrittweise Verinnerlichung und Verselbständigung. Das Lernen am Modell ist eine wirksame und geradezu natürliche Methode der Vermittlung, denn Menschen überhaupt und insbesondere Kinder lernen vieles durch Beobachten und Nachmachen, vor allem im Bereich der Handlungskompetenzen und der Emotionen und Einstellungen. Bei der handlungsbegleitenden Verbalisierung werden von der Modellperson Gedanken und Gefühle offen gelegt und dem lernenden Beobachter zugänglich gemacht, die zum einen die Steuerung („Was muss ich zuerst tun? Ich muss die Aufgabe genau lesen.“) und Kontrolle der Problemlösehandlung („Habe ich die Aufgabe vollständig gelesen?“) und zum anderen die gefühlsregulierende Selbststeuerung („Ich ärgere mich nicht, falls ich die Aufgabe nicht sofort verstehe“) unterstützen. Im Verlaufe der sukzessiven Verinnerlichung schließlich wird die externe Steuerung durch die Lehrperson zu Gunsten einer zunehmend internen und schließlich autonomen Selbststeuerung durch die Lernenden ersetzt, meistens verbunden mit Übungen zur Generalisierung des gelernten Verhaltens auf andere und verschiedene Situationen – die Problemlösestrategie soll so zu einem integrierten Bestandteil des Verhaltensinventars werden und den Lernenden in komplexen Alltagssituationen als variables und adaptierbares Instrument zur Verfügung stehen. Der fundierten Theorie entspricht eine erfolgreiche Empirie. Strategietrainings haben sich in vielen Studien als wirksam erwiesen, in der Einzelförderung ebenso wie im Klassenunterricht, an Regelschulen ebenso wie bei sonderpädagogischem Förderbedarf. National (Klauer, 2002; Langfeldt, 2003) und international (z. B. Pressley & Woloshyn, 1995; Wong, 1992) finden sich in einschlägigen Sammelwerken Hunderte von Studien referiert, methodenkritisch integriert, (sonder)pädagogisch interpretiert und auf Fragen der schulischen Praxis reflektiert. Im deutschen Sprachraum hat Masendorf bereits 1983 vier Studien zur verbalen Selbstinstruktion bei lernbehinderten Sonderschülern vorgestellt, in denen er feststellen konnte, dass diese unter verschiedenen Bedingungen erfolgreich war und dass die Wirksamkeit durch Verwendung anschaulicher und handlungsorientierter Materialien gesteigert werden konnte. Lauth (zusammenfassend 1991) hat systematische Programme zur Kognitiven Modellierung und Selbstinstruktion bei Kindern mit Lernund Verhaltensstörungen entwickelt und empirisch geprüft (1992) und gemeinsam mit Schlottke für den besonderen Förderbedarf aufmerksamkeitsgestörter Kinder ein mehrstufiges Trainingprogramm entwickelt (Lauth & Schlottke, 1993). Kretschmann hat bei lernbehinderten Kindern und Jugendlichen nicht nur verhaltens- und gefühlsregulierende Verbalisierungen gefördert, sondern darüber hinaus auch konkrete Lösungsalgorithmen für schulische Aufgaben modelliert (Kretschmann & Elspaß, 1992; Kretschmann & Märtens, 1990) und umfangreiche Programme zur Diagnose und Förderung im mathematischen und schriftsprachlichen Lernbereich vorgelegt (Behring, Kretschmann & Dobrindt, 1999; Kretschmann, Dobrindt & Behring, 1999). Bei all dieser Vielfalt fällt eine zusammenfassende Interpretation der Befundlage schwer, denn die Interventionen, die unter der generalisierenden Bezeichnung ‚Strategietraining‘ zusammen gefasst werden, sind zu unterschiedlich: Sie reichen von nur mäßig konkretisierten Handlungsempfehlungen bis zu weitestgehend operationalisierten Handlungsprogrammen, von kurzzeitig angebotenen Interventionen bis zu mehrmona-
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tigen Förderprogrammen, von Einzelförderung in klinischen oder familiären Settings bis hin zu Interventionen in Schule und Unterricht, von Ansätzen zur metakognitiven Handlungskontrolle und Handlungsregulierung bis hin zu spezifischen Förderprogrammen beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass alle diese Programme ausgesprochen spezifische Effekte zeitigen, d. h. sie vermitteln im Erfolgsfall das, was sie vermitteln sollen: Impulsive Kinder können ein ruhigeres und reflexiveres Lösungsverhalten erlernen, Aufmerksamkeit und Motivation lassen sich systematisch steigern und man kann durchaus allgemeine Problemlösestrategien vermitteln. Diese stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn die Lernenden nicht über notwendige Lernvoraussetzungen verfügen und allein die Vermittlung allgemeiner Lernund Problemlösungsstile kann die Lernrückstände von Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten nicht ausgleichen; zum einen muss eine innere Beteiligung der Kinder durch intrinsische Motivation und Interesse hinzu kommen, zum anderen müssen die Lernenden über eine Vielzahl bereichsspezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, damit Strategietraining wirksam sein kann. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob Kinder allgemein konzentrierter und reflektierter arbeiten sollen oder ob sie einen Text fehlerfrei lesen oder eine Rechenaufgabe richtig lösen sollen. Ähnlich wie in der Arbeitsgruppe um Kretschmann (s. o.) finden sich in der internationalen Literatur etliche Programme dokumentiert, welche die Vermittlung wirksamer Lernstrategien mit spezifischen curricularen Inhalten und Fertigkeiten verbinden (vgl. Gersten et al., 2001). 23.6.3 Curriculare Programme direkten Unterrichts Etwa ab 1960 hatte Carl Bereiter bei der systematischen Erforschung des Lernverhaltens und der Lernrückstände sozial benachteiligter Vorschulkinder festgestellt: Was immer er untersuchte, die benachteiligten Kinder wussten und konnten weniger als die Kinder aus besser gestellten Familien. Wollte man zu Schulbeginn Chancengleichheit für alle herstellen, musste man den benachteiligten Kindern die Kenntnisse und Fertigkeiten explizit beibringen, die andere Kinder spontan in Familie und Freundeskreis erwarben. Dies führte immer wieder zu der pädagogischen Schlussfolgerung, dass die Herstellung von Chancengleichheit gerade von den Kindern mit denkbar schlechten Lernvoraussetzungen forderte, mehr und schneller zu lernen als alle anderen, denn die Leistungsunterschiede wurden mit zunehmendem Lebensalter immer größer. Bereiter und sein damaliger Kollege Siegfried Engelmann erkannten, dass dies den betroffenen Kindern kaum ohne aktive Unterstützung gelingen dürfte und sie entwickelten das bereits erwähnte Vorschulprogramm zur direkten und systematischen Sprachförderung (Bereiter & Engelmann, 1966). Engelmann setzte diesen Ansatz über drei Jahrzehnte fort. Er gründete mit Wesley Becker eine entsprechende Forschungsfirma und beide entwickelten gemeinsam mit Autoren wie Bruner, Carnine, Gersten und Kameenui Dutzende von Programmen zur direkten Förderung des Lesens, Schreibens und Rechnens. Engelmann und Carnine (1982) erarbeiteten praxisbegleitend eine Unterrichtstheorie, welche die ursprüngliche behavioristische Orientierung der Förderprogramme kognitiv untermauerte und im Wesentlichen zwei zentrale Komponenten umfasste:
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| Teil VI: Schule und Unterricht – Unterrichtsinhalte lassen sich gemäß den Gesetzen des Lernens und der Begriffsbildung analysieren und lernerleichternd strukturieren. – Gut strukturierte Unterrichtsinhalte lassen sich gemäß den wissenschaftlich erforschten Gesetzen des Lehrens und Lernens zielgerichtet, systematisch und vor allem effizient vermitteln. Im ersten Schritt werden die zu erlernenden Inhalte hinsichtlich von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten analysiert und nach Schwierigkeitsgrad sequenziert, um zunächst mit besonders einfachen und/oder besonders grundlegenden und vielfältig generalisierbaren Inhalten zu beginnen und dann allmählich zu schwierigen, komplexeren und/oder spezielleren Inhalten vorzudringen. Im zweiten Schritt werden Sequenzen von Unterrichtsaktivitäten geplant, die praktisch alle weiter oben genannten Merkmale effizienter Klassenführung und wirksamen Lehrverhaltens umfassen: Vorgehensweise in kleinen und sorgfältig geplanten Schritten, lehrergelenkte Erarbeitung bei durchgängiger Kontrolle der Aufgabenschwierigkeit, zunächst gelenkte und erst danach freie Übung des Gelernten, kontinuierliche Lernerfolgsmessung und vielfältige Wiederholung bei durchgehender Differenzierung und Individualisierung der Anforderungen. Besonderes Merkmal und fast schon Markenzeichen der Becker/Engelmann-Programme wurde die detaillierte Planung der Dialoge zwischen den Lehrenden und den Lernenden in ausführlichen und bis ins Detail ausgeführten Skripts, die sicher stellen sollten, dass die Programme auch im schulischen Alltag mit hoher Validität implementiert werden. Allen DISTAR-Programmen (so der Markenname) gemeinsam ist der hohe Grad der Konkretisierung und Operationalisierung; dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass hier inhaltsspezifische Lehrmethoden vorgeschlagen und über die Jahre verändert und weiter entwickelt worden sind. Alle Programme realisieren zwar einen direktiven Unterrichtsstil, der durch hohes Tempo, direkte Ansprache der Lernenden, ständige Korrektur usw. geprägt ist, aber inhaltlich und im Detail betrachtet gehen Programme zur Leseförderung anders vor als die zur Förderung des Rechnens (vgl. Carnine & Silbert, 1979 oder Silbert, Carnine & Stein, 1981) und Verfahrensweisen früher Programmversionen finden sich in aktuellen Programmen verändert oder verworfen (vgl. Carnine, Silbert & Kameenui, 1997; Stein, Silbert & Carnine, 1997). Diese Vielfalt der Programme und deren systematische Evaluation und Revision mag dazu beigetragen haben, dass direct instruction inzwischen in weiten Teilen der USA und Kanadas, aber auch in Teilen Australiens und Neuseelands fast zum Synonym für sonderpädagogischer Förderung geworden ist, wobei dies für Sonderschulen ebenso gilt wie für den gemeinsamen Unterricht. Ein weiterer Grund mag die einfache Handhabbarkeit sein, denn präzise ausgearbeitete Programme lassen sich mit relativ wenig Aufwand in den schulischen Alltag integrieren und können unter fachlicher Supervision sogar von paraprofessionellen Helfern implementiert werden. Ein dritter Grund dürfte sicherlich die empirisch nachgewiesene Effektivität der Programme direkter Förderung sein: Als nämlich die ersten enttäuschenden Resultate der Follow Through-Evaluationen veröffentlicht wurden, denen zufolge die Auswirkungen kompensatorischer Erziehung eher bescheiden und nur von kurzer Dauer waren (vgl. Wember, 2000), legte Becker (1977) eine sorgfältige Sekundäranalyse der umfangreichen nationalen Evaluationsdaten vor und zeigte, dass entgegen dem allgemeinen Trend und im scharfen Gegensatz zu allen anderen, weniger
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akademisch orientierten Förderprogrammen die Kinder in den DISTAR-Programmen das Lesen schneller und besser erlernt hatten. Dieser positive Effekt war erheblich, zeitlich stabil und in allen Modellversuchen durchgängig feststellbar. Die Kinder aus sozial benachteiligten Familien verbesserten sich im Lesen von einem durchschnittlichen Prozentrang 19 binnen zwei, drei Schuljahren auf Prozentrang 54 und fast alle Kinder erreichten bis zum dritten Schuljahr durchschnittliche und altersgemäße Leistungen im Dekodieren, während beim sinnerfassenden Lesen noch vereinzelt Defizite festgestellt werden mussten. Positive Effekte zeigten sich ebenfalls und durchgängig bei der Förderung komplexer kognitiver Fähigkeiten und bei den affektiven Variablen: Offensichtlich hatten die durch direkte Instruktion intensiv geförderten Kinder nicht nur besonders gut lesen gelernt, sie hatten auch ein positives Konzept ihrer selbst und ihrer Fähigkeiten entwickelt. Die relative Überlegenheit der direkten Leseförderung ist inzwischen wiederholt belegt und in einer Metaanalyse validiert worden (White, 1988). Gersten und Brengelman (1996) haben gezeigt, dass sich die positiven Auswirkungen erfolgreichen Lesenlernens in der Sekundarstufe fortsetzen, Gersten und Carnine (1986) haben einige Studien zusammen gefasst, in denen Methoden der Inhaltserfassung beim Lesen direkt und schrittweise vermittelt worden sind. Auch für den mathematischen Lernbereich liegen ermutigende Befunde vor: Carnine und Gersten (1982) haben gezeigt, dass zwei Drittel der in Follow Through angestellten Vergleiche Leistungsvorteile auf Seiten der direkt geförderten Kinder zeigten, wenn Rechenfertigkeit die abhängige Variable war, während diese Leistungsüberlegenheit weniger ausgeprägt war, wenn mathematisches Problemlösen oder mathematische Begriffsbildung untersucht wurden (55 resp. 37 Prozent der Vergleiche zu Gunsten der direkten Instruktion). Der positive Haupteffekt zeigte sich generell in allen Modellversuchen und zeitlich stabil in allen Kohorten, er war intraindividuell in allen Schuljahren feststellbar, wirkte bis in das fünfte, sechste Schuljahr hinein und war praktisch relevant, denn die sozial benachteiligten Kinder rechneten nach zwei bis drei Jahren direkter Förderung auf Prozenträngen von 48 bis 53, zeigten also durchschnittliche und altersgemäße Leistungen. Inzwischen können die positiven Auswirkungen direkter Förderung im Bereich des akademischen Lernens als empirisch gesichert gelten. Meyer (1984) konnte Langzeiteffekte im Lesen und Rechnen bis in das neunte Schuljahr hinein nachweisen und zeigen, dass die entsprechend geförderten Kinder beim Erwerb qualifizierter Schulabschlüsse erfolgreich waren. White (1988) hat 25 Vergleichsstudien einer Metaanalyse unterzogen und festgestellt, dass nicht in einer einzigen Studie ein Haupteffekt zugunsten der Kontrollgruppe festgestellt werden konnte. Immer erwies sich die direkte Förderung insgesamt als den anderen Unterrichtsmodellen überlegen, 53 Prozent der Einzelvergleiche waren statistisch signifikant positiv, die Effektstärke lag insgesamt bei .84 Standardabweichungen, das ist ein relativ großer Effekt. Eine differenzierte Analyse der Einzelergebnisse wies auf zwei Moderatorvariablen hin, nämlich die Art der abhängigen Variable und der Ausbildungsstand der Lehrerinnen und Lehrer: Beim Lesen lagen die Effektstärken mit .85 Standardabweichungen deutlich höher als im mathematischen Lernbereich mit .50, und Lehrpersonen an allgemein bildenden Schulen mit berufsbegleitender Ausbildung in direkter Instruktion produzierten mit .79 Standardabweichungen geringere Effektstärken als intensiv ausgebildete Lehrerinnen
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| Teil VI: Schule und Unterricht und Lehrer für Sonderpädagogik, die Effektstärken um 1.13 Standardabweichungen erzielten. 23.6.4 Direkte Förderung in offenen Lernumwelten Für Verfechter reformpädagogischer Methoden ist der direkte Unterricht in all seinen Varianten vermutlich keine attraktive Alternative: Er betont die Lenkung des Lehr- und Lernprozesses durch die Lehrperson statt durch die Schüler, die gezielte Auswahl und Sequenzierung der Lerninhalte statt Wahlfreiheit der Lernenden und Offenheit des Unterrichts, das kontrollierte Lernen in kleinen Schritten und an Aufgaben leichter bis mittlerer Schwierigkeit mit relativ hohem Tempo statt des anspruchsvollen Lernens in komplexen Problemsituationen, das aufbauende Lernen in durchdachten Lehrgängen statt des entdeckenden Lernens in Schülergruppen, die unterrichtsbegleitende Lernerfolgsmessung statt Selbstkontrolle und Selbsteinschätzung. Direkter Unterricht ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Methodik der klassischen Heilpädagogik, und direkter Unterricht weist nicht den Weg zurück in überkommene Formen des bloß rezeptiven Lernens unter strenger Kontrolle der Lehrperson; denn wenn man lehrerzentriertes und schülerorientiertes, offenes und gelenktes, entdeckendes und rezeptives Lernen typisierend unterscheidet, darf man nicht vergessen, dass solche Konzeptionen – umgesetzt in schulische Praxis – oft mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als theoretisch erwartet und dass sich direkt fördernde Lehrerinnen und Lehrer durchaus an den Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler orientieren und durchaus auch selbstständiges und entdeckendes Lernen in Partner- und Kleingruppenarbeit anbieten. Direkter Unterricht, das hat die hier referierte empirische Forschung gezeigt, ist erfolgreich, auch wenn nicht alle Kinder einer Lerngruppe in allen Phasen des Lernens oder bei allen Unterrichtsinhalten besonders positiv reagieren. Zum einen gilt, dass Förderung spezifisch wirkt, d. h. dass die Lernenden im Erfolgsfall zunächst einmal das lernen, was sie lernen sollten. Für die direkte Förderung gilt wie für alle Unterrichtsansätze, dass mit zunehmender inhaltlicher und methodischer Distanz der spontane Lerntransfer schwieriger wird, und einschränkend muss gesagt werden, dass dieser Effekt im Falle von Lernschwierigkeiten besonders deutlich auftritt und dass bislang vor allem die klassischen Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen Ergebnisvariablen in empirischen Untersuchungen waren, wenngleich neuerdings auch komplexere Fertigkeiten und andere Lernbereiche in den Blick der Forschung geraten (vgl. Gersten et al., 2001). Zum anderen gilt, dass sich beliebige Ziele nicht mit beliebigen pädagogischen Mitteln erreichen lassen. Direkter Unterricht dient vor allem der Vermittlung von Fertigkeiten, Lernstrategien und Wissensinhalten. Er bereitet selbständiges Lernen angeleitet vor, bedarf hier jedoch der Ergänzung durch freie, offene und schülerzentrierte Arbeitsformen (Souvignier, 2003), denn Selbständigkeit lässt sich nicht lehren, sie will in Selbstverantwortung erprobt sein. Dies gilt mehr noch als für das sachlich-kognitive Lernen für das emotionale und soziale Lernen. Im schulischen Alltag wird es bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten darauf ankommen, die manchmal disparaten und fast immer multivalenten Ziele durch verschiedene Methoden anzugehen; insofern sind strukturierte und geschlossene Phasen der Inhaltsvermittlung und des Fer-
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tigkeitstrainings angewiesen auf die Ergänzung durch offene Phasen explorativen und entdeckenden Lernens. Andererseits sind Realbegegnungen in Projekten und Exkursionen nicht durch Kursmaterialien zu ersetzen, Kreativität und Kritikfähigkeit nicht im gelenkten Lehrgang zu erwerben (Dichanz & Zahorik, 1986). Komplexe Lernprozesse und kreative Erfindungen ereignen sich in problemhaltigen Situationen, aber sie werden gerade Lernenden mit Lernschwierigkeiten nur dann gelingen können, wenn diese das notwendige Vorwissen und zentrale instrumentelle Fertigkeiten erwerben konnten. Direkter und offener Unterricht sind folglich aufeinander angewiesen, direkte Förderung bedarf auch und gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten der Einbettung in offene Lernumwelten. Der Grundgedanke des direkten Unterrichts, bei Lerndefiziten diese unmittelbar und möglichst ohne theoretische Umwege anzugehen, trägt bei sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen gute Früchte. Im Gegensatz zur klassischen Hilfsschulpädagogik erfordert die direkte Förderung nicht die allgemeine, sondern die spezifische und individuell angepasste Lernhilfe. In bestimmten Lernbereichen sind individuelle Lernvoraussetzungen zu diagnostizieren und zu fördern, wie dies die Arbeiten von Behring, Kretschmann und Dobrindt (1999) für den mathematischen und Kretschmann, Dobrindt und Behring (1998) oder Wember (1999) für den schriftsprachlichen Lernbereich getan haben. Im Gegensatz zum traditionellen Frontalunterricht erfordert die direkte Förderung das schüleraktive und intensive Lernen durch die gezielte Vermittlung von erfolgversprechenden Lernstrategien und die Erarbeitung zentraler Inhalte und Fertigkeiten durch die Lernenden selbst (Kretschmann & Märtens, 1990). In der konstruktivistischen Unterrichtstheorie wird zu recht darauf verwiesen (vgl. Kap. 8, Werning in diesem Band), dass man Lernen nicht durch Lehren herstellen könne, weil es keine lineare Relation vom Lehren zum Lernen gebe, da jede und jeder einzelne Lernende die unterrichtlichen Reize gemäß seiner Interessenlage, seinem Vorwissen, seinen Auffassungsmöglichkeiten wahrnehme und verarbeite. Direkter Unterricht stellt diese Auffassung nicht in Frage, denn die direkte Förderung setzt keine lineare Beziehung zwischen Lernen und Lehren voraus. Direkter Unterricht behauptet lediglich, dass sich die schulisch zu vermittelnden Qualifikationen möglichst nahe an den angestrebten Zielqualifikationen orientieren sollten, dass unzureichend ausgebildete Qualifikationen diagnostiziert und aktiv gefördert werden sollten und dass es bei aller Unbestimmtheit zwischen Lehren und Lernen sinnvoll ist, bei der aktiven Förderung Methoden zu verwenden, die sich als wirksam erwiesen haben. Lee Swanson hat 1999 in einer Metaanalyse aller seit 1963 auffindbaren Gruppenvergleichs- und Einzelfallstudien herausgefunden, dass bei Kindern mit Lernschwierigkeiten gerade eine solche aktive Förderung von ausformulierten und geprüften Lernstrategien in Verbindung mit gezielter Wissensvermittlung in inhaltlich relevanten curricularen Bereichen besonderen Erfolg verspricht, wenn sie mit Methoden der Metakognition und Selbstregulation verknüpft wird. In einer Sonderpädagogik, die sich als wissenschaftlich fundierte angewandte Disziplin versteht, dürfte es an der Zeit sein, die direkte Förderung von Schlüsselkompetenzen in offenen schulischen Lernumwelten aktiv anzugehen, um eine wirksame Förderung kognitiver, emotionaler und sozialer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen anzustreben, die der wirksamen schulischen Förderung in besonderer Weise bedürfen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht
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| Teil VI: Schule und Unterricht
23.7 Kooperatives Lernen Elmar Souvignier Der besondere Reiz kooperativer Lernformen liegt darin, gleichzeitig mehrere Ziele erreichen zu können, die vielfach als unvereinbar gelten: die schulischen Lernleistungen, soziale Kompetenzen und die Lernfreude (Johnson & Johnson, 1994; Slavin, 1995). Die Lernleistungen werden durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff gefördert. Dass die Schüler sich Sachverhalte mit eigenen Worten erklären und beim gegenseitigen Erklären die Inhalte noch einmal selbstständig strukturieren, führt zu einem höheren Wissenszuwachs. In der Auseinandersetzung mit ihren Lernpartnern können sie dabei soziale Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Perspektivenwechsel, Zuhören, Kompromissfähigkeit, Geduld, Hilfeleistung und Kritikfähigkeit einüben. Die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand und die damit verbundene Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche Inhalte sie vertiefen wollen, sollte zu größerer Lernfreude führen und die intrinsische Motivation fördern. Dies alles spiegelt sich auch in Aussagen von Lehrern lernschwacher Schüler wider (Jenkins, Antil, Wayne & Vadasy, 2003). Gefragt, in welcher Hinsicht Schüler mit Lernschwierigkeiten von kooperativen Lernangeboten profitieren, nannten sie vor allem die Steigerung des Selbstvertrauens und eine größere Sicherheit durch das Aufgehobensein in einer Gruppe. Zudem würden qualitativ höherwertige Lernziele in den Gruppen erreicht. Eine Schwierigkeit scheint allerdings darin zu bestehen, dieses hohe Potenzial kooperativer Lernformen in der Unterrichtspraxis tatsächlich auch abzurufen. Aktuelle Übersichtsarbeiten zum kooperativen Lernen bei Schülern mit Lernschwierigkeiten zeigen, dass nur in etwa der Hälfte aller Studien überlegene Lernzuwächse zu verzeichnen sind (Jenkins & O’Connor, 2003; McMaster & Fuchs, 2002). Ein Grund hierfür kann sein, dass nicht alle Schüler motiviert sind, in einer Lerngruppe zusammen zu arbeiten (Neber, 1998). Zudem stellt sich die Frage, ob lernschwache Schüler über die kommunikativen und tutoriellen Kompetenzen verfügen, die für eine produktive Gruppenarbeit nötig sind (Webb & Palincsar, 1996). So weisen die Lehrer in der Befragung von Jenkins et al. (2003) darauf hin, dass es nicht bei allen Schülern gelang, sie in die gemeinsamen Lernprozesse zu integrieren. Auch Grüning und Wachtel (1993) berichten aus einer Untersuchung mit lernbehinderten Drittklässlern, dass sich nur etwa die Hälfte der Schüler in der Planungsphase einer Gruppenarbeit äußerten. Woran liegt es, dass eine so große Diskrepanz zwischen der Begeisterung mancher Wissenschaftler („Research on cooperative learning is one of the greatest success stories in the history of educational research.“ Slavin, Hurley & Chamberlain, 2003, S. 177) und den Erfahrungen aus der Praxis besteht? Wahrscheinlich ist ein zentraler Fehler der gleiche, der auch der Einleitung dieses Kapitels zugrunde liegt: Es ist noch gar nicht geklärt, was unter kooperativem Lernen überhaupt verstanden wird. „I do group work“ (Antil, Jenkins, Wayne & Vadasy, 1998, S. 432) ist die schlichte Formel, mit der die meisten Lehrer in einer Befragung ihr Konzept von kooperativem Lernen beschreiben. Wie diese Partner- oder Gruppenarbeit strukturiert wird, welche Instruktionen erforderlich sind und welche Funktionen das gemeinsame Lernen überhaupt haben soll, wird aber nur selten reflektiert.
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 453
In diesem Kapitel soll zunächst dargestellt werden, was kooperatives Lernen ist und welche Bedingungen für eine produktive Arbeit in Kleingruppen gegeben sein müssen. Anschließend werden einige Methoden vorgestellt, in denen – mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – solche Prinzipien kooperativen Lernens umgesetzt werden. 23.7.1 Was ist kooperatives Lernen? Von kooperativem Lernen spricht man, wenn Lerner sich gegenseitig unterstützen, um gemeinsame Lernziele zu erreichen. Dabei ist es wichtig, dass jeder Einzelne seinen Beitrag zum Gesamtergebnis der Gruppe leistet (Cohen, 1994; Johnson & Johnson, 1994; Slavin, 1995). Die Schüler müssen also zusammen arbeiten um eine Anforderung zu bewältigen und das Gruppenergebnis setzt sich aus erkennbaren individuellen Beiträgen zusammen. Wenn bei der Partner- oder Gruppenarbeit die Rollen des Lehrers und des Schülers festgelegt sind, spricht man von tutoriellen Lernformen (Renkl, 1998). Diese Differenzierung wird in mehreren Übersichtsarbeiten (z. B. Rohrbeck, Ginsburg-Block, Fantuzzo & Miller, 2003; Webb & Palincsar, 1996) allerdings wieder unter dem Label des „peer-assisted-learning“ aufgehoben. Auch in diesem Kapitel sollen daher neben kooperativem Lernen im Sinne der oben genannten Definition weitere Formen „gemeinsamen Lernens“ behandelt werden. Wie vielfältig kooperative Lernformen sind, soll anhand von sieben kurzen Beispielen illustriert werden (vgl. Abbildung 3): 1. Nach einer Einführung durch den Lehrer in das Thema „Energieversorgung“ wird überlegt, welche Teilgebiete von den Schülern in Kleingruppen bearbeitet werden. Die Schüler ordnen sich diesen Gruppen zu und verteilen auch hier die Arbeit und Verantwortlichkeiten untereinander. Jede Kleingruppe soll zu ihrem Teilgebiet eine Präsentation für die anderen Gruppen vorbereiten. Zudem sollen ausgewählte Texte und Bilder in einer kleinen Mappe zusammengestellt werden. 2. Für ein Schulfest soll die Klasse mit selbstgestalteten Postern dekoriert werden. Zu unterschiedlichen Themen (Urlaub, Musik, Fußball) werden von Kleingruppen Collagen erstellt. 3. Zur „Massenträgheit“ bereitet der Lehrer Materialien für mehrere Kleingruppen vor, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas beschäftigen. Die Gruppen führen Versuche durch, besprechen die Ergebnisse und fassen sie zusammen. Anschließend werden die Schüler so aufgeteilt, dass in den neu gebildeten Gruppen Schüler aus allen ursprünglichen Kleingruppen sind. Die Schüler vermitteln sich nun gegenseitig – jeweils als „Experten“ für ihr Teilgebiet – den gesamten Lernstoff. 4. Im Mathematikunterricht wurden geometrische Körper besprochen und vor einem Abschlusstest werden Gruppen gebildet, die gemeinsam den Lernstoff wiederholen sollen. Damit die Schüler darauf achten, dass jedes Gruppenmitglied gut auf den Test vorbereitet ist, wird eine Bewertung der Gruppenleistung vorgenommen. 5. Im Deutschunterricht soll ein Text bearbeitet werden. Nach jedem Abschnitt hat ein Schüler einer Dyade die Aufgabe, den Inhalt zusammenzufassen. Aufgabe des Partners ist es, Fragen zu unklaren Punkten zu stellen. Anschließend besprechen beide gemeinsam die wichtigsten Punkte des Inhalts. Beim nächsten Abschnitt werden die Rollen getauscht.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 6. Beim Rechnen wird die Addition mit Zehnerübergang behandelt. Ein Schüler mit großen Verständnisschwierigkeiten bearbeitet währenddessen gemeinsam mit einem leistungsstärkeren Schüler noch einmal Übungen zur Zerlegung von Summanden. 7. Schüler tauschen ihre Diktate aus und korrigieren sie in Partnerarbeit gegenseitig. Sie geben sich eine Rückmeldung und besprechen ihre Fehler gemeinsam. Natürlich können diese Beispiele nur einen ersten Eindruck von den vielfältigen Organisationsformen gemeinsamen Lernens geben. Es handelt sich um ausgewählte Beispiele, die diese große Bandbreite illustrieren sollen. Eine erste Ordnung der Beispiele wird in Abbildung 3 anhand der Oberflächenmerkmale Gruppengröße und Art der Aufgabenstellung vorgenommen. Während bei der Projektarbeit typischerweise eine umfassende Thematik so bearbeitet wird, dass große Spielräume für Entscheidungen mit hohen Anforderungen an das selbstständige Arbeiten durch die Schüler gegeben sind, stellt die gegenseitige Kontrolle von Lernleistungen eine eng umgrenzte Aufgabe mit minimalen Anforderungen an die sozialen Kompetenzen dar. In ähnlich klarer Weise strukturieren Lernskripts, welche Rollen die Schüler übernehmen und in welcher Weise eine Aufgabe zu bearbeiten ist. Die Aufgabenkomplexität ist hier allerdings wesentlich höher. Wenn hingegen kreative Lösungen gefragt sind, liegt eine zentrale Anforderung an die Gruppe darin, Ideen und Potenziale aller einzelnen Mitglieder abzurufen und zu nutzen. Solche Anforderungen setzen mithin ein hohes Maß sozialer Kompetenzen voraus. Geht man von der Vielfalt kooperativer Lernformen aus, wird deutlich, dass unter dem Dach „kooperativer Lernarrangements“ sehr unterschiedliche Lernformen mit breit gefächerten Zielsetzungen zusammengefasst werden. Mit unterschiedlicher Gewichtung
Gruppengröße
Aufgabenstellung
Beispiele 1) Projektarbeit
Erarbeiten Gruppenarbeit Üben
2) kreatives Gruppenprodukt
kognitiv
sozial
5) Lernskript
Partnerarbeit Üben
(die in je unterschiedlichem Maße realisiert werden)
3) vom Lehrer strukturiert 4) Gruppenarbeit mit Belohnung
Erarbeiten
Zielsetzungen
6) Tutoring
affektiv/ motivational
7) Kontrolle
Abbildung 3:
Sieben (ausgewählte) Beispiele zur Organisation kooperativen Lernens
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werden kognitive, soziale und affektiv-motivationale Lernziele verfolgt. Für jede einzelne Lernform wäre nun zu fragen, in welcher Weise sie instruiert werden soll, damit die intendierten Ziele erreicht werden können und die im ersten Abschnitt genannten Schwierigkeiten nicht auftreten. Ökonomischer ist es jedoch, auf einer abstrakteren Ebene nach Prinzipien kooperativen Lernens und den Bedingungen produktiver Gruppenarbeit zu fragen. An den entsprechenden Stellen werden Verweise auf die sieben Beispiele vorgenommen. 23.7.2 Bedingungen produktiver Partner- und Gruppenarbeit Gillies und Ashman (2000) haben untersucht, welche Effekte eine Strukturierung der Lernaktivitäten hat. Sie fanden, dass lernschwache Kinder besser miteinander kooperierten, sich mehr Hilfestellungen gaben und in höherem Maße aufgabenbezogen argumentierten, wenn ihnen zuvor Hinweise zur Strukturierung der Gruppenarbeit gegeben worden waren. Den Kindern wurde beigebracht, eine Aufgabenstellung in kleine Einheiten zu unterteilen, für deren Bearbeitung dann einzelne Schüler die Verantwortung übernahmen und es wurden Verhaltensweisen wie Zuhören, Nachfragen und Feedback geben eingeübt, um die Interaktion in den Kleingruppen zu verbessern. Im Vergleich mit Schülern, die ohne solche Strukturierungshinweise in Kleingruppen arbeiteten, zeigte sich, dass der konstruktivere Ablauf der Gruppenarbeiten zu besseren Verstehensleistungen führte. Die Untersuchung von Gillies und Ashman (2000) ist in zweierlei Hinsicht illustrativ. Zunächst zeigt sie, dass Gruppenarbeit erst dann zu positiven Effekten führt, wenn gezielte Strukturierungshinweise gegeben werden. Darüber hinaus weist sie auf genau die drei Bereiche hin, in denen solche Strukturierungen vorgenommen werden sollten und auf die im Folgenden ausführlicher eingegangen wird: a) Die Schüler müssen Hilfestellungen zur Gestaltung der Interaktion bekommen, b) durch die Unterteilung der Aufgabe sind die Schüler aufeinander angewiesen und c) jeder einzelne Schüler übernimmt Verantwortung für seinen Teil. Häufig wird angenommen, durch Gruppenarbeit würden die sozialen Kompetenzen von Kindern verbessert. Diese Argumentation sollte jedoch in folgender Weise auf den Kopf gestellt werden: Die Zusammenarbeit unter Schülern funktioniert nur dann, wenn ihnen explizite Anleitungen zum gemeinsamen Lernen gegeben werden (Cohen, 1994; Johnson & Johnson, 1994; Webb & Palincsar, 1996). Wie eine solche Unterstützung aussehen kann, soll an zwei Beispielen illustriert werden. Zur Unterstützung der Kooperation bei Gruppenaktivitäten, wie dem Erstellen von Postern (vgl. Beispiel 2) und dem Einüben kurzer Sketche, wurden in einer Untersuchung von Piercy, Wilton und Townsend (2002) folgende Hilfestellungen gegeben: Die Lehrerin begann die Stunde mit dem Hinweis, dass in jeder Gruppe Kinder sind, die unterschiedliche Fähigkeiten haben, und dass die Gruppe von jedem Einzelnen profitieren kann. Anschließend wies sie auf Prinzipien kooperativen Arbeitens hin, wie zusammen arbeiten, miteinander teilen, gegenseitig helfen, freundlich miteinander sprechen, prüfen, dass die anderen einen verstehen und prüfen, dass die anderen mit eigenen Vorschlägen einverstanden sind. Am Ende des Unterrichts folgte eine gemeinsame Diskussion der Aktivitäten, bei der sowohl die Zusammenarbeit
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| Teil VI: Schule und Unterricht als auch die Gruppenprodukte (lobend) besprochen wurden. Bei dieser Studie arbeiteten Regelschüler mit sehr intelligenzschwachen Schülern (IQ 20-50) zusammen und in der Folge der kooperativen Aktivitäten war ein deutlich höheres Maß an sozialer Akzeptanz festzustellen. In einer Untersuchung von Smith, Johnson und Johnson (1981) lag das Ziel darin, die Schüler dadurch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten zu bringen, dass sie kontroverse Positionen zu einem Konsens führen sollten („cooperative controversy“). Um diesen Prozess zu unterstützen, wurden den Schülern sieben Regeln vorgegeben: 1. Ich kritisiere Ideen, nicht die Personen, 2. Ich denke daran, dass wir alle zusammen arbeiten, 3. Ich ermutige jeden, sich zu beteiligen, 4. Ich lasse jeden ausreden, auch wenn ich nicht seiner Meinung bin, 5. Ich nehme ein Thema wieder auf, wenn es noch nicht klar ist, 6. Ich versuche, beide Seiten der Medaille zu verstehen, 7. Zuerst werden alle Ideen geäußert, danach fassen wir sie erst zusammen. Diese Anleitung zu konstruktivem Umgang mit kontroversen Standpunkten führte zu deutlich besseren Verstehensleistungen. Johnson und Johnson (1994) weisen darauf hin, dass solche Tisch- oder Gruppenregeln gemeinsam erarbeitet, schriftlich festgehalten und eingeübt werden sollten. Zur Vermeidung von allzu großer Unruhe („A cooperative classroom should sound like a beehive, not a sports event“, Slavin, 1995, S. 142) sollten Ruhezeichen („zero-noise-signals“) verabredet sein und diszipliniert arbeitende Gruppen können besonders belohnt werden. Zusammenfassend (vgl. Tabelle 3) nennen Johnson Tabelle 3: Fünf Merkmale kooperativen Lernens (nach Johnson & Johnson, 1994), gegliedert nach Möglichkeiten zur Unterstützung des kooperativen Arbeitens und Bedingungen kooperativen Lernens Ebenen
Möglichkeiten zur Unterstützung des kooperativen Arbeitens
Bedingungen kooperativen Lernens
Merkmale
Ansatzpunkte
Gegenseitige Hilfe
Gruppenklima, Vertrauen
Individuelle Fertigkeiten und Gruppenfertigkeiten
Kommunikative Fertigkeiten Kontroverse und Konsens
Gruppenreflexion
Metaebene: Welche Verhaltensweisen sind hilfreich?
Positive Interdependenz
Strukturierungsmöglichkeiten: – Aufgaben und Ressourcen – Rollen Gemeinsames Ziel: – Lernerfolg – Belohnung
Individuelle Verantwortlichkeit
– für die Aufgabe – für die Belohnung
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und Johnson (1994) vor allem drei Bereiche, die bei der Vorbereitung und Unterstützung kooperativen Arbeitens zu beachten sind: a) Es sollte ein Klima gegenseitiger Hilfsbereitschaft und vertrauensvoller Zusammenarbeit geschaffen werden (gegenseitige Hilfe). b) Es sollten Hinweise darauf gegeben werden, wie Kommunikationsprozesse zu gestalten sind, z. B. Zuhören, Ausreden lassen u. a. (individuelle Fertigkeiten und Gruppenfertigkeiten). c) Gemeinsam mit den Schülern sollte überlegt werden, welche Arbeitsweisen in der Gruppe besonders erfolgversprechend sind (Gruppenreflexion). Solche Maßnahmen zur Unterstützung des gemeinsamen Lernens sind notwendige Voraussetzungen für eine produktive Zusammenarbeit. Als wesentliches Merkmal kooperativen Lernens gilt jedoch die gegenseitige Abhängigkeit – die „positive Interdependenz“. Die gegenseitige Abhängigkeit der Schüler einer Lerngruppe bedingt, dass tatsächlich gemeinsam gearbeitet wird. Eine Möglichkeit positive Interdependenz herzustellen liegt darin, die Aufgabenstellung so zu unterteilen, dass alle Gruppenmitglieder unterschiedliche Teilfragestellungen bearbeiten, die dann zu einem Gesamtprodukt zusammengesetzt werden müssen. Dies kann in Form von Projektarbeit (vgl. Beispiel 1) oder in einer enger durch den Lehrer strukturierten Form (vgl. Beispiel 3) organisiert werden. Entsprechend weist Cohen (1994) darauf hin, dass es nicht sinnvoll ist, Gruppen Routinetätigkeiten oder Aufgaben mit vorgegebenen Lösungsschemata zu geben. Erst wenn die einzelnen Schüler unterschiedliche Facetten einer Problemstellung bearbeiten und beisteuern können, kann gegenseitige Abhängigkeit entstehen. Auch Johnson und Johnson (1994) weisen darauf hin, dass Gruppenaufgaben ein Mindestmaß an Komplexität aufweisen sollten: Cooperation is appropriate for any instructional task. The more conceptual the task, the more problem solving and decision making required, and the more creative answers need to be, the greater the superiority of cooperative over competitive and individualistic learning. (S. 101) Strukturieren lässt sich die Aufgabenbearbeitung, indem gegliederte Arbeits- und Hilfsmaterialien zur Verfügung gestellt werden und jeder einzelne Schüler nur einen Teil der Informationen zur Verfügung bekommt (Aufgaben- und Ressourceninterdependenz). Gegenseitige Abhängigkeit kann auch dadurch realisiert werden, dass den Lernpartnern unterschiedliche Rollen zugewiesen werden (vgl. Beispiel 5). Bei der Aufteilung des Lernmaterials und der Zuweisung von Rollen sollte den Schülern bewusst gemacht werden, dass diese Spezialisierungen es ihnen auf der einen Seite erleichtern, eine Aufgabe zu lösen, auf der anderen Seite aber auch dazu führen, dass sie nur gemeinsam ein Lernziel erreichen können (Lernzielinterdependenz). Gegenseitige Abhängigkeit entsteht zudem, wenn das Gruppenprodukt bewertet wird oder wenn Tests über den Lernstoff durchgeführt werden. Den Schülern sollte dabei klar sein, dass sie Belohnungen in Form von positiven Bewertungen oder Noten nur dann erwarten können, wenn sie gut zusammen arbeiten (z. B. „Das Ziel ist, beim heutigen Test mehr Punkte zu erzielen als beim letzten Test. Achtet darauf, dass jedes Gruppenmitglied so gut vorbereitet ist, dass es besser abschneidet als vergangene Woche. Dann wird die Gesamtgruppe ausgezeichnet.“ – Belohnungsinterdependenz). In Tabelle 3 ist noch einmal zusammengefasst, dass positive
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| Teil VI: Schule und Unterricht Interdependenz im Hinblick auf ein Ziel (Lernerfolg und Belohnung) und durch Strukturierungsmaßnahmen (Aufgaben, Ressourcen und Rollen) hergestellt werden kann. Über diese gegenseitige Abhängigkeit hinaus muss eine weitere Bedingung erfüllt sein, damit tatsächlich alle Gruppenmitglieder aktiv werden. Jeder Einzelne muss dafür Verantwortung übernehmen, dass er einen individuellen Beitrag zum Gruppenergebnis beisteuert. Damit einzelne als „Trittbrettfahrer“ nicht die anderen für sich arbeiten lassen, ist es nötig, dass die individuellen Beiträge zum Gruppenergebnis erkennbar bleiben. Indem jedem Gruppenmitglied zurückgemeldet wird, welchen Anteil es an der Aufgabenlösung hatte, bleibt die individuelle Verantwortung aller Schüler an dem Gruppenprodukt transparent (vgl. Beispiel 3). Ein zweiter Weg, die individuelle Verantwortlichkeit zum Ausdruck zu bringen, besteht darin, die Belohnung (bzw. Bewertung) der Gruppe anhand von Einzelbeiträgen der Gruppenmitglieder vorzunehmen (vgl. Beispiel 4). 23.7.3 Folgerungen für die Arbeit mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern Dass die Umsetzung der in Tabelle 3 genannten Merkmale kooperativen Lernens eine anspruchsvolle Herausforderung in der Arbeit mit lernbehinderten Schülern darstellt, hat zwei Ursachen: Erstens sollten vergleichsweise komplexe Aufgaben bearbeitet werden, damit individuelle Verantwortlichkeit und gegenseitige Abhängigkeit überhaupt realisiert werden können (Cohen, 1994). Hier stellt sich die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen lernbehinderter Kinder. Wie weit geht ihre Kompetenz, sich gegenseitig etwas zu erklären, wie gut können sie alternative Lösungswege eines uneindeutigen Problems diskutieren und wie hoch ist ihre Kompetenz, Gruppenprozesse zu leiten? Es ist unrealistisch anzunehmen, lernbehinderte Schüler könnten selbstständig die Bearbeitung mehrschrittiger Aufgabenstellungen planen und kontrollieren (Souvignier, 2003). So wählten Grüning und Wachtel (1993), die deutliche Defizite hinsichtlich der kommunikativen Fähigkeiten und beim Planungsverhalten sowie der Kontrolle von Lernresultaten bei lernbehinderten Drittklässlern feststellten, (konzeptuell einfachere) Aufgaben aus dem Übungs- und Anwendungsbereich im Mathematikunterricht, die in Partnerarbeit zu lösen waren (vgl. Beispiel 7). Eine andere Möglichkeit diesen Konflikt zwischen möglichst komplexen Aufgabenstellungen und den Kompetenzen lernbehinderter Schüler zur selbstständigen Arbeit aufzulösen besteht darin, dass die Gliederung des Lernstoffs sowie die Planung und die Überwachung von Arbeitsschritten durch den Lehrer vorgenommen wird (vgl. Beispiel 3). Zum Zweiten gilt die Heterogenität von Lerngruppen als ein zentrales Merkmal kooperativen Lernens, da nur so eine große Vielfalt unterschiedlicher Fähigkeiten und Eigenschaften eingebracht werden könne (Cohen, 1994; Johnson & Johnson, 1994; Slavin, 1995). Angesichts des insgesamt niedrigen Niveaus intellektueller Kompetenzen bei lernbehinderten Schülern stellt sich die Frage, wie Lernprozesse initiiert werden sollen, bei denen die Gruppenmitglieder gegenseitig voneinander profitieren. So zeigen vorliegende Befunde, dass leistungsschwache Schüler zwar in hohem Maße davon profitieren, wenn sie mit besseren Schülern in leistungsheterogenen Gruppen zusammen arbeiten. Deutlich niedriger fallen die Lernzuwächse aus, wenn lernschwache Schüler untereinander kooperieren (McMaster & Fuchs, 2002; Webb
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& Palincsar, 1996). Erklärungsansätze zu diesem Befundmuster sind, dass gute Schüler die schwächeren Schüler zu Verständnisleistungen führen, die diese alleine nicht erreicht hätten, dass entsprechend bei Gruppen lernschwacher Schüler die kognitiven und motivationalen „Zugpferde“ fehlen, und dass wenigstens ein Schüler in einer Kleingruppe über tutorielle Fähigkeiten verfügen muss, damit eine aufgabenorientierte Interaktion gesichert ist (Neber, 1998). Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass die Unterrichtsbedingungen an deutschen Schulen für Lernbehinderte sich deutlich von vielen international praktizierten Integrationsansätzen unterscheiden (für einen Überblick s. Schröder, 2000). Während beispielsweise im angloamerikanischen Sprachraum lernschwache Schüler in aller Regel gemeinsam mit normalbegabten Schülern unterrichtet werden, die zu tutoriellem Verhalten in der Lage sind, müssen lernbehinderte Schüler in Deutschland die Organisation von Gruppenprozessen unter sich realisieren. Entsprechend dominiert in der internationalen Literatur die übergeordnete Fragestellung, ob kooperatives Lernen zu einer Verbesserung der Integration lernschwacher Schüler beiträgt. Eine Differenzierung wird dabei insofern vorgenommen, als für Schüler mit „learning disabilities“ untersucht wird, ob sie im Hinblick auf ihre Lernleistungen von der Zusammenarbeit mit ihren Mitschüler profitieren (McMaster & Fuchs, 2002), während bei Schülern mit „intellectual disabilities“ primär von Interesse ist, ob soziale Akzeptanz und Verhaltensprobleme durch kooperative Lernformen verbessert werden können (Margolis & Freund, 1991; Piercy, Wilton & Townsend, 2003). Da es allerdings nur vereinzelte empirische Untersuchungen zum kooperativen Lernen bei lernbehinderten Schülern aus Deutschland gibt (z. B. Grüning & Wachtel, 1993; Souvignier, 1999), erscheint es sinnvoll, Hinweise zum kooperativen Lernen bei Schülern mit Lernschwierigkeiten vor allem aus der umfangreichen empirischen Befundlage internationaler Studien abzuleiten. Zu beachten ist dabei jedoch, dass eine häufig formulierte Prämisse kooperativen Lernens – die selbstständige Bearbeitung komplexer Aufgaben in leistungsheterogenen Gruppen – in deutschen Schulen für Lernbehinderte kaum einzulösen ist. In integrativ beschulten Klassen sind diese Voraussetzungen allerdings gegeben. 23.7.4 Kooperative Unterrichtsmethoden Seit Beginn der 1970er Jahre sind in mehreren Arbeitsgruppen – vorwiegend in den USA und in Israel – Unterrichtsmethoden entwickelt worden, in denen die im vorangegangenen Abschnitt genannten Bedingungen produktiver Partner- und Gruppenarbeit umgesetzt werden. Einen Überblick über klassische Ansätze wie „Group Investigation“, „Learning Together“, „Jigsaw“ oder „Student-Teams-Achievement-Divisions“ geben Johnson und Johnson (1994) sowie Slavin (1995). Schwerpunkte dieser Ansätze liegen darauf, die Gruppenprozesse zu strukturieren und die Schüler zur Zusammenarbeit zu motivieren. Aktuelle Übersichtsarbeiten zum kooperativen Lernen zeigen jedoch, dass solche Programme häufig in überarbeiteter Form oder in Kombination mit anderen Instruktionsmethoden eingesetzt werden (McMaster & Fuchs, 2002; Rohrbeck, Ginsburg-Block, Fantuzzo & Miller, 2003). Seit Mitte der 1980er Jahre wird dabei vermehrt auf Programme gesetzt, bei denen die Schüler angeleitet werden, kognitive und metakognitive Strategien
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| Teil VI: Schule und Unterricht in Kleingruppen einzusetzen. Da ein spezifisches Defizit lernbehinderter Schüler darin liegt, dass sie ihre Lernprozesse nur unzureichend planen und überwachen, erscheint die Kombination aus Strategietraining und Kooperation besonders aussichtsreich (vgl. Souvignier, 2003). Als Argument für die Anwendung kognitiver Strategien in Kleingruppen führen Gersten, Baker und Pugach (2001) an, dass Lernstrategien und hilfreiche Arbeitsroutinen von lernschwachen Kindern nur dann gelernt werden, wenn sie solche Arbeitsweisen ausgiebig mit der Methode des lauten Denkens einüben. Kleingruppen bieten einen Rahmen, in dem ein solcher intensiver Austausch – „thinking aloud and together“ – stattfinden kann. Entscheidend für den Erfolg solcher Ansätze ist es allerdings, den Einsatz kognitiver Strategien klar vorzugeben und zu strukturieren. In diesem Abschnitt soll zunächst eine der klassischen Methoden vorgestellt werden, bevor etwas ausführlicher die kombinierten Ansätze beschrieben werden. Anschließend wird kurz auf tutorielle Lernformen eingegangen und darauf hingewiesen, dass kooperative Methoden auch zu einem Bestandteil der Schulorganisation gemacht werden können. Eine Zusammenfassung charakteristischer Merkmale dieser Methoden wird in Tabelle 4 vorgenommen. Tabelle 4: Unterschiedliche kooperative Unterrichtsmethoden und deren charakteristische Merkmale Methode
Charakteristische Merkmale
„klassische“ kooperative Unterrichtsmethoden
Zentrale Merkmale bei der Strukturierung von Gruppenprozessen sind „positive Interdependenz“ und „individuelle Verantwortlichkeit“
Vermittlung kognitiver Strategien in kooperativen Settings
Partner– und Gruppenarbeit als „Mittel zum Zweck“: Die Förderung strategischer Lernaktivitäten gewinnt durch die Interaktion der Schüler an Effizienz
Tutorielle Lernformen
Leistungsfähigere Schüler übernehmen die Lehrerrolle. Nur sinnvoll, wenn Schüler über „tutorielle Kompetenzen“ verfügen
Ein Beispiel für eine kooperative Unterrichtsmethode, bei der die Prinzipien der positiven Interdependenz und der individuellen Verantwortlichkeit besonders anschaulich umgesetzt sind, ist die Gruppenpuzzle-Methode (Jigsaw) (Aronson, Blaney, Stephan, Sikes & Snapp, 1978; vgl. auch Beispiel 3 in Abbildung 3). Dabei wird die Klasse zunächst in sogenannte Stammgruppen aufgeteilt. Die Schüler einer Stammgruppe verteilen sich nun auf unterschiedliche Gruppen, in denen sie sich jeweils ein Teilgebiet des Lernstoffs gemeinsam erarbeiten – die sogenannten Expertengruppen. Die Vorbereitung der Teilthemen erfolgt durch den Lehrer. Nach dieser Phase des Unterrichts kommen die Schüler wieder in ihren Stammgruppen zusammen. Ihre Aufgabe besteht nun darin, sich gegenseitig die Informationen aus allen Teilgebieten zu vermitteln. Positive Interdependenz ist dadurch gegeben, dass die Schüler einer Stammgruppe voneinander abhängig sind, um einen vollständigen Überblick über den behandelten Lernstoff zu bekommen. Dabei trägt jeder einzelne Schüler die Verantwortung dafür, die Inhalte aus seinem Expertenthema so weiter zu geben, dass alle anderen Gruppenmitglieder sie verstehen. Entsprechend gut müssen sich die Schüler in den Expertengruppen vorbereitet haben. Dazu ist es hilfreich, sowohl
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für die Arbeit in den Expertengruppen als auch für den anschließenden Austausch in den Stammgruppen Lernziele vorzugeben, an denen sich die Schüler orientieren sollen. In einer Untersuchung mit 15-jährigen lernbehinderten und erziehungsschwierigen Schülern wurden vier Doppelstunden zum Thema Verhaltensbeobachtung bei Tieren durchgeführt (Souvignier, 1999). Anhand strukturierender Arbeitsblätter und mit Hilfe von Tierbüchern erarbeitete sich jede Expertengruppe zunächst Informationen zu einem bestimmten Tier und fasste diese in Form eines „Steckbriefs“ zusammen. In den Stammgruppen stellte anschließend jeder Schüler anhand dieses Steckbriefs sein Tier vor. Die Diskussion unter den Schülern wurde dabei durch Leitfragen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Tieren angeregt. Um zu sichern, dass tatsächlich jeder Schüler alle Informationen aufnahm, wurden wiederum Arbeitsblätter vorbereitet. Da die Schüler sich den Lernstoff eigenständig in Kleingruppen erarbeiten und anschließend im Wechsel zwischen Lehrerund Schülerrolle gegenseitig vermitteln müssen, sind die kommunikativen und tutoriellen Anforderungen an die Schüler recht hoch. Durch die Auswahl des Lernmaterials und durch strukturierende Hilfestellungen kann den Schülern zwar so viel Unterstützung gegeben werden, dass die Methode bei älteren lernbehinderten Schülern sinnvoll einsetzbar ist. Es zeigte sich jedoch, dass die Lernleistungen der kooperativ unterrichteten Schüler sich nicht von denen vorwiegend direkt instruierter Schüler unterschied. Vorteile waren hingegen bei der gegenseitigen Unterstützung und dem Ausmaß aktiver Auseinandersetzung mit dem Lernstoff festzustellen (Souvignier, 1999). In dieser Studie wurde darauf verzichtet, die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Schülern einer Stammgruppe dadurch zu betonen, dass sie eine Belohnung erhalten, wenn alle Gruppenmitglieder eine gute Lernleistungen erzielen. Analysen von Slavin (1995; Slavin, Hurley & Chamberlain, 2003) weisen jedoch darauf hin, dass solche Belohnungen die Schüler in hohem Maße motivieren können, auf den Lernerfolg aller Gruppenmitglieder zu achten. Eine zweite Gruppe kooperativer Unterrichtsmethoden sind Ansätze, bei denen Partner- oder Gruppenarbeit und die Anleitung zum Einsatz kognitiver Strategien kombiniert werden. Diese zeichnen sich häufig durch sehr klare Vorgaben zur Gestaltung des Lernprozesses aus. Aufgrund dieser starken Schematisierung, die lernbehinderten Schülern in aller Regel sehr entgegenkommt, spricht man auch von „Lernskripts“. So werden beispielsweise bei dem ursprünglich als Individualtraining konzipierten Reciprocal Teaching von Palincsar und Brown (1984) vier strategische Aktivitäten zur Verbesserung des Textverstehens vermittelt, nämlich das Zusammenfassen wesentlicher Inhalte, das Formulieren verstehensbezogener Fragen an den Text, die Vorhersage weiterer Textinhalte und das Klären von Mehrdeutigkeiten. Bei einer Vielzahl von Evaluationsstudien zur Wirksamkeit dieses Programms hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, wenn Schüler den Strategieeinsatz in Kleingruppen mit verteilten Lehrer- und Schülerrollen einüben. Nachdem die Schüler einen Abschnitt leise für sich durchgelesen haben, übernimmt ein Schüler die Lehrerrolle und stellt eine Frage zum Inhalt oder formuliert eine Vermutung zum weiteren Verlauf des Textes. Die anderen Schüler versuchen die Frage zu beantworten oder geben an, welche Fortsetzung des Textes sie erwarten. Der (Klassen-)Lehrer gibt Hilfestellungen und Anregungen zur Anwendung der Strategien. Es ist wichtig, die Schüler über Sinn und Nutzen der Strategien zu informieren. Wenn keine Begründung für den Strategieeinsatz gegeben wird, kann es leicht passieren, dass die explizite Planung und Verbalisierung der Lernschritte von den Schülern als ungewohnt, künstlich oder zu aufwändig abgelehnt wird.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wie beim Reciprocal Teaching wechseln die Schüler bei dem von Englert und Mariage (1991) entwickelten Programm POSSE zwischen Lehrer- und Schülerrolle und lernen, selbstständig ein vorgegebenes Strategierepertoire auf einen Text anzuwenden. Die fünf Schritte zur Unterstützung des Verstehensprozesses sind hier: (a) Vorhersagen über die Textinhalte machen (predicting), (b) Ordnen dieser Vermutungen (organizing), (c) Erkennen der Textstruktur (searching), (d) Zusammenfassen wichtiger Inhalte (summarizing) und (e) Überprüfen des Verstehens (evaluating). Kooperation bzw. der Wechsel zwischen Lehrer- und Schülerrolle ist bei diesen Methoden eher Mittel zum Zweck. Das Unterrichtsziel liegt eigentlich darin, Schüler zum selbstständigen Einsatz von Lernstrategien anzuleiten. Damit Schüler lernen eigenständig zu entscheiden, wie sie einen Text bearbeiten sollen, brauchen sie Übungsmöglichkeiten. Partnerarbeit bietet einen Rahmen, in dem ein hohes Maß an Eigenaktivität verbunden mit einem unmittelbaren Feedback realisiert ist. Die Vorgabe von Arbeitsschritten strukturiert den Lernprozess und gibt Sicherheit, was eine Internalisierung der Strategien erleichtert (vgl. Beispiel 5 aus Abbildung 3). Bei den genannten Methoden entsteht positive Interdependenz durch die wechselseitig eingenommenen Rollen. Theoretische Unterstützung erfahren diese Methoden durch die Annahmen von Vygotskij (1978). Er geht davon aus, dass die Verbalisierung der Planung und Regulation des Lernens mindestens so wichtig ist wie die konkrete Handlung. Entsprechend sieht er den sozialen Austausch als Voraussetzung für Lernprozesse an. So stellen Lernpartner sich gegenseitig Anleitungen zum Lernen und Ideen zum Verständnis von Lerninhalten zur Verfügung, können über diese verhandeln und internalisieren sie schließlich. Im Austausch von Denkprozessen ermöglichen die Schüler es sich gegenseitig, Entwicklungsschritte zu vollziehen, die sie aus eigener Kraft noch nicht hätten bewältigen können (Vygotskij spricht von der „Zone der nächsten Entwicklung“). Das Prinzip, Schülern Strategieeinsatz und lautes Denken durch Partner- und Gruppenarbeit zu erleichtern, wenden Englert, Raphael, Anderson, Anthony und Stevens (1991) auch in einem Programm zum Schreiben von Texten an. Hier werden die Schüler angeleitet, systematisch die fünf Schritte Planen, Ordnen der Information, Schreiben, Korrigieren und Überarbeiten einzuhalten. Austausch zwischen den Schülern findet in „Schreibwerkstätten“ statt, in denen Ideen für einen Text und erste Entwürfe diskutiert werden. In der Rolle des Autors realisieren die Schüler häufig erst, dass Texte für Leser geschrieben werden und die Rückmeldungen der Mitschüler verdeutlichen, welche Bedürfnisse die Leser haben. In der Rolle des Lesers lernen die Schüler, mit anderen über Inhalt, Form und den Aufbau von Texten zu kommunizieren. Insgesamt hat sich gezeigt, dass Ansätze, bei denen die Vermittlung kognitiver Strategien mit kooperativen Arbeitsformen kombiniert wird, besonders effektiv sind (s. auch Swanson, 1999; Vaughn, Gersten & Chard, 2000). Eine weitere Möglichkeit, Partnerarbeit zu organisieren, sind tutorielle Lernformen. Leistungsfähigere (auch ältere) Schüler übernehmen hier die Lehrerrolle und erklären einem Mitschüler etwas (vgl. Beispiel 6 aus Abbildung 3). Solche Lernarrangements können für beide Seiten von Nutzen sein. Häufig profitieren die Tutoren selbst von der Rolle des Erklärers, da sie die Lerninhalte verdeutlichen und umstrukturieren müssen, um sie einem anderen verständlich zu machen. Leistungsschwächere Schüler können Nutzen aus der intensiven Eins-zu-Eins Lernsituation und den Erklärungen eines Mitschülers ziehen, der von der Wortwahl vielleicht besser ihre „Wellenlänge“ trifft als der Lehrer. Webb und Palincsar (1996; vgl. auch Renkl, 1998) weisen jedoch darauf hin,
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dass tutorielle Lernformen nur dann zu besseren Lernleistungen führen, wenn elaborierte Erklärungen gegeben werden. Ausführliche schrittweise Erklärungen, wie ein Problem zu lösen ist, sind eine Voraussetzung für ein höheres Verständnis – sowohl auf Seiten des Tutors als auch seines „Schülers“. Tutoren, die nur die Lösung ohne Erklärungen zum Lösungsweg vermitteln, bewirken keinen Fortschritt. In einer Analyse unterschiedlicher Partnerkonstellationen fanden Vaughn, Gersten und Chard (2000), dass Kinder mit Lernschwierigkeiten (learning disabled) von leistungsfähigeren Tutoren profitieren, während keine Effekte festzustellen waren, wenn die lernschwachen Schüler die Lehrerrolle einnahmen. Offensichtlich sind lernbehinderte Schüler ohne Unterstützung nur sehr bedingt dazu in der Lage, Lösungsprozeduren so zu reflektieren, dass sie diese Schritte einem Mitschüler erklären könnten. Nur wenn Schüler tatsächlich über tutorielle Kompetenzen verfügen (oder die Rollen entsprechend gut eingeübt sind), ist es sinnvoll, solche Lernformen einzusetzen. Im Rahmen einer Vorstellung kooperativer Unterrichtsmethoden würde man kaum erwarten, dass auch die Ebene der Schulorganisation angesprochen wird. In einer Studie an acht Grundschulen fanden Jürgen-Lohmann, Borsch und Giesen (2002) jedoch, dass kooperatives Lernen dann zu Lernerfolgen führte, wenn an einer Schule flexible Organisationsformen gepflegt wurden, das Kollegium dem kooperativen Lernen positiv gegenüberstand und wenn der Klassenlehrer eine positive Einstellung gegenüber schülerzentrierten Lernformen hatte. Zwei Untersuchungen, bei denen im Zuge der Implementation kooperativer Lernformen auch Einfluss auf die schulischen Rahmenbedingungen genommen wurde, sollen daher kurz vorgestellt werden. In einer Studie von Stevens und Slavin (1995) wurde geprüft, ob kooperative Lernformen längerfristig zu besseren Lernleistungen beitragen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurde daher ein großer Teil des Unterrichts an zwei Grundschulen mit kooperativen Methoden bestritten. Dazu führten die Lehrer jeweils ein komplettes Programm für den Mathematik- und den Leseunterricht durch und sie wurden in weiteren kooperativen Methoden geschult. Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Projekt war, dass wenigstens 75% der Lehrer den Einsatz dieser Methoden befürworten mussten. Während nach dem ersten Jahr noch keine Vorteile gegenüber drei, in herkömmlicher Weise arbeitenden Schulen vorlagen, lagen die Leistungen der kooperativ unterrichteten Schüler nach dem zweiten Jahr deutlich höher. In ähnlicher Weise wurde in einem Vier-Jahres-Projekt der Einsatz kooperativer Unterrichtsmethoden an einer Schule zum Schulprinzip gemacht (Jenkins et al., 1994). In beiden Untersuchungen profitierten die lernschwachen Schüler in überdurchschnittlichem Maße von der Einführung des kooperativen Lernens. Einen Schritt weiter gehen Johnson und Johnson (1994), die „Kooperative Schulen“ fordern, bei denen kooperative Entscheidungsformen auf allen Organisationsebenen etabliert werden. 23.7.5 Fazit „Alle für einen und einer für alle.“ Der Wahlspruch der drei Musketiere von Alexandre Dumas illustriert das Prinzip kooperativen Lernens in anschaulicher Weise: Gemeinsam lassen sich Ziele erreichen, die für einen alleine nicht zu realisieren wären und jeder Einzelne fühlt sich dem Gruppenergebnis in höherem Maße verpflichtet als dem persön-
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| Teil VI: Schule und Unterricht lichen Erfolg. Im Kontext eines Kapitels über kooperatives Lernen bei Schülern mit Lernschwierigkeiten ist anzumerken, dass die Musketiere sich in ihrer Unterschiedlichkeit auf einem sehr hohen Niveau ergänzen. Angesichts der Defizite lernschwacher Schüler ist daher zu klären, in welcher Weise sie von kooperativem Lernen profitieren können. Zudem entspricht der Einsatz für die Gruppe bei den Musketieren einem (romantischen?) Ideal – einem Wert an sich. Neben einer rationalen Prüfung der Effekte kooperativen Lernens ist entsprechend die Frage berechtigt, ob solche Lernformen nicht prinzipiell ein wesentliches Erfahrungsfeld darstellen. Diese beiden Aspekte sollen abschließend kurz behandelt werden. In diesem Kapitel wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Defizite bei der Überwachung und Planung von Lernprozessen sowie geringe kommunikative Kompetenzen lernbehinderter Schüler Schwierigkeiten für den Einsatz kooperativer Lernformen darstellen (vgl. McMaster & Fuchs, 2002). Sogar unter der wesentlich günstigeren Voraussetzung integrativer Beschulung (mehrere Schüler verfügen über tutorielle Fähigkeiten) weisen Jenkins und O’Connor (2003) darauf hin, dass die Umsetzung und der Erfolg kooperativer Lernformen mit der Auswahl geeigneter Partner für die lernschwachen Schüler steht oder fällt. Trotz dieser Einschränkungen kann gemeinsames Lernen unter Lernbehinderten sinnvoll sein, wenn klar definierte Lernziele verfolgt werden. Vereinfachend lässt sich zusammenfassen, dass die Kombination von Strategieinstruktion mit interaktiven Lernformen zu den höchsten Effekten führt, wenn kognitive Lernziele im Vordergrund stehen (Gersten, Baker & Pugach, 2001; Swanson, 1999; Vaughn, Gersten & Chard, 2000). Lernfortschritte gehen dabei jedoch in erster Linie auf die Vermittlung kognitiver Strategien zurück. Die Interaktion zwischen den Schülern unterstützt dabei den Lernprozess. Ist jedoch primär eine Verbesserung sozialer Kompetenzen intendiert, sollten den Schülern vor allem Hilfen – beispielsweise in Form von Gruppenregeln – gegeben werden, die sie bei der Gestaltung von Gruppenprozessen und Diskussionen unterstützen (Cohen, 1994; Webb & Palincsar, 1996). In vielen Arbeiten wird der Bedeutung kooperativen Lernens jenseits schulischer Anforderungen ein großer Stellenwert eingeräumt (z. B. Johnson & Johnson, 1994). So wird angeführt, kooperatives Lernen vermittle den Schülern elementare soziale Kompetenzen, bereite sie auf berufliche Anforderungen vor und sei von gesellschaftlicher Bedeutung, da es das Demokratiebewusstsein fördere. Dabei wird jedoch allzu häufig unterschlagen, dass das große Potenzial von Partner- und Gruppenarbeit kein „Selbstläufer“ ist. Es erscheint daher angemessener, den Einsatz kooperativen Lernens mit Bezug auf konkrete Lernziele zu begründen. Beispielsweise können Lernbehinderte häufig die Arbeiten ihrer Mitschüler besser kontrollieren und bewerten als ihre eigenen. Gegenseitige Kontrolle und Rückmeldung können daher ein hilfreicher Weg zu einer verbesserten Selbstkontrolle sein (Grüning & Wachtel, 1993). Ein anderes Ziel kann sein, dass die Schüler sich ausdauernd mit einem Lerngegenstand befassen. Hier hat sich gezeigt, dass strukturierte Gruppenarbeit ein höheres Maß an aktiver Auseinandersetzung bewirken kann, ohne dass dadurch die Lernleistung beeinträchtigt wird (Souvignier, 1999). In ähnlicher Weise erscheint es sinnvoll, kooperatives Lernen einzusetzen, um Lernziele wie Planungsfähigkeit oder Diskussionsverhalten zu fördern. Das Risiko, durch den Einsatz kooperativer Lernformen den Lernerfolg zu beeinträchtigen, ist bei lernbeeinträchtigten Schülern relativ hoch (McMaster & Fuchs, 2002). Es ist daher entscheidend
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abzuwägen, welcher Stellenwert anderen Zielen als dem Lernerfolg eingeräumt wird und welcher Unterrichtsgegenstand sich dazu anbietet. Resümierend lässt sich sagen, dass kooperatives Lernen zweifellos eine sinnvolle Bereicherung des Methodeninventars für Lernbehindertenschulen darstellt, wenn es zielbezogen strukturiert wird.
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23.8 Computerunterstützter Unterricht Jürgen Walter Der Begriff des Computerunterstützten Unterrichts (CUU) stellt grundsätzlich nur eine Sammelbezeichnung über einen sehr heterogenen Gegenstandsbereich dar. Unter CUU werden im Folgenden alle computerbasierten und multimedialen Möglichkeiten verstanden, die mit dem Ziel eingesetzt werden, das Lehren, Lernen und Fördern im Unterricht
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zu gestalten und zu verbessern. Abzugrenzen hiervon ist die Informationstechnologische Grundbildung (ITG), welche die Informationstechnologie selbst als Lerngegenstand ins Auge fasst (vgl. Hameyer, n. d.). Der folgende Beitrag wird zunächst auf der Basis einschlägiger Metaanalysen (vgl. Kap. 28, Walter, Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf) die generelle Wirksamkeit (Verbesserung der Lernleistung) dieser Unterrichtsform darstellen sowie mögliche intervenierende Variablen (z. B. Software-Typ, Softwaredesign, etc.) identifizieren. Dabei werden forschungsmethodische Probleme nicht ausgespart. Die Heterogenität des Gegenstandes wird dabei weiter deutlich werden. Anschließend wird gefragt, was denn eigentlich die bisher gefundene Überlegenheit des CUU über konventionelle Formen des Unterrichts gerade im Bereich der Lernförderung ausmacht. Die mehr oder weniger erstaunlichen Antworten auf diese Frage werden den Blick auf interessante spezifische Anwendungsmöglichkeiten von CUU lenken, die vor allem auf den neuen multimedialen Qualitäten der Computertechnik basieren. 23.8.1 Befunde von Metaanalysen Vor dem Hintergrund der raschen technologischen Veränderungen nicht nur der letzten Jahre, die vor allem durch die deutlich verbesserten Möglichkeiten der Programmierung (wesentlich verbesserte Autorensysteme) und die Einbindung von Text (Hypertext), Bild, Ton und Video (inklusive deren Beschaffung und des Handling) in die Software gekennzeichnet sind, läuft die didaktisch-methodische Forschung dem State-of-the-Art auf diesem Gebiet zum Teil weit hinterher. Bei der Interpretation der Ergebnisse der Metaanalysen (vgl. Tabelle 5) ist dies zu berücksichtigen. Die meisten Analysen aus den 80er Jahren sind deshalb hier bewusst nicht aufgeführt. Des Weiteren ist zu beachten, dass es bis auf die Arbeit von Schmidt, Weinstein, Niemiec und Walberg (1985/86) keine speziell sonderpädagogisch ausgerichtete Metaanalyse gibt, welche die Wirksamkeit von CUU mit derjenigen von konventionellem Unterricht vergleicht. Um für den Förderschwerpunkt Lernen wissenschaftlich abgesicherte Aussagen zu treffen, müssen über verschiedene Quellen gestreute Aussagen, die für den Bereich der Lernbehindertenpädagogik relevant sind, zusammengetragen werden. Einzelexperimente, die den Vergleich CUU vs. konventioneller Unterricht nicht anstellen, sondern die Pilotfrage nach grundsätzlicher Brauchbarkeit von CUU bearbeiten (mit irgendeiner Art von Warte- oder Zuwendungs-Kontrollgruppe) werden hier nicht weiter verfolgt (vgl. hierzu zusammenfassend Greisbach, 1998). Betrachtet man die generellen Effektstärken der Metaanalysen in Tabelle 5, so sind zunächst fast durchgängig positive Vorzeichen zu beobachten bei relativ schwachen bis mittelmäßig zu bewertenden Effektstärken. Leider gibt es keine einheitlichen Richtlinien zur Beurteilung von Effektstärken. Allgemein besteht aber nach Cohen (1988) Konsens darüber, Effektstärken von 0.20 als klein, von 0.50 als moderat und von größer als 0.80 als stark zu bezeichnen. Auffällig ist jedoch auch die große Variation der Befunde: Sie reicht von ES = 0.24 bis ES = 0.53, was einer durchschnittlichen Verbesserung der Lernleistung in der Computergruppe um neun bzw. 19 Perzentilpunkte im Vergleich zur konventionell (ohne Computer) unterrichteten Kontrollgruppe entspricht. Diese Unterschiede sind wohl u. a. auch dadurch erklärbar, dass
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| Teil VI: Schule und Unterricht die verschiedenen Metaanalysen unterschiedliche inhaltlich-thematische Schwerpunkte setzen (z. B. verschiedene Fächer) und darüber hinaus schwer vergleichbare Zielgruppen (Klassenstufen, Schularten) mit einbeziehen. Außerdem beziehen sich alle Arbeiten bis auf Bayraktar (2001/2002), Christmann und Badgett (1999), Liao (1999), McNeil und Nelson (1991) auf Einzelarbeiten, die nicht auf dem Lernen mit Mikrocomputern (wie heute üblich) basieren, sondern noch auf dem Terminal-Lernen der damals üblichen Großrechner. Die Varianz der Effektstärken innerhalb der einzelnen Metaanalysen ist in der Regel erheblich (vgl. letzte Spalte in Tabelle 5) und in vielen Analysen nicht homogen, so dass zwingend angezeigt ist, die Auswirkungen intervenierender Variablen zu überprüfen. Dies ist auch mehr oder weniger ausführlich in den Metaanalysen geschehen. Als Quelle der Unterschiede (Varianz) zwischen verschiedenen Einzeluntersuchungen kann man in einigen Untersuchungen den Software-Typ ausmachen. Zu unterscheiden ist zwischen reiner Übungssoftware (vorher eingeführter Unterrichtsstoff wird am Computer geübt, vertieft und wiederholt), dem Computer als Tutor (auch die Einführung des Unterrichtsstoffes erfolgt über den Computer) und der Computer-Managed-Instruction (CMI): Über die genannten Funktionen hinaus erfolgt über den Computer die Diagnose von Schwächen und Lücken sowie die Zuweisung zu geeigneten Übungsformen. Darüber hinaus wird noch zwischen Simulations-Software (Simulation von Modellen im physikalischen, biologischen oder im sozialwissenschaftlichen Bereich) und dem Computer als Programmierinstrument und kognitivem Werkzeug unterschieden: Dabei werden Auswirkungen des Erlernens von Programmiersprachen (z. B. Logo) auf die Denk- und Problemlösefähigkeit der Schüler untersucht. In der Tat zeigen sich hier deutliche Unterschiede. In Studie [1] ergibt sich für die Übungssoftware eine negative Effektstärke von ES = -0.107, für Tutoren-Software von ES = 0.369, für Simulation von ES = 0.391 und für die Restkategorie eine ES = 0.122. In Untersuchung [2] zeigt sich für Tutoren-Software eine ES = 0.436, für Simulation eine ES = 0.974 und für sonstige eine ES = 0.213. Metaanalyse [5] teilt für die zusammengefasste Kategorie Übungs- und Tutoren-Software eine ES = 0.38 mit, jedoch für Simulationen eine ES = 0.10 und für Logo eine ES = 0.58. Während in Analyse [11] für Übungssoftware bzw. Tutoren-Software eine ES = 0.47 bzw. ES = 0.34 publiziert wird, werden in [10] dafür ES = 0.044 bzw. ES = 0.614 und für Simulations-Software eine ES = 0.673 mitgeteilt. Die vergleichsweise hohe Effektstärke für Logo kommt übrigens dadurch zustande, dass hier in der Regel Einzeluntersuchungen stattgefunden haben bzw. die Schülerleistungen im Einzeltestverfahren im Gegensatz zu den üblichen Gruppenuntersuchungen evaluiert wurden. Die optimistische Einschätzung dieser Form von Software ist also teilweise auf forschungsmethodische Besonderheiten zurück zu führen. Diese Beispiele zeigen, dass nicht nur innerhalb der Kategorie Software-Typ eine erhebliche Variation besteht, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Untersuchungen. Wenn man überhaupt einen Trend ausmachen kann, dann zeigt sich in Analysen, die ältere Einzelarbeiten zusammenfassen und sich eher im Primarbereich bewegen (vgl. [5], [9], [11] und [12]), dass die einfache Übungssoftware höhere Effekte zeigt als Simulations-Software, dass aber in neueren Analysen [1] oder denjenigen, die mehr Interaktives Video [10] oder Hypermedia [3] thematisieren, ein eher umgekehrter Trend zu beobachten ist. Es wird aber noch komplexer. Die unterschiedlichen Analysen in Tabelle 5
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Tabelle 5: Befunde unterschiedlicher Metaanalysen hinsichtlich der Lernleistungen. (Positive Vorzeichen unter ES signalisieren eine Überlegenheit von CUU, negative eine Überlegenheit der Kontrollgruppe) Studie
Inhaltlicher Schwerpunkt
Klassenstufe/ Schulart
N
ES
[1] Bayraktar (2001/2002)
Naturwissenschaftlicher Unterricht
Sekundarbereich und höher
42
0.27 (-0.69 bis 1.30)
[2] Christmann & Badgett (1999)
Naturwissenschaftlicher Unterricht
Unspezifisch
11
0.26 k. A.
[3] Liao (1998)
Hypermedia
Unspezifisch
35
0.48 (SD = 0.84)
[4] Fletcher-Flinn & Gravatt (1995)
Unspezifisch
Unspezifisch
120
0.24 (SD = 0.53)
[5] Kulik (1994)
Unspezifisch
Unspezifisch
97
0.32 k. A.
[6] Khalili & Shashaani (1994)
Unspezifisch
Unspezifisch
36
0.38 (SD = 0.38)
[7] Liao (1992)
Problemlösen Metakognition Denkfähigkeit
Unspezifisch
31
0.48 (SD = 0.91)
[8] Kulik & Kulik (1991)
Unspezifisch
Unspezifisch
254
0.30 (-1.20 bis 2.17)
[9] Ryan (1991)
Unspezifisch
Primarbereich
40
0.31 (-0.48 bis 1.23)
[10] McNeil & Nelson (1991)
Interaktives Video
Unspezifisch
63
0.53 (SD = 0.80)
[11] Niemiec, Samson, Weinstein & Walberg (1987)
Unspezifisch
Primarbereich
48
0.45 (k. A.)
[12] Schmidt, Weinstein, Niemiec & Walberg (1985/86)
Unspezifisch
Sonderschulbereich
22
0.52 (SD = 0.33)
[13] Pearson, Ferdig, Blomeyer & Moran (2005)
Lesen
Unspezifisch
89
0.49 (SD = 0.11)
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| Teil VI: Schule und Unterricht besitzen häufig andere Schwerpunkte was die Unterrichtsfächer angeht. So wird in [1] ausschließlich der Unterschied zwischen herkömmlichen und computerunterstütztem naturwissenschaftlichen Unterricht betrachtet. Dabei zeigt sich in Biologie eine ES = 0.167, in Chemie eine ES = 0.11 und in Physik (wo besonders stark Simulations-Software eingesetzt wird) eine ES = 0.56. So wundert es nicht, dass in dieser Metaanalyse die Simulations-Software im Vergleich zur reinen Übungssoftware überproportional starke Effekte im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht beobachten lässt. In [4] werden für Mathematik, Lesen und Schreiben bzw. Naturwissenschaft Effektstärken von ES = 0.32, ES = 0.12 bzw. ES = 0.26 mitgeteilt, in [6] für Mathematik ES = 0.52, für Lesen und Sprache eine ES = 0.17. Dabei fällt besonders das schwache Abschneiden beim Schriftspracherwerb auf. Ähnliche Befunde zeigt [11]: Während sich für das Lösen von Mathematikaufgaben bzw. das mathematische Denken Effektstärken von 0.61 bzw. 0.37 ergeben, schneiden das Lesen (ES = 0.24) und das Rechtschreiben (ES = 0.38) bescheidener ab. Vor dem Hintergrund der modernen Hypermedia-Software (Einbindung von flexiblem Text, Bild und Ton) zeigt sich jedoch für den Bereich Sprache, Lesen und Schreiben eine Effektstärke ES = 0.599, für das Fach Mathematik eine ES = 0.125 und für den naturwissenschaftlichen Unterricht eine ES = 0.89 (vgl. Pos. 3 in Tabelle 5). Schulpädagogisch besonders interessant sind die Befunde hinsichtlich der Art der Implementation von CUU. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie sich CUU auswirkt, wenn er herkömmliche Methoden gänzlich ersetzt oder aber nur ergänzt. In [1] ergeben sich hinsichtlich der Frage Ersatz vs. Ergänzung Effektstärken von 0.178 bzw. von 0.288, in [3] ES = 0.342 vs. ES = 0.597, in [10] ES = 0.357 vs. ES = 0.771, in [6] ES = 0.34 vs. ES = 0.38 und in [11] ES = 0.31 vs. ES = 0.52. Damit zeigen sich durchgängig mehr oder weniger deutliche Hinweise auf stärkere Wirkungen von CUU, wenn er ergänzend zum üblichen Unterricht eingesetzt wird. Ein anderer Implementationsaspekt wird in [9] thematisiert, nämlich das Ausmaß, in dem vorgeschaltete Lehrertrainings (Lehrerfortbildungsmaßnahmen) die Wirksamkeit von CUU beeinflussen. Bei Schülern, deren Lehrer mehr als fünf Stunden Training (Einführung in die Technologie, Software-Einsatz etc.) hinter sich gebracht haben, zeigt sich eine ES = 0.402 hinsichtlich der Wirksamkeit von CUU, bei Schülern, deren Lehrer weniger als fünf Stunden geschult wurden, ergibt sich nur eine ES = 0.122. Die Leistungsfähigkeit (leistungsstark vs. leistungsschwach) der Schüler wird in einigen Metaanalysen als intervenierende Variable thematisiert. Nach der ältesten Analyse zu diesem Thema (vgl. Pos. 12 in Tabelle 5) zeigt CUU bei nichtbehinderten Schülern eine Effektstärke von 0.296, bei Schülern mit Teilleistungsstörungen (learning disabled) eine ES = 0.459 und bei Kindern mit einer geistigen Behinderung eine ES = 0.848. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass diese Befunde in der Regel aus Arbeiten der 70er Jahre stammen und sich damit nicht auf der Basis von heute üblichen Personalcomputern inklusive der entsprechenden Software ergeben haben, sollten diese Aussagen nur sehr vorsichtig interpretiert werden. Zu berücksichtigen sind auch die hier diskutierten intervenierenden Variablen, die in der genannten Quelle keine Berücksichtigung finden. In einer neueren Metaanalyse (vgl. Pos. 4 in Tabelle 5) ergibt sich für die nicht weiter spezifizierte Kategorie „Special Education“ eine Effektstärke ES = 0.32, die sich ziemlich nahtlos in die Befundlage für den Primarbereich einordnen lässt (vgl. Pos. 9, 11 und 13 in Tabelle 5).
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 471
Eine ebenfalls nicht unwichtige Variable ist die der Dauer der entsprechenden Intervention mit CUU. Hiermit können möglicherweise Neuigkeitseffekte abgeschätzt werden. Dichotomisiert man hier zwischen unter und über vier Monate Dauer, so zeigt sich in [3] eine ES = 0.875 bzw. ES = -0.043 und in [4] eine ES = 0.22 bzw. ES = 0.27. Auf der Basis einer anderen Kategorienbildung zeigt sich in [6] für eine Dauer von bis zu 11 Wochen eine ES = 0.48 und darüber eine von ES = 0.36. In [7] zeigen sich die stärksten Effekte in der Kategorie „4 bis 6 Monate“ mit ES = 0.422, gefolgt von „0 bis 3 Monate“ (ES = 0.298), „7 bis 12 Monate“ (ES = 0.038) und „mehr als 12 Monate“ (ES = 0.099). In [8] wird die Effektstärke für kürzere Untersuchungen mit ES = 0.42, für längerfristige Studien mit ES = 0.26 angegeben. Unter [11] schwankt die Effektstärke in Abhängigkeit der Dauer der Intervention von ES = 0.61 (eine Woche), ES = 0.72 (zwei Wochen), ES = 0.60 (zwei Monate), ES = 0.45 (ein Schulhalbjahr) und ES = 0.23 (ein Jahr und länger). Unterstellt man dem CUU im Vergleich zum konventionellen Unterricht eine stärkere lernfördernde Wirkung, die wiederum zu einer Kumulation der Lernleistungen über die Zeit hinweg führen sollte, könnte man von diesen Befunden enttäuscht sein. Es sollte jedoch bedacht werden, dass längere Studien nur sehr schwer zu kontrollieren sind und für abnehmende Effektstärken damit auch andere Gründe in Betracht kommen. 23.8.2 Was macht die Wirksamkeit von CUU aus? Wie man die Dinge auch dreht und wendet, die Befunde zum computerunterstützten Unterricht zeigen in der Regel eine Überlegenheit dieser Form der Stoffvermittlung gegenüber dem herkömmlichen Unterricht. Aber wodurch kommen diese Vorteile des CUU zu Stande? Es kann ja nicht ausreichen, einfach „empiristisch“ nur bestimmte Ergebnisse zu konstatieren. Eine viel beachtete und darüber hinaus auch noch grundsätzlich empirisch überprüfbare Hypothese wurde von Clark (1983, 1985) formuliert: Er stellt zunächst fest, dass es in der Wirkforschung zu diesem Thema (a) eine irreführende Vermischung von „Medium“ und „Methode“ gebe. Während die Methode sich auf Aspekte wie Textorganisation, Größe der Lernschritte, fachdidaktische Aufbereitung und Auswahl der Inhalte, Anzahl der Wiederholungen, Art, Form und Frequenz der Rückmeldungen etc. beziehe, stelle das Medium einfach nur ein Vehikel dar, welches das Lernen nicht direkt beeinflusse. In der Forschung werde eine Konfundierung zwischen beiden vorgenommen, die dazu führe, dass in den entsprechenden Untersuchungen der Aspekt der Methode zwischen Computer- und Kontrollgruppe nicht genügend kontrolliert werde: Was passiert eigentlich genau im „herkömmlichen“ Unterricht im Vergleich zum CUU? Mit anderen Worten: Der Computer bringt per se keine Vorteile, sondern das sorgfältiger hergestellte, ausgereiftere und angemessenere Instruktionsdesign, möglicherweise die Realisierung der Prinzipien der direkten Förderung (vgl. Kap. 23.6, Wember). Lehrer sind nicht in der Lage und haben auch nicht die Zeit, konsistent und für alle Bereiche des Unterrichts qualitativ hochwertige Materialien zu entwickeln, permanent jedem Schüler unzählige Rückmeldungen zu geben etc. Dies ist sicher auch einer der Gründe, warum CUU gerade im Elementar- und Förderschulbereich höhere Effekte zeigt als in anderen (vgl. 23.8.1, Befunde von Metaanalysen). Des Weiteren sei (b) die Überlegenheit von CUU gegenüber herkömmlichem Unterricht auch auf Neuigkeitseffekte zurückzuführen.
472
| Teil VI: Schule und Unterricht In der Tat lassen sich für die Clark-Hypothese eine Reihe empirischer Belege finden. Die weiter oben beschriebenen, mit der Dauer der Untersuchungen abnehmenden Effektstärken (vgl. 23.8.1, Befunde von Metaanalysen) können durchaus im Sinne der Hypothese (b) interpretiert werden. Darüber hinaus konnten Krendl und Broihier (1992) in einer Längsschnittstudie (was Einstellungen angeht) über drei Jahre hinweg feststellen, dass die Präferenz, mit dem Computer zu arbeiten, deutlich abnahm ebenso wie die subjektive Wahrnehmung des Lerneffekts. Weitaus überzeugendere Belege gibt es aber für die Hypothese (a). Als einzige der in Tabelle 5 aufgeführten Metaanalysen differenzieren Fletcher-Flinn und Gravatt (1995) nach der Art der Behandlung der Kontrollgruppe. Fungiert die Kontrollgruppe als Wartegruppe (ohne Behandlung), zeigt sich eine ES = 0.58, bekommt sie herkömmlichen Unterricht, lässt sich eine ES = 0.26 ermitteln, lernt sie aber nach einer genauen Papier-und-Bleistift-Version des jeweiligen Computerprogramms beträgt die ES = 0.08, also praktisch Null. Genau dieser Befund stellt sich auch in Untersuchungen bei deutschen Schülern mit Lernbehinderungen ein, wenn man Computer- und Kontrollgruppe sowohl in Sozialform als auch im Instruktionsdesign hinsichtlich elementarer Rechen- und Leseaufgaben zu parallelisieren versucht (vgl. Walter, Gloer & Wellen, 1999; Walter, Johannsen & Meyer-Göllner, 1993; Walter, Körner & Waldner, 1988). Clark (1985) reanalysiert ein Drittel der Arbeiten, die in den Metaanalysen des Ehepaars Kulik verarbeitet wurden und kommt zu dem Ergebnis, dass die Effektstärken in den adäquat kontrollierten Untersuchungen bei Null liegen. In einer neueren Metaanalyse von Fischer und Tarver (1997) fassen die Autoren die anhand von Unterrichtsexperimenten gewonnenen Evaluationsbefunde zur Wirksamkeit der Videodisc-Serie „Core Concepts in Mathematics“ zusammen, die an der Utah State University und an der University of Oregon entwickelt wurde. An fünf der sieben Untersuchungen nahmen auch Kinder mit speziellen Problemen in Mathematik bzw. Kinder aus sonderpädagogischen Settings teil. Verglichen wurde Unterricht, in dem die Inhalte der Videodisc die zentrale Rolle spielten, mit Unterricht, der in der Regel dem konstruktivistisch ausgerichteten Konzept des NCTM (National Council of Teachers of Mathematics) entspricht. Die mittlere Effektstärke beläuft sich auf eine (extrem hohe) ES = 1.01 zu Gunsten der Videodisc-Serie. In einer der Einzeluntersuchungen (vgl. Hasselbring et al., 1988) überprüften die Autoren die Clark-Hypothese direkt: Neben der üblichen Experimental- und Kontrollgruppe wurde eine zusätzliche Gruppe installiert, in der die Lehrer instruiert wurden, die Video-Disc-Präsentation zu simulieren, und zwar mit Overhead-Folien, die ein statisches Abbild der Videodisc-Lektionen darstellten. Das Ergebnis lautet: Die Schüler, die nach dem Instruktionsdesign der „Core Concepts“ unterrichtet wurden, waren insgesamt der Kontrollgruppe hoch überlegen, jedoch unterschieden sich die Videodisc- und Overhead-Gruppe nicht! Ganz offensichtlich bewirkten die Instruktionskonzepte (konstruktivistisch vs. direkte Förderung) die Unterschiede (vgl. dazu auch Grossen & Ewing, 1994). Es kann also festgehalten werden, dass die bisher durchgehend gefundene Überlegenheit des CUU im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht (moderiert durch die oben unter 23.8.1 dargestellten intervenierenden Variablen) mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Gemisch aus Instruktionsmethode, Neuigkeitseffekt, Interaktivität (vgl. Najjar, 1996), Selbststeuerung und Aufgabenbearbeitungsfrequenz (vgl. Lundberg, 1995; MacArthur, Haynes, Malouf, Harris & Owings, 1990) seitens des Lerners zurück geführt werden
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kann. Oder mit anderen Worten gesagt: Je kleiner sich der „Qualitätsunterschied“ (im weitesten Sinne) zwischen den beiden Unterrichtsformen darstellt, desto mehr schwindet die Überlegenheit von CUU (vgl. auch Mayer, 2003; Wood, 2005). Aber genau an diesem Punkt stellt sich die Herausforderung für den unterrichtlichen Einsatz von neuer Informationstechnologie erneut: In einer Zeit, in der Computer von Billig-Discountern Multimedia-Möglichkeiten besitzen, die bis vor einigen Jahren nur von Fernsehstudios erreicht wurden, müsste es doch möglich sein, „Qualitäten“ in Form von Software zu entwickeln, die üblicherweise bisher nicht möglich waren. Aus technischer Sicht gibt es zum Computer (wenn man denn Medien einsetzen will) auch für die Lernförderung weniger denn je eine sinnvolle Alternative. So weit die mediale Seite. Um aber nicht in den alten Fehler der Konfundierung von Medium und Inhalt zurück zu fallen, ist es zwingend notwendig, theoretisch und empirisch fundierte Methoden und Inhalte im CUU einzubauen, die sich unabhängig vom „Medienträger“ Computer als sach- und fachgerecht herausgestellt haben oder zumindest die Chance dazu besitzen. Solche Methoden, Inhalte und Lernsituationen, in denen Multimedia das Lernen gerade auch von benachteiligten Kindern und Jugendlichen fördern kann, sollen im Folgenden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufgespürt werden. 23.8.3 Wo und wann kann Multimedia Lernen fördern? Als theoretisch und empirisch begründeter Hintergrund für den Einsatz von Multimedia, Hypermedia (= technische Möglichkeit, Texte, Ton, Bilder und Filmsequenzen, Datenbanken, Internet etc. auf dem Medienträger PC beliebig zu kombinieren und zu vernetzen) oder beidem bietet sich die duale Kodierungs-Hypothese an (vgl. Clark & Paivio, 1991; Paivio, 1991). Lernen im Sinne von Informationsaufnahme, Behalten und Verstehen wird dadurch erleichtert, dass Informationen nicht einkanalig (nur Sehen, nur Hören) sondern zweikanalig angeboten werden, und zwar so, dass die Informationskanäle sich (inhaltlich redundant) aufeinander beziehen. Auf das weite Feld der bestätigenden Untersuchungen zu dieser Theorie wird hier nicht eingegangen. Wohl aber ist es wichtig, hier einige ausgewählte Anwendungsmöglichkeiten und Erkenntnisse darzustellen, die vor dem Hintergrund dieser Theorie bezüglich des Einsatzes von Medien im Unterricht entwickelt bzw. gewonnen wurden. Rice und Woodsmall (1988) konnten zeigen, dass fünfjährige Vorschulkinder neue Wörter lernten, wenn sie sowohl auditiv (gesprochen) als auch visuell (situiert) in einer Art von Schulfernsehen präsentiert wurden. Verglichen wurde mit einer Gruppe von Kindern, die diese Sendungen nicht sahen. Markham (1989) bot jungen erwachsenen Einwanderern, die Englisch als zweite Sprache lernten, Sachvideos zum Thema Termiten und Solaranlagen an, und zwar in der einen Gruppe mit und in der anderen ohne Untertitel. Unabhängig von ihren Sprachkenntnissen (Anfänger, Personen in der Mitte des Kurses, Fortgeschrittene) profitierten diejenigen am meisten in einem Verständnis- und Behaltenstest, welche die Videos mit Untertiteln versehen dargeboten bekamen. Ganz offensichtlich unterstützte die Auswahlmöglichkeit zwischen drei Informationsquellen (Lesen, Hören und Sehen) die individuelle Informationsverarbeitung mehr als das Darbieten von nur zwei Informationsquellen. Dies funktioniert aber offensichtlich nur,
474
| Teil VI: Schule und Unterricht wenn unterschiedliche Informationskanäle nicht zur Ablenkung des Lernenden bzw. zur Störung des anderen Kanals beitragen (vgl. Samuels, 1967). In einer ausgefeilten experimentellen Untersuchung boten Neuman und Koskinen (1992) Gruppen von jugendlichen Einwanderern eine vom Fernsehen produzierte Wissenschaftssendung (für Kinder) mit und ohne Untertitel an. Darüber hinaus wurde der Inhalt der Sendung unterschiedlichen Gruppen als Text, der vorgelesen wurde und gleichzeitig mitgelesen werden musste, sowie nur als Lesetext angeboten. Die Fernsehsendung mit Untertitel erbrachte (nach Auspartialisierung der Vortestdifferenzen) für das Lernen von Wortbedeutungen im Vergleich zu dem entsprechenden einfachen Lesetext eine Effektstärke ES = 1.72, im Vergleich zum gleichzeitigen Vor- und Mitlesen eine ES = 1.20 und im Vergleich zum „normalen“ Fernsehen eine ES = 0.28. Meyer (1997) bot u. a. leseschwachen Sonderschülern ein für Lehrzwecke hergestelltes Video mit dem Titel „Die Wahrheit über die Schildkröten“ an. Dies geschah in einer Version, in der die Erzählerstimme durch Musik ersetzt wurde und die Schüler entsprechende Untertitel lesen mussten. Die Kontrollbedingung bestand im Lesen des nur in Schriftform dargebotenen Erzählervortrags. Die Schüler behielten unter der Video-Bedingung signifikant mehr als unter der reinen Print-Bedingung. Montali und Lewandowski (1996) boten durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen Lesern Texte an, die sie leise am Bildschirm lasen (visuelle Bedingung), über Computerlautsprecher hörten (auditive Bedingung) oder über den Lautsprecher und auf dem Monitor blinkend sichtbar (bimodal = audio-visuell) wahrnahmen. Es zeigte sich, dass alle Probanden in der Wortwahrnehmung und im Leseverständnis unter der bimodalen Variante am besten abschnitten, dass jedoch schlechte Leser im Vergleich zu durchschnittlichen sogar stärker profitierten. Die schwachen Leser erreichten (bimodal) im Leseverständnistest das Niveau der durchschnittlichen Leser, wenn diese den Text selber lesen mussten (visuell). Lerner mit relativ geringem Vorwissen scheinen häufig von multimedialen Lernsequenzen mehr zu profitieren als andere (vgl. Najjar, 1996). Dies hat offensichtlich damit zu tun, dass bildhafte Darstellungen Vorwissen und neue Informationen besser zusammenbringen können, mentale Modelle beim Lerner aufbauen helfen und wichtige Informationen besser hervorheben können. Die Vorteile der audio-visuellen Textpräsentation lassen sich übrigens nicht nur für Kinder und Jugendliche nachweisen, sondern auch für erwachsene Studierende, die als Laien einen Sachtext aus der Physik lernen sollten (vgl. Pyter & Issing, 1996). Alle aufgeführten Befunde zeigen, dass medial redundant oder referenziell angebotene Informationen das Lernen erleichtern können. Gerade die Videopräsentation mit Untertiteln stellt für benachteiligte Kinder und Jugendliche, ob sie Migranten sind oder nicht, eine hervorragende Möglichkeit dar, Sachinformationen wirkungsvoller lernen zu können als bisher. Darüber hinaus kann hiermit, ohne dass diese Vorgehensweise vom Lerner als formeller Lernakt wahrgenommen wird, das Wort-, Sprach- und Leseverständnis gefördert werden (inzidentielles Lernen). Spezielle Möglichkeiten von Multimedia können erfolgreich auch für das Training mehr basaler Lese- und Schreibkompetenzen genutzt werden, z. B. im Bereich des Konzepts der phonologischen Bewusstheit (vgl. Kap. 24.1). Computerunterstützte Varianten zeigten dort direkt für die phonologische Bewusstheit eine ES = 0.66, beim Transfer auf die Leseleistungen eine ES = 0.33, auch wenn es hier natürlich Alternativen zum Computer gibt.
Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 475
23.8.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die zurzeit vorhandene empirische Basis zur in diesem Beitrag behandelten Thematik zeigt, – dass computerunterstütztes Lernen moderat positive, aber relativ konsistente positive globale Effekte zeigt, die aber weniger per se dem „Medienträger“ Computer als vielmehr dem durch die Software realisierten Instruktionsmodell zuzuschreiben sind, – dass dies eher überproportional vor allem für langsame Lerner dann der Fall zu sein scheint, wenn die Software gut strukturiert, kleinschrittig ausgelegt, interaktiv gestaltet und dem Lerntempo der Schüler angepasst ist, – dass der Vorteil von Multimedia im Vergleich zu „Monomedia“ zwar nicht durchgängig zu beobachten ist, dass dies aber in der Regel dann der Fall ist, wenn (a) die zu lernenden Informationen dual kodiert sind, wenn sich (b) die unterschiedlich kodierten Informationen nicht widersprechen, sondern aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig ergänzen, und wenn es sich (c) um Lerner mit geringem Vorwissen handelt, – dass in spezifischen Bereichen (z. B. phonologischer Bewusstheit, Herstellen von Graphem-Phonem-Korrespondenzen, Training von Hör- und Schriftsprachverständnis) der Einsatz von multimedial gestalteten Programmen den besonderen Anforderungen des Lerngegenstandes besonders gut entgegen kommt (vgl. z. B. Walter, 2004; 2005; 2006). Für den Unterricht bedeutet dies einerseits, dass CUU als Mittel zur Differenzierung und Individualisierung gut einsetzbar ist, vor allem wenn die Software sorgfältig entwickelt wurde und für die Lehrpersonen „tagesformunabhängig“ einen hohen Instruktionsstandard umsetzt. Andererseits muss international, speziell aber auch für den deutschen Sprachraum festgestellt werden, dass sowohl quantitativ als auch qualitativ ein enormes Forschungsdefizit besteht. Die Entwicklung und vor allem die fundierte Evaluation von computerunterstützten Curricula sind in den letzten Jahren in der deutschen Sonderpädagogik praktisch zum Erliegen gekommen. Als besondere generelle Herausforderung für die Zukunft muss die Einbettung der medialen Möglichkeiten des Computers in theoriegeleitete, kognitiv-didaktische Konzepte (wie z. B. das der dualen Kodierungshypothese; das der phonologischen Bewusstheit etc.) gefordert werden. Die multimedialen Eigenschaften der Geräte-Software könnten hier zu lernfördernden Effekten führen, die in den Metaanalysen der 80er und 90er Jahre so gut wie noch nicht berücksichtigt wurden.
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Kapitel 23: Konzepte und Methoden | 477
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24 Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache Einführung Minderleistungen gerade im Bereich der Schriftsprache reduzieren deutlich die Möglichkeit, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen sowie eine Berufsausbildung erfolgreich abschließen zu können. Damit kommt der Diagnose und Förderung im Bereich der Schriftsprache ein ganz besonderer Stellenwert zu. In dem Beitrag von Jürgen Walter werden vor dem Hintergrund des Konzepts der phonologischen Bewusstheit (als Teilbereich der phonologischen Informationsverarbeitung) die enormen neuen Möglichkeiten der Prävention im Sinne von Früherkennen (Diagnose) und frühem Fördern (im Vor- und Grundschulalter) auf der Basis internationaler und nationaler Forschungsergebnisse (Metaanalyse) dargestellt sowie wichtige inzwischen vorhandene Förderprogramme skizziert. Die zum Teil beachtlichen Transfereffekte auf den späteren Erfolg beim Schriftspracherwerb geben zu der berechtigten Hoffnung Anlass, den Anteil von so genannten Risikokindern deutlich senken zu können. Gero Tacke gibt nachfolgend einen Überblick über die Effekte ganz unterschiedlicher methodischer Varianten des Lesenlernens bzw. der Leseförderung u. a. zum ganzheitli chen Unterricht, zum Spracherfahrungsansatz (offener Unterricht), zum synthetischen Vorgehen sowie zur Methodenintegration. Dabei wird vor dem Hintergrund empirischer Befunde deutlich, dass je nach Entwicklungsstand des Leselernprozesses ganz unterschiedliche inhaltliche und methodische Schwerpunkte gesetzt werden sollten. Nicht nur wegen der Ergebnisse aus der PISA-Studie greift Jürgen Walter schwerpunktmäßig das Thema des sinnverstehenden Lesens auf, dem wesentlichen Ziel des Leseunterrichts. Es wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die wesentlichen Strömungen und Ansätze zu geben, die sich darum bemühen, empirisch zu erforschen, welche Faktoren sinnverstehendes Lesen beeinflussen bzw. fördern und mit welchen Methoden dieses Wissen erworben bzw. gelehrt werden kann. Im Rahmen der Darstellung dieser Sachverhalte wird deutlich werden, dass zur Diagnose unterschiedliche informelle und standardisierte Testverfahren zur Anwendung kommen. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt jedoch in der Darstellung unterschiedlicher Förderkonzepte und deren empirisch ermittelte Wirksamkeit. Da im deutschsprachigen Raum der Bestand an einschlägigen empirischen Interventionsstudien zu diesem Thema recht spärlich ausfällt, musste teilweise auf internationale Befunde zurückgegriffen werden. Gerheid Scheerer-Neumann stellt für die Diagnose und Förderung im Bereich Rechtschreibung einen entwicklungsorientierten Ansatz vor, in dem über die Analyse der bisher im Rechtschreiberwerb erreichten Entwicklungsstufe verbunden mit einer Feinanalyse der Rechtschreibfehler eines Kindes die prinzipielle Richtung der Förderung bestimmt wird. Für die Förderung der alphabetischen und der orthographischen Rechtschreibstrategie sowie für den Erwerb von „Lernwörtern“ zum Aufbau des mentalen Lexikons werden unterschiedliche Methoden und Programme beschrieben, von denen noch zu wenige empirisch ausreichend evaluiert wurden. Es wird argumentiert, dass aus Gründen der für Lernprozesse notwendigen Zuwendung der Aufmerksamkeit auf den Lerngegenstand
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 479
neben der Integration des Rechtschreibens in einen interessen- und handlungsbezogenen Kontext auch Phasen der ausschließlichen Vermittlung und Einübung rechtschreibbezogener Inhalte notwendig sind.
24.1 Phonologische Bewusstheit Jürgen Walter Im Bereich von Prävention und Frühförderung beim Schriftspracherwerb haben sich in den letzten Jahren, angeregt durch internationale Forschungsbefunde (vgl. Schneider, Küspert, Roth, Visé & Marx, 1997; Schneider, Roth, Küspert & Ennemoser, 1998; Schneider, Visé, Reimers & Blässer, 1994; zusammenfassend Walter, 2001), nicht unerhebliche Fortschritte eingestellt. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Konzept des phonologischen Wissens oder auch der phonologischen Bewusstheit (vgl. Lundberg, Frost & Petersen, 1988), einem Teilbereich der generellen phonologischen Informationsverarbeitung (vgl. Tab. 1): Kinder sollen lernen, Sprache nicht nur semantisch aufzufassen, sondern gesprochene Sprache hinsichtlich ihrer Lautstruktur zu betrachten. Tabelle 1: Komponenten phonologischer Informationsverarbeitung (vgl. Schneider, 1989,
S. 162) Komponenten phonologischer Informationsverarbeitung
Mögliche Erfassungsmethoden
– Phonologische Bewusstheit
Reimaufgaben, Alliterationsaufgaben, Silbenklatschen, Laut-zu-Wort-Zuordnungsaufgaben
– Phonologische Rekodierung im lexikalischen Zugriff
Schnelles Benennen von Worten, Farben, Objekten, Lesen von Pseudowörtern
– Phonetische Rekodierung im Arbeitsgedächtnis
Artikulationsgeschwindigkeit, Gedächtnisspanne für Bilder, Gedächtnisspanne für Wörter
Der Bereich der phonologischen Bewusstheit beschäftigt sich mit der Fähigkeit von Kindern, eine Analyse und/oder Synthese des Lautstroms gesprochener Sprache vorzunehmen. Typische Aufgaben, die bestimmte Aspekte der phonologischen Bewusstheit operationalisieren, sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Im Zusammenhang mit dem phonologischen Rekodieren beim Zugriff auf das „innere Lexikon“ wird bei Kindern untersucht, in welchem Maße sie in der Lage sind, durch die Umwandlung graphemischer Muster in einen phonologischen Kode eine Rekodierung schriftsprachlicher Symbole in lautsprachliche Entsprechungen vorzunehmen (z. B. das schnelle Benennen von Objekten). Phonetisches Rekodieren im Arbeitsgedächtnis hängt mit der kognitiven Funktion (Operation) zusammen, phonologischen Kode im Kurzzeitgedächtnis möglichst lange präsent zu halten. Für den Leseanfänger ist dies von enormer Bedeutung, weil er Einzellaute oder mehrere größere phonologische Segmente (z. B. Silben) zwecks Zusam-
480
| Teil VI: Schule und Unterricht Tabelle 2: Aufgaben zur Phonembewusstheit nach Lewkowicz (1980) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Laut-zu-Wort-Zuordnung (sound to word matching) Ein vorweggenannter Laut muss in einem gesprochenen Wort wiederentdeckt werden. Beispiel: „Hörst du ein /f/ in ‚Fisch‘?“ Wort-zu-Wort-Zuordnung (word to word matching) Vorgesprochene Wörter müssen hinsichtlich eines Lautes verglichen werden. Beispiel: „Beginnen ‚Fisch‘ und ‚Fahrrad‘ gleich?“ Reime erkennen (recognition of rhyme) Bei vorgesprochenen Wörtern muss entschieden werden, ob sie sich reimen oder nicht. Beispiel: „Reimen sich ‚Fisch‘ und ‚Tisch‘?“ Isolierung (isolation) Ein Laut, dessen Stellung im Wort benannt ist, soll isoliert gesprochen werden. Beispiel: „Womit fängt ‚Fisch‘ an?“ Phonemsegmentierung Alle Laute eines Wortes sollen isoliert gesprochen werden. Beispiel: „Aus welchen Lauten besteht ‚Fisch‘?“ Phoneme zählen (counting to phonemes) Die Phoneme (Laute) eines Wortes werden entweder numerisch gezählt, oder die erfasste Anzahl wird anders indiziert (z. B. durch Klopfen, Plättchenlegen etc.). Beispiel: „Wie viele Laute hörst du in ‚Fisch‘?“ 7. Laute verbinden (blending) Isoliert gesprochene Laute sollen zusammengefügt und als Wort wiedergegeben werden. Beispiel: „Welches Wort ist das: /f/, /i/, /sch/?“ 8. Phonem weglassen (deletion of a phoneme) Bei einem vorgesprochenen Wort soll ein gekennzeichneter Laut weggelassen und das so entstandene Wort wiedergegeben werden. Beispiel: „Sag mal ‚Fisch‘. – ... – Jetzt sagst du das Wort ohne den ersten Laut“. Häufig werden die Items so gewählt, dass wieder reale Wörter entstehen: z. B. Klaus – Laus. 9. Weggelassenes Phonem benennen (specifying which phoneme has be deleted) Angesichts eines vorgegebenen Wortpaares soll entschieden werden, welcher Laut beim zweiten Wort weggelassen worden ist. Beispiel: „Sag mal ‚Klaus‘. – ... – Jetzt sagt du ‚Laus‘. – ... – Welcher Laut fehlt beim zweiten Wort?“ 10. Phonem ersetzen (phoneme substitution) In einem vorgegebenen Wort soll ein isoliert gesprochener Laut durch einen anderen, ebenfalls vorgesprochenen, ersetzt werden. Beispiel: „Sag mal ‚Fisch‘. – ... – Nun sagst du das mit /t/ statt mit /f/.“
menziehens im auditiv-verbalen Kurzzeitgedächtnis eine gewisse Zeit lang „anwesend“ halten muss, bis der Zugriff aufs interne Lexikon erfolgt ist. Spätestens nach der bahnbrechenden Arbeit von Lundberg et al. (1988), in der experimentell-längsschnittlich (und nicht nur korrelativ) der positive Transfer des Trainings der phonologischen Bewusstheit auf das spätere Lesen- und Schreibenlernen im Grundschulalter nachgewiesen wurde, verstärkte sich international der Trend, entsprechende Untersuchungen in anderen Ländern durchzuführen (vgl. Schneider et al., 1994; Schneider et al., 1997; Schneider et al., 1998). Dabei geht man von der Annahme aus, dass Kinder zum Zeitpunkt des Beginns der Beschulung oder kurz davor ohne explizite Anleitung in der Regel nicht in der Lage sind, spontan den Lautfluss der gesprochenen Sprache in Laute oder Silben zu segmentieren. Die phonemorientierte Lautstruktur der Sprachen unseres Kulturkreises scheint zu verhindern, dass Kinder den artikulatorischen oder
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 481
Gene Umweltfaktoren ZNS-Anomalien Fehlplatzierte oder schlecht ausgebildete Neuronen im zerebralen Kortex oder Thalamus und/oder Symmetrie des Planum
Phonologische Entwicklung Phonologische Bewusstheit Phonem-Segmentierfähigkeit
Intrauterine Umgebung
InstruktionsUmgebung (Schriftspracherfahrungen zu Hause, in der Schule, etc.)
Schriftspracherwerb
Sekundäre Symptome (die entweder auftauchen oder auch nicht) Primäre Symptome Worterkennen, Lesen, Rechtschreiben
Leseverständnis Mathematik Selbstkonzept Soziale Anpassung etc.
Abbildung 1: Hauptkomponenten der Legasthenie aus der Sicht des phonologisch orientierten Ansatzes (verändert nach Lundberg, 1995, S. 91)
den akustischen Strom in eine Sequenz von phonemischen Elementen aufbrechen können bzw. sich entsprechender Einheiten bewusst sind. Dies kann durchaus auch durch mangelnde Spracherfahrung im Sinne von soziokultureller Benachteiligung (vgl. Kap. 6, Koch in diesem Band) verstärkt sein. Darüber hinaus fanden die genannten Autoren bei den diskrepanten lese-rechtschreibschwachen Kindern (Legasthenikern) besondere Schwächen in diesem Bereich, was dazu geführt hat, dass Lundberg und Hoien (1989,
482
| Teil VI: Schule und Unterricht 1990) und Lundberg (1995) Probleme im Bereich der phonologischen Bewusstheit als Kernsymptomatik der Legasthenie bezeichnen. Dabei wird von Modellvorstellungen ausgegangen, die in Abbildung 1 dargestellt sind. Neben einer umweltbedingten Komponente wird auch von einer möglichen durch das Zentralnervensystem determinierten Disposition für Schwierigkeiten bei der phonologischen Informationsverarbeitung ausgegangen. Dabei stützt sich Lundberg (1995) auf Befunde von Larsen, Hoien, Lundberg und Odegaard (1990), nach denen bei 15-jährigen Legasthenikern ernsthafte phonologische Probleme mit einer Symmetrie des Planum Temporale einhergingen, wobei im Normalfall eine Asymmetrie vorhanden ist, bei der das linke Planum größer als das rechte ist. Die Größe der Abweichung von der Asymmetrie, so die Annahme, korreliert mit dem Schweregrad der Störung im phonologischen Bereich. Diese neurobiologischen Befunde werden aber durch gegenteilige Ergebnisse in neueren Original- und Überblicksarbeiten in Frage gestellt (vgl. Castro-Caldas, Petersson, Reis, Stone-Elander & Ingvar, 1998; Jäncke, 1998; Rumsey, Donohue, Brady, Nace, Giedd & Andreason, 1997; von Suchodoletz, 1997, 1999), so dass die o. g. Annahme als noch nicht bestätigte Hypothese zu betrachten ist. Hervorzuheben ist vor allem der Befund von Castro-Caldas et al. (1998), dass das Erlernen des Lesens und Schreibens selbst, betrachtet als Einfluss aus der Umwelt, die funktionale Organisation des menschlichen Gehirns beeinflusst. Des Weiteren fanden Schultz et al. (1994) ebenfalls die von Larsen et al. (1990) beobachteten Besonderheiten im Planum Temporale, diese waren aber nach einer Parallelisierung der Kinder nach Alter und Hirnvolumen nicht mehr nachweisbar (vgl. zusammenfassend von Suchodoletz, 1999). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die empirisch-wissenschaftliche Basis der Frühförderung und Prävention nach dem Konzept des phonologischen Wissens darzustellen. Dabei soll hier die in den USA erschienene Metaanalyse von Ehri et al. (2001) detailliert Berücksichtigung finden, weil sie alle wichtigen internationalen empirisch-experimentellen Studien (auch die deutschen) zusammengetragen hat, sie in der Gänze ihrer unterschiedlichen Facetten und Gesichtspunkte (intervenierende Variablen) darstellt und dadurch mit Abstand die zur Zeit größte Wissensbasis zu dem Thema phonologisches Wissen zur Verfügung stellt. Ehri et al. (2001) gehen folgenden Fragestellungen nach: – Kann die Vermittlung von phonologischem Wissen Kindern allgemein effektiv beim Lesen lernen helfen? – Unter welchen Umständen und für welche Kinder werden die besten Resultate erzielt? – Sind die Befunde wissenschaftlich fundiert? – Wie anwendbar sind die Befunde auf die Praxis? 24.1.1 Methode Die Datenbanken ERIC und PsychInfo wurden auf der Basis einschlägiger Suchworte durchforstet. Dabei wurden 637 Artikel auf der Basis von ERIC und 1 325 Quellen auf der Basis von PsychInfo gefunden. Nach folgenden Kriterien wurden Untersuchungen in die Metaanalyse einbezogen:
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 483
1. Die Studien mussten ein experimentelles oder quasi-experimentelles Design unter Einbeziehung einer Kontrollgruppe umsetzen. 2. Die Arbeiten mussten in einer einschlägigen Fachzeitschrift veröffentlicht sein. 3. Die Studien mussten explizit die Hypothese testen, ob das Training der phonologischen Bewusstheit (PB) im Vergleich zu einer alternativen Form des Trainings oder keiner Behandlung die Lese- und/oder Rechtschreibleistung verbessert. 4. In den Studien musste sichergestellt sein, dass keine anderen Instruktionsmethoden mit dem Lehren des phonologischen Wissens konfundiert wurden. 5. Die Studien mussten statistische Kennwerte liefern, die zur Berechnung von Effektstärken herangezogen werden konnten. Schließlich wurden 52 Arbeiten ausgewählt. Da in den Studien mehrfache Vergleiche durchgeführt wurden, konnten insgesamt 96 Fälle von Treatment-Kontrollgruppen-Vergleichen in die Metaanalyse aufgenommen werden. Als abhängige Variablen wurden phonologisches Wissen und der Transfer auf das Lesen und Rechtschreiben erfasst. Als Maße für den Erfolg der Intervention wurden Effektstärken (ES) berechnet (vgl. Cohen, 1988). Definiert ist dieses Maß als die Mittelwertdifferenz zwischen Experimental- und Kontrollgruppe, dividiert durch die Standardabweichung der Kontrollgruppe. Die Größe ES macht im Gegensatz zur Signifikanzprüfung eine Aussage über die praktische Relevanz (Prägnanz) eines Mittelwertunterschiedes. Es existieren zwar keine verbindlichen Richtgrößen zur Beurteilung von Effektstärken, nach Cohen (1988) sind aber Effektstärken von 0.20 als klein, von 0.50 als moderat und von > 0.80 als groß zu bezeichnen. ES-Werte können auch als z-Werte aufgefasst werden und u. a. in Prozentränge/Perzentile (PR) transformiert werden (vgl. auch Kap. 28, Walter in diesem Band). Entsprechende Tabellen finden sich in jedem Statistiklehrbuch. Um das Lesen zu erleichtern, sind hier einige Effektstärken in Perzentilen inklusive der entsprechenden Interpretationen angegeben: – ES = 0.20 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, welche die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 58 verbessern. – ES = 0.50 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, welche die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 69 verbessern. – ES = 0.80 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, welche die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 79 verbessern. – ES = 1.0 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, welche die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 84 verbessern. 24.1.2 Ergebnisse Die Befunde der außerordentlich umfassenden Metaanalyse von Ehri et al. (2001) sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Der hier gewählte Aufbau der Tabelle erlaubt einen kompakten
14
Follow-Up (2–15 Monate)
2
andere Skills
7
20 15
Mathematik
10
8
47
Leseverständnis
vom Untersucher
9
W=A
0.72*
Art des PseudoWort-Tests
standardisiert
Z=A
0.82*
37
58
8
35
90
N
8
37
25
Phoneme weglassen
standardisiert
6
S>A
33
Phoneme zusammenziehen
5
0.61*
vom Untersucher
51
Segmentierung (Anz.)
zweite Follow-Up (7–36 Monate)
Follow-Up (2–15 Monate)
sofort
Post-Test
4
S=W>Z
ns
Kontraste
Art des Lese-/ Schreibtests 0.87*
0.73*
0.86*
ES
ModeratorVariable
Art des Trainings
3
72
N
Phonologisches Wissen (PA)
sofort
Post-Test
ModeratorVariable
1
Pos.
0.03 ns
0.34*
0.49*
0.56*
0.37*
0.61*
0.23*
0.45*
0.53*
ES
ns
U>S
So=1>2
Kontraste
Transfer auf die Leseleistung
Tabelle 3: Zusammenfassung der Ergebnisse der Metaanalyse nach Ehri et al. (2001) (* = signifikanter Effekt)
20
24
6
17
39
N
0.41*
0.75*
0.20*
0.37*
0.59*
ES
U>S
So>1=2
Kontraste
Transfer auf die Rechtschreibleistung
484
| Teil VI: Schule und Unterricht
Normalleser
13
0.95* R=N>L
15
42
1. Klasse
2.– 6. Klasse (Leseschwache)
19
20
39
Kindergarten
18
2
Vorschule
V>K>1=2
16
17
Normalleser
15
0.70*
2.– 6. Klasse (Leseschwache)
1. Klasse
Kindergarten
0.95* 0.48*
Vorschule
2.37*
Lernstufe
Leseschwache (Diskrepanz)
Follow-Up Posttest (2–15 Mo)
Normalleser
Leseschwache (Diskrepanz)
Risikokinder
0.93*
0.62*
Risikokinder
14
Lernstufe
15
Leseschwache (Diskrepanz)
12
42
15
Risikokinder
11
Lese-Level
Lese-Level Sofortiger Posttest
SchülerMerkmale
SchülerMerkmale
Tabelle 3 (Fortsetzung)
18
25
40
7
12
8
15
46
17
27
0.49*
0.49*
0.48*
1.25*
0.30*
0.28*
1.33*
0.47*
0.45*
0.86*
V>K=1=2
R>D=N
R>L=N
8
16/13
15/15
0/0
15
11
13
0.14ns/ –
0.52*/ 0.66*
0.97*/ 0.97*
-/-
0.88*
0.15 ns
0.76*
K>1>2 (K>1)
R=N>L
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 485
mittel und hoch
22
Follow-UpPosttest
andere Sprachen
24
30
ein Skill
zwei Skills
drei oder mehr Skills
27
28
29
Anzahl der Skills
Anzahl der Skills
drei oder mehr Skills
zwei Skills
1.03* 0.70*
ein Skill
1.16*
Sofortiger Posttest
Merkmale der PA Vermittlung
Merkmale der PA Vermittlung
18
Englisch
1=2>3
E>A
Englisch
Sofortiger Posttest
Sprache
mittel und hoch
niedrig
andere Sprachen
0.65*
ns
26
11
andere Sprachen
24
0.99*
1.02*
1.07*
Sozioökonom. Status
25
61
Englisch
17
12
23
Sprache
niedrig
21
Sozioökonom. Status
Tabelle 3 (Fortsetzung)
29
29
32
18
17
18
72
29
11
0.27*
0.79*
0.71*
0.47*
0.42*
0.36*
0.63*
0.84*
0.45*
1=2>3
ns
E>A
MH>N
10/3
12/11
17/14
7/6
32/22
9
6
0.23*/ 0.93*
0.87*/ 0.89*
0.74*/ 0.77*
0.55* /0.51*
0.60*/ 0.95*
1.17*
0.76*
1=2>3/ns
(E>A)
MH>N
486
| Teil VI: Schule und Unterricht
ns
Follow-UpPosttest
ohne Buchstaben
ohne Buchstaben
ns (B>KB)
38
36
0.82* /0.83*
mit Buchstaben
Sofortiger Posttest
Einbezug von Buchstaben
drei oder mehr Skills
mit Buchstaben
33/32
ohne Buch staben
0.89* /1.10*
0.70*
37
39/25
mit Buchstaben
35
Einbezug von Buchstaben
33
drei oder mehr Skills
34
19
0.81*
nur Zusammen ziehen und Segmentieren
18
nur Zusammen ziehen und Segmentieren
32
33
15
drei oder mehr Skills
19
16
42
48
29
9
zwei Skills
31
11
ein Skill
Follow-Up
30
Tabelle 3 (Fortsetzung)
0.36*
0.59*
0.38*
0.67*
0.27*
0.67*
0.27*
1.28*
0.55*
B>KB
B>KB
ZS>3
2>1>3
12/11
27/17
10/3
7/6
0.34*/ 0.57*
0.61*/ 1.0*
0.23*/ 0.93*
0.79*/ 0.85*
B>KB (B>KB)
ZS>3/ns
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 487
5=10>1 =20
24
9
22
5 bis 9.3 Stunden
10 bis 18 Stunden
20 bis 75 Stunden
46
47
48
0.65*
1.14*
20 bis 75 Stunden
10 bis 18 Stunden
5 bis 9.3 Stunden
1 Stunde bis 4.5 Stunden
15
1 Stunde bis 4.5 Stunden
45 1.37*
Instruktionsdauer
Instruktionsdauer 0.61*
ganze Klasse
Follow-UpPosttest
ganze Klasse
44
0.67*
Kleingruppe
13
Kleingruppe
K>I=G
1.38*
43
ganze Klasse
41
35
individuelle Förderung
0.60*
individuelle Förderung
Kleingruppe
40
24
Sofortiger Posttest
Gruppengröße
42
individuelle Förderung
39
Gruppengröße
Tabelle 3 (Fortsetzung)
25
19
23
17
10
18
7
16
42
32
0.31*
0.86*
0.76*
0.61*
0.30*
0.83*
0.33*
0.35*
0.81*
0.45*
20
1=5=10
K>I=G
K>I=G
18/9
10/8
8/8
0/0
5/5
20/15
14/8
0.32*/ 0.75*
0.87* 0.91*
-/-
0.56*/ 0.56*
0.77* /0.94*
0.36*/ 1.0*
5=10>20 (ns)
K>I G=alle (I=K>G)
488
| Teil VI: Schule und Unterricht
andere
54
Random
Matched
Nichtäquivalent
55
56
57
DesignMerkmale
Computer
53
Instruktions träger
21
18
33
64
8 A>C
0.83*
Nichtäquivalent
Matched
0.92* ns
Random
DesignMerkmale
andere
Computer
0.87*
0.89*
0.66*
Instruktionsträger
20
22
46
82
8
23
Forscher und andere
Follow-UpPosttest
68
52
0.94*
Forscher und andere
22
12
50
FO>LE
Lehrer
Lehrer
53
Forscher und andere
0.78*
Sofortiger Posttest
Merkmale der Vermittler
51
19
Lehrer
49
Merkmale der Vermittler
Tabelle 3 (Fortsetzung)
0.40*
0.57*
0.63*
0.55*
0.33*
0.63*
0.32*
0.64*
0.41*
R>N M = alle
A>C
FO>LE
FO>LE
10
12
17
33
6
30/20
9/8
0.86*
0.73*
0.37*
0.74*
0.09 ns
0.51*/ 0.96*
0.74*/ 0.74*
M=N>R
A>C
LE>FO (ns)
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 489
Anmerkung: * signifikanter Effekt
15
nichtbehandelte Kontrollgruppe
36
61
Follow-UpPosttest
nicht behandelte Kontrollgruppe
54
20
0.83*
ns
behandelte Kontrollgruppe
behandelte Kontrollgruppe
34
nicht behandelte Kontrollgruppe
59
0.89*
Sofortiger Posttest
60
38
behandelte Kontrollgruppe
58
Tabelle 3 (Fortsetzung)
0.32*
0.62*
0.41*
0.65*
B>N
B>N 15
24 0.82*
0.43* N>B
490
| Teil VI: Schule und Unterricht
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 491
Überblick über die wichtigsten Befunde. In der ersten Spalte im Tabellenkopf ganz links oben unter „Pos.“ ist die Position der jeweiligen Einträge in der Tabelle (Zeilen) durchnummeriert. In der Spalte rechts daneben unter „Moderator-Variable“ sind die entsprechenden intervenierenden Variablen notiert, die Einfluss auf den Erwerb der phonologischen Bewusstheit haben (nächste Spalte). Unter der Spaltenüberschrift „Phonologisches Wissen“ ist die Anzahl der in die Analyse einbezogenen Experimentalgruppen-KontrollgruppenVergleiche (N) sowie die unter der jeweiligen Moderator-Variablen gefundenen Effektstärke (ES) vermerkt. Ebenso sind hier die „Kontraste“ notiert. Unter der Spaltenüberschrift „Kontraste“ findet man die Ergebnisse der inferenzstatistischen Überprüfung (Signifikanzprüfung) der Unterschiede zwischen verschiedenen Effektstärken. In der Mitte des Tabellenkopfes findet sich wieder eine Spaltenüberschrift „Moderator-Variable“. Diese bezieht sich sowohl auf die Untersuchungen zum „Transfer auf die Leseleistung“ (nächste Spalte rechts) als auch auf den „Transfer auf die Rechtschreibleistung“ (nächste Spalte rechts). 24.1.2.1 Trainingseffekte auf das phonologische Wissen Wie aus Position 1 und 2 von Tabelle 3 zu ersehen ist, verbessert die PB-Förderung das phonologische Wissen selbst erheblich (ES = 0.86). Dieser Wert unterscheidet sich statistisch nicht signifikant (vgl. Spalte „Kontraste“) von der mittleren Effektstärke der Nachfolgeuntersuchungen (ES = 0.73), die im Schnitt zwei bis 15 Monate nach dem ersten Posttest („sofort“) erfolgten, was auf eine sehr hohe Stabilität der Trainingsbefunde hinweist. Die Art des in den jeweiligen Untersuchungen bevorzugten Trainings hat offensichtlich einen Einfluss auf die Effekte: Beim Vergleich der gelernten phonologischen Fähigkeiten (vgl. Position 4 bis 7 in Tabelle 3) zeigen sich die Effekte beim Segmentieren (Lautieren) (ES = 0.87) und Phonemweglassen (ES = 0.82) demjenigen beim Zusammenziehen (Synthese) (ES = 0.61) und anderen („andere Skills“) nicht näher spezifizierten Formen überlegen (vgl. Spalte „Kontraste“). 24.1.2.2 Transfer auf das Lesen und Schreiben lernen Da die PB-Förderung nicht Selbstzweck ist, sondern den Erwerb des Lesens und Schreibens unterstützen soll, ist die Betrachtung des Transfers auf das Lesen und Schreiben lernen (vgl. Position 1 bis 8 in Tabelle 3, rechte Hälfte) wichtig. Beim Lesen ergibt sich ein moderater Transfer (ES = 0.53), der sich vom Wert des ersten Follow-Up-Tests (ES = 0.45) nach zwei bis 15 Monaten statistisch nicht unterscheidet. Beide unterscheiden sich aber signifikant vom relativ geringen Wert (ES = 0.23) beim zweiten Follow-Up-Test nach sieben bis 36 Monaten. Betrachtet man beim Transfer auf die Leseleistung die Messmethode für das Erfolgsmaß genauer (vgl. Position 4 bis 8 in Tabelle 3, rechte Hälfte), so muss man unterscheiden zwischen handelsüblichen standardisierten Messverfahren (ES = 0.37) auf der einen Seite und auf der anderen Seite Messverfahren, die die Untersucher informell entwickelt haben (ES = 0.61). Des Weiteren muss unterschieden werden zwischen Wortlesetests und Pseudowort-Lesetests. Bei den letzteren ergeben sich ebenso wie bei den Wortlesetests moderate Transfereffekte (ES = 0.56 bzw. ES = 0.49).
492
| Teil VI: Schule und Unterricht Das Training des phonologischen Wissens übt generell auch einen signifikanten, wenn gleich moderaten Transfereffekt auf das Rechtschreiben aus (vgl. Position 1 bis 5 in Tabelle 3, rechte Hälfte), und zwar mit ES = 0.59 direkt nach Trainingsende signifikant stärker als in den Follow-Up-Tests (ES = 0.37 bzw. ES = 0.20). Dabei zeigt sich bei den von den Untersuchern entwickelten informellen Tests ein deutlich stärkerer Effekt (ES = 0.75) als in standardisierten Verfahren (ES = 0.41). Die zu beobachtenden Unterschiede zwischen informellen und standardisierten Tests sind sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Letzteren breiter und unspezifischer angelegt sind als die Ersteren. 24.1.2.3 Transfer auf das Leseverständnis Auf das Leseverständnis (vgl. Position 9 in Tabelle 3) übt das Training des phonologischen Wissens im Durchschnitt einen kleinen bis moderaten Transfereffekt aus (ES = 0.34). Ehri et al. (2001) schlüsseln die 20 Vergleiche auf: Bei sechs Vergleichen zeigen sich Effektstärken von 0.72 bis 1.69, in sechs weiteren Werte von 0.41 bis 0.62, in drei Untersuchungen Werte von 0.14 bis 0.29 und in fünf Untersuchungen Werte von -0.66 bis 0.08. Effektstärken nahe Null tauchten in der Regel in der Gruppe älterer schwacher Leser auf, die insgesamt weniger vom Training des phonologischen Wissens profitierten (vgl. 24.1.2.5, Intervenierende Variable: Schülermerkmale). Ein weiterer Umstand, der die Effekte auf das sinnverstehende Lesen eher verringert, ist die Tatsache, dass diese Variable in der Regel mit standardisierten Tests gemessen wird, die insgesamt zu geringeren Effektstärken führen (vgl. Position 4 bis 8 in Tabelle 3). In einer Metaanalyse von Studien zur Wirksamkeit des „Lernens des Stellens von Fragen zum Text“ für das Textverstehen (vgl. Rosenshine, Meister & Chapman, 1996) konnte auf der Basis von standardisierten Testverfahren (13 Studien) eine Effektstärke von 0.36 errechnet werden, auf der Basis von informellen Verfahren eine von ES = 0.87 (16 Studien). Die Effektstärke 0.34 für das phonologische Wissen entspricht also derjenigen anderer Maßnahmen zur Förderung des sinnverstehenden Lesens (vgl. Kap. 24.3, Walter in diesem Band). Es ist klar, dass das sinnverstehende Lesen nicht in dem Maße wie das Wortlesen und Schreiben durch das Training von phonologischem Wissen gefördert werden kann, weil diese Fähigkeit auch von anderen Faktoren wie Größe des Wortschatzes, syntaktischen Fähigkeiten, Welt- und Sachwissen und strategischer Kompetenz (metakognitiven Variablen) stark mit beeinflusst wird. 24.1.2.4 Transfer auf andere Schulleistungen Dass das Training des phonologischen Wissens keinerlei Effekt auf die Mathematikleistungen hat (ES = 0.03, vgl. Position 10 in Tabelle 3), zeigt, dass die Verbesserungen bei den sprachlichen abhängigen Variablen nicht durch unspezifische Zuwendungseffekte entstanden sein können.
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 493
24.1.2.5 Intervenierende Variable: Schülermerkmale Schülermerkmale scheinen wichtige intervenierende Variablen darzustellen (vgl. Position 11 bis 16 in Tabelle 3). Die Probanden wurden unterteilt in: – Normalleser: Kinder, die keinerlei Schwierigkeiten beim Lesen aufwiesen. – Risikokinder: Schüler unterhalb der 2. Klasse, die als solche von den Autoren der Studien bezeichnet wurden, weil sie entweder eine geringe PB oder niedrige Leseleistungen (77 % der Fälle) oder aber einen niedrigen sozioökonomischen Status (27 % der Fälle) aufwiesen. – Leseschwache: Ältere Kinder, die schon Leseprobleme ausgebildet hatten. Fast alle stammten aus den Klassen zwei bis sechs und hatten bei durchschnittlicher Allgemeinbegabung ein unterdurchschnittliches Lese-Niveau (Diskrepanz-Kriterium). Obgleich alle Effekte moderat bis hoch ausfallen, sind besonders die Werte für Risikokinder (ES = 0.95) bei der PB-Förderung, speziell aber beim Transfer auf das Lesen (ES = 0.86 bzw. ES = 1.33 im Follow-Up-Test) und Schreiben lernen (ES = 0.76) bemerkenswert. Gerade weil man bei Follow-Up-Tests eher ein Absinken der Effektstärke erwartet hätte, ist es umso erstaunlicher, dass sich beim Lesen hier ein signifikant stärkerer Effekt zeigt. Um auszuschließen, dass die unterschiedliche Anzahl der ausgewerteten Untersuchungen ein Rolle spielen könnte (27 vs. 15), fokussierten Ehri et al. (2001) nur die 12 Vergleiche der Untersuchungen, in denen sowohl Kurz- als auch Langzeiteffekte ermittelt wurden: Bei 9 von 12 Vergleichen zeigten sich stärkere Effekte zu Gunsten der Langzeitvergleiche. Die wahrscheinlichste Erklärung für das Ansteigen der Effekte ist, dass die Risikokinder in diesen Studien Vorschul- und Kindergartenkinder oder Erstklässler mit sehr niedrigem phonologischen Wissen und/oder schwachen Leseleistungen waren als die Intervention begann. Dabei benötigten sie relativ viel Zeit, um ein Maximum an Nutzen aus dem Training des phonologischen Wissens zu ziehen. Bei den Normallesern zeigen sich starke bis moderate Effekte: ES = 0.93 für das phonologische Wissen, ES = 0.47 für den Transfer auf das Lesen lernen und ES = 0.88 für das Schreiben lernen. Ältere leseschwache Schüler profitierten vom Training des phonologischen Wissens am wenigsten (ES = 0.62), zeigten aber beim Transfer auf die Leseleistungen ähnlich moderate Effekte wie die Normalleser (ES = 0.45), bzw. relativ schwache Effekte beim Follow-Up-Test (ES = 0.28). Erklärt werden kann der Befund für das phonologische Wissen durch die Tatsache, dass die leseschwachen Schüler vergleichsweise alt waren und relativ mehr an phonologischem Wissen als Basis mitbrachten. Damit war weniger Raum für Verbesserungen vorhanden. Der Transfer auf das Schreiben lernen wird augenscheinlich durch das anfängliche Leseniveau der Schüler beeinflusst (vgl. Position 11 bis 13 in Tabelle 3): Während bei Risikokindern (ES = 0.76) und Normallesern (ES = 0.88) relativ starke Effekte auszumachen sind, ist der Effekt für Leseschwache von Null nicht verschieden (ES = 0.15). Da es sich bei den Leseschwachen – wie schon gesagt – um ältere Kinder handelt, ist es wahrscheinlich, dass in dieser Alters- und Schulstufe orthografisch komplexere Wörter den Schriftsprach-Wortschatz dominieren und eher syllabisch und morphologisch anspruchsvollere Wortstrukturen zum erfolgreichen Schreiben beherrscht werden müssen als einfache am Phonem bzw. am Laut orientierte Fertigkeiten (vgl. auch Walter, 2001,
494
| Teil VI: Schule und Unterricht S. 173 ff.), die in der vorliegenden Metaanalyse von Ehri et al. (2001) ausschließlich betrachtet wurden. Untersuchungen, die sich mit größeren Einheiten als dem Phonem beschäftigten, wurden nämlich aus der Analyse ausgeschlossen! Damit wird deutlich, wo wahrscheinlich die Grenzen des Trainings des phonologischen Wissens liegen. 24.1.2.6 Intervenierende Variable: Lernstufen Die Effekte der Förderung des phonologischen Wissens wurden auch in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernstufe untersucht (vgl. Position 17 bis 20 in Tabelle 3). Berücksichtigt wurden Vorschulkinder, Kindergartenkinder, Schüler der 1. Klasse und Schüler der 2. bis 6. Klasse. Wichtig zu erwähnen ist hierbei die Tatsache, dass in der Gruppe „2.–6. Klasse“ in der Regel (d. h. in 14 der 18 Vergleiche beim Transfer auf das Lesen) die oben bereits beschriebenen älteren Leseschwachen als Probanden fungierten. Aussagen allgemeiner Art über diese Altersstufe insgesamt lassen die Daten nicht zu. Beim Erwerb des phonologischen Wissens profitierten vor allem die Vorschul- (ES = 2.37) und Kindergartenkinder (ES = 0.95), gefolgt von den Leseschwachen (ES = 0.70) und den Erstklässlern (ES = 0.48). Die beiden zuletzt genannten Effekte unterscheiden sich nicht statistisch signifikant voneinander. Die Befunde sind nachvollziehbar: Diejenigen Kinder, die am wenigsten Vorwissen aufweisen, profitieren am meisten. Auf Grund der geringen Anzahl der Untersuchungen im Vorschulalter sind die genannten Effekte möglicherweise nicht sehr zuverlässig. Beim Transfer auf das Lesen lernen profitieren (abgesehen von den Vorschülern) alle Schülergruppen gleichermaßen moderat (ES = 0.48 und ES = 0.49) vom Erwerb des phonologischen Wissens. Der Transfer auf das Lesen wurde bei den Vorschülern mit vereinfachten Worterkennenstests gemessen (ES = 1.25). Beim Transfer auf die Rechtschreibleistungen ist in Tabelle 3 (vgl. Position 18 bis 20) unter „Kindergarten“ und „1. Klasse“ eine zweite Effektstärke angegeben, welche die Werte unter Ausschluss der Leseschwachen wiedergibt. Insgesamt ergeben sich bei Kindergartenkindern (ES = 0.97) und Erstklässlern (ES = 0.52 / ES = 0.66) beim Transfer auf die Rechtschreibleistungen starke bis moderate Effekte. Wie nicht anders zu erwarten war, zeigt sich bei den Zweit- bis Sechstklässlern, die sich vorwiegend aus der Gruppe der älteren Leseschwachen rekrutierten, kein Transfereffekt auf die Rechtschreibung (ES = 0.14). 24.1.2.7 Intervenierende Variable: Sozioökonomischer Status Der sozioökonomische Status der Schüler (vgl. Position 21 bis 22 in Tabelle 3) spielte beim Erwerb des phonologischen Wissen keine Rolle, war jedoch beim Transfer auf die Lese- und Rechtschreibleistungen von erheblicher Bedeutung. So ergab sich beim Transfer auf das Lesen für Schüler aus Familien mit mittlerem und höherem sozioökonomischem Status (MH) eine ES = 0.84, für diejenigen mit niedrigem Status ein signifikant niedrigerer Wert von ES = 0.45. Für den Transfer auf das Schreiben lernen ergaben sich Werte von ES = 1.17 und ES = 0.76, die in die gleiche Richtung gehen. Wie Ehri et al. (2001) mitteilen, wurden vor allem in den Arbeiten mit Leseschwachen keine Angaben
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 495
über sozioökonomische Daten gemacht, so dass die Effektstärken vor allem für Normalleser und Risikokinder gelten. Insgesamt widersprechen diese Befunde einerseits Vermutungen (vgl. z. B. Dressman, 1999), dass soziolinguistisch benachteiligte Kinder, was den Erwerb des phonologischen Wissens angeht, anderen gegenüber schlechter abschneiden. Auf der anderen Seite wird aber deutlich, dass der Transfer auf das Lesen und Schreiben lernen zwar sehr deutlich ausfällt, jedoch von signifikant geringerer Stärke ist als bei anderen Kindern. 24.1.2.8 Intervenierende Variable: Landessprache Die Auswirkungen des phonologischen Wissens wurden nicht nur auf der Basis der englischen Sprache untersucht. Die Metaanalyse von Ehri et al. (2001) bezog auch Arbeiten aus anderen Ländern ein, in denen das Training und der Transfer in Bezug auf die dänische, niederländische, finnische, deutsche, hebräische, norwegische, spanische und schwedische Sprache untersucht wurden (vgl. Position 23 bis 26 in Tabelle 3). In englischsprachigen Untersuchungen ließen sich sowohl beim Erwerb des phonologischen Wissen (ES = 0.99 vs. ES = 0.65) als auch beim Transfer auf die Leseleistungen (ES = 0.63 vs. ES = 0.36) sowie bei sofortigem Nachtest und beim Rechtschreiben (ES = 0.95 vs. ES = 0.51), wenn die Leseschwachen nicht berücksichtigt wurden, signifikant stärkere Effekte erzielen als in anderen Sprachen. Im Follow-Up-Posttest sind jedoch beim Transfer auf das Lesen die Unterschiede nicht mehr vorhanden (ES = 0.42 vs. ES = 0.47). Ein möglicher Grund für die stärkeren Effekte im Englischen kann sein, dass in dieser Sprache die Transparenz der Phoneme nicht so stark ausgeprägt ist wie in anderen Sprachen und deshalb Kinder hier mehr profitieren. 24.1.2.9 Intervenierende Variable: Charakteristika der Vermittlung Charakteristika der Vermittlung des phonologischen Wissens spielen als intervenierende Variablen eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Position 27 bis 48 in Tabelle 3). In der vorliegenden Metaanalyse wird u. a. nach der Anzahl der im Training vermittelten Fertigkeiten unterschieden. Auf den ersten Blick erscheint es, als ob das Vermitteln von drei und mehr Fertigkeiten grundsätzlich von Nachteil wäre, was die deutlich niedrigeren Effektstärken sowohl beim Erwerb des phonologischen Wissens als auch beim Transfer auf das Lesen und Rechtschreiben angeht (vgl. Position 27 bis 34 in Tabelle 3). Speziell für das Rechtschreiben wurden von Ehri et al. (2001) Daten mitgeteilt, welche die Gruppe der älteren leseschwachen Schüler aus der Analyse ausschließt (Zahlen hinter dem „/“). In diesem Fall verschwinden die Unterschiede beim Rechtschreiben, auch wenn dann in der Kategorie „drei und mehr“ nur drei Vergleiche übrig bleiben. Bei den unterschiedlichen Aufgabentypen, die beim Training des phonologischen Wissens herangezogen werden (vgl. Tabelle 2), scheinen zwei ganz besonders wichtig zu sein: Das Zusammenziehen (Synthetisieren) von Einzellauten (blending) und das Segmentieren (Analysieren) von Einzellauten im Wort (segmenting). Ganz offensichtlich erleichtert das Zusammenziehen von konkreten Lauten das Dekodieren von neuen
496
| Teil VI: Schule und Unterricht Wörtern, während das Segmentieren eines Wortes in seine Einzellaute das Schreiben unterstützt. Wie aus den Positionen 33 bis 34 in Tabelle 3 hervorgeht, bestehen hinsichtlich des Erwerbs phonologischen Wissens zwischen Untersuchungen, in denen auf der einen Seite multiple Skills und auf der anderen Seite schwerpunktmäßig Lautanalyse und -synthese trainiert wurden, keine signifikanten Unterschiede (ES = 0.70 vs. ES = 0.81). Das ändert sich aber beim Transfer auf das Lesen, wo sich deutliche Vorteile zu Gunsten von Lautanalyse und -synthese zeigen (ES = 0.27 vs. ES = 0.67) ebenso wie beim Transfer auf das Rechtschreiben (ES = 0.23 vs. ES = 0.79). Auch wenn sich diese Unterschiede beim Transfer auf das Rechtschreiben wieder nivellieren, wenn man die schwachen Leser aus der Analyse ausschließt (ES = 0.93 vs. ES = 0.85), so scheint es doch gerade beim Lesen lernen generell sinnvoll zu sein, im Zusammenhang mit dem Training des phonologischen Wissens gezielt Analyse und Synthese zu trainieren. Ganz offensichtlich bekommt gerade älteren schwachen Lesern – was den Transfer auf das Lesen und Schreiben angeht – die Bedingung „multiple skills“ (drei oder mehr Skills) weniger gut als das gezielte Training mit dem Schwerpunkt „blending/segmenting“ (nur Zusammenziehen und Segmentieren). Vor dem Hintergrund dieser Befunde erscheint es gerade bei schwächeren Schülern sinnvoll, darauf zu achten, dass es wirksamer sein dürfte, wenige Aspekte des phonologischen Wissens gründlich zu unterrichten, als eine Vielzahl von Aspekten, welche die Schüler möglicherweise verwirrt. Wichtiger noch als die Anzahl der zu lernenden Aspekte des phonologischen Wissens ist der angemessene Schwierigkeitsgrad der Aufgaben in Abhängigkeit vom Alter und dem Entwicklungsstand der Schüler. Ob in den Untersuchungen mit oder ohne Einbezug von Buchstaben gearbeitet wurde, muss ebenfalls als ein sehr wichtiger differentieller Faktor bewertet werden (vgl. Position 35 bis 38 in Tabelle 3). In einigen Studien lernten die Kinder, jedem identifizierten Laut einen Plastikbuchstaben zuzuordnen, während in anderen Studien die Kinder die Laute nur aussprachen oder einfache Plättchen benutzt wurden. Wie aus der Tabelle zu ersehen ist, ergibt sich beim Erwerb des phonologischen Wissens in der Gesamtstichprobe aller Untersuchungen kein Unterschied zwischen Untersuchungen mit oder ohne Buchstaben (ES = 0.89 vs. ES = 0.82). Schließt man jedoch die Untersuchungen mit älteren leseschwachen Schülern aus, so ergibt sich sehr wohl ein Vorteil zu Gunsten der Gruppen mit Buchstaben (ES = 1.1 vs. ES = 0.83). Beim Transfer auf die Lese- (ES = 0.67 vs. ES = 0.38) und Schreibleistungen (ES = 0.61 vs. ES = 0.34) ergeben sich fast doppelt so starke Effekte zu Gunsten des Arbeitens mit Buchstaben unabhängig davon, ob die schwächeren älteren Schüler in der Analyse mit berücksichtigt wurden oder nicht. Hoch interessant sind die differenziellen Effekte hinsichtlich der Gruppengröße bei der Instruktion (vgl. Position 39 bis 44 in Tabelle 3). Wie ersichtlich, ist die Vermittlung von phonologischem Wissen am effektivsten in der Kleingruppe (ES = 1.38). Die Effekte sind doppelt so stark wie in der Einzelförderung (ES = 0.60) oder in der Arbeit mit der Gesamtklasse (ES = 0.76). Die hohe Effektivität der Kleingruppenarbeit kann möglicherweise durch erhöhte Aufmerksamkeit, sozialen Anreiz zum Lernen oder auch Beobachtungslernen erklärt werden. Die doppelte Effektstärke zu Gunsten der Kleingruppenarbeit zeigt sich auch beim Transfer auf das Lesen lernen und mit einer bemerkenswerten Stabilität auch im Follow-Up-Test (vgl. Position 39 bis 44 in Tabelle 3). Ähnliches gilt für den Transfer auf das Schreiben lernen, bei dem sich der Effekt bei der Kleingruppenarbeit (ES = 0.77) deutlich von demjenigen bei individueller Förderung (ES = 0.36) und
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der Arbeit in der Gesamtklasse (ES = 0.56) absetzt. Wenn man hier wieder die älteren Leseschwachen außen vor lässt, ergeben sich jedoch keine Unterschiede mehr zwischen individueller Förderung (ES = 1.0) und Kleingruppenarbeit (ES = 0.94). Die Dauer der Vermittlung des phonologischen Wissens (vgl. Position 45 bis 48 in Tabelle 3) schwankte von einer bis zu 75 Stunden. Um die Auswirkungen des Zeitfaktors zu untersuchen, wurden die Untersuchungen vier Zeitblöcken zugeordnet. Bei der Vermittlung des phonologischen Wissens erwiesen sich die Trainings in den beiden mittleren Zeitblöcken, 5 bis 9.3 Stunden und 10 bis 18 Stunden (ES = 1.37 und ES = 1.14), als doppelt so effektiv wie die Trainings in den beiden restlichen Zeitblöcken (ES = 0.61 und ES = 0.65). Beim Transfer auf das Lesen erwiesen sich die drei kürzeren Zeitblöcke dem langen Zeitblock als überlegen. Die Unterschiede zwischen den kürzeren Intervallen sind statistisch nicht signifikant. Dasselbe Ergebnismuster zeigt sich beim Transfer auf das Rechtschreiben, jedoch nur, wenn die Daten der älteren Leseschwachen in der Analyse berücksichtigt werden. Sind diese eliminiert, ergeben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Zeitblöcken. Offensichtlich waren die Leseschwachen im langen Zeitblock überrepräsentiert. Beeindruckend sind hier die relativ hohen Effektstärken von 0.75, 0.91 und 1.1. Wie die Befunde zeigen, muss sich das Training des phonologischen Wissens nicht über den größtmöglichen Zeitraum erstrecken, um einen relativ optimalen Transfer auf das Lesen und Schreiben zu ermöglichen. Ebenfalls berücksichtigt in der Metaanalyse sind Merkmale der Vermittler (vgl. Position 49 bis 54 in Tabelle 3). Da Lehrer die primären Vermittler beim Schriftspracherwerb sind, ist es interessant festzustellen, ob sie phonologisches Wissen effektiv lehren. Wie aus den Positionen 49 bis 52 in Tabelle 3 zu ersehen ist, produzieren Lehrer eine Effektstärke von 0.78. Diese ist statistisch nicht so hoch wie diejenige der Untersucher (ES = 0.94). Der Transfer des durch Lehrer vermittelten phonologischen Wissens auf die Leseleistung ist zwar mit ES = 0.41 deutlich vorhanden, jedoch bei den durch die Untersucher vermittelten Fähigkeiten mit ES = 0.64 statistisch bedeutsam höher. Längerfristig betrachtet ist der Transfer bei den durch die Untersucher im phonologischen Wissen unterrichteten Kindern mit ES = 0.63 doppelt so groß wie bei den durch die Lehrer unterrichteten Kinder (ES = 0.32). Beim Transfer auf die Rechtschreibung ergibt sich eine signifikant höhere Effektstärke zu Gunsten der durch Lehrer im phonologischen Wissen unterrichteten Kinder (ES = 0.74 vs. ES = 0.51). Dieser Unterschied dreht sich jedoch zu Ungunsten der Lehrer wieder um, wenn man die älteren schwachen Leser aus der Analyse ausschließt (ES = 0.74 vs. ES = 0.96), ein Unterschied, der jedoch statistisch nicht signifikant ist. Wichtig bei diesen Forschungsarbeiten ist es, anzumerken, dass der Transfer nicht durch die Untersucher herbeigeführt worden ist, da diese in den meisten Fällen nur das phonologische Wissen unterrichtet haben. Wie aus den Positionen 53 und 54 in Tabelle 3 hervorgeht, gibt es nur acht TreatmentKontrollgruppenvergleiche, bei denen der Computer der Instruktionsträger war. Es ist offensichtlich, dass Computer (vgl. Kap. 23.8, Walter, in diesem Band) beim Erwerb des phonologischen Wissens einen signifikanten und moderaten Trainingseffekt erzeugen können (ES = 0.66), obwohl andere Formen der Vermittlung ungleich stärker sind (ES = 0.89). Bei Kindern, die ihr phonologisches Wissen mit dem Computer erworben haben, ist ein Transfereffekt auf das Lesen in einer Größenordnung von ES = 0.33 zu beobachten. Ein signifikant größerer Effekt ist jedoch mit anderen Verfahren zu erzielen (ES =
498
| Teil VI: Schule und Unterricht 0.55). Im Gegensatz zum Lesen ergibt sich bei einem auf Computerbasis erworbenen phonologischen Wissen kein Transfer auf die Rechtschreibung (ES = 0.09). Dieser ist jedoch ganz deutlich bei anderen Verfahren zu beobachten (ES = 0.74). 24.1.2.10 Intervenierende Variable: Merkmale des Untersuchungsdesigns Merkmale des Designs der Untersuchungen wurden herangezogen, um zu überprüfen, ob die Befunde in Abhängigkeit von angemessener oder weniger angemessener Versuchsplanung variieren (vgl. Position 55 bis 57 in Tabelle 3). „Random“ bedeutet, dass die Probanden nach dem Zufall auf Experimental- und Kontrollgruppe aufgeteilt wurden, „Matched“ bedeutet, dass jeweils zwei Probanden mit gleichen Merkmalen (z. B. Vorwissen, Geschlecht, Alter) gesucht und dann auf Experimental- und Kontrollgruppe verteilt wurden und „Nichtäquivalent“ bedeutet, dass relativ willkürlich z. B. in einer zweizügigen Schule die eine Klasse als Experimentalgruppe und die andere als Kontrollgruppe herangezogen wurde, ohne dass andere Merkmale Berücksichtigung gefunden hätten. Bei der Vermittlung des phonologischen Wissens selbst variieren die Effektstärken von 0.83 über 0.87 bis zu 0.92, wobei die Unterschiede nicht signifikant sind. Beim Transfer auf die Leseleistung war der Effekt bei den nach dem Zufall zusammengestellten Gruppen (ES = 0.63) signifikant größer als bei den „Nichtäquivalent“ zusammengestellten Gruppen, wobei das parallelisierte Gruppendesign „Matched“ (ES = 0.57) sich hinsichtlich der Effektstärke nicht signifikant von den anderen unterscheidet. Ganz andere Verhältnisse ergeben sich beim Transfer auf das Rechtschreiben, wo sich die Gruppen „Nichtäquivalent“ und „Matched“ (ES = 0.86 bzw. ES = 0.73) signifikant von der Gruppe „Random“ (ES = 0.37) unterscheiden. Diese Befunde zeigen, dass die hohen Effektstärken nicht durch schwache oder inadäquate Untersuchungsdesigns zu Stande gekommen sind. Die Betrachtung der Art der Behandlung der Kontrollgruppe erbrachte zumindest beim Transfer auf das Lesen interessante Befunde (vgl. Position 58 bis 61 in Tabelle 3). Bus und van Ijzendoorn (1999) teilen in ihrer Metaanalyse das überraschende Ergebnis mit, dass im phonologischen Wissen trainierte Gruppen verglichen mit Kontrollgruppen, denen keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, einen signifikant geringeren Transfer auf das Lesen zeigten als trainierte Gruppen, die mit alternativ behandelten Kontrollgruppen verglichen wurden. Eigentlich sollte man genau das Gegenteil erwarten, weil Erwartungs- und Zuwendungseffekte den Unterschied zwischen behandelten und unbehandelten Gruppen eher künstlich aufblähen. In der Metaanalyse von Ehri et al. (2001) wurde der Befund von Bus und van Ijzendoorn für das Lesen bestätigt (vgl. Position 58 bis 61 in Tabelle 3). Auf behandelten Kontrollgruppen basierende Vergleiche lieferten statistisch signifikant größere Effekte (ES = 0.65) als auf unbehandelten Kontrollgruppen basierende (ES = 0.41), im Falle von Follow-Up-Posttests zeigten sich Effektstärken von ES = 0.62 versus ES = 0.32. Bei allen anderen Vergleichen konnte dies jedoch nicht bestätigt werden, besonders beim Transfer auf das Rechtschreiben nicht, bei dem sich genau umgekehrte Verhältnisse zu Gunsten der unbehandelten Kontrollgruppen zeigten (ES = 0.82 vs. ES = 0.43). Insgesamt kann also nicht davon ausgegangen werden, dass sich in Designs mit unbehandelten Kontrollgruppen grundsätzlich stärkere Trainingseffekte einstellen.
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24.1.3 Jenseits der metaanalytischen Darstellung: Auswirkungen entsprechender Fördermaßnahmen bei Risikokindern im Kindergartenalter Die komplexe und relativ abstrakte Darstellung des Forschungsstandes anhand von Effektstärken auf der Basis einer großen internationalen Metaanalyse soll abschließend ergänzt werden durch Befunde der Längsschnittstudie aus dem deutschsprachigen Raum von Schneider, Roth und Ennemoser (2000), um anschaulich die praktischen Effekte einer im Kindergartenalter einsetzenden Förderung zu dokumentieren. Die Autoren gingen der Frage nach, ob speziell auch bei Risikokindern (vgl. auch weiter oben 24.1.2.5) das Training der phonologischen Bewusstheit zu einem echten Transfer auf das Lesen und Rechtschreiben führt. Als Risikokinder wurden diejenigen 208 Kinder bezeichnet, die aus einer Gesamtstichprobe von 726 Kindern auf der Basis des Bielefelder Screenings (BISC, vgl. Jansen, Mannhaupt, Marx und Skowronek, 2002) einen Prozentrang von 25 oder weniger erreichten. Darüber hinaus sollten besonders die Auswirkungen unterschiedlicher Trainingsinhalte untersucht werden, speziell der Effekt, ob neben dem üblichen Training des phonologischen Wissens ohne Buchstaben (PA) durch das zusätzliche Einführen von Buchstabe-Laut-Beziehungen (PA + LS) oder durch das Üben von GPK-Regeln allein (LS) differenzielle Ergebnisse zu erwarten sind (vgl. auch weiter oben 24.1.2.9). Verglichen wurden die Risikokinder mit einer Stichprobe von unauffälligen Kindern als Kontrollgruppe. Die Ergebnisse des Transfers auf das Lesen und Rechtschreiben am Ende der 2. Klasse sind in Abbildung 2 und Abbildung 3 dargestellt.
Mittlere Prozentränge der Gruppen Rechtschr.
Lesen
100 75 50
54,1
60,3 45,5
47,1
41,9
43,7
54,5
41,4
25 0 PA+LS
PA
LS
Kontr.
Abbildung 2: Mittlere Prozentränge im Rechtschreiben in Abhängigkeit von der Interventionsmethode im Kindergartenalter am Ende des 2. Schuljahrs (nach Schneider et al. 2000, S. 294)
500
| Teil VI: Schule und Unterricht
Prozentsatz der Kinder PR < 25 im Rechtschreiben 60 40 20 20
22 8
6
0 PA+LS
PA
LS
Kontr.
Abbildung 3: Prozentsatz der Problemkinder (PR < 25) im Rechtschreiben in Abhängigkeit von der Interventionsmethode im Kindergartenalter am Ende des 2. Schuljahrs (nach Schneider et al. 2000, S. 294)
Wie aus Abbildung 2 zu ersehen ist, wirkte sich die Intervention, die ja bekanntlich im Kindergartenalter stattgefunden hatte und während dessen 100 Prozent aller Kinder (bis auf die Kontrollgruppe) als Risikokinder eingestuft worden waren, am Ende des 2. Schuljahres in der PA + LS-Gruppe dahingehend aus, dass im Rechtschreiben die Kinder leicht über der Durchschnittsnorm liegen und in allen anderen Fördergruppen die Leistungen vor allem im Rechtschreiben (aber auch im Lesen) nahe des normalen Leistungsniveaus anzusiedeln sind. Insgesamt wird deutlich, dass sich alle Fördermaßnahmen stärker auf das Rechtschreiben als auf das Lesen ausgewirkt haben und die Kombination PA + LS die besten Ergebnisse liefert (vgl. auch weiter oben 24.1.2.9). Dieser Sachverhalt wird dann besonders eindrucksvoll deutlich (vgl. Abbildung 3), wenn man den Prozentsatz derjenigen Kinder betrachtet, die am Ende des 2. Schuljahres immer noch als Problemkinder (Rechtschreiben: PR < 25) galten. Unter der Kombinationsbedingung (PA + LS) finden sich lediglich 6 % (3 von 48 Kindern) Risikokinder ähnlich wie in der Kontrollgruppe (8 %, 9 von 115 Kindern). Damit wird deutlich, dass durch entsprechende frühzeitige Fördermaßnahmen, in diesem Fall 20 Wochen lang täglich 10 bis 15 Minuten, deutliche Präventionserfolge erzielt werden können. 24.1.4 Zusammenfassendes Fazit aus den wichtigsten Befunden Die wesentlichen Befunde sind bereits im Zusammenhang mit der Darstellung in Tabelle 3 ausgebreitet worden. Einige Kernergebnisse sollen jedoch noch einmal hervorgehoben werden: – Das Training der phonologischen Bewusstheit ist Mittel und Zweck zum Lesen und Schreiben lernen und nicht primäres Ziel.
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 501
– Phonologisches Wissen lässt sich unabhängig von der jeweiligen Landessprache effektiv vermitteln und ist damit in der Anerkennung seiner Effektivität international etabliert. – Dass gerade beim Transfer auf das Lesen (in der Metaanalyse) die Effekte bei behandelten Kontrollgruppen größer ausfallen als bei unbehandelten, unterstützt die Annahme der besonderen Wirksamkeit dieses Förderansatzes. – Die grundsätzlichen Aussagen über die Wirksamkeit des phonologischen Wissens besitzen ihre Gültigkeit unabhängig von der Qualität der Untersuchungen. – Die Transfereffekte bei Vorschul-, Kindergarten- und Risikokindern liegen teilweise über ES = 1.0 und prädestinieren die PB-Förderung zu einem pädagogisch-didaktisch sehr wirksamen Ansatz im Rahmen von Prävention und Intervention. – Analyse- und Synthese-Übungen erbringen offensichtlich die besten Erfolge. Diese können noch gesteigert werden, wenn mit Buchstaben gearbeitet und die Kleingruppenarbeit bevorzugt wird. – Der Transfer auf das sinnverstehende Lesen (gemessen mit standardisierten Messverfahren) ist zwar moderat, aber die Förderung der phonologischen Bewusstheit zeigt hier ebenso starke Effekte wie andere Maßnahmen zur Verbesserung des Leseverständnisses. – Ältere leseschwache Kinder profitieren am wenigsten oder gar nicht, vor allem hinsichtlich des Transfers auf das Lesen und Schreiben lernen. Hier zeigt sich eine klare Begrenzung, die eine Glorifizierung als „Allheilmittel“ verbietet. – Grenzen der Wirksamkeit werden ebenfalls deutlich, wenn man die Effektstärken in Prozentanteile der Varianzaufklärung umrechnet: Die unterschiedlichen Leistungen (Varianz) von allen Kindern beim Lesen lernen können durch das phonologische Wissen insgesamt zu 6,5 % erklärt werden. Der Prozentsatz erhöht sich auf 10 %, wenn phonologisches Wissen in Kombination mit Buchstaben gelehrt wird. Bei Vorschülern erhöht sich die Varianzaufklärung auf 28 %. Bei Risikokindern (Langzeiteffekt) erhöht sich der Prozentsatz der Varianzaufklärung auf 31 %. Es bleibt also noch sehr viel Raum für andere Komponenten, die am Lese- und Schreibprozess beteiligt sind! 24.1.5 Diagnose- und Trainingsverfahren im deutschsprachigen Bereich Als eines der ersten evaluierten Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit im deutschsprachigen Raum ist z. B. das von Blumenstock (1979) zu nennen. In neuerer Zeit sind weitere sehr effektive Verfahren zur Diagnose und Förderung entwickelt worden wie z. B. das Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC) von Jansen et al. (2002) und des Weiteren die Verfahren von Martschinke, Kirschhock und Frank (2001) sowie der BAKO 1-4 von Stock, Marx und Schneider (2003). Als Gruppentest steht der PB-LRS von Barth und Gomm (2004) zur Verfügung. Zum Training zu empfehlen sind die Programme von Küspert und Schneider (2000), von Forster und Martschinke (2001), Hartmann & Dolenc (2005) sowie der Übungskatalog des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes SchleswigHolstein (2002). Inzwischen existieren zu dieser Thematik auch multimediale Lern- und Übungsprogrammversionen, z. B. zum Würzbürger Training dasjenige von Küspert, Roth
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| Teil VI: Schule und Unterricht und Schneider (2000). Eine Beschreibung dazu findet sich bei Laier (2002). Ein anderes Multimedia-Programm wurde von Dostert (2002) entwickelt. Gerade die besondere Wirksamkeit des zusätzlichen Einbindens von Graphem-Phonem-Korrespondenzen wird in der multimedialen Fördersoftware „Silbenhimmel“ von Walter (2004) berücksichtigt.
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Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 503
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24.2 Lesenlernen und Leseförderung Gero Tacke Die Fähigkeit, Texte flüssig und mit Verständnis zu lesen, ist nicht nur für den Erfolg in der Schule von grundlegender Bedeutung. Nicht lesen zu können bedeutet in unserer Gesellschaft eine erhebliche Beeinträchtigung. Die Betroffenen können sich nur einseitig informieren und lediglich eingeschränkt am kulturellen Leben teilhaben. Weil sie kaum Weiterbildungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können, sind vor allem auch ihre Berufsaussichten ausgesprochen schlecht. Denn selbst bei relativ einfachen Tätigkeiten ist das Lesen eine notwendige Voraussetzung. Sowohl in der Schule als auch im Elternhaus wird der Rechtschreibung häufig größere Aufmerksamkeit gewidmet als dem Lesen. Wenn man jedoch die Bedeutung der beiden Fertigkeiten gegeneinander abwägt, so kommt man zu dem Schluss, dass es genau umgekehrt sein sollte. Wer die Rechtschreibung nur unvollkommen beherrscht, hat immer noch relativ gute Chancen, einen Beruf zu erlernen oder sonst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Weil das bei Leseproblemen nicht der Fall ist, sollte der Vermittlung der Lesefähigkeit höchste Priorität eingeräumt werden. Zum Lesenlernen und zur Leseförderung liegen viele unterschiedliche Konzeptionen vor. Dies wirft die Frage auf, welche Kriterien man anlegen sollte, wenn man sich für den einen oder anderen Ansatz entscheidet. Ohne Frage ist der wichtigste Aspekt einer Methode ihr Erfolg. Hat man die Wahl zwischen mehreren Konzeptionen, so wird man diejenige auswählen, bei der die Schüler unter sonst gleichen Bedingungen am meisten lernen. Leider werden bei nicht wenigen Ansätzen Erfolge lediglich behauptet. Studien, in denen untersucht wird, ob die Versprechungen der Realität standhalten, liegen in vielen Fällen nicht vor. In dieser Situation ist man gut beraten, solchen Ansätzen den Vorzug einzuräumen, deren Wirksamkeit durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt ist. In den letzten Jahren sind zwei Metaanalysen (Analysen von Einzelstudien) zum Erfolg von Maßnahmen zur Förderung des Lesenlernens vorgelegt worden (Swanson, 1999; Elbaum, Vaughan, Hughes & Moody, 2000). Die über insgesamt 124 Untersuchungen gemittelte Effektstärke, d. h. das durchschnittliche Ausmaß der Wirkung, lag im mittleren Bereich. Dabei muss man berücksichtigen, dass in den Studien ganz verschiedene Fördermethoden zum Einsatz kamen. Um im Unterricht größere Wirkungen zu erzielen, ist es daher sinnvoll, das Vorgehen und die Ergebnisse jener Untersuchungen heranzuziehen, bei denen überdurchschnittliche Effektstärken erzielt wurden. Solche Studien werden im Folgenden bevorzugt berücksichtigt. 24.2.1 Entwicklung des Schriftspracherwerbs In den letzten Jahren hat eine Reihe von Autoren (im deutschen Sprachraum z. B. Valtin, 1993) die Fortschritte im Lesen- und Schreibenlernen als eine Abfolge von Stufen oder Phasen beschrieben. Sie sind gekennzeichnet durch qualitative Veränderungen in den dominierenden Lese- und Schreibstrategien. Im Großen und Ganzen werden drei Stufen bzw. Strategien unterschieden.
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– Auf der ersten, der logographischen Stufe, die für Leseanfänger charakteristisch ist, werden Wörter nicht auf der Basis der Buchstaben-Laut-Zuordnungen erlesen, sondern die Schüler identifizieren sie aufgrund spezieller Merkmale. Dazu können einzelne, besonders auffällige Buchstaben gehören oder auch die Position der Wörter auf der Fibelseite. Eine wesentliche Strategie der logographischen Stufe besteht darin, Wörter aus dem inhaltlichen Zusammenhang zu erschließen. – Die zweite Stufe, die alphabetische Phase, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Schüler die Buchstaben eines Wortes in Laute umsetzen und die Laute zu Wörtern synthetisieren. Charakteristisch ist dabei das sogenannte Dehnlesen. Dabei wird ein Wort zunächst in einer künstlichen Weise gedehnt gesprochen. Soll z. B. das Wort „Spinne“ gelesen werden, so sprechen die Schüler zunächst /sspiinee/. Häufig wiederholen sie dabei auch einzelne Wortteile, z. B. /sspi - spi - spiin - - spiiinee/. Anschließend vergleichen sie das von ihnen produzierte Lautgebilde mit den Wörtern ihres im Gedächtnis gespeicherten phonologischen Lexikons und ordnen es dem Wort zu, dem es am ähnlichsten ist. Im angeführten Beispiel würden sie auf das Wort /schpinne/ stoßen. – Die dritte Phase umfasst die orthographische Strategie. Schüler, die auf dieser Stufe angelangt sind, haben die orthographischen Besonderheiten von Wörtern im Gedächtnis gespeichert, z. B. das große „M“ und die beiden „t“ in dem Wort „Mutter“. Beim Lesen werden die orthographischen Besonderheiten zur Identifikation der entsprechenden Wörter mit herangezogen. Als besonderer Pluspunkt wird bei den Stufenlehren die Überwindung des Defizitdenkens hervorgehoben. Nicht mehr die Fehler stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das, was bereits erreicht worden ist. Zudem werden Fehler nicht als etwas Missliches angesehen. Sie sind vielmehr eine notwendige Zwischenstufe auf dem Weg zur schriftsprachlichen Kompetenz. Die Stufenlehren vermitteln dabei ein mehr als nur optimistisches Bild vom Erwerb des Lesens und Schreibens. Gibt man den Schülern – diesen Eindruck könnte man gewinnen – nur genügend Zeit, die Phasen in ihrem eigenen Tempo zu durchlaufen, so kommt jeder auf der höchsten Stufe an und hat damit ausreichende schriftsprachliche Fertigkeiten erworben. Nach allem, was man sowohl aus der Praxis als auch aus empirischen Studien weiß, ist das jedoch nicht der Fall. Auf allen Stufen gibt es zwischen den Schülern ganz erhebliche Unterschiede, die im Laufe der Zeit nicht von selbst verschwinden. Damit stellt sich insbesondere die Frage, auf welche Weise man die schwachen Schüler an die Kompetenz der leistungsstärkeren heranführen kann. Dieser Aspekt findet besondere Berücksichtigung in einem Modell, das Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2003) als Alternative zu den Stufenmodellen erstellt haben. Demnach entwickelt sich die Lesekompetenz aus der Interaktion zwischen den individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler und der Art des Leseunterrichts. Wenn bei einzelnen Schülern bestimmte Fertigkeiten, die für das Lesenlernen von Bedeutung sind, weniger gut ausgeprägt sind, so kann (und sollte) das durch einen entsprechenden Unterricht kompensiert werden.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 24.2.2 Konzeptionen zum Lesenlernen und zur Leseförderung Für das Lesenlernen sind vier übergreifende Ansätze von besonderer Bedeutung: 1. der ganzheitliche Unterricht, 2. der Spracherfahrungsansatz (offener Unterricht), 3. das synthetische Vorgehen, 4. die Methodenintegration. 24.2.2.1 Der ganzheitliche Unterricht Beim ganzheitlichen Vorgehen – auch analytische Methode genannt – liegt der Schwerpunkt des Lesenlernens von Beginn an auf der Sinnentnahme. Im Unterricht geht man von ganzen Wörtern oder Sätzen aus. Die Schüler lernen nicht, einzelne Wörter zu entziffern, sondern es wird ihnen beigebracht, sie zu benennen, etwa so, wie man einem Bild einen Namen gibt. Ursprünglich stützte sich das ganzheitliche Vorgehen auf Theorien der Gestaltpsychologie. Demnach besteht das Wahrnehmen von Wörtern nicht aus dem Zusammenfügen von Einzelteilen (den Buchstaben), sondern aus dem Erkennen der ganzen Wortgestalt. Bezieht man das ganzheitliche Vorgehen auf neuere Konzeptionen, so kommen als Bezugspunkt zunächst einmal die Stufenlehren in Frage. Das ganzheitliche Lesenlernen entspricht in etwa dem Ausbau der logographischen Strategie. Ein weiterer neuerer Ansatz, der auf das ganzheitliche Vorgehen bezogen werden kann, ist die Konzeption vom Lesen als Ratespiel. Demnach lässt sich das Lesen nicht auf eine einfache Umsetzung der geschriebenen in gesprochene Sprache reduzieren, sondern es handelt sich um einen hypothesengeleiteten Prozess, der auf Sinnentnahme ausgerichtet ist. Beim Lesen wird nicht jedes einzelne Wort entziffert, sondern vieles wird aus dem inhaltlichen Zusammenhang erschlossen. Der Leser bildet Erwartungen, was als Nächstes kommt, und die entsprechenden Wörter liest er nicht, sondern er „denkt“ sie sich oder er rät sie. Daraus leitet sich auch die Bezeichnung „Lesen als Ratespiel“ her (Goodman, 1976). Neben dem Textinhalt spielen für die Sinnerwartung auch grammatikalische Regelmäßigkeiten eine Rolle, beispielsweise gleichbleibende Morpheme (Wortbausteine) oder die Flexionen von Verben. Die Lesegeschwindigkeit eines Menschen hängt nach der Theorie vom Lesen als Ratespiel davon ab, wie treffsicher seine Sinnerwartungen sind. Dementsprechend mangelt es Schülern, die sich mit dem Lesenlernen schwer tun, an der Bildung adäquater Erwartungen im Hinblick auf kommende Wörter eines Textes. Bei Leseübungen soll deshalb das Textverstehen im Mittelpunkt stehen. Der Unterricht darf nicht nur auf ein schnelles, automatisiertes Worterkennen ausgerichtet sein. Denn dabei besteht nach der Konzeption vom Lesen als Ratespiel die Gefahr, dass die Schüler das Lesen nur als technische Fertigkeit begreifen und nicht zum Verstehen von Texten vordringen. Der analytische Ansatz bzw. die Konzeption vom Lesen als Ratespiel bildet die Grundlage für die Gestaltung vieler Leselehrgänge. In so gut wie allen Fibeln sind die Wörter und Sätze durch Hinweise ergänzt, die den Inhalt verdeutlichen, namentlich in Form von Bildern. Die Schüler sollen dadurch lernen, Texte nicht Wort für Wort zu entziffern, sondern ihre Aufmerksamkeit zu einem wesentlichen Teil auf den Sinnzusammenhang zu
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richten. Ein wichtiger Bestandteil des Leseunterrichts besteht darin, das Textverständnis durch wiederholtes Lesen abzusichern. Weiterhin soll der Inhalt der Texte besprochen werden, damit die Schüler sich mit der jeweiligen Thematik auseinandersetzen. Schließlich werden Übungen vorgeschlagen, bei denen die Schüler sowohl auf der Satz- als auch auf der Textebene explizit Erwartungen bilden, was als Nächstes kommt. Dazu können beispielsweise Sätze bis auf die ersten Wörter abgedeckt werden und die Schüler bilden Hypothesen, wie es inhaltlich weitergeht. Zu den Grundlagen der Konzeption vom Lesen als Ratespiel liegt eine große Zahl von empirischen Studien vor. Es ist sehr gut belegt, dass isolierte Wörter langsamer und mit mehr Fehlern gelesen werden als zusammenhängende Texte (vgl. z. B. Klicpera, Gasteiger-Klicpera & Schabmann, 1993). Daraus lässt sich folgern, dass der Inhalt eines Textes das Lesen erleichtert und beschleunigt. Es fragt sich aber, ob das Erschließen aus dem inhaltlichen Kontext eine zentrale Lesestrategie ist oder ob ihr nur eine randständige Bedeutung zukommt. Scheerer-Neumann (2001) weist darauf hin, dass man zwei Arten von Kontexteinflüssen unterscheiden muss, einen schnellen automatischen und einen, der mehr Zeit benötigt und die bewusste Vorhersage eines Wortes beinhaltet. Ein schneller Kontexteinfluss tritt auf, wenn Wörter sehr eng miteinander assoziiert sind, z. B. „Him mel“ und „blau“. Dabei kommt es zu einer Beschleunigung des Lesens. Entspricht der Text jedoch nicht der Assoziation, z. B. wenn auf das Wort „Himmel“ das Wort „grün“ folgt, so wird das Lesen verlangsamt. Nach Scheerer-Neumann ist es nicht sinnvoll, den schnellen Kontexteinfluss didaktisch beeinflussen zu wollen, denn er ergibt sich durch die enge Assoziation der Wörter von selbst. Was die Effektivität des bewussten Erschließens aus dem Kontext betrifft, so scheint eines klar: Das sinnerschließende Lesen kann nur dann erfolgreich sein, wenn es tatsächlich möglich ist vorherzusagen, welche Wörter als nächste kommen. Untersuchungen (vgl. z. B. Marx, 1997) zeigen jedoch, dass lediglich ca. 20 Prozent der Wörter aus dem Kontext erschlossen werden können. Hinzu kommt, dass ein Leser zur bewussten Bildung einer Erwartung, welches Wort als Nächstes kommt, ca. 700 msec benötigt (vgl. z. B. Scheerer-Neumann, 2001). Das ist eine viel längere Zeit als er benötigt, um von einem Wort zum nächsten zu gelangen. Wenn ein Leser also seiner Erwartungsbildung folgt, steigert er seine Lesegeschwindigkeit nicht, sondern er verringert sie. Es gibt noch eine Reihe von weiteren Befunden, die das Konzept vom Lesen als Ratespiel in Zweifel ziehen (zusammenfassend Marx, 1997; Scheerer-Neumann, 2001): Studien zu Blickbewegungen beim Lesen zeigen, dass Leser kaum Wörter überspringen, sondern sie fixieren nahezu alle Wörter, vor allem aber die zum Verstehen eines Textes besonders wichtigen Inhaltswörter. Weiterhin hat sich in mehreren Studien ergeben, dass die Kontextnutzung nicht für gute, sondern für schwache Leser charakteristisch ist (vgl. z. B. Klicpera et al., 1993). Wie sich Kontexthinweise in Form von Bildern auf das Lesenlernen auswirken, ist ebenfalls untersucht worden. Dabei hat sich Folgendes gezeigt: Wenn Leseanfänger einen Text üben, der mit Bildern illustriert ist, dann führt das zunächst zu größeren Fortschritten, als wenn der Text ohne Bilder geübt wird. Werden die Bilder nach dem Üben jedoch entfernt, so können diejenigen Schüler den Text besser lesen, die ihn ohne Bilder eingeübt haben, d. h. Lesenüben ohne Kontexthilfen führt langfristig zu besseren Leistungen (vgl. z. B. Marx, 1985).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die Forschungsergebnisse stimmen recht gut mit den Erfahrungen überein, die man bei der Arbeit mit Leseanfängern und leseschwachen Schülern macht. Ein Teil von ihnen ist durchaus in der Lage, die Fibeltexte flüssig wiederzugeben, aber sobald man ihnen dieselben Wörter ohne Kontext präsentiert, können sie sie nur noch sehr fehlerhaft oder gar nicht vorlesen. Denn durch häufiges wiederholtes Lesen haben die Kinder sich den Text ins Gedächtnis eingeprägt. Schüler, die nicht eigentlich lesen, sondern die Texte nur auswendig hersagen, fallen in der Schule zunächst nicht weiter auf, und auch die Eltern sehen keinen Anlass, irgendetwas zu unternehmen. In der Regel bemerken sie zwar, dass ihre Kinder nicht im eigentlichen Sinn lesen können. Wenn vom Lehrer aber kein Hinweis auf eine mögliche Leseschwäche kommt, warten sie erst einmal ab. Dadurch vergeht wertvolle Zeit, die für Fördermaßnahmen verloren ist. Aus den Forschungsergebnissen und den praktischen Erfahrungen könnte man den Schluss ziehen, dass man die Fibeln umgestalten und auf illustrierende Bilder verzichten sollte. Dazu wird man sich jedoch kaum verstehen. Denn zum einen werden Schüler ganz am Anfang des Schriftspracherwerbs durch die Kontextnutzung überhaupt erst in die Lage versetzt, ganze Wörter zu lesen. Zum anderen bringen die Illustrationen für die große Mehrheit der Schüler keine Probleme mit sich. Die meisten Kinder lösen sich im Laufe der Zeit von der Kontextnutzung und treten in die zweite, die alphabetische Stufe des Lesen- und Schreibenlernens ein. Weil leseschwache Schüler übermäßig lange auf der logographischen Stufe verbleiben, sollten Fördermaßnahmen so gestaltet sein, dass ihnen der Übergang zur alphabetischen Phase erleichtert wird. 24.2.2.2 Der Spracherfahrungsansatz Der Spracherfahrungsansatz betont das eigenaktive, selbstständige Lernen. Die Schüler sollen nicht mit vorgefertigten Übungen konfrontiert werden, sondern der Lehrer soll sie im Sinne eines Lernmoderators anregen, sich mit der Schriftsprache auseinanderzusetzen. Besonders hervorgehoben wird bei diesem Ansatz, dass der Eintritt in die Schule keine „Stunde Null“ ist. Vielmehr haben die Schüler in der Vorschulzeit bereits vielfältige Erfahrungen mit der Schriftsprache gesammelt. An diese Vorkenntnisse soll angeknüpft werden. Die Ursachen für einen gelingenden oder weniger gut gelingenden Schriftspracherwerb liegen – so die Konzeption – im Wesentlichen im Bereich der Motivation. Jedes Kind bringt von sich aus ein Bedürfnis nach Kompetenzerwerb mit, das es wach zu halten gilt. Wenn man dafür sorgt, dass die Motivation nicht verkümmert, entfalten die Schüler von sich aus die Energie, die erforderlich ist, um die Schriftsprache zu erlernen. Darüber hinaus wird beim Spracherfahrungsansatz davon ausgegangen, dass die Kinder selber am besten in der Lage sind zu entscheiden, auf welche Weise sie sich die Schriftsprache aneignen. Im Verlauf individuell ganz unterschiedlicher Entdeckungs- und Lernprozesse gelangen sie so auf jeweils eigenen Wegen zur Schrift (Brügelmann, 1986). Vertreter des Spracherfahrungsansatzes gehen davon aus, dass die Lernmotivation, die die Schüler mitbringen, am ehesten erhalten bleibt, wenn man im Unterricht an die kindliche Lebenswelt anknüpft. Dies geschieht, indem man den Schülern die Möglichkeit bietet, sich mit Themen zu beschäftigen, für die sie sich von sich aus interessieren. Das
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Bedürfnis nach Kompetenzerwerb wird angesprochen, wenn es in der Klasse vielfältige schriftsprachliche Anregungen gibt. So soll der Lehrer beispielsweise viel vorlesen. Dadurch wird bei den Schülern der Wunsch gestärkt, selber Texte lesen zu können. Eine weitere Möglichkeit zum selbstständigen Lernen bietet das Herstellen einer Eigenfibel, in die die Ideen und Interessen aller Schüler einfließen können und sollen. Didaktische Anregungen für den Spracherfahrungsansatz haben Brinkmann und Brügelmann (1993) in einem Werk zusammengestellt, das sie als Ideen-Kiste bezeichnen. In einer Reihe von angloamerikanischen Studien ist der Spracherfahrungsansatz mit einem stärker strukturierenden Unterricht verglichen worden (zusammenfassend Walter, 1996a). Dabei zeigte sich, dass dem eigenaktiven Entdecken ganz zu Anfang des Lesenund Schreibenlernens eine große Bedeutung zukommt, namentlich, wenn es darum geht zu erkennen, welche Funktionen die Schrift hat. In späteren Phasen des Schriftspracherwerbs ist ein kleinschrittiger Unterricht mit abgestufter Schwierigkeit günstiger. Gegen die Ergebnisse aus dem angloamerikanischen Bereich wendet Brügelmann (1998) ein, dass in englischsprachigen Ländern der Spracherfahrungsansatz mit der ganzheitlichen Leselehrmethode verknüpft ist. Im Gegensatz dazu steht im deutschen Sprachraum mit Hilfe der Konzeption „Lesen durch Schreiben“ (Reichen, 1982) das Konstruieren von Wörtern im Vordergrund. Nach diesem Ansatz verfassen die Schüler schon im Anfangsunterricht Texte, die der Kommunikation dienen und die für sie eine persönliche Bedeutung haben. Weil sie die Buchstaben-Laut-Beziehungen noch nicht beherrschen, verwenden sie Anlauttabellen, auf denen jeweils der erste Laut eines abgebildeten Gegenstands mit einem daneben abgedruckten Buchstaben korrespondiert, z. B. ein Affe mit dem „A“. Solche Tabellen sollen Schulanfänger in die Lage versetzen, jedes beliebige Wort lautgetreu aufzuschreiben, ohne dass sie die Buchstaben-LautBeziehungen schon kennen. Orthographische Fehler werden dabei vom Lehrer nicht weiter beachtet. Leider liegen im deutschsprachigen Bereich nur sehr wenige Studien zum Spracherfahrungsansatz vor. Die erste, die von Brügelmann, Lange und Spitta (1991) vorgelegt worden ist, kommt in wesentlichen Teilen zu divergierenden Ergebnissen. Der Grund dafür sind vermutlich forschungsmethodische Schwächen (vgl. Ingenkamp, 1992). Zu negativen Resultaten kommt Hüttis-Graff (1997). Sie untersuchte 20 erste Klassen. Von den sieben Klassen, die am Ende des Schuljahres in einem Rechtschreibtest am schlechtesten abschnitten, waren sechs nach der Reichenschen Methode „Lesen durch Schreiben“ unterrichtet worden. Hanke (1998) berichtet als Zwischenergebnis einer Studie, in die 78 Grundschulklassen einbezogen waren, dass der Spracherfahrungsansatz lediglich von ca. 5 Prozent der Lehrer realisiert wird. Leider sind die Resultate zum Erfolg des Unterrichts – aus welchen Gründen auch immer – nicht veröffentlicht worden. In einer Studie von Poerschke (1999) wurde der Unterricht in 15 Schulklassen beobachtet. Außerdem gaben die Lehrer an, welche Art von Unterricht sie vorwiegend durchführten. Aufgrund der Lehrerangaben und der Beobachtungen wurden die 15 Klassen in drei Gruppen geteilt. Bei der ersten Gruppe handelte es sich um Klassen mit offenem Unterricht, in dem hauptsächlich nach der Methode „Lesen durch Schreiben“ vorgegangen wurde. Dabei war die Unterrichtsqualität jedoch gering, was sich in einem teilweise distanzierten Umgang der Lehrkraft den Kindern gegenüber und in einer gereizten, zum Teil aggressiven Atmosphäre widerspiegelte. Im Gegensatz dazu war in den Klassen der
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| Teil VI: Schule und Unterricht zweiten Gruppe, bei der ebenfalls nach dem Reichenschen Konzept unterrichtet wurde, die Atmosphäre unverkrampft, offen und motivierend. In den Klassen der dritten Gruppe wurde Frontalunterricht gegeben. Dabei wurde überwiegend nach einem synthetischen Fibellehrgang vorgegangen. Die Atmosphäre in diesen Klassen war insgesamt ruhig und konzentriert, und auch der Umgang der Lehrkraft mit den Kindern war adäquat. Es zeigte sich, dass Schüler mit unterdurchschnittlichen kognitiven Lernvoraussetzungen (erhoben durch einen Einschulungstest) vom Frontalunterricht mehr profitierten als von den beiden Versionen des offenen Unterrichts. Bei Schülern mit günstigeren kognitiven Fähigkeiten bewirkten die drei Unterrichtstypen keine Unterschiede. Im Hinblick auf die Lernfreude gab es zwischen dem offenen und dem frontalen Unterricht ebenfalls keine Differenzen. Auffällig ist, dass der offene Unterricht häufiger scheiterte als der stärker strukturierende. Von den acht Klassen mit offenem Unterricht konnte lediglich bei zweien eine gute Unterrichtsqualität festgestellt werden. Demgegenüber zeichneten sich alle fünf Klassen mit Frontalunterricht durch eine gute Qualität aus. In einer weiteren Untersuchung an der Universität Erlangen-Nürnberg (Einsiedler, Frank, Kirschhock, Martschinke & Treinies, 2002; Kirschhock, Martschinke, Treinies & Einsiedler, 2002) wurden fünf erste Klassen nach dem traditionellen Fibelkonzept unterrichtet und fünf weitere Klassen nach dem Ansatz von Reichen. Am Ende des ersten Schuljahres konnten in der Lesefertigkeit und im Leseverständnis keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen festgestellt werden. Ein bedeutsamer Unterschied trat erst am Ende der zweiten Klasse auf. Fasst man die Forschungsergebnisse zusammen, so deuten sich folgende Tendenzen an: Ein hoch strukturierter Unterricht führt tendenziell zu größeren Lernfortschritten als ein wenig strukturiertes Vorgehen. Das gilt insbesondere für schwache Schüler. Insgesamt scheinen die Unterschiede zwischen einem offenen und einem stärker strukturierten Unterricht – vor allem bei Schülern mit günstigen Lernvoraussetzungen – nicht so groß zu sein, wie man vielleicht meinen könnte. Es wäre sehr wünschenswert, die vorliegenden Ergebnisse durch weitere Studien zu ergänzen. Denn für ein abschließendes Urteil reichen die bisher durchgeführten Untersuchungen nicht aus. Um jedes Risiko zu ver meiden, empfiehlt es sich daher, einem Vorschlag von Valtin (1998) zu folgen: Der offene Unterricht sollte – vor allem im Hinblick auf die schwächeren Schüler – durch sorgfältig strukturierte und in der Schwierigkeit abgestufte Übungen ergänzt werden. 24.2.2.3 Das synthetische Vorgehen Bei der synthetischen Methode werden die Schüler Schritt für Schritt mit dem Aufbau der Schriftsprache vertraut gemacht. Dabei wird allmählich vom Leichten zu Schwererem übergegangen. Man beginnt mit den kleinsten Einheiten der Sprache: den Lauten und den Buchstaben. Im weiteren Verlauf werden die einzelnen Buchstaben zu immer größeren Einheiten (Silben und Wörtern) zusammengefügt. Ursprünglich stützte sich das synthetische Vorgehen auf Erkenntnisse der Assoziationspsychologie. Demnach sind für das Lernen Verknüpfungen zwischen einzelnen Elementen (z. B. Buchstaben und Lauten) von entscheidender Bedeutung. Solche Verknüpfungen werden insbesondere durch häufiges Wiederholen hergestellt.
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Zum synthetischen Vorgehen liegen viele neuere wissenschaftliche Befunde vor. Sie werden im Folgenden dargestellt, und zwar bezogen auf die einzelnen Komponenten des Lesenlernens. Phonologische Bewusstheit Voraussetzung für das alphabetische Lesen ist die Erkenntnis, dass sich Wörter aus Lautsegmenten zusammensetzen. Diese Einsicht, die als phonologische Bewusstheit bezeichnet wird, kann nicht bei allen Leseanfängern vorausgesetzt werden. Spricht man Schülern mit einem Mangel an phonologischer Bewusstheit ein Wort vor (z. B. Arm) und fragt sie dann, welchen Laut man am Anfang, in der Mitte und am Ende hört, so bekommt man darauf keine Antwort. Denn aus der Sicht dieser Kinder stellt ein Wort eine nicht weiter zerlegbare Einheit dar mit der Folge, dass das grundlegende Prinzip der Schriftsprache nicht verstanden werden kann: Geschriebene Wörter setzen sich aus Buchstaben zusammen, denen Laute zugeordnet sind, aus denen ihrerseits gesprochene Wörter bestehen. Der Mangel an phonologischer Bewusstheit ist vermutlich ein wesentlicher Grund dafür, dass die schwachen Schüler mit der Methode „Lesen durch Schreiben“ überfordert sind. Ohne gezielte Hilfen und Übungen sind sie nicht in der Lage, Wörter anhand einer Anlauttabelle zu verschriften. Eine Vielzahl von Untersuchungen (zusammenfassend Marx, 1997; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995) hat ergeben, dass in der Schulzeit auftretende Leseschwächen bis zu einem gewissen Grad durch die phonologische Bewusstheit im Kindergartenalter vorhergesagt werden können. Auch Trainings sind bereits im Vorschulalter möglich (vgl. 24.1, Walter in diesem Band). In entsprechenden Studien (zusammenfassend Bus & van Ijzendoorn, 1999) konnte gezeigt werden, dass Übungen zur phonologischen Bewusstheit den späteren schulischen Erwerb der Schriftsprache deutlich erleichtern. Im deutschsprachigen Raum sind umfassende Untersuchungen zu dieser Thematik an der Universität Würzburg durchgeführt worden (vgl. z. B. Schneider, Roth & Küspert, 1999). Ein daraus entstandenes Übungsprogramm für Kindergartenkinder kann man käuflich erwerben (Küspert & Schneider, 2000). Wie hilfreich auch nach der Einschulung ein angemessenes Training zur phonologischen Bewusstheit sein kann, zeigt die bereits im Zusammenhang mit dem Spracherfahrungsansatz erwähnte Studie der Universität Erlangen-Nürnberg (Einsiedler et al., 2002; Kirschhock et al., 2002). Drei Gruppen zu je fünf Klassen wurden in die Untersuchung einbezogen. Jede Gruppe wurde nach einer der drei folgenden Konzeptionen unterrichtet: 1. Spracherfahrungsansatz, 2. Leselehrgang, 3. Leselehrgang plus Training zur phonologischen Bewusstheit. Während am Ende der ersten Klasse zwischen den drei Gruppen kaum Unterschiede festzustellen waren, erzielten die Schüler der dritten Gruppe am Ende der zweiten Klasse bessere Leistungen als die Schüler der beiden anderen Gruppen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Lesefertigkeit als auch im Hinblick auf das Leseverständnis. Das Erlanger Übungsprogramm ist ebenfalls veröffentlicht worden (Forster & Martschinke, 2001). Weitere Übungen zur phonologischen Bewusstheit finden sich in einem Übungsheft von Dummer-Smoch (1996).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Buchstaben-Laut-Zuordnung Nach der phonologischen Bewusstheit ist die zweite wichtige Teilfertigkeit die Kenntnis der Buchstaben-Laut-Zuordnungen. Zu wissen, welche Laute welchen Buchstaben zugeordnet sind, ist Voraussetzung für das Erlesen unbekannter Wörter. In der Literatur findet sich immer wieder die Auffassung, dass die Kenntnis der Buchstaben-Laut-Zuordnungen beim Lesenlernen eine eher randständige Rolle spielt. Ebenfalls weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Schüler sich die Buchstaben-Laut-Zuordnungen ohne besondere Übungen gleichsam nebenbei aneignen können. Studien (vgl. z. B. Schneider, Roth & Ennemoser, 2000) zeigen jedoch, dass ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen dem Einüben der Buchstaben-Laut-Beziehungen und der Zunahme der Lese- und Schreibfertigkeit. Zum Einprägen der Buchstaben gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Übungen, die aber bei weitem nicht alle zielführend sind. Viele sind auf einer rein visuellen Ebene angesiedelt. So sollen die Schüler etwa aus optisch präsentierten Buchstaben einen vorgegebenen heraussuchen, z. B. „Kreise in der folgenden Buchstabenreihe das E ein: R O G E N R O G U E N E G“. Das Problem bei solchen Übungen besteht darin, dass die Schüler die Aufgaben lösen können, ohne die Buchstaben-Laut-Beziehungen beachten zu müssen. Verschiedene Untersuchungen zeigen jedoch (zusammenfassend Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995), dass Schüler keine Probleme haben zu entscheiden, ob zwei Buchstaben im Hinblick auf ihre Form differieren. Schwierig wird es erst, wenn es darum geht, welcher Buchstabe welchem Laut zugeordnet ist. Will man die Buchstabenkenntnisse aufbauen oder verbessern, so empfehlen sich zwei Arten von Übungen: Entweder geben die Schüler zu einem Buchstaben den zugehörigen Laut an oder ein Laut wird vorgegeben und die Schüler identifizieren aus mehreren Möglichkeiten den zugehörigen Buchstaben oder schreiben ihn auf. Leseschwache Schüler benötigen sehr viele solche Übungen, bis sich die Buchstaben-Laut-Beziehungen in ihr Gedächtnis eingeprägt haben. Gelegentlich wird zwar befürchtet, dass das isolierte Einüben der Buchstaben-Laut-Beziehungen von den Schülern als langweiliger Drill empfunden wird. Das muss jedoch nicht sein. Die Übungen lassen sich ohne Weiteres in Spiele und Rätsel einbauen, die von den Schülern sehr gerne durchgeführt werden. Manche Autoren (z. B. Dummer-Smoch & Hackethal, 1994) sind der Auffassung, dass es den Schülern leichter fällt, die Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu erlernen, wenn jeder Laut über eine bestimmte Gebärde mit dem zugehörigen Buchstaben verknüpft wird. Walter, Malinowski, Neuhaus, Reiche und Rupp (1997) konnten diese Annahme jedoch nicht bestätigen. Allerdings beschränkte sich ihre Studie auf lernschwache Schüler. Weitere Untersuchungen zu dieser Frage wären sehr hilfreich. Wie immer die Buchstaben-Laut-Beziehungen trainiert werden, eine Kombination mit Übungen zur phonologischen Bewusstheit ist auf jeden Fall angebracht. Eine Reihe von Untersuchungen (vgl. z. B. Schneider et al. 2000) zeigt, dass ein Buchstabentraining wirksamer ist, wenn es zusammen mit phonologischen Übungen durchgeführt wird. Zusammenlauten Wenn Schüler über ausreichende Kenntnisse der Buchstaben-Laut-Zuordnungen verfügen, so führt das nicht automatisch dazu, dass sie ganze Wörter lesen können. Soll beispielsweise das Wort „rot“ gelesen werden, so setzen manche Schüler die Buchstaben
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in Einzellaute um, ohne sie zu einem ganzen Wort zu verschleifen. Sie sagen dann z. B. nicht „rot“, sondern „r – o – t“. Übungen zum Verschmelzen von einzelnen Lauten zu einem Wort gibt es in vielen Varianten. Ob eine davon erfolgreicher ist als die übrigen, ist nicht bekannt. Systematische Studien dazu gibt es nicht. Wesentlich ist jedoch, dass das Zusammenschleifen überhaupt trainiert wird. Werden die drei Komponenten „phonologische Bewusstheit“, „Buchstaben-Laut-Beziehungen“ und „Zusammenschleifen“ in einem Training kombiniert eingeübt, so führt das, wie eine Studie von Blumenstock (1979) zeigt, zu einer erheblichen Verbesserung der Leseleistung. Segmentierung oberhalb der Buchstaben- und unterhalb der Wortebene Die einfachste Strategie in der alphabetischen Phase besteht darin, die Buchstaben eines Wortes in Laute umzusetzen und sukzessive aneinanderzureihen. Dies ist jedoch sehr mühsam und zeitraubend. Um die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen, ist eine dritte Teilfertigkeit erforderlich: einzelne Buchstaben zu größeren Einheiten (z. B. Silben oder Morpheme) zusammenzufassen. Mehrere Studien (Scheerer-Neumann, 1981; Walter, 1996b) zeigen, dass gute Leser Gliederungsmöglichkeiten oberhalb der Buchstabenund unterhalb der Wortebene von sich aus nutzen. Bei schwachen Lesern ist das nicht der Fall. Scheerer-Neumann (1981) hat die Ergebnisse zur Segmentierung von Wörtern in ein Trainingsprogramm umgesetzt. In einer Erfolgskontrolle lernten legasthene Drittklässler, Wörter beim Lesen in Silben zu gliedern. Nach nur zwölf Übungssitzungen verminderten sich die Lesefehler der trainierten Schüler im Vergleich zu einer Kontrollgruppe um ca. 40 %. Die Verbesserungen traten vor allem bei mehrsilbigen Wörtern auf. Dadurch wird belegt, dass der Übungsgewinn auf das spezifische Training und nicht auf andere Faktoren zurückzuführen ist. Um Verbesserungen im Lesen zu erzielen, reicht es nicht aus, den Schülern lediglich das Silbieren zu vermitteln. Dies wird in einer Trainingsstudie von Weber, Marx und Schneider (2002) deutlich. Drittklässler durchliefen ein Rechtschreibtraining, bei dem das Silbieren von Wörtern eine große Rolle spielt (Reuter-Liehr, 1992). Es zeigte sich, dass die Übungen zu Fortschritten im Rechtschreiben, nicht jedoch im Lesen führten. Um die Leseleistung in dem Maß zu steigern, wie es in der Arbeit von Scheerer-Neumann (1981) der Fall war, ist es demnach notwendig, für eine ausreichende Lesepraxis zu sorgen. Mit dem Silbieren sind die Segmentierungsmöglichkeiten noch nicht erschöpft. Untersuchungen (z. B. Scheerer-Neumann, 1979) zeigen, dass leseschwache Schüler auch die Binnenstruktur von Silben schlechter erkennen als gute Schüler. Silben lassen sich in drei Einheiten unterteilen: den konsonantischen Anfang, die vokalische Mitte und das konsonantische Ende (z. B. win, ber, mas). Bei manchen Silben fehlt der konsonantische Anfang (z. B. in) und bei manchen das konsonantische Ende (z. B. blau). Der Vokal fehlt jedoch nie. Weil leseschwache Schüler solche Muster nicht erkennen und nutzen, kann es hilfreich sein, ihnen entsprechende Strukturierungshinweise zu geben, z. B. in Form von optischen Gliederungshilfen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 24.2.2.4 Integration von Methoden In den sechziger Jahren ist eine Reihe von empirischen Untersuchungen mit dem Ziel durchgeführt worden herauszufinden, ob die analytische oder die synthetische Methode zu besseren Leseleistungen führt (vgl. z. B. Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995). Dabei zeigte sich, dass in den beiden Eingangsklassen das synthetische Vorgehen im Vergleich zum analytischen zu besseren Leistungen führte, insbesondere bei schwächeren Schülern. Am Ende der Grundschulzeit gab es jedoch keine Unterschiede mehr zwischen den beiden Vorgehensweisen. Bei diesem Resultat ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass eine rein analytische Methode im deutschsprachigen Raum nie üblich gewesen ist. Insofern hat der Vergleich eher zwischen einem synthetischen und einem gemischten Vorgehen stattgefunden. Weiterhin gilt es Folgendes zu bedenken: In den höheren Klassen der Grundschule und in der Sekundarstufe hängt die Lesefähigkeit sehr stark vom außerschulischen Leseaufkommen ab. Ein wesentlicher Grund, warum schwache Schüler von sich aus nicht lesen, liegt darin, dass es ihnen schwer fällt und sie sehr anstrengt. Die Tatsache, dass den synthetisch unterrichteten Schülern das Lesen zunächst leichter fiel, hätte man sich zunutze machen können, um sie mit Erfolg zum außerschulischen Lesen zu motivieren. Dies ist offenbar versäumt worden, sodass der bis zur zweiten Klasse bestehende Vorsprung wieder verloren gegangen ist. Aus den Untersuchungen zur Wirksamkeit der analytischen und der synthetischen Methode hat man den Schluss gezogen, dass beide Ansätze ihre Berechtigung haben. Das hat zu einer Integration der beiden Methoden geführt. Dabei beginnt der Leselehrgang zunächst mit einer begrenzten Anzahl von Wörtern, die ganzheitlich gelesen und sehr oft wiederholt werden. Dadurch soll den Schülern der Sinn des Lesens deutlich werden. Im Anschluss an das erste ganzheitliche Lesen werden einzelne Wörter im Hinblick auf ihre Laute und Buchstaben zerlegt und synthetisiert. Neben der Auswahl eines Leselehrgangs stellt sich auch immer die Frage, in welcher Weise die besonders schwachen Schüler gefördert werden können. Ein für diese Kinder besonders gut geeignetes Programm, das neuere Erkenntnisse der Forschung einbezieht, ist der Kieler Leseaufbau (Dummer-Smoch & Hackethal, 1994). Er ist gedacht als Arbeitshilfe für den Erstleseunterricht mit einer Gesamtarbeitszeit von ca. 60 Stunden. Das umfangreiche Material besteht aus Übungsheften, Spielen in Form von Karteikarten, Tests, Leseheften und Lernsoftware. Einen wesentlichen Teil des Programms nimmt das Einüben der Buchstaben-Laut-Beziehungen mit Hilfe von Lautgebärden ein. Dass – wie die bereits erwähnte Studie von Walter et al. (1997) zeigt – Lautgebärden für das Einprägen der Buchstaben-Laut-Beziehungen nicht hilfreich sind, tut dem Konzept jedoch keinen Abbruch. Man kann ohne Probleme auch auf die Lautgebärden verzichten. Ein weiteres, ebenfalls für schwache Schüler vorgesehenes Leseprogramm liegt in zwei Versionen vor: eine für die Schule (Tacke, 1996/99) und eine für das Üben zu Hause (Tacke, 1998/99). Die Arbeit in der Schule und das Üben zu Hause können parallel verlaufen, die beiden Fassungen können aber auch unabhängig voneinander eingesetzt werden. Das Programm deckt den Zeitraum von Mitte der ersten bis einschließlich der fünften Klasse ab. Eingeübt werden die phonologische Bewusstheit, die BuchstabenLaut-Beziehung, das Zusammenschleifen von Buchstaben bzw. Lauten, das Lesen in
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Silben und die Segmentierung unterhalb der Silbenebene. Das silbierende Lesen wird anhand verschiedener Texte so lange eingeübt, bis es beherrscht wird. Erst dann wird zum normalen Lesen übergegangen. Wie erfolgreich ein umfassendes Training mit sorgfältig ausgewählten Übungsmaterialien sein kann, macht eine Studie von Vellutino et al. (1996) deutlich. In dieser Arbeit wurde eine Vielzahl von Methoden angewandt. Ein Training zur phonologischen Bewusstheit war verknüpft mit dem Einüben der Buchstaben-Laut-Beziehungen und dem alphabetischen Lesen. Weiterhin wurde der Sichtwortschatz ausgebaut. Außerdem lasen die Schüler ganze Texte und wurden (nicht ganz nachvollziehbar) angehalten, den inhaltlichen Kontext zu nutzen. Das Training, das täglich in 30-minütigen Einzelsitzungen stattfand, war dem jeweiligen individuellen Leistungsstand der Schüler angepasst. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Kinder nach ca. 15 Wochen ein Leseniveau erreichten, das dem Durchschnitt der Altersgruppe entsprach oder sogar darüber lag. Mit dem Durchlaufen eines Leselehrgangs oder eines Trainingsprogramms ist die Förderung noch nicht abgeschlossen. Um nicht nur die Lesefertigkeit, sondern auch das Leseverständnis hinreichend zu trainieren, sind weitere Maßnahmen notwendig (vgl. 24.3, Walter in diesem Band). In diesem Zusammenhang ist eine Konzeption hilfreich, die durch Forschungsergebnisse sehr gut bestätigt ist (vgl. z. B. Marx & Jungmann, 2000). Nach dieser „Einfachen Auffassung vom Lesen“ (Simple View of Reading) geht das Verstehen von Texten auf zwei Faktoren zurück: die Wortlesefähigkeit und das Hörverständnis (vgl. auch 24.3, Walter in diesem Band). Die Wortlesefähigkeit betrifft das Entziffern einzelner Wörter. Leseschwache Schüler scheitern daran, dass sie zum Lesen der Wörter unverhältnismäßig lange brauchen. Das häufige Steckenbleiben führt dazu, dass sie vergessen, was sie zuvor gelesen haben. Dementsprechend können sie den Inhalt eines Textes kaum oder gar nicht verstehen. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis, wenn ein Teil der Wörter nur unvollkommen oder gar nicht entziffert werden kann. Mit dem Hörverständnis ist das Verstehen der gesprochenen Sprache gemeint. Im Verlauf der Leseentwicklung beeinflussen die beiden Faktoren „Wortlesefähigkeit“ und „Hörverständnis“ das Textverstehen auf unterschiedliche Weise. Je routinierter das Lesen wird, desto geringer wird der Einfluss der Wortlesefähigkeit und desto mehr nimmt die Wirkung des Hörverständnisses zu. Zur Förderung des Leseverständnisses folgt aus dieser „Einfachen Auffassung vom Lesen“ zweierlei: 1. Solange ein Schüler noch kein routinierter Leser ist, sollte hauptsächlich seine Wortlesefähigkeit trainiert werden. 2. Wenn ein Schüler flüssig lesen kann, sollte sein Hörverständnis verbessert werden. Das Einüben der Wortlesefähigkeit wird durch die bereits dargelegten Konzeptionen abgedeckt. Eine Erweiterung des Hörverständnisses findet zum Teil durch den üblichen schulischen Unterricht statt: Je mehr man über die Welt erfährt und im Gedächtnis abspeichert, desto leichter fällt es, neue Informationen zu verarbeiten. Darüber hinaus sind für das Verstehen von Texten Übungen hilfreich, die von den Vertretern der Konzeption vom Lesen als Ratespiel vorgeschlagen werden, beispielsweise, dass sich die Schüler vor der Lektüre bewusst machen, was sie zu dem jeweiligen Thema schon wissen. Eine weitere wichtige Strategie besteht in der gezielten Verständniskontrolle (monitoring), bei der der Leser (z. B. nach jedem Absatz) überprüft, ob er den Text auch begriffen hat.
516
| Teil VI: Schule und Unterricht Eine weitere Möglichkeit, das Leseverstehen zu fördern, besteht darin, die Schüler zur außerschulischen Lektüre anzuhalten (vgl. z. B. Tacke, 2003). Wie notwendig es ist, legasthene Kinder ans Lesen heranzuführen, zeigt eine Untersuchung von Anderson, Wilson & Fielding (1988). Sie fanden, dass die am meisten lesenden zehn Prozent der Fünftklässler etwa fünfzigmal so viel lesen wie die am wenigsten lesenden. Überträgt man diese Relation auf die Geschwindigkeit, mit der man sich fortbewegen kann, so entspricht das dem Unterschied zwischen einem Fahrradfahrer und jemandem, der mit einem Flugzeug unterwegs ist, das schneller fliegt als der Schall.
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Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 517
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518
| Teil VI: Schule und Unterricht Tacke, G. (2003). Wie bringt man Kinder und Jugendliche zum Lesen? In B. Ganser & W. Richter (Hrsg.), Was tun bei Legasthenie in der Sekundarstufe? (S. 102-108). Donauwörth: Auer. Valtin, R. (1993). Stufen des Lesen- und Schreibenlernens – Schriftspracherwerb als Entwicklungs prozess. In D. Haarmann (Hrsg.), Handbuch Grundschule (Band 2, S. 68-80). Weinheim: Beltz. Valtin, R. (1998). Erwerb und Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen aus grundschulpädago gischer Sicht. In L. Huber, G. Kegel & A. Speck-Hamdan (Hrsg.), Schriftspracherwerb: Neue Medien – neues Lernen (S. 59-74). Braunschweig: Westermann. Vellutino, F. R., Scanlon, D. M., Pratt, A., Sipay, E. R., Small, S. G., Chen, R. & Denckla, M. B. (1996). Cognitive profiles of difficult-to-remediate and readily remediated poor readers: Early intervention as a vehicle for distinguishing between cognitive and experiential deficits as basic causes of specific reading disability. Journal of Educational Psychology, 88 (4), 601-638. Walter, J. (1996a). Der Spracherfahrungsansatz für den Anfangsunterricht: Empirisch-experimentell abgesicherte Effekte und didaktisch-methodische Konsequenzen aus den USA. Sonderpädagogik, 26, 136-143. Walter, J. (1996b). Förderung bei Lese- und Rechtschreibschwäche. Göttingen: Hogrefe. Walter, J., Malinowski, F., Neuhaus, N., Reiche, T. & Rupp, M. (1997). Welche Effekte bringt das zusätzliche Einbinden von Lautgebärden für den Leseunterricht bei Förderschülern? Ergebnisse erster experimenteller Untersuchungen. Heilpädagogische Forschung, 23 (3), 122-131. Weber, J.-M., Marx, P. & Schneider, W. (2002). Profitieren Legastheniker und allgemein leserechtschreibschwache Kinder in unterschiedlichem Ausmaß von einem Rechtschreibtraining? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 56-70.
24.3 Sinnverstehendes Lesen Jürgen Walter In der Diskussion um die Ziele von Schriftspracherwerb beziehungsweise Leseunterricht steht völlig außer Zweifel, dass Lesen im eigentlichen Sinne erst stattfindet, wenn der Leser zur Sinnentnahme fähig ist (vgl. Rost, 1998). Sinnentnehmendes Lesen wird vor allem vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse als wichtige kulturelle Schlüsselqualifikation betrachtet (vgl. Schiefele, Artelt, Schneider & Stanat, 2004). Im vorliegenden Beitrag wird versucht, einen Überblick über die wesentlichen Strömungen und Ansätze zu geben, die sich darum bemühen, empirisch zu erforschen, welche Faktoren sinnverstehendes Lesen beeinflussen bzw. fördern (also was gelernt werden muss) und mit welchen Methoden dieses Wissen erworben bzw. gelehrt werden kann (also wie gelehrt werden sollte). Im Rahmen der Darstellung dieser Sachverhalte wird deutlich werden, dass zur Diagnose unterschiedliche informelle und standardisierte Testverfahren zur Anwendung kommen. Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird jedoch in der Darstellung unterschiedlicher Förderkonzepte und deren Wirksamkeit bestehen. Im deutschsprachigen Raum ist der Bestand an einschlägigen empirischen Interventionsstudien zu diesem Thema recht spärlich, so dass teilweise auf internationale Befunde zurückgegriffen werden muss.
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 519
Sichtet man die relevante Literatur, so lassen sich nach grober Einteilung im Wesentlichen zwei Gruppen unterscheiden: Zum einen existieren Arbeiten, die sinnverstehendes Lesen wesentlich bedingt sehen durch das Sprachverstehen (im Sinne von Hörverstehen) sowie durch die Dekodierfähigkeit (Herstellen eines phonologisch-artikulatorischen Kodes mit Zugriff auf das interne Lexikon). Diese Richtung ist dem Simple View of Reading-Ansatz zuzuordnen (vgl. Hoover & Gough, 1990; Marx & Jungmann, 2000; Rost & Hartmann, 1992; Shankweiler et al., 1999). Zum anderen lassen sich immer mehr Publikationen ausmachen, die das Fördern von Sinnverständnis beim Lesen mehr unter dem Aspekt des Erwerbs (teilweise nicht unbedingt sprachlich determinierter) kognitiver und metakognitiver Fähigkeiten (z. B. Vorwissen, Weltwissen, Strategie-Wissen, Strategie-Anwendung, Generieren mentaler Modelle, Meta-Verständnis, Erfassen von textimmanenten Strukturen etc.) betrachten (vgl. z. B. Dole, Brown & Thraten, 1996; Dole, Duffy, Roehler & Pearson, 1991; Mastropieri, Scruggs, Bakken & Whedon, 1996; Rosenshine, Meister & Chapman, 1996; Talbott, Lloyd & Tankersley, 1994). Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst anhand illustrierender Einzelarbeiten wesentliche Befunde beider Bereiche dargestellt, die dann z. T. durch metaanalytische Ergebnisse erweitert werden. Schließlich werden wichtige Instruktionsprinzipien herausgestellt, die sich auf der Basis einer Fülle von Untersuchungen als günstig erwiesen haben. 24.3.1 Sinnverstehendes Lesen und der Simple View of Reading-Ansatz Aspekte des sinnverstehenden Lesens unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig, um die zu Grunde liegenden Prozesse besser zu verstehen und in Fördermaßnahmen umzusetzen. Häufig ist es aber so, dass sich diejenigen, die elementare Prozesse (Bottom Up) betrachten und diejenigen, die höhere komplexe (nicht nur ausschließlich sprachliche) Informationsverarbeitungsleistungen (Top Down) im Fokus haben, in getrennten Lagern gegenüber stehen. Dies ist aus mindestens zwei Gründen so nicht aufrecht zu erhalten: Erstens werden in beiden „Lagern“ in der Regel Schüler unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Leseerfahrung untersucht, was häufig übersehen wird. Zweitens werden in neueren längs- und querschnittlich angelegten Untersuchungen sowohl Bottom-Up- als auch Top-Down-Prozesse untersucht und damit dem relativen Gewicht beider Perspektiven zumindest ansatzweise Rechnung getragen (vgl. Byrne, Freebody & Gates, 1992; Connelly, Johnston & Thompson, 2001; Kinnunen, Vauras & Niemi, 1998; Pflaum, 1980; Reynolds, 2000; Rupley, Willson & Nickols, 1998; Willson & Rupley, 1997). Die unterschiedliche Gewichtung von Bottom-Up- und Top-Down-Prozessen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leseprozess ist hier in Anlehnung an die Terminologie von Shankweiler et al. (1999) in Abbildung 4 dargestellt. Demnach wird die gesamte Varianz der Lesefähigkeit (R) in diesem einfachen Modell (Simple View of Reading) einerseits durch die elementare Dekodier- bzw. Wortlesefähigkeit (D), andererseits auch durch sprachliche Verstehensprozesse (L), vor allem durch das Hörverstehen, aufgeklärt. „Das Hörverstehen wird definiert als Fertigkeit, sprachliche Informationen auf der Wortebene zur Ableitung von Satz- und Textinterpretationen über das Ohr zu nutzen“
| Teil VI: Schule und Unterricht
Gewicht für R
520
L-Prozesse D-Prozesse
Lese-Alter
Abbildung 4: Relatives Gewicht der L- und D-Prozesse für das sinnentnehmende Lesen (R) in Abhängigkeit vom Lese-Alter (in Anlehnung an Shankweiler et al., 1999)
(Marx & Jungmann, 2000, S. 83). Ausgehend vom Simple View of Reading-Ansatz wird angenommen, dass der Leser weitgehend dieselben sprachlichen Funktionen nutzt wie der Hörer. In diesem Sinne kann Lesen als die Fähigkeit verstanden werden, mit Hilfe von D einen Kode L zu generieren, dem der Leser bereits auf Grund seiner Sprachkompetenz Bedeutung zuschreiben kann. Die Komponenten D und L werden als multiplikativ miteinander verknüpft betrachtet (d. h. R = D x L). Daraus ergibt sich die Ableitung, dass sinnverstehendes Lesen immer dann beeinträchtigt ist, wenn (a) die Dekodierfähigkeit adäquat ausgebildet, aber das Sprachverständnis schwach ist, (b) das Sprachverständnis adäquat, aber die Dekodierfähigkeit schwach ist und (c) wenn beide Kompetenzen schwach ausgebildet sind. Die an Längsschnittdaten gewonnenen multiplen Korrelationen zeigen, dass sich durch das Produkt aus L und D in den Klassen eins bis vier zwischen 72 % und 85 % der Unterschiede im sinnverstehenden Lesen erklären lassen (vgl. Hoover & Gough, 1990). Eine weitere Ableitung aus dem Simple View of Reading-Ansatz ist die, dass das individuelle Hörverstehen (zumindest im Grundschulalter) die jeweils potentiell obere Grenze des Leseverstehens darstellt. Für den Grundschulbereich ist das auch einigermaßen gut empirisch abgesichert (vgl. Marx & Jungmann, 2000; Rost, 1987; Rost & Hartmann, 1992). Gemäß dem schematischen Modell in Abbildung 4 spielen D und L beim Lesen immer eine Rolle, jedoch je nach Lesealter unterschiedlich gewichtet. So konnten Willson und Rupley (1997) sowie Rupley et al. (1998) auf der Basis von Pfadanalysen mit Daten von Schülern der ersten bis sechsten Klasse zeigen, dass in den ersten Klassen sehr starke kausale Beziehungen zwischen den Faktoren Wortlesen und Dekodierstrategien und dem Sinnverständnis zu beobachten sind und dass sich dieser Zusammenhang aber über die Jahre abschwächt und z. B. in den Klassen zwei und drei der Faktor Hintergrundwissen immer wichtiger wird. Dies bedeutet aber nicht, dass auch noch im Erwachsenenalter die Dekodierfähigkeit unwichtig wäre. In den oberen Klassen werden jedoch z. T.
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sprachunspezifische Aspekte dominant (metakognitive Aspekte), und zwar Variablen wie Motivation und Strategie-Wissen über die Art und Weise, wie man einen Text liest und allgemein Vorwissen aktiviert. Die Befunde sind insgesamt plausibel: Eine defizitäre Wortlesefähigkeit (sehr langsames, stockendes, fehlerhaftes Dekodieren) erschwert oder verhindert (weil Aufmerksamkeit bzw. Arbeitsgedächtniskapazität absorbierend) das Zusammenziehen von Einzelinformationen (z. B. auf der Basis von Wörtern) zu größeren Sinneinheiten. Dies wiederum erschwert oder verhindert z. B. das Aktivieren von Vorwissen über das LeseThema, die Integration von neuen Informationen in vorhandene Wissensstrukturen, das Initiieren von metakognitiven Kontrollprozessen (z. B. das Vornehmen von Korrekturen) oder gar beides. Erst nachdem Kinder in der Lage sind, Wortleseprozesse relativ automatisiert ablaufen zu lassen, wird Schritt für Schritt immer mehr Aufmerksamkeitsenergie bzw. Arbeitsgedächtniskapazität für diese höheren Formen der Informationsverarbeitung frei (vgl. Reynolds, 2000). Diesen Sachverhalt kann auch Pflaum (1980) empirisch anhand unterschiedlicher Korrelationen bestätigen, die sich jeweils getrennt bei guten und schlechten Lesern zwischen Verstehensmaßen und der Qualität beim lauten Lesen ergaben: Während bei schlechten Lesern aus einem sonderpädagogischen Setting viele sinnentstellende Lesefehler mit wenig Selbstkorrektur (r = -.64) und schlechtem Verständnis (r = -.25) einhergehen und 32,1 % der Varianz des sinnverstehenden Lesens durch Lesefehler erklärt werden können, wird für gute Leser nur 0,5 % der Varianz des sinnverstehenden Lesens durch Lesefehler aufgeklärt. Alle Kinder beider Gruppen hatten das gleiche chronologische Alter von ca. 10 Jahren. Diese Daten sind kompatibel mit dem Schema aus Abbildung 4, wenn man unterstellt, dass schlechte Leser ein geringeres Lesealter haben. Kinnunen, Vauras und Niemi (1998) können zeigen, dass auch schon bei Leseanfängern in gewissem Maße metakognitive Prozesse ablaufen (z. B. Selbstüberwachung durch Zurückschauen auf bereits gelesene Wörter), dass jedoch die Dekodierfähigkeit und das Hörverstehen die Art und Effizienz von Selbstüberwachungsprozessen (monitoring) beeinflussen. Es liegt eine Reihe weiterer empirischer Befunde vor, die den Simple View of Reading-Ansatz für das Grundschulalter bestätigen. Exemplarisch wären hier die hoch interessanten Befunde von Shankweiler et al. (1999) zu nennen, die anhand einer Analyse von 361 Kindern (davon viele mit Lern- und/oder Leseschwierigkeiten) im Alter von 7.5 bis 9.5 Jahren (Klasse 2 und höher) zeigen können, dass in diesem Alter sehr stark Buttom-Up-Skills (D) das sinnverstehende Lesen bestimmen. Ausgeschlossen waren alle Probanden mit einem IQ von unter 80 (Gesamt-WISC). Kinder mit Leseschwierigkeiten wurden sowohl nach dem Diskrepanzkriterium (1.5 Standardabweichungen zwischen Lesen und IQ) als auch dann in die Untersuchung mit aufgenommen, wenn sie im Wortund Pseudowortlesen einen Prozentrang von unter 25 aufwiesen. Danach befanden sich in der Stichprobe 168 Kinder speziell mit Lesebeeinträchtigungen. Innerhalb der Gesamtstichprobe befanden sich auch 51 Versuchspersonen ohne jedwede Form von Lern- oder Leseproblemen. Erhoben wurden Daten zum Wortlesen (bedeutungstragende Wörter), Pseudo-Wortlesen (Nonsens-Wörter), Leseverständnis (Fragen nach gelesenen Abschnitten beantworten) und Hörverstehen. Alle Maße wurden altersadjustiert und in Standardwerte umgewandelt. In Tabelle 4 sind die Interkorrelationen aufgelistet, die allesamt hoch
522
| Teil VI: Schule und Unterricht signifikant ausfallen (p < .0001). Auffällig ist der sehr hohe Zusammenhang zwischen Wortlesen und Pseudo-Wortlesen (r = .92). Im aktuellen Zusammenhang ist die überaus starke Korrelation zwischen Wortlesen und Sinnverstehen (r = .89) wichtig. Unwesentlich geringer fällt der Zusammenhang zwischen Pseudo-Wortlesen und sinnverstehendem Lesen aus (r = .79). Tabelle 4: Produkt-Moment-Korrelationen zwischen verschiedenen Lesemaßen und dem WISC, N = 361 (vgl. Shankweiler et al., 1999, S. 78) PseudoWortlesen Pseudo-Wortlesen
Wortlesen
Leseverständnis
Hörverstehen
–
Wortlesen
.92
–
Leseverständnis
.79
.89
–
Hörverstehen
.45
.50
.58
–
WISC-Gesamt
.56
.58
.62
.56
Im Kontrast dazu fällt die substantiell niedrigere Korrelation zwischen Leseverständnis und Hörverstehen auf (r = .58). Um die relativen Zusammenhänge von Dekodierfähigkeiten, sinnverstehendem Lesen und Hörverstehen akkurater darzustellen, ist es sinnvoll, jeweils eine Variable auszupartialisieren, d. h. statistisch konstant zu halten. Auf der einen Seite vermindert sich dann die Korrelation von Hörverstehen und Leseverstehen auf r = .37, wenn der Einfluss der Wort-Dekodierfähigkeit auf diesen Zusammenhang konstant gehalten wird. Auf der anderen Seite vermindert sich die Korrelation zwischen Dekodierfähigkeit und Qualität der Sinnentnahme auf r = .65, wenn der Einfluss des Hörverstehens eliminiert wird. Diese Befunde zeigen deutlich den relativ hohen Einfluss von D und den vergleichsweise geringeren von L in diesem Alter (vgl. Abb. 4). Trotz der relativ hohen Korrelation zwischen Wortlesen, Pseudo-Wortlesen und Sinnentnahme ergeben sich mögliche Spielräume für Subgruppen von Kindern, bei denen sich ein anderer als der bisher gezeigte linear-positive Zusammenhang zeigen könnte. In einem weiteren Auswertungsschritt wurden die jeweiligen Werte der Kinder (N = 361) mit den Werten aus einer Referenz-Stichprobe (Norm-Stichprobe) von nicht beeinträchtigten Kindern (N = 193) aus einer anderen Untersuchung verglichen und die Rohwerte in z-Werte transformiert. Der Mittelwert ist dabei z = 0, Werte über dem Durchschnitt haben ein positives, Werte unter dem Durchschnitt ein negatives Vorzeichen. Shankweiler et al. (1999) trugen die z-Werte als Punkte in ein Diagramm mit einer Achse „Leseverständnis“ und einer Achse „Pseudowortlesen“ ein (ähnlich einer Vierfeldertafel). Damit sind die Personen identifizierbar, für die ein linearer Zusammenhang gilt (oberes rechtes und unteres linkes Feld) und diejenigen, die als diskrepant einzustufen sind (oberes linkes und unteres rechtes Feld). Personen mit z > -.67 wurden als unbeeinträchtigt, Personen mit z < -1.0 wurden als schwach eingestuft und Kinder im Pufferbereich von -1.0 < z < -.67 wurden als „nicht klassifiziert“ bezeichnet. In Abbildung 5 sind die entsprechenden
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 523
Typ A (N=32): 8,9%
Typ B (N=17): 4,7%
Gleich niedrig (N=127): 35,2%
Unbeeinträchtigt (N=114): 31,5%
Nicht klassifiziert (N=71): 19,7%
Relativ zur Referenz-Gruppe
1,5 1 0,5 0 -0,5 -1 -1,5 Pseudo-Wörter
Wörter
Verständnis
Abbildung 5: Mittlere z-Werte für unbeeinträchtigte, diskrepante und durchgehend schwache Leser im Vergleich zur Referenzgruppe (vgl. Shankweiler et al., 1999, S. 84)
Gruppenprofile abgebildet, die übrigens genau so entstehen, wenn man die Korrelation zwischen Leseverständnis und Wortlesen (anstatt Pseudo-Wortlesen) zu Grunde legt. Wie aus der Abbildung hervorgeht, können allein 86,4 % aller Probanden als in allen Bereichen sehr gut, sehr schlecht oder durchschnittlich (nicht klassifiziert) bezeichnet werden. Als diskrepant können diejenigen Schüler eingestuft werden, die im relativen Vergleich zu ihrem Leseverständnis schwach im Pseudo-Wortlesen sind (Typ A: 8,9 %) und umgekehrt (Typ B: 4,71 %). Typ-A-Schüler gehören innerhalb der Gruppe der schlechten Dekodierer zu so genannten „Kompensierern“, unter der Annahme, dass sie relativ gute Top-Down-Fähigkeiten besitzen. Offensichtlich kann nur ein sehr kleiner Prozentsatz von schwachen Schülern in diesem Alter schwache Dekodierleistungen bis zu einem bestimmten Grad ausgleichen. Ihre Verständnisleistungen sind aber deutlich schlechter als die der unbeeinträchtigten Schüler, so dass der Begriff der „Kompensierer“ vorsichtig zu gebrauchen ist. Typ-B-Schüler scheinen trotz relativ guter Dekodierleistungen im Vergleich zum Antityp (jedoch nur bei Pseudo-Wörtern!) ihre Probleme eher im Bereich der Sprachnutzung und des Aktivierens von Hintergrundwissen zu haben. Eine relative Entkopplung von Dekodierfähigkeit und Leseverständnis scheint nur bei einer sehr geringen Anzahl von Schülern zu existieren. Die von Shankweiler et al. (1999) identifizierten Subgruppen wurden auch schon von Byrne et al. (1992) ermittelt. Insgesamt kann gerade anhand der Befunde von Shankweiler et al. (1999) nicht nur ein hoher korrelativer Zusammenhang zwischen Dekodier- und Wortlesefähigkeiten
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| Teil VI: Schule und Unterricht Korrelationen H/Lv und D/Lv r(HLv.D)
r(DLv.R)
1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 Ende 1. Kl.
Mitte 2. Kl.
Ende 2. Kl.
Mitte 3. Kl.
Ende 3. Kl.
Mitte 4. Kl.
Ende 4. Kl.
Abbildung 6: Korrelationen Hörverstehen (H)/Leseverstehen (Lv) unter Eliminierung des Einflusses des Dekodierens [r(HLv.D)] sowie Korrelationen Dekodieren (D)/Lese verstehen (Lv) unter Eliminierung des Einflusses des Rekodierens [r(DLv.R)] über die Grundschulzeit hinweg (vgl. Marx & Jungmann, 2000, S. 88)
aufgezeigt werden, sondern zumindest für das frühe Schulalter auch eine hohe klassifikatorische Gültigkeit der Wortlesekompetenz hinsichtlich der Prognose von Leseverständnisproblemen (vgl. auch Marx, 1998). Die Befunde von Shankweiler et al. (1999) hinsichtlich des Simple View of Reading-Ansatzes (an einer englischsprachigen und mit leseschwachen Kindern durchsetzten Stichprobe) konnten im Wesentlichen auch an unauffälligen deutschsprachigen Grundschülern (vgl. Marx & Jungmann, 2000; Rost & Hartmann, 1992) bestätigt werden (vgl. Abb. 6). In Abbildung 6 sind die querschnittlich ermittelten Partial-Korrelationen von Marx und Jungmann (2000) für die angegebenen Klassen mit je N = 360 (Ausnahme: Ende 1. Klasse mit N = 99) grafisch dargestellt. Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen Hörverstehen und Leseverstehen unter Eliminierung des Einflusses des Dekodierens (Dekodieren = Rekodieren plus Sinnentnahme) über die Grundschulzeit hinweg, so fällt auf, dass (modellkonform) nur in der ersten Klasse eine mäßige Korrelation besteht, dann aber ein stabil hoher Zusammenhang zu beobachten ist. Ebenfalls modellkonform ist ein ständiges Absinken des Zusammenhangs zwischen Dekodieren und Leseverständnis unter Eliminierung des Einflusses des Rekodierens (Artikulation des Geschriebenen im Sinne einer Übersetzungsleistung): Je älter und routinierter die Schüler beim Lesen werden, umso geringer fällt das Gewicht des Dekodierens aus. 24.3.2 Förderdiagnostische Konsequenzen vor dem Hintergrund des Simple View of Reading-Ansatzes Aus all den Befunden ergeben sich auch klare förderdiagnostische Konsequenzen: Um Kindern eine wichtige Basis für das sinnverstehende Lesen zu geben, sollte vor allem
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 525
sichergestellt werden, dass im Erstleseunterricht (vgl. Kap. 24.2, Tacke in diesem Band) eine gute Wortlesefähigkeit erreicht wird. Im Vorschul- und einsetzenden Schulalter kann präventiv durch das Training der phonologischen Bewusstheit (vgl. Kap. 24.1) das Wortlesen und damit das spätere sinnerfassende Lesen substanziell positiv beeinflusst werden. Auf die entsprechenden förderdiagnostischen Maßnahmen in diesen Bereichen wird an dieser Stelle nur verwiesen und nicht näher eingegangen (vgl. jedoch Lenhard & Lenhard, 2006). Um bei jungen und/oder schwachen Lesern im Grundschulalter das Rekodieren, Dekodieren, Hör- und Leseverstehen zu erfassen, empfiehlt es sich, das Diagnoseverfahren Knuspels Leseaufgaben von Marx (1998) zu verwenden. Für das Erfassen des Lese- bzw. Hörverstehens existieren im deutschen Sprachraum des Weiteren Verfahren von Anger, Bargmann und Voigt (1971), Grissemann und Baumberger (1986), Kalb, Rabenstein und Rost (1979a, 1979b), Müller (1969), Urban (1986) und Wendeler und Stark (1973). Es bleiben an dieser Stelle noch Maßnahmen zur Verbesserung des Hörverstehens im Vorschul- bzw. Grundschulalter anzusprechen. Auf der einen Seite sind hier direkte und spezifische Trainingsverfahren zu nennen (vgl. Van den Bos, Brand-Gruwel & Aarnoutse, 1998) und auf der anderen Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen sprachlichen Kompetenz (vgl. z. B. Arnold, Lonigan, Whitehurst & Epstein, 1994; Butler, Marsh, Sheppard & Sheppard, 1985; Whitehurst et al., 1988). Ausgehend vom Simple View of Reading-Ansatz trainierten Van den Bos et al. (1998) in 20 Sitzungen à 30 Minuten neun- bis elfjährige Sonderschüler mit schwachen Dekodierleistungen im Hörverstehen. Nach der Methode des reziproken Lehrens (vgl. Palincsar & Brown, 1984) wurden Schülern Verstehens-Strategien vermittelt, die analog auch beim Training des Leseverstehens zum Einsatz kommen und auf die im nächsten Abschnitt noch näher eingegangen wird: Generieren von Fragen, Zusammenfassen, Nachfragen und Vorhersagen. Die Schüler der Experimentalgruppe verbesserten sich zwar in den zu lernenden Strategien, das generelle Hörverstehen und das Leseverstehen blieben aber davon unbeeinflusst. Die Autoren führen den mangelnden Transfer sowohl auf die Kürze des Trainingszeitraums als auch auf die Tatsache zurück, dass die Erfolgsvariablen mit standardisierten Verfahren gemessen wurden, die üblicherweise weniger sensibel für spezielle Fortschritte sind. Ein Überblick über Ansätze zur Verbesserung der allgemeinen sprachlichen (linguistischen) Kompetenz und der damit verbundenen Sprachverstehensprozesse (Faktor L) soll hier nicht ausgebreitet werden (vgl. Handbuch Sonderpädagogik der Sprache). Dass aber sprachliche Kompetenz im Vorschulalter die späteren Leseleistungen in der Grundschule und darüber hinaus beeinflusst, konnten z. B. Butler et al. (1985) in einer korrelativen Längsschnittstudie (über sieben Jahre) nachweisen. Ein hoch interessanter Trainingsansatz für das Vorschulalter, der von Whitehurst et al. (1988) und Arnold et al. (1994) entwickelt wurde, soll in diesem Zusammenhang aber besprochen werden. Whitehurst et al. (1988) brachten Müttern von Kindern im Vorschulalter ein spezielles Interaktionsverhalten bei, das sie zeigen sollten, wenn sie mit ihren Kindern in Bilderbüchern „lesen“. Die wesentlichen Merkmale dieses Interaktionsstils, dem Dialog-Lesen, finden sich in Tabelle 5. Nach zwei je 30-minütigen Einzeltrainings der Eltern aus der sozialen Mittelklasse und einem vierwöchigen „Lesen“ mit ihren Kindern, zeigten diese im Peabody Picture
526
| Teil VI: Schule und Unterricht Tabelle 5: Zusammenfassung der Dialog-Lese-Technik für Eltern bezüglich des „Lesens“ in Bilderbüchern (vgl. Arnold et al., 1994) Verhalten des Erwachsenen mit dem Ziel für das Kind, Bezeichnungen von Gegenständen, Eigenschaften und Funktionsbezeichnungen kennen zu lernen. – Wer-, Was-, Wo-Fragen stellen Wenn Eltern W-Fragen stellen, provozieren sie sprachliche Äußerungen des Kindes. Diese Frageform ist effektiver als das Daraufzeigen mit dem Finger oder Ja-Nein-Fragen. – Die Antworten des Kindes mit weiteren Fragen verfolgen Nach richtiger Antwort Nachschieben weiterer Fragen über Form, Farbe, Zweck, Funktion, Teilen, Aktionen des Objekts, die das Kind provozieren, sich zu den genannten Aspekten zu äußern. – Wiederholen, was das Kind sagt Wiederholen und Bestätigen, Ermutigungen für das aussprechen, was das Kind sagt. – Hilfen geben Modellieren guter Antworten und das Kind diese wiederholen lassen. – Lob und Ermutigung aussprechen – Berücksichtigung der Interessen des Kindes Wenn das Kind auf ein Bild zeigt, sollte man das als Chance nutzen, mit dem Kind in einen sprachlichen Dialog zu treten. – Spaß haben Lesen im Lesebuch sollte zu einer spielähnlichen Situation werden, in der jeder mal dran ist. Ein Teil der Zeit sollte mit Vorlesen verbracht werden. Verhalten des Erwachsenen mit dem Ziel für das Kind, Mehrwort-Sätze von sich zu geben sowie die Struktur der Geschichte und des Bildes zu erfassen. – Stellen von offenen Fragen Die Eltern sollten nicht auf eine spezielle Antwort fixierte Fragen stellen, sondern solche, die das Kind in die Lage versetzen, irgendwo auf dem Bild anzufangen, wie z. B. „Was siehst du auf dieser Seite?“ oder „Erzähl mir mal, was hier passiert!“ Auch wenn es am Anfang schwierig wird, sollten die Eltern das Kind ermutigen, Hilfen geben und gute Antworten modellieren. – Erweitern, was das Kind sagt Eltern sollten beim Wiederholen dessen, was das Kind sagt, leicht komplexere sprachliche Strukturen verwenden mit ein bisschen mehr Information. „Ente schwimmen“ vs. „Richtig, die Ente schwimmt“ oder „Auto“ vs. „Ja, ein rotes Auto“. Die besten Erweiterungen sind die, die das Kind dann vollständig imitieren kann.
Vocabulary Test im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nicht trainierter Eltern und Kinder einen Sprachentwicklungsvorsprung von sechs bis achteinhalb Monaten und einen signifikanten Anstieg der durchschnittlichen Länge ihrer Äußerungen. Nach neun Monaten waren die Differenzen zwar deutlich geringer, jedoch immer noch bedeutsam. Besonders interessant ist an diesen Befunden, dass selbst das Interaktionsverhalten von Eltern aus der sozialen Mittelschicht noch so stark verbessert werden kann. Valdez-Menchaca und Whitehurst (1992) sowie Lonigan (1993) konnten aber auch zeigen, dass das Elterntraining die Sprachentwicklung von mexikanischen bzw. amerikanischen Risikokindern aus der sozialen Unterschicht deutlich verbessern konnte. Diese Effekte konnten auch mit einem Eltern-Videotraining erreicht werden, in dem die in Tabelle 5 beschriebenen Verhaltensweisen im Film modelliert wurden (vgl. Arnold et al., 1994).
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 527
24.3.3 Sinnverstehendes Lesen und (meta-)kognitiv orientierte Förderansätze In Abweichung (vgl. jedoch Hoover & Gough, 1990, S. 153) und Erweiterung der Sichtweise von Shankweiler et al. (1999) soll an dieser Stelle der Faktor L breiter gesehen werden, nämlich unter der ergänzenden Einbeziehung von Wissensbeständen bzw. Strategien zur Aktivierung von z. B. Vorwissen, Weltwissen, Strategie-Wissen, StrategieAnwendung, Generieren mentaler Modelle, Meta-Verständnis etc., wie es kognitiv bzw. metakognitiv orientierte Ansätze vorschlagen (vgl. Baumann, 1988; Beyer & Guthke, 1991; Dole et al., 1996; Dole et al., 1991; Guthke & Beyer, 1992; Hasselhorn & Körkel, 1986; Mastropieri et al., 1996; Rosenshine et al., 1996; Talbott et al., 1994). Kognitiv orientierte Ansätze gehen zunächst generell davon aus, dass alle Leser, gleichgültig ob stark oder schwach, unterschiedliche Wissensbestände bei der Informationsaufnahme (Lesen) mit dem Ziel aktivieren können, ein „Bedeutungsmodell“, mentales Modell oder Situationsmodell auf der Grundlage eines Textes zu konstruieren. Derartiges Wissen speist sich zumindest aus den vier folgenden Quellen (vgl. Dole et al., 1991): 1. Bereichsspezifisches Wissen über das Thema des Textes, 2. Generelles Weltwissen über soziale Beziehungen und generelle Kausalbeziehun gen, 3. Wissen über die Struktur des Textes, 4. Wissen über Lese-Strategien, und zwar (a) deklaratives Wissen (Was für Strategien gibt es? Welcher Art sind sie?), (b) prozedurales Wissen (Wie wende ich die Strategien an, nutze sie?), (c) konditionales Wissen (Unter welchen speziellen Bedingungen wende ich die jeweilige Strategie an?). Hinsichtlich des 4. Punktes konnten Hasselhorn und Körkel (1984) zeigen, dass ca. 40% der Varianz der Verstehensleistung und über 50 % der Behaltensleistung bei 12-Jährigen durch Prädiktoren wie Wissen über Textverarbeitungsprozesse (Metagedächtnis), aktuelle Wissens- und Verstehensüberwachung beim Lesen und flexible Anwendung von Strategien erklärt werden kann. Neuerdings konnten Zwaan, Radvanski, Hilliard und Curiel (1998) nachweisen, dass Leser beim Konstruieren von mentalen Modellen Dimensionen wie die des Protagonisten (Wer tut etwas?), der Zeit (Wann, welcher Zeitablauf?), des Raumes (Wo?) sowie der Verursachung und der Motivation (Warum?) berücksichtigen (zum Thema visuelle Modelle bzw. Situationsmodelle beim Lesen vgl. auch Chan, Cole & Morris, 1990; Dutke, 1993; Rinck, Bower & Wolf, 1998; Schnotz & Mikkilä, 1991; Wagner, 1988). Die Qualität solcher mentalen Modelle und damit des Verstehensprozesses hängt wiederum u .a. von der Quantität und Qualität der dem Leser zur Verfügung stehenden Wissensquellen bzw. dem Grad und der Intensität ihrer Nutzung ab. So können Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Leseverständnisproblemen im Extremfall Defizite in allen vier genannten Bereichen haben. Klauer (1996) konnte zeigen, dass mit dem für Schüler adaptierten metakognitiv aufgebauten Trainingsprogramm von Friedrich, Fischer, Mandl und Weis (1987) im Vergleich zu einer nicht behandelten Vergleichsgruppe eine Effektstärke von 0.73 direkt
528
| Teil VI: Schule und Unterricht nach dem Training und von 0.90 sechs Monate später erzielt werden kann. Weitaus interessanter sind Befunde, die konkurrierende Interventionsformen (Förderaktivitäten) direkt miteinander vergleichen. Dass bei Lesern, die mit Hilfe metakognitiv orientierter Förderprogramme trainiert wurden, prinzipiell im Vergleich zu traditionell unterrichteten signifikante und prägnante Verbesserungen im sinnverstehenden Lesen erreicht werden können, ist hinlänglich u. a. auf der Basis der Pionier-Arbeit von Palinscar und Brown (1984) und auch metaanalytisch belegt (vgl. Mastropieri et al., 1996; Rosenshine & Meister, 1994; Talbott et al., 1994). Dieser Sachverhalt wird weiter unten überblickhaft dargestellt. Die Befunde zweier besonders interessanter Arbeiten für den Förderschwerpunkt Lernen seien hier voran gestellt und etwas ausführlicher betrachtet. In einer außerordentlich gut kontrollierten in Deutschland durchgeführten Studie gingen Hasselhorn und Körkel (1986) den Fragen nach, ob (a) ein metakognitiv orientiertes Training im Vergleich zu einem traditionell ausgerichteten Curriculum effektiver ist, (b) wie der Zusammenhang zwischen Textverstehen/Behalten und den Metakognitionen vor und nach einem Training aussieht und (c) ob die Berücksichtigung (Kontrolle) des Faktors bereichsspezifisches Wissen den Zusammenhang zwischen der Leseleistung und Metakognition verringert. Probanden waren 48 sehr leistungsschwache Schüler aus dem Primarbereich (Alter: 12;9 Jahre). Schüler mit durchschnittlichen Kenntnissen zum Thema „Fußball“ wurden ausgeschlossen, ebenso Schüler mit schwerwiegenden Dekodierproblemen (vgl. Kap. 24.3.1). Die restlichen 40 Schüler wurden je zur Hälfte in Fußball-Experten und Fußball-Novizen aufgeteilt. Beide Gruppen wurden je zu gleichen Anteilen mit einer traditionellerweise in den Schulen eingesetzten Methode (TG) und dem metakognitiven Ansatz (MG) gefördert. Beide Formen der Förderung wurden fünf Wochen lang jeweils mit einem Zeitaufwand von 70 bis 80 Minuten durchgeführt. Identische Texte unterschiedlicher Thematik (außer Fußball), Struktur und Schwierigkeitsgrade wurden in beiden Gruppen bearbeitet. In der TG wurde den Schülern am Anfang mitgeteilt, das Ziel der Maßnahme sei, dass sie hinterher besser aus Texten lernen könnten. Maßnahmen waren hier das Üben des richtigen und betonten Lesens von Texten, das Nacherzählen der Inhalte, die Identifizierung von syntaktischen und grammatikalischen Komponenten von Sätzen (Subjekt, Prädikat, Objekt) und das Diskutieren der Textinhalte im Detail. Während der inhaltlichen Diskussion wurde den Schülern systematisch nahe gelegt, ihr Vorwissen zu aktivieren und dieses Wissen zum Textverstehen auch einzusetzen. Primäres Ziel in der MG war es, das Bewusstsein beim Lesen zu verändern und vor allem Selbstregulierungstechniken einzuüben. Methodisch wurde auf das Paradigma des kognitiven Modellierens und der Selbstinstruktion zurückgegriffen. In den ersten beiden Trainingssitzungen wurden den Schülern mehrere Möglichkeiten aufgezeigt, wie man Texte besser versteht und behält: Achte vor dem Lesen auf die Überschrift und ziehe daraus Hinweise über den Inhalt; mache nach jedem Absatz eine Pause und überprüfe, was du verstanden hast oder nicht; unterstreiche die wichtigsten Sätze; denke über den Inhalt nach und fasse ihn zusammen. Die Schüler wurden über die Nützlichkeit dieser Regeln informiert. Danach modellierte der Trainer diese Vorgehensweise an einem konkreten Text, indem er sich laut die Schritte vorsprach (lautes Denken). Die Schüler wurden dann aufgefordert, diese Verbalisierungen an demselben Beispiel zu imitieren. Schließlich hatten alle die Aufgabe, die Vorgehensweise auf andere Texte zu transferieren.
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 529
Trainingsgewinne für TG und MG
Leseverständnis
1,6 1,4 1,2 1,0
Experten Novizen
0,8 0,6 0,4 0,2 0
TG
MG
Abbildung 7: Vor-Nachtest-Differenzen (Trainingsgewinne) für TG und MG im Leseverständnis zum Thema Fußball, differenziert nach Experten und Novizen (nach Hasselhorn & Körkel, 1986, S. 81)
Während der dritten und vierten Trainingssitzung wurde geübt, diese Regeln und Techniken auf eine reflexive, flexible und zieladaptive Art und Weise einzusetzen, vor allem bei tatsächlichen oder vermeintlichen Inkonsistenzen und Schwierigkeiten mit dem Text. Dabei wurde ebenfalls mit Hilfe des kognitiven Modellierens eine vierschrittige Vorgehensweise eingeübt: (a) Was ist das Problem?, (b) welche Lösungen gibt es?, (c) welche ist die beste Lösung und warum?, (d) ist das Problem jetzt vollständig gelöst? In der letzten Sitzung wurden alle diese Aspekte in Form einer übergreifenden Problemlöseheuristik zum sinnverstehenden Lesen angeboten, und zwar eingeteilt in Strategien, die vor, während und nach dem Lesen eingesetzt werden können. Insgesamt zeigte sich ein signifikanter Vortest-Nachtest-Effekt, der bedeutet, dass beide Maßnahmen (TG und MG) zur Verbesserung des Leseverständnisses beigetragen haben. Im Nachtest zeigten sich jedoch insgesamt keine signifikanten Unterschiede zwischen TG und MG. Es tauchte aber ein differentieller Methodeneffekt in dem Sinne auf, dass Experten und Novizen unterschiedlich von den Trainingsmaßnahmen profitierten (vgl. Abb. 7). Dabei profitieren Schüler mit gutem Vorwissen (Experten) bei der traditionellen Form des Unterrichtens offensichtlich am meisten und Schüler mit schlechtem Vorwissen (Novizen) eher wenig. Durch die metakognitiv orientierte Verfahrensweise profitieren Schüler mit defizitärem Vorwissen (Novizen) deutlich mehr als die Experten. Auf der Basis einer Pfadanalyse zeigte sich, dass in beiden Gruppen (TG und MG) die Leistung im Leseverständnis vor dem Training hauptsächlich durch Selbstüberwachungsprozesse und Selbstregulation und weniger durch das Vorwissen determiniert wurde. Dies änderte sich jedoch nach dem Training ebenfalls differentiell: In der TG wuchs der Einfluss des bereichsspezifischen Vorwissens (zum Thema Fußball) auf das Textverständnis dramatisch stark an, während dies in der MG nicht der Fall war. Diese Befunde zeigen deutlich, dass die üblichen unterrichtlichen Maßnahmen im Bereich des sinnverstehenden Lesens eher Schülern mit gutem textspezifischem Vorwissen nutzen, jedoch nicht
530
| Teil VI: Schule und Unterricht Schülern mit weniger Vorwissen, also in der Regel Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Novizentum hinsichtlich des Inhaltes eines Textes kann aber offensichtlich recht gut durch das Training metakognitiver Kompetenzen ausgeglichen werden. Schließlich konnten Hasselhorn und Körkel (1986) zeigen, dass der Zusammenhang zwischen metakognitiven Kompetenzen und den Leistungen beim sinnverstehenden Lesen eindeutig weniger stark ist, wenn man das Vorwissen auspartialisiert. Möglicherweise wird in Trainingsexperimenten, in denen das textspezifische Vorwissen der Probanden nicht kontrolliert wird, das Gewicht metakognitiver Variablen überschätzt. Der große Vorteil metakognitiv orientierter Trainingsprogramme ist aber offensichtlich der, dass unabhängig vom Inhalt eines bestimmten Textes allgemeines und auf andere Texte transferierbares Problemlöseverhalten eingeübt und erworben werden kann. Dies konnte in einem Trainingsexperiment von Dole et al. (1996) mit einer inhaltlich anderen Ausrichtung von metakognitivem Training eindrucksvoll demonstriert werden. Versuchspersonen waren 67 Fünft- und Sechstklässler, deren Leseleistungen im Stanford Achievement Test (SAT) durchschnittlich im untersten Quartil lagen und damit als Risikokinder galten. Schüler mit gravierenden Dekodierproblemen wurden nicht berücksichtigt. Die in drei Gruppen geteilte Stichprobe wurde fünf Wochen lang viermal wöchentlich 50 Minuten gefördert. Bis auf die Kontrollgruppe, die einfach nur eine basale Leseförderung bekam, wurden innerhalb jeder Fördersitzung die beiden Vergleichsgruppen 10 bis 15 Minuten lang besonders instruiert. Die eine Gruppe (TextInhalt-Gruppe) wurde so ähnlich unterrichtet wie die TG-Gruppe bei Hasselhorn und Körkel (1986). Bei den Schülern, die das Strategie-Training bekamen, wurde ebenfalls ähnlich wie in der deutschen Untersuchung vorgegangen, jedoch wurde hier mental das Anlegen einer „Straßenkarte“ durch den Text (story map) mit Hilfe von W-Fragen besonders eingeübt und modelliert, um das Generieren von mentalen Situationsmodellen (siehe oben) zu erleichtern und anzuregen. Die restliche Zeit der jeweiligen Sitzungen wurde zum Einüben des Gelernten an neuen Texten verbracht. Am Ende jeder Sitzung wurden zehn Verständnisfragen gestellt, um die Fortschritte zu kontrollieren, aber auch um die Schüler an die Testsituation zu gewöhnen. Neben den drei Behandlungsarten für die Schüler (Kontrollgruppe, Text-Inhalt-Gruppe und Strategie-Training) umfasste der Versuchsplan die Kontrolle der Messzeitpunkte für die abhängige Variable Leseverständnis (direkt nach dem Training vs. sieben Wochen später) und die Bedingungen, unter denen die Erfolgsvariable gemessen wurde. Dieses geschah nämlich einmal in der jeweiligen Sitzung direkt nach den spezifischen Übungen (d. h. unter Instruktionsbedingungen auf der Basis der behandelten Texte) und einmal ohne dass an dem Tag irgendwelche Instruktionen stattgefunden hätten (Transfer-Bedingung auf der Basis unbehandelter Texte). Die Befunde sind in Abbildung 8 zusammengefasst, dargestellt als die um die Vortestunterschiede bereinigten Mittelwerte der Nachtests. Insgesamt besteht ein signifikanter Methodeneffekt in dem Sinne, dass das StrategieTraining sowohl dem üblichen Text-Inhalts-Training als auch dem normalen Leseunterricht (Kontrollgruppe) überlegen ist (F = 17.31, p < .001). Die Unterschiede zwischen den drei Behandlungsgruppen sind dann nicht signifikant, wenn das Erfolgsmaß unter Instruktionsbedingungen (vgl. erste und dritte Säulengruppe in Abb. 8) erhoben wurde. Wurden die Probanden unter Transferbedingungen getestet, ergibt sich ein signifikanter Vorteil für das Strategie-Training (vgl. zweite und vierte Säulengruppe in Abb. 8) im
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 531
Text-Inhalt
Strategie-Training
Kontrollgruppe
Leseverständnis
25 20 15 10 5 0
Instruktion nach Training (n.s.)
Transfer nach Training (sig.)
Instruktion nach Transfer nach 7 7 Wochen (n.s.) Wochen (sig.)
Abbildung 8: Leseverstehensleistungen nach Text-Inhalts-Training, Strategie-Training und Kontrollgruppe, gemessen während der Instruktion im Training und unter Transfer-Bedingungen, jeweils direkt nach dem Training und sieben Wochen später (nach Dole et al., 1996)
Vergleich zu den beiden anderen Gruppen (Text-Inhalt-Training vs. Kontrollbedingung), die sich ebenfalls untereinander nicht signifikant unterscheiden. Die beiden soeben etwas ausführlicher referierten Untersuchungen zeigen, dass metakognitiv aufgebaute Curricula zur Förderung sinnverstehenden Lesens inhaltlich durchaus unterschiedlich ausgerichtet sein können. Daraus ergibt sich die Frage nach sich besonders günstig auswirkenden Inhalten (was wird gelehrt?), aber auch nach der optimalen Art des methodischen Vorgehens (wie wird gelehrt?). Fundierte Antworten auf diese Fragen kann man am besten nur auf der Basis einer möglichst großen Anzahl von Untersuchungen geben. Dies wird im Folgenden mit Hilfe von Metaanalysen versucht. 24.3.4 Bestimmte metakognitive Strategien und die Förderung sinnverstehenden Lesens Die bisher oben dargestellten Arbeiten stellen nur eine kleine Auswahl aus dem sehr breiten und verästelten Spektrum von veröffentlichten Interventionsformen und Inhalten auf der Basis metakognitiver Ansätze dar. Kann man Aussagen über besonders erfolgreiche Maßnahmen treffen, die auch für die Praxis empfohlen werden können? In Anlehnung an Palincsar & Brown (1984) werden häufig folgende metakognitive Aktivitäten (Strategien) im Zusammenhang mit dem Training des sinnverstehenden Lesens diskutiert und empirisch überprüft: Das Zusammenfassen: Wenn man Schüler auffordert, einen Textabschnitt zusammenzufassen, werden sie gleichzeitig angehalten, die wesentlichen Inhalte herauszuarbeiten
532
| Teil VI: Schule und Unterricht und auch dabei angeregt zu überprüfen, ob der Verstehensprozess abläuft und möglicherweise dabei auch Korrekturprozesse einzuleiten. Das Fragenstellen: Werden Schüler angehalten, mit selbst gestellten Fragen (wer, wann, wo, wie, warum) einen Text zu „bearbeiten“, wird das Augenmerk ebenfalls auf für das Verstehen wichtige Textelemente gelenkt und es werden wiederum Überwachungsprozesse eingeleitet. Das Klären von Wortbedeutungen und unklaren Textpassagen: Diese Anforderung verlangt vom Lerner eine kritische Überprüfung dessen, was er liest, verbunden mit einer Kompatibilitätsprüfung des Gelesenen mit dem Vorwissen. Das Vorhersagen: Diese Aktivität verlangt das Ziehen und Testen von Schlussfolgerungen und Interpretationen unterschiedlicher Art zum Zwecke einer Aussage, wie es wohl weiter gehen werde. Alle vier genannten Aktivitäten sind natürlich nicht unabhängig voneinander und haben ein gemeinsames Ziel: Aktivierung von relevantem Hintergrundwissen. Darüber hinaus haben sie verstehensfördernde (comprehension-fostering) sowie den Verstehensprozess überwachende (comprehension-monitoring) Funktionen. Einerseits kann die überwachende Funktion des Zusammenfassens z. B. darin gesehen werden, dass jemand, der nicht in der Lage ist, das, was er liest, zusammenzufassen, dies als einen wichtigen Indikator für Verstehensprobleme interpretiert und entsprechende Hilfsmaßnahmen (z. B. das Fragenstellen oder das Klären von Wortbedeutungen) einleitet. Andererseits kann das Stellen von Fragen zum Text dazu führen, dass Überwachungsprozesse ablaufen (vgl. Palincsar & Brown, 1984, S. 121). Aus der Schilderung dieser Strategien wird klar, dass diese als Prozeduren verstanden werden können, die es Schülern erleichtern, wenig strukturierte Aufgaben (z. B. das Verstehen eines Textes) zu bewältigen. Strategien können auch als Heurismen betrachtet werden. Dies bedeutet, dass sie nicht als Algorithmen zu verstehen sind, deren Befolgung zwangsläufig und direkt zum Ziel führt, sondern eher als Hilfsmittel, die Schülern helfen, gezielt nach Informationen zu suchen, diese zu verbinden, Vorwissen zu aktivieren, Schlussfolgerungen zu ziehen etc., was insgesamt zu verbesserten Verstehensprozessen führt. Schwachen Schülern sind diese Aktivitäten häufig gar nicht bekannt und/oder sie bringen sie nicht oder nicht genügend zum Einsatz. Zur metaanalytischen Überprüfung verschiedener Aspekte von Interventionen im Bereich des sinnverstehenden Lesens fassten Mastropieri et al. (1996) in Erweiterung der Arbeit von Talbott et al. (1994) 68 experimentelle Gruppenvergleichsstudien (exklusive 14 Einzelfallstudien) für den Zeitraum von 1976 bis 1996 zusammen. Arbeiten auf der Basis von Schülern mit Dekodierproblemen wurden ausgeschlossen. Insgesamt fußt die Analyse auf 2 865 Schülern im Durchschnittsalter von 12;8 Jahren und einem mittleren IQ von 93.9. Die mittlere Effektstärke für die Studien, die mit informellen kriteriumsorientierten Tests arbeiteten, beträgt ES = 1.03 (NES = 186), für 17 Studien mit standardisierten Testverfahren konnte eine Effektstärke von 0.40 berechnet werden. Tabelle 6 enthält die Effektstärken dreier Klassen von Interventionen. Zu nennen ist zuerst die Selbstorganisation bzw. Selbstregulation (self-questioning), die gekennzeichnet ist durch Nutzen von Vorwissen, Fragenstellen, Zusammenfassen, Klären, Vorhersagen. Als zweite Klasse sind Aktivitäten aufgeführt, die gekennzeichnet sind durch Maßnahmen zur Textverbesserung wie das Nutzen von Hilfen im Text (Überschriften, Grafiken, Bilder), Hervorheben und Unterstreichen, semantische Analyse. Schließlich die Maßnahmen, die
Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 533
Tabelle 6: Befunde der Metaanalyse unter dem Gesichtspunkt des Interventionstyps (vgl. Mastropieri et al., 1996, S. 215) Was wurde gelehrt?
Mittlere ES
SA
NES
Selbstorganisation
1.33
1.13
67
Textverbesserung
0.92
0.95
81
Skills
0.62
1.01
50
man als Skills bezeichnen kann und häufig die üblichen Vorgehensweisen im Unterricht darstellen: Steigerung der Leseflüssigkeit, Vokabel-Arbeit, wiederholtes Lesen, Lehrerfragen über den Inhalt beantworten. Wie ersichtlich, zeigen unterrichtliche Fördermaßnahmen wie die beschriebenen metakognitiven Aktivitäten eine doppelt so große Effektstärke wie die üblicherweise verwendeten. Maßnahmen der Textverbesserung liegen dazwischen. Die Effektstärken in Tabelle 6 sind aber eher als relative Gewichte im Sinne einer Rangfolge zu interpretieren. Die absoluten Werte sind sicherlich nach unten zu korrigieren, weil Mastropieri et al. (1996) die Aktivitäten der Kontrollgruppen in den unterschiedlichen Arbeiten nicht mit berücksichtigt haben. Gemäß der Metaanalyse von Talbott et al. (1994) zeigen sich nämlich in Untersuchungen mit Warte-Kontrollgruppen Effektstärken von im Schnitt 1.57, in Untersuchungen mit aktiven Kontrollgruppen Effektstärken von im Schnitt 0.845 und in Experimenten, in denen die trainierten Schüler mit denjenigen aus normalem (Lese-)Unterricht verglichen wurden, konnte man die wohl den realen Verhältnissen am nächsten kommende mittlere Effektstärke von 0.769 beobachten. Im Zusammenhang mit den in den letzten Abschnitten dargestellten Forschungsaktivitäten fällt immer wieder auf, dass verschiedene Formen des Fragenstellens (selfquestioning) eine Rolle spielen. Dabei werden Schüler angehalten, entweder selbst oder angeleitet bestimmte Fragen zu generieren, durch deren Beantwortung Verstehens- und Überwachungsprozesse initiiert werden sollen. Diese besondere Strategie haben Rosenshine et al. (1996) einer ausführlicheren Betrachtung unterzogen. In einer Metaanalyse fassten die Autoren 26 experimentelle Studien zusammen, die allesamt Experimental- und Kontrollgruppen beinhalteten und bei denen im Posttest nur neue Materialien, die nicht vorher während des Trainings benutzt worden waren, als Transfer-Tests zum Einsatz kamen. In 17 der Studien wurde einzig und allein die Selbstfrage-Strategie ohne besonders spezifiziertes Instruktionskonzept bzw. nach schulüblichem Muster gelehrt. In den neun restlichen Untersuchungen wurde methodisch nach dem Konzept des reziproken Lehrens gearbeitet und neben der Selbstfrage-Strategie ein weiterer bis drei weitere Heurismen (Zusammenfassen, Vorhersagen, Klären) vermittelt. Tabelle 7 enthält die Befunde. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf die Anzahl der Studien, auf denen die Berechnung der Effektstärken beruht. Es ist also möglich, dass innerhalb einer Studie unterschiedliche Formen der Testung der Erfolgsvariable vorkommen. Wie ersichtlich, zeichnen sich zwischen den Instruktionsmethoden keine Unterschiede ab. Bei den breit und in der Regel unspezifisch angelegten Standardtests ergeben sich in der Regel Effektstärken um 0.35 (d. h. Verbesserung auf das 64. Perzentil). Bei den informellen Tests und bei der Erfassung der Qualität der durch die Schüler angefertigten Textzusammenfassungen zeigen sich z. B. Effektstärken von 0.85 und höher
534
| Teil VI: Schule und Unterricht Tabelle 7: Effektstärken für die Selbstfrage-Strategie, aufgeschlüsselt nach Art der Testung und Instruktionsmethode (vgl. Rosenshine et al. 1996, S. 189) Instruktionsmethode Art der Testung
Reziprokes Lehren (n = 9)
Übliche Instruktion (n = 17)
Gesamt (n = 26)
Standardisierte Verfahren
0.34 (6)
0.35 (7)
0.36 (13)
Informelle Tests
1.00 (5)
0.88 (11)
0.87 (16)
Schüler-Textzusammenfassung
0.85 (3)
0.81 (2)
0.8 (5)
(d. h. Verbesserung auf das 81. Perzentil und höher). Besonders bemerkenswert ist der Befund, dass offensichtlich allein durch das Lehren von nur einer Selbstfrage-Strategie beachtliche Effekte erzeugt werden können. Dies wiederum führt zu der Frage, welche Strategien hier die erfolgreichsten waren. Einigermaßen aussagefähige Ergebnisse werden in der Metaanalyse von Rosenshine et al. (1996) für die Strategie „Einbringen von Signalwörtern“ und „Einbringen von fertigen Fragegerüsten“ (scaffolding) geliefert. Die erste der beiden Strategien erbringt eine mittlere Effektstärke von 0.85 (in sieben Studien), die zweite eine von 1.12 (in vier Studien). Diese Befunde ergeben sich unabhängig von der Klassenstufe (drei bis neun), der Länge des Trainings (vier bis 25 Sitzungen) sowie der Gruppengröße (drei bis 22 Schüler). Insgesamt profitieren gemäß der Metaanalyse leistungsschwache Schüler nicht mehr als leistungsstarke. Dass das Nutzen von Signalwörtern (wer?, was?, wann?, wo?, warum?) sinnvoll ist, wird durch die weiter oben referierten Befunde erhärtet, nach denen zum Konstruieren von mentalen Modellen die entsprechenden Dimensionen beim Leser generiert werden. Das Einbringen von fertigen Fragegerüsten ist im Prinzip keine grundlegend andere Vorgehensweise, liefert dem Schüler aber konkretere Vorgaben. Der inhaltlich-verbale Aufbau für eine solche Hinweiskarte (cue card), die Schülern als Hilfe zum Erwerb entsprechender verbaler Prozeduren beim Training angeboten werden können, wird in Anlehnung an King und Rosenshine (1993) in Tabelle 8 dargestellt: Schüler, die auf der Basis der in Tabelle 8 dargestellten Hinweiskarte trainiert wurden, erbrachten in Transfertests sowohl bessere Verstehens- als auch bessere Behaltensleistungen als Schüler, Tabelle 8: Beispiel für eine relativ stark elaborierte Hinweiskarte, die Schüler beim reziproken Lernen nutzten (nach King & Rosenshine, 1993, S. 134) Erkläre, warum .....? Erkläre, wie .....? Wie passiert, wenn ......? Warum ist ..... wichtig? Wie sind sich ..... und ..... ähnlich? Wie unterscheiden sich ..... und .....? Beschreibe ..... Was bedeutet .....? Was ist ein weiteres Beispiel für ......? Warum ist ..... besser als .....?
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bei denen einzig und allein die W-Fragewörter auf der Hinweiskarte gleicher Größe erschienen (vgl. King & Rosenshine, 1993). Charakteristisch für die beiden erfolgreichen verbal gesteuerten Prozeduren in der Metaanalyse von Rosenshine et al. (1996) scheint zu sein, dass sie relativ einfach zu erlernen sind. Studien, in denen die Schüler die Aufgabe hatten, zuerst den Hauptgedanken des Textabschnitts herauszufinden und darauf aufbauend Fragen zu formulieren, waren weniger erfolgreich als der umgekehrte Weg, nämlich Signalwörter und fertige Fragegerüste zur Erarbeitung des Hauptgedankens zu benutzen. Insgesamt stellt es sich als sehr lohnenswerte und wichtige Forschungsaufgabe für die Zukunft heraus, zu eruieren, welche Form von verbalen Prozeduren für welche Schüler die besten Ergebnisse liefert. 24.3.5 Konsequenzen für die Förderung vor dem Hintergrund des metakognitiv orientierten Ansatzes zur Verbesserung des sinnverstehenden Lesens Aus den von Rosenshine et al. (1996) analysierten erfolgreichen Studien lassen sich für die Förderpraxis folgende neun grundsätzliche Handlungsanweisungen ableiten: Liefere aufgabenspezifische verbale Lösungsprozeduren: In den 23 von Rosenshine et al. (1996) zusammengetragenen Arbeiten benutzten alle bis auf drei eine aufgaben- und strategiespezifische Instruktionstechnik wie sie im letzten Abschnitt beschrieben wurde. Dieser Ansatz wird im Übrigen auch für die Vermittlung anderer Inhalte verwendet (vgl. z. B. Wong, 1985). Liefere Modellverhalten für angemessenes Aufgabenlösen: In fast allen Studien der Metaanalyse wurde modelliert, wie man verbale Lösungsprozeduren benutzt, und zwar in unterschiedlichen Untersuchungen vor dem eigentlichen Training, um das Lernziel zu verdeutlichen, während des Übens und nach dem Training. Nach dem Training geschah dies vor allem, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, ihren Stand mit dem eines „guten“ Modells zu vergleichen. Antizipiere mögliche Schwierigkeiten: In einigen Untersuchungen sprach der Trainer im Voraus häufig vorkommende Fehler an, bevor die Schüler sie selbst machen konnten. So sollten Schüler z. B. einen Textabschnitt lesen, gefolgt von drei Fragen durch den Trainer. Die Schüler sollten herausfinden, welche Fragen auf den Abschnitt anwendbar waren und welche nicht. So wurde gelernt, zwischen angemessenen und nicht angemessenen Fragen zu unterscheiden. Verändere die Schwierigkeit der Übungstexte: Hier sollte einfach die Regel beachtet werden, vom Einfachen zum Schwierigen zu schreiten. Liefere eine Hinweiskarte (cue card): Eine Hinweiskarte (vgl. Tab. 8) erleichtert den Schülern das Behalten der Prozedur und entlastet das Kurzzeitgedächtnis. Leite die Schüler aktiv an: In den Studien wurden drei Formen der Anleitung praktiziert: Lehrerzentriertes Üben, reziprokes Lehren und Kleingruppenarbeit. Beim lehrerzentrierten Üben gibt der Lehrer allgemeine Tipps, erinnert an die verbalen Prozeduren, zeigt was übersehen wurde und macht Verbesserungsvorschläge. Diese Form wurde häufig mit dem einführenden Modellieren der Lösungsprozedur durch den Lehrer gekoppelt und ist durch den Dreiklang „Vormachen-Nachmachen-Üben“ zu beschreiben. Beim
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| Teil VI: Schule und Unterricht reziproken Lehren steht das Modellieren ebenfalls an erster Stelle, jedoch übernehmen die Schüler relativ rasch schrittweise die Funktion der Modellierer, während der Lehrer sich immer mehr ausblendet (fading out). So kann z. B. das Stellen und Beantworten von Fragen wechselseitig praktiziert werden. In der Kleingruppenarbeit kann das Stellen und Beantworten von Fragen durch unterschiedliche Schüler praktiziert werden. Liefere Feedback und Korrekturen: Rückmeldungen über die Qualität der gestellten Fragen und Antworten sollten immer integraler Bestandteil des Trainings sein. Liefere eine Prüfliste: Der Zweck einer Prüfliste (checklist) besteht darin, den Schülern Anhaltspunkte zur Überwachung (monitoring) des Lösungsprozesses anzubieten. In einigen Studien wurden die Schüler angehalten, gegen Ende der Lösungsprozedur zu fragen: „Was habe ich noch nicht verstanden?“ oder „Habe ich die richtigen Fragen gestellt?“ oder „Habe ich wirklich das Wichtigste verstanden?“ Überprüfe, ob die Schüler die Strategie wirklich beherrschen: Erfolgreiche Studien im Bereich der Anwendung metakognitiver Strategien überprüfen während der Trainingsphase, ob und in welchem Maße die Schüler die Lösungsprozedur beherrschen. Nur wenn ein Minimum an Sicherheit und Meisterschaft erreicht ist, kann das Training den gewünschten Erfolg liefern. Jedes Training sollte sich an diesen methodischen Grundsätzen orientieren. In sich abgeschlossene Trainingsprogramme für förderpädagogische Zwecke sind eher selten zu finden. So existiert im deutschsprachigen Bereich das Trainingsprogramm von Kalb et al. (1979b). In weiten Teilen werden hier Fertigkeiten geübt, die dem Simple View of Reading-Ansatz entsprechen. Auf der anderen Seite werden aber auch bestimmte metakognitive Strategien wie z. B. die des Beantwortens von Fragen behandelt. Speziell im Diagnoseband (vgl. Kalb et al., 1979b, D7 bis D9) lassen sich für das Training von W-Fragen zur Erfassung des Textverständnisses einige Ideen „abgucken“. Wichtige Anregungen sind auch dem Trainingsprogramm von Friedrich et al. (1987) zu entnehmen. Dieses Programm ist zwar für die Sekundarstufe II und für Studierende gedacht, kann aber entsprechend modifiziert werden (vgl. Klauer, 1996). Im Rahmen des Projekts REGULESE (Förderung der Regulation von Lesestrategien bei Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I) wurde von Souvignier, Küppers und Gold (2003) ein Trainingsprogramm entwickelt, in dem neben motivationalen Aspekten auch Techniken (sieben „Detektivmethoden“) vermittelt werden, Texte besser zu verstehen: Überschrift beachten, bildliches Vorstellen, Umgang mit Textschwierigkeiten, Verstehen prüfen, Wichtiges unterstreichen, Wichtiges zusammenfassen, Behalten überprüfen (vgl. Gold, Mokhlesgerami, Rühl & Souvignier, 2004). Schließlich sollen an dieser Stelle die wichtigen motivationalen Aspekte (vgl. Kap. 22, Borchert in diesem Band) im Zusammenhang mit dem sinnverstehenden Lesen und dessen Förderung nicht unterschlagen werden. Vorhandenes thematisches Interesse der Schüler zu nutzen bzw. neues aufzubauen erscheint vor dem Hintergrund empirischer Befunde nicht unwichtig (vgl. Guthrie & Wigfield, 1999; Guthrie, Wigfield, Metsala & Cox, 1999; Schiefele, 1990, 1999; Souvignier et al., 2003). So absolvieren thematisch interessierte Schüler ein höheres Lesepensum, was sich wiederum grundsätzlich positiv auf das Sinnverstehen auswirkt.
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24.4 Rechtschreiben Gerheid Scheerer-Neumann 24.4.1 Der Lerngegenstand Die deutsche Orthographie erscheint nicht nur manchem Kind, sondern auch vielen Lehrenden als undurchdringliches Dickicht; tatsächlich ist sie aber linguistisch recht gut beschreibbar, wenn auch die Tatsache der doppelten Kodifikation – als Regelwerk und
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| Teil VI: Schule und Unterricht als Wörtersammlung in Wörterbüchern wie dem Duden – die Komplexität vieler „Rechtschreibfälle“ verdeutlicht. Das Dickicht lichtet sich dann, wenn man sich bewusst wird, dass die deutsche Rechtschreibung nicht nur einem Prinzip folgt, sondern mehreren, die historisch gewachsen sind. Wie noch zu zeigen sein wird, erwerben Kinder diese Prinzipien nicht gleichzeitig, sondern in einer entwicklungsbedingten Sukzession. Die deutsche Schrift ist wie alle alphabetischen Schriften primär eine phonographische Schrift, d. h. es besteht ganz allgemein eine Beziehung zwischen der gesprochenen und der geschriebene Sprache. Die Beziehung zwischen Gesprochenem und Geschriebenem besteht jedoch nicht auf der Ebene der kleinsten phonetischen und graphischen Einheiten, der Laute und Buchstaben, sondern zwischen Phonemen und Graphemen. Phoneme sind Lautklassen, die bedeutungsunterscheidend wirken; durch den Bedeutungsunterschied zwischen /galt/ und /kalt/ werden /g/ und /k/ als jeweils selbständige Einheiten im Phoneminventar der deutschen Sprache erkannt (in diesem Beitrag wird die folgende Notation verwendet: / / für Phoneme, [ ] für Laute (Phone) und < > für Grapheme). Auf der geschriebenen Seite entsprechen den Phonemen Grapheme, die aus einem oder mehreren Buchstaben bestehen können (mehrbuchstabige Grapheme sind z. B.
und <sch>). Die Zuordnung zwischen Phonemen und Graphemen ist nicht eindeutig: So kann das Phonem /i:/ mit , , oder verschriftlicht werden; beim Lesen kann die Vokallänge von nicht aus dem Graphem allein erschlossen werden. Diese Mehrdeutigkeiten erschweren die ersten Schritte auf dem Weg zur Rechtschreibkompetenz; bewältigt werden können sie mit Hilfe der strukturellen Regularitäten der deutschen Schrift. Schon in der einfachen Häufigkeit ihres Auftretens unterscheiden sich die Allographen (verschiedene Grapheme, die mit dem gleichen Phonem korrespondieren), die mit dem Phonem /i:/ korrespodieren: Am häufigsten ist mit 83 %, gefolgt von (14 %), (3 %) und (1 %) (nach Thomé, 2003, S. 370). Die jeweils häufigsten Realisierungen werden auch als „Basisgrapheme“ und „unmarkierte Schreibungen“ bezeichnet; die selteneren, „markierten“ Grapheme nennt Thomé (2003) „Orthographeme“. Auch Orthographeme folgen zum Teil dem phonographischen Prinzip der deutschen Schriftsprache, jedoch unter Berücksichtigung größerer Einheiten: Nach dem Kurzvokal einer betonten Stammsilbe stehen sehr konsequent zwei konsonantische Grapheme (z. B. ), korrespondieren sie nur mit einem Phonem wird der entsprechende Buchstabe verdoppelt („Geminate“ wie z. B. in ). Für Kurzvokale (auch: „ungespannte“ Vokale) ist die graphematische Korrespondenz also recht gut geregelt; inwieweit diese Regelhaftigkeit didaktisch genutzt werden kann, ist trotzdem noch eine offene Frage. Eine entsprechende Durchsichtigkeit ist nicht für die Wiedergabe der Vokallänge bei langen (auch: „gespannten“) Vokalen gegeben, wenn es auch hier durchaus Regelhaftigkeiten gibt (vgl. hierzu z. B. Eisenberg, 1998). Es soll jedoch betont werden, dass – vielleicht entgegen der Intuition des Lesers – das einfache Vokalgraphem auch für die Wiedergabe von Langvokalen der häufigste Fall ist (z. B. ). Das phonographische Prinzip wird also auf unterschiedlichen Ebenen wirksam. Als „echte Konkurrenz“ hierzu kann das morphematische Prinzip angesehen werden, das die Gleichschreibung verwandter Morpheme fordert, wenn sie gleich, aber auch dann, wenn sie unterschiedlich gesprochen werden. Am deutlichsten wird dies bei der so genannten „Auslautverhärtung“: Am Silbenende werden im Deutschen alle Konsonanten im Gegensatz z. B. zum Englischen „verhärtet“, d. h. stimmlos gesprochen (vgl. z. B. [brk],
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[kalp], [valt]). Die Orthographie erhält die Wortverwandtschaft zu [brg], [kelb] und [vld], indem auch für das Wort im Singular das stimmhafte Konsonantgraphem genutzt wird. Dies ist ein echter Fall von konkurrierenden Prinzipien; im zweiten didaktisch besonders relevanten Fall der Morphemkonstanz, der Umlautschreibung (vgl. zu , nicht ), wird lediglich das Graphemrepertoire erweitert, ohne das phonographische Prinzip als solches zu tangieren. Ein weiteres wichtiges Prinzip ist das grammatische, das u. a. die Groß- und Kleinschreibung verschiedener Wortarten regelt. Viele Entscheidungen bezüglich der Großoder Kleinschreibung sowie der Getrennt- und Zusammenschreibung können nur im Satzzusammenhang gefällt werden; entsprechend kann man auch von einem syntaktischen Prinzip der Rechtschreibung sprechen. Auf differenziertere sprachwissenschaftliche Analysen zur deutschen Orthographie kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Nachdem der didaktische Nutzen der Silbe schon seit Langem bekannt ist, ist die derzeitige Diskussion um die Schreibsilbe aus sprachwissenschaftlicher Sicht besonders interessant (vgl. Eisenberg, 1998; Schübel, 2000). 24.4.2 Die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz 24.4.2.1 Kognitionspsychologisches Rahmenmodell Didaktischen Konzepten liegt immer eine implizite oder explizite Theorie der am Lernprozess beteiligten kognitiven Prozesse zugrunde. Die Rechtschreibdidaktik war lange Zeit von der „Wortbildtheorie“ beeinflusst (z. B. Bormann, 1840; Kern & Kern, 1937), die das visuelle Einprägen favorisiert und Versagen als Folge einer „Gestaltgliederungsschwäche“ interpretiert (vgl. Müller, 1966). Die heutigen Konzeptionen sind fast alle dem entwicklungspsychologischen Rahmenmodell verpflichtet, das in Deutschland von K. B. Günther (1986), Scheerer-Neumann (1989, 1996a) und Spitta (1988) auf der Grundlage der Modelle von Marsh, Friedman, Welch und Desberg (1980), Frith (1985), Seymour und McGregor (1984) sowie Ehri (1987) ausgearbeitet wurde. Sie implizieren eine Veränderung in den durch die Kinder favorisierten Schreibstrategien im Laufe der Entwicklung vom einfachen Auswendiglernen der Buchstaben eines Wortes zum Gebrauch von Phonem-Graphem-Korrespondenzen und schließlich zur Nutzung orthographischer Strukturen – beim gleichzeitigen Aufbau eines wortspezifischen, „inneren (mentalen) orthographischen Lexikons“. Vor allem für die Diagnose im Bereich der Rechtschreibschwäche hat sich das Entwicklungsmodell als außerordentlich nützlich erwiesen. Zum besseren Verständnis der Entwicklungsprozesse sollen zunächst die am Rechtschreiben beteiligten kognitiven Teilprozesse erläutert werden. Abbildung 9 veranschaulicht diese Komponenten in einem Modell, das sich an Simon und Simon (1973) und Coltheart (1978) anlehnt. Zu Beginn des Schreibprozesses steht das zu schreibende Wort, das auch vom geübten Schreiber in der Regel zumindest innerlich artikuliert wird. Der Schreiber kann prinzipiell auf zwei Gedächtniskomponenten zurückgreifen, um das Wort richtig zu schreiben: Er kann es aufgrund seiner Phonem-Graphem-Korrespondenzen und seiner orthographischen/morphematischen Regelhaftigkeiten konstruieren („regelgeleitetes
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| Teil VI: Schule und Unterricht Gedächtnis: Regeln/Strukturen Regularitäten der Wortschreibung – Phonem-Graphem-Korrespondenzen – silbische Schreibung – Morphemkonstanz – Substantivgroßschreibung
zu schreibendes Wort
1. Schreibversuch
Überprüfen – Klingt beim Erlesen korrekt? – Sieht korrekt aus?
Beibehalten oder 1– 4 nochmals durchlaufen und korrigieren
Gedächtnis: Mentales Wort-/Morphemlexikon – orthographischer Code (Lernwörter) – graphomotorischer Code – phonologischer Code – semantischer Code – grammatischer Code u. a.
Abbildung 9: Modell der beim Rechtschreiben beteiligten Gedächtniskomponenten und ihrer Nutzung. Scheerer-Neumann in Anlehnung an Simon und Simon (1973) sowie an Coltheart (1978).
Konstruieren“) oder er kann wort- bzw. morphemspezifische Informationen abrufen, die in Form abstrakter Buchstabenfolgen in Assoziation mit anderen Merkmalen des Wortes/Morphems (graphomotorisch, phonologisch, semantisch, grammatisch u. a.) gespeichert sind. Im konkreten Fall werden diese beiden Wege oft interagieren, d. h. der Schreiber ruft zur richtigen Schreibung des Wortes wortspezifisch nur das ab; die anderen Grapheme kann er aufgrund der Phonem-Graphem-Korrespondenzen konstruieren. Auch im Lernprozess unterstützen sich wortspezifische und regelorientierte Informationen: So wird das Graphem im Wort zunächst vielleicht abgeleitet, später aber integrativer Bestandteil des ganzen Wortes im inneren orthographischen Lexikon. Im aktuellen Schreibprozess ergibt sich aus den interagierenden Informationen ein Schreibversuch, dessen Ergebnis jedoch noch einmal überprüft wird. Für diese Überprüfung können zwei Wege genutzt werden, die ihrerseits wieder sowohl auf gespeicherte Regeln/Strukturen als auch auf wortspezifische Informationen zurückgreifen: Der erste Weg (alphabetischer Weg) überprüft, ob die Konversion der geschriebenen Grapheme zu einer adäquaten Aussprache, d. h. zu dem korrekten phonologischen Code des Wortes (wortspezifische Information) führt. Aufgrund der oben beschriebenen Mehrdeutigkeiten der Graphem-Phonem-Korrespondenzen und anderer Prinzipien der Rechtschreibung muss hier ein positives Ergebnis der Überprüfung nicht unbedingt eine orthographisch korrekte Schreibung anzeigen. Fehler wie das Auslassen von Graphemen, deren korres-
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pondierenden Phoneme „hörbar“ sind, oder ganzer Silben sollten bei dieser Kontrolle aber erkannt werden. Der zweite Weg der Kontrolle wird primär, aber nicht vollständig, vom mentalen Lexikon gesteuert: Durch die im orthographischen Lexikon gespeicherten visuellen Merkmale eines Wortes „sieht“ ein Schreibversuch für den geübten Leser richtig oder falsch „aus“. Interessant ist, dass diese Information nicht schon beim ersten Schreiben genutzt werden kann; offensichtlich handelt es sich um unvollständige Informationen, die zum Wiedererkennen ausreichen, nicht aber zur Produktion. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Wiedererkennen und Reproduktion ist aus der Gedächtnisforschung für das Behalten ganz unterschiedlicher Gedächtnisinhalte bekannt (Baddeley, 1976). Der Schreiber – hier eigentlich Leser – verfügt aber auch über regelhaft/strukturelle Informationen, die ihm helfen, zu entscheiden, ob ein Wort „richtig aussieht“: Aufgrund der graphotaktischen Regeln einer Schrift sind bestimmte Graphemfolgen „illegal“, so im Deutschen z. B. der Wortbeginn mit konsonantischen Geminaten (z. B. <*Mmann>) oder die Graphemkombinationen und <schp> am Wort- bzw. Silbenanfang. Dass für viele Kinder auch im 3./4. Schuljahr <schp> am Wortanfang noch nicht illegal aussieht, lässt sich in vielen Diktaten nachweisen. Dagegen finden sich konsonantische Geminate am Wortanfang sogar im 1. Schuljahr recht selten. 24.4.2.2 Stufenmodelle der Rechtschreibentwicklung Für die Rechtschreibprozesse beim Erwachsenen wurde die Interaktion des regelgeleiteten und des lexikalischen Schreibens hervorgehoben. Die kindliche Entwicklung ist durch Verschiebungen gekennzeichnet. Die Bedeutung der verschiedenen Gedächtniskomponenten und der ihnen zugeordneten Prozesse verändert sich im Laufe der Entwicklung. Die folgende Darstellung versteht sich vor allem als Beschreibung des Entwicklungsgeschehens beim Schriftspracherwerb. Wenn von Entwicklungsstufen gesprochen wird, so darf der Begriff nicht zu konkret verstanden werden: Entwicklungsstufen sind theoretische Konstrukte, die den Entwicklungsverlauf für den Beobachter strukturieren. Sie kennzeichnen Phasen, in denen bestimmte Rechtschreibstrategien überwiegen, die später von anderen, dann dominierenden Strategien abgelöst werden. Aber auch während einer Phase finden Veränderungen statt; der Übergang zur nächsten Stufe wird schon vorbereitet. Er kann sich dann langsam, aber auch abrupt, vollziehen. Die Tatsache, dass Entwicklungsverläufe einer gewissen Regelhaftigkeit folgen, bedeutet nun keineswegs, dass es sich hier um endogene Reifungsprozesse handelt, die „von alleine“ ablaufen; auch von außen angestoßene Lernvorgänge weisen regelhafte Strukturen auf. Tabelle 9 gibt einen Überblick über die Entwicklungsstufen beim Erwerb der Rechtschreibung. Die erste Spalte links bezieht sich auf die Entwicklung regelgeleiteter Konstruktionen, die zweite auf Lernwörter, d. h. den Erwerb wort- bzw. morphemspezifischer Informationen. Die dritte Spalte dient Besonderheiten der jeweiligen Stufe. Logographemische Strategie (1) Am Anfang des Schriftspracherwerbs, in der Regel noch vor Schulbeginn, steht die Einsicht, dass Buchstaben besondere Zeichen sind, die sich von Bildern unterscheiden. Bei selbstständigen Schreibversuchen ist vor allem Kritzeln zu beobachten, aber auch
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| Teil VI: Schule und Unterricht Tabelle 9: Ein Stufenmodell der Rechtschreibentwicklung Regelgeleitete Konstruktionen
„Lernwörter“
Bemerkungen
1. Logographemische Strategie willkürliche Buchstabenfolgen „Pseudowörter“ oder Kritzelschrift
Die Buchstaben eines Wortes werden ohne Bezug zum Laut wert auswendig gelernt (z. B. eigener Name). Nur wenige Wörter können erworben werden.
Durch die fehlende Unter stützung durch die gespro chene Sprache kommt es oft zu Buchstabenauslassungen und Umstellungen.
2. Beginnende alphabetische (phonemische) Strategie Erste Versuche, die gesprochene Sprache zu „übersetzen“. Silbische Schreibung, konsonantische Skelettschreibung TG = Tiger HS = Haus
Wie unter 1., aber das Auswen diglernen wird schon durch einige erkannte PhonemGraphem-Korrespondenzen gestützt. Immer noch sehr wenige Lern wörter.
Erwerb von Phonem-Gra phem-Korrespondenzen, Entwicklung der phonologi schen Bewusstheit
3a. Entfaltung der alphabetischen (phonemische) Strategie Die Phoneme eines Wortes werden jetzt vollständiger wiedergeben, aber noch Auslassungen, z. B. WOKE = Wolke HUT = Hund
Phonemisch gestützte Speicherung von Lernwörtern, Beginn der Entwicklung einer „Rechtschreibsprache“ („Pilotsprache“), d. h. der Angleichung der gesprochenen Sprache an die Schrift: [mt-tr] statt [mt]; Nutzung der Silbenstruktur
Die alphabetische Strategie überwiegt oft das Abrufen von Lernwörtern: Phonemische Konstruk-tionen (z. B. Rola, komt, si) oft auch bei Lernwörtern aus der Fibel
3b. Voll entfaltete phonemische Strategie Vollständige phonemorientierte Wiedergabe z. B. lesn = lesen manchmal Wiedergabe phonetischer Nuancen, z. B. Phaul = Paul Khint = Kind
Mit zunehmender Entfaltung der alphabetischen Strategie können immer mehr Lernwörter gelernt werden. Behalten werden müssen die Abweichungen von phonemischen Konstruktionen und mehrdeutige PhGr-Korrespondenzen, z. B. das zweite in „Bett“, das in „ver-“, etc.
Wie 3a Fehler durch dialektale Abweichungen
4. Alphabetische Strategie, korrigiert durch strukturelle Regelmäßigkeiten entfaltete alphabetische Strategie, korrigiert durch Einsichten in orthographische/morphematische Strukturen, z. B.
Wie 3., zusätzliche Lernhilfe durch Erkennen von orthographischen/morphematischen Strukturen
Ohne besondere Zuwen dung der Aufmerksamkeit (Briefe schreiben, Aufsätze) oft Bevorzugung von Konstruktionen über Lernwörter
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Tabelle 9 (Fortsetzung) 5. Orthographische Strategie Wie 4., weiteres Erkennen und Anwenden von orthographischen Strukturen, zumeist explizit vermittelt: – Auslautverhärtung – Vorsilben ver-, vor– Morpheme –ig, -lich, -ung – Groß- und Kleinschreibung usw.
Wie 4., zusätzliche Lernhilfen durch Erkennen weiterer orthographischer/morphematischer Strukturen Leichter Erwerb von Lernwörtern
Häufig Übertragung der erkannten orthographischen Regelmäßigkeiten auf ungeeignete Fälle („Übergeneralisierungen“) z. B. – <Elefand> – –
6. Abrufen aus dem orthographischen Lexikon Allmähliches Überwiegen des Abrufens von Lernwörtern aus dem orthographischen Lexikon über Konstruktionen („Automatisierung“); Reihenfolge der Buchstaben beim Schreiben wird aber immer noch vom phonologischen Code begleitet und geleitet. Phonemische und orthographische Konstruktionen sind weiterhin möglich.
schon das Malen von buchstabenähnlichen Zeichen oder wenigen Buchstaben. Diesen frühen, für andere noch nicht lesbaren Schreibprodukten, wird heute eine große Bedeutung zugemessen: Sie zeigen erste Einsichten in die visuellen Merkmale unserer Schrift: Kritzeleien weisen in der Regel eine Zeilenstruktur auf und spiegeln die Verbundenheit der Schreibschrift wider; buchstabenähnliche Zeichen lassen Einblicke in das Merkmalssystem der lateinischen Schriftzeichen erkennen. Auf der ersten Stufe können auch schon ganze Wörter geschrieben werden. In der Regel sind es Namen, vorrangig der eigene Name des Kindes, aber auch MAMA, PAPA, OMA, OPA oder die Namen von Geschwistern oder Freunden. Das Erlernen dieser Wörter erfolgt über Vorschreiben durch kompetente Schreiber. Die Kinder versuchen sich die Buchstaben und deren Reihenfolge zu merken, um das Wort auch ohne Vorlage schreiben zu können. Einige Buchstabennamen oder ihre Lautwerte können schon bekannt sein; beim Schreiben werden die Buchstaben aber nicht den entsprechenden Phonemen im Wort zugeordnet; das gesprochene Wort bleibt lautlich unanalysiert. Diese Strategie des Schreibens ausschließlich aufgrund der lexikalischen Gedächtniseintragung, d. h. der auswendig gelernten Buchstaben, wurde von Frith (1985) als „logographisches“ Schreiben, von K. B. Günther (1986) als „logographemisches“ Schreiben bezeichnet. Es entspricht zum Teil, aber nicht ganz, der Konzeption des „ganzheitlichen Schreibens“ der Ganzheitsmethodiker: Tatsächlich bleibt das Wort lautlich unanalysiert; das geschriebene Wort wird aber nicht als „Ganzes“, sondern über seine einzelnen Buchstaben im Gedächtnis gespeichert. Die logographemische Schreibstrategie stellt eine enorme Anforderung an das Gedächtnis, weil die Buchstaben nicht an der lautlichen Struktur eines Wortes verankert werden können. Entsprechend finden sich in logographemischen Schreibungen häufig Buchstabenauslassungen und -umstellungen und der ausschließlich mit Hilfe der logographemischen Strategie beherrschte Wortschatz ist zahlenmäßig sehr eingeschränkt (vgl. Fall Maria, Abb. 12a-c).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Alphabetische Strategie Der größte Schritt in der Rechtschreibentwicklung, der sich bei den meisten Kindern im frühen ersten Schuljahr vollzieht, ist die Erkenntnis der Korrespondenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache auf der Ebene der Phoneme und Grapheme. Die sich entwickelnde Fähigkeit, gesprochene Wörter in ihre Phonembestandteile zu gliedern und den so gewonnenen Phonemen Grapheme zuzuordnen, ist der Beginn einer entscheidenden neuen Strategie. Diese neue konstruktive Strategie wird als phonographisches (H. Günther, 1995), alphabetisches (Frith, 1985; K. B. Günther, 1986), phonetisches bzw. lautorientiertes (Ehri, 1987, 1989) oder phonemisches (Scheerer-Neumann, 1989) Schreiben bezeichnet. Die Termini phonemisch bzw. phonetisch oder lautorientiert differenzieren den Prozess und sind deshalb als Oberbegriff weniger geeignet. In der Literatur häufig zu finden ist Friths (1985) Vorschlag der alphabetischen Strategie, der auch im vorliegenden Kapitel verwendet wird. Die Entwicklung während der Phase der alphabetischen Strategie ist so differenziert, dass sie in weitere Stufen unterteilt werden sollte. Beginnende alphabetische Strategie (2). Mit Beginn der alphabetischen Strategie hat ein Kind zum ersten Mal die Möglichkeit, ihm graphemisch unbekannte Wörter zu konstruieren. Diese Konstruktionen sind zunächst nur erste Annäherungen an die vollständige phonographische Verschriftlichung und enthalten noch viele Auslassungen. Fast immer verschriftlicht wird das Anfangsphonem; Konsonanten werden gegenüber Vokalen bevorzugt. Typisch sind Schreibungen wie <*BL> für , <*HT> für und <*ELF> für <Elefant>, die auch als konsonantische Skelettschreibungen bezeichnet werden. Schreibungen wie <*ELF> können als silbische Schreibungen interpretiert werden; sie lassen sich auf dieser Stufe aber nicht durchgängig beobachten. Der Grund für die zunächst so rudimentäre phonographische Verschriftlichung ist nicht nur in der zu diesem Zeitpunkt noch unvollständigen Kenntnis der Phonem-GraphemKorrespondenzen zu finden, sondern in den hohen Anforderungen, die die vollständige Phonemanalyse an Kinder stellt, für die bisher die gesprochene Sprache primär in ihren semantischen Aspekten relevant war. Die frühe Kompetenz in der Analyse der gesprochenen Sprache in kleinere und kleinste Einheiten, die heute auch als phonologische Bewusstheit bezeichnet wird, ist ein sehr guter Prädiktor für die Lese- und Schreibentwicklung (Marx, 1992; vgl. 24.1., Walter in diesem Band). Entfaltung der alphabetischen Strategie (3a). Längsschnittstudien zeigen, dass sich die Schreibungen in der Regel während des ersten Schuljahres im Hinblick auf die wiedergegebenen Phoneme schnell vervollständigen (Scheerer-Neumann, 2000). Zunächst werden noch einzelne Phoneme ausgelassen, vorwiegend solche, die „im Windschatten“ stehen (Eichler, 1976, S. 250), während akustisch-auditiv ausgezeichnete Lautwerte eine größere Wahrscheinlichkeit haben, berücksichtigt zu werden. Konsonanten in Konsonantenclustern (Konsonantenhäufungen) haben eine große Wahrscheinlichkeit, ausgelassen zu werden (z. B. <*KOKODIL>) und allgemein Grapheme in längeren Wörtern. Das Schreiben wird in der Regel durch die eigene Artikulation begleitet; die Kinder sprechen sich die Wörter mehrfach oder in Wortteilen vor, weil es ihnen noch nicht gelingt, beim einmaligen Sprechen ihre Aufmerksamkeit auf alle Phoneme zu richten. Abbildung 10 illustriert dieses Phänomen; sie zeigt ein Schreibprotokoll sowie das Protokoll des begleitenden Sprechens von einem Mädchen am Ende des 1. Schuljahres
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Abbildung 10: Segmentierendes Mitsprechen beim Schreiben (Hanna, Februar 1. Schuljahr)
aus eigenen Beobachtungen. Auf der Stufe der Entfaltung der alphabetischen Strategie ist der Erwerb von Lernwörtern schon leichter als zum Zeitpunkt der beginnenden alphabetischen Strategie, weil die Grapheme an vielen Positionen an dem Lautschema des Wortes verankert werden können. Voll entfaltete alphabetische Strategie (3b). Mit zunehmender Übung gewinnen die meisten Kinder eine hohe Geläufigkeit in der Phonemanalyse. Auf der einen Seite wird damit auch der Erwerb von Lernwörtern weiter erleichtert: In einem Wort wie ist nur das Graphem <ß> wortspezifisch zu merken. Auf der anderen Seite ist aber die alphabetische Strategie auf dieser Stufe oft so dominierend, dass auch schon bekannte Lernwörter bzw. ihre spezifischen Schwierigkeiten vor allem beim Schreiben eigener Texte oft nicht berücksichtigt werden (z. B. <*komt> anstelle des schon „gelernten“ ). Dieser Fehlertyp wird von Lehrenden häufig als Flüchtigkeitsfehler bezeichnet; tatsächlich ist er durch die auf dieser Stufe übermächtige alphabetische Strategie zurückzuführen, die, wie gezeigt wurde, ja auch erst mühsam erlernt werden muss. Didaktisch stellt sich die Frage, ob man durch frühe Hinweise auf morphematische Strukturen und Silbenstrukturen die Dominanz der alphabetischen Strategie auf dieser Stufe unterbinden kann (vgl. Röber-Siekmeyer, 1999). Orthographische Strategie (4/5) Entfaltete alphabetische Strategie, korrigiert/ergänzt durch orthographische Strukturen. Die ursprüngliche Konzeption der orthographischen Strategie von Frith (1985) als einer direkten wortspezifischen Strategie wird von der heutigen deutschen Schriftspracherwerbsforschung nicht geteilt. Vielmehr wird darunter der Einblick in orthographische Regelmäßigkeiten verstanden, die nun neben phonographischen Prinzipien genutzt werden (vgl. Balhorn, 1985). Der Beginn der orthographischen Strategie muss sich nicht erst an die entfaltete alphabetische Strategie anschließen, sondern kann vor allem in einem entsprechend steuerndem Unterricht schon parallel zu ihr auftreten. Relativ früh scheinen
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| Teil VI: Schule und Unterricht die Endmorpheme <-en> und <-er> erworben zu werden; leicht zu vermitteln sind auch die Morphemkonstanz und die wichtigsten Prinzipien der Groß- und Kleinschreibung. Eichler und Thomé (1995) zweifeln die Nützlichkeit des Begriffs der orthographischen Strategie an: „Orthographisches Schreiben kommt eher durch ein Bündel verschiedener Strategien zustande, als dass es selbst eine Strategie ist“ (S. 35). Dies ist insofern richtig als eine Vielzahl unterschiedlicher orthographischer Strukturen erworben werden muss, für die ein Zeitraum von mehreren Jahren anzusetzen ist. Auf der anderen Seite ist diesen Strategien gemeinsam, dass sie die Eins-zu-Eins-Zuordnung von Phonemen und Graphemen der alphabetischen Strategie überwinden. Wichtig ist aber der Hinweis, dass nicht nur der Orthographieerwerb insgesamt, sondern auch die Aneignung der einzelnen orthographischen Strukturen – die innere Regelbildung – einem qualitativen Prozess mit Verlaufsmerkmalen entspricht. Für den Bereich der --Schreibung konnten Eichler und Thomé (1995) zeigen, dass nach einer anfänglichen Sicherheit (vermutete innere Regel: „Den Laut /f/ schreibe ich mit , außer bei bestimmten Wörtern, die ich kenne.“) Fehler durch nicht indizierte -Schreibungen entstehen (, ), die erst allmählich, vermutlich durch morphematische Einsichten, reduziert werden. Übereinstimmend mit dieser Hypothese bleibt der Fehler besonders lange bestehen. Überwiegen des Abrufens von Lernwörtern (6) Im Laufe des Erwerbs der Rechtschreibung verändert sich das Verhältnis von Abrufen und Konstruktion zugunsten des lexikalischen Abrufprozesses, der weitgehend automatisiert wird. Allerdings bleiben phonemanalytische Prozesse zur Handlungssteuerung auch beim Erwachsenen erhalten; das „leise“, innere Mitsprechen beim Schreiben steuert die Abfolge auch der bekannten Grapheme eines Wortes. Abbildung 9 verdeutlichte darüber hinaus die Rolle der alphabetischen Strategie bei der Kontrolle des Geschriebenen. 24.4.3 Diagnose im Bereich der Rechtschreibung Die Diagnostik im Bereich der Rechtschreibung kann prinzipiell zwei Funktionen erfüllen, die sich in konkreten Verfahren nicht ausschließen müssen: Eine normorientierte Fragestellung ermöglicht die relative Einordnung eines Schülers oder einer ganzen Klasse im Vergleich zur Referenzgruppe; die Förderdiagnostik erhebt Informationen, von denen unmittelbar Fördermaßnahmen abgeleitet werden können. Im Nachgang zur Rechtschreibentwicklung soll zunächst das förderdiagnostische Vorgehen erläutert werden; im Anschluss daran werden Rechtschreibtests vorgestellt werden. 24.4.3.1 Die Entwicklungsanalyse Die Entwicklungsanalyse stellt sich die Aufgabe, den Entwicklungstand entsprechend dem unter 24.4.2 skizzierten Entwicklungsverlauf festzustellen. Gelingt diese Zuordnung, ergibt sich daraus unmittelbar auch das nächste Lernziel und indirekt damit auch
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das erforderliche Lernangebot. Allerdings reicht für die Förderung die allgemeine Bestimmung der nächsten Entwicklungsstufe nicht aus; in einer Feinanalyse müssen die spezifischen Probleme eines Kindes in der alphabetischen oder der orthographischen Strategie analysiert werden, um daraus gezielte Lernangebote ableiten zu können. Die Entwicklungsanalyse ist primär keine Fehleranalyse, sondern eine „positive“ Analyse des schon Erreichten. Um das nächste Lernziel jedoch genau ansteuern zu können, müssen auch orthographische Abweichungen analysiert werden. Interpretiert werden Fehler aber primär als Annäherungen an und nicht als Verstöße gegen die korrekte Schreibung. Aus den Beispielen in Tabelle 9 wird deutlich, dass Entwicklungsstadien oft tatsächlich recht eindeutig zu diagnostizieren sind. In vielen Fällen gilt dies auch für rechtschreibschwache Kinder an Regel- oder Sonderschulen, jedoch nicht immer. Im Folgenden sollen Fälle mit einer transparenten Entwicklungsverzögerung Fällen mit nicht leicht durchschaubaren kompensatorischen Rechtschreibstrategien gegenübergestellt werden. Fallbeispiel Stefan: Dass relativ „reine“ Rechtschreibstrategien durchaus in der Schule zu beobachten sind, zeigt das Beispiel von Stefan (Abbildung 11). Stefan besucht zu diesem Zeitpunkt das 6. Schuljahr an einer Orientierungsstufe. Er beherrscht eindeutig die alphabetische Strategie; seine Schreibungen sind fast vollständig phonemorientiert, aber durch Unkenntnis der Regeln zur Groß- und Kleinschreibung, durch Nichtbeachtung von markierter Vokalkürze und -länge sowie der Morphemkonstanz oft orthographisch fehlerhaft. Stefan
Abbildung 11: Vorwiegend alphabetische Strategie bei Stefan (6. Schuljahr)
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| Teil VI: Schule und Unterricht a)
b)
c)
d)
Abbildung 12: Schreibprotokolle von Maria, einem sehr rechtschreibschwachen Mädchen des 3. Schuljahres beim Abschreiben (Abb. 12a), beim freien Schreiben (12b), aus einem Diktat (12c) und beim Schreiben von Lernwörtern (12d) Lesehilfe zu Abbildung 12b: Da gingen die Kinder des Abends durch das Schloss da sahen sie ein Gespenst da ? ? die Kinder die Tür Lesehilfe zu Abbildung 12c: Im Frühling Im Frühling können wir Tiere und Blumen beobachten. Dann sind wieder kleine Frösche in den Flüssen
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konnte in der Folgezeit seine Rechtschreibleistung durch ein Training, das schwerpunktmäßig die Anwendung von Rechtschreibregeln übte, erheblich steigern (Training Scheerer-Neumann, 1988). Obwohl er zum Beobachtungszeitpunkt sogar über sehr gute phonemanalytische Fähigkeiten verfügte, die es ihm z. B. auch erlaubten, die <s>-<ß>Schreibung über Regeln zu lösen, hatte er nach den Berichten seiner Eltern in diesem Bereich während der ersten Schuljahre Probleme, die die Entwicklungsverzögerung vermutlich bedingten. Fallbeispiel Maria: Marias Schreibungen sind auf den ersten Blick sehr schwer zu analysieren. Sie (10;5) besucht zum Zeitpunkt der Beobachtung das 3. Schuljahr; das erste Schuljahr hat sie wiederholt. Ihre Leistungen in Mathematik sind gut bis befriedigend. Sie hat extreme Probleme im Bereich der phonologischen Bewusstheit. Obwohl sie alle basalen Graphem-Phonem-Korrespondenzen kennt, gelingt ihr nur das Erlesen einfacher KonsonantVokal-Silben. Sie kann Wörter perfekt abschreiben (vgl. Abbildung 12a); muss sie sie selbstständig schreiben, bleiben die Wörter sehr unvollständig (vgl. Abbildung 12b). Veranlasst durch die Anforderungen der Regelschule, korrekt zu schreiben, versucht sie ihre Schwäche durch das Einprägen von Lernwörtern zu kompensieren. Dass hierbei noch zu großen Anteilen logographemisches Auswendiglernen beteiligt ist, zeigt Abbildung 12d, ein Wörterdiktat mit geübten Wörtern: Aus dem Beispiel <*rchien> () wird deutlich, dass die gelernten Grapheme nicht an einer phonemischen Wortstruktur verankert sind; <*Schnang> (<Schwanz>) kommt durch visuelle Verwechslungen von <w> und sowie und dem kleinen Schreibschrift-z der Vereinfachten Ausgangsschrift zustande – Fehler, die selbst im ersten Schuljahr nur äußerst selten zu beobachten sind. Im geübten Diktat „Im Frühling“ (Abbildung 12c) fällt ein weiteres interessantes Phänomen auf: Maria ersetzt diktierte Wörter durch ihr graphematisch bekannte lautlich ähnliche, die häufig auch der gleichen Wortart angehören: <*sein> anstelle von <sind>, <*wird> anstelle von <wieder> und <*kein> anstelle von . Marias Schreibungen sind durch kompensatorische Strategien weit weniger transparent als Stefans Schreibungen.
24.4.3.2 Linguistische fundierte Fehleranalysen Die Zuordnung zu einer Entwicklungsstufe und die Bestimmung des „nächsten“ Ziels sind wichtige Diagnoseschritte. Für die Aufstellung von Förderplänen reichen sie aber nicht aus. Im Rahmen der empirischen Evaluation eines Trainingsprogramms wurde deutlich, dass die Förderung sehr spezifisch sein muss: Nach der Teilnahme an einem Rechtschreibtraining verbesserten sich die Schülerinnen und Schüler (5. Klasse Hauptschule) bei den trainierten Wörtern und bei Wörtern, die mit Hilfe der neu gelernten Regeln richtig geschrieben werden konnten, nicht aber bei anderen orthographischen Phänomenen (Scheerer-Neumann, 1988). Die Lehrperson muss sich entsprechend einen guten Überblick über die Fehlerschwerpunkte der ganzen Klasse und einzelner Schüler verschaffen. Zum Teil leisten dies Rechtschreibtests (vgl. 24.4.4); in den letzten Jahren
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| Teil VI: Schule und Unterricht wurden darüber hinaus sehr interessante linguistisch fundierte Verfahren entwickelt, die sowohl die Entwicklungsanalyse als auch die vorwiegend von Psychologen erarbeiteten Rechtschreibtests sehr gut ergänzen. Im Gegensatz zu Tests können Verfahren zur Rechtschreibfehleranalyse auf beliebige Texte angewandt werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden drei Verfahren erwähnt werden, die gut für die Ableitung von Fördermaßnahmen geeignet sind. Es sind dies die AFRA (Aachener Förderdiagnostische Fehleranalyse von Herné & Naumann, 2002), die DoRA (Löffler & Meyer-Schepers, 1992) und die OLFA (Thomé & Thomé, 2004). Während das beschriebene Entwicklungsmodell durch die Fehlerkategorien implizit auch in der DoRA und AFRA enthalten ist, nimmt die OLFA explizit Bezug auf Rechtschreibstrategien: Durch Zusammenfassung bestimmter vorgegebener Fehlerkategorien, die weitgehend deskriptiv definiert und damit für den Auswertenden sehr benutzerfreundlich sind, werden Anteile protoalphabetischer, alphabetischer und orthographischer Verschriftlichungen ermittelt. Ein hoher Anteil protoalphabetischer (d. h. voralphabetischer) Schreibungen weist auf einen hohen Förderbedarf hin. Die AFRA stellt an den Benutzer höhere Anforderungen; er muss sich in die linguistischen Grundlagen der Fehlerkategorien einarbeiten, die jeweils nach der Mehrheits- bzw. Minderheitsschreibung in der deutschen Schrift gekennzeichnet sind. So fallen unter „Lange Vokale Mehrheit (LV+)“ Fehler, in denen der lange Vokal fälschlich durch ein oder eine Vokalverdopplung gekennzeichnet wurde oder ein Kürzezeichen eingefügt wurde. Fehler, die auf eine fehlende Längenmarkierung zurückgehen, werden als „Lange Vokale Minderheit (LV-)“ codiert. Die Fehlerkategorien der AFRA können von Lehrenden einmal dazu genutzt werden, selbst das System der deutschen Rechtschreibung besser zu verstehen, zum anderen kann damit auch analysiert werden, inwieweit ein Schüler oder eine Schülerin sich in eben diese Prinzipien schon eingearbeitet haben. Allerdings wissen wir von Eichler und Thomé (1995), dass im Laufe der inneren Regelbildung Übergeneralisierungen „normal“ sind, Schüler also zeitweise durchaus Minderheitsschreibungen bevorzugen können. Die AFRA kann wie die OLFA auch auf freie Texte angewandt werden; sie bietet sich jedoch besonders dazu an, eine vertiefende Fehleranalyse zu Rechtschreibtests durchzuführen, da von den Autoren zu vielen Rechtschreibtests differenzierte Auswertungsbögen zur Kategorisierung jedes einzelnen Testwortes zur Verfügung gestellt werden. 24.4.4 Rechtschreibtests Rechtschreibtests haben gegenüber allgemeinen fehleranalytischen Verfahren den Vorteil, dass sie normiert sind, d. h. Vergleichswerte für eine bestimmte Bezugsgruppe bieten; in der Regel sind dies Klassennormen bzw. schulformbezogene Klassennormen. Diese Normen erlauben die relative Einordnung der Rechtschreibleistung eines Schülers; besonders anschaulich ist dabei der einer Leistung zugeordnete Prozentrangwert, der angibt, wie viel Prozent einer Jahrgangsstufe schlechtere bzw. bessere Leistungen als der getestete Proband aufweisen. Dieser quantitative Wert, wie auch andere standardisierte Werte in Testverfahren (z. B. der T-Wert) werden häufig im Rahmen der Selektionsdiagnostik verwendet, d. h. für Entscheidungen z. B. zum Besuch weiterführender Schulen, aber
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auch für die Teilnahme an Förderkursen. Ein Prozentrang von 10-15 gilt in der Regel als Indikation für eine zusätzliche Förderung. Viele Rechtschreibtests bieten zusätzlich eine qualitative Auswertung und liefern damit auch förderdiagnostische Informationen. Leider basieren die Normwerte für die Fehlerkategorien oft auf einer sehr geringen Anzahl relevanter Wörter, so dass ihr praktischer Nutzen eingeschränkt ist (vgl. Herné, 2003). Rechtschreibtests müssen wie alle Testverfahren objektiv sein, d. h. in der Durchführung und Auswertung vom Testleiter unabhängig, sowie reliabel, d. h. zuverlässig. Bei einer Testwiederholung sollten sich ähnliche Werte ergeben. Ein weiteres Gütekriterium von Tests, ihre Validität, dürfte bei Rechtschreibtests in der Regel gegeben sein: Die inhaltliche Validität bezieht sich auf die Frage, inwieweit Testverfahren tatsächlich eine Stichprobe des zu untersuchenden Verhaltens erfassen – da in Rechtschreibtests zumeist Schreibproben gefordert werden, kann von einer „face validity“ gesprochen werden. Die meisten Rechtschreibtests sind als Lückentests konzipiert; die Schüler müssen orthographisch-systematisch sinnvoll ausgewählte Wörter in Satzlücken nach Diktat hineinschreiben. Daneben wird gelegentlich das Schreiben ganzer Sätze oder das Schreiben von Wörtern zu Bildern gefordert. Bei einer weiteren Alternative, der Auswahl der korrekten Schreibung aus mehreren Alternativen, stellt sich durchaus die Frage nach der Validität; es ist nicht auszuschließen, dass hier nur Teilprozesse des Rechtschreibens erfasst werden (vgl. Abbildung 9). Obwohl fast alle derzeit gängigen Verfahren davon ausgehen, dass regelgeleitete Prozesse beim Rechtschreiben beteiligt sind, wird diese Kompetenz in keinem Fall unmittelbar erfasst; statt dessen wird durch qualitative Fehleranalysen auf sie rückgeschlossen. Ebenso fehlen Testteile, die die Fähigkeit zum Nachschlagen in Wörterbüchern erfassen (vgl. aber Scheerer-Neumann & Mühlbauer, 2000). Im Folgenden sollen einige Rechtschreibtests u. a. im Hinblick auf ihre Eignung für Rechtschreibschwache besprochen werden. Die Diagnostischen Bilderlisten von Dummer-Smoch (1993). Die diagnostischen Bilderlisten von Dummer-Smoch sind für das Ende des ersten und Mitte des zweiten Schuljahres konzipiert und eignen sich sehr gut, um elementare Schwierigkeiten rechtschreibschwacher Kinder zu erfassen. Am bekanntesten ist die diagnostische Bilderliste 1 (DBL 1) mit Normen für das Ende des 1. Schuljahres. Sie umfasst unterschiedlich lange, vorwiegend lauttreue Wörter mit wenigen Konsonantenhäufungen, die zu bildlichen Darstellungen zu schreiben sind. Dummer-Smoch (1993) bietet darüber hinaus eine qualitative Fehleranalyse an, die sich an den Kategorien des Diagnostischen Rechtschreibtests 2/3 (siehe unten) orientiert. Neben der Bilderliste 1 gibt es eine Frühform der diagnostischen Bilderliste (DBL-F), die schon in der 28./29. Schulwoche eingesetzt werden kann. Die Diagnostischen Rechtschreibtests. Die Diagnostischen Rechtschreibtests (DRT) waren über lange Jahre die wichtigsten Instrumente zur Diagnose der Lese-Rechtschreibschwäche. Der DRT2 und DRT3 wurden schon in den 60er Jahren von Müller entwickelt und 1997 zuletzt überarbeitet (seit 1990 gibt es auch den DRT1). Die Tests verwenden ein Lückentextverfahren und bieten neben der quantitativen eine qualitative Auswertung. Müller arbeitete vorwiegend mit drei Fehlerkategorien: Wahrnehmungsfehler (z. B. Verwechslung von Phonem-Graphem-Korrespondenzen), Regelfehler (z. B. Groß- und Kleinschreibung) und Merkfehler (Fehler in häufigen Wörtern). In den frühen Versionen des Tests werden diese Kategorien und die entsprechenden Unterkategorien, die es vor
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| Teil VI: Schule und Unterricht allem bei den Wahrnehmungsfehlern gibt, ätiologisch interpretiert. So sollte die Auslassung mehrerer Grapheme darauf hinweisen, dass „die Wahrnehmung als Ganzes“ gestört sei, die Umstellung von Buchstaben auf „Störungen in der Wahrnehmungsrichtung“. Seit dieser Zeit hat sich nicht nur die Vorstellung über die kognitiven Prozesse beim Rechtschreiben geändert; der entwicklungspsychologische Ansatz macht deutlich, dass von Kompetenzen in ihrem Anfangsstadium nicht vorschnell auf Funktionsdefizite geschlossen werden darf. Entsprechend wurde in den Überarbeitungen des DRT2 und des DRT3, sowie in dem hinzugekommenen DRT1 auf die funktionsätiologische Interpretation der Fehlerkategorien verzichtet. Prinzipiell sind die Fehlerkategorien der „Wahrnehmungsfehler“ und der „Regelfehler“ der alphabetischen bzw. der orthographischen Strategie zuzuordnen. Für Merkfehler wäre die rein deskriptive Bezeichnung Fehler bei häufigen Wörtern vorzuziehen, weil dem Testleiter nicht bekannt ist, ob ein Wort tatsächlich schon als Lernwort erworben werden sollte. Die Verfahren für die 4. und 5. Klassenstufe (DRT4 und DRT5) wurden von Grund, Haug und Naumann (1994, 1995) entwickelt und ersetzen den DRT 4/5 von Meis (1970). Auch hier handelt es sich um Lückentests. Die Fehlertypologie entspricht über weite Strecken der Konzeption der AFRA, die schon weiter oben besprochen wurde. Dabei werden für die einzelnen Fehlerkategorien Grenzwerte angegeben, die bei Überschreitung differenzierte Hinweise für die Förderung geben. Allerdings führt die sehr kleinmaschige Fehlertypologie zu dem oben schon erwähnten Problem der Reliabilität der Ergebnisse in den einzelnen Fehlerkategorien, da sie jeweils nur auf wenigen Fehlern beruhen. Insofern wären Lehrerinnen gut beraten, die im Rechtschreibtest ermittelten qualitativen Fehler durch die Fehleranalyse freier Texte nach AFRA zu ergänzen. Die Hamburger Schreibprobe (HSP). Die Hamburger Schreibprobe (May, 1995) liegt inzwischen für die Klassen 1–9 vor. In ansprechend gestalteten Testheften müssen zu Bildern und nach Diktat Wörter und Sätze eingetragen werden. Die quantitative Auswertung erfolgt nicht auf der Basis der Falschschreibung einzelner Wörter, sondern nach korrekten Graphemen (nicht Buchstaben): Das Wort <*Rolschue> enthält entsprechend nur vier richtige Grapheme. Die Erfassung von korrekten Graphemen anstelle von Wortfehlern erlaubt eine genauere Auswertung. Die Testreihe differenziert insgesamt im unteren Leistungsbereich besser als im oberen, ist also vor allem für die Beurteilung schwacher Schüler geeignet. Die Auswertung der HSP folgt den im Entwicklungsmodell beschriebenen Rechtschreibstrategien, wobei die alphabetische und die orthographische Strategie durch die morphematische ergänzt wird, die es erlaubt, Wörter aufgrund einer Morphemanalyse richtig zu schreiben. So kann das Wort , in dem artikulatorisch und akustisch das [d] und das [t] zumindest in der Umgangssprache verschmelzen, nach Erkennen der Wortbestandteile /hant/ und /tu/ richtig geschrieben werden. Die Strategien werden an so genannten „Lupenstellen“ analysiert, die, wie im Beispiel , Fehler provozieren können. Weitere Beispiele für Lupenstellen sind die Konsonantenfolge in <Strumpf> für die alphabetische Strategie und das Auslassen der Konsonantenverdopplung nach kurzem betontem Vokal für die orthographische Strategie. Für alle Rechtschreibstrategien werden Vergleichnormen angegeben, jedoch keine Grenzwerte, die förderdiagnostisch genutzt werden könnten. Der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT, Landerl, Wimmer & Moser, 1997). Der Rechtschreibtest im Salzburger Lese- und Rechtschreibtest basiert auf dem
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Zwei-Wege-Modell der Rechtschreibung. Im Gegensatz zu Abbildung 9 wird jedoch angenommen, dass der regelgeleitete Weg ausschließlich über die phonologische Analyse und Phonem-Graphem-Korrespondenzen abläuft. Im Sinne des Stufenmodells von Frith (1985) wird davon ausgegangen, dass nicht-lauttreue Schreibungen wortspezifisch gespeichert werden müssen. Obwohl der Test Wörter mit unterschiedlichen orthographischen Phänomenen umfasst, wird keine differenzierte Fehleranalyse zu förderdiagnostischen Zwecken durchgeführt. Landerl et al. (1997) begründen dies mit der mangelnden Reliabilität von Fehlerkategorien und beziehen sich dabei auf Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995). Diese Autoren haben aber lediglich die Variabilität von Fehlern bei wiederholtem Schreiben nachgewiesen, nicht jedoch Veränderungen in den Fehlerkategorien. Tatsächlich sind unterschiedliche Fehlervarianten vor allem dann zu erwarten, wenn Wörter noch konstruiert werden und bei der Konstruktion nicht immer die gleichen Informationen herangezogen werden. 24.4.5 Sind Förderschüler und Förderschülerinnen mit rechtschreibschwachen Regelschülern vergleichbar? Die Leistungen im (Recht)schreiben determinieren den Schulerfolg insgesamt sehr stark (vgl. Kemmler, 1967); es ist deshalb davon auszugehen, dass ein großer Teil der Förderschüler gerade in diesem schulischen Bereich Probleme hat (vgl. auch Eberle, 1996). In empirischen Studien konnte dieser allgemeine Zusammenhang auch qualitativ differenziert werden: Walter (1999) fand bei einem Vergleich zwischen dreizehnjährigen Förderschülern und Hauptschülern bei Ersteren eine insgesamt schwächere Rechtschreibleistung, die sich schon bei der Beherrschung der alphabetischen Strategie, besonders aber bei der Nutzung orthographischer Strukturen zeigte. Wenn wir also Förderschüler insgesamt als eher rechtschreibschwach ansehen können (wobei es durchaus auch unter den Förderschülern gute Rechtschreiber gibt), stellt sich die Frage, ob sie rechtschreibschwachen Schülerinnen und Schülern an Regelschulen vergleichbar sind, für die weit mehr didaktische und methodische Vorschläge vorliegen, auch wenn die Anzahl der empirisch evaluierten Verfahren zu wünschen übrig lässt. Ausgehend vom derzeitigen Forschungsstand ist diese Frage prinzipiell zu bejahen, obwohl die Daten leider nur an Regelschulen mit Kindern unterschiedlicher Intelligenz gewonnen wurden: Sowohl Weber, Marx und Schneider (2002), Metz, Marx, Weber und Schneider (2003) als auch Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2001) fanden, dass Kinder unterschiedlicher Intelligenz, jedoch mit quantitativ vergleichbaren schwachen Rechtschreibleistungen auch ein vergleichbares Defizit in verschiedenen Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit aufweisen. Im Bereich des orthographischen Wissens ergaben sich bei Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2001) kleinere Unterschiede zugunsten der intelligenteren Kinder, die sich aber in späteren Jahrgangsstufen nivellierten. Bei eigenen – allerdings unsystematischen – Beobachtungen an einer Förderschule fiel in den oberen Klassen neben den vergleichbaren Fehlern zur Groß- und Kleinschreibung, zur fehlenden Konsonantenverdopplung etc. ein relativ hoher Anteil grammatisch bedingter Rechtschreibfehler auf (vor allem: Getrennt- und -Zusammenschreibung, vgl. Abbildung 13), der möglicherweise durch den größeren Anteil von Schülern mit Sprachentwicklungsstörungen
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Der Tangwart mus den luft drug üper pbrüfen und den Kühlwasser schtant und die bateri und die schenwerfer Abbildung 13: Ausschnitt aus einem Diktat, geschrieben von einem 17-jährigen Förderschüler
an Förderschulen bedingt ist. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass der Rechtschreibunterricht an Förderschulen von den Erkenntnissen profitieren kann, die im Zusammenhang mit der Förderung rechtschreibschwacher Schüler an Regelschulen gewonnen wurden. 24.4.6 Fördern im Bereich der Rechtschreibung 24.4.6.1 Didaktisches Rahmenkonzept Die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zur Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche der letzten Jahre hat eindeutig erbracht, dass Förderung in ihrem Kern spezifisch sein muss, d. h. den Lerngegenstand sehr direkt vermitteln sollte (Scheerer-Neumann, 1979, 1993, 1996b; Mannhaupt, 2003). So genannte „Funktionstrainings“, die auf einer allgemeineren Ebene psychische Funktionen, z. B. die visuelle Wahrnehmung „stärken“ sollen, haben keinen direkten Einfluss auf die Lese- und Schreibkompetenz; auch ein indirekter Effekt wurde noch nicht nachgewiesen. Diese negative Einschätzung gilt nicht für die phonologische Bewusstheit, weil es sich hierbei nicht um eine allgemeine Funktion, sondern um Teilprozesse des Lesens und Schreibens handelt. Sie gilt auch nicht für „flankierende Maßnahmen“ wie Entspannungstrainings, die es den Kindern ermöglichen, Ängste bei Diktaten abzubauen und ihr Können tatsächlich anzuwenden (vgl. Frey, 1978). Bei motorischen Trainingsverfahren stellt sich die Frage nach ihrem Anspruch: Eine verbesserte Rechtschreibleistung ist nach der obigen Hypothese der Spezifität nicht zu erwarten und tritt auch nicht ein (vgl. Eggert, Schuck & Wieland, 1975); auf der anderen Seite könnte eine erhöhte Körperbeherrschung durchaus das Selbstkonzept misserfolgsmotivierter Kinder stärken und damit die Lernvoraussetzungen verbessern. Fördern im Bereich der Rechtschreibung sollte noch in einer weiteren Hinsicht spezifisch sein: Wie sowohl aus dem kognitiven Rahmenmodell als auch aus den verschiedenen Ansätzen zu einer Fehleranalyse deutlich wurde, besteht der Rechtschreibprozess aus einer Vielzahl von Teilprozessen. Es ist notwendig, entsprechend dem förderdiagnostischen Konzept genau diejenigen Teilprozesse zu trainieren, die noch unzureichend ausgebildet sind. Global sollte man sich dabei an der nächsten Entwicklungsstufe ori-
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entieren; im Detail wird man, wie schon gezeigt (vgl. 24.4.3.2), oft eine Mikroanalyse vornehmen müssen, z. B. innerhalb der alphabetischen Strategie auf der Ebene einzelner Phonem-Graphem-Phonem-Korrespondenzen. So zeigten sich in einer Trainingsstudie an Hauptschulen bei einem Teil der Schüler Probleme mit der Phonem-Graphem-Korrespondenz /kw/-, die – einmal erkannt – sehr schnell behoben werden konnten (vgl. Scheerer-Neumann, 1988). Weiterhin stellt sich die Frage, inwieweit Rechtschreiben isoliert trainiert werden sollte oder besser in komplexere sprachliche Aktivitäten zu integrieren ist. Der hier vertretende Ansatz stützt beide Konzeptionen: Auf der einen Seite ist es gerade bei Kindern, die in diesem Lernbereich bisher keine großen Erfolge hatten, notwendig, in interessanten Projekten den Gebrauchswert der Schriftsprache und das emotional Positive im Umgang mit ihr zu erfahren, auf der anderen Seite sind die kognitiven Prozesse beim Rechtschreiben so komplex, dass sie beim Erwerb die volle Zuwendung der Aufmerksamkeit benötigen. Spezifische Übungen und Anwendung beim freien Schreiben sollten deshalb ineinander greifen (vgl. Kretschmann & Scheerer-Neumann (1995) und 24.4.6.5). 24.4.6.2 Förderung der alphabetischen Strategie beim Rechtschreiben Verfahren in diesem Bereich verfolgen allgemein das Ziel, Kinder darin kompetenter zu machen, die Beziehungen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache zu nutzen. Schwerpunktmäßig geht es um die Diskrimination von Phonemen, die Assoziation zwischen Phonemen und Graphemen, sowie die Gliederung der gesprochenen Sprache in Silben und Phoneme – allgemeiner die phonologische Bewusstheit. Übergang von der logographemischen zur alphabetischen Strategie. Der Übergang von der logographemischen zur alphabetischen Stufe fordert vom Kind eine Strategie zu übernehmen, die bei zunächst nur geringem Erfolg hohe kognitive Anforderungen stellt. Sind diese Anforderungen individuell zu hoch wie bei extremen phonemanalytischen Problemen, wird das Kind versuchen, eine Ausweichstrategie zu finden – häufig eine Kombination zwischen logographischer Strategie und Abschreiben (vgl. Maria im Fallbeispiel). Diese Gefahr ist dann besonders groß, wenn im Deutschunterricht ausschließlich orthographisch korrekte Schreibungen akzeptiert werden und der Wert phonemischer Annäherungen nicht gesehen wird. Kindern, die im „ersten Durchgang“ beim Schriftspracherwerb gescheitert sind, gelingt es manchmal auch später nicht, metakognitiv den Wert der alphabetischen Strategie zu erfassen und sie entsprechend anzuwenden. So beobachtete die Autorin, dass Andreas, Integrationskind im 5. Schuljahr an einer Regelschule, sich ein zu schreibendes Wort nur einmal vorsprach, lange darüber nachdachte, wie es wohl geschrieben würde und schließlich nur wenige Laute verschriftlichte, obwohl er über ein größeres Repertoire an Phonem-Graphem-Korrespondenzen verfügte. Allein die Instruktion, sich das Wort beim Schreiben mehrfach silbenweise vorzusprechen, führte von einer Woche zur nächsten zu beachtlichen Verbesserungen (vgl. Abbildung 14). Das explizite Mitsprechen beim Schreiben, das bei den meisten Schulanfängern zu beobachten ist (vgl. Abbildung 10), hat Andreas spontan nicht erworben. Das Fehlen dieser prinzipiellen Einsicht ist sicher relativ selten; weit häufiger sind Probleme in Teilprozessen der alphabetischen Strategie.
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(1) RGBON (2) REGNBOG (3) REGNBOGN
Abbildung 14: Andreas, Integrationskind, 5. Schuljahr, schreibt das Wort spontan (1) und nach der Instruktion, beim Schreiben mitzu sprechen (2 und 3)
Förderung der Diskrimination von Phonemen. In Diktaten von schwachen Rechtschreibern finden sich häufig bis zum Ende der Primarstufe und darüber hinaus Verwechslungen zwischen stimmhaften und stimmlosen Verschlusslauten (/b/-/p/, /d/-/t/ und besonders häufig /g/-/k/), oft auch Verwechslungen zwischen den kurzen Vokalen [] und [] (<*Kend>) sowie [] und [] (<*Hond>). Ein Teil dieser Fehler, vor allem bei Verschlusslauten im Silbenanlaut, ist auf eine dialektale Aussprache zurückzuführen, ein weiterer Teil auf eine unsichere Zuordnung von Phonemen und Graphemen, die entsprechende Übungen fordert. Es bleiben jedoch auch reine akustische Diskriminationsprobleme. Kossow (1972) hat vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Artikulation der entsprechenden Laute zu richten und vor allem den Luftstrom bei stimmlosen Verschlusslauten bewusst zu machen. Die zusätzliche Einführung von Lautgebärden scheint die akustische Diskrimination oder die Assoziation von Phonemen und Graphemen nicht zu fördern. In einem Lesetraining auf Silbenbasis konnten Walter, Malinowski, Neuhaus, Reiche und Rupp (1997) bei der Überprüfung der richtig lautierten Buchstaben nach dem Training keine Überlegenheit der mit Lautgebärden trainierten Kinder feststellen. Zur Förderung der Lautdiskrimination, insbesondere von Verschlusslauten, ist in den letzten Jahren ein Verfahren in der Diskussion, das mit Hilfe eigens konstruierter Apparate umgesetzt wird: Das Ordnungsschwellentraining (vgl. Warnke, 1995). Es handelt sich hierbei im Kern um ein akustisches Training, in dem die Differenzierung der Reihenfolge zweier sehr kurz hintereinander dargebotener Klicks sowie die Richtungswahrnehmung geübt werden. Der theoretische Bezug zur Diskrimination von Verschlusslauten ergibt sich aus der Notwendigkeit, bei der Wahrnehmung des Unterschieds z. B. zwischen den Silben /pa/ und /ba/ Komponenten des Lautspektrums innerhalb der ersten 40 Millisekunden unterscheiden zu müssen. Zu langsame Verarbeitungsprozesse sollten die Identifikation der Laute/Silben behindern. Im Gegensatz zur beachtlichen Präsenz entsprechender Geräte im Internet fehlt es an positiver Evidenz für deren Effektivität in wissenschaftlichen Studien. Berwanger (2003) konnte an einer Schule, die vorwiegend von lese-rechtschreibschwachen Schülern besucht wird, nach einem achtwöchigen Training zwar Verbesserungen in den trainierten Aufgaben feststellen, jedoch keinen Transfer auf die Diskrimination von Phonemen oder ihre Manipulation. Bereits vorher hatte sie in Stichproben von 7- bis 13-jährigen Kindern festgestellt, dass weder Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung noch Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung sich in der Ordnungsschwelle von anderen Kindern unterscheiden, wenn Alter und Intelligenz kontrolliert werden (vgl. Berwanger, 2002). Kritisiert werden könnte an
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diesen Studien allenfalls, dass die Stichproben nicht im Hinblick auf ihre qualitativen Rechtschreibfehler ausgewählt wurden; als überzeugender Beweis für die mangelnde – oder vorhandene – Effektivität des Ordnungsschwellentrainings wäre es notwendig, Kinder mit einer Häufung von Fehlern im Bereich der Lautdiskrimination, insbesondere bei Verschlusslauten, zu trainieren. Förderung der phonologischen Bewusstheit/Phonemanalyse. Neben der Fähigkeit, Laute bzw. Phoneme voneinander zu unterscheiden ist die Analyse des Lautstroms der gesprochenen Sprache in Laute bzw. ihre Zuordnung zu Phonemen und anschließend zu Graphemen das Herzstück der alphabetischen Strategie (vgl. auch 24.1, Walter in diesem Band). In den letzten Jahrzehnten wurden international mehrere Programme zur vorschulischen Förderung der phonologischen Bewusstheit als Präventionsmaßnahme für Leseversagen entwickelt. Schneider, Visé, Reimers und Blässer (1994) haben das Programm von Lundberg, Frost und Petersen (1988) ins Deutsche übertragen und evaluiert. Es beginnt mit Übungen zum „Genauen Hinhören“ bei Umweltgeräuschen und führt über größere Segmentierungseinheiten wie Wörter und Silben erst im letzten Teil zur Analyse und Synthese einzelner Phoneme. Das Programm wurde über mehrere Monate im letzten Kindergartenjahr von Kindergärtnerinnen vorgegeben und führte bei korrekter Umsetzung zu erhöhten Lese- und Rechtschreibleistungen in den ersten Schuljahren und zwar auch bei Kindern mit recht schwachen Ausgangsleistungen. Allerdings waren die unmittelbaren Effekte in Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit größer als die Transfereffekte auf das Lesen und Schreiben. Neben dem präventiven Einsatz im Vorschulalter ist eine intensivere Förderung im Bereich der phonologischen Bewusstheit vor allem im Verlauf des ersten Schuljahrs bei langsam lernenden Kindern indiziert. Mannhaupt (1992) entwickelte ein Trainingsverfahren zur vollständigen Phonemanalyse auf der Basis der Tätigkeitstheorie, in dem die Kinder im Lernprozess Stufen der allmählichen Verinnerlichung durchlaufen; die zu analysierenden Laute wurden durch Plättchen materialisiert. Nach einem Training über neun Wochen mit zwei wöchentlichen Trainingssitzungen waren deutliche Effekte bei der Phonemanalyse zu beobachten, die – wenn auch in geringerem Maße – auf die Lese- und Schreibleistung transferierten. Es ist dringend anzuraten, entsprechende Übungen über das Angebot in Fibeln hinaus in den Erstlese- und Schreibunterricht zu integrieren. Ein ansprechendes, abwechslungsreiches und theoretisch gut fundiertes Material bieten Forster und Martschinke (2001); es wurde für das erste Schuljahr konzipiert, ist aber auch bei älteren Kindern mit Defiziten im Bereich der phonologischen Bewusstheit einsetzbar. Neben der vollständigen Phonemanalyse ähnlich wie bei Mannhaupt (1992) gibt es viele Übungen zur Silben- und Phonemsegmentierung und zum Reimen, die mit Hilfe der „klassischen“ Tischspiele Domino, Memory, Lotto, Puzzle und Würfelspiele realisiert werden. In der Evaluationsstudie wurde mit dem Training, das in zwei Schulstunden wöchentlich mit der ganzen Klasse durchgeführt wurde, gleich zu Beginn des ersten Schuljahrs begonnen; sehr langsam lernende Kinder erhielten von November bis Januar zusätzlich eine Stunde Förderunterricht. Nach einem halben Jahr konnten die trainierten Kinder ihre Leistungen in Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit im Vergleich zu Kontrollgruppen deutlich steigern, wobei vor allem eine stark reduzierte Streuung der Werte bemerkenswert ist. Ein Transfer zur Schriftsprache zeigte sich vor allem bei der Lesefertigkeit, die durch die Würzburger Leise Leseprobe (Küspert & Schneider, 1998) operationalisiert wurde.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Dagegen war der Effekt im Bereich des Rechtschreibens, operationalisiert durch die Hamburger Schreibprobe, May (1995), geringer, aber durchaus sichtbar. Förderung der Nutzung silbischer Strukturen im Rahmen der alphabetischen Strategie. Die Gliederung vorgesprochener Wörter in Silben fällt in der Regel schon Vorschulkindern leicht, auf jeden Fall leichter als die Gliederung in Phoneme (schon Liberman, Shankweiler, Fischer und Carter, 1974). Mit Grundschulkindern, denen die Silbengliederung nicht oder nur unzureichend gelingt, muss sie auf jeden Fall geübt werden. Da Silben die Einheiten der Artikulation sind, sollte zumindest bei nicht sprachentwicklungsgestörten Kindern ein impliziter Zugang zu dieser Einheit möglich sein. Worum es in vielen Trainingsprogrammen geht, ist jedoch nicht nur die Gliederung der gesprochenen Sprache in Silben, sondern die parallele Nutzung silbischer Strukturen in der geschriebenen Sprache. Die deutsche Schrift verfügt über ein ausgeprägtes silbisches Prinzip; die „Schreibsilbe“ (Eisenberg, 1998, S. 311 ff.) bleibt auch dann explizit, wenn die gesprochene Sprache reduziert ist (Beispiel: <se-hen> zu [ze:n]). In der Regel scheinen Kinder die Silbenstruktur implizit selbstständig zu entdecken: Obwohl die meisten Fibeln heutzutage die Silbe als Gliederungseinheit kaum thematisieren (vgl. aber die Silbengliederung in synthetischen Fibeln vor allem im 18./19. Jahrhundert), wird aus Lesefehlern wie [´e:t-be:-´rais] (zu <Erdbeereis>) deutlich, dass sie von den Kindern vor allem während der alphabetischen Phase des Lesenlernens genutzt wird. Zahlreiche Trainingsprogramme zur Förderung lese-rechtschreibschwacher Kinder basieren auf der Silbe als grundlegender Einheit (vgl. Kossow, 1972, 1984; Dummer-Smoch & Hackethal 1984, 1987; Buschmann, 1986; Reuter-Liehr, 1992; Scheerer-Neumann, 1979, 1981; Tacke, 1996). Offenbar benötigen lese-rechtschreibschwache Kinder Hilfen, um die strukturelle Korrespondenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zu entdecken und zu nutzen. Gemeinsam ist den Silbenverfahren, dass sie im Bereich des Schreibens in den frühen Phasen des Trainings Wörter zur „Grobgliederung“ (Kossow, 1972) in Silbenbögen schreiben lassen (z. B. [u-l] als UU, [ba:-na:-n] als UUU), in die z. T. später die Vokale als Silbenkerne eingefügt werden. Diese Umsetzung ermöglicht auf gewisse Weise die Verschriftlichung des „ganzen“ Wortes, auch wenn die Phonemanalyse noch nicht vollständig gelingt. Reuter-Liehr (1992) kombiniert in Anlehnung an Buschmann (1986) die Silbengliederung mit großmotorischen Gesten, dem „rhythmischsynchronen Sprechschwingen und Sprechschreiben“. Auch in der Auswahl des Wortmaterials lassen sich Parallelen zwischen den verschiedenen Verfahren feststellen: In der Regel wird zunächst mit „lauttreuen“ Wörtern gearbeitet, die aus einfach strukturieren Silben bestehen und erst mit der Zeit komplexer werden. Es gibt nur wenige methodisch akzeptable Evaluationsstudien zu den Silbenverfahren im Bereich der Rechtschreibung; zudem gehen sie zumeist als Gesamtprogramm über das Silbenprinzip hinaus. Trotzdem lassen sich aus den vorhandenen Arbeiten positive Effekte entnehmen. Edler, Ostrau und Schulze (1979) konnten in einem Training mit rechtschreibschwachen Drittklässlern, das sich an Kossow (1972) anlehnte, aber sein Verfahren in einer Trainingsgruppe zusätzlich mit verbaler Selbstinstruktion kombinierte, im DRT 2 eine sehr gute Leistungssteigerung gegenüber einer nicht trainierten Kontrollgruppe erreichen. Neben der Groß- und Kleinschreibung, die auch geübt worden war, verbesserte sich nach dem Training ganz spezifisch die Wiedergabe der Silbenstruktur der Wörter. Der Trainingserfolg war unabhängig von der nicht-verbalen Intelligenz der Kinder.
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Auch zum Verfahren von Reuter-Liehr liegen empirische Befunde vor. Im vorliegenden Kontext besonders relevant ist eine Studie von Tacke, Wörner, Schultheiß und Brezing (1993), in der ausschließlich die Methode des „synchron-syllabierenden Mitsprechens“ über den Zeitraum von 6 Monaten angewandt wurde. Es zeigte sich, dass die Methode im dritten Schuljahr vor allem bei rechtschreibschwachen Kindern erfolgreich war, die vor Beginn des Trainings noch nicht gut syllabieren konnten. Interessanterweise ergaben sich Effekte nicht nur beim Schreiben „lauttreuer“ Wörter, sondern sogar besonders auffällige bei der Konsonantenverdopplung, obwohl weder die Testwörter wortspezifisch trainiert worden waren noch ein Regeltraining stattgefunden hatte: Offenbar waren die Kinder mit zunehmender Übung in der Silbengliederung in der Lage, die Information des „Silbengelenks“ zu nutzen. Leider geht aus der Beschreibung der Methode nicht hervor, welche Rückmeldungen die Kinder während des Trainings bei Fehlern erhielten, d. h. auf welchem Wege es ihnen gelang, ihre Segmentierungsstrategie zu verbessern. 24.4.6.3 Förderung der orthographischen Strategie Der letzte Abschnitt machte schon deutlich, dass auch die gesprochene Sprache für die Verschriftlichung Informationen beinhaltet, die über einzelne Phonem-GraphemKorrespondenzen hinausgehen. Vielleicht bietet die Silbengliederung tatsächlich die Möglichkeit, die (häufigen) Fehler in der Konsonantenverdopplung zu reduzieren, ganz ohne Notwendigkeit zur Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen, die rechtschreibschwachen Kindern ohnedies schwer fällt (vgl. Schübel, 2000). Wird die Konsonantenverdopplung immer an Silbengelenken festgemacht, erscheinen auch einsilbige Wörter mit kurzen Vokalen ohne Konsonantenverdopplung (z. B. , ) oder Wörter wie nicht mehr regelwidrig. Es gibt bezüglich der didaktischen Nutzung des Silbengelenks jedoch noch einen hohen Forschungsbedarf. Während in der ersten Studie von Tacke et al. (1993) die Kinder vor dem Training die vorgegebenen Wörter mit Doppelkonsonanten nur zu 27,4 % beim Sprechen richtig gliedern konnten, waren es in einer zweiten Studie, über die in der gleichen Arbeit berichtet wird – ebenfalls mit rechtschreibschwachen Drittklässlern – 72,6 %. Trotz dieses Unterschieds profitierten beide Trainingsgruppen beim Schreiben von Wörtern mit Doppelkonsonanten vom synchronsyllabierenden Mitsprechen. Einmal mehr stellt sich die Frage nach dem „funktionalen Ort“ des Trainingsgewinns. Einen anderen Weg zur Reduzierung der Fehler im Bereich Dopplung und Dehnung gehen Schulte-Körne und Mathwig (2001): In einem Trainingsverfahren, das die Autoren den lerntheoretisch begründeten zuordnen, werden zu verschiedenen Rechtschreibphänomenen an Hand von Algorithmuskarten Lösungsstrategien vermittelt und eingeübt. Zur Schreibung von Doppelkonsonanten gibt es einen Lösungsstammbaum, in dem zunächst die Unterscheidung zwischen einem langen und einem kurzen Vokal getroffen werden muss und in einem nächsten Schritt die Frage zu beantworten ist, wie viele Konsonanten dem Vokal folgen. Bei Verben muss zu einer korrekten Entscheidung noch die Rückführung auf die Grundform hinzugefügt werden. Das Training soll auf der einen Seite einen guten Einblick in die Strukturen der deutschen Orthographie geben und auf der anderen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Seite Kinder dazu anleiten, ihre Lösungsprozesse möglichst selbst zu steuern. Das Training kann sowohl von Eltern als auch von Lerntherapeuten oder im Förderunterricht der Schule durchgeführt werden. Damit das Verständnis der Lösungsstammbäume sichergestellt werden kann, ist eine relativ intensive Betreuung notwendig. Das Trainingsverfahren von Scheerer-Neumann (1988) geht ebenfalls davon aus, dass der Einsatz von Rechtschreibregeln den Erwerbsprozess auch bei leistungsschwachen Kindern fördern kann. Zum einen ist dazu allerdings sicherzustellen, dass die Regel tatsächlich von allen Kindern verstanden wird, zum andern muss auch die Anwendung der Regel eingeübt werden. Dies geschieht im Rechtschreibunterricht in der Regel nicht in ausreichendem Maße: Scheerer-Neumann und Mühlbauer (2000) fanden auf Fragen nach orthographischen Regularitäten im 5. und 6. Schuljahr unbefriedigende Ergebnisse, obwohl die Lehrerinnen der beteiligten Klassen angaben, viel mit Rechtschreibregeln zu arbeiten. Fragen nach der einfachen Groß- und Kleinschreibung (Warum schreibt man „Frühstück“ groß?) und nach der Morphemkonstanz (Warum schreibt man „Briefträger“ mit ä?) wurden noch recht gut bewältigt; bei der Frage nach Doppelkonsonanten (Warum wird das Wort mit zwei geschrieben?) gab es ein beachtliches Antwortspektrum, das von großer Verwirrung in diesem Bereich zeugte. Tatsächlich fanden sich die sehr positiven Ergebnisse im Regeltraining von Scheerer-Neumann (1988) auch vorwiegend im Bereich der Groß- und Kleinschreibung sowie im Bereich der morphematischen Schreibungen (Auslautverhärtung, Umlaute, Vorsilben ver-, voretc.). Dabei war ein deutlicher Transfer der Regelanwendung auch auf ungeübte Wörter zu beobachten. Dass die Bereiche der Groß- und Kleinschreibung sowie der morphematischen Ableitung besonders gut über Rechtschreibregeln erarbeitet werden können, zeigte sich auch in einer Trainingsstudie von Dumke (1979), an der ganze zweite Klassen teilnahmen. Dagegen konnte in der relativ kurzen Trainingszeit von 13 Unterrichtsstunden kein Effekt im Bereich der Dehnung und Konsonantenverdopplung erreicht werden. Mit diesen Studien ist gut belegt, dass die Arbeit mit Regeln einen festen Platz in der Rechtschreibförderung haben sollte. Da die Untersuchungen an Regelschulen stattfanden, bleibt jedoch noch die Frage, inwieweit auch Förderschüler davon profitieren. Dumke (1979) fand keine Beziehung zwischen dem Trainingserfolg und der Intelligenz der Kinder, die durch den nicht-verbalen Intelligenztest Standard Progressive Matrices (Raven, 1960) ermittelt wurde. Bei Scheerer-Neumann (1988) zeigte sich über alle Probanden mit r = .20 auch kein signifikanter Korrelationskoeffizient zwischen dem Trainingserfolg und dem ermittelten Intelligenzquotienten (Frankfurter Denkaufgaben 3-6). Allerdings ergab sich im Intelligenzbereich unterhalb des Medians (hier 97 I.Q. Punkte) eine entsprechende positive Beziehung, die für die trainierten Fehlerkategorien sogar einen Korrelationskoeffizienten von r = .73 erreichte. Ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Trainingserfolg fanden Weber et al. (2002) in einer Trainingsstudie mit dem Ansatz von Reuter-Liehr, der auch Regeln enthält, aber schwerpunktmäßig zur Förderung der alphabetischen Strategie zu rechnen ist (siehe oben). Insgesamt ist diesen Befunden zu entnehmen, dass auch Regeltrainings für Förderschüler geeignet sind, möglicherweise aber im unteren Intelligenzbereich angepasst werden müssen.
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24.4.6.4 Der Aufbau des inneren orthographischen Lexikons – der Erwerb von „Lernwörtern“ Dass orthographische Information im menschlichen Gedächtnis nicht nur über regelhafte Strukturen erworben wird, wurde in Abbildung 9 verdeutlicht. Das mentale Lexikon enthält wort- bzw. morphemspezifische Repräsentationen, die nach der logographischen Phase jedoch an struktureller Information verankert sind. Welche Probleme sich ergeben, wenn diese Information fehlt, wurde im Fall Maria (vgl. Abbildung 12) deutlich. Ist als Basis zumindest die alphabetische Strategie vorhanden, kann es allerdings didaktisch durchaus sinnvoll sein, einzelne Wörter auch losgelöst von Regeln zu üben. Bereits Machemer (1972) hat hierzu ein Verfahren entwickelt, das den Vorteil hat, dass es auch von Eltern mit nur wenig Einblick in die deutsche Orthographie durchgeführt werden kann. Im Training werden einzelne Wörter auf Karteikarten vorgegeben und wiederholt geübt, wobei Erkenntnisse der Lernpsychologie über massierte und verteilte Übung und über primäre und sekundäre Verstärkung genutzt werden. Nach sechs richtigen Schreibungen kann ein Wort „abgelegt“ werden. Unter dem Stichwort „Rechtschreibkartei“ findet man in der heutigen Rechtschreibdidaktik ähnliche Vorschläge (z. B. Naegele, 2001); eine gute Systematik für die Auswahl der Wörter bietet Naumann (1999). Tatsächlich ist die Rechtschreibkartei, in der Wörter je nach der Anzahl ihrer Richtigschreibungen durch verschiedene Fächer „wandern“, ein sehr sinnvolles Verfahren, um solche Wörter lerntheoretisch angemessen zu üben, deren Schwierigkeitsgrad der Rechtschreibentwicklung eines Kindes entspricht. Diese Passung muss gewährleistet sein; ist sie es nicht, ist der Lernaufwand der Kinder unverhältnismäßig hoch und ein Übungserfolg auf Dauer gefährdet. Das Üben von „Lernwörtern“ ist erst dann sinnvoll, wenn die wortspezifische Eintragung auch strukturell verankert werden kann. 24.4.6.5 Rechtschreibenlernen im bedeutungsvollen Kontext Internationale Untersuchungen zur Methodik des Erstlese- und -schreibunterrichts befürworten für die ersten Schuljahre eine Kombination aus interessen- und erfahrungsbezogenem Ansatz („Spracherfahrungsansatz“) und systematischen, vor allem den Erwerb der alphabetischen Strategie berücksichtigenden Übungen (vgl. Walter, 1996). Dies gilt sicher auch für die Förderung bei Rechtschreibschwäche. Kornmann und Ramisch (1984) und Kretschmann, Linder-Achenbach, Puffarth, Möhlmann und Achenbach (1986) zeigen Möglichkeiten auf, Sonderschüler/-innen bzw. jugendliche Analphabeten und Analphabetinnen über einen handlungs- und interessenbezogenen Unterricht zu motivieren, sich (wieder) mit der Schriftsprache zu beschäftigen. May (1994) machte deutlich, dass Jungen bei „Jungenwörtern“ (z. B. Schiedsrichter) ihre normale Leistungsdifferenz zu Mädchen verringern, Mädchen ihren Vorsprung bei „Mädchenwörtern“ (z. B. Tierärztin) dagegen erhöhen. Spezifische inhaltliche Interessen beeinflussen also auch den Erwerb des orthographischen Codes eines Wortes. Trotzdem lassen viele Programme für leserechtschreibschwache Kinder (z. B. Dummer-Smoch & Hackethal, 1984, 1999; ReuterLiehr, 1992) durch die systematische Wortauswahl des Trainingsmaterials wenig Raum für schülerbezogene Inhalte. Mannhaupt, Hüttinger, Schöttler und Völzke (1999) kamen
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| Teil VI: Schule und Unterricht in einer Untersuchung, in der eine Trainingsgruppe zusätzlich zu phonemanalytischen Übungen die Möglichkeit zur handlungsorienterten Anwendung erhielt, zu dem Schluss: „Weniger ist mehr“, d. h. die zusätzliche Schreiberfahrung führte eher zu einem geringeren Trainingsgewinn. Mannhaupt sieht einen möglichen Erklärungsansatz für dieses Ergebnis darin, dass für die Kinder, die nur die phonemanalytischen Übungen erhielten, metakognitiv deutlicher war, welche Kompetenzen im Training erworben werden sollten. Beim Erwerb der orthographischen Strategie stellt sich ein ähnliches Problem, wenn es mit freiem Schreiben verknüpft wird: Sowohl das orthographische „Richtigschreiben“, als auch der inhaltliche Aspekt des freie Schreibens stellen hohe kognitive Anforderungen; gerade für langsam lernende Kinder und für Kinder, die „im ersten Anlauf“ gescheitert sind, es ist notwendig, auch Situationen herzustellen, in denen sie ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Rechtschreibung richten können. Dabei ist es durchaus vertretbar, auch mit isolierten Wörtern und Wortlisten zu arbeiten; dies ist angemessener als Texte so zu verbiegen, dass in möglichst vielen Sätzen ein bestimmtes Rechtschreibphänomen realisiert werden kann. 24.4.7 Zusammenfassung Für die Diagnose und Förderung der Rechtschreibung wird ein entwicklungsorientierter Ansatz vorgestellt, in dem über die Analyse der bisher im Rechtschreiberwerb erreichten Entwicklungsstufe verbunden mit einer Feinanalyse der Rechtschreibefehler eines Kindes die prinzipielle Richtung der Förderung bestimmt wird. Für die Förderung der alphabetischen und der orthographischen Rechtschreibstrategie sowie für den Erwerb von „Lernwörtern“ zum Aufbau des mentalen Lexikons stehen unterschiedliche Methoden und Programme zur Verfügung, von denen noch zu wenige empirisch ausreichend evaluiert wurden. Es wird argumentiert, dass aus Gründen der für Lernprozesse notwendigen Zuwendung der Aufmerksamkeit auf den Lerngegenstand neben der Integration des Rechtschreibens in einen interessen- und handlungsbezogenen Kontext auch Phasen der ausschließlichen Vermittlung und Einübung rechtschreibbezogener Inhalte notwendig sind.
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Kapitel 24: Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache | 567
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| Teil VI: Schule und Unterricht Schneider, W., Visé, M., Reimers, P. & Blässer, B. (1994). Auswirkungen eines Trainings der sprachlichen Bewusstheit auf den Schriftspracherwerb in der Schule. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 8, 177-188. Schübel, A. (2000). Mit der Silbe besser rechtschreiben? In R. Thieroff, M. Tamrat, N. Fuhrhop & O. Teuber (Hrsg.), Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis (S. 13-28). Tübingen: Niemeyer. Schulte-Körne, G. & Mathwig, F. (2001). Das Marburger Rechtschreibtraining. Bochum: Winkler. Seymour, P. H. K. & McGregor, C. J. (1984). Developmental dyslexia: A cognitive developmental analysis of phonological, morphemic and visual impairments. Cognitive Neuropsychology, 1, 43-82. Simon, D. P. & Simon, H. A. (1973). Alternative uses of phonemic information in spelling. Review of Educational Research, 43, 115-137. Spitta, G. (1988). Kinder schreiben eigene Texte in Klasse 1 und 2 (3. Aufl.). Frankfurt: Cornelsen Scriptor. Tacke, G. (1996). Flüssig lesen lernen. Ein Leseprogramm für den differenzierenden Unterricht, für Förderkurse und für die Freiarbeit. Klasse 1 und 2 der Grundschule. Donauwörth: Auer. Tacke, G., Wörner, R., Schultheiß, G. & Brezing, H. (1993). Die Auswirkung rhythmisch-syllabierenden Mitsprechens auf die Rechtschreibleistung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (German Journal of Educational Psychology), 7, 139-147. Thomé, G. (2003). Entwicklung der basalen Rechtschreibkenntnisse. In U. Bredel, H. Günther, P. Klotz, J. Ossner & G. Siebert-Ott (Hrsg.), Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 1. Teilband (S. 369-379). Paderborn: Schöningh. Thomé, G. & Thomé, D. (2004). Oldenburger Fehleranalyse OLFA. Oldenburg: Igel Verlag Wissenschaft. Walter, J. (1996). Der Spracherfahrungsansatz für den Anfangsunterricht: Empirisch-experimentell abgesicherte Effekte und didaktisch-methodische Konsequenzen aus den USA. Sonderpädagogik, 26 (3), 136-143. Walter, J. (1999). Unterschiede in den Rechtschreibleistungen von Förder- und Hauptschülern sowie deren förderpädagogische Implikationen. Heilpädagogische Forschung, 25 (2), 75-85. Walter, J. (2000). Lesen und Schreiben. In J. Borchert (Hrsg.), Handbuch der sonderpädagogischen Psychologie (S. 380-404). Göttingen: Hogrefe. Walter, J., Malinowski, F., Neuhaus, N., Reiche, T. & Rupp, M. (1997). Welche Effekte bringt das zusätzliche Einbinden von Lautgebärden für den Leseunterricht bei Förderschülern? Heilpädagogische Forschung, 23, 122-131. Warnke, F. (1995). Was Hänschen nicht hört … Elternratgeber Lese-Rechtschreib-Schwäche. Freiburg: Verlag für Angewandte Kinesiologie. Weber, J.-M., Marx, P. & Schneider, W. (2002). Profitieren Legastheniker und allgemein leserechtschreibschwache Kinder in unterschiedlichem Ausmaß von einem Rechtschreibtraining? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 56-70.
25 Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik Einführung Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens haben von Anfang an im Vordergrund der Betrachtungen gestanden, wenn es um die Ursachen von Schulversagen und die charakteristischen Merkmale lernbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher ging; denn das Lese- oder Rechtschreibversagen war fast immer erstes auffälliges Merkmal einer sich ankündigenden problematischen Schullaufbahn, zumal den schriftsprachlichen Fertigkeiten hohe instrumentelle Bedeutung für schulisches Lernen insgesamt zukommt und die Leistungsnoten im Fach Deutsch fast immer selektiv benutzt wurden. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten ist der Lernbereich Mathematik verstärkt in den Mittelpunkt des sonderpädagogischen Interesses gerückt, da sich auch hier bei vielen Heranwachsenden frühe Lernprobleme und Leistungsausfälle zeigen, die zu allgemeinem Schulversagen generalisieren können; denn auch das Fach Mathematik ist von hohem instrumentellem Wert für das Lernen in anderen naturwissenschaftlichen und technischen Fächern und auch in diesem Lernbereich wird die Leistungsnote im deutschen Schulsystem selektiv genutzt. Da weite Teile des Curriculums im Lernbereich Mathematik aufeinander aufbauen, empfehlen sich eine möglichst frühzeitige Diagnose von Lernproblemen und eine früh und gezielt einsetzende Förderung bei Lernschwierigkeiten und Verständnisproblemen im Mathematikunterricht. Birgit Werner erörtert zunächst den Begriff der Zahl aus mathematisch-theoretischer Sicht, um anschließend zwischen Kardinalzahlen und Ordinalzahlen zu unterscheiden und die fünf Prinzipien herauszuarbeiten, die ein Kind beherrschen muss, das erfolgreich mit Zahlen rechnen will. Eine Analyse von empirisch dokumentierten Entwicklungssequenzen und Lernverläufen belegt die Bedeutung von Zählfertigkeiten und leitet über zu einigen Überlegungen zur Diagnostik und Intervention. Das Kapitel stellt abschließend ausgewählte diagnostische Verfahren vor, die sich bei Kindern mit Lernschwierigkeiten bzw. Rechenschwäche bewährt haben und skizziert Ansätze zur gezielten unterrichtlichen Förderung in diesem Bereich. Ausgehend von einem Ansatz aktiven Lernens und produktiven Übens im Mathematikunterricht fordert Petra Scherer eine kompetenzorientierte und fachspezifische Diagnostik im Bereich des elementaren Rechnens, welche die Grundlagen für eine gezielte Förderung von Basisfertigkeiten liefern kann, die zwar aktiv handelnd und auf anschaulicher Basis beginnt, aber von Anfang an anspruchsvolle Aufgaben in den Blickpunkt des Kindes rückt und grundlegende mathematische Strukturen nutzt, um einsichtsvolles Lernen anzustreben. Erlernte Kenntnisse und Fertigkeiten sollen im Unterricht durch häufiges produktives Üben automatisiert und auf einem hohen Kompetenzniveau gesichert werden, um anschließend in authentischen Anwendungssituationen deren lebenspraktische Verfügbarkeit zu sichern. Petra Scherer zeigt, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang offenen Aufgaben im Mathematikunterricht auch und gerade bei Kindern mit Lernschwierigkeiten zukommt und belegt die Tragfähigkeit der vorgestellten Konzeption von Förderunterricht durch ausgesuchte empirische Untersuchungen aus Deutschland, England und der Schweiz.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Ist es in einer Zeit der freien Verfügbarkeit von Taschenrechnern und Computern noch sinnvoll, den Heranwachsenden schriftliche Rechenverfahren beizubringen? Hans-Dieter Gerster beantwortet diese Frage positiv, indem er darauf verweist, dass die schriftlichen Rechenverfahren nach wie vor alltagspraktisch brauchbare Instrumente darstellen, deren Beherrschung auch von Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten erwartet wird und dass die Erarbeitung schriftlicher Rechenverfahren wichtige Einsichten in mathematische Strukturen erlaubt und den Lernenden exemplarisch die Handhabung algorithmischer Lösungsverfahren erfahrbar macht. Dazu bedarf es aber einer sorgfältigen Erarbeitung und Übung im Unterricht, denn die gedankenlose Abarbeitung von Rechenschemata führt nicht nur bei Lernenden mit Lernschwierigkeiten zu gravierenden Fehlentwicklungen: Die Basisfakten und Kopfrechenfertigkeiten müssen gesichert werden, Zahlvorstellungen und Dezimalsystem sind integriert zu unterrichten und durchgängig ist eine einsichtsvolle und verstehende Anwendung der Rechenverfahren anzustreben. Hans-Dieter Gerster erörtert häufig auftretende Probleme differenziert für die vier Grundrechenarten und unterbreitet Vorschläge für deren Behandlung im Unterricht. Auf der Basis ausgesuchter empirischer Untersuchungen gelangt er wie zuvor schon Scherer zu dem Fazit, dass auch Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten und Lernstörungen erfolgreich Mathematik lernen können, wenn sie ihre schulische Arbeit als aktiv entdeckenden und konstruktiven Prozess erleben. Geometrische Kenntnisse und Fertigkeiten gehören neben der Arithmetik zu den wichtigsten Lernzielen des Mathematikunterrichts bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten, denn sie sind nicht nur alltags- und lebenspraktisch bedeutsam, sie sind auch von innermathematischer Bedeutung, da räumliche Vorstellungen den Erwerb von arithmetischen Begriffen und Operationen helfend unterstützen können. Frank Hellmich stellt ein Modell aktiv-entdeckenden und handelnden Lernens von geometrischen Begriffen und Verfahrensweisen in den Mittelpunkt seiner inhaltlich-didaktischen und unterrichtsmethodischen Überlegungen. Er fordert die Vermittlung transferierbaren und beweglichen Wissens und Könnens auch und gerade im Unterricht für Lernende mit Lernschwierigkeiten, auch wenn erste empirische Studien zeigen, dass diese Kinder und Jugendlichen bei der Bearbeitung geometrischer Aufgaben auf vielfältige Probleme stoßen. Hellmich empfiehlt die materialgebundene Förderung geometrischer Kompetenzen, die durch computerunterstützte Förderprogramme zu ergänzen ist, und die systematische Vermittlung geometrisch-begrifflichen Wissens, damit im Geometrieunterricht nicht die Chance verpasst wird, Kindern, die im Mathematikunterricht ansonsten vor allem Misserfolg erleben, Erfolgserlebnisse zu vermitteln, die zu einer positiveren Einschätzung eigener Fähigkeiten in diesem Lernbereich beitragen können. Das Sachrechnen betrachtet Uta Häsel-Weide unter dem Aspekt der Mathematisierung: Auch Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen sollen in die Lage versetzt werden, alltagsnahe Sachverhalte in mathematische Begriffe und Operationen zu übersetzen, um durch Anwendung mathematischer Verfahren zu Lösungen zu gelangen, die sich in Begriffen der ursprünglichen Ausgangssituation interpretieren und praktisch nutzen lassen. Sachrechnen, so argumentiert die Autorin, stellt sich im Förderunterricht deshalb zugleich als Lernstoff, als Lernprinzip und als Lernziel dar. Häsel-Weide stellt traditionelle und neuere Aufgabentypen vor, erläutert die kognitiven Anforderungen beim Sachrechnen und entwickelt ein forschungsbasiertes Prozessmodell
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 571
des Lösens von Sachaufgaben, an dem sich Lehrerinnen und Lehrer orientieren können. Das Kapitel endet mit konkreten Hilfen zur Auswahl von Aufgabentypen, stellt bewährte Alternativen zur schriftlichen Präsentation von Sachaufgaben vor, gibt Hinweise zur Notation von Rechnungen und skizziert Differenzierungsmöglichkeiten im Förderunterricht. Sachrechnen, so lautet das Fazit, ist wichtiger Lerninhalt des Mathematikunterrichts und zugleich wichtiges methodisches Element eines sinnvoll erlebten Mathematikunterrichts, auch und gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten.
25.1 Entwicklung des Zahlbegriffs Birgit Werner Der Aufbau des Zahlbegriffes, der kompetente und sachgerechte Umgang mit Zahlen sowie die Orientierung in und der Umgang mit auch großen Zahlräumen sind ein wesentlicher Bestandteil des Mathematikunterrichtes, besonders in den ersten Schuljahren. Dabei bringen die Kinder vielfältige, unsystematische Vorerfahrungen mit. Dieses Kapitel greift zunächst die grundlegende Frage nach dem Wesen der Zahl, nach ihrem erkenntnistheoretischen und kognitionspsychologischen Charakter auf. In den Ausführungen zur Entwicklung des Zahlbegriffes bei Vor- und Grundschulkindern wird der empirisch begründeten Auffassung, dass sich Schulleistungsversagen/eine Lernbehinderung im Wesentlichen durch eine Entwicklungsverzögerung charakterisieren lässt, Rechung getragen (Wember, 1986; Mähler & Hasselhorn, 1990; Wendeler, 1990). Die Entwicklung des Zahlbegriffes, die Herausbildung mathematischer Einsichten und mathematischen Wissens folgt demnach bei lernschwachen Kindern den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie bei nichtbehinderten Kindern. Um den Entwicklungsbesonderheiten lernschwacher Kinder gerecht werden zu können, sind sachstrukturell und entwicklungspsychologisch orientierte Diagnose- und Interventionsmaßnahmen notwendig. Deren Grundlagen werden im letzen Teil dieses Kapitels skizziert. 25.1.1 Das Wesen der Zahl und die Theorie des Zahlbegriffes Die Frage, was eine Zahl ist, beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Zahlen begründen nicht nur das Wesen der Arithmetik, sondern Zahlen sind ebenso ein philosophisch wie naturwissenschaftlich interessanter Forschungs- und Erkenntnisgegenstand. In unserem Alltag operieren wir ständig mit Zahlen; Zahlwörter wie „Million“ und „Milliarde“ gehören zum allgemeinen Sprachgebrauch. Trotz möglicher schulischer Misserfolge in Mathematik haben wir „rechnen“ gelernt und gehen kompetent mit Zahlen in unterschiedlichsten Alltagssituationen und verschiedenen Darstellungsformen um. Zahlen strukturieren unseren Alltag, geben Orientierung, stellen Ordnung her. Mit Hilfe von Zahlen können wir eindeutig Anzahlen, Mengen, Längen, Flächen, Volumina erfassen; gleichzeitig versuchen wir uns damit die Unendlichkeit des Raumes vorzustellen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wir benutzen Zahlen als Kriterium für Wertigkeiten und Äquivalenzen. Letztlich stellt auch das Geld in unserer heutigen Form nichts anders als einen numerischen Vergleich für den Waren-, Gebrauchs- und Tauschwert unterschiedlichster Güter und Dienstleistungen dar. Obwohl Zahlen – im Gegensatz zu Worten – entpersonalisiert, emotionslos wirken, haben viele Menschen Lieblingszahlen. Zahlen verfügen über eine mystische Bedeutung, so sind beispielsweise in Märchen bedeutungstragende Ereignisse, Situationen und Handlungen häufig mit den Zahlen Drei oder Sieben (Wünsche, Brüder, Zwerge, Rätsel usw.) verbunden. Nicht zuletzt sei die rätselhafte Zahl 13 erwähnt, die selbst im heutigen Alltag häufig zu Unbehagen und Unsicherheiten führt. Um sich dem Wesen der Zahlen zu nähern, ist ein kurzer historischer Rückblick interessant. Der Umgang mit Zahlen, Zahlsymbolen und das Zählen als Alltagskultur lassen sich bereits 30.000 Jahre v. Chr. in der Altsteinzeit nachweisen. Das uns heute bekannte arabische Ziffernalphabet taucht im 8. Jahrhundert auf; es braucht ca. 700 Jahre, um sich in ganz Europa durchzusetzen (Paturi, 1998). Bei der Frage nach dem Ursprung bzw. dem Wesen von Zahlen werden zwei historische Entwicklungslinien unterschieden: – Die ältere, idealistische Argumentation geht auf Pythagoras (ca. 600 v. Chr.) zurück und behauptet, Zahlen existierten schon immer, ihre Existenz sei unabhängig vom Menschen. Zahlen seien demnach von Menschen ebenso wie naturwissenschaftliche Phänomene durch besonders zielgerichtete Beobachtungen einfach nur zu entdecken (Wember, 2003, S. 50). Kant, ein Protagonist dieser Auffassung, meinte, die Zahl sei ein vor- und naturgegebener, unveränderbarer Gegenstand unseres Denkens und formulierte dies folgendermaßen: „dass eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urtheile a priori und nicht empirisch sind … die reine Mathematik …, deren Begriff es schon mit sich bringt, dass sie nicht empirische, sondern bloß reine Erkenntniß a priori enthalte“ (Kant, 1787, S. 59). – Die zweite Auffassung, historisch viele Jahrhunderte später entstanden, erfasst die Zahl als eine kognitive Konstruktion. Zahlen sind demnach nicht unabhängig vom Menschen, sondern von ihm erfunden, konstruiert worden. Ganz im Sinne eines kognitiven Werkzeuges dienen sie dazu, Probleme innerhalb der Alltagskultur zu lösen. Wittgenstein (1984, S. 37) beschreibt dies im Zusammenhang mit der „Unerbittlichkeit“ der Mathematik wie folgt: Zählen (und das heißt: so zählen) ist eine Technik, die tagtäglich in den mannigfachen Verrichtungen unseres Lebens verwendet wird. … . Aber ist dieses Zählen nicht nur ein Gebrauch; entspricht dieser Folge nicht auch eine Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass das Zählen sich bewährt hat. Zahlreiche Befunde (u. a. Damerow, 1993; Piaget & Szeminska, 1965; von Glasersfeld, 1998) und sicher auch unsere eigenen alltäglichen Erfahrungen sprechen für die konstruktivistische Position. Besonders Zahlen sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es in unserem Denken Themen, Gegenstände gibt, deren Kenntnis nicht auf empirischen Erfahrungen beruht (Damerow, 1993, S. 195). Zahlen haben sich als Werkzeug innerhalb der kulturellen menschlichen Entwicklung als notwendig und sinnvoll herausgestellt. Sie wurden von den Menschen für die Menschen erfunden/konstruiert; ihr Umgang und ihre Darstellung unterliegt einem ständigen Wandel, einer ständigen
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 573
Weiterentwicklung. Zahlsysteme sind Symbolsysteme, d. h. mit Hilfe abstrakter Zeichen, Begriffe und Symbole werden auf abstrakter Ebene quantitative, räumliche und zeitliche Beziehungen beschrieben. Form und Gebrauch unserer Zahlsysteme entstanden und sind abhängig von den kulturellen Rahmenbedingungen und unterliegen gesellschaftlichen Konventionen. Die Zahl ist nicht als Gegenstand an sich, sondern als gedankliches Konstrukt, als kognitive Konstruktion zu begreifen. Daher wird gerade in lern- und entwicklungspsychologischen, erkenntnistheoretischen, pädagogischen und didaktischen Kontexten vom Zahlbegriff gesprochen (Moser Opitz, 2001). Bei der Bildung des Zahlbegriffes abstrahieren wir von den typischen physikalischen Eigenschaften eines Gegenstandes wie z. B. seiner Farbe, Form und Größe. Dass wir fünf Eiskugeln, fünf Bücher oder fünf Flugzeuge mit ein und demselben Zahlwort beschreiben, setzt eben diese Abstraktionen von den konkreten Gegenständen voraus. Die Zahl scheint zunächst das Ergebnis aus der Wahrnehmung von einzelnen Einheiten und deren Vielheit als Ganzheit zu sein. Die Vielheit wird zu einer Einheit zusammengefasst und als Einheit wahrgenommen. Eine solche Zusammenfassung jedoch entspringt allein unserer kognitiven Tätigkeit. Diese Einheiten zu bilden, ist das Ergebnis einer von einem wahrnehmenden Subjekt ausgeführten Operation und keine den Objekten innewohnende Eigenschaft. Um eine Vielheit zu konstruieren, muss der Wahrnehmende sich der Tatsache bewusst werden, dass er in diesem Zusammenhang Gegenstände als Angehörige ein und derselben Klasse kategorisiert hat (Klassifikation). Diese Kategorisierung stellt eine geistige Operation dar, die sich auf sensomotorische Erfahrungen mit dem Material bezieht. Mit dieser Kategorisierung bzw. Klassenbildung haben wir Gegenstände miteinander vereinigt. Wie aber können nun diese Vielheiten, diese Klassen von z. B. Eiskugeln, Büchern oder Flugzeugen voneinander abgegrenzt werden? Dazu sind wiederum geistige Operationen nötig, die in der konkreten Ausführung häufig identisch wirken. Um innerhalb der gebildeten Einheit die Zahl der einzelnen Elemente genau festzustellen, wiederholen wir ein und dieselbe Tätigkeit, wir bilden aus den Einzelelementen eine Reihe und zählen ab: Wir ordnen folglich eineindeutig jedem Gegenstand genau ein Zahlwort zu. Mit dem letztgenannten Zahlwort markieren wir sowohl das Ende der erfassten Gesamtheit als auch die Anzahl der dieser Gesamtheit innewohnenden Einzelelemente. Der Zahlbegriff selbst bildet sich heraus, wenn die beiden grundlegenden geistigen Operationen Seriation (Reihenbildung) und Kardination (Klassifikation auf numerischer Ebene) auf Mengen angewendet werden. Diese Mengen lassen sich als Klassen von Elementen mit mindestens einem gemeinsamen Merkmal, einer gemeinsamen Qualität (z. B. rote Blätter, kleine Tische, gelbe Bälle) charakterisieren. Eine Menge wird durch eine definierte Anzahl und die Qualität ihrer Elemente bestimmt. Erst in der Abstraktion von diesen Qualitäten der Elemente, d. h. von ihren physikalischen Eigenschaften wie Farbe, Form, Größe, Gewicht, Geruch und Geschmack und von ihrer räumlichen Lage zueinander, verwirklicht sich jedoch der Zahlbegriff als operatorische Synthese. In dieser operatorischen Synthese werden die zuvor auf konkret-handelnder bzw. bildlicher Ebene durchgeführten Handlungen der Ordnung (Reihenbildung) und der Klassifikation (der Gruppen- bzw. Klassenbildung) gedanklich miteinander vereint. Die Mengen- und die Reihenbildung laufen ausschließlich auf gedanklicher Ebene koordiniert ab. Die Zahl resultiert letztlich aus der Koordination der Handlungen, nicht aus den speziellen
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| Teil VI: Schule und Unterricht
1. Stufe
2. Stufe
3. Stufe
4. Stufe
5. Stufe
6. Stufe
Abbildung 1: Modell der Treppen als anschauliche Koordination zwischen Seriation und Kardination
Handlungen selbst. Während Abstraktionen von einem konkreten Gegenstand zu physikalischen Begriffen wie Farbe, Form, Gewicht, Größe führt (empirische Abstraktion), ist die Abstraktion von der Handlung, von dem, was man mit den Gegenständen macht, reflexiver Art. Die Zahl ist also das Produkt reflexiver Abstraktionen. Das heißt, ein Kind kann nur über operative Leistungen zum Zahlbegriff kommen. In Anlehnung an Piaget und Szeminska (1965) lässt sich der Zahlbegriff deshalb als kognitive Abstraktionsleistung definieren, die sich aus den Operationen Klassifikation und Seriation ergibt und zu einem System vereinigt worden ist. Die sachstrukturell entscheidende Koordination von Seriation und Kardination lässt sich mit Hilfe des Treppenmodells recht gut veranschaulichen und diagnostizieren. Dessen Grundprinzip ist der enge sachstrukturelle Zusammenhang zwischen der Anzahl der Steine der jeweiligen Stufe (Höhe) und ihrer Stellung innerhalb der Treppe: So hat beispielsweise die dritte Stufe die Höhe von drei Einheitsstufen und steht an dritter Stelle. 25.1.2 Kardinalzahl und Ordinalzahl Die Klassifikation beschreibt die Bildung von Klassen gleicher Mächtigkeit. Als Reihenbildung lässt die Seriation Relationsaussagen über eine Zahl in Bezug zu anderen Zahlen und im Vergleich mit anderen Einheiten/Zahlen zu. Über die Seriation kommen wir zu Aussagen wie: Vier ist größer als drei; zwei ist kleiner als drei, vier ist um eins größer als drei. Diese beiden elementaren Operationen der Mengen- und der Reihenbildung prägen den jahrhundertlangen Streit von Vertretern der Mathematik und der Philosophie über das Wesen der Zahl. Nahezu alle bislang bekannten Versuche, die Zahl zu definieren, lassen sich in diese zwei große Gruppen einteilen: einerseits die Zahldefinition im Sinne der Kardinalzahltheorie, andererseits die Zahldefinition als Ordinalzahltheorie (Wember, 2003, S. 51). – Neben Gottlob Frege (1848–1925) gelten Alfred Whitehead (1861–1947) und Bertrand Russell (1872–1970) als Vorläufer und bekannteste Vertreter der Kardinalzahltheorie. Russell definiert die natürlichen Zahlen als kardinale Zahlen. Mittels der Stück-für-Stück-Zuordnung wird die Anzahl bestimmt, d. h. jedem Element einer
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Menge A wird genau ein Element der Menge A’ zugeordnet. Die gleiche Anzahl entspricht somit der gleichen Zahl, hier im Sinne einer Mengenbezeichnung verstanden. Zahlbegriffe sind somit Klassenbegriffe, die beschreiben, wie viele Elemente eine Menge enthält. Eine Zahl dient der quantitativen Bezeichnung einer Menge. Nach der Russellschen Zahltheorie ist der Erwerb des Zahlbegriffs ein zweistufiger: Zunächst verbinden wir die Zahlwörter – z. B. eins, zwei, drei – mit der Vorstellung, es sind viele. Eine Zahl sagt uns, wie viele Elemente in einer Menge vorhanden sind. Erst später lernen wir, dass eine Zahl auch etwas über die Position der Elemente innerhalb der Menge aussagt. Auf einer späteren Entwicklungsstufe, meist im Grundschulalter, erreichen die Kinder die nächste Stufe und erkennen, dass eine Zahl beide Elemente enthält, die Angabe ‚wie viele‘ und ‚an welcher Stelle‘. – Die Ordinalzahltheorie gewichtet stärker den Relationsaspekt der Zahlen. Peano (1858 – 1932) geht davon aus, dass Zahlen eben nicht bestimmte Dinge repräsentieren, sondern eine bestimmte Art von Beziehungen darstellen: Zahlen stellen eine Art Progression/Reihung dar. Um die natürlichen Zahlen festzulegen bedarf es Peanos Meinung nach nur einer Reihe einfacher, aber eindeutiger Symbole wie 1, 2, 3 oder I, II, III und verlässlicher Ordnungsregeln (Wember, 2003, S. 52). Diese Prämissen fasst Peano in folgenden fünf grundlegenden Axiomen zusammen: – 1 ist eine natürliche Zahl. – Der Nachfolger jeder natürlichen Zahl ist eine natürliche Zahl. – 1 ist nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl. – Verschiedene natürliche Zahlen haben verschiedene Nachfolger. – Wenn eine Teilmenge von N die Zahl 1 enthält und mit jeder natürlichen Zahl auch deren Nachfolger, dann ist diese Teilmenge gleich N. (Schülerduden, 1990, S. 337; in späteren Veröffentlichungen ersetzt Peano die Zahl 1 durch die Null). Die natürlichen Zahlen sind definiert als bestimmte arithmetische Fortschreibung, die mit Eins bzw. mit Null beginnt. Jede weitere Zahl wird dadurch gebildet, dass zu der vorherigen Zahl eine weitere hinzugefügt wird. Diese Theorie geht hinsichtlich der Entwicklung des Zahlbegriffes davon aus, dass Kinder bereits im Vorschulalter den Umgang mit nicht numerischen Reihen lernen, z. B. indem sie Gegenstände nach der Größe ordnen und Begriffe wie kleiner/größer, mehr/weniger, anwenden. Diese beiden Auffassungen prägten auch über viele Jahrzehnte die Diskussion innerhalb der Mathematikdidaktik über den ‚richtigen‘ Weg zur Anbahnung und Vermittlung des Zahlbegriffs bei Kindern. Die jeweiligen Vertreter dieses Methodenstreits lassen sich auf Grund der beiden skizzierten Zahltheorien in die ‚Anschauungsmethodiker‘ und ‚Zählmethodiker‘ unterteilen (Radatz & Schipper, 1983, S. 37). Die Anschauungsmethodiker gingen davon aus, dass die Zahlvorstellung sich durch die Abstraktion aus der Anschauung ergibt. Die Zahlen sind durch unmittelbare Anschauung zu erzeugen, entweder über eine simultane Erfassung der Gesamtmenge oder über geeignete, strukturierte Anschauungsbilder für die jeweiligen Mengen. Demgegenüber argumentierten die Zählmethodiker, dass die Zahl durch geistige Tätigkeit und nicht bloß durch sinnliche Wahrnehmung erzeugt wird. Durch die Tätigkeit des Zählens gelangt das Kind zur Zahl. Die Zahl wird dann sukzessiv erfasst und allmählich verinnerlicht das Kind die Einsicht, dass jede Zahl einen bestimmten Platz in einer Reihe hat.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die nachfolgenden Zählprinzipien spiegeln sowohl erkenntnistheoretische als auch kulturhistorische und entwicklungspsychologische Aspekte wider. Nach Stern (1998a) gründet sich unsere Zählfertigkeit auf fünf funktionale Prinzipien: 1. Prinzip der Eindeutigkeit: Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Objekt und Zahlsymbol, d. h. jedem Objekt wird genau ein Zahlwort zugeordnet. 2. Prinzip der stabilen Ordnung: Stabile Reihenfolge der Zahlsymbole und Zahlenwörter. 3. Prinzip der Irrelevanz der Anordnung: Irrelevanz der Reihenfolge, in der die Objekte gezählt werden, d. h. man kann an jeder beliebigen Stelle in der Reihe zu zählen beginnen. 4. Prinzip der Abstraktion: Abstraktion des Zählvorganges, d. h. Generalisierung des Zählens auf alle Bereiche, auf beliebige Objekte. 5. Kardinalzahlprinzip: Die Mächtigkeit der Menge wird durch Zählen ermittelt und die zuletzt genannte Zahl des Zählvorganges determiniert die Anzahl der Elemente. (Stern, 1998a, S. 55) Als psychologisch orientierter Zugang zur Mathematikdidaktik spielen die Untersuchungen von Piaget und Szeminska (1965) eine wichtige Rolle innerhalb der Diskussion um das Wesen der Zahl und um die Zahlbegriffsentwicklung beim Kind. Trotz aller Kritik an Piagets Theorie, seinen Untersuchungsmethoden und seiner Interpretation der Ergebnisse ist durch seine Forschung der Streit zwischen den gegensätzlichen Positionen von ‚Anschauern‘ und ‚Zählern‘ bzw. zwischen Vertretern der Kardinalzahltheorie und der Ordinalzahltheorie weitgehend aufgehoben. Ausgehend von der theoretisch nicht nachweisbaren Priorität des kardinalen bzw. des ordinalen Aspektes einer Zahl versucht Piaget, sich empirisch dieser Frage zu stellen. Ein wichtiges Ergebnis seiner Untersuchungen ist, dass der Zahlbegriff als abstrakter Begriff eben erst dann vollständig entwickelt ist, wenn die Synthese beider Zahlaspekte erfolgt. Erst die Abstraktionen von den Handlungen der Seriation und der Klassifikation zusammen charakterisieren, dass ein Kind über den Zahlbegriff verfügt (vgl. 25.1.1, Das Wesen der Zahl und die Theorie des Zahlbegriffs). Mit dieser Auffassung koppelt Piaget den logischen mit dem psychologischen Zugang zum Zahlverständnis: Die Hypothese, von der wir ausgegangen sind, ist selbstverständlich die, dass dieser Aufbau [der des Zahlbegriffes] mit der Entwicklung der Logik selbst in Korrelation steht und dass dem vorlogischen Niveau ein vornumerischer Zeitabschnitt entspricht. Und als Ergebnis zeigte sich, dass der Zahlbegriff sich tatsächlich Schritt für Schritt entwickelt, in enger Verbundenheit mit der stufenweisen Erarbeitung der InklusionsSysteme (Hierarchie der logischen Klassen) und der asymmetrischen Relationen (Qualitative Serienbildung), wie die Zahlenfolge sich auf diese Weise als operatorische Synthese der Klassenbildung und der Reihenbildung entwickelt. (Piaget & Szeminska, 1965, S. 10) Entsprechend seiner Stufen- bzw. Stadientheorie sowie dem Modell der Äquilibration über die Teilprozesse Akkomodation und Assimilation beschreibt Piaget die Zahlbegriffentwicklung als hierarchische Entwicklung der beiden Operationen Seriation und Klassifikation (eine prägnante und gut verständliche Einführung zur Entwicklungstheorie von Piaget findet sich bei Moser Opitz (2001)).
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Folgende Entwicklungsstadien, die letztlich in ihrer operatorischen Synthese zum Zahlbegriff führen, lassen sich unterscheiden: 1. Globales Stadium: Einsichten sind abhängig von Wahrnehmung (äußerer Merkmale wie Farbe, Form, Größe, räumliche Anordnung). 2. Erkenntnisse auf anschaulicher Ebene ohne dauerhaften Charakter, Übergangs‑, Erarbeitungsphase: Entscheidungen sind gebunden an äußere Bedingungen, z. B. die Aufgabenstellung seitens des Lehrers; Vorerfahrungen der Kinder; dem Beliebtheitsund Bekanntheitsgrad der Gegenstände und Handlungen. 3. Operatorisches Stadium: Entscheidungen sind unabhängig von äußeren Formen/ Wahrnehmungen. Wenngleich Kardinal- und Ordinalzahlaspekt das Wesen der Zahl charakterisieren, werden zudem die folgenden Bedeutungsaspekte der Zahl unterschieden, die die kulturelle Entwicklung unserer hoch differenzierten und informationsbeladenen Gesellschaft widerspiegeln: – Codierungsaspekt: Ohne numerische oder arithmetische Bedeutung werden bestimmte Informationen mittels Zahlwörtern und -symbolen verschlüsselt (Telefonnummern, TV-Kanäle, PIN-Nummer usw.). – Operatoraspekt: Das Vielfache eines Vorganges wird beschrieben („Ich muss noch viermal schlafen.“; „Wir lesen den Text zweimal.“). – Maßzahlaspekt: Zahl als Maßzahl für Größen, z. B. ¼ Liter; ½ Stunde, 7 Tage, 5 Jahre. – Rechenaspekt: Zahl als Ergebnis von Verknüpfungsoperationen, z. B. ‚fünf und fünf sind zehn‘. Die Kenntnis dieser Zahlaspekte spielt als subjektive Lernvoraussetzung eine große Rolle. Kinder sammeln die unter diesen Aspekten benutzten Zahlwörter und wenden sie kontextgebunden, abhängig von der individuellen Entwicklung und von Vorerfahrungen, an. Gerade für die Kinder in der Vor- und Grundschulzeit bedeutet der Umgang mit Zahlen einen Schritt in die Welt der Erwachsenen, in der Zahlwörter in unendlicher Vielzahl benutzt werden und häufig einen „objektiven“ Eindruck vermitteln. Die Erfahrungen und Interessen der Kinder sind zu erfassen und zu nutzen, indem der situative Gebrauch im Hinblick auf den Kontext und die jeweiligen Zahlaspekte analysiert wird. 25.1.3 Entwicklungssequenzen und Lernverläufe Mathematisches Wissen und auch den Zahlbegriff erwirbt das Kind im Laufe seiner kognitiven Entwicklung, beides sind demnach Ergebnisse eines Entwicklungsprozesses. Dieser Prozess umfasst die ersten Lebensjahre und gilt mit dem Ende der Kindheit und dem Beginn der Jugendphase im Wesentlichen als abgeschlossen. Trotz allgemeingültiger Erklärungsprinzipien und Theorien zum Lernen, sowie zur Entwicklung des mathematischen Wissens und des Zahlbegriffes, lassen sich äußerst unterschiedliche Entwicklungs- und Lernverläufe bei Kindern aufzeigen (Petermann, Niebank & Scheithauer, 2000; Schröder, 1993; van de Rijt, van Luit & Hasemann, 2000; u. a.). Dies liegt daran, dass Kinder bezüglich des Zahlbegriffes von Geburt an vielfältige
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| Teil VI: Schule und Unterricht Erfahrungen sowohl numerischer als auch nicht numerischer Art sammeln, beispielsweise beim Aufräumen, Tisch decken oder bei verschiedenen Spielen (Klatsch-, Reim-, Sing-, Abzähl-, Hüpfspiele u. a.). In all diesen Alltagssituationen begegnen Kindern sowohl natürliche als auch benannte Zahlen, Bruchzahlen und ganze Zahlen (z. B. zwei Stunden, ¼ Liter; 3,50 e, -8 o C). Bei diesen pränumerischen Erfahrungen werden dem Kind Teilaspekte des Zahlbegriffes bewusst. Diese stehen jedoch relativ zusammenhangslos nebeneinander und Beziehungen sowie Verknüpfungen untereinander werden – noch – nicht erkannt. All diese an soziale Situationen gekoppelten Erfahrungen enthalten in ihren Grundstrukturen grundlegende kognitive Operationen wie Seriation (eine Reihe, eine Ordnung herstellen), Klassifikation (Ordnungsmerkmale erkennen und anwenden) und Invarianz (Gleichmächtigkeit bzw. Erhalt der Gesamtmenge trotz unterschiedlicher räumlicher Anordnungen und/oder unterschiedlicher Qualitäten der Elemente erkennen). Lernen erfolgt in „subjektiven Erfahrungsbereichen“ (Begemann, 1997). Für den Bereich der Mathematikdidaktik wurde dies bereits von Bauersfeld (1983) herausgestellt. Auf Grund zahlreicher Analysen von Mathematikunterricht kam er zu dem Ergebnis, dass unsere menschlichen Erfahrungen in voneinander getrennten ‚Inhaltsbereichen‘ im Sinne von bereichsspezifischen Gedächtniseinheiten gesammelt werden. Diese sind dann als „subjektiver Kontext für lokales Handeln aktivierbar“ und umschließen „sowohl alle kognitiven als auch nicht-kognitiven Dimensionen des Handelns“ (Bauersfeld, 1983, S. 27). Daraus ergibt sich die Überlegung, welche kindlichen Alltagserfahrungen und -handlungen zum Zahlbegriff bzw. zu numerischen und arithmetischen Einsichten führen. Probst und Waniek (2003) werfen in diesem Zusammenhang die interessante Frage auf, ob es für das numerische Vorwissen im vorschulisch-familiären Erfahrungsraum spezifisch ungünstige Bedingungen geben kann? Analog zu Lernbedingungen im sprachlichen Bereich, hier speziell analog zur phonologischen Bewusstheit, sprechen sie von einer „numerischen Bewusstheit“: „Numerische Bewusstheit sei verstanden als Einstellung aus Aufmerksamkeit und Kompetenz für quantitative Sachverhalte im Alltag“ wie Zuordnungen, Mengenvergleiche, Reihen bilden, Abzählen usw. (Probst & Waniek, 2003, S. 71). Inwieweit die einzelnen Faktoren Einfluss auf die Zahlbegriffsentwicklung haben, lässt sich derzeit nicht genau sagen. Zumindest ist aber diesen individuellen Vorerfahrungen als Lernausgangslage bzw. als „Baustein des Rechnenlernens“ genügend Raum im Mathematikunterricht einzuräumen (Ricken, 2003, S. 347). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die generellen Entwicklungsetappen mathematisch relevanter Begriffe (Zahl-, Raum- und Zeitbegriff) mit den grundlegenden geistigen Operationen (Seriation und Klassifikation). Im Folgenden werden einige Untersuchungsergebnisse referiert, die die dargestellten, idealtypischen Verläufe der Zahlbegriffsentwicklung ausdifferenzieren. Eine breit angelegte Untersuchung zur Entwicklung des Zahlbegriffes legte Voigt (1983) vor. Innerhalb einer Längsschnittsstudie mit 105 Kindern im Alter von 5 bis 7 Jahren, die er mit Aufgaben aus dem Bereich der Kardination (einschließlich konkreter Mengenvergleich durch Zählen und eineindeutiger Zuordnung), der Ordination, der Klassifikation und des Zahlbegriffs konfrontierte, stellte er folgende entwicklungsrelevante Aspekte fest: Alle Aufgaben zum Mengenvergleich über Zählen und Zuordnen werden im 5. Lebensjahr weitgehend beherrscht. Dabei greifen die Kinder auf flexible, individuell
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Tabelle 1: Überblick über die Entwicklungsetappen mathematisch relevanter Begriffe (Zahl, Raum und Zeit) Lebensalter
Zahlbegriff
Raumbegriff
Zeitbegriff
0–2 Jahre
senso-motorische Erfahrungen
toplogische Qualitäten; Bewegung im Raum
unbewusste RaumZeit-Erfahrungen; Zeit an unmittelbare Aktion gebunden
2–5 Jahre
einfache Klassifika tion und Seriation
einfache euklidische Beziehungen; Entwicklung mentaler statischer Bilder
Ordnung zwischen Raum und Zeit gebunden an einzelne Handlung; Zeit als lineares Geschehen; einfaches Verständnis für zeitliche Sukzession, Dauer und einfache Seriation
6/7 Jahre
multiple Seriation oder Kardination
einfache projektive Beziehungen; Bilder können manipuliert werden
Herstellen zeitlicher Reihenfolgen auf Grund von Erinnerungen
8/9 Jahre
Kardinalzahl oder multiple Seriation
komplexe euklidische Beziehungen
Herstellen zeitlicher Reihenfolgen als strategische, gedächtnisunabhängige Leistung
ab 10 Jahre
multiple Klassifika tion oder Ordinalzahl
multiple projektive Beziehungen
operationaler und reversibler Raumund Zeitbegriff
sehr unterschiedliche Strategien zurück wie z. B. die Entscheidung über die rein äußere Wahrnehmung („Dies sieht mehr aus“), das Abzählen, Korrespondenzbeziehungen („Da fehlt eins, da ist eins übrig“) oder auch allgemeine Erklärungen wie „Das weiß ich, weil ich nachgedacht habe.“ Die Mengenvergleiche gehen der Zahlinvarianz voraus. Als Strategie benutzen die Kinder kardinale Vergleiche, d. h. über das Auszählen der einzelnen Teilmengen wird die Unterschiedlichkeit bzw. die Gleichheit der Mengen ermittelt. Das Abzählen hat hier eine vermittelnde Funktion, die Funktion eines „repräsentationalen Verhaltens“ für das Wissen über Zahlen selbst (Voigt, 1983, S. 291). Im Gegensatz zu Piaget, der das Zählen als nichtnumerische, nichtquantitative Strategie beschreibt, geht Voigt davon aus, dass das Zählen selbst schon eine Kategorie ‚zählbare Einheiten‘ voraussetzt, d. h. Zählen setzt ein begriffliches Verständnis auf elementarster Ebene voraus (Voigt, 1983, S. 292). Die Zahlinvarianz und das abstrakte Konzept der Kardination entwickeln sich scheinbar parallel. Ein eindeutiges Ergebnis für die Rangfolge von Ordination, Kardination und Zahlinvarianz lässt sich nicht ableiten (Voigt, 1983, S. 375). Voigts Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der konkreten Versuchsanordnung, denn abhängig von der Fragstellung, dem Untersuchungskontext und dem Bekanntheits-
580
| Teil VI: Schule und Unterricht grad der verwendeten Materialien ergeben sich Rückschlüsse auf unterschiedliche, denkbare Entwicklungsverläufe: „Bei der Wahl strengerer Aufgabenkriterien – nämlich einer angemessenen Erklärung der Lösungsstrategie in den Ordinationsaufgaben – verschwindet der Entwicklungsunterschied zwischen Zahlinvarianz und den beiden Ordinationsaufgaben. Bei der Wahl konservativerer Aufgabenkriterien sprechen die Untersuchungsergebnisse demnach für eine parallele Entwicklung von Seriation, Transitivitätsaufgaben und Zahlinvarianz“ (Voigt, 1983, S. 242). Alle Teilergebnisse legen die Hypothese nahe, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen den konkreten numerischen Fertigkeiten und der Zahlinvarianz besteht. Dabei zeigt sich, dass die Entwicklungsabfolge von Ordination und Zahlinvarianz von den gewählten Aufgabenkriterien abhängt. Für einfachere Aufgaben zur Ordination bzw. weniger strenge Bewertung der Leistung findet sich eine zeitliche Priorität des Konzeptes der Ordination: Für schwierigere Aufgabenstellungen wird eine parallele Entwicklung von Zahlinvarianz und Ordination beobachtet. Außerdem findet sich eine zeitliche Priorität von Piagets Seriationsaufgaben gegenüber der Zahlinvarianz, jedoch keine eindeutig interpretierbare Entwicklungsbeziehung zwischen Transitivitätsaufgaben und Zahlinvarianz. Auch spätere Untersuchungen revidieren die Annahme, dass eine Homogenität der einzelnen Stufen vorliegt und stellen eine veränderte Entwicklungsabfolge fest (Wember, 1986; zur Oeveste, 1987). Die wesentlichen Ergebnisse sind folgende: – Die Ordination entwickelt sich vor der Kardination. – Ordinalzahlaspekte werden früher erworben als einfache Formen der Addition und Subtraktion. – Kinder können Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10 lösen, bevor sie die Kardination verstehen.
4-5 Kardinalzahl (Addieren/Subtrahieren)
Zahlwortreihe 3-4 2
5-6 8
?
Zählzahl (Addieren/Subtrahieren) 6
6?
3 Ziffern
Ordnungszahl Maßzahl
3
Codierungsaspekt
Abbildung 2: Entwicklung der Beziehungen zwischen den einzelnen Zahlaspekten entsprechend dem Lebensalter (Hasemann, 2003; S. 69)
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 581
– Bei einem Training des Kardinal- und des Ordinalzahlaspekt bewirkt das ordinale Training einen größeren Zuwachs in den arithmetischen Fertigkeiten (Moser Opitz, 2001, S. 58). – Es führen verschiedene Entwicklungswege zum Zahlbegriff (zur Oeveste, 1987). Im Rückgriff auf Fuson (1988) erläutert Hasemann die Entwicklung des Zahlgriffes vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen den einzelnen Zahlaspekten: Der Abbildung ist u. a. zu entnehmen, dass Kinder die Beziehung zwischen der Zähl- und der Kardinalzahl schon recht früh, im 3. bzw. 4. Lebensjahr, erfahren. Mit vier bis sechs Jahren wird das Vorwärts- und Rückwärtszählen als geeignete Lösungsstrategie für Additions- und Subtraktionsaufgaben erkannt. Der Zusammenhang zwischen der Zählund der Ordinalzahl wird mit ungefähr 6 Jahren erkannt, die Beziehungen zwischen Kardinal- und Ordnungszahlen entwickeln sich erst später, ca. mit dem 8. Lebensjahr. Insgesamt macht auch diese Entwicklungsübersicht deutlich, dass das Zählen vermutlich fundamentale Bedeutung bei der Entwicklung des Zahlbegriffes hat (Hasemann, 2003, S. 68 f.). 25.1.4 Zur Bedeutung des Zählens Eng mit der Zahlbegriffsentwicklung verbunden ist die Handlung des Zählens. Dieser scheinbar so einfache Vollzug beinhaltet eine Vielzahl unterschiedlicher unterrichtsrelevanter Aspekte, die hier kurz diskutiert werden sollen. Bei Piaget ist die Zahlwortreihe bzw. die Handlung des Zählens selbst eine vernachlässigte Größe. Die Handlung des Zählens besitzt seiner Meinung nach vor der Existenz des Zahlbegriffs noch keinen operativen Charakter, da sie nicht gegenstandsund situationsunabhängig, nicht universell und nicht reversibel ist. Kinder erwerben den Zahlbegriff erst, wenn ihr Denken die konkret-operationale Stufe erreicht hat. Das synthetische Zusammendenken von Klassifikation und Ordnungsrelationen gelingt auf früheren Entwicklungsstufen nicht. Damit überhaupt sinnvoll mit Zahlen gearbeitet werden kann, müssen alle notwendigen logischen Operationen auf der konkret-operationalen Stufe vollzogen werden können. In der präoperativen Phase haben die Kinder noch kein Bewusstsein dafür, dass beim Zählen immer die gleiche Zahl heraus kommen soll. Das Zählen hat in dieser Phase noch keinen arithmetischen Sinn, sondern ist lediglich eine Abzählhandlung. Neuere Untersuchungen relativieren diese Aussagen und messen dem Zählen grundlegende Bedeutung beim Erwerb des Zahlbegriffs sowie beim Erlernen einfacher Additions- und Subtraktionsaufgaben bei. Die Zahlwortsequenz dient als ‚Werkzeug zur Repräsentation‘ (Fuson, 1981, zitiert nach Voigt, 1983). Das Verständnis des Kindes für die inneren Ordnungsbeziehungen in der Zahlwortreihe (der natürlichen Zahlen) lässt sich durch folgende, aufeinander folgende Niveaus abbilden: 1. Ganzheitsauffassung der Zahlwortreihe: Die Zahlwortreihe wird als undirektionale Ganzheit aufgefasst und wie ein Lied, ein Gedicht rezitiert. Die Zahlwörter werden dabei z. T. noch nicht voneinander unterschieden. Die Elemente werden nicht gezählt und die Zahlwörter haben keine kardinale Bedeutung.
582
| Teil VI: Schule und Unterricht 2. Unflexible Zahlwortreihe: Die Zahlwörter werden als Einheit aufgefasst. Die Kinder können die Zahlwortreihe aufsagen, müssen aber immer wieder bei Eins anfangen, eine beliebige Zahl kann nicht als Ausgangspunkt genutzt werden. Vorgänger und Nachfolger können nur benannt werden, indem das Kind sie innerhalb der Zahlreihe zu bestimmen versucht. Eine Eins-zu-Eins-Korrespondenz zwischen Zahlwort und Element kann hergestellt werden. Die Kinder können durch Zählen eine bestimmte Anzahl Elemente bestimmen, z. B. „Gib mir drei“. 3. Teilweise flexible Zahlwortreihe: Die Zahlwortreihe kann von einem beliebigen Zahlwort aus aufgesagt, Vorgänger und Nachfolger können unverzüglich benannt werden. Das Rückwärtszählen gelingt nur zum Teil. 4. Flexible Zahlwortreihe: Jedes Zahlwort wird als Einheit betrachtet. Von jeder Zahl aus kann eine bestimmte Anzahl von Schritten weiter gezählt werden: „Zähle von 14 aus drei Schritte weiter.“ 5. Vollständig reversible Zahlwortreihe: Es kann von jeder Zahl aus vorwärts und rückwärts gezählt werden. Richtungswechsel erfolgen schnell und ohne Schwierigkeiten; Vorgänger und Nachfolger einer Zahl können unverzüglich benannt werden. (Fuson, 1988, zitiert nach Moser Opitz, 2001, S. 86) Bezüglich der Zählkompetenzen lassen sich für Schulanfänger folgende Fähigkeiten benennen (Schmidt, 2003, S. 32): – Mindestens bis 10 (15 bzw. 20) können 96,8 % (84,3 % bzw. 70 %) der Schüler die Zahlwortreihe aufsagen. – 78 % der Kinder können alle 10 Ziffern lesen; 89,2 % noch acht Ziffern. Ca. 1/3 der Kinder kann auch zweistellige Zahlen korrekt lesen. – Beim Ziffernschreiben treten häufig Spiegelverkehrungen auf; bei zweistelligen Zahlen werden häufig Einer und Zehner verwechselt. Stern (1998b) ermittelte folgende themenrelevante Fähigkeiten der Kinder: 1. Bezüglich der Zahlinvarianz beantworteten 10 % der Kinder im Alter von 3 – 4 Jahren die Fragen korrekt; im Alter von 5 – 6 Jahren bereits die Hälfte. 2. Mit der Quantifizierungsaufgabe (für acht zufällig angeordnete Holzklötze sollte die Anzahl angegeben werden, ohne zu zählen) konnten in der Gruppe der 5 – 6 Jährigen 30 % der Kinder die Anzahl richtig ermitteln. 3. Bereits im Vorschulalter (zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr) können Kinder kleinere Mengen korrekt zählen. Die Quantifizierung spielt bei der Verarbeitung von Informationen noch eine untergeordnete Rolle, andere Dimensionen, wie die Qualität der Gegenstände und deren räumliche Anordnung, haben eine größere Priorität (Stern, 1998b, S. 100 f.). 4. Die in Kapitel 25.1.2 benannten Zählprinzipien berücksichtigen Kinder etwa ab dem 4. Lebensjahr (Stern, 1998a, S. 55). Mit diesen Ergebnissen bekommt das Zählen im Mathematikunterricht eine andere Bedeutung. Der Zählfähigkeit der Schüler ist im Sinne individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten größere Aufmerksamkeit zu schenken und Zählübungen sind verstärkt in den Unterricht einzubinden. Es ist aber zu beachten, dass diese Zählfähigkeiten nicht den operatorischen Charakter der Zahl ersetzen, sondern vor allem den Zusammen-
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hang zwischen der elementaren Stück-für-Stück-Zuordnung und den entsprechenden Begriffen (Zahlennamen) und Zeichen/Ziffernsymbolen thematisieren (Wember, 1989, S. 439). Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich vermutlich durch den synonymen Gebrauch von Kompetenz und Performanz der Zahl erklären, denn durch das Erlernen rechnerischer Fähigkeiten entwickeln sich zahlrelevante kognitive Strukturen. Es wird folglich immer Kinder geben, die auch ohne Zahlinvarianz das Rechnen erlernen, es bleibt jedoch offen, inwieweit dieses Rechnen operativ abgesichert, beweglich und ausbaufähig ist. Eine der wenigen Untersuchungen zur Zahlbegriffsentwicklung bei Schülern an Förderschulen (Lernbehindertenschulen) legten Schulz, van Bebber und Moog (1998) vor. Sie stellten bei Schülern der zweiten und dritten Klasse einer Förderschule (n = 41) folgende Fähigkeiten und Fertigkeiten heraus: – Das Vorwärtszählen (bis 15) wurde von allen Schülern fehlerfrei beherrscht. – Beim Rückwärtszählen (ab 10) blieben 76 % aller Probanden fehlerlos, alle anderen ließen Zahlen aus oder wechselten die Zählrichtung. – Rückwärtszählen von verschiedenen Startzahlen aus wurde von 73 % aller Schüler ohne Fehler bewältigt. – Die Mächtigkeitsbestimmung beim Zählen von Elementen wurde von keinem Probanden fehlerfrei bearbeitet. – Die Menge-Zahl-Zuordnung beherrschten 66 % aller Schüler fehlerfrei. – Die Bennennung der Vorläufer- und Nachfolgerzahlen wurde von 61 % aller Schüler fehlerfrei bewältigt. – Die Bestimmung von Zahllücken erwies sich für 59 % aller Schüler als problemlos. – Der Mächtigkeitsvergleich zweier Mengen wurde nur von ca. 27 % aller Schüler fehlerfrei bewältigt. – Die Seriation von Mengenkarten wurde von 54 % aller Schüler ohne Fehler bewältigt. – Das Bestimmen der größeren bzw. kleineren zweier verbal vorgegebener Zahlen bereitete 63 % keine Probleme. Das Zählen als kompetente Strategie hat somit große Bedeutung für den Aufbau des Zahlbegriffes und den Erwerb arithmetischer Strukturen. Es sollte mit vielfältigen Übungen zum Ordnen, Vergleichen und Gliedern von Anzahlen/Mengen verknüpft werden, um ein ausschließlich abzählendes Rechnen zu vermeiden, denn die Zählmethode zeigt nur Anfangserfolge und kurzzeitige Lernvorsprünge. Für ein weiterführendes, flexibles Rechnen z. B. bei Platzhalteraufgaben, beim Ableiten der Zahloperationen aus Textaufgaben und beim Aufbau des dekadischen Positionssystems mit Bündelungsstrukturen, birgt das rein zählende Rechnen Probleme (Lorenz & Radatz, 1993), weil darüber hinaus simultane, kardinale Vorstellungen sowie Zerlegungen in Teilmengen notwendig sind (Probst & Waniek, 2003, S. 74). Der rechnerische Umgang mit Zahlen kann die Zahlbegriffsbildung fördern und unterstützen, d. h. im Unterricht ist das Zahlenrechnen auch ohne abgeschlossene Zahlbegriffsentwicklung sinnvoll (Wember, 2003, S. 62). Das Zählen selbst jedoch führt nicht zu Mengen- und Mächtigkeitsvorstellungen und begünstigt daher die für große Zahlenräume uneffektive Strategie des zählenden Rechnens bzw. des Fingerrechnens.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 25.1.5 Diagnostik und Intervention Alle referierten Untersuchungsergebnisse sprechen für einen entwicklungsorientierten Zugang sowohl bei diagnostischen Fragen als auch bei der Anbahnung und Förderung des Zahlbegriffs beim Kind. Die Zahlbegriffsentwicklung sollte daher nicht erst beim Schuleintritt sondern bereits im Kindergarten- bzw. Vorschulalter thematisiert werden. Das Vorwissen der Kinder, das äußerst unterschiedlich sein kann, gilt es zu nutzen, indem Anknüpfungspunkte und Ansatzpunkte für die Entwicklung des Zahlbegriffes gesucht werden. Nachfolgend werden vier verschiedene Verfahren zur Diagnose und Förderung des Zahlbegriffes skizziert. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit favorisieren alle Verfahren eine entwicklungsorientierte Sichtweise und sind förderdiagnostisch orientiert. Die Ergebnisse aus diesen Untersuchungen sollen eine entwicklungsorientierte, individuelle Lernstandsermittlung und Lernbegleitung ermöglichen. Diese Verfahren bieten zahlreiche Anhaltspunkte für eine individuelle, lernbegleitende Diagnose und Förderung des Zahlbegriffs. Mit Hilfe der Strukturbezogenen Aufgaben zur Prüfung mathematischer Einsichten von Kutzer und Probst (ohne Jahr) werden der aktuelle Lernstand bzw. die individuellen Lernvoraussetzungen des Kindes ermittelt. Anhand dieses Einzeltests lassen sich die mathematischen Einsichten, angefangen von der Unterscheidung der Eigenschaften von Objekten bis hin zur Zahlenoperation im Zahlenbereich bis 10, erfassen. Die strukturbezogenen Aufgaben sind konzipiert für Kinder in der Vorschule, im Kindergarten sowie in der 1. oder 2. Klasse der Grundschule, für Kinder der Lernbehindertenschule von der 1. bis zur 4. Klassenstufe sowie für entwicklungsrückständige Kinder ab der Altersstufe 6. Sie umfassen zwölf Basisaufgaben mit ansteigender Komplexität. Für den pränumerischen Bereich und den Bereich der Zahlbegriffsentwicklung sind Aufgaben aus folgenden Bereichen vorgesehen: 1. Gegenstände und ihre Eigenschaften 2. Mengen als Zusammenfassungen von Gegenständen bestimmter Eigenschaften 3. Voraussetzungen der Beurteilung der Mächtigkeit und Mächtigkeitsrelationen von Mengen 3.1 Herstellen von Stück-für-Stück-Zuordnungen 3.2 Invarianz 3.3 Repräsentanz 3.4 Klassifikation 3.5 Seriation 4. Mengen und Zahlen 5. Mengen und Zahloperationen 5.1 Mengenoperationen 5.2 Mengenoperationen – Zahlenoperationen 5.3 Zahloperationen Begleitend zur Testdurchführung wird ein Protokoll angefertigt – jeder untersuchte Bereich wird durch die Einschätzung ‚erfüllt – nicht erfüllt‘ beschrieben – anhand dessen eine Bestandsaufnahme der (prä-)numerischen Kenntniselemente ohne quantifizierende Testwerte erfolgt. Eine Bezugsgruppennormierung liegt nicht vor, da mit Hilfe des Tests
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der individuelle Lernstand des Schülers und mögliche Fördermaßnahmen festgestellt werden sollen. Die Ergebnisse dieses Tests gehen über Aussagen bezüglich rein schulischer, rechnerischer Fertigkeiten des Kindes hinaus, denn sie erfassen wesentliche entwicklungspsychologisch notwendige (aber nicht hinreichende) Einsichten für den Erwerb mathematischer Kenntnisse und Fertigkeiten. Mit Hilfe der Testergebnisse ist eine Einordnung der Schülerleistung entsprechend einem Entwicklungsmodell mathematischen Denkens möglich, das dem Test und einer Serie von Schulbüchern zugrunde liegt, eindeutige Aussagen zu den tatsächlichen individuellen Lösungsstrategien lassen sich jedoch nicht abgeben. Die Resultate der Überprüfung liefern durch die Kombination mit dem Mathematikbuch Mathematik entdecken und verstehen (Kutzer, 1983) konkrete Hinweise zur weiteren Arbeit mit dem Schüler. Die thematische Abfolge im Lehrwerk orientiert sich jedoch ausschließlich an der Sachstruktur des Gegenstandes. Vorerfahrungen der Schüler aus anderen Bereichen, z. B. mit größeren Zahlen bzw. im Umgang mit additiven und multiplikativen Rechenverfahren, wie sie im Alltag häufig verwendet werden, finden keinerlei Berücksichtigung. Aus den Materialien sind vor allem die Übungsvarianten zu empfehlen, die die Zahl als Beziehungsbegriff aufgreifen. Die Zahl wird definiert über das Zusammenspiel des Klassenbegriffs (Zahlennamen, Repräsentanz und Invarianz, Zuordnungen, Eigenschaften) und des Beziehungsaspekts (Reihenbildung und Inklusion/Teilmengenbildung). Diese Beziehungsverflechtung soll die Synthese der beiden Operationen, Seriation und Klassifikation provozieren, z. B. über Alltagssituationen wie Dosen werfen, das Kegelspiel, Kerzen auspusten, Dominosteine in Form einer Kettenreaktion umwerfen u. a. All diese Alltagssituationen beinhalten die Menge als Ganzheit und deren Zerlegung in unterschiedliche Teilmengen. Einerseits unterstützt dieses die Einsicht in die Invarianz, andererseits lässt sich die Teilmengenzerlegung als reversibles Geschehen mathematisch durch jeweils zwei Additions- und zwei Subtraktionsaufgaben beschreiben. In Anlehnung an den Zahlbegriff nach Kutzer (1983) entwickelten König und Ebert (2001, o. S.) ein qualitatives Prüfverfahren: „Bei der Zahlbegriffsentwicklung handelt es sich um eine komplexe Oberbegriffsbildung. Um mit Zahlen einsichtsvoll operieren zu können, müssen vielschichtige Einsichten aus dem Bereich der Reihen- und Gruppenbildung sowie den Mengenvergleichen miteinander verknüpft und auf unterschiedliche Sachbezüge übertragen werden.“ Übungen zu den von ihnen genannten Teilbereichen werden in unterschiedlichen Alltagsbezügen, auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus und in unterschiedlichen sachstrukturellen Komplexitätsanforderungen angeboten, wie die folgenden Beispiele zeigen: – Reihenbildung: Zeitabfolgen erkennen, – Zählfähigkeiten: abzählen, weiter zählen, rückwärts zählen, in Schritten zählen, – Mengenvergleiche: Stück-für-Stück-Zuordnung, Invarianz, – Gruppenbildung: Raumlage erkennen, Kategorien bilden, Klassifikation nach Anzahl, Teil-Ganzes-Beziehung. Auf Grund der äußerst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler wird nicht von einem hierarchischen Ablauf in den einzelnen Bereichen ausgegangen, sondern von einer individuell bedingten Verzahnung zwischen Niveau und Komplexität. Mit Hilfe eines so verstanden Sachstrukturgitters wird angestrebt, die aktuelle Leistung des Schü-
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| Teil VI: Schule und Unterricht Repräsentationsniveau Symbol Sprache mittelbare Anschauung unmittelbare Anschauung Handlung
Reihenbildung
Mengenvergleiche/ Invarianz
Gruppenbildung
Abbildung 3: Lernstrukturgitter zur Zahlbegriffsentwicklung nach König und Ebert, (2001; in Anlehnung an Kutzer, 1983)
lers festzulegen und die nächstmöglichen Lern- und Entwicklungsschritte abzuleiten und didaktisch-methodisch vorzubereiten. Als ein Förderprogramm für das Erlernen von bzw. den Umgang mit Mengen und Zahlen entwickelten Moog und Schulz (1999) den Dortmunder Rechentest für die Eingangsstufe (DORT-E) und das Dortmunder Zahlbegriffstraining (ZBT). Der Test ist zum Trainingsprogramm inhaltsanalog und soll daher zur Indikation für den Einstieg in das Zahlbegriffstraining auf einer angemessenen Anforderungsstufe sowie zur Lernerfolgskontrolle eingesetzt werden. DORT-E und ZBT haben das Ziel, die individuellen Einsichten des Schülers beim Umgang mit Zahlen prozessdiagnostisch offen zu legen und die Kinder von anschauungsgebundenen Rechenstrategien wegzuführen. Der DORT-E testet und der ZBT fördert die Bereiche Zählfertigkeiten, Mengen- und Zahlrelationen, Mengenoperationen und numerisches Rechnen im Zahlenraum bis 20. Der DORT-E ist ein informeller Einzeltest, bestehend aus 3 Subtests mit je 33 Aufgaben. Er wird von einem Testleiter und einem Protokollanten durchgeführt. Die Überprüfung erfolgt meist in alltagsnahen Kontexten und auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen (konkret-gegenständlich, bildlich und abstrakt-symbolisch). Um die individuellen Einsichten und Vorstellungen in mathematische Zusammenhänge und Lösungsprozesse offen zu legen, werden die Lösungswege protokolliert. Dazu stehen standardisierte Protokollbögen zur Verfügung, auf denen die Lösungen, Verhaltensbeobachtungen und Explorationsergebnisse zur Rechenstrategie notiert werden. Es kann nachgefragt, die Aufgabe variiert und ggf. ein diagnostischer Dialog geführt werden.
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Als informeller Einzeltest gibt das Verfahren einen ersten Überblick über die Fähigkeiten des Probanden bezüglich der Bereiche Zählfertigkeiten, Mengen- und Zahlrelationen, Mengenoperationen und numerisches Rechnen im Zahlenraum bis 10. Für die Prozessdiagnostik ist anzumerken, dass laut Manual immer derselbe Test als Re-Test durchgeführt werden soll. Im Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ) (Van Luit, van de Rijt & Hasemann, 2001) werden acht Komponenten des frühen Zahlbegriffs unterschieden und operationalisiert: – Vergleichen: Beherrschung von Begriffen als Voraussetzung für die Bildung mathematischer Ordnungsbegriffe und -relationen, – Klassifizieren: Zusammenfassung bzw. Differenzierung von Objekten auf Grund von Übereinstimmungen, – Eins-zu-Eins-Zuordnen: Vergleich der Mächtigkeit von Mengen, – Nach Reihenfolge ordnen: Erkennen einer korrekten Anordnung, – Zahlwörter benutzen: vorwärts und rückwärts zählen, weiter zählen, Verwendung von Kardinal- und Ordinalzahlen, – Synchrones und verkürztes Zählen: Abzählen, verkürztes Zählen unter der Verwendung der Zahlbilder beim Würfel, Abzählen von Quantitäten, – Resultatives Zählen: Zählen von strukturierten und unstrukturierten Quantitäten und – Anwenden von Zahlenwissen auf einfache Problemsituationen, Verwendung der Zahlen bis 20 in Alltagssituationen. Der Test ist konzipiert für Kinder im Alter von etwa 5 bis 7 ½ Jahren, d. h. für Kindergarten-, Vorschulkinder und Schulanfänger. Die Kinder sollen die vierzig vorgegeben Aufgaben in der vorgegebenen Reihenfolge vollständig bearbeiten. Das Gesamtergebnis des Testes führt zu einem Kompetenzergebnis, das mittels Normtabellen in Bezug zur Altersgruppe gesetzt werden kann, indem ein Prozentrang ermittelt wird. Fünf Kompetenzen bzw. Niveaus (von A bis E) werden über Prozentränge definiert, von Niveau A (gut bis sehr gut, das Kind gehört zu den besten 25 % seiner Altersgruppe) bis zu einem schwachen bis sehr schwachen Niveau E (Das Ergebnis des Kindes gehört zu den 10 % der schlechtesten seiner Altersgruppe; vgl. van Luit et al., 2001, S. 27). Durch Wiederholung in bestimmten zeitlichen Abständen kann der intraindividuelle Lernfortschritt eines Kindes innerhalb der einzelnen Bereiche beschrieben werden. Für eine nachfolgende Förderung sind die Ergebnisse aller acht einzelnen Bereiche heranzuziehen, so dass Rückschlüsse auf förderbedürftige Bereiche möglich sind. Neben diesen genannten Verfahren bietet sich für eine spontane Diagnostik die Beobachtung des Kindes beim Zählvorgang sowie im Umgang mit den Zahlwörtern an. Für die Interpretation beider Tätigkeiten sind die Zählprinzipien nach Stern (1998a; vgl. 25.1.2, Kardinalzahl und Ordinalzahl) sowie die Niveaustufen innerhalb des Erwerbs der Zahlwortreihe (Fuson, 1988 in Moser Opitz, 2001, vgl. 25.1.4, Zur Bedeutung des Zählens) sinnvoll. Da insgesamt nicht mehr von einer generell-gleichartigen Entwicklung des Zahlbegriffs bei allen Kindern auszugehen ist, bleibt als prinzipieller diagnostischer Zugang eine Analyse der Situation, in der der Schüler mit dem jeweiligen Sachverhalt konfrontiert wird (Fritz, 2003; Kornmann, 2003; Werner, 2003; Werning, Balgo, Palmowski & Sassenroth 2002; Wittoch, 2003). Dieser konstruktivistisch bzw. system-
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| Teil VI: Schule und Unterricht theoretisch orientierte Zugang geht davon aus, dass Lernprozesse nur in einer inneren Passung zwischen den Lernanforderungen des Gegenstandes, den angemessenen „Lernarrangements“ (Wittoch, 2003, S. 310) und den individuellen Lernvoraussetzungen des Schülers erfolgreich verlaufen. Diagnostische Fragen berücksichtigen demnach alle drei Bereiche als Bestimmungsmerkmale der Lernsituation. Ausgehend von den individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen werden die mathematische Sachverhalte so ausgewählt und didaktisch aufbereitet, dass deren Anforderungs- bzw. Sachstruktur beim Kind entsprechende Lösungs- und Entwicklungsmöglichkeiten provozieren. Zentral für diagnostische und didaktisch-methodische Entscheidungen sind drei Fragen: 1. Die Frage nach den sachstrukturellen Anforderungen des Gegenstandes selbst: Was verlangt die Aufgabe; über welche mathematischen Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten muss das Kind verfügen, um die Aufgabe lösen zu können? 2. Die Frage nach den Aneignungsstrukturen des Kindes: Über welche Lernvoraussetzungen bezüglich dieses Sachverhaltes verfügt der Schüler? 3. Die Frage nach der Eignung der didaktisch-methodischen Gestaltung: Mit welchen Anschauungsmitteln usw. hat der Schüler Gelegenheit, sich mit dem Sachverhalt auseinander zu setzen? (Werner, 2003, S. 240) Die hier zu Grunde gelegte Theorie sowie die referierten Entwicklungsprinzipien können dabei als Folie und Interpretationsmuster für die Analyse des Schülerverhaltens und eine konkrete Förderplanung genutzt werden. Praktische Anregungen und Materialien finden sich in einschlägigen Fachzeitschriften und bei Ellrott und Aps-Ellrott (1995), Moser Opitz (2001), Müller und Wittmann (1995) und Wember (1999).
Literatur Bauersfeld, H. (1983). Subjektive Erfahrungsbereiche als Grundlage einer Interaktionstheorie des Mathematiklernens und -lehrens. In H. Bauersfeld (Hrsg.), Lehren und Lernen von Mathematik (S. 1-56). Köln: Aulis. Begemann, E. (1997). Lebens- und Lernbegleitung konkret. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Behring, K., Kretschmann, R. & Dobrindt, Y. (1999). Prozessdiagnose mathematischer Kompetenzen in den Schuljahren 1 und 2 (Band 1-3). Horneburg a. d. Niederelbe: Persen. Case, R. (1999). Die geistige Entwicklung des Menschen. Von der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Heidelberg: Edition Schindele. Damerow, P. (1993). Zum Verhältnis von Ontogenese und Historiogenese des Zahlbegriffes. In W. Edelstein & S. Hoppe-Graf (Hrsg.), Die Konstruktion kognitiver Strukturen (S. 195-260). Bern: Huber. Ellrott, D. & Aps-Ellrott, B. (1995). Förderdiagnostik. Offenburg: Mildenberger. Fritz, A. (2003). Bedingungsvariationen und Fehleranalysen als Beobachtungszugänge zur Diagnostik arithmetischer Kompetenz. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 283 -308). Weinheim: Beltz. Fuson, K. C. (1988). Children’s counting and concepts of number. New York: Springer. Glasersfeld, E. von (1998). Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hasemann, K. (2003). Anfangsunterricht Mathematik. Heidelberg: Spektrum Kant, I. (1787). Kritik der reinen Vernunft. Köln: Könemann.
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König, H.-W. & Ebert, B. (2001). Qualitatives Prüfverfahren zum mathematischen Verständnis von Sachverhalten, den Grundlagen des Verstehens von Zahlen und von Rechenoperationen. Kronshagen: IPTS Landesseminar für Sonderpädagogik. Kornmann, R. (2003). Kommentar: Analysen von Rechenschwierigkeiten aus unterschiedlichen Perspektiven. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 248-259). Weinheim: Beltz. Kutzer, R. (1983). Mathematik entdecken und verstehen. Struktur- und niveauorientiertes Arbeitsbuch für den Mathematikunterricht (Bd. 1, Lehrer- und Schülerband). Frankfurt a. M.: Diesterweg. Kutzer, R. & Probst. J. (ohne Jahr). Strukturbezogene Aufgaben zur Prüfung mathematischer Einsichten. Marburg: Philipps-Universität. Lorenz, J. H. & Radatz, H. (1993). Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel. Luit, J. E. H. van, Rijt, B. A. M. van de & Hasemann, K. (2001). Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung. Göttingen: Hogrefe. Mähler, C., Hasselhorn, M. (1990). Gedächtnisdefizite bei lernbehinderten Kindern: Entwicklungsverzögerung oder Strukturdifferenz. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Band XXII, Heft 4 (S. 354-366). Göttingen: Hogrefe Moog, W. & Schulz, A. (1999). Zahlen begreifen. Diagnose und Förderung bei Kindern mit Rechenschwäche. Neuwied: Luchterhand. Moser Opitz, E. (2001). Zählen Zahlbegriff Rechnen. Theoretische Grundlagen und eine empirische Untersuchung zum mathematischen Erstunterricht in Sonderklassen. Bern: Haupt. Müller, G. & Wittmann, E. Ch. (1995). Mit Kindern rechnen. Hannover: Arbeitskreis Grundschule. Oeveste, H. zur (1987). Kognitive Entwicklung im Vor- und Grundschulalter. Eine Revision der Theorie Piagets. Göttingen: Hogrefe. Paturi, F. (1998). Harenberg Schlüsseldaten Entdeckungen und Erfindungen. Dortmund: Harenberg Lexikon. Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (Hrsg.) (2000). Risiken in der frühkindlichen Entwicklung. Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Göttingen: Hogrefe. Piaget, J. & Szeminska, A. (1965). Die Entwicklung des Zahlbegriffes beim Kinde. Stuttgart: Klett. Probst, H. & Waniek, D. (2003). Kommentar: Erste numerische Kenntnisse von Kindern und ihre didaktische Bedeutung. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 65-78). Weinheim: Beltz. Radatz, H. & Schipper, W. (1983). Handbuch für den Mathematikunterricht an Grundschulen. Hannover: Schroedel. Ricken, G. (2003). Entwicklungsorientierte Diagnostik am Beispiel mathematischer Kompetenzen. In G. Ricken, A. Fritz & Ch. Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 345-366). Lengrich: Pabst. Rijt, B. A. M. van de, Luit, J. E. H. van & Hasemann, K. (2000). Zur Messung der frühen Zahlbegriffsentwicklung. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 32 (1), 14-24. Schmidt, S. (2003). Arithmetische Befunde am Schulanfang – Befunde aus mathematikdidaktischer Sicht. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 26-47). Weinheim: Beltz. Schröder, E. (1993). Individuelle Konstruktion und kognitive Entwicklung: Eine Analyse der Veränderung intraindividueller Unterschiede. In W. Edelstein (Hrsg.), Die Konstruktion kognitiver Strukturen. Perspektiven einer konstruktivistischen Entwicklungspsychologie (S. 139-155). Bern: Huber. Schülerduden (1990). Mathematik I. Ein Lexikon zur Schulmathematik der Sekundarstufe I. Mannheim: Dudenverlag.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Schulz, A., Bebber, N. van & Moog, W. (1998). Mathematische Basiskompetenzen lernbehinderter Schüler – Eine Erhebung mit dem Dortmunder Rechentest für die Eingangsstufe – DORT-E. Zeitschrift für Heilpädagogik, 49, 402-411. Stern, E. (1998a). Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses im Kindesalter. Lengerich: Pabst. Stern, E. (1998b). Die Entwicklung schulbezogener Kompetenzen: Mathematik. In F. E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Kindesalter (S. 95-113). Weinheim: Beltz. Voigt, F. (1983). Entwicklungslinien des Zahlbegriffs im Vorschulalter: eine Längsschnittsstudie. Unveröffentlichte Dissertation: Universität Heidelberg. Wember, F. B. (1986). Piagets Bedeutung für die Lernbehindertenpädagogik. Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung und zum schulischen Lernen bei Sonderschülern. Heidelberg: Edition Schindele. Wember, F. (1989). Die sonderpädagogische Förderung elementarer mathematischer Einsichten auf entwicklungspsychologischer Grundlage. Zeitschrift für Heilpädagogik, 40, 433-443. Wember, F. B. (1999). Zahlbegriff und elementares Rechnen. Vorschläge zur Diagnose und Intervention bei Kindern mit Lernstörungen (Kurseinheit 4574). Hagen: Fernuniversität – Gesamthochschule. Wember, F. B. (2003). Die Entwicklung des Zahlbegriffes aus psychologischer Sicht. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 48-64). Weinheim: Beltz. Wendeler, J. (1990). Retardierung in der kognitiven Entwicklung. In H. Hetzer & E. Todt (Hrsg.), Angewandte Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters (S. 136-165). Heidelberg: Quelle & Meyer. Werner, B. (2003). „Mit der Hundertertafel stimmt etwas nicht“ – Mathematikunterricht beobachten und verstehen. In R. Balgo & R. Werning (Hrsg.), Lernen und Lernprobleme im systemischen Diskurs (S. 233-254). Dortmund: borgmann. Werning, R., Balgo, R., Palmowski, W. & Sassenroth, M. (2002). Sonderpädagogik. München: Oldenbourg. Wittgenstein, L. (1984). Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, R. Rhees und G. H. von Wright (stw-Werkausgabe, Bd. 6). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wittoch, M. (2003). Diagnostik von Unterrichts- und Erziehungsbedingungen am Beispiel des Rechnenlernens. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 309-330). Weinheim: Beltz.
25.2 Elementare Rechenoperationen Petra Scherer 25.2.1 Aktuelles Lern- und Lehrverständnis In den vergangenen 15 bis 20 Jahren hat sich ein Wechsel im Verständnis von Lernen und Lehren vollzogen, in dem die Eigenaktivität sowie die zunehmende Selbstorganisation und -verantwortung von Lernprozessen im Vordergrund stehen. Diese veränderte Sichtweise betrifft dabei nicht nur den Mathematikunterricht, sondern kann als inter-
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disziplinäres Paradigma gesehen werden. Der grundlegende Wechsel, der sich in der Mathematikdidaktik vollzogen hat, zeigt in der Regelschule schon seine Umsetzung, was aber nicht unbedingt heißt, dass er flächendeckend Unterrichtsrealität wäre. Im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte scheinen jedoch die traditionellen sonderpädagogischen Prinzipien nach wie vor etabliert zu sein (vgl. z. B. Scherer, 1995; Moser Opitz, 2000): Immer noch findet sich dort eher reproduktives Lernen im Gegensatz zur produktiven Auseinandersetzung mit mathematischen Inhalten. So werden Sonderschülerinnen und Sonderschülern überwiegend Lösungsstrategien vorgegeben statt auch ihnen eine aktive Wissenskonstruktion zuzugestehen und zuzumuten. Verbunden mit dieser eher passiven Wissensaufnahme ist ein kleinschrittiges Vorgehen. Auf komplexe Lernumgebungen und Situationen wird verzichtet, und der zu erlernende Stoff wird didaktisch isoliert und reduziert. Wie lassen sich diese Phänomene erklären? Dass speziell der Mathematikunterricht hier noch von traditionellen Lehr- und Lernkonzepten dominiert wird, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass die wenigsten Sonderschullehrerinnen und -lehrer das Fach Mathematik in ihrer Ausbildung wählen. So kommt den verwendeten Lehrwerken in der späteren Unterrichtspraxis eine deutlich höhere Bedeutung zu als Entwicklungen und neueren Erkenntnissen der Fachdidaktik. Bei der Arbeit mit lernschwachen bzw. lernbehinderten Schülerinnen und Schülern handelt es sich um Schüler, die im Unterricht der Regelschule nicht ausreichend gefördert werden können. Ihre Probleme liegen überwiegend gerade in den Lernbereichen Sprache und Mathematik (vgl. z. B. Langfeldt, 1998, 78 ff.). Die Feststellung, dass der Grundschulstoff zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreicht wird, sollte aber nicht dazu führen, jegliche Anforderungen zu vermeiden und Ziele des Grundschulunterrichts völlig zu ignorieren. Natürlich würde eine ständige Überforderung negative Konsequenzen haben, aber Anforderungen zu stellen, muss nicht gleichbedeutend sein mit Überforderung. Gerade das aktuelle Verständnis von Mathematiklernen und Mathematikunterricht kommt auch lernbehinderten Schülerinnen und Schülern entgegen. Zu nennen wäre hier die aktive Aneignung von Wissen, die sich am natürlichen Lernen orientiert, oder das produktive Üben im Gegensatz zur reinen Reproduktion, wo es bspw. um offene Aufgaben oder das Üben in Zusammenhängen geht und nicht um das bloße Wiederholen isolierter Einzelfakten. Solche Einzelfakten werden gerade von lernschwachen Schülern auf Grund ihrer häufig geringen Gedächtnisleistungen sehr schnell vergessen. Realisierungen einer derartig verstandenen Unterrichtskonzeption sind in verschiedenen Studien aufgezeigt worden (vgl. z. B. Ahmed, 1987; Moser Opitz, 2000; Scherer, 1995; Walter, Suhr & Werner, 2000). Die Umsetzung in entsprechende Lehrwerke hat bislang aber nur vereinzelt statt gefunden. In diesem Kapitel sollen deshalb einige Vorteile des aktiven und entdeckenden Lernens herausgegriffen und für das Lernen lernschwacher Schüler im Bereich des elementaren Rechnens konkretisiert werden. 25.2.2 Diagnostik Diagnostische Kompetenz ist für jede Lehrperson unabdingbar. Sie „stellt neben dem Fachwissen, den didaktisch-methodischen Fähigkeiten und der Fähigkeit zur Klassenfüh-
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| Teil VI: Schule und Unterricht rung einen von vier Kompetenzbereichen dar, die den erfolgreichen Lehrer auszeichnen“ (Schrader & Helmke, 2001, S. 49 und die dort angegebene Literatur). Im Umgang mit lernschwachen Schülern ist die Diagnostik seit jeher zentraler Bestandteil; es dominiert häufig jedoch eine eher defizitorientierte Sichtweise, also die Fokussierung auf das, was die Schüler nicht können. In didaktischen Abhandlungen nehmen die Diagnose von Lernschwierigkeiten und die Fehleranalyse einen großen Raum ein. Auch wenn derartige Untersuchungen sehr wichtig sind, reichen sie nicht aus, um lernschwachen Schülern gerecht zu werden: Mindestens ebenso bedeutsam ist die Erhebung von vorhandenen Kompetenzen (vgl. Van den Heuvel-Panhuizen, 1996). Versteht man gemäß dem genetischen Prinzip alles Lernen als Weiterlernen, dann ist es unabdingbar, nicht nur zu schauen, welche Lücken nach der Behandlung einer Thematik auftreten und welche (Minder)Leistungen die Schüler bspw. im Vergleich zu Regelschülern zeigen. In einer kompetenzorientierten Sichtweise ist es erforderlich, Informationen darüber zu erhalten, was die Schüler vor der Behandlung einer Thematik schon können. Nur so ist es möglich, an die vorhandenen Kenntnisse anzuknüpfen und bestehende Schwierigkeiten besser zu berücksichtigen (vgl. auch Scherer, 1995, 2003, 2005a; Wember, 1999). Nur mit der detaillierten Kenntnis vorhandener Kompetenzen und möglicher Defizite und Schwierigkeiten lässt sich der weitere Unterricht sinnvoll planen und durchführen. Verschiedene Methoden und Instrumentarien zur Diagnostik haben sich bewährt: gezielte schriftliche Tests oder Interviews und Beobachtungen (vgl. z. B. Hunting, 1997; Lorenz & Radatz, 1993; Scherer, 1995). Daneben sind aber auch pragmatische Formen erforderlich, die in der alltäglichen Unterrichtspraxis realisiert werden können. Häufig wird gezielten Erhebungen größere Bedeutung beigemessen, jedoch ist vor einer allzu einseitigen und festgelegten Interpretation zu warnen: Die durch ein Interview oder einen Test gewonnenen Erkenntnisse stellen einen momentanen Leistungsstand in einer spezifischen Situation dar. Ergänzt werden sollten diese Daten durch weitere planvolle Beobachtungen während des Unterrichts oder bspw. außerunterrichtlicher Situationen. Daneben ist der Blick für Entwicklungsperspektiven immer offen zu halten und durch ein entsprechendes Lernangebot zu gewährleisten und zu öffnen. 25.2.3 Förderung des elementaren Rechnens Bei der unterrichtlichen Behandlung verschiedener arithmetischer Inhalte ergeben sich Gliederungen einerseits hinsichtlich der verschiedenen Operationen (bspw. die Einführung von Multiplikation/Division nach Addition/Subtraktion), andererseits gemäß dem Zahlenmaterial. Verschiedene Zahlenräume sind dabei als natürliche Ganzheiten zu sehen, z. B. der 20er-Raum, 100er-Raum, 1000er-Raum und der Zahlenraum bis zu einer Million. Jeder dieser Zahlenräume hat seine Besonderheiten, wie etwa der 20erRaum mit seinen zu automatisierenden Elementen, während in größeren Zahlenräumen die zu automatisierenden Elemente abnehmen: Zwar sollten einfache Aufgaben auch im 1000er-Raum automatisiert zur Verfügung stehen (z. B. 300+400 oder 520+60), aber eben nicht mehr alle Aufgaben (z. B. 126+345). Eine zu automatisierende Aufgabe wie 400+500 sollte dabei durch die Übertragung aus dem 20er-Raum, mit Rückgriff zur Aufgabe 4+5, gelöst werden. Dies sollte natürlich nicht in einer mechanischen Art und
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Weise geschehen („Null anhängen“), sondern mit der Einsicht, 400+500 = 4H+5H, d. h. die Hunderter analog zu den Einern als Einheiten zu sehen. Insofern kommt dem 20er-Raum eine fundamentale Bedeutung zu, da hier zentrale Aspekte thematisiert werden, die in allen weiteren Zahlenräumen wieder auftauchen und die späteren Lernprozesse erleichtern können. Wesentliche Etappen bei der Thematisierung des 20er-Raums sind – Grundlagen und Basisfertigkeiten, – Strukturen und Beziehungen, – Vertiefung und Automatisierung. 25.2.3.1 Grundlagen und Basisfertigkeiten Allgemein existieren für die Mathematik eine Reihe zentraler Fertigkeiten, Einsichten, Gesetzmäßigkeiten etc., die für verschiedene Zahlenräume, Operationen und Inhalte relevant sind. Bei der Frage, welche Inhaltsbereiche und Kompetenzen sinnvoll und notwendig gerade für lernschwache Schülerinnen und Schüler sind, sollten sich Lehrerinnen und Lehrer insbesondere Klarheit über sog. Basisfertigkeiten oder Schlüsselqualifikationen verschaffen, die für weitere Lernprozesse notwendig sind. Ein Schüler, der z. B. keine Strukturen bei Veranschaulichungen erkennen und nutzen kann, wird in Abbildung 4 (oben) 8 Punkte nicht als 5 und 3 oder als 6 und 2 erfassen, sondern die Punkte einzeln abzählen. Er wird keine inneren Bilder von Anzahlen aufbauen können und langfristig dem zählenden Rechnen verhaftet bleiben. Zählendes Rechnen versagt jedoch spätestens beim Rechnen im Hunderterraum und führt zu Folgeschwierigkeiten.
Abbildung 4: Strukturierungen eines Punktmusters zur Anzahlerfassung
Hinsichtlich der Entwicklung der simultanen bzw. strukturierten Zahlerfassung sind zahlreiche Aktivitäten erforderlich wie das Legen, Strukturieren und Beschreiben von Mustern, insbesondere verbunden mit dem schnellen Erfassen der Anzahlen. Um die Flexibilität zu steigern, sind neben den linearen Mustern wie in Abbildung 4 oben auch Strukturen wie die in Abbildung 4 unten zu nutzen. Solche Aktivitäten haben nicht nur direkten Einfluss auf Kompetenzen im Zahlenraum bis 10, sondern verhelfen zu Einsichten auch in höheren Zahlenräumen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Vor dem eigentlichen Rechnen sind bei jeder Zahlenraumerweiterung Orientierungsübungen unabdingbar, welche die Zahlen mit all ihren Beziehungen thematisieren. Für ein erfolgreiches Weiterlernen sind dabei immer Kenntnisse aus vorangegangenen Zahlenräumen, aber auch Kenntnisse über Zahlen im neu zu erlernenden Zahlenraum wesentlich. Zentrale Kompetenzen betreffen aber auch das Rechnen: Ein Schüler, der das Einspluseins oder Einmaleins nicht automatisiert zur Verfügung hat, wird bspw. bei schriftlichen Additionen, bei Sachaufgaben oder allgemein bei komplexeren Problemstellungen, die genau diese arithmetische Basisfertigkeit verlangen, erhebliche Schwierigkeiten haben. Die entscheidende Frage ist, wie diese grundlegenden Inhalte gelernt wurden (vgl. unten das Aufzeigen von Beziehungen). Eine Basiskompetenz auf dem Weg zur Beherrschung des gesamten Einspluseins stellen die 10er-Zerlegungen oder auch die Beziehungen zur 5 (Abb. 5), d. h. das Ausnutzen der „Kraft der 5“ dar (vgl. Flexer, 1985; Krauthausen, 1995). Sind diese Beziehungen mit Einsicht geschaffen, nicht zuletzt durch die verschiedenen Repräsentationsformen, kann das Zahlenmaterial auf der rein symbolischen Ebene automatisiert werden (vgl. auch Menne, 1999).
Abbildung 5: ‚Kraft der 5‘ und 10er-Zerlegung, repräsentiert am 20er-Feld
25.2.3.2 Strukturen und Beziehungen Bei der systematischen Behandlung von Addition und Subtraktion im 20er-Raum ist zum einen eine sichere Verbindung zwischen den verschiedenen Repräsentationsebenen von zentraler Bedeutung. Besonders wichtig ist zum anderen die strukturierte Darstellung der Aufgaben: Wenn Schüler mit unstrukturiertem Material agieren (z. B. Plättchen oder Steckwürfel), so werden sie i. d. R. die Aufgaben abzählend lösen, einer langfristig ineffektiven und auch fehleranfälligen Vorgehensweise. Man stellt mitunter Abzählstrategien fest, die zwar nicht im Unterricht gelehrt wurden, die sich Schüler jedoch selbst beigebracht haben (z. B. Kombinationen aus Zählstrategien und abgespeicherten Fakten), um bspw. außerschulische Rechenanforderungen zu bewältigen. Im Unterricht verwenden Schüler dann häufig Kombinationen aus gelehrten und selbst erfundenen Strategien (vgl. z. B. Houlihan & Ginsburg, 1981). Daher sollte im Unterricht auch beim Rechnen das besondere Augenmerk auf einer strukturierten Zahlerfassung liegen (vgl. Scherer, 2005a). Die individuellen Sichtweisen der Schüler sollten von Beginn an ausführlich und bewusst thematisiert werden. Gerade lernschwache Schüler nutzen im Gegensatz zu leistungssärkeren häufig nicht von sich aus Beziehungen und Strukturen, um die Aufgaben zu erlernen und zu automatisieren (vgl. Thornton, 1978) und müssen unterstützt werden. Die Ermunterung zu eigenen Strategien macht das Lernen letztlich aber erfolgreicher.
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Auch eine bewusste Thematisierung und Verzahnung von inner- und außerschulischen Situationen ist von zentraler Bedeutung, da Schüler häufig schulische Inhalte und außerschulische Probleme als völlig voneinander losgelöste Bereiche ansehen (vgl. z. B. Aubrey, 1997, S. 26). Die folgenden Ausführungen thematisieren exemplarisch die Addition und Subtraktion im 20er-Raum, sind aber sowohl auf andere Zahlenräume als auch auf andere Operationen zu übertragen. So muss bspw. auch das Einmaleins in vielfältigen Beziehungen erlernt und durchgearbeitet werden (vgl. z. B. Scherer, 2002; 2005b). Aufgaben und ihre Beziehungen: Operatives Üben, das Üben in vielfältigen Beziehungen, ist sowohl für die Phase der Orientierung als auch für das Rechnen von entscheidender Bedeutung. Gerade beim Einspluseins besteht durch die begrenzte Anzahl der existierenden Aufgaben die Gefahr, dass Schwierigkeiten nicht identifiziert werden können: Eine Reihe von Schülern weicht bei Schwierigkeiten nämlich auf das Auswendiglernen aus, was hier – wenn auch unter enormen Gedächtnisleistungen – zwar gelingen kann, aber spätestens bei der Zahlenraumerweiterung bis 100 die Schüler hoffnungslos scheitern lässt. Gerade für Schüler, die Schwierigkeiten beim Rechnen haben, stellt das Lernen in Zusammenhängen eine wichtige Hilfe dar. Daher sollte ihnen diese Art des Lernens von Anfang an ermöglicht werden, um tragfähige Grundlagen für weitere Lernprozesse zu schaffen.
Abbildung 6: 4+3 durch Plättchen dargestellt, linear in einer bzw. zwei Zeilen angeordnet
Eine am 20er-Feld durch Plättchen gelegte Aufgabe (z. B. 4+3 wie in Abb. 6 links) kann von den Schülern beschrieben werden: „Vier rote Plättchen und drei blaue Plättchen“, „Insgesamt sieben Plättchen.“ Das Ergebnis sollte durch strukturierte Zahlerfassung (5 und 2) bestimmt werden, abzählende Lösungen wie z. B. das Fingerrechnen sind möglichst zu vermeiden. Auftretende Fehler können dabei das Verzählen um ±1, 2, … sein, dies umso fehleranfälliger je größer das Zahlenmaterial. Beim Fingerrechnen zeigt sich bei der Addition häufig ein –1-Fehler, der auf das Mitzählen des Startpunkts zurück zu führen ist. Bei 4+3 z. B. wird 4 als Startpunkt durch das Ausstrecken eines ersten Fingers verdeutlicht; durch Weiterzählen, bis 3 Finger ausgestreckt sind, kommt man zum fehlerhaften Ergebnis 6. Schüler, die auf Zählstrategien zurück greifen müssen, können ggf. aufgefordert werden, kleinere Zahlen zu wählen, die sie strukturiert erfassen können. Falls derartige Fälle dennoch verstärkt auftreten, sind Übungen zur Anzahlerfassung (s. o.) durchzuführen. In den Unterricht sollten verschiedene Materialien einbezogen werden, so dass die Schüler erkennen: Beim Rechnen (wie auch bei der Zahldarstellung) kann man ein und dieselbe Aufgabe an verschiedenen Materialien darstellen (Materialien mit unterschiedlicher Struktur; 20er-Reihe: lineare Darstellung; 20er-Feld: Felddarstellung). Es sollten aber auch am gleichen Material andere Legweisen thematisiert werden (Abb. 6, rechts),
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| Teil VI: Schule und Unterricht die folgende Erkenntnis liefern: Beim Rechnen (wie auch bei der Zahldarstellung) kann man für ein und dieselbe Aufgabe verschiedene Strategien nutzen (auch an ein und derselben Darstellung). Des Weiteren sollte die Tauschaufgabe 3+4 besprochen werden: Die Schüler erkennen, dass die beiden Summanden vertauscht werden können und sich am Ergebnis nichts ändert (Kommutativität). Unterstützend kann das Feld auch von ‚oben‘ betrachtet oder das mittlere Plättchen umgedreht werden, um die ‚alte‘ Aufgabe wieder zu sehen. Die Erkenntnis, dass die Reihenfolge beim Addieren oder Zusammenfassen von Mengen beliebig ist, kann schon durch verschiedenste Übungen zur Anzahlerfassung gut vorbereitet sein. Den Schülerinnen und Schülern sollte die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes klar werden. Für Einige ist nicht unmittelbar einsichtig, dass diese Gesetzmäßigkeit auch im 100er- oder 1000er-Raum gilt, und sie muss dort ggf. erst überprüft werden. In jedem Fall ist die Einsicht in das Kommutativgesetz und das Ausnutzen des Kommutativgesetzes insbesondere bei Aufgaben relevant, bei denen der größere Summand in der zweiten Position steht (z. B. 12+79). Für viele Schüler ist das Berechnen ausgehend vom größeren Summanden leichter. Erfahrungen zeigen jedoch, dass mangelnde Einsicht in das Kommutativgesetz zu eingeschränkten Strategien führen kann. Als weitere Beziehung kann die Nachbaraufgabe 4+4 gelegt und besprochen werden. Es sollte darauf geachtet werden, dass alle Schüler verstehen, dass die erste Darstellung genutzt und variiert werden kann, dass die Aufgaben des Einspluseins also nicht isoliert voneinander gerechnet werden müssen. Dies ist gerade für den Automatisierungsprozess von großer Bedeutung: Noch nicht automatisierte Aufgaben können durch Rückgriff auf bereits verfügbare Aufgaben erschlossen werden (vgl. Winter, 1996, 43). Ähnliches gilt für die Gesetzmäßigkeit der Konstanz der Summe, die bspw. anhand von Aufgaben mit gleichem Ergebnis thematisiert werden kann (z. B. Aufgaben mit dem Ergebnis 8: 8+0 = 7+1 = … = 0+8). Anschließend können die Plättchen am 20er-Feld (Abb. 7) bzw. an anderen Materialien wieder entfernt werden, entweder von hinten oder von vorn, um so die Subtraktion als Umkehroperation der Addition zu verdeutlichen.
Abbildung 7: Veranschaulichung der Aufgabe 8-4 am 20er-Feld
Thematisiert werden muss darüber hinaus auch die Subtraktion als Ergänzung. Genutzt werden kann dazu die gleiche Darstellung, allerdings ist die Handlung an sich und die Reihenfolge der Schritte verschieden (Abb. 7): „Gelegt sind vier Plättchen: Wie viele Plättchen müssen noch gelegt werden, um insgesamt acht zu erhalten?“ Es ist äußerst wichtig, diese beiden Deutungen der Subtraktion schon auf der handelnden Ebene (s. u.. Stufe der Konkreten Handlung) zu thematisieren. Andernfalls können sich einseitige und eingeschränkte Vorstellungen verfestigen, die später nur schwer aufzubrechen sind (vgl. auch das Beispiel der offenen Aufgabe am Ende dieses Kapitels, Abb. 10). Zu behandeln sind natürlich auch Aufgaben mit Überschreitung des Zehners, z. B. 8+5: Die Schüler sollten zu einer dargestellten Aufgabe ihre Sichtweise erläutern und das
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Abbildung 8: Möglichkeiten zur Darstellungen der Aufgabe 8+5
Ergebnis unter Ausnutzung der 5er- bzw. 10er-Struktur bestimmen (Abb. 8: z. B. lineare Anordnung des Zehners oder Doppelfünfer horizontal). Das häufig anzutreffende Teilschrittverfahren (vgl. z. B. Beha & Mittrowann,1986, 80 f.) zur Bestimmung des Ergebnisses ist lediglich eine Strategie und nicht unbedingt die leichteste (vgl. auch Floer, 1996; Krauthausen, 1995, 87 f.): 8 Plättchen sind gelegt, es wird zunächst bis zum Zehner ergänzt, und dazu muss 5 zerlegt werden in 2+3. Die Schüler müssen gleichzeitig im Blick behalten, dass noch 3 zu addieren sind, rechnen also 8+2=10 und 10+3=13. Das für dieses Verfahren häufig genutzte Modell des Eierkartons, das verdeutlichen soll, dass erst ein Karton gefüllt werden muss, schränkt die Schüler in ihrem Handlungsspielraum und ihrem Denken unnötig ein, da i. d. R. nur eine einzige Möglichkeit zum Auffüllen des Zehners gegeben ist. Bei der hier favorisierten Vorgehensweise steht das Erfassen von Fünfern oder Zehnern im Vordergrund (Abb. 8). Die „Kraft der 5“ lässt hier mehrere hilfreiche Sichtweisen zu. Wichtig bei allen Darstellungen ist, dass die Schüler die 5er- oder 10er-Struktur ausnutzen, d. h. dass die Notwendigkeit und der Sinn entsprechender Umformungen (symbolische Form) verstanden und nicht ein „Rezept“ wie das Teilschrittverfahren ohne wirkliches Verständnis angewandt wird. Strukturiertes Üben anhand operativer Aufgabenserien: Operative Aufgabenserien spiegeln mathematische Gesetzmäßigkeiten wider (z. B. Nachbaraufgaben, Konstanz der Summe etc.) und bieten Anregungen zum Beobachten und Argumentieren; zusätzlich werden die Aufgabenserien fortgesetzt. Das Erkennen einer Struktur kann durch adäquates Fortsetzen der entsprechenden Serie geäußert werden und ist nicht unbedingt auf Sprache angewiesen – ein Bereich, der bei lernschwachen Schülern häufig beeinträchtigt ist. Die Schüler üben verschiedene Operationen im jeweiligen Zahlenraum; gleichzeitig werden dabei aber auch mathematische Gesetzmäßigkeiten thematisiert. Gefördert wird insbesondere das Rechnen unter Ausnutzen von Beziehungen, d. h. es wird über das reine Rechnen hinaus auch das denkende Rechnen gefordert und gefördert. Zu diesem Zweck sollten operative Übungen variiert werden, um der mechanischen Reproduktion einmal durchgeführter Muster entgegenzuwirken. Auch ist das zufällige Einstreuen einer Aufgabe hilfreich, die das entsprechende Muster durchbricht. Nur auf den ersten Blick erscheinen diese Übungen vielleicht für lernschwache Schüler zu anspruchsvoll: Schwierigkeiten beim Rechnen bedeuten aber nicht unbedingt auch Schwierigkeiten beim Entdecken von Mustern und allgemein von Zusammenhängen. Insofern bietet sich die Möglichkeit, besondere Stärken der Schüler zu nutzen und ihr
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| Teil VI: Schule und Unterricht
5+5 = 5+6 = 5+7 = . . .
Wie geht es weiter?
Abbildung 9: Beispiel einer operativen Serie von Rechenaufgaben und deren Veranschaulichung an der 1+1-Tafel
Selbstvertrauen und ihre Motivation zu fördern. Beispiele für Zusammenhänge sind etwa das Erhöhen eines Summanden um 1 oder 10 (Abb. 9), Vermindern des Subtrahenden um 1 oder 10, Konstanz der Summe bzw. Differenz oder das Weiterrechnen mit dem Ergebnis der vorangegangenen Aufgabe. Es wird immer Schüler geben, die nicht unbedingt die Beziehungen zwischen den Aufgaben für ihre Rechnungen ausnutzen. Diese Schüler können verstärkt aufgefordert werden, vor dem Rechnen über Beziehungen nachzudenken. Falls dies nicht oder nur begrenzt möglich ist, bleiben diese Aktivitäten immerhin Rechenübungen. Auch den unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeiten der Schüler wird Rechnung getragen: Einigen Schülern wird die rein verbale Erklärung der Zusammenhänge nicht möglich sein, anschauungsgestützt können sie jedoch den Sachverhalt erläutern bzw. zeigen. Je nachdem, wie viele Aufgaben die Schüler finden, können die Ergebnisse über den offiziell thematisierten Zahlenraum hinausgehen; d. h. die Aufgaben gehen in die Zone der nächsten Entwicklung, ohne dass dies zwingend gefordert wäre. Derartige Übungen sind aus diesem Grund auch zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll einzusetzen, wenn für die Schüler offiziell schon größere Zahlenräume thematisiert wurden, aber Anforderungen aus vorangegangenen Zahlenräumen noch gefestigt werden müssen: Hier kann eine natürliche Verbindung zwischen bereits vorhandenem und neu zu lernendem Stoff geschaffen werden. Die Zuhilfenahme von Veranschaulichungen ist hier selbstverständlich zulässig, einerseits zum Erkennen der Muster (bspw. die 1+1-Tafel) oder zum Berechnen der Aufgaben (bspw. das 20er-Feld).
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Die Anzahl der gefundenen Aufgaben ist selbstdifferenzierend, so dass hier an ein und derselben Aufgabe leicht das unterschiedliche Lerntempo berücksichtigt werden kann. Es bieten sich weitere Niveaus der Differenzierung an, die nicht vorab festgelegt oder zugewiesen werden sollten und die auch nicht unbedingt getrennt voneinander zu verstehen sind: – Rechnen der gegebenen Aufgaben (evtl. mit Veranschaulichungen), – Konstruktion weiterer Aufgaben, d. h. Erkennen und Fortsetzen der Struktur, – Markieren der Summanden vorgegebener Aufgaben durch Plättchen an der 1+1-Tafel zum Erkennen der Struktur (Abb. 9), – Verbalisieren von Begründungen für die Struktur, – Verbalisieren von Begründungen für die Ergebnisse, – Berechnung neu gefundener Aufgaben durch alle Schüler (beim Sammeln der Ergebnisse). Je früher und flexibler derartige Strukturen in Unterricht und Förderung thematisiert werden desto wahrscheinlicher sind sie auch auf die weiteren Zahlenräume übertragbar. 25.2.3.3 Vertiefung und Automatisierung Der Prozess der Automatisierung ist nicht mit bloßem Auswendiglernen zu verwechseln: Automatisierung ist eine verlässlich erwartbare Folge häufig vollzogener Einsicht. Es geht eben nicht nur um bloßes Einprägen, sondern um ein verständnisvolles Verinnerlichen, was auch die Rekonstruktion von Vergessenem ermöglicht. Das Automatisieren von Grundfertigkeiten ist nach wie vor unabdingbar, wird aber auch nicht vorschnell zum Lerngegenstand gemacht. Der Weg über das Verstehen und flexible Ausnutzen zentraler Beziehungen fördert insgesamt den Automatisierungsprozess. Folgende Stufen bieten sich bei lernschwachen Schülern für das Erlernen und Verinnerlichen der Operationen an (vgl. auch Flexer, 1989, 23 f.): 1. Konkrete Handlung: Die Schüler legen Aufgaben selbst, Ergebnisse sind sichtbar und werden bestimmt. Später werden auch gegebene ikonische Darstellungen interpretiert und Ergebnisse bestimmt. 2. Mentales Operieren an einer Darstellung: Mit Unterstützung einer Darstellung nehmen Schüler mentale Operationen vor: Gelegt sind am 20er-Feld z. B. sieben Plättchen, drei Plättchen werden mental hinzugefügt. Oder: Gelegt sind acht Plättchen, zwei Plättchen werden mental weggenommen. Diese mentalen Operationen bzw. ihr Ergebniszustand lassen sich verbal beschreiben. 3. Mentales Operieren ohne visuelle Unterstützung: Die unter 2. durchgeführten Übungen werden später rein vorstellungsmäßig – ohne jegliches Material – durchgeführt und beschrieben. 4. Automatisierung: Die Ergebnisse des Einspluseins sollen ‚blitzartig‘ verfügbar sein. Im Lernprozess sollte nach und nach überprüft werden, ob und inwieweit das mentale Operieren an einer Darstellung (Stufe 2) möglich ist. Hierzu bieten sich insbesondere Ergänzungsaufgaben an wie diese: Gelegt sind 4 Plättchen. „Wie viele Plättchen muss
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| Teil VI: Schule und Unterricht ich noch legen, um 10 zu erhalten?“ Auch für das mentale Operieren sollten beide Möglichkeiten – Zehner linear oder zwei Fünfer untereinander (Abb. 6) – herausgefordert und anschließend durch konkretes Legen überprüft werden. Nach und nach sollten die Schüler zu immer größerer Flexibilität gelangen, d. h. ihr Wissen anwenden, in Kontextsituationen nutzen oder auch zu schwierigem Zahlenmaterial übergehen. Die Stufen 3 und 4 dürfen auf keinen Fall forciert werden. Vorausgehen müssen insbesondere ausgiebige strukturierende und vertiefende Übungen, bevor die Automatisierung angestrebt wird. Schülern, die Aufgaben ausschließlich einzeln abzählend lösen, sollte die Anschauungsgrundlage nicht vorschnell entzogen werden. Ein Drängen, ‚einfache‘ Aufgaben (z. B. im Zahlenraum bis 10) schon ohne Materialien zu rechnen, wäre ein fataler Fehler, der dazu verführt, dass Aufgaben und Ergebnis lediglich auswendig gelernt, jedoch keinerlei vorstellungsmäßige Bilder aufgebaut werden (vgl. auch Thornton, 1978). 25.2.4 Offene Aufgaben als Instrumente für Diagnose und Förderung Im folgenden Abschnitt soll mit der offenen Aufgabe exemplarisch ein Aufgabentyp vorgestellt und erläutert werden, der sich sowohl zur individuellen Förderung als auch für die Diagnostik eignet (vgl. Scherer, 2005a, 197 ff.). Ein Arbeitsauftrag für eine offene Aufgabe könnte wie folgt lauten: „Finde Plus- und Minusaufgaben mit den Zahlen 3, 6, 12 und 20!“ Sebastian, ein Drittklässler der Schule für Lernbehinderte, für den im Unterricht seit einigen Wochen der Hunderterraum eröffnet ist, notiert hierzu insgesamt 12 Aufgaben, die er selbst in drei Gruppen gliedert (Abb. 10). Welche vorhandenen Kompetenzen, aber auch Schwierigkeiten und welche Fehler lassen sich identifizieren? Sebastian notiert Subtraktionen und Additionen, darunter alle Verdopplungsaufgaben und sehr viele Aufgaben mit 20. Insgesamt macht er keine Zählfehler oder Rechenfehler. Auffällig ist, dass Sebastian nur vier Subtraktionen notiert, unter denen man die „falschen“ Zahlensätze 3–12=9 und 6–20=14 erkennt. Je nach fachlichem und fachdidaktischem Hintergrund bzw. diagnostischer Sichtweise der Lehrerin kann es zu unterschiedlichen Interpretationen kommen: – Sebastian hat kein Verständnis der Subtraktion; es könnte eine Übergeneralisierung seiner Kenntnisse bezogen auf die Addition vorliegen (Kommutativgesetz).
Abbildung 10: Sebastians Bearbeitung einer offenen Aufgabe
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– Sebastian hat vielleicht nur ein eingeschränktes Verständnis der Subtraktion: Subtraktion bedeutet auch, den Unterschied zweier Zahlen zu bestimmen: In diesem Verständnis wäre sowohl die Notation 12 – 3 als auch 3 – 12 korrekt. Subtraktion bedeutet auch Ergänzen: Vielleicht liegt Sebastians Rechnung die Überlegung „von 3 bis 12 sind es 9“ zugrunde. – Sebastian hat lediglich ein Notationsproblem; er rechnet möglicherweise korrekt und würde die Rechnung vielleicht verbal auch korrekt ausdrücken. – Sebastian hat lediglich Flüchtigkeitsfehler gemacht. (Die beiden anderen ‚korrekten‘ Subtraktionen würden diese Hypothese bestätigen). Sicherlich sollte in derartigen Fällen genauer geklärt werden, welche Interpretation zutrifft und wie dieser Fehlertyp entstanden ist. Falls möglich, sollten Schüler immer selbst erklären, wie sie ihre Rechnung gemeint haben. Sie könnten auch aufgefordert werden, Rechnungen mit Hilfe von geeignetem Material zu veranschaulichen. Dabei könnten sie ihre Fehler ggf. selbst entdecken und auch korrigieren. Andernfalls muss an derartigen Stellen eine angemessene Intervention erfolgen, denn Sebastians Notation widerspricht der Konvention. Wichtig ist es prinzipiell, Schülern differenziert rück zu melden, dass es sich um einen Verstoß gegen Konventionen und Verabredungen handelt und ggf. nicht um einen Rechen- oder Denkfehler. Zudem wäre zu klären, wie die einzelnen Aufgaben und insbesondere die Subtraktionen zustande gekommen ist. Liegen bei einzelnen Schülern möglicherweise Konzentrations- oder Wahrnehmungsschwächen vor? Die diagnostische Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern bedarf folglich einer hinreichenden fachlichen und fachdidaktischen Fundierung, um differenziert und detailliert Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern erkennen zu können. Manchmal passen wie im Beispiel in Abbildung 10 die gefundenen Aufgaben nicht ganz zum Arbeitsauftrag, denn der offene Arbeitsauftrag war vorab so verabredet und es war geklärt worden, dass die vorgegebenen Zahlen in den zu bildenden Aufgaben, nicht in deren Ergebnissen vorkommen sollen. Für manche Schüler ist das Finden von Aufgaben, die sie schon beherrschen, sehr reizvoll. Anderen Schülern unterlaufen Notationsfehler – häufig aus Flüchtigkeit wie etwa beim Auslassen des Gleichheitszeichens oder beim Verwechseln von Additions- und Subtraktionssymbol. Die Lehrerin sollte diese Art von Fehlern in ihrer Rückmeldung deutlich unterscheiden von Rechenfehlern und an dieser Stelle in jedem Fall auch positiv rückmelden, dass die Rechnungen dieser Aufgaben korrekt sind, auch wenn sie nicht ganz passend und notationsgerecht aufgeschrieben wurden. Der kenntnisreichen Lehrerin liefern die Bearbeitungen offener Aufgaben zahlreiche Informationen über vorhandene Leistungen. Allgemeine Vorgehensweisen und strategisches Vorgehen der Lernenden können hier beobachtet werden, aber auch Schwierigkeiten und mögliche Fehlvorstellungen, die allein beim Berechnen vorgegebener Aufgaben nicht offensichtlich würden. Offene Aufgaben eignen sich aber darüber hinaus auch, um produktive Prozesse der Förderung in Gang zu setzen. Als erstes liegt auf der Hand, dass offene Aufgaben differenzierte Lernangebote für unterschiedliche Leistungsstände ermöglichen. Einerseits in quantitativer Hinsicht durch die Anzahl der gefundenen und notierten Aufgaben, andererseits auch qualitativ durch die Wahl leichter oder schwieriger Aufgaben. Die Aufgabenform per se beinhaltet dabei die Differenzierung („natürliche
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| Teil VI: Schule und Unterricht Differenzierung“, Wittmann, 1990, S. 159), nicht die Lehrerin wählt das jeweilige Niveau. Die von den Schülern gewählten Aufgaben können dabei durchaus in die Zone der nächsten Entwicklung (Vygotsky) weisen (vgl. Wieland, 1997) und eignen sich so auch für einen jahrgangsübergreifenden Einsatz (vgl. Böhm, 1984). Offene Aufgabenformate können allgemein den Umgang mit offeneren Situationen, wie sie auch in der Lebenswelt auftauchen, fördern. Dies kann anfangs natürlich auch Schwierigkeiten mit sich bringen wie etwa das Verstehen und Interpretieren des Arbeitsauftrags oder auch die Strukturierung des Vorgehens (Ausschließen von doppelten Aufgaben etc.). Die Bearbeitungen der Schüler sind zunächst häufig ein Spiegelbild des zuvor erlebten Unterrichts. So werden bspw. fast ausschließlich zweigliedrige Terme verwendet, und erst mit dem Vertrautwerden und Wissen um wirkliche Offenheit trauen sich Schüler auch an neuartige Formate. Insgesamt kann so zur Förderung des Selbstvertrauens beigetragen werden. Für die Lehrperson bieten sich zudem und nicht zuletzt Vorteile unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten, da sie eine zentrale, gemeinsame Aufgabenstellung für alle Lernenden entwirft, die diesen reichhaltige Übungsmöglichkeiten eröffnet. 25.2.5 Anspruchsvoller Mathematikunterricht in Theorie und Empirie Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitel sollen noch einmal die zentralen Aussagen dieses Kapitels hinsichtlich ihrer empirischen Überprüfung beleuchtet werden. Die hierzu herangezogenen Studien sind bereits in den vorangegangenen Abschnitten genannt worden. Sie werden hier chronologisch nach dem Zeitpunkt ihrer Durchführung aufgeführt und verdeutlichen die zentralen Aspekte eines anspruchsvollen Mathematikunterrichts: – In England befasste sich das Projekt LAMP (Low Achievers in Mathematics Project; vgl. Ahmed, 1987) mit dem Lernen und dem Mathematikunterricht lernschwacher Schülerinnen und Schüler. Als wesentliche Bedingungen wurden u. a. herausgearbeitet: eine veränderte Lehrereinstellung, die Auswahl schülergemäßer Probleme, dabei aber mathematisch reichhaltiger Situationen, die für die Schüler eine Herausforderung darstellen, die Förderung des Selbstvertrauens und nicht zuletzt die eigene Verantwortung der Schüler für den Lernprozess. Die Leistungen der Kinder übertrafen in einem veränderten Unterricht dabei deutlich die Erwartungen der Lehrer und Forscher. Insgesamt bewirkte die veränderte Einstellung der Lehrer – größeres Vertrauen in die Leistungen ihrer Schüler – auch eine veränderte Einstellung der Schülerinnen und Schüler, die mehr Vertrauen in ihre eigenen Leistungen hatten und höhere Motivation und mehr Interesse zeigten. Letztendlich gewannen die Lehrpersonen einen größeren Einblick in die Lernprozesse ihrer Schüler (vgl. ebd., 85 ff.). – Die empirische Studie von Scherer (1995) untersuchte die Möglichkeiten und Effektivität des entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte mit insgesamt 21 Drittklässlern. Hierzu wurden im Zahlenraum bis 100 sowohl die Lernausgangslage als auch der abschließende Leistungsstand durch Einzeltests und Einzelinterviews erhoben. Zusätzlich wurde ein dreimonatiger Unterrichtsversuch durchgeführt, dokumentiert in qualitativer Form durch schriftliche Schülerdokumente bzw. Beobachtungen und Aufzeichnungen während des Unterrichts. Der
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Unterricht wurde entsprechend dem Prinzip des aktiv-entdeckenden Lernens und Produktiven Übens durchgeführt, in dem die Schülerinnen und Schüler u. a. eigene Strategien entwickeln sowie vielfältige Beziehungen und Strukturen kennen lernen und nutzen, aber auch mit offenen Aufgabenformaten vertraut werden sollten. Die Erhebung des abschließenden Leistungsstands zeigte Verbesserungen bei allen Kindern. Es zeigten sich deutliche Verbesserungen bei allen Aufgabengruppen und insgesamt ein hoch signifikanter Lernzuwachs. Dabei zeigten sich viele Kinder in der Lage, eigene Strategien (durchaus abweichend vom Lehrwerk) zu entwickeln, zu übertragen und flexibel einzusetzen. Neben den in Tests, Interviews und Unterrichtsbeobachtungen dokumentierten inhaltlichen Ergebnissen zeigten sich als weitere positive Effekte die Veränderung des negativen Selbstkonzepts, die Förderung der Sprache oder die Entwicklung metakognitiver Fähigkeiten. – In der empirischen Vergleichsstudie von Moser Opitz (2001) wurde der Anfangsunterricht in Sonderschulen genauer untersucht. Bei insgesamt 101 Schülerinnen und Schülern wurden sowohl Lernausgangslage als auch der Lernzuwachs nach einer ca. achtmonatigen Unterrichtsphase untersucht. Für die Lernausgangslage wurden Grund legende Kompetenzen wie das Zählen, die Anzahlerfassung oder das Lesen von Zahlen in Form eines Spiels überprüft. Ergänzt wurde dies durch pränumerische Aufgaben sowie kontextbezogene Aufgaben zur Addition und Subtraktion. Hierbei zeigte sich, dass auch Kinder in Sonderklassen die wesentlichen pränumerischen Anforderungen beherrschen. Zudem verfügten sie über größere numerische Kenntnisse als oftmals angenommen. Als weitere Frage wurde überprüft, inwieweit ein veränderter Unterrichtsstil und eine veränderte Auswahl der Unterrichtsinhalte positive Auswirkungen auf den Lernzuwachs haben. Dazu wurde die Abhängigkeit vom verwendeten Lehrmittel, kombiniert mit Protokollen der Lehrpersonen zum durchgeführten Unterricht untersucht. Hier zeigten sich positive Effekte bei einem veränderten Unterrichtsstil, insbesondere im Hinblick auf die strukturierte Zahlerfassung und die Lösungsstrategien für Addition und Subtraktion. Die Experimentalgruppe verwendete weniger häufig Strategien des einzelnen Abzählens bzw. des zählenden Rechnens. Die Untersuchung zeigte darüber hinaus, dass die vorliegende große Leistungsheterogenität der Schülerinnen und Schüler durch das veränderte unterrichtliche Vorgehen besser berücksichtigt werden konnte. – Walter, Suhr und Werner (2001) führten eine Vergleichsstudie mit insgesamt 30 Schülerinnen und Schülern der Klassen 2 bis 4 durch. In einem dreimonatigen Versuch wurde die Experimentalgruppe nach Prinzipien des aktiv-entdeckenden Lernens unterrichtet, die Kontrollgruppe nach eher traditionellen Prinzipien wie Kleinschrittigkeit oder Isolierung der Schwierigkeiten. Beide Gruppen hatten vorab kaum Erfahrungen mit aktiv-entdeckenden Lehr- und Lernformen. In einem Vor-/ Nachtest-Design wurden sowohl Rechenfertigkeit und Operationsverständnis als auch Fragen zum Selbstkonzept erhoben. Die Experimentalgruppe konnte ihre Leistungen hinsichtlich der Rechenfertigkeiten und des Operationsverständnisses (Addition/Subtraktion) im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich verbessern. Dabei wurden in beiden Gruppen für die Überprüfung andere Aufgaben und Materialien als in der Förderung eingesetzt, und die Schüler der
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| Teil VI: Schule und Unterricht Experimentalgruppe (in der Kontrollgruppe nur begrenzt) konnten den Transfer von Einsichten und Strategien leisten (vgl. Walter, Suhr & Werner, 2001, S. 149). Hinsichtlich der Fragen zum Selbstkonzept zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Experimental- und Kontrollgruppe. Die dargestellten empirischen Ergebnisse beschränken sich jeweils auf begrenzte Inhalte und sind durch weitere zukünftige Untersuchungen zu stützen. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass lernbehinderte Schülerinnen Schüler durchaus in komplexeren Situationen und auf eigenen Wegen lernen können. Sie sind in der Lage, sich Wissen konstruktiv anzueignen und zu übertragen und können von einem anspruchsvollen Mathematikunterricht profitieren. Insofern zeigen die empirischen Befunde in Verbindung mit den theoretischen Überlegungen auch verallgemeinerbare Perspektiven für das Lernen und speziell den Mathematikunterricht mit lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern auf.
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25.3 Schriftliche Rechenverfahren Hans-Dieter Gerster 25.3.1 Zur aktuellen Diskussion der schriftlichen Rechenverfahren nach TIMSS und PISA Seit Mitte der 90er Jahre, verstärkt durch TIMSS und PISA, entwickelt sich eine breite und teilweise kontroverse Diskussion über Sinn, Zweck und Form der schriftlichen Rechenverfahren. Das Deutsche PISA-Konsortium (2001, S. 186) nennt mit Verweis auf Blum (2001) unter „Fazit und didaktische Konsequenzen“ Veränderungsbedarf auf folgenden Linien: – mehr inner- und außermathematische Vernetzungen, – weniger Verfahren und Kalküle, – mehr Denkaktivitäten und Eigenkonstruktionen der Schüler, – mehr Reflexionen, – flexiblerer Methodeneinsatz.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die Autoren des deutschen PISA-Konsortiums stellen fest, dass sich diese Forderungen genau mit Merkmalen decken, die bei PISA ein höheres Niveau mathematischer Grundbildung beschreiben: Verknüpfungen bzw. Verallgemeinerung/Reflexion, weniger Kalkülorientierung, Offenheit der Mathematisierungen, Umgang mit vielfältigen Lösungsmöglichkeiten. Zwar liege die Problematik des deutschen Mathematikunterrichts vor allem bei jenem Viertel der 15-Jährigen, die höchstens elementare Rechnungen auf Grundschulniveau bewältigen können, das PISA-Konzept wende sich aber dezidiert gegen die Forderung, hier müssten zuerst einfaches Rechnen geübt und elementare Grundbegriffe gelernt werden. Eine solche Forderung würde die Kalkülorientierung des deutschen Mathematikunterrichts nur noch mehr fördern. Graumann (2003, S. 106 f.) fordert als Konsequenz für den Mathematikunterricht „... die Überbetonung kalkülhafter Fertigkeiten und die Orientierung auf das ‚Abarbeiten‘ einzelner mathematischer Stoffkapitel muss aufgegeben werden zugunsten einer Verstärkung der Verstehensprozesse und des Bewusstmachens vom Sinn des Lernens von Mathematik“. Er hebt hervor: „Hierbei geht es insbesondere um die Betonung der Bedeutung mathematischer Kenntnisse und Fähigkeiten für eine angemessene Handlungsfähigkeit in Alltag und Beruf.“ [Hervorhebungen ausgelassen] Schipper (2003) setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit den schriftlichen Rechenverfahren als Lehrplaninhalt der Grundschule auseinander, insbesondere mit der schriftlichen Subtraktion und Division. Johann und Matros (2001) formulieren im Vorwort zu ihrem interessanten Büchlein provokant: Aber es ist auf gar keinen Fall zeitgemäß, aller-aller-aller-kürzeste Schreibformen einzudrillen, wo es jedenfalls unvergleichlich schnellere Berechnungsmöglichkeiten gibt (Taschenrechner), die man aber Kindern so lange vorenthält, bis sie ihren Verstand schon restlos im Dressurkäfig von Normalverfahren verloren haben. Unter diesen Normalverfahren versteht man ja seit gut 50 Jahren vor allem eines: Alle Schüler der Bundesrepublik (z. B.) schreiben Aufgabenstellung und Lösungsweg beim Rechnen mit mehrstelligen Zahlen einheitlich in derselben Form, die für jede Rechenoperation von den Lehrplänen in penibler Weise samt den sogenannten ‚Sprechweisen‘ verbindlich vorgeschrieben ist. Festzustellen ist: Alle Schulbücher gaukeln Lehrern und Eltern schon ebenso lange vor, methodische Wege zu kennen, um Kindern das Verständnis dieser Normalverfahren nahezubringen. Und schließlich: Alle Lehrer schweigen zu der eklatanten Pleite, die sie diesbezüglich im Unterricht erleben, sei es, dass sie ihre Misserfolge nicht wahrnehmen, sei es, dass sie dieselben nicht eingestehen wollen. (S. 8) 25.3.2 Probleme des schriftlichen Rechnens Die schriftlichen Rechenverfahren der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sollen, wenn Kopfrechnen „zu schwierig“ und halbschriftliches Rechnen „zu umständlich“ werden, das Rechnen mit großen Zahlen erleichtern, sicherer machen und ökonomischer gestalten. Sie sind wichtige, exemplarische Beispiele für algorithmisches Vorgehen: Mehrmaliges Anwenden immer gleichartiger, eindeutig festgelegter Rechen-
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schritte führt bei jeder (zulässigen) Aufgabe eines Aufgabentyps nach endlich vielen Schritten zu einer eindeutig bestimmten Lösung. Algorithmisches Rechnen funktioniert ohne Verständnis der Rechenschritte und ohne Vorstellung von der Größe der Zahlen, mit denen gerechnet wird. Das Rechnen mit den Zahlen als Ganzes wird weitgehend reduziert auf das Rechnen mit einstelligen Zahlen (Ziffern) der einzelnen Stellenwerte. Darin unterscheiden sich schriftliche Rechenverfahren grundsätzlich vom Kopfrechnen und halbschriftlichem Rechnen (ebenfalls ein Kopfrechnen mit Notieren von Zwischenergebnissen). Dort rechnet man nach Rechengesetzen, die zu den jeweiligen Zahlen passend ausgewählt werden müssen, mit den Zahlen als Ganzes oder mit geeigneten Teilportionen der Zahlen. Selter (2000, S. 228) fasst das Kopfrechnen und das halbschriftliche Rechnen deshalb unter dem Oberbegriff Zahlenrechnen zusammen und grenzt die schriftlichen Rechenverfahren als Ziffernrechnen ab. Die genannten Vorzüge des algorithmischen Rechnens sind zugleich dessen große Gefahr: Nicht nur „rechenschwache“ menschliche Rechner produzieren bei rezepthaftem Rechnen im Nu unsinnige Ergebnisse. Dass die bereits im Zitat von Johann und Matros (2001, S. 8) erwähnten „eklatanten Pleiten“ häufig beim schriftlichen Rechnen in allen Schularten (!) auftreten, ist längst bekannt. Stellt man Schülern innerhalb einer Sequenz von etwa 15 Aufgaben zur schriftlichen Subtraktion zwei Aufgaben des folgenden Typs, so beträgt die Fehlerquote in Klassen des dritten bis achten Schuljahres etwa 80 % (Gerster, 1982). 5 9 3 7668 – 7 3 9 – 43945 Hier rechnen die meisten Schüler spaltenweise Ziffernergebnisse aus und ignorieren das beim höchsten Stellenwert entstehende Problem. Dabei ist die Aufgabenstellung keineswegs gekünstelt. Schülerinnen und Schüler stellen sich selber derartige Aufgaben, wenn sie beispielsweise bei der schriftlichen Division eine Quotientenziffer zu groß schätzen, ein Teilprodukt falsch berechnen oder bei Sachaufgaben einen falschen Ansatz wählen. Wegen eines Fehlers beim schriftlichen Subtrahieren dieses Typs bemerken sie dann ihren vorausgegangenen Fehler bei der Division oder ihrem Ansatz nicht, können ihn also nicht beheben. Ein generelles Problem dabei ist: Die Zahlen, mit denen man rechnet, werden nicht in ihrer Größe erfasst und für „pathologische“ Sonderfälle werden im Unterricht keine Rezepte behandelt. Nicht ganz so offensichtlich ist das Zustandekommen der Fehler in folgenden Beispielen (Abb. 11).
–
6 4 4 5 4 3 2 100000 5 0 1 3
8 0 7 8 – 4 0 0 2 100000 3 0 7 6
–
1
8 7 0 4 8 1 0 6
1 1 oo
1 0 5 9 8
–
3 6 5 2 5 8 1 1 0 07
Abbildung 11: Fehlerbeispiele zur schriftlichen Sub traktion
Diesem Fehlertyp könnte vielleicht ein besonderes Beachten des Sonderfalles „gleiche Ziffern übereinander“ vorbeugen. Dann müssten aber im Unterricht bei der schriftlichen Subtraktion viele Sonderfälle gesondert behandelt werden. Sicher würde auch hier ein
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| Teil VI: Schule und Unterricht Beachten der Größe der Zahlen als Ganzes (nicht bloß der Ziffernwerte) und ausreichendes Verständnis des Subtraktionsverfahrens den Fehlern verbeugen. Also ist zu überlegen, ob die für die Einführung des Verfahrens der schriftlichen Subtraktion gewählte Methode das Verstehen der Schüler ermöglicht oder eher behindert. Entsprechendes gilt für folgende typische Fehlerbeispiele zur schriftlichen Division (Abb. 12). a)
5670:7=8010 56 07 7 70 70 0
c)
8056:8=17 8 0056
b)
5218:6=8681R4 48 41 36 58 48 10 6 4
Abbildung 12: Fehlerbeispiele zur schriftlichen Division
Im Beispiel (a) rechnet der Schüler 7 : 7 = 0, 0 ∙ 7 = 7, 7 – 7 = 7 und 70 : 7= 10, wodurch beim letzten Divisionsschritt ein zweistelliger Teilquotient entsteht. Von diesen elementaren Fehlern abgesehen, bemerkt er auch nicht, dass 5.670 : 7 nicht 8.010 ergeben kann. Würde er sich zum Rechenausdruck eine passende Sachsituation vorstellen, beispielsweise das Verteilen von 5.670 Euro an sieben Personen, so würde ihm sofort auffallen, dass an der Rechnung etwas nicht stimmen kann und er könnte nach Fehlern suchen. Im Fehlerbeispiel (b) bemerkt der Schüler nach dem dritten Divisionsschritt nicht, dass er einen zu großen Rest erhalten hat (weil er die Quotientenziffer 8 statt 9 gewählt hatte) und notiert die sich so ergebende weitere Quotientenziffer „1“ als weitere Ziffer, anstatt sie zu der „8“ zu addieren. Dem Schüler ist dabei nicht bewusst, dass er zuerst 58 Einer und danach zehn Einer durch 6 dividiert hat und dabei jedes Mal Einer als Ergebnis erhielt. Ehe man im Unterricht ans schriftliche Dividieren geht, müsste für alle Kinder gesichert sein, dass man aus 58 Dingen neun Sechserportionen bilden kann (denn aus 60 wären es sogar zehn Portionen). Im Fehlerbeispiel (c) denkt der Schüler bei Rechenausdrücken wie 0 : 8, 5 : 8 „das geht nicht“ und holt so lange Ziffern herunter, bis die Division „wieder geht“. Hier gilt erst recht: Würde sich der Schüler zum Rechenterm eine konkrete Situation vorstellen, beispielsweise das Verteilen von 8.056 Euro an acht Personen, dann müsste ihm auffallen, dass sein Ergebnis nicht stimmen kann. Selter (2001) berichtet, dass von sechs Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 1.000, welche 300 Grundschulkindern an drei verschiedenen Terminen schriftlich vorgelegt wurden, die Aufgabe 701 – 698 die schwierigste war. Hierbei produzierten die Kinder 82 (!) verschiedene Resultate, die von 0, 1, 2, 3, 4 bis zu 1.399, 1.403 und
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 609
1.903 reichten. Nachdem die schriftliche Subtraktion eingeführt worden war, rechneten etwa 60 % der Kinder diese Aufgabe schriftlich, obwohl man das Ergebnis eigentlich sofort sagen kann, wenn man nutzt, dass Subtrahieren mit dem Unterschied der beiden Zahlen zu tun hat. Der Lösungserfolg erreichte beim dritten Termin den höchsten Wert, knapp 50 %. Die Gedanken dieses Abschnittes zusammenfassend kann man feststellen: Ohne tragfähiges Verständnis des jeweiligen Verfahrens – einschließlich sicherer Vorstellung von der Größe der Zahlen, mit denen man operiert – und ohne sichere Beherrschung der Basisfakten sind die schriftlichen Rechenverfahren äußerst fehleranfällig. Letzteres wird besonders deutlich, wenn man sich klar macht, dass bei der Multiplikation einer vierstelligen mit einer dreistelligen Zahl zwölf Einmaleinsaufgaben aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen sind. Beträgt die Wahrscheinlichkeit für ein richtiges Ergebnis bei einer Einmaleinsaufgabe 90 %, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle zwölf Einmaleinsaufgaben richtig abgerufen werden, nur noch 0,9012 ≈ 0,28 = 28 %. Bei 95 % Sicherheit sind es 0,9512 ≈ 0,54 = 54 % und bei 99 % Sicherheit immerhin 0,9912 ≈ 0,89 = 89 %. Wenn man nicht überzeugt ist, dass die Kinder 99-prozentige Sicherheit beim kleinen Einmaleins erreichen können, sollte man auf die schriftliche Multiplikation besser verzichten, da die Kinder sonst zu häufig Misserfolgsgefühle erfahren, was die Erfolgszuversicht beim Rechnen beeinträchtigt. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Sicherheit und Geläufigkeit bei der Beherrschung der Basisfakten nicht nur für schriftliche Rechenverfahren, sondern auch für das Kopfrechnen, halbschriftliches Rechnen und Überschlagen von Ergebnissen auf dem Taschenrechner benötigt werden. 25.3.3 Konsequenzen für die Behandlung schriftlicher Rechenverfahren Selter (2002, S. 16) fordert unter anderem, im Unterricht solle mehr Zeit auf das Zahlenrechnen – damit ist Kopfrechnen und halbschriftliches Rechnen gemeint – verwendet und die klassische Stufenfolge „erst mündlich, dann hauptsächlich halbschriftlich, schließlich fast nur noch schriftlich“ aufgelöst werden. Die Rechenmethoden des mündlichen, halbschriftlichen und schriftlichen Rechnens (vermutlich würde Selter auch den Taschenrechner einbeziehen) sollen durchgängiges Thema des Unterrichts sein. Das solle nicht ausschließen, dass zu bestimmten Unterrichtsphasen nicht auch ein besonderes Eingehen auf einzelne Methoden – also beispielsweise schriftliches Rechnen – sinnvoll sein könne. Ein Gefühl für Zahlen und ihre Zusammenhänge stelle sich wohl nicht automatisch ein, sondern müsse im Unterricht durch geeignete Aufgabenstellungen – nicht nur reine Zahlenaufgaben, sondern auch solche mit Realitätsbezug – entwickelt werden. Im Kommentar zum neuen bayerischen Lehrplan für die Grundschule (Auer & Hartwig, 2003, S. 226) wird festgestellt: Wenn auch die inhaltlichen Veränderungen im Lernbereich Rechnen im Vergleich zum bisherigen Lehrplan der Grundschule sehr gering ausfallen, so liegt ihnen aber ein an vielen Punkten verändertes mathematikdidaktisches Verständnis zugrunde. Das Ziel ist nach wie vor das gleiche: die Beherrschung des Kopfrechnens und der schriftlichen Rechenverfahren. Das Beherrschen des Rechnens kann nur über ein gründliches Ver-
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| Teil VI: Schule und Unterricht stehen der Operationen und Verfahren [Hervorhebung des Verfassers] gelingen. Es wäre vermessen, dies als neue mathematikdidaktische Erkenntnis zu bezeichnen, da darüber seit langem Konsens besteht. Allerdings ist die Frage, inwieweit dies in der unterrichtlichen Umsetzung immer so gelungen ist, nicht von der Hand zu weisen, was durch aktuelle Untersuchungen mehrfach belegt wird. Das Nachdenken über mathematische Zusammenhänge, das Suchen und Entdecken variabler Lösungswege und deren logischer Begründung muss wieder mehr im Zentrum des Unterrichts stehen, begleitet von einer intensiven kind- und sachgerechten Übung. Ein rein formales so genanntes Üben eines nur teilweise oder gar nicht verstandenen Verfahrens anhand zahlloser Beispiele hat sich nicht bewährt. Die abzuleitenden Konsequenzen umfassen drei Aspekte, die im Folgenden näher erörtert werden sollen. 25.3.3.1 Sicherung der Basisfakten Zur Sicherung der Basisfakten ist es ab dem ersten Schuljahr erforderlich, enge Verbindungen herzustellen zwischen Anwendungen in konkreten Alltagssituationen (damit das Kind den Sinn des Rechnens erkennt und Interesse am Ergebnis entwickeln kann), modell- und bildhaften Darstellungen der Operationen und den zugehörigen Rechenausdrücken also den symbolischen Notationen. Dabei ist zu beachten: a) Kinder sollen sich Zahlen als gegliederte Quantitäten vorstellen, nicht nur als Ziffern oder Positionen in der Zahlwortreihe oder am Zahlenstrahl. Besonders wichtig sind dabei Verdoppelungen und Halbierungen sowie Beziehungen der Zahlen zur Fünf und zur Zehn. b) Sie sollen sich Rechenoperationen als (statisches) Ergebnis von Handlungen an geeignet gegliederten Quantitäten vorstellen, nicht nur als Anweisungen für die Durchführung aufeinanderfolgender Zählvorgänge. Besonders wichtig ist dabei das Verdoppeln und Halbieren sowie das Rechnen mit Fünfer- und Zehnerportionen. c) Eine Automatisierung der Basisfakten soll sich aus einsichtigem Herstellen von Beziehungen zwischen Zahlensätzen anhand visueller Vorstellungen bei gegliederten Quantitäten ergeben, nicht nur durch sprachlich-assoziatives, mechanisches Auswendiglernen. Auch dabei sind das Verdoppeln und Halbieren sowie Beziehungen der Zahlen zur Fünf und zur Zehn besonders nützlich. Dafür einige wenige Beispiele: Beim Addieren ist wichtig, dass – wie später bei der schriftlichen Addition – die Teilportionen nicht zusammengeschoben, sondern nur zusammengedacht werden. Dadurch kann reflektiert werden, wie die Summe zustande kommt (Abb. 13). Entsprechendes gilt für das Subtrahieren (Abb. 14). Hierbei ist wesentlich, dass der abzuziehende Teil nicht weggenommen, sondern nur markiert wird, so dass der Zusammenhang zwischen den Teilen und dem Ganzen reflektiert werden kann.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 611
6 + 6 = 12
6 + 7 = 12 + 1 6
6 + 8 = 12 + 2 6
1
6+8= 7+7
2
Abbildung 13: Nicht zählende Strategien (Verdoppeln, Verdoppeln plus 1, Verdoppeln plus 2)
13 – 5 = 8
14 – 7 = 7
Abbildung 14: Fünfertrick und Halbieren beim Subtrahieren
Auch Aufgaben zur Multiplikation und Division lassen sich anhand geeignet gegliederter Zahldarstellungen mit Nichtzählstrategien berechnen. Beim Multiplizieren werden nach dem Teile-Ganzes-Konzept mehrere gleich große Teilportionen zu einem Ganzen zusammengefasst (Abb. 15).
Abbildung 15: Zur Berechnung von Vielfachen der 6 und der 9
In Abbildung 15 ist leicht zu sehen, dass 2 ∙ 6 = 12 und 4 ∙ 6 = 24 ist. Wieder zeigt sich der Vorteil des Zusammenfassens von Fünferportionen. Ebenso kann man leicht erkennen: 2 ∙ 9 = 20 – 2 = 18, 3 ∙ 9 = 30 – 3 = 27 und 4 ∙ 9 = 40 – 4 = 36 (Vorteil des Rechnens mit Zehnerportionen). Beim Dividieren wird ein Ganzes in mehrere gleich große Teilportionen zerlegt (Abb. 16).
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| Teil VI: Schule und Unterricht
24 : 6
Abbildung 16: 24 Plättchen in Sechserportionen aufgeteilt ergeben 4 Portionen
25.3.3.2 Sicherung der Zahlvorstellung Vor der Behandlung der schriftlichen Rechenverfahren ist dafür zu sorgen, dass alle Kinder der Klasse zumindest im Zahlenraum bis 1 000 sichere quantitative Vorstellungen von den Zahlen entwickelt haben. Dies ist allzu häufig auch im dritten Schuljahr nicht gewährleistet. Immer wieder stoßen wir im dritten oder gar vierten Schuljahr auf Kinder, die nicht auf Anhieb sagen können, wie viele Zehner-Eierschachteln man braucht, um 24 Eier zu verpacken oder wie viele Zehner-Perlenketten man auffädeln kann, wenn man 47 Perlen zur Verfügung hat. Zum Zahlverständnis gehört, dass die Kinder die Zehnerbündelung und die Stellenwertschreibweise im Zehnersystem verstanden haben. Dafür genügt es nicht, dass die Kinder sagen können, „das ist die Zehnerstelle, das die Hunderterstelle“ oder dass sie die Ziffern einer Zahl in eine Stellenwerttabelle eintragen können. Dies können Kinder nicht selten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass jeder Zehner in zehn Einer und jeder Hunderter in zehn Zehner umgetauscht werden kann. Sie haben dann keine klare Vorstellung, welche Quantität eigentlich eine Zahl wie „256“ bedeutet. Eine Einführung in die Stellenwertschreibweise am Ende des ersten oder zu Beginn des zweiten Schuljahres kann man bei Johann und Matros (2001, S. 32-45) nachlesen. Dort wird ein Schulabakus eingeführt. Er besteht aus Teppichflicken oder Kartonstücken der Größe 10 cm x 10 cm. Diese werden in eine Reihe gelegt und von rechts nach links (!) durchnummeriert (Abb. 17). 3. Feld
2. Feld
1. Feld
Abbildung 17: Schulabakus
Auf diesen Feldern werden Zahlen mit Hilfe von Steinchen dargestellt. Im Unterricht verwendet man zweckmäßig Holzwürfelchen der Kantenlänge 1 cm, die im Lehrmittelhandel erworben werden können und an den meisten Schulen vorhanden sind. Sie haben den Vorteil, dass sie leicht zu greifen sind und nicht wegrollen. Die Zahldarstellung und das Rechnen auf diesem Abakus beruhen auf folgender Bündelungsregel: Ersetze zehn Steinchen, die in einem Feld liegen, durch ein Steinchen im Feld links daneben. Wichtig
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dabei ist, dass die Schüler nach dieser Regel handeln können. Sie aufsagen zu können, ist eher unwesentlich. Zählt man 47 Steinchen ab und legt sie auf das erste Feld, so ergibt sich nach einigen Zehnerbündelungen die zweite Darstellung, die der Stellenwertschreibweise im Zehnersystem entspricht (Abb. 18).
..... ..... ..... ..... ..... ..... ..... ..... ..... ..... ..... .. ....
..... .. Abbildung 18: Zahldarstellung auf dem Schulabakus
Auf der symbolischen Ebene ergeben sich weitere Darstellungen dieser Zahl (Abb. 19).
„sieben-und-vier-zig“
„vier-zig-und-sieben“
40 7
47
Abbildung 19: Symbolische Zahldarstellungen
Durch derartige Handlungen am Abakus lernen die Kinder, dass „siebenundvierzig“ nicht ein Zahlwort ist wie „fünf“ oder „zwölf“, sondern wie „drei-zehn“, „vier-zehn“ aus mehreren Komponenten aufgebaut ist. „Sieben-und-vier-zig“ ist eine kurze Formulierung für „sieben und vier Zehner“ oder „vier Zehner(-portionen) und noch sieben“, also für eine Zusammensetzung einer Quantität aus mehreren Teilportionen. Wichtig dabei ist, dass die Kinder die Entstehung der Zehner handelnd ausführen, um eine Vorstellung von der Quantität solcher zusammengesetzter Zahlwörter zu entwickeln. Das Entscheidende ist, dass die Kinder enge Verbindungen zwischen der konkreten Zahldarstellung mit didaktischem Material, dem gesprochenen Zahlwort „sieben-und-vier-zig“ und der abstrakten Ziffern-Zahl „47“ herstellen. Nähere methodische Details dazu kann man bei Johann und Matros (2001) nachlesen. Der spezifische Vorteil des Schulabakus liegt darin, dass man damit nicht nur die – in beliebig große Zahlenräume fortsetzbare – Zehnerbündelung, sondern auch ein echtes Stellenwertsystem darstellen kann. Denn der Wert eines Plättchens hängt davon ab, an welcher Stelle es liegt: Im ersten Feld stellt es einen Einer dar, im zweiten Feld einen Zehner, der in zehn Einer umgewechselt werden kann und umgekehrt, und im dritten Feld stellt ein gleichartiges Plättchen einen Hunderter dar, der in zehn Plättchen des Zehnerfeldes umgewechselt werden kann.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Einfacher zu handhaben ist das im Lehrmittelhandel erhältliche und an vielen Schulen vorhandene Zehnersystem-Material, bestehend aus Einer-Würfeln, Zehner-Stangen, Hunderter-Platten und Tausender-Blöcken. Dabei handelt es sich nicht um ein Stellenwertmaterial, da es auf die Stelle, an der die Teile liegen, nicht ankommt. Es ist aber möglich, das Material wie in einer Stellenwerttafel sortiert und geordnet zu legen. Wenn man halbierte Zehner-Stäbe und Hunderter-Platten verwendet, kann man die „Kraft der Fünf“ nutzen und das In-Einer-Schritten-Abzählen der Teile einer Sorte vermeiden. Für die Zahl „147“ ergibt sich folgende Darstellung (Abb. 20):
ein-hundert-siebenund-vier-zig
147
Abbildung 20: Zahldarstellung mit Zehnersystem-Material
Vor Behandlung der schriftlichen Rechenverfahren müssen den Kindern alle sechs durch die Pfeile angegebenen Übersetzungsrichtungen zwischen den drei Zahldarstellungen geläufig sein. 25.3.3.3 Sicherung des Verständnisses des Rechenverfahrens Auch für die Sicherung des Verständnisses der Rechenverfahren ist die Koppelung des Verfahrens an Verwendungen im Alltag und das Herstellen enger Verbindungen zwischen Handlungen an didaktischen Materialien, bildhaften Darstellungen und den symbolischen Notationen wesentlich. Nachdem die Verfahren eingeführt sind, ist es sicher wichtig, von Schülern falsch gelöste Aufgaben auf die Art der Fehler zu analysieren und dem Schüler entsprechende Rückmeldungen zu geben. Darüber hinaus ist es nützlich, mit Hilfe diagnostischer Tests gelegentlich zu überprüfen, mit welchen Sonderfällen das Kind eventuell noch Schwierigkeiten hat. Diagnostische Tests sollten so konstruiert sein, dass die Aufgaben Merkmale enthalten, die erfahrungsgemäß bei Schülern Fehler auslösen. Diagnostische Tests zu allen schriftlichen Rechenverfahren findet man bei Gerster (1982, 1994), zur Subtraktion bei Gabriel (1998b), zur Multiplikation bei Thiemann und Padberg (2002) sowie Thiemann (2003). In diesen Beiträgen findet man auch Hinweise zur Analyse von Schülerfehlern. Weitere Hinweise zur Fehleranalyse bei allen schriftlichen Rechenverfahren kann man bei Grassmann (2003) und Lorenz (2003), zur schriftlichen Addition und Subtraktion bei Bobrowski (2003) nachlesen. Generell ist zur Behandlung der schriftlichen Verfahren zu sagen, dass nicht die Masse der Übungsaufgaben den Erfolg bringt, sondern das durch sorgfältige Einführung von den Kindern erreichte Verständnis des Verfahrens, welches durch gelegentliche Wie-
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derholung, mit ähnlicher Sorgfalt wie bei der Einführung, wieder aufgefrischt werden sollte. Auf spezifische Probleme der einzelnen schriftlichen Rechenverfahren gehen die nachfolgenden Abschnitte ein. 25.3.4 Schriftliche Addition Das Verfahren der schriftlichen Addition ist unproblematisch und wird derzeit nicht in Frage gestellt. Dennoch sind einige Anmerkungen zu machen. Wie alle schriftlichen Rechenverfahren soll auch die schriftliche Addition aus einer passenden Sachsituation mit Zahlenwerten, welche schriftliches Rechnen nahe legen, entwickelt werden. Bereits beim Einstiegsbeispiel soll mindestens eine Zehnerüberschreitung erforderlich sein, da sonst der Beginn mit der Einerstelle nicht zu begründen ist. Es ist zweckmäßig, die Zehner überschreitung in der Einerstelle vorzusehen. Das Verfahren soll zuerst mit didaktischem Material modelliert werden. Es ist vorteilhaft, das Material auf einem Tablett (ein Stück Karton genügt) zu legen, am besten mit einem Trennstrich, der die beiden Summanden voneinander abgrenzt. Betrachten wir ein Beispiel (aus Platzgründen vereinfachen wir in Abbildung 21 das Zehnersystem-Material).
4 3 8 + 2 1 6 1
6 5 4
Abbildung 21: Darstellung der schriftlichen Addition mit Zehnersystem-Material und in schriftlicher Form
Wichtig beim Darstellen einer Summe ist, dass die Darstellungen der beiden Summanden nicht zusammengeschoben werden, wie es in Schulbüchern und auch im Unterricht oft geschieht. Die Summe ist dennoch bereits vorhanden: Sie wird durch das Material dargestellt, das insgesamt auf dem Tablett liegt. Man muss nur die beiden Teile des Ganzen zusammendenken bzw. zusammensehen. Das mühelose Addieren einstelliger Zahlen muss vor Einführung der schriftlichen Addition ohnehin vorausgesetzt werden. Im Abschnitt 25.3.3.1 (Sicherung der Basisfakten) wurde auf einige ökonomische
616
| Teil VI: Schule und Unterricht Nichtzählstrategien zur Erarbeitung des kleinen Einsundeins hingewiesen. Auch dort wurde auf Zusammenschieben verzichtet und stattdessen „zusammengedacht“. Das Zusammenfassen von Fünfer-Portionen erleichtert zudem die Zehnerübergänge. Würde man das Material, welches die beiden Summanden darstellt, zusammenschieben, könnte man die Aufgabenstellung am Material nicht mehr erkennen und es gäbe für die Art des Zustandekommens des Ergebnisses keine anschauliche Grundlage mehr, die reflektiert und in der Klasse bzw. mit dem Förderkind diskutiert werden könnte. Wichtig ist auch, mit den Kindern – wie bereits bei der Einführung der Ziffernschreibweise für mehrstellige Zahlen – erneut zu klären, dass im Zehnersystem in der Einer-, Zehner-, Hunderterstelle usw. jeweils höchstens die Ziffer „9“ vorkommen darf. Deshalb ist es vorteilhaft, beim schriftlichen Addieren mit den Einern zu beginnen: Man kann dann einen etwaigen Übertrag aus einer Stelle gleich in der nächsthöheren Stelle hinzufügen. In Abbildung 21 ist der Übertrags-Zehner nur gestrichelt eingezeichnet. Er ist nur ein „gedachter“ Zehner, da wir auf dem Tablett die beiden Fünfer-Portionen in der Einerspalte liegen lassen, also nicht in einen Zehnerstab umtauschen. Diese beiden Fünfer stellen den Übertrags-Zehner dar und werden nach der Einführung der schriftlichen Addition als „kleine Eins“ notiert. Wir müssen ihn in die Zehner-Spalte „hinüberdenken“. Bei der Einführung der schriftlichen Addition gehen wir, um die Lernenden zu motivieren, von einer konkreten Sachsituation aus, stellen die vorkommenden Zahlen mit didaktischem Material dar, bestimmen mit diesem die Summe und nennen das Resultat. Erst nachdem das Verfahren an ausreichend vielen Beispielen, die auch Sonderfälle mit Nullen, Stellenunterschieden, gleichen Ziffern übereinander usw. einschließen, zunächst nur mit dem Material durchgeführt worden ist, entwickeln wir auf dieser VerständnisGrundlage eine kurze schriftliche Notation. Die schriftliche Darstellung einer Addition soll vorläufig lediglich als eine Art Kurzschrift für die Handlung am didaktischen Material aufgefasst werden. Der Bogen bei der schriftlichen Addition fasst die beiden Summanden zusammen und erinnert die Kinder an die Darstellung der Aufgabe mit dem didaktischen Material auf dem Tablett. Die Kinder müssen jeder Ziffer dieser schriftlichen Addition eine passende (Be)-Deutung zuordnen können. Der Ziffer „8“ beispielsweise sollen sie das zugehörige Vorstellungsbild in der Abbildung zuordnen können. Verwenden von Fünfer-Portionen beim Legen erleichtert das Erkennen der Summen in den einzelnen Stellenwerten. Die kleine Eins in der schriftlichen Notation erinnert uns daran, dass wir in der Zehnerspalte einen Zehner hinzudenken müssen. Regelmäßiges Mitsprechen der Stellenwerte beim schriftlichen Rechnen erleichtert das Zuordnen der Stellenwert-Bedeutung der Ziffern. Also nicht „sechs plus acht gleich vier-zehn“, sondern „sechs Einer plus acht Einer sind vier-zehn Einer“. Ein Problem bei der schriftlichen Addition ist die fehlende Automatisierung des kleinen Einsundeins, häufig als Folge von zählendem Rechnen, insbesondere mit Abweichungen um 1. Fehlerauslösende Aufgabenmerkmale sind in den Summanden auftretende Nullen und Unterschiede in der Anzahl der Stellen der Summanden, wobei man die „leeren Stellen“ auch als Nullen deuten könnte. Auf Probleme beim Umgang mit der Null haben die Arbeitsgruppen um Kornmann und Wagner (Kornmann, Frank & Holland-Rummer, 1999; Kornmann, Holland-Rummer, Frank & Mack, 1997; Kornmann & Wagner, 1990; Wagner & Born, 1994; Wagner, Seeger-Kelbe & Kornmann, 1991) mehrfach hingewiesen (vgl. Tabelle 2).
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 617
Tabelle 2: Diagnoseaufgaben zur schriftlichen Addition Die Aufgaben enthalten Schwierigkeitsmerkmale wie Null in einem Summanden, Null im Ergebnis, zusätzliche Stelle im Ergebnis, unterschiedliche Stellenanzahl, Übertrag zur „0“, zur „9“, in eine leere Stelle. Zahlenraum bis 1 000
663 +245
86 +95
138 +693
706 + 97
618 +304
58 +107
Zahlenraum bis 1 000 000 +
26745 9608
+ +
96442 5294 98
+
98533 4907
+ + +
64000 4500 36 1406
25.3.5 Schriftliche Subtraktion Die schriftliche Subtraktion ist das derzeit meist diskutierte schriftliche Rechenverfahren. Unter dem Stichwort „eine Möglichkeit zur Öffnung des Mathematikunterrichts“ fordern Radatz und Schipper (1997a, 1997b) sowie Bedürftig und Koepsell (1998) die Freigabe des Verfahrens der schriftlichen Subtraktion. Wittmann und Padberg (1998) diskutieren das Pro und Kontra einer solchen Freigabe. Über erste Erfahrungen mit dem Entbündelungsverfahren berichten Siemens, Bluhm und von Knebel (1998), Siemens und von Knebel (2000) sowie Sand, Lo und Peter-Koop (2001). Verschiedene Varianten des Verfahrens der schriftlichen Subtraktion werden in Gerster (1982, 1994), Padberg (1992) und Radatz, Schipper, Dröge und Ebeling (1999) diskutiert. Bedürftig und Koepsell (1998, S. 19) vertreten die Ansicht, dass Abziehen und Ergänzen für Schüler der dritten Klasse ganz verschiedene Operationen seien und je nach Anwendung im Alltag (im Schema der schriftlichen Subtraktion) abgezogen oder (im Schema der schriftlichen Addition) ergänzt werden sollte. Mit Beschluss vom 14.12.2001 hat die Kultusministerkonferenz den Anhang zu ihren Empfehlungen von 1958 mit der Normierung von Notationsformen und Sprechweisen aufgehoben (Schipper, 2003, S. 108). Lehrplanrevisionen der Bundesländer werden voraussichtlich dazu übergehen, den Lehrerinnen und Lehrern zu überlassen, welches Verfahren sie bevorzugen. Dies erfordert allerdings erhöhte Kompetenz der Lehrkräfte und hat Konsequenzen sowohl für die Diagnose der Verständnisschwierigkeiten der Kinder als auch für Fördermaßnahmen. Der Anhörungsentwurf für den neuen Lehrplan an Grundschulen in Baden-Württemberg fordert weiterhin die Beherrschung der vier schriftlichen Rechenverfahren, enthält aber keine Vorgaben mehr zu Normalverfahren. Im Lehrplan für die Grundschulen in Bayern (Auer & Hartwig, 2003) wird für die Subtraktion das Abziehen mit Entbündeln als vorrangig zu
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| Teil VI: Schule und Unterricht behandelndes Verfahren genannt. Einigkeit besteht bei allen Autoren darin, dass oberstes Ziel das Verständnis des Verfahrens sein muss, denn ohne dieses gehören die schriftlichen Rechenverfahren mit Sicherheit zu den „fehleranfälligen Lernbereichen“ (Krauthausen & Scherer, 2001, S. 180). Dafür scheint es notwendig, das Verfahren zunächst anhand eines geeigneten didaktischen Materials zu entwickeln und einzuüben und die danach vereinbarte schriftliche Notation eng an die dabei erworbenen Vorstellungen zu koppeln, damit die Kinder sich jederzeit die Bedeutung der Ziffern und der Manipulationen bewusst machen können. Anregungen dazu werden aus Platzgründen nur für zwei verschiedene Subtraktionsverfahren dargestellt: das Abziehen mit Entbündeln (auch norddeutsches Verfahren und fälschlich Borgemethode genannt) und das Ergänzen ohne Erweitern (auch als Auffüllmethode, süddeutsche oder österreichische Methode bezeichnet). Grundlegend für das Verständnis der Subtraktion ist der Begriff „Differenz“ oder „Unterschied“. Die Differenz 7 – 3, also der Unterschied zwischen Drei und Sieben, gibt an, wie viel vom Ganzen (7) übrig bleibt, wenn man davon den bekannten Teil (3) wegnimmt (Deutung als Abziehen) und sie gibt an, wie viel man zum bekannten Teil (3) hinzufügen muss, um das Ganze (7) zu erhalten (Deutung als Ergänzen). Wenn wir die Additionsaufgabe „4 + 3“ modellieren wollen, legen wir die Teilportionen auf ein Tablett und schreiben die Gesamtzahl auf ein Schild. Um die Subtraktionsaufgabe „7 – 3“ zu modellieren, haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder legen wir das Ganze (7) auf das Tablett und schieben den bekannten Teil des Ganzen (3) auf dem Tablett auf eine Seite oder wir legen den bekannten Teil (3) auf das Tablett und ergänzen dort so viel, dass auf dem Tablett das auf ein Blatt geschriebene Ganze (7) entsteht (Abb. 22).
?
7
?
Addition
und
Subtraktion
Abbildung 22: Darstellung der Addition und der Subtraktion nach dem TeileGanzes-Konzept
Wie bei der schriftlichen Addition soll auch bei der schriftlichen Subtraktion bereits das Einstiegsbeispiel eine Zehnerüberschreitung erfordern, weil sich sonst nicht begründen lässt, weshalb das Verfahren – im Unterschied zum Kopfrechen und halbschriftlichen Rechnen – mit der Einerstelle beginnt. Das Verfahren soll aus einer passenden Sachsituation mit Zahlenwerten entwickelt werden, welche schriftliches Rechnen nahe legen. Damit die nachfolgenden Grafiken nicht überladen werden, wurden relativ kleine Zahlenwerte gewählt. 25.3.5.1 Subtrahieren durch Ergänzen (Auffüll-Verfahren) Zur Aufgabe 453 – 237, die ja den Unterschied der beiden Zahlen darstellt, sollen die Kinder eine Sachsituation erfinden. Sie könnte lauten: Timm möchte eine Stereoanlage
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 619
kaufen. Sie kostet 453 Euro. Er hat erst 237 Euro gespart. Den fehlenden Rest legen die Eltern dazu. Wie viel fehlt noch? Um die Aufgabe mit didaktischem Material zu modellieren, legen wir 237 Euro auf ein Tablett, das den Zahlteller darstellen soll. Den Zielbetrag (453 Euro) schreiben wir auf ein Blatt, das wir neben das Tablett legen. Er wird zunächst nicht mit Material dargestellt, sondern ergibt sich auf dem Tablett durch mentales Zusammenfassen der bereits vorhandenen und der zu ergänzenden Teilportion des Ganzen. Die als Ziel angegebenen drei Einer erreichen wir dadurch, dass wir zu den bereits auf dem Zahlteller liegenden sieben Einern noch sechs Einer dazu legen, denn so entstehen 13 Einer, von denen wir uns – wie beim Addieren – einen Zehner hinüberdenken müssen zu den Zehnern. Der in der Abbildung nur gestrichelt gezeichnete „Übertrags-Zehner“ wird durch die beiden Fünferportionen in der Einerspalte dargestellt. Der Übertrag zum nächsthöheren Stellenwert ergibt sich genau so wie beim Addieren (Abb. 23).
4 100
100
5 10
10
3 10
1 1 1 1 1 1 1
4 5 3 – 2 3 7 1
2 1 6 10
100
100
10
1 1 1 1 1 1
Abbildung 23: Auffüllmethode mit Rechengeld und in schriftlicher Form
Erst nachdem die Handlung des Auffüllens eines vorhandenen Betrages zu einem vorgegebenen Zielbetrag an genügend vielen Beispielen geübt worden ist, die auch fehleranfällige Sonderfälle wie gleiche Ziffern übereinander, unterschiedliche Stellenzahl, Null im Minuenden oder im Subtrahenden usw. einschließen, führen wir das schriftliche Verfahren als „Handlungsprotokoll in Kurzschrift“ ein. Treten beim Rechnen auf symbolischer Ebene Fehler auf, stellen wir die Aufgabe in der gewohnten Weise mit Material dar und klären den Zusammenhang zwischen der Handlung mit Material und der symbolischen Notation. 25.3.5.2
Subtrahieren durch Abziehen und Entbündeln („Borgeverfahren“)
Zur Aufgabe 453 – 237 sollen die Kinder eine Sachsituation erfinden. Sie könnte lauten: Timm hat 453 Euro gespart. Jetzt möchte er eine Stereoanlage für 237 Euro kaufen. Wie
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| Teil VI: Schule und Unterricht viel Euro bleiben übrig? Um die Aufgabe mit didaktischem Material darzustellen, legen wir 453 Euro auf ein Tablett. Davon sind 237 Euro abzuziehen. Dies stellen wir dadurch dar, dass wir vom Gesamtbetrag den Teilbetrag 237 Euro abgrenzen. In Abbildung 24 ist der Gesamtbetrag grau unterlegt und die Abzieh-Handlung durch eine Art Lasso gekennzeichnet, das die wegzudenkenden Teilbeträge (den Subtrahenden) markiert.
100 100
100 100
10 10
10
10
1 1 1 1 1 1 1 1
10
1 1 1 1 1
4 10
4 5 3 – 2 3 7 2 1 6
Abbildung 24: Abziehen mit Entbündeln und in schriftlicher Form
Damit wir in der Einerspalte sieben Euro wegnehmen können, denken wir uns einen Zehn-Euroschein aus dem Gesamtbetrag entbündelt, also in zehn Euro-Münzen umgetauscht. Der Abzugsbetrag, der Subtrahend, ist durch drei Lassos markiert. Man kann auch den Restbetrag (216 Euro) erkennen und insbesondere, wie er zustande kommt. Man könnte den abzuziehenden Betrag auch etwas wegziehen, was in der nachfolgenden Abbildung (Abb. 25) durchgeführt wurde. Keinesfalls sollte man ihn ganz entfernen, da sonst der Gesamtbetrag nicht mehr sichtbar wäre. Es ist vorteilhaft, den durch die Subtrahendenziffer angegebenen Betrag von dem durch Umtauschen entstandenen Zehner abzuziehen, denn damit hat man stets eine Grundaufgabe (Abziehen von 10) zu lösen (Abb. 25). Was dabei übrig bleibt, wird zum Betrag im Minuenden addiert. Die Kinder müssen sich bei dieser Art der Darstellung darin üben, zuerst den Minuenden (453 Euro, hier grau unterlegt) zu sehen, dann den durch die Lassos markierten Subtrahenden (–237 Euro) und schließlich den verbleibenden Rest, das Ergebnis (216 Euro).
100
10
100 10
100
100
10
10
1 1 1 1 1
10
1 1 1
1 1 1 1 1
Abbildung 25: Abziehen mit Entbündeln
Fragwürdig ist es, sowohl den Minuenden als auch den Subtrahenden mit Material darzustellen, wie es beispielsweise im Kommentar zum bayerischen Lehrplan für die Grundschule (Auer & Hartwig, 2003, S. 227) geschieht. Denn der Subtrahend ist vom Minuenden wegzunehmen, er ist ein Teil des Minuenden. Ein spezifisches Problem des Subtrahierens durch Abziehen mit Entbündeln entsteht, wenn der Minuend Nullen enthält, von denen ja nichts „geborgt“ werden kann. Ein markantes Beispiel ist das Subtrahieren von Zahlen mit mehreren Nullen. Bei der Berechnung von 1 000 – 687 kann man von null Einern nicht sieben Einer wegnehmen. Man muss also einen Zehner entbündeln. Dort ist aber keiner. Man muss also einen Hunderter ein-
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 621
tauschen. Dort ist aber auch keiner. Man muss also einen Tausender entbündeln. Damit hat man zehn Hunderter. Einen davon kann man eintauschen, es sind also nur noch neun Hunderter und zehn Zehner. Von diesen kann man wieder einen Zehner entbündeln und erhält zehn Einer. Davon kann man sieben Einer subtrahieren (Abb. 26).
–
9 9 10 10 10
10 10 ivv 4 1 0 10
1 0 0 0 6 8 7 3 1 3
5 2 1 3 – 2 2 4 8 2 9 6 5
Abbildung 26: Schriftlich Subtrahieren nach dem Abziehverfahren mit Entbündeln
Bei dieser Manipulation hat man 1.000 umgewandelt in 990 + 10 und jetzt kann man in jeder Stelle bequem abziehen, da im Minuenden von jeder Einheit 9 oder 10 Exemplare zur Verfügung stehen. Auch beim Aufgabenbeispiel 5.213 – 2.248 ist mehrfaches Entbündeln erforderlich. Hierbei wird die Zahl 5.213 in 4.000 + 1.100 + 100 + 13 umgewandelt. Man kann sich angesichts dieser Beispiele schon fragen, ob das Abziehen mit Entbündeln (das sogenannte Borgeverfahren) wirklich einfacher ist als die AuffüllMethode zur Berechnung von Differenzen (nachfolgende Beispiele), zumindest dann, wenn das Auffüll-Verfahren an didaktischem Material handelnd eingeführt und durch Koppelung der symbolischen Notation an die konkrete Handlung mit Material wirklich verstanden ist.
–
1 0 0 0 6 8 7
5 2 1 3 – 2 2 4 8
3 1 3
2 9 6 5
1 1 1 nn
1 1 1 nn
Abbildung 27: Schriftlich Subtrahieren nach dem Auffüll-Verfahren
Für die Auffüll-Methode spricht auch die Erleichterung des Verständnisses einer einfachen Kontrollrechnung: Man deckt den Minuenden mit dem Rand eines Blattes ab Tabelle 2: Diagnoseaufgaben zur schriftlichen Subtraktion Die Aufgaben enthalten Schwierigkeitsmerkmale wie Null im Minuenden, im Subtrahenden oder im Ergebnis, unterschiedliche Stellenanzahl, gleiche Ziffern übereinander, Übertrag zur „0“, zur „9“, in eine leere Stelle. Zahlenraum bis 1 000
Zahlenraum bis 1 000 000
7 0 4 7 7 3 – 2 6 2 – 4 0 7
–
8 4 9 6 2
8 2 1 5 0 6 – 7 8 8 – 2 0 7
–
994 98
–
8 6 3 3 6 6 3 2 2
9 7 7 0 4 – 8 6 7 0 8
9 8 7 3 1 – 9 5 3 9 3 –
3 1 0 0 0 0 9 6 4
–
–
1000 694
38170 706
96900 – 25998
622
| Teil VI: Schule und Unterricht und addiert dort die durch die Klammer zusammengefassten Zahlen (den Subtrahenden und die Differenz). Die so bestimmte Summe muss mit dem anschließend wieder aufgedeckten Minuenden übereinstimmen. 25.3.6 Schriftliche Multiplikation Über Kopfrechnen und halbschriftliches Rechnen, beispielsweise mit dem „Malkreuz“ (Wittmann & Müller, 1992, S. 59), finden Kinder viele unterschiedliche Wege, Produkte wie 5 · 1.234 oder 125 ∙ 44 auszurechnen. Bei zunehmender Größe der Zahlen werden Kopfrechenmethoden und halbschriftliche Rechenstrategien immer aufwändiger. Dies kann die Suche nach einem Verfahren mit wenig Schreibaufwand und hoher Rechensicherheit motivieren. Wenn man möchte, dass alle Kinder einer Klasse ein einheitliches Verfahren kennen, muss man aus der Vielzahl schriftlicher Rechenverfahren eines auswählen, beispielsweise das von der Kultusministerkonferenz 1958 empfohlene und 1976 bestätigte Verfahren der schriftlichen Multiplikation. Auch wenn Kinder dieses Verfahren nicht selbst entdecken, können sie es verstehen, wenn sie es mit ihrem Vorwissen in Verbindung bringen. Sollen Kinder herausfinden, wie viel Geld die Gemeinde für die Anschaffung eines Laptops für jedes Kind der Klasse ausgeben müsste, so lautet das zugehörige Produkt beispielsweise 27 ∙ 1.325 Euro. Dieses Produkt werden einige Kinder aus den Teilprodukten 20 ∙ 1.325 Euro und 7 ∙ 1.325 Euro zusammensetzen und wie folgt berechnen: 7 ∙ 1 3 2 5
1 3 2 5 + 1 3 2 5 +1325 +1325 +1325 + 1 3 2 5 + 1 3 2 5
2·1325 = 2650 20·1325 = 26500
+
26500 9275
2 1 3
1
9 2 7 5
35775
Das mühsame Addieren lauter gleicher Summanden in den Spalten der Additionsliste lässt sich durch Multiplizieren abkürzen. So kann man begründen, dass die schriftliche Multiplikation wie die schriftliche Addition (und Subtraktion) bei den Einern beginnt. Das umständliche Aufschreiben der vielen gleichen Summanden legt es nahe, zum Aufschreiben eines Produktes mit einstelligem Multiplikator eine Kurzform zu verwenden. Die Kultusministerkonferenz hat dafür folgende Form empfohlen, bei der im Unterschied zum Kopfrechnen und halbschriftlichen Rechnen – wegen des Beginns mit der Einerstelle des Multiplikanden und um kürzere Blickführung zu ermöglichen – der Multiplikator rechts neben den Multiplikanden geschrieben wird und die Einerstelle des Ergebnisses genau darunter (Abb. 28). Obige Additionsliste macht deutlich, dass Überträge zum nächsthöheren Stellenwert entstehen können. Damit ergibt sich entsprechend zur Sprechweise beim schriftlichen
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 623
1 3 2 5
·
7
9 2 7 5
Abbildung 28: Schriftliche Multiplikation mit einstelligem Multiplikator
Addieren für das schriftliche Multiplizieren zwanglos die Sprechweise: 7 mal 5 (E) sind 35 (E), schreibe 5 (E) und behalte 3 (Z). 7 mal 2 (Z) = 14 (Z). 14 (Z) und 3 (Z) sind 17 (Z). Schreibe 7 (Z), behalte 1 (H), usw. Beim schriftlichen Multiplizieren sagen wir „behalte“ oder „merke“ an Stelle „übertrage“ und signalisieren damit: Behalteziffern werden im Unterschied zu Übertragsziffern nicht notiert und können mit den Fingern der freien Hand „behalten“ werden bis sie addiert sind. Danach werden die Finger sofort spürbar weggeklappt. Das Multiplizieren mit einer Zehnerzahl (hier mit 20) lässt sich in zwei Schritten ausführen: Zuerst multiplizieren wir mit dem einstelligen Faktor (hier der „2“) und das Ergebnis dann mit Zehn. Letzteres erreichen wir dadurch, dass wir wie in obiger Rechnung alle Ziffern zum nächsthöheren Stellenwert verschieben (denn beim Multiplizieren mit Zehn werden aus Einern Zehner, aus Zehnern werden Hunderter, usw.). Dies kann man Kindern beispielsweise mit Hilfe von Einerwürfeln, Zehnerstangen, Hunderterplatten verdeutlichen. Das Normalverfahren der Kultusministerkonferenz sieht für die gesamte Aufgabe folgende Schreibweise vor (Abb. 29).
1 3 2 5 · 2 7 2 6 5 0 7 9 2 7 5
1mmmmmmm
3 5 7 7 5
Abbildung 29: Schriftliche Multiplikation mit zweistelligem Multiplikator
Wie ist diese kurze Schreibweise zu verstehen? Offensichtlich beginnt man das Multiplizieren mit dem höchsten Stellenwert des Multiplikators und schreibt das zugehörige Teilprodukt unter die jeweilige Multiplikatorziffer. So bekommen alle Ziffern den richtigen Stellenwert. Der zusätzliche Strich am rechten Rand des Multiplikationsschemas macht deutlich: Alle Teilprodukte und das Ergebnis werden stellenrichtig unter den Ziffern des Multiplikators angeordnet. Dies kann Kindern dabei helfen, für das Aufschreiben der Teilprodukte den jeweils richtigen Platz zu finden. Kurz sei noch auf einige Fehlerbeispiele hingewiesen, die man in Schülerheften immer wieder findet. Zu den häufigsten Fehlern bei der schriftlichen Multiplikation zählen Fehler mit der Null (etwas weniger häufig mit der Eins) als Faktor (Abb. 30). In der oberen Zeile handelt es sich um Fehler beim Einmaleins bzw. mit Behalteziffern, in der unteren Zeile um Verstöße gegen die stellenwertbelegende Rolle der Null. Beide Fehlersorten lassen sich durch Umschreiben in Additionsaufgaben wie in obiger Einführung verdeutlichen. Die Kinder können dabei Gefahren des gedankenlosen Rechnens selbst erkennen. Das Multiplizieren mit Null und mit Eins muss spätestens bei Behandlung der schriftlichen Multiplikation geklärt werden, weil es beim Erlernen des
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| Teil VI: Schule und Unterricht kleinen Einmaleins und beim Kopfrechnen häufig vernachlässigt wird und in konkreten Anwendungen kaum vorkommt. 2 3 0
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2 1 3
6 9 3
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3 0
8 0 7
6 1 9 0 2 1 3
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2 6 0 1
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8 6 0 0 0 2 1 5 0 0
Abbildung 30: Fehler mit Null und Eins bei der schriftlichen Multiplikation
In Klassen, in denen Schüler Behalteziffern im Multiplikanden notieren, tritt folgender Fehlertyp häufig auf (Abb. 31): 3
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2 4 6 1 0 1 6 2 4
Abbildung 31: Fehler durch ungünstige Notation von Behalteziffern
Die Nähe der Behalteziffern zu den Multiplikandenziffern kann dazu führen, dass sie ebenfalls multipliziert werden, anstatt sie nach der Multiplikation zu addieren. Die Vorbeugung gegen solche Fehler besteht darin, dass man den Kindern das Problem bewusst macht und ihnen davon abrät, Behalteziffern auf diese Weise zu notieren, zumal sie ja mit den Fingern der freien Hand „behalten“ werden können. Ein weiterer Fehlertyp mit Behalteziffern besteht darin, dass Kinder sie als zusätzliche Stelle im Teilprodukt notieren oder in einer falschen Stellenspalte berücksichtigen, letzteres häufig, um einer Null auszuweichen (Abb. 32).
3 8
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9 2 4
1 3 8
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5 9 4
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5 0 4
Abbildung 32: Fehler mit Behalteziffern
Die Vorbeugung und die Fehlerbehebung geschieht auch hier durch Bewusstmachen des Fehlertyps und Herstellen des Zusammenhangs zwischen schriftlichem Multiplizieren und schriftlichem Addieren.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 625
Tabelle 3: Diagnoseaufgaben zur schriftlichen Multiplikation Die Aufgaben enthalten Schwierigkeitsmerkmale wie Null im ersten Faktor oder im zweiten Faktor, Addieren einer Behalteziffer zur Null. Multiplikator einstellig Multiplikator mehrstellig, geringe Einmaleinsanforderungen Multiplikator mehrstellig, höhere Einmaleinsanforderungen
802 ∙ 3;
7005 ∙ 4;
8850 ∙ 6;
230 ∙ 13;
702 ∙ 41;
807 ∙ 34;
260 ∙ 40;
546 ∙ 52;
605 ∙ 402;
475 ∙ 533; 9880 ∙ 675;
7858 ∙ 7
6335 ∙ 340
9067 ∙ 704; 39680 ∙ 809;
750 ∙ 800
25.3.7 Schriftliche Division Das Verfahren der schriftlichen Division gilt allgemein als das schwierigste schriftliche Rechenverfahren. Im aktuellen Lehrplanentwurf für die Grundschule in Baden-Württemberg sind nur noch einstellige Divisoren vorgesehen, wie es in den meisten Bundesländern bereits der Fall oder ebenfalls geplant ist. Damit entfällt das Argument, die schriftliche Division setze die Beherrschung der schriftlichen Multiplikation und der schriftlichen Subtraktion voraus (Gabriel, 1998a). Eine Hauptschwierigkeit bei der schriftlichen Division ist abzuschätzen, wie oft der Divisor in einem Teilquotienten höchstens enthalten ist. Auch dies sollte kein Problem sein, wenn die Kinder das Einmaleins und Einsdurcheins beherrschen – und das sollen sie ja nicht nur wegen der schriftlichen Division. Dennoch prognostizieren Schipper, Dröge und Ebeling (2000, S. 112): „Wenn es in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten zu einer curricularen Revision im Bereich der schriftlichen Rechenverfahren kommt, dann gehört die Division sicher zu den ersten Unterrichtsinhalten, die aus den Lehrplänen der Grundschule entfernt werden“. Dies kann man auch anders sehen; so kommt Fuson (2003) in ihrem Resümee über das Rechnen mit mehrstelligen Zahlen im 21. Jahrhundert zu dem Schluss, es sei sinnvoll, (genügend) Zeit einzuräumen für konzeptuelle und verständliche (methodische) Zugänge, die den Schülern das Verständnis dafür erleichtern, wie die Multiplikation und Division mehrstelliger Zahlen auf den zentralen Konzepten des Stellenwertes und des Einmaleins aufbauen (vgl. Fuson, 2003, S. 304). Dass dieses zentrale Konzept des Stellenwertes und auch die sichere Beherrschung des kleinen Einmaleins und Einsdurcheins in der Unterrichtspraxis von vielen Kindern nicht erreicht werden, ist bekannt. Die Fehlerbeispiele zur schriftlichen Division im zweiten Abschnitt dieses Beitrages zeigen die Art der Probleme. Gründe dafür könnten auch in der unzureichenden Unterrichtsgestaltung bei der Erarbeitung dieser Inhalte und des Verfahrens der schriftlichen Division liegen. Das Verfahren der schriftlichen Division lässt sich besonders verständlich einführen, wenn man eine kurze schriftliche Notation an eine Divisionshandlung koppelt, die man genügend oft konkret und mit didaktischem Material durchgeführt hat. Betrachten wir dazu ein Beispiel: Eine Tippgemeinschaft will ihren Lottogewinn von 531 Euro gleichmäßig an die vier Teilnehmer verteilen. Diesen Betrag stellen die Kinder mit Rechengeld
626
| Teil VI: Schule und Unterricht (eindrucksvoller wäre Echtgeld) dar, indem sie fünf Hundert-Euro-Scheine, drei ZehnEuro-Scheine und eine Euro-Münze auf einen Tisch legen. Ganz selbstverständlich beginnen die Kinder die Verteilhandlung mit den großen Geldscheinen – bei einer Einführung der schriftlichen Division auf rein symbolischer Ziffernebene würden sie eher, wie von den vorausgehenden anderen schriftlichen Rechenverfahren gewohnt, mit der Einerstelle beginnen (hierzu auch Winning, 1998). Von den fünf Hundert-Euro-Scheinen können sie ein Viererbündel wegnehmen und jedem Teilnehmer jeweils einen Schein davon geben. Der übrig bleibende Hundert-Euro-Schein lässt sich so nicht an die vier Teilnehmer verteilen. Die Kinder tauschen ihn deshalb (bei einer Bank) in zehn Zehn-Euro-Scheine um. Zusammen mit den bereits vorhandenen drei Zehn-Euro-Scheinen haben sie nun 13 Zehn-Euro-Scheine, welche an die vier Teilnehmer zu verteilen sind. Davon können sie dreimal nacheinander ein Viererbündel mit Zehn-Euro-Scheinen wegnehmen und jedem Teilnehmer jeweils einen Schein davon geben. An dieser Stelle kommt das Verteilen nach dem Konzept des Aufteilens ins Spiel, also eine Integration zweier grundlegender Divisionskonzepte. Dies führt zu der für den späteren Divisionsalgorithmus typischen Frage, wie oft 4 in 13 enthalten ist. Somit erhält jeder Teilnehmer drei Zehn-Euro-Scheine und es sind drei mal vier Zehn-Euro-Scheine, also zwölf Scheine verteilt, einer bleibt übrig, usw. Abbildung 33 fasst diese in drei Schritten sukzessiv ablaufende Divisionshandlung in einem Bild simultan zusammen mit dem Vorteil, dass der Anfangszustand (grau unterlegter Geldbetrag) und die Zwischenstadien gleichzeitig gesehen und mit den Kindern reflektiert werden können. Auch das Ergebnis der Divisionshandlung kann aus diesem Bild abgelesen werden: Aus jedem Viererbündel erhält jeder Teilnehmer ein Stück, also einen Hundert-Euro-Schein, drei Zehn-Euro-Scheine und zwei Euro-Münzen. Drei EuroMünzen bleiben übrig (Abb. 33).
100
10
10
100
10
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1
1
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100 100
10
1
100
HZE HZE 5 3 1 :4= 1 32 R3 –4 13 –12 1 1 – 8 3
Abbildung 33: Divisionshandlung mit Rechengeld und in schriftlicher Notation
An diesem Beispiel erkennen wir Wichtiges über das Erlernen der schriftlichen Division: – In einer motivierenden, ihnen verständlichen Anwendungssituation erfinden Kinder (auch „rechenschwache“ Schüler!) den Divisionsalgorithmus anhand eines geeigneten didaktischen Materials selbstständig, lernen ihn also verstehen.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 627
– Die Divisionshandlung kann von einer geeigneten Sprechweise begleitet werden, die dem Kind das zu Grunde liegende Konzept deutlich macht. Für obiges Beispiel könnte sie etwa lauten: Wir tauschen Wir haben Wir können davon Es bleibt übrig
5 H. 4 H. 1 H.
Wir tauschen Wir haben Wir können davon Es bleibt übrig
1 H. = 10 Z. 13 Z. 12 Z. 1 Z.
Wir tauschen Wir haben Wir können davon Es bleibt übrig
1 Z. = 10 E. 11 E. 8 E. 3 E.
an 4 Kinder verteilen.
Jedes erhält 1 H.
an 4 Kinder verteilen.
Jedes erhält 3 Z.
an 4 Kinder verteilen.
Jedes erhält 2 E.
– Den Kindern wird dabei auffallen, dass die Sprechweise bei jedem der drei Schritte gleich lautet. Sie erkennen somit etwas Typisches für ein (algorithmisches) Verfahren. Zur Übung können Kinder die durch Striche markierten Leerstellen dieses Schemas für mehrere Divisionsaufgaben ausfüllen, wobei sie sich die Divisionshandlung mit einem konkreten Material vorstellen sollen. – Noch bevor eine Ziffernschreibweise (als eine Art Kurzschrift für die Divisionshandlung) für das schriftliche Divisionsverfahren eingeführt wird, müssen zumindest alle Kinder mit Lernschwierigkeiten in Arithmetik ähnliche Divisionshandlungen an ausreichend vielen Beispielen üben, die bereits auf der Ebene des Handelns mit konkreten Arbeitsmitteln auch jene Sonderfälle einschließen, die bei der schriftlichen Notation häufig Probleme bereiten: Nullen im Dividenden und vor allem Nullen im Ergebnis. Auf konkreter Ebene bedeutet dies: Im vorgegebenen Geldbetrag oder im Ergebnis fehlen Scheine einer bestimmten Sorte. – Bei Einführung der schriftlichen Notation müssen wir besonders darauf achten, ob den Kindern bewusst ist, dass das „Herunterholen der nächsten Ziffer“ bewirkt, dass der vorausgegangene Rest in die nächst kleinere Einheit umgewandelt wird. Schreibt man in obigem Beispiel neben den Rest „1“ in der Hunderterspalte die heruntergeholte „3“, so wird dabei aus der „1“ eine „10“, es entstehen 13 Zehner. – Wie bei den anderen schriftlichen Rechenverfahren sollten die Kinder, um den Ziffern Bedeutung zu geben, die Stellenwerte (Einer, Zehner, Hunderter, ...) mitsprechen. Betrachten wir als Beispiel für eine Aufgabe mit dem Sonderfall „Null im Ergebnis“ das Problem, 812 Euro gleichmäßig an vier Personen zu verteilen. Wenn wir gleichmäßig an vier Personen verteilen, brauchen wir für jede Verteil-Runde eine Viererportion. Aus den acht Hundert-Euro-Scheinen können wir zwei Viererportionen bilden. Jede Person bekommt davon zwei Hunderter. Den Zehn-Euro-Schein können wir als solchen nicht an vier Personen verteilen und tauschen ihn deshalb in zehn Euro-Münzen um. Zusammen
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| Teil VI: Schule und Unterricht
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100
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100
100
10
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
HZE HZE 8 12 :4= 203 –4 13 –12 1 1 – 8 3
Abbildung 34: Schriftliche Division mit Null im Quotienten
mit den bereits vorhandenen zwei Euro-Münzen haben wir nun zwölf Euro-Münzen. Wir können daraus drei Viererportionen bilden und aus jeder Viererportion jeder Person eine Euro-Münze geben. Jede Person erhält somit drei Euro-Münzen, insgesamt also 203 Euro (Abb. 34). Auf der Ebene der bildlichen Darstellung gibt es mit dem Zehn-Euro-Schein kein Problem. Auf der Ebene der Ziffernschreibweise muss den Kindern deutlich werden, dass es nicht genügt, die Ziffer „2“ für die zwei Hundert-Euro-Scheine und die Ziffer „3“ für die drei Euro-Münzen zu notieren, also „23“ zu schreiben, denn jede Person erhält 203 Euro. Auch wenn es komisch klingt, macht es Sinn, auf der Ziffernebene das Verteilen des Zehn-Euro-Scheines an die vier Personen als „jeder erhält null Zehn-Euro-Scheine“ zu protokollieren und diesen Schritt nicht einfach auszulassen, was man auf der Ebene des konkreten Handelns ja macht. So können die Kinder den Umgang mit der Null bei der schriftlichen Division verstehen lernen. Was ist also bei der Diagnose und Förderung für ein Kind zu tun? 1. Wir müssen feststellen, ob das Kind ein ausreichendes Zahlverständnis entwickelt hat. Das sehen wir daran, ob es bei einer Aufgabe zur schriftlichen Division die zu dividierende Zahl (den Dividenden) mit einem didaktischen Material (beispielsweise Rechengeld mit Einern, Zehnern, Hundertern, usw. oder Zehner-System-Klötzen, also Einerwürfeln, Zehnerstangen, Hunderterplatten usw.) darstellen kann. 2. Wir müssen feststellen, ob das Kind eine der Divisionsaufgabe entsprechende Divisionshandlung mit dieser Zahldarstellung durchführen bzw. sich bei größeren Zahlenwerten die zugehörige Handlung vorstellen kann. Dabei sehen wir auch, ob das Kind mit Hilfe seiner Einmaleinskenntnisse beispielsweise feststellen kann, wie viele 8er-Portionen man aus 50 Stück machen kann. 3. Wir müssen feststellen, ob es diese Divisionshandlung in der Form der schriftlichen Division protokollieren kann. 4. Schließlich sollten wir noch überprüfen, ob das schriftliche Verfahren auch bei Aufgaben mit sogenannten fehlerauslösenden Schwierigkeitsmerkmalen gelingt und das Kind die Bedeutung seiner Ziffernmanipulationen erklären kann.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 629
Tabelle 4: Diagnoseaufgaben zur schriftlichen Division
einfache EinmaleinsAufgaben
auch schwierigere EinmaleinsAufgaben
ohne Nullen im Dividenden oder im Ergebnis
mit Nullen im Dividenden oder im Ergebnis
ohne Rest
816 : 3 9284 : 4 13116 : 2
3900 : 3 85050 : 5 18120 : 2
mit Rest
3294 : 4
4253 : 5
ohne Rest
32884 : 4 62811 : 9
5670 : 7 8056 : 8
mit Rest
5218 : 6
32203 : 7
In allen vier Phasen beobachten wir, mit welcher Handlung das Kind genau welche Schwierigkeit hat. Abschließend sei noch auf einige Notationsformen hingewiesen, die das Überschlagen des Ergebnisses erleichtern und Fehler beim schriftlichen Dividieren vorbeugen können (Abb. 35 und 36). 8 7 6 5 : 7 =
_ _ _
1 2 3 4 5 6 : 7 =
_ _ _ _
Abbildung 35: Bestimmung der Anzahl der Ziffern im Ergebnis vor Beginn der Ausrechnung
8 7 6 5 : 7 = 1 _ _ _, also Ergebnis zwischen 1000 und 2000; 4 0 3 4 5 6 : 7 = 5 _ _ _ _, also Ergebnis zwischen 50 000 und 60 000.
Abbildung 36: Eine Form der Überschlagsrechnung
25.3.8 Wie lernen leistungsschwache Kinder Mathematik? Auf die Frage; die diesem abschließenden Kapitel vorangestellt ist, gibt es viele Antworten. Ginsburg und Baron (1993) versuchen, einige Mythen zu entzaubern, wenn sie schreiben: Some children cannot learn math. No doubt some individuals do not have the talent to pursue higher mathematics. But there is no reason why all normal children cannot learn elementary arithmetic. There is nothing very complicated about the arithmetic and geometry taught in the primary and elementary years. In fact, as Piaget pointed out, much of elementary school arithmetic is simply an elaboration of what children
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| Teil VI: Schule und Unterricht already know on an intuitive level. If mathematics were taught properly, all children should achieve a reasonable proficiency in it. Mathematics learning disabilities are common. They are not common. Many cases of “learning disabilities” are incorrect diagnoses. Virtually all children have the ability to learn elementary mathematics if it is presented properly. Most cases of “learning disabilities” involve children who have a poor understanding of mathematics but not an inability to learn it under stimulating conditions. In most cases the reason for the difficulty is not intellectual inadequacy but inappropriate teaching. Were mathematics education improved, many apparent “learning disabilities” would disappear. (Ginsburg & Baron, 1993, S. 18) Nach allem, was in neuerer einschlägiger Literatur zu finden ist, erwerben leistungsschwache Schüler (lernschwache oder lernbehinderte Schüler, learning-disabled, at-riskstudents) mathematisches Wissen nicht anders als die sog. normal begabten Kinder. Van de Walle (1994) sagt dazu: Both regular and special education teachers should understand that the basic principles, strategies, and materials appropriate for any sound developmental instruction are also the principles, strategies, and materials appropriate for exceptional children. (Van de Walle , 1994, S. 460) Callahan and MacMillan (1981) contend that mildly mentally handicapped children “seem to learn in the very same fashion as their nonretarded peers do, albeit a little less efficiently” (p. 156). The most significant difference in their learning is in the time that is required. The implication of this conclusion, they explain, is that there is no need for some special set of materials or techniques for these children. (Van de Walle, 1994, S. 464) Es ist selbstverständlich, dass die Form des Unterrichts eventuell vorhandene körperliche Behinderungen (feinmotorische Schwächen, Seh- oder Hörbehinderungen usw.) berücksichtigen muss. Es ist sicher wichtig, sich um psychisch belastete Kinder besonders zu kümmern und bei Kindern mit möglicherweise organisch bedingten Aufmerksamkeitsstörungen darauf zu achten, dass sie das Wichtigste mitbekommen. Gewiss sind das Arbeitstempo von Kindern, die Interessen usw. unterschiedlich. Problematisch wird es aber, wenn Kinder eher geschont als gefordert werden, wenn das Unterrichtsangebot restriktiv wird. Seit dem Aufsehen erregenden Buch von Rosenthal und Jacobson (1971) ist die Wirksamkeit von selbsterfüllenden Prophezeiungen bekannt und auch vielfach bestätigt worden (Watzlawick, 1997, S. 91-110). Wenn Lehrer Kindern signalisieren, dass komplexe Aufgaben für sie zu schwierig sind, dann wird das auch eintreten, mit Sicherheit dann, wenn den Kindern die entsprechenden komplexeren Lernsituationen vorenthalten werden. Aus konstruktivistischer Sicht sind einige Grundsätze traditioneller Sonderpädagogik fragwürdig geworden. Dies gilt insbesondere für – das Prinzip der stofflichen Reduktion, wenn damit die Vermeidung komplexer Lernsituationen und die Vorgabe fester Lösungswege für bestimmte Aufgabentypen gemeint ist,
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 631
– das Prinzip der Isolierung der Schwierigkeiten und die Methode der kleinsten Schritte, wenn damit Fehler vermieden und die Anforderungen an das Denken verringert werden sollen, – das Prinzip der „multisensorischen Anschauung“, wenn dabei die konzeptuelle Struk turierung vernachlässigt wird und die Kinder damit beschäftigt werden, immer wieder neuen Umgang mit immer wieder neuen Anschauungsmaterialien zu erlernen. In konstruktivistischer Sicht ist Lernen eine aktive Aufbauleistung, die der Lernende in der Interaktion mit der physischen und sozialen Umwelt selbst zu erbringen hat und auch erbringt, wie die Sprachentwicklung und die außerschulische Zahlbegriffsentwicklung zeigen. Wenn wir nämlich anfangen, detailliert zu analysieren, was es bedeutet, Zahlen zu verstehen, grammatikalisch einigermaßen richtig zu sprechen, Dinge der Umwelt zu kategorisieren und umzukategorisieren, dann beginnen wir über die kognitiven Fähigkeiten der Grundschulkinder zu staunen (Means, Chelemer & Knapp, 1991, S. 9). Wenn wir überzeugt sind, schulisches Wissen sei von Natur aus hierarchisch geordnet, einige Fertigkeiten seien basal und sie müssten beherrscht werden bevor komplexere, fortgeschrittenere Fähigkeiten erreicht worden sind, dann hindert Schule Kinder daran, ihr informelles Wissen mit schulischem Wissen zu vernetzen, sich an interessanten Problemen zu erproben, Fehler als Lernanreize zu erleben, kurz: Freude am eigenen Denken zu erleben, am geistigen Wachstum. Wittmann (1995, S. 17) sagt zur Problematik der lernschwachen Schüler: „Was die von Skeptikern häufig angesprochene Problematik der lernschwachen Schüler anbelangt, mehren sich die Befunde dafür, dass die sogenannten „lernschwachen“ Schüler weniger Mühe mit dem Lernen als mit dem Belehrtwerden haben, d. h. nicht „lernschwach“, sondern „belehrungsschwach“ sind, und dass das auf Verständnis angelegte Konzept des aktiv-entdeckenden Lernens, entgegen manchen Vorurteilen, gerade dieser Schülergruppe besonders entgegenkommt.“ Für alle Kinder im Grundschulalter sollten von Beginn an komplexe Problemsituationen („Kontextaufgaben“) stehen, die für jedes Kind bedeutsam sind. Mit dem Verständnis von Mathematiklernen als einem Prozess der Annäherung ist das Sachrechnen von der Zwangsjacke kleinschrittiger Unterweisung befreit und kann ein Stück Sachunterricht werden (Erichson, 1994, 46); denn die Konzepte des konstruktiven und interaktiven Lernens gelten für alle Lernenden, ob hochbegabt oder lernschwach, ob jung oder alt. Wenn schriftliches Rechnen bloß rezepthaftes Manipulieren mit Ziffern nach auswendig gelernten, aber nicht verstandenen Verfahrensregeln ist, lassen sich die eklatanten Pleiten, die viele Schüler damit erleben, nicht vermeiden. Die Behandlung schriftlicher Rechenverfahren im Unterricht erfordert ein klares theoretisches Konzept für das Lernen arithmetischer Fähigkeiten. Erfolgreiches schriftliches Rechnen setzt voraus: 1. gute Zahlvorstellung, d. h. die Lernenden können sich in Zifferndarstellung gegebene Zahlen mühelos mit geeignetem didaktischen Material dargestellt vorstellen, 2. gutes Operationsverständnis, d. h. sie können den Rechenausdrücken passende Sachsituationen zuordnen und die erforderlichen Handlungen sich anhand didaktischer Materialien modellhaft vorstellen oder bildlich darstellen, 3. sie beherrschen die Basisfakten, weil diese in ein Geflecht vielfältiger Beziehungen eingebettet sind.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wirksame Fördermaßnahmen setzen Lernstandsanalysen voraus. Diese müssen obige Fähigkeiten überprüfen. Sie müssen darüber hinaus anhand von geeignet konstruierten Aufgabensequenzen feststellen, ob die Lernenden Schwierigkeiten mit speziellen Aufgabenmerkmalen haben, welche erfahrungsgemäß häufig Fehler auslösend wirken. Auch dafür gibt dieser Beitrag zahlreiche Hinweise.
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Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 633
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wittmann, E. Ch. (1995). Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen im Rechenunterricht – vom Kind und vom Fach aus. In G. N. Müller & E. Ch. Wittmann (Hrsg.), Mit Kindern rechnen (S. 10-41). Frankfurt/M.: Arbeitskreis Grundschule. Wittmann, E. Ch. & Müller, G. N. (1992). Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 2. Vom halbschriftlichen zum schriftlichen Rechnen. Stuttgart: Klett. Wittmann E. Ch. & Padberg, F. (1998). Freigabe des Verfahrens der schriftlichen Subtraktion. Die Grundschulzeitschrift, H. 119, 8-9.
25.4 Geometrie Frank Hellmich Neben dem Erwerb arithmetischer Kompetenzen gehört besonders der Erwerb geometrischer Fähigkeiten und Fertigkeiten zu den wichtigsten Lernzielen des Mathematikunterrichts. Dabei lassen sich geometrische Fragestellungen gerade im alltäglichen Leben eines jeden Menschen entdecken. So gelingt beispielsweise die Abschätzung von Flächen und Körpern im Alltag nur dann, wenn basale geometrische Fertigkeiten vorhanden sind. Die Kenntnis geometrischer Begriffe erleichtert die Verständigung über elementare geometrische Sachverhalte in Anwendungssituationen. So gehören insbesondere in vielen handwerklichen Berufen geometrische Begriffe und Operationen zum Basiswissen: Eine quadratische Fläche kann beispielsweise nur dann adäquat aus Holz angefertigt werden, wenn verstanden worden ist, dass alle Seiten gleich lang sein müssen. Das Berechnen und Abschätzen von Flächen und Volumina gelingt nur dann, wenn die dafür vorhandenen mathematischen Formeln verstanden und verfügbar sind. Routenpläne, Landkarten und Fahrpläne sind ohne einen sicheren Umgang mit Lagebeziehungen in den seltensten Fällen erfolgreich zu interpretieren. Hierbei stellen räumliche Fähigkeiten eine unabdingbare Voraussetzung dar. Die Kenntnis von Symmetrieeigenschaften erleichtert schließlich die Handhabung verschiedener geometrischer Figuren, zum Beispiel beim Dekorieren von Fenstern, Türen oder Wänden, und stellt damit zugleich einen ästhetischen Nutzen dar. Es lassen sich sicherlich noch viele andere Situationen benennen, bei denen die Relevanz geometrischer Fertigkeiten deutlich wird. Geometrische Kompetenz stellt aber auch aus innermathematischer Sicht einen wertvollen Nutzen dar. So werden seit längerer Zeit geometrische Grundvorstellungen im Allgemeinen und räumlich-geometrische Kompetenzen im Speziellen als Voraussetzungen für den arithmetischen Begriffserwerb diskutiert (vgl. Bauersfeld, 1993). Es wird vermutet, dass gerade räumlich-geometrische Fähigkeiten den Umgang mit visuell dargebotener Information im Mathematikunterricht erleichtern. Dies betrifft z. B. den Umgang mit Materialien, die im arithmetischen Anfangsunterricht der Veranschaulichung dienen, oder auch Orientierungsübungen am Zahlenstrahl oder der Hundertertafel. Für den mathematischen Anfangsunterricht bedeutet dies, dass räumlich-geometrische Kompetenzen besonders beim „Zwischenschritt des Überganges von konkret-anschaulichen Erfahrungen zu den abstrakt-symbolischen Anforderungen“ (Lorenz & Radatz, 1993, S. 104) als eine wichtige Voraussetzung betrachtet werden müssen.
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Die Relevanz der Förderung geometrischer Fähigkeiten, insbesondere bei lernschwachen Schülerinnen und Schülern lässt sich sicherlich auf der Grundlage solcher Überlegungen nicht bestreiten. Jedoch stellt sich dabei die Frage, inwiefern geometrische Lehr- und Lernprozesse bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen geplant und initiiert werden können – und natürlich, wie Vorkenntnisse im Bereich geometrischer Kompetenzen erfasst werden können, um Lehrgänge möglichst auf individuelle Bedürfnisse abzustimmen. Im vorliegenden Kapitel werden sowohl theoretische als auch empirische Erträge der Disziplinen Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Mathematikdidaktik hinzugezogen. Diese interdisziplinäre Perspektive wird eingenommen, da die Mathematikdidaktik im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Fachrichtungen eine relativ junge ist. Es zeigt sich, dass der Lernbereich Geometrie bislang aus mathematikdidaktischer Perspektive nur wenig empirisch exploriert ist. Die bisherigen wissenschaftlichen Bemühungen und Erträge mit mathematikdidaktischem Charakter beschränken sich – bis auf wenige Ausnahmen – weitgehend auf eine entwicklungsorientierte Perspektive, welche die Entwicklung von theoretischen Modellen und die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien vorsieht. Eine empirische Überprüfung der auf theoretischen Annahmen basierenden Modelle steht in den meisten Fällen noch aus. Dies betrifft nicht nur den deutschsprachigen Raum, sondern macht sich – mit einigen Ausnahmen – auch auf internationaler Ebene bemerkbar. Besondere Aufmerksamkeit wird dem gegenüber in den letzten Jahren der Förderung arithmetischer Fähigkeiten im Zusammenhang mit lernschwachen oder gar lernbehinderten Schülerinnen und Schülern geschenkt. Der Lernbereich Geometrie wird auch hier aus den Überlegungen weitgehend ausgeklammert, ungeachtet der bereits aufgezeigten Notwendigkeit geometrischer Fertigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Problemstellungen im Allgemeinen und der Relevanz für den Mathematikunterricht im Speziellen. Das Kapitel gliedert sich in drei thematische Schwerpunkte: Im ersten Teil werden gemäß neuerer Modelle für den Mathematikunterricht, die sich im Wesentlichen aus den Anlagen und Ergebnissen internationaler Vergleichsstudien ableiten lassen, inhaltliche, aktivitätsbezogene sowie kontextuelle Aspekte des Geometrielehrens und -lernens umrissen. Hierauf aufbauend werden im darauf folgenden Abschnitt Aspekte der Diagnose geometrischer Kompetenzen aufgezeigt. Abschließend wird ein Überblick über Förderelemente und -konzepte gegeben. Dabei werden insbesondere Ergebnisse aus der empirischen Lehr- und Lernforschung referiert, die die Implementation von Förderkonzepten im Bereich elementarer geometrischer Fertigkeiten thematisieren. 25.4.1 Inhaltliche, aktivitätsbezogene und kontextuelle Aspekte des Lehrens und Lernens von Geometrie Die Förderung geometrischer Fertigkeiten stellt eine besondere Herausforderung in der Unterrichtspraxis an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen dar. Das Initiieren geometrischer Lehr- und Lernprozesse gelingt dann, wenn bestimmte Facetten des Wissenserwerbs Berücksichtigung finden. Exemplarisch seien an dieser Stelle inhaltliche, aktivitätsbezogene, aber auch kontextuelle Aspekte des Geometrielehrens und -lernens
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| Teil VI: Schule und Unterricht genannt, die bei der Auswahl oder Herstellung von Fördermaterialien als Kriterien im Sinne einer fachlichen und fachdidaktischen Klärung herangezogen werden können (vgl. Grüßing & Hellmich, 2003; Hellmich, im Druck). 25.4.1.1 Inhaltliche Aspekte Neben den Bereichen Arithmetik, Größen und Sachrechnen, Algebra sowie Umgang mit Daten und Wahrscheinlichkeit, die in neueren Konzepten für den Mathematikunterricht (vgl. z. B. Engel, 2000; National Council of Teachers of Mathematics [NCTM], 2000) als entscheidend für eine mathematische Grundbildung erachtet werden, wird dem Inhaltsbereich Geometrie im Laufe der letzten zwanzig Jahre (vgl. Franke, 2000, S. 8 ff.) besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In vielen neueren mathematikdidaktischen Konzepten wird daher vorgeschlagen, bereits in den ersten Schuljahren mit dem Geometrieunterricht zu beginnen, um ihn sowohl aus fachdidaktischer als auch aus fachwissenschaftlicher Perspektive im Sinne eines systematischen Aufbaus sukzessive zu entwickeln. Als Voraussetzungen für den Erwerb geometrischer Kompetenz werden insbesondere in den ersten Schuljahren visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten – wie die visuomotorische Koordination, die Figur-Grund-Unterscheidung, die Wahrnehmungskonstanz, die Wahrnehmung der Raumlage sowie die Wahrnehmung räumlicher Beziehungen – und visuelle Gedächtnisleistungen erachtet. Diese Fähigkeiten gilt es zunächst, besonders im Unterricht mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern, zu entwickeln und zu fördern (vgl. Kapitel 19, Förderung der Wahrnehmung), bevor mit der eigentlichen Erarbeitung geometrischer Inhalte begonnen werden kann. In Bezug auf eine darauf folgende angemessene Systematik und Reihenfolge der Behandlung rein geometrischer Inhalte liegen bislang kontroverse Ergebnisse aus der Unterrichtsforschung vor. So wird häufig in Anlehnung an Forschungsergebnisse des Entwicklungspsychologen Jean Piaget geraten, mit der räumlichen Geometrie auf den ersten Schulstufen zu beginnen, um dann mit der ebenen Geometrie fort zu fahren. Dies wird damit begründet, dass zunächst alle grundlegenden Erfahrungen von Kindern räumlicher Natur sind (vgl. Franke, 2000; Pohle & Reiss, 1999). Im Gegensatz hierzu zeigen die Ergebnisse der jüngst veröffentlichten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) und gerade die ihrer nationalen Erweiterung für den Vergleich der Bundesländer (IGLU/E), dass geometrische Kompetenzen eher der Ebene basaler Grundfertigkeiten zuzuordnen sind. Räumlich-geometrische Problemstellungen erfordern dem gegenüber eher komplexere Problemlösefähigkeiten. Die in IGLU/E ermittelten Ergebnisse basieren dabei auf einem theoretischen Kompetenzstufenmodell, das – wie gezeigt werden konnte – durch die dort erhobenen empirischen Daten bestätigt wird (vgl. Walther, Geiser, Langeheine & Lobemeier, 2003). Auf Grund dieser kontroversen Ergebnisse ist besonders im Unterricht mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern je nach deren geometrischen Vorkenntnissen in den einzelnen Bereichen zu entscheiden, mit welchen Inhalten begonnen werden kann. Als fundamentale Ideen werden des Weiteren in verschiedenen, zum Teil aktuellen Lehrbüchern für den Geometrieunterricht in der Primarstufe (vgl. Franke, 2000; Krauthausen & Scherer, 2003, S. 50 ff.; Radatz & Rickmeyer, 1991) folgende inhaltliche Aspekte des Geometriecurriculums herausgestellt: ebene Figuren und For-
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men, geometrische Begriffe, Gesetzmäßigkeiten und Operationen wie Abbildungen und Verschiebungen. Geometrische Größen gelten daneben als ein spezieller Inhaltsbereich. Hierunter werden Fertigkeiten wie beispielsweise das Messen von Strecken, Flächen oder Körpern verstanden (vgl. Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 10). Für den Sekundarstufenunterricht ist ein ebenso reichhaltiges Angebot vorgesehen, wobei insbesondere für den Unterricht an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen Zeichnungen und Berechnungen von Flächen und Körpern auf Grund ihrer praktischen Relevanz im Mittelpunkt stehen und in den zurzeit noch gültigen Rahmenrichtlinien entsprechend hervorgehoben werden. Eine Themenübersicht für den Sekundarstufenunterricht gibt z. B. Holland (1996), der in seiner Übersicht die curricularen Vorgaben für die einzelnen in Deutschland existierenden Schulformen berücksichtigt. Für den Geometrieunterricht an Förderschulen lassen sich sodann – aufbauend auf dem Geometrieunterricht in der Primarstufe – geometrische Figuren und Körper wie auch geometrische Abbildungen und Grundkonstruktionen als zentrale Themen herausstellen. Daneben gelten die Berechnung von Flächeninhalten und Volumina sowie die zeichnerische Darstellung von Körpern in Form von Projektionszeichnungen und Konstruktionen als wesentliche inhaltliche Ziele, die spätestens in der Abschlussklasse zu erwerben sind. Eine nicht unbedeutende Rolle für den Aufbau und die Entwicklung mathematischer und speziell geometrischer Fertigkeiten wird auf allen Klassenstufen immer wieder räumlichen Kompetenzen zugesprochen (vgl. Clements & Battista, 1992). Es wird dabei insbesondere vermutet, dass räumliche Fähigkeiten einen positiven Einfluss auf das geometrische Anschauungsvermögen und das spätere Operieren mit geometrischen Inhalten haben. Bislang konnte in einigen Studien die Relevanz räumlicher Kompetenzen in Ansätzen gezeigt werden. So bestätigen unter anderem Ergebnisse von Guay und McDaniel (1977), Fennema und Sherman (1977), Klieme (1986), Klieme, Reiss und Heinze (2001) sowie Lehmann und Jüling (2002) einen positiven Zusammenhang zwischen räumlicher Kompetenz und den jeweils gemessenen mathematischen Fähigkeiten. Den jeweiligen Studien liegen dabei jedoch unterschiedliche Annahmen in Bezug auf das Konstrukt räumliche Kompetenzen zu Grunde, sodass die Ergebnisse jeweils im Hinblick auf die theoretisch angenommenen Postulate betrachtet und eingeordnet werden müssen. Es liegen gegenwärtig auch keine Metaanalysen vor, die über Zusammenhänge zwischen mathematischen und räumlichen Kompetenzen berichten. Dies mag darin begründet sein, dass solche Zusammenhänge bislang nur in wenigen Studien betrachtet worden sind. In hinreichendem Maße kann also noch nicht selbstverständlich von einem Zusammenhang dieser beiden Fähigkeitsbereiche ausgegangen werden, auch wenn dies theoretisch plausibel scheint. In den aktuellen NCTM-Standards, die im nordamerikanischen Raum den Status unverbindlicher Rahmenrichtlinien für den Mathematikunterricht genießen, ist für alle Altersstufen die Ausbildung räumlicher Kompetenzen als ein wesentliches Ziel des Mathematikunterrichts angeführt. Bereits für die ersten Schuljahre wird hier gefordert, dass Schülerinnen und Schüler mit mentalen Bildern geometrischer Konfigurationen operieren. Die Bandbreite der Lehrbemühungen sollte sich dabei von der Analyse von Eigenschaften und Verhältnissen zwei- und dreidimensionaler geometrischer Figuren bis hin zu der Entwicklung mathematischer Begründungen über räumlich-geometrische Beziehungen erstrecken (vgl. NCTM, 2000).
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| Teil VI: Schule und Unterricht In der aktuellen Diskussion werden insgesamt vier unterschiedliche Facetten räumlicher Kompetenzen unterschieden. Diese Einteilung beruht einerseits auf faktorenanalytischen Ergebnissen von Thurstone (1938) und andererseits auf Ergebnissen einer Metaanalyse von Linn und Petersen (1985). Für eine Übersicht sei an dieser Stelle auf Maier (1999) verwiesen, der in seiner Arbeit die Bedeutung räumlicher Fähigkeiten im Rahmen des Mathematikunterrichts darstellt. Auch wenn diese Modelle von einigen Autoren als nicht ausreichend für die Beschreibung räumlicher Kompetenzen diskutiert werden (vgl. z. B. Quaiser-Pohl, 1998), so dienen sie besonders aus mathematikdidaktischer Perspektive als Strukturierungshilfe für Unterrichtsmodelle. Der Aspekt Veranschaulichung stellt dabei gerade für lernbehinderte Schülerinnen und Schüler eine besondere Herausforderung dar. Hier ist verlangt, sich gedanklich räumliche Operationen wie beispielsweise Verschiebungen oder Faltungen von Objekten (oder Teilen von ihnen) vorzustellen. Unter dem Aspekt Mentale Rotation wird die Fähigkeit verstanden, sich Rotationen von zwei- oder dreidimensionalen Objekten zu vergegenwärtigen. Ein nahezu klassisches Beispiel hierfür ist der Schlauchfiguren-Test von Stumpf und Fay (1983). Hier wird verlangt, eine Schlauchfigur mental von einer Ausgangs- in eine Endposition rotieren zu lassen. Einige der vorgeschlagenen Ideen für die gegenwärtige Unterrichtspraxis basieren auf diesem Aufgabentyp und stellen häufig Vereinfachungen dieser recht komplexen Aufgabenstellung dar (vgl. z. B. Tonn, 1991). Die beiden Komponenten Räumliche Beziehung und Räumliche Orientierung unterscheiden sich durch ein Kernmerkmal voneinander: Unter der Facette Räumliche Beziehung sind all diejenigen Aufgabenstellungen zu subsumieren, bei denen räumliche Beziehungen von Objekten untereinander zu erfassen sind. Der Standpunkt der Betrachtung liegt dabei außerhalb, bei der Komponente Räumliche Orientierung hingegen innerhalb der Aufgabensituation. Hier gilt es, sich als Person mental im Raum zurechtzufinden. Um Aufgabenstellungen zu den beiden zuletzt aufgezeigten Komponenten erfolgreich lösen zu können, ist die sichere Kenntnis von Lagebeziehungen eine wichtige Voraussetzung. 25.4.1.2 Aktivitätsbezogene Aspekte In einigen der aktuellen Handreichungen für den Geometrieunterricht wird besonders die Darbietung der einzelnen, eben aufgezeigten Themenbereiche im Sinne eines spiralförmigen Aufbaus und die entsprechende Einbindung in den Mathematikunterricht herausgestellt (vgl. Franke, 2000; Pohle & Reiss, 1999). Im Vordergrund sollten dabei insbesondere in der Primarstufe konstruktive Aktivitäten und Handlungserfahrungen im Sinne eines aktiv-entdeckenden Lernens (vgl. z. B. Scherer, 1995) stehen. Es wird dabei in Anlehnung an Piaget vermutet, dass die Begriffsbildung durch das konkrete Umgehen mit Materialien und damit durch eine handelnde Erarbeitung von Eigenschaften geometrischer Begriffe begünstigt wird. Es lassen sich viele verschiedene handlungsorientierte Aktivitäten finden, die den geometrischen Begriffserwerb fördern. So können beispielsweise verschiedene Körperformen durch einfaches Ordnen und Sortieren kennen gelernt und unterschieden werden. Bei der Erarbeitung kann dabei ein kategoriegeleitetes oder ein kategoriesuchendes Vorgehen vorgegeben werden. Für einen umfassenden Überblick über Förderangebote sei an dieser Stelle auf Franke (2000) verwiesen. Dort sind mannigfaltige Vorschläge für
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den Geometrieunterricht in der Primarstufe zu finden, die sich uneingeschränkt auch für den Unterricht mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern eignen. Neben konkreten Aktivitäten sind besonders zeichnerische Darstellungen sowohl im zwei- als auch im dreidimensionalen Bereich gerade für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten zu fokussieren. Dabei zeigt sich, dass zwar die Darstellung dreidimensionaler Objekte Kindern erhebliche Schwierigkeiten bereitet, es lassen sich jedoch in vielen Handreichungen für den Geometrieunterricht unzählige Vorschläge für die Unterrichtspraxis finden. Hier werden häufig Vereinfachungen vorgeschlagen: So können erste zeichnerische Experimente in Bezug auf die Anfertigung dreidimensionaler Objekte beispielsweise durch vorgegebene Hilfslinien oder Karogitter gelingen. Aufbauend auf konkreten Handlungen mit geometrischem Material, zu denen auch phasenweise immer wieder besonders im Förderunterricht zurückgekehrt werden sollte, sind unterschiedliche mentale Fähigkeitsbereiche zu fördern. Internationale Vergleichsstudien wie die Third International Mathematics and Science Study (TIMSS, vgl. Baumert & Lehmann, 1997), das Programme for International Student Assessment (PISA, vgl. Klieme, Neubrand & Lüdke, 2001) oder IGLU/E (Walther et al., 2003) haben zeigen können, dass Schülerinnen und Schüler sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im mathematischen Bereich über unterschiedliche Kompetenzen verfügen. Es zeigt sich damit ein relativ heterogenes Bild an Schülerleistungen in diesen Lernfächern. Die für die einzelnen Klassenstufen theoretisch begründeten und empirisch bestätigten Kompetenzstufenmodelle mathematischer Grundbildung haben jedoch auch für unterrichtsbezogene Belange eine nicht unerhebliche Bedeutung. Sie implizieren insbesondere für die Unterrichtspraxis, dass für alle Themenfelder des Mathematikunterrichts – also auch für den Lernbereich Geometrie – verschiedene Kompetenzen zu schulen sind. Diese reichen von rudimentärem schulischen Basiswissen und Grundfertigkeiten über einfache und komplexe Problemlöseleistungen bis hin zu Argumentationen und dem Erschließen von Begründungszusammenhängen bei geometrischen Sachverhalten. Inwiefern die Ergebnisse aus IGLU oder PISA auf den Mathematikunterricht in Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen übertragen und nutzbar gemacht werden können, ist sicherlich fraglich, vielleicht sogar bedenklich. Außer Frage steht jedoch, dass das Geometriecurriculum auch hier nach oben geöffnet sein sollte, um so jeweils individuellen Bedürfnissen gerecht werden zu können. Es zeigt sich, dass diese neueren Modelle mathematischer Kompetenz mit ursprünglich mathematikdidaktischen Konzepten eng verknüpft sind. Bereits Ende der fünfziger Jahre entwickelten die Niederländer van Hiele und van Hiele-Geldorf (1986) ein Modell, das die Entwicklung des geometrischen Denkens beschreibt und das im deutschsprachigen Raum lange Zeit kaum beachtet wurde. Das Modell erklärt die Entwicklung geometrischer Kompetenz über verschiedene Niveaustufen, die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Geometrieunterrichts erreichen, wenn die Anlage unterrichtlicher Lehrund Lernarrangements verschiedene Förderangebote vorsieht. Hieraus wird deutlich, dass die beiden Autoren die Entwicklung geometrischen Denkens in erster Linie durch die Darbietung unterrichtlicher Förderangebote beeinflusst sehen und weniger durch altersgemäße Reifeprozesse. – Auf der ersten Niveaustufe sind geometrische Fertigkeiten anschauungsgebunden, so dass der Geometrieunterricht vorwiegend materialgebundene und handlungsorien-
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| Teil VI: Schule und Unterricht tierte Angebote vorsehen sollte. Schülerinnen und Schüler können Lagebeziehungen und räumliche Beziehungen wahrnehmen. Geometrische Figuren und Körper werden weitgehend holistisch erfasst. Einzelne Eigenschaften oder Bestandteile können also auf dieser Niveaustufe noch nicht herausgearbeitet werden. Es ist Kindern bereits hier möglich, zu vorgegebenen Bezeichnungen oder geometrischen Begriffen, Figuren oder Körper zu zeichnen oder diese herzustellen. – Auf der zweiten Niveaustufe können geometrische Figuren analysiert und im Hinblick auf Beziehungen zu anderen Figuren klassifiziert werden. Der Schwerpunkt unterrichtlicher Angebote liegt verstärkt noch im Bereich konkreter Handlungserfahrungen. Es gelingt Schülerinnen und Schülern auf dieser Ebene zwar konkrete Eigenschaften von Figuren zu benennen, sie sind allerdings noch nicht in der Lage, Unterschiede zwischen Figuren detailliert zu erarbeiten. – Die dritte Niveaustufe ist schließlich durch geometrisch-abstrahierende Fertigkeiten gekennzeichnet. Beziehungen zwischen den Eigenschaften einer Figur und ihr verwandter Figuren können erfasst und benannt werden. So erkennen Kinder, dass jedes Quadrat gleichzeitig ein Rechteck ist, da es alle relevanten Merkmale eines Rechtecks besitzt. Durch das auf dieser Niveaustufe erworbene Wissen ist es Schülerinnen und Schülern möglich, Argumente und Begründungen für geometrische Sachverhalte zu erbringen. So kann auf dieser Stufe z. B. mit der Erarbeitung des Hauses der Vierecke begonnen werden (vgl. Franke, 2000, S. 97). Die vierte und fünfte Niveaustufe des von van Hiele und van Hiele-Geldorf (1986) entwickelten Modells sind für den Unterricht an Förderschulen weitgehend nicht relevant. Hier steht die strenge, abstrakte Geometrie im Vordergrund unterrichtlicher Lehr- und Lernarrangements. Insofern lassen sich lediglich die ersten drei der fünf vorhandenen Niveaustufen auf den Unterricht an Förderschulen beziehen. Die Überlegungen von van Hiele und van Hiele-Geldorf werden auch im Rahmen eines Überblicks über den Geometrieunterricht in der Sekundarstufe von Holland (1996) aufgegriffen. Ergebnisse der empirischen Lehr- und Lernforschung stützen die Theorie (vgl. Franke, 2000, S. 93). Eine jüngere Studie von Reiss, Hellmich und Thomas (2002) bestätigt ebenfalls Aspekte des Modells. 25.4.1.3 Kontextuelle Aspekte Gerade in letzter Zeit gewinnen kontextuelle Aspekte mathematischer Aufgabenstellungen im Zuge der oben bereits beschriebenen internationalen Vergleichsstudien immer mehr an Bedeutung. Auch für den Geometrieunterricht an Förderschulen zeigt sich in besonderem Maße die Relevanz einer adäquaten mathematischen Grundbildung (Mathematical Literacy), wie sie in den Konzepten der PISA- oder der IGLU/E-Studie vorgestellt wird. Diese detailliert ausgearbeiteten Konzepte mathematischer Kompetenz stoßen in der mathematikdidaktischen Diskussion seit längerem auf breite Zustimmung. Es wird dort im Wesentlichen die Fähigkeit beschrieben, „die Rolle, die Mathematik in der Welt spielt, zu erkennen und zu verstehen, begründete mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise mit der Mathematik zu befassen, die den Anforde-
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rungen des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens einer Person als eines konstruktiven, engagierten und reflektierenden Bürgers entspricht“ (OECD, 1999 zitiert nach Deutsches PISA-Konsortium, 2001, S. 141). Der Erwerb von Wissen wird damit als ein aktiver, konstruktiver Prozess in immer wieder neuen Anwendungssituationen verstanden, um mathematische Kompetenzen sowohl im Alltag als auch im späteren Beruf verfügbar zu machen. Schülerinnen und Schüler sollen mit vielen verschiedenen authentischen mathematischen Problemstellungen konfrontiert werden. Dies geschieht vornehmlich mit dem Ziel, träges und nicht anwendungsbezogenes Wissen (vgl. Renkl, 2001) zu verhindern. Im Vordergrund des Literacy-Konzepts steht damit also weniger die Ansammlung von Faktenwissen, als vielmehr die Förderung und Forderung von Transferleistungen und damit eine Übertragbarkeit von Wissen und Kompetenzen auf immer neue Problemstellungen. So wird in Anlehnung an Winter (1995) im Rahmen der IGLU/E-Studie konstatiert, dass sich eine mathematische Grundbildung dadurch auszeichne, dass im Rahmen des Mathematikunterrichts gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen aus der Umwelt thematisiert würden, „die uns alle angehen oder angehen sollten“ (Walther et al., 2003, S. 190). Für den Geometrieunterricht impliziert dies die Bereitstellung reichhaltiger authentischer oder zumindest realitätsbezogener Kontexte bei geometrischen Problemstellungen. Das betrifft insbesondere den Geometrieunterricht der Sekundarstufe. Hier gilt es, geometrische Aufgaben- oder Problemstellungen zu formulieren, bei denen Anwendungsbezüge für Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf alltägliche Fragestellungen oder zukünftige berufliche Pläne transparent werden. Vorkenntnisse oder Interessen von Schülerinnen und Schülern sollten dabei Berücksichtigung finden. Dass gerade mathematische Aufgabenstellungen, die authentischen Charakter besitzen, die Interessen von Schülerinnen und Schülern wecken, konnte dabei in einer Studie von Hellmich und Moschner (2003) belegt werden. Es zeigt sich darüber hinaus, dass mathematische Aufgabenstellungen dann als interessant empfunden werden, wenn sie anwendungsbezogen und nützlich erscheinen oder einen fächerübergreifenden Charakter aufweisen. Diese Befunde werden von Ergebnissen empirischer Studien aus anderen Fachdidaktiken weitgehend gestützt. 25.4.2 Diagnose geometrischer Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen Um in der Schulpraxis Fördermaßnahmen im Lernbereich Geometrie planen zu können, ist häufig die Diagnose geometrischer Kompetenzen und damit eine Abschätzung der individuellen Stärken und Schwächen der jeweiligen Schülerinnen und Schüler eine unabdingbare Voraussetzung. Daneben spielt die Kenntnis von regelhaften Schwierigkeiten, Schwächen und Defiziten eine nicht unerhebliche Rolle, um geometrische Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit einer Lernbehinderung überhaupt angemessen beurteilen zu können. Es soll aus diesen Gründen ein Überblick über diagnostische Instrumente zur Erfassung geometrischer Fertigkeiten gegeben und anschließend über Ergebnisse aus empirischen Studien berichtet werden, die Informationen über geometrische Kompetenzen bzw. Inkompetenzen von Schülerinnen und Schülern aus der
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| Teil VI: Schule und Unterricht Primar- und Sekundarstufe bereit stellen. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung von Lernschwierigkeiten im Geometrieunterricht. 25.4.2.1 Diagnose geometrischer Kompetenzen Für die Feststellung geometrischer Fertigkeiten im Sinne einer Diagnose der Lernausgangslage im Lernbereich Geometrie liegen bislang kaum erprobte Inventare vor, auf deren Basis der jeweilige Entwicklungsstand von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen gemessen werden kann. Ein Überblick von Schulz (1996) über mathematisch-diagnostische Verfahren im Vorschul- und Schuleingangsbereich zeigt diesen Sachverhalt recht deutlich: Im Vordergrund förderdiagnostischer Bemühungen stehen vornehmlich pränumerische Kompetenzen, Zählfertigkeiten, Mengenrelationen und -operationen sowie symbolisch-numerisches Rechnen. Einige der bislang ausgearbeiteten Aufgabensätze zum Themenfeld Geometrie, die beispielsweise als Grundlage für empirische Forschungsprojekte dienen, scheinen – wenn überhaupt – universitätsintern publiziert zu sein. Sie sind häufig nicht in relevanten Datenbanken ausfindig zu machen. Andere diagnostische Inventare fokussieren in erster Linie die Erfassung der visuellen Wahrnehmung und der optischen Differenzierung. Diese Instrumente sind nicht primär auf die Erfassung geometrischer Kompetenzen ausgerichtet. Ein Aufgabensatz aus mathematikdidaktischer Perspektive von Grassmann (1996) sieht die Erhebung geometrischer Kompetenz zu Schulbeginn vor. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass der Aufgabensatz nicht eng auf geometrische Kenntnisse, sondern vielmehr – in Anlehnung an Piaget – auf allgemein kognitive Fähigkeiten ausgerichtet sei. Eine Ausnahme stellt das relativ neue Instrumentarium „Prozessdiagnose mathematischer Kompetenzen“ von Behring, Kretschmann und Dobrindt (1999a, 1999b, 1999c) dar, das Aufgabensätze zur Erfassung von Aspekten geometrischer Fertigkeiten bietet. Hier werden beispielsweise bereits für den Schulbeginn bzw. das erste Schuljahr geometrische Lagebeziehungen in einzelnen Testaufgaben thematisiert. Auch Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) behandelt neben Aspekten der visuo-motorischen Koordination, der Figur-Grund-Unterscheidung und der Form-Konstanz-Beachtung geometrische Grundfertigkeiten wie das Erkennen der Lage im Raum oder das Erfassen räumlicher Beziehungen (vgl. Lorenz & Radatz, 1993, S. 213). Eine weitere Möglichkeit zur Diagnose geometrischer Fertigkeiten stellen die bereits publizierten Instrumente zur Erfassung mathematischer Kompetenzen der internationalen Schulleistungsstudie TIMSS dar. Hier lassen sich unterschiedliche Aufgabenstellungen aus dem Lernbereich Geometrie für das dritte bzw. vierte Regelschuljahr (Martin & Kelly, 1997) sowie für den Sekundarstufenunterricht (Beaton et al., 1996) finden, die insbesondere in Hinblick auf inhaltliche, aktivitätsbezogene, aber auch kontextuelle Aspekte der Aufgabenstellung variieren. Als ein Maß zur Beurteilung der erbrachten Schülerleistungen können hier die jeweils im Rahmen von TIMSS ermittelten Schwierigkeitsgrade sowie die jeweils angegebenen Lösungsraten dienen (vgl. Battista, 1999). Es sei jedoch ratsam, so Battista (1999), die dort häufig im Multiple-Choice-Format abgebildeten geometrischen Problemstellungen offen zu formulieren. Dies erleichtert die Diagnose von Lösungsprozessen sowie von individuellen Strategien und Herange-
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hensweisen von Schülerinnen und Schülern bei der Bearbeitung geometrischer Aufgabenstellungen. Schulz (1996) generiert Kriterien für die Entwicklung und den Einsatz mathematikdiagnostischer Verfahren, die auch für die Konzeption diagnostischer Inventare für den Geometrieunterricht von Bedeutung sind und die sich wie folgt zusammenfassend darstellen lassen (S. 73 f.): Als ein erstes wesentliches Kriterium formuliert Schulz (1996) die Notwendigkeit der Anknüpfung an theoretische Modelle und Ergebnisse aus der empirischen Lehr- und Lernforschung. Daneben gilt es bei der Konzeption diagnostischer Aufgabensätze, Möglichkeiten der Klassifizierung von Lösungsfehlern und Bearbeitungsstrategien zu erarbeiten und damit bereitzustellen. Mathematisch-diagnostische Aufgabensätze sollten dem zu Folge so konzipiert sein, dass sie die Beschreibung der Stärken und Schwächen von Schülerinnen und Schülern präzise und individuell ermöglichen. Ein drittes Kriterium betrifft schließlich kontextuelle Aspekte von Aufgabenstellungen als ein entscheidendes Moment. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass das Wissen und Können von Schülerinnen und Schülern häufig bereichsspezifischer Natur und an spezifische Kontexte gebunden ist. Um mathematische Kompetenzen im Allgemeinen und geometrische im Speziellen differenziert abbilden zu können, ist es daher notwendig, multiple Kontexte in den Aufgabensätzen zu berücksichtigen. Neben formellen diagnostischen Aufgabensätzen, die beispielsweise der Erfassung geometrischer Kompetenzen dienen, sind informelle Verfahren besonders in den letzten Jahren in vielen verschiedenen Publikationen immer wieder hervorgehoben worden. So lassen sich bei Lorenz und Radatz (1993, S. 63 ff.) verschiedene geometrische Aufgabenstellungen finden, die im Rahmen von Einzelgesprächen zwischen einer Lehrkraft und einer Schülerin oder einem Schüler eingesetzt werden können. Die dort abgebildeten informellen Aufgabensätze thematisieren unter anderem Würfeldrehungen, Spiegelbilder, das Nachbauen von vorgebauten oder gezeichneten räumlichen Objekten und das Nachlegen von Mustern und Parkettierungen. 25.4.2.2 Geometrische Kompetenzen und Inkompetenzen Es liegen im Bereich der aktuellen Lehr- und Lernforschung bislang nur wenige empirische Studien vor, die gesicherte Aussagen über die Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern sowohl mit als auch ohne Lernschwierigkeiten bereitstellen. Neben Ergebnissen aus entwicklungspsychologischen Arbeiten von Piaget und Inhelder (1971) werden im Folgenden einige aktuelle Studien aus dem Bereich der Mathematikdidaktik vorgestellt, die unter anderem von besonderer Relevanz für den Mathematikunterricht an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen sind. Als ein wesentlicher empirischer Beitrag gelten die Untersuchungen von Piaget und Inhelder (1971), auf deren Basis ein umfassendes Entwicklungsmodell räumlicher Fähigkeiten erstellt wurde, das auch heute noch für den Mathematikunterricht von Bedeutung ist. Das theoretische Gerüst dieses Entwicklungsmodells stützt sich auf die von Piaget entworfene Stufentheorie der Intelligenz. Die Entwicklung räumlich-geometrischen Denkens ist durch einzelne Stufen gekennzeichnet, die Kinder schrittweise durchlaufen. Die von Piaget angemerkten Altersangaben variieren in unterschiedlichen Veröffentlichungen
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| Teil VI: Schule und Unterricht und lassen sich in Bezug auf häufig nachgewiesene interindividuelle Unterschiede, zum Beispiel zwischen leistungsschwächeren und leistungsstärkeren Kindern, nicht universell auf die Unterrichtspraxis übertragen. Die Entwicklung räumlich-geometrischen Denkens erfolgt gemäß Piaget und Inhelder (1971) in vier auf einander aufbauenden Phasen, wobei der Wechsel zu der jeweils nachfolgenden Stufe mit einer Umstrukturierung des kindlichen Denkens verbunden ist. In der sensomotorischen Phase (ca. ein bis zwei Jahre) erwerben Kinder zunächst auf Grund konkreter Aktivitäten mit räumlichen Gegenständen erste räumliche Beziehungen. Sie können sich auf dieser Stufe den Raum noch nicht vorstellen oder ihn mental rekonstruieren. Es ist ihnen allerdings beispielsweise möglich, den Weg zwischen zwei Orten ausfindig zu machen. Auf der präoperationalen Stufe (ca. zwei bis sieben Jahre) können Kinder dann Handlungen an geometrischen Objekten in der Vorstellung ausführen. Dabei stellen sensomotorische Handlungen das Basisgerüst für solche räumlichen Vorstellungen dar. Diese Handlungen besitzen allerdings noch nicht die Eigenschaften von Operationen im eigentlichen Sinne, da sie auf dieser Stufe noch nicht umkehrbar oder kompositionsfähig. Dies gelingt erst auf der Stufe der konkreten Operationen (ca. sieben bis zwölf Jahre), die durch Vorgänge der Verinnerlichung und Symbolisierung gekennzeichnet ist. Es werden nun präoperationale Anschauungen durch allgemeine, zusammenstellbare und umkehrbare Operationen strukturiert (Piaget & Inhelder, 1971, S. 174). Auf der Stufe der formalen Operationen (ab zwölf Jahre) ist Denken dann, so Piaget, verinnerlichtes Tun. Die Axiomatisierung räumlich-geometrischer Begebenheiten wird zunehmend vorbereitet. Die Entwicklung räumlicher Operationen wird von Piaget und Inhelder (1971) an Hand der schrittweisen Erfassung und Wahrnehmung von drei verschiedenen räumlichen Beziehungen erörtert: den topologischen, den projektiven und den euklidischen Beziehungen. Das Realisieren topologischer Beziehungen wird von Kindern bereits in der präoperationalen Phase geleistet. So gelingt es ihnen, Merkmale wie offen und geschlossen, innen und außen, begrenzt, benachbart oder nah und fern zu erkennen und zu unterscheiden. Auf der Basis der gewonnenen Einsichten in topologische Beziehungen gelingt Kindern in der konkret-operationalen Phase sowohl die Wahrnehmung projektiver als auch euklidischer Beziehungen. Kinder erwerben hier die Fähigkeit, Schattenprojektionen oder Schrägbilder richtig zu deuten. Es ist ihnen möglich, Perspektiven zu erfassen und perspektivische Veränderungen zu erkennen und zu rekonstruieren. Sie können sich z. B. von der eigenen Perspektive lösen und in der Vorstellung andere Beobachtungsstandpunkte einnehmen. Sie erkennen, dass sich Gegenstände durch Verschiebungen nicht ändern. Die Vertikale und die Horizontale können unterschieden werden, sie werden gar zu einem System vereinigt. Die Invarianz von Abständen und Längen, von Flächen und Volumina ist Kindern auf dieser Stufe transparent. Verkleinerungen und Vergrößerungen können ebenso erfasst und durchgeführt werden. Das Berechnen von Längen, Flächen und Volumina ist schließlich auf dieser Entwicklungsstufe möglich. 25.4.2.3 Empirische Studien zur Erfassung geometrischer Kompetenz In der nationalen Erweiterung der internationalen Schulleistungstudie IGLU wurden Grundschulkindern des vierten Schuljahres unter anderem geometrische Aufgabenstel-
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lungen zur Bearbeitung vorgelegt. Dabei wurden die Lernfelder Formen, Koordinaten, Pläne, Maßstäbe, Maße sowie geometrische Gesetzmäßigkeiten und Muster in den Aufgabenstellungen thematisiert. Die jüngst veröffentlichten Ergebnisse belegen, dass verschiedene Stufen mathematischer Kompetenz angenommen werden können. Insbesondere für den Lernbereich Geometrie zeigt sich, dass die meisten der befragten Grundschulkinder geometrische Aufgabenstellungen mit innermathematischem Kontext noch relativ sicher lösen. So gelingt ihnen der Umgang mit ebenen Figuren wie Dreiecken, Rechtecken oder Quadraten. Aufgabenstellungen aus dem Bereich der räumlichen Geometrie, bei denen der Umgang mit Würfeln, Würfelbauten und ihren Schrägbildern verlangt ist, stellen dem gegenüber relativ hohe Anforderungen an die befragten Schülerinnen und Schüler (vgl. Walther et al., 2003). Die Ergebnisse der IGLU/E-Studie sind zurzeit noch nicht detailliert publiziert. So ist bislang beispielsweise die Frage noch nicht beantwortet, welche der dort untersuchten mathematischen Lernbereiche besonders hohe Anforderungen an Schülerinnen und Schüler stellen. Dieser Frage wurde bereits im Rahmen der internationalen Vergleichsstudie TIMSS I mit Schülerinnen und Schülern der dritten und vierten Schulstufe nachgegangen (Mullis et al., 1997, S. 47), an der Deutschland nicht teilgenommen hat. Es zeigte sich hier, dass Aufgabenstellungen aus den untersuchten mathematischen Lernbereichen – Arithmetik, Algebra, Geometrie, Größen sowie Umgang mit Daten und Wahrscheinlichkeit – unterschiedlich erfolgreich von den befragten Schülerinnen und Schülern bearbeitet wurden. Dabei gelten die Lernbereiche Arithmetik und Geometrie als am wenigsten schwierig. Im dritten Schuljahr bearbeiteten mehr als die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler (56 %) geometrische Aufgabenstellungen erfolgreich, im vierten Schuljahr lösten insgesamt 67 % der Schülerinnen und Schüler die präsentierten geometrischen Aufgaben korrekt. Dem gegenüber werden Aufgabenstellungen aus dem Bereich Umgang mit Daten und Wahrscheinlichkeit nur von 36 % der Drittklässler und 49 % der Viertklässler richtig bearbeitet. In einer Untersuchung von Grassmann (1996) wurden insgesamt knapp sechshundert Schulanfängerinnen und -anfängern verschiedene Aufgabenstellungen aus dem Bereich Geometrie vorgelegt. Die eingesetzten Aufgaben thematisierten das Vergleichen von Längen, die Zuordnung von Begriffen zu verschiedenen abgebildeten Figuren, das Vergleichen von Volumina sowie das Erkennen und Benennen von Lage- und Raumbeziehungen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schulanfängerinnen und -anfänger insgesamt relativ sicher mit geometrischen Inhalten umgehen. Probleme bereiten den Kindern jedoch besonders Aufgabenstellungen, die begriffliche Fähigkeiten sowie die Identifikation von Eigenschaften verschiedener Figuren verlangen. Daneben wird eine Aufgabenstellung, deren erfolgreiche Bearbeitung sowohl eine sichere räumliche Orientierung als auch die Kenntnis von Lagebeziehungen voraussetzt, von weniger als fünfzig Prozent der hier befragten Kinder adäquat gelöst. Die Ergebnisse stehen damit weitgehend im Einklang mit der von Piaget und Inhelder (1971) entwickelten Stufentheorie und decken sich annähernd mit den Ergebnissen einer vergleichbaren Studie von Franke (2000, S. 102 ff.). In einer Studie von Grüßing (2002) wurde unter anderem der Frage nachgegangen, welche Strategien leistungsstärkere Grundschulkinder im Vergleich zu leistungsschwächeren bei der Bewältigung räumlich-geometrischer Anforderungen zeigen. Sie führte
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| Teil VI: Schule und Unterricht mit insgesamt zwölf Grundschülerinnen und -schülern des vierten Schuljahres an Hand der Methode des „lauten Denkens“ Einzelinterviews durch. Den Schülerinnen und Schülern wurden dabei verschiedene räumlich-geometrische Aufgabenstellungen präsentiert. Die Aufgabe bestand darin, dass sie bei der Bearbeitung alle Gedanken aussprechen sollten, die ihnen durch den Kopf gingen. Das Ziel der Studie ist gewesen, Hypothesen über unterschiedliche Strategien und Herangehensweisen bei der Bearbeitung räumlich-geometrischer Aufgabenstellungen zu generieren. Als wesentliche Ergebnisse führt Grüßing (2002) in Bezug auf Unterschiede zwischen leistungsschwächeren und leistungsstärkeren Kindern an, dass Kinder zunächst ganz unterschiedliche Strategien bei der Bearbeitung nutzten. So griffen einige Kinder bei der Lösung räumlich-geometrischer Aufgaben auf holistische Strategien zurück. Sie verglichen abgebildete Körper und dazugehörige Netze ganzheitlich. Andere Schülerinnen und Schüler zeigten analytische Strategien. Sie bestimmten beispielsweise die Zugehörigkeit eines vorgegebenen Netzes zu einem abgebildeten Quader, indem sie Elemente oder Teilaspekte wie zum Beispiel die Anordnung einzelner Flächen abglichen und damit im Vergleich zu einer holistischen Herangehensweise eher sequenzartig vorgingen. Dabei zeigte sich, dass insbesondere leistungsstärkere Kinder auf Ausweich- oder Ergänzungsstrategien wie logische Schlussfolgerungen zurückgriffen. Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler zeigten hingegen eher sequentielle Strategien: Aufgabenstellungen, bei denen mehrere unterschiedliche Merkmale simultan betrachtet werden mussten, wurden schrittweise bearbeitet. Im Bezug auf die Verwendung geometrischer Begriffe zeigt sich in den von Grüßing (2002) geführten Interviews, dass Kinder bereits im vierten Schuljahr ein ausgereiftes Begriffswissen zeigen und Vorstellungen von den Eigenschaften der Körper besitzen. Jedoch sind auch hier Unterschiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülerinnen und Schülern evident. Es wird deutlich, dass Begriffsinhalte bei den leistungsschwächeren Kindern zwar häufig vorhanden sind, allerdings eigene Bezeichnungen für Körper verwendet werden, die zumeist an grundlegenden Eigenschaften der abgebildeten Körper orientiert sind und auf konkret-anschaulichen Vorstellungen beruhen. Häufig zeigt sich aber auch die Verwendung von anschaulichen Bezeichnungen, die jedoch nicht unbedingt konkreten Vorstellungen oder Merkmalen der betrachteten Körper entsprechen. Hellmich (in Vorbereitung) konnte im Rahmen einer Studie mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern der vierten und fünften Klassenstufe (N = 129) zeigen, dass bei der Bearbeitung geometrischer Aufgabenstellungen zahlreiche Schwierigkeiten und Probleme auftreten. In dieser Studie wurden den Schülerinnen und Schülern verschiedene Aufgabenstellungen aus dem Bereich der räumlichen Geometrie zur Bearbeitung vorgelegt. Die Schülerinnen und Schüler wurden dazu aufgefordert, Ansichten verschiedener Körper zu zeichnen. So sollten sie sich beispielsweise vorstellen, wie verschiedene Ansichten (Vorderansicht, Draufsicht oder rechte Seitenansicht) eines Zylinders, einer Pyramide, einer Kugel oder eines Würfels aussehen. Die Ergebnisse der Überlegungen sollten die Kinder anschließend zeichnen. Bei einer weiteren Aufgabenstellung sollte die Draufsicht und die rechte Seitenansicht vorgegebener räumlicher Figuren bestimmt und gezeichnet werden. Hierbei war es erforderlich, räumliche Beziehungen zwischen verschiedenen Körpern wahrzunehmen. Die Ergebnisse zeigen, dass nur wenige der befragten Schülerinnen und Schüler sicher mit den präsentierten Inhalten umgehen können. Eine Vielzahl
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der Schülerinnen und Schüler scheint mit den geometrischen Begriffen offenbar nicht vertraut zu sein, obwohl sie im Unterricht zuvor ausführlich thematisiert worden sind. Es ist damit zu schlussfolgern, dass gerade begriffliches Wissen eine besondere Schwierigkeit darstellt. Daneben zeigt sich bei den Lösungen zu einer Aufgabenstellung, bei der Zeichnungen verschiedener Ansichten vorgegebener räumlicher Gebilde angefertigt werden sollten, dass auch dies hohe Anforderungen an die befragten Schülerinnen und Schüler stellt. Es wird deutlich, dass nur wenigen Kindern der Übertrag von dreidimensionalen Darstellungen räumlicher Objekte in zweidimensionale Zeichnungen gelingt. Die Ergebnisse deuten bei einer qualitativen Betrachtung auf verschiedene, inter- und intraindividuell unterschiedliche Schwierigkeiten und Herangehensweisen der Schülerinnen und Schüler hin. So zeigt sich bei einigen Kindern, dass ihre Vorstellungen nicht immer vollständig kompatibel mit fachlichen Aspekten der hier thematisierten Körper sind. Es werden zum Beispiel die Flächen eines Würfels von einigen Kindern in Form von Rechtecken zeichnerisch dargestellt. Verschiedene Ansichten räumlicher Objekte, die Vorderansicht oder die Draufsicht, werden häufig verwechselt. Einigen Kindern ist der Begriff Ansicht nicht vertraut, obwohl er im Unterricht thematisiert wurde. Sie zeichneten stattdessen räumliche Gebilde. In einer Untersuchung von Wiese und Wollring (1995) wurden Grundschulkinder und Kinder der Erprobungsstufe aufgefordert, Würfelbauwerke oder deren Ansichten mit der Handlungsanweisung „Zeichnet, was ihr seht!“ zeichnerisch darzustellen. Den Schülerinnen und Schülern wurden dabei reale Steckwürfel- oder Holzwürfelbauwerke als konkrete Materialien vorgegeben. Die Ergebnisse dieser Studien verdeutlichen, dass die Kinder unter anderem ebene Ansichten, „unangeleitete Zweitafelprojektionen“ oder „räumliche Darstellungen in Kavalierperspektive“ bei den Zeichnungen präferieren. Die Ergebnisse zeigen weiterhin ein „Fortschreiten von sequentieller zu simultaner Tiefencodierung“ je nach Altersstufe der Kinder (Wiese & Wollring, 1995, S. 523, Hervorhebungen ausgelassen). 25.4.3 Förderung geometrischer Kompetenzen im Mathematikunterricht Aus dem Bereich der empirischen Lehr- und Lernforschung lassen sich bezüglich der Überprüfung geeigneter Lehr- und Lernarrangements für den Geometrieunterricht und den Bedingungen des Wissensaufbaus geometrischer Fertigkeiten drei grundlegende Forschungslinien identifizieren. Eine erste Forschungslinie ist wesentlich durch die Überprüfung unterschiedlicher Konzepte zur Förderung räumlich-geometrischer Fähigkeiten bestimmt. Eine weitere betrifft die Evaluation unterschiedlicher Konzepte zum Erwerb geometrischer Begriffe. Das dritte Forschungsparadigma ist besonders in Bezug auf die hier betrachtete Gruppe von Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen relevant und bezieht sich auf nicht-kognitive Bedingungen des Wissenserwerbs im Geometrieunterricht. Neben kognitiven Bedingungen des Lehrens und Lernens von Mathematik werden in letzter Zeit immer wieder emotionale, motivationale, soziale und interaktionale Bedingungen des Wissenserwerbs als erklärende Faktoren für erfolgreiche schulische Leistungen betrachtet.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 25.4.3.1 Lehr- und Lernumgebungen zur Förderung räumlicher Fertigkeiten In den letzten zwanzig Jahren wurden besonders im Bereich der Mathematikdidaktik viele Ideen, Ansätze und Modelle zur Förderung geometrischer und speziell räumlichgeometrischer Fähigkeiten entwickelt und auch teilweise erprobt. Für eine Übersicht über Materialien und Förderangebote sei an dieser Stelle exemplarisch auf Franke (2000) oder Müller (1995) verwiesen. Fördermaterialien zur Schulung räumlich-geometrischer Fähigkeiten sind insbesondere von Besuden (z. B. 1973, 1994, 1997) entwickelt worden, einige Ideen für räumlich-geometrische Aufgabenstellungen lassen sich aber auch bei De Lange (1984) finden. Neben einer materialgebundenen Förderung geometrischer Fähigkeiten gewinnt der Einsatz neuer Medien im Rahmen des Geometrieunterrichts zunehmend an Bedeutung (vgl. Graumann, Hölzl, Krainer & Struve, 1996). Es lassen sich einige computerunterstützte Programme finden, bei denen vermutet wird, dass sie geometrische Fertigkeiten fördern. Diese computerunterstützten Lernprogramme wurden im Bereich der empirischen Lehr- und Lernforschung gerade in letzter Zeit im Rahmen von Kontrollgruppendesigns evaluiert. Probanden sind dabei in verschiedenen Studien unter anderem lernbehinderte Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen gewesen. Es können in diesem Zusammenhang zwei Arten von Studien voneinander unterschieden werden. Dies sind einerseits Studien, die den Einsatz computerunterstützter Lernsoftware im Bezug auf eine Förderung räumlicher Kompetenzen thematisieren und andererseits Studien, bei denen materialgebundene Förderkonzepte im Vergleich zu computerunterstützten Maßnahmen evaluiert wurden. Die bislang vorliegenden Studien bieten kontroverse Untersuchungsergebnisse und sollen aus diesem Grund im Hinblick auf die jeweiligen Fragestellungen, methodischen Vorgehensweisen und Ergebnisse vorgestellt werden. Computerunterstützte Förderung räumlich-geometrischer Fähigkeiten: In verschiedenen Untersuchungen von Masendorf (1993, 1994) und Souvignier (1997, 1998, 1999, 2000) geben die Ergebnisse Auskunft darüber, dass räumliche Fähigkeiten durch einen computerunterstützten, spielerischen Umgang mit räumlichem Material bei lernbehinderten Sekundarstufenschülerinnen und -schülern verbessert werden können. Es zeigte sich dabei im Rahmen der einzelnen Studien, dass eine Verbesserung räumlicher Fähigkeiten auch Transferleistungen ermöglichte. So konnte verdeutlicht werden, dass die Förderung räumlicher Fähigkeiten zu verbesserten Leistungen in einem Intelligenztest führte und eine Verbesserung schulischer Leistungen im mathematisch-technischen sowie im naturwissenschaftlichen Bereich zur Folge hatte. Die Unterrichtsexperimente wurden im Rahmen von Kontrollgruppendesigns realisiert. Den Schülerinnen und Schülern wurden sowohl prä- als auch postexperimentell Tests zu den untersuchten Bereichen dargeboten. In den Fördereinheiten, die sich jeweils über einige Wochen erstreckten, wurden im Wesentlichen die Computerspiele Tetris und Block-out eingesetzt. Bei dem Computerprogramm Tetris ist dabei von Schülerinnen und Schülern verlangt, verschiedene Figuren, die der Reihe nach in einen Schacht fallen, möglichst geschickt anzuordnen. Die Spielregeln des Computerprogramms Block-out sind ähnlich. Es handelt sich hier jedoch um dreidimensionale Objekte, die jeweils anzuordnen sind.
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In Untersuchungen aus dem Bereich der Mathematikdidaktik zeigt sich, dass ein rein spielerischer Umgang mit räumlichem Material sowohl bei Grundschulkindern der dritten und vierten Jahrgangsstufe (vgl. Hartmann, 2000) als auch bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern der vierten und fünften Jahrgangsstufe (vgl. Grüßing & Hellmich, 2001; Hellmich & Hartmann, 2002) nicht zu den gewünschten Erfolgen führt. In diesen Studien wurde überprüft, inwiefern (a) räumliche Fähigkeiten im Rahmen des Mathematikunterrichts gefördert werden können und (b) ob eine Förderung räumlicher Kompetenzen eine Verbesserung von Leistungen im Bereich der Geometrie impliziert. Es waren insgesamt 63 Grundschulkinder und 110 lernbehinderte Schülerinnen und Schüler an diesen Studien beteiligt. Im Rahmen eines Kontrollgruppendesigns wurden die Schülerinnen und Schüler an Hand von Ergebnissen präexperimentell erhobener Tests zu räumlichen und geometrischen Kompetenzen zwei Untersuchungsgruppen zugeordnet. Die Experimentalgruppe erhielt dabei ein Training im Umfang von insgesamt vier Unterrichtsstunden. Sie beschäftigte sich mit dem Computerprogramm Quader-Puzzle (vgl. Jöckel, Abel & Reiss, 1999). In diesem Programm bearbeiten Schülerinnen und Schülern räumlich-geometrische Problemstellungen. An Hand vorgegebener Ansichten müssen Körper aus verschiedenfarbigen Würfeln und Dreiecksprismen zusammengesetzt werden. Die Schwierigkeitsgrade der einzelnen Aufgabenstellungen variieren dabei. Die Kinder der Kontrollgruppe erhielten in der gleichen Zeit gewöhnlichen Arithmetikunterricht. Im Anschluss nahmen alle Kinder im Rahmen des Mathematikunterrichts an einer Unterrichtseinheit zu räumlicher Geometrie teil. Hier wurden geometrische Körper, deren Baupläne, Abwicklungen und Ansichten thematisiert. Die Ergebnisse der Untersuchungen in der Grund- als auch in der Sonderschule zeigen keine signifikanten Förder effekte in Bezug auf die räumlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler durch die Bearbeitung räumlich-geometrischer Aufgaben. Eine Förderung räumlicher Fähigkeiten ist bei einem Vergleich der Ergebnisse der prä- und postexperimentell eingesetzten Tests nur bei Testaufgaben zu erkennen, die inhaltlich sehr eng mit dem verwendeten Trainingsmaterial verknüpft sind. Auf der Grundlage dieser Befunde schlussfolgern Hellmich und Hartmann (2002), dass räumlich-geometrische Aufgabenstellungen nicht ohne weiteres geeignet sind, räumliche Kompetenzen zu fördern. Wesentliche Unterschiede zu den von Masendorf (1993, 1994) und Souvignier (2000) durchgeführten Studien liegen einerseits in der Art des verwendeten Fördermaterials, andererseits aber auch im zeitlichen Umfang des Trainingsprogramms. Als wesentliche Kriterien im Sinne wichtiger Voraussetzungen für eine erfolgreiche Förderung im Bereich räumlicher Kompetenzen vermuten Hellmich und Hartmann (2002) erstens geeignete Lehr- und Lernumgebungen, zweitens eine angemessene Dauer von Fördereinheiten sowie drittens eine Bandbreite geeigneter Förderinhalte, die eine reichhaltige Auseinandersetzung mit Gegenständen vorsehen, die Anforderungen an räumliche Fähigkeiten und Fertigkeiten stellen. Materialgebundene versus computerunterstützte Förderung räumlich-geometrischer Fähigkeiten: In zwei annähernd vergleichbaren Studien wurde eine materialbasierte Förderung räumlich-geometrischer Kompetenzen einer computerunterstützten Förderumgebung gegenübergestellt. Anfang der neunziger Jahre wurde von Reiss und Albrecht (1994) eine solche Studie mit Schülerinnen und Schülern der achten Klasse durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurde eine Unterrichtseinheit zu dem Thema „Besondere Punkte und Linien im Dreieck“ (Reiss & Albrecht, 1994, S. 93) thematisiert. Einer der beiden
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| Teil VI: Schule und Unterricht Untersuchungsgruppen wurde dabei computerunterstützter Unterricht mit Hilfe der Geometrie-Software Cabri Géomètre erteilt, die andere Untersuchungsgruppe arbeitete eher gewöhnlich mit Zirkel und Lineal. Prä- und postexperimentell bearbeiteten die Schülerinnen und Schüler Aufgabenstellungen aus dem Bereich räumlich-geometrischer Kompetenzen. Die Ergebnisse zeigen, dass die an der Studie beteiligten Schülerinnen und Schüler vom Absolvieren der Fördereinheiten in Bezug auf ihre räumlich-geometrischen Fähigkeiten deutlich profitiert haben. Es besteht dabei kein Unterschied zwischen den in unterschiedlicher Weise unterrichteten Untersuchungsgruppen. In einer Untersuchung von Hartmann und Hellmich (2002) wurde ähnlich wie bei Reiss und Albrecht (1994) verfahren. Es wurde sowohl ein materialorientiertes als auch ein computerunterstütztes Förderkonzept entworfen. Beide Konzepte wurden dabei parallel im Rahmen eines Kontrollgruppendesigns evaluiert. Die Förderkonzepte bestanden in beiden Fällen aus einem langfristigen, spielerischen Umgang mit vielfältigen räumlich-geometrischen Problemstellungen. Beide Konzepte umfassten dabei zehn Unterrichtsstunden, die sich auf ein halbes Schuljahr verteilten. An der Untersuchung waren 72 Grundschulkinder der Jahrgänge drei und vier beteiligt. Im Rahmen des materialorientierten Konzepts wurden räumlich-geometrische Aufgaben zu Lagebeziehungen, räumlichen Objekten und ebenen Figuren behandelt. Das verwendete Material orientierte sich dabei an Arbeiten von Besuden (1999). Bei dem computerunterstützten Förderkonzept wurde verschiedene Software eingesetzt, die einen spielerischen Umgang mit räumlich-geometrischem Material ermöglichte, zugleich aber inhaltlich an dem materialorientierten Konzept ausgerichtet war. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die auf die Untersuchungsgruppen verteilten Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Unterschiede in ihren räumlichen Fähigkeiten zwischen dem Vor- und dem Nachtest nicht von einander unterscheiden. Eine Förderung konnte damit im Rahmen dieser Untersuchung weder durch ein materialgebundenes noch durch ein computerunterstütztes Förderkonzept nachgewiesen werden. 25.4.3.2 Konzepte zum Erwerb begrifflichen Wissens im Geometrieunterricht Der geometrische Begriffserwerb stellt besondere Anforderungen an Schülerinnen und Schüler, die an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen unterrichtet werden. Es zeigt sich, dass häufig nicht in gleichem Maße wie bei Regelschülerinnen und -schülern an Vorkenntnisse und alltägliche Erfahrungen bei der Erarbeitung geometrischer Begriffe angeknüpft werden kann. Geometrische Begriffe müssen sodann im Rahmen des Mathematikunterrichts in der Regel durch konkrete Handlungserfahrungen an geometrischem Material aufgebaut und entwickelt werden. Über die Verfügbarkeit geometrischen Begriffswissens bei leistungsschwächeren Kindern wurde bereits oben referiert. Franke (2000) schlägt für die Erarbeitung geometrischer Begrifflichkeiten im Rahmen des Mathematikunterrichts drei verschiedene Herangehensweisen und damit Wege der Einführung deklarativen Wissens im Geometrieunterricht vor. Sie unterscheidet zwischen Real- und Konventionaldefinitionen sowie genetischen bzw. operationalen Definitionen in Bezug auf geometrische Begriffe. Dabei zeichnen sich Realdefinitionen dadurch aus, dass ein Oberbegriff, der in der Begriffshierarchie häufig der nächste ist, und ein cha-
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rakteristisches Merkmal genannt werden. Bei Konventionaldefinitionen werden die Bedingungen berichtet, unter denen ein Objekt einen Begriff repräsentiert. Bei genetischen bzw. operationalen Definitionen werden schließlich Begriffe erklärt, indem auf Aspekte ihrer Konstruktion verwiesen wird (vgl. Franke, 2000, S. 82 f.). In einer Studie von Leutner (1992) wurden Aspekte des Wissenserwerbs geometrischer Begriffe und der unter anderem von Franke (2000) aufgezeigten Herangehensweisen in einer empirischen Studie vergleichend evaluiert. Leutner unterscheidet dabei im Wesentlichen hierarchische von eigenschaftsorientierten Definitionen. An der Studie waren insgesamt 80 elf- bis dreizehnjährige Schülerinnen und Schüler beteiligt, die im Verlauf der Untersuchung verschiedene geometrische Begriffe erlernen sollten. Für die Studie wurde ein 2x2-faktorielles Design (mit/ohne Bezug auf übergeordnete Begriffe, mit/ohne Bezug auf eigenschaftsorientierte Definitionen) gewählt. Dabei erarbeitete die Untersuchungsgruppe, die weder eigenschaftsorientierte noch hierarchische Definitionen nutzen durfte, Bezeichnungen und Eigenschaften von Figuren auf eine induktiv-entdeckende Weise. Die Ergebnisse zeigen, dass Schülerinnen und Schüler am ehesten einen Lernerfolg erzielen, wenn sie über hierarchische Definitionen geometrische Begriffe erwerben, das heißt, wenn den Schülerinnen und Schülern geometrische Begriffe über einen vorher bereits erlernten Oberbegriff erklärt werden. Es liegen zurzeit keine vergleichbaren Studien vor, die ergänzende Befunde berichten. 25.4.3.3 Bedingungen des Wissensaufbaus im Geometrieunterricht Insbesondere auf der Grundlage der Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien wie TIMSS oder PISA gewinnen motivationale Bedingungsfaktoren neben kognitiven Aspekten des Wissensaufbaus im Mathematikunterricht an Bedeutung. So lassen sich einige Hinweise darauf finden, dass Interessen, Vorstellungen und Einstellungen gegenüber dem Unterrichtsfach Mathematik im Zusammenhang mit mathematischer Kompetenz betrachtet werden müssen (vgl. z. B. Artelt, Demmrich & Baumert, 2001). Es wird dabei angenommen, dass gerade solche individuellen Bedingungsfaktoren den Wissensaufbau beeinflussen und eine nicht unerhebliche Rolle im Zusammenhang mit erfolgreichem, selbstreguliertem Lernen spielen. Auch und gerade für den mathematischen Förderunterricht wurde bereits Anfang der achtziger Jahre die Bedeutung individueller motivationaler Eingangsvoraussetzungen diskutiert und im Hinblick auf Möglichkeiten und Anregungen für die Unterrichtspraxis thematisiert. So lassen sich insbesondere bei Wittoch (z. B. 1985) einige konkrete Hinweise in Bezug auf die Realisierung günstiger motivationaler Bedingungen im Mathematikunterricht mit lernbehinderten Schülerinnen und Schülern finden. Wittoch (1985) fokussiert dabei in ihrem Ansatz die Förderung angemessener selbstbezogener Kognitionen von lernbehinderten Schülerinnen und Schülern unter metakognitivem Aspekt (vgl. Kapitel 16, Förderung der Metakognition). Sie gibt konkrete Hinweise für die Unterrichtspraxis, indem sie Impulse und Vorschläge für den Erwerb und Aufbau differenzierter Selbstkonzepte mathematischer Fertigkeiten bereitstellt. So schlägt sie beispielsweise vor: „Geben Sie den Schülern Gelegenheit, verschiedene Ursachen für ihre persönlichen Leistungen kennen zu lernen“ (S. 104) oder „Ermöglichen Sie den Schülern, Aufgaben
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| Teil VI: Schule und Unterricht mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgeraden kennen zu lernen“ (Wittoch, 1985, S. 94, Hervorhebungen ausgelassen). Die Relevanz der Förderung motivationaler und selbstbezogener Faktoren im Speziellen konnte dabei bereits in verschiedenen Studien aus dem Bereich der Pädagogischen Psychologie gezeigt werden (vgl. z. B. Helmke, 1992; Moschner, 2001). Das Ergebnis einer Längsschnittsstudie, in der Kinder regelmäßig in der Zeit des Kindergartenbesuchs bis zum Besuch der sechsten Schulklasse beobachtet worden sind, zeigt, dass sowohl eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten in den Unterrichtsfächern Mathematik und Deutsch als auch eine Unterschätzung eher ungünstig für die jeweils weitere Schullaufbahnentwicklung sind. Es sei am günstigsten, wenn sich Kinder mäßig überschätzen und sich damit mehr zutrauen, als es den realen Fähigkeiten entspricht (Helmke, 1998, S. 130). Gerade für den Geometrieunterricht – im Vergleich zu der Behandlung der anderen mathematischen Themenfelder – gilt, dass er durch seinen häufig sequenzartigen Aufbau für Schülerinnen und Schüler eine Möglichkeit darstellt, Erfolgserlebnisse zu sammeln und sich im Rahmen des Mathematikunterrichts zu profilieren. Damit bietet der Geometrieunterricht für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler an Regelschulen, aber auch für Schülerinnen und Schüler an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, die Gelegenheit, das eigene leistungsbezogene Selbstvertrauen in Mathematik zu stärken. Es fehlen bislang jedoch Evaluationen von Unterrichtskonzepten, die selbstreguliertes Lernen im Förderunterricht berücksichtigen. 25.4.4 Zusammenfassung und Ausblick Vor dem Hintergrund der oben geschilderten wissenschaftlichen Erträge in Bezug auf die Diagnose und Förderung geometrischer Fertigkeiten bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen wird deutlich, dass ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Sowohl individuelle als auch schulische Bedingungen des geometrischen Wissenserwerbs sowie ihrer wechselseitigen Interdependenzen sind weitgehend ungeklärt. Dies betrifft zunächst die Erfassung der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern im Geometrieunterricht. Es wird hier deutlich, dass kaum geeignete diagnostische Instrumente vorhanden sind, die im Rahmen des Geometrieunterrichts eingesetzt werden können. Dabei stellen sie gerade eine wertvolle Voraussetzung für die Planung geeigneter Lehr- und Lernarrangements für den Geometrieunterricht dar. Eine erfolgreiche Förderung geometrischer Fertigkeiten gelingt dabei häufig erst dann, wenn die Stärken und Schwächen der jeweils beteiligten Schülerinnen und Schüler bekannt sind. Als ein erstes Forschungsdesiderat wird dem zu Folge die Entwicklung geeigneter diagnostischer Instrumente formuliert. Mit der Forderung nach geeigneten Konzepten für die Diagnose geometrischer Fertigkeiten geht die Frage nach Kompetenzen und Inkompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen in den einzelnen Klassenstufen einher. Es ist im Rahmen des obigen Überblicks deutlich geworden, dass die gegenwärtige Unterrichtsforschung nur wenige Ergebnisse bereit hält, die Information über den Verlauf geometrischer Fertigkeiten bei Schülerinnen und Schülern mit oder ohne Lernbehinderung geben. Weitgehend unklar sind in diesem Kontext auch die Voraussetzungen für einen adäquaten
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geometrischen Wissenserwerb. Es ist zu vermuten, dass gerade sprachliche Fertigkeiten und basale Wahrnehmungsleistungen in diesem Zusammenhang unabdingbar sind. Die bereits vorliegenden Ergebnisse stehen bislang weitgehend losgelöst nebeneinander. Es sind besonders für zukünftige Forschungsvorhaben qualitative Studien mit einem Hypothesen generierenden Charakter wünschenswert. Auf diese Weise kann eine erste Annäherung an Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf den Umgang mit geometrischen Inhalten erfolgen. Die Ergebnisse können anschließend im Rahmen größer angelegter Studien überprüft werden, um so zu gesicherten Aussagen über geometrische Kompetenzen und Inkompetenzen von lernbehinderten Schülerinnen und Schülern zu gelangen. Empirisch bestätigte Annahmen lassen sich auf diese Weise neben fachlichen Aspekten des Geometrielernens in didaktisch-methodischen Modellen für den Förderunterricht berücksichtigen und damit didaktisch strukturieren (vgl. Kattmann, 2003). Neben kognitiven Bedingungen des geometrischen Wissenserwerbs sind insbesondere motivationale Aspekte im Kontext selbstregulierten Lernens von besonderer Relevanz. In vielen empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass nicht-kognitive Variablen eine nicht unbedeutende Rolle für den Wissenserwerb in verschiedenen schulischen Disziplinen spielen. Eine häufig formulierte Vermutung in Bezug auf den Mathematikunterricht ist, dass gerade Schülerinnen und Schüler, die manifeste Probleme und Schwierigkeiten beim Erwerb arithmetischer Fertigkeiten zeigen, durch die Behandlung anderer Themen im Mathematikunterricht begeistert werden können. Häufig wird dabei hypothetisch angenommen, dass auf diese Weise die Genese angemessener selbstbezogener Kognitionen ermöglicht wird. Diese Vermutungen sind weitgehend ungeklärt. Im Zusammenhang mit nicht-kognitiven Variablen des geometrischen Wissenserwerbs ist darüber hinaus auch noch nicht überprüft, inwiefern Vorstellungen und Einstellungen gegenüber dem Unterrichtsfach Mathematik einen Einfluss auf mathematische Kompetenzen von Kindern ausüben. Besonders im Hinblick auf Schwierigkeiten bei der Bearbeitung mathematischer Aufgabenstellungen ist dabei zu vermuten, dass Kinder beispielsweise Anwendungsbezüge bei Mathematikaufgaben nicht erkennen und aus diesem Grund nicht motiviert sind, Lösungen zu ermitteln. Es konnte gezeigt werden, dass besonders aus mathematikdidaktischer Perspektive viele Fördermaterialien entwickelt wurden, die auch im Geometrieunterricht an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen eingesetzt werden können. Empirische Studien, die einige dieser Fördermaterialien im Bereich der räumlichen Geometrie evaluiert haben, bieten zwar einerseits kontroverse Untersuchungsergebnisse, sie zeigen andererseits jedoch Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation auf, auf deren Basis weitere Forschungsvorhaben realisiert werden können. Unbeantwortet ist darüber hinaus die Frage, inwiefern Unterrichtsstile von Lehrkräften und das Unterrichtsklima mathematische Lernprozesse beeinflussen.
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Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 657
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25.5 Sachrechnen Uta Häsel-Weide Die Erinnerung an Sachaufgaben lässt viele Erwachsene – auch Lehrerinnen und Lehrer – aufstöhnen, weil sie Sachaufgaben als schwer und oft auch als lebensfremd erlebt haben. Dies trägt dazu bei, dass Sachrechnen oft nur einen geringen Anteil des Mathematik unterrichts ausmacht. Neben den klassischen Textaufgaben gibt es jedoch eine Vielzahl von Aufgabentypen, die großen Bezug zum Leben haben und mit denen wichtige Ziele erreicht werden können. Bevor die heute gängigen Aufgabentypen vorgestellt werden, erfolgt zunächst eine Klärung der Ziele und Funktionen des Sachrechnens. Anschließend werden die Anforderungen beim Bearbeiten von Sachaufgaben analysiert und zu zentralen Problemfeldern Fördermöglichkeiten entworfen.
658
| Teil VI: Schule und Unterricht 25.5.1 Ziele und Funktionen des Sachrechnens Mit Fricke (1987, S. 5) kann zunächst festgestellt werden, „dass es sich bei den Sachrechenaufgaben um Rechenaufgaben oder mathematische Aufgaben handelt, die sich auf Sachen, also Sachverhalte, beziehen.“ Dabei ist wesentliches Ziel und zugleich Voraussetzung, die Verbindung zwischen Sache und Mathematik aufzuzeigen und füreinander nutzbar zu machen. Sachrechnen wird als Brücke zwischen der kindlichen Lebenswelt und den mathematischen Begriffen angesehen (vgl. Müller, 1995), die in zwei Richtungen beschritten werden kann (Oehl, 1962, S. 16): Sowohl von der mathematischen Ebene aus können Anwendungssituationen gesucht als auch von der Sachebene her Probleme unter mathematischem Blickwinkel betrachtet, abstrahiert und gelöst werden. Schülerinnen und Schüler zu diesem wechselseitigen Übersetzungsprozess zwischen Mathematik und Umwelt zu befähigen, ist grundlegendes Ziel des Sachrechnens. In den Richtlinien für die Grundschule findet sich die Fähigkeit, Situationen aus der Umwelt in die Mathematik zu übersetzen, mathematisch zu lösen und das Ergebnis im Hinblick auf die Sachsituation zu interpretieren unter dem Begriff des „Mathematisierens“. Darunter fallen Fähigkeiten wie (Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, 1985, S. 21): Daten aus der Umwelt gewinnen (zählen, messen, schätzen, befragen, nachlesen,...), sachbezogene Fragestellungen entwickeln, reale Phänomene geeignet vereinfachen, Zusammenhänge der Realität in mathematische Begriffe übersetzen, mathematische Ergebnisse und Begriffe in die Realität hineindeuten, Grenzen der Mathematisierbarkeit erkennen, ... Wie die Aufzählung deutlich macht, kann und muss das Hauptziel des Sachrechnens – nämlich jede Sachsituation unter mathematischen Aspekten betrachten und bearbeiten zu können – in verschiedene Teilbereiche und Zielschwerpunkte unterteilt werden. Diese werden gemäß des Spiralprinzips Bruners (1974, S. 40) immer weiter entwickelt und fortgeführt. Um einen Eindruck von den unterschiedlichen Zielschwerpunkten beim Sachrechnen zu bekommen, empfiehlt es sich, die von Winter (1985) formulierten Funktionen des Sachrechnens und die jeweils zugehörigen Ziele zu betrachten. Er unterscheidet Sachrechnen als Lernstoff, Lernprinzip und Lernziel, d. h. als Beitrag zur Umwelterschließung, wobei Letzteres die beiden Erstgenannten umfasst. 25.5.1.1 Sachrechnen als Lernstoff Mit dem Stichwort Sachrechnen als Lernstoff beschreibt Winter (1985) die Aneignung und den Umgang mit den sogenannten „bürgerlichen Größen“ (1985, S. 15) – Anzahl, Geld, Längen, Zeitspannen, Gewichte, Temperatur sowie Flächen- und Rauminhalte. Es geht dabei sowohl um das Kennen lernen, Rechnen und Anwenden von Größenbereichen als auch um das Erarbeiten von Stützpunktvorstellungen und die Darstellung der Daten. Klassischer Weise erfolgt die Einführung eines neuen Größenbereichs gemäß der didaktischen Stufenfolge (Radatz & Schipper, 1983, S. 125): 1. Erste Erfahrungen in Sach- oder Spielsituationen, 2. direkter Vergleich von Repräsentanten einer Größe,
3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 659
indirekter Vergleich mit Hilfe willkürlicher Maßeinheiten, Erkennen der Invarianz einer Größe, indirekter Vergleich mit Hilfe standardisierter Maßeinheiten, Entwicklung einer Vorstellung der standardisierten Einheitsgrößen, Messen mit technischen Hilfsmitteln, Verfeinern und Vergröbern der Maßeinheiten, Rechnen mit Größen.
Mit Hilfe dieser Stufenfolge wird die historische Entstehung der Größen von den Kindern nacherlebt. Nach unmittelbaren Erfahrungen mit den Größen, werden wie vor der Erfindung der zugehörigen Messinstrumente (z. B. Lineal oder Waage) Gegenstände direkt miteinander verglichen. Dann werden z. B. Längen mit Armlängen oder Gewichte mit Sandsäckchen ausgemessen. In diesem Schritt erfolgt der Sprung vom qualitativen Vergleich zum quantitativen Messen. Damit einher geht das Erkennen der Invarianz einer Größe, denn das Messergebnis muss unabhängig sein von der Reihenfolge der Messung und von der Lage des Gegenstandes. Erst im fünften bis siebten Schritt werden die heute konventionell gebräuchlichen und den Kindern i. d. R. bekannten Messinstrumente „entdeckt“ und eingesetzt. Dieses Vorgehen wird damit begründet, dass die Messinstrumente schon eine Vielzahl der Messprinzipien implizieren, wie z. B. das Vervielfachen von Einheiten. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Größenvorstellungen von Kindern zu Einheiten heute stark durch Messinstrumente geprägt sind und ihnen diese als Werkzeuge des Messens durch eigenes Tun oder Beobachten von Eltern und Geschwistern bekannt sind (vgl. Nührenbörger, 2002, S. 185 f.). Das lange Verzichten auf diese Messinstrumente, die zudem großen Reiz auf die Schülerinnen und Schüler ausüben, ist für sie weder nachvollziehbar noch sinnvoll. Daher wird in der mathematikdidaktischen Diskussion gefordert, das Vorwissen der Kinder in Bezug auf konventionelle Messinstrumente von Beginn an aufzugreifen (vgl. Boulton-Lewis, Wilss & Mutch, 1996; Holt, 1999). Sowohl durch Analyse dieser als auch durch zeitweiligen Verzicht darauf können Prinzipien des Messen – also das Existieren einer konstanten, zum Gegenstand passenden Einheit, das vervielfachte Abtragen dieser Einheit und die Bestimmung der Anzahl der Einheiten (vgl. Nührenbörger, 2002, S. 47) – mit den Kindern erarbeitet werden. Neben der Einführung eines Größenbereichs und dem Rechnen mit den Einheiten (vgl. 25.5.1.2, Sachrechnen als Lernprinzip), kommt dem Aufbau von Stützpunktvorstellungen große Bedeutung zu. Unter Stützpunktvorstellungen werden Repräsentanten der Einheiten von Größen verstanden, die gedächtnismäßig verankert und regelmäßig vertieft werden sollen. Für den Größenbereich der Gewichte könnten dies z. B. sein (vgl. Wittmann, Müller, Berger, Birnstengel-Höft, Fischer, Hoffmann, Jüttemeier & Müller, 1997, S. 46 f.): 1 g: Gummibärchen 10 g: Brief 100 g: Schokolade 1 kg: Paket Mehl 10 kg: Eimer Wasser 100 kg: Waschmaschine 1 t: Auto
660
| Teil VI: Schule und Unterricht Wie die Beispiele deutlich machen, entsprechen die Repräsentanten immer nur ungefähr der Einheit, es sei denn sie sind wie z. B. das Gewicht der Tafel Schokolade auf die Einheit hin genormt. Vor allem bei sehr kleinen und sehr großen Größen nimmt die Exaktheit der Repräsentanten ab. Ziel des Findens und Automatisierens von Repräsentanten ist der Aufbau und die Verankerung von realistischen Größenvorstellungen. Diese sollen das Schätzen ermöglichen und bei Sachaufgaben als Ergebniskontrolle dienen. Langfristig sollen Kinder auf diese Weise zu einem sicheren, alltäglichen Umgang mit den Größen ihrer Lebenswelt geführt werden (vgl. 25.5.1.3, Sachrechnen als Lernziel). Dritter Aspekt des Sachrechnens als Lernstoff ist die Darstellung von Daten in Dia grammen, Tabellen und Symbolen. „Das Darstellen von Größen dient dazu, sie dem denkenden Wahrnehmen zugänglicher zu machen, was umso wichtiger wird, je sperriger, größer und zahlreicher die Werte sind“ (Winter, 1985, S. 20). In der Primarstufe kommen dabei z. B. Balkendiagramme, Zahlenstrahl und Strichlisten zum Tragen, im Bereich der Sekundarstufe I sind es u. a. Tabellen, Koordinatensysteme und Kreisdiagramme. Auch diese sind Lernstoff, d. h. sie sind von den Kindern zu erlernen, sowohl was das Ablesen von Daten, vor allem jedoch was das Anfertigen geeigneter Darstellungen betrifft. Entscheidend sind hier das Finden der geeigneten Darstellungsform, die Einteilung der Skala und das Runden und Eintragen der Größen. 25.5.1.2 Sachrechnen als Lernprinzip Unter dem Stichwort Sachrechnen als Lernprinzip versteht Winter Situationen bzw. Aufgabenstellungen, bei denen die Umwelt für die Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten dienlich ist (1985, S. 26): – Sachsituationen als Ausgangspunkte (Einstiege) von Lernprozessen, – Verlebendigung, Verdeutlichung, Veranschaulichung von mathematischen Begriffen durch ihre Verkörperung in Sachsituationen und – Sachaufgaben als Feld der Einübung mathematischer Begriffe und Verfahren. In den beiden ersten Punkten wird die Funktion des Sachrechnens als Brücke zwischen Mathematik und Umwelt aufgegriffen: Während bei Sachsituationen als Ausgangspunkte von Lernprozessen der Brückenschlag von der Seite der Umwelt her erfolgt, meint die Verlebendigung von mathematischen Begriffen das Füllen von arithmetischen Operationen und Zahlensätzen mit Bedeutung. Zu Operationen oder Zahlensätzen werden Sachaufgaben erfunden, Sachtexte geschrieben oder Illustrationen vorgenommen. Die Brücke wird also von der abstrakt mathematischen Seite her zur Lebensbedeutung geschlagen. Beide Aspekte betonen den Charakter der Modellbildung und stellen hohe Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler (vgl. 25.5.3, Anforderungen beim Sachrechnen). Winters dritter Aspekt fokussiert nicht vorrangig die Modellbildung, sondern spricht Sachaufgaben Motivation bei der Übung von Rechenverfahren zu. „Die Schüler sollen vielmehr in erster Linie Sicherheit und Geläufigkeit in arithmetischen Fertigkeiten erlangen, die sachkundliche Verkleidung soll dieses Üben etwas farbiger und abwechslungsreicher gestalten helfen“ (Winter, 1985, S. 30). Die Modellbildung bei Sachaufgaben muss hier Voraussetzung sein, denn da der Schwerpunkt auf der Übung arithmetischer
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 661
Fertigkeiten liegt, sollten zusätzliche Anforderungen gering gehalten werden. Für diesen Aspekt des Sachrechnens kommen deshalb als Aufgabentypen nur eingekleidete Aufgaben und Textaufgaben in Frage (vgl. 25.5.2, Aufgabentypen). 25.5.1.3 Sachrechnen als Lernziel Sachrechnen als Lernziel meint bei Winter das Sachrechnen als Beitrag zur Umwelterschließung und geht weit über den Mathematikunterricht hinaus. Sachrechnen wird als Sachunterricht aufgefasst, da die Sache so im Vordergrund steht, dass ihre Betrachtung unter mathematischer Sicht nur eine Blickrichtung ist, unter der man sich einer komplexen Sachsituation nähert. „Sachsituationen sind hier nicht nur Mittel zur Anregung, Verkörperung oder Übung, sondern selbst der Stoff, den es zu bearbeiten gilt“ (Winter, 1985, S. 31). Bei dieser Art des Sachrechnens liegt das zentrale Augenmerk auf der sogenannten Modellbildung: dem Entwerfen mathematischer Modelle zu Sachsituationen. Die mathematischen Fakten müssen in den Vordergrund treten, aus der Sache und der sprachlichen Fassung heraus abstrahiert und in eine mathematische Sprache übersetzt werden. Dies ist ein konstruktiver Akt, in dem Schülerinnen und Schüler aus einer Vielzahl von Informationen die für ihre (mathematische) Fragestellung relevanten Aspekte erkennen und daraus ein mit mathematischen Werkzeugen zu bearbeitendes Modell zusammenstellen müssen. In dem Schema zur Mathematisierung von Müller und Wittmann ist dies der erste Schritt (vgl. Abb. 37). Die Datenverarbeitung im Modell erfolgt als zweiter Schritt auf arithmetischer Seite, d. h. Rechnungen werden durchgeführt, Tabellen ausgewertet, Größen verarbeitet. Schwierigkeiten, die hier auftreten sind, vergleichbar mit Problemen bei rein arithmetischen Inhalten (vgl. Gerster und Scherer in diesem Band). Der dritte Schritt, die Interpretation im Hinblick auf die Sachsituation, ist wieder zentral für das Sachrechnen. Die arithmetische Modelllösung muss auf die Sachsituation übertragen, sprachlich gefasst und ggf. interpretiert werden (vgl. 25.5.3, Anforderungen beim Sachrechnen). Je nach Alter und Fähigkeiten der Kinder werden die Ausgangssituationen komplexer und die mathematischen Modelle anspruchsvoller gewählt. Von Beginn an muss jedoch der Modellbildungsprozess von den Kindern vollbracht werden. Die Übersetzung zwischen Sache und Mathematik muss auch dann geleistet werden, wenn der Schwerpunkt z. B. auf der Übung von Rechenverfahren liegt. Zwar können dann in ihrer mathema
Modellbilden Situation
Modell
Datenverarbeitung im Modell
Interpretieren
Folgerungen für die Situation
Folgerungen im Modell
Sachebene
Entwurfebene
Abbildung 37: Schema zur Mathematisierung (Müller & Wittmann, 1984, S. 253)
662
| Teil VI: Schule und Unterricht tischen Struktur gleiche Aufgaben benutzt werden, die Kinder müssen die Ähnlichkeit aber erkennen, um diese als Hilfe zu nutzen. Letztlich kann kein Sachrechnen stattfinden, ohne dass Modellbildungsprozesse eine Rolle spielen. Das macht die übergreifende Funktion des Sachrechnens als Lernziel über die beiden anderen Aspekte aus, welche wiederum wichtige Hintergrundfertigkeiten und -fähigkeiten vermitteln, so dass komplexere Sachsituationen gewählt werden können. 25.5.2 Aufgabentypen Um den verschiedenen Ausrichtungen und Zielen des Sachrechnens gerecht zu werden, wurden Aufgabentypen entwickelt, welche unterschiedliche Schwerpunkte im Hinblick auf die Modellbildung und die Nähe zur Sach- bzw. zur mathematischen Ebene legen. In der älteren Literatur wurde zwischen „eingekleideten Aufgaben“, „Textaufgaben“ und „Sachproblemen“ unterschieden (vgl. Fricke, 1987; Maier, 1972; Maier & Schubert, 1978; Nestle, 1983). Als neuere Aufgabentypen finden sich Sachtext (vgl. Erichson, 1989, 1991), Sachprojekt (vgl. Müller & Wittmann, 1984) und sachstrukturierte Übung (vgl. Wittmann, 1992). Im Folgenden werden diese Aufgabentypen erläutert und ihre Bedeutung bei der Umsetzung der Ziele des Sachrechnens diskutiert. Eingekleidete Aufgaben sind Aufgaben, „die mit einer einzigen Rechenoperation oder einer normierbaren Folge von Rechenschritten zu beantworten sind, bei denen also der Text nur als sachliche Einkleidung für eine Rechenoperation oder ein schematisches Rechenverfahren aufzufassen ist“ (Maier & Schubert, 1978, S. 11). In dem von Klauer (1993) herausgegebenen Schulbuch finden sich zahlreiche eingekleidete Aufgaben wie „Auf einem Parkplatz sind 467 Parkplätze besetzt. Es kommen 5 weitere Autos dazu“ (S. 21). Sie sind der Funktion des Sachrechnens als Lernprinzip zuzuordnen, indem neu erlernte arithmetische Operationen geübt werden. Die Modellbildung spielt eine untergeordnete Rolle, da das Modell i. d. R. durch die zeitliche und räumliche Nähe zur zu abstrahierenden Operation (etwa auf einer Schulbuchseite) sehr schnell zu bilden bzw. zu erraten ist. Schlüsselwörter geben zudem Hinweise auf die zu verwendende Operation. Textaufgaben grenzen sich von eingekleideten Aufgaben durch eine größere Bedeutung der Sache ab, wobei in der Aufgabe alle Informationen gegeben und alle Entscheidungen getroffen sind: „Sarah und Marvin holen sich ein Eis. Sarah ein Hörnchen mit 3 Kugeln, Marvin ein Hörnchen mit 2 Kugeln. Eine Kugel kostet 0,40 Euro. Wie viel zahlt jeder?“ (Wittmann, Müller, Berger & Fischer, 2002, S. 92). Schritte, die eine tiefer gehende Beschäftigung mit der Sache erfordern würden wie z. B. das Beschaffen von Informationen oder das Finden einer selbstgewählten Fragestellung sind nicht vorgesehen. Der Schwerpunkt liegt darauf, die im Text gegebenen Zahlenwerte im Sinne der Sache und der (selbst)gestellten Fragestellung miteinander in Verbindung zu setzen. Das mathematische Modell muss dazu aus der sprachlichen Fassung abstrahiert, gelöst und das Ergebnis zur Beantwortung der Frage herangezogen werden. Textaufgaben können vor allem im Sinne des Sachrechnens als Lernprinzip eingesetzt werden. Sie können Schülerinnen und Schülern Anwendungen für erlernte Operationen aufzeigen oder als Ausgangspunkte für neue arithmetische oder geometrische Inhalte genutzt werden. In beiden Fällen liegt der Schwerpunkt auf der Verbindung zwischen Mathematik und Um-
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 663
Startmaterialien SCHOKOLADE Zusammensetzung der Schokolade Schokolade wird durch das Mischen von Kakaomasse, Kakaobutter, Milchbutter, Milchpulver, Fett und Zucker hergestellt. 100 g Schokolade bestehen ungefähr aus:
Dunkle Schokolade
Kakaomasse 50 g
Milch- Schokolade
Weiße Schokolade
25 g
Kakaobutter
10 g 5 g
Zucker
40 g 50 g 55 g
Milchpulver
20 g
20 g 25 g
Zucker macht den Hauptbestandteil von Schokolade aus. Zuckergehalt in %: Milchschokolade 50 % Weiße Schokolade 55 % Mohrenkopf 65 % Schokoladeneis
14 %
Trinkschokolade
10 %
Um ein Kilogramm Schokolade herzustellen, braucht es: • 350 g Kakaobohnen • 200 g Kakaobutter • 500 g Puderzucker
Abbildung 38: Sachproblem (Eggenberg & Hollenstein, 1998, S. 31)
welt und diese Brückenfunktion wird zur Motivation genutzt. Die Sache selbst spielt nur insofern eine Rolle, als dass sie der Motivation und Veranschaulichung dient. Es werden also Sachverhalte beschrieben, die aus der Lebenswelt der Kinder stammen oder für sie interessant sind. Sachprobleme sind Aufgaben, deren Hauptanliegen in der Erfassung und Abstraktion der Sachsituation liegt (vgl. Abb. 38). Im Mittelpunkt dieses Aufgabentyps steht die Erweiterung des Umweltwissens und die Befähigung zur Modellbildung. Die Beschäftigung mit der Sache geht oft über mathematische Fragestellungen hinaus bzw. mathematische Überlegungen münden in Erweiterungen des Umweltwissens. Zur Bearbeitung von Sachproblemen müssen Fragestellungen entwickelt, Daten beschafft oder Diagramme überprüft werden. Die Beschäftigung mit Sachproblemen dauert auf Grund dessen länger, so dass ein Sachproblem i. d. R. als kleine Unterrichtseinheit, zumindest als Stundeninhalt behandelt wird.
664
| Teil VI: Schule und Unterricht Sachtexte sind vom Umfang und von der Funktion mit Sachproblemen vergleichbar. Sie unterscheiden sich vor allem durch die Darbietung als längere, komplexere Texte, die mit Auszügen aus Kinderlexika vergleichbar sind (vgl. Erichson, 1991, 1992). In jedem Sachtext wird ein Phänomen kindgerecht und möglichst interessant beschrieben. Diese Texte können sowohl als Lesetexte im Deutschunterricht, als Informationen im Rahmen des Sachunterrichts oder auch unter mathematischem Blickwinkel als „Aufgabenlieferant“ behandelt werden. Die Lösung dieser selbst gestellten Aufgaben erweitert das Sachwissen zum beschriebenen Phänomen. Eng mit Sachproblemen oder Sachtexten verbunden ist das Sachprojekt (vgl. Müller & Wittmann, 1984; Scherer, 1998), welches sich vor allem durch die Form der Unterrichtsorganisation von diesen unterscheidet. Der als Projekt durchgeführte Unterricht geht mit einem fächerübergreifenden Ansatz und der Schwerpunktlegung auf der Auseinandersetzung mit der Sache einher. Die Beschäftigung mit einer Sache nimmt in Projekten i. d. R. einen längeren Zeitraum ein. Die Grenzen zwischen Sachtexten, Sachproblemen und Sachprojekten sind fließend und hängen nicht allein an dem bereitgestellten Material, sondern vor allem an der Art der unterrichtlichen Behandlung. Die sachstrukturierte Aufgabe unterscheidet sich deutlich von den bisher beschriebenen Aufgabentypen (vgl. Wittmann, 1992). Bei ihr werden wie bei Sachproblem, Sachtext und Sachprojekt reale Sachgebiete angesprochen und sie soll ebenso zu einer Erweiterung des Umweltwissens beitragen. Die Darbietung der „Sache“ erfolgt aber in Form von Tabellen (vgl. Abb. 39), welche von den Kindern gefüllt werden sollen. Dabei wird zum einen eine arithmetische Operation geübt, durch das in der Tabelle umgesetzte Sachwissen aber auch ein Umweltphänomen erkundet. Letzteres erfordert allerdings, dass Tiere bekommen Junge. Eine Katze bekommt oft im Frühjahr und Herbst Junge. Manchmal bekommt sie 2, manchmal 3 und manchmal 4 Junge. Zu jedem Wurf gehören durchschnittlich 3 Junge. Junge pro Wurf
Würfe in einem Jahr
Junge in einem Jahr
Katze
3
2
6
Maus
7
4
Eichhörnchen
5
5
Kaninchen
7
5
Hase
3
3
Reh
2
1
Ratte
8
5
Abbildung 39: Sachstrukturierte Übung (Wittmann, Müller, Berger, Fischer, Hoffmann & Jüttemeier, 2000a, S. 63)
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 665
über das Vervollständigen der Tabelle hinaus die darin enthaltenen Informationen bewusst gemacht werden. Der Schwerpunkt bei sachstrukturierten Aufgaben liegt somit auf der Übung arithmetischer Operationen, da eine Vielzahl an Rechnungen durchgeführt werden muss, um dann anhand der (richtigen) Lösungen den sachlichen Gehalt zu sehen. Im Gegensatz zu allen anderen Aufgabentypen ist keine Modellbildung erforderlich, da die Darstellung in der Tabelle das mathematische Modell ist. Das muss nachvollzogen und die zugehörige arithmetische Operation erkannt werden, wobei das hauptsächliche Ziel die Einübung mathematischer Begriffe und Verfahren ist. Im Gegensatz zu eingekleideten Aufgaben führt die sachstrukturierte Übung dann zusätzlich zu einer Bereicherung des Sachwissen, wenn die innewohnende Sache reflektiert wird. Entscheidend bei der Auswahl des Aufgabentyps ist das Ziel des Einsatzes im Unterricht. Je nach Situation und im Vordergrund stehender Funktion sind unterschiedliche Aufgabentypen geeignet. Alle Funktionen und damit alle Aufgabentypen haben wichtige Funktionen und sollten gleichermaßen verfolgt werden. Im Hinblick auf das übergreifende Ziel des Sachrechnens als Beitrag zur Umwelterschließung muss jedoch darauf geachtet werden, in ausreichendem Maße Aufgabentypen einzusetzen, mit denen schwerpunktmäßig die Mathematisierung der Umwelt erlernt und geübt werden kann. Dieses übergreifende Ziel des Sachrechnens sollte nicht zeitlicher Knappheit oder dem scheinbaren Vorrang arithmetischer Ziele geopfert werden. 25.5.3 Anforderungen beim Sachrechnen Obwohl die Aufgabentypen verschiedene Anforderungen an Schülerinnen und Schüler stellen, können grundsätzliche Bereiche unterschieden werden, welche die Lösung einer Sachaufgabe beeinflussen. Parallel zum Modellbildungsprozess (vgl. Abb. 37) zählen dazu das verstehende Lesen der Aufgabe bzw. der bildlichen Darstellung, das Begreifen der beschriebenen Sachsituation, die Abstraktion der mathematisch relevanten Informationen sowie ihre sinnvolle Verknüpfung. Diese vier Schritte sind auf jeden Fall notwendig, um zu einer Sachaufgabe ein mathematisches Modell zu entwickeln, welches dann berechnet und das Ergebnis im Hinblick auf die Sachaufgabe interpretiert werden muss. Die verschiedenen Schritte bei der Lösung einer Sachaufgabe werden in dem Schema von Reusser gut deutlich (vgl. Abb. 40). Dabei muss jedoch bedacht werden, dass das sogenannte episodische Problemmodell nur in der Vorstellung der Lösenden existiert, da die Darstellung in Form einer Gleichung oder Skizze schon weitere Abstraktionen beinhaltet. Die sprachliche Fassung rückt ebenso besondere Aspekte in den Vordergrund. Das episodische Problemmodell ist als kurz aufflackerndes inneres Bild zu verstehen, welches durch die Fassung in einem Zahlensatz oder einer Skizze sichtbar und kommunizierbar wird. Müssen bspw. bei einem Sachproblem noch zusätzliche Informationen eingeholt werden, erfolgt dieser Schritt nach dem Durchlaufen des Modells bis zum episodischen Problemmodell. Das Einholen der Informationen oder die Auswertung von Tabellen ist in dem Modell, das Reusser für das Lösen von Textaufgaben konstruiert hat, nicht beinhaltet. Diese und andere zusätzliche Anforderungen der neueren Aufgabentypen (vgl. 25.5.2, Aufgabentypen) sind Spezifika der einzelnen Typen und können an dieser Stelle
666
| Teil VI: Schule und Unterricht
Problemtext
Parsing Enkodieren
Textverständnis
Textbasis
Situationsanalyse
Fragegeleitete Situationsanalyse
Situationsverständnis
Episodisches Situationsmodell
Fragegenerierung Episodisches Problemmodell
Reduktion
Abstraktion
Mathematisierung
Mathematisches Problemmodell
Reduktion
Abstraktion
Verknüpfungsstruktur
Arithmetische Operationen
ZählOperationen
Rechnen
Numerische Antwort
semantische Interpretation Antwortsatz
Situationsbezogene Antwort
Abbildung 40: Vom Text zur Situation zur Gleichung (Reusser, 1992, S. 231)
nicht im Detail analysiert werden. Die folgende Beschreibung der Anforderungsschritte beim Lösen einer Sachaufgabe konzentriert sich auf den Typ der Textaufgabe und kann entsprechend ergänzt werden.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 667
25.5.3.1 Textverständnis Erste Voraussetzung bei der Lösung einer Sachaufgabe ist das sinnentnehmende Lesen. In Bezug auf Textaufgaben sind zwei Aspekte entscheidend, die semantische Bedeutung einzelner Worte und die Rolle der Schlüsselwörter. Auch wenn die Wörter für Kinder verständlich sind, können bestimmte Formulierungen die Schwierigkeit einer Textaufgabe entscheidend prägen. Dieses Phänomen wurde vor allem bei einfachen Textaufgaben zum Vergleich zweier Mengen untersucht (vgl. Davis-Dorsey, Ross & Morrision, 1991; De Corte, Verschaffel & de Win, 1985; Fuson, Carroll, & Landis, 1996; Hudson, 1983; Lehrndorfer, 1992; Stern, 1998). Charakteristisch für diesen Aufgabentyp ist, dass die Beziehung zwischen zwei Mengen in einem Kontext thematisiert wird (vgl. Abb. 41). Im Vergleich mit Kombinations- oder Austauschaufgaben wurden diese wesentlich seltener gelöst als die beiden anderen Aufgabentypen (vgl. Carpenter & Moser, 1982; Radatz, 1983; Stern, 1994). Da der Vergleich von Mengen Kindern ähnlich vertraut sein müsste wie eine Veränderung von Mengen, kann dieser Effekt auf die semantische Struktur der Aufgabe zurückgeführt werden. Es ist zu vermuten, dass die Schwierigkeiten in der richtigen Interpretation der Formulierung „mehr als“ liegt. Die These konnte in mehreren Untersuchungen bestätigt werden. Aufgaben, in denen auf die Begrifflichkeit „mehr als“ bzw. „weniger als“ verzichtet wurde, konnten von signifikant mehr Schülerinnen und Schülern gelöst werden (vgl. Tab. 5). Dies zeigt, dass die Verwendung von Formulierungen die Schwierigkeit einer Aufgabe beeinflussen kann, auch wenn die einzelnen Wörter den Schülerinnen und Schülern geläufig sind. Bei dieser Folgerung muss jedoch bedacht werden, dass durch die veränderte sprachliche Fassung ein anderes Lösungsmodell nahegelegt wird. Die Vergleichsaufgabe kann nun durch Eins-zu-eins-Zuordnung gelöst werden. Um diesen Effekt zu vermeiden, ergänzte Lehrndorfer in ihrer Untersuchung die Vergleichsaufgabe um eine Vorgeschichte, in der die Kinder für das Problemmodell des Vergleichs sensibilisiert werden sollten (vgl. Tab. 5). Auf diese Weise sollte ihnen die Vorstellung hinsichtlich des mathematischen Problems erleichtert werden, ohne dass die Vergleichsaufgabe selbst verändert wurde. Es zeigte sich, dass die Kinder tatsächlich durch die Vorgeschichte für die besondere Aufgabenstellung sensibilisiert waren und die Vergleichsaufgaben deutlich häufiger gelöst wurden als ohne Vorgeschichte. Dieser Effekt zeigte sich sogar, wenn die Besitzverhältnisse in der Geschichte umgekehrt zu denen in der Aufgabe waren. Obwohl die sprachliche Fassung der Aufgabe schon allein durch den Umfang deutlich komplexer war, half die Vorgeschichte den Kindern bei der Lösung. Lehrndorfer führte dies darauf zurück, „dass Textaufgaben, bei denen ein höheres Problemmodell (z. B. das Vergleichsmodell) benötigt wird und zu deren Lösung ein recht hoher Grad an Abstraktion abverlangt wird, sich leichter auf einem lebensweltlichen Situationshintergrund lösen lassen“ (Lehrndorfer, 1992, S. 135). Viel deutlicher als der (unbeabsichtigte) Einfluss einzelner Formulierungen in einer Textaufgabe ist die Wirkung der sogenannten Schlüsselwörter. Dies sind Begriffe, die direkte Hinweise auf die zu abstrahierende Operation bieten. Typische Schlüsselwörter für die Subtraktion sind z. B. „weggehen“ oder „weniger“. Am häufigsten finden sich Schlüsselwörter in eingekleideten Aufgaben, sie sind jedoch auch in allen anderen Aufgabentypen zu finden. Haben Schülerinnen und Schüler die Wirkung gezielt und korrekt
668
| Teil VI: Schule und Unterricht D1
AK
A1
A2
A3
87
100
100
100
100
55
22
33
70
100
89
87
100
100
100
95
100
100
100
100
52
61
56
100
100
49
91
78
100
100
49
9
28
80
95
38
22
39
70
80
28
17
28
85
100
32
4
22
75
95
53
13
17
80
100
58
17
28
90
100
22
17
11
65
75
16
0
6
35
75
Kombinationsaufgaben Gesamtmenge unbekannt CB1
Maria hat 3 Murmeln. Hans hat 5 Murmeln. Wie viele Murmeln haben die beiden zusammen? Teilmenge unbekannt
CB2
Maria und Hans haben zusammen 8 Murmeln. Maria hat 7 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans? Austauschaufgaben Endmenge unbekannt
CH1 CH2
Maria hat 3 Murmeln. Dann gab ihr Hans 5 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Maria jetzt? Maria hatte 6 Murmeln. Dann gab sie Hans 4 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Maria jetzt? Austauschmenge unbekannt
CH3 H4
Maria hatte 2 Murmeln. Dann gab ihr Hans einige Murmeln. Jetzt hat Maria 9 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans ihr gegeben? Maria hatte 8 Murmeln. Dann gab sie Hans einige Murmeln. Wie viele Murmeln hat sie Hans gegeben? Startmenge unbekannt
CH5 CH6
Am Anfang hatte Maria einige Murmeln. Dann gab ihr Hans 3 Murmeln. Jetzt hat Maria 5 Murmeln. Wie viele Murmeln hatte sie am Anfang? Am Anfang hatte Maria einige Murmeln. Dann gab sie Hans 2 Murmeln. Jetzt hat Maria 6 Murmeln. Wie viele Murmeln hatte sie am Anfang? Vergleichsaufgaben Differenzmenge unbekannt
CP1 CP2
Maria hat 5 Murmeln. Hans hat 8 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans mehr als Maria? Maria hat 6 Murmeln. Hans hat 2 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans weniger als Maria? Vergleichsmenge unbekannt
CP3 CP4
Maria hat 3 Murmeln. Hans hat 4 Murmeln mehr als Maria. Wie viele Murmeln hat Hans? Maria hat 5 Murmeln. Hans hat 3 Murmeln weniger als Maria. Wie viele Murmeln hat Hans? Referenzmenge unbekannt
CP5 CP6
Maria hat 9 Murmeln. Sie hat 4 Murmeln mehr als Hans. Wie viele Murmeln hat Hans? Maria hat 4 Murmeln. Sie hat 3 Murmeln weniger als Hans. Wie viele Murmeln hat Hans?
Abbildung 41: Vierzehn Grundtypen von Textaufgaben nach Stern (1998, S. 89) und die empirisch ermittelten Prozentsätze amerikanischer Kindergartenkinder (AK), amerikanischer Erst- (A1), Zweit- (A2) und Drittklässler (A3) sowie deutscher Erstklässler (D1), welche die Aufgabe lösten (nach Riley & Greeno, 1988; Stern, 1992)
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 669
Tabelle 5: Aufgabentypen Vergleichsaufgabe
Maria hat 5 Murmeln. Hans hat 8 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans mehr als Maria? (Stern, 1998, S. 89; vgl. Riley, Greeno & Heller, 1983)
Vergleichsaufgabe ohne die Formulierung: „mehr als“
8 Vögel sind hungrig. Sie finden 5 Würmer. Wie viele Vögel bekommen keinen Wurm? (Hudson, 1983, S. 85; vgl. auch Davis-Dorsey, Ross & Morrision, 1991; De Corte, Verschaffel & de Win, 1985)
Vergleichsaufgaben im Rahmen einer Vergleichsgeschichte
Maria und Hans wohnen nebeneinander. Maria wohnt in einem kleinen Haus, in dem alles recht eng ist. Das Haus von Hans ist groß und weitläufig mit vielen Zimmern. Marias Eltern haben nicht so viel Geld. Sie können sich kein Auto leisten. In den Urlaub fahren sie meistens nur zu Oma aufs Land. Die Eltern von Hans haben sogar mehrere Autos. Hans’ Familie fliegt zweimal im Jahr nach Italien. Maria und Hans spielen oft zusammen Murmeln. Maria hat 5 Murmeln. Hans hat 8 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans mehr als Maria? (Lehrndorfer, 1992, S. 129)
verwendeter Schlüsselwörter erkannt, können sie das mathematische Problemmodell konstruieren, ohne zuvor das episodische aufgebaut zu haben. Das mathematische Problemmodell wird dann aus den Zahlen in der Aufgabe gebildet, welche mit der durch das Schlüsselwort nahegelegten Operation verknüpft werden. Es ist also möglich, die Aufgabe korrekt zu lösen, ohne die beschriebene Situation vorgestellt zu haben. Untersuchungen zeigen, dass vor allem Kinder mit Schwierigkeiten beim Mathematik lernen von dieser Strategie Gebrauch machen (vgl. Klöckener, 1996; Nesher & Teubal, 1975). Die Orientierung an Schlüsselwörtern ist eine Strategie, die oft zum richtigen Ergebnis führt und damit gerade bei eingekleideten Aufgaben eine sinnvolle Lösungshilfe ist. Problematisch wirkt sie sich dann aus, wenn Schülerinnen und Schüler nicht in der Lage sind, Aufgaben zu lösen, die keine Schlüsselwörter beinhalten – die Schlüsselwortstrategie also ihre einzige Lösungsidee ist. Sie können dann zwei wichtige Anforderungsschritte beim Lösen von Sachaufgaben nicht im Reusserschen Sinne erfüllen, nämlich das Text- und das Situationsverständnis. Diese wiederum sind wesentliches Ziel des Sachrechnens (vgl. 25.5.1, Ziele und Funktionen des Sachrechnens). Auf Grund dessen bergen Lösungsraster, die die Schlüsselwortstrategie aufgreifen (vgl. Gottke, 1992; auch Kretschmann & Dobrindt, 2003), die Gefahr, dass sich die häufige Nutzung der Strategie und die damit einhergehende Behandlung einer großen Anzahl eingekleideter Aufgaben negativ auf die Fähigkeit auswirken kann, unterschiedliche Typen von Sachaufgaben zu lösen. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Strategie nicht durch absichtlich irreführend verwendete Schlüsselwörter hinterfragt und reflektiert wird. 25.5.3.2 Situationsverständnis Zentraler Aspekt beim Aufbau des episodischen Situations- bzw. Problemmodells ist das Verständnis des beschriebenen Kontextes. Bei Textaufgaben geht es also darum, die
670
| Teil VI: Schule und Unterricht Informationen der Aufgabe sinnvoll zu einer Vorstellung des Gesamtkontextes zusammenzufügen. Das Verständnis der Situation hängt eng mit der sprachlichen Fassung der Aufgabe zusammen. Über die semantische Deutung der einzelnen Worte hinaus, muss jedoch das Gesamte aus den einzelnen Elementen zusammengestellt werden. Dieser Schritt ist einfacher, wenn die Situation bekannt ist, da sie leichter vorgestellt werden kann und ggf. Alltagsstrategien bei der Lösung der Aufgabe helfen. Nunes, Schliemann und Carraher (1993, S. 30 ff.) zeigten in einer empirischen Untersuchung mit Kindern, die in Brasilien als Straßenverkäufer arbeiteten, dass diese Sachaufgaben im Kontext Einkaufen häufiger richtig lösten als gleichartige Aufgaben auf rein symbolischer Ebene. Der vertraute Kontext schien ihnen Lösungsstrategien zu ermöglichen, zu welchen sie durch die arithmetische Präsentation keinen Zugang fanden. In einer empirischen Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern der Schule für Lernbehinderte konnten diese hingegen Additions- und Subtraktionsaufgaben signifikant besser lösen, wenn sie rein arithmetisch präsentiert wurden (vgl. Häsel, 2001, S. 137 ff.). Sachaufgaben, die zu den Kontexten Einkaufen und Ausflug (vgl. Abb. 42) präsentiert wurden, schnitten im Vergleich deutlich schlechter ab. Im Unterschied zu der Untersuchung von Nunes, Schliemann und Carraher (1993) verfügten die Schülerinnen und
Schwerte 10 km
4,–
8,–
Wie viel Geld hat sie noch übrig?
Schmierpapier
6
Wie viele Kilometer müssen sie noch fahren?
Schmierpapier
Abbildung 42: Aufgabe zum Kontext Einkaufen (links) und zum Kontext Ausflug (rechts, aus Häsel, 2001, S. 332 und 340). „Stefanie hat 20 DM von ihrer Oma bekommen. Sie kauft sich ein Mäppchen für 8 DM. Wie viel Geld hat sie noch übrig?“ „Lisa und Karl machen eine Radtour nach Schwerte. Das sind 10 km. Nach 6 km machen sie eine Pause. Wie viele Kilometer müssen sie noch fahren?“
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 671
Schüler nicht über entsprechende Fähigkeiten durch außerschulische Tätigkeiten. Es ist zu vermuten, dass sie auf Grund dessen die aus dem Unterricht bekannten rein symbolischen Aufgaben besser lösen konnten als die Sachaufgaben. Es zeigte sich aber, dass die Aufgaben aus dem vertrauteren Kontext Einkaufen wesentlich besser gelöst wurden als Aufgaben im Kontext Ausflug. Vor allem das Finden des richtigen Ansatzes fiel den Schülerinnen und Schülern deutlich leichter. Die Vertrautheit mit dem Kontext kann auf diese Weise die Lösung einer Sachaufgabe erschweren bzw. erleichtern. Neben den Schwierigkeiten zu unterschiedlichen Kontexten ein episodisches Problemmodell aufzubauen, besteht eine weitere Fehlerquelle darin, dass Kinder Aufgaben bearbeiten, ohne ein episodisches Problemmodell im Kopf zu haben. Sie verrechnen dann die in der Aufgabe vorkommenden Zahlen mechanisch, ohne die Situation zu durchdenken. Dieser Effekt zeigt sich bei den sogenannten „Kapitänsaufgaben“ besonders deutlich (vgl. Baruk, 1989; Burmester & Bönig, 1994; Keller & Brandenberg, 1999; Radatz, 1983; Schindler, 1997; Selter, 1994; Stern, 1992). Darunter versteht man Aufgaben, bei denen „unsinnige“ und unlösbare Fragen zum beschriebenen Kontext gestellt werden: „Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?“ (vgl. Baruk, 1989, S. 29). Als ein häufiger Fehler wurde das Alter des Kapitäns durch die Addition der Schafe und Ziegen ermittelt. Genauere Untersuchungen und Variationen der Testsituation zeigten jedoch, dass die Kinder sich häufig Sinn in die Aufgaben hineindeuteten. So vermuteten sie z. B.: „Der Hirte hat zu jedem Geburtstag ein Schaf oder eine Ziege geschenkt bekommen“ (Selter, 1994, S. 22; vgl. auch Keller & Brandenberg, 1999). Ebenfalls wurde deutlich, dass unter aufgeklärten Bedingungen, d. h. mit der Information, dass einige der Aufgaben nicht lösbar sind, signifikant weniger Kinder Kapitänsaufgaben berechneten (vgl. Selter, 1994; Stern, 1992). Vergleichbare Effekte wurden deutlich, wenn der Kontext ein rein mechanisches Vorgehen unmöglich machte (Bender, 1988; Greer, 1993; Verschaffel, De Corte & Lasure, 1994; Verschaffel & De Corte, 1997; Verschaffel, De Corte & Vierstraete, 1999). Bei der Aufgabe „Stefan hat vier 2,50 m lange Bretter gekauft. Wie viele 1 m lange Stücke kann er daraus sägen?“, muss bspw. beachtet werden, dass aus jeder Holzlatte nur zwei 1 m lange Stücke gewonnen werden können. Werden die Latten erst mental aneinandergelegt und dann zersägt, ist es schwieriger den „Holzabfall“ zu beachten. Ähnlich zu den Kapitänsaufgaben haben die Kinder oftmals nicht sinnvoll im Sinne der Sache gerechnet, sondern diese nur selten adäquat berücksichtigt und häufig die Zahlen mechanisch verarbeitet. Parallel zu den Kapitänsaufgaben konnte auch bei diesem Aufgabentyp die Lösungshäufigkeit durch das vermehrte Bearbeiten derartiger Aufgaben erhöht werden. 25.5.3.3 Mathematisierung Mit dem Aufbau des mathematischen Problemmodells und der Reduktion auf seine Verknüpfungsstruktur findet der Übergang von der Sach- zur mathematischen Ebene statt. Reusser unterscheidet das Abstrahieren vom episodischen zum mathematischen Problemmodell und die anschließende Reduktion auf einen Zahlensatz (vgl. Abb. 40). Aus dem episodischen Problemmodell werden zunächst die zur Lösung der Fragestellung relevanten Fakten herausgelöst. Dabei müssen irrelevante Informationen ausgeblendet und die
672
| Teil VI: Schule und Unterricht Komplexität sowie die zeitliche Abfolge der Handlungen erkannt werden. Letztere werden im zweiten Schritt in eine numerische Struktur – also einen Zahlensatz – übertragen. Die Komplexität der Aufgabe ist ein wichtiges Kriterium für die Schwierigkeit bei der Bewältigung dieses Schrittes. Je komplexer eine Aufgabe ist, desto mehr Rechenschritte müssen erkannt, in die richtige Reihenfolge gebracht und miteinander verknüpft werden. Die Anzahl und die Struktur der Operationen (lineare oder verzweigte Struktur), die Notwendigkeit von Rückgriffen und der Operationserkennungsfaktor sind entscheidend für die Anforderungen beim Aufbau des mathematischen Problemmodells (vgl. Gottke, 1992; Fricke, 1987, S. 3). Es lassen sich Simplex- und Komplexaufgaben unterscheiden. Während Simplexaufgaben mit einer einzigen Rechenoperation zu lösen sind, müssen bei Komplexaufgaben mindestens zwei Rechenschritte gemacht werden. Diese können entweder direkt aufeinander aufbauen (lineare Struktur) oder zunächst unabhängig voneinander zu Zwischenergebnissen führen, welche dann miteinander verbunden werden müssen (verzweigte Struktur). Bei gleichbleibendem Kontextbezug und sprachlicher Gestaltung können Sachaufgaben gemäß ihrer Komplexität hierarchisiert werden. Simplexaufgaben sind dann besonders einfach, Komplexaufgaben mit verzweigter Struktur und vielen Rückgriffen schwierig. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass die Erhöhung der Komplexität automatisch mit einer Steigerung der rechnerischen Anforderungen und i. d. R. auch mit einem schwierigeren Text einhergeht. Neben der Komplexität ist das Erkennen der Operation für die Lösung von Sachaufgaben unerlässlich und besonders schwierig. Die Fragen von Schülerinnen und Schülern „Was muss ich da rechnen?“ oder „Ist das plus oder minus?“ zeigen die Bedeutung des Aspekts, der sich auch in Untersuchungen als relevant erwies (vgl. Arbinger, 1988). Neben der Schlüsselwortstrategie (vgl. 25.5.3.1, Textverständnis) zielt die Orientierung an den gegebenen Zahlen und die Benutzung der gerade im Unterricht behandelten Operation (vgl. Gerling, 1992; Sowder, 1988) auf diesen Lösungsaspekt ab. Vor allem letztere Strategie fußt in der traditionellen Überprüfung des Verständnisses einer arithmetischen Operation durch Textaufgaben. Der Aufbau und die Reduktion des mathematischen Problemmodells kann zusätzlich durch für die gegebene Fragestellung irrelevante Daten in der Aufgabe erschwert werden (vgl. Gerling, 1992). Diese dürfen nicht in das mathematische Problemmodell eingearbeitet werden, sondern entfallen beim Übergang vom episodischen zum mathematischen Modell. Gerade bei der Benutzung von Hilfsstrategien stellen überflüssige Informationen ein Problem dar, da das Eliminieren der zusätzlichen Angaben ein richtiges episodischen Modell voraussetzt, welches jedoch von Kindern, die auf diese Strategien zurückgreifen, oft nicht in der benötigten Weise aufgebaut wurde. Der Aufbau und das erlebte Funktionieren dieser Hilfsstrategien ist in der Auswahl der verwendeten Sachaufgaben begründet (vgl. 25.5.2, Aufgabentypen). Werden im Unterricht vorrangig eingekleidete Aufgaben oder zum arithmetischen Inhalt passende Textaufgaben behandelt, sind Schülerinnen und Schüler mit diesen Strategien erfolgreich, ohne dabei die Ziele des Sachrechnens wirklich zu erreichen (vgl. 25.5.1, Ziele und Funktionen des Sachrechnens). Die richtige Mischung der Aufgabentypen ist somit für das Vermeiden selbst gemachter Schwierigkeiten mitentscheidend. Die Probleme der Kinder treten dann offener zu Tage und können im Unterricht aufgegriffen werden.
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 673
Neben der eigentlichen Lösung der Aufgaben besteht eine weitere Hürde in der Notation des abstrahierten Zahlensatzes. Die Fähigkeit, eine Sachaufgabe lösen zu können, geht nicht zwangsläufig mit der Fähigkeit einher, einen Zahlensatz dazu notieren zu können. Auch wenn gemäß dem Modell Reussers (vgl. Abb. 40) eine richtige Notation Voraussetzung für ein richtiges Ergebnis ist, zeigen Untersuchungen, dass Kinder trotz richtiger Lösung einer Sachaufgabe keinen adäquaten Zahlensatz notieren können (vgl. Häsel, 2002; Stern, 1998, S. 181 ff.). Statt dessen vertauschen sie bspw. Minuend und Subtrahend, lassen Operationszeichen weg oder notieren falsche Operationszeichen. Die Ursachen für diese Schwierigkeiten sind nicht eindeutig zu erklären. Die Hypothesen reichen vom Aufgabentyp (Bebout, 1990; Carey, 1991), der Art und Häufigkeit des Lösens und Notierens von Sachaufgaben im Unterricht bis zur Interaktion zwischen Kompetenz des Kindes und Schwierigkeit der Aufgabe (Stern, 1998, S. 188). Um dieses Problem aufzugreifen, sollte das Notieren von Rechnungen zu Sachaufgaben im Unterricht explizit thematisiert werden (vgl. 25.5.4.3, Notation von Rechnungen). 25.5.3.4 Rechnen Anforderungen und Schwierigkeiten beim Berechnen des vollständig abstrahierten Zahlensatzes entsprechen denen bei rein arithmetisch gestellten Aufgaben und sollen auf Grund dessen an dieser Stelle nicht weiter besprochen werden (vgl. Gerster und Scherer in diesem Band). Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Schülerinnen und Schüler bei Sachaufgaben, die für sie im Hinblick auf den Aufbau des mathematischen Problemmodells anspruchsvoll sind, auch häufiger Rechenfehler machen (vgl. Häsel, 2001, S. 228). Es kann sein, dass die Kumulierung von Anforderungen bei der Modellbildung und beim Rechnen zu einer Häufung von Fehlern führt. Soll der Schwerpunkt einer Unterrichtseinheit auf der Modellbildung liegen, empfiehlt es sich, Aufgaben zu wählen, deren arithmetischer Schwierigkeitsgrad niedrig ist. 25.5.3.5 Situationsbezogene Antwort Die Formulierung einer Antwort als letzter Schritt der Lösung von Sachaufgaben umfasst zwei Aspekte. Zunächst muss das erhaltene Ergebnis im Hinblick auf die Sachsituation interpretiert, dann sollte es sprachlich gefasst werden. Eine zusätzliche Interpretation ist notwendig, wenn das Ergebnis nicht ganzzahlig ist, die Dezimalzahl aber keine sinnvolle Angabe im Hinblick auf den Kontext ist. Diese Art der Interpretationsnotwendigkeit entsteht i. d. R. erst in der Sekundarstufe I. Im Bereich der Grundschule müssen jedoch auch Ergebnisse von Divisionsaufgaben mit Rest interpretiert werden. Hier kann die Berücksichtigung der Sache zu einer Veränderung des Ergebnisses führen, wie in folgenden Aufgaben deutlich wird (vgl. Verschaffel & De Corte, 1997, S. 586 f.): – 300 Soldaten werden mit dem Jeep zu ihrem Trainingsgelände gefahren. In jeden Jeep passen 8 Soldaten. Wie viele Jeeps werden benötigt? – Auf dem Trainingsgelände werden die Soldaten zu einer großen Halle gefahren. Dort lagern viele schwere Kisten, die in eine andere Halle gebracht werden sollen. Die
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| Teil VI: Schule und Unterricht Kisten sind so schwer, dass 8 Männer benötigt werden, um sie hochzuheben. Wie viele Kisten können gleichzeitig von den 300 Soldaten transportiert werden? – Zurück in ihren Unterkünften sind die Soldaten sehr hungrig. Der Koch hat 300 l Suppe gekocht. Dafür brauchte er 8 gleich große, komplett gefüllte Töpfe. Wie viel Liter Suppe enthält jeder Topf? – Am Abend nehmen die Soldaten an einer Parade teil. Sie marschieren in 8ter Reihen. Wie viele Soldaten bleiben über, wenn die höchste Zahl von Reihen gebildet ist? In der Untersuchung, die Verschaffel und De Corte mit diesen Aufgaben durchführten, zeigte sich, dass nur 7% der Fünftklässler und 20% der Sechstklässler, denen diese Aufgaben vorgelegt wurden, das erhaltene numerische Ergebnis im Hinblick auf die Sache interpretierten. Für die anderen war das numerische Ergebnis so dominant, dass sie von sich aus keinen Rückbezug zur Sache machten. Die Kinder schlugen also die Brücke von der mathematischen zur Sachebene nicht zurück. Nach einer unterrichtlichen Behandlung derartiger Aufgaben wurden die Kinder allerdings sensibler für die Notwendigkeit der Interpretation der Ergebnisse. Dies spricht dafür, dass die Häufigkeit der unterrichtlichen Behandlung entscheidend für die selbstverständliche Interpretation von Ergebnissen ist. Die Formulierung eines Antwortsatzes oder die verbale Äußerung der Lösung der Sachaufgabe erfordert von den Schülerinnen und Schülern einen produktiven Umgang mit (Schrift-)Sprache. Die gegebene Frage muss umformuliert oder die Antwort neu gefasst werden. Parallel zum Textverständnis werden hier Anforderungen gestellt, die über das Fach Mathematik hinaus gehen. Schwierigkeiten in diesem Bereich beeinträchtigen entsprechend den Lösungsprozess bzw. die Lust am Bearbeiten von Sachaufgaben. 25.5.3.6 Fazit Alle hier referierten Aspekte beeinflussen den Lösungsprozess einer Sachaufgabe und müssten in Rahmen einer Diagnostik einzeln überprüft werden. Dies ist von Lehrerinnen und Lehrern nicht zu leisten und macht in einer detailgetreuen Überprüfung mit standardisierten Methoden kaum Sinn. Zudem gibt es auf Grund der Fülle der schwierigkeitsrelevanten Aspekte kein diagnostisches Material, welches alle Aspekte variiert. Die zusammengestellten Aufgaben beschränken sich i. d. R. auf ein oder zwei Aspekte, während andere unberücksichtigt bleiben (müssen), wie z. B. im Deutschen Mathematiktest für erste Klassen, der einen eigenen Teil zu Sachaufgaben enthält (Krajewski, Küspert & Schneider, 2003). Hier werden Varianten der Aufgaben von Stern (vgl. Abb. 41) verwendet, also Textaufgaben, in denen vor allem der Aspekt des Textverständnisses abgefragt wird. Der gesamte Bereich des Sachrechnens wird somit auf diesen speziellen Aufgabentyp beschränkt. Auf Grund dessen kann mit diesem Testteil auch nur über die Fähigkeiten bei diesem speziellen Aufgabenprofil Auskunft gegeben werden. Um den Schwierigkeiten einzelner Schülerinnen und Schüler zunächst einmal auf die Spur zu kommen, ist m. E.. zunächst ein Verfahren im Sinne der Fehleranalyse sinnvoll (vgl. Fritz, 2003). Mit dem Wissen um mögliche Fehlerquellen können Fehler besser analysiert werden, am besten im Rahmen einer Prozessdiagnostik. Die Kinder kön-
Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 675
nen ihre Lösungsüberlegungen laut denkend mitteilen oder es wird versucht, in einem klinischen Interview den Denkstrukturen auf die Spur zu kommen (vgl. Wittmann, 1982). Erst wenn die Hauptfehlerquelle auf einen der fünf Aspekte im Modell Reussers eingegrenzt werden kann, ist ein systematisches Konstruieren von Aufgabentypen zur genaueren Abklärung der Art und der Tiefe der Schwierigkeiten möglich und sinnvoll. Auf Grund der Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten von speziellen sachrechnerischen Schwierigkeiten, dem arithmetischen Niveau, dem Sachwissen und der Lesefähigkeit gibt es dafür keine Materialsammlungen. Als Beispielaufgaben können die Aufgaben der zitierten Untersuchungen verwendet werden. Diese passen leider nur im günstigsten Fall zu den Fähigkeiten einzelner Kinder. Letztlich bleibt also nur die Konstruktion eigener Aufgabensammlungen, die auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten sind. 25.5.4 Problemfelder des Sachrechnens und entsprechende Fördermöglichkeiten Auf Grund der vielfältigen Schwierigkeiten beim Sachrechnen ist sein Anteil im Mathematikunterricht trotz der Betonung der Bedeutung der auf diese Weise erreichten Lernziele auch heute noch recht gering. Gerade für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Lernen, scheint es wichtiger zu sein, arithmetische Ziele zu erreichen. Sowohl die geometrischen Fragestellungen als auch Sachaufgaben nehmen häufig die Position von „Luxusaufgaben“ ein, die nur dann behandelt werden, wenn noch Zeit bleibt. Zudem schrecken Lehrerinnen und Lehrer die (selbst) erlebten Schwierigkeiten ab. Sachrechnen ist aber für die Schülerinnen und Schüler von elementarer Bedeutung (vgl. 25.5.1, Ziele und Funktionen des Sachrechnens) und sollte von Beginn an praktiziert werden. Im Folgenden wird deshalb versucht, zentrale Problemfelder einzukreisen und Möglichkeiten des Umgangs damit aufzuzeigen. 25.5.4.1 Auswahl von Aufgabentypen Ein erstes Problem bei der praktischen Umsetzung des Sachrechnens mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Lernen ist das Finden geeigneter Aufgaben zu unterschiedlichen Aufgabentypen (vgl. 25.5.2, Aufgabentypen). Während in Schulbüchern der Schule für Lernbehinderte für die ersten Klassen kaum Sachaufgaben zu finden sind, werden in den höheren Jahrgängen viele eingekleidete Aufgaben und Textaufgaben angeboten. Sachprobleme, Sachtexte und/oder sachstrukturierte Übungen sind vornehmlich in Grundschulmathematikbüchern zu finden und müssen dann für die eigenen Bedürfnisse umgearbeitet werden. Eine Veränderung von Aufgaben wird nicht ausbleiben, doch es gibt eine Vielzahl von Aufgabensammlungen und Schulbüchern, die als Fundgrube genutzt werden können, um zu den gewünschten Aufgabentypen Beispiele zu finden. Schwierig ist vor allem das Finden von Aufgaben für erste Klassen ebenso wie von Sachproblemen, Sachtexten und sachstrukturierten Übungen für die Sekundarstufe I. Eine Vielzahl von problemhaltigen Textaufgaben für die unteren Stufen enthält das gleichnamige Buch von Rasch (2001). Die Aufgaben sind in Textform dargeboten und
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| Teil VI: Schule und Unterricht stellen für jüngere Kinder echte Sachprobleme dar, wie z. B.: „Auf dem Spielplatz treffen sich Flix, Flus, Streblinde, Murks und Quicki. Alle Kinder begrüßen sich mit Handschlag. Wie oft werden Hände geschüttelt?“ (S. 84). Die meisten Aufgaben sind vom Sachkontext so einfach, dass sie schnell in eine Skizze übertragen, und nachgespielt bzw. mit Material gelöst werden können. Die Mosima-Materialien von Eggenberg und Hollenstein (1998) enthalten Sachprobleme bzw. Sachprojekte für die Sekundarstufe I. Für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Lernen eignen sich die jeweiligen Startmaterialien, in denen die Lernumgebungen vorgestellt, erste Fragestellungen entworfen und berechnet werden. Die Zahlenbücher 5 und 6 aus der Schweiz beinhalten ebenfalls viele Sachprobleme, die auch über diese Lernstufen hinaus eingesetzt werden können (Affolter, Amstad, Doebli & Wieland, 1999, 2000). Für die Primarstufe finden sich in den gängigen Schulbüchern für die Grundschule geeignete Sachprobleme, auch die Handbücher produktiver Rechenübungen (Wittmann & Müller, 1990, 1992) sowie die Handbücher für den Mathematikunterricht (Radatz, Schipper, Dröge & Ebeling, 1996, 1998, 1999; Schipper, Dröge & Ebeling, 2000) zeigen weitere Möglichkeiten auf. Sachtexte stellen für Schülerinnen und Schüler eine große Herausforderung dar, da die benötigte schriftsprachliche Kompetenz oft erst sehr spät erworben wird (vgl. Schiller, Wildenhues & Wember, 2003). Zusätzlich lassen die geringen Erfahrungen in vielen umweltlichen Bereichen die Sachtexte für die Grundschulklassen 3 und 4 bis in die Sekundarstufe als angemessen erscheinen. Hier stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Jugendlichen noch für Themen z. B. aus der Tierwelt zu begeistern sind (vgl. Erichson, 1992; Kachouth, 2001). Anstelle didaktisch aufbereiteter Sachtexte kann sonst auf echte Texte in Jugendmagazinen, aus der Zeitung oder dem Internet zurückgegriffen werden. 25.5.4.2 Alternativen zur schriftlichen Präsentation von Sachaufgaben Ein zentrales Problem vor allem in den unteren Jahrgangsstufen ist die Präsentationsform von Sachaufgaben. Als Texte gefasste Aufgaben können nur eingeschränkt eingesetzt werden, weil die Schülerinnen und Schüler noch nicht fließend und sinnentnehmend lesen können. Da dieser Leselernprozess bei Kindern mit Förderbedarf im Lernen häufig die ersten drei Schuljahre umfasst, kann mit dem Beginn des Sachrechnens nicht gewartet werden, bis dieser abgeschlossen ist. Es ist also notwendig Aufgaben und Ergebnisse in einer anderen Form zu präsentieren bzw. festzuhalten. Eine Möglichkeit der Aufgabenpräsentation ist das Nutzen von Sachbildern, das sind Zeichnungen oder Fotos, auf denen eine (mathematische) Situation dargestellt ist (vgl. Abb. 43). Sachbilder sind eine gute Möglichkeit, erste Formen des Sachrechnens zu betreiben, da bei ihnen sehr deutlich wird, dass die mathematische Situation in das Bild hineingesehen werden muss. Der mathematische Blickwinkel ist nur einer unter vielen, mit denen ein Sachbild betrachtet werden kann. Die Spielplatzsituation in Abbildung 43 lässt Kinder nicht sofort an die Aufgabe 5 + 5 = 10 denken, erste Assoziationen werden sich zunächst auf die Spielsituation selbst beziehen. Die Fokussierung auf die mathematische Plusaufgabe erfordert, sich von diesen konkreten, situationsbezogenen Gedanken zu lösen und allein die Anzahl der Kinder zu beachten. Dieser Abstraktionsprozess sollte
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5+5=
Abbildung 43: Sachbild (Wittmann, Müller, Berger, Fischer, Hoffmann & Jüttemeier, 2000b, S. 34)
beim Einsatz von Sachbildern klar angeleitet werden. Es muss den Schülerinnen und Schülern deutlich sein, dass es (jetzt) vorrangig um eine mathematische Betrachtung der Situation geht. Selbst dann sind Sachbilder mehrdeutig, d. h. es gibt i. d. R. mehr Sichtweisen, als die mit dem Bild intendierte (vgl. Steinbring, 1994). Es kann nicht darum gehen, die „richtige“ Aufgabe zu erraten, sondern eine Deutung der Situation unter mathematischem Aspekt vorzunehmen und diese zu kommunizieren. Das Nachvollziehen der Abstraktionen anderer Kinder ist der Brückenschlag von der mathematischen Seite zur Sachsituation und als solcher genauso wichtig zu sehen wie die eigene Abstraktion einer Aufgabe. Eine Weiterentwicklung des reinen Sachbildes ist die Kombination aus vorgelesenem Text und der Skizzierung der Situation als Erinnerungshilfe (vgl. Abb. 42). Bei dieser Form der Aufgabenstellung empfiehlt es sich, die Skizze während oder nach dem Vorlesen der Aufgabe vor den Augen der Kinder anzufertigen, damit sie auf diese Weise den Zusammenhang zwischen Aufgabe und Bild leichter herstellen können. Denn auch hier muss in das Bild zunächst die Aufgabe hineingesehen werden. Diese Art der Aufgabenpräsentation kann auch erste Lösungsansätze nahe legen. Die zeichnerische Lösung einer Sachaufgabe wählen Kinder selten von sich aus (vgl. Bender, 1988). Die Skizzierung der Lehrperson kann jedoch diese Lösungsstrategie nahe legen, wie die folgende Aufgabe zeigt (Abb. 44): Die zeichnerische Darstellung eines Tisches mit sechs Stühlen beinhaltet schon eine Abstraktion, es werden weder Person angemalt noch der Tisch oder die Stühle besonders exakt gezeichnet. Diese Darstellung kann dann von den Kindern übernommen werden, um auf diese Weise die Aufgabe zu lösen. Die weitere wichtige Information über die Anzahl der Personen, wurde in dieser Präsentation nicht dargestellt, sie kann jedoch als Gedächtnisstütze zusätzlich an der Tafel notiert werden. Neben dem Verzicht auf die schriftliche Fassung der Aufgabe besteht ein weiterer Vorteil derartiger Aufgabenpräsentationen darin, dass sie alternative Lösungsstrategien
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| Teil VI: Schule und Unterricht ... Tonight, a parent’s evening will be held ... ... The slips I received from you told me that 81 persons will attend ... ... The meeting will take place in the large conference hall ... ... The parents will be seated at large tables ... ... At each table six persons can be seated ...
Abbildung 44: Aufgabe und ihre Skizzierung (van den Heuvel-Panhuizen, 1998, S. 14)
zur klassischen Rechnung nahe legen. Auf diese Weise stellen sie gleichzeitig eine Hilfe beim Aufbau des mathematischen Problemmodells und der „Rechnung“ dar. In beiden Beispielen kann die Lösung der Aufgabe abzählend ermittelt werden. Es ist somit nicht erforderlich, dass die Schülerinnen und Schüler die arithmetischen Anforderungen schon ohne Material erfüllen können. Beide Aufgaben können damit auch als Einstieg in Lernprozesse genutzt werden (vgl. 25.5.1, Ziele und Funktionen des Sachrechnens). Zum Festhalten des Ergebnisses und zum Rückbezug auf die Aufgabe wird bei schriftlich gestellten Aufgaben oft ein Antwortsatz benutzt (vgl. 25.5.3.5, Situationsbezogene Antwort). Kann dieser noch nicht von Kindern geschrieben werden, empfiehlt es sich, das Ergebnis kenntlich zu machen, indem es z. B. unterstrichen wird. Auf diese Weise wird auch bei Kindern, die Schwierigkeiten mit der Notation von Rechnungen haben, deutlich, welche Zahl das Ergebnis ist. Zudem sollten die Ergebnisse mündlich, mit Rückbezug auf die Situation mitgeteilt und ggf. von der Lehrperson aufgeschrieben werden. Lösungsraster oder Lückentexte sind m. E. keine gute Lösung, da sie das Ausbilden von Hilfsstrategien ermöglichen und den Text unwichtig erscheinen lassen, da dieser vorgegeben ist und nicht von den Kindern selbst erstellt wird (und möglicherweise nicht erlesen werden kann). 25.5.4.3 Notation von Rechnungen Die vollständige, korrekte Notation der Rechnung zu einer Sachaufgabe kann für Kinder eine echte Hürde darstellen (vgl. 25.5.3.3, Mathematisierung). Dies gilt auch, wenn die Kinder die Aufgabe selbst richtig gelöst haben (vgl. Häsel, 2002; Stern, 1998). Es ist wichtig, dies im Blick zu haben und den Unterricht ggf. so zu gestalten, dass die Verschriftlichung eines Zahlensatzes – also das abstrahierte mathematische Problemmodell – in den Mittelpunkt gestellt wird. Zunächst muss den Kindern der Sinn der Notation deutlich gemacht werden. Dieser ist gerade bei Simplexaufgaben oft nicht einzusehen, da die Notation nicht als Lösungshilfe fungiert, sondern häufig nach der Lösung der Aufgabe zusammen mit dem Ergebnis aufgeschrieben wird. Das mathematische Problemmodell wird also im Kopf der Schülerinnen und Schüler abstrahiert und erst nachträglich notiert. Dann ist das Ergebnis
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1.
2.
Katrin kauft 10 Eier 1 Schale Erdbeeren 2 Flaschen Apfelsaft
Herr Schmidt kauft 10 Eier 1 Bund Möhren 2 kg Äpfel 1 Schale Erdbeeren Berechne die Einkäufe
3.
Bauer Meise rechnet
Familie Mormann kauft
Elena kauft
x Erdbeeren 2 1 x Radieschen 3 x Marmelade 3 x Salat 1 x Petersilie
Stelle selbst Einkaufszettel zusammen und rechne aus.
Abbildung 45: Schulbuchseite mit u. a. offener Aufgabe (Wittmann, Müller, Berger, Fischer, Hoffmann & Jüttemeier, 2000a, S. 85)
häufig so präsent, dass dies zuerst notiert wird und der Zahlensatz vorgeschaltet wird. Es kann jedoch m. E. nicht die Lösung sein, die Kinder darauf zu trainieren, zunächst den Zahlensatz zu notieren und diesen dann auszurechnen. Dies wirkt vor allem bei einstufigen Aufgaben sehr konstruiert. Trotzdem sollte der Sinn der Notation – nämlich als Erinnerungshilfe beim Lösen der Aufgabe fungieren zu können – vermittelt werden. Dies kann z. B. geschehen, indem Sachsituationen herangezogen werden, in denen im realen Leben auf diese Weise agiert wird. Eine Möglichkeit ist die Bestellsituation in einem Restaurant oder Eiscafe oder in einem kleinen Geschäft (vgl. Abb. 45). Diese Situationen könnten zunächst im Unterricht gespielt werden, wobei der Kellner bzw. Verkäufer mit einem Block ausgestattet wird und der Schwerpunkt auf dem Notieren der Bestellung
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| Teil VI: Schule und Unterricht und der Berechnung des Preises liegen muss. Zudem sollte die Bedeutung der Notation als nachträgliche Erinnerungshilfe an das mathematische Problemmodell herausgestellt werden. Dies kann geschehen, wenn Lösungen erst in der nächsten Stunde besprochen werden können oder Sachaufgaben als Hausaufgaben gegeben werden. Die Berichtigung von falschen Notationen ist eine gute Möglichkeit, sowohl andere Modellbildungen nachzuvollziehen als auch die mathematisch korrekte Notation zu üben. Typische Fehlnotationen aus vorhergegangenen Schülerdokumenten oder aus der Literatur werden den Schülerinnen und Schülern vorgelegt und von ihnen korrigiert. Auf diese Weise müssen sie zunächst zur Aufgabe selbst ein Problemmodell entwickeln, dieses mit dem gegebenen vergleichen, mögliche alternative Modelle entwerfen sowie vorgegebene Fehler finden und berichtigen. Das Bewusstsein für die Notation von Zahlensätzen kann ebenfalls gefördert werden, wenn zu einem Zahlensatz eine Sachaufgabe geschrieben werden soll. Die Modellbildung erfolgt dann von der Seite der Mathematik aus. Schülerinnen und Schülern fällt dies häufig schwer, vor allem wenn derartige Aktivitäten nicht in einen Kontext eingebunden sind (vgl. Radatz, 1993). Wurden jedoch im Vorfeld die beschriebenen Aktivitäten in einem übergeordneten Kontext durchgeführt – sind Schülerinnen und Schüler also für den Zusammenhang zwischen Sachaufgabe und Zahlensatz sensibilisiert – finden sie sinnvolle und z. T. sehr fantasievolle Sachaufgaben. Derartige Aufgabenstellungen sollten nicht nur der Notation wegen, sondern im Hinblick auf die Erreichung der Lernziele (vgl. 25.5.1, Ziele und Funktionen des Sachrechnens) auf jeden Fall einen Platz im Unterricht haben. 25.5.4.4 Differenzierungsmöglichkeiten Differenzierungsmöglichkeiten können bei Sachaufgaben in der klassischen Weise durch Modifizierungen der Zeit, der Anzahl und Schwierigkeit der Aufgaben und der Hilfestellungen durch die Lehrperson vorgenommen werden. Bei einer derartigen Differenzierung muss die Lehrperson allerdings sehr genau über die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler Bescheid wissen. Neben einer begleitenden Lernstandsdiagnostik zum jeweiligen Thema müssen die Aufgabenstellungen und Materialien auf die Fähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler abgestimmt werden. Da dies oft einen erheblichen Arbeitsaufwand bedeutet, kommt der Differenzierung von Seiten der Schülerinnen und Schüler – der sogenannten „Selbstdifferenzierung“ (Böhm, 1984, S. 5) – eine große Bedeutung zu. Bei dieser Form werden möglichst offene Aufgaben gestellt, die eine Vielzahl an Möglichkeiten der Konkretisierungen und Lösungen ermöglichen. Dies können z. B. Aufgaben im Rahmen eines Einkaufs sein, bei dem Waren abgebildet bzw. vorhanden sind und Aufgaben zum Kauf gefunden werden sollen (vgl. Abb. 45, Aufgabe 3). Diese Aufgabe kann auf unterschiedlichen Niveaus gelöst werden. Nicht Lehrerinnen und Lehrer, sondern die Kinder selbst bestimmen die Anzahl, die Komplexität und die rechnerische Schwierigkeit der Aufgaben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese selbst gefundenen Aufgaben automatisch richtig sind. Grundlegende Schwierigkeiten sind auch mit offenen Aufgaben nicht zu verhindern und rechnerische Fehler werden immer wieder vorkommen. Finden die Kinder keinerlei Zugang zur mathematischen Betrachtung der Situation, helfen ihnen auch solche Offenheiten nicht.
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Die offene Aufgabenstellung fördert die Auseinandersetzung mit der Sachsituation. Beide Seiten der Modellbildung werden angesprochen, das Finden von Aufgaben zu einer Situation und die Lösung derselben. Gerade bei den Themen des Sachrechnens (z. B. Einkaufen, Eis essen, Eintritt zahlen, Kakaobestellungen, Ausflüge machen, Geld anlegen) gibt es häufig Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche selbst Aufgaben finden zu lassen und ihnen damit die Gelegenheit zu geben, die Komplexität und die arithmetische Schwierigkeit ihrer Aufgabe selbst zu bestimmen. Zudem motivieren die Freiheiten die Kinder im hohen Maße für die Aufgaben und jüngere Kinder identifizieren sich zum Teil mit den „handelnden Personen“. Dies eröffnet ihnen möglicherweise den Einbezug von Alltagsstrategien und vermittelt auf jeden Fall Freude an Mathematik. Diese Freiheiten können jedoch zunächst Unsicherheiten hervorrufen. Erst das Vertrautsein mit dem Aufgabentyp zeigt die Möglichkeiten dieser Differenzierungsform. Dazu dienen ähnliche, vorgegebene Aufgaben (vgl. Abb. 45, Aufgabe 2) oder das Spielen der Situation im Klassenverband. Selbstdifferenzierung muss nicht auf Aufgaben mit Wahlmöglichkeiten beschränkt sein. Beim Behandeln von Sachproblemen und Sachtexten, bei denen die Schülerinnen und Schüler zunächst die Fragestellungen erarbeiten müssen, werden auch solche Differenzierungen vorgenommen. Dies gilt natürlich nur dann, wenn nicht alle Kinder alle Aufgaben lösen müssen und wenn die Schwierigkeit einer Fragestellung im Vorfeld eingeschätzt werden kann. Eine andere Art der Differenzierung durch ein Aufgabenformat besteht im Einsatz von „Sachaufgaben ohne Zahlen“ (Peter-Koop, 2000). Dies sind Aufgaben, die oft kein eindeutiges Ergebnis haben und die auf unterschiedlichen Niveaus gelöst werden können. Beispiele sind u. a. „Wie viele Autos stehen in einem 3 km langen Stau?“ (Peter-Koop, 2000) oder „Schlafen wir mehr Stunden als wir in der Schule sind?“ (vgl. Röthlisberger, 1999). Da dieser Aufgabentyp den Schülerinnen und Schülern jedoch viel an Überlegungen in Bezug auf die Sache und Kreativität im Vorgehen abverlangt, sollte nicht davon ausgegangen werden, dass alle Kinder sofort zu diesen Aufgabenstellungen Zugang finden. Wird allerdings eine Unterrichtskultur gepflegt, in der Sachaufgaben mit den Kindern entwickelt und gelöst werden, werden sich auch diese Selbstorganisationen ausbilden. 25.5.5
Sachrechnen – wichtig und möglich, auch bei Lernschwierigkeiten
Durch die Auswahl geeigneter Sachaufgaben und einen offenen, spielerisch entdeckenden Zugang lassen sich Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen für derartige Aufgabenstellungen begeistern. Sie können dabei wichtige Schlüsselqualifikationen ausbilden und erleben, dass Mathematikunterricht mit ihrem Leben zu tun hat. Dies kann allerdings nicht erreicht werden, wenn strikte Vorgaben zur Form der Lösung gemacht werden und ausschließlich eingekleidete Aufgaben benutzt werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, geeignete Aufgaben zu suchen und das Wagnis eines Sachrechenunterrichts in Angriff zu nehmen, – auch bei Kindern mit Lernschwierigkeiten, denn es gibt eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten, um den Schwierigkeiten der Kinder zu begegnen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die in diesem Kapitel beschriebenen Maßnahmen sind nicht nur bei Problemen sinnvoll, sondern sollten in jedem Unterricht berücksichtigt werden. Kinder, die über gute sachrechnerische Fähigkeiten verfügen, sind jedoch nicht in dem Maße auf die spezielle Thematisierung und auf gezielte, individuell angepasste Hilfen angewiesen wie Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in diesem Bereich. Natürlich wird es immer wieder Kinder geben, die so gravierende Schwierigkeiten beim Bearbeiten von Sachaufgaben haben, dass die beschriebenen Maßnahmen nicht ausreichen. In diesen Fällen müssen die Aufgaben speziell auf die Fähigkeiten der Schülerin bzw. des Schülers angepasst werden und es sind individuelle Hilfestellungen durch die Lehrperson notwendig. In den meisten Fällen kann Schwierigkeiten durch Differenzierungsmöglichkeiten, der Wahl geeigneter Aufgaben und dem Behandeln von Sachaufgaben von Anfang an begegnet und vorgebeugt werden.
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Kapitel 25: Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik | 685
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wittmann, E. Ch., Müller, G. N., Berger, A., Fischer, M., Hoffmann, M. & Jüttemeier, M. (2000a). Das Zahlenbuch. Mathematik im 2. Schuljahr. Leipzig: Klett. Wittmann, E. Ch., Müller, G. N., Berger, A., Fischer, M., Hoffmann, M. & Jüttemeier, M. (2000b). Das Zahlenbuch. Mathematik im 1. Schuljahr. Leipzig: Klett.
26 Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen Einführung Astrid Kaiser und Simone Seitz zeigen, dass sich im Bereich des Sachunterrichts in den terminologischen Debatten ein Paradigmenwechsel abzeichnet. Dieser reicht von monofachlichen Orientierungen der nahräumlich – geographisch orientierten Heimatkunde und der Sachkunde der 60er und 70er Jahre über fachübergreifende Ansätze der 80er Jahre hin zu mehrdimensionalen Konzepten, die über ästhetische, subjektive und philosophische Dimensionen den klassischen Gegenstandsrahmen der hergebrachten Sachunterrichtsdidaktik transzendieren. Diesen Perspektivenwechsel in den konzeptionellen Strukturen und Grundlagen des Faches gilt es nun auch auf die besonderen Bedingungen der Adressaten mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ zu transferieren. Marcus Schrenk bemerkt, dass in der Förderschule (Schule für Lernbehinderte) Biologiedidaktik und Biologieunterricht oft vernachlässigt werden, obwohl für diese Schüler biologische Inhalte besonders bedeutsam sind, z. B. in der Gesundheits-, Sexualerziehung, in der Freizeitgestaltung und auch in der Therapie. In seinem Beitrag bleibt er nicht nur dabei stehen, die Frage zu beantworten, welche Ursachen die hier bemängelte Vernachlässigung dieser Schülerschaft von Seiten der Biologiedidaktik haben könnte. Er zeigt vielmehr auf, durchaus unter Berücksichtigung einschlägiger empirischer Untersuchungen, wie moderner Biologienunterricht für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aussehen könnte. Stephan Raimer unterstreicht zunächst, dass für den Technikunterricht an Schulen für Lernbehinderte häufig entsprechend differenzierte Rahmenrichtlinien fehlen, nur wenige schulformbezogene Unterrichtsmaterialien verfügbar sind, die notwendige Einrichtung und Ausstattung unzureichend ist oder ganz fehlt und nicht genügend ausgebildete Lehrer für den Technikunterricht verfügbar sind. Bei der inhaltlichen Diskussion wird herausgestellt, dass technische Vermittlungsprozesse (kritische) technische Handlungskompetenz als abstraktes Bildungsziel haben, die zur Bewältigung von technikgeprägten Lebenssituationen befähigen soll. Dies gilt analog für Förderschulen als auch für andere allgemein bildende Schulen. Somit existiert keine „sonderschulspezifische bzw. sonderschulgemäße Technik“, sondern vor allem spezifische Vermittlungsprozesse und Zugangsweisen. In der weiteren Betrachtung werden in dem Beitrag der zugrunde gelegte Technikbegriff und das Technikverständnis, historische Bezüge, Ansätze der Fachdidaktik und interessante praxisrelevante Befunde dargestellt. Ditmar Schmetz betrachtet die Lernbereiche Geschichte und Politik in seinem Beitrag im Kontext einer an interdisziplinären Bezügen ausgerichteten Gesellschaftslehre. Gesellschaft wird als ein nach demokratischen Grundsätzen angelegtes System verstanden, welches das Zusammenleben von Menschen in zeitlich andauernden und räumlich begrenzten Bezügen und im Kontext pluraler Gruppen und Wertrichtungen auf Basis der im Grundgesetz verankerten Grundrechte strukturiert und organisiert. Von diesem Gesellschaftsverständnis ausgehend werden die Bedeutung des geschichtlichen und politischen Lernens für Kinder und Jugendliche in erschwerten Lern- und Lebenssituationen sowie
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| Teil VI: Schule und Unterricht didaktisch-methodische Möglichkeiten schulischer Vermittlung zur Darstellung gebracht. Die Methodenkonzeption des historisch-politischen Lernens basiert auf einer möglichst offenen Gestaltung des Unterrichts, in der projektorientiertes und handlungsorientiertes Arbeiten in besonderer Weise zur Geltung kommen. Bei der Beschäftigung mit dem Lernbereich Hauswirtschaftslehre an Schulen für Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen wird für Veronika Breucker deutlich, dass diesem Bereich zwar häufig eine besondere Bedeutung beigemessen wird, jedoch kaum empirische Untersuchungsergebnisse vorliegen. Die Autorin beschreibt die Inhalte der Hauswirtschaftslehre als Kenntnisse und Fertigkeiten in der Nahrungszubereitung, der Ernährungslehre, der Wohnungsgestaltung und der Wohnungshygiene. Hinsichtlich der Ziele soll den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden, dass durch planvollen Einsatz von Haushaltsgeräten und Maschinen menschliche Arbeitskraft eingespart werden kann. Sie sollen lernen, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu haushalten und grundlegende Einsichten in elementare wirtschaftliche Zusammenhänge erlangen. Die Auseinandersetzung mit dem Marktangebot und entsprechenden Informationshilfen stellen einen weiteren Bereich dar. Der Hauswirtschaftslehreunterricht lässt sich didaktisch durchgehend verstehen als sozialwissenschaftliches (sozial-ökonomisches) und als naturwissenschaftlichtechnisches Fach. Der Unterricht sollte beiden Dimensionen gerecht werden. Für Ditmar Schmetz ist Sexualerziehung auf zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation angelegt. Als integrierter Bestandteil der Gesamterziehung realisiert sie sich im Feld des emotionalen und sozialen Lernens. Sie setzt sich auseinander mit den Sozialisations- und Enkulturationserfahrungen des heranwachsenden Menschen und beeinflusst in erheblichem Maße seine Personalisation. Sexualerziehung wird somit verstanden als ein interaktiv-kommunikatives Geschehen, das die sexuellen Erlebnis- und Verhaltensdispositionen des heranwachsenden Menschen sensibilisiert und stabilisiert. Der Autor betrachtet zunächst sexuelles Verhalten im Kontext von körperlichen und psychosozialen Problembereichen sowie sexuelles Verhalten im Kontext von Einflüssen der Sozialisation. Anschließend werden Inhalts- und Förderbereiche sowie die methodischmediale Gestaltung des Sexualunterrichts dargestellt. Reinhard Thoma und Franz Trautmann betonen zunächst grundsätzlich, dass Bildung auf die systematische Auseinandersetzung sowohl mit religiösen als auch mit ethischmoralischen Lebensfragen angewiesen ist. Bislang kann aber von einer konsistenten sonderpädagogischen Fachdiskussion innerhalb der beiden Fachdidaktiken Religion und Ethik nicht die Rede sein und auch ein empirisches Interesse, das zur Optimierung unterrichtlicher Lernprozesse und für die Erstellung von Lehrplänen für die Schule für Lernbehinderte dringend notwendig wäre, ist nicht auszumachen. Allerdings lassen sich entsprechende empirische Ergebnisse aus dem Grund- und Hauptschulbereich und aus Forschungen zu Religiosität und Wertorientierung Jugendlicher auf die Schüler der Lernbehindertenschule in etwa übertragen. Aus den in jedem Menschen angelegten Dispositionen, sich zu bewegen, sich und die Umwelt wahrzunehmen, sich auszudrücken und zu kommunizieren, entwickeln sich unter dem Einfluss der Umwelt die Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation, die als die grundlegenden musikalischen Fähigkeiten anzusehen sind. Nach Franz Amrhein ist die Entwicklung dieser vier Fähigkeiten das Ziel musikalischer Förderung. Um diese zu erreichen, stellt der Autor einen detailliert ausgearbeiteten Lehr-
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 689
plan vor. Bestätigung findet dieses Konzept bisher durch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, die z. T. seit über 20 Jahren nach diesen Plan unterrichten, sowie durch das Feedback in zahlreichen schulinternen, regionalen und zentralen Lehrerfortbildungen. Zur Evaluation des Lehrplans und des zu Gunde liegenden Konzeptes wären Schulversuche nötig wie z. B. die Langzeitstudie „Zum Einfluss von erweiterter Musikerziehung auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern“. Die Probleme, die sich vor allem stellen, liegen im Mangel an qualifizierten Pädagogen und in der unzureichenden Konzeptbildung. Gerd Hölter diskutiert zunächst die Frage, wie Sportunterricht einer Schülerschaft gerecht werden kann, deren psychosoziale, kognitive und motorische Heterogenität von der Dissozialität bis zur Gruppenfähigkeit, von der Lernschwäche bis zur Hochbegabung, von der Koordinationsstörung bis zum Leistungssport reicht. Die schulischen Rahmenbedingungen und fachdidaktischen Orientierungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren verändert. Auf dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse zu Lernschwächen, ihren Bedingungsvariablen und Fördermöglichkeiten werden vom Autor fachdidaktische und -methodische Themen und Akzentsetzungen abgeleitet, die für diese Schülerschaft bedeutsam erscheinen. Joachim Bröcher betrachtet zunächst in seinem Beitrag zum Thema Kunst und visuelle Medien bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen die für diese Schüler besonders zu berücksichtigenden Bedingungen (heterogene Schülerschaft), nimmt dann eine historische Perspektive ein, um anschließend Schwerpunkte mit der Darstellung der pädagogischen Kunsttherapie H.-G. Richters, Variationen und Weiterentwicklungen sowie Forschungsperspektiven zu setzen.
26.1 Sachunterricht Astrid Kaiser und Simone Seitz Für ein sonderpädagogisches Handbuch einen Artikel zum Fach Sachunterricht zu schreiben, stellt in mehrfacher Hinsicht außerordentliche Ansprüche. Denn erstens kann das Fach Sachunterricht erst auf eine sehr kurze und bewegte Geschichte zurückblicken, die zudem noch nicht abgeschlossen ist. Selbst der Begriff „Sachunterricht“ zur anerkannten Bezeichnung eines Schulfaches ist noch relativ neu. In den Richtlinien und Lehrplänen der Bundesrepublik Deutschland taucht er mit größerer Verbreitung erst seit 1970 auf. Sachunterricht wird jedoch trotz der generell sichtbaren Loslösungstendenz von der tradierten Heimatkunde keinesfalls einheitlich definiert. So heißt das Fach nur in acht Bundesländern entsprechend den dominanten wissenschaftlichen Fachdiskursen der 70er und 80er Jahre Sachunterricht, in Bayern dagegen Heimat- und Sachkunde, in BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein Heimat- und Sachunterricht, in Berlin Sachkunde, in Mecklenburg-Vorpommern Heimat- und Sachkundeunterricht und in Sachsen-Anhalt ganz traditionell Heimatkunde. Sachsen und Thüringen wählen Doppelbegriffe, wie Heimatkunde/Sachunterricht oder Schulgarten/Werken bzw. Heimat- und Sachunterricht (Kaiser, 1998).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Wenn wir im internationalen Kontext schauen, werden wir ein noch breiteres Spektrum an Bezeichnungen finden, z. B. Lebenskunde in Japan (vgl. Harada, 2000), „Social Studies“ bzw. „Primary Science Education“ (Lauterbach, 2000; Marquardt-Mau, 2000) in den USA, „Natur, Mensch, Mitwelt“ in der Schweiz oder „Studies of Society and Environment“ in Australien. Diese vielfältigen Fachbezeichnungen auch der neueren bundesdeutschen Debatte zu Beginn der 90er Jahre, z. B. „Welterfahrung“ (Faust-Siehl, Garlichs, Ramseger, Schwarz & Warm 1996), „Sach- und Sozialunterricht“ (Klafki, 1992) oder Schreiers Versuch (1994), den Begriff „Sache“ inhaltlich um die Kategorien „Sachverhalt, Streitfall, Angelegenheit, Aufgabe und Pflicht“ gegenüber der alltagssprachlichen gegenständlichen Fassung im Sinne von „Ding“ zu erweitern (Schreier, 1994, S. 26), dokumentieren, dass der Diskussionsprozess um Inhalte und Ziele von Sachunterricht keinesfalls abgeschlossen ist. Vielmehr zeichnet sich in den terminologischen Debatten ein Paradigmenwechsel in der Sachunterrichtsdidaktik ab, der von monofachlichen Orientierungen der nahräumlich – geographisch orientierten Heimatkunde und der Sachkunde der 60er und 70er Jahre über fachübergreifende Ansätze der 80er Jahre hin zu mehrdimensionalen Konzepten, die über ästhetische, subjektive und philosophische Dimensionen den klassischen Gegenstandsrahmen der hergebrachten Sachunterrichtsdidaktik transzendieren, reicht (vgl. Duncker & Popp, 1997). Diesen Perspektivenwechsel in den konzeptionellen Strukturen und Grundlagen des Faches gilt es nun auch auf die besonderen Bedingungen der Adressatinnen und Adressaten mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ zu transferieren. Dies ist kein leichtes Unterfangen, da die Didaktik des Sachunterrichts sich erst sehr spät als universitäre Disziplin nach der Einführung des Schulfaches und des Erlasses von Richtlinien etabliert hat (die Einführung ist von Bundesland zu Bundesland schwankend ca. ab 1970, vgl. Kaiser, 2002). Wir können noch nicht von einer einheitlichen Theorieund Praxisentwicklung sprechen. Andererseits zeigt die Entwicklung sachunterrichtsdidaktischer Diskurse durchaus einige Tendenzen, die hier summarisch zusammengestellt werden sollen: Entwicklung hin zu fachübergreifenden bis projektartigen Arbeitsweisen (Hänsel, 1980; Bunk, 1990), Abkehr von kognitiver Vereinseitigung hin zur Entwicklung ethischphilosophischer (Schreier, 2000), emotional-ästhetischer Dimensionen (Freeß, 2002) sowie des Lernens mit allen Sinnen (Bäuml-Roßnagl, 1990; Hasse, 1991; Wiater, 1994), Eröffnung von mehreren Perspektiven (Giel & Hiller, 1974; Kaiser, 2002), Verstärkung erfahrungs- und handlungsorientierter Konzepte (Wöll, 1998; Schreier, 1994, 2000; Popp, 1994; Kaiser, 1996). Diese nicht unabhängig voneinander existierenden Diskurse deuten bereits Entwicklungen und Tendenzen der allgemeinen Trends sachunterrichtsdidaktischer Konzeptbildung hin. Alle diese neueren Ansätze zeigen, dass Sachunterricht nicht mehr als monolinear, von bestimmten Stoffsystemen reduzierbares Gebilde, verstanden werden kann. Sachunterricht stellt vielmehr ein dynamisches System inhaltlicher und konzeptioneller Entwicklung dar. In diesem komplexen System gibt es qualitative Inhaltsfelder, aber nicht einlineare Kurse, die durch Reduktion an verschiedene Adressatengruppen von Lernenden angepasst werden könnten. Ein Transfer bzw. eine Überprüfung in Hinblick insbesondere auf ihre Tragfähigkeit für sonderpädagogische Fragen steht bislang aus. Allerdings können angesichts der
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 691
Entwicklung des Sachunterrichts weder inhaltsreduktionistische Modelle noch Modelle unterschiedlicher Zeitveranschlagung für das Erreichen bestimmter Ziele als Muster verwendet werden. Denn diese gerade in der Tradition der Förderpädagogik beliebten Muster, etwa den Kindern mit Lernproblemen mehr Zeit einzuräumen, können der qualitativen Entwicklung des Sachunterrichts nicht gerecht werden. Dies wird umso komplexer, wenn wir die Frage nach der konzeptionellen Umsetzung des Sachunterrichts mit der nach besonderem Förderbedarf verbinden. Von daher kann hier nur ein erster Versuch unternommen werden, die bislang separat verlaufenden Diskurse etwas stärker aufeinander zu beziehen. Zunächst aber soll die Frage der Didaktik von der Perspektive der Lernsubjekte aus beleuchtet werden, um daraus eine Klammer zur hier gesetzten Fragestellung des Sachunterrichts für Kinder mit besonderem Förderbedarf zu umreißen. 26.1.1 Subjektorientierter Sachunterricht Allgemein gilt, dass Unterricht dann besonders wirksam ist, wenn er den Adressaten gerecht wird. Im Laufe der Didaktik-Geschichte sind dafür verschiedene Begriffe, wie Passung, Schülerorientierung, Orientierungsgrundlage, anthropogene Voraussetzungen oder Lernerperspektive, entwickelt wurden. Gemeinsam ist ihnen der zentrale Gedanke, dass Inhalte nicht äußerlich den Lernenden aufgesetzt werden, sondern in einem Wechselwirkungsverhältnis zwischen Sache und subjektiven Interessen, Motiven und Vorwissen stehen müssen, um produktiv zu wirken. Wenn wir spezifisch diese subjektiven Fähigkeiten und Potenziale im Sinne eines Kompetenzansatzes aufgreifen wollen, können wir nicht eine alle Schülerinnen und Schüler vereinheitlichende Klassifizierung vornehmen, sondern müssen die subjektiven Kompetenzen in ihrer Breite und Vielfalt aufgreifen und sie didaktisch weiterführen. Sachunterricht ist also nur dann produktiv, wenn die positiven Potenziale, wie sie in der Kategorie Lernvoraussetzungen (Kaiser, 1996) oder Vorerfahrungen (Koch-Priewe, 1995) zum Ausdruck kommen, aufgegriffen werden. Auch der Allgemeinbildungsbegriff Klafkis umfasst eine Sichtweise, bei der Inhalte und lernende Subjekte in einer dynamischen Einheit betrachtet werden. Das heißt, hier dürfen nicht durch Überbetonung von Defiziten die produktiven Entwicklungsmöglichkeiten eines vielfältigen allgemeinen Sachunterrichts schon in der Antizipation von möglichen Zielen reduziert werden. Schulische Bildung kann bei einem derartigen subjektorientierten Verständnis nicht mehr das „Pauken“ eines von außen gesetzten Wissensstoffes sein und als begriffsloses Lernen ohne jeglichen Bezug zum Leben der Kinder erfolgen. Auch wenn wir wenig über die konkreten Lernprozesse aussagen können, wissen wir doch, dass es verschiedene Lerntypen bei den jeweiligen Individuen gibt. „Kein kognitives System gleicht dem anderen, und es gibt auch kaum allgemeine Regeln der Wirklichkeitsaneignung ... Jedes Kind organisiert sein Bewußtseinssystem selbst und repräsentiert intern die Wirklichkeit anders“ (Hempel, 1999, S. 4). In der Theorie existieren zahlreiche Darstellungen und Konzeptionen für einen zukunftsgerechten Sachunterricht. Dabei wird meist für einen handelnden, erfahrungsoffenen und subjektorientierten Unterricht plädiert. Diese Konzepte beziehen sich allerdings hauptsächlich auf den Bereich der Grundschule und schließen die Sonderschule
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| Teil VI: Schule und Unterricht höchst selten in ihre Überlegungen ein, obgleich sich insbesondere die Schülerinnen und Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ durch ihre Heterogenität und das Bedürfnis nach individuellen Förderwegen und Lernmöglichkeiten auszeichnen. Es stellt sich folglich die Frage, inwieweit sich erfahrungs- oder handlungsorientiert entwickelte Unterrichtskonzepte für den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern des Förderbereichs Lernen eignen. Für die Konzeption von Sachunterricht für diese Kinder ist zunächst zu konstatieren, dass keine einfachen Definitionen und Eingrenzungen der Zielgruppe vorgenommen werden können. Zum einen sind die Grenzen zwischen den sonderpädagogischen Förderbereichen fließend und können oft nicht eindeutig gezogen werden. Diagnostische Entscheidungen und dementsprechende Schulzuweisungen sind oftmals von pragmatischen Faktoren und Zufällen beeinflusst (Wohnortnähe etc.). Die diagnostische Festschreibung eines Förderbereiches stellt demzufolge häufig einen Kompromiss dar, bei dem verschiedene „Auffälligkeiten“ bzw. Symptome unter dem Sammelbegriff „‚Lernbehinderung“‘ bzw. „Förderbereich Lernen“ zusammengefasst werden. Überdies ist unter Berücksichtigung struktureller Zusammenhänge zu fragen, inwieweit eine ausschließlich individuumszentrierte Etikettierung einzelner Kinder als „lernbehindert“ der Komplexität des beobachteten Phänomens überhaupt entsprechen kann. An dem Umstand, dass ein Großteil der Kinder, die diese Diagnose erhalten, aus Familien mit schwachem sozialen Status bzw. mit Migrationshintergrund stammt (vgl. Wocken, 2000), wird deutlich, dass eine rein personenzentrierte Perspektive unter Ausblendung soziologischer Einflussfaktoren, die mit der Diagnose „‚Lernbehinderung“ korrelieren, zu kurz greift. Eberwein und Knauer (1998) sprechen vor diesem Hintergrund von Behinderung als relationalem Phänomen, das sich erst in mangelnder Passung zwischen der kindlichen Lebenswelt (die u. U. mit häuslichen Problemen behaftet ist) und schulischen Ansprüchen sozial konstituiert. Wenn ein Kind, das in der Grundschule zunächst als „auffällig“ wahrgenommen wird, per sonderpädagogischem Gutachten als „lernbehindert“ etikettiert wird, nimmt diese Diagnose ontologisierenden Charakter an. Das Kind wird somit zum alleinigen Symptomträger für eine weitaus komplexere Problematik. Die Diagnose stellt dann in aller Regel den Beobachtungsrahmen für die weitere schulische Entwicklung des Kindes dar und kann dazu führen, dass unter Ausblendung der Lebenskontexte und subjektiven Deutungen der Kinder vorschnell zu eng gesetzte schulische Bildungsziele festgelegt und damit Entwicklungsräume unnötig eingeschränkt werden. „Lern-Behinderungen sind somit immer dann zu erwarten, wenn die je individuellen Bedeutungswelten der Schüler nicht beachtet oder nur als negativ bzw. defizitär angesehen werden“ (Werning, 2002, S. 157). Um dieses Dilemma zu überwinden, muss sich die Sonderpädagogik zunächst von einer einseitigen Symptomorientierung lösen und hin zur Orientierung am individuellen Entwicklungsprozess des Kindes erweitert werden. Kompetenzorientierte Sichtweisen auf die individuellen Lernpotenziale und eine Anerkennung der sozialen Lebenswelten der Kinder im Unterricht stellen daher wichtige Ausgangspunkte für sachunterrichtsdidaktische Konzeptionen bereit. Denn das Kind lernt nicht ohne seinen Kontext, aber die Inhalte von Bildung sind nur dann relevant, wenn sie sich positiv mit den Interessen, Motiven, Wünschen und Fragen der Kinder verschränken können.
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 693
Eine Hinwendung zu den vielfältigen Deutungsmustern, die diese Kinder aus ihrer Lebenswelt in die Schule mitbringen, stellt wertvolles Potenzial für einen kindgerechten Sachunterricht dar, wenn diese lebenssituationsbezogen als subjektiv sinnvoll aufgefasst werden. „Lernen kann nur erfolgreich gefördert werden, wenn es an den vorhandenen Bedeutungsstrukturen des Subjekts ansetzt und diese anregt, weiterentwickelt, mit neuen Aspekten verknüpft etc.“ (Werning, 2002, S. 157). Insofern ist ein konsequent am Subjekt orientierter Sachunterricht immer auch kompetenzorientiert. Sollen die Kompetenzen und individualbiografisch gewachsenen Bedeutungsstrukturen der Kinder ernst genommen werden und Eingang in didaktische Konzepte finden, stellt sich die Frage, wie mit der Vielfalt dieser subjektiven Strukturen, die verschiedene Kinder mitbringen, im Unterricht umzugehen ist. Dieser Gedankengang wird im Folgenden weitergeführt. So soll insgesamt ein subjektorientierter Sachunterricht der Vielfalt genauer konturiert werden, um abschließend konkrete Bezüge zu Kindern des Förderbereichs Lernen im Sachunterricht herzustellen. 26.1.2 Sachunterricht der Vielfalt Wir können davon ausgehen, dass die Welt, in die Kinder heute hineinwachsen werden, verstärkt durch Individualisierung (Heitmeyer, 1991; Ramseger, 1994), risikohafte Veränderungen (Beck, 1986) und komplexer werdende gesellschaftliche Strukturen gekennzeichnet ist. Die kulturellen, sozialen und situativen Erfahrungsfelder der Menschen werden immer vielfältiger. Innerhalb dieser Trends sind zunehmende Polarisierungen zwischen „ärmer werdend“ und „immer reicher werdend“, zwischen fremdländisch und einheimisch, zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Lebensweisen, zwischen Behinderungen und Nicht-Behinderungen zu beobachten. Das heißt, in vielen Dimensionen entstehen immer wieder neue und andere Verschiedenheitsbeziehungen. Die zukünftige Gesellschaft wird heterogener und bringt ein ungleich höheres Maß an verschiedenen Lebensweisen und -möglichkeiten hervor als jede tradierte Gesellschaftsform. Gerade angesichts dieser massiven globalen Umwälzungen ist es geboten, den Wandel inhaltlich konkret im Sachunterricht mit einzubeziehen, ohne die konkrete Erfahrungswelt der Kinder zu verlassen. Daher wird in einem subjektivitätskonstituierenden didaktischen Verständnis die Heterogenität der Kinder zunächst an erster Stelle ernst sowie für wahr und wirklich genommen, indem es offen ist, welche Definitionen, Zugangsweisen oder Perspektiven jeweils das einzelne Kind oder die einzelne Kindergruppe einem bestimmten Inhalt beimisst. Heterogenität ist dann nicht mehr lernhinderlich, sondern stellt eine Bereicherung für den Unterricht dar, denn erst in der Vielfalt der Perspektiven auf den Lerninhalt kann dieser in seiner Vielschichtigkeit erschlossen werden. „Eine Didaktik der Vielfalt ist auch auf der inhaltlichen Seite reicher, weil sie auch den Reichtum an Beziehungen und Biografien, an Erkenntnissen und Perspektiven verschiedener lernender Menschen anzusprechen versucht“ (Kaiser, 2000b, S. 98 f.). Den heterogenen subjektiven Zugangsweisen zum Lerninhalt Raum zu geben, bedeutet für die Lehrperson, sich auf Unsicherheit einzulassen, denn die von Kindern gewählten individuellen Lernwege sind nicht vorweg im Detail planbar. In Bezug auf Kinder des
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| Teil VI: Schule und Unterricht Förderbereichs Lernen bedeutet dies, auch individuelle, zunächst „streitbare“ Weltsichten auf gesellschaftliche Themen zuzulassen und Eingang in die Unterrichtskommunikation finden zu lassen. Denn gerade diese „Kinder aus sozial randständigen Bereichen, Kinder nicht-deutscher Herkunft haben im Laufe ihrer primären Sozialisation oftmals Bedeutungsstrukturen aufgebaut, die mit schulischen Inhalten und Anforderungen konfligieren“ (Werning, 2002, S. 158). Diese Kinder sind oftmals von ihrer individualbiografischen Eingebundenheit in gesellschaftliche Probleme (Arbeitslosigkeit, Migration etc.) – die sie meist besser kennen als ihre Lehrer/innen – dermaßen gefangen, dass ein Unterricht, der dies ignoriert, nicht greifen kann. Wenn die Kinder sich hingegen aus ihren vielfältigen Lebenswelten und den dabei gebildeten Bedeutungsstrukturen heraus sachunterrichtlichen Themen annähern können, entstehen Chancen für Lernprozesse, die direkt am Erleben der Kinder anknüpfen und daher tiefgreifend wirken können. Die Denkfigur der „egalitären Differenz“, die besagt, dass Differenzen keine Hierarchien begründen müssen (vgl. Prengel, 1995, S. 181 ff.), findet hier ihre didaktische Umsetzung. Dies hat nicht nur eine demokratische und persönlichkeitsfördernde Seite, sondern auch einen produktiven Impuls für das Lernen aller. Es bedeutet eine Bereicherung von Schule und Lernen nicht nur durch die Vielfalt, sondern auch eine Entwicklung von Lernen, indem die für die individuelle Lernmotivation so entscheidenden Diskrepanzen sichtbar werden, die erst ein weitergehendes Denken erforderlich machen. Insofern eröffnet Schule ein ungeheures Potenzial an Lernanregungen für alle, wenn die Verschiedenheit sichtbar und offen wird und nicht unter dem formalen Gleichheitsdiktat unterdrückt und verschwiegen wird. Dafür gilt es auch, Unsicherheiten in Bezug auf den Lerninhalt zuzulassen. In einem Sachunterricht der Vielfalt wird nicht eine einzige vorab festgelegte, fachlich abgesicherte Lösung zu einem Problem stringent verfolgt und sämtliche gedanklichen „Nebengleise“ der Kinder ignoriert. Jede Perspektive, auch die fachwissenschaftliche bzw. fachdidaktische, ist von unbewussten Vorentscheidungen geprägt und in ihrem Erkenntniswert beschränkt (Prengel, 1999, S. 34 ff.). Ein Lerninhalt kann demnach nicht als „Ganzes“ erfasst werden, um dann die dazugehörigen „Wahrheiten“ im Unterricht vermitteln zu können. Die einzig richtige Sichtweise auf einen Lerninhalt ist so gesehen eine Illusion. Denn jeder individualbiografisch geprägte Beobachtungsstandpunkt, ausgeformt in der Situation unter spezifischen motivationalen Bedingungen, prägt auch den Blickwinkel, den die einzelnen Kinder zum Lerninhalt einnehmen. Erst in der kommunikativen Ausbreitung dieses jeweils begrenzten Erkenntnishorizonts ist Erkenntnis möglich. In einer so verstandenen „Verschiedenheitspädagogik“ wird somit gleichzeitig ein Denken angebahnt, in der nicht die eine Sichtweise oder Lösung nur als richtig gilt, sondern mehrere Zugangsweisen möglich sind (vgl. Kaiser, 2000b, S. 103). Die Verschiedenheit wird also nicht nur didaktisch reflektiert und akzeptiert, sondern auch methodisch umgesetzt. Die Lehrperson wird in einer solchen Umsetzung zur Beobachterin und Begleiterin der individuellen Lernwege der Kinder. Besonders weit entwickelte Beispiele können wir in Großbritannien im Primarstufenfach Design and Technology, gegenständlich einem Teilaspekt des deutschen Sachunterrichts entsprechend, beobachten (Benson, Martin & Till, 2003). Dort werden die Aufgaben der nationalen Curricula (wie beispielsweise Hüttenmodelle zu entwickeln oder Puppen für ein Theaterspiel zu bauen) den einzelnen Kindergruppen zur selbstständigen Lösung übergeben. Die Lehrkräfte steuern und begleiten den Prozess von Ideenentwicklung, Planung, Durchführung,
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Erprobung, reflektierter Evaluation und Überarbeitung. Dabei werden außerordentlich verschiedenartige Produkte je nach den Fähigkeiten und Vorstellungen der Kinder erstellt. Aber alle Lösungen werden gleichermaßen der Selbstbewertung der Lernenden übergeben. Hier trifft das zu, was in den deutschen Debatten zum Metalearning gefordert wird: „Die Haltung des Lernbegleiters ist getragen von der Achtung gegenüber den Potentialen des epistemologischen Subjekts. Er handelt nach dem Prinzip des Zulassens und Zutrauens und gibt nur dann Orientierung, wenn der Lernende alleine nicht mehr weiter kann. Unter diesen Bedingungen kann der Lernende an Reflexivität und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen“ (Rolus-Borgward, 2002, S. 219). So wird tatsächlich eine der pluralen Welt adäquate Didaktik und Methodik für den Sachunterricht entwickelt. „Die Alternative besteht in dem Verstehen der Kinder verschiedener Kulturen der Herkunft, der sozialen Lage und der Aspirationen bei gleichzeitigem Zusammenführen“ (Kaiser, 2000b, S. 102). Der verbindende und motivierende Teil wird durch die gemeinsame soziale Existenz konstituiert. Die allgemeinmenschliche Dimension muss daher als integrierender Rahmen über allen Differenzierungen stehen. Zwar bilden die einzigartigen Einzelpersönlichkeiten der Kinder den Ausgangspunkt der Pädagogik der Vielfalt (vgl. Prengel, 1999, S. 28), aber diese Einzelpersönlichkeit kann nicht ohne die anderen existieren und ist auch sozial hervorgebracht. Insofern gibt es für schulisches Lernen durch das Zusammensein von Kindern aus verschieden sozialen, kulturellen, ethnischen, religiösen oder regionalen Kontexten auch eine Vielzahl an Anregungen. Da die soziale Selbstwahrnehmung und Orientierung als anthropologische Konstante von vielen Autoren beobachtet worden ist (Kaiser, 2002), können wir davon ausgehen, dass aus der sozialen Lernsituation motivationale Impulse erwachsen. Das heißt, dass damit auch verschiedene Perspektiven und Erkenntnisse, verschiedenes Wissen und Fühlen, verschiedenes Denken und Wahrnehmen für die anderen Kinder im sozialen Lernkontext subjektiv relevant werden kann. Dies heißt nicht automatisch, dass dies auch so geschieht, aber das Potenzial dazu ist gegeben, wenn die Kompetenzen jedes einzelnen Kindes ernst genommen werden und in den gemeinsamen Unterricht einfließen können. Dies heißt mehr als das Begriffspaar Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung in der Didaktik Hugo Gaudigs (Gaudig, 1917). Dies heißt, dass der Pluralität gesellschaftlicher und menschlicher Entwicklungen auch in der Schule konsequent Rechnung getragen wird, dass Vielfalt zum produktiven Faktor von Lernen wird und nicht als Hindernis angesehen wird. Nachdem Vielfalt und Subjektorientierung als Komponenten eines zukunftsfähigen und kindgerechten Sachunterrichts erläutert wurden, soll im letzten Abschnitt die gedankliche Klammer zu Kindern des Förderbereichs Lernen im Sachunterricht geschlossen werden. 26.1.3 Zum Sachunterricht mit Kindern des Förderbereichs Lernen Wenn wir uns der Frage des Sachunterrichts wiederum von Seiten der Sonderpädagogik nähern, dann stoßen wir erneut auf definitorische Probleme – insbesondere was die Beeinträchtigungsfrage und speziell den Behinderungsbegriff anbetrifft. Er ist einerseits als institutionell zuweisende Formel für das Besondere der Sonderpädagogik konstitutiv
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| Teil VI: Schule und Unterricht und – besonders für den Förderbereich Lernen – zugleich sehr umstritten (Eberwein & Knauer, 1998; Eberwein, 2000). So begründete sich Sonderschulpädagogik lange Zeit über das Phänomen „Behinderung“ und profilierte sich insofern als Komplement zu einer Regelschulpädagogik, die „Schulversager“ und anderweitig „auffällige“ Kinder in separierende spezielle Schulformen abgeben konnte. Mit der Integrationsdiskussion aber wurde diese Entlastungsfunktion der Sonderpädagogik radikal in Frage gestellt. Neben anthropologischen und gesellschaftlichen Anliegen der Integrationsvertreter/innen stellte auf unterrichtspraktischer Ebene besonders die Einsicht, dass Lerngruppen in segregierten Schulformen ebenfalls ausgesprochen heterogen sind, den Grundgedanken in Frage, mittels eines hochspezialisierten Sonderschulsystems in homogenen Lerngruppen besonders gezielt fördern zu können. In Folge der beobachteten Heterogenität muss auch der Behinderungsbegriff und seine konkreten Konsequenzen für sachunterrichtsdidaktische Planungen kritisch hinterfragt werden. Der Begriff der „Behinderung“ lenkt nämlich den Blickwinkel auf eine isolierte defizitär gewertete Persönlichkeitsdimension, also beispielsweise die Sehprobleme oder körperlichen Bewegungsbeeinträchtigungen. Dies reduziert allerdings die Vielfalt eines jeden Individuums und kann in der Folge zu weiteren Etikettierungen führen. Gerade wegen der Vielfalt an Fähigkeiten, Motiven, Einstellungen, Emotionen, Handlungsdispositionen jedes Menschen ist ein allein an der jeweiligen zugeschriebenen Behinderungstypologie orientierter Sachunterricht verkürzt begründet. Wir haben somit für die Kategorisierung von Kindern als förderbedürftig im Lernen lediglich institutionelle Merkmale als Indizien. Diese sind aber – zumal es sich hierbei um einen artifiziellen „Sammelbegriff“ handelt – für didaktische Fragen von begrenztem Aussagewert, denn „Kinder mit Lernschwierigkeiten lernen qualitativ nicht anders als ihre Mitschüler“ (Eberwein, 2003, S. 339). Sachunterricht für diese Kinder sollte sich daher nicht über eine Behinderungstypologie, sondern über die Vielfalt der verschiedenen Kinder konstituieren. Nur so kann er kompetenzorientiert entfaltet werden. Des Weiteren ist zu bedenken, dass Kinder des Förderbereichs Lernen gegenwärtig verschiedene Schularten besuchen können. Mehr als 10 % dieser Kinder lernen im Gemeinsamen Unterricht zusammen mit „nichtbehinderten“ Kindern (vgl. Kultusministerkonferenz, 2003). Ein weiterer Teil der Kinder wird mit Kindern der Förderbereiche Sprache sowie Emotionale/Soziale Entwicklung in Förderschulen unterrichtet. Sachunterricht für diese Kinder findet somit in sehr verschiedenen schulischen Organisationsformen statt. Ein Transfer sachunterrichtsdidaktischer Anliegen exklusiv für Kinder des Förderbereichs Lernen ist demnach auch aus pragmatischen Gründen obsolet. Selbst für die „Schule für Lernhilfe“ aber kann davon ausgegangen werden, dass insgesamt keine so einfachen Definitionen und Eingrenzungen der Zielgruppe vorgenommen werden können, wie dies von den inhaltlichen Entscheidungen in Lehrplänen und Richtlinien nahe gelegt wird. In den geltenden Lehrplänen für die Sonderschule werden tendenziell Lerninhalte des Sachunterrichts unter Rekurs auf die Vorstellung von „behinderter“ als „verlangsamter“ Entwicklung im Vergleich zur Grundschule zeitlich gestreckt und inhaltlich reduziert. Einzelne Themenbereiche werden 1-2 Jahre später angesiedelt, andere in den Sekundarbereich verschoben. Dadurch ergibt sich insgesamt eine Reduzierung, Zerstückelung und zeitliche Streckung sachunterrichtlicher Themenfelder. Aufgrund der Vorannahme begrenzter Lernfähigkeiten und verlangsamter Entwicklung
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der Adressatinnen und Adressaten gehen somit thematische Kontexte und Zusammenhänge des Themenkanons verloren (vgl. Seitz, 2004). Die massive Einschränkung der Lernmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler, die sich hieraus ergibt, zeigt sich in der Gegenüberstellung mit neueren Entwicklungstheorien. Diese vertreten eine Vorstellung von domänenspezifischen Fortschritten der kindlichen Lern- und Wissensentwicklung, die mit intra- sowie interpersonellen Dissonanzen und Inkongruenzen verbunden sein können (vgl. Sodian, 1995; Begemann, 1998; Mussen, Conger, Kagan & Huston, 1999). Kindesentwicklung wird dabei als sozialer Prozess betrachtet, der durch biografische Einflussfaktoren, wie Kultur, Milieu und Familie, individuell geprägt ist (vgl. Oerter, 2002; Hildeschmidt & Sander, 2002). Eine strenge Übertragung von spezifischen Entwicklungsschritten auf feste Altersstufen in der Schule ist demnach aus heutiger Sicht generell nicht mehr zulässig. Die Vorstellung, Entwicklung bei „behinderten“ Kindern unterscheide sich vor allem durch eine gleichmäßige Tempoverlangsamung von einer „Normal“-Entwicklung, wie dies in den vertikal strukturierten Richtlinien und Lehrplänen implizit transportiert wird, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr haltbar. Damit ist auch eine hiervon abgeleitete eindimensionale qualitative Ausdünnung und zeitliche Streckung sachunterrichtlicher Lerngegenstände obsolet. Es genügt allerdings ebenso wenig, bezogen auf Kinder des Förderbereichs Lernen auf das Curriculum der Grundschule zurückzugreifen und in diesem gedanklichen Rahmen nach den Reduzierungen zu fragen, die speziell diesen Kindern Lernmöglichkeiten hierzu eröffnen, indem etwa sprachliche Erklärungen vereinfacht werden. Damit werden zwar oberflächlich Zugänge erleichtert, es wird aber nicht didaktisch an die verschiedenen spezifischen inhaltlichen Lernvoraussetzungen und Lebenswelten der Kinder angeknüpft. Vielmehr muss es in einem subjektorientierten Sachunterricht darum gehen, den individuellen lebensweltlich geprägten Zugängen zu einem Lerngegenstand im Unterricht ganz konkret Raum zu geben. Gerade die Kinder des Förderbereichs Lernen, die überproportional häufig aus schwachem sozialen Milieu kommen (vgl. Wocken, 2000), sind darauf angewiesen, dass ihre spezifische Weltsicht und damit ihre Lebenswelt in der Schule Raum erhält. Wenn sich diesen Kindern Schule als Mittelschichts-Institution präsentiert, in denen für ihre lebensweltlichen Erfahrungen kein Platz ist, führt dies zu einer zweiten sozialen Benachteiligung. Erst eine Sachunterrichtsdidaktik, die auf der Vielfalt der individualbiografisch geprägten Perspektiven verschiedener Kinder auf einen Lerninhalt basiert, kann diesen für die Adressatinnen und Adressaten in seinem vollen Reichtum erschließen und zu tiefgehenden Lernprozessen aller Kinder beitragen. Dies kann am ehesten in Formen innerer Differenzierung realisiert werden, bei denen Kinder zu unterschiedlichen Aspekten eines Lerngegenstands oder mit verschiedenen Zugangsweisen arbeiten. In der kommunikativen Aushandlung disparater Sichtweisen auf den Lerngegenstand während des Arbeitsprozesses sowie in der Ergebnisdarstellung erschließt sich für alle Kinder die Vielperspektivität von Lerninhalten. Als eine Umsetzung bietet sich die arbeitsteilige Gruppenarbeit an, bei der verschiedene Ergebnisse präsentiert werden. Solchermaßen offene Unterrichtsformen wurden lange Zeit als Überforderung für Kinder des Förderbereichs Lernen aufgefasst. Inzwischen haben empirische Studien sowie die unterrichtspraktische Erfahrung gezeigt, dass sie in Bezug auf die Motivation wie auch die Lernwirksamkeit sehr wohl von dieser Art zu lernen profitieren können (vgl. Werning, 2002, S. 169). Allerdings darf Offenheit nicht mit Mangel an Struktur verwech-
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| Teil VI: Schule und Unterricht selt werden, bei dem es für alle Kinder schwierig ist, die Orientierung im komplexen Unterrichtsgeschehen zu bewahren (vgl. die Beiträge von Wember und Hartke in diesem Band). Das Problem der Orientierung kann bei Kindern mit Förderbedarf sowohl bei der Wochenplanarbeit wie beim Stationenlernen im Sachunterricht beobachtet werden (vgl. Miller, 2003). Wenn Stationen so aufgebaut sind, dass allein auf die Eigenaktivität der Kinder und die Attraktivität der Materialien gesetzt wird, geraten im Lernen unterprivilegierte Kinder noch mehr ins Hintertreffen. Miller erinnert daran, „dass besonders Kinder aus unterprivilegierten Familien vielfach die Voraussetzung für Eigenmotivation und Kreativität aufgrund des niedrigen Anregungsmilieus und der Bewältigung ihrer Alltagssituation nicht mitbringen“ (Miller, 2003, S. 279). Es scheint so zu sein, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf beim Lernen vor allem mit der Selbstorganisation Probleme haben. Wenn ihnen handlungsorientierte Materialien allerdings in einer kleinen Gruppe angeboten werden, lässt sich beobachten, dass sie diese Materialien anregend finden, sich gern und ausdauernd damit auseinander setzen (Kaiser & Teiwes, 2003). Das heißt, dass die handlungsorientierte Seite von Stationen schon mehr motivierende Impulse zum Lernen gibt, dass aber die organisatorisch offene Form für Kinder mit Förderbedarf ein Problem darstellen kann, das auf die Notwendigkeit einer strukturierten Hinführung zu diesen Arbeitsformen verweist. Die verschiedenen Arbeitsergebnisse oder auch Sichtweisen gilt es anschließend auszutauschen und aufzuarbeiten. Dies kann in einem gemeinsamen Sitzkreis geschehen. Aber auch ein Klassenbriefkasten, die gemeinsame Wandzeitung, ein Ausstellungstisch oder die Stelltafel vor der Klasse sind die Orte der kommunikativen Vermittlung eigener Erkenntnisse und Positionen. So praktiziert, evozieren kommunikative Methoden Perspektiverweiterung, weil verschiedene Positionen klarer sichtbar werden. Ebenso können beispielsweise die verschiedenen Aussagen der Kinder zu einem Problem in der Mitte des Sitzkreises in Form von Karten als Mindmap bzw. Pro-und-Kontra oder – angelehnt an die Strukturlegetechnik in der Forschung – nach Nähe zueinander geordnet werden. Für Kinder mit Lese-Schreibschwierigkeiten können die Aussagen von anderen Kindern als Protokollführenden oder der Lehrperson auf Karten geschrieben werden. Gemeinsam wird dann überlegt, wo die jeweilige Karte zu einer Aussage hingelegt wird. Verschiedene Positionen werden so auch visuell augenfällig. In Lerngruppen, in denen viele Kinder Schwierigkeiten mit dem Erlesen ihrer Aussagen oder Stichworte haben, können unterschiedliche Positionen zu einem Sachverhalt unterstützend von den Kindern selbst im Raum aufgestellt werden. Indem dann die Kinder die Positionen zu einem in der Mitte repräsentierten Thema bzw. konkreten Gegenstand räumlich einnehmen und so ihre Weltsicht darstellen, wird nachvollziehbar, dass verschiedene Positionen im Zusammenhang mit spezifischen Sichtweisen auf den Gegenstand stehen. Wird dann im Ausprobieren die Position getauscht, kann Perspektivenwechsel körperlich-handelnd für die Kinder nachvollziehbar werden. Auch emotionale Anteile des Lernens sollten hier Raum erhalten, indem beispielsweise das Erleben von Kindern, die mit ihrer individuellen Sichtweise isoliert stehen, thematisiert wird. Körperlich handelnde Zugangsweisen, wie sie im Beispiel angesprochen sind, stellen eine Lernform dar, die auf den ersten Blick als didaktische Entsprechung zu dem konkretanschaulichen Denken gesehen werden könnte, das diesen Kindern in defizitorientierten Konzepten zugeschrieben wurde. Ihre Begründung ist allerdings nicht spezifisch „lern-
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behindertenpädagogisch“ gedacht, sondern rekurriert auf eine Sichtweise von Lernen als umfassenden affektlogischen Prozess (vgl. Ciompi, 1997, 2001). In den Lernprozessen aller Kinder sind kognitive und emotionale Anteile untrennbar verschränkt. Affekte direkt zu einem konkreten Lerninhalt, aber auch in den Aushandlungsprozessen, sollten daher nicht nur für Kinder des Förderbereichs Lernen natürlicher Bestandteil des Unterrichts sein und nicht tabuisiert werden. Von einem Unterricht, in dem Emotionen ihren berechtigten Platz haben, profitieren alle Kinder. Schon in der klassischen Reformpädagogik sind die ersten Ansätze der Integration von Handeln und Kognition in der Arbeitspädagogik und von Kognition und Emotion in der Kunsterzieherbewegung (vgl. Kaiser, 2002) entwickelt worden. Freiräume für selbsttätiges Handeln sowie für eigene Gefühle und Wahrnehmungen im Unterricht sind keine spezifisch „sonderpädagogischen“ Herangehensweisen, sondern didaktische Ansätze mit einem umfassenden Anspruch. Der Sachunterricht wird in seinen Ergebnissen intensiver, wenn kognitive, emotionale, körperliche, ethische und soziale Zugangsweisen integriert werden (vgl. Freeß, 2002). Jedes Kind – wenn seine besonderen Lernvoraussetzungen im Unterricht Resonanz finden – trägt mit seiner Besonderheit zum Aspektreichtum von Sachunterricht bei. Prinzipiell ist dies eine Expansion und Dynamisierung von Sachunterricht und keine Reduktion und Verlangsamung. Denn Kinder des Förderbereichs Lernen benötigen keinen ‚besonderen‘ Sachunterricht, sondern einen „besonders guten“ Sachunterricht. Zwar ist der Weg hin zu einem Sachunterricht der Vielfalt noch weit, aber erste Schritte sind sichtbar in Ansätzen vielperspektivischen (Köhnlein, Marquardt-Mau & Schreier, 1999) bzw. kommunikativhandlungsorientierten Sachunterrichts (Kaiser, 2000b, c).
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26.2 Naturkunde und Biologie Marcus Schrenk In Berck und Grafs (2003) Wörterbuch „Biologiedidaktik von A bis Z“ findet sich unter dem Schlagwort Schule für Lernhilfe: „Auch Bezeichnung Förderschule ... Schule für Lernbehinderte ... in Biologiedidaktik und Biologieunterricht oft vernachlässigt, obwohl für diese Schüler biologische Inhalte besonders bedeutsam (Gesundheits-, Sexualerziehung; Lebewesen zur Freizeitgestaltung, auch Therapie)“ (S. 81).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Es stellt sich die Frage, welche Ursachen die hier bemängelte und auch vom Autor beobachtete Vernachlässigung dieser Schülerschaft von Seiten der Biologiedidaktik als auch von biologischen Themen und Inhalten in dieser Schulart haben könnte. 26.2.1 Lernbehindertenpädagogik und Biologie – ein problematisches Verhältnis Eine Ursache könnte sich aus der Diskussion um das Entstehen von Lernbehinderung ergeben. Der Biologie ist eine Nähe zur Medizin nicht abzusprechen. Damit könnte Biologie ganz allgemein auch verbunden werden mit Erklärungsansätzen von Lernbehinderung im Rahmen körperlicher – manchmal auch genetisch festgelegter – Defizite im Bereich des Gehirns (z. B. MCD). Solche „Medizinischen Modelle“ (vgl. Strobel und Warnke in diesem Band), die häufig mit einer „prinzipiellen Unabänderbarkeit der Behinderung“ (Schröder, 2000, S. 162) verbunden werden, erfreuen sich bei vielen Behindertenpädagogen, die Lernbehinderung vielmehr als Folge soziokultureller Deprivation verstehen, offenkundig nicht großer Beliebtheit. Auf wenig Gegenliebe könnten bei Behindertenpädagogen Aspekte der Evolutionstheorie nach Charles Darwin stoßen. Die Entstehung der Arten und damit auch des Menschen als Folge eines Selektionsprozesses, bei dem permanent ausgerechnet kranke, schwache und behinderte Individuen selektiert wurden und keine Überlebenschancen hatten, ist ein Paradigma, das nicht nur Behindertenpädagogen Unbehagen bereiten kann. Eine unreflektierte eindimensionale Übertragung auf menschliche Gesellschaften (naturalistischer Fehlschluss) würde soziale Ungerechtigkeiten auf Kosten behinderter Menschen begründen und kann letzten Endes sogar zu Euthanasie führen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Diskussion um pränatale Diagnostik hingewiesen. Auch hier sind es Erkenntnisse einer Teildisziplin der Biologie, nämlich der molekularen Genetik, deren Anwendung gerade aus den Reihen der Behindertenpädagogik sehr kritisch gesehen wird. All dies sind natürlich rational betrachtet keinerlei Gründe, biologische Themen in der Schule für Lernbehinderte nicht aufzugreifen. Aber vielleicht verursachen sie eben doch so etwas wie latente Vorbehalte. Warum nun Biologiedidaktiker ihrerseits Schülerinnen und Schüler, die zum Personenkreis der Lernbehinderten gehören, meist wenig Beachtung schenken, könnte in den antizipierten geringen kognitiven Fähigkeiten von Lernbehinderten begründet liegen. Piaget (1988) beispielsweise untersuchte, wie Kinder verschiedener Altersstufen Lebewesen definieren. Er kam zu dem Ergebnis, dass Kinder frühestens mit 11 Jahren (auf der Stufe der formalen Operationen also der höchsten Stufe kognitiver Entwicklungsstadien) die Eigenschaft „lebendig“ Tieren und Pflanzen vorbehalten. „Nach Forschungen der Piagetschen Schule ... erreichen ... ein Großteil der Lernbehinderten innerhalb der Entwicklungsstadien der Intelligenz nur das zweithöchste Niveau“ (Schröder, 2000, S. 128). Es ist nicht auszuschließen, dass ein „richtiger Biologieunterricht“ deshalb bei Lernbehinderten für kaum umsetzbar gehalten wurde und man daher das Konzept der Naturkunde für angemessener hielt. Naturkunde als Unterrichtsfach im Rahmen der volkstümlichen Bildung zeichnete sich vor allem durch eine Betonung von affektiven und konativen Lernzielen wie ehrfürchtige Bewunderung, ästhetisches Wohlgefallen,
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pflegerische Liebe, Geduld, Ausdauer und Beobachtungsgabe aus. Ökologische Themen, Sexualerziehung, Evolutionsbiologie oder Genetik fanden kaum Beachtung. Im Rahmen des Ersatzes der volkstümlichen Bildung durch die wissenschaftsorientierten Curricula der 70er Jahre fanden affektive Lernziele kaum Beachtung. Im Gegenteil, die Orientierung an dem naturwissenschaftlichen Paradigma der Biologie erforderte eine objektivierende Emotionen außen vor lassende Behandlung biologischer Themen. Ein derartig stark von der Sache und nicht vom Schüler aus orientierter Zugang ist bei Lernbehinderten wenig erfolgreich. 26.2.2 Ergebnisse empirischer Forschung Die Bedeutung des Phasenmodells von Piaget für die Didaktik wurde aber lange Zeit sicherlich überschätzt. Es beschreibt die Entwicklung allgemeiner Denkstrukturen. Forschungen basierend auf dem Paradigma des „Conceptual Change“ haben gezeigt, dass es aus didaktischer Sicht sinnvoller ist, sich auf bereichsspezifische Wissensentwicklungen zu konzentrieren (vgl. Einsiedler, 1997). Susan Carey (1985) stellte Untersuchungen über die kognitive Konzeptualisierung von Begriffen wie Tier, Pflanze und Lebewesen bei Kindern im Grundschulalter an. Danach unterscheiden fast alle Kinder ab etwa zehn Jahren sicher zwischen Lebewesen und physikalischen Objekten. Der Weg dorthin führt nach ihren Experimenten und Untersuchungsergebnissen aber weniger über qualitative Sprünge in den Denkstrukturen sondern mehr durch Transformation vorhandener Wissensstrukturen. (vgl. Schrenk, 1997, S. 196) Ob und wann nun Schülerinnen und Schüler ein wissenschaftsnahes Konzept von Lebewesen entwickeln, hängt nach Carey vor allem von dem bereichsspezifischen Wissen, den Beobachtungen und Erfahrungen ab. Es ist wichtig, dass in großem Umfang typische Lebensvorgänge wie Stoffwechselaktivitäten, Wachstum, Entwicklung und Vermehrung beobachtet wurden. In aktuellen naturwissenschaftlich-didaktischen Konzeptionen werden daher emotionale Aspekte des Lernens stärker berücksichtigt. Im Rahmen so genannter „heißer“ konstruktivistischer Theorien wird Lernen nicht mehr nur als kalte Kognition – „cold cognition“ (Pintrich, Marx & Boyle, 1993) – verstanden. Neben kognitiven wird auch situativen und emotionalen Aspekten eine große Bedeutung eingeräumt. Pekrun (1992, 1998) betont, dass im Zusammenhang von Lern- und Leistungserfolgen auch sehr häufig über positive Emotionen berichtet wird. Er bedauert, dass mit Ausnahme der Prüfungsangst Emotionen bisher zu selten Gegenstand der empirischen Lehr-Lernforschung waren. Nach seiner Auffassung haben die Emotionen Angst, Ärger und Langeweile eine desaktivierende Wirkung, während sich Freude positiv auf die Motivation auswirkt. Pintrich et al. (1993) unterteilen Faktoren, die einen Einfluss auf das Lernen haben, in drei Dimensionen: – Kognition: Vorwissen, Interesse, Selbstkonzept und Lernstrategien, – Affekte: Selbstkonzept, Emotionen, Motivation, Interesse und Überzeugungen, – Soziales: Lehrperson, Mitschüler, Elternhaus.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die Autoren stellen Interesse als emotional-kognitives Konstrukt in den Vordergrund. Die emotionalen Aspekte ergeben sich aus den positiven Gefühlen, die sich beim Umgang mit interessierenden Objekten einstellen. Löwe (1987, 1992) untersuchte das Interesse an Biologie und Biologieunterricht von Schülerinnen und Schülern verschiedener Klassenstufen aus Grund- und Realschulen. Neben einem deutlichen Interessenverfall am Biologieunterricht ab der Klasse 5 konnten aber auch deutliche Veränderungen im Interesse an unterschiedlichen biologischen Teilgebieten festgestellt werden. So sinkt ab der 5. Klassenstufe das Interesse an zoologischen und botanischen Themen. Das Interesse an humanbiologischen Themen und Umweltfragen wächst jedoch. Auch Schrenk (1994) konnte im Rahmen einer empirischen Untersuchung zum Umweltbewusstsein lernbehinderter Schülerinnen und Schüler der 9. Klassenstufe eine hohe Lernmotivation bezüglich Umweltthemen feststellen. Löwe (1987) fordert unter anderem einen deutlicheren Selbst- und Lebensbezug des Biologieunterrichts in der 5.–10. Klassenstufe. Noll (1984) berücksichtigte bei seiner Befragung (unter anderen auch 1040 Schülerinnen und Schüler der Hauptschule der 5.–10. Klassenstufe) auch methodische Aspekte des Biologieunterrichts. Mikroskopieren, Experimentieren, Tierbeobachtung und das Betrachten von Filmen wurden von Schülerinnen und Schülern aller befragten Altersgruppen besonders positiv bewertet. Kögel, Regel, Gelhaar und Kleppel (2000) kamen unter zusätzlicher Berücksichtigung von Exkursionen zu einem ähnlichen Ergebnis. Zusammenfassend lässt sich vor allem für die Klassenstufen 5 und höher festhalten, dass Biologieunterricht dann erfolgreich ist, wenn er solche Themen aufgreift bzw. die Themen so aufbereitet, dass die Schülerinnen und Schüler ihnen eine subjektive Bedeutung beimessen. Typische biologische Arbeitsweisen und Lernformen wie Exkursionen, Lebendbeobachtungen, Mikroskopieren, Experimentieren und Einsatz visueller Medien sind beliebt. 26.2.3 Zur Bedeutung von Natur und Naturerfahrungen Erklärt man Lernbehinderung vor allem durch Defizite in der familiären und schulischen Sozialisation, fokussiert man folgerichtig auch schulische und therapeutische Interventionen auf den zwischenmenschlichen Bereich. Dies könnte aber – wenn auch nicht gewollt – eine Vernachlässigung der nichtmenschlichen Umwelt und damit auch vieler biologischer Themen nach sich ziehen. Von Vertretern der ökologischen Psychologie (z. B. Fischer, Bell & Baum, 1984; Gifford, 1987) wird die Zweidimensionalität von vielen psychologischen Persönlichkeitsmodellen kritisiert. Unter Zweidimensionalität ist in diesem Zusammenhang die ausschließliche Beachtung des Einflusses der menschlichen Umwelt bei der psychischen Entwicklung gemeint. Die Persönlichkeit eines Menschen wird fast nur von Ausmaß und Qualität seiner sozialen Kontakte abhängig gemacht. Die ökologische Psychologie geht hingegen von einem dreidimensionalen Persönlichkeitsmodell aus und untersucht die Wechselbeziehungen von Menschen zu ihrer sozialen und physischen Umwelt. Darunter wird nicht nur die natürliche Umwelt, sondern auch vom Menschen arrangierte Landschaften, die gebaute Umwelt und physikalisch-atmo-
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sphärische Aspekte wie Licht und Witterung verstanden. „Nun leben die Menschen aber nicht allein auf der Welt. Sie leben vielmehr in einer Welt, in der es weitaus mehr nichtmenschliche „Objekte“ gibt als menschliche. Mehr noch: Der Mensch ist als Teil und gegenüber der Natur ... untrennbar mit all diesen nichtmenschlichen Objekten verbunden“ (Gebhard, 1994, S. 15). Edward Wilson, der Begründer der Soziobiologie, entwickelte in diesem Zusammenhang die Biophilie-Hypothese (Kellert & Wilson, 1993). Danach hat jeder Mensch ein Bedürfnis nach Nähe zu Tieren, Pflanzen und Natur ganz allgemein. Langenheine und Lehmann (1986) stellen nach einer umfassenden Durchsicht bisher verwendeter Skalen zur Erfassung von Umweltdispositionen fest: „Uns hat allerdings erstaunt, dass keines dieser Instrumente so etwas wie die psychischen Folgen der Zerstörung naturnaher Umwelten – etwa in Analogie zu den psychischen Folgen sozialer Deprivation – erfasst ... Und das angesichts ungezählter Hinweise dafür, dass bei den meisten Menschen eine starke Beziehung zu Pflanzen, Tieren, Landschaften, naturnahen Kulturphänomenen oder ihren verschiedenen Abbildungen und Darstellungen beobachtet werden kann“ (S. 23). Schrenk (1994) schreibt hierzu: Es soll hier auch nicht so weit gegangen werden, multiple Verursachungsmodelle von Lernbehinderung um einen ökologischen Faktor zu erweitern (also z. B. Lernbehinderung als soziokulturell-, somatisch-, schulstruktur- und ökologisch bedingtes Syndrom) aber es ist vertretbar zu behaupten, dass natürliche Umwelt als Spiel und Erfahrungsraum für Kinder einen positiven Einfluss auf die psychische Entwicklung haben kann. Beim Bau eines Baumhauses oder einer Hütte, beim Fangen eines Froschs, beim Umgang mit Haustieren oder dem Aufstauen eines Bachs haben Kinder die Möglichkeit zu untersuchen und zu experimentieren. Sie benötigen dabei alle Sinne, Motorik und Verstand. Wenn ich hingegen die Möglichkeiten meiner Schüler aus der Großstadt betrachte, so gibt es fast ausschließlich stark frequentierte Straßen, zugeparkte Gehwege und einen kleinen umzäunten Spielplatz mit fest installierten, nicht modifizierbaren Geräten. (S. 26) Die Bedeutung von Naturerfahrungen für die psychische Entwicklung wird auch von Göpfert (1988) und Fischerlehner, Seel & Sichler (1993) hervorgehoben. Bögeholz (1999) und Lude (2001) untersuchten unter biologiedidaktischem Aspekt die Bedeutung von Naturerfahrungen. Sie konnten feststellen, dass der Einfluss von Naturerfahrungen auf das Umwelthandeln stärker als das umweltbezogene Wissen ist und dass Kinder und Jugendliche Natur- und Umweltschutz primär biozentrisch begründen. Mit Cornells Buch „Mit Kindern die Natur erleben“ (1979) kam in Deutschland eine regelrechte „Naturerlebniswelle“ auf, welche sich in Form der „Erlebnispädagogik“ auch auf Bereiche der Erwachsenenbildung und Sozialarbeit ausdehnte. Mittlerweile liegt eine große Anzahl von konzeptioneller und praktisch-anleitender Literatur zum Naturerleben vor (Göpfert, 1988; Hungerford & Volk, 1990; Dietzen & Thiele, 1993; Kersberg & Lackmann, 1994; Maaßen, 1994; Trommer, Kretschmer & Prasse, 1995). Einen sehr speziellen und für die Pädagogik der Lernbehinderten sehr fruchtbaren Ansatz hat Schüler (1999) mit seinen „Draußentagen“ entwickelt. Dieser Ansatz ist kein biologiedidaktisches Konzept und lässt sich eher der Erlebnispädagogik zuordnen. Im Zentrum steht der subjektive Zugang der Kinder zur Natur. Die Rolle der Lehrerin/des
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| Teil VI: Schule und Unterricht Lehrers besteht höchstens darin, den Kindern kleine Impulse und wenige Materialien zur Verfügung zu stellen, mit denen die Kinder entweder ganz für sich oder mit anderen Aktivitäten ausprobieren bzw. entwickeln. Dies kann und darf auch klettern, schnitzen oder barfuß einen Bach entlang waten sein. Im Vordergrund steht also die ungelenkte Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler. Draußentage kontrastieren ganz bewusst zu normalem Unterricht in der Schule. Der Mittwoch soll jeweils ein Schultag sein, an dem nicht geschrieben, gerechnet, gelesen etc. wird. Er dient dazu, die Kraft und Ausdauer zu entwickeln, die notwendig ist, um an den anderen Wochentagen konzentriert im Unterricht mit zu arbeiten. Vor allem im Hinblick auf das Arbeiten in Ganztagesschulen ist es nach Schüler unerlässlich, den Kindern eigene, nicht fremdbestimmte und -organisierte Naturerfahrungen zu ermöglichen. Im Fokus des Konzepts der Draußentage steht die kontinuierliche emotionale Bindung an die Natur. Draußentage sind Umwelterziehung anderer Art. Sie treten keine Lawinen los; ihre Wirkung geht nach innen. Das eine ist nicht unversöhnlich mit dem anderen, aber zu bedenken ist, dass im Lärm der auf Aktion getrimmten Umweltprojekte keine Umwelterfahrung im eigentlichen Sinne möglich wird. Und dass das Engagement für die Natur mit einer tiefgreifenden Beziehung zur Natur verbunden sein muss, die weniger aus dem spektakulären, sich in Zeitungsartikeln niederschlagenden Handeln als aus dem kontinuierlichen, sich in Kinderseelen ablagernden Erleben erwächst. (Schüler, 1999, S. 139) Ein theoretischer Ansatz, in welchem Naturerfahrungen in engen Zusammenhang mit emotionalen Intentionen gestellt wird, ist auch Noddings „chalenge to care in schools“ (1992). Sie kritisiert, dass die Schülerinnen und Schüler von Seiten der Schule und des Elternhauses zu sehr nach ihren intellektuellen Fähigkeiten bewertet werden. „A child’s place in our hearts and lives should not depend on his or her academic prowess” (Noddings, 1992, S. 12). Sie argumentiert, dass die gesellschaftliche Situation eine besonders fürsorgliche Haltung von Seiten der Lehrenden gegenüber den Schülerinnen und Schülern erfordert. Dabei sollten vor allem die grundlegenden Anliegen der Kinder berücksichtigt werden. Grundlegend sind für sie anlehnend an Martin Heidegger existentielle Lebensfragen. In der Schule sollten Vertrauen und Fürsorglichkeit eine Basis und einen Gegenpol gegenüber der Gleichgültigkeit bilden, die Kinder häufig außerhalb der Schule erfahren. Naturerfahrungen werden in diesem Ansatz explizit als wesentlicher Bestandteil einer Erziehung zu Moral, positiver Lebenseinstellung und Achtsamkeit gegenüber sich selbst, anderen, Pflanzen, Tieren, der natürlichen und gebauten Umwelt gesehen. Ähnlich wie bei Henning Schülers Konzept der Draußentage sind für sie die Erfahrung von Natur (und Fürsorge) unabdingbare Voraussetzung für intellektuelle Bildung. 26.2.4 Pädagogische und therapeutische Aspekte der Tierhaltung Fürsorglichkeit und Naturnähe lassen sich auch gut im sinnvoll angeleiteten Umgang mit Tieren erfahren. Gebhard (1994) stellt eine sehr umfangreiche Sammlung von theoretischen Ansätzen und empirischen Befunden vor, die die Bedeutung vom Kontakt mit Tieren für die emotionale Entwicklung unterstreichen. Im Umgang mit Haustieren erwer-
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ben Kinder auch soziale Fähigkeiten, da sie Empathie und die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation z. B. mittels mimischen Dechiffrierens erlernen (S. 103). Greiffenhagen (1991) betont in ihrem Buch „Tiere als Therapie“ unter Berufung auf Quellen vorwiegend aus den USA die Bedeutung von Tierhaltung und Tierkontakten für die emotionale, aber auch kognitive Entwicklung von Lernbehinderten. Aus ihren Erfahrungen im Rahmen eines Projektes an einer Grundschule in einem sozialen Brennpunkt, bei welchem Hühnereier ausgebrütet und die Küken betreut wurden, berichten Gern und Schrenk (1998) über einen der beteiligten Schüler: Omar lebt nach schlimmen familiären Erlebnissen bei seiner alleinerziehenden Mutter. Er ist häufig geistesabwesend, teilnahmslos, zeigt wenig Interesse gegenüber dem Unterrichtsgeschehen und lässt sich leicht ablenken. Außerdem ordnet er sich nur schwer in die Klassengemeinschaft ein und verhält sich anderen gegenüber oft distanzlos und aufdringlich. Umso mehr erstaunte er uns durch seinen vorsichtigen, mitfühlenden Umgang mit den Küken. Dadurch, dass sie bei Anwesenheit von Menschen ruhiger wurden und sich sichtlich wohler und sicherer fühlten, gaben sie ihm das Gefühl, akzeptiert, gebraucht und gemocht zu werden. Er wurde dadurch auch viel offener gegenüber seinen Mitmenschen. Omar wurde sichtbar kooperativer, und er konnte erstmals über seine Einstellungen und Bedürfnisse reden. In dem Ausmaß, in dem sich Omar seinen Aufgaben und Pflichten gegenüber den Küken widmete, wuchsen bei ihm Lernmotivation, Einsatzbereitschaft, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Aufmerksamkeit. Er zeigte sich gegenüber den ihm anvertrauten Lebewesen beschützend und äußerst verantwortungsvoll. Er entwickelte empathische Fähigkeiten („Sind die Küken nicht einsam ohne Mama? Wie fühlen sich die kranken Küken? Tut ihnen etwas weh?“). Seine kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten wurden durch den Umgang mit den winzigen und empfindlichen Tieren gefördert. Auch zeigte er erstmals die Fähigkeit und Bereitschaft zur eigenständigen Informationsbeschaffung (Büchertisch, Bibliothek, Mitschüler). Omars Mutter berichtete, dass ihr Sohn zu Hause nie etwas über die Schule berichtet hatte, aber von den Küken ständig sprach. Zwar waren uns aus der Literatur all die möglichen positiven Aspekte von Tierhaltung für Kinder bekannt, wir hätten aber nie damit gerechnet, dies in so kurzer Zeit so eindringlich und offensichtlich beobachten zu können. Nicht alle Schülerinnen und Schüler zeigten in diesem Ausmaß positive Veränderungen im Rahmen dieses Projekts, insgesamt wandelte sich aber das Klima innerhalb der Klasse deutlich und dauerhaft. (S. 13) Scheytt (2002) berichtet in einem Beitrag in der Zeit mit dem Titel „Hilfslehrer Hund“ über die positiven Erfahrungen, die ein Hauptschullehrer in Südbaden gemacht hat. Er nahm in den Unterricht in eine sehr problematische Oberstufenklasse seine zwei Labradorhunde mit. Die Anwesenheit der Hunde hatte einen sehr positiven Einfluss auf das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler. Kurt Kotrschal (2001), Direktor der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im österreichischen Grünau, konnte im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie ähnliches nachweisen. In einer Wiener Volksschulklasse filmte Kotrschal vier Wochen ohne Hund und vier Wochen mit Hund. Vor allem bei Jungen konnte er ein homogeneres und ausgeglicheneres Sozialverhalten untereinander beobachten. Selbstverständlich ist es mit der bloßen Anwesenheit eines Hundes oder
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| Teil VI: Schule und Unterricht anderen Tieres im Klassenzimmer nicht getan. Es bedarf der gemeinsamen Zielsetzung, das anvertraute Tier gut zu versorgen und dies auch sinnvoll umzusetzen. 26.2.5 Von Naturerfahrungen zur Bildung für Nachhaltigkeit Einen guten Ansatz, die positiven emotionalen Effekte, die sich durch Naturerfahrungen oder Tierhaltung einstellen, für kognitive Ziele zu nutzen und weiter zu führen, stellt beispielsweise Winkels (1995) Konzept des „Pflegerischen“ dar. Er verbindet affektive, ästhetische, soziale und naturwissenschaftliche Lernziele in einem ganzheitlichen Ansatz. Die Schulgartenarbeit stellt für ihn in diesem Zusammenhang ein wichtiges Erfahrungsfeld dar. Schrenk (1991, 1993) stellt Projekte vor, bei welchen er mit Schülerinnen und Schülern einer städtischen Förderschule Schulgartenarbeit mit Umweltbildung verknüpfte. Aus Sicht der Lernbehindertenpädagogik ist interessant, dass Umweltbildung heute untrennbar mit dem Paradigma der Nachhaltigkeit verbunden ist (vgl. Hellberg-Rode, 2001), welches ausdrücklich die Lösung ökologischer Probleme mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. Als Schrenk (1994) Lehrerinnen und Lehrer an Förderschulen Baden-Württembergs zum Umweltbewusstsein ihrer Schülerinnen und Schüler befragte, fand er auf einem Fragebogen die Äußerung „Lernbehinderte Kinder haben drängendere Probleme“ vor (S. 22). Er listet dann medizinische Befunde zu den Auswirkungen von Umweltgiften und Lärm (S. 26 ff.) auf, zu denen auch Lernschwierigkeiten und Verhaltensprobleme gehören, wie sie häufig unter der Schülerschaft der Lernbehinderten anzutreffen sind. Auf die Bedeutung von Naturerfahrungen für die psychische Entwicklung wurde zuvor schon eindringlich hingewiesen. Die Bereiche Umwelt und Ernährung stehen in einem sehr bedeutungsvollen Wechselwirkungsverhältnis zur Lernbehindertenpädagogik. Ganz bestimmt haben lernbehinderte Kinder und Jugendliche andere Sorgen als jeden gebrauchten Teebeutel in den richtigen Abfallbehälter zu sortieren oder ob man den Salat besser aus „demeter“- oder „Biolandanbau“ kauft. Aber eine solch verkürzte Sichtweise der didaktischen Dimensionen von Umwelt- oder Ernährungserziehung verstellt den Blick auf die umfassende Lebensbedeutsamkeit dieser Themen auch und gerade für Lernbehinderte. Achtsamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper, der sozialen, natürlichen und gebauten Umwelt ist ohne Zweifel gerade an Schulen für Lernbehinderte ein grundlegendes und bedeutendes Bildungsziel. Lernbehindertenpädagogik und Biologiedidaktik können und sollten deshalb mehr als bisher von einander lernen und gemeinsam sicherlich auch viel erreichen.
Literatur Berck, K.-H. & Graf, D. (2003). Biologiedidaktik von A bis Z Wörterbuch mit 1000 Begriffen. Wiebelsheim: Quelle & Meier Verlag. Bögeholz, S. (1999). Qualitäten primärer Naturerfahrung und ihr Zusammenhang mit Umweltwissen und Umwelthandeln. Opladen: Leske und Budrich. Carey, S. (1985). Conceptual change in childhood. Boston: The Massachusetts Institute of Technology.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Scheytt, S. (2002). Hilfslehrer Hund. Die Zeit, 24. Verfügbar unter: http://www.zeit.de/archiv/2002/24/200224_p-schulhund.xml [08.09.2004]. Schrenk, M. (1991). Unternehmen Marderburg. In Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart (Hrsg.), Umweltschule 1 – Lernen in und an der Umwelt (S. 55-59). Stuttgart: Kurz. Schrenk, M. (1993). Bau einer Modellkläranlage mit Wurzelraumentsorgung. In Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart (Hrsg.), Umweltschule 3 – Projekte und Aktionen (S. 15-20). Stuttgart: Kurz. Schrenk, M. (1994). Umwelterziehung an der Förderschule. Kiel: IPN. Schrenk, M. (1997). Zum Stand der naturwissenschaftlichen Elementarbildung. In R. Meier, H. Unglaube & G. Faust-Siehl (Hrsg.), Sachunterricht (S. 194-203). Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule. Schröder, U. (2000). Lernbehindertenpädagogik: Grundlagen und Perspektiven sonderpädagogischer Lernhilfe. Stuttgart: Kohlhammer. Schüler, H. (1999). Umwelterziehung als Draußentage. In H. Baier, H. Gärtner, B. MarquardtMau & H. Schreier (Hrsg.), Umwelt, Mitwelt, Lebenswelt im Sachunterricht (S. 129-140). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Trommer, G., Kretschmer, S. & Prasse, W. (1995). Natur wahrnehmen mit der Rucksackschule. Braunschweig: Westermann-Verlag. Winkel, G. (1995). Umwelt und Bildung: Denk- und Praxisanregungen für eine ganzheitliche Natur- und Umwelterziehung. Seelze: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung.
26.3 Technikunterricht Stephan Raimer Der Beitrag des Faches Technik zum Bildungsauftrag in allgemeinbildenden Schulen wird in den einzelnen Bundesländern und Schulformen unterschiedlich aufgefasst und bewertet. So wird beispielsweise der unterrichtliche Umgang mit technischen Sachverhalten und Handlungsweisen von den Standpunkten des künstlerischen Werkens, der Arbeitslehre, der Polytechnik oder sogar vom verkleinerten Gesichtsfeld naturwissenschaftlich-funktionaler Aspekte betrachtet (vgl. Henseler, Höpken & Reich, 1998; Graube & Theuerkauf, 2002). Nicht zuletzt wird dies durch die Anzahl der Bezeichnungen für ein Unterrichtsfach deutlich, etwa Technologie, Werkunterricht, Arbeitslehre, Polytechnik, Technikunterricht, Arbeit-Wirtschaft-Technik usw. Hinzu kommt, dass für den Technikunterricht an Schulen für Lernbehinderte – häufig entsprechend differenzierte Rahmenrichtlinien fehlen; – nur wenige schulformbezogene Unterrichtsmaterialien verfügbar sind; – die notwendige Einrichtung und Ausstattung unzureichend ist oder ganz fehlt; – nicht genügend ausgebildete Lehrer für den Technikunterricht verfügbar sind (vgl. auch Linke, 1985, S. 382). Gleichwohl herrscht Konsens über die grundlegende Relevanz des Gegenstandsbereiches für die Erschließung der Lebenswirklichkeit. In einer von Technik geprägten Gesellschaft, in der Technik gleichzeitig wesentlicher Bestandteil der Kultur ist, darf
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die Auseinandersetzung mit der Technik nicht fehlen – die Entscheidung, welchen Anteil diese an einer Allgemeinbildung haben und in welchem Rahmen diese realisiert werden soll, ist letztendlich aber weltanschaulich-politischer Natur (vgl. Winters, 2000, S. 16). Die Verbindungspunkte zwischen Technikdidaktik und Sonderpädagogik bzw. Förderschulbereich sind dabei vor allem durch Arbeiten von Duismann (1991, 1993) und Vetter (1983) hergestellt worden (vgl. auch Winters, 2000, S. 12), dies vor allem für die Konzeption Arbeitslehre (s. u.). Allgemein haben technische Vermittlungsprozesse (kritische) technische Handlungskompetenz als abstraktes Bildungsziel, „die zur Bewältigung von technikgeprägten Lebenssituationen befähigen soll“ (Linke, 1985, S. 382) – dies gilt analog für Förderschulen wie auch allgemeinbildende Schulen. Somit existiert keine „sonderschulspezifische bzw. sonderschulgemäße Technik“, sondern vor allem spezifische Vermittlungsprozesse und Zugangsweisen (vgl. Linke, 1985, S. 383). In der weiteren Betrachtung sollen zugrunde gelegter Technikbegriff und Technikverständnis, historische Bezüge, Ansätze der Fachdidaktik und praxisrelevante Befunde dargestellt werden. 26.3.1 Technikbegriff und Technikverständnis Der Gegenstandsbereich Technik erschließt sich durch seine nachfolgend aufgeführten Merkmale. Technik – ist die zweck- und zielorientierte Veränderung der Umwelt mit materiellen Mitteln; – stellt die Gesamtheit der Verfahren dar, die unter Ausnutzung von Naturgesetzmäßigkeiten und Erfahrungswissen zur Umwandlung von Stoff, Umformung von Energie und Verarbeitung von Informationen eingesetzt werden; – muss stets in Zusammenhang mit aufzuwendender menschlicher Arbeit gesehen werden; – ist nicht wertneutral, wird gesellschaftsbezogen bewertet; – realisiert sich in der Herstellung technischer Produkte und in dem Betrieb technischer Einrichtungen; – hat als grundlegenden Bedeutungsinhalt die Prozessorientierung; – beinhaltet als zentrale Denk- und Handlungsweise des Menschen die Überwindung der Barrieren vom unerwünschten zum erwünschten Zustand – die systemtechnische Optimierung von Problemlösungen (Burgmer, 1985, S. 9 f.). Ein wissenschaftsorientiertes Technikverständnis muss darüber hinaus auch die Wechselbeziehungen zu den Naturwissenschaften sowie zur Gesellschaft offen legen. Die Abbildung 1 zeigt die Inhalte und Strukturen des Denkens und Handelns in den Existenzräumen „Gesellschaft“, „Natur“ und „Technik“ (Burgmer, 1999). Im Bereich Gesellschaft werden durch Reflexion Vorstellungen und Normen entwickelt, die schließlich zur Definition eines materiellen und energetischen Bedarfs führen. Zusätzlich werden Vorgaben in Bezug auf die Zielsetzungen menschlichen Denkens beim Gebrauch von Systemen, Prozessen und Produkten entwickelt. Der Bedarf kann unter Beachtung dieser Vorgaben durch technisches Handeln gedeckt werden, welches sich durch die
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| Teil VI: Schule und Unterricht
Gesellschaft
Reflexion menschlicher Existenz und
Entwicklung von
Technik Bereiche des Denkens und Handelns
Bedarfsfeststellung
Zielsetzung zur Deckung des Bedarfs an Systemen, Prozessen und Produkten Planung
Vorstellungen und Normen aus den Bereichen – Soziologie – Recht – Kommunikation – Wirtschaft – Natur/Ökologie – Sicherheit – Philosophie – Religion – Ethik – Ästhetik u.a.
Natur
Phänomenbeobachtung
Theorie
Hypothese
Entwicklung Herstellung Betrieb/Nutzung
Experiment
Beseitigung/ Wiederverwertung Bewertung/ Optimierung
Verifizierung von Ursache-WirkungsZusammenhängen
Abbildung 1: Technik als Wirklichkeitsbereich zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur (Schüler, 1994)
dargestellten kennzeichnenden Phasen strukturiert. Abschließend werden die gefundenen technischen Problemlösungen zur Bedarfsdeckung bewertet und ggf. optimiert. Die technischen Problemlösungen stellen ein räumlich und zeitlich begrenztes Optimum dar, während der gesamten Nutzungsdauer werden durch veränderte Zielsetzungen, Eingangsgrößen oder Zustände technische Systeme neu bewertet. Durch Rückkoppelungseffekte werden wiederum gesellschaftliche Normen und Vorstellungen überprüft und weiterentwickelt. Erkenntnisse aus dem naturwissenschaftlichen Bereich über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge liefern die Randbedingungen oder auch Zielmarkierungen für erreichbare Effekte und Wirkungsgrade von technischen Systemen. In dieser Darstellung wird auch deutlich, dass der Bereich Technik eigenständig und nicht als bloße „angewandte Naturwissenschaft“ betrachtet werden kann. Gegebenenfalls können hier Bewertungen von technischen Problemlösungen zu Rückkoppelungen führen, damit bisher unerklärte oder unbekannte natürliche Phänomene untersucht werden. Insgesamt wird deutlich, dass
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 713
„weder die Ausgangsproblematik noch Zielsetzungen, Inhalte, Methoden, Mittel und Ergebnisse des Denkens und Handelns in der Technik mit denjenigen in den Bereichen „Gesellschaft“ und „Natur“ identisch sind“ (Burgmer, 1999, S. 11). 26.3.2 Technikunterricht: Historischer Rückblick Ursprünge für technische Bildung lassen sich im Wesentlichen auf die Formen handwerklicher Berufsausbildung und auf Vorstellungen von „Industrieschulen“ zurückführen (vgl. Schmayl & Wilkenning, 1995; Klemm, 1999). Vorformen der „Industrieschulen“ (lat. industria = Fleiß) findet man in Westeuropa schon im 16./17. Jahrhundert im Bereich der Kinderfürsorge. Maßgeblicher Vertreter dieser Bewegung ist der Pietist A. H. Francke, der 1695 eine Armenschule in Halle gründete (30 Jahre nach ihrer Gründung wurden in den „Franke’schen Anstalten“ bereits 2200 Kinder von 167 Lehrern unterrichtet.). Industrieschulen im Zeitalter der Aufklärung hatten zum Ziel Kinder in Arbeit und Handwerk einzuführen. Wichtige Wegbereiter waren die Gebrüder Wagemann, die 1784 in Göttingen die erste Industrieschule gründeten. Die veränderten Wirtschafts- und Produktionsverhältnisse erforderten diese Industriebildung als Erweiterung dessen, was bisher durch Familie und Werkstatt geleistet wurde. Das Konzept der Industrieschule sah einen Wechsel zwischen Lehr- und Arbeitsstunden vor und strebte damit eine Einheit zwischen Bildung und Arbeit an; die Praxis des Arbeitsunterrichts blieb auf die Vermittlung mechanischer Fertigkeiten beschränkt, die für die heimische Wirtschaft von Bedeutung waren. Unter dem Einfluss neuhumanistischer Bildungsauffassungen wurde die unmissverständliche Trennung von Ausbildung und Bildung gefordert, die Notwendigkeit einer technischen Grundbildung negiert. Werktätiger Unterricht wurde in seinem pädagogischen Nutzen reduziert als „Fundament der Erkenntnis“ (Fröbel, 1826; Georgens, 1856) oder als „Mittel der Veranschaulichung“ (Ziller, 1856; Barth 1873) und wurde in den Dienst der Vermittlung anderer Inhalte gestellt (alle zit. in Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 28 f.). Aus der Industrieschulbewegung und der Arbeitserziehung entwickelte sich unter verschiedenen Ausprägungen, z. B. als Knabenhandfertigkeitsunterricht, die Arbeitsschulbewegung. Hauptvertreter ist G. Kerschensteiner. Seine Bestrebungen zielen darauf, die Schule so umzugestalten, dass sie für das Kind zu einem Brückenschlag zu der Welt wird, in der es als Erwachsener bestehen muss. Die Einseitigkeit der intellektuellen Bildung soll durch praktisch-naturwissenschaftliche Bildung erweitert werden – im Sinne einer allseitigen Persönlichkeitsbildung (vgl. Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 30 f.). Als Gegenkonzept zur Arbeitsschulbewegung wird von der Kunsterziehungsbewegung beeinflusster Werkunterricht propagiert, die „Entwicklung der spontanen Schaffenskräfte des Kindes“, „das freie Werkschaffen“ stehen hier im Vordergrund (Vertreter: Pralle, Förtsch, 1930 – vgl. Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 36 f.). Während des Nationalsozialismus wurde der Werkunterricht instrumentalisiert, „völkisches Brauchtum“ und „Wehrbewusstsein“ sollten transportiert werden. In der Folge werden nach 1945 wieder reformpädagogische Motive aufgegriffen, eine Dominanz „musisch-ästhetischen Bildungsdenkens mit der ihm eigenen antirationalen und technikfeindlichen Tendenz“ wird deutlich (Winters, 2000, S. 26).
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| Teil VI: Schule und Unterricht In den „Empfehlungen zum Aufbau der Hauptschule“ des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (1964) wird schließlich erstmalig die Organisationsform Arbeitslehre eingeführt mit dem Ziel der Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt. In werkpädagogischen Kongressen von 1966 bis 1977 wurden verschiedene Ansätze und Konzeptionen von Arbeitslehre/Technikunterricht vorgestellt und diskutiert. Bis heute hat sich allerdings weder eine einheitliche Sichtweise noch ein einheitliches Konzept von Technikunterricht etabliert. 26.3.3 Konzeptionen der Technikdidaktik Die zuvor skizzierte, wenig einheitliche Entwicklung resultiert bis heute in einer nicht gefestigten Tradition, es gibt in der Fachdidaktik „keine einheitliche Konzeption, keine übereinstimmenden Bezeichnungen und nur sehr allgemeine konsensfähige Aussagen über Ziele, Inhalte und Methoden“ (Duismann, 1991, S. 11). Es gilt also die drei seit Ende der 70er Jahre vorliegenden Konzeptionen Allgemeintechnologischer Ansatz, Mehrperspektivischer Ansatz und Arbeitsorientierter Ansatz jeweils mit ihren Merkmalen, aber auch den vorgebrachten Kritikpunkten darzustellen (die Darstellung stützt sich hierbei auf Schmayl & Wilkenning, 1995; Traebert, 1998; Winters, 2000). Die beiden erstgenannten Ansätze gehen von einem eigenständigen Unterrichtsfach aus, während der letztgenannte auf einer integrativen Sichtweise aufbaut. Eine besondere Relevanz der Lernbehindertenpädagogik ist in den nachfolgenden Ansätzen a priori nicht erkennbar. 26.3.3.1 Allgemeintechnologischer Ansatz Unter Bezug auf die ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen wurde im Rahmen des Allgemeintechnologischen Ansatzes ein wissenschaftsorientiertes Verständnis von Technik zugrunde gelegt, im Sinne einer eigenständigen Fachwissenschaft. Das strukturierende Merkmal dieses Ansatzes liefern übergeordnete technikwissenschaftliche Sachkategorien. Gegenstand der Allgemeinen Technologie ist „die Beschreibung der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Erscheinungsformen von Stoff, Energie und Information und den auf deren Umsetzung gerichteten Arbeitsprozessen“ (Arp, 1984, S. 14). Die Hauptfunktionen des Ansatzes lassen sich nach Härtel (1984) in zwei Grundformen unterscheiden, „technologisches Gestalten“ (als mehr auf Kreativität und Reflexion ausgerichtete Form) bzw. „technologisches Umsetzen“ (als mehr auf Realisation und Praxis ausgerichtete Form). Didaktische Konsequenzen des Ansatzes der Allgemeinen Technologie sind nach Burgmer (1985, S. 23 f.): – „eine fachwissenschaftlich legitimierte und beschreibbare Zielkomponente für Technischen Unterricht mit der Leitidee Handlungskompetenz; – das Bestreben, eine möglichst vollständige, systematische Beschreibung invarianter Arbeitsvollzüge (zur Umsetzung von Stoff, Energie, Information) zur Auswahl und Strukturierung von Lerninhalten für technische Vermittlungsprozesse zu nutzen (diese
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 715
Beschreibung liegt bisher allerdings nicht vollständig vor, vgl. Banse & Reher, 2002, S. 141); – eine Methodenkomponente für technische Vermittlungsprozesse als Ableitung invarianter Handlungsmuster konstruktionsmethodischer sowie fertigungstechnischer Art; – als mediendidaktische Konsequenz ein Kontinuum von Informationsträgern und Beschreibungsformen für technische Systeme, welches für technische Vermittlungsprozesse zur Auswahl und fachwissenschaftlich begründeten Zuordnung genutzt werden kann.“ Kritik am Ansatz der allgemeinen Technologie wird zum einen an einer mangelnden Legitimation technischer Bildung sowie einer bisher nicht ausreichend ausgearbeiteten Fachdidaktik fest gemacht (vgl. Arp & Härtel, 1984, S. 47; Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 66 f.; Traebert, 1998, S. 187 f.). Der Allgemeintechnologische Ansatz hat vor allem Eingang in Konzepte für die Oberstufe des Gymnasiums genommen, für den sonderpädagogischen Bereich existieren bisher keine Anknüpfungspunkte (Duismann, 1993, S. 20). Eine Zusammenfassung der Diskussion der letzten 30 Jahre innerhalb des Ansatzes der Allgemeinen Technologie liefern Banse und Reher (2002). 26.3.3.2 Mehrperspektivischer Ansatz Im Rahmen des Mehrperspektivischen Ansatzes wird der Fokus auf den Schüler und seine Kompetenz zur Lösung von komplexen, aber vorrangig technisch bestimmten und geprägten Problemen gelegt. Ausgangspunkt ist ein mehrdimensionales Verständnis von Technik, die Basis des Ansatzes entstammt technikphilosophischen wie auch technikdidaktischen Betrachtungen. Zentral für den Mehrperspektivischen Ansatz sind nach Traebert (1998, S. 191): – „Kenntnisse über technische Systeme, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten (Sachgesetzlichkeit von Technik, Sachkompetenz) ... – [Die] Verfügbarkeit von Handlungsformen und Problemlösungen im Bereich von Technik (Methodenkompetenz, Handlungskompetenz).“ Der Mehrperspektivische Ansatz umfasst einen technikimmanenten wie auch einen menschlichen Aspekt, „dieser erstreckt sich von der Erzeugung, über die Nutzung bis hin zu Betroffenheit von und der Verantwortung für Technik, denn Technik ist grundsätzlich nie wertneutral, sondern ambivalent in ihrer Bedeutung für den Menschen“ (Winters, 2000, S. 92). Als Inhaltsbereiche von Unterricht werden 1. Arbeit und Produktion, 2. Bau und Wohnen, 3. Versorgung und Entsorgung, 4. Transport und Verkehr und 5. Information und Kommunikation vorgesehen (Sachs, 1981, S. 64). Die angeführten Inhaltsbereiche stellen aber auch gleichzeitig einen Hauptkritikpunk dar, die Auswahl und Gliederung ist nach Pichol (1990, S. 7) weder allgemein nachvollziehbar noch umfassend, es resultierten daher Widersprüchlichkeiten im Technikverständnis. Die Auswahl von Inhalten auf dieser Grundlage erscheint beliebig, ebenso deren Perspektiven und Bewertungen (Pichol, 1990; Duismann, 1993, S. 23). Nach Schmayl und Wilkenning (1995, S. 74) soll diese Klassifikation von Unterrichtsgegenständen als unzureichend gesicherter, „heuristischen
716
| Teil VI: Schule und Unterricht Entwurf“ bewertet werden – der mehrperspektivische Ansatz an sich kann allerdings als „relativ weitgediehenes Konzept“ gelten. 26.3.3.3 Arbeitsorientierter Ansatz Der Arbeitsorientierte Ansatz ist als gesellschaftsorientiertes Modell der Technikdidaktik angelegt, er bemüht sich um eine „bildungstheoretische Fundierung“ und misst dem historisch-genetischen Lernen große Bedeutung bei (Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 75). Die Sichtweise von Technik entsteht aus dem politisch-ökonomischen Kontext heraus, die Lebenswirklichkeit wird aus der Arbeitsperspektive heraus gedeutet (Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 75). Im Gegensatz zu den bisherigen Konzepten wird Technikunterricht als integrierter Lernbereich betrachtet, da sich Realität dem Schüler schließlich auch ganzheitlich-komplex präsentiere (Winters, 2000, S. 36 f.). Nach Vetter (2002) ist dem Konzept der integrierenden Arbeitslehre an Sonder- und Förderschulen eine grundlegende Bedeutung zu zusprechen, nach Duismann ist es gar als „Zentrum ‚neuer‘ Allgemeinbildung“ zu bewerten (Winters, 2000, S. 12). Der Ansatz Arbeitslehre – „begreift Arbeit als Handlungs- und Entscheidungsfeld, das von vielfältigen technischen Erkenntnissen, ökonomischen Interessen und politischen Einflüssen bestimmt wird; – geht auf Lösungsmöglichkeiten konkreter Arbeitsmarktprobleme ein; – berücksichtigt die Erfahrungen und Bedürfnisse der Schüler, insbesondere deren Reaktionen auf die Realität der Arbeitslosigkeit; – vermittelt Einsichten in Zusammenhänge der Erwerbsarbeit und fördert die Bereitschaft zur Selbständigkeit; – ermöglicht verantwortungsbewusstes Verhalten in gegenwärtigen und zukünftigen Lebens- und Arbeitssituationen“ (Vetter, 2002, S. 282). Die Kritik entfacht sich bei diesem Ansatz vor allem an der Fixierung am Arbeitsbegriff. Der Arbeitsorientierte Ansatz „befindet sich in einem Dilemma: auf der einen Seite tritt er für einen integrierten Arbeitslehreunterricht ein; auf der anderen Seite will er mit seinen Aussagen zum technischen Aspekt der Arbeitslehre das Äquivalent einer Technikdidaktik vorlegen“ (Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 79). Konsequenterweise fehlen somit „differenzierte zusammenhängende Aussagen für Ziele, Inhalte, Methoden technischen Unterrichts“ (Schmayl & Wilkenning, 1995, S. 79). Die Gültigkeit einer „Universalmethode“ Projekt im Arbeitslehreansatz sowie die Fragestellung der Realitätsnähe (inwieweit diese über handwerkliche Arbeitstechniken hinaus geht) werden von Winters kritisch diskutiert (Winters 2000, S. 30 f., S. 100 f.). 26.3.4 Befunde zur Berufsvorbereitung Als wichtigem Teilaspekt von Technikunterricht sollen im Folgenden zwei Untersuchungen zur Berufsvorbereitung dargestellt werden.
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 717
26.3.4.1 Praxisbeurteilung lernbehinderter Jugendlicher Castello (2002) entwickelt in seinem Beitrag ein Beurteilungsinventar für lernbehinderte Schüler in Betriebspraktika (mit sehr zufriedenstellenden Gütekriterien der Beurteilungsskala, Reliabilität nach Cronbach: a = .89, N = 239, vgl. Castello, 2002, S. 79 ff.). Dieses soll zusätzliche förderdiagnostische Informationen liefern, um die Chancen einer beruflichen Eingliederung von lernbehinderten Schülern in den ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Hierfür adaptiert Castello ein Modell aus der Qualifikationsforschung, er entwickelt Anforderungskriterien mit situativen wie auch zielgruppenspezifischen Aspekten. In Zusammenarbeit mit Praxisanleitern für verschiedene Berufsbereiche (Holzbearbeitung, Hauswirtschaft, Maler- und Lackierer, Metall sowie Textilbearbeitung) wurde eine Liste von Beurteilungskriterien entwickelt und für eine Validierung zwei ähnlichen Verfahren („Merkmalprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit (MELBA)“ bzw. „Work Skills Rating Scale“ – s. Castello 2002, S. 57) gegenüber gestellt. Das Beurteilungsinventar besteht aus den folgenden Kategorien: – Erscheinungsbild (auf eine angemessene Körperhaltung, -pflege und Kleidung achten); – Pflichtbewusstsein und Pünktlichkeit (Regeln und Absprachen einhalten);
Tabelle 1: Kennwerte des Beurteilungsinventars – Schwierigkeiten (Mittelwerte), Trennschärfen (Korrelation zwischen Beurteilungskriterien und der gesamten Beurteilungs skala) sowie Standardabweichungen (Castello, 2002, S. 79) Schwierigkeit
Trennschärfe
Standardabweichung
Flexibilität
3.00
.64
0.96
Verhalten zu Vorgesetzten
3.45
.68
1.13
Verhalten zu Kunden
3.39
.63
1.05
Verhalten zu Kollegen
3.34
.70
1.09
Erscheinungsbild
3.50
.35
1.02
Pflichtbewusstsein
3.42
.64
1.23
Ordnungsbereitschaft
3.06
.71
0.95
Antrieb
2.97
.69
1.12
Arbeitsbelastbarkeit
3.05
.66
0.98
Emotionale Stabilität
2.89
.50
1.12
Auffassung
3.04
.55
0.98
Konzentrationsfähigkeit
2.98
.72
0.94
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| Teil VI: Schule und Unterricht – Ordnungsbereitschaft und Sorgfalt (eigene Arbeitsqualität beachten und Leistung überprüfen); – Antrieb und Ausdauer (ohne äußere Motivation arbeiten und durchhalten); – Arbeitsbelastbarkeit (körperlich oder mental anstrengende Arbeit bewältigen); – Emotionale Stabilität (keinen Stimmungsschwankungen unterliegen, die die Arbeitsleistung beeinträchtigen); – Auffassung und Lernfähigkeit (Arbeitsanweisungen verstehen und neue Dinge lernen); – Konzentration und Aufmerksamkeit (sowohl auf die Arbeit als auch auf wichtige Dinge in der Arbeitsumgebung achten); – Flexibilität (sich wechselnden Tätigkeiten zuwenden können); – Verhalten gegenüber Vorgesetzten (sich angemessen gegenüber Vorgesetzten verhalten); – Verhalten gegenüber Kunden (sich angemessen gegenüber Fremden/Kunden verhalten); – Verhalten gegenüber Kollegen (sich angemessen gegenüber Kollegen verhalten). Die ermittelten Kennwerte des Beurteilungsinventars sind in Tabelle 1 aufgeführt. Durch eine Datenanalyse (Nutzung der Modalwerte der von den Praxisanleitern abgegebenen Gewichtungen, vgl. Castello 2002, S. 77) von 265 Schülern wurden weiterhin Anforderungsprofile für verschiedene Berufsbereiche entwickelt sowie konkrete Fördervorschläge für die Verbesserung betriebspraktischer Kompetenzen dargestellt.
Eingangsdiagnostik
Training
Förderplanung
Berufliche Orientierung
Bewerbungstraining
Auswertung der Beurteilung
nein
Betriebspraktium
Praxisbeurteilung
Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit? ja
Nachbetreuung
Abbildung 2: Förderung lernbehinderter Jugendlicher im Projekt Jobcoaching (Castello, 2002, S. 137)
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 719
Im Forschungs- und Modellprojekt „Jobcoaching“ wurden Jugendliche in den Abgangsklassen der Schule für Lernbehinderte durch empirisch abgesicherte Interventionen gefördert (Castello, 2002, S. 131 f.). 26.3.4.2 Handlungsorientierte Methoden im Bereich Arbeitslehre Im Rahmen des von der Bund-Länder-Kommission geförderten Modellversuchs „Projekt und handlungsorientierte Struktur und Gestaltung des Unterrichts in den Jahrgangsstufen 9 und 10 der Allgemeinen Förderschule“ (1995 bis 1997) wurde von Mand (2000) eine externe Evaluation durchgeführt. Für den vorliegenden Beitrag sollen vor allem die Teilbefunde aus dem Bereich Arbeitslehre Betrachtung finden: An fünf Modellversuchsschulen in Brandenburg sollten Schülerinnen und Schüler allgemeine Handlungskompetenzen erwerben durch einen Unterricht – der handlungs- und projektorientierte Methoden anwendet; – Probleme der Berufsorientierung im fächerübergreifenden Unterricht aufgreift; – der Wochenpläne und Produktionsprojekte („selbstverständlich“) berücksichtigt (Mand, 2000, S. 15). In einem Längsschnittdesign wurde diesen Modellversuchsschulen eine Stichprobe aus anderen nicht am Modellversuch beteiligten Fördeschulen des Landes Brandenburg gegenüber gestellt (Mand, 2000, S. 39 ff.). Die folgende Tabelle 2 zeigt die verwendeten Erhebungsinstrumente, -zeitpunkte sowie den Stichprobenumfang des Modellversuchs. Die Auswertung der Untersuchung stützte sich somit zum einen auf quantitative Tagebücher (Schätzskalen) sowie Lehrerfragebögen, die durch „eher traditionelle Verfahren“ analysiert wurden (Kreuztabellen, Chi-Quadrat-Tests, da „problematische Datenvoraussetzungen“ gegeben waren: kleine Stichproben, vorrangig Daten auf Ordinalskalen-Niveau, vgl. Mand, 2000, S. 49 f.). Die qualitativen Daten in Form der Lehrertagebücher, der Interviews sowie der freien Lehrereinschätzungen wurden durch Umcodierung (Umsetzung in Variablen und Variablendefinitionen; Erstellung eines Auswertungshandbuches) analysiert. Für das methodische Vorgehen ist somit kennzeichnend: – „Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung werden kombiniert. – Das Design der Begleitforschung ist breit angelegt. Es wird also sehr Unterschiedliches mit sehr unterschiedlichen Instrumenten erhoben. – Die Untersuchung arbeitet mit mehreren Erhebungszeitpunkten – und weist ein Versuchsgruppe-Kontrollgruppe-Desgin auf. – Ein großer Teil der Daten wird von an den Modellversuchsschulen bzw. Kontrollgruppenschulen unterrichtenden Lehrer/innen erhoben“ (Mand, 2000, S. 51 f.). Im Vergleich zur Kontrollgruppe konnten allerdings durch qualitative und quantitative Erhebungen keine signifikanten Effekte für den Teilbereich Arbeitslehre festgestellt werden (Bereiche: Metallverarbeitung, Bau, Hauswirtschaft, Textil, vgl. Mand, 2000, S. 76 f. bzw. S. 120 f.). Es konnten keine Hinweise auf eine erfolgreichere Förderung der inhaltlich-fachlichen Kompetenzen im berufsfeldorientierten Unterricht in den Modellversuchsschulen ermittelt werden (vgl. Mand, 2000, S. 85).
720
| Teil VI: Schule und Unterricht Tabelle 2: Erhebungsinstrumente – Erhebungszeitpunkte – Stichprobenumfang (Mand, 2000, S. 43) Erhebungsinstrument
Daten zu
Erhebungszeitpunkte
Stichprobe
Quantitatives Tagebuch der Deutschlehrer (Schätzskalen zu Ordnungssinn, Verantwor tungsbewusstsein usw.)
Entwicklung der sozial kommunikativen Kompetenz
17
Stichprobe 1 N = 83
Quantitatives Tagebuch der Arbeitslehrelehrer (Schätzskalen zu Umgang mit Geräten/Maschinen, Werkstoffkenntnisse usw.)
Entwicklung der inhaltlichfachlichen Kompetenz
17
Stichprobe 1 N = 83
Qualitatives Tagebuch der Deutschlehrer (freie Lehrerbeschreibungen zu Schlüsselsituationen)
Methoden und Sozialformprofil des Unterrichts der Deutsch unterrichtenden Lehrer/innen
17
Stichprobe 2 N = 23 (Zufallsstichprobe, nur MV-Schulen)
Qualitatives Tagebuch der Arbeitslehrelehrer (Inhalte und Lernerfolge im berufsfeld-bezogenen Unterricht)
Individualisierung im berufsfeldbezogenen Unterricht
17
Stichprobe 2 N = 23 (Zufallsstichprobe, nur MV-Schulen)
Interview zur Perspektivenübernahme (Problemgeschichte Fritz und Franz)
Entwicklung der Perspektivenübernahme Verhalten in Vorstellungsgesprächen
2
Stichprobe 3 N = 62
Problemzentriertes Interview zu Berufsleben, Lebensplanung und Selbstkonzept
Entwicklung von Identität, von kritisch-reflexiver und methodisch-strategischer Kompetenz
2
Stichprobe 3 N = 62
Lehrereinschätzungen zu Berufswünschen und sozialem Umfeld
Entwicklung der kritischen Berufswahlkompetenz
2
Stichprobe 4 N = 73
Lehrerfragebogen zu Methoden und Sozialformen
Einstellungen zum handlungsorientierten oder projektorientierten Unterricht
1
N = 93
Expertengespräch mit der Modellversuchsleitung (Beschreibung der Interventio nen, Erstellung einer Rangreihe der beteiligten MV-Schulen)
Implizite Ziele des Modellversuchs, Schulentwicklung
1
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 721
26.3.5 Ausblick Eine große Diskrepanz zwischen Forschungs- bzw. Entwicklungsstand eines „Unterrichtsfaches Technik“ für den Sonder- bzw. Förderschulbereich auf der einen Seite und dessen grundlegender Bedeutung für die Erschließung von Lebenswirklichkeit und eine Lebensbewältigung in einer von Technik geprägten Gesellschaft auf der anderen Seite wird offensichtlich. Eine weitere Erschließung des Lernbereiches Technik für den Sonder- bzw. Förderschulbereich über die Arbeiten von Vetter (1983, 2002) und Duismann (1991, 1993) hinaus, gegebenenfalls auch unter Einbeziehung anderer technikdidaktischer Ansätze, scheint dringend geboten. Auch in der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion über Standards im Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Grundbildung bleiben die spezifischen Belange der Sonder- und Förderschulen kaum berücksichtigt, es bleibt zu hoffen, dass sich dies ändern wird.
Literatur Arp, H. (1984). Zum Entwurf einer Allgemeinen Technologie. In H. Arp & W. Härtel (Hrsg.), Schriftenreihe des Fachbereichs Erziehungswissenschaften Bergische Universität-Gesamthochschule-Wuppertal (Arbeitsbericht des Faches Technologie und Didaktik der Technik Nr. 11, S. 5-25). Wuppertal: Eigenverlag. Arp, H. & Härtel, W. (Hrsg.). (1984). Beiträge zur Allgemeinen Technologie. Schriftenreihe des Fachbereiches Erziehungswissenschaften Bergische Universität-Gesamthochschule-Wuppertal (Arbeitsbericht des Faches Technologie und Didaktik der Technik, Nr. 11). Wuppertal: Eigenverlag. Banse, G. & Reher, O. (2002). Tagungsbericht „Symposium Allgemeine Technologie- Vergangenheit und Gegenwart (Berlin, 12. Oktober 2001). Technikfolgenabschätzung, 11 (1), S. 141-143. Burgmer, M. (1985). Optimierung methodengerechten Einsatzes von Medien im technischen Unterricht. Unveröffentlichte Dissertation, Universität-Gesamthochschule-Wuppertal. Burgmer, M. (1999). Einführung in die Didaktik des Technikunterrichts. Unveröffentlichtes Manuskript. Institut für Technik und ihre Didaktik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Castello, A. (2002). Praxisbeurteilung lernbehinderter Jugendlicher – Entwicklung eines Beurteilungsinventars für lernbehinderte Jugendliche im Kontext betrieblicher Praktika und dessen explorative Anwendung. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Köln. Deutscher Ausschuss (Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen) (1964). Empfehlungen und Gutachten (Folge 7/8). Stuttgart: Klett. Duismann, G. H. (1991). Arbeitslehre an Schulen für Lernbehinderte und an Schulen für Erziehungshilfe: Grundlagen und Konzepte. Hagen: Fernuniversität. Duismann, G. H. (1993). Arbeitslehre an Schulen für Lernbehinderte und an Schulen für Erziehungshilfe – Arbeit, Technik und Produktion – Technik im Unterricht. Hagen: Fernuniversität. Graube, G. & Theuerkauf, W. E. (Hrsg.). (2002). Technische Bildung: Ansätze und Perspektiven. Frankfurt a. M.: Lang. Härtel, W. (1984). Grundformen technologischen Handelns. In H. Arp & W. Härtel (Hrsg.), Schriftenreihe des Fachbereichs Erziehungswissenschaften Bergische Universität-GesamthochschuleWuppertal (Arbeitsbericht des Faches Technologie und Didaktik der Technik Nr. 11, S. 26-38). Wuppertal: Eigenverlag.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Henseler, K., Höpken, G. & Reich, G. (Hrsg.). (1998). Technische Allgemeinbildung (Berichtsband der 5. Hochschultage Technikunterricht an der Carl-von-Ossietzky-Universität, Oldenburg, 19. – 20. November 1998, Institut für Technische Bildung). Villingen-Schwenningen: NeckarVerlag. Klemm, F. (1999). Geschichte der Technik: der Mensch und seine Erfindungen im Bereich des Abendlandes (4. Aufl.). Stuttgart: Teubner. Linke, H. (1985). Technikunterricht an Schulen für Lernbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 36 (6), 381-389. Mand, J. (2000). Handlungsorientierte Methoden im Berufsorientierungsunterricht mit lernbehinderten Jugendlichen: eine empirische Untersuchung. Kempen: VEF St. Hubert. Pichol, K. (1990). Anmerkungen zum allgemeintechnologischen und mehrperspektivischen Ansatz in der Technikdidaktik. Arbeiten und Lernen, 11, 3-11. Sachs, B. (1981). Legitimation und Strukturen von Technikunterricht. In W. E. Traebert (Hrsg.), Technik als Schulfach (Band 4, S. 51-70). Düsseldorf: VDI-Verlag. Schmayl, W. & Wilkenning, F. (1995). Technikunterricht (2. überarbeitete und erweiterte Auflage). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schüler, U. (1994). Aufgaben, didaktische Bedingungen einer Technischen Bildung. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Universität Dortmund. Traebert, W. E. (1998). Technik und Allgemeinbildung: Stand und Entwicklungstendenzen des allgemeinbildenden Unterrichts über Technik an den Schulen der (alten) Bundesländer. In K. Henseler, G. Höpken & G. Reich (Hrsg.), Technische Allgemeinbildung (Berichtsband der 5. Hochschultage Technikunterricht an der Carl-von-Ossietzky-Universität, Oldenburg, 19.20. November 1998, Institut für Technische Bildung, S. 176-198). Villingen-Schwenningen: Neckar-Verlag. Vetter, K.-F. (1983). Zur Didaktik der Arbeitslehre: ein systematischer Theorie-Praxisbeitrag mit Materialien für den Arbeitslehreunterricht in Sonderschulen. Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel. Vetter, K.-F. (2002) Lehrerbildung: Arbeitslehre – eine Leerstelle in der Lehre. Zeitschrift für Heilpädagogik, 53 (7), 279-285. Winters, B. (2000). Didaktische Konzepte zur Begründung des Unterrichtsfachs „Technisches Werken“ im Rahmen des Lernbereichs Arbeitslehre an der Schule für Lernbehinderte: zur Problematik reformpädagogischer Ansätze in Theorie und Praxis des Unterrichts. Hamburg: Kovac.
26.4 Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre Ditmar Schmetz Die enge Verbindung der Bereiche Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre findet ihren Ausdruck in der zeitlichen Verknüpfung von Ereignissen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geschichte verstanden als vergangene Politik und vergangene Tagesereignisse sowie Politik, die von Geschehnissen der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft beeinflusst wird, finden ihren Niederschlag in Erfahrungen, Einstellungen und Wertungen, die menschliches Handeln im Sinne von Tradition, Weiterentwicklung und Veränderung bestimmen. Insbesondere die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Geschichtsbetrachtung hat dazu beigetragen, die einseitige Vergangenheitsorientierung der Geschichte zu über-
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 723
winden. In der Herausarbeitung der Bedeutung historischer Ereignisse für Gegenwart und Zukunft hat sie die integrative Perspektive für politisch-historische und sozialwissenschaftliche Entwicklungen – bezogen auf die gegenwärtige Gesellschaft – aktualisiert. In den USA wurden bereits in den 60er Jahren die sozialwissenschaftlichen Disziplinen im Unterrichtsfach Social Studies zusammengefasst. Amerikanische Geschichte, Staatsbürgerkunde und Geografie bildeten den Mittelpunkt dieser Unterrichtsdisziplin. Die Weiterentwicklung New Social Studies beschleunigte den sozialwissenschaftlichen Integrationsversuch durch eine umfassendere didaktisch aufbereitete Materialfülle zum Bereich Gesellschaft. Spezifische Inhalte der Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Politologie, Ökonomie, Biologie, Geschichte, Geografie und Rechtswissenschaft wurden den Schülerinnen und Schülern in Form interdisziplinärer Projekte zugänglich gemacht. In der Bundesrepublik fanden Bestrebungen dieser Art in der Unterrichtsdisziplin Gesellschaftslehre ihren Niederschlag. In diesem interdisziplinären Feld, das sich durch ein Denken in fächerübergreifenden Bezügen auszeichnet, sind z. B. im Primarbereich der Sachunterricht, im Sekundarbereich die Arbeitslehre wie der Sozialwissenschaftliche Unterricht angesiedelt. Die Gewichtungen und teilweise auch die Bezeichnungen für ein interdisziplinäres Lernen im Kontext von Gesellschaft sind in den 16 Bundesländern der Bundesrepublik unterschiedlich realisiert. Die Lernbereiche Geschichte und Politik werden in diesen Ausführungen im Kontext einer an interdisziplinären Bezügen ausgerichteten Gesellschaftslehre betrachtet. Gesellschaft wird als ein nach demokratischen Grundsätzen angelegtes System verstanden, welches das Zusammenleben von Menschen in zeitlich andauernden und räumlich begrenzten Bezügen und im Kontext pluraler Gruppen und Wertrichtungen auf Basis der im Grundgesetz verankerten Grundrechte strukturiert und organisiert. Von diesem Gesellschaftsverständnis ausgehend werden im Folgenden die Bedeutung des geschichtlichen und politischen Lernens für Kinder und Jugendliche in erschwerten Lern- und Lebenssituationen sowie didaktisch-methodische Möglichkeiten schulischer Vermittlung zur Darstellung gebracht. 26.4.1 Geschichtliches Lernen Die Bezeichnung Geschichte bezieht sich auf mehrere Bereiche. Es können das Geschehen selbst (vergangenes Geschehen), die Kunde von diesem Geschehen (Überlieferung), die Wissenschaft von diesem Geschehen (Historie) oder das Unterrichtsfach (Geschichtsunterricht) angesprochen sein (vgl. Schmetz, 1977, S. 15 ff.). Bereits in der Gründungszeit der Hilfsschulen war die unterrichtliche Komponente von Geschichte in den Lehrplänen vertreten. 1864 formulierte der Leipziger Taubstummenlehrer Heinrich Ernst Stötzner in seinem Lehrplanentwurf „Schulen für schwach befähigte Kinder“ die Bedeutung der vaterländischen Geschichte, die den Schülerinnen und Schülern in narrativer Form vermittelt werden sollte. Ein ausführlicher geschichtlicher Unterrichtsplan findet sich in dem Lehrerhandbuch von Arno Fuchs (1912), der Geschichte neben Religion, Gedichten und Gesang zum „gesinnungsbildenden Unterricht“ zählt. Wie Stötzner verfolgt er den narrativen Ansatz in Form von Geschichtsbildern, die den Schülerinnen und Schülern im Sinne einer vaterländischen Geschichte vermittelt werden sollen, z. B.:
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| Teil VI: Schule und Unterricht „Wie Friedrich Wilhelm I. den Schlafrock verbrannt hat“; „Wie er die neidische Frau bestraft hat (Neidkopf)“; „Warum Wilhelm I. als Jüngling das Eiserne Kreuz bekommen hat“ (Fuchs, 1912, S. 364 f.). Vorrangige Zielsetzung des damaligen Geschichtsunterrichts an der Hilfsschule war – wie an allen anderen Schulformen – die Vermittlung von Vaterlandsliebe und patriotischer Gesinnung im Sinne von Nationalgeschichte. In den damaligen Lehrplanentwürfen der Hilfsschule ist die Auffassung zu finden, dass der Geschichtsunterricht das Denk- und Abstraktionsvermögen des Hilfsschülers überfordere, daher in systematisch fortschreitender Form abzulehnen sei und stattdessen in Form von Geschichtsbildern und -erzählungen vermittelt werden solle. Diese Sichtweise bestimmte die Didaktik der Hilfsschule in der Zeit der Weimarer Republik – unterbrochen von der ideologischen Geschichtsverfälschung der Nationalsozialisten – und das geschichtsdidaktische Denken in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg in der Bundesrepublik. 1977 wurden in Nordrhein-Westfalen – dem bevölkerungsreichsten Bundesland – die Richtlinien für die Schule für Lernbehinderte eingeführt, in denen geschichtliches und politisches Lernen im Unterrichtsfach Geschichte/Politik dazu beitragen soll, Kinder und Jugendliche auf ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Die Schnittmenge des Historischen und Politischen zeigt sich darin, dass Geschichtsbewusstsein und politische Stellungnahme eng miteinander verbunden sind und zudem gegenwarts- wie zukunftsorientiertes politisches Verhalten soziale Regelungen, die geschichtlich gewachsen sind, nicht außer Acht lassen kann. Traditionen des zivilisatorischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens sind bei politischen Entscheidungen zu bedenken. Um soziale Aufgaben der Gegenwart und Zukunft zu lösen, bedarf es der historischen Rekonstruktion ökonomischer, ideologischer wie machtpolitischer Voraussetzungen. Geschichtlich-politisches Lernen vollzieht sich somit in Verbindung von vergangener und gegenwärtiger Zeit sowie in gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und geografischen Bezügen. In den siebziger Jahren und Anfang der achtziger Jahre erfolgte die didaktische Ausrichtung des Geschichtsunterrichts an der Schule für Lernbehinderte – auch in Anlehnung an die Konzeption von Kuhn (1974) – an einer zur damaligen Zeit vorherrschenden curriculumtheoretisch geprägten Grundlegung (Höck, 1983; Schmetz, 1977). Der politischen Perspektive kam das emanzipatorische Anliegen eines problemorientierten und kritischen Geschichtsunterrichts entgegen. 1986 erfolgte die Konzeption eines fachwissenschaftsorientierten Ansatzes der Geschichtsdidaktik und seine Übertragung auf die Schule für Lernbehinderte (Henkemeier, 1986). In den folgenden Jahren fanden die Gedanken des entdeckenden Lernens (Henke-Bockschatz, 1997) und des erlebnis- und handlungsorientierten Lernens (Jahn, 1992) im Geschichtsunterricht eine größere Beachtung. Die alltagsgeschichtliche Zugangsweise zum geschichtlichen Lernen bei Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Schmetz, 1999) beinhaltet einen Perspektivwechsel innerhalb der didaktischen Vermittlung. Die von der Geschichtswerkstattbewegung geprägte alltagsgeschichtliche Perspektive stellt das Schülerinteresse und das eigenständige wie handelnde Lernen in den Mittelpunkt. Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bietet die alltagsgeschichtliche Zugangsweise im Geschichtsunterricht einige Vorzüge: – In Auseinandersetzung mit alltagsgeschichtlichen Überresten und Quellenmaterialien erfahren Kinder und Jugendliche die Bedeutung von Alltag für Menschen in
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Lebensbezügen, die sie unmittelbar berühren. Bereiche wie Ernährung, Kleidung, Wohnung, Arbeit, Schule, Liebe, Sexualität, Geburt, Krankheit, Tod, Überleben im Krieg, Überleben in der Diktatur fordern unmittelbar zu einem lebensbedeutsamen Lernen auf. Ihnen kommt zugleich eine hohe Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung zu. Subjektive Aspekte menschlichen Zusammenlebens stehen im Vordergrund – wenn sich z. B. Menschen gegen Pläne des Abrisses einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet oder gegen die Zerstörung der Landschaft im ländlichen Raum solidarisieren – und führen zur Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Mikrokosmos im alltagsgeschichtlichen Raum. Dies ist für eine positive Identitätsbildung der Lernenden förderlich. Alltagsgeschichtliche Materialien bieten einen hervorragenden Fundus an Quellen für Freiarbeit, Wochenplanarbeit und Projekte. Die Auseinandersetzung mit ihnen begünstigt die Öffnung von Schule und Unterricht und ermöglicht selbstbestimmtes und eigenständiges Lernen. Durch Befragung von Zeitzeugen erhalten Schülerinnen und Schüler unmittelbaren Einblick in erlebte Geschichte, z. B. Leben in der Nachkriegszeit: Lebensmittelkarten, Wohnungsnot, Suchdienst, Trümmerfrauen, Lebensschicksale usw. Alltagsgeschichtliche Materialien begünstigen handelndes Lernen in sozialen Bezügen. Sie sind ebenso geeignet für gemeinsames Lernen in Integrationsklassen und stellen vor allem die psychosoziale Dimension menschlichen Verhaltens in den Mittelpunkt. Alltagsgeschichtliche Themen und Materialien vermögen, die Interessen der Schülerinnen und Schüler in ihren jeweiligen Lebenswelten anzusprechen und Identifikationsmöglichkeiten herzustellen. Die intensive Auseinandersetzung mit geschichtlichen Inhalten, die für die subjektive Lebensgeschichte des Schülers und der Schülerin bedeutsam ist, fördert Bildung und Pflege des Zeit- und Geschichtsbewusstseins beim heranwachsenden Menschen.
Alltagsgeschichtliches Lernen eignet sich dazu, Geschichte als Lebenswelt aus der subjektiven Perspektive des Kindes/Jugendlichen heraus aufzuarbeiten. Dieser phänomenologisch orientierte Ansatz der aktuellen Geschichtsdidaktik (Barsch, 2001, S. 515 ff.) hat den Lebenswelt-Gedanken Husserls (1962, S. 461) u. a. in seiner Bedeutung für das individuelle Erleben von Zeit und das daraus hervorgehende Geschichtsbewusstsein in geschichtsdidaktischer Hinsicht neu gewichtet. Das Erleben von Zeit und Raum in der Geschichte ist nicht so sehr auf ein systematisch-chronologisches Vorgehen im Sinne traditioneller Geschichtsdidaktik angewiesen, sondern auf einen Unterricht, der die mehrdimensionale Prägung der sozialen Zeit verdeutlicht. Im Lernbereich Geschichte/ Politik können so im alltagsgeschichtlichen Sinne individuelle Konflikterfahrungen aus dem Lebensbereich des Kindes oder Jugendlichen verbalisiert, in die gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Situation einbezogen und innerhalb ihrer Entstehungsgeschichte in die Vergangenheit zurück verfolgt werden. In der kritischen Aufarbeitung der Ereignisse der Vergangenheit werden schließlich Lösungen gesucht, die auf die Gegenwart und Zukunft bezogen sind. Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind im zeitlichen und geschichtlichen Bewusstsein häufig beeinträchtigt. Ebert (1998, S. 230 ff.) zeigt in einer Untersuchung zum Zeitbewusstsein mit Hilfe eines diagnosti-
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| Teil VI: Schule und Unterricht schen Inventars weitreichende Unterschiede zwischen Kindern der ersten Klasse der Grundschule (n = 44) und Kindern einer Förderschule/Schule für Lernbehinderte (n = 10) auf; untersucht wurde die Fähigkeit, einen Tagesablauf zu strukturieren, lineares oder zyklisches Zeitverständnis, Zeitbewusstsein, Zeitmessung und Zeitschätzung. Für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen ergibt sich nach dieser Studie die Notwendigkeit, Zeit- und Geschichtsbewusstsein im Unterricht zu konkretisieren und bewusst zu machen, um so dem Ziel der Zeitautonomie und Zeitsouveränität näher zu kommen. Der Aufbau und die Erweiterung des Wissens über Raum und Zeit im Rahmen geschichtlichen Lernens finden ihren Ansatz in lebensgeschichtlichen Ereignissen der Schüler und Schülerinnen und werden ebenso durch außerschulische Sozialisationserfahrungen – z. B. Einflüsse von Familie, Peer group, Neuen Medien usw. – bestimmt. Die für das geschichtliche Lernen verwendeten Quellenmaterialien lassen sich im Sinne der Droysen-Bernheimschen Systematik in Überreste und Tradition aufteilen (von Brandt, 1969). Zu den Überresten zählt alles, was aus der Vergangenheit unmittelbar erhalten geblieben ist. Die Gruppe der Überreste wird eingeteilt in Sachüberreste (z. B. Gebäude, Kunstwerke, Handwerksgerät, Kleidung, Möbel, Waffen), abstrakte Überreste (z. B. Institutionen aller Art, Rechts- und Verfassungszustände in mündlicher Überlieferung, Sitten, Gebräuche, Sprachen, Sprachformen) und schriftliche Überreste, die aus den geschäftlichen oder privaten Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart hervorgegangen sind (z. B. Urkunden und Akten). Zur Tradition gehören jene Zeugnisse der Vergangenheit, die bewusst zum Zwecke der Überlieferung geschaffen worden sind, also Quellengruppen, die dem Zweck der historischen Unterrichtung dienen wie z. B. Sage, Lied, Erzählung, Annalen, Chroniken, Biografien, Autobiografien, Memoiren und zeitgenössische Geschichtserzählungen (vgl. von Brandt, 1969, S. 71). Ein zentraler Ort, um geschichtliche Quellen kennen zu lernen und außerschulisch im Geschichtsunterricht damit arbeiten zu können, ist das Museum. In der von Wittmann (1999) durchgeführten Befragung (n = 1.324) von Lehrerinnen und Lehrern an Sonderschulen – überwiegend an Schulen für Lernbehinderte – zum Museumsbesuch mit ihren Schulklassen und zur Einbeziehung der Quellen in den Geschichtsunterricht antworteten nur 1,5 % mit „häufig ja“, 3,9 % mit „ausreichend“, 6,9 % mit „gar nicht“ und 84,5 % mit „wenig“ auf die Frage nach der Häufigkeit der Inanspruchnahme. Informationsmangel, Begrenztheit des Museums, Disziplinprobleme, kein geeignetes Arbeitsmaterial für Schülerinnen und Schüler und zu wenig Zeit im Schulalltag waren die am meisten genannten Gründe für die geringe Inanspruchnahme des Lernorts Museum. Die Ergebnisse signalisieren aber auch zugleich, dass die Arbeit mit historischen Quellen – auch außerhalb von schulischen Lernorten – für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten einer intensiven didaktisch-methodischen Aufarbeitung bedarf. 26.4.2 Politisches Lernen Politische Bildung in der Bundesrepublik ist einem Demokratieverständnis verbunden, das Autorität und Herrschaft in einem demokratischen Gemeinwesen durch das Prinzip der freien Wahl, der freien Kontrolle und der freien Abrufbarkeit legitimiert. Je größer die Akzeptanz eines solchen Demokratieverständnisses in den Bereichen der Gesellschaft
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ist, desto erfolgreicher können auch grundlegende demokratische Wertvorstellungen, wie sie in den Grundrechten des Grundgesetzes verankert sind, zur Geltung gebracht werden. Politisches Lernen in der Schule hat somit insbesondere zu verdeutlichen, dass politisches Handeln auch auf Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Friede usw. beruht. Es zielt auf die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen über Gestaltungsmerkmale des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens und über historisch und gesellschaftlich gewachsene Entstehungsbedingungen entsprechender Ordnungen mit ihren aktuell wirkenden Kräften und Interessen. Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Entscheidungen eigenständig zu treffen und politisch verantwortungsbewusst zu handeln. Politisches Verhalten wird intensiv beeinflusst durch Sozialisationserfahrungen des heranwachsenden Menschen vor dem Hintergrund einer Vielfalt von individuellen kulturellen Lebensstilen und Lebenswelten. Politisches Lernen erweist sich damit für den Einzelnen nicht nur als schulische, sondern als eine über Schule hinausgehende lebenslange Aufgabe. Kinder und Jugendliche in erschwerten Lern- und Lebenssituationen laufen in unserer Gesellschaft Gefahr, auf Grund ihrer Herkunft, ihrer Schullaufbahn und der Schwierigkeiten im Rahmen beruflicher Eingliederung sich im Spiegel anderer negativ zu erleben und sich als Verlierer zu fühlen. Baulig (1997) befasst sich daher in der Grundlegung des politischen Unterrichts damit, zunächst das Stigmatisierungserleben der Schülerinnen und Schüler aufzuarbeiten und in einem weiteren Schritt den multikulturellen Austausch zu verbessern. Kornmann und Kornmann (2003) weisen wiederholt auf den permanenten Anstieg der Überrepräsentation ausländischer Kinder an Schulen für Lernbehinderte/Förderschulen hin. Erfolgreiches politisches Lernen wird überall dort gefördert, wo Kinder und Jugendliche sich im Unterricht als pädagogische Subjekte erfahren und ernst genommen werden. Dieses ist für eine soziokulturell benachteiligte Schülerschaft – seit Begemann (1970) wird der Anteil dieser Schülerinnen und Schüler an der Schule für Lernbehinderte/Förderschule auf über 80 % eingeschätzt – eine wichtige Voraussetzung, um Lernen positiv zu erleben. Da Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – bezogen auf den Förderschwerpunkt Lernen – sowohl an Sonderschulen als auch im Gemeinsamen Unterricht im Primar- und Sekundarbereich unterrichtet werden, sind schulformübergreifende Befragungen im Rahmen der Sozialisationsforschung in ihrer Bedeutung für das politische Lernen mit einzubeziehen und auszuwerten. So erweist sich z. B. die Reinhardswald-Grundschule in Berlin-Kreuzberg mit ihrer multikulturellen Schülerschaft und ihrem hohen Anteil an soziokulturell benachteiligten Schülerinnen und Schülern als eine äußerst erfolgreiche Schule. Durch ihr Konzept der individuellen Förderung des selbständigen Arbeitens, der Öffnung des Unterrichts für klassenübergreifendes und projektorientiertes Lernen, durch kooperatives Arbeiten der Schülerinnen und Schüler und durch flexible Organisationsformen hinsichtlich der Fördergruppen und Klassengrößen wird politisches Lernen täglich als Unterrichtsprinzip wirksam. Dieses bezieht sich z. B. auf Möglichkeiten, eigene Interessen zu vertreten, solidarisch und kompromissbereit zu handeln, Konflikte zu erkennen und Lösungen auszuhandeln, Eigeninitiative zu entwickeln und Verantwortung wahrzunehmen, in unterschiedlichen sozialen Gruppen mitzuarbeiten, Belastungen zu ertragen und Toleranz zu üben (Goddar, 2003, S. 5). Bezogen auf die politische Erziehung soziokulturell benachteiligter Schülerinnen und Schüler vermag die Armutsforschung weiterführende Erkenntnisse zu vermitteln. In
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| Teil VI: Schule und Unterricht Studien wird Armut mehrdimensional als Mangel an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital (Bourdieu, 1983) verstanden. Während in den aktuellen Armutsstudien der AWO (2000) bei Kindern im Vorschulalter und in der Studie zur Armut von Grundschulkindern in einer ländlichen Region (Richter, 2000) von einem Konzept ausgegangen wird, dass familiale und kindliche Armut miteinander verbindet, geht Hölscher (2003) in ihrer Studie zur Armut und sozialen Ungleichheit im Jugendalter den Weg, die Jugendlichen selber zu ihren materiellen Möglichkeiten und denen ihrer Familien zu befragen. Diese aus der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung hervorgehenden Einschätzungen bezüglich der materiellen und sozialen Lebenslage der Jugendlichen geben für das politisch-soziale Lernen im Kontext von Schule weitreichende Hinweise. Die im Alter von 12 bis 16 Jahren zu ihren Lebenslagen befragten 756 Dortmunder Gesamtschüler/‑innen und spezielle Interviews bei 15 in Armut lebenden Mädchen und Jungen lassen u. a. geschlechtsspezifische Unterschiede sehr deutlich werden. Die hier festgestellte Armutsquote (etwa 13 %) verdeutlicht, dass der Familienalltag durch Arbeitslosigkeit und finanzielle Knappheit geprägt ist. Armen Familien fällt es schwer, Taschengeld für ihre Kinder aufzubringen. In der Regel erhalten Mädchen weniger Taschengeld als Jungen. Häufig versuchen Jungen jedoch durch Jobs, ihre finanzielle Situation zu verbessern. Hierbei werden nicht selten Arbeits- oder Jugendschutzbestimmungen missachtet oder vereinbarte Löhne verweigert. Mädchen, die in Armut aufwachsen, zeigen besonders gravierende Beeinträchtigungen hinsichtlich der emotionalen Befindlichkeit. Zu den armutsbedingten Belastungen zählen weiterhin häufige Auseinandersetzungen der Eltern, Trennung und Scheidung, chronische Erkrankungen, Streit mit den Eltern, Gewalterlebnisse, eine altersunangemessene Verantwortung für Pflichten im Haushalt und für die psychische Stabilisierung der Eltern (Hölscher, 2003, S. 250 ff.). Zumeist fühlen sich Mädchen für familiale Schwierigkeiten mehr verantwortlich als die befragten Jungen. Je problematischer die Familiensituation, desto wichtiger werden Rückzugsmöglichkeiten für die Jugendlichen. Dieses gilt insbesondere im Falle von Gewalterfahrungen. Die schulische Situation ist für Mädchen wie für Jungen gleichsam ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebenslage. Jedoch verringern Brüche in der Familienstruktur sehr oft die Bildungschancen der Jugendlichen. Insbesondere Mädchen, die in Armut aufwachsen, aber auch Mädchen in Armutsnähe sind nach der Studie von Hölscher (2003) mit ihren schulischen Leistungen zumeist unzufrieden und zeigen wenig Selbstsicherheit. Psychosomatische Beschwerden treten häufiger bei Jungen als bei Mädchen, die in Armutsverhältnissen leben, auf. Insbesondere muslimische Mädchen sind auf Grund ständiger Konflikte und der Pflichten im Haushalt in ihren Lernmöglichkeiten erheblich benachteiligt. Probleme bereiten auch die herrschenden Konsumnormen im Klassenverband. Dort, wo Konsumorientierung wie Markenkleidung, Handys, Armbanduhren usw. Maßstäbe setzen, werden Mädchen wie Jungen häufig verspottet, wenn sie nicht mithalten können. In Klassen, in denen Statussymbole dieser Art keinen hohen Stellenwert haben, sind Jugendliche aus sozial randständigen Lebenslagen nach der Studie von Hölscher (2003, S. 259) hingegen akzeptiert. Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich in der Dortmunder Studie auch deutlich in den Bereichen Freundschaft und Freizeit. Mädchen in materieller Unterversorgungslage fällt es leichter als Jungen, im Freundeskreis darüber zu sprechen. Die beste Freundin ist häufig eine wichtige Quelle der sozialen Unterstützung für das in Armut
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lebende Mädchen. Aus Schamgefühl hingegen versuchen Mädchen wie Jungen, ihre Armutssituation jedoch zumeist geheim zu halten und geraten darüber sehr schnell in soziale Isolation. Armut oder Armutsnähe ist in der Regel bei Mädchen stärker sichtbar als bei Jungen. Insbesondere muslimische Mädchen (Hölscher, 2003, S. 257) haben auf Grund elterlicher Verbote kaum Möglichkeiten, sich in ihrer Freizeit z. B. mit Freundinnen zu treffen. Das Erleben von Armut ruft bei den befragten Jugendlichen unterschiedliche Bewältigungsstrategien hervor. Aktive Bewältigungsstrategien zeigen sich dort, wo Jugendliche versuchen, Konflikte zu klären, Hilfen zu holen oder Gesprächspartner zu finden. Bei zu großen Belastungen und einer zu gering vorhandenen Bewältigungskompetenz reagieren Jungen wie Mädchen aber auch mit aggressiven Verhaltensweisen. Kritisch wird von den befragten Jugendlichen die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung beurteilt. Ängste vor einer Verletzung ihres Vertrauens sind in diesem Zusammenhang sehr ausgeprägt. Die Befragungsergebnisse zu von Armut bestimmten Lebenslagen verdeutlichen zugleich, welche Verantwortung der Schule insgesamt, aber auch gerade dem politischen Lernbereich zukommt. Für Lehrerinnen und Lehrer stellt sich die zentrale Aufgabe, in ihren Klassen vorhandene Werthaltungen kritisch aufzuarbeiten und in positiver Weise im Umgang miteinander handelnd erfahrbar zu gestalten. Demokratische Wertvorstellungen, insbesondere Toleranz, Achtung und Wertschätzung des anderen sowie soziales Engagement sind für das politische Lernen unverzichtbar. Kinder und Jugendliche aus soziokulturell benachteiligenden Lebenslagen sind im schulischen Kontext auf eine politische Lernkultur dieser Art in besonderer Weise angewiesen. Wie wichtig der Faktor einer positiven Beziehung ist, zeigen auch die Ergebnisse der Resilienzforschung. Kinder und Jugendliche aus sozial randständigem Milieu können erstaunlich widerstandsfähig sein. Entscheidend ist oft, ob sie in ihrem Leben eine Person finden, die ihnen in ihrem Lebensalltag emotionalen Halt gibt (vgl. Benkmann, 2001). Die Bedeutung von Einstellungen und Wertungen für politisches Handeln bei Kindern und Jugendlichen lässt sich auch aus den Ergebnissen der Shell-Jugendstudien ermitteln. Die Befragung von 2.500 Jugendlichen der Altersgruppe 12 bis 25 Jahre aus dem Jahre 2002 (Hurrelmann & Albert, 2002 ) lässt deutlich erkennen, dass sich der Trend des Wertewandels – Zurücknahme der Pflicht- und Akzeptanzwerte zu Gunsten der Selbstverwirklichungswerte – im letzten Jahrzehnt nicht fortgesetzt hat. Die meisten Jugendlichen erhöhen auf gesellschaftliche und berufliche Anforderungen hin ihre Leistungsanstrengungen und überprüfen pragmatisch ihre Chancen und Risiken. Diese Haltung wird insbesondere von den weiblichen Jugendlichen getragen. Mädchen wie junge Frauen sind sicherheitsbewusster und ehrgeiziger geworden und nähern sich in gewisser Weise männlichen Stereotypen an. Das allgemeine Interesse an Politik bei den befragten Jugendlichen entwickelt sich weiter rückläufig. Nur noch 30 % der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren bezeichnen sich als politisch interessiert. Vor allem sind Jugendliche kritisch gegenüber der demokratischen Praxis, wie sie in Deutschland vorhanden ist, eingestellt. Das geringste Vertrauen wird den politischen Parteien entgegengebracht. Vertrauenswürdig demgegenüber sind solche Einrichtungen, die parteiunabhängig agieren wie Bundesverfassungsgericht, Justiz und Polizei. Als besonders vertrauenswürdig werden Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen eingeschätzt. Weiterhin beteiligen sich Jungwähler im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nur unterdurchschnittlich an Wahlen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Es wäre jedoch verfehlt, die in der 14. Shell-Jugendstudie (Hurrelmann & Albert, 2002) Befragten als unpolitisch zu charakterisieren. Das politische Engagement der Jugend zeigt sich in zahlreichen sozialen Aktivitäten in ihrem näheren und weiteren Lebensumfeld. Das freiwillige Engagement bezieht sich auf die Unterstützung älterer Menschen, auf den Einsatz für den Umwelt- und Tierschutz, für sozial schwache Menschen und für eine Verbesserung des Zusammenlebens mit Ausländern. Weitere gesellschaftliche Aktivitäten zielen auf die Unterstützung von Menschen in armen Ländern und auf den sozialen Einsatz für konkret bedürftige Zielgruppen. Politik wird also von den Jugendlichen nicht so sehr im Sinne der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten im parlamentarischen Raum verstanden, vielmehr findet die politische Artikulation der Jugend ihren Ausdruck in der Bewältigung von Alltagsanforderungen in Familie, Schule, Peer Group und Freizeit. Deutschlands Jugend lässt sich somit pauschal nicht als politisch oder unpolitisch bewerten. Vielmehr sind politische Meinungen und Interessen – unterschieden nach Bildungsgrad und Geschlecht – in ausgeprägter Form vorhanden. Jugendliche hingegen, die ein geringeres Bildungsniveau aufweisen, erscheinen nach der 14. Shell-Jugendstudie (Hurrelmann & Albert, 2002) in unserer Gesellschaft deutlich benachteiligt. Sie haben geringere Chancen, ihre beruflichen Wünsche zu realisieren und sind mit ihrer Lebenssituation zumeist unzufrieden. Zieht man als Ergänzung zur Jugendstudie von Hurrelmann und Albert (2002) die von Zinnecker und seinem Team herausgegebene Kinder- und Jugendstudie (2002) heran, in der 10- bis 18-Jährige an nordrhein-westfälischen Schulen (n = 6.392) zu deren Befindlichkeit, Lebensstil und Lebenslage befragt wurden, so steht in Sachen Politik und Engagement der Einsatz in der eigenen Familie an oberster Stelle. Bei den 10- bis 12Jährigen sind die Interessen weiterhin gerichtet z. B. auf den Tierschutz, den Schutz der Umwelt, die Menschenrechte, die Gleichberechtigung zwischen Mädchen und Jungen, den Sportverein oder eine gute Klassengemeinschaft. Für die Jugendlichen (13 bis 18 Jahre) kommen Interessenbereiche hinzu wie Kampf gegen Drogen und Gewalt, der Einsatz für Rechte von Kindern und Jugendlichen, der Einsatz für Behinderte, die Integration von Ausländern, für Familien mit Kindern. Ihre Forderungen an Politikerinnen und Politiker beziehen sich bei den Kindern (10 bis 12 Jahre) an erster Stelle auf die kostenfreie Nutzung von Bus und Bahn, da sie als Nicht-Autofahrer insbesondere auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Weiterhin fordern sie eine Erhöhung der Freizeitangebote, sich mehr für die Zukunft der Kinder einzusetzen, mehr für die Umwelt zu tun, mehr Sendungen für Kinder im Fernsehen, bessere Schulen, mehr Kinderspielplätze, mehr Sport für Kinder und mehr Engagement für Familien mit Kindern. Die Jugendlichen (13 bis 18 Jahre) fordern an erster Stelle von den politisch Verantwortlichen mehr Arbeitsplätze, mehr Lehrstellen und Ausbildungsplätze. Auch hier wird mehr Verantwortlichkeit für die Zukunft der Jugend eingefordert. Es folgen Forderungen nach mehr Freizeitangeboten, mehr Bildungsmöglichkeiten, einer größeren Unterstützung des Sports. Keine Themen für Jugendliche sind eine größere politische Partizipation und ein frühes Wahlrecht. Ebenso steht das Kinderwahlrecht bei den befragten 10- bis 12-Jährigen bei nur wenigen auf der politischen Wunschliste. Kinder und Jugendliche sehen Kinderrechte in Deutschland als verletzt und vor allem das Recht auf gewaltfreie Erziehung als ungesichert an. Insgesamt fühlt sich die heutige Generation der Kinder und Jugendlichen von den politisch Verantwortlichen vernachlässigt. Die Ergebnisse der Kinder- und Jugendbefragung vom
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Herbst 2001 spiegeln u. a. im politischen Bereich eine eindeutige Interessenartikulation und eine kritische Distanz zu politisch Verantwortlichen wider. Für das politische Lernen vermittelt weiterhin die Vorurteilsforschung wichtige Erkenntnisse für den Unterricht. So spielen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für die Erziehung und politische Bildung stellt dieser Problembereich eine besondere Herausforderung dar. Dies umso mehr, da rechtsextreme Einstellungen seit Jahrzehnten in der Bevölkerung konstant vorhanden sind. In der SINUS-Studie von 1981 ist nachgewiesen, dass in der Bundesrepublik 13 % aller Wähler ein „abgeschlossenes rechtsextremes Weltbild“ besitzen. Spätere Untersuchungen (Falter, 1994; Pfahl-Traughber, 1999; Schubarth & Stöss, 2001; Silbermann & Hüsers, 1995) bestätigen dieses Potenzial in der gleichen Größenordnung. Zahlreiche Studien weisen rechtsextreme Einstellungen in ähnlichem Umfang für die Jugendlichen in der Bundesrepublik nach (z. B. Heitmeyer, 1989, S. 80; Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes Nordrhein-Westfalen, 1994, S. 34). Die rechtsextreme Ideologie ist inzwischen im Alltagsmilieu jugendlicher Subkulturen im Osten fest verankert. Der Begriff „Nationalbefreite Zone“ – zum Unwort des Jahres 2000 gewählt – steht im Kern für die Ideologie der Ungleichheit mit ihren rassistisch-völkischen Denkfiguren und der fremdenfeindlichen Ausgrenzungsideologie (vgl. Heitmeyer, 1995, 15 f.). Ein besonderes Problem für die politische Bildung stellt die gesellschaftliche Mitte als Umfeld dar, von der sich rechtsextreme Jugendliche bestätigt fühlen. Ahlheim und Heger (2000) haben die gesellschaftliche Mitte als Umfeld analysiert und nachgewiesen, dass 27 % der West- und 41 % der Ostdeutschen deutlich fremdenfeindlich orientiert sind (Ahlheim & Heger, 2001, S. 10 ff.). Auf Grundlage der vorhandenen Daten zu fremdenfeindlicher und rechtsextremer Einstellung sollte interkulturelles und antirassistisches Lernen (vgl. Kiper, 1996) ein zentrales Anliegen im Politikunterricht für Kinder und Jugendliche aller Schulformen darstellen. 26.4.3 Historische und politische Handlungsfelder Trotz weitreichender sozialer Randständigkeit und Armutsgefährdung vieler Kinder und Jugendlicher in erschwerten Lern- und Lebenssituationen und entsprechender Sozialisationserfahrungen ist im Sinne „rekursiven Verstehens“ (Werning & Wischer, 2002) auch für das geschichtliche und politische Lernen davon auszugehen, dass ein aktives Potenzial bei der Bewältigung von Problemen in der alltäglichen individuellen Lebenswelt vorhanden und für die Erziehung zu nutzen ist. So zeichnet sich für die Identitätsfindung und Identitätsstärkung in ihrer jeweiligen personalen und sozialen Dimension im Rahmen des geschichtlichen Lernens die Notwendigkeit ab, zeitliches und geschichtliches Bewusstsein und Wissen zunächst in der eigenen lebensgeschichtlichen Bedeutsamkeit und schließlich darüber hinaus in den gesellschaftlichen Bezügen zu erwerben. Für die Grundlegung des politischen Lernens kommt es vor allen Dingen darauf an, Regeln des demokratischen Zusammenlebens – z. B. in der Schulklasse – kennen zu lernen und zu praktizieren, die Inanspruchnahme von Rechten und die damit verbundene Übernahme von Pflichten zu erfahren und prosoziale Lösungsmuster für Konflikte zu erlernen. Insbesondere im Einstellungs- und Wertungsbereich des politischen Handelns ist über das
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| Teil VI: Schule und Unterricht soziale Lernen die Achtung und Wertschätzung des anderen zu erreichen und auch in weiteren Interaktionsfeldern des privaten Bereichs – z. B. in der Familie (Einelternfamilie, Patchworkfamilie, kinderreiche Familie usw.), in der Freizeitgestaltung mit anderen, im interkulturellen Begegnungsbereich – zu realisieren. Ebenso bedeutsam für politisches Lernen ist es, Schülerinnen und Schüler auf die Rechte und Pflichten des Bürgers (z. B. Unterrichtsthema: Von der Wiege bis zur Bahre) vorzubereiten und zu einer kritischen Urteilsfähigkeit gegenüber der Ausübung von Herrschaft im öffentlichen und privaten Bereich zu erziehen. Der enge Zusammenhang zwischen Geschichte und Politik zeigt sich in didaktischer Hinsicht darin, dass aktuelle Problembereiche im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Lebenskontext der Schülerinnen und Schüler ihre Entsprechung in der Vergangenheit, also in der Geschichte, finden. Pressemeldungen z. B. über Ausschreitungen und Gewaltanwendungen gegenüber Ausländern von „rechts“ können im geschichtlichen Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus in ihren ideologischen Grundlagen aufgearbeitet werden. Auch hier hilft der alltagsgeschichtliche Zugang zur Weiterführung und Vertiefung der historischen wie der gegenwärtigen Dimension. So ist z. B. die Möglichkeit gegeben, das Thema Alltagsleben im Konzentrationslager Buchenwald anhand von Überresten und Quellen im Unterricht zu rekonstruieren, und anhand der zu Grunde liegenden Merkmale des sozialdarwinistischen und rassistischen Denkens in nationalsozialistischer Zeit und in der Zeit davor aufzuarbeiten. Die Diskussion zur Gleichstellung von Frauen in Wirtschaft und Politik von heute kann z. B. aus historischer Perspektive zur Zeit des Solon in Athen (um 630 v. Chr.) zunächst auf alltagsgeschichtlicher Grundlage anhand entsprechender Quellen diskutiert werden: Die Kleiderordnung des Solon schrieb den Frauen lediglich den Besitz von drei Kleidern vor: eines zum Ausgehen, eines für den Gottesdienst und ein Kleid für den häuslichen Bereich. Die verheiratete Frau durfte nicht ohne Begleitung zum Markt gehen und hatte auf der Straße ihr Gesicht mit einem Schleier zu verbergen. Heirat und Erbschaftsangelegenheiten musste ein Vormund für sie regeln, und sie hatte kein volles Bürgerrecht. Von der „Demokratie“ in Athen zur Zeit Solons waren also die Sklaven und die Frauen ausgeschlossen. Die Verbindung zwischen Politischem und Historischem lässt sich so für alle Bereiche gesellschaftlicher Problemstellungen herstellen. 26.4.4 Schülerzentrierte Gesellschaftslehre Aus Sicht der Gesellschaftslehre zeichnen sich folgende inhaltliche Grundkategorien ab, aus denen Handlungsfelder für das historische und politische Lernen hervorgehen: – – – – – – –
Schule/Bildung/Beruf Gesundheit/Arbeit/Soziales Verkehrsmittel/Neue Medien Nachrichten/Informationen Wirtschaft/Globalisierung Verwaltung/Gesetze Religionen/Kulturen
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 733
– Herrschaft/Mitbestimmung – Krieg/Frieden – Menschenrechte Die Methodenkonzeption des historisch-politischen Lernens basiert auf einer möglichst offenen Gestaltung des Unterrichts, in der projektorientiertes und handlungsorientiertes Arbeiten in besonderer Weise zur Geltung kommen (vgl. Ruchatz, 1989). Unter Einbeziehung der individuellen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler sind deren Kompetenzen ausfindig zu machen, um so positive Lernerfahrungen zu ermöglichen. Grundlagen eines demokratischen Rollenhandelns können im Klassenverband auf kommunikativer wie interaktiver Ebene erfahren werden. Im Sinne des Projektlernens eignen sich für die politische Lernkultur besonders solche Vorhaben, die in Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern in der Gemeinde oder in der Stadt – z. B. eine neue Schulhofgestaltung – realisiert werden können. Die Vernetzung bzw. die Kooperation von Schule mit Einrichtungen der Gemeinde bzw. der Stadt in Sachen Gesundheit, Soziales, Jugend, Kultur, Sport, Rechtssprechung, Presse und mit Solidargemeinschaften vor Ort zur Unterstützung von Menschen in Notlagen schaffen einen geeigneten Rahmen zur Gewinnung von Erfahrungen heranwachsender Menschen im demokratischen und solidarischen Handeln.
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734
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Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 735
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26.5 Hauswirtschaftslehre Veronika Breucker Bei der Beschäftigung mit dem Lernbereich Hauswirtschaftslehre an Schulen für Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen wird deutlich, dass diesem Bereich zwar häufig eine besondere Bedeutung beigemessen wird, jedoch kaum empirische Untersuchungsergebnisse vorliegen. Allgemein umfassen die Inhalte der Hauswirtschaftslehre Kenntnisse und Fertigkeiten in der Nahrungszubereitung, der Ernährungslehre, der Wohnungsgestaltung und der Wohnungshygiene. Den Schülerinnen und Schülern soll vermittelt werden, dass durch planvollen Einsatz von Haushaltsgeräten und Maschinen menschliche Arbeitskraft eingespart werden kann. Sie sollen lernen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu haushalten und grundlegende Einsichten in elementare wirtschaftliche Zusammenhänge erlangen. Die Auseinandersetzung mit dem Marktangebot und entsprechenden Informationshilfen stellen einen weiteren Bereich dar. Der Hauswirtschaftslehreunterricht lässt sich didaktisch durchgehend verstehen als sozialwissenschaftliches (sozioökonomisches) und als naturwissenschaftlich-technisches Fach. Der Unterricht sollte beiden Dimensionen gerecht werden. 26.5.1 Bedeutung und Begründung der Hauswirtschaftslehre Entsprechend der Unterrichtsvorbereitung in anderen Bereichen ist es auch im Fach Hauswirtschaftslehre erforderlich, dass Lehrerinnen und Lehrer sich mit einer Vielzahl von Faktoren, die das Unterrichtsgeschehen bestimmen, auseinandersetzen. Betrachtet man in diesem Kontext die anthropogenen und soziokulturellen Bedingungen dieser Schülerschaft (beispielsweise Arbeitslosigkeit der Eltern, geringes Familieneinkommen, Kinderreichtum, Verlust von Bezugspersonen), die zusätzlich zu unterschiedlichen Stö-
736
| Teil VI: Schule und Unterricht rungen der Intelligenzentwicklung oft unter einer defizitären Befriedigung physischer und psychosozialer Grundbedürfnisse leiden, so ergeben sich einige handlungsleitende Prinzipien. Die sonderpädagogische Förderung sollte integrierend (Unterstützung der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe am Leben), akzeptierend (Schaffung eines angenehmen Unterrichtsklimas), verstehend (Hervorhebung kommunikativer Prozesse), dialogisch (Kooperation und Austausch unterschiedlicher Kompetenzen), multisensorisch und stärkend sein. Nach dem ökosystemischen Ansatz der Förderdiagnostik sollte das Kind mit seinen physischen und psychischen Voraussetzungen, mit seinen Fähigkeiten und Interessen im Mittelpunkt des pädagogischen Handelns stehen (vgl. Hildeschmidt & Sander, 1987). Es sollte als ganzheitliches Wesen wahrgenommen und in seinen Bezügen als ein lernendes und sich entwickelndes Wesen begriffen werden. Die besondere Bedeutung des Faches liegt in der Tatsache begründet, dass sich das Lernen im Fach Hauswirtschaftslehre an der Lebenswirklichkeit orientiert, einen Beitrag zur Förderung der Gesamtpersönlichkeit und der Selbstbestimmung liefert. Die Erweiterung des Allgemeinwissens und der Gesundheitswert stellen weitere wichtige Aspekte dar. Der Unterricht bietet Kindern und Jugendlichen zahlreiche Gelegenheiten, Handlungskompetenz im Sinne der Mündigkeit nach Roth zu erwerben. Roth (1971) legt Mündigkeit aus als „freie Verfügbarkeit über die eigenen Kräfte und Fähigkeiten für jeweils neue Initiativen und Aufgaben“ (S. 180) und argumentiert, sie sei als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinne: a) als Selbstkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können, b) als Sachkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und c) als Sozialkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- und Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können. (Roth, 1971, S. 180) Hinsichtlich der Inhalte der Hauswirtschaftslehre lässt sich Selbstkompetenz als die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, Sachkompetenz als die sachgerechte Zubereitung einer Mahlzeit sowie der kompetente Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Sozialkompetenz als die Fähigkeit bezeichnen, die Versorgung von Familienmitgliedern sicher zu stellen. Versuche differenzierter Bestandsaufnahmen des Lernbereiches „Haushalt“ mit seinen täglichen Vorgängen, Verrichtungen und Tatbeständen machen darüber hinaus die Vielgestaltigkeit und Komplexität des Gegenstandes deutlich (vgl. z. B. Egner, 1974; Hack-Unterkircher, 1976; Tornieporth, 1985; Joosten, 1986). Als Beispiele seien an dieser Stelle noch einmal die physische, psychische und soziale Bedürfnisbefriedigung im Rahmen der Bereiche Ernähren, Wohnen, Pflegen und Wirtschaften genannt. Damit bietet der Lernbereich in vielfältiger Weise Gelegenheit, konkrete, zur Bewältigung des Lebensalltags notwendige und grundlegende Arbeitsweisen, Fähigkeiten und Einsichten zu erwerben. Die Einkaufsplanung, der Einkauf, die Mahlzeitenzubereitung und die Mahlzeiteneinnahme gehören zu den elementarsten Bereichen der Selbstständigkeitserziehung. Im Folgenden sollen einzelne Inhalte differenzierter betrachtet und mögliche Ansatzpunkte für die praktische Arbeit aufgezeigt werden.
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 737
26.5.2 Ernährungslehre, Nahrungsaufnahme und angemessenes Essverhalten Mehrere Studien belegen den Zusammenhang zwischen relativer Armut, Entwicklungskrisen sowie Lebensbelastungen und gesundheitlicher Beeinträchtigung (vgl. Hurrelmann 2000, S. 18). So zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen aus wirtschaftlich benachteiligten und sozial randständigen Familien soziale Diskriminierungsprozesse. Nach Hurrelmann (2000) reagieren Kinder und Jugendliche in solchen Situationen mit einer Irritation des Selbstvertrauens, psychosomatischen Beschwerden, delinquentem und aggressivem Verhalten, gesundheitsschädigenden Ernährungs- und Bewegungsmustern (teilweise Unterversorgung einiger Kinder in den Bereichen: regelmäßiges Essen, soziale Kontakte, Freizeitverhalten), schlechter Körperhygiene sowie intensivem und frühem Konsum psychoaktiver Substanzen (legaler und illegaler Drogen). Diese Problematik zeigt sich auch in der Schulpraxis an der Schule für Lernbehinderte. Übergewicht, welches oft mit Behäbigkeit und Antriebsschwäche verbunden ist, wirkt sich oft auch auf andere Lebensbereiche und Aktivitätsfelder (z. B. ausgiebiges Fernsehen, passive Beschäftigungsformen) aus (vgl. Hurrelmann, 2000, S. 16). Die Ernährungsberichte der letzten 20 Jahre zeigen, dass sich immer mehr Menschen falsch ernähren und mit lebenswichtigen Nährstoffen unterversorgt sind. Etwa 10 % der Säuglinge/Kinder in den Industrieländern sind übergewichtig. Jedes zweite Kind im Alter von 3 Jahren und gar 90 % der Schulanfänger haben Karies (Wabitsch, 2003). Auch diese Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen aus der Schulpraxis. Nach Ergebnissen des Forschungsinstituts für Kinderernährung stieg in einer auf den Raum Dortmund begrenzten Stichprobe mit zunehmendem Behinderungsgrad der Anteil von Kindern mit starken Essproblemen deutlich an (vgl. Schriever, Kersting, & Schöch, 1990). Allgemein kann festgestellt werden, dass die Ernährung der Kinder und Jugendlichen gekennzeichnet ist durch zu viel Fett in Form von gesättigten Fettsäuren, zu viel Cholesterin, zu viel tierischem Eiweiß, zu viel Zucker, zu wenig wertvolle Kohlenhydrate und Ballaststoffe. Auch das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen wird von vielen Faktoren beeinflusst. „Das Verhalten des Individuums entwickelt sich und findet statt im Wechselspiel mit den Verhältnissen, von denen es umgeben ist“ (Joosten, 1993, S. 230). Nach Erkenntnissen der Sozialisations- und Erziehungsforschung werden Grundeinstellungen vor allem in den Kindheitsjahren, in der primären Mitweltgruppe und in der Regel dem privaten Haushalt geprägt. Es wird schwierig, im Erwachsenenalter Verhaltensmuster zu ändern. Aus diesem Grund erscheint es zwingend erforderlich, frühzeitig mit der Ernährungserziehung zu beginnen und Eltern sowie Lehrpersonen (Vorbildfunktion) einzubeziehen (vgl. Gerhards & Rössel, 2003; Hurrelmann 2000). Gerhards und Rössel (2003, S. 252) weisen darauf hin, dass „eine gesundheitsabträgliche Ernährungsweise und geringe oder falsche Bewegung ... die Hauptursachen für zahlreiche Zivilisationskrankheiten“ sind und dies enorme Kosten im Gesundheitswesen nach sich zieht. Zu ähnlichen Erkenntnissen kam Raithel (2002) in seiner Untersuchung zum Zusammenhang von Ernährungsverhalten und gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen. Aus schulischer Sicht ist anzumerken, dass diese Fehlernährung das Lern- und Leistungsvermögen beeinträchtigen kann.
738
| Teil VI: Schule und Unterricht In Hinblick auf eine gesundheitsförderliche Ernährung liegen unterschiedliche Ernährungskonzepte vor (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung, 1991). Differenzierte Ergebnisse über das Ernährungsverhalten von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen und den daraus resultierenden Erkenntnissen für die Ernährungspraxis liefert eine Studie, die am Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund seit 1985 durchgeführt wird, die sog. Donald-Studie (Dortmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally-Designed Study, vgl. Donald-Studie 2000/2001). Basierend auf diesen Ergebnissen und unter praktischen Gesichtspunkten hat das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund das Konzept der optimierten Mischkost – optimix – entwickelt. Nach Kersting (1998) lässt sich Folgendes festhalten: 1. Die derzeitige Ernährung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland entspricht in vielerlei Hinsicht nicht den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. 2. Mit der Einführung der optimierten Mischkost „ist eine gesundheitsförderliche Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit einfachen Mitteln möglich“. 3. Ernährungsbedingten Krankheiten kann durch die richtige Ernährung vorgebeugt werden. Die Vorteile des Konzepts der „optimierten Mischkost“ liegen darin begründet, dass sich das Konzept neben den wissenschaftlichen Kriterien der Deckung des Nährstoffbedarfs und der Prävention auch praktische Anforderungen (z. B. Mahlzeitengewohnheiten, Nahrungsgewohnheiten) berücksichtigt (vgl. Kersting, 1998). Einen Überblick über die empfohlene altersgemäße Lebensmittelverzehrsmenge in der optimierten Mischkost liefert die folgende Tabelle. Tabelle 3: Altersgemäße Lebensmittelverzehrmengen in der optimierten Mischkost Empfohlene Lebensmittel (>80% der Energiezufuhr) Alter (Jahre)
1
2-3
4-6
7-9
10-12
13-14
15-18
Reichlich Getränke
ml/Tag
600
700
800
900
1000
1200
1400
Brot, Getreide(-flocken)
g/Tag
80
120
170
200
250
280
300
Kartoffeln, Nudeln, Reis, Getreide
g/Tag
80
100
120
140
180
200
250
Gemüse
g/Tag
100
120
180
200
230
250
300
Obst
g/Tag
100
120
180
200
230
250
300
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 739
Tabelle 3 (Fortsetzung) Mäßig Milch, Milchprdukte*
ml(g)/Tag
300
330
350
400
420
450
500
Fleisch, Wurst
g/Tag
30
35
45
55
65
75
75
Eier
Stück/ Woche
1-2
1-2
2
2
2-3
2-3
2-3
Fisch
g/Woche
50
70
100
150
180
200
200
g/Tag
15
20
25
30
35
35
40
Sparsam Magarine, Öl, Butter
Geduldete Lebensmittel (<20% der Energiezufuhr) Altersgruppe
Kleinkinder Schulkinder
Jugendliche
z. B. Kuchen, Süßigkeiten
g/Tag
<50
<80
Marmelade, Zucker
g/Tag
<10
<20
*100 ml Milch entsprechen im Calciumgehalt ca. 15 g Schnittkäse oder 30g Weichkäse
Auf Grund der oben angeführten Fakten sollte die Ernährungslehre im Unterricht auf jeden Fall thematisiert werden und Lehrerinnen und Lehrer sollten regelmäßige Fortbildungsangebote wahrnehmen. Heseker (2003) weist in seiner Untersuchung zur fachwissenschaftlichen Analyse in Schulbüchern darauf hin, dass Ernährungsthemen erschreckend häufig fehlerhaft dargestellt werden. Bei der Beschreibung der Ursachen von ernährungsabhängigen Krankheiten lägen schwerwiegende inhaltliche Mängel vor. Außerdem würden populäre Ernährungsirrtümer verbreitet. Neben der fachwissenschaftlichen Weiterbildung von Lehrpersonen erscheint dass zu Rate ziehen entsprechend fundierter Quellen zur Unterrichtsvorbereitung von besonderer Bedeutung. Tipps für die Praxis finden sich u. a. in den Materialien der Verbraucherzentralen, der Stiftung Verbraucher Institut, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie den Materialien des Auswertungs- und Informationsdienstes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid) und in Schulbüchern. In einer anderen Untersuchung stand die Evaluation didaktischer Ansätze zur schulischen Gesundheitsförderung im Ernährungsbereich im Vordergrund (vgl. Eissing & Lach, 2003). In dieser Studie wurde das Thema „fast food“ und vollwertige Ernährung
740
| Teil VI: Schule und Unterricht Süßigkeiten Pro Tag: – höchstens 1 kleine Portion (z.B. 1 Riegel Schokolade oder 1 schmales Stück Kuchen) Speisefette Pro Tag: – höchstens 40 g Streichund Kochfett Milch Pro Tag: – 2 bis 3 Portionen (z.B. ¼ l fettarme Milch und 3 Scheiben Käse)
Getränke Pro Tag: – mindestens 1,5 l Flüssigkeit (z.B. Mineralwasser, verdünnte Obst- und Gemüsesäfte, ungesüßte Kräuter- oder Früchtetees, in Maßen Kaffee und schwarzen Tee) Fisch, Fleisch, Eier Pro Woche: – 2 Portionen Seefisch (à 150 g) – höchstens 2 bis 3mal Fleisch (max. 150 g) – höchstens 2 bis 3mal Wurst (max. 50 g) – maximal 3 Eier
Obst Pro Tag: – mindestens 2 Stück oder 2 Portionen (ca. 250 – 300 g)
Gemüse, Hülsenfrüchte Pro Tag: – 1 Portion Gemüse gegart (ca. 200 g) und – 1 Portion Gemüse roh (ca. 100 g) und – 1 Portion Salat (ca. 75 g)
Abbildung 3:
Getreide, Kartoffeln Pro Tag: – 5 bis 7 Scheiben Brot (ca. 250 – 350 g) und – 1 Portion Reis und Nudeln (roh ca. 75 – 90 g, gekocht 220 – 270 g) oder Kartoffeln (ca. 250 – 300 g)
Ernährungspyramide
unter dem Einfluss unterschiedlicher didaktischer Ansätzen (handlungsorientiert, kognitiv, reflexiv und sensorisch) untersucht. Aus den Ergebnissen wurden Unterrichtsmodule entwickelt, ein Unterrichtsbausteinsystem und ein Schülerheft. Nach Meinung dieser Autoren kann das System einen wirkungsvollen Beitrag zur Gesundheitsförderung in den Schulen liefern. Empfehlungen für die Auswahl von Lebensmitteln zur gesundheitsförderlichen Ernährung liefert u. a. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Zahlreiche unterschiedliche Darstellungen versuchen einen Überblick über die ideale Lebensmittelzusammensetzung für bedarfsangepasste Energie- und Nährstoffzufuhr zu liefern. Die Untersuchung von Eissing und Lach (2003) weist darauf hin, dass grafische Darstellungen von Ernährungsempfehlungen, besonders der Einsatz der Ernährungspyramide zur Visualisierung ausgewogener Ernährung, eine Vielzahl von positiven Effekten mit sich bringt. Diese Empfehlungen sollten sowohl bei der Auswahl der Inhalte als auch bei der Auswahl von Gerichten für die Nahrungszubereitung Berücksichtigung finden. 26.5.3 Nahrungszubereitung Ziel und Aufgabe der Nahrungszubereitung im Unterricht ist die Vermittlung von Grundfertigkeiten (z. B. Schneiden, Reiben, Rühren, Backen, Braten, Kochen, Wiegen, Messen), das Lesen und die praktische Umsetzung von Rezepten sowie das Anrichten von Speisen. Praktische allgemeine Hinweise finden sich u. a. bei Fischer, Mehl, Schebler und
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 741
Vollmuth (1977), Grüner (1982) und Kauper (1982). Zu einzelnen Aspekten liegen zahlreiche Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum vor (vgl. Collins, Branson & Hall, 1995; Gines, Schweitzer, Queen-Autrey & Carthon, 1990; Johnson & Cuvo 1981; Matson, 1979; Schloss, Alper, Watkins & Petrechko, 1996; Sengstock & Wyatt, 1976). Häufig handelt es sich bei diesen Untersuchungen um Einzelfallstudien bezogen auf die Personengruppe geistigbehinderter Menschen. Einen Überblick über die vorhandene Literatur zum Bereich „Anleitungen zur Nahrungszubereitung“ und den durchgeführten Studien zu diesem Lernbereich liefert der Beitrag von Schuster (1988). Um jedem Kind/jedem Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen in seinem individuellen Lernvermögen gerecht zu werden, erscheinen unterschiedliche organisatorische Maßnahmen zur Strukturierung und Durchführung von Lernprozessen erforderlich. Folgende Grundsätze der Unterrichtsplanung erscheinen in diesem Kontext von Bedeutung: – Lebensnähe und Aktualität (z. B. bei Auswahl der Inhalte), – Handlungsorientiertes Lernen (Einbeziehung aller Sinne), – Sachstruktur des Stoffes (z. B. muss der Umgang mit Rezepten erlernt und geübt werden), – Fachwissenschaftliche Systematik (vom Konkreten zum Begrifflichen, vom Leichten zum Schweren), – Didaktische Reduktion (z. B. Vereinfachen und/oder Begrenzen von küchenspezifischen Handlungen, Streichen von Verfahrenstechniken, Weglassen bestimmter Nahrungsmittel), – Eindeutige Begrifflichkeit, – Formulierung von Merksätzen als Hilfe. Im Bereich der Nahrungszubereitung bieten sich Differenzierungsmöglichkeiten in den Arbeitsgeräten, den Lebensmitteln, den auszuführenden Tätigkeiten und den Zielvorgaben an. Dem Einsatz von Medien „als Träger/Vermittler von Informationen in didaktischen Funktionszusammenhängen“ (Dohmen, 1973, S. 5) kommt eine besondere Bedeutung zu. Einen Überblick über die verschiedenen Medien liefert das folgende Schaubild in Anlehnung an den Erfahrungskegel von Dale (1950). Auswahlkriterien für Medien sind die Gestaltung, das Ziel und die Funktionen ihres Einsatzes (z. B. Steigerung der Motivation, der Kontrolle, der Selbständigkeit und Unabhängigkeit) sowie deren Wirtschaftlichkeit (Beschaffungskosten, Lagerung, Pflege, Haltbarkeit/Nutzungsdauer). Häufig werden Rezepte und Kochbücher als Arbeitsanleitung für die Nahrungszubereitung eingesetzt, ohne ihre Eignung für den Einsatz bei Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen kritisch zu überprüfen. Zur Effektivität des Einsatzes von Medien im Rahmen der Nahrungszubereitung liegen auch allgemein kaum empirische Ergebnisse vor (vgl. Lignugaris/Kraft, McCuller, Exum & Salzberg, 1988). In einer Untersuchung zum Bildkarteneinsatz an Schulen für geistigbehinderte Schülerinnen und Schüler (Breucker, 1990) wurden die Auswirkungen unterschiedlicher Ikonizitätsgrade in Hinblick auf eine effektive Gestaltung des Mediums untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass bei der Zuordnung mit Hilfe von Farbfotos signifikant weniger Fehler gemacht wurden als bei der Zuordnung von Umrisszeichnungen.
742
| Teil VI: Schule und Unterricht
Sprache Schrift
symbolische Ebene
Abbildungen abstrahierte Darstellungen Farbfoto
ikonische Ebene
Film/Video 3D-Modell Realgegenstände Handlung
enaktive Ebene
Abbildung 4: Erfahrungskegel nach Dale (1950, S. 39)
26.5.4 Arbeitsplanung Im Hauswirtschaftslehreunterricht sollen Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen, wie bereits dargelegt, auf komplexe Aufgabenstellungen im privaten Haushalt vorbereitet werden. Dazu gehören die Arbeitsablauf- und die Zeitplanung, die Kenntnis der funktionalen, ökonomischen und humanen Einflussfaktoren auf die Arbeitsplatzgestaltung (z. B. Berücksichtigung ergonomischer und physiologischer Erkenntnisse) sowie die Arbeitsteilung im privaten Haushalt. Es ist zu berücksichtigen, dass die meisten Aufgaben des privaten Haushaltes, abgesehen von kleinen Handreichungen, ungeteilt von einer Person ausgeführt werden. Kauper (1982) liefert beispielsweise eine fachwissenschaftliche Beschreibung der unterschiedlichen Bereiche der Küchenorganisation (z. B. Geschirrreinigung, Ablauf der Küchenarbeit). In Hinblick auf die praktische Umsetzung dieser Abläufe sind verschiedene Arbeits- und Organisationsformen denkbar. Bezogen auf den Unterricht wird die Organisation der Arbeit hauptsächlich durch die Lernziele bestimmt. „Die Organisationsform regelt die Arbeitsverteilung in einer Klasse oder einer Gruppe“ (Grocholl & Liebner, 1981, S. 12). Im Wesentlichen werden zwei Organisationsformen unterschieden: – Arbeitsteilige Verfahren mit thematisch gleichen Aufgaben: Jede Schülerin/jeder Schüler einer Klasse führt die gleiche Aufgabe aus (wählt beispielsweise die Zutaten und Geräte aus, richtet seinen Arbeitsplatz ein, führt selbstständig die Arbeitsschritte aus). – Arbeitsteilige Verfahren mit thematisch unterschiedlichen Aufgaben: Die Schülerinnen und Schüler erhalten unterschiedliche Aufgaben, wobei hier verschiedene Möglichkeiten der Differenzierung gegeben sind (bezogen auf Zutaten und Arbeitsgeräte). Unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten und um eine optimale Förderung der Schülerinnen und Schüler zu erzielen, erscheint es sinnvoll, diese ausgewählten Auf-
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 743
gabenstellungen ungeteilt bearbeiten zu lassen, d. h. jede Schülerin/jeder Schüler sollte an den Unterrichtsgegenstand herangeführt werden. Dieser Gedanke sollte auch bei der Planung und der Gestaltung von Hauswirtschaftsräumen durch Schaffung von Einzelarbeitsplätzen berücksichtigt werden. Durch die quantitative Eingrenzung von praktischen Aufgaben und das Auswählen nur eines Lerninhalts wird es ermöglicht, eine überschaubare Lernsituation zu schaffen und den Raum und die Zeit zum Handeln zu lassen. So kann auch das Problem der knappen Unterrichtszeit in der Praxis des Hauswirtschaftslehreunterrichts gelöst werden. Leider liegen zu dem Bereich der Arbeitsplanung und Arbeitsorganisation unter besonderer Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen keine der Verfasserin bekannten, empirisch gesicherten Erkenntnisse vor. 26.5.5 Hygiene, Sicherheit und Unfallschutz Die Ursachen für Unfälle und Krankheiten im Haushalt sind vielfältig: unsachgemäße Ausstattung und unzweckmäßige Arbeitsgeräte, schlechte Arbeitsorganisation und hektisches Arbeiten unter Zeitnot, fehlende Sachkenntnisse und Unachtsamkeit. Im Hauswirtschaftslehreunterricht müssen sich die Lehrpersonen an grundlegende Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen sowie an vorgegebene Regeln halten und den Schülerinnen und Schülern diese entsprechend vermitteln. Als Orientierung dienen bei der Konzeption und Installation von Lehrküchen einschlägige EU-Richtlinien und ihre nationalen Umsetzungen, internationale Übereinkommen und technische Spezifikationen. Im Unterricht sind zu thematisieren: Reinigungsmaßnahmen in Lehrküchen, Säubern und Putzen von Obst und Gemüse, Verarbeitung von Lebensmitteln tierischer Herkunft, Schneiden mit Kochmessern, Arbeiten mit handgeführten Küchenmaschinen und Geräten, elektrischen Küchenmaschinen, Kochstellen und Backöfen, Kochtöpfen und Pfannen, Dampfgaren, Arbeiten mit Fettbädern, Garen und Auftauen mit Mikrowellengeräten, Reinigen von Geräten und Geschirr sowie die richtige Arbeitskleidung (vgl. Bundesverband der Unfallkassen, 1997). Die Hygiene- und Sicherheitserziehung im Lernfeld Arbeitslehre stellt als Bestandteil der schulischen Allgemeinbildung eine übergeordnete Kategorie dar. Im Unterricht müssen die Aspekte jeweils an aktueller Stelle aufgegriffen werden. Um Gefahren zu vermeiden, sollten die richtigen Handgriffe und Vorsichtsmaßnahmen von vornherein richtig erlernt und den Schülern zur Gewohnheit werden. Hinweise für den praktischen Unterricht finden sich bei Fischer, Mehl, Schebler und Vollmuth (1977), Kauper (1982), Denk (1991) und Feist, Joosten, Lewald & Mühleib (1993). Eine Zusammenfassung der Regeln für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit in Küchen kann beim Bundesverband der Unfallkassen (2002) angefordert werden. 26.5.6 Konsumerziehung Der richtige Umgang mit Geld und das Umgehen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln stellt einen weiteren wichtigen Teilbereich des Faches dar. In der heutigen Zeit bedeutet „Einkaufen“ mehr als nur der Tausch von Waren gegen Geld als Tauschmittel.
744
| Teil VI: Schule und Unterricht Es ist vielmehr zu einem notwendigen Bestandteil persönlicher Bedürfniserfüllung und Selbstverwirklichung geworden. In Deutschland nimmt die Zahl der überschuldeten Menschen drastisch zu, dies gilt insbesondere auch für Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen. Der Einstieg in die Schuldenspirale beginnt häufig bereits im Jugendalter. Das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen wird geprägt, bevor diese über eigenes Geld verfügen. Sie gehören heute zu einer der wichtigsten Zielgruppe der Marketingstrategien. Oft ist die Kluft zwischen den Wünschen und den finanziellen Möglichkeiten sehr groß – gerade deswegen erscheint es zwingend erforderlich, den Schülern Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, damit sie lernen, Wünsche abzuwägen, Preise zu vergleichen und Ausgaben zeitlich zu planen. Bezogen auf die Nahrungszubereitung ist der wöchentlichen Einkauf ebenso zu planen wie der tägliche Einkauf leicht verderblicher Waren. Die Lebensmittel- und Vorratshaltung stellen weitere Bereiche dar. Die Bewertung von Fertigprodukten, die Auseinandersetzung mit der Lebensmittelwerbung, das Kennen lernen von handwerklicher und industrieller Lebensmittelherstellung stellen wichtige Beurteilungskriterien dar. Praktische Tipps finden sich u. a. bei Liedtke und Kolonko (1988). Folgende Fragen könnten beispielsweise Entscheidungshilfen für den Einkauf von Lebensmitteln sein: – Welchen Ernährungswert haben die Produkte? – Welchen Gesundheitswert haben sie? – Wie teuer sind sie? Kann ich sie mir leisten? – Wie umweltverträglich ist es, diese Produkte zu kaufen? – Wie eignen sie sich für die vorgesehene Verwendung? (vgl. Feist et al., 1993) Auslöser für Überschuldung sind häufig Arbeitslosigkeit, Probleme der Haushaltsführung und der Vorausplanung. Gerade Jugendliche geraten durch Naivität, Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit in kritische Situationen, in denen sie unbedacht Geld ausgeben oder Kredite bei mehreren Kreditgebern aufnehmen, ohne auf Reserven zu achten. Ein Handy, das eigene Auto und die eigene Wohnung führen oft zu unkontrollierbaren Ausgaben. Auch Veränderungen des Konsumverhaltens lassen sich ebenso wie das Ernährungsverhalten nur begleitet durch ein praktisches und weitgehend selbst bestimmtes Tun erzielen. Dabei ist die Aneignung von Wissen, verbunden mit dem Aufzeigen von realisierbaren Verhaltensalternativen und nicht zuletzt die Einbeziehung des Elternhauses, eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Zum Bereich Einkaufen konnten bezogen auf den Personenkreis der Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen keine gezielten Untersuchungen gefunden werden. 26.5.7 Wohnen und Wohnungspflege Bei der Beschäftigung mit der Thematik Wohnen wird deutlich, dass gerade auch das Wohnen zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, unabhängig von der Schwere einer Behinderung und den individuellen Möglichkeiten. „Beim Wohnen zeigen sich die unterschiedlichen Bedürfnisse entsprechend der verschiedenen Ansprüche, die an Wohnformen oder die Gestaltung einer Wohnung gesetzt werden“ (Staatsinstitut für
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Schulpädagogik und Bildungsforschung München, 1990, S. 92). Im Hinblick auf die Zukunft und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens ist die Auseinandersetzung mit der Thematik von besonderer Bedeutung. Die Lösung vom Elternhaus ist auch im Leben dieser Kindern und Jugendlichen mit einer Vielzahl von Veränderungen verbunden, so dass eine Vorbereitung auf einen solchen Schritt erforderlich ist. Dazu gehören u. a. die Auseinandersetzung mit den individuellen Ansprüchen, den Wohnaktivitäten und den zur Verfügung stehenden Mitteln (vgl. Herlyn & Herlyn, 1983). Die Qualität der Wohnversorgung wirkt sich entscheidend auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen aus (vgl. Funk & Schmid, 1986; Rughöft, 1987; Hurrelmann, 2000). Da der Themenbereich sehr komplex und vielschichtig ist, bedürfen die Inhalte der Anpassung an die speziellen Lern- und Leistungsbedingungen (vgl. Schwarz, 1990, S. 167). Die Aufgabe des Unterrichts besteht darin, diese inhaltliche Vieldimensionalität zu reduzieren, zu strukturieren und einzelne Aspekte aufzugreifen, um die Inhalte durchschaubar zu machen (vgl. Horn, Mosenthin & Royl, 1984, S. 16 f.). In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise auf die methodische Umsetzung des Lernbereichs „Wohnen“. Als mögliche Beispiele werden u. a. Rollenspiele, Interviews, Erkundungen, Expertenbefragungen, Planspiele, Erstellung eines „Tagebuchs“ der Wohntätigkeiten und die Auseinandersetzung mit Fallbeispielen angeführt (vgl. Andritzky & Selle 1979; Busse, 1983; Rughöft, 1987). Um viele Aspekte ansprechen zu können, sollte fächerübergreifend und projektartig gearbeitet werden. Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen könnten beispielsweise erste Erfahrungen im Bereich des Zusammenwohnens und Wirtschaftens sammeln, indem sie gemeinsam SelbstversorgerFreizeiten planen und durchführen. Auf die differenzierte Darstellung und Sachanalyse der Geräte- und Möbelpflege, der Putztechniken (z. B. Saugen, Wischen, Fenster putzen) und des Haltens von Ordnung wird an dieser Stelle verzichtet und auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen (vgl. Kauper, 1982). 26.5.8 Wäschepflege und Umweltschutz Zu den Inhalten des Bereiches Wäschepflege gehören allgemein das In-Ordnung-halten der eigenen Wäsche und Kleidung sowie der Einsatz von Geräten zur Wäschepflege (vgl. Faxel, Knapp, Lüghausen & Pulm, 1980). Die Vermittlung von Kenntnissen über moderne Textilien, ihre spezielle Ausrüstung (Veredelung), ihre Wascheigenschaften, die Wirkung von Waschmitteln, der Zusammenhang von Verschmutzungsgrad der Wäsche, Wasserhärte und Waschmittelmenge (Umweltfolgen) stellen weitere wichtige Teilbereiche dar und sollten im Unterricht aufgegriffen werden. Ebenso sollte der Bereich Umweltschutz in den Unterricht integriert werden, z. B. bei der Auswahl von und dem Umgang mit Reinigungsmitteln und bei der Vermeidung und Verwertung von Abfällen. Gerade die Hauswirtschaftslehre bietet Möglichkeiten, Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu vermitteln. Das Sortieren von Abfällen und die Wiederverwertung, das Einkaufen mit Einkaufstasche, das sparsame Umgehen mit Putzmitteln, der sachgerechte und sparsame Umgang mit Energie (Wasser/Strom) gehören zu den elementaren Aspekten. Zum Bereich Wäschepflege und Umweltschutz konnten nur zum Personenkreis
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| Teil VI: Schule und Unterricht der Geistigbehinderten Einzelfallstudien gefunden werden (vgl. Cuvo, Jacobi & Sipko, 1981). Einen Überblick über Untersuchungen zur Lebenspraktischen Erziehung sowie der systematischen Darstellung und Analyse von Förderprogrammen liefern die Beiträge von Reid, Wilson und Faw (1983), Langone und Burton (1987) und Snell (1993). 26.5.9 Zusammenfassung und Ausblick Nach den Richtlinien der meisten Bundesländer ist die Hauswirtschaftslehre dem Lernbereich Arbeitslehre zugeordnet. Die verschiedenen Aspekte der Lernfelder des Hauswirtschaftslehreunterrichts finden sich häufig als integrativer Bestandteil der Projektvorschläge. Zum Bereich Arbeitslehre liegen verschiedene Konzeptionen vor, die Hinweise für die praktische Arbeit liefern können (vgl. Cramer, 1972; Freiburg 1974; Joosten, 1977). Für Interessierte steht ein vielseitiges Angebot an Informationsmaterial zur Verfügung (vgl. u. a. „Medienverzeichnis Ernährung“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Frankfurt am Main). Hinsichtlich der Bewertung dieser Materialien ist es maßgebend, inwieweit sie zur Überprüfung und Veränderung grundlegender Einstellungen und Wertungen motivieren und zu angemessenem Handeln beitragen. Werden in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach einer angemessenen schulischen Förderung unter Einsatz geeigneter, das Lernverhalten anregender und verbessernder Maßnahmen betrachtet, so besteht ein großer Bedarf an Studien, die sich mit den Inhalten, Medien und Förderprogrammen zum Erwerb hauswirtschaftlicher Kenntnisse und Fertigkeiten beschäftigen. Langzeituntersuchungen, die überprüfen, was die Schülerinnen und Schüler von dem Gelernten nach ihrer Schulzeit wirklich umsetzen bzw. welche Probleme es dabei gibt und warum, fehlen vollständig. Insbesondere die Einzelfallstudie als Methode zur Überprüfung von einzelnen Aspekten könnte von Bedeutung sein. Gerade in der Schule bieten sich gute Möglichkeiten, richtiges Ernährungsverhalten zu fördern, da gleichzeitig Ernährungs- und Gesundheitswissen vermittelt und dieses praktisch umgesetzt werden kann. Besonders gute Chancen für die Ernährungsförderung liefert der Ganztagsunterricht. Hinsichtlich der Schulpraxis stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, gesundheitsfördernde Aspekte fest ins Schulprogramm aller Schulen für Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen zu verankern. Dies wird bereits jetzt in einigen Schulen praktiziert, in denen z. B. ein Mal pro Woche ein gesundes Frühstück zubereitet wird, in denen im Rahmen des Projektunterrichts Schüler auf Bestellung ein gesundes Frühstück für Mitschüler zubereiteten oder in denen Übermittagsbetreuung realisiert wird. Darüber hinaus erscheint es notwendig, dass das Lebensmittelangebot in der Schule (z. B. beim Pausenverkauf, Übermittagsbetreuung, Schulfesten) mit den Prinzipien einer gesunden Ernährung übereinstimmt und die Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung des Essensangebots in der Schule beteiligt werden. Kritisch bleibt noch anzumerken, dass die gesundheitserzieherische Ausbildung von Pädagogen nicht obligatorisch ist und dem kontinuierlichen und systematischen Erlernen beklagenswerte Geringschätzung entgegen gebracht wird. Zum Abschluss sei noch einmal auf die besondere Bedeutung der Kooperation mit dem Elternhaus hingewiesen, da die besten Bemühungen ohne die aktive Mitwirkung der Eltern nicht weit führen.
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Schriever, G., Kersting, M. & Schöch, G. (1990b). Untersuchungen zur Ernährung von behinderten Kindern und Jugendlichen in Vollzeit- und Teilzeiteinrichtungen im Raum Dortmund. 2. Mitteilung: Lebensmittelverzehr sowie Energie- und Nährstoffzufuhr als Grundlage praxisorientierter Ernährungsberatung. Ernährungs-Umschau, 37, 240-245. Schuster, J. W. (1988). Cooking instruction with persons labeled mentally retarded: A review of literature. Education and Training in Mental Retardation, 23, 43-50. Schwarz, L. (1990). Wohnraumgestaltung. Textilarbeit und Unterricht, 61, 167-174. Sengstock, W. & Wyatt, K. (1976). Meters, liters and grams. Teaching Exceptional Children, 8, 58- 65. Snell, M. E. & Browder, D. M. (1993). Daily living and community skills. In M. E. Snell (Hrsg.), Instruction of students with severe disabilities (4. Aufl., S. 480-525). New York: Macmillian. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.). (1990). Die Werkstufe. Konzepte und Materialien. München: Hintermaier. Tornieporth, G. (1985). Strukturgitter Haushaltslehre. Hauswirtschaft und Wissenschaft, 33, 160165. Unterrichtmaterialien zur Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung in der Schule (2002). Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Wabitsch, M. (2003). Adipositas bei Kindern und Jugendlichen – eine besorgniserregende Epidemie. Ernährungs-Umschau, 50, 20-23.
26.6 Sexualerziehung Ditmar Schmetz Sexualität gilt als wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens und stellt eine zentrale Energie für das Wohlbefinden dar. In ihrer Mehrdimensionalität spiegeln sich nicht nur Möglichkeiten der Fortpflanzung und Lust, sondern ebenso lebensnotwendige Merkmale wie durch Zärtlichkeit und Liebe geprägte mitmenschliche Interaktion, kultur- und gesellschaftsspezifische Normvorstellungen und sittliche Selbstbestimmung. In diesem weit gefassten Verständnis gewinnt im Sinne von Sozio-Sexualität somit jener Verhaltensbereich besondere Bedeutung, der von positiv-sozialen Äußerungen der Emotionalität, der Erotik und Liebe bestimmt wird. Weiterhin ist jener komplexe Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen angesprochen, in dem die Tatsache des Mädchen- oder des Junge-Seins, des Frau- oder des Mann-Seins in seiner jeweiligen geschlechtsspezifischen Ausrichtung eine besondere Rolle spielt. Somit ist eine Sexualerziehung auf zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation angelegt. Als integrierter Bestandteil der Gesamterziehung realisiert sie sich im Feld des emotionalen und sozialen Lernens. Sie setzt sich auseinander mit den Sozialisations- und Enkulturationserfahrungen des heranwachsenden Menschen und beeinflusst in erheblichem Maße seine Personalisation. Sexualerziehung wird verstanden als ein interaktiv-kommunikatives Geschehen, das die sexuellen Erlebnis- und Verhaltensdispositionen des heranwachsenden Menschen sensibilisiert und stabilisiert für: – Die Annahme und Bejahung des eigenen Körpers, – die Kenntnis biologisch-physiologischer Sachverhalte, – Gefühlsoffenheit und prosoziales Verhalten,
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positive Selbstkonzeptbildung, Verantwortlichkeit für sich selbst und für den anderen, den rationalen Umgang mit Konflikten, kritisches Normenbewusstsein, autonomiegeleitete Handlungsfähigkeit (vgl. Schmetz, 1998, S. 26).
Sexualerziehung ist nach der Empfehlung der Kultusministerkonferenz seit 1968 verpflichtender Unterrichtsgegenstand für alle Schulformen und alle Schulstufen. Sie ist fächerübergreifend und anlassbezogen angelegt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass lernbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen Sexualität ebenso mitgegeben ist wie Nichtbehinderten. Für Behinderte erfordert das Erleben von Sexualität und Liebe, das uneingeschränkt für behinderte wie nichtbehinderte Menschen gilt, in der Regel eine umfänglichere Sozialisationshilfe. Der häufig vielfach belastete affektive Erfahrungshorizont muss aufgearbeitet und Ich-Stärke und Identitätsfindung sollen im Sinne einer positiven Selbstkonzeptbildung gefördert werden. Im Folgenden werden daher genetisch-organische Determinanten wie sozialisationsbedingte Besonderheiten hinsichtlich sexuellen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen in erschwerten Lern- und Lebenssituationen dargestellt, um unter Einbeziehung ihres anthropogenen Bedingungsfeldes didaktische Grundlagen zur Interaktions- und Kommunikationsgestaltung im Sexualunterricht zu entwickeln. 26.6.1 Sexuelles Verhalten im Kontext von körperlichen und psychosozialen Problembereichen Chromosomale Abweichungen können ebenso wie hormonelle, konstitutionelle und affektive Probleme die sexuelle Sozialisation von Kindern und Jugendlichen erschweren. Insbesondere hormonelle Störungen führen zu somatischen und psychischen Beeinträchtigungen. Eine Über- oder Unterfunktion oder ein Ausfall endokriner Drüsentätigkeit vermag eine übermäßige oder unter das normale Maß verminderte sexuelle Reaktionsfähigkeit zu bewirken. Eine Unterentwicklung der Keimdrüsen kann zum Handicap des sexuellen Infantilismus führen. Störungen in der puberalen Entwicklung haben oft Zyklusanomalien bei der Frau, eine Schwächung von Libido und Potenz beim Mann zur Folge. Häufig ist eine depressive Grundstimmung wie eine mangelnde Bindungsfähigkeit zu beobachten. Innerhalb konstitutioneller Problembereiche sind es vorrangig hirnorganische Psychosyndrome, die zu emotionalen Basisstörungen führen und eine disharmonische Persönlichkeitsentwicklung begünstigen. In diesem Zusammenhang wird auf autistische Syndrome verwiesen, die in vielen Fällen eine dauerhafte sexuelle Bindung und Partnerschaft erschweren oder diese in schweren Fällen verhindern. Grundlegende Voraussetzungen der Kommunikations- und positiven Interaktionsfähigkeit im sozio-sexuellen Verhaltensbereich sind hier besonderen Erschwerungen ausgesetzt (vgl. Sellin, 1993). Ebenso wie konstitutionelle Faktoren können affektive Erkrankungen zu weit reichenden Veränderungen innerhalb des Wahrnehmungserlebens führen. In diesem Zusammenhang sind soziale Lernprozesse auf Grund dysphorischen depressiven Verhaltens erheblichen Erschwerungen ausgesetzt. In der Regel sind zusätzlich zur schulischen
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Förderung therapeutische Maßnahmen notwendig, um den affektiven Erfahrungsbereich aufzuarbeiten. Hormonelle, konstitutionelle und affektive Problembereiche können – zumindest in leichter Ausprägung – in Einzelfällen bei Kindern und Jugendlichen aller Schulformen vorkommen. 26.6.2 Sexuelles Verhalten im Kontext von Einflüssen der Sozialisation Unter den Sozialisationsinstanzen, die sexuelles Verhalten entscheidend beeinflussen, nimmt in der Regel die Familie eine exponierte Stellung ein. Die dort in früher Kindheit bereits internalisierten Norm- und Verhaltensvorstellungen sind bedeutsam für die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Kindes. Lebenswelten bei Kindern mit Lern- und Entwicklungsstörungen zeichnen sich zu einem sehr großen Teil durch soziale Randständigkeit aus (Werning, 1996; Werning & Lütje-Klose, 2003). Häufig sind Familien belastet durch Arbeitslosigkeit, Armut, allein erziehende Elternteile, ein erhöhtes Konfliktpotential unter Familienmitgliedern usw. Soziale Randständigkeit ist zumeist gekennzeichnet durch Ungleichheit der Arbeit, durch kulturelle Ungleichheit – z. B. bezogen auf Schulbildung –, durch distributive Ungleichheit hinsichtlich des verfügbaren privaten Einkommens, durch ökologische Ungleichheit − bezogen auf Wohn- und Wohnumweltbedingungen −, durch ungünstige Familien- und Haushaltsstrukturen, durch gesundheitliche Ungleichheit sowie durch geschlechtliche Ungleichheit (Stange, 1994). Ungünstige Lebensumstände dieser Art vermögen sexuelle Verhaltensdispositionen bei Kindern nachhaltig zu beeinflussen. Über das Imitationslernen werden so z. B. ein Interaktionsstil, der nicht durch Zärtlichkeit und Liebe geprägt ist oder durch Gewalt gekennzeichnete Konfliktlösungsmuster nachgeahmt und internalisiert. Insbesondere spielt der Armutsfaktor in Sozialhilfe-Haushalten mit seinen weitreichenden psychosozialen Belastungen eine große Rolle. Hiervon sind in der Bundesrepublik ca. 500.000 Kinder unter 7 Jahren betroffen (Hanesch, Krause, Bäcker, Maschke & Otto, 2000). Erfahren Kinder in Problemfamilien zu wenig emotionale Zuwendung und Anerkennung, so ist die Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein erschwert, die im Sinne von Sozio-Sexualität tragend für die Gestaltung einer partnerschaftlichen Beziehung im Erwachsenenalter ist. Einflüsse der Primär- wie Sekundärsozialisation bestimmen ebenso maßgeblich die Geschlechtsrollenentwicklung. Bereits in der Zeit der frühen Kindheit wird die „gender role“, die die physiologischen Eigenarten der Geschlechtsrolle zum Ausdruck bringt, in ihren Grundlagen gefestigt. In dieser Zeit wird das Grundgefühl bzw. Identitätsgefühl entwickelt, ein Mädchen bzw. ein Junge zu sein. Für Kinder in erschwerten Lern- und Lebenssituationen ist es vor allem die „sex role“, die soziologische Geschlechtsrolle, die sie im Rahmen soziokultureller Benachteiligung in besonderer Weise prägt. Die Handhabung der Geschlechtsrolle spiegelt in vielen Fällen die unbewusste Übernahme traditioneller Rollenklischees aus den Elternhäusern. Nach diesen vorherrschenden Rollenklischees sind Angelegenheiten des Haushalts und der Erziehung noch immer primär Sache der Frau, Arbeit und Beruf allein Sache des Mannes, wie in folgenden Schüleraussagen deutlich wird (Schmetz, 1988, S. 11):
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| Teil VI: Schule und Unterricht – „Ich will den Haushalt alleine machen – der (Mann) geht ja arbeiten. Am Wochenende kann er beim Abtrocknen helfen“ (Nicole, Klasse 10). – „Also, wenn ich arbeiten gehe, dann mache ich gar nichts zu Hause. Nur ab und zu, wenn ich mal frei hab, dann ja“ (Klaus, Klasse 9). Weiterhin zeigen Interviews mit weiblichen Jugendlichen in soziokulturell benachteiligten Milieus (Kampshoff, 1996), dass Planungen für die Zukunft – z. B. bezogen auf Berufsmöglichkeiten, eine eigene Wohnung, eine Familie und Kinder – nur in Ansätzen vorhanden sind. Für die schulische Sexualerziehung ergibt sich hier die Notwendigkeit, ein Korrektiv gegenüber Rollenklischees vorzunehmen und im Sinne einer interaktivkommunikativen Unterrichtsgestaltung das ABC des sozialen und emotionalen Lernens im Rollenhandeln zu erschließen. Interaktionsabläufe zwischen Jungen und Mädchen sind häufig durch dissoziale Beziehungsmuster belastet, die prosoziales Handeln erschweren. Die daher wichtige Thematik „doing gender“ in der Sexualerziehung, welche die aktive Mitgestaltung der kulturellen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit in der täglichen Interaktionsgestaltung zwischen Mädchen und Jungen, Männern und Frauen vorsieht, erhält im Rahmen interkultureller Erziehung an Schulen für Lernbehinderte oder an Förderschulen besondere Bedeutung. Der extrem hohe Anteil ausländischer Kinder und Jugendlicher in diesen Schulen (Kornmann, Burgard & Eichling, 1999; Kornmann & Kornmann, 2003) erfordert eine intensive Darstellung von und Auseinandersetzung mit dem normativen Anspruch der Geschlechtsrollengestaltung in den Kulturen. Eine eindeutige Geschlechtsrollenzuordnung im Sinne von männlich oder weiblich ist bei Transsexuellen erschwert. Seit Inkrafttreten des Transsexuellen-Gesetzes von 1980 gibt es zwar die Möglichkeit der operativen und hormonellen Geschlechtsumwandlung, jedoch sind die Bedingungen hierzu – u. a. durch den einjährigen „Alltagstest“ – nicht leicht zu erfüllen. Gesellschaftliche und berufliche Vorurteile massiver Art müssen von den Betroffenen überwunden werden. Transsexuelle stehen oft irgendwo zwischen Mann und Frau und haben große Schwierigkeiten, ihre Identität zu finden. In der Regel ist eine intensive sexualpädagogische Betreuung notwendig. Die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung regelmäßig durchgeführten Befragungen von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren zum sexuellen Verhalten zeigen in ihrer Gesamtheit deutlich eine stetige Zunahme sexueller Erfahrungen vielfältigster Art im Jugendalter. Die gewonnenen Jugenddaten zum sexuellen Verhalten aus dem Jahre 2001 (n = 2.565) beziehen sich auf Jugendliche aller Schulformen. Sie sind auch für Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ihrer Aussagetendenz zutreffend. Unter anderem sind die folgenden Daten für die Sexualerziehung von besonderer Wichtigkeit: – Der Schulunterricht ist die von den Jugendlichen am meisten genannte Quelle für Kenntnisse zur Sexualität. – Nach wie vor wird das Angebot der Beratungsstelle für Jungen und Mädchen nur wenig genutzt (10 % der Mädchen, 12 % der Jungen). – Im Alter von 14 und 15 Jahren ist die am weitesten verbreitete Form von Zärtlichkeit das Küssen. Mit 14 Jahren haben etwa 70 % der Mädchen und 62 % der Jungen Küsse mit dem anderen Geschlecht ausgetauscht.
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– Innerhalb der Petting-Erfahrungen ist im Alter von 14 bis 17 Jahren eine stetige Zunahme festgestellt. Brust-Petting ist in der Häufigkeit bei 14-Jährigen mit 32 % (Mädchen) und mit 28 % (Jungen), bei 15-Jährigen mit 49 % (Mädchen wie Jungen), bei 16-Jährigen mit 67 % (Mädchen) und mit 64 % (Jungen) und bei 17-Jährigen mit 76 % (Mädchen) und mit 81 % (Jungen) festgestellt. Ähnliche Werte zeigen sich beim Genital-Petting in männlich-aktiver wie weiblich-aktiver Form. – Innerhalb der Geschlechtsverkehrerfahrung bei Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren zeichnet sich in den letzten 20 Jahren ein deutlicher Anstieg ab. Im Jahre 2001 hatte jeder dritte Jugendliche (35% der Mädchen, 31% der Jungen) in diesem Alter Geschlechtsverkehr. 2001 lag das Durchschnittsalter für den ersten Geschlechtsverkehr bei etwa 15 Jahren. Deutlich angestiegen ist der gleichgeschlechtliche Kontakt (61 % der Mädchen, 53 % der Jungen). – Auffällig beim ersten Geschlechtsverkehr ist, dass er bei immer mehr Jugendlichen ungeplant erfolgt und in fast jedem fünften Fall ohne Verhütungsmaßnahmen. Folgende Gründe wurden dafür genannt: – Es kam spontan (58 % der Jungen, 60 % der Mädchen), – es wird schon nichts passieren (26 % der Jungen, 42 % der Mädchen), – Alkohol, Drogen im Spiel (19 % der Jungen, 21 % der Mädchen), – „wollten aufpassen“ (24 % der Jungen, 5 % der Mädchen), – nicht anzusprechen getraut (17 % der Jungen, 14 % der Mädchen), – nicht getraut, Kondome zu kaufen (10 % der Jungen, 12 % der Mädchen), – keine Verhütungsmittel zur Hand (1 % der Jungen, 13 % der Mädchen). Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes (2003) waren im Jahr 2002 7.443 Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen bekannt. Die hier genannten Daten belegen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Sexualerziehung und in diesem Zusammenhang die Thematisierung des Verhütungserhaltens (vgl. Stange, 1993) sowie der Aidsprävention, um heranwachsenden Menschen eigenständiges und verantwortungsbewusstes Handeln in den sozialen Bezügen der Geschlechter zueinander zu ermöglichen und zuzugestehen. Unter den Sozialisationseffekten mit Auswirkungen auf das sexuelle Verhalten von Kindern und Jugendlichen haben Schönheitsnormen einen hohen Stellenwert. Schönheitsideale werden nicht nur von der Musik-, Film- und Modeszene vorgegeben und von Kindern und Jugendlichen aufgegriffen und nachgeahmt, sie werden ebenso von der Sport- und Ernährungsindustrie mit dem Faktor Gesundheit verbunden und vermarktet. Der menschliche Körper wird nicht selten einem Kult unterworfen, der in unterschiedlichen Erscheinungsformen – insbesondere bei heranwachsenden Menschen – massiv Schönheitsempfinden und Schönheitsvorstellungen beeinflusst. Piercings und Tattoos z. B. sind inzwischen nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Ältere als Merkmale individueller Körperkunst etabliert. Hinzu kommen die reichhaltigen Angebote z. B. von Branding, Body Modification, Fitnesstraining, Muskeltraining, Diäten usw. Der in der Erlebnisgesellschaft entwickelte Schönheitskult, die Umfunktionierung von Schönheit als Leistung und Ware, als Glücksideal und Statussymbol und weiterhin die Kommerzialisierung und Vermarktung von Sexualität stellen Problembereiche dar, die für Kinder und Jugendliche aller Schulformen der kritischen Aufarbeitung bedürfen. Hierbei sind
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| Teil VI: Schule und Unterricht Kinder und Jugendliche mit Lern- und Entwicklungsstörungen auf weiter reichende sexualerzieherische Hilfen angewiesen. Einen weiteren Problembereich innerhalb der Auswirkungen von Sozialisation auf sexuelles Verhalten bei Kindern und Jugendlichen in erschwerten Lern- und Lebenssituationen stellt der Gebrauch der Sprache dar. Die häufige Verwendung der Vulgärsprache im Alltagshandeln ist bei diesen Schülerinnen und Schülern sehr ausgeprägt (Rohr, 1974; Schmetz, 2001). Es zeigt sich, dass Jugendliche aus ungünstigen sozialen Lebenslagen mit Beeinträchtigungen des Lernens häufiger die Vulgärsprache benutzen und zugleich auch weniger in der Lage sind, in ihrem Sprachverhalten den Code situationsangemessen zu wechseln. Während ihr sexuelles Sprachverhalten in der peer group akzeptiert ist, fällt es ihnen schwer, neutrale Bezeichnungen in anderen Interaktionssituationen, z. B. beim Arzt zu verwenden. Soziokulturell benachteiligte Kinder und Jugendliche sind auch in der Sexualerziehung auf die Vermittlung verbaler Strategien und Verhaltensmodelle angewiesen, um ihre sprachliche Kompetenz erweitern zu können. 26.6.3 Intention, Inhalts- und Förderbereiche Sozio-sexuelle Handlungsfähigkeit gilt als übergreifende Zielsetzung interaktiv-kommunikativer Sexualerziehung. Ihr liegt eine Erziehungskonzeption zu Grunde, die dem Anliegen der Norm der humanitär-autonomen Vernunft gerecht wird. Eine Sexualmoral, die sich dem Primat der Vernunft unterstellt, bietet keinen Raum für sexualerzieherische Konzeptionen, die darauf gerichtet sind, Schuldgefühle zu erhöhen, Angst zu erzeugen, Kulturgehorsam zu erreichen, Realität zu tabuisieren und Idealisierungen vorzunehmen. Sexuelle Verhaltensnormen, die in der modernen Gesellschaft in Institutionen wie Ehe, Familie, Religion, Medizin, Journalismus, Wirtschaft, Schule usw. eine Rolle spielen, sind mittels der humanitär-autonomen Vernunft auf Restriktivitäts- und Permissivitätsgrade, auf Scheinemanzipation und Scheinliberalisierung, auf Verdinglichung und Kommerzialisierung zu überprüfen. Sozio-sexuelle Handlungsfähigkeit ist darauf gerichtet, einem Humanitäts-Gedanken zu entsprechen, der für das Zusammenleben der Mitglieder der Gesellschaft vom Grundsatz ausgeht, dass eine Gesellschaft das wert ist, was in ihr Beziehungen des einzelnen Menschen zum anderen Menschen wert sind. Humanität in diesem Sinne bildet somit die Grundlage sozialer Verantwortung im sexuellen Verhaltensbereich. Sie setzt zugleich auch autonomiegeleitete Handlungsfähigkeit voraus. Autonomie im Kant’schen Sinne meint die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung nicht nur im Sinne von Freiheit „wovon“, sondern auch im Sinne von Freiheit „wofür“. Die der Norm der humanitär-autonomen Vernunft verpflichtete sozio-sexuelle Handlungsfähigkeit gibt den Inhalts- wie den Förderbereichen in der Sexualerziehung ihre intentionale Gerichtetheit. Zu den grundlegenden Inhaltsbereichen der Sexualerziehung zählen Körperbewusstsein, Gesundheit und Prävention, Begegnung und Bindung der Geschlechter, Glück und Verantwortung, Sexualität und Gesellschaft. Diesen Bereichen ist das weite Kompendium sexualerzieherischer Themen zuzuordnen (siehe Tab. 4). Als besondere Förderbereiche gelten Lern- und Leistungsmotivation, Kognition und Wissen, Wahrnehmung, Emotionalität, soziale Interaktion, Kommunikation, Einstellung und Werthaltung. Wie die Kinder und Jugendlichen diesbezüglich vorgeprägt sind und wie sie
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Tabelle 4: Matrix zur Intention, zu Inhalts- und Förderbereichen der Sexualerziehung Intention: Sozio-sexuelle Handlungsfähigkeit
II Gesundheit/ Prävention
III Begegnung und Bindung der Geschlechter
IV Glück und Verantwortung
V Sexualität und Gesellschaft
1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6
Männlicher Körper Weiblicher Körper Befruchtung Schwangerschaft Geburt Gesundheitsregeln und Hygiene Geschlechtskrankheiten Empfängnisverhütung AIDS Sexueller Missbrauch Freundschaft Liebe Sexuelles Erleben Eheformen Familienformen Selbstfindung Normen und Werte Schwangerschafsabbruch Kinderwunsch Kindererziehung Wandel der Sexualmoral Geschlechtsrollenverhalten Vermarktung von Sexualität Ehe- und Familienrecht Sexualstrafrecht
G Einstellung und Werthaltung
F Kommunikation
E Soziale Interaktion
D Emotionalität
C Wahrnehmung
B Kognition und Wissen
Inhaltsbereiche I Körper bewusstsein
A Lern- und Leistungsmotivation
Förderbereiche
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| Teil VI: Schule und Unterricht sich entwickeln resultiert aus der jeweils spezifischen bio-sozialen Interaktion im Kontext von Elternhaus, peer group, Schule und anderen gesellschaftlichen Einflussnahmen und Auswirkungen. So ist die Lern- und Leistungsmotivation von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu verbessern, indem konkret ihr soziokultureller Erfahrungsbereich zum Ausgangspunkt genommen wird, um, z. B. anhand von Fallbeispielen, Probleme und Möglichkeiten im Zusammenleben der Geschlechter bewusst zu machen und zu bearbeiten. Durch Problemstellungen aus der Kinder- und Jugendsexualität dürften Aufgeschlossenheit und Interesse gegenüber sexualerzieherischen Fragestellungen geweckt werden. Ebenso ist der Förderbereich Kognition und Wissen für die Zielsetzung der sozio-sexuellen Handlungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unentbehrlich. Sie sind in diesem Bereich auf eine besondere Förderung angewiesen, um Grundlagenkenntnisse zu zentralen sexualerzieherischen Inhalten zu erwerben. Der Förderbereich der Wahrnehmung hat große Bedeutung für die Aufnahme und Verarbeitung von Gefühlen und für das Rollenhandeln der Geschlechter. Er steht in enger Verbindung mit dem Förderbereich der Emotionalität. Für den Umgang mit Gefühlen ist es für den Menschen entscheidend, welche Sichtweise von Welt er innerhalb seiner Wahrnehmung bevorzugt. Hierzu zählt, wie er eine Beziehung und eine Person definiert, wie er ein Ereignis erklärt und welche Einstellung er Veränderungen gegenüber hat. Insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten besteht die Gefahr, sich im Vergleich zu anderen als minderwertig einzuschätzen. Ihr Gefühlsleben ist somit häufig von einer leidenden und pessimistischen Grundstimmung und Lebenseinstellung geprägt. Sie haben das Gefühl, anders zu sein als sie es tatsächlich sind: „Ich bin zu dumm“, „Ich bin hässlich.“ Mit solchen und ähnlichen Gedanken negieren sie ihre individuelle Persönlichkeit. Sie orientieren sich an einem äußeren Maßstab. Entsprechen sie diesem nicht, so meinen sie, sie seien „nicht richtig“, sie „passen nicht“ und erschweren sich den Weg hin zu einem positiven Selbstwertgefühl. Unterwerfen sich Menschen dem Zwang zur Konformität, ignorieren sie schließlich ihre eigene Persönlichkeit. Sozio-sexuelle Handlungsfähigkeit will hingegen ermutigen, Ängste zu überwinden, Unbekanntes zu wagen und etwas Neues einzugehen. Hierzu zählen insbesondere Partnerschaft und Liebe, in der die Menschen die Freiheit haben sollen, ihre Gefühle zu zeigen und ihre Unterschiede zu leben. Ebenso gehört hierzu die Sensibilisierung für die vielfältigen Facetten des Gefühlslebens wie Zorn, Trauer, Furcht, Überraschtsein, Scham, Schuld, Eifersucht, Zuneigung, Angst, Wut, Neid, Schmerz, Freude, Minderwertigkeit usw. Auf Grund vielfältiger negativer Erfahrungen im soziokulturell benachteiligenden Umfeld sind Kindern und Jugendlichen in erschwerten Lern- und Lebenssituationen auf eine intensive Förderung von Wahrnehmung und Emotionalität angewiesen, um ihre interpsychischen wie intrapsychischen Fähigkeiten zu verbessern, Zugang zu eigenen Gefühlen wie zu denen anderer Menschen zu erlangen und in positiver Interaktionsgestaltung Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die Förderbereiche soziale Interaktion und Kommunikation bedürfen für die Ausbildung sozio-sexueller Handlungsfähigkeit besonderer Aufmerksamkeit. Zwischenmenschliche Handlungen können zum einen aus interaktiver Perspektive im Sinne des Rollenhandelns betrachtet werden. Dieselben Interaktionen können aus kommunikativer Perspektive im Sinne des Sprachhandelns reflektiert werden. Für den interaktiv-kommunikativen Gestaltungsbereich gelten in Weiterentwicklung der Grundgedanken von
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Chopich und Paul (2000) sowie Satir, Banmen, Gerber und Gomori (2000) bezüglich der Fördermöglichkeiten folgende richtungweisenden Perspektiven: – Menschen treten in soziale und darüber hinaus in sexuelle Beziehungen zueinander. Dies geschieht in der Regel auf der Grundlage ihrer Gemeinsamkeiten. Sie wachsen in ihrer Beziehung zueinander auf Grund ihrer Verschiedenartigkeit. – Jeder vermag in der Interaktions- und Kommunikationsgestaltung auf Grund seiner inneren Ressourcen Einfluss auf den anderen zu nehmen und innerlich zu wachsen und sich zu verändern. – In Interaktion und Kommunikation zwischen den Geschlechtern sollen Kinder und Jugendliche sich ihrer Geschlechtsrolle bezogen auf ihre physiologische Eigenart (gender role) und auf ihre soziologische Ausprägung (sex role) bewusst und im Sinne der Gleichwertigkeit der Geschlechter mit ihr vertraut werden. Sie sollen in Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen lernen, dass ein Problem nicht im Problem an sich, sondern in der Art des Umgangs mit dem Problem liegt. Im Umgang mit Problemen sollen sie pro-soziale Konfliktlösungsmöglichkeiten kennen lernen und in die Lage versetzt werden, eigene Entscheidungen zu treffen. – Im interaktiven und kommunikativen Handeln sollen Kinder und Jugendliche erfahren, dass Gefühle Teile von ihnen sind und dass jeder sie hat. – Sie sollen lernen, dass partnerschaftliche Beziehungen auf Gleichwertigkeit gründen. Im interaktiven und kommunikativen Kontext sollen sie erfahren, dass Menschen im Grunde ihres Wesens gut sind. Um ihr Selbstwertgefühl zu stärken, sind ihnen Gelegenheiten vielfältigster Art zu eröffnen, in denen sie ihre innere Mitte finden können. – Kinder und Jugendliche sollen Erziehungsmuster ihrer eigenen Ursprungsfamilie durchschauen lernen, die dysfunktional angelegt sind, wie z. B. sich dem Anderen gegenüber immer in der Opferrolle zu befinden oder Co-Abhängigkeiten dem Familienmitglied gegenüber im Gefühlsleben zu praktizieren. Sie sollen in der Weise gefördert werden, dass sie sich von diesen dysfunktionalen Erziehungsmustern distanzieren und befreien können. – Heranwachsende Menschen sollen erkennen, dass zur Liebe zwischen zwei Menschen und zu dem Erhalt von Liebe nicht nur die Bindung, sondern auch das Loslassenkönnen und die Distanz gehören. – Jede Interaktions- und Kommunikationsgestaltung im sexuellen Handlungsbereich eröffnet zumindest die Möglichkeit, eine innere Veränderung anzustreben. Je stärker das Selbstwertgefühl ausgeprägt ist, desto leichter gelingen Bewältigungsstrategien zur Veränderung. Im Rahmen dieser Perspektiven gelten für den Förderbereich soziale Interaktion und Kommunikation im Besonderen die Förderung von Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, die Förderung der Fähigkeit zur Rollendistanz, zur Rollenübernahme und zur eigenständigen Rollengestaltung sowie die Förderung der Empathiefähigkeit. Für das sexuelle Sprachverhalten sollen Wertigkeiten wie Orientierung an Wirklichkeit, Orientierung an Kommunikation und Orientierung an Emanzipation zu Grunde gelegt werden (vgl. Langenohl, 1977, S. 297). Für den Förderbereich der Einstellung und Werthaltung ist zu bedenken, dass im sexuellen Verhaltensbereich insbesondere die sozialen Normen in Verbindung mit bestimmten
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| Teil VI: Schule und Unterricht Werten interessieren. Sexualmoral ist an obersten Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Liebe, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerichtet. Leitideen dieser Art sind unentbehrlich für die Regelung sozialer Interaktionen im sexuellen Verhaltensbereich. Die in Tabelle 4 zueinander in Beziehung gesetzten Inhalts- und Förderbereiche geben einen Überblick über das weite Spektrum schulischer Sexualerziehung. Ein solcher Überblick ist für Lehrpersonen hilfreich, die individuelle Förderpläne für Kinder und Jugendliche entwickeln und diese in den sexualerzieherischen Gesamtzusammenhang einordnen wollen. 26.6.4 Methodisch-mediale Aspekte Die methodisch-mediale Gestaltung des Sexualunterrichts ist innerhalb didaktischer Rahmenbedingungen von der Frage geleitet, wer was, warum, wozu und wie lernen soll (vgl. Lemmermöhle, 1998, S. 260 ff.). Der methodischen Vorgehensweise interaktiv-kommunikativer Sexualerziehung bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten liegt ein Lernverständnis zu Grunde, in dem Lernen als der Aufbau und die Erweiterung des Wissensnetzes durch Selbststeuerung verstanden wird (vgl. Maturana & Varela, 1987). Sexualerziehung ist somit auf ein methodisches Vorgehen angewiesen, das im Sinne der Öffnung von Schule und Unterricht eigenständiges und selbstverantwortetes Lernen vorbereitet und ermöglicht, damit Erziehung als ein Prozess der Emanzipation der Schülerin und des Schülers wirksam werden kann (vgl. Blankertz, 1982). Themenbereiche aus der Sexualerziehung wie Kleidermoden und Schönheitsnormen, Körperpflege und Gesundheit, „Mädchenrolle“ und „Jungenrolle“, Empfängnisverhütung, Freundschaft und Liebe, Schwangerschaft und Geburt, Familie, Prostitution, Sexualität und Werbung bieten sich geradezu zur Realisierung Offenen Unterrichts z. B. in Form von Tagesplanarbeit, Wochenplanarbeit, projektorientiertem Lernen, Stationenlernen oder Werkstattunterricht an (vgl. Meyer, 2000). So wird selbständiges und selbstbestimmtes Verhalten, das die Grundlage sozio-sexueller Handlungsfähigkeit bildet, bereits durch die Lernorganisation begünstigt. Die Vorbereitung von und die Hinführung zu Arbeitsformen Offenen Unterrichts ist im Rahmen von Lernschwierigkeiten darauf zu richten, entsprechende Lernhilfen durch Strukturierung und Begrenzung und durch Maßnahmen der Differenzierung und Individualisierung zu vermitteln. Dies kann bezogen auf Stoffumfang, Zeitaufwand oder Komplexitätsgrad, durch wiederholendes Üben, durch direkte Hilfe, durch Variation des Grades der Selbständigkeit und der Art der inhaltlichen oder methodischen Zugänge unter Berücksichtigung der Vorerfahrungen und der Kooperationsfähigkeit geschehen (vgl. Klafki & Stöcker, 1991, 189 ff.). In Sachen Beratung, Prävention und Gesundheit ermöglicht die Zusammenarbeit der Schule mit örtlichen und überörtlichen Einrichtungen wie Jugendamt, Gesundheitsamt, Arbeiterwohlfahrt (AWO) usw. den Schülerinnen und Schülern auch außerhalb der Schule ihre Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit im Sinne einer eigenständigen Lebensführung zu erproben und zu erweitern. Für die Interaktions- und Kommunikationsgestaltung im Sexualunterricht sind Sozialformen wie Partnerarbeit, Kleingruppenarbeit und die Präsentation von Arbeitsergebnissen im Klassenverband außerordentlich förderlich. Darüber hinaus bietet das Rollenspiel Gestaltungs- und Aufarbeitungsmöglichkeiten sozio-sexueller Problembereiche.
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Für die mediale Gestaltung des Sexualunterrichts ist eine Vielzahl von sexualerzieherischen Kinder- und Jugendbüchern, Jugendzeitschriften und Filmen sowie eine immer größer werdende Anzahl von Computerprogrammen vorhanden. Hinzu kommen Arbeitsmaterialien für den Unterricht wie Modelle, Bildtafeln, Haftelemente, Kopiervorlagen, Arbeitsblätter. Der didaktische Anspruch an Medien richtet sich darauf, dass sie realitätsbezogen, schülerbezogen, lernmotivierend, problemorientiert, interaktions- und kommunikationsbezogen sein sollen. Sie dienen der Veranschaulichung, der Isolierung von Schwierigkeiten, der Wiederholung, der Individualisierung und Differenzierung. Für den Einsatz von Medien im Sexualunterricht gilt die schulrechtliche Bestimmung, dass dieser in Absprache zwischen Lehrperson und Eltern vorzunehmen ist. Die Handhabung der Medienauswahl zur Sexualerziehung ist jedoch in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich – teilweise liberal, teilweise einschränkend – geregelt.
Literatur Blankertz, H. (1982). Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). (2002). Jugendsexualität. Wiederholungsbefragung von 14- bis 17jährigen und ihren Eltern. Ergebnisse der Repräsentativbefragung aus 2001. Köln: Herausgeber. Chopich, E. J. & Paul, M. (2000). Aussöhnung mit dem inneren Kind. Donauwörth: Auer. Hanesch, W., Krause, P., Bäcker, G., Maschke, M. & Otto, B. (2000). Armut und Ungleichheit in Deutschland. Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kampshoff, M. (1996). Schule – Jugend – Identität. 12- und 16jährige Schülerinnen und Schüler im Vergleich. Bielefeld: Kleine. Klafki, W. & Stöcker, H. (1991). Innere Differenzierung des Unterrichts. In W. Klafki (Hrsg.), Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritischkonstruktive Didaktik (2. erweiterte Aufl., S. 173-208). Weinheim: Beltz. Kornmann, R., Burgard, P. & Eichling, H.-M. (1999). Zur Überrepräsentation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in den Schulen für Lernbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 50, 106-109. Kornmann, R. & Kornmann, A. (2003). Erneuter Anstieg der Überrepräsentation ausländischer Kinder in Schulen für Lernbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 54, 286-289. Langenohl, H. (1977). Sprache. In G. O. Kanter & O. Speck (Hrsg.). Pädagogik der Lernbehinderten (S. 278-292). Berlin: Marhold. Lemmermöhle, D. (1998). Didaktik! Wozu? Einführung in didaktisches Denken. In E. Nyssen & B. Schön (Hrsg.), Perspektiven für pädagogisches Handeln. Eine Einführung in Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik (2. Aufl., S. 259-289). München: Juventa. Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis (3. Aufl.). München: Scherz. Meyer, H. (2000). Unterrichtsmethoden (Bd. 1, Theorieband). Berlin: Cornelsen Scriptor. Rohr, B. (1974). Sexualerziehung sozial benachteiligter Schüler. Materialien für die Konstruktion eines Curriculums in der Lernbehindertenschule. Dortmund: Crüwell. Satir, V., Banmen, J., Gerber, J. & Gomori, M. (2000). Das Satir-Modell. Familientherapie und ihre Erweiterung. Paderborn: Junfermann.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Schmetz, D. (1988). Interaktionspädagogische Forschungsergebnisse zur Lernförderung und ihre Umsetzung in sonderpädagogische Praxis. Sonderschule in Niedersachsen, 4, 7-21. Schmetz, D. (1998). Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung (Kurseinheit 3980). Hagen: Fernuniversität – Gesamthochschule. Sellin, B. (1993). Ich will kein inmich mehr sein. Botschaften aus einem autistischen Kerker. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Stange, H. (1993). Jugend. Identität. Sexualität. Zur Ambivalenz von Individualisierungsprozessen unter erschwerten Lern- und Lebensbedingungen. Dortmund: projekt verlag. Stange, H. (1994). Die soziale Lebenslage von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen (Kurseinheit 4083). Hagen: Fernuniversität – Gesamthochschule. Statistisches Bundesamt (2003). Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland 1998 bis 2002 nach Alter der Frauen und Quote je 10.000 Frauen der Altersgruppe. Verfügbar unter: www.destatis. de/basis/d/gesu/gesutab17.htm [06.10.2003]. Werning, R. (1996). Das sozial auffällige Kind. Lebensweltprobleme von Kindern und Jugendlichen als interdisziplinäre Herausforderung. Münster: Waxmann. Werning, R. & Lütje-Klose, B. (2003). Einführung in die Lernbehindertenpädagogik. Weinheim: Beltz.
26.7 Religion und Ethik in der Schule Reinhard Thoma und Franz Trautmann 26.7.1 Grundsätzliches Sollen Religion und Ethik Gegenstände schulischer Bildung sein? Sind sie auch künftig als je eigenes Fach zu unterrichten, oder sind beide zu einem Fach zusammenzuführen bzw. als Fragehorizont in jedem Fach mitzubedenken und deshalb nicht eigens in der Stundentafel auszuweisen? Könnte nicht ein „Ethikunterricht für alle“ den Religionsunterricht ersetzen? Um diese und ähnliche Fragen wird seit Jahren gerungen – ausgelöst durch das 1991 in Brandenburg neu eingeführte Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“. Entweder wird die in der überwiegenden Mehrzahl der Bundesländer geltende und auf Grundgesetz Art. 7 basierende Praxis favorisiert, nach welcher ein konfessioneller Religionsunterricht in Verantwortung der Kirchen und ein vom Staat verantworteter Ethikunterricht als Ersatz- bzw. Alternativfach verpflichtend angeboten wird, oder man plädiert für ein übergreifendes Fach, in dem lebenspraktische, ethische und religiöse Fragestellungen in einem vom Staat verantworteten, weltanschaulich neutralen und für alle Schüler verpflichtenden Fach zusammengefasst sind. Wird jenseits solcher Positionierungen nach dem grundsätzlichen Stellenwert von Religion und Ethik im Zusammenhang schulischer Bildung gefragt, so besteht ein Konsens in der Aufgabenbeschreibung: Die Schule ist Stätte „allgemeiner Bildung“. Ihre Aufgabe erschöpft sich nicht in der Vermittlung von Sachwissen, von Fach- und Berufskompetenz, sondern intendiert auch die Herausbildung der Fähigkeit zu selbst verantwortetem Leben ebenso wie zur Wahrnehmung sozialer,
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ökologischer und politisch-gesellschaftlicher Verantwortung und damit zu einem sittlich reflektierten Handeln. Schule kann diesem Auftrag gerecht werden, wenn sie die Heranwachsenden in ihrem Lebenszusammenhang wahrnimmt, ihre Kräfte allseitig anregt und zur Entfaltung zu bringen sucht, um so ihre freie Selbstgestaltung zu ermöglichen. Wenn der junge Mensch mit seiner ganzen Existenz in den Horizont von Bildung kommen soll, darf sich Schule den Grundfragen nach dem, was der Mensch ist, was er wissen kann, was er tun soll und worauf er hoffen darf, nicht verweigern. Bildung ist auf die systematische Auseinandersetzung sowohl mit religiösen als auch mit ethisch-moralischen Lebensfragen angewiesen. Würde sie diese zentralen Bereiche menschlicher Lebenspraxis aus dem Bildungsprozess ausblenden, wären Identitätsbildung und Autonomie wie auch die Fähigkeit, sich in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zu verständigen und in ihr Verantwortung zu übernehmen, erschwert. Umgekehrt sind auch Religion und Moralität auf Bildung angewiesen, wollen sie nicht der Gefahr religiöser Irrationalismen und Fundamentalismen bzw. moralischer Beliebigkeit und mangelhafter ethischer Urteils- und Handlungskompetenz erliegen. Im europäischen Vergleich stellt die Einbeziehung religiös-ethischer Bildung in den Unterricht in Deutschland keinen Sonderfall dar. In fast allen Staaten, eine Ausnahme bildet Frankreich, ist religiös-ethische Bildung Teil des Schulunterrichts, entweder in Gestalt eines von den Religionsgemeinschaften verantworteten Religionsunterrichts oder als überkonfessionell wertneutrale Information über religiös-ethische Inhalte. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den Schulbedingungen in Deutschland. Hier werden die Bereiche Religion und Ethik abgesehen von Bremen, Berlin und Brandenburg in allen Bundesländern in zwei eigenständigen Unterrichtsfächern organisiert, die auf einer jeweils spezifischen, wissenschaftlich reflektierten Fachdidaktik fußen. Während die Religionsdidaktik und die Religionspädagogik seit langem in der wissenschaftlichen Lehrerausbildung verankert sind, ist die Didaktik des Faches Ethik jüngeren Datums. 26.7.2 Religionsunterricht und Ethikunterricht bei Lernbehinderten: ein Randphänomen Die unterrichtsbezogenen Interessen der Religionspädagogik und der Ethikdidaktik gelten, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Heimbrock, 1986; Kollmann, 1988; MüllerFriese, 2001; Schilling, 1983), der Regelschule, während die gegenwärtige Lernbehindertenpädagogik am Thema Religion und Ethik innerhalb des schulischen Bildungsbereichs völlig desinteressiert zu sein scheint. Bislang kann von einer konsistenten sonderpädagogischen Fachdiskussion innerhalb dieser beiden Fachdidaktiken nicht die Rede sein, und auch ein empirisches Interesse, das zur Optimierung unterrichtlicher Lernprozesse und für die Erstellung von Lehrplänen für die Schule für Lernbehinderte dringend notwendig wäre, ist nicht auszumachen. Allerdings lassen sich entsprechende empirische Ergebnisse aus dem Grund- und Hauptschulbereich und aus Forschungen zu Religiosität und Wertorientierung Jugendlicher auf die Schüler der Lernbehindertenschule in etwa übertragen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 26.7.3 Keine „Sonderkonzeption“ für Religions- und Ethikunterricht Der Religionsunterricht an Schulen für Lernbehinderte hat grundsätzlich keine anderen Ziele und Aufgaben als der Unterricht an Regelschulen. Dies gilt ebenso für den Ethik unterricht: 1. Der Bildungsauftrag der Sonderschule, die Schüler zu einer erfolgreichen und weitgehend selbständigen Lebensbewältigung zu befähigen, unterscheidet sich nicht von den Intentionen der Regelschule. Angesichts verstärkten Integrationsbemühens und daraus resultierendem gemeinsamen Unterricht mit Schülern der Regelschule wäre eine solche Differenzierung kontraproduktiv. 2. Das Spezifikum lernbehinderter Schüler gegenüber den „nichtbehinderten“ Schülern der Grund- und Hauptschule ist nicht eindeutig zu formulieren. Insofern ist es problematisch, religions- und ethikdidaktische Grundlagen zu postulieren, die sich auf ein spezielles Phänomen Lernbehinderung beziehen sollen. Daraus ergibt sich: Nicht die Reduktion der Ziele und Inhalte des Religions- und Ethikunterrichts an der Regelschule auf das Niveau der Sonderschule ist angebracht, sondern die Formulierung von Aufgabenstellungen, an denen die grundsätzliche Relevanz für alle Schüler, behinderte wie nichtbehinderte, deutlich wird (Müller-Friese, 2001). 26.7.4 Religionsunterricht 26.7.4.1 Rechtliche und organisatorische Situation Der Religionsunterricht an der Schule für Lernbehinderte ist ordentliches Schulfach und wird gemäß Grundgesetz Art. 7, Abs. 3 „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt. Seine inhaltliche Ausgestaltung als auch die Anerkennung derer, die dieses Fach unterrichten, liegen in Verantwortung der Religionsgemeinschaften. Für die Schüler, die vom Religionsunterricht abgemeldet sind – bundesweit unter 5% (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister, 2002) − und für jene, die konfessionslos sind, ist vielerorts ein Ethikunterricht eingerichtet. Muslime, die den größten Teil der nichtchristlichen Schüler bilden, erhalten eine religiöse Unterweisung häufig im Rahmen des muttersprachlichen Unterrichts. Seit einigen Jahren gibt es intensive Bemühungen, die bisherige Unterweisung aus den Koranschulen zu lösen und einen eigenen Islamunterricht in deutscher Sprache an den öffentlichen Schulen zu installieren. 26.7.4.2 Die Religiosität der Schüler Bis weit in die Mitte des 20. Jh. konnte man bei der überwiegenden Zahl der Schüler in den westlichen Bundesländern eine explizit kirchlich-christliche Prägung als selbstverständlich voraussetzen. Religiöse Pluralität erschien vornehmlich in der Verschiedenheit der Konfessionen. Der lebensweltliche Kontext, in dem die Schüler heute aufwachsen, ermöglicht demgegenüber nicht mehr ohne weiteres kirchlich-christliche Erfahrungen
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und eine entsprechend geformte (konfessionelle) Religiosität und Lebensdeutung. Zwar ist im Grundschulalter grundsätzlich eine hohe Bereitschaft festzustellen, an Gott zu glauben und an kirchlichen Vollzügen teilzunehmen. Viele Studien zeigen jedoch, dass mit zunehmendem Alter Religiosität immer mehr als Aktivität des Einzelnen verstanden wird, was sich in einem zunehmenden Auseinanderdriften der individuellen und der kirchlich gebundenen Religiosität zeigt. Eine völlige Entkoppelung subjektiver Religiosität von christlichen Inhalten und Symbolen sowie von christlicher Sprache ist allerdings nicht festzustellen (Fuchs-Heinritz, 2000). Die neue Religiosität der Jugendlichen stellt sich weniger in einer eigenständigen, sich abseits der Kirchen gestaltenden Bewegung dar, sondern vollzieht sich als eine „qualitative Veränderung des Zugriffs auf Religion“ (Sandt, 1996, S. 42). 26.7.4.3 Schüler als Subjekte religiösen Lernens Die einzelnen Schüler sind keineswegs als bloße Adressaten, als Empfänger religiöser Wissensinhalte, Werthaltungen oder Verhaltensformen zu begreifen, sondern sie treten dem Lehrer als Subjekte religiösen Lernens mit einer je eigenen Lebensgeschichte gegenüber, die ihre Individualität ausmacht, sie mit anderen verbindet und von anderen unterscheidet. Zwar sind ihre Biografien alle unterschiedlich geprägt von Lernschwierigkeiten und -beeinträchtigungen, von Erfahrungen unterrichtlichen Misserfolgs, schulisch-institutioneller Separierung und sozialen Belastungssituationen, wovon man nicht absehen kann, doch reicht in der Subjekt-Perspektive der Blick über die „Behinderung“ hinaus. Die Schüler erscheinen hier nicht primär als Individuen mit Defiziten, sondern als solche, die im Kontext intersubjektiver Lebenszusammenhänge bereits zu Wissen, Fähigkeiten, Symbolverstehen, (religiösen) Lebensdeutungen, Meinungen und Haltungen gekommen sind. Die Forderung lautet deshalb: Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung (vgl. 26.7.4.2, Die Religiosität der Schüler)! Aus christlicher Perspektive ist jeder Mensch „Person“, von Gott in unverfügbarer Weise mit Würde bedacht und zur Freiheit berufen, die er nicht individualistisch, sondern in Relationalität und in Verantwortung gegenüber anderen wagen soll. Dass das menschliche Streben nach Vollendung in Freiheit (Subjektwerdung) nicht ins Leere läuft, sondern vor Gott gelingt, dafür steht die biblische Verheißung des „Reiches Gottes“. 26.7.4.4 Religionspädagogische Konsequenzen Diese Perspektiven führten zur Korrelationsdidaktik bzw. zum Konzept der Elementarisierung. Der Religionsunterricht steht hier im Dienst der Subjektwerdung der Schüler. In einem Prozess kritisch-kommunikativer Wechselbeziehung zwischen (biblisch geprägter) Glaubensüberlieferung und -erfahrung und eigener Lebenserfahrung werden lebenspraktische Fragen ins Spiel gebracht. Die Lebenserfahrungen der Schüler und ihre (Sinn-) Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, nach Gott, Leid, Gut und Böse, Krieg und Frieden, Gelingen und Scheitern von Beziehungen usw. sind dabei nicht bloße methodische Anknüpfung, sondern bleibender Bezugsrahmen des Religionsunter-
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| Teil VI: Schule und Unterricht richts (kommunikative Didaktik: Kollmann, 1988). Ziel dieses Prozesses ist sowohl die Befähigung zu kritischer und dialogfähiger Rationalität und entfalteter Emotionalität in religiösen Fragen, als auch die Entwicklung einer eigenen Sinnbasis. Die hier wirksame Subjektorientierung verlangt didaktisch-methodisch nach einer deutlichen Stärkung der Eigenaktivität des Schülers. Handlungsorientierte Unterrichtsverfahren, Freiarbeit, Projektarbeit u. ä. gehören deshalb zum Methodenrepertoire. Bedenkenswert erscheint außerdem ein Vorschlag von Grom (2000), den Beitrag des Religionsunterrichts zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben deutlicher in den Blick zu nehmen, denn von ihrer erfolgreichen Bewältigung hängt die weitere positive Entwicklung des Individuums ab. Als Aufgaben werden, in Anlehnung an Havighurst (1948), genannt: Emotionsregulation, Selbstwertgefühl, Belastungsbewältigung, positive Lebenseinstellung, prosoziales Empfinden und Verantwortungsbewusstsein. 26.7.4.5 Aufgaben des Religionsunterrichts Lehrpläne legen folgende Aufgaben des Religionsunterrichts an der Förderschule nahe: Warum und wohin lebe ich? – Ein wichtiger Ausgangspunkt des Religionsunterrichts ist die Deutungsoffenheit und Deutungsbedürftigkeit der vielfältigen menschlichen Lebenssituationen. Menschen streben zudem danach, das Gegebene zu überschreiten (Selbsttranszendenz), sind aber konfrontiert mit Zeitlichkeit, Endlichkeit und Fragilität des Daseins und stehen vor der Frage, was der Sinn ihres Lebens und der Sinn des Ganzen ist (Ziebertz, 2001). Religionsunterricht im Kontext sonderpädagogischer Förderung, die nicht nur für Brauchbarkeit im Sinne des gesellschaftlich Nützlichen zurüstet, will die religiöse Dimension zur Sprache bringen und für sie sensibilisieren. Entscheidender Bezugspunkt dieses Prozesses sind die Schüler mit ihren Erfahrungen (Müller-Friese, 2001). Ausdrucksformen des Glaubens – Im Religionsunterricht werden Inhalte im Horizont des christlichen Glaubens thematisiert und der allgemeinen menschlichen Religiosität wird eine konkrete Gestalt verliehen. Der Religionsunterricht stellt dafür einen historisch gewordenen Deutungskontext von Institutionen, Handlungen, Symbolen, Ritualen, Bildern, Texten und Sprachformen zur Verfügung. An diesem kann denkend, erlebend und handelnd nachvollzogen werden, dass das Transzendente mit Blick auf bestimmte Lebenssituationen und auf die biblische und kirchliche Glaubenstradition als Gott benannt werden kann und dass Menschen sich mit diesem in Beziehung setzen können. Religionsunterricht hilft, sich über solche Erfahrungen auszutauschen und zu verständigen (Biehl, 1991). Zugang zu biblischer Überlieferung – Schüler können ihr Leben und ihre Alltagserfahrungen mit den auf Gott hin gedeuteten Lebenserfahrungen der biblischen Menschen in Verbindung bringen. Der biblischen Tradition kommt dabei durchaus die Funktion einer gefährlichen Erinnerung zu, insofern sie – quer zum sonst Üblichen – auffordert, die Möglichkeiten des Menschen unter der Perspektive der Möglichkeiten Gottes zu bedenken. Biblisches Lernen, etwa die Erschließung religiöser Sprachformen und Texte, bietet Sprachhilfe an, wenn angesichts bedrückender oder beglückender Erfahrungen eigene Worte stocken oder fehlen.
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Jesus Christus – In Jesus (Christus) begegnen die Schüler einer Person, die der unbedingten Hinwendung Gottes zu jedem Menschen konkrete Gestalt verleiht, unabhängig von der eigenen Leistungsfähigkeit. Angesichts der bedrängenden Lebenswege der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nicht selten Leidenswegen gleichen, kann der Blick auf die bedingungslose Wertschätzung Jesu gesellschaftlich marginalisierter oder in Schuld verstrickter Menschen und seine Zusage der bleibenden Nähe Gottes eine Hilfe für die Schüler zur Entwicklung von Selbstwertschätzung und Vertrauen in die eigenen Kräfte sein. Entwicklung des Gottesbildes – Der Religionsunterricht eröffnet und schützt einen Raum, in dem die Frage nach Gott geweckt, reflektiert und bewahrt werden kann. Die Notwendigkeit dieser Aufgabe zeigt die Studie von Hanisch (1996) zum Gottesbild von religiös und nicht-religiös sozialisierten Kindern und Jugendlichen. Bei beiden Gruppen sind Gottesvorstellungen wirksam. Allerdings bleiben die Gottesvorstellungen der nichtreligiös erzogenen Probanden im Unterschied zur Vergleichsgruppe auf einer märchenhaft-anthropomorphen Stufe stehen, was später zu einer Verabschiedung des Gedankens an Gott führt, während sie sich bei den religiös sozialisierten Kindern und Jugendlichen mit zunehmendem Alter in Richtung symbolischer Darstellung entwickelt. Verständnis für andere Religionen – Die Schüler kommen heute mit einer Vielzahl unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen in Kontakt. Innerhalb dieser Pluralität müssen sie, anders als Heranwachsende in vormals volkskirchlich geprägten Lebenszusammenhängen, selbst initiativ werden, um sich christlich-religiös oder in anderer Weise weltanschaulich zu orientieren. Für die Schule und den Religionsunterricht stellt es eine Herausforderung dar, wie Schüler sich in dieser Pluralität verhalten sollen (weiterführend: Nipkow, 1998). Ethisch reflektiertes Urteilen und Handeln – Ethisches Lernen nimmt im Religionsunterricht einen hohen Stellenwert ein. Das Unterscheidende gegenüber dem Ethikunterricht ist nicht das Ziel der rationalen Förderung ethischer Einsicht und Urteilsfähigkeit, sondern der Sinnhorizont des christlichen Glaubens, der zu einem bestimmten Handeln auffordert. Vernetzung mit einer Gemeinde – Nicht zuletzt besteht eine Aufgabe des Religionsunterrichts darin, einen Bezug zur christlichen Gemeinde zu eröffnen. Die vielfältigen Aktivitäten der Gemeinden im Kinder- und Jugendbereich haben mit Blick auf die Diskussion um soziale Integration besondere Relevanz. 26.7.4.6 Empirische Daten zum Religionsunterricht Zur Einstellung der Schüler zum Religionsunterricht liegt eine breite Palette von Untersuchungen vor, die allerdings an Allgemeinen Schulen durchgeführt wurden. Bucher (2000) betont den Zusammenhang zwischen der Akzeptanz der Schüler gegenüber dem Fach und dem unterrichtlichen Binnengeschehen. Sofern Schüler selbsttätig agieren könnten, besonders bei lebensnah beurteilten Themen, steige Akzeptanz und Effizienz deutlich. Förderlich seien außerdem das Engagement der Lehrer, ihre fachliche, methodische und soziale Kompetenz, der Einsatz kreativer Lernformen, aber auch – entgegen mancher Behauptung – die Behandlung genuin religiöser Themen. Negativ beurteilten Schüler ihren Religionsunterricht bei erlebtem Mangel an Disziplin und ebenso, wenn
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| Teil VI: Schule und Unterricht sie ihn als bloße Erholungs- und Spaßstunde empfänden. Die Effizienz des Faches in der Sekundarstufe I wird positiv primär im Wissensbereich eingeschätzt, besonders auf Grund neuer Informationen über fremde Religionen und hinsichtlich des selbstständigen Nachdenkens über den eigenen Glauben. Welche Themen halten die Schüler für wichtig? An erster Stelle rangiert „Liebe und Partnerschaft“ (72 %). Nahezu gleich wichtig ist den Lernenden die Gottesfrage (68 %). Nicht zu übersehen ist, dass das hohe Interesse für lebenskundliche Themen positiv mit dem Interesse für genuin religiöse Themen korreliert. Allerdings fällt ein alterspezifischer Effekt auf: Mit zunehmendem Alter werden die Themenfelder „Gott“ und „Jesus Christus“ als weniger relevant erachtet, während die Bedeutsamkeit lebenskundlicher Themen wächst (vgl. auch Petzold, 2003). Erfreulich stellt sich die Situation im Grundschulbereich dar. Religionsunterricht ist beliebt. Ursächlich für diese positive Beurteilung sind, neben der religiösen Sozialisation der Schüler, auch hier die unterrichtlichen Binnenfaktoren. Bucher erklärt diese positive Einschätzung insbesondere mit einer „reformpädagogisch“ gewandelten Religionsdidaktik, die erfahrungs-, handlungs- und kindorientierte Lehr- und Arbeitsformen favorisiert. Dies charakterisiert im Übrigen auch die geltenden Lehrpläne für den Religionsunterricht an Sonderschulen. 26.7.5 Ethikunterricht 26.7.5.1 Historische Genese und Organisation Der Ethikunterricht begründet sich zum einen aus dem Auftrag der Schule, zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung zu befähigen. Die für alle Fächer verpflichtende normative Grundlage schulischer Erziehung sind die in Grundgesetz und Länderverfassungen formulierten Grundwerte und Menschenrechte. Zum andern ist menschliches Handeln in den vielfältigen Situationen (Familie, Schule, Freizeit, Umwelt, Beruf usw.) moralisch qualifiziert. Der Mensch ist als Subjekt moralischer Handlungen unentrinnbar herausgefordert, ethisch verantwortliche Entscheidungen gegenüber sich selbst und anderen zu treffen. Die von daher notwendige ethische Bildung wurde unter dem Namen „Ethikunterricht“, „Normen und Werte“ oder „Praktische Philosophie“ in den vergangenen ca. 30 Jahren in fast allen Bundesländern als eigenes Unterrichtsfach eingerichtet, ursprünglich als Ersatzfach für jene Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnahmen. Wegen der geringen Zahl der Kirchenmitglieder haben besonders die östlichen Bundesländer das Fach Ethik als Wahlpflichtfach neben dem Religionsunterricht in den Fächerkanon aufgenommen. Eigene Lehrpläne für die Schule für Lernbehinderte finden sich nicht. In der Regel gelten die Lehrpläne der Grund- und Hauptschule. Ein qualifiziertes universitäres Studium – der Ausbildung zum Religionslehrer vergleichbar – zur Heranbildung von Ethiklehrern nimmt erst langsam Gestalt an. Diese Ausbildung wird bislang fast ausschließlich auf der Ebene der Lehrerfort- und Weiterbildung angeboten. Philosophische Ethik ist kein „Ersatz für religionslose Zeitgenossen“ (Günzler, 2002, S. 75). Sie versteht sich als eigenständiger Zugang zur Welt und will alle Menschen zur Auseinandersetzung mit dieser einladen, um so existenzielle Orientierung zu ermöglichen. Entsprechendes gilt auch für die Theologie und den Religionsunterricht.
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Der Vorschlag, die beiden Fächer Ethik- und Religionsunterricht in einer Fächergruppe – unter Anerkennung und Beibehaltung ihrer Fachspezifität – enger zusammenzubinden, könnte deutlicher als bisher ihre jeweilige Relevanz für alle Schüler aufweisen: also statt Konkurrenz komplementäres Miteinander, ohne wechselseitige Vereinnahmung und diffuse Kombination (Günzler, 2002). Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Hypothese von Oser und Gmünder (1984), die aus der Perspektive der kognitiven Psychologie eine moralische und eine religiöse „Mutterstruktur“ unterscheiden, die sich in der lebensgeschichtlichen Entwicklung des Individuums unterschiedlich entfalten und aufeinander beziehen. 26.7.5.2 Die ethische Prägung der Schüler Die Notwendigkeit zur Entwicklung ethischer Kompetenz, die sich in Urteils-, Diskursund Handlungsvermögen zeigt, belegen jugendsoziologische Forschungsergebnisse zum Wertepluralismus und zur Wertedynamik (Sänger, 2001). Demnach scheint die Zeit homogener Wertstrukturen vorbei zu sein, in der der Weg des eigenen Lebens relativ fest vorgezeichnet war und Übereinkunft darüber herrschte, was für das eigene Leben als erstrebenswert zu gelten hatte und was sittlich gut und schlecht war. Für die Gegenwart ist eine „Inflation am ‚Wertehimmel‘“ (Fritzsche, 2000, S. 93) charakteristisch, die nicht notwendigerweise als Werteverlust beklagt, sondern auch als Wertevielfalt und Wertewandel beschrieben werden kann. Gleichwohl bedeutet die damit einhergehende Freiheit zu kreativer Lebensgestaltung auch eine höhere Eigenaktivität und -verantwortung bei der Gestaltung des eigenen Lebens. Bezüglich des Wertewandels bei Jugendlichen verweisen Studien auf eine Verschiebung der Balance zwischen Pflicht- und Selbstentfaltungswerten zugunsten der letzteren. Folgt man der Shellstudie Jugend 2000 (vgl. Deutsche Shell, 2000) so sind Jugendliche jedoch weniger gewillt, sich auf Werte endgültig festzulegen. Vielmehr favorisieren sie eine zeitlich begrenzte Wertbindung und ein Offenbleiben für neue Werte sowie eine bedarfs- und situationsgerechte Wertentscheidung. 26.7.5.3 Erwerb ethischer Kompetenz statt moralische Instruktion Gegenwärtiger Ethikunterricht versteht sich nicht als Instruktionsunterricht und moralische Unterweisung, deren Ziel es wäre, den Heranwachsenden mit einem ausgewählten Bestand an Werten, Normen, Einstellungen und Handlungsweisen auszustatten und diese evtl. in persönliche Handlungsbereitschaft zu überführen. Er ist, ebenso wie der Religionsunterricht, keine Einübung in eine inhaltlich vorgegebene und von außen verfügte, fremdbestimmte moralische Praxis. Dies widerspräche zutiefst der Subjektperspektive und der damit implizierten Anerkennung der Freiheit des Subjekts, die konstitutiv für sittlich gutes Handeln ist. Dennoch ist das Gelingen des Ethikunterrichts und des gesamten Schullebens von der Einhaltung bestimmter moralischer Grundsätze und sozialer Verhaltensweisen abhängig. Man denke nur an die verfassungsmäßig zugesicherten Grundrechte, die gewaltfreie Konfliktlösung in der Klasse, den respektvollen Umgang mit Lehrern und Mitschülern, die Möglichkeit im Unterrichtsgespräch zu freier Mei-
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| Teil VI: Schule und Unterricht nungsäußerung, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, die Suche nach Wahrheit usw. Ethikunterricht bleibt auf einen Grundbestand moralischer Grundsätze und Erfahrung angewiesen (Günzler, 2002). Sie bilden im Ethikunterricht einen unverzichtbaren Erfahrungshintergrund für den Erwerb ethischer Kompetenz, welche ethische Diskursfähigkeit, kritisch-rationale wie emotional entfaltete Urteilsbildung und möglichst selbständige Orientierungs- und Handlungsfähigkeit umfasst. Den entscheidenden Erfahrungshintergrund bildet trotz aller schulischer Bemühungen die Sozialisation in der Familie nach dem Muster des Verstärkungs- und Modell-Lernens. 26.7.5.4 Didaktische Perspektiven eines lebensweltlich orientierten Ethikunterrichts Die dem Ethikunterricht gestellte Aufgabe, ein ethisch-orientiertes, über sich selbst aufgeklärtes Handlungswissen zu entwickeln, kann für die Schüler nur dann gegenwärtige und künftige Lebensbedeutsamkeit erlangen, wenn der Unterricht an die Lebenswirklichkeit, die Lebensprobleme und Lebensfragen der Heranwachsenden rückgebunden wird (Sänger, 2001). Ethikunterricht ist in diesem Sinne nicht Darstellung einer „reinen Ethik“. Er ist vielmehr bestrebt, die Lebenserfahrungen der Schüler, ihre bestehenden Wertorientierungen, ihre bereits erlangten Fähigkeiten, moralisch zu handeln als auch die normative Verfasstheit ihrer Lebenswelten und ihres gesellschaftlichen Kontextes zu erschließen (Schmidt, 1994) und in einen wechselseitigen und kritischen Dialog mit ethischen Denktraditionen zu bringen, um daraus Maßstäbe für ein eigenes reflektiertes moralisches Handeln zu gewinnen. Sowohl für den Ethikunterricht als auch für den Religionsunterricht gilt, dass dabei die Vergewisserung der Lebenswelt der Schüler durch die Lehrer auf die unmittelbare Begegnung angewiesen ist, aber, um über den subjektiven Erfahrungshorizont hinauszugelangen, der Berücksichtigung der empirisch gesicherten Ergebnisse der Sozialwissenschaften, der Moralpsychologie und der Anthropologie bedarf. Für die Moralpsychologie sind z. B. Anknüpfungen denkbar an Kohlbergs Konzept der Entwicklung der moralischen Urteilsstufen (1995) oder auch an Nunner-Winkler, die die Einsicht in die Geltungsgründe von Normen und Handlungen als Motiv für moralisches Handeln stärker in Rechnung stellt (Nunner-Winkler, 1993). 26.7.5.5 Aufgaben des Ethikunterrichts In Anlehnung an die Fachdiskussion liegen folgende Aufgaben des Ethikunterrichts an der Förderschule nahe: Die Wahrnehmung unterschiedlicher Verhaltensweisen und der ihnen zu Grunde liegenden religiös-weltanschaulichen Wertgefüge – sichtbar u. a. bei den Themen wie Strafe nach (Fehl-)Verhalten, Sexualpraktiken, Abtreibung, Asyl, Krieg, Gewalt – regt beim jungen Menschen ethisches Nachdenken an. Die eigenen Lebenserfahrungen und die Kenntnis der aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen bilden die Grundfolie, von der her die Schüler sensibel werden können für die Identifizierung von individual- und sozialethischen Problemen wie etwa dem
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Verhalten in der Partnerschaft, dem Umgang mit dem Internet, dem Zusammenleben mit Angehörigen anderer Kulturen, der Umwelt- und Bioethik u. a. Die Befähigung zur Reflexion der unterschiedlichen gesellschaftlichen Wertmaßstäbe muss gestützt werden von der Förderung emotionaler und voluntativer Kräfte der Schüler, um in allen Lebensbereichen zu möglichst selbständiger ethischer Urteilsbildung und einem entsprechenden Handeln zu gelangen, die der existenziellen Orientierung sowie der Gestaltung des Zusammenlebens dienen. Die Begegnung mit der Multikulturalität, häufig mit religiösen Wurzeln, kann und soll die eigene Position klären und die Diskursfähigkeit in ethischen Fragen und die Toleranz fördern. Die Motivation, moralisch handeln zu wollen, ist umso mehr zu fördern und zu vertiefen, je stärker einerseits der Prozess der Individualisierung voranschreitet und andererseits ein sich ausbreitender fundamentalistischer Radikalismus in den Menschenrechten keine tragfähige Orientierung anerkennen will. Eine gemeinsame Zukunft angesichts der weltweiten Bedrohungen durch Hunger, Abnahme der Ressourcen, Ökologieprobleme u. a. scheint ohne das Hoffnungspotenzial ethisch sensibler Menschen unmöglich. Ein grundlegendes Wissen über Werte, Antworten auf Sinnfragen, Handlungsnormen und ethische Maßstäbe und der sie tragenden philosophischen Denktraditionen, Weltanschauungen und Religionen dient dem Schüler, den Problemhintergrund seiner eigenen Entscheidungssituation zu erfassen und Entscheidungen begründet zu treffen. Dazu kann die Einsicht in die Begründungen unterschiedlicher (eudaimonistischer, utilitaristischer, pflichtethischer u. a.) Lebenskonzepte hilfreich sein. 26.7.5.6 Empirische Daten zum Ethikunterricht Anlässlich einer repräsentativen Evaluationsstudie zur Bewertung des Ethikunterrichts in Österreich bat Bucher (2001) Schüler ihre Motivation, ihre Zufriedenheit und die von ihnen in diesem Fach wahrgenommenen Lerneffekte einzuschätzen und ermittelte zudem die Wirksamkeit des Unterrichts auf die soziomoralischen Einstellungen der Lernenden. Bezüglich des Lerneffektes bescheinigten die Schüler dem Ethikunterricht den stärksten Effekt bei der Förderung ethischer Reflexion, geringere Wirksamkeit dagegen im Bereich Lebensgestaltung. Die insgesamt positive Einschätzung des Ethikunterrichts hängt primär vom unterrichtlichen Binnengeschehen ab: vom Gelingen des Diskurses, der Disziplin im Unterricht, der Möglichkeit, sich selbst zu engagieren und der Offenheit der Lehrer für divergierende Meinungen. Die Wirksamkeit des Ethikunterrichts auf das soziomoralische Verhalten kann als positiv beschrieben werden. Zunächst konstatiert Bucher für die Schüler ein „beunruhigend“ hohes Ausmaß an ethischem Relativismus („Es gibt eigentlich weder falsch noch richtig.“) – ähnliches gilt auch für den Religionsunterricht – , eine „erfreulich“ geringe Ausländerfeindlichkeit und eine beachtliche sittliche Handlungsbereitschaft. Schüler, die den Ethikunterricht als effizient beschreiben und sich in ihm aktiv beteiligen, artikulieren noch weniger Ausländerfeindlichkeit, weniger Relativismus und noch stärkere sittliche Handlungsbereitschaft. Diese Ergebnisse sollten die Verantwortlichen ermutigen, sowohl dem Ethikunterricht als auch der entsprechenden Lehrerausbildung die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Anregend für die schulische Praxis eines interdisziplinären, erfahrungsbezogenen und auf reflektierte Wertorientierung abzielenden Ethikunterrichts scheint das Projekt „Compassion – sozialverpflichtetes Lernen und Handeln“ zu sein (Kuld & Gönnheimer, 2000). Es wurde im Haupt-, Förder-, Realschul- und Gymnasialbereich durchgeführt. Die Schüler, unter ihnen acht Jugendliche, die die 9. Klasse der beteiligten Förderschule bildeten, besuchten während des Schuljahres eine soziale Einrichtung. Lehrer aus verschiedenen Fächern griffen die dortigen Erfahrungen auf und reflektierten sie unter fachspezifischen wie ethischen Fragestellungen. Zunächst wurde festgestellt, dass die Wertorientierungen der Förderschüler eine beachtliche Übereinstimmung mit denen der Gesamtgruppe aufwiesen: Die Werte für ein aktives Engagement in den Bereichen Umwelt, Politik und Kirche rangierten am Ende einer Skala von egozentrischen und altruistischen Wertorientierungen. Hohen Stellenwert dagegen hatten egozentrische Orientierungen (Leben genießen, Geld verdienen), aber ebenso das Engagement für andere im Nahbereich. Die Motivation der Förderschüler zur Projektteilnahme stand, deutlicher als bei anderen Schülern, unter dem Vorzeichen der Selbstbewährung. Als Fazit stellten die Autoren eine positive Veränderung sowohl der Selbstwertbildung der Schüler als auch ihrer prosozialen Einstellung fest. Im Sinne eines erfahrungsorientierten Ethikunterrichts könnten diese Ergebnisse, die im Rahmen repräsentativer Studien vertieft und überprüft werden müssten, die Basis für eine weiterführende ethische Nachdenklichkeit bilden.
Literatur Biehl, P. (1991). Erfahrung, Glaube und Bildung. Studien zu einer erfahrungsbezogenen Religionspädagogik. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bucher, A. (2000). Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe. Eine empirische Untersuchung zum katholischen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer. Bucher, A. (2001). Ethikunterricht in Österreich: Bericht der wissenschaftlichen Evaluation der Schulversuche „Ethikunterricht“. Innsbruck: Tyrolia. Deutsche Shell (2000). (Hrsg.). Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie. Opladen: Leske + Budrich. Fritzsche, Y. (2000). Moderne Orientierungsmuster: Inflation am „Wertehimmel“. In Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie (Band 1, S. 93-156). Opladen: Leske + Budrich. Fuchs-Heinritz, W. (2000). Religion. In Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie. (Band 1, S. 157-180). Opladen: Leske + Budrich. Grom, B. (2000). Religionspädagogische Psychologie des Kleinkind-, Schul- und Jugendalters (5. überarbeitete Aufl.). Düsseldorf: Patmos. Günzler, C. (2002). Zwischen Modernität und Humanität – Der Ethikunterricht als Ort lebensweltlicher Orientierung. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 24, 75-85. Hanisch, H. (1996). Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen: eine empirische Vergleichsuntersuchung mit religiös und nichtreligiös Erzogenen im Alter von 7-16 Jahren. Stuttgart: Calwer. Havighurst, R. J. (1948). Developmental tasks and education. New York: MacKay. Heimbrock, H.-G. (1986). Der Beitrag religiöser Erziehung zur schulischen Bildung behinderter Kinder. In H.-G. Heimbrock (Hrsg.), Pädagogische Diakonie. Beiträge zu einem vergessenen Grenzfall (S. 91-110). Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.
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Kohlberg, L. (1995). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kollmann, R. (1988). Religionsunterricht unter erschwerenden Bedingungen. Essen: Die Blaue Eule. Kuld, L. & Gönnheimer, S. (2000). Compassion – sozialverpflichtetes Lernen und Handeln. Stuttgart: Kohlhammer. Müller-Friese, A. (2001). Vom Rand in die Mitte. Erfahrungsorientierter Religionsunterricht an der Schule für Lernbehinderte. Stuttgart: Calwer. Nipkow, K. E. (1998). Bildung in einer pluralen Welt. Religionspädagogik im Pluralismus (Band 2). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Nunner-Winkler, G. (1993). Zur moralischen Sozialisation. In H. Huber (Hrsg.), Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht (S. 105-127). Asendorf: MUT-Verlag. Oser, F. & Gmünder, P. (1984). Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz. Zürich: Benzinger. Petzold, K. (2003). Religion und Ethik hoch im Kurs. Repräsentative Befragung und innovative Didaktik. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Sandt, F.-O. (1996). Religiosität von Jugendlichen in der multikulturellen Gesellschaft. Eine qualitative Untersuchung zu atheistischen, christlichen, spiritualistischen und muslimischen Orientierungen. Münster: Waxmann. Sänger, M. (2001). Ethik in der Schule. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 23, 236-242. Schilling, K. (1983). Religionsunterricht mit Lernbehinderten. München: Kösel. Schmidt, H. (1994). »Ethik« lernen? Überlegungen zur Didaktik des Ethikunterrichts. In A. Treml (Hrsg.), Ethik macht Schule! Moralische Kommunikation in Schule und Unterricht (S. 36-42). Frankfurt a. M.: Diesterweg. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2002). Zur Situation des Katholischen Religionsunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Kultusministerkonferenz vom 13.12.2002. Bonn. Ziebertz, H.-G. (2001). Warum die religiöse Dimension der Wirklichkeit erschließen. In G. Hilger, St. Leimgruber & H.-G. Ziebertz (Hrsg.), Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf (S. 107-122). München: Kösel.
26.8 Die Förderung von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation mit Musik Franz Amrhein Soll Musik als Medium zur Förderung allgemeiner menschlicher Fähigkeiten eingesetzt werden, so kommt es vor allem auf die Balance an zwischen den Ansprüchen der Musik, die Förderung bewirken, und den Ansprüchen des Subjekts, das Förderung erfahren soll. Das heißt, es müssen möglichst genau einerseits die zu fördernden Bedürfnisse und Fähigkeiten des Subjekts, andererseits die förderlichen Parameter oder Kategorien des Inhalts Musik benannt werden. Die Orientierung am Subjekt darf jedoch nicht zu unrealistischen therapeutischen und die Sachorientierung nicht zu falschen fachlichen Erwartungen führen. Auch der nebulöse Begriff des Musischen ist für eine Förderung
772
| Teil VI: Schule und Unterricht nicht hilfreich. Leider ist die allgemeine Musikpädagogik zu sehr an den Anforderungen der klassischen musikalischen Tradition orientiert (vgl. Amrhein, 2001b). Auf den Bezug zur Musiktherapie wird hier ausdrücklich verzichtet, weil diese als Musikpsychotherapie zu verstehen ist und den pädagogischen Rahmen überschreitet. Einen Versuch, zwischen den objektiven und subjektiven Ansprüchen zu vermitteln, stellte die „Pädagogische Musiktherapie“ (vgl. Kemmelmeyer & Probst, 1981) dar, die allerdings keine Konkretisierung für die Praxis entwickelte. Wichtige Anregungen für ein Förderkonzept, das die subjektiven Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigt, gehen von der „Elementaren Musikpädagogik“ (Ribke, 1995) sowie von dem „Musikalisch-erlebnisorientierten Ansatz“ (Tischler, 1994; Tischler & Moroder-Tischler, 1990) aus. Das Konzept, dessen theoretische Grundlagen und praktische Anwendung im Folgenden skizziert werden, geht von einem weiten Begriff von Musik und musikalischem Handeln aus. Es weist Bezüge zu Vorstellungen der „Ästhetischen Erziehung“ auf (vgl. Amrhein & Bieker, 1999) und ist in erster Linie an didaktischen, psychologischen und neurophysiologischen Erkenntnissen orientiert. Seit über 20 Jahren hat es als Lehrplan, von Unterrichtsmaterialien und Lehrerfortbildungen flankiert, Eingang in die Schule für Lernhilfe gefunden (vgl. Amrhein, 1983, 2001a, 2001b). Die theoretischen Grundlagen bilden folgende Annahmen: – Das Verständnis von Förderung als „wechselseitige Erschließung“, – Sensomotorik als Grundlage für Entwicklung und Lernen, – Kriterien für die Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation und ihre Förderung, – die musikalischen Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck, – die methodischen Prinzipien Bewegung, Wiederholung, Stimulierung – Strukturierung. Die Praxis spielt sich in vier zusammenhängenden Bereichen ab: – Musik und Bewegung, – Musik mit der Stimme, – Musik mit Instrumenten, – Musikhören. 26.8.1 Theoretische Grundlagen 26.8.1.1 Förderung als „wechselseitige Erschließung“ Förderung durch Musik geschieht durch musikalisches Lernen, das sich wie alle Lernund Aneignungsprozesse durch Doppelseitigkeit auszeichnet. Der Lernende eignet sich einerseits etwas objektiv Vorhandenes (ein Lied, Musikstück, einen Tanz usw.), andererseits etwas in ihm subjektiv Angelegtes (die Fähigkeit, zu singen, spielen, tanzen usw.) an. Musikalische Bedürfnisse und Fähigkeiten als ‚subjektive musikalische Realität‘ und die Musik als ‚objektive musikalische Realität‘ gehören zusammen wie die Kehrseiten einer Münze. Der Neurophysiologe Damasio beschreibt diesen Sachverhalt so: „Bewusstsein
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besteht in der Konstruktion von Wissen über zwei Fakten: dass der Organismus damit beschäftigt ist, eine Beziehung zu einem Objekt (hier der Musik F.A.) zu knüpfen und dass das Objekt in der Beziehung eine Veränderung im Organismus (hier den mus. Bedürfnissen und Fähigkeiten F.A.) hervorruft“ (Damasio, 2000, S. 33). Für Wolfgang Klafki sind Bildung und Lernen ein Prozess der „wechselseitigen Erschließung“, in dem zwischen den Kategorien der äußeren und inneren Welt Beziehungen hergestellt werden (Klafki, 1991, S. 96). Förderung durch Musik ist dann möglich, wenn die musikalischen Kategorien denen des Subjekts entsprechen. Die Kategorie, durch die der direkteste Zusammenhang zwischen Musik und Mensch hergestellt wird, ist die Bewegung bzw. die Verbindung von Wahrnehmung und Bewegung, die Sensomotorik. 26.8.1.2 Sensomotorik Bewegung erfolgt durch Aktivierung der motorischen Neurone. Jede willkürliche Bewegung ist jedoch auf das Feedback der Wahrnehmung (über Ausgangspunkt, Verlauf, Ziel usw. der Bewegung) angewiesen, das von den sensorischen Neuronen geleistet wird. Sensorisches und motorisches System verschmelzen zu einer funktionellen Einheit, der Sensomotorik, die Teil des somatosensorischen Systems ist (vgl. Damasio, 2000, S. 182 ff.). Für den Zusammenhang von Musik und Bewegung sind vor allem die Verbindungen zwischen vestibulärem und cochlearem System im Innenohr sowie die zwischen den motorischen und hörsensorischen Arealen im Mittelhirn und in der Hirnrinde maßgebend. Eine Rolle spielen auch die Eigenarten sowie die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften (vgl. Amrhein, 1997). Aus dem Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung, der bereits im Mutterleib ausgeprägt ist, entwickeln sich die Ebenen des bewussten Fühlens und Denkens. Diese ‚höheren‘ Tätigkeiten des Gehirns sind stets auf das Funktionieren der basalen sensomotorischen Fähigkeiten angewiesen. Lernen auf der sensomotorischen kann sich auch auf die emotionale und kognitive Ebene auswirken (vgl. Feldenkrais, 1978; Ayres, 1984). Jeromin Bruner (1974) beschreibt drei aufeinander aufbauende „Repräsentationsweisen“ des Lernens. Dabei bildet die enaktive Stufe, die der sensomotorischen Ebene gleicht, die Basis für die nachfolgenden, die ikonische und symbolische Stufe. Die Fähigkeiten von Wahrnehmung und Bewegung wecken Bedürfnisse danach, auch das Bedürfnis, zwischen beiden die Balance herzustellen. Wenn diese Balance gestört ist, „wenn dem Übermaß des Reizangebots ohne motorische Konsequenz ein Übermaß an motorischer Aktivität ohne sensorische Relevanz entspricht, entsteht Frustration“ (Wieser, 1979, S. 54). Die Folgen von Frustration sind Aggression, Regression und Apathie. Das Gegenteil von Frustration, nämlich Befriedigung, Wohlbefinden, Lust, Spaß, empfinden wir, wenn wir auf Sinneseindrücke angemessen reagieren können, wenn die Integration von Sensorik und Motorik gelingt (vgl. Ayres, 1984, S. 9 ff.). Die Lust an der Sensomotorik, die man in erster Linie als Funktionslust bezeichnen kann, erhält durch die musikalischen Reize eine eigene Dynamik, weil lustvolle Reize die motorischen Kanäle durchlässiger machen und Bewegung fördern, während Unlust erregende Reize dieselben schließen und Bewegung behindern (vgl. Vincent, 1992, S. 207).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Bis hierher sollten die Rolle der Sensomotorik für die menschliche Entwicklung und die besonderen Möglichkeiten der Musik zu ihrer Förderung deutlich werden. Im Folgenden werden die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Bewegung und den Fähigkeiten von Ausdruck und Kommunikation sowie Kriterien zur Förderung dieser vier Fähigkeiten dargestellt. 26.8.1.3 Förderung der Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation Aus den in jedem Menschen angelegten Dispositionen, sich zu bewegen, sich und die Umwelt wahrzunehmen, sich auszudrücken und zu kommunizieren, entwickeln sich unter dem Einfluss der Umwelt die Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und Kommunikation, die als die grundlegenden musikalischen Fähigkeiten anzusehen sind. Die Entwicklung dieser vier Fähigkeiten ist das Ziel musikalischer Förderung. In der Grafik ist der sensomotorische Zusammenhang durch die das Ganze tragende vertikale Achse dargestellt. Auch für die in der horizontalen Achse aufgeführten Fähigkeiten von Ausdruck und Kommunikation ist die Bewegung unverzichtbar, weil sie das wichtigste Ausdrucks- und Kommunikationsmedium ist. Dies gilt ebenso für die Ausdrucks- und Kommunikationsmedien Stimme und Instrumente, die ohne Bewegung stumm bleiben. Die Darstellung soll einmal die Schlüsselfunktion der Sensomotorik, zum anderen den untrennbaren Zusammenhang der vier Fähigkeiten verdeutlichen.
Bewegung Senso-Motorik
Ausdruck Bewegung Stimme/Instrument
Kommunikation Bewegung Stimme/Instrument
Wahrnehmung Senso-Motorik
Abbildung 5: Der Zusammenhang der vier Fähigkeiten
– Musikalische Bewegung ist jede äußere oder innere Veränderung von Lage, Stellung, Spannungszustand des Körpers oder seiner Teile, von Körpervorstellung oder -gefühl in Verbindung mit Musik. Dazu gehören Bewegungen der Hände und Füße am Platz oder im Raum, Mimik, Gebärden, Gesten, Gehen, Laufen, Tanzen, die Bewegung
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der Stimme usw., aber auch die inneren Bewegungen, Empfindungen, Gefühle und Assoziationen. Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Angemessenheit zwischen dem musikalischen Reiz und der Bewegungsreaktion, Koordiniertheit, Strukturiertheit, Flüssigkeit, Schnelligkeit der Bewegung sowie der Grad an Bewegungsfreude bzw. Bewegungshemmung. – Musikalische Wahrnehmung ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf bestimmte, noch zu erläuternde musikalische Parameter oder Kategorien zu richten. Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind Offenheit für innere und äußere Sinneseindrücke, insbesondere körperliche Ansprechbarkeit, Reaktionsfähigkeit, die Fähigkeit, auf die musikalischen Kategorien zu reagieren sowie die Zeitspanne von Aufmerksamkeit und Konzentration. – Musikalischer Ausdruck sind Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Willensakte, also „Inneres“, das durch die Ausdrucksmedien Bewegung, Stimme, Instrumente und Materialien nach außen – zum Ausdruck – kommt. Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind die Bereitschaft, sich der nonverbalen musikalischen Medien Bewegung, Stimme, Instrumente usw. zu bedienen sowie Angemessenheit, Authentizität, Vielfalt, Farbigkeit und Flüssigkeit des Ausdrucks. – Musikalische Kommunikation sind Akte, in denen mit Hilfe der musikalischen Ausdrucksmedien Beziehung hergestellt wird. Dabei dürfen die Rhythmen, Klänge, Lieder, Bewegungen usw. nicht nur unter dem syntaktischen und semantischen Aspekt ihrer Stimmigkeit und Bedeutung, sondern müssen vor allem unter dem pragmatischen Aspekt ihres Aufforderungscharakters gesehen werden (vgl. Watzlawick, Beavin & Jackson, 1974, S. 19 ff.). Kriterien für Lern-/Förderfortschritte sind die Bereitschaft, sich der nonverbalen Kommunikationsmedien zu bedienen und Kommunikationsangebote anzunehmen, die Fähigkeit, Nähe und Distanz auszuhalten sowie die bei Ausdruck genannten Kriterien. 26.8.1.3.1 Das Ausdrucks- und Kommunikationsmedium Stimme Die musikalische Förderung der Stimme setzt weniger bei ihrer Bedeutungsebene, dem Sprechen und Singen an, sondern vielmehr bei der prä- bzw. nonverbalen motorischen und klanglichen Ebene. Diese geht entwicklungsgeschichtlich der Bedeutungsebene voraus bzw. begleitet diese. Sie ist vor allem für Gliederung, Artikulation, Tempo, Rhythmus sowie die gefühlshaften Anteile des Singens und Sprechens zuständig (vgl. Amrhein, 1995). Klang-, Artikulations- und Sprechspiele auf diesen Ebenen dürften auch dem Sprechen und Singen auf der Bedeutungsebene zu Gute kommen, weil „für die spätere Sprachkompetenz ... das prozedurale Einüben und Automatisieren von verschiedensten perzeptiven, motorischen und stimmlichen Teilfähigkeiten kritisch wichtig ist, um eine so rasche und mühelose Koordination zu ermöglichen, wie es das Hören und Sprechen von Sprache fordert“ (Papoušek, 1994, S. 30). Eine besondere Möglichkeit unmittelbaren stimmlichen Ausdrucks ist das Singen. Lieder müssen in ihrer sprachlichen und musikali schen Gestaltung einprägsam und überschaubar sein, damit sie dem Aufnahme- und Wiedergabevermögen entgegenkommen. Wesentlich ist, dass die Elemente Sprache,
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| Teil VI: Schule und Unterricht Rhythmus, Melodie, Begleitung, Bewegung, mimische, gestische und szenische Darstellung gleichermaßen zur Geltung kommen und nicht einseitig nur auf den richtigen Nachvollzug der Melodie geachtet wird (vgl. Brünger, 1997). 26.8.1.3.2 Musikinstrumente, Materialien und Medien Instrumente dienen nicht nur der Produktion von Musik, sondern sind auch Medien zur Förderung der genannten Fähigkeiten. Am wichtigsten sind Instrumente mit direktem Körperbezug, deren Spiel eine Verlängerung des Händeklatschens oder Kniepatschens darstellt. Sie kommen dem Bewegungsbedürfnis entgegen, können ohne Vorkenntnisse gespielt werden und ermöglichen trotzdem Differenzierung. Dies sind in erster Linie die unter pädagogischen Gesichtspunkten entwickelten Orff-Instrumente (vgl. Wagner, 2003) sowie afrikanische und lateinamerikanische Perkussionsinstrumente (vgl. Schütz, 1992). Weitere Möglichkeiten bieten aus Alltagsmaterialien hergestellte Instrumente, welche die Klangphantasie sowie das Gestaltungs- und Ausdrucksvermögen anregen und wichtige Kommunikationsmedien sein können (vgl. Amrhein, 1974; Martini, 1980). Die Fördermöglichkeiten des Instrumentalunterrichts werden eindrucksvoll durch das Modell „Instrumentalspiel mit Behinderten – Kooperation zwischen Musik- und Sonderschulen“ belegt (vgl. Probst, 1991, 1999). Materialien wie Bälle, Bänder, Reifen usw. (vgl. Ring & Steinmann, 1996, S. 100 ff.), Requisiten zum Verkleiden und Masken sowie Schattenspiel (vgl. Bieker, 1995) und Schwarzes Theater (vgl. Günther, 2000) sind weitere Medien für musikalische Förderung. 26.8.1.3.3 Musikalische – allgemeine – behinderte Fähigkeiten Das vorliegende Konzept geht davon aus, dass die vier Fähigkeiten durch Musik in besonderer Weise gefördert werden können, dass sich musikalische Förderung auch auf ihren allgemeinen Gebrauch auswirkt und dass ein wesentlicher Aspekt von Behinderung in Einschränkungen im Gebrauch dieser vier Fähigkeiten besteht. Positive Auswirkungen von Musik(erziehung) auf allgemeine Fähigkeiten, z. B. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, Selbsteinschätzung und Sozialverhalten konnte Bastian (2000) in einer Langzeitstudie nachweisen. Wenn der Umgang mit Musik den allgemeinen Gebrauch dieser Fähigkeiten befördert, so müsste dies auch für ihren eingeschränkten Gebrauch gelten. Diese Zusammenhänge, die von der pädagogischen Erfahrung bestätigt werden, bedürfen – unter Zugrundelegung der hier vorgestellten Kriterien – einer empirischen Überprüfung. Die vier Fähigkeiten müssen jedenfalls unter 3 Gesichtspunkten gesehen werden: – Als musikalische Fähigkeiten, die von Musik in besonderer Weise angesprochen werden, für jede musikalische Tätigkeit unerlässlich sind und sich im Zusammenhang mit Musik in besonderer Weise entfalten. – Als allgemeine Fähigkeiten, die für jegliches Erleben und Handeln notwendig sind. Durch den Gebrauch dieser vier „Sinne“ erhält das Leben Sinn. Sie stellen sowohl die Basis als auch die höchste Entfaltung menschlicher Existenz dar, machen uns zu unverwechselbaren Individuen und ermöglichen Gemeinsamkeit.
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– Als behinderte Fähigkeiten, in denen nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Grenzen deutlich werden. Schwächen und Behinderungen eines Menschen lassen sich häufig auch an seinem Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten diagnostizieren. Der Aspekt der behinderten Fähigkeit soll also den Blick weniger auf die Grenzen als vielmehr im Sinne einer Förderdiagnostik auf die Möglichkeiten ihrer Erweiterung und Differenzierung lenken – seien diese noch so gering. Der Aspekt der allgemeinen Fähigkeit stellt den Bezug zu ihrem alltäglichen Gebrauch her und soll eine vorschnelle Einengung auf bestimmte musikalische Techniken und Gestaltungen verhindern. Der Aspekt der musikalischen Fähigkeit schließlich weist auf das Besondere musikalischer Förderung hin, das im lustvollen Gebrauch dieser Fähigkeiten, im musikalischen Spielraum, sowie in den im Folgenden zu erörternden inhaltlichen Kategorien und methodischen Prinzipien liegt, die zugleich wesentliche Parameter für eine Evaluation der Praxis und eine empirischen Überprüfung des Konzeptes darstellen. 26.8.1.4 Die Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck der Musik Die folgenden Kategorien bilden die Brücke zwischen den genannten Fähigkeiten und der Musik. Sie haben Gültigkeit sowohl für Musik als auch für musikalisches Handeln. Sie verdeutlichen die eingangs dargestellte Wechselseitigkeit des Lernens und machen musikalisches Lernen zu exemplarischem Lernen (vgl. Klafki 1991, S. 143 ff.). – Die Kategorie Körperlichkeit bedeutet, dass Musik körperhaft ist und körperlich erlebt und angeeignet wird. Sowohl die Musik selbst als auch der musizierende und Musik erlebende Mensch sind „Klangkörper“. – Die Kategorie Gestalt/Ordnung besagt, dass Musik Gestaltetes/Geordnetes in der Zeit und im (Klang-)Raum ist. Die Gestalten/Ordnungen zeichnen sich aus durch Nacheinander oder Gleichzeitigkeit, Wiederholung, Entwicklung, Veränderung, durch Tempo, Metrum, Takt, Rhythmus, durch Qualitäten wie hart, weich, schwer, leicht usw. Musikalisches Handeln ist gestaltende/ordnende Tätigkeit. – Die Kategorie Darstellung meint, dass Musik einerseits Assoziationen hervorrufen, Inhalte, die in der Realität oder in der Vorstellung vorhanden sind, analog darstellen kann (z. B. Gegenstände, Personen, Bilder, ein Programm). Andererseits kann man musikalisches Handeln als darstellende Tätigkeit verstehen. – Die Kategorie Ausdruck bedeutet, dass Musik Empfindungen, Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.), Stimmungen, Affekte ausdrückt und hervorruft und dass durch musikalisches Handeln solches zum Ausdruck kommen kann. Diese Kategorien hängen zusammen, weil Ausdruck und Darstellung auch gestaltet und musikalische Gestalten auch darstellungs- und ausdruckshaft sind. Der Lehrer muss solche Musik und solche Aufgaben wählen, die diese Kategorien besonders verdeutlichen. Er muss entscheiden, welche der Kategorien für die jeweilige Musik, die jeweiligen Schüler und die jeweilige Situation am ergiebigsten ist.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 26.8.1.5 Die methodischen Prinzipien Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung Die methodischen Prinzipien beziehen sich eng auf die erläuterten Förderkriterien und die inhaltlichen Kategorien. Sie sollen deutlich machen, dass es weniger darauf ankommt, dass Musik gemacht und gehört wird, sondern vielmehr darauf, wie dies geschieht. – Bewegung ist nicht nur eine menschliche Fähigkeit und eine Eigenschaft der Musik, sondern auch ein methodisches Prinzip, das bedeutet, dass die Schüler immer wieder durch bestimmte Aufgabenstellungen, Lieder, Spiele, Tänze, Musikstücke auf die sensomotorische Ebene gelockt, bewegt werden müssen. – Wiederholung ist das wichtigste formbildende musikalische Prinzip und – vor allem durch die Variationsmöglichkeiten durch Tempo, Dynamik, Klang usw. – wesentliche Garantie für die Lust an der Musik. Förderfortschritte stellen sich oft erst nach häufigen Wiederholungen ein, was viel Zeit erfordert. – Das Prinzip Stimulierung-Strukturierung bedeutet, dass Musik einerseits Bewegung provoziert, Assoziationen und Emotionen freisetzt, andererseits Ordnung, Regelhaftigkeit, Struktur vermittelt. Die Spannung bzw. Balance zwischen den beiden Polen Entgrenzung und Grenzsetzung, Freiheit und Bindung, Emotionalität und Rationalität stellt die eigentliche Besonderheit musikalischen Handelns und Erlebens dar, die sich in der Regel nicht von selbst einstellt, sondern durch behutsame Animation und konsequentes Vorgehen des Lehrers immer wieder hergestellt werden muss. 26.8.2 Die Praxis musikalischer Förderung – ein Lehrplan Die bisher dargestellten Zusammenhänge bilden, wie bereits gesagt, die theoretische Grundlage für den „Rahmenlehrplan Musik für die Schule für Lernbehinderte“ (Hessischer Kultusminister, 1979) sowie für die revidierte Fassung, den „Rahmenplan Ästhetische Bildung: Musik – Schule für Lernhilfe“ (Hessischer Kultusminister, 1996). Nach diesen Plänen spielt sich die Praxis in vier sich überschneidenden Bereichen ab, die wiederum in „Lernfelder“ unterteilt sind: Musik und Bewegung, Musik mit der Stimme, Musik mit Instrumenten, Musikhören. Die vielfältigen im Plan angeführten musikalischen Tätigkeiten und Umgangsweisen mit Musik sowie die methodischen Hinweise versuchen den eingangs dargestellten theoretischen Grundannahmen gerecht zu werden. Bestätigung findet dieses Konzept bisher durch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, die z. T. seit über 20 Jahren nach diesen Plan unterrichten, durch das Feedback in zahlreichen schulinternen, regionalen und zentralen Lehrerfortbildungen sowie durch die Rückmeldungen an das Kultusministerium in der Erprobungsphase des Lehrplans. Zur Evaluation des Lehrplans und des zu Gunde liegenden Konzeptes wären Schulversuche nötig wie z. B. die Langzeitstudie „Zum Einfluss von erweiterter Musikerziehung auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern“ (vgl. Bastian, 2000). Die Probleme, die sich vor allem stellen, liegen im Mangel an qualifizierten Pädagogen und in der unzureichenden Konzeptbildung. Zur Behebung des zweitgenannten Problems versucht der vorliegende Ansatz beizutragen, dessen Praxisbereiche im Folgenden kurz skizziert werden.
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Musik und Bewegung: Hier sollen Erfahrungen gemacht werden im Umgang mit dem eigenen Körper, mit Raum und Zeit sowie mit Partner und Gruppe. Im Lernfeld Bewegungsspiele geht es vor allem darum, Hemmungen zu überwinden, Bewegungslust zu provozieren und flüssige, strukturierte und koordinierte Bewegungen zu entwickeln. Im Lernfeld Darstellendes Spiel werden Pantomime, Puppen-, Finger-, Schatten-, Masken-, Rollenspiel usw. zur Förderung der Ausdrucks- und Darstellungsfähigkeit eingesetzt. Im Lernfeld Tanz geht es um die individuelle Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeit sowie um Tanz als Kommunikationsmedium und als jugendkulturelles, gesellschaftliches Phänomen. Musik mit der Stimme: Die vokale Artikulations-, Klang- und Unterscheidungsfähigkeit soll entwickelt und die Stimme als individuelles Ausdrucks- und Kommunikationsmedium erfahren werden. Im Lernfeld Klang-, Artikulations- und Sprachspiele steht die o. g. prä- bzw. nonverbale motorische und klangliche Ebene der Stimme mit den damit verbundenen bewegungsmäßigen und emotionalen Bezügen im Vordergrund. Im Lernfeld Singen geht es weniger um das Reproduzieren von Liedern als vielmehr um die Möglichkeiten, die das Medium Lied bietet, um Bewegung, Sprache, Rhythmus, Melodie, Ausdruck und Darstellung zu provozieren. Musik mit Instrumenten: Es geht um den handelnden Umgang mit Klängen und Geräuschen sowie mit den Schülern zugänglichen natürlichen oder elektroakustischen Klangerzeugern. Im Lernfeld Geräusche und Klänge aus der Umwelt wird der klingende Alltag erkundet. Im Lernfeld Bau von Klangerzeugern – Instrumentenkunde – elektroakustische Medien stehen das Erfinden, Herstellen und Kennenlernen von Instrumenten sowie die elektroakustischen Möglichkeiten im Mittelpunkt. Im Lernfeld Spiel mit Instrumenten sollen Schüler mit Hilfe von geeigneten Instrumenten experimentieren und improvisieren, musikalische Regeln und Spieltechniken kennen lernen und Zugang zu Liedern, Musikstücken usw. erhalten. Musikhören: Hier stehen die Sensibilisierung und Differenzierung des Hörens, die Vermittlung unterschiedlicher Hörerfahrungen hinsichtlich verschiedener Arten von Musik sowie Informationen über Musik und das Musikleben im Mittelpunkt. Da die Differenzierung des Hörens jedoch – wie in dem Absatz über Sensomotorik ausgeführt – vor allem im Zusammenhang von Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrung geschieht, werden die Höraufgaben zumeist mit Bewegung und Handlung verbundenen. Der Plan sieht vier Lernfelder vor: Musikalische Hörübungen und Hörspiele – Musik kann etwas ausdrücken und erzählen – Wie Musik gemacht ist – Musik in der Umwelt. 26.8.3 Die Rolle des Lehrers Förderung als wechselseitige Erschließung kann nur gelingen, wenn der Lehrer beiden Seiten, den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Schüler sowie der Musik gerecht werden kann. Das heißt, er muss den jeweiligen Stand und die Fortschritte im Gebrauch der Fähigkeiten nach den genannten Kriterien beurteilen können, er muss die musikalischen Gestaltungs-, Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten kennen, mit deren Hilfe die Fähigkeiten gefördert werden sollen und er muss in der Lage sein, die Förderprozesses methodisch geschickt in Gang zu setzen. Spätestens bei der Darstellung der methodischen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Prinzipien dürfte der Prozesscharakter musikalischer Förderung deutlich geworden sein, da die Grundlage des Konzepts, die Bewegung, selbst ein Prozess, eine ‚fortschreitende Handlung‘ ist. Schüler können mit Musik nur dann gefördert werden, wenn es gelingt, sie in diese Prozesse zu involvieren. Dazu bedarf es eines Lehrers, der vor allem selbst bewegungs-, wahrnehmungs-, ausdrucks- und kommunikationsfähig ist, der die Balance zwischen musikalischer Stimulierung und Strukturierung verkörpern und Schüler zu den in den Praxisbereichen angeführten Tätigkeiten animieren und anleiten, sie vor allem bewegen kann (vgl. Amrhein, 2001b, S. 24 ff.). Von der derzeitigen Lehrerausbildung ist dies allerdings kaum zu erwarten.
Literatur Amrhein, F. (1974). Neue Wege in der Musikerziehung. Lebenshilfe, 1, 24–28. Marburg: Lebenshilfe. Amrhein, F. (1983). Die musikalische Realität des Sonderschülers – Situation und Perspektiven des Musikunterrichts an der Schule für Lernbehinderte. Regensburg: Bosse. Amrhein, F. (1995). Sprachförderung durch „Musik mit der Stimme“. Zeitschrift für Heilpädagogik, 46, 378-383. Amrhein, F. (1997). Sensomotorisches und musikalisches Lernen. In V. Schütz & J. Bähr (Hrsg.), Musikunterricht heute 2 (S. 40-49). Oldershausen: Lugert. Amrhein, F. (2001a). Eine Brücke für die Schwachen – Musikunterricht an Sonderschulen. In H. Bässler (Hrsg.), Brücken – Musikunterricht im geeinten Europa (S. 183-195). Mainz: Schott. Amrhein, F. (2001b). Den Musikunterricht auf die Füße stellen – die Bedeutung der Bewegung für musikalisches Lernen. Monografien des Instituts für musikpädagogische Forschung 1. Hannover: Hochschule für Musik und Theater. Amrhein, F. & Bieker, M. (1999). Lernen mit den Sinnen – Aspekte von Theorie und Praxis ästhetischer Erziehung im Sonderpädagogikstudium am Beispiel Musik. In H. Probst (Hrsg.), Mit Behinderungen muß gerechnet werden (S. 125-154). Oberbiel: Jarick. Ayres, J. (1984). Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin: Springer. Bastian, H. G. (2000). Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Mainz: Schott. Bieker, M. (1995). Schattenspiel – ein Beispiel ästhetischer Praxis in der Förderung von „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 46, 288-293. Bruner, J. S. (1974). Entwurf einer Unterrichtstheorie. Düsseldorf: Schwann. Brünger, P. (1997). Musik mit der Stimme. In S. Helms, R. Schneider & R. Weber (Hrsg.), Handbuch des Musikunterrichts (Band 1, Primarstufe, S. 85-114). Regensburg: Bosse. Damasio, R. A. (2000). Ich fühle, also bin ich – die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List. Feldenkrais, M. (1978). Bewußtheit durch Bewegung. Frankfurt: Suhrkamp. Günther, S. (2000). Das Zauberlicht – Spiele, Aktionen und Theater mit Schwarzlicht für Kinder. Münster: Ökotopia. Hessischer Kultusminister (1979). Rahmenlehrpläne für die Schule für Lernbehinderte – Musik. Wiesbaden: Hessischer Kultusminister. Hessischer Kultusminister (1996). Rahmenplan Ästhetische Bildung: MUSIK – Schule für Lernhilfe. Frankfurt: Diesterweg. Kemmelmeyer, K.-J. & Probst, W. (Hrsg.). (1981). Quellentexte zur pädagogischen Musiktherapie. Regensburg: Bosse.
Kapitel 26: Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen | 781
Klafki, W. (1991). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz. Martini, U. (1980). Musikinstrumente – erfinden, bauen, spielen. Stuttgart: Klett. Papoušek, M. (1994). Vom ersten Schrei zum ersten Wort – Anfänge der Sprachentwicklung in der vorsprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Probst, W. (1991). Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen. Mainz: Schott. Probst, W. (1999). Musik mit behinderten Menschen – Fortbildungen des vdm. In Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung e.V. (Hrsg.), EigenSinn & EigenArt (S. 197-200). Remscheid: Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung e.V. Ribke, J. (1995). Elementare Musikpädagogik. Regensburg: ConBrio. Ring, R. & Steinmann, B. (1996). Lexikon der Rhythmik. Regensburg: Bosse. Schütz, V. (1992). Musik in Schwarzafrika. Oldershausen: Lugert. Tischler, B. (1994). Musik aktiv gestalten. Frankfurt: Diesterweg. Tischler, B. & Moroder-Tischler, R. (1990). Musik aktiv erleben. Frankfurt: Diesterweg. Vincent, J.-D. (1992). Biologie des Begehrens – Wie Gefühle entstehen. Reinbek: Rowohlt. Wagner, E. (2003). Orff -Instrumente kennen lernen. München: Don Bosco. Watzlawick, P., Beavin, J. H. & Jackson, D. D. (1974). Menschliche Kommunikation. Bern: Huber. Wieser, W. (1979). Über die Einheit von Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt. In H. Wichmann (Hrsg.), Der Mensch ohne Hand (S. 49–60). München: Fischer.
26.9 Bewegungserziehung Gerd Hölter Aufgrund der heterogenen Schülergruppe – auch im motorischen Bereich – stellt sich das Lernfeld differenziert dar … Die verschieden akzentuierten Ansätze und Betrachtungsweisen von Sportunterricht mit lernbehinderten Schülern fordern heraus, …, sich mit den anstehenden Fragen auseinanderzusetzen und weitere Initiativen zu entwickeln. (Kanter, Langenohl & Sommer, 1984, S. V) Analysiert man dieses Zitat aus einem vor über zwanzig Jahren in der Reihe Texte zur Lernbehindertendidaktik herausgegebenem Sammelwerk, dass sich mit spezifischen Fragestellungen zum Sportunterricht an der Lernbehindertenschule beschäftigt, genauer, so werden hier in aller Kürze zwei zentrale Aufgaben einer Fachdidaktik genannt, die sich dem Problem der Lernbehinderung stellen will: Erstens geht es um die Beschulung einer immer heterogener werdenden Schülerschaft, nicht nur in motorischer, sondern auch in kognitiver und psychosozialer Hinsicht und zweitens um ein Defizit an hierfür geeigneten fachdidaktischen und methodischen Vorschlägen, die im Zitat etwas wage als Aufforderung bezeichnet werden, „sich mit den vorstehenden Fragen auseinanderzusetzen …“. Die schulischen Rahmenbedingungen und fachdidaktischen Orientierungen haben sich zwar in den letzten zwanzig Jahren verändert – dies wird am Anfang des Beitrags behandelt – allerdings nicht so dramatisch, dass sich hieraus entscheidend neue Konzepte für die Didaktik und Methodik einer inklusiven Bewegungserziehung ableiten lassen. Der
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| Teil VI: Schule und Unterricht zweite Teil wird sich daher mit Themen und Akzentsetzungen beschäftigen, die für eine zukünftige allgemeine Bewegungserziehung in der Schule bedeutsam sein könnten. 26.9.1 Vom Sportunterricht zur Bewegungserziehung Was auf den ersten Blick wie eine terminologische Nuance aussieht, spiegelt eine tiefgreifende fachdidaktische Umorientierung wider, die sich in den letzten dreißig Jahren im weiten Feld von Leibeserziehung, Sport- und Bewegungsunterricht sowie Ästhetischer Erziehung vollzogen hat. Als sich Jürgen Bielefeld Anfang der 80er Jahre in seiner umfangreichen Literaturrecherche zur Bewegungserziehung mit Lernbehinderten (1983) mit der im Bereich von Sonderpädagogik und Sport verwendeten Terminologie auseinander setzte, war noch nicht abzusehen, dass sich in der Allgemeinen Sportdidaktik die Erkenntnis durchsetzen würde, dass der Gegenstand des Faches letztlich nicht der Sport, sondern die Bewegung mit ihren explorativen, expressiven, kommunikativen, kontemplativen, instrumentellen und auch kompetitiven Aspekten ist. Das Ergebnis einer ideologisch begründeten Umbewertung und -benennung der Leibeserziehung in Sportunterricht zu Beginn der 70er Jahre war, dass für lange Zeit der „Sport in der Schule … mit dem Blickwinkel auf den Sport außerhalb von ihr konzipiert“ wurde (Kurz, 1979, S. 59). Verbunden damit war eine Absage an Bemühungen, unter Sportunterricht „eine umfassende Spiel-, Leistungs-, Bewegungs- und Gesundheitserziehung zu verstehen, die die ganze Vielfalt leiblicher Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten repräsentiert“ (Kurz, 1979, S. 59). Diese ‚Sportzentrierung‘ der Allgemeinen Sportdidaktik hatte für unterschiedliche Teildidaktiken und -methodiken, z. B. für die sonderpädagogischen Adressatengruppen, eine „ausgedünnte“, d. h. reduzierte Inhalte langsamer vermittelnde, Sportartenorientierung zur Konsequenz. Andererseits wurden Orientierungen abseits des Hauptstroms der bekannten Sportdidaktik gesucht und auch gefunden (vgl. Hölter, 1996). Ein Meilenstein für den Einstieg in Alternativen war das 1968 zum ersten Mal von Kiphard und Huppertz herausgegebene Buch Erziehung durch Bewegung, das sich inhaltlich zum Teil an Aspekten orientierte, deren Berücksichtigung im Sportunterricht zu der damaligen Zeit nicht üblich war. Durch den Buchtitel wurde die letztlich dem umfassenden Bildungsprozess der Schule dienende Funktion von Bewegung herausgestellt. Im Mittelpunkt der fachdidaktischen Überlegungen standen die Adressaten mit ihren spezifischen Voraussetzungen und Bedürfnissen, so dass ein Perspektivenwechsel stattfand, der auch eine Konsequenz der vielfältigen klinischen und heilpädagogischen Erfahrungen der beiden Autoren darstellte. Diese Hinwendung zu der Bildungs- und Bedürfnisrealität von Adressaten hat sich in der Allgemeinen Sportdidaktik erst viel später vollzogen, so dass bis vor kurzem uneingeschränkt die Feststellung von Brodtmann aus dem Jahre 1975 galt: „Eine Sportdidaktik, die sich nachweislich bisher höchst unzulänglich die sozialen Prozesse im Sportunterricht zum Reflexions- und Forschungsgegenstand gemacht hat, steht angesichts der Probleme, die mit der Eingliederung und gleichberechtigten Berücksichtigung Behinderter auftreten müssen, mit leeren Händen da“ (S. 295 f.). Die fachdidaktische Wende – und damit eine Abkehr vom sportiven Ansatz – wird durch eine Auseinandersetzung markiert, die sich im Vorfeld der Richtlinienrevision in Nordrhein-Westfalen Mitte der 90er Jahre abspielte und sich durch die Opponenten
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Edgar Beckers aus Bochum und Dietrich Kurz aus Bielefeld personalisieren lässt. Nach Beckers (1993) reicht es nicht, die Begründung des Sports als Schulfach im Sport selbst oder in den Motiven des Menschen Sport zu treiben, den sogenannten Sinndimensionen, zu suchen, sondern es muss die Eignung des Sports geprüft werden, einen Beitrag zur Entwicklung des Menschen und zu seiner Emanzipation zu leisten. Damit greift Beckers folgende, bereits 1964 von Grupe gestellte Frage wieder auf: „Wie kann Sport einen Beitrag leisten, um die Erhaltung und Bewahrung der Menschlichkeit des Menschen, um die Verwirklichung der Menschlichkeit in der Welt zu fördern?“ (zitiert nach Beckers, 1993, S. 250). Gefordert wird damit, dass ein ‚Bildungsfilter‘ oder ein ‚pädagogischer Filter‘ – wie Beckers es nennt – fachdidaktischen Entscheidungen vorzuschalten sei, d. h. die didaktischen Vorgaben stammen nicht aus dem Sport selbst, sondern aus transparent gemachten anthropologischen und gesellschaftlichen Positionen. Sie sind letztlich der Bewertungsrahmen für alle weiteren fachdidaktischen Entscheidungen. Das konstruktive Produkt dieser Überlegungen ist ein Richtlinienwerk für Nordrhein-Westfalen, das die Bildungsorientierung des schulischen Sportunterrichts betont und die inhaltliche Orientierung an Sportarten durch die Nennung von umfassenderen Inhaltsbereichen wie etwa der Förderung von Wahrnehmung und Körpererfahrung oder der Pflege des Spiels bzw. der Entdeckung von Spielräumen relativiert. Solche Ziele, die bisher eher in der Psychomotorik und Sonderpädagogik bekannt waren, gewinnen plötzlich eine fachdidaktische Dignität für den allgemeinen Sportunterricht. Die Offenheit, die durch den skizzenhaft geschilderten Wandel von einer dominanten Sach- zu einer Sach-Subjekt-Orientierung entstanden ist, bietet einen hinreichenden fachdidaktischen Rahmen für alle Schülerinnen und Schüler, so dass z. B. in NordrheinWestfalen auf spezifische Richtlinien für den Sportunterricht von besonderen Adressatengruppen, wie etwa den Schülern mit Lernschwächen, verzichtet wurde. Diese insgesamt befriedigende fachdidaktische Lösung wird jedoch durch eine noch immer recht einseitige Fachmethodik konterkariert, da „faktisch die gesamte Sportmethodik … auf den Unterricht mit physisch und psychisch normal entwickelten und reagierenden Kindern ausgerichtet“ ist „und zwar weitgehend orientiert an Zielen, die für große Gruppen von Behinderten selten realisierbar sind, nämlich Bewegungsperfektion, permanente physische Leistungssteigerung und Erfolg in der Konkurrenz“ (Brodtmann, 1975, S. 296). In fachmethodischer Hinsicht lässt sich die aktuelle Situation mit dem Bild einer Expedition beschreiben, die sich mit „Turnschuhen auf den Weg zum Nordpol“ befindet, d. h., als ein Unternehmen, das höchst unzulänglich ausgerüstet Problemen begegnen will, die auf gewöhnliche fachdidaktische und methodische Art und Weise nicht zu bewältigen sind (vgl. Hölter, 1987). Hiermit wird auf die Bringschuld einer Sportpädagogik verwiesen, in der verhaltensauffällige, lernschwache, unkonzentrierte, hyperaktive, adipöse sowie andere motorisch Auffällige bis heute eher randständig thematisiert werden. 26.9.2 Inklusion, Professionalisierung und motorische Leistungsfähigkeit im Sportunterricht Inklusion: Trotz des allseitigen Bekenntnis zu und Forderung aus der Allgemeinen und der Sonderpädagogik nach Inklusion bzw. Integration verfügt die Bundesrepublik
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| Teil VI: Schule und Unterricht heutzutage nach wie vor über ein ausgeprägtes, differenziertes Sonderschulwesen, in dem die so genannten lernbehinderten Schüler mit über 80 % den ‚Löwenanteil‘ der Schülerschaft stellen. Gerade nach den Bildungsvergleichsstudien, die Deutschland ein hohes Maß an Selektion bei mäßigen Gesamterfolgen bescheinigen, ist zu erwarten, dass eine gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung zunehmen wird und dies vor allem im Bereich der Förderschwerpunkte Sprache und Lernen. Während es z. B. in den USA, in den skandinavischen Ländern und auch in Australien seit längerem umfangreiche Fachbücher zum inklusiven Sportunterricht, der Adapted Physical Education and Activity, gibt (u. a. Lieberman & Houston-Wilson, 2002) sowie auch mehrere Forschungsarbeiten zur Akzeptanz von Schülern mit Behinderungen durch ihre Sportlehrer (vgl. Lienert, Sherrill & Myers, 2001; Kozub & Lienert, 2003) sind solche Arbeiten im deutschsprachigen Raum bisher rar (vgl. als Ausnahme Doll-Tepper, Schmidt-Golz, Lienert, Döen & Hecker, 1994). Als die auflagenstarke Fachzeitschrift Sportpädagogik 2003 zum ersten Mal das Thema ‚Schüler mit Behinderung‘ behandelt hat, wurde in den Einzelbeiträgen deutlich, welches hohe Maß an fachmethodischer Kompetenz notwendig ist, um die zunehmende Verschiedenheit auch im Sportunterricht gestalten zu können (vgl. Fediuk & Hölter, 2003). Professionalisierung: Die Lehrerausbildung ist – ähnlich wie es für die fachdidaktische Entwicklung beschrieben wurde – unzulänglich adressatenorientiert. In der Ausbildung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern dominiert das Unterrichtsfach Sport mit seiner ihm eigenen Sachstruktur, und es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass Studierende alle Sportschwimmarten beherrschen, aber nie von spezifischen Schwimmtechniken für Körperbehinderte gehört oder sich differenzierter mit der Überwindung von Lernblockaden beschäftigt haben. An Sonderschulen für Lernbehinderte gilt zur Zeit noch – und dieser Umstand wird in den einschlägigen Sammelpublikationen der 80er Jahre zum Sport- und Bewegungsunterricht bei Lernbehinderten ebenfalls beklagt (Bielefeld, 1983, Schraag, 1988, Irmischer, 1984) – dass der Sportunterricht zu über 80 % nicht von hierfür ausgebildeten Fachkräften erteilt wird. Eine ähnliche Situation herrscht an Grund- und Hauptschulen, allerdings nicht an Gymnasien. Wie im folgenden Abschnitt noch deutlich wird, scheint es so zu sein, dass für diejenigen, die einer besonders qualifizierten motorischen Förderung bedürfen, auch heute noch die wenigsten ausgebildeten Fachleute zur Verfügung stehen! Motorische Leistungsfähigkeit: In einer Metaanalyse der deutschsprachigen Untersuchungen zur motorischen Leistungsfähigkeit von lernbehinderten Schülern im Alter von fünf bis zwölf Jahren kommt Bös (1987) zusammenfassend zu dem Schluss, dass „die Gruppe der lernbehinderten Schüler in den Gesamtscores motorischer Testbatterien deutlich schlechter ist als nicht-behinderte Vergleichsgruppen, im Durchschnitt gleichzeitig aber auch besser als geistig behinderte Schülergruppen“ (S. 39). In seiner eigenen Untersuchung von Schülern mit Lernbehinderungen, Grund- und Hauptschülern sowie Gymnasiasten (nur letztere wurden von ausgebildeten Sportlehrern unterrichtet) ermittelt Bös ebenfalls erhebliche Unterschiede im motorischen Fähigkeitsprofil, die sich aber nicht durchgängig für alle Fähigkeiten zeigen. So sind z. B. in der Maximalkraft keine Unterschiede festzustellen, während sie in Gewandtheit und Ballgeschicklichkeit besonders groß sind (vgl. Abb. 6). In seiner Interpretation führt Bös dieses Ergebnis teilweise auf die Qualität des Sportunterrichts, wie u. a. auf ein sachgerecht angeleitetes Training von Ballfertigkeiten, zurück.
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Mehrleistung in % 50 40 30 Gymnasiasten
20
GHS-Schüler
10 0 Ausdauer
Maximal- Schnell- Gewand- Ballkraft kraft heit geschick
Lernbehinderte Handgeschick
Abbildung 6: Motorische Fähigkeitsprofile von Lernbehinderten, GHS-Schülern und Gymnasiasten (Bös, 1987, 44)
Darüber hinaus wurde vielfach festgestellt, dass lernbehinderte Schüler überwiegend der sozialen Unterschicht angehören (in der Untersuchung von Bös zu 94 %), was wiederum, ähnlich wie für Einschränkungen im sprachlichen Bereich, mit einem ‚restringierten motorischen Code‘ und generell mit einem schlechteren Gesundheitsstatus verbunden ist. Der Förderbedarf, den lernschwache Schülerinnen und Schüler im motorischen Bereich aufweisen, ist nach den bisherigen Befunden weniger auf eine Parallelität von Motorik und Intelligenz zurückzuführen, sondern er resultiert aus einer Interaktion von Schichtvariablen und mangelnder qualifizierter Förderung (vgl. Bös, 1987, S. 51; Eggert, 1976, S. 191 f.). Wie diese Aspekte bei der Gestaltung des zukünftigen Sportunterrichts besser berücksichtigt werden können, soll an einigen Vorschlägen verdeutlicht werden, die im Folgenden als ‚Entgrenzungen‘ des Sportunterrichts bezeichnet werden. 26.9.3 „Entgrenzungen“ des Sportunterrichts So wie die Beschulung in Deutschland organisiert ist, wird auf absehbare Zeit der Schultag durch eine bunte Abfolge von unterschiedlichen Fächern bestimmt sein, zu denen auch der Sportunterricht im engeren Sinne zählt, der in der Regel mit zwei bis drei Schulstunden pro Woche vorgesehen ist und nach Vorgaben organisiert wird, die Lehrern und Lehrerinnen fachdidaktisch große Spielräume eröffnen. Über die Nutzung dieser Spielräume hinaus bieten Bewegung und Sport gerade für Schüler mit Lernschwierigkeiten weitere Förderungsmöglichkeiten, die im Folgenden an vier Beispielen skizziert werden. Leibhaftiges Lernen: Dass denken, handeln und fühlen zusammen gehören, ist nicht erst seit der Reformpädagogik bekannt. In regelmäßigen Abständen wird diese Erkenntnis für viele Schulfächer aktualisiert, wobei der Aneignung in und durch Bewegung ein besonderer Stellenwert zukommt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die erste deutsche Übersetzung des Buches Movement Education von Marianne Frostig (1970) durch den
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| Teil VI: Schule und Unterricht Dortmunder Lernbehindertenpädagogen Anton Reinartz (1973) in die Wege geleitet wurde, denn Marianne Frostig hat viel stärker als dies bei Kiphard und der Psychomotorik in Deutschland der Fall war, den Zusammenhang von Bewegungsförderung und schulischem Lernen thematisiert und entsprechende differenzierte, anwendungsnahe inhaltliche Vorschläge entwickelt. Variationen und Erweiterungen ihres Konzepts, die auf Rhythmisierung, Schulung des Wahrnehmungsverhaltens, Körperbewusstsein etc. zielten, sind später in vielen Ansätzen zur Lernförderung von lernschwachen Kindern aufgegriffen und variiert worden (vgl. Brand, Breitenbach & Maisel, 1985; Kesper & Hottinger, 1992; Barth, 1997; Shelhav-Silberbusch, 1999). Der Ort dieser Form der Förderung ist meistens nicht der Sportunterricht, sondern sie sollte zugleich Teil jeder anderen Fachdidaktik des schulischen Fächerkanons sein, wobei grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten z. B. im Bereich von Bewegungs- und Rhythmikförderung hierfür eine elementare Voraussetzung und notwendiger Gegenstand des allgemeinen Studiums sein sollten. Bewegungstherapeutische Schleifen: Ob Therapie Bestandteil des Bildungsprozesses sein soll und hierfür die Schule der richtige Ort ist, kann diskutiert werden. Tatsache ist jedoch, dass außerschulische, therapeutische Zusatzangebote, von der heilpädagogisch-psychomotorischen Förderung bis zur Kinderpsychotherapie, vornehmlich von Mittelschichtskindern wahrgenommen werden. Es ist daher sinnvoll – und in mehreren Projekten erprobt (vgl. Hölter, Hülsmann, Kuhlenkamp & Reichenbach 2000; Hülsmann & Schmitz-Post, 2003; Kuhlenkamp, 2003) – so genannte ‚therapeutische Schleifen‘ während oder direkt im Anschluss an den normalen Unterricht in der Schule anzubieten. Möglichkeiten dazu boten bisher auch der Förderunterricht oder sonderpädagogische Maßnahmen, wobei es sinnvoll ist, hier Fachpersonen anderer pädagogisch-therapeutischer Fachberufe in die Schule einzubinden. Dieses Modell, das sich in der Bundesrepublik vereinzelt findet, wird in der Schweiz flächendeckend praktiziert: Jede Grundschule beschäftigt dort Logopädinnen und Psychomotoriktherapeutinnen, die sich – integriert in den allgemeinen Schulalltag – Kindern mit spezifischen Problemen widmen. Merkmale der Therapie in Abgrenzung zur Pädagogik sind u. a. die begrenzte zeitliche Dauer der Maßnahme sowie die besondere Qualifikation der betreuenden Fachpersonen. Vor dem Hintergrund frei verfügbarer Budgets „Selbstständiger Schulen“ besteht die Gelegenheit, Kompetenzen, die über die Lehrerqualifikation hinausgehen, zusätzlich „einzukaufen“ und dies wahrscheinlich mit besonderem Nutzen für diejenigen, die einer speziellen Förderung u. a. in der Motorik bedürfen. Bewegung, Spiel und Sport im Schulleben: Indikator für einen erweiterten Sportbegriff ist in den letzten Jahren das Stichwort „Bewegte Schule“ geworden. Hierunter ist ein ursprünglich von Sportlehrern initiiertes Bemühen zu verstehen, dominantes Sitzen durch Bewegen während, zwischen und nach dem Unterricht ‚auszubalancieren‘ (vgl. Hölter, 1997; Illi, 1998). Dies hat dann einerseits zu Moden wie dem Sitzen auf Sitzbällen geführt, andererseits aber auch zur verstärkten Öffnung und Gestaltung von Bewegungsräumen wie z. B. den Schulhöfen. In der Praxis führte letzteres häufig zu einem mehr oder weniger geeigneten Arrangement von Spielgeräten in der Annahme, dass es die Geräte ‚schon richten‘, um aus Pausentraumata pädagogisch sinnvolle Veranstaltungen zu machen. Obwohl diesen Erwartungen gerade bei schwierigen Schülern nur zum Teil entsprochen werden konnte, sind offene Spielgelegenheiten in der Schule grundsätzlich positiv zu bewerten. Darüber hinaus müssen jedoch auch eigene Spiel-
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zeiten angestrebt werden, unter anderem auch, weil gerade Schüler und Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten auf diese Weise andere Formen der Selbstrealisierung und -bestätigung in Situationen entdecken können, die von schulischem Lernen unbelasteter sind (vgl. Hölter, 1978, 1987, 1996; Daublebsky, 1988). Allerdings bedarf Spielen einer pädagogischen Begleitung, die sich nicht auf die Bereitstellung von psychomotorischen Geräten und auf die Pausenaufsicht beschränken kann. Spielen pädagogisch nutzbar zu machen ist eine Kunst, die sich zwischen Anleiten und Gewähren lassen – womit ein pädagogisches Grunddilemma aufgezeigt ist – bewegt. Um tatsächlich anleiten zu können, müssen Lehrer und Lehrerinnen Kinderspiele kennen und die Fähigkeit besitzen, sich dann zurückzuziehen, wenn ein Spiel tatsächlich beginnt, seine „heilende Kraft“ (Zulliger, 1967) zu entfalten. Bewegung, Spiel und Sport in der Schule werden in Zukunft noch in einem anderen Zusammenhang an Bedeutung gewinnen: Es ist zu erwarten, dass in einer Ganztagsschule sportliche Aktivitäten besonders intensiv betrieben und zum Teil nachmittägliche Sportvereinsangebote für Kinder und Jugendliche ersetzen werden. Aus diesem Grund sind die Sportverbände selbst schon dabei, ihre Angebote direkt in die Schulen zu tragen. Da Sportvereinsmitgliedschaft, ähnlich wie die Teilnahme an therapeutischen Fördermaßnahmen, weitgehend schichtspezifisch ist (vgl. Tietjens, 2001, S. 246) werden Schüler und Schülerinnen mit Lernschwächen hiervon besonders profitieren. Bewegungsorientierte Projekte: Aus der Arbeit in der ambulanten und stationären Jugendhilfe sind in den letzten Jahren Konzepte einer bewegungs- und körperorientierten Sozialarbeit entstanden, die für den Sportunterricht bei Schülern mit Lernschwierigkeiten ausgesprochen befruchtend sein können (vgl. Hammer, 2001; Schleiffer, 2001; Koch et al., 2003). Ein theoretischer Ausgangspunkt dieser Bemühungen ist u. a. die Anlehnung an den Husserl’schen Begriff der Lebenswelt: Sportpädagogische Angebote, häufig mit stark erlebnispädagogischen Anteilen, sollen möglichst von den aktuellen Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen ausgehen, sei es im Heim oder in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf. Ein wichtiges Element ist die Sensation, der „thrill“, dem z. B. mit Projekten wie Floßfahren auf der Weser, Segeln auf dem Ijsselmeer, Halfpipebau im Stadtteil oder gewagten Rad- und Kletterkonstruktionen entsprochen wird (vgl. Becker & Schirp, 1997). Psychologisch werden hiermit einerseits „unmittelbar erlebbare körperbezogene Erwartungen“ (S. 209) aktualisiert, andererseits die „Aktivierung der Peer-Group“ (S. 209), beides Aspekte, die nach Fuchs (1990) für die Aufnahme von bewegungsorientierten Aktivitäten bei Mitgliedern der Unterschicht besonders wichtig sind. Solchen Entschulungsversuchen sind in der Regelschule engere Grenzen gesetzt als dies in der Jugendhilfe der Fall ist, aber mit der Ganztagsschule werden sich die Möglichkeiten hierfür erweitern. 26.9.4 Erziehung zum Sport – Erziehung durch Sport Mit dem sich andeutenden Wandel in der Sportdidaktik von einer Sportzentrierung zu einer allgemeinen Bewegungserziehung haben sich die theoretischen Rahmenbedingungen für den Sportunterricht mit lernschwachen Schülern und Schülerinnen verbessert: Es geht weniger um eine Erziehung zum Sport im Sinne einer Vermittlung
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| Teil VI: Schule und Unterricht vordefinierter Sportarten, als um eine Erziehung durch Bewegung, Spiel und Sport als handlungsorientierte, kindnahe Bildungs- und Förderangebote. Diese Entwicklung wird durch bestimmte strukturelle Bedingungen erleichtert, gleichzeitig aber auch erschwert: Die Realisierung der Inklusion, flankiert durch entsprechende personelle und räumliche Ausstattung, dient sicherlich der Verbesserung, obwohl sie durch die motorischen und sozialen Voraussetzungen auf Seiten der lernschwachen Schüler und durch das Ausbildungsprofil der heutigen Lehrerinnen und Lehrer, das bisher mangelhaft auf eine große Heterogenität vorbereitet, erschwert wird. Trotz dieser Bedingungen gibt es schon zum jetzigen Zeitpunkt gute Beispiele für ‚Entgrenzungen‘ des Sportunterrichts, die besonders lernschwachen Schülern nützen: Hierzu gehört eine verstärkte Berücksichtigung von ‚bewegten Anteilen‘ im regulären Unterricht, die Teilnahme an bewegungstherapeutischen Fördermaßnahmen im Sinne ‚therapeutischer Schleifen‘, die Erweiterung des Schullebens durch bewegungs-, spiel- und sportorientierte Angebote sowie die Durchführung von bewegungs- und spielorientierten Projekten. Aus fachdidaktischer und sonderpädagogischer Sicht gilt allerdings auch weiterhin „nicht nachzulassen, sich mit den anstehenden Fragen auseinanderzusetzen und weitere Initiativen zu entwickeln“ (Kanter et al., 1984, S. V).
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26.10 Kunst Joachim Bröcher 26.10.1 Zur Bildnerei einer heterogenen Schülerschaft Versuchen wir das spezifische bildnerische Darstellungs- und Ausdrucksniveau der Heranwachsenden im Lernbehindertenbereich zu beschreiben, sind wir mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich in den meisten Klassen nicht nur retardierte, sondern u. a. auch verhaltensauffällige, sozial verwahrloste, in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigte, geistigbehinderte, psychisch und/oder somatisch kranke Persönlichkeiten befinden. Es lässt sich kaum mehr von der typischen Bildnerei Lernbehinderter, allenfalls von verschiedenen Variationen an bildnerischen Auffälligkeiten und Besonderheiten sprechen. Richter (1984, S. 144 f.) kommt auf Grund einer zusammenfassenden Auswertung von Untersuchungen, die an seinem Lehrstuhl durchgeführt wurden, zu dem Ergebnis, dass in den Bildnereien Lernbehinderter Retardierungen innerhalb des Formenrepertoires, z. B. in Form von Kritzelresten, verzögerter Ausbildung von Kreis-, Kreuz- oder Kastenformen, Schablonisierungen, Klischeebildungen, eine nicht altersadäquate Binnendifferenzierung des einzelnen Bildzeichens sowie Veränderungen in der kompositionellen Organisation wie Wiederholungen, Reihungen etc. dominieren. „Differenzierung und Strukturierung des Bildes/Objektes verweisen auf den bildnerischen Ausdruck jüngerer Kinder, ohne ihm zu entsprechen“ (S. 144). Die Bilder enthalten „Bruchstellen, Unstimmigkeiten“, Abweichungen/Besonderheiten in der „Darstellung von empirischen Objekten“ (S. 146). Bezüglich der Raumdarstellung/Raumorganisation werden undifferenzierte, frühkindliche Schemata präsentiert, in denen noch „die elementaren räumlichen Beziehungen ‚Getrenntsein‘, auf einen Fleck konzentriert sein ... und ‚Benachbartsein‘ (Piaget/Inhelder 1971, S. 74 ff.) vorherrschen“ (Richter, 1984, S. 146). Nur selten kommt es zur Entwicklung von Kompositionen mit tiefenräumlichem Charakter. Im Hinblick auf die Motivstruktur dominieren in den Bildern Gefühle des Verlassenseins, der Enttäuschung, der Trennungsangst, der Aggressivität, der Distanzlosigkeit oder Misserfolgserwartungen (vgl. Abb. 7 und 8). Auf Grund des hohen Anteils an Verhaltensauffälligkeiten an Schulen für Lernbehinderte müssen auch die diesbezüglichen bildnerischen Besonderheiten mitbedacht werden. Abgesehen von den auch hier in abgemilderter Form anzutreffenden Entwicklungsverzögerungen, Differenzierungs- und
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Abbildung 7 und 8: Schülern einer 7. Klasse wurde parallel zur Lektüre von Otfried Preußlers „Krabat“ die Aufgabe gestellt, die Szene zu zeichnen, in der ein über das Land ziehender Junge die rätselhafte Mühle betritt und auf den Müller-/ Zaubermeister trifft.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Strukturierungsstörungen, findet sich eine andere Einstellung zum Zeichenvorgang/Produktionsprozess: Während sich die rein intellektuell schwachen Schüler (Abb. 8) auf ihrem retardierten Darstellungsniveau relativ sorglos bewegen und die Motive zwar in reduzierter Form, jedoch relativ reibungslos wiedergeben (obschon unser Zeichner gar die auf dem Mühlendachboden auf Pritschen schlafenden Lehrjungen/Mühlknappen seinem Bildentwurf hinzugefügt hat), reagieren die verhaltensauffälligen Schüler auf Themen, die der Lehrer gestellt hat, aber auch auf selbst gewählte Themen, mit Eingriffen, Auslassungen, Umformulierungen, Umdeutungen und Strukturveränderungen (vgl. Richter, 1984, S. 155). Diese Tendenzen werden deutlich etwa in der Hervorhebung der Genitalien des Müllermeisters, in der Darstellung seiner Spannung/Erregung ausdrückenden Hände, Füße und Haare (Abb. 7), hat er doch, so der begleitende Kommentar des Zeichners, nichts anderes im Sinn, als sich den Jungen sexuell zu unterwerfen. Sachorientierte Arbeitsweisen schlagen zumeist fehl, denn diese Zeichner „gehen aus dem Felde“ (Richter, 1984, 157 f.). In den Bildern „überdeckt der Ausdruck des individuellen Lebensgeschehens die allgemeinen Lösungsvorgänge. ... Diese Konflikte verhindern offensichtlich, dass die Schüler in ihren Arbeiten die sachorientierten Vorschläge annehmen und bildhaft davon erzählen (‚visualisieren‘), was ihnen in der Aufgabenstellung übermittelt wurde“ (S. 159). Weitere, an Lernbehindertenschulen anzutreffende, wenn auch zahlenmäßig kleinere Gruppen, sind Schüler auf der Grenze zur geistigen Behinderung, zum Teil auch manifest geistigbehinderte sowie psychisch gestörte Schüler, die jeweils eine eigenständige und eigentümliche Bildnerei entwickeln (hierzu Richter, 1997a, 1997b; Theunissen, 1997, 2004). Auch müssen wir in Anbetracht des hohen Migrantenanteils in dieser Schülerschaft, kommen die Kinder etwa aus Afrika, Asien oder dem arabischen Kulturraum, von „kulturspezifischen Zeichenbildungen und kompositionellen Strukturen“ (Richter, 2001, S. 290) und daraus resultierenden bildnerischen Besonderheiten ausgehen. Wir brauchen nicht mehr eigens zu betonen, welch vielgestaltiges Bild sich hieraus ergibt und wie groß die Herausforderung sein wird, dieser Heterogenität der fachspezifischen Lernvoraussetzungen und der bildnerischen „Sonderentwicklungen und Strukturveränderungen“ (Richter, 1987, S. 105 ff.) mit einer adäquaten ästhetischen Bildungsförderung zu begegnen. 26.10.2 Historische Perspektive Vor dem Hintergrund historiographischer Rekonstruktionen zur allgemeinen (Richter, 1981, 2003) und zur speziellen/behinderungsspezifischen ästhetischen Erziehung (Kanter, 1993; Richter 1984, S. 90 ff.) lassen sich ab der Spätaufklärung vereinzelte „Auswirkungen erziehungsphilosophischen Denkens“ auf die ästhetische Bildung von behinderten und benachteiligten Kindern ausmachen. Insbesondere Georgens und Deinhardt (1979/1861, S. 364 ff.) eröffneten ein weit gestecktes, am Spiel orientiertes, ästhetisches Tätigkeitsfeld, wenngleich die bildnerischen Aktivitäten noch stark an Produkten und am richtigen Zeichnen usw. orientiert waren (vgl. Richter, 1984, S. 95 f.). Schließlich fanden speziell Pestalozzis Auffassungen zur Zeichenkunst Beachtung (Pestalozzi, 1800; J. Schmid, 1809). Der Zeichenunterricht in Form des „Netzzeichnens“ führte jedoch zu einem „Schematismus, der weit entfernt von einer Freisetzung der kindlichen
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Kräfte und der Steigerung von Empfindsamkeit und Gestaltungsfähigkeit war“ (Kanter, 1993, S. 130). Im Zuge der „Institutionalisierung von Erziehung und Unterricht“ bei „Schwachbefähigten“ wurde die „ästhetische Erziehung im Sinne der Allgemeinbildung“ schließlich „verkürzt“, funktionalisiert und in die „Unterrichtsfächer Musik, Zeichnen und Turnen kanalisiert“ (Kanter, 1993, S. 132 ff.). Statt ästhetisch fundierter „Sinn- und Freiheitserfahrungen“ (Klafki) sowie einer Förderung der natürlichen Spontaneität des Kindes dominierten monotones Üben und ein Vorgehen nach vorgegebenen, starren Mustern. Als ästhetische Aktivitäten fungierten „Nachbauen, Nachlegen, Ausschneiden, Modellieren, Nachzeichnen“, um „den durch die Anschauung gewonnenen Eindruck [zu] sichern“ (vgl. Kanter, 1993, S. 133). Stuhlmann (1883) arbeitete an der Weiterentwicklung eng gefasster Zeichenanweisungen, die sich an einfachen geometrischen Gebilden orientierten (z. B. „Mit Hilfe des stehenden Kreuzes zeichne das Geviert ABCD und teile dessen Kanten in fünf gleiche Teile ...“, zitiert nach Richter, 1984, S. 98). Schwenk (1893, S. 112) hat dieses hochformalisierte „Netzzeichnen“ für die „Hilfsschule“ vereinfachend übernommen. Ziegler (1906, S. 21) suchte dieses „langweiligste“ und „geistloseste“ aller Fächer schließlich durch „Farbmalen“ und „Farbklecksereien“ neu zu beleben, während Tadd (1899) die Bedeutung des „bimanuellen Zeichnens“ als notwendiger „Zwischenstation auf dem Wege zum ‚richtigen‘, gegenstandsabbildenden Zeichnen“ heraushob (zitiert nach Richter, 1984, S. 100). Die allgemeinen kunstpädagogischen Strömungen im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich „mit einiger Verzögerung und unter selektiven Gesichtspunkten auf Erziehung und Unterricht bei Schwachbefähigten ausgewirkt“ (Kanter, 1993, S. 134 f.). „Während freilich durch die Kunsterziehungsbewegung, so wie sie allgemein zur Geltung kam, das ‚Schöpferische‘, ‚Individuelle‘, ‚Ganzheitliche‘ im Kinde aufgerufen wurde, traute man dem Hilfsschüler keine allzu großen Potenzen in diesen Bereichen zu und hob mehr auf die Wirkung des Zeichenunterrichts als Mittel ‚im Sinne der Heilbehandlung‘ zur Verbesserung der ‚optisch-auffassenden‘ und der ‚graphisch-motorischen‘ Akte ab“ (Kanter, 1993, S. 135). Ganz anders bei Heckmann (1935, S. 5, zitiert nach Richter, 1984, S. 101 f.; 2003, S. 228 f.). Beeinflusst durch die Musische Erziehung, ging es ihm darum, „die „Ausdrucksfähigkeit“ und „Eigentätigkeit“ des Kindes zu entwickeln. Seine Kunstpädagogik zielt auf den Abbau von Ausdruckshemmungen und das Stimulieren von vorbewussten Inhalten. Der Lehrer beginnt etwa mit „Klecksographien“, die umgeformt und weiterentwickelt werden, bis sie eine gegenstandsnahe Form annehmen. Entgegen dem heraufziehenden Zeitgeist (1935!) orientiert sich Heckmann an Verfahren aus der modernen Kunst (z. B. Collage, Frottage, Dripping usw.). Den evokatorischen, experimentellen, entlastenden und befreienden Aktivitäten folgt schließlich eine „Umformung/Umdeutung in eine ‚werkgerechte‘ Bildsprache“ (Richter, 1984, S. 103), die in den Dienst von Themenbearbeitungen tritt. Dieser an sich zukunftsweisende Ansatz wirkte sich jedoch nicht nachweisbar für den Kunstunterricht bei Lernbehinderten aus, wie Kanter 1993 bemerkte: Insgesamt muß für diesen Abschnitt festgestellt werden, daß die Ausdifferenzierung und Professionalisierung fördernder Arbeit für schwachbefähigte Schüler (Hilfsschüler) für den Zeichenunterricht und die ästhetische Erziehung allgemein zunächst wenig erbracht hat. Auswirkungen reformpädagogischen Denkens waren nur begrenzt
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| Teil VI: Schule und Unterricht zu verzeichnen und immer noch dem Gedanken der nachahmenden Übung stark verhaftet. (S. 135) Die sachorientierten, gegenstandsbezogenen und themenzentrierten kunstpädagogischen Entwürfe, die seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden (Kunstdidaktik als Vermittlung Moderner Kunst, Pfennig, 1970; Wissenschaftlicher Kunstunterricht, Otto, 1969; Visuelle Kommunikation, z. B. Giffhorn, 1979; interdisziplinär angelegte ästhetische Erziehung, Otto, 1974), erbrachten kaum etwas für die ästhetische Bildung des Kindes/Jugendlichen mit Lernproblemen. Eine Adaptation der politisch-emanzipatorisch orientierten Visuellen Kommunikation auf den Lernbehindertenbereich erfolgte z. B. durch Weigt (1975). Auf der praktisch-didaktischen Ebene wurden etwa Collagen aus Comicfiguren angefertigt, um die „Kommunikationsfähigkeit“ der Lernenden zu fördern. Schülerorientierte (Giffhorn, 1981; G. Schmid, 1978) oder lebenswelt- und aneignungsorientierte (Hartwig, 1980) kunstpädagogische Ansätze ermöglichten immerhin einen gewissen Transfer mit Blick auf die ästhetische Bildung von Heranwachsenden mit Förderbedarf im Lernen/Verhalten, nahmen jedoch kaum direkt Bezug auf die Besonderheiten dieser Gruppe. Seit den 1970er Jahren kam es schließlich zur Entwicklung von eigenständigen heilpädagogisch-kunstpädagogischen bzw. kunsttherapeutischen Entwürfen, die auf einer Synthese von bildungstheoretischen und therapeutischen Aspekten/Zielsetzungen beruhen. Im Zentrum dieser Bemühungen steht die durch H.-G. Richter (1977, 1984) begründete „Pädagogische Kunsttherapie“. 26.10.3 Die Pädagogische Kunsttherapie H.-G. Richters Unter heilpädagogischem Vorzeichen erfährt der Kunstunterricht nach Richter (1991) bei Lernbehinderten, Verhaltensauffälligen usw. nun eine „Umstrukturierung“ zu Fördermaßnahmen „mit ästhetischen Mitteln“ (S. 36). Er spricht zunächst von einem „therapeutisch gestützten Kunstunterricht“, d. h. „Unterrichtsformen, die durch besondere didaktische Varianten von dem ‚Idealfall‘ einer kunstorientierten Unterrichtsplanung abweichen“ (S. 35). Der Kunstunterricht erfährt eine Neukonzeptualisierung durch die „Aufnahme von Spiel- und Aktionsformen, durch einleitende Animation, durch polyästhetische Aktivitäten wie musikalisch-rhythmische Prozesse, szenische Ereignisse usw.“ (S. 36). Die ästhetischen Prozesse lassen sich anreichern durch die „Ausnutzung kunstverwandter Prozesse – von regressiv ausgelegten Ereignissen (Schmieren, Matschen, Sudeln)“ (Abb. 9), „durch die Einbeziehung von motivierenden, ontogenetisch ‚frühen‘ Materialien wie Sand, Steine, Hölzer, Wasser“ bis hin zu „realistisch-imitativen Darstellungen (Überzeichnen von Fotos, ergänzendes Zeichnen usw.)“ (hierzu Wörner, 1984), d. h. durch „weiterführende, kognitiv orientierte Materialien wie Fotokopien, Übermalungen“, die die regressiven Prozesse „in konstruktiver Hinsicht ergänzen“ (Richter, 1991, S. 36). Zu dieser realistisch-imitativen Variante hat Bröcher (1991, 2000b) mit dem Collage-unterstütztem Zeichnen bzw. dem Mobilen Bildsystem ein Verfahren entwickelt, das das Bearbeiten komplexer Erfahrungszusammenhänge auch bei Schülern zulässt, die sich beim Zeichnen kaum etwas zutrauen oder dieses völlig verweigern. Hierbei werden fotokopierte, aus Zeichenlehrbüchern bzw. Künstlerzeichnungen entnommene
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Abbildung 9: Regressive Handlungen (Schmieren, Matschen, Sudeln) als Fördermaßnahme des therapeutisch gestützten Kunstunterrichts (Richter, 1977, 1984)
Figuren-Elemente durch den Schüler ausgewählt, vor einem Repertoire an Hintergründen arrangiert, angeheftet und auf der Fotokopie des erstellten Mobilen Layouts durch eigene zeichnerische, graphische und malerische Ergänzungen, Weiterentwicklungen und Umgestaltungen realisiert. Derselbe Schüler, dem wir Abbildung 7 verdanken und der in einer hochgradig konflikthaften Familiensituation/Vater-Sohn-Beziehung lebt, gestaltete mit diesem Verfahren etwa eine tiefenräumlich angelegte Szene, die seinen Vater und ihn selbst während einer „Wanderung“ zeigt (Abb. 10). Auf der Basis einer solchen „Komplexitätsreduktion“, d. h. der „Auflösung der jeweiligen Aufgabenstellung in einzelne, materiell und inhaltlich neu motivierende Arbeitsschritte“ (Richter, 1991, S. 36), gelangt der Schüler zu einer inhaltlich komplexen und formal zufriedenstellenden Bildlösung/Bilderzählung, die im Rahmen eines quasi gesprächstherapeutischen Settings aufgegriffen werden kann. „Mit dem Begriff der Instruktionserhöhung lassen sich wiederum alle animierenden, stützenden Maßnahmen bezeichnen, welche die Aufgabenstellung gliedern, neue Elemente in das Problemlösungsverfahren einführen“ (Richter 1991, S. 36). Drittens kommt hier das Prinzip der Substitution zum Tragen, d. h. es werden nicht vorhandene und nicht verfügbare Darstellungsfähigkeiten/-möglichkeiten durch ein variables System an Hilfsmitteln überbrückt. Die „Pädagogische Kunsttherapie“ im engeren Sinne (Richter, 1984, 1991, S. 36 ff.) bezieht sich auf diejenigen Fälle, wo die o. g. Arbeitsformen nicht mehr ausreichen,
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| Teil VI: Schule und Unterricht
Abbildung 10: Collage-unterstützte Schülerzeichnung
wo die Schüler „sich nicht angesprochen fühlen können und aus dem Felde gehen“, weil psychische Grundkonflikte, emotionale Entwicklungsverzögerungen oder beides, gelegentlich auch in Kombination mit somatogenen Störungen (Epilepsie o.ä.), „die altersadäquaten (‚sachgerechten‘) Problemlösungsversuche zunichte machen“. In einem solchen Falle sind nach Richter (1991) die „Eingriffe in die Unterrichtsplanung und den Unterrichtsverlauf“ (S. 36) so groß, dass man von einem „klinischen Unterricht“ (S. 36) sprechen muss. Dieser „geht primär von den gestörten Fähigkeiten ... und nicht nur von einem vorbestimmten Lehrplan oder einem Curriculum ... aus“. Der Unterrichtsstoff ist
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nicht mehr das Ziel der Unterweisung, sondern „Mittel [Hervorhebung v. Verf.] ..., um Fähigkeiten zu entwickeln“ (Kobi, 1975, zitiert nach Richter, 1991, S. 36). „Die Lernbasis, von der eine Beziehung zwischen lernendem Individuum und Sache abhängig ist, muß erst einmal aufgebaut werden“ (S. 36). „Im Unterschied zum konventionellen Unterricht [ist] nicht die Frage maßgebend, was von der vorhandenen Stofffülle als von der Sache her unabdingbar zu gelten hat und daher durchgenommen werden muß, sondern die Frage, welche Stoffe (Materialien, Unternehmungen etc.) geeignet sind, einem lernbehinderten Kind zu einer besseren Lernbasis zu verhelfen“ (Kobi, 1975, zitiert nach Richter, 1984, S. 127). Die Förderangebote knüpfen am „ausdruckshaften und lebensgeschichtlichen Status“ (Richter, 1991, S. 37) der einzelnen Schüler an, wobei Diagnostik und Förderung eng ineinander greifen. In methodischer Hinsicht führt diese Umstrukturierung von Kunstunterricht zu „nicht-linearen, netzartig verbundenen Aufgabenstellungen“ (S. 37). Generell lässt sich der Verlauf der Förderprozesse „als Abfolge von den regressiv-psychomotorisch orientierten Angeboten hin zu konstruktiv-realistisch oder künstlerisch ausgerichteten Maßnahmen beschreiben“ (S. 37). Was die Kunst nun zu pädagogisch-therapeutischen Zwecken prädestiniert, ist ihre „Offenheit“. „Im Gegensatz zu anderen Gegenstandsbereichen/Lehrinhalten legt die besondere Struktur des ästhetischen Stoffes keine zwingenden Erarbeitungs- und Ausdrucksweisen fest, weil keine dichotomische (als falsch-richtig festlegbare) und keine hierarchische Abfolge in der Erarbeitung der Inhalte eingehalten werden muß“ (Richter, 1984, S. 84). Eine weitere, besondere Eigenart des Ästhetischen liegt im „Synkretismus der ästhetischen Erfahrung“ ( S. 86 f.) begründet. Hiermit ist die „Verbindung von ‚primären‘ (affektiven, unbewußten) Prozessen und ‚sekundären‘ (organisierenden, kognitiven) Aktivitäten“ (S. 87) bezeichnet. Bezogen auf die Ebene der kindlichen Darstellungsweise meint Synkretismus, dass in den symbolischen, den ästhetischen Aktivitäten „egozentrische und synkretistische ‚Denkfiguren‘ (die es beim jüngeren Kind ja auch in seinen intellektuellen Abläufen gegeben hatte) erhalten“ (S. 88) bleiben. Demzufolge bleibt laut Richter (1984, S. 88) etwas von dem ontogenetisch frühen Zustand wirksam, in dem die Vorstellungsinhalte des Kindes noch nicht völlig an die empirischen Objekte (bzw. deren „interne“ Repräsentationen/Modelle) angeglichen („akkomodiert“) werden konnten und in denen sie unter dem Einfluss unbewusster („affektiver“) Substrukturen („Schemata“) standen. ... Das Assoziativ-Unbestimmte, das Affektive (Unbewußte) wirkt beständig in die intendierten, rational organisierten Formen und Motive hinein. Diese Möglichkeit ist für Richter (1984) sogar das therapeutische Moment des kindlichen Bildens, weil sie Verschmelzungen, Rückgriffe, Umwege, Anknüpfungspunkte außerhalb der festgelegten Abläufe des operationalen Denkens erlaubt. …. Für die Pädagogische Kunsttherapie eröffnet ein Rückgriff (= pädagogische Regression) auf diesen „Drehpunkt“ der semiotischen Entwicklung die Möglichkeit, über senso-motorische Aktivitäten sowohl den gegenstandsorientierten („realistischen“) Bestand der Darstellungsformen zu differenzieren als auch das inhaltliche Niveau, die Semantik der bildhaften Äußerungen reicher zu machen (S. 88 f.).
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| Teil VI: Schule und Unterricht Hierbei spielen „ontogenetisch frühe Operationen“ wie „gießen, matschen, schmieren, rühren, umfüllen, kratzen, schaben, knüpfen, ... binden, ... einwickeln, ... auffädeln, ... reißen, knüllen, ... auseinandernehmen“ usw. (Richter 1977, S. 59) eine zentrale Rolle. Es kommt zu einer „Umstrukturierung von Inhalt-Ziel-Verbindungen in therapeutischer Absicht“ (Richter, 1984, 128): Das bildnerische Motiv (z. B. „Insel“) ist „nicht mehr nur Einkleidung formaler/inhaltlich-gegenständlicher Probleme, sondern muß auf das Lebensgeschehen des Heranwachsenden hin formuliert werden“ (Richter, 1984, S. 130), hier in Beziehung zu seinen Fantasien, Ängsten und Konflikten (z. B. „Feuerland“, Abb. 11).
Abbildung 11: „Feuerland“
Die therapeutisch akzentuierte Einführung „erhält – gegenüber der ‚regulären‘ Aufgabenstellung – einen anderen, wichtigeren Stellenwert: Sie muß die individuellen Ausgangslagen berücksichtigen, Lern- und Anschauungshilfen durch Spiel, Aktionen o.ä. geben, die notwendige ‚Animation‘ bieten“ (Richter, 1984, S. 130). Beispielsweise wurde ein Karton mit alten Karten-Umriss-Stempeln aufgefunden, ausprobiert und die Konturen von Erdteilen, Ländern, Inseln usw. phantasievoll ausgestaltet sowie Geschichten dazu erzählt. Die bildnerischen Aktivitäten werden nun so geplant, dass
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– sowohl für einen mittelfristigen Planungszeitraum (bis zu einigen Wochen) – als auch für einen langfristigen Zeitraum (bis zu mehreren Schuljahren) ein Übergang von subjektzentrierten, pädagogisch-therapeutischen zu sachorientierten Arbeitsweisen“ stattfindet (Richter, 1984, S. 135). Das von Richter (1984) skizzierte „Kurzzeitmodell“ geht „von der Vorstellung aus, dass nach einem einleitenden Motiv (‚Thema‘, ‚Aufgabenstellung‘ u. a.), das einen motivierenden Anstoß und zugleich eine Kontrolle über die vorhandenen Ausdrucks- und Kommunikationsformen ... [biete], eine Vielzahl von inhaltlichen und formalen Varianten eingesetzt werden soll, die den Störungen und Auffälligkeiten der Schüler entsprechen“ (S. 136). Denkt man etwa an das Thema „Spielzeuge“, kann es z. B. zum Bau einer Stabpuppe aus Holz (konstruktive Variante), zum Abdrücken von Plastiktieren in Ton und Ausgießen der Hohlformen mit Gips (Abb. 12, evokatorische Variante) oder zu einer Veränderung und Umgestaltung von Bildelementen aus Computerspielen (thematische Variante) usw. kommen.
Abbildung 12: Abdrücke von Plastiktieren in Ton wurden anschließend mit Gips ausgegossen
Mit Hilfe der Prinzipien „Animation, Improvisation“ und „Darstellung“ (Richter, 1984, S. 161) werden die „offenen, am Spiel orientierten Verfahrensweisen ... [z. B. auch Wörner, 1977] charakterisiert ..., die am Anfang einer kunsttherapeutischen Förderung ... stehen sollten. Als ‚Animation‘ wird dabei die verstärkte ‚Initiation‘ (Otto u. a.), d. h. die Einführung in und die Impulsgebung für eine experimentelle, spielerische, bildnerische Tätigkeit verstanden. .... In der Improvisationsphase sollen zuerst Thematiken entdeckt, ‚erfunden‘ werden, ehe sie ‚themenzentriert‘ gebunden, fixiert werden können“. Beispielsweise fanden die Schüler im Unterricht des Verfassers eine Tonkassette, auf der Tom Sawyer aufzählt, welche obskuren Objekte (bunte Glasscherbe, Metallstück usw.) sich in seiner Hosentasche befinden, dies verbunden mit der Überlegung, sich vom gehassten „Zaun-Tünchen“, einer von seiner Tante aufgegebenen Strafarbeit, zu entledigen. Wie wir wissen, bezahlen ihn gar am Ende die anderen Jungen mit weiteren kleinen Kostbarkeiten/Gegenständen, um auch einmal „tünchen“ zu dürfen. Gemeinsam wurde in einem Magazin ein alter Koffer, der randvoll mit solchem Krimskrams war, entdeckt. Richter (1977, S. 58) spricht diesbezüglich auch von „ontogenetisch frühen Materialien“ wie
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| Teil VI: Schule und Unterricht „Perlen, Murmeln, Knöpfe, Federn, Filz, Schaumgummi, Holzwolle, Fahrradschläuche, Kordel, Nägel...“, die sich in einem solchen Kontext etwa in einem Schuhkarton(-deckel) arrangieren, befestigen, bemalen, mit Farbe übersprühen oder überschütten lassen. Der weitere Verlauf der ästhetischen Aktivitäten wird durch Prozesse der „Erkundung, Objektivierung“ und „Integration“ markiert. Mit der Zeit „sollten in die improvisierten offenen oder themenzentrierten Aktionen, die ja der Selbst-Erkundung dienen, Elemente von Sach-Erkundung (Exploration) einfließen: Die Animation sollte dann die Neugier stärker auf die Sache (Kunst = ästhetische Inhalte/Materialien/Verfahren) lenken als auf die Person. Die Materialien/Verfahren sollten nicht nur der Konflikt-Objektivation oder auch der Konflikttranszendierung“, sprich Konfliktbearbeitung zugute kommen, sondern auch „Anlaß zur Analyse von Sachverhalten, zu Darstellungen geben. .... Zumindest sollten Animation/Initiation und Erkundung in diese Richtung weisen“ (Richter, 1984, S. 162). Am Ende einer kunsttherapeutischen Sequenz erfolgt die „Integration von Erfahrenem, Erkanntem in einen größeren Zusammenhang“ (S. 162). 26.10.4 Variationen und Weiterentwicklungen Der durch Richter abgesteckte Rahmen erfuhr in der Folgezeit eine Reihe von Erweiterungen, Abwandlungen oder Konkretisierungen und inspirierte zu erneuten Entwürfen. Das von Theunissen (1980a, 1980b) entwickelte Langzeitmodell „unterteilt die geplanten Aktivitäten zwischen dem Ausgangspunkt ‚Ist-Lage‘ und dem Endpunkt der angenommenen ‚Soll-Lage‘, in vier Phasen, die (durch Rückkopplungen und Querverbindungen) reversibel gehalten werden“ (Richter, 1984, S. 136). Die „Orientierungsphase“ umfasst u. a. beziehungsstiftende Aktivitäten wie das Vorspielen und gemeinsame Anhören von durch die Schüler mitgebrachten Musikstücken, das Ansehen von Jugendzeitschriften oder den Besuch einer Halfpipe (vgl. auch die alltagsästhetisch/jugendkulturell orientierten Arbeiten von Bröcher, 1997a, 1999c). „In der Aufbauphase soll die ... Lernbasis analysiert, und es sollen Förderungsaktivitäten angeboten werden, welche die basalen Störungen, Auffälligkeiten, Konflikte, Perpetuierungen usw. berücksichtigen“ (Richter, 1984, S. 136). Dies kann etwa durch das Herstellen von Collagen zum Thema „Meine Vorbilder/Idole aus der Popkultur“, geschehen. „Die Stabilisierungsphase dient der Neubestimmung der Ausgangslage und der Sicherung von Fähigkeiten, Kenntnissen, Einsichten“ und der Einführung von „(tendenziell) sachorientierten Aktivitäten“. Die „Differenzierungsphase“ steht schließlich „im Dienste der Übertragung von erlernten Fähigkeiten/Einsichten auf soziale und sozio-kulturelle Problemstellungen“ (S. 136). Richter-Reichenbach (1992) verknüpft die identitätsbildenden ästhetischen Prozesse mit einer gesellschaftskritischen Perspektive. Das Subjekt ist nach dieser Auffassung konfrontiert mit strukturell vorgeformten Prozessen/Auswirkungen wie Depersonalisierung, Erfahrungsreduzierung, Selbstentfremdung usw. An der Wurzel dieser Phänomene steht nach Richter-Reichenbach der frustrierte Wunsch nach Selbsttätigkeit und handelnder Einflussnahme. Unter Rückbezug auf die kunstphilosophischen Auffassungen von u. a. Kant und Schiller werden nun durch Richter-Reichenbach (1983, 1992) im ästhetischen Prozess freiheits- und autonomiefördernde Elemente ausgemacht, die den in ihrer Entwicklung beeinträchtigten Heranwachsenden zugute kommen sollen.
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Auch Wichelhaus (1995a, 1995b) hebt auf die Möglichkeit ab, dass die ästhetischen Aktivitäten zur „Kompensation“ gesellschaftlich bedingter Defizite beitragen können. Dies geschieht insbesondere über „sensomotorische Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung“, über Prozesse der „Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung“ sowie über spezifische Materialerfahrungen (vgl. Wichelhaus & Brög, 1998). Domma (1991) löst sich auf Grund massiver Lern- und Verhaltensprobleme aus dem Kontext des curricularen Unterrichts und installiert eine therapeutisch orientierte „Kunstwerkstatt“. Bröcher (1999b, S. 208 ff.) schildert, wie sich freie Künstler in die ästhetisch-bildenden Bemühungen einbeziehen lassen, lotet die heuristischen Möglichkeiten bildhafter Prozesse sowohl für das Auffinden von motivierenden fächerübergreifenden Themen als auch für didaktische Variationen aus (Bröcher, 1997b, 2003b, 2006) und experimentiert mit Übergangsformen zwischen pädagogisch orientierter und psychologischer Kunsttherapie (Bröcher, 1993, 1994; mit Bezug zu Salber, 1986). Ferner entwickelte Bröcher (1997a, 2000a) einen Ansatz für den Unterricht bei Lern- und Verhaltensproblemen („Lebensweltorientierte Didaktik“), der sich in besonderer Weise auf bildhaft-symbolische Prozesse stützt, zum einen in der Rekonstruktion von biographischen/lebensweltlichen Hintergründen, zum anderen in der Konstruktion von didaktischen Handlungsrahmen, die schüler- und sachorientierte Bearbeitungsprozesse miteinander verschränken. Inzwischen liegt auch ein von Bröcher (2003a) entwickeltes Coaching-Modell vor, das die auf Handlungserweiterung zielenden Potenziale des Ästhetischen insbesondere auch den Sonderschul- und Integrationslehrkräften zugute kommen lässt, im Sinne eines Beitrags zur Burnout-Prophylaxe und einer Verbesserung des Selbstmanagements. 26.10.5 Forschungsperspektiven Wie gestaltet sich die ästhetische Sozialisation dieser in sich heterogenen Gruppe Lernbehinderter in der Gegenwart? Welche Einflüsse auf diesen Prozess gehen vom Gebrauch der audiovisuellen Medien aus? Welche Rolle spielen die (Medien-)Bilder in der Realitätsverarbeitung und Identitätsentwicklung Lernbehinderter? Inwieweit lässt sich die Bildende Kunst als Gegenstand überhaupt an diese Zielgruppe herantragen? Wie lassen sich zielgruppenspezifische kunstdidaktische und ästhetisch-therapeutische Prozesse im Klassenraum konkret realisieren, ohne dabei die Lehrkräfte vollständig zu überfordern? Fragen über Fragen. In die hermeneutisch angelegten Dokumentenanalysen (Ballstaedt, 1987) bzw. Lebensweltrekonstruktionen von Bröcher (1996, 1999a) gingen neben den Bildnereien von verhaltensauffälligen auch zahlreiche Arbeiten von lernbehinderten Schülern mit ein. Richter (1997a) hat auf der Basis einer „komparativen Kasuistik“ (Jüttemann, 1990) eine Fülle an Bildnereien benachteiligter, traumatisierter, in ihrer Entwicklung behinderter Heranwachsender analysiert. Auf diese Weise wurde ein vielschichtiger Hintergrund an inhaltlichen Erkenntnissen wie bildverstehenden Verfahren/Werkzeugen geliefert, der noch auf seine sonderpädagogische/didaktische Umsetzung bzw. Fruchtbarmachung wartet. Ein kompliziertes Forschungsdesign wäre vonnöten, um allein die soziokulturell vorgeprägten bildnerischen Ausdrucks- und Decodierungsfähigkeiten Lernbehinderter im großen Stile zu erfassen und dabei zugleich den verschiedenen, hier angesprochenen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Formen von Lernstörungen gerecht zu werden. Lang konstatierte schon 1931 bei einer Untersuchung von ca. 700 „Hilfsschülern“ der Städte München, Nürnberg und Erlangen eine Verzögerung in der zeichnerischen Entwicklung von „einigen Stufen“, wenn er sich dabei auch auf ein inzwischen überholtes Phasenmodell von Kerschensteiner bezog. Für Richter (1987, S. 115) kommt dieser Untersuchung dennoch „mehr als nur historischer Wert zu, weil unseres Wissens nie mehr eine [auf die bildnerische Entwicklung abzielende] Erhebung an einer ähnlich großen Gruppe von Heranwachsenden mit reduzierten Intelligenzleistungen durchgeführt wurde.“
Literatur Ballstaedt, S.-P. (1987). Zur Dokumentenanalyse in der biographischen Forschung. In G. Jüttemann & H. Thomae (Hrsg.), Biographie und Psychologie (S. 203-214). Berlin: Springer. Bröcher, J. (1991). Bearbeiten von Erfahrung durch collage-unterstütztes Zeichnen. Kunst + Unterricht, 24 (158), 51-53. Bröcher, J. (1993). Von den dunklen Seiten der Adoleszenz. Kunsttherapeutisches Arbeiten zwischen Konflikterkenntnis und Konfliktüberschreitung. Zeitschrift für Musik, Tanz- und Kunsttherapie, 4, 102-109. Bröcher, J. (1994). Destruktive Tendenzen und Adoleszenz. Kunsttherapie als Chance, Lebensprobleme zu bearbeiten und konstruktive Lebensperspektiven zu erschließen. Zeitschrift für Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 5, 114-123. Bröcher, J. (1996). Soziale Desintegration als Thema von Schülerzeichnungen. Zur Schlüsselrolle bilddiagnostischer Verfahren für die lebensweltorientierte Didaktik. Sonderpädagogik, 26, 88-103. Bröcher, J. (1997a). Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit verhaltensauffälligen Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags-) ästhetischen Produktionen. Heidelberg: Winter. Bröcher, J. (1997b). Zur heuristischen Funktion kunsttherapeutischer Verfahren für den sonderpädagogischen Unterricht – Didaktische Variationen. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 8, 80-91. Bröcher, J. (1999a). Bilder einer zerrissenen Welt. Kunsttherapeutisches Verstehen und Intervenieren bei auffälligem Verhalten an Grund- und Sonderschulen. Heidelberg: Winter. Bröcher, J. (1999b). Kunsttherapie als Chance. Das Ästhetische in der Grund- und Sonderschuldidaktik bei auffälligem Verhalten. Heidelberg: Winter. Bröcher, J. (1999c). Zur Bedeutung jugendkultureller/alltagsästhetischer Prozesse für die Verhaltensauffälligenpädagogik. Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 68, 116-129. Bröcher, J. (2000a). A didactic approach emphasising the social habitat as an attempt to meet growing social disintegration: teaching in classes with youth of conspicious behaviour using aesthetic and cultural means of communication. Disability & Society, 15, 489–506. Bröcher, J. (2000b). Hilfen zum Aufbau des Bildraumes und zur Erweiterung des darstellerischen Repertoires. Das Mobile Bildsystem im Kunstunterricht bei eingeschränkten Darstellungsfähigkeiten, Misserfolgserwartungen und Verweigerungsreaktionen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 51, 462-468. Bröcher, J. (2003a). Coaching als ästhetischer Prozess. Selbstgestaltung und Handlungserweiterung im Beruf durch die Potenziale der Kunst. Norderstedt: BoD. Bröcher, J. (2003b). Poetik des offenen Kunstwerks und Struktur des Unterrichts. Innovative Profile in der LehrerInnenbildung bei einer heterogenen Schülerschaft. In B. Warzecha (Hrsg.),
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804
| Teil VI: Schule und Unterricht Salber, W. (1986). Kunst, Psychologie, Behandlung (2., neu bearb. Aufl.). Bonn: Bouvier. Schmid, G. (1978). Schülerorientierter Kunstunterricht. Berichte und Arbeitshilfen aus der Praxis der Hauptschule. München: Don Bosco. Schmid, J. (1809). Die Elemente des Zeichnens nach Pestalozzischen Grundsätzen. Bern: Ludwig Albrecht Haller. Theunissen, G. (1980a). Ästhetische Erziehung bei Behinderten. Ravensburg: Otto Maier. Theunissen, G. (1980b). Überlegungen zu einer ästhetischen Erziehung in der Schule für Lernbehinderte. Ravensburg: Otto Maier. Theunissen, G. (Hrsg.). (1997). Kunst, ästhetische Praxis und geistige Behinderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Theunissen, G. (2004). Kunst und geistige Behinderung. Bildnerische Entwicklung, ästhetische Erziehung, Kunstunterricht, Kulturarbeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Weigt, M. (1975). Aspekte einer Ästhetischen Erziehung in der Schule für Lernbehinderte. In B. Claußen (Hrsg.), Politisches Lernen durch visuelle Kommunikation (S. 259-274). Ravensburg: Otto Maier. Wichelhaus, B. (1995a). Kompensatorischer Kunstunterricht. Kunst + Unterricht, 28 (191), 3539. Wichelhaus, B. (1995b). Zur kompensatorischen Funktion der ästhetischen Erziehung im Kunstunterricht. Kunst + Unterricht, 28 (191), 16-17. Wichelhaus, B. & Brög, H. (1998). Material [Themenheft]. Kunst + Unterricht, 31 (220). Wörner, G. (1977). Aktionsorientierte Arbeitsformen in der ästhetischen Erziehung. In H.-G. Richter (Hrsg.), Therapeutischer Kunstunterricht (S. 79-107). Düsseldorf: Schwann. Wörner, G. (1984). Collagieren als Differenzierungshilfe. Zeitschrift für Kunstpädagogik, 13 (1), 47-50.
27 Berufsvorbereitung, Berufsausbildung, Berufseingliederung Einführung Schon bei Gründung der ersten Hilfsschulen im 19. Jahrhundert war eines der leitenden Motive, Heranwachsende mit besonderem pädagogischem Förderbedarf, die kaum in Beruf und Arbeitsleben integriert waren, durch eine intensive und auf die Erfordernisse des beruflichen Alltags ausgerichtete schulische Förderung in die Lage zu versetzen, eine berufliche Ausbildung erfolgreich zu durchlaufen. Seitdem war es immer ein erklärtes Ziel der Hilfsschule, Sonderschule oder Förderschule, ihre Absolventinnen und Absolventen so zu qualifizieren, dass sie beruflich integriert werden konnten, um auf der Grundlage beruflicher Tätigkeit ein weitgehend eigenständiges Leben in sozialer Integration leben zu können. Dass dieses Ziel immer schwer zu erreichen war, zeigt Horst Biermann auf, der Prinzipien beruflicher Qualifizierung erläutert und darstellt, dass sich alle Bemühungen um intensive berufliche Ausbildung und wirksame berufliche Integration im Falle von sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens vor das Dilemma steigender beruflicher Qualifikationsanforderungen in einer zunehmend technisierten und anspruchsvollen Arbeitswelt gestellt sehen. Der Autor beschreibt den Paradigmenwandel von der Beruflichkeit zu einer zunehmenden Ökonomisierung der beruflichen Ausbildung und erläutert die Auswirkungen dieses Wandels in traditionellen Lernkonzepten, in berufsvorbereitenden Maßnahmen, in Berufsbildungswerken und in Flexibilisierungskonzepten neuerer Prägung. Gerhard H. Duismann widmet sich in seinem Beitrag dem viel diskutierten und in zahlreichen Variationen angebotenen Fach Arbeitslehre. Problematisiert werden die Vielschichtigkeit der Gegenstandsbereiche (Arbeit, Technik, Ökonomie, Haushalt, Textilarbeit) sowie die Misere der Lehrerbildung bezüglich dieses Unterrichtsfaches. Nach diesem allgemein gehaltenen Problemaufriss wird die momentane Situation der Arbeitslehre an Förderschulen aufgezeigt. Vorgestellt werden handwerkliche Grundfunktionen und – perspektivisch betrachtet – heuristische Kompetenzniveaus, anhand derer nach der Identifizierung der Lernziele und der Diagnose bereits erworbener Fähigkeiten eine Lern- und Förderplanung erstellt werden kann. In Bezug auf die praktische Umsetzung werden Chancen und Möglichkeiten von Praktika und Schülerfirmen als wesentliche Elemente einer zeitgemäßen Arbeitslehre an Förderschulen beschrieben, auch wenn sich die Förderschule angesichts der angespannten Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die besonders ihre Schülerinnen und Schüler trifft, vor besondere Herausforderung gestellt sieht. Mit der Zielrichtung, auch Heranwachsenden mit Lernschwierigkeiten individuell höchstmögliche berufliche Qualifikationen zu vermitteln, rückt Wolfgang Dings das modulare Lernen in den Blickpunkt der Betrachtung. Er zeigt, dass sich kompetenzorientierte modulare Ausbildungsansätze durchaus mit dem deutschen Berufskonzept in Einklang bringen lassen. Wenn sich modulares Lernen an den realen Anforderungen des beruflichen Alltags orientiert, argumentiert der Autor, vermag es gerade jungen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Menschen mit Lernbeeinträchtigungen neue Perspektiven zu eröffnen, und wenn die Gestaltungsmöglichkeiten modularen Lernens kreativ genutzt werden, dürfte diese Form des flexiblen und lebenslangen Lernens auch vor der beruflichen Regelausbildung nicht Halt machen. Matthias Grünke und Tatjana Leidig beleuchten die Problematik des Übergangs von der Schule in den Beruf, die sich bei Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf im Bereich des Lernens verschärft stellt, da diese in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und knapper Ausbildungskapazitäten einerseits und steigender Anforderungen an die Ausbildungswilligen andererseits mit den Absolventinnen und Absolventen anderer Schulformen konkurrieren. Die Autoren vergleichen die demografische mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte, beleuchten die sich ständig wandelnden rechtlichen Rahmenbedingungen beruflicher Bildung, formulieren einige wissenschaftlich begründete Prinzipien effektiver beruflicher Förderung und stellen Maßnahmen der schulischen und der außerschulischen Berufshinführung dar. Grünke und Leidig fordern dazu auf, in der beruflichen Bildung bei Förderbedarf im Lernen neue Wege zu gehen, die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Heranwachsenden und deren emotionale Stabilität in kontinuierlicher Begleitung über die Schulzeit hinaus zu fördern und dabei mehr als bisher Programme einzusetzen, deren Wirksamkeit empirisch belegt werden kann. Fragen von Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement in der beruflichen Rehabilitation erörtert Rainer Wetzler. Wie in vielen anderen Bereichen sozialer Dienstleistung wird es auch im Bereich der beruflichen Erstausbildung und Rehabilitation zunehmend wichtig, die begrenzten Ressourcen ökonomisch zu nutzen und zugleich qualitative Standards für die eigene Arbeit sicher zu stellen. Wetzler beleuchtet die Hintergründe dieser Entwicklungen, unterscheidet Maßnahmen der Qualitätssicherung auf den vier Ebenen der Konzeption, der Struktur, des Prozesses und des Ergebnisses einer sozialen Dienstleistung und stellt vergleichend existierende Ansätze zur systematischen Qualitätssicherung in Berufsbildungswerken und in Integrationsfachdiensten vor. Der Autor gelangt zu dem Schluss, dass sich der gesamte Bereich der sozialen und beruflichen Rehabilitation längst in einem Transformationsprozess befindet, der die kontinuierliche und datengestützte Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung erforderlich macht.
27.1 Prinzipien beruflicher Qualifizierung Horst Biermann 27.1.1 Systemisches Modell Die Bedingungs- und Entscheidungsfelder beruflicher Lern- und Arbeitsprozesse weichen stark von denen in der allgemeinen schulischen Sozialisation ab. Im vertikalen Lernzusammenhang folgen auf die vorberufliche Bildung die Erstausbildung sowie die Erwerbsarbeit, verbunden mit Angeboten lebenslanger Fort- und Weiterbildung, so dass berufliches Lernen unterschiedliche Lebensphasen vom Jugendalter bis hin zum älteren
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Erwachsenenalter umfasst. Hinzu kommt eine horizontale Differenzierung nach Wirtschaftssektoren, Branchen und Tätigkeiten. Darüber hinaus ist der Beruf als soziale Determinante prägend für sozialen Status und Sozialstruktur, für gesellschaftliche Teilhabe, Mobilität, Identität oder Habitus. Eine nur auf das Individuum bezogene Betrachtungsweise beruflicher Sozialisation greift zu kurz. Konzepte beruflichen Lernens müssen über fachlich-funktionale Qualifizierung hinaus reichen und die Interdependenzen von Technik, Politik und Ökonomie der gesellschaftlichen Makroebene auf der Ebene der konkreten Vermittlungsprozesse beim Kompetenzerwerb abbilden. Gerade der Personenkreis der Behinderten und Benachteiligten ist in besonderer Weise von Brüchen und Risiken in der beruflichen Biografie betroffen, z. B. von Arbeitslosigkeit oder vom Scheitern bei Übergängen im vertikalen Lernzusammenhang. So können die heute üblichen Konzepte, die durch Kompetenzfeststellung, Assessment oder Förderdiagnostik individuelles Leistungsvermögen mit empirisch ermittelten Arbeitsanforderungen in eine Balance bringen wollen, weder dem komplexen Bedingungsgefüge beruflicher Lernprozesse noch dem Personenkreis hinreichend gerecht werden (Biermann & Rützel, 1996). Die Vielfalt der pädagogischen Theorien und Modelle spiegelt sich auch in der Disziplin der Berufspädagogik wider. Neben normativen Ansätzen wie der geisteswissenSubjektive Dimension: Individualität, Normen, Werte, Identität, Lerndispositionen, Kompetenzen Berufsbildungssystem im Strukturwandel: – – – –
Neuordnung Modernisierung Segmentierung: Reha-Netzwerk BenachteiligtenFörderung Ökonomisierung Profitcenter Differenzierung Flexibilisierung
Lehr- und Lernprozesse in Verknüpfung mit Arbeit Allgemeine Pädagogik – 4-StufenMethode – Handlungstheoretische Konzepte – Projektmethode – Lernbüro – Juniorfirma
Förderpädagogik – Fördern, Stützen, Beraten – ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) – Lernorganisationsansätze – Module – Baukästen – Stufen
Theoretische Grund positionen: – Behaviorismus – normative Päda gogik – Konstruktivismus – Interaktionspäda gogik Konzepte: – Handlungslernen – Reformpädagogik – Lernzielpädagogik
Gesellschaftliche Dimension: – Strukturwandel und Segmentierungsprozesse, Migration, Randgruppenbildung – Technischer Wandel, u. a. Chancen und Risiken für Behinderte und Benachteiligte (Kommunikationsmöglichkeiten, Reha-Hilfen) – Ökonomische Strategien, neue Formen der Arbeitsorganisation, Kern- und Randbelegschaften, Qualifizierungsanforderungen
Abbildung 1: Systemisches Modell der Qualifizierung Behinderter
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| Teil VI: Schule und Unterricht schaftlichen Berufsbildungstheorie (Spranger, 1918) stehen empirische Konzepte mit bildungsökonomischen, demografischen oder technischen Fragestellungen. Bezogen auf Personen mit Förderbedarf sind zudem sozial-psychologische Ansätze zu berücksichtigen, die Stigmatisierung und Etikettierung thematisieren. Als pragmatischer Kompromiss zwischen den zahlreichen theoretischen Positionen bietet sich das in der Ausbildungspraxis akzeptierte Konzept der Berliner Schule (Heimann, Otto & Schulz, 1966) an, erweitert um systemstiftende Prinzipien beruflichen Lernens. 27.1.2 Paradigmenwandel 27.1.2.1 Beruflichkeit Charakteristisches Merkmal deutscher Berufsausbildung ist die Festlegung auf Beruflichkeit. Nach ihr werden Ausbildungsinhalte kategorisiert, z. B. in Form von 13 Berufsfeldern oder anerkannten Ausbildungsberufen, nach ihr werden Schulen organisiert, Klassen gebildet, Zertifikate erstellt, Lehrer ausgebildet und eingesetzt. Lehrer verstehen sich vorrangig als Metaller, Baugewerbler oder Handelslehrer und besitzen die Lehrbefähigung für alle berufsfeldbezogenen Schulformen, vom Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) über Fachklassen bis zur Fachoberschule (FOS) und dem beruflichen Gymnasium. Zwangsläufig müssen mit der Festlegung auf Beruflichkeit heterogene Lerngruppen auf einen standardisierten beruflichen Abschluss hin qualifiziert werden. Die Differenzierung nach Berufen wird noch verstärkt durch die Einteilung der Lerngruppen nach ihrer beruflichen Erfahrung, die sich in Unter-, Mittel- und Oberstufe der jeweiligen Fachklassen ausdrückt. Erst bei einer entsprechenden Kapazität von Auszubildenden wird ggf. auch nach Vorbildung differenziert. Ein nennenswertes Sonderberufsschulwesen konnte sich so nicht institutionalisieren, Ausnahmen bilden Einrichtungen mit Ersatzschulstatus für Körperbehinderte, Taube und Blinde. Lernbehinderung wurde erst um 1970 durch das Aktionsprogramm der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Gründung eines bundesweiten Netzwerks von Berufsbildungswerken (BBW) für Jugendliche eine Förderkategorie in der Erstausbildung (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1970). Auch die BBW orientieren sich am Berufsprinzip und zielen darauf ab, durch Separation in einer Einrichtung mit optimalen Lern-, Wohn- und Freizeitangeboten über den Bildungsgang der anerkannten regulären Berufe in die Erwerbsarbeit zu integrieren. Ein ähnliches Konzept wie die BBW verfolgen die sozialpädagogisch orientierten freien Träger der Jugendberufshilfe bei sog. Schulmüden, vorzeitigen Schulabgängern sowie seit 1980 die Träger der Benachteiligtenförderung für Ausländer, Lernbehinderte und sozial Benachteiligte (Biermann, 2000). Ein traditionelles Verständnis von Beruflichkeit und die faktische Gleichsetzung mit handwerklicher Ausbildung ohne pädagogische Qualitätsmaßstäbe führten zu einer Privilegierung des Lernorts Betrieb. Da kein Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Bildung besteht, schließt der privatrechtlich geregelte marktwirtschaftliche Mechanismus von Angebot und Nachfrage zunehmend Lernbehinderte aus der regulären anerkannten betrieblichen Berufsbildung aus. Die reduzierten Bildungschancen werden von den für Berufsbildung Verantwortlichen der zuständigen Organisationen der Wirtschaft (z. B.
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Kammern) pauschal mit der unzulänglichen „Berufsreife“ der Bewerber legitimiert. Allgemein haben sich die stigmatisierenden Etiketten „Verzichter“ und „Versager“ (Höhn, 1994) für ungelernt bleibende Jugendliche auch bei den zuständigen Politikern durchgesetzt. Paradoxerweise hat sich die Berufsschule als eine die Ausbildung ergänzende Institution gerade im Verlauf der Industrialisierung weitgehend auf handwerkliche Berufe hin orientiert (Greinert, 1995, S. 409-414), deren ideologisierende Funktion kritisch angemerkt wird (Stütz, 1970). Während industrietypische Ausbildungsformen ignoriert wurden und nur punktuell in die Schule Eingang fanden, verstärkten zudem die vollzeitschulischen Berufsfachschulen (BFS) besonders für Hauswirtschaft, Ernährung, Textil und Handel bei weiblichen Jugendlichen die geschlechtsspezifische Fixierung, so dass gerade Sonderschulabsolventinnen vornehmlich auf eine Familienrolle und nicht auf Erwerbstätigkeiten vorbereitet werden. 27.1.2.2 Neuordnung Einen Paradigmenwechsel stellt durch die Modernisierung der Lernorganisation und der Lernformen die Neuordnung der industriellen Metall- und Elektroberufe dar. Die Sozialpartner einigten sich 1987 auf lediglich vier Elektro- und sechs Metall-Grundberufe für das gesamte Berufsfeld, verlängerten dabei die Ausbildungsdauer auf 3,5 Jahre und erhöhten die Anforderungen an ausbildende Betriebe. Ausgangspunkt für diese Modernisierung waren empirische Arbeiten zu Qualifikationsanforderungen, die bisherige Ausbildungs- und Lernformen radikal in Frage stellten. Theorie und Praxis sollten nicht mehr getrennt und in Fächern erlernt sowie geprüft, sondern miteinander in einem handlungsorientierten Qualifizierungsprozess weitgehend eigenständig angeeignet werden. An die Stelle der zu vermittelnden Kenntnisse und Fertigkeiten sowie des Lernens durch Erfahrung und Imitation tritt nunmehr das Kompetenzmodell, gefächert in Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz. Entsprechend wurden auch die Lehr- und Lernformen innerhalb einer Generation von Ausbildern radikal umgestellt. Lernberatung und Moderation werden zur zentralen Aufgabe des Ausbildungspersonals. Die Auszubildenden sind gefordert, sich selber und in Gruppen über gestellte Arbeitsaufgaben zu informieren, diese Recherche zu bewerten, den Arbeitsprozess zu planen, selbständig durchzuführen, das Arbeitsergebnis sowie die Systematik der Vorgehensweise zu präsentieren und einer Eigen- und Fremdbeurteilung zu unterziehen. Das so Erlernte soll dann auf neue, komplexere reale Situationen übertragen werden. Mit der Neuordnung wurden typische Ingenieur-, Meister- und Technikertätigkeiten wie Planen und Evaluieren in die Arbeit von Facharbeitern reintegriert. Mit dem Rollenwechsel der Auszubildenden und der Lehrenden, den neuen Inhalten, Vermittlungsformen und Prüfungen müssen auch die Lernorte innovativ gestaltet werden. Das „Kompetenz- und Qualifizierungszentrum“ ist Ausdruck der neugeordneten Berufsbildung und damit typisch für die Konzepte der 90er Jahre. Diese Einrichtungen sind flexibel hinsichtlich der Zielgruppen, ermöglichen Erstausbildung und Fortbildung, sind offen für alle Lernmethoden und zwingen durch ihre Gestaltung zu einer Verknüpfung von Theorie und Praxis. Alle für die Aufgaben erforderlichen Materialien, Maschinen und Anlagen werden nur auf der Basis einer systematischen Planung der Lern- und Arbeitsschritte genutzt.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Die Einrichtungen können auf Grund ihrer Gestaltbarkeit optimal ausgelastet werden und weisen hohe Belegstunden auf. Diese betriebswirtschaftlich wie pädagogisch optimierten Lernorte werden ergänzt durch Lerninseln in der Produktion, durch Leittexte, z. B. zur eigenständigen Analyse von kaufmännisch-verwaltenden Sachbearbeitertätigkeiten, und durch computergestütztes dezentrales Lernen (computer based training, CBT). Die Berufsbildungswerke haben diese Entwicklung in der modernisierten Ausbildung nicht bzw. nur formal aufgegriffen und tradieren als Vorbild die charakteristische industrielle Lehrwerkstatt der 70er Jahre. Sie gehen dabei unter dem Dach eines Trägers didaktisch von dem überkommenen dualen Ausbildungsprinzip aus und trennen Theorie (Sonderberufsschule und Theorielehrer) und Praxis (Arbeitsbereich und Ausbilder). Das Problem der gestiegenen Ausbildungsanforderungen lösen sie zunehmend durch unterschwellige Angebote, sog. Behindertenberufe, die außerhalb der anerkannten Ausbildungen angesiedelt sind, z. B. Beikoch statt Koch, Büropraktiker statt Bürogehilfe. Die Benachteiligtenförderung, 1980 als Angebot für Lernbehinderte, Migranten und Sozialgefährdete durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft institutionalisiert und seit 1987/88 von der Arbeitsverwaltung finanziert, stellt heute das Regelangebot für Absolventen von Sonderschulen für Lernbehinderte dar. Mit hohem finanziellen und personellen Aufwand wird eine Vollausbildung angeboten, ohne das Niveau der neugeordneten Berufsbildung erreichen zu können. Jugendliche, die nicht in eine anerkannte Ausbildung oder in die verschiedenen Formen der Berufsförderung der Arbeitsämter eintreten können, werden in die berufsvorbereitenden Vollzeitschulen wie den Vorklassen oder Berufsvorbereitungsjahren, den Berufsgrundbildungsjahren oder einjährigen Berufsfachschulen aufgenommen, wobei der anschließende Übergang in eine Fachausbildung in aller Regel nicht gelingt, so dass eine Berufsvorbereitung gewissermaßen als didaktischer Torso an die Stelle von anerkannter Ausbildung tritt, was Stratmann und Mitarbeiter bereits in den 70er Jahren für die ersten Berufsvorbereitungsjahre als Dilemma beschrieben (Nolte, Röhrs & Stratmann, 1973). Die Modernisierungsprinzipien der industriellen Eliteausbildung sind zwischenzeitlich auf alle dualen Ausbildungen auch im Handwerk übertragen worden. Damit öffnet sich die Qualifikationsschere weiter zwischen den leistungsstarken Jugendlichen – oft mit gymnasialer Vorbildung – und den nicht regelhaft lernenden oder verhaltensschwierigen Schulentlassenen, und es stellt sich die Frage der formalen Differenzierung der Ausbildungsangebote nach Leistung und Kompetenz (Pütz, 1993). Während sich auf der einen Seite neue Facharbeitereliten bilden, deren berufliche Sozialisation zu Mobilität, Flexibilität, Belastbarkeit und Leistungsvermögen führt, welche wiederum langfristige Erwerbs- und Lebenschancen eröffnen, werden die lediglich traditionell und formal in Berufsbildungswerken, der Benachteiligtenförderung oder im Handwerk auf Fertigkeiten und Kenntnisse hin Ausgebildeten von den Betrieben nicht für Facharbeit akzeptiert, sondern unabhängig von ihrem beruflichen Status bestenfalls mit einfachen Tätigkeiten betraut. 27.1.2.3 Ökonomisierung Die pädagogisch legitimierten Qualifizierungszentren sind konzeptionell durch die neoliberale Philosophie der global agierenden Betriebe und durch die totale Ökonomisierung
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aller Arbeits- und Lebensbereiche einem erneuten Paradigmenwechsel ausgesetzt. An ihre Stelle treten zunehmend Profitcenter außerhalb der Betriebe. Statt eigener Ausbildungsabteilungen der Wirtschaft bieten eigenständige Bildungsfirmen zertifizierte Qualifizierung an. Diese Einrichtungen arbeiten beim pädagogischen Personal mit Kernund Randbelegschaften und bieten nur solche Maßnahmen an, die sie durch Drittmittel finanziert als Durchführungsträger akquirieren können, sofern nicht die Angebote von den Teilnehmern eigenfinanziert werden. Der gesetzliche Bildungsauftrag und feste Bildungsangebote mit starrer Ausbildungsdauer sind nicht mehr Orientierung für die berufliche Sozialisation. Bei hoher Flexibilität sind diese Bildungsträger abhängig von der sektoralen Wirtschaftsstruktur, auch wenn sie sich interregional orientieren. Ihre Qualifizierungsmöglichkeiten sind zielgruppenoffen und schließen im Prinzip auch Behinderte und Benachteiligte ein. Pädagogisch betrachtet ist die völlige Methodenoffenheit charakteristisch und Beruflichkeit ist nicht mehr systemstiftendes Prinzip, sondern ein Assessment-Verfahren, welches das Ausbildungsniveau festlegt. Qualitätsmaßstab ist in aller Regel ausschließlich die Vermittlungsquote nach der Qualifizierung. Angesichts restriktiver Vorgaben für die Maßnahmen ist ein ökonomisches Kalkül für den Bildungsträger von existenzieller Bedeutung. Daher können kostenintensive Ausbildungen und eine entsprechende Bildungsinfrastruktur wie Labors oder langfristig verfügbares, sonderpädagogisch qualifiziertes Lehrpersonal nicht vorgehalten werden. Als Folge der Ökonomisierung der Ausbildungsgänge und -methoden sind den Berufsbildungswerken und den Trägern der Benachteiligtenförderung Konkurrenten erwachsen, so dass sie ihren Bildungsauftrag ebenfalls nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten modifizieren, bisweilen sogar reduzieren müssen. Außerdem ist die Vermittlungsquote nun auch für sie vorgegebener Qualitätsmaßstab. Insgesamt wird der Bildungsaufwand für den Personenkreis der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf minimiert mit noch nicht absehbaren Folgen für Bildungsaspiration, Motivation und Lernverhalten. Angesichts des Paradigmenwechsels in der Behindertenarbeit, der sich in Integrationsansprüchen z. B. der Sozialgesetzbücher niederschlägt, ergibt sich ein krasser Legitimationswiderspruch zur Realität, der durch Individualisierung der strukturellen Probleme aufgelöst werden soll. Allerdings werden die vorgezeichneten Erwerbs- und Lebensperspektiven von den Bildungseinrichtungen weitgehend ignoriert und tabuisiert und nicht zum Gegenstand des Lernens gemacht (Zeller, 2002). 27.1.3 Pädagogische Konzeptionen 27.1.3.1 Traditionelle Lernkonzepte Um 1970 konnte noch rund ein Fünftel aller Sonderschulabsolventen direkt und ohne weitere Hilfen in eine Berufsausbildung, vorrangig im Handwerk, übergehen. Auftragsgebundenes Lernen im Prozess der produktiven Arbeit und das Imitationsprinzip „Vormachen, Nachmachen und Üben“ mit dem Ziel einer berufsspezifischen Routine von Fertigkeiten sind die Charakteristika dieser handwerklichen Ausbildungsform (Zielke, Lemke & Popp, 1991). Durch die Ausbildungsdauer ist in der Regel eine hinreichend fachliche Breite gegeben, die ggf. durch systematische Lehrgänge in überbetrieblichen
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| Teil VI: Schule und Unterricht Einrichtungen ergänzt wird. Die von der ausbildungsbegleitenden Teilzeitberufsschule zu vermittelnden theoretischen Kenntnisse sind berufsbezogen und lassen sich im Kern auf die Preußischen Bestimmungen von 1911 zurückführen: Fachkunde, Fachrechnen, Fachzeichnen sowie Bürgerkunde. Die Berufstheorie beruht vor allem auf regelhaftem Lernen und auf Memorieren für die Abschlussprüfung. Typisch für die industrielle Ausbildung sind Trennung von Theorie und Praxis und im Idealfall die systematische Qualifizierung durch hauptamtliches betriebliches Ausbildungspersonal an einem eigenen Lernort, z. B. der Lehrwerkstatt oder der Lernecke. Vorherrschende Vermittlungsformen sind lernzielorientierte, standardisierte Lehrgänge mit Leistungsmessungen von Kenntnissen und Fertigkeiten. Durchgängiges Ausbildungsprinzip, auch bei Sonderschülern und Anlernlingen, ist die Vier-Stufen-Methode, entwickelt vom REFA Verband für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation (Bunk, 1987). Die Stufen der Vermittlung sind: 1. Vorbereitung, in der die Lernenden auf die Aufgabe eingestellt, Vorkenntnisse festgestellt sowie die Betriebsmittel und Arbeitsgegenstände durch den Ausbilder bereitgestellt werden. 2. Vorführung, bei welcher der Ausbilder zunächst einen Überblick gibt, die Arbeit im Ganzen vorführt, dann nach Lernabschnitten differenziert, den Ablauf begründet und abschließend die Arbeit erneut vorführt. 3. Nachvollzug, in dem die Arbeit von den Auszubildenden versucht, erklärt, begründet wird, um dann abschließend die Arbeitsverläufe zügig auszuführen. 4. Üben als Phase, in der die Arbeiten in einer vorgegebenen Zeit selbständig ausgeführt werden sollen, wobei Helfer, sog. Paten, für Fragen zur Verfügung stehen. Der Übungsfortschritt wird ermittelt, besprochen, und festgehalten bevor die Unterweisung förmlich abgeschlossen wird. Diese Methode beruht auf einem behavioristischen Ansatz und ist eine restriktive Vermittlungsform, die nicht auf Eigenständigkeit und Selbststeuerung des Auszubildenden abzielt. Die Handlungsregulation ist rasch zu habitualisieren, da sie schematisch und rezepthaft auf eine direkte Anwendung hin orientiert ist. Der heimliche Lehrplan bewirkt vor allem Einfügungsbereitschaft, Belastbarkeit, Ausdauer, Präzision und Disziplin. Sonderschüler, die keine Ausbildung beginnen, aber berufsschulpflichtig sind, besuchen dem Berufsprinzip entsprechend an einem Tag in der Woche Klassen für Ungelernte bzw. für Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag (JoA). Die hier anzutreffende Jungarbeiterpädagogik ist nicht lehrplangebunden. Berufsschullehrer, die in Fachklassen schrumpfender Wirtschaftsbranchen nicht mehr einsetzbar sind, können so ihr jeweiliges Berufswissen individuell in den Unterricht einbringen. Neben Freizeit- und Erlebnis pädagogik, Üben der Kulturtechniken und lebenspraktischen Themen finden sich auch manuelle Grundschulung und Projektarbeit. Schülerinnen werden in der Hauswirtschaft vornehmlich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Schulmüdigkeit und eine erhebliche Fluktuation sind die Folgen dieses Gelegenheitsunterrichts. In einer Vollzeitbeschulung mit berufsvorbereitendem Schwerpunkt sehen vor allem die Lehrkräfte eine Lösung des Problems (Biermann & Kipp, 1989).
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27.1.3.2 Kompensationspädagogik Fixiert auf ein verkürztes Verständnis von Beruflichkeit wird der Ungelerntenstatus vornehmlich in den Defiziten der Jugendlichen gesehen. Fehlende „Berufsreife“, festgestellt durch die Rehabilitationsberatung und den Psychologischen Dienst, ist für die Arbeitsverwaltung das Kriterium für die Zuweisung einer der berufsfördernden Maßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB III) bei freien Trägern. Testen, Informieren, Probieren sowie ausbildungsvorbereitende praktische Arbeiten in mehreren Berufsfeldern und Betriebspraktika sollten zu einer Kompensation von schwacher Lernleistung und auffälligen Verhaltensweisen führen und zu einer Ausbildung motivieren. Das neue Fachkonzept der BA setzt dagegen von vornherein auf Qualifizierungsbausteine und Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit. Berufsvorbereitungsjahre (BVJ) an staatlichen Schulen – je nach Bundesland auch als Werkstufe, Sonderberufsfachschule, Berufsbefähigender Bildungsgang oder Vorklasse zum Berufsgrundschuljahr bezeichnet – sind das Pflichtangebot für Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag. Über praktisches Tun und Einführung in mehrere Berufsfelder sollen Jugendliche für das Lernen generell motiviert und über dieses Gelenkjahr auf die Ausbildung vorbereitet werden. Um einen allgemeinbildenden Abschluss vergeben zu können, der für eine Bewerbung um eine betriebliche Ausbildung erwartet wird, werden auch Kulturtechniken und allgemeine Fächer im BVJ vermittelt. Der Absolventenverbleib zeigt allerdings, dass der Übergang in betriebliche Qualifizierung trotz aller Förderung die Ausnahme bleibt (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 1999). Dennoch werden die kompensatorischen Angebote zunehmend ausgeweitet und umfassen heute auch Inhalte, die über eine manuelle Grundschulung hinausgehen, wie Lernen mit Medien, Bewerbungstraining sowie kunst- und erlebnispädagogisch orientierte Projekte. In einem Internetportal werden die unterschiedlichen Aktivitäten als „best practice“ vom Bundesinstitut für Berufsbildung (2003) sowie meistens regional bezogen auch von den Landesinstituten für Lehrerfortbildung auf deren Homepages und auf Fachtagungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2003) der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Nach einer berufsvorbereitenden Maßnahme kann, je nach Angebot der regionalen Arbeitsverwaltung, eine sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung bei einem freien Träger der Jugendberufshilfe, einem Wohlfahrtsverband, einem Bildungswerk der Wirtschaft, einem Verein oder in einem Berufsbildungswerk begonnen werden. Trotz einjähriger Berufsvorbereitung sind die Ausbildungsberufe überwiegend traditionell ausgerichtet, d. h. bei männlichen Jugendlichen auf technisch-gewerbliches Produzieren und Fertigen, bei jungen Frauen auf Hauswirtschaft, Textil, Floristik und Verkauf. Gerade Tätigkeiten in diesen Bereichen sind einem hohen Beschäftigungsrisiko ausgesetzt. Nicht die defizitäre Berufswahlreife der Jugendlichen ist also maßgeblich für Fehlausbildung, sondern die unzulängliche Organisationsentwicklung der Träger, die keine der gesellschaftlichen Entwicklung angemessenen Ausbildungsangebote bereit hält. Die Berufsbildungswerke stellen über ein Eingangsverfahren Schulleistung, Motivation und Kompetenz fest und erstellen einen fortzuschreibenden Rehabilitationsplan. Bei eingeschränkter Erfolgsprognose reduzieren die Träger die Vollausbildung auf ein- oder zweijährige Sonderregelungen bei Behindeung, die sog. 66er Berufe. Diese Helfer- und
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| Teil VI: Schule und Unterricht Werkerausbildungen setzen an die Stelle einer qualifizierten Fachbildung und Beruflichkeit eine Verbesserung der Methoden- und Sozialkompetenz sowie eine allgemeine Stabilisierung über praktisches Tun und arbeitstherapeutische Beschäftigung. Die Berufsbildungswerke sind Lernorte für fachbezogene Lerngruppen, die Theorie und Praxis unter einem Dach anbieten und Arbeit, Lernen und Leben in einem ganzheitlichen Ansatz verknüpfen. Nach der Selbstdarstellung der Schulleiter verfolgen die Berufsbildungswerke auf der Basis der Neuordnung die Vermittlung von Handlungskompetenz, um Schüler zu Selbständigkeit und Verantwortung zu führen, damit sie befähigt sind, qualifiziert ihren Beruf auszuüben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben (Arbeitsgemeinschaft der Leiter an Sonderschulen, o. J., S. 27 f.). Angestrebt wird ein individuelles Selbstkonzept, um die „eigene Identität in gesellschaftlichen Interaktionsprozessen nach Maßgabe individueller Fähigkeiten und Zielvorstellungen und angesichts gesellschaftlicher Anforderungen permanent restituieren zu können“ (S. 29). Der „gestörte Sozialisationsprozess“ soll durch Stärkung des Selbstvertrauens, Abbau von Misstrauen und Zweifel, Orientierung an der Wirklichkeit und Aufbau individueller Zukunftsperspektiven aufgearbeitet werden (S. 30). Das Lernmaterial soll so aufbereitet sein, dass die Lösung nahe liegt. So sind umfassende Probleme in Teilprobleme zu gliedern und die Schüler sollen Lösungsversuche bildhaft, handelnd, sprachlich ausführen, wobei ihnen Zeit zu geben ist (S. 34 f.). Lernorganisatorisch wird von zwei Berufsschultagen je Woche ausgegangen, Klassenlehrer sollen Lerngruppen konstant unterrichten, wobei situative Lernarbeit durch Blockunterricht gefördert werden soll (S. 43). Freie Träger bieten im Rahmen der sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung ausbildungsbegleitende Hilfen an, u. a. um einen Ausbildungsabbruch zu verhindern und Betriebe zu motivieren, auch Jugendliche mit nicht hinreichenden Voraussetzungen auszubilden. Der Stützunterricht soll Sprach- und andere Bildungsdefizite abbauen, Erlerntes in Fachpraxis und -theorie fördern sowie die Auszubildenden, i. d. R. Sonderschüler, sozialpädagogisch begleiten (Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1992, S. 3). Da eine betriebliche Sozialisation als beste Voraussetzung für einen Übergang in die Beschäftigung gilt, haben ausbildungsbegleitende Hilfen Vorrang vor der Berufsausbildung in überbetrieblichen Einrichtungen der freien Träger. Dabei wird eine solche Ausbildung von vornherein durch ausbildungsbegleitende Hilfen ergänzt und der Abschluss einer berufsvorbereitenden Maßnahme sowie die erfolglose Bewerbung um eine betriebliche Ausbildung vorausgesetzt. Charakteristisch für die Berufsausbildung in überbetrieblichen Einrichtungen ist der arbeitsteilige Teamansatz von Sozialpädagogen, Ausbildern und Stützlehrern. Über individuelle Förderpläne sollen Defizite der Jugendlichen kompensiert werden. Zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen gelten die Projektmethode und Leittexte als besonders erfolgreiche Lernformen, ergänzend werden Betriebspraktika und erlebnispädagogische Veranstaltungen durchgeführt. Über die Ausbildung hinaus ist eine sozialpädagogische Nachbetreuung im Betrieb möglich (Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1994). Kompensatorische Ansätze führen zu langjährigen Maßnahmekarrieren in einer simulierten Realität mit entsprechender Schonraumatmosphäre. Selbst wenn sie mit einem anerkannten Beruf formal abschließen und der Übergang in die Erwerbstätigkeit gelingt, bleibt der berufliche Sozialisationsprozess unvollständig. Die Qualifikationsforschung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Dostal, 2002, S. 177-194) belegt,
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dass eine betriebliche Sozialisation mit ihrem heimlichen Lehrplan, ihren Produktionszwängen und Normen sowie Konfliktregelungen die beste Vorbereitung für eine nachhaltige Beschäftigung ist. 27.1.3.3 Flexibilisierungskonzepte In der Diskussion um Flexibilisierung wird kaum auf die Möglichkeiten innerhalb der Regelausbildung verwiesen, sondern auf gesonderte Angebote über, meist aber unter dem Facharbeiterniveau. Insbesondere organisatorische Formen, weniger methodischdidaktische Ansätze der Differenzierung, werden angestrebt, wobei alle Konzepte beanspruchen, so den Eignungen der Jugendlichen besser gerecht zu werden als mittels des vermeintlichen „Alles-oder-nichts Prinzips“ der regulären Berufsausbildung. Flexibilisierung in diesem Sinn entspricht idealtypisch sonderpädagogischen Vorstellungen einer Ausbildung behinderter Jugendlicher (Bach & Kranz, 1976, S. 181-196). Dem Postulat der subjektorientierten Qualifizierung stehen Strukturveränderungen im Ausbildungssektor, der Arbeitsorganisation und bei den realen Erwerbschancen gegenüber. Anerkannte Erstausbildung: Um der individuellen Situation von Auszubildenden in der anerkannten Erstausbildung Rechnung zu tragen, stehen – i. d. R. auf Antrag bei der zuständigen Kammer – nach dem Berufsbildungsgesetz eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, z. B. die Veränderung der Ausbildungsdauer, eine Stufung der Ausbildung, Modifizierungen der Prüfung oder Sonderregelungen für Behinderte. Die Differenzierung kann innerhalb der anerkannten Ausbildungen vorgenommen werden, z. B. durch Stufungen mit jeweils eigenen Berufsbezeichnungen oder durch in einem Bildungspass zertifizierte Module bzw. Baukästen. Stufenausbildungen: Diese führen nach ein oder zwei Jahren zu einem eigenständigen Abschluss und eröffnen eine Durchlässigkeit zum Vollberuf. Lerntheoretisch sind sie für Leistungsgeminderte ein Problem, weil die theoretisch anspruchsvolle Grundbildung in der ersten Ausbildungsphase zu vermitteln ist, während die konkrete Spezialisierung und die Fachbildung am Ende stehen. In der Praxis erfolgt aber oft eine Umkehrung dieses Prinzips mit der Folge, dass die Durchlässigkeit, z. B. von der zweijährigen Verkäuferinnenausbildung zur vollen dreijährigen Einzelhandelskauffrau, nicht realisiert werden kann; denn theoretisch anspruchsvolle Inhalte wie Buchführung oder Wirtschaftsinformatik werden oft nicht vom Beginn an, sondern unter zeitlich verkürzten Bedingungen in der letzten Phase erlernt. Behindertenberufe: Das Berufsbildungsgesetz (§ 66) ermöglicht, bei geistiger, körperlicher oder seelischer Behinderung von anerkannten Ausbildungen abzuweichen. Es handelt sich formal um individuelle Regelungen, die von der zuständigen Kammer getroffen werden. Bundesweit bestehen lediglich einige Musterausbildungsordnungen, wobei rund 150 derartige Berufe auf Kammerebene ausgewiesen werden. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, innerhalb der anerkannten Ausbildungen Modifikationen vor allem der Ordnungsmittel zuzulassen, z. B. Rehabilitationshilfen, persönliche Assistenz, gestufte Prüfungen oder variable Ausbildungsdauer, und dies ggf. auf dem Facharbeiterbrief zu vermerken. Faktisch haben sich aber Behindertenberufe herausgebildet, deren Berufsbezeichnung üblicherweise den Zusatz Helfer oder Werker enthalten und die praktisches
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| Teil VI: Schule und Unterricht Fertigkeitstraining zum Inhalt haben. Obwohl ein Rehabilitandenstatus vorliegen muss, kommt es durch extensive Ausweitung zu einem Missbrauch dieser Regelung (Zielke, 1999, S. 28-32). Die Abschlüsse sind nicht tariffähig, somit bleiben die Absolventen erwerbsmäßig auf einem Ungelerntenstatus. Dennoch führen die Berufsbildungswerke und die Träger der Benachteiligtenförderung zunehmend Helfer- und Werkerausbildungen ein und reduzieren so den Bildungsanspruch. Praktische Berufe: Ein neuer Ausbildungsstandard zeichnet sich sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Schweiz im Rahmen der Novellierung der Berufsbildungsgesetze ab. Die Schweiz wird neben einer vierjährigen Berufsgrundbildung mit Fähigkeitsnachweis eine praxisorientierte zweijährige Form für Sonderschüler mit dem Abschluss eines eidgenössischen Berufsattests einführen. Erfahrungen mit Anlernberufen und der modularisierten Nachqualifizierung Erwachsener in der Weiterbildung sollen dabei berücksichtigt werden (Lischer, 2002, S. 5-11). Die Inhalte der Module werden nicht aus traditionellen Berufsbildern abgeleitet, sondern in einem empirischen Verfahren mit Expertenbeteiligung gewonnen und sollen isolierbare employable skills vermitteln. Der Neuordnungsprozess wird in Deutschland für Gruppen mit Leistungseinschränkungen aufgegeben, indem theoriegeminderte, praxisorientierte Berufe eingeführt werden. Gleichwohl soll die Vermittlungsform handlungsorientiert sein (Bulmahn, 2003, S. 5-8). Module und Baukästen: Neben einer modularisierten Zusatzqualifizierung im Rahmen der Weiterbildung oder der Vorbereitung auf isolierte Arbeitsplatzanforderungen in der Erstausbildung kann auch die gesamte Ausbildung in Sequenzen differenziert werden, die jeweils in einem Bildungspass zertifiziert werden. Kritisiert wird an dieser ausbildungsorganisatorischen Variante, dass Ganzheitlichkeit und Komplexität beruflicher Sozialisation nicht erreicht werden. Auch Modulausbildungen beinhalten generell ein Lernproblem, denn Methoden- oder Sozialkompetenz müssten in jedes Modul einbezogen werden, wenn die übliche Qualifizierung auf Fertigkeitsdrill vermieden und das Niveau der vollen Ausbildung erreicht werden soll. Dies führt aber zu erheblichen Transferanforderungen bei Lernenden und Ausbildenden. Außerdem sollen die Inhalte der Module aus aktuellen Arbeitsplatzanforderungen abgeleitet werden, so dass permanent eine Curriculumrevision auf Grund von empirischen Tätigkeitsanalysen erforderlich wird, die zu arbeitsmarktfähigen Qualifikationen führen sollen. Weltweit qualifiziert das Internationale Arbeitsamt nach dem arbeitsplatzorientierten Modulprinzip, erreicht aber als Qualifikationsstandard in der Regel lediglich den semi-skilled worker. Gleiches gilt für die rund 1.000 zertifizierten Tätigkeiten im Rahmen der Modulausbildung in Großbritannien (Rützel, 1997). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung entwickelt derzeit einen Modellversuch zur Qualifizierung leistungsgeminderter Jugendlicher in einem Baukastensystem. Auf der Grundlage einer umfassenden Evaluation laufender Ansätze soll das Konzept die bisherige Ausbildungsvorbereitung adressaten- und arbeitsmarktgerecht ersetzen. Noch vor Ablauf des Versuchs hat die Bundesagentur für Arbeit alle berufsvorbereitenden Maßnamen aufgegeben und als „Neues Fachkonzept“ Qualifizierungsbausteine und Module eingeführt (BA, 2004). Merkmal eines Qualifizierungsbausteins im Sinne des Bundesinstituts für Berufsbildung ist eine mehrfach verwendbare Kompetenz, die inhaltlich und zeitlich in sich abgeschlossen ist, für eine Tätigkeit qualifiziert und als Teil einer anerkannten Ausbildung mit einem Kompetenznachweis abgeschlossen wird (Seyfried, 2002, S. 15).
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Unterstützte Beschäftigung (Training on the Job): Eine Variante der arbeitsplatzbezogenen Schulung spezialisierter Fertigkeiten ist die Unterstützte Beschäftigung. In Anlehnung an Vorbilder aus den USA finden sich auch in der BRD zunehmend Ansätze für intellektuell beeinträchtigte Personen, die nach dem Motto „erst platzieren, dann qualifizieren“ in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden sollen (Barlsen & Hohmeier, 2001). Typische Instrumente der Unterstützten Beschäftigung sind Arbeitsplatzanalysen und, vermittelt durch eine Arbeitsplatzbegleitung, Trainieren der erforderlichen Tätigkeiten on the job, ggf. auch Beratung der Betriebe, Veränderungsvorschläge zur Arbeitsorganisation oder Intervention im Laufe der Einarbeitung des behinderten Arbeitnehmers. Unabhängig von der Bewertung der vorliegenden Evaluationen und der Qualität der Tätigkeiten unter Sozialisationsaspekten stellt sich lerntheoretisch das Problem, dass mit einem Training von sog. employable skills in Erwerbsarbeit integriert werden soll, während in der beruflichen Bildung gerade als Norm Entspezialisierung und theoretische Reflexion der Arbeit und ihrer Bedingungen angestrebt werden. Methodenkonzepte der Differenzierung: Neben lernorganisatorischer Flexibilisierung wird zur Qualifizierung der sog. Lernbehinderten methodische Vielfalt propagiert (Bonz & Huisinga, 1999, S. 38-55). So wurde die Leittextmethode (Bundesinstitut für Berufsbildung, 1987) bei intelligenten Schulversagern in einer anspruchsvollen Industrieausbildung entwickelt, wobei vor allem Arbeitstechniken und systematisches Vorgehen bei der Arbeit und weniger Kulturtechniken erlernt wurden. Die Methode beruht auf dem Prinzip der „vollendeten Handlung“ und sieht einen gestuften Handlungskreislauf vor, der in der Ausbildung permanent angewandt wird: Informieren – Planen – Entscheiden – Ausführen – Kontrollieren – Bewerten. Die Leittexte sind heute allgemein in der Aus- und Weiterbildung verankert. Bei Jugendlichen mit Lernund Verhaltensschwierigkeiten werden Leittexte auf die komplexere Projektmethode vorbereiten, die allgemein als die Vermittlungsform für diesen Personenkreis gilt. Allerdings lassen die zahlreichen Selbstdarstellungen kaum einen Rückschluss auf den tatsächlichen Lernverlauf zu, da Evaluationen fehlen. Im Zuge der Informatisierung des Lernens und Arbeitens finden auch computergestützte Trainingskonzepte zunehmend Eingang in die Ausbildung. 27.1.3.4 Systemisch experimentelle Ansätze Neben dem Defizitkonzept, mit dem Teilhabe und Integration durch Kompensationspädagogik zur Anpassung an vorgegebene Normen erfolgen sollen, entwickeln alle Lernorte von Betrieben bis hin zu freien Trägern auch Differenzansätze zur Qualifizierung heterogener Gruppen. Dabei werden im Sinne eines systemischen Konzepts Subjektivität und Auseinandersetzung mit polarisierten Normen und Werten, handlungsorientierte Aneignungsverfahren im Lernprozess, die Reflexion gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und die Entwicklung von alternativen Szenarien sowie das Ausloten der institutionellen Möglichkeiten in beruflicher Bildung zum Gegenstand pädagogischer Strategie und Innovation. Besonders die Bereiche Organisations-, Personal- und Methodenentwicklung illustrieren die vielfältige Lernkultur in Abgrenzung zu behavioristischem Drill in den sog. employable skills.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Konzept- und Organisationsentwicklung in der Erstausbildung hat das global agierende Unternehmen MAN in einem Modellversuch erprobt (Wiemann, 2002). In der Firmenphilosophie des Total Quality Management ist die Qualifikation der Mitarbeiter der entscheidende Wettbewerbsfaktor. Null Fehler zu erreichen, gilt durchgängig als Anspruch: von der Produktion über den Vertrieb bis hin zum Kundenservice. Angesichts heterogener Belegschaften gelingt die Umsetzung nur bei hoher Autonomie, selbst organisiertem Verhalten sowie sozialer und fachlicher Kompetenz, die erwerbslebenslang aktualisiert und kultiviert wird. Der Qualifizierungsprozess des Nachwuchses ist dabei ein entscheidender Innovationsfaktor, der nicht extern mit einer Rekrutierung der vermeintlich Besten über ein Assessment gelingen kann. Heterogene Lerngruppen, denen die betrieblichen Anforderungen und Erwartungen von den künftigen Arbeitskollegen vermittelt werden, sind gewünscht. Die Ausbildung zentriert sich auf sinnstiftende Projekte mit berufsheterogenen Arbeitsgruppen. So werden z. B. Drehbänke für eine Ausbildungsstätte des Salesianer Ordens (Don Bosco Schulen) in der Dritten Welt entwickelt, wobei nach dem Prinzip der vollendeten Handlung neben der eigenständigen Fertigung auch Planung und Reflexion der Arbeit sowie die öffentliche Präsentation der Ergebnisse und das Überreichen der Maschinen an den Kunden Gegenstand des Lernens sind. Dieses Konzept der Gruppenqualifizierung ist über Jahre entwickelt worden. So dokumentiert der COMET Modellversuch den Aufbau einer Ausbildungsstätte in einem Partnerbetrieb in Moskau, von der Planung der Gebäudenutzung bis zur Fertigung der Lerninfrastruktur (Maschinen, Anlagen) und der Lernsoftware. Auch hier folgt wiederum als weiterer Schritt die Präsentation und Vermarktung des Ergebnisses. Pädagogisch betrachtet ist das Berufsprinzip marginal und dient dem Statuserwerb durch Prüfung vor einer Kammer. Faktisch erfolgt die berufliche Sozialisation durch heterogene Arbeitsgruppen (Vorbildung, Alter, Geschlecht, Nationalität, Beruf, Ausbildungsjahr), durch Realitätsbezug und Abkehr von Simulation und Schonraumpädagogik, durch auftragsbezogenes komplexes Lernen und Arbeiten mit Gruppensteuerung und der ggf. unkritisch übernommenen corporative identity des Unternehmens. Ein Gegenmodell zur deutschen Maßnahmepädagogik für behinderte und benachteiligte Jugendliche ist die dänische Produktionsschulbewegung. Die Organisationsform ist bewusst offen gehalten und wenig reglementiert, sie soll von Träger zu Träger im selbst entwickelten Profil variieren. Es handelt sich um ein konsequentes, kommunal verankertes Angebotsmodell mit variablem Beginn und Ende für alle Nachfrager. Produktionsschulen sind bewusst überschaubar gehalten mit 40 bis 60 Personen, damit z. B. in Vollversammlungen gemeinsam Entscheidungen getroffen werden können und personenbezogenes Lernen erfolgt. Inhaltliche Prinzipien sind sinnstiftendes Arbeiten sowie eine Vereinbarungskultur, die Rechte und Pflichten regelt. Von der Fischzucht und der Rekultivierung industrieller Agrarbrachen bis hin zu Rundfunkstationen oder Reisebüros für Ältere auf dem Lande reicht die angebotene Palette. Mit dieser Lernkultur werden besonders Schuldropouts erreicht, wobei eine formalisierte Berufsausbildung nicht intendiert ist. Vielmehr geht es um Empowerment, Selbstfindung, soziales Lernen und Schlüsselqualifikationen (Wirsich & Meyser, 1992, S. 179-195). Diese reformpädagogischen Traditionen für Jugendliche mit Integrationsproblemen sind auch in der Produktionsschule Hamburg Altona aufgegriffen worden. Stadtteilbezogen bearbeiten Schulmüde, Randgruppen und Schulabbrecher in einer Medienwerkstatt,
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einem Restaurant und in Zusammenarbeit mit einer Tischlerkooperative sinnstiftende reale Aufträge. Eine Vereinbarungskultur steuert auch hier den Lernprozess. Unter deutschen Rahmenbedingungen wird aus der Schule eine gemeinnützige Gesellschaft, aus dem Schulleiter der beurlaubte Lehrer und Geschäftsführer, aus Unterricht Arbeiten und Lernen. Allgemeine Abschlüsse können nur über externe Prüfungen erworben werden, berufliche Zertifikate sind nicht möglich. Diese berufsvorbereitende Produktionsschule bereitet sowohl auf anerkannte Ausbildung als auch auf den informellen Tätigkeitssektor vor und erweitert somit das Prinzip der Beruflichkeit entsprechend der individuellen Chancen im Lebensumfeld. Dem traditionellen Berufsprinzip folgt die Schule für Metalltechnik in Bremen, die Schülern ohne Schulabschluss und vor allem Jugendlichen mit ausländischer Herkunft einen Facharbeiterabschluss auf dem anspruchsvollen Niveau der neugeordneten Berufe über die Zertifizierung bei der Arbeiterkammer eröffnet. Die berufsqualifizierende Berufsfachschule ist betriebsanalog organisiert, die Theorie wird in Lernecken in den Werkstätten nach Erfordernis und nicht nach Lehr- und Stundenplan vermittelt. Es werden nur solche Aufträge angenommen und von den Arbeitsgruppen geplant, durchgeführt und dem Kunden übergeben, die Lernchancen bieten. Die Lehrer verknüpfen berufs-, sonder- und sozialpädagogische Prinzipien, so dass keine gesonderte Schulsozialarbeit und Förderpädagogik erforderlich sind (Hecking, Mollenhauer, Rau & Schneider, 1994, S. 12-17). Voraussetzung für die Entwicklung und Implementierung systemischer Konzepte ist die Kompetenz des pädagogischen Personals. Im Rahmen der Lehrerfortbildung „Sonderpädagogischer Förderbedarf im Berufskolleg“ wird in Nordrhein-Westfalen bewusst am Berufskonzept festgehalten. Es sollen solche Ansätze initiiert werden, die von heterogenen Lerngruppen in regulären Fachklassen des dualen Berufsschulsystems ausgehen, wobei besonders potenzielle Prüfungsversager und Ausbildungsabbrecher nicht in Sondermaßnahmen ausgegrenzt werden sollen. Neben Diagnostik, Assessment und Arbeit mit dem Förderplan stehen Module wie Lehr- und Lernmethoden in Verbindung mit Lernorganisation, Lernortgestaltung für dezentrales Lernen (Selbstlernzentren, berufsbezogene Lernwerkstätten) oder Beratung sowie Kooperation und Netzwerkarbeit (Landesinstitut für Schule, 2003). 27.1.4 Resümee Die Europäische Union forciert die Entwicklung von punktuellen Projekten gerade für Personen mit besonderem Förderbedarf hin zu Programmen (z. B. Equal, Leonardo da Vinci). Analog werden auch auf nationaler Ebene durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung Programme mit dem Ziel der Innovation beruflicher Bildung angestrebt (Lernende Region, lebenslanges Lernen, Medienkompetenz etc.). Um die komplexen und bürokratischen Anforderungen zu erfüllen, entstehen Trägerverbünde und Netzwerke, z. T. mit Monopolstrukturen. Offen ist derzeit, ob sich angesichts der administrativ-ökonomischen Logik der aufgelegten Programme die postulierte Integration von behinderten und benachteiligten Jugendlichen in Ausbildung und Erwerbsarbeit über Formen der äußeren Differenzierung erreichen lassen oder ob die skizzierten systemischen Konzepte analog zu den skizzierten Beispielen greifen können.
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| Teil VI: Schule und Unterricht
Literatur Arbeitsgemeinschaft der Leiter an Sonderschulen im Bildungsbereich des Berufskollegs NRW (Hrsg.). (o. J.). Leitlinien für das Berufskolleg für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf – BKSF – Sonderschule im Bildungsbereich des Berufskollegs. Wetter: Ev. Stiftung Vollmarstein. Bach, H. & Kranz, L. (1976). Beitrag zur Problematik des Sonderberufsgrundschuljahres. In J. Münch, U. Reischauer, R. Schmidt & E. Schulz (Hrsg.), Abschlußbericht des Beirats zur Begleitung der Schulversuche zum Berufsgrundschuljahr in Rheinland-Pfalz (S. 181-196). Mainz: von Hase & Koehler. Barlsen, J. & Hohmeier, J. (Hrsg.). (2001). Neue berufliche Chancen für Menschen mit Behinderung. Unterstützte Beschäftigung im System der beruflichen Rehabilitation. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben. Biermann, H. (2000). Behinderte Auszubildende. In G. Cramer, H. Schmidt & W. Wittwer (Hrsg.), Ausbilder Handbuch (40. Ergänzungslieferung, Kap. 5.6.5). Köln: Deutscher Wirtschafsdienst. Biermann, H. & Kipp, M. (Hrsg.). (1989). Quellen und Dokumente zur Beschulung der männlichen Ungelernten 1869 – 1969. Köln: Böhlau. Biermann, H. & Rützel, J. (Hrsg.). (1996). Behinderte und Benachteiligte qualifizieren. Berufsbildung, 50 (40). Bonz, B. & Huisinga, R. (1999). Methoden und Medien. In H. Biermann, B. Bonz & J. Rützel (Hrsg.), Beiträge zur Didaktik der Berufsbildung Benachteiligter (S. 38-55). Stuttgart: Holland & Josenhans. Bulmahn, E. (2003). Sicherung der Zukunftsfähigkeit der dualen Berufsausbildung. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 32 (Sonderausgabe „Jugendliche in Ausbildung bringen“), 5-8. Bundesagentur für Arbeit (BA). (2004). Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BvB). Neues Fachkonzept. Vom 12. Januar 2004. Anlage 1: Fachliche Hinweise, Anlage 2: Verfahrensregelung. Überarbeitete Fassung 2006. Nürnberg: BA (www.ba.de). Bundesinstitut für Berufsbildung. (1987). Leittexte – ein Weg zu selbständigem Lernen. Seminarkonzepte zur Ausbilderförderung. Bonn: Autor. Bundesinstitut für Berufsbildung. (2003). Best practice. Verfügbar unter: www.bibb.de [09.11.2004] Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. (1970). Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten. Sozialpolitische Informationen, 4, 1-4. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.). (1992). Sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung. Empfehlungen und Informationen für die Ausbildungspraxis in der Benachteiligtenförderung. Bonn: Herausgeber. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.). (1994). Lernbeeinträchtigte und verhaltensauffällige Jugendliche in der Berufsausbildung. Bonn: Herausgeber. Bundesministerium für Bildung und Forschung. (1999). Jugendliche ohne Berufsausbildung. Eine BiBB/Emnid-Untersuchung. Bonn: Autor. Bundesministerium für Bildung und Forschung. (2003). Berufsausbildungskonferenz „Ausbilden jetzt – Erfolg braucht alle“ 14./15. Juli 2003 in Schwerin. Bonn: Autor. Bunk, G. P. (1987). REFA Methodenlehre der Betriebsorganisation: Arbeitspädagogik. München: Hansa. Dostal, W. (2002). Beruflichkeit in der Wissensgesellschaft. In M. Wingens & R. Sackmann (Hrsg.), Bildung und Beruf. Ausbildung und berufsstruktureller Wandel in der Wissensgesellschaft (S. 177-194). München: Juventa.
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27.2 Arbeitslehre Gerhard H. Duismann Bei der Arbeitslehre handelt es sich um ein didaktisch komplexes Lernfeld, das in Deutschland in erheblich unterschiedlichen Varianten realisiert wird. In anderen europäischen und außereuropäischen Ländern gibt es nach dem Ende der polytechnischen Bildung in den früheren sozialistischen Ländern keinen direkt vergleichbaren Lernbereich, wohl aber einzelne Fächer, insbesondere solche zur technischen Erziehung. Als ein Ergebnis der Bildungsreform der 60er Jahre geriet der Lernbereich Arbeitslehre von Anfang an in politisch brisante Diskussionen. Galt es den einen als eher affirmatives Fach der „Hinführung zur Arbeitswelt“ (Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, 1965), wollten andere es als Aufklärung über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse umgesetzt wissen (vgl. Schwegler, 1974). Als Lernbereich mit dezidierter Nähe zur Arbeitswelt stand er der zur gleichen Zeit als weiteres Ergebnis der Bildungsreform der etablierten Hauptschule als Profilfach zu. Damit war Arbeitslehre als Fach für die weiterführenden Schulen faktisch ausgeschlossen und ist es bis auf wenige Ausnahmen bis heute. Arbeitslehre wird in Haupt- und Förder- bzw. Sonderschulen sowie an Gesamtschulen als Regelfach unterrichtet, in Realschulen vielfach nur im Wahlpflichtbereich. Ein weiteres Grundproblem der Arbeitslehre besteht in der Konstruktion als überfachlicher und/oder fächerintegrierender Lernbereich (vgl. Nitsch, 1979), der gleichwohl auf verschiedenen älteren Unterrichtsfächern fußt, die sich in der Lehrerbildung als Fachdisziplinen weitgehend erhalten haben. Abbildung 2 illustriert die Wurzeln der Arbeitslehre und der entsprechenden Einzelfächer und gibt so einen Überblick über die Unterschiedlichkeit der Ansätze, die zur Reformidee und zum Lernfeld Arbeitslehre geführt haben, welche in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland in vier Varianten existiert: als integratives Unterrichtfach, als kooperativer Unterrichtsbereich (z. B. Arbeit/Wirtschaft, Technik, Haushalt), als Fächerverbund und als didaktische Idee von mehreren sonst unabhängigen Einzelfächern (vgl. Nitsch, 1979). Die Gegenstandsbereiche der Arbeitslehre sind (berufliche) Arbeit, Technik, Ökonomie, Haushalt und Textilarbeit. Dem Inhaltsfeld Arbeit wird insbesondere die übergeordnete Aufgabe der Berufsorientierung und Vermittlung von Berufswahlreife zugeschrieben. Technik wird meist als Produktionstechnik im Sinne schulischer Produktion verstanden. Der private Haushalt wird in der Praxis häufig zur Ernährungslehre (Kochen) verkürzt. Beim Gegenstandsbereich Textil wird die Zuordnung schwieriger, da dieser auf Grund von didaktischen Traditionen als spezielles Fach der Mädchenbildung (vgl. Ladji-Teichmann, 1983) teils der Kunst, dem Fach Haushalt oder aber der Technik zugerechnet wird. Noch problematischer ist die Zuordnung ökonomischer Inhalte, zu denen einerseits die Berufsorientierung gezählt wird, andererseits sog. wirtschaftliches Basiswissen (Kaminski, 1995) und Konsumentenerziehung, die anderenorts dem Haushaltsbereich zugerechnet wird. Da die Zuordnung der einzelnen Inhaltsbereiche nicht eindeutig vorgenommen werden kann, ist das Durcheinander an Fachbezeichnungen und didaktischen Modellen verständlich. Es hat aber trotz unterschiedlicher Ansätze zu einer gewissen Vereinheitlichung (Empfehlungen zur Arbeitslehre, 1987; Oberliesen & Zöllner, 2003) bislang nicht zu einer Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern
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Anschauung Erfahrung
angewandte Künste
freie Künste
um 1600
Handwerk um 1800
Industrieschulen Ingenieurtechnik Kunst Knabenhandarbeit Mädchenerziehung
um 1900
Arbeitsschule
um 1920
Berufspädagogik
Werkpädagogik
sozioökonomisch
Polytechnik
Haushalt
Textilkunde
um 1960
ingenieurtechnisch
nach 1970
Abbildung 2: Didaktische Landkarte zu den historischen Quellen des Unterrichts über Arbeit, Technik und Produktion
und lediglich teilweise innerhalb dieser zwischen den Konzepten für die einzelnen Schulformen geführt. Durch die gesellschaftliche Entwicklung und die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse im letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts wurden um die Jahrhundertwende verstärkt Bestrebungen wirksam, ein selbstständiges Fach Wirtschaft oder Ökonomie zu fordern. Dies könnte zu einem Ende der Idee und des realen Schulfachs Arbeitslehre – wie schon in den 80er Jahren prognostiziert (vgl. Dauenhauer, 1983) – oder zu einer „besonderen“ Existenz in bestimmten Schulen, vor allem in Sonderschulen führen. In den Gründungsjahren gab es an den Hochschulen keine fachlich ausgebildeten Dozenten, da die Studiengänge erst entwickelt werden mussten. Welche universitären Disziplinen sollten die Bezugsdisziplin eines überfachlichen Lernbereiches darstellen? Diese Misere der Lehrerbildung dauert bis heute an. Relativ einfach war die Umstellung in der Schulpraxis im Bereich Haushalt, da dieser – zumindest in der verbreiteten Praxis – nur wenig verändert wurde. Technik wurde vielfach von ehemaligen (kunst-)handwerklich orientierten Werklehrerinnen und Werklehrern übernommen, die sich auf die neuen Aufgaben einließen (vgl. Duismann, 1974). Die Ausbildung für die ökonomischen Inhalte wurde in vielen Bundesländern nicht etabliert. Arbeitslehre als integratives Unterrichtsfach konnte und kann nur an einigen wenigen Studienstätten integriert studiert
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| Teil VI: Schule und Unterricht werden. Die fachlich getrennte Lehrerbildung führte in Schulen häufig dazu, dass selbst beim integrativen Konzept Arbeitslehre die einzelnen fachlichen Anteile getrennt und unkoordiniert von unterschiedlichen Lehrenden unterrichtet wurden, wenn nicht sogar Fachlehrerinnen (für Haushalt/Kochen) oder Werkmeister und Berufsschullehrer (für Technik) eingesetzt werden. Organisatorische Wechsel in Viertel- oder Halbjahreszyklen zementieren die Abschottung der drei Gegenstandsbereiche zusätzlich. Die hier nur skizzierten Probleme, teils den objektiven didaktischen Schwierigkeiten fächerübergreifenden bzw. -integrierenden Unterrichts geschuldet (Duncker & Popp, 1997), andererseits noch durch die unterschiedlichen konkurrierenden Realisierungsformen verstärkt, lassen kein einheitliches Bild des Lernbereiches zeichnen. So kann bei der unvoreingenommen Betrachtung der schulischen Realität des Lernbereichs bzw. der einzelnen Fächer der Arbeitslehre – positiv interpretiert – ein buntes, vielfältige Inhalte und Methoden umfassendes, aktives und praktisches (handelndes, ganzheitliches, multisensorisches ...) Agieren festgestellt werden. Negativ interpretiert kann das unterrichtliche Geschehen als beliebig und zufällig, als zeitlich und materiell aufwändiges, aber dilettantisches Basteln, als wenig zielorientierte Beschäftigung für intellektuell überforderte, schulmüde Heranwachsende gekennzeichnet werden. Neuerlichen Aufschwung hat die Beschäftigung mit der Realität betrieblicher Praxis und deren Anforderungen seit Beginn des neuen Jahrhunderts durch die Ökonomisierung der Gesellschaft erfahren. Symptomatisch zeigt sich das in rasch zunehmenden Veranstaltungen wie regelmäßige Tage in Betrieben, Erkundungen und Praktika, Simulationen von Wirtschaftvorgängen sowie die verschiedenen Modelle von Schülerfirmen, ohne jedoch systematisch in die Arbeitslehre und die dort verfolgten Lernziele inhaltlich und organisatorisch integriert zu werden. Die Initiativen hierzu gingen auffallend häufig von politischen und ökonomischen Interessenverbänden aus und sind auch mehr auf leistungsstarke Schülergruppen gerichtet. 27.2.1 Arbeitslehre und Förderschulen Mit einer gewissen Verspätung wurde in den späten 60er bis frühen 70er Jahren die Arbeitslehrediskussion in die Sonderschulen, hier vor allem die damalige Lernbehindertenschule, übernommen. Den zögerlichen Weg zur sonderpädagogischen Arbeitslehre hat Vetter (1979) konzeptionell dargestellt. Dabei weist er auf die bis dahin prinzipielle Übernahme der außersonderpädagogischen Begründungszusammenhänge zur Arbeitslehre in allen sonderpädagogischen Konzepten hin und macht bei letzteren fünf besondere Akzentuierungen aus: – die besondere Randständigkeit der Schüler der Lernbehindertenschule, – Arbeitslehre als Lebenshilfe für Lern- und Leistungsschwache, – Arbeitslehre in der Sonderschule ist Vertrautmachung mit Problemen der praktischen Arbeit, – Arbeitslehre ist auch für Sonderschüler soziales Lernen, – Arbeitslehre gibt Hilfen für die Berufswahl (Vetter, 1979, S. 161). Vetter (1979, S. 170) machte u. a. darauf aufmerksam, dass sich die sonderpädagogische Diskussion bereits in den 70er Jahren (vgl. Duismann, 1971, Vetter 1973) zunehmend
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von der allgemeinen fachdidaktischen Diskussion abgekoppelt und sich auf einen eigenen Weg begeben hat (vgl. Duismann, 1979, Vetter 1980). Dieser sich in den 70er Jahren abzeichnende didaktisch-konzeptionelle Sonderweg wurde durch ein Positionspapier des Verbands Deutscher Sonderschulen und damit zusammen hängenden Thesen zur Arbeitslehre von Böhm (1982) deutlich, mit denen eine eigenständige, völlig von der Hauptschul-Arbeitslehre abweichende Konzeption und Ausrichtung einer spezifischen Lernbehinderten-Arbeitslehre gefordert wurde (vgl. Vetter 1982, 912; Duismann 1983, 200). Eine weitere Variante des Sonderwegs der Arbeitslehre als Teil der Vorbereitung auf das weitgehend durch berufliche Arbeit – auch bei deren Vorenthaltung durch Arbeitslosigkeit – bestimmte nachschulische Leben hat Hiller ab Ende der 80er Jahre in die Diskussion gebracht und damit Arbeitslehre radikal in Frage gestellt (vgl. Hiller, 1987). Mit der Kennzeichnung des traditionellen Berufsverständnisses und der Allgemeinbildung als „kulturimperialistisch“ forderte er eine völlig andere schulische Vorbereitung benachteiligter Jugendlicher – einer Gruppe, die für Hiller über die Schülerinnen und Schüler der Sonderschulen hinausreicht. Hiller (1994) postulierte eine „Jugendschule“, in der auf ein Leben vorbereitet wird, in dem berufliche Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. Duismann, 1981; Lindmeier, 1999; Friedemann, 2001). An die Stelle der Berufsorientierung tritt bei Hiller die Lebensbewältigung in materiell und kulturell eingeschränkten Verhältnissen (vgl. Hiller, 1998). Neben der sehr spezifischen sonderpädagogischen Arbeitslehre nach Böhm und dem Konzept der Jugendschule nach Hiller gibt es Ansätze sonderpädagogischer Arbeitslehre, in denen nach wie vor die Vorbereitung auf berufliche Arbeit, vor allem in Sonderformen wie z. B. den Berufsbildungswerken, ins Zentrum des schulischen Bemühens gerückt wird. Hier ist vor allem das „Berufsvorbereitende Funktionstraining“ zu nennen, das bis 2003 besonders in Bayern verbreitet war (vgl. Scharff, 1981, 1988, 2001). Dabei werden Ansätze von Dieterich (1981, 1988) genutzt, um sehr gezielt auf bestimmte berufliche Anforderungen zu trainieren. Es wird optimistisch unterstellt, dass die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft auch in Zukunft hinreichend Arbeitsplätze für geringer qualifizierte Arbeitskräfte bereitstellen wird. Unterstützung erfährt diese Konzeption u. a. durch Vorschläge zu sog. niedrigschwelligen Berufsausbildungsgängen. So stellte die Handelskammer Hamburg (2000) neu einzurichtende Berufe mit halbjähriger und einjähriger Ausbildung vor. Die Liste der sog. „Einsteiger-Berufe“ umfasst u. a. Aufsichtspersonal für Messen, Ausstellungen und Warenhäuser, Kurierfahrer, Servicekraft für Sanitäreinrichtungen. So richtig die Entwicklung solcher Berufsausbildungen sein könnte, bliebe jedoch zuvor zu klären, ob durch solche Berufe die selbstständige Existenz gesichert werden kann, was selbst bei Normalausbildung in verbreiteten Berufen (Verkäuferin, Frisörin, Bäcker ...) oft kaum möglich ist, wie die Untersuchungen von Hiller (1987) eindrucksvoll aufzeigen. 27.2.2 Grundlagen der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen Es liegen nur wenige empirische Studien über das Lehren und Lernen von Gegenstandsbereichen der Arbeitslehre vor. Dies gilt sowohl für die Lernausgangslage, als auch für differenzierte begründete Förderkonzepte. Mit den handwerklichen, praktischen und motorischen Lernerfordernissen mit Blick auf entsprechende Berufsbildungen hat sich
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| Teil VI: Schule und Unterricht Dieterich in mehreren Studien auseinander gesetzt (vgl. Dieterich, 1981, 1988; Dieterich & Messerle, 1986; Dieterich, Goll, Pfeiffer, Tress, Schweiger & Hartmann, 2001). Mit der Erarbeitung des „Handwerklich-motorischen Eignungstests“ (Dieterich & Messerle, 1986) und des „Handlungsorientierten Testverfahrens zur Erfassung und Förderung beruflicher Kompetenzen“ (Dieterich et al., 2001) wurde eine Grundlage für den Unterricht vor allem in Berufsbildungswerken geschaffen. Dieterich konnte nach faktorenanalytischer Untersuchung vier „handwerkliche Grundfunktionen“ extrahieren, „die ca. 57 Prozent der gesamten Varianz abdecken“ (Dieterich, 1981, S. 678) und als typisch für viele traditionelle handwerklich-gewerbliche „Einzelberufe bzw. Berufsfelder“, also als „Schlüsselqualifikationen“ gelten können: Erste handwerkliche Grundfunktion: Vorgegebene Begrenzungen müssen erreicht werden. Notwendig ist Koordination von Auge und Hand. Komplexe Sachverhalte müssen in die Realität übersetzt werden. Zweite handwerkliche Grundfunktion: In einem Koordinatensystem müssen nach vorliegenden Plänen genaue Bezugspunkte hergestellt (eingezeichnet) werden. Dritte handwerkliche Grundfunktion: Gleichmäßige, in der Regel feinmotorische Arbeiten, die nur geringe kognitive Anforderungen stellen, müssen durchgeführt werden. Vierte handwerkliche Grundfunktion: Flächen bzw. Körper müssen achssymmetrisch bzw. rotationssymmetrisch ergänzt werden (vgl. Dieterich, 1981, S. 679). In neueren Untersuchungen wurden die Fähigkeitsbereiche um weitere Grundfunktionen ergänzt (Datenverarbeitung, Aufgaben aus dem Gastgewerbe, vgl. Dieterich et al., 2001) und damit der Rahmen potenzieller beruflicher Möglichkeiten – insbesondere für die ansonsten vernachlässigten Mädchen – erheblich erweitert. Bemerkenswert ist auch, dass Dieterich den Bereich der Medienkompetenz (vgl. Meschenmoser, 1999, 2003a) mit allerdings sehr eingeschränktem Umfang und Niveau berücksichtigt. Dieterich weist demgegenüber immer wieder auf die Lernpotenziale der lernbehinderten Schülerinnen und Schüler hin, denen bei entsprechender Förderung Ausbildungsmöglichkeiten eröffnet werden könnten. Masendorf ist in verschiedenen kleineren Studien u. a. Möglichkeiten des gezielten Förderns von Verhaltensweisen des räumlichen Vorstellens (1997) und des praktisch-technischen Verhaltens (Masendorf & Lengsdorf, 2002) nachgegangen. Dabei konnte jeweils nachgewiesen werden, dass Trainings auf der Basis einer sorgfältigen Diagnose der Lernausgangslage und einer Auswahl von didaktisch geeignetem Lernmaterial im Unterrichtsversuch auch langfristig stabile positive Ergebnisse erbringen können. Meschenmoser (1999) entwickelte ein Softwareprogramm, mit dessen Hilfe ebenfalls das räumliche Denken erfolgreich gesteigert werden kann. Duismann (1984, 2002c) untersuchte die Einstellung Lernbehinderter zur Technik, den Technischen Wortschatz (Asmuth & Duismann, 1984) und das Praktisch-Technische Verständnis (Duismann, 1974, 1984). Es wurden bei diesen Untersuchungen sehr unterschiedliche Leistungen im unteren Leistungsbereich Gleichaltriger anderer Schulformen festgestellt, die sehr häufig in den Bereich der für bestimmte Berufsausbildungen notwendigen Leistungen hineinreichen, ohne dass zuvor eine gezielte Förderung stattgefunden hatte. Gemeinsam ist den hier berücksichtigten und weiteren vergleichbaren Studien, dass Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen nicht nur in den traditionellen Kulturtechniken, sondern auch in den arbeitsrelevanten speziellen Kompetenzbereichen einen zum Teil erheblichen Förderbedarf aufweisen. Dies relativiert Aussagen aus der Praxis, dass
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meist nur die Ausfälle bei abstrakten und theoretischen Anforderungen problematisch seien, die vielfach durch hinreichende Leistungen der Heranwachsenden in berufspraktischen Ausbildungsbereichen und durch besonders ausgeprägte Arbeitstugenden (vgl. Böhm, 1982) ausgeglichen würden. Der individuelle Förderbedarf kann nur durch eine entsprechende Diagnostik festgestellt werden, die sich an Zielen des Lernens orientiert. Ohne didaktisch legitimierte Ziele ist kein sinnvolles institutionalisiertes und systematisches Lernen möglich. Voraussetzung für erfolgreiches Lehren und Lernen ist auch in der Arbeitslehre somit ein Dreierschritt. Zunächst erfolgt die Identifizierung von Lernzielen: Was (und warum) soll gelernt werden? Dann erfolgt eine Diagnose der bereits erreichten Kompetenzen und, falls eine Diskrepanz festgestellt wird, kann die Lern- oder Förderplanung zur Erreichung des nächsten Zieles unter Beachtung der Struktur des Gegenstandes durchgeführt werden. An diesem Prozess sind die Lernenden so weit wie eben möglich zu beteiligen (vgl. Duismann & Adling, 2003; Schardt, 2003). 27.2.3 Perspektiven der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen Die traditionelle Fixierung des Lernens in ebenso traditionellen Fächern wird nicht nur in Sonderschulen zunehmend durch fächerübergreifende und fächerintegrierende Formen der Lernorganisationen überwunden (vgl. Duismann 2001). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Eigengesetzlichkeiten der Lerngegenstände zu berücksichtigen sind. So gibt es kein allgemein gültiges Problemlösen, da sich mathematische Probleme beispielsweise von technischen prinzipiell unterscheiden. Nach neueren Lernforschungen (vgl. Spada & Lay, 2000) behält das „domänenspezifische Wissen“ seine grundlegende Bedeutung auch und gerade in fächerübergreifenden Kontexten. Eine besondere Bedeutung in den neueren Konzepten der Arbeitslehre haben Begegnungen mit außerschulischen Lernorten, insbesondere denen der Arbeit. Hierzu gehören Behörden, Institutionen und vor allem Betriebe. Betriebserkundungen und -praktika scheinen methodisch unkritisch. Jedoch sollte zukünftig verstärkt bedacht werden, dass Erfahrung in der Praxis allein nicht ausreicht; denn aus Erfahrung kann gelernt werden, aber das ist nicht immer und schon gar nicht zwingend der Fall (Haug, 2003). Damit in und durch Praxis gelernt wird, ist sicher zu stellen, was durch Begegnung und Tätigsein in der Praxis gelernt werden soll. Dies ist außer von den potenziellen Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler von den Möglichkeiten der Praktikumsorte (vgl. Rützel, 2003) abhängig, aber auch von den Intentionen der Lehrenden. Praktika und andere Begegnungen mit der Praxis erfordern gründliche Vorbereitung mit genauer Analyse der Lernmöglichkeiten und Abstimmung der Lernintentionen. So wurde beispielsweise von Meschenmoser (2003b) in einer Untersuchung an 25 Schulen festgestellt, dass bei einem Praktikum, das der Berufsorientierung dienen sollte, die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler ihr Praktikum in Institutionen ableistete, die weder selber ausbilden noch Berufe vorhalten, die den Heranwachsenden aus der Sonderschule für Lernbehinderte zugänglich sind. So sind Frustrationen bereits während des Praktikums, zumindest aber bei dessen Auswertung unausweichlich. Günstig sind inhaltlich unterschiedliche Praktika, die den Jugendlichen verschiedene Erfahrungs- und Lernzugänge ermöglichen. Gerade bei den scheinbar bewährtesten Methoden der Arbeitslehre sind
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| Teil VI: Schule und Unterricht eine Verstärkung des Qualitätsbewusstseins der Unterrichtenden und eine entsprechende Evaluation unumgänglich. Eine Sonderrolle innerhalb der Arbeitslehre und darüber hinaus kommt der relativ neuen Methode der Schülerfirmen zu (Duismann & Meschenmoser, 2001; Duismann, 2002a, 2002b; Meschenmoser, 2003a), die hervorragend geeignet scheint, die Vermittlung der arbeitsrelevanten Basiskompetenzen koordinierend und zentrierend zu gewährleisten. Die Heranwachsenden haben in Schülerfirmen, kleinen selbstständigen Unternehmungen mit Ernstcharakter in der Schule, die Möglichkeit, verschiedenste unternehmerische Tätigkeiten in einem Schonraum zu erproben, in dem sich Fehler weniger gravierend auswirken. Dieses Erfahrungsfeld reicht damit über Möglichkeiten des Sammelns von Erfahrungen in einem realen Unternehmen hinaus. Die Jungen und Mädchen lernen dabei nicht nur bestimmte Tätigkeiten auszuführen, beispielsweise ein Fahrrad zu reparieren oder Brötchen zu belegen, wie dies in Schulwerkstatt oder Schulküche bereits Praxis der Arbeitslehre ist, sondern sie lernen auch Verfahren und Elemente eines realen Betriebes kennen, beispielweise Buchhaltung und Rechnungswesen oder den Kontakt mit Lieferanten und Kunden. Nach bislang vorliegenden Erfahrungen gehen von Tätigkeiten in Schülerfirmen Effekte aus, die sich positiv auf die Motivation und das Selbstwertgefühl, aber auch auf die Anerkennung eigener Schwächen auswirken (Duismann & Meschenmoser, 2001). Schülerfirmen sind notwendig zu ergänzen durch Praktika, durch die in der Schülerfirma gewonnene Erfahrungen und Erkenntnisse in Betrieben überprüft werden. Jedoch sollte die Methode Schülerfirma nicht überschätzt werden, da die potentiellen Effekte noch nicht längerfristig gesichert sind. Schülerfirmen allein vermögen sicher nicht die Arbeitslehre zu ersetzen. Diese sollte aber künftig, wie andere Lernbereiche auch, eine klare inhaltliche Struktur aufweisen, und die Lehrenden müssen sich verstärkt um die professionelle Qualität ihres Unterrichts bemühen. In diesem Kontext kann der Diskussion um Bildungsstandards nicht aus dem Wege gegangen werden. Dabei kommt der prozessbegleitenden individuellen Förderdiagnostik und -planung bis hin zur Durchführung kontrollierter Einzelfallstudien (vgl. Kern, 1997; Julius, Schlosser & Goetze, 2000) eine hohe Bedeutung zu. Entwürfe eines solchen neuen Konzeptes von Arbeitslehre als Kern des Unterrichts in den letzten drei Schuljahren sollten von „arbeitsrelevanten Basiskompetenzen“ ausgehen, offen für die zukünftigen Formen der Arbeit in unserer Gesellschaft sein (Duismann, 2002a) und alle arbeitsrelevanten Kompetenzbereiche zusammenfassen, nicht nur solche, die als Gegenstandsbereiche der Arbeitslehre in Betracht kommen. Neben den bedeutsamen Kulturtechniken geht es auch um Sozial- und Ich-/Selbst-Kompetenzen. Die Einbeziehung von Schülerfirmen erleichtert die Umsetzung eines solchen Konzeptes, das in einem groß angelegten Projekt seit 2000 in Berlin erprobt wird (Duismann & Adling, 2003; Meschenmoser, 2003a, 2003b). Erst die im Detail noch zu leistende fachdidaktische Erarbeitung von Teilleistungen und Niveaustufen, wie sie auch in der Expertise von Klieme (2003) vorgeschlagen wird, ermöglicht in der Praxis das Durchführen des Dreischritts aus Zielidentifizierung, Diagnose und Lernplanung im Sinne sonderpädagogischer Professionalität. Auf diesem Wege werden die Forderungen des „Paradigmenwechsels“ in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (2000) aus dem Jahre 1994 fachdidaktisch zentriert und konkret in der Praxis eingelöst.
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Tabelle 1: Arbeitsrelevante Basiskompetenzen Kulturtechniken – Lesen (Informationen entnehmen …) – Schreiben (Rechtschreiben, Texte schreiben …) – Mathematik (Rechnen, Geometrie ...) – Medienkompetenz – Denken/Problemlösen/Kreativität (u. a. ‚Räumliches Denken‘) Selbst- und Sozialkompetenzen – Selbstkonzept, Selbstkompetenz (Selbstwertgefühl ...) – Interessen (Lebensplanung, Hobby, Eigenarbeit ...) – Lernbereitschaft/Lernverhalten (Lernmotivation, Attribuierungsverhalten, Lernstrategien, Konzentration ...) – Einstellungen (Arbeitsverhalten, Ausdauer ...) – Kooperation und Kommunikation, Konfliktbewältigung Arbeitsbereichskompetenzen – Berufswahl (Berufsinteressen ...) – Einstellungen (Technik, Arbeit/Beruf ...) – Ökonomische Kompetenzen – Gewerblich-technische Kompetenzen – Ernährung, Haushalt, Pflege – Bedienen, Verkaufen, Beraten
An einem Beispiel sei der hierbei einzuschlagende Weg aufgezeigt: Zu den in Tabelle 1 genannten arbeitsrelevanten Basiskompetenzen wird das Problemlösen gezählt. Dabei geht es nicht um das Lösen aller möglichen Schwierigkeiten, sondern um das Lösen solcher, die in beruflichen wie nicht beruflichen Arbeitszusammenhängen anfallen, also um „domänenspezifische Probleme“. Hierzu gehören unter anderem: – handwerkliches Produzieren von Gerichten für den Eigenbedarf sowie bei beruflichen Tätigkeiten in Imbissbetrieben, Systemgaststätten u. ä., – handwerkliches Produzieren von Gegenständen, Reparaturen für den Eigenbedarf oder im Zusammenhang mit verschiedensten beruflichen Tätigkeiten, – zeitliche Organisation des Arbeitsablaufes (z. B. Fahrten, Reihenfolge), – Beachten von ökonomischen Bedingungen bei Produktion und Organisation von Arbeit. Die Kompetenzstufen des Lösens arbeitsrelevanter Probleme werden in einem heuristischen Fünf-Stufen-Modell vorgestellt, so dass für Lernende und auch für Außenstehende – z. B. potentielle Arbeitgeber – die bereits erreichten und die noch zu erlernenden Niveaustufen in einem der arbeitsrelevanten Kompetenzbereiche ersichtlich sind. Durch begleitende Diagnose wissen Lernende und Lehrende, welche der Niveaustufen bereits erreicht sind. Dies sollte und kann in bestimmten Abständen bzw. zu entsprechenden Anlässen dokumentiert werden und bildet die Grundlage einer Zwischenzertifizierung oder einer Lernplanung. Da keine negativen Aussagen formuliert werden, damit Diskriminierungen wegfallen, kann vom Benennen eines momentan erreichten Standes auch eine Motivationswirkung ausgehen, die nächste Stufe zu erreichen. Ähnliche Modelle der Diagnose und Lernplanung sind aus anderen Zusammenhängen der Berufsorientierung,
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| Teil VI: Schule und Unterricht Berufsvorbereitung und Berufsbildung bekannt (vgl. Lippegaus, 2000; Castello, 2002; Schardt, 2003). Hier ein Ausschnitt aus den fünf Kompetenzniveaus arbeitsrelevanten Problemlösens: Erstes Kompetenzniveau: Art und Ablauf der Tätigkeit sind weitgehend unveränderlich festgeschrieben. Der/die Ausführende hat nur sehr geringe Entscheidungsmöglichkeiten. Drittes Kompetenzniveau: Art und Ablauf der Tätigkeit erfordert das Eingehen auf gelegentliche unerwartete Störungen/Veränderungen, die jedoch mit dem bereits bekannten und vorhandenen Wissen und Können bewältigt werden können. Fünftes Kompetenzniveau: Bei der Tätigkeit treten häufiger bzw. regelmäßig zum Teil auch komplexere Störungen auf, die selbstständig und unter Zeitdruck bearbeitet werden müssen. Die notwendigen Informationen sind selbstständig zu beschaffen. Auf der Basis dieser noch allgemeinen Stufenfolge können einem Schüler oder einer Schülerin die bereits erreichten Kompetenzniveaus bescheinigt und die Ziele der nächsten zu erreichenden Stufe verdeutlicht werden. Dies kann beispielsweise in folgender Form umgesetzt werden: In Berlin werden seit 2005 zu dem weiterhin ausgegebenen üblichen Notenzeugnissen Anlagen ausgegeben, in denen die Selbst- und Sozialkompetenzen zertifiziert werden. In einem Formular werden die Niveaustufen vollständig wiedergegeben, so dass potentielle Arbeitgeber, Lehrende weiterführender Bildungseinrichtungen, Eltern und auch die Schülerinnen und Schüler selbst, einen Überblick über die erreichbaren Kompetenzen haben. Das vom einzelnen Schüler bzw. Schülerin erreichte Niveau wird dann konkret beschrieben. Dabei können u. a. die Lernsituationen, in denen die Kompetenzen beobachtbar waren – z. B. ein Betriebspraktikum, eine Schülerfirma oder auch Fachunterricht –, einbezogen werden. Auf diese Weise ist es möglich ein Bild von den für bestimmte Situationen notwendigen Kompetenzen zu gewinnen. (Die genauen Modalitäten werden noch abgestimmt (Stand Frühjahr 2005).) Erstes Kompetenzniveau Michael M. kann allein begrenzte Aufgaben mit bekanntem und geübtem Werkzeug bearbeiten, die von den vorausgegangenen im einzelnen Fall bereits ein wenig abweichen dürfen. Beispiel: Auswählen von einem Werkzeug aus mehreren möglichen Werkzeugen zu bekannten Arbeiten. Es können mehrere Sägen zum Ablängen von Holzleisten vorhanden sein, die richtige ist vom Schüler/von der Schülerin auszuwählen.
Die Entwicklung der Teildimensionen der arbeitsrelevanten Basiskompetenzen und deren Stufung ist durch fachdidaktische Forschung in enger Zusammenarbeit mit der Praxis und den sich ständig wandelnden Anforderungen beruflicher und außerberuflicher Arbeiten kontinuierlich weiter voran zu treiben. 27.2.4 Fazit und Ausblick Die vielfach konstatierte Entwicklung der industriellen Arbeitsgesellschaft zur postindustriellen Wissensgesellschaft wird auch künftig nicht ohne Arbeit auskommen. Arbeit
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wird nicht verschwinden, aber sie wird weiter gewandelt werden. Neue Arbeitskonzepte zielen nicht mehr auf lebenslange Standardberufsbiografien, denn die Wahl des Startberufes führt schon heute in den meisten Fällen nicht zu lebenslanger, sicherer Beschäftigung. Wechselnde berufliche Tätigkeitsformen werden mit nicht beruflicher Arbeit ergänzt. Das Arbeitsleben wird nicht mehr im traditionellen (spezifisch deutschen) Berufsleben aufgehen, aber das Leben wird weiter ein Leben mit und durch Arbeit sein. Nicht-Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und andere Formen von Arbeit werden zunehmend an Bedeutung gewinnen und auch existenzsichernde Funktionen bekommen (müssen). Diese Perspektive muss sich auch in der künftigen Arbeitslehre für Heranwachsende mit dem Förderschwerpunkt Lernen niederschlagen. Neben der weiterhin bedeutsamen Vorbereitung auf existenzsichernde und sozialversicherungspflichtige berufliche Arbeit, die zurzeit noch im Zentrum steht, werden andere Formen der Arbeit als sinnvolle, humane und notwendige Tätigkeiten zunehmend mit zum Inhalt der Arbeitslehre werden. Dabei geht es nicht um ein Entweder/Oder im Sinne von Lebenskunde ohne Arbeit versus Berufsfunktionstraining, sondern um ein Sowohl als Auch. Es wird viel davon abhängen, ob es innerhalb der Arbeitslehre gelingt, die fachdidaktische Entwicklung so voran zu treiben, dass sie auf der einen Seite den Entwicklungen der Arbeit in unserer Gesellschaft und auf der anderen Seite den Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen entspricht – ob in Förderschulen, Förderzentren oder in integrierten Schulsystemen.
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27.3 Modulares Lernen Wolfgang Dings Die Einlösung des Anspruchs auf gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen wird nach wie vor im Wesentlichen durch die dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt realisiert. Eine möglichst hohe berufliche Qualifikation und der Erhalt und Ausbau dieser Qualifikation stellt eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung dafür dar. Das drückt sich einerseits aus in den Vermittlungserfolgen z. B. der Abgänger aus Berufsbildungswerken, andererseits befinden sich qualifizierte behinderte junge Menschen unfreiwillig in Arbeitslosigkeit. Unabhängig von einer differenzierten Analyse der Ursachen von Arbeitslosigkeit gilt es auch zukünftig sicherzustellen, dass behinderte junge Menschen die Chance bekommen, die individuell höchstmögliche berufliche Qualifikation als Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt zu erwerben. In diesem Zusammenhang rückt das modulare Lernen in den Blickpunkt der Betrachtung. Der in diesem Beitrag verwendete Begriff des „modularen Lernens“ umfasst drei wesentliche Elemente. Erstens ist modulares Lernen gekennzeichnet durch die Strukturierung beruflicher Bildungsangebote in einzelne Module. Das zweite wesentliche Element modularen Lernens drückt sich aus in der Zertifizierung einzelner Module. Als drittes wesentliches Element modularen Lernens ist die didaktisch-methodische Umsetzung einer modularen Struktur in Lerneinheiten als Basis für den individuellen Lernprozess in den Blick zu nehmen.
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Eine Annäherung an das Thema setzt eine Offenlegung des der Analyse zu Grunde liegenden Modularisierungsverständnisses voraus. Ausgelöst wurde die seit Anfang der 90er Jahre intensiv geführte Modularisierungsdiskussion durch die weit reichenden Veränderungen im Zuge des technischen und wirtschaftlichen Strukturwandels in der Bundesrepublik. Zu den Stichworten, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden, zählen die zunehmende Globalisierung der wirtschaftlichen Strukturen und der Wandel der Beschäftigungsstrukturen hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Herausforderungen in der beruflichen Bildung bestimmt durch die Gewährleistung der Anpassungsfähigkeit des Ausbildungssystems und durch die Schaffung einer stabilen Infrastruktur für ein lebenslanges berufliches Lernen. Von den Befürwortern eines modularisierten Systems beruflicher Bildung wird kritisch hinterfragt, ob das Duale System der Berufsbildung die notwendigen Wandlungsprozesse auf Grund einer unterstellten Inflexibilität der Ordnungsinstrumente wie beispielsweise den Ausbildungsordnungen leisten kann (Rützel, 2000). Die bildungspolitische Auseinandersetzung lässt sich kennzeichnen als Kontroverse zwischen Befürwortern eines modularen Systems auf der einen Seite und Verfechtern der Beibehaltung des Systems der Berufsbildung auf der Grundlage des deutschen Berufskonzepts auf der anderen Seite. Der Gegensatz zwischen der herkömmlichen Berufsausbildung und modularen Konzepten kann am Beispiel des englisch-walisischen Systems der beruflichen Qualifizierung konkretisiert werden (Deißinger, 2002). Das dort vorfindbare NVQ-System (National Vocational Qualifications) sieht erstens fünf hierarchisch aufeinander aufbauende Qualifizierungsebenen vor. Das Erreichen der nächsthöheren Ebene ist an die erfolgreiche Bewältigung einer festgelegten Anzahl von Modulen gebunden. Die in diesem Rahmen erworbenen Teilkompetenzen können aggregiert werden, sie müssen es aber nicht. Die individuelle berufliche Qualifizierung bestimmt sich damit aus den erfolgreich bewältigten Modulen. Prägend für dieses modulare System beruflicher Bildung ist die Ausrichtung der Module nach dem Prinzip des kompetenzorientierten Lernens (Outcome-Kategorie). Die Module beschreiben eine Handlungskompetenz in einem abgegrenzten betrieblichen Funktionszusammenhang. Zum zweiten gilt das Prinzip des ergebnisorientierten Prüfens mit einer anschließenden Zertifizierung der einzelnen Module. Als drittes Prinzip ist „eine im Kern grundständige Modularisierung von Ausbildungsprofilen“ (Deißinger, 2002, S. 129) zu nennen. Dem englisch-walisischen System wird von den Befürwortern ein Höchstmaß an Flexibilität im Ausgleichsprozess zwischen Qualifikationsnachfrage und Qualifikationsangebot zugeschrieben. Die Verfechter des deutschen Berufskonzepts sehen kritische Momente dieser Form von Modularisierung in der Zuschneidung auf spezifische Arbeitsplatzfunktionen, in der Offenheit der Zusammenstellung der Module zur Erreichung eines bestimmten Qualifizierungsniveaus sowie in der Lernwegeoffenheit. Letzteres Argument bezieht sich auf die Ergebnisorientierung der Module, welche die Frage nach Lerninhalten bzw. curricularen Vorgaben zweitrangig werden lässt. Die Wahrung des Berufsprinzips mit dem prägenden Merkmal der vollen Berufsfähigkeit lässt es nicht zu, dass im Rahmen der Erstausbildung Teilqualifikationen ohne abschließende Gesamtqualifikation vergeben werden. . . . .Gerade weil die Gesamtfunktion einer Ausbildung (berufliche Handlungsfähigkeit) mehr ist als die Summe der
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| Teil VI: Schule und Unterricht Einzelfunktionen (Module), ist eine Abschlussprüfung unerlässlich und deswegen ein fragmentierendes Modulverständnis für die Berufsausbildung nicht tragbar. (Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen, 1999, S. 54) Der Diskussionsprozess um das Für und Wider einer Modularisierung der Berufsbildung hat in der Zwischenzeit in Deutschland zur Formulierung eines Modularisierungsverständnisses geführt, das mit dem deutschen Berufskonzept in Einklang steht. Es trägt damit der grundsätzlichen Bedeutung des Berufs in Deutschland mit seinen vielfältigen Funktionen im Hinblick auf die Zuweisung des sozialen Status sowie als Ausgleichsmechanismus zwischen Ausbildungssystem und Beschäftigungssystem Rechnung. Entsprechende Konzeptionen modularen Lernens führen zu keiner Ausgrenzung behinderter junger Menschen aus dem Systemzusammenhang beruflicher Bildung. Der Kernpunkt dieses Modularisierungsverständnisses ist die Definition von Teilkompetenzen bzw. Modulen als Teile eines ganzheitlichen Berufskonzepts. Die Module werden verstanden als das (angestrebte) Ergebnis von Qualifizierungsprozessen, das heißt als eine Kompetenz bzw. Outcome-Kategorie. Eine Zertifizierung von einzelnen Modulen ersetzt nicht die Abschlussprüfung vor der zuständigen Stelle. Die kurz aufgezeigten Modularisierungsverständnisse werden in der Literatur mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten gekennzeichnet, die Rützel (2000) zusammenfassend darstellt. 27.3.1 Modularisierungsansätze im Einklang mit dem deutschen Berufskonzept Konkrete Umsetzungen des oben beschriebenen Modularisierungsverständnisses lassen sich in zwei Handlungsfeldern ausmachen. Zum einen sind in der Neuordnung von Ausbildungsberufen modulare Strukturelemente in unterschiedlicher Form genutzt worden. Als konkrete Beispiele kann hier auf die IT-Berufe und die Neuordnung des Ausbildungsberufs Mediengestalter/Mediengestalterin verwiesen werden. Kennzeichnend für die IT-Berufe ist die Orientierung an gemeinsamen Kernqualifikationen in der Hälfte der Ausbildungszeit sowie für die Ausbildung zum Mediengestalter/zur Mediengestalterin das Angebot von Wahl- und Wahlpflichtmodulen (Keune, 2003). Die vor der im Jahre 2005 erfolgten Novellierung des Berufsbildungsgesetzes (BBiG i. d. F. vom 23.03.05) geführte Diskussion um theoriegeminderte zweijährige Ausbildungsberufe oder die Diskussion um den Fortbestand der Regelungen nach § 66 BBiG (vormals § 48b BBiG v. 14.08.1969) – jeweils analog für die Handwerksordnung (HWO) – ist im Wesentlichen durch bildungspolitische Interessenslagen bestimmt, die im Licht der Entwicklung der Qualifikationsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt zu beleuchten sind. Prognostiziert wird ein weiterer Abbau so genannter Einfacharbeitsplätze mit gleichzeitig steigenden Anforderungen an diesen Arbeitsplätzen. Eine Behauptung behinderter junger Menschen im Wettbewerb um Arbeitsplätze erfordert Zugang zu einer Ausbildung, die eine den anerkannten Standards des Berufsprinzips gleichwertige Qualität gewährleistet. Die Potentiale einer modularen Struktur bei der Neuordnung von Berufen, welche die besonderen Fähigkeitsprofile behinderter junger Menschen durch eine entsprechende Gestaltung
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von Wahl- und Wahlpflichtmodulen auf der Ebene anerkannter dreijähriger Berufe berücksichtigt, sind bisher nicht umfassend genutzt worden (Laur-Ernst, 2000). In diesen Zusammenhang sind auch die Überlegungen zu der Konzeption des Funktionsbildes einzubeziehen. Der möglichen Überfrachtung der Ausbildungsinhalte in anerkannten Ausbildungsberufen wird durch die Konzentration auf die wesentlichen beruflichen Handlungskompetenzen als Kern der Facharbeit/-angestelltentätigkeit entgegen gewirkt. Das Prüfungszeugnis wird ohne Einschränkung im anerkannten Ausbildungsberuf ausgestellt (Keune, 2003, S. 208). Das zweite Handlungsfeld, in dem in der Bundesrepublik modulare Konzepte in der Berufsbildung erprobt und umgesetzt wurden und werden, sind zielgruppenspezifische Konzeptionen. Die modularen Konzepte sollen jenen jungen Menschen die Chance auf den Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf offen halten, die den Erwartungen an eine gradlinige Lern- und Berufsbiografie nicht entsprechen können. Es besteht für diese heterogene Gruppe junger Menschen die Gefahr, dass sie Maßnahmekarrieren erleiden, die einerseits eher demotivieren denn einen deutlichen Kompetenzzuwachs als Ergebnis aufweisen und andererseits nur mit einem unvertretbaren Zeitaufwand durchlaufen werden können. Die Perspektive auf einen erfolgreichen Ausbildungsabschlusse stellt aus Sicht vieler behinderter junger Menschen ein erstrebenswertes Ziel dar. Zugleich aber ist diese Perspektive mit einem Zeithorizont verbunden, der ihnen, ohne zwischenzeitliche Rückmeldung und Anerkennung bereits erfolgreich bewältigter Ausbildungsanstrengungen, ein hohes Durchhaltevermögen abverlangt. Die psychische Disposition vieler behinderter junger Menschen zu einer Konzentration der Leistungsbereitschaft auf kurzfristig zu realisierende Ziele steht dem entgegen. Die Zertifizierung einzelner Module verbunden mit einer Anrechnung auf die Fortsetzung der Ausbildung löst die Alles-oder-Nichts-Situation auf, die anderenfalls bei einem vorzeitigen Ausstieg aus der Ausbildung gegeben ist. Wenngleich die Ausstellung des Prüfungszeugnisses nach wie vor ausschließlich nach erfolgreicher Absolvierung aller Prüfungsteile erfolgt, stellt die Möglichkeit zum prozessorientierten Erwerb einzelner Module aus lernpsychologischer Sicht eine deutliche Entlastung für die behinderten jungen Menschen dar (Laur-Ernst, 2000, S. 9). Die Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, ist ein weiteres wichtiges Ziel der Modularisierung von beruflichen Qualifizierungsangeboten. Eine in einem Modul angeeignete und bescheinigte berufliche Handlungskompetenz ermöglicht einen Abgleich mit dem geforderten Kompetenzprofil an dem jeweiligen Arbeitsplatz. Die Umsetzung von modularen Konzepten, denen die oben ausgeführten Grundgedanken zu Grunde liegen, erfolgt auch im Bereich der Benachteiligtenförderung. Einen wesentlichen Impuls erfuhr die Modularisierungsdiskussion dort durch bildungspolitische Überlegungen, die auf eine engere Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitung und einer anschließenden Ausbildung abstellen und im Zuge der jüngsten Novellierung des Berufsbildungsgesetzes in den §§ 1 und 69 Eingang gefunden haben. Als Ziel der Berufsausbildungsvorbereitung wird die Heranführung an einen anerkannten Ausbildungsberuf oder an eine als gleichwertig angesehene Ausbildung benannt. Das geeignete Instrumentarium wird in Qualifizierungsbausteinen gesehen, deren Inhalte einen verbindlichen Bezug zu den in der Ausbildungsordnung des entsprechenden Ausbildungsberufes definierten Anforderungen aufweisen und zu einer Tätigkeit befähigen, die Teil einer anerkannten Ausbildung ist. Die erworbenen Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit sollen durch
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| Teil VI: Schule und Unterricht den Betrieb bzw. den Bildungsträger bescheinigt werden mit der Möglichkeit einer anschließenden Verkürzung der Regelausbildungsdauer (Paulsen, 2003). Im Zeitraum von 1997 bis 2002 erfolgte im Rahmen des Ausbildungskonsenses Nordrhein-Westfalen die Entwicklung und Umsetzung eines Modells zur „Differenzierung der Berufsausbildung“ in einem anerkannten Ausbildungsberuf nach § 25 BBiG i. d. F. vom 14.08.1969 bzw. nach der Handwerksordnung. Die Konzeption sieht vor, dass der junge Mensch im Falle einer Beendigung der Ausbildung vor der Abschlussprüfung einen Qualifikationsnachweis erhält, sofern mindestens zwei Ausbildungsjahre absolviert wurden. Die Bescheinigung wird gemeinsam von Ausbildungsbetrieb und Berufsschule erstellt und enthält für jedes Modul, getrennt voneinander, sowohl Aussagen zu der erworbenen beruflichen Fachkompetenz als auch zu Schlüsselqualifikationen. Die Anrechenbarkeit erworbener beruflicher Handlungskompetenzen bei Wiederaufnahme einer Ausbildung ist gewährleistet (Enggruber, 2002). In die dargestellten modularen Konzepte flossen Erfahrungen aus der 1995 vom Bundesinstitut für Berufsbildung initiierten Modellversuchsreihe „Berufsbegleitende Nachqualifizierung“ ein. Deren Ziel war die Erschließung neuer Wege zum Nachholen von Berufsabschlüssen für an- und ungelernte Beschäftigte. In der Modellversuchsreihe wurden die in unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen erworbenen Module zertifiziert und auf dieser Basis die Zulassung zur Externenprüfung nach dem Berufsbildungsgesetz ermöglicht (Davids, 1998). Die Realisierung der durch die Zertifizierung einzelner Module angestrebten Wirkungen setzt die Transparenz der erworbenen beruflichen Handlungskompetenz für Außenstehende wie Kammern, ausbildende Betriebe oder Betriebe, die bestimmte Kompetenzen nachfragen, voraus. Die Geltung des Berufsprinzips erfordert die Einhaltung der in den geltenden Ausbildungsordnungen festgeschriebenen Qualifizierungsziele ebenso für die Module. Damit ist der Weg für die Sicherung der Grundsätze der Transparenz und Vergleichbarkeit aufgezeigt. Seit Juli 2003 regelt eine Rechtsverordnung den Inhalt der Zertifizierung der Qualifizierungsbausteine gemäß § 69 BBiG sowie das entsprechende Verfahren. Es erfolgt eine Festschreibung des Bezugs der Inhalte der Berufsvorbereitung zu den Inhalten der entsprechenden Ausbildungsordnung. Diese kann auf Antrag durch die zuständige Stelle bestätigt werden (Verordnung über die Bescheinigung von Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit § 3 und § 4). An Zertifikate ist grundsätzlich der Anspruch zu richten, dass die Zuordnung der Module zu den Inhalten der Berufsbildpositionen – in den neugeordneten Berufen werden inzwischen Ausbildungsprofile beschrieben – als Rückgriff auf allgemein anerkannte Standards deutlich hervorgehoben wird. Darüber hinaus stehen die modularen Bildungsangebote in der Ausbildung im Kontext des dualen Systems. Die Einbindung aller relevanten berufsbildungspolitischen Akteure bei der Entwicklung der Module und der Zertifikate gelingt nur durch die Initiierung tragfähiger Verfahren der Zusammenarbeit auf lokaler und regionaler Ebene. Die Akzeptanz der Zertifikate hängt wesentlich von den Verfahren ab, die der Ausstellung vorausgehen. In den bisher vorfindbaren Verfahren der Modulprüfungen wird die Leistungsfeststellung von den ausbildenden Betrieben bzw. den Bildungsträgern verantwortet. Eine Einbeziehung der Prüfungsausschüsse der Kammern in einer zu den Zwischen- oder Abschlussprüfungen analogen Weise wird in den vorhandenen Ansätzen als nicht leistbar eingeschätzt. Eine Ausnahme hinsichtlich dieses Verfahrens bildet der
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Ausbildungskonsens Nordrhein-Westfalen, in dessen Rahmen die Ausstellung des Zertifikats immer durch die Kammer erfolgt. Darin wird ein wesentlicher positiver Effekt in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Bescheinigungen gesehen (Enggruber & Siegler, 2002). Die Dokumentation der einzelnen erworbenen beruflichen Kompetenzen in einem einheitlichen Dokumentationssystem bietet für junge Menschen mit diskontinuierlichen Ausbildungs- und Berufsbiografien eine Möglichkeit, die Schlüssigkeit ihrer langfristigen Aus- und Weiterbildung sowie ihre Kompetenzen nachzuweisen. Als geeignetes Instrumentarium finden in der Berufsvorbereitung, Ausbildung und Nachqualifizierung Qualifizierungspässe Anwendung. Die Qualifizierungspässe dokumentieren neben den erfolgreich bewältigten Modulen die beruflichen Zeugnisse sowie weitere Nachweise wie z. B. über Auslandsaufenthalte. Die Entscheidung über die Wirksamkeit der Zertifikate liegt bei den Anbietern von Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen, d. h. insbesondere bei den Betrieben. Im Hinblick auf die Zertifizierung der Qualifizierungsbausteine ist die Zeitspanne seit Inkrafttreten der Rechtsverordnung für weiter gehende Aussagen zu kurz. Die Dringlichkeit einer Standardisierung der Qualifizierungsbausteine wird jedoch durch die Ergebnisse einer Untersuchung des Bundesinstitutes für Berufsbildung belegt. Die Untersuchungskriterien wurden aus den definierten Anforderungen an Qualifizierungsbausteine abgeleitet. Die Zusammenstellung einer beispielhaften Auswahl der in Einrichtungen der Benachteiligtenförderung vorhandenen Bausteine und Lehrgangsmodelle für die Einbeziehung von Inhalten anerkannter Ausbildungen ließ kein besonderes oder einheitliches Konzept für die Verknüpfung von Berufsvorbereitung und Berufsausbildung erkennen. Nur vereinzelt fanden sich Ansätze, die zur Strukturierung des Qualifizierungsangebots als Orientierungsrahmen auf die Ausbildung bezogene Lernziele oder Berufsbildpositionen berücksichtigten (Seyfried, 2002). Abschließende Aussagen über die Erreichung der mit der Zertifizierung verfolgten Ziele sind auch für das Modellprojekt im Rahmen des Ausbildungskonsenses Nordrhein-Westfalen nicht möglich, denn es „konnte – auch aufgrund der begrenzten Laufzeit – mit dem curricularen Differenzierungsmodell im Ausbildungskonsens NRW die bildungspolitisch bedeutsame Frage nach der Akzeptanz dieses Zertifizierungsansatzes bei den Jugendlichen, bei den relevanten Interessengruppierungen in der Berufsbildungsforschung und -politik sowie auf Seiten der Wirtschaft nicht abschließend geklärt werden“ (Enggruber 2002, S. 14). Hinweise auf die Einschätzung der Betriebe geben die Ergebnisse einer Befragung. Die kleine Stichprobe und „die hohe Zahl der zum Interview nicht bereiten Betriebe verweist auch auf deutliche Akzeptanzprobleme. Bei einer bundesweiten Einführung der Qualifikationsnachweise müssten sie durch eine entsprechende bildungspolitische Unterstützung gelöst werden“ (Holten & Siegler, 2002, S. 103). 27.3.2 Didaktische Überlegungen Die Modularisierung im Rahmen des deutschen Berufskonzepts erfordert über die Strukturierung der Ausbildung hinaus didaktische Entscheidungen auf zwei Ebenen. Zum einen ist die Frage nach dem konkreten Zuschnitt der Module zu beantworten. Zum anderen gilt es die individuelle Lernprozessebene in den Blick zu nehmen. Die Umsetzung der Definition der Module als (angestrebtes) Ergebnis von Qualifizierungsprozessen verweist
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| Teil VI: Schule und Unterricht didaktisch auf berufliche Handlungssituationen, die dem Zuschnitt der Module zu Grunde gelegt werden. Im handwerklichen Bereich findet dabei das Konzept der Auftragstypen Anwendung, während im kaufmännischen Bereich die Handlungssituationen abteilungsorientiert beschrieben werden (Dings & Frese, 2002). Eine fachsystematischen Kriterien unterliegende Gestaltung der Ausbildungsrahmenpläne erfordert einen erheblichen didaktischen Aufwand bei der thematischen Zuordnung einzelner Berufsbildpositionen und deren Inhalten zu den einzelnen Handlungssituationen. Ausbildungsprofile wie sie in den Ausbildungsordnungen der in den letzten Jahren neugeordneten Berufe beschrieben sind, reduzieren diesen didaktischen Aufwand wesentlich. Die Bewältigung der Qualifizierungsanforderungen in den einzelnen Modulen, durch die berufliche Handlungskompetenz erworben wird, erfordert die Untergliederung der Module. Im Zusammenhang mit dem Modulbegriff weist Kloas (1997) darauf hin, dass eine curricular-didaktisch motivierte Untergliederung der Ausbildung zur Verbesserung des individuellen Lernprozesses nicht mit dem Begriff Modul belegt werden sollte. Der Begriff Lerneinheit oder ggf. Baustein sei diesem Sachverhalt angemessen. Die vorfindbaren Konzepte modularen Lernens untergliedern die Module in der Regel in mehrere Bausteine, die einzelnen Lerneinheiten entsprechen. Auf dieser Ebene sind die Fragen der didaktisch-methodischen Gestaltung modularen Lernens zu diskutieren, deren Notwendigkeit Rützel (2000, S. 86) betont: Für die Fragen, ob in der beruflichen Bildung berufliche Handlungskompetenz angeeignet werden kann, ob Schlüsselqualifikationen vermittelt werden können, ob die Bildung aus der Berufsbildung verschwindet und die (berufliche) Identität verloren geht, ist nicht in erster Linie entscheidend, ob es sich um eine Qualifizierung nach dem ‚klassischen‘ Berufskonzept oder nach modularisierten Formen handelt. Viel entscheidender sind die Leitideen und normierenden Prinzipien, an denen sich die didaktisch-methodische Gestaltung orientiert. Die didaktische Diskussion in der beruflichen Bildung behinderter junger Menschen stellt das Konzept der Handlungsorientierung, wenngleich mit durchaus unterschiedlichen Ansätzen und Begründungen, in den Vordergrund. Der teilweise a priori postulierte Gegensatz von handlungsorientierter Ausbildung und einer Konzeption modularen Lernens existiert nicht. Als Beispiel für die Verknüpfung einer modularen Struktur mit einer Bausteinstruktur und deren handlungsorientierten Umsetzung kann die im Berufsbildungswerk Josefsheim Bigge erarbeitete Ausbildungskonzeption dienen (Dings & Frese, 2002). Sowohl den Modulen als auch der handlungsorientierten didaktisch-methodischen Umsetzung in Bausteine (Lerneinheiten) sind Handlungssituationen hinterlegt. Umfangreiche Lernmaterialien auf der Basis eines lern- und handlungspsychologischen Ansatzes liegen inzwischen vor. Die Entscheidung für eine modulare Gestaltung der Ausbildung resultierte aus der Fragestellung, mit welchen Instrumenten den heterogenen Lernvoraussetzungen der Zielgruppe besser entsprochen werden kann als mit den bisherigen Konzepten. Die Ausbildungskonzeption greift die Problematik der äußeren Differenzierung der Auszubildenden durch die Ausbildungsangebote nach § 25 und § 48b BBiG i. d. F. vom 14.08.1969 auf. Die Alternative des Abschlusses im anerkannten Ausbildungsberuf oder nach der so genannten Sonderregelung beschreibt wiederum eine Alles oder NichtsSituation aus Sicht des behinderten Auszubildenden. Leistungsstarken Auszubildenden
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wird der so genannte Durchstieg von der Sonderregelung in die anerkannte Ausbildung in der Regel um den Preis ermöglicht, dass berufliche Handlungskompetenzen, die über die Ausbildung nach § 48b BBiG i. d. F. vom 14.08.1969 hinaus erworben werden, nur im Rahmen einer erfolgreichen Abschlussprüfung im anerkannten Ausbildungsberuf bescheinigt werden. Die Bausteinstruktur der Bigger Ausbildungskonzeption integriert curricular die Ausbildungsinhalte der Ausbildung zum Bürokaufmann und zur Bürokraft. Die höhere berufliche Handlungskompetenz nach Abschluss einer Ausbildung zum Bürokaufmann im Vergleich zur Bürokraft wird durch die zwischen diesen beiden Polen liegenden Bausteine gekennzeichnet. Die modulare Struktur ermöglicht zum einen die (informelle) Zertifizierung der tatsächlich bewältigten Module zur Verbesserung der beruflichen Integrationschancen. Zum anderen gewährleistet die Offenheit des gesamten Lernangebots für alle Auszubildenden – unabhängig von dem zu Beginn der Ausbildung prognostizierten Leistungsvermögen – die Erreichung des individuell höchstmöglichen Qualifikationsniveaus. Im Berufsbildungswerk Neckargemünd wurde diese Ausbildungskonzeption auf die Ausbildung im Elektrobereich transferiert. Das Berufsbildungswerk Hamburg entwickelte im kaufmännischen Bereich die vergleichbare Konzeption „Integrative Ausbildung für Büroberufe“. In der Umsetzung gelingt eine enge Kooperation zwischen Ausbildung und Berufsschule auf der Basis der modularen Struktur. Hinsichtlich der bildungspolitischen Diskussion um den Fortbestand der Regelungen nach § 48b BBiG ist bemerkenswert, dass von 10 Auszubildenden der Lerngruppe Bürokaufleute des Jahres 1998 im Berufsbildungswerk Hamburg sechs entgegen der ursprünglichen Einschätzung den Abschluss im anerkannten Ausbildungsberuf realisieren konnten (Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung, 2002). 27.3.3 Perspektiven modularen Lernens für behinderte junge Menschen Die Qualifizierungsbausteine als Element der Berufsausbildungsvorbereitung in der Benachteiligtenförderung implizieren keine Reduktion auf rein ausbildungsbezogene Inhalte und Ziele, die auch im direkten Widerspruch zu der expliziten pädagogischen Zielsetzung der vorbereitenden Maßnahme stehen würde. Ebenso wie in anderen zielgruppenspezifischen vorberuflichen Maßnahmen steht die umfassende Zielsetzung der Befähigung zu einer Ausbildung im didaktischen Zentrum. Im Bewusstsein der vielfältigen didaktisch-methodischen Gestaltungsmöglichkeiten spricht für eine stärkere Ausrichtung der Förderlehrgänge für behinderte junge Menschen auf Qualifizierungsbausteine, dass die jungen Menschen die Erfahrung angeeigneter Handlungskompetenz in einem abgegrenzten beruflichen Tätigkeitsbereich machen können. Die in den Berufsbildungswerken entwickelten Konzeptionen modularen Lernens zielen primär auf die individuelle Lernprozessebene mit erheblichen Potentialen der Individualisierung der Lernwege mit dem vorrangigen Ziel des Abschlusses nach § 4 BBiG. Den verschiedenenartigen Fähigkeiten und Motivationsstrukturen behinderter junger Menschen entspricht eine Gestaltung der Übergänge zwischen den Alternativen Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen, Förderlehrgang, Ausbildung nach § 66 BBiG und einer Ausbildung nach § 4 BBiG, die sowohl prozessorientiertes Lernen als auch eine gezielte Nutzung unterschiedlicher Lernorte entsprechend der persönlichen Entwicklung der jungen Menschen ermöglicht.
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| Teil VI: Schule und Unterricht Konzeptionen modularen Lernens auf der Basis einer Modulstruktur, Zertifizierung und handlungsorientierten didaktisch-methodischen Gestaltung erweitern die bisherigen Gestaltungsoptionen. Die Kombination der Stärken beruflichen Lernens am Arbeitsplatz unter konkreten Produktionsbedingungen mit Phasen der Ausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen trägt wesentlich zu einer Verbesserung der Perspektive auf eine dauerhafte berufliche Integration bei. Entsprechende rechtliche Voraussetzungen bzw. Vereinbarungen bezeichnen nur einen Teil der Bedingungskonstellation für eine Ausschöpfung aller Potentiale behinderter junger Menschen. Hinzu treten muss die Bereitschaft und Offenheit aller Beteiligten für modulares Lernen. Das gilt nicht allein für Ausbilder und Lehrer, Betriebe und Kammern. Die behinderten jungen Menschen ihrerseits müssen eine Abwägung vornehmen zwischen einer eventuell kurzfristig zu realisierenden Integrationsmöglichkeit in den Arbeitsmarkt im Vergleich zu den Vorteilen einer weiteren Qualifizierung. Diese Entscheidung ist zu treffen vor dem Hintergrund einer zunehmenden Prognoseunsicherheit der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und daraus folgend der Erwerbsbiografien. Die Bewältigung der Unsicherheiten gelingt dem Individuum unter der Voraussetzung einer hohen Antizipationsfähigkeit, einer Voraussetzung, zu deren Einlösung bislang keine befriedigenden Konzepte vorliegen. Bildungs- und Berufswegebegleitung durch kompetente Berater mit einer ausgeprägten Orientierung an den subjektiven Bedürfnissen und Präferenzen der behinderten jungen Menschen und die rechtliche Absicherung von notwendigen finanziellen Förderungen stellen eine unverzichtbare Notwendigkeit dar. In der Konsequenz ist der Stellenwert lebenslangen Lernens stärker in das Bewusstsein zu rufen und die Chancen modularen Lernens durch die Vernetzung der Strukturen mit den Institutionen der Allgemeinbildung und der beruflichen Weiterbildung zu sichern. Die Chancen modularen Lernens werden für behinderte junge Menschen umso eher in vollem Umfang nutzbar, je deutlicher die hierzu notwendigen Entwicklungen und Veränderungsprozesse nicht ausschließlich aus einer behinderungsspezifischen Sicht heraus eingefordert und initiiert werden. In diesem Zusammenhang sind Einflüsse aus der zunehmenden Europäisierung der Berufsbildung mit zu bedenken. Die Implementation modularen Lernens unter Ausschöpfung aller Gestaltungsoptionen erzeugt Wirkungen und damit verbunden Veränderungsdruck in anderen Bereichen. „Die aktuelle Beschränkung des ‚modularisierten Berufskonzepts‘“, schreibt Laur-Ernst (2000, S. 9) „... wird letztlich vor der Regelausbildung nicht Halt machen, zumal ja auch dort bereits durch die Anerkennung/Zertifizierung von Auslandsaufenthalten, Zusatzqualifikationen und Wahlbausteinen das ursprünglich ‚monolithische‘ Verständnis einer Ausbildung ein Stückweit aufgegeben wird.“
Literatur Davids, S. (Hrsg.). (1998). Modul für Modul zum Berufsabschluss. Berufsbegleitende Nachqualifizierung zwischen Flexibilität und Qualitätssicherung. Bundesinstitut für Berufsbildung, Berichte zur beruflichen Bildung (216). Bielefeld: Bertelsmann. Deißinger, T. (2002). Chancen und Risiken einer Modularisierung der Berufsausbildung. In M. Wingens & R. Sackmann (Hrsg.), Bildung und Beruf. Ausbildung und berufsstruktureller Wandel in der Wissensgesellschaft (S. 121-137). Weinheim: Juventa.
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Dings, W. & Frese, A. (2002). Handlungsorientiert ausbilden in einem Bausteinsystem am Beispiel der kaufmännischen Ausbildung. Ein Handbuch für Ausbilder und Ausbilderinnen. Olsberg: Berufsbildungswerk Josefsheim. Enggruber, R. (2002). Zum schnellen Einstieg und besseren Überblick über die Modellprojekte zur Differenzierung der Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher im Ausbildungskonsens NRW. In R. Enggruber (Hrsg.), Differenzierung in der Berufsausbildung für benachteiligte Jugendliche. Abschlussbericht von DIFA, der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte zur Differenzierung der Berufsausbildung im Ausbildungskonsens NRW im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes NRW/Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes NRW (S. 1-14). Verfügbar unter: http://zux6. dvz.fh-duesseldorf.de/difa/difa/abscluss/bericht.pdf [07.10.2003]. Enggruber, R. & Siegler, B. (2000). Zur Diskussion der Qualifizierungsnachweise mit anderen Zertifizierungsansätzen. In R. Enggruber (Hrsg.), Abschlussbericht von DIFA, der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte zur Differenzierung der Berufsausbildung im Ausbildungskonsens NRW (S. 64-85). Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozialpädagogik. Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung. (2002). Integrative Ausbildung für Büroberufe. Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung. Hamburg: Herausgeber. Verfügbar unter: http://www.gab-muenchen.de/downloads/GAB-Integrative_Ausbidung_Buero berufe_ZB.pdf [07.10.2003]. Holten, A. & Siegler, B. (2002). Zur Akzeptanz der Qualifikationsnachweise in den Ausbildungsbetrieben. In R. Enggruber (Hrsg.), Differenzierung in der Berufsausbildung für benachteiligte Jugendliche. Abschlussbericht von DIFA, der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte zur Differenzierung der Berufsausbildung im Ausbildungskonsens NRW im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes NRW/Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes NRW (S. 86-103). Verfügbar unter: http://zux6.dvz.fh-duesseldorf.de/difa/difa/abscluss/bericht.pdf [07.10.2003]. Keune, S. (2003). Verzahnung von Aus- und Weiterbildung durch Qualifizierungsmodule. Berufliche Rehabilitation, 17, 203-210. Kloas, P. W. (1997). Modularisierung in der beruflichen Bildung. Modebegriff, Streitthema oder konstruktiver Ansatz zur Lösung von Zukunftsproblemen? Bundesinstitut für Berufsbildung, Berichte zur beruflichen Bildung (208). Bielefeld: Bertelsmann. Laur-Ernst, U. (2000). Das Berufskonzept – zukunftsfähig – auch für Jugendliche mit schlechten Startchancen. Beitrag zur Dokumentation der Tagung Bedeutung des Berufs für die Jugendberufshilfe und die Benachteiligtenförderung – Beruf als zentrales Moment bildungs- und gesellschaftspolitischer Entwicklung. Bad Boll, 14. – 17. Mai 2000. BIBB: Verfügbar unter: http://www.bibb.de/de/914.htm [25.02.2005]. Paulsen, B. (2003). Benachteiligtenförderung: Schubladen schließen, Anrechenbarkeit sichern! Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 32 (2), 3-4. Rützel, J. (2000). Modularisierung in Aus- und Weiterbildung: Taylorisierung ganzheitlicher Ausbildungsgänge und Auflösung der Berufsbilder? In Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.), Krise und Aufbruch in der beruflichen Bildung. Dokumentation der GEW-Fachtagung am 3./4. Dezember 1999 (S. 68-94). Hamburg: Herausgeber. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen (Hrsg.). (1999). Berliner Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung. Leitlinien zum Ausbau und zur Weiterentwicklung des Dualen Systems. Berlin: Herausgeber. Seyfried, B. (2002). Qualifizierungsbausteine in der Berufsvorbereitung. Bielefeld: Bertelsmann. Verordnung über die Bescheinigung von Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit im Rahmen der Berufsausbildungsvorbereitung – BAVBVO. In BGBl, Teil I, Nr. 36 v. 21. Juli 2003, S. 1472.
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| Teil VI: Schule und Unterricht
27.4 Der Übergang Schule/Beruf Matthias Grünke und Tatjana Leidig 27.4.1 Zur allgemeinen Arbeitsmarktlage Seit mehreren Jahren herrscht in der Bundesrepublik Deutschland eine hohe Erwerbslosigkeit: Rund 5 Millionen Menschen sind derzeit ohne Arbeit (Rudzio, 2005). Hinzu kommt die so genannte stille Reserve, bestehend aus weiteren 3 Millionen Frauen und Männern, die bei besserer Beschäftigungslage eine Arbeitsstelle annehmen würden. Besonders erschreckend ist die hohe Zahl der betroffenen jungen Menschen: Im Jahr 2002 waren im Mittel rund 500.000 Jugendliche unter 25 Jahren als arbeitslos gemeldet (Dietrich, 2003). Dieser Gruppe steht eine vergleichsweise geringe Zahl an offenen Ausbildungsstellen gegenüber. Zudem brechen immer mehr Jugendliche ihre Ausbildung ab (Lutz, 2003). Für die anhaltende Arbeitslosigkeit lassen sich verschiedene Ursachenkomplexe ausmachen. Friedrich und Wiedemeyer (1998) unterscheiden drei zentrale Bedingungen: (1) die konjunkturelle Entwicklung im Kontext schwindender Konsum- und Investitionsgüternachfrage, hoher Staatsverschuldung und des Inflationsgefälles, (2) „gestörte“ Angebotsbedingungen wie hohe Lohn- und Energiekosten sowie kostenwirksame staatliche Interventionen, die zu einer wachstumsdefizitären Arbeitslosigkeit führen und (3) strukturelle Faktoren. Letztere sollen im Folgenden kurz dargestellt werden, da sie im Hinblick auf Menschen mit Förderbedarf im Bereich Lernen eine besondere Rolle spielen (Baudisch, 2003). Strukturelle Arbeitslosigkeit liegt vor, „wenn die am Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen nicht mit der Qualität des Arbeitsangebotes übereinstimmen“ (Friedrich & Wiedemeyer, 1998, S. 102). Einfluss nehmen z. B. demografische Faktoren wie geburtenstarke Jahrgänge, eine hohe Frauenerwerbsquote oder eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die sich in der Größe des Erwerbspersonenpotenzials widerspiegeln. Durch technischen Fortschritt und die damit häufig verbundene Rationalisierung fallen einfache Tätigkeiten zunehmend weg, so dass immer weniger Arbeitsplätze in diesem Bereich vorhanden sind. Ein Teil der Stellen wurde und wird durch die Expansion des Dienstleistungssektors aufgefangen. Allerdings ist zum einen für Arbeitnehmer auf Grund ihres Qualifikationsprofils der Wechsel von einem Sektor zum anderen kaum möglich, zum anderen erfüllt der Dienstleistungssektor die in ihn gesetzten Kompensationshoffnungen nicht in vollem Umfang. Zudem handelt es sich bei vielen Tätigkeiten im Dienstleistungssektor um Niedriglohnjobs. Auch der Informationssektor kann zurzeit – nach einer kurzen Blüte – die in ihn gesetzten Erwartungen bezüglich der Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht erfüllen. Eine weitere wichtige Komponente stellt die Qualifikation der Erwerbstätigen dar: „Unter qualifikatorischen Aspekten ist der Arbeitsmarkt gespalten, da die Nachfrage nach Arbeitsplätzen für weniger Qualifizierte erheblich über dem Angebot liegt“ (Friedrich & Wiedemeyer, 1998, S. 135). Abschließend sind als weiterer Faktor die Folgen bzw. Begleiterscheinungen der Globalisierung zu nennen. Neuen Chancen durch neue Absatzmärkte steht hier ein zunehmender Wettbewerbsdruck auf internationaler Ebene (einschließlich extremer Lohnentwicklungen) gegenüber.
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27.4.2 Zur besonderen Situation lernschwacher Jugendlicher Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen sehen sich beim Übergang von der Schule in die Berufstätigkeit mit besonderen Problemen konfrontiert. Die Segmentierung des Arbeitsmarktes und die technologischen Veränderungen treffen diese Gruppe besonders massiv. Durch den wirtschaftlichen und technischen Wandel sind sowohl die Ausbildungsordnungen als auch die Berufe und Ausübungsformen anspruchsvoller geworden; zudem wird die Konkurrenz um die angebotenen Ausbildungsplätze immer härter (Jeschke, 1997; Lindmeier, 1999). Diejenigen Ausbildungsplätze, die noch vergeben werden, bewegen sich in erster Linie auf einem hohen Qualifizierungsniveau – die Zahl der Ausbildungsberufe mit geringeren theoretischen Anforderungen sinkt vor dem Hintergrund der genannten strukturellen Faktoren der Arbeitslosigkeit beständig (Klattenhoff, 1998). Doch der Abbau von Ausbildungsplätzen für einfachere Tätigkeiten ist nicht die einzige Schwierigkeit, vor der diese Jugendlichen stehen, denn auch die Arbeitsplätze für Un- und Angelernte gehen stetig zurück. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Stellen für diese Personengruppe zwischen den Jahren 2000 und 2010 um etwa 50 % sinkt (Schüssler, Spiess, Wendland & Kukuk, 1999). Diejenigen Jugendlichen, die eine Berufsausbildung – ggf. mit umfangreicher Unterstützung und entsprechenden Förderprogrammen – bewältigen, überwinden jedoch oftmals nicht die zweite Schwelle von der Ausbildung in ein Beschäftigungsverhältnis. Theis-Scholz (1999) konstatiert, dass langfristig mehr als 30 % aller Abgänger der Schule für Lernbehinderte/Lernhilfe arbeitslos bleiben, da sie weder einen adäquaten Ausbildungs-, noch einen entsprechenden Arbeitsplatz erhalten. Neben den genannten Faktoren wird die Situation der Jugendlichen oftmals auch durch die sozioökonomische Randlage der Herkunftsfamilien negativ beeinflusst. In vielen Fällen wird hier wenig Orientierung und Halt geboten, die finanziellen Möglichkeiten einer besonderen Förderung sind in der Regel nicht gegeben. Die Schule bereitet zudem vielfach nicht ausreichend auf den Übergang in die Arbeitswelt vor (Jacobs, 1997). Die Zusammenarbeit von Eltern, Agentur für Arbeit, Schule und weiteren Institutionen ist nicht intensiv genug, so dass viele Potenziale nicht genutzt werden (Jacobs, 1997; Lindmeier, 1999). Eine besondere Problematik liegt in Kompetenzen im Bereich der Kulturtechniken, der Belastungsfähigkeit, des Sozial- und Arbeitsverhaltens, der Motivation, der Entwicklung sowie der so genannten Schlüsselqualifikationen (Duismann, Hasemann, Esser & Meschenmoser, 2002; Jacobs, 1997). Zum einen sind hier vielfach Defizite vorhanden, zum anderen treffen die Jugendlichen – unabhängig von der eigenen Person – auf entsprechende Vorurteile in der Umwelt und bei den potenziellen Arbeitgebern: Sie werden als faul, frech, dumm usw. eingeschätzt, die Bedeutung und die Folgen ihrer Lernbeeinträchtigung sind in der Regel unklar (Jacobs, 1997). 27.4.3 Rechtliche Aspekte der beruflichen Rehabilitation Es ist somit alles andere als einfach, lernbeeinträchtigte Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen auf diese Weise ein eigenständiges sowie wirtschaftlich unabhängiges Leben zu ermöglichen. Um die besonderen Schwierigkeiten dieser und anderer
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| Teil VI: Schule und Unterricht benachteiligter Menschen in dieser Hinsicht zu vermindern, wurden in der Bundesrepublik Deutschland verschiedene gesetzliche Grundlagen geschaffen. Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes schreibt fest: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Bezogen auf die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit wird die Umsetzung dieser Vorgabe durch das dritte (SGB III) und neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) geregelt. § 19 Absatz 1 des SGB III umschreibt den hiervon betroffenen Personenkreis wie folgt: „Behindert ... sind Menschen, deren Aussichten, am Arbeitsleben teilzuhaben oder weiter teilzuhaben, wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung ... nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben benötigen, einschließlich lernbehinderter Menschen.“ In § 2 Absatz 1 des SGB IX wird formuliert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ Beide wenig operationalen und zudem teilweise zirkulären Definitionen lassen einen großen Interpretationsspielraum offen. Die Einschätzung, inwieweit die Beschreibungen auf ein Individuum zutreffen, wird im Falle des § 19 SGB III von den Fachdiensten der Agentur für Arbeit und im Falle des § 2 SGB IX vom Versorgungsamt vorgenommen. Das jeweilige Vorgehen ist hierbei kaum verbindlich festgelegt. Die beiden genannten Gesetzeswerke verfolgen im Wesentlichen zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Ziele: – SGB III: Die betroffenen Menschen sollen (v. a. durch entsprechende Qualifizierung) nach Abschluss ihrer Schulzeit auf eine berufliche Tätigkeit vorbereitet werden und einen Arbeitsplatz finden. In dem Gesetz geht es beispielsweise um Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung an Arbeitgeber, um Leistungen an Träger von beruflichen Rehabilitationseinrichtungen und um ausbildungsbegleitende Hilfen (abH). – SGB IX: Um die Teilhabe der betroffenen Menschen am Erwerbsleben auf Dauer zu sichern, sollen mögliche Nachteile gegenüber Personen ohne Behinderung, denen sie ansonsten im Alltag ausgesetzt wären, ausgeglichen werden. In den Teil 1 des SGB IX wurden die allgemeinen Regelungen zur Rehabilitation aufgenommen, in den Teil 2 das Schwerbehindertengesetz (u. a. regelt dieses beispielsweise die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber, die behinderungsgerechte Ausgestaltung von Arbeitsplätzen, den besonderen Kündigungsschutz usw.). Für die Gruppe der Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, die sich auf ihrem persönlichen Lebensweg zwischen Schule und beruflicher Tätigkeit befinden, ist das SGB III meist relevanter als das SGB IX. Das SGB III behandelt neben der möglichen Gewährung von Leistungen an Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Träger (finanziert aus dem Etat der Bundesagentur für Arbeit) im Übrigen auch Vorgaben zur Ausbildung in staatlich nicht anerkannten Berufen. Kommen die Fachdienste der jeweiligen Agentur für Arbeit bei einem Jugendlichen zu dem Schluss, dass er im Sinne des § 19 des SGB III als behindert anzusehen ist, so darf dieser auch einen der so genannten „reduzierten“ Ausbildungsberufe ergreifen. Diese werden von den jeweiligen Kammern in §§ 48, 48a und 48b des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) und in § 42b bis § 42d der Handwerksordnung
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(HwO) geregelt. Es handelt sich hierbei um Tätigkeiten auf dem Niveau von Helfern oder Werkern (also „Industriefachhelfer“ statt „Industriemechaniker“ oder „Gartenbauwerker“ statt „Gärtner“). Für welche Berufe reduzierte Ausübungsformen bestehen, ist regional unterschiedlich. Bundesweit gibt es derzeit etwa 830 Ausbildungsregelungen, die rund 170 Berufe betreffen. Ein Wechsel von einer „regulären“ Ausbildung in eine mit besonderen Regelungen (oder umgekehrt) ist je nach Leistungsstand möglich (Bundesanstalt für Arbeit, 2002). 27.4.4 Effektive Förderprinzipien Das Kriterium einer erfolgreichen beruflichen Eingliederung ist schwer operationalisierbar: Ist hier eine Festanstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt zum alleinigen Maß der Dinge zu erheben? Sind einfache Anlerntätigkeiten genauso zu bewerten wie höher qualifizierte Aufgaben, die nur nach einer relativ anspruchsvollen Ausbildung ausgeübt werden können? Wie lange muss ein junger Mensch berufstätig gewesen sein, um von einer „gelungenen“ Integration sprechen zu können? Soll nur der jeweilige Status quo oder auch die bisherige berufliche Biografie berücksichtigt werden? Wie ist der Umstand zu gewichten, dass die jeweilige Arbeitsmarktlage (und die damit verbundene Chance auf eine Anstellung oder einen Ausbildungsplatz) u. a. stark von der allgemeinen wirtschaftlichen Situation sowie von regionalen und berufszweigspezifischen Besonderheiten abhängt? Die Tatsache, dass hinsichtlich der Beantwortung dieser (und ähnlicher) Fragen kaum Einigkeit besteht, ist sicherlich zu einem wesentlichen Teil dafür verantwortlich, dass Untersuchungen zum Nutzen unterschiedlicher beruflicher Eingliederungsmaßnahmen ausgesprochen selten sind. Möchte man somit einige Prinzipien formulieren, die für eine erfolgreiche Integration von Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen wesentlich erscheinen, so kann man hierbei nur bedingt auf die Ergebnisse der empirischen Wirksamkeitsforschung zurückgreifen. Die folgenden Grundsätze, die in Anlehnung an Grünke und Ketzinger (2000) formuliert wurden, können jedoch als relativ gut bestätigt angesehen werden: Frühzeitige Heranführung an den ersten Arbeitsmarkt: Als Faustregel gilt: Je eher und intensiver lernbeeinträchtigte junge Menschen mit den betrieblichen Realitäten des ersten Arbeitsmarktes in Kontakt gebracht werden, desto Erfolg versprechender sind die Integrationsbemühungen. Nach Abschluss der Schule sollte der Einstieg in Ausbildung oder Arbeit unmittelbar (oder zumindest so früh wie möglich) erfolgen. Nach einer groß angelegten Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) stellt dies den wichtigsten Prädiktor für einen positiven Verlauf der beruflichen Biografie von bildungsbenachteiligten Jugendlichen dar (Troltsch, Laszlo, Bardeleben & Ulrich, 1999). Individuelle Förderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit: Der Stütz- und Förderunterricht zur Aufarbeitung von Wissenslücken in den Kulturtechniken und von Rückständen im strategischen Lernen sollte mittels effektstarker Trainingsmodule möglichst spezifisch auf den jeweiligen Jugendlichen und dessen berufliche Ambitionen zugeschnitten sein. Fest definierte (und dadurch relativ unflexible) Programme versprechen hingegen weit weniger Erfolg. Im Rahmen einer individualisierten Förderung von 56 Abgängern aus Schulen für Lernbehinderte mittels eines empirisch fundierten Physikcurriculums zur
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| Teil VI: Schule und Unterricht Vorbereitung auf technische Berufe erreichten die Jugendlichen nach nur 14 Einheiten in einem Test zur Erfassung des praktisch-technischen Verständnisses das Niveau von Studierenden der Sonderpädagogik (Masendorf, Lengsdorf & Grünke, 2001). Individuelle Förderung der emotionalen Stabilität: Selbst in Berufsbildungswerken, in denen junge Menschen ihre Ausbildung mit Unterstützung von sonderpädagogisch geschultem Personal im geschützten Rahmen dieser Einrichtung absolvieren können (vgl. 27.4.5.3), sind psychische Probleme und nicht etwa Schwierigkeiten bei der Bewältigung der theoretischen oder praktischen Anforderungen die häufigsten Gründe für einen Ausbildungsabbruch (Wasilewski & Faßmann, 1998). Entsprechend erhöht eine auf die jeweilige Person abgestimmte Förderung der emotionalen Stabilität die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen beruflichen Eingliederung. Nach Abschluss eines ca. 20 Sitzungen umfassenden und in Kleingruppen an der Universität London durchgeführten Trainings nach Maßgabe der kognitiven Verhaltenstherapie konnte fast die Hälfte der knapp 150 als langzeitarbeitslos klassifizierten Probanden nachhaltig in eine Festanstellung vermittelt werden (Proudfoot, Guest, Carson, Dunn & Gray, 1997). Vernetzung von Personen und Institutionen, die am Rehabilitationsprozess beteiligt sind: Schule, Agentur für Arbeit, Berufsschule, Ausbildungswerkstatt und sonstige relevante Einrichtungen müssen ihre Bemühungen gut aufeinander abstimmen, um den ökologischen Übergang in die Arbeitswelt so weit wie möglich abzuflachen. Auch die Eltern oder sonstige Bezugspersonen sind im Regelfall in die Integrationsbemühungen mit einzubeziehen. Isolierte Einzelinitiativen mit jeweils mehr oder weniger unterschiedlichen Zielsetzungen führen für den Jugendlichen oftmals zu Verwirrung und Resignation (Stein, 2004). Kontinuierliche und persönliche Begleitung: An den Übergangsschwellen – insbesondere zwischen Schule und Ausbildung sowie zwischen Ausbildung und Beruf – sind die Jugendlichen weitestgehend auf sich allein gestellt. Meist fehlt eine bekannte und vertraute Ebene als Ausgangsbasis für die gemeinsame Bewältigung der aufkommenden Probleme. Eine feste Bezugsperson, die mit der persönlichen und beruflichen Entwicklung des Jugendlichen vertraut ist und die eben erwähnte Vernetzung koordinieren kann, stellt während dieser Phasen eine entscheidende Hilfe dar (z. B. Goosmann, 1990; vgl. 27.4.5.4). 27.4.5 Überblick über vorhandene Rehabilitationsmaßnahmen Die verschiedenen Maßnahmen zur Abflachung des ökologischen Übergangs zwischen Schule und Beruf sind vielfältig und kaum noch überschaubar. Außerdem unterliegen sie einem häufigen Wandel, so dass es kaum möglich ist, hier ein umfassendes und einigermaßen zeitstabiles Bild zu zeichnen. Wir können uns somit nur auf die momentan aus unserer Sicht wichtigsten Maßnahmen konzentrieren, die sich in Anlehnung an Stein (2004) in folgende vier Gruppen einteilen lassen. 27.4.5.1 Schulische Berufshinführung Im Rahmen einer Berufshinführung gegen Ende der Schulzeit gewinnen in den letzten Jahren neben der Einführung kontinuierlicher Praxistage insbesondere zwei Konzepti-
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onen zunehmend an Bedeutung: Handwerkerklassen und Schülerfirmen. In zahlreichen Sonderschulen für Lernbehinderte werden aktuell Modellversuche durchgeführt und im Sinne einer formativen Evaluation teilweise wissenschaftlich begleitet. Das Modellprojekt „Hand-Werk-Lernen“ (HWL) führen derzeit sechs Kölner Schulen für Lernbehinderte durch (Jung & Meyer, 2003). Es entstand auf der Basis von Erfahrungen zweier Schulen, die seit 1987 mit Handwerkern in schuleigenen Werkstätten arbeiteten. Der Erfolg der Bemühungen zeigte sich insbesondere in der hohen Zahl Jugendlicher, die eine Ausbildung absolvierten oder einer Anlerntätigkeit nachgingen (65 % an Sonderschulen für Lernbehinderte mit, 8 % an Sonderschulen für Lernbehinderte ohne Werkstattunterricht). Das laufende Projekt wird vom Land Nordrhein-Westfalen finanziell unterstützt. Übergeordnete Ziele sind die Förderung der Berufsreife der Schüler sowie die Verbesserung der Chancen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu erhalten. Im Modellprojekt werden ein pädagogisch-organisatorisches Konzept für das Lernen mit Handwerkern sowie eine entsprechende Personalkonzeption entwickelt, die mittelfristig in den Regelbereich der Oberstufe der Sonderschule für Lernbehinderte eingehen sollen. Für den Einsatz von Handwerkern in Schulen sprechen verschiedene Gründe: Neben ihrer – vor allem im Vergleich zu herkömmlichen Lehrern – hohen Fachkompetenz in Bezug auf berufspraktische Tätigkeiten nennen Jung und Meyer (2003) auch die Chance, dass „echte“ Handwerker berufsrelevante Schlüsselqualifikationen besser vermitteln können, da sie die Berufs- und Arbeitswelt authentisch verkörpern. Die von den Handwerkern in die Schule eingebrachte Lebenswirklichkeit stellt eine wichtige Ergänzung zur schulischen Welt dar, „… die den Schülern und Schülerinnen und deren sozialem Umfeld eher entspricht“ (Jung & Meyer, 2003, S. 152). Zudem lässt sich bei den Jugendlichen eine hohe Motivation zur Arbeit mit den Handwerkern feststellen, die u. a. auf die Produktorientierung derselben, die hohe Motivation zur Erstellung eigener Produkte und Werkstücke und die damit verbundene Steigerung des Selbstwertgefühls zurückzuführen ist. In den Projektschulen sind jeweils zwei Handwerker beschäftigt, die zwei unterschiedliche Werkstätten betreuen. Es handelt sich um die Bereiche Holz, Gartenbau, Hauswirtschaft, Metall und Textil. Die hergestellten Produkte und der klassische Unterricht stehen dabei nicht nebeneinander – es findet vielmehr eine enge Abstimmung von Lehrern und Handwerkern statt, durch die eine sinnvolle Verknüpfung von Theorie und Praxis erreicht werden soll. Ergänzt werden die Erfahrungen in den Werkstätten durch weitere Maßnahmen der Berufsorientierung, Praktika und Schülerfirmen. Die Einbindung von Handwerkern in die SfL scheint – so zumindest die bisherigen Ergebnisse – eine Erfolg versprechende Hilfe beim Übergang Schule/Beruf zu sein (Jung & Meyer, 2003). Einzelne Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren lassen sich erst nach der Evaluation der derzeit laufenden Modellprojekte benennen. Schülerfirmen bezeichnen Duismann et al. (2002, S. 5) als „… pädagogisch-schulische Lernarrangements, in denen Mädchen und Jungen die komplexe Struktur von Kleinbetrieben möglichst realitätsnah nachbilden“. Neben der Produktion und dem Verkauf von Gütern fokussieren sie – je nach schulischer Situation und Entwicklungsstand der Schüler – auch Geschäftsführung, Werbung, Kundenkontakte, Einkauf und Buchhaltung. Die Produkte der Schülerfirmen werden z. T. für die Schüler selbst (z. B. Kiosk), z. T. auch für externe Kunden (z. B. Fahrradwerkstatt) hergestellt (Laschkowski, 2003). Ein groß angelegtes Projekt zum Thema Schülerfirmen findet derzeit in Berlin statt: An dem
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| Teil VI: Schule und Unterricht Modellversuch „Netzwerk Berliner Schülerfirmen“, der wissenschaftlich begleitet und evaluiert wird, nehmen 24 Förderschulen teil (Duismann & Adling, 2003). Schülerfirmen wurden in den letzten Jahren vermehrt in der Sonderschule für Lernbehinderte, aber auch in allen anderen Schulformen, aufgebaut. Fundierte Wirksamkeitsstudien fehlen bislang. Die verschiedenen Praxisberichte deuten jedoch darauf hin, dass das Konzept gute Möglichkeiten bietet, die Aneignung personaler und sozialer Kompetenzen mit beruflicher Vorbereitung zu verbinden (Laschkowski, 2003). 27.4.5.2 Außerschulische Berufshinführung Das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) richtet sich an eine sehr breite Zielgruppe, nämlich vor allem an berufsschulpflichtige Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und Abgänger aus Sonderschulen für Lernbehinderte. Hier sollen sie auf die Ausbildung vorbereitet werden, die entsprechende Berufsreife entwickeln, ihre allgemeinen Fähigkeiten zur eigenen Lebensführung steigern und evtl. den Hauptschulabschluss erlangen. Für den Fall einer anschließenden Arbeit ohne Berufsausbildung kann mit dem BVJ zugleich die Berufsschulpflicht erfüllt werden (Baudisch, 2003; Bundesanstalt für Arbeit, 2002). Die Zahl der Jugendlichen im BVJ steigt seit Jahren kontinuierlich an; während sich 1996 noch 65.198 Jugendliche im BVJ befanden, absolvierten es im Jahr 2001 bereits 75.810 junge Menschen (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 1999, 2003). Das BVJ zeichnet sich durch einen überwiegend schulischen Charakter aus und wird in der Regel in einer Berufsschule durchgeführt. Es fließen zwar über 50 % der Zeit in berufsbezogene Praxisanteile wie Praktika und Werkstattarbeiten, aber dennoch erfahren die Jugendlichen das BVJ eher als schulische Maßnahme, da die restliche Zeit vielfach für die Vermittlung allgemein bildender Inhalte genutzt wird (Baudisch, 2003). Da je nach Standort sehr unterschiedliche Konzeptionen des BVJs vorliegen, lassen sich hier keine allgemein gültigen Aussagen bezüglich der Motivation der Schüler und der Wirksamkeit des BVJs tätigen. Das BVJ steht seit Jahren in der Kritik: Auf der einen Seite ermöglicht es eine längere Phase der Berufsorientierung, die insbesondere der persönlichen Reifung der Jugendlichen dient, auf der anderen Seite verstärkt es durch seine Konzeption z. T. schulverweigernde Tendenzen. Der Übergang vom BVJ in Arbeit oder Ausbildung ist zudem nicht unproblematisch, da viele Jugendliche auch danach keine Möglichkeit erhalten, eine Tätigkeit aufzunehmen. Differenzierte Förderung für Schüler mit Förderbedarf im Bereich Lernen ist im BVJ nur eingeschränkt möglich, denn das Personal ist oftmals nicht sonderpädagogisch geschult (Baudisch, 2003). Diejenigen Jugendlichen, die nach dem BVJ eine reguläre Ausbildung absolvieren, stehen in dieser Zeit vor zahlreichen Problemen, die sich auf die Anforderungen innerhalb der Ausbildung, aber auch auf die finanzielle Lage und die Bewältigung der aktuellen Lebenssituation beziehen (Hiller & Friedemann, 1996). Grundsätzlich sind die allgemein bildenden und berufsbildenden Einrichtungen dafür zuständig, die Jugendlichen durch aufeinander aufbauende Stufen der Berufshinführung auf die Einmündung in das Berufsleben vorzubereiten. Gelingt dies nicht, bietet die
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Bundesagentur für Arbeit berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen an (Bundesanstalt für Arbeit, 2002). Im Jahr 2002 unterstützte sie auf diese Weise durchschnittlich 546.000 ausbildungs- und arbeitslose Jugendliche (Dietrich, 2003). Die berufs- bzw. ausbildungsvorbereitenden Maßnahmen der Arbeitsverwaltung dürfen seit September 2004 nur noch in Form eines neuen Fachkonzeptes durchgeführt werden. Die bisherigen Förder- und Grundausbildungslehrgänge existieren nicht mehr. Das neue Modell soll eine individuellere Förder- und Qualifizierungsplanung als bei den vorherigen Ansätzen ermöglichen. Zielgruppe sind „unversorgte“ junge Menschen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (unabhängig von der schulischen Vorbildung). Jugendliche aus der Sonderschule für Lernbehinderte besuchen am Ende Ihrer Schulzeit die Reha-Beratung der Bundesagentur für Arbeit. Dort können Sie zu Anfang September eines jeden Kalenderjahres einer Maßnahme nach dem neuen Fachkonzept zugewiesen werden (Quereinstiege sind nach Absprache möglich). Mit der Durchführung des Modells werden freie oder gemeinnützige Träger (z. B. Internationaler Bund, Kolpingwerk, Christliches Jugenddorf) beauftragt. Ein Einmünden in ein Ausbildungsoder Arbeitsverhältnis ist zu jeder Zeit möglich. Das Fachkonzept besteht aus insgesamt vier Elementen: Eingangsanalyse: Dieser Abschnitt umfasst zwei Wochen und dient der Erhebung von Informationen zu den beruflichen Fähigkeiten und Interessen sowie zu den persönlichen und sozialen Kompetenzen des Jugendlichen. Auch soll ein Einblick in verschiedene Tätigkeitsfelder ermöglicht werden, um die berufliche Orientierung zu erleichtern. Es existieren keine festen und verbindlichen Kriterien zur Durchführung einer Eingangsanalyse. Grundstufe: Die Dauer dieser Phase beträgt maximal sechs Monate. In dieser Zeit soll der Jugendliche zu einer abschließenden Berufswahlentscheidung kommen. In welches Feld hierbei Einblick genommen bzw. welcher Bereich anvisiert werden kann (z. B. Metalltechnik, Verwaltung, Büropraxis, Gartenbau, …), hängt von den Angeboten und Möglichkeiten des jeweiligen Maßnahmenträgers ab. Förderstufe: Konnte ein junger Mensch während der Grundphase nach Auffassung einer zuständigen Beratungsfachkraft der Agentur für Arbeit noch nicht zur Berufsreife geführt bzw. in Ausbildung oder Arbeit vermittelt werden, schließt sich eine so genannte Förderstufe an, die im Regelfall maximal drei Monate umfasst. Hier geht es um eine gezielte und vertiefte Entwicklung beruflicher Grundfertigkeiten für den angestrebten Tätigkeitsbereich. Ist ein Jugendlicher von einem Fachdienst der Agentur für Arbeit gemäß § 19 des SGB III als „behindert“ eingestuft worden, kann sich diese Etappe auch bis auf fünf Monate verlängern. Übergangsqualifizierung: Dieser Abschnitt kann sich zeitlich bis zum Erreichen der Förderhöchstdauer von üblicherweise zehn Monaten erstrecken. Handelt es sich bei der betreffenden Person um einen Jugendlichen, dem ein Behindertenstatus attestiert worden ist, kann sie um einen weiteren Monat ausgedehnt werden. In besonderen Fällen, in denen nach dem Durchlaufen der Grund- und Förderstufe nach Ansicht einer Beratungsfachkraft deutlich geworden ist, dass keine Ausbildung, sondern bestenfalls die Aufnahme einer einfachen Arbeitstätigkeit angestrebt werden kann, ist auch eine Verlängerung der Förderhöchstdauer auf bis zu 18 Monate möglich. Der primäre Zweck der Übergangsqualifizierung besteht in der Verbesserung beruflicher Handlungskompetenzen zur Aufnahme
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| Teil VI: Schule und Unterricht eines Arbeitsverhältnisses. Die Vorbereitung auf eine Ausbildung steht hierbei weniger im Vordergrund als in der Grund- oder Förderstufe. Eine Einmündung in die Phase der Übergangsqualifizierung während der Grund- oder der Förderstufe ist im Übrigen zu jeder Zeit möglich (Bundesagentur für Arbeit, 2004). Problematisch erscheint prinzipiell das Absolvieren verschiedener Angebote der Berufswahlvorbereitung über einen längeren Zeitraum. Es entstehen regelrechte „Maßnahmenkarrieren“ der Jugendlichen, die letztlich nicht in einem festen Beschäftigungsverhältnis, sondern in der Arbeitslosigkeit enden. Die Maßnahmen wirken oftmals nur aufschiebend, sie lösen das Problem der beruflichen Eingliederung bislang nicht (Ehmann, 1999; Hiller, 1998). Auch durch die Einführung des eben skizzierten Fachkonzepts hat sich dies nicht grundlegend geändert. Ungelöst bleibt ebenfalls der Konflikt „… zwischen einer teilnehmerbezogenen Finanzierung zahlreicher Lehrgänge und dem Anliegen einer möglichst frühzeitigen Vermittlung von Schulabgängern in den ersten Arbeitsmarkt“ (Grünke & Castello, 2003, S. 158 f.). 27.4.5.3 Maßnahmenunterstützte Berufsausbildung Je nach individueller Problemlage können Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen ihre Ausbildung in einem der etwa 360 anerkannten Berufe entweder betrieblich oder in einem Berufsbildungswerk (BBW) absolvieren. Die betriebliche Ausbildung dauert drei bis dreieinhalb Jahre und wird im Rahmen des dualen Systems sowohl in einem Betrieb als auch in einer Berufsschule an jeweils eigenständigen Lernorten durchgeführt. Zur Unterstützung lernschwacher Jugendlicher können so genannte ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) gewährt werden. Darunter versteht man die Begleitung (einer betrieblichen Ausbildung) mittels Stützunterricht und sozialpädagogischer Betreuung. Diese Assistenz findet meist außerhalb der betrieblichen Arbeitszeit bei einem so genannten abH-Träger (z. B. Internationaler Bund, Kolpingwerk, Christliches Jugenddorf) statt. Der Unterricht erfolgt in kleinen Gruppen (etwa fünf Teilnehmer), sein zeitlicher Umfang beträgt mindestens drei, höchstens jedoch acht Stunden pro Woche. Kommt die jeweils zuständige Agentur für Arbeit nach einer eingehenden Begutachtung zu dem Schluss, dass ein Jugendlicher trotz abH nicht in der Lage ist, seine Ausbildung in einem Betrieb zu absolvieren, so kann diese auch in einem BBW erfolgen. Es handelt sich hierbei um überregionale Einrichtungen, in der Ausbildungsstätte, (Sonder-)Berufsschule, Wohnmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen und begleitende Reha-Fachdienste im Regelfall unter einem Dach zusammengefasst sind. Die Betreuung durch pädagogisch geschulte Ausbilder, Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte ist recht intensiv, die Kosten für eine Ausbildung in einem BBW sind entsprechend hoch. Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Optionen, wie die Ausbildung in einer sonstigen Reha- oder einer außerbetrieblichen Einrichtung (BaE), um zusätzliche, spezifische Fördermöglichkeiten in Wohnortnähe anzubieten. Unabhängig vom Ort ist es je nach individuellen Voraussetzungen gleichermaßen möglich, eine reduzierte oder eine Vollausbildung zu absolvieren (Bundesanstalt für Arbeit, 2002).
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27.4.5.4 Übergreifende Konzepte Als einer der bislang wenigen Versuche, die Übergangsphase zwischen dem sich abzeichnenden Ende der Schulzeit und der letztendlichen Integration in die Arbeitswelt „aus einer Hand“ zu steuern und zu koordinieren, kann an dieser Stelle das Jobcoaching-Projekt genannt werden. Es handelt sich hierbei um einen zwischen Ende 1999 und Anfang 2003 an der Universität Köln durchgeführten Modellversuch, bei dem die wichtigsten Erkenntnisse zur nachhaltigen beruflichen Integration lernschwacher Schüler in den ersten Arbeitsmarkt in einem Gesamtkonzept vereinigt werden sollten. Er wurde in zeitlich befristetem Rahmen primär durch Gelder aus der Wirtschaft finanziert und von Studierenden und Mitarbeitern der Universitäten Köln und Dortmund durchgeführt. Somit handelt es sich um keine Regelmaßnahme. Die zentralen Kennzeichen des Projekts lassen sich wie folgt beschreiben: Die unmittelbare Betreuung von knapp 200 Absolventen der Sonderschule für Lernbehinderte wurde von etwa 60 speziell geschulten Studierenden des Faches Sonderpädagogik übernommen, die acht bis zehn Stunden pro Woche als studentische Hilfskräfte arbeiteten. Diese Jobcoaches sollten zu zwei bis drei Jugendlichen ein tragfähiges Vertrauensverhältnis aufbauen und ihnen vom Beginn der Abgangsklasse bis etwa ein Jahr nach Ende der Schulzeit als „große Schwester“ bzw. „großer Bruder“ zur Seite stehen. Jobcoach und Schüler entschieden hierbei über eine Zusammenarbeit auf Basis gegenseitiger Sympathie. Die Begleitung beinhaltete die Durchführung diverser Förderprogramme, die Abstimmung der von verschiedenen Seiten initiierten Rehabilitationsbemühungen, das Führen ermutigender Gespräche, die Assistenz bei der Ausbildungs- und Arbeitssuche, die Vermittlung bei Konflikten mit dem jeweiligen Arbeitgeber usw. Je zehn Jobcoaches war ein Sonderpädagoge als Teamleiter zur Unterstützung zugeordnet, mit dem in 14-tägigen Abständen Supervisionstreffen stattfanden. Über häufige Blockpraktika und Werkstatttage sollten die Jugendlichen bereits im letzten Jahr ihrer Schulzeit viele realitätsnahe Erfahrungen auf dem ersten Arbeitsmarkt sammeln und allmählich in einem geeigneten Betrieb Fuß fassen. Damit einher ging eine intensive Phase der beruflichen Orientierung, in der die Schüler sich mit der Hilfe ihres jeweiligen Jobcoaches und der zuständigen Agentur für Arbeit über ihre beruflichen Zielsetzungen und Möglichkeiten klar wurden. Bezogen auf das angestrebte Berufsfeld und die psychosozialen sowie intellektuellen Voraussetzungen erhielten die Jugendlichen einzeln oder in kleinen Gruppen spezifische Trainings (bzw. Trainingsbausteine) zur kognitiven, sozialen und emotionalen Förderung. Besonders häufig kamen hierbei das „Denktraining für Jugendliche“ von Klauer (1993) und das „Training mit Jugendlichen“ zum Aufbau des Arbeits- und Sozialverhaltens von Petermann und Petermann (2003) zur Anwendung. Begleitet wurden die Bemühungen von einer ständigen Evaluation der einzelnen Handlungsschritte (Grünke & Castello, 2003; Grünke & Ketzinger, 2000). Die Idee einer Beteiligung von Senior Consultants (d. h. durch ehemalige Beschäftigte der kooperierenden Betriebe im Ruhestand), die die Jugendlichen an der Schwelle zwischen Beruf und Ausbildung beraten und einweisen sollen, konnte während der abgelaufenen Modellversuchsphase noch nicht realisiert werden. Im Rahmen eines geplanten Folgeprojekts soll dies jedoch geschehen. Diejenigen Programme, deren Wirksamkeit hinsichtlich ihrer unmittelbaren Zielsetzungen (z. B. bessere induktive Denkleistung, höhere berufsbezogene Selbstwirk-
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| Teil VI: Schule und Unterricht samkeitserwartung) kontrolliert überprüft wurde (wie die eben erwähnten Trainings), erwiesen sich allesamt als effektiv. Im Großraum Köln und Dortmund mündeten in den vergangenen Jahren weit weniger als 10 % der Abgänger aus Sonderschulen für Lernbehinderte unmittelbar in den ersten Arbeitsmarkt ein. Bei den Jugendlichen aus dem Jobcoaching-Projekt lag diese Quote hingegen bei über 30 % (Grünke & Viganske, 2004). 27.4.6 Schlussfolgerungen Jugendliche mit Förderbedarf im Bereich Lernen stehen beim Übergang Schule/Beruf vor vielfältigen Problemlagen. Durch die „klassischen“ Strukturen der beruflichen Eingliederung kann zwar nach wie vor ein wesentlicher Teil dieser Personengruppe in Brot und Arbeit gebracht werden, allerdings gelingt dies zusehends schlechter. Sowohl im Bereich der schulischen und außerschulischen Berufshinführung als auch in der maßnahmengestützten Berufsausbildung sind deshalb neue Wege zu gehen. Hier sind insbesondere Konzeptionen gefragt, die möglichst frühzeitig an den ersten Arbeitsmarkt heranführen, die intellektuelle Leistungsfähigkeit sowie die emotionale Stabilität mittels empirisch fundierter Behandlungsformen individuell fördern, eine kontinuierliche Begleitung bieten und eine enge Verzahnung der herkömmlichen Systeme fokussieren. Abgesehen davon sind für gering qualifizierte Menschen neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu eruieren und auf ihre Wirtschaftlichkeit hin zu untersuchen. Von zentraler Bedeutung für eine zukünftig noch wirksamere Förderung ist v. a. auch eine gewissenhafte Evaluation bisheriger Bemühungen und neuer Modellprojekte. Die Implementierung innovativer Rehabilitationswege als reguläre Maßnahmen wird jedoch entscheidend vom Bestand der derzeitigen Strukturen im Bereich der beruflichen Rehabilitation und finanziellen Erwägungen abhängen. Es stellt sich die Frage, ob die Politik bereit ist, in die berufliche Eingliederung junger Menschen mit dem Förderschwerpunkt Lernen zusätzlich zu investieren und bestehende Strukturen ggf. aufzubrechen, um insbesondere übergreifende Konzeptionen, die auch unkonventionelle Kooperationspartner aufweisen, zu ermöglichen.
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27.5 Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement in der beruflichen Rehabilitation Rainer Wetzler Fragen der Organisationsentwicklung und des Qualitätsmanagements in der sozialen Arbeit setzen in der beruflichen Rehabilitation neue Anforderungen, die sich in zwei Richtungen interpretieren lassen. Zum einen wächst bei den Leistungsnachfragern der Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung bei der Auswahl und Gestaltung der Unterstützungs- und Bildungsangebote. Zum anderen verändern die staatlichen Leistungsträger bei knappen finanziellen Ressourcen ihre Finanzierungssysteme und machen gegenüber den Leistungserbringern deutlich, dass verbindliche Vereinbarungen
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über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen abzuschließen sind. Organisations- und Qualitätsentwicklung sollen sicherstellen, dass sich Organisationen inhaltlich, strukturell und prozessorientiert weiterentwickeln und dass die eingesetzten Ressourcen effizient, fachlich begründet und ziel- bzw. adressatenorientiert verwendet werden. Vereinfacht kann die inhaltliche Herausforderung hinsichtlich der Weiterentwicklung von sozialen Organisationen auf vier konkrete und verbindlich zu beantwortende Leitgedanken reduziert werden, die jeder Dienst im Rahmen seiner Planung berücksichtigen muss (vgl. Wetzler, 2003, S. 84 ff.): – Konzeptqualität: „Wir wollen ...“, – Strukturqualität: „Dazu benötigen wir ...“, – Prozessqualität: „Dies erreichen wir durch ...“, – Ergebnisqualität: „Den Erfolg beurteilen wir anhand ...“. Es gibt keinen Königsweg für die Bearbeitung und Umsetzung dieser Leitgedanken, wohl aber Vorgaben, welche Elemente hinsichtlich Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement zu berücksichtigen sind (beispielsweise die sog. DIN ISO-Normenreihe [vgl. 27.5.2.1] oder das EFQM-Modell; vgl. 27.5.2.2). Daneben existieren Systeme, die Organisationen und sozialen Institutionen als Leitfäden dienen können (beispielsweise das MuQ-Modulsystem oder KASSYS für den Bereich der beruflichen Integration; vgl. 27.5.3). In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Beitrag weniger als konkreter Wegweiser in Richtung Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement, sondern vielmehr als Orientierung für soziale Institutionen. Zunächst werden die Hintergründe der Qualitätsdiskussion in der sozialen Arbeit aufgegriffen, die u. a. mit einer Kritik an der wohlfahrtsverbandlich organisierten Leistungserbringung verbunden sind. Anschließend werden aus dem weiten Feld der beruflichen Rehabilitation die Berufsbildungswerke und die Integrationsfachdienste stellvertretend herausgegriffen. Schließlich werden Ableitungen herausgearbeitet, wie Qualitätsmanagement als konstruktives Element der Weiterentwicklung sozialer Organisationen eingesetzt werden kann. 27.5.1 Hintergründe der Qualitätsmanagement-Diskussion Die kritische Auseinandersetzung mit der Organisation und Ausgestaltung der Leistungen im sozialen Bereich korrespondiert mit einer von unterschiedlichen Seiten gestellten Forderung nach den Effekten sozialer Arbeit (s. u. a. die Darstellungen von Beck, 1994; Speck, 1999). Die differenten Erwartungen und Effekte, die mit der Forderung nach Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement-Systemen (QMS) verbunden sind, entsprechen den Interessenlagen zwischen Leistungs- und Rehabilitationsträgern und den Leistungserbringern in den vielfältigen Feldern sozialer Arbeit. Zum einen lässt sich eine Tendenz zur „Wertanalyse“ im sozialen Bereich wie auch die von Fachleuten und staatlichen Instanzen eingeforderte Objektivierung der „Wohlfahrtsproduktion“ konstatieren (vgl. Wendt, 1998). Zum anderen wird von Anbieterseite die fachlich-inhaltliche wie organisationsrelevante Weiterentwicklung der bestehenden Angebote betont und mit der Einführung von Qualitätsmanagement-Systemen und -Verfahren verbunden. Die Ressourcenknappheit der öffentlichen Hand, die vielfach unterstellte Stagnation
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| Teil VI: Schule und Unterricht fachlicher Standards und eine systemische Eigendynamik bei den Produzenten der Wohlfahrt bzw. den Anbietern im Bereich der freien Wohlfahrtspflege (vgl. zur Kritik an den Wohlfahrtsverbänden u. a. Öhlschläger & Brüll, 1993; Seibel, 1992) bedingen einen von vielen Seiten geforderten Strukturwandel bei der Organisation und Umsetzung sozialer Dienstleistungen. Im Vorfeld lief über mehrere Jahre eine Diskussion, die grundsätzlich die Neubewertung des „dualen Verhältnisses“ zwischen Staat und freier Wohlfahrtspflege fordert, welches sich als wenig effektiv und kaum innovativ darstellt und den Kunden wenig Möglichkeiten eröffnet, auf die Angebotsgestaltung Einfluss zu nehmen (vgl. u. a. Öhlschläger & Brüll, 1993; Olivia, Oppl & Schmid, 1991; Prognos AG, 1991; Rauschenbach, Sachße & Olk, 1996; Schmid, 1996; Seibel, 1992). Das 12. Hauptgutachten der Monopolkommission der Bundesregierung von 1998 verweist im Zusammenhang mit der derzeitigen bundesdeutschen Organisation der Wohlfahrtspflege in den Händen der Träger der freien Wohlfahrtspflege auf drei Punkte: – Die Stellung der freien Wohlfahrtspflege im sozialen Versorgungssystem entspricht einer Kartellbildung. – Die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAG FW) ist ein staatlich unterstütztes Kartell. Die Koordination der Leistungen findet abseits der wettbewerblichen Ordnung in einem weitgehend gegen die Konkurrenz abgeschotteten System statt. – Die Steuerbefreiung über den Gemeinnützigkeitsstatus führt zu einer Diskriminierung privat-gewerblicher Anbieter. Diese Kritik ruft nach Veränderungen. Unterstützt wird sie durch Konvergenzbestrebungen im Rahmen einer europäischen Sozialordnung mit dem Trend zu neoliberaler Wirtschaftspraxis. Dahinter verbirgt sich u. a. die Erwartung, dass marktwirtschaftliche Kriterien einerseits zu Einspareffekten führen, andererseits durch Nachfrage- und Kundenorientierung die Angebotsvielfalt erhöhen, was sich positiv auf die Qualität der Dienste auswirkt. Über Chancen und Risiken dieser Entwicklung ist in den vergangenen Jahren häufig publiziert worden. Speck (1999) warnt – stellvertretend für renommierte Vertreter der Behindertenhilfe – eindrücklich vor dem „Primat der Ökonomie“ im sozialen Bereich, andere Autoren geben Hinweise auf Entwicklungspotenziale durch die Einführung von Qualitätsanforderungen (vgl. u. a. Heiner, 1996; Merchel, 2001), wenn bestimmte Regeln zwischen Leistungsanbietern und Leistungsträgern eingehalten werden. Mittlerweile findet man in allen einschlägigen Sozialgesetzen Passagen, die die Begriffe Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit aufgreifen und explizit einfordern. Rechtliche Regelungen finden sich an mehreren Stellen: – Im Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) ist im siebten Kapitel „Beziehungen der Pflegekassen zu den Leistungserbringern“ der vierte Abschnitt mit „Wirtschaftlichkeitsprüfung und Qualitätssicherung“ überschrieben. Konkret wird in § 80 SGB XI auf Grundsätze und Maßstäbe für die Qualität und die Qualitätssicherung der ambulanten und stationären Pflege sowie Verfahren zur Durchführung von Qualitätsprüfungen hingewiesen. – Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) traten mit der Einfügung der §§ 78a ff. (mit Wirkung zum 1. Januar 1999) Regelungen in Kraft, die Voraussetzung für die
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Übernahme der Leistungsentgelte sind. Nach § 78b Abs. 1 SGB VIII sind Vereinbarungen über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungsangebote, differenzierte Entgelte für die Leistungsangebote sowie Grundsätze und Maßstäbe für die Bewertung der Qualität der Leistungsangebote zu treffen. – Im Bundessozialhilfegesetz sind für den Bereich der Eingliederungshilfe Vereinbarungen über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen zu finden (BSHG § 93 und 93a). – Im Arbeitsförderungsgesetz (SGB III) wird in § 86 die Qualitätsprüfung geregelt. – Im Rahmenvertrag über die Zusammenarbeit zwischen Rehabilitationsträgern und Berufsbildungswerken (1999) verpflichten sich diese auf die von den Rehabilitationsträgern definierten Qualitätsgrundsätze. Ferner wird die Möglichkeit zur Qualitätsprüfung eröffnet. Darüber hinaus gibt es in weiteren Feldern sozialer Arbeit formulierte Empfehlungen zu Qualitätsstandards, die durch Modellprojekte erprobt und eingeführt sind, wie z. B. die Einführung eines Modulsystems zum umfassenden Qualitätsmanagement (MuQ; vgl. 27.5.3) in Fachdiensten zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung (vgl. Bungart, Supe & Willems, 2001a, 2001b) oder Planungs- und Gestaltungshilfen zum Prozess der Qualitätsentwicklung in der Frühförderung (vgl. Korsten & Wansing, 2000). Die Diskussion um Qualität, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement hat, wie bereits angedeutet, mehrere Facetten und ist mit unterschiedlichen Erwartungen an die Akteure verbunden. Einerseits geht es um Reformen und Anpassungen sozialstaatlicher Interessenlagen, andererseits um die Reorganisation und Innovation auf Anbieterseite. Folgende Erwartungshaltungen finden sich: – Qualitätsmanagement zur Ökonomisierung und Rationalisierung sozialer Arbeit, – Qualitätsmanagement zur Reorganisation sozialer Organisationen, – Qualitätsmanagement als Planungsinstrumentarium zur verlässlichen Erbringung sozialer Dienstleistungen, – Qualitätsmanagement zur Weiterentwicklung sozialer Dienstleistungen.
27.5.2 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Berufsbildungswerken Berufsbildungswerke haben den Auftrag, die berufliche und soziale Rehabilitation junger Erwachsener mit Behinderung für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten und die Betroffenen nach einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme in diesen zu integrieren. Diese Grundausrichtung beruflicher wie auch sozialer Rehabilitation erfordert naturgemäß von diesen Rehabilitationseinrichtungen die Nähe zu und die Kooperation mit Gewerbe und Industrie als Verhandlungspartnern und potenziellen Abnehmern für die Abgänger von Berufsbildungswerken. Qualitätsanstrengungen im Rahmen der DIN ISO (vgl. 27.5.2.1) oder im Kontext der EFQM (vgl. 27.5.2.2) sind somit seit längerem in Berufsbildungswerken bekannt und Berührungsängste sind wenig
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| Teil VI: Schule und Unterricht ausgeprägt. Grundsätzlich sind Qualitätsfragen in Berufsbildungswerken im Rahmenvertrag mit Wirkung zum 1. Januar 1999 geregelt, der die Zusammenarbeit zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke regelt (vgl. Rahmenvertrag, 1999, S. 337 ff.). Hier werden u. a. folgende Punkte verbindlich eingefordert bzw. geregelt: – Die Leistungsbeschreibung des Berufsbildungswerkes mit einer Entsprechung zum individuellen Förderbedarf ist notwendig. Im Kontext von Leistungsbeschreibungen sind Leitziele und Grundsätze der Arbeit zu formulieren, die Ziele und Aufgaben der beruflichen und sozialen Rehabilitation zu konkretisieren und in eine Konzeption zu fassen. Die Konzeption spezifiziert das Rehabilitationskonzept wie auch die Bildungsangebote. Ferner sind in der Leistungsbeschreibung die Infrastruktur (Personal- und Sachausstattung) sowie die Aufbau- und Ablauforganisation in Zusammenhang mit einem schlüssigen Qualitätskonzept darzulegen. – Die Beschreibung der Qualitätsanforderungen an Strukturen, Prozesse und Leitung in Berufsbildungswerken ist zu gewährleisten. – Die Elemente einer Prüfvereinbarung, die sowohl Ergebnisdarstellung (Erfolgsbeobachtung durch Statistiken und Nachbefragungen) als auch Evaluation beinhalten, sind obligatorische Kenngrößen der Leistungsqualität und Akzeptanz der Leistungen. Die Forderung nach Qualitätsmanagement-Systemen wurde vom Gesetzgeber mit der Einführung des SGB IX (§ 20 Abs. 2) untermauert und konkretisiert, indem die Leistungserbringung durch ein zielgerichtetes und systematisches Verfahren gewährleistet wird und kontinuierlich verbessert werden soll. Die Umsetzungspraxis in Berufsbildungswerken folgt keinem einheitlichen Schema. Einige Werke orientieren sich an der bereits genannten DIN EN ISO 9001:2000 und sind teilweise zertifiziert, andere wenden die EFQM-Methode an. Schließlich arbeiten einige Werke mit dem „Arbeitbuch zur Qualitätssicherung in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation“, das 1996 von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke herausgegeben wurde (vgl. Denninghaus, 2002, 206 f.; Schopf, 1996). Auf diese drei Modelle von Qualitätsmanagement wird nachfolgend eingegangen. 27.5.2.1 Deutsche und internationale Normen Die systematische Auseinandersetzung mit Qualität und Qualitätsnormen begann 1980 mit der Gründung des Technischen Komitees ISO/TC 176. Im Jahre 1987 wurden die ersten Normentwürfe der DIN ISO 9000 ff verabschiedet, die durch die Veränderungen im Produkthaftungsgesetz 1990 notwendig erschienen. 1993 kam es dann zur Überarbeitung der Normenreihe DIN EN ISO 9000-9004 und schließlich zu deren Novellierung im Dezember 2000 durch die Verabschiedung der DIN EN ISO 9001:2000 und 9004:2000 (DIN steht für Deutsches Institut für Normung e. V., EN für Europäische Norm und ISO für International Organization for Standardization). Die DIN EN ISO 9000 ff:1994 besteht aus fünf Teilen, wobei die DIN EN ISO 9001:1994 als Leitfaden für die zertifizierbaren Normen 9001, 9002 und 9003 dient. Sie gibt eine Anleitung zur Anwendung einer geeigneten Methode für Qualitätsmanagement
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und enthält Informationen, welche der zertifizierbaren Normen für das jeweilige Unternehmen zweckmäßig ist. Die DIN EN ISO 9004:1994 enthält detaillierte Vorschläge und Ansätze für die Weiterentwicklung eines Qualitätsmanagement-Systems (QMS). Der Aufbau der zertifizierbaren DIN EN ISO 9001 ff:1994 hat 20 Elemente (z. B. die Elemente Verantwortung der Leitung, Vertragsprüfung, Designlenkung, Beschaffung usw.), wobei gerade diese starre Ordnung vielen Unternehmen Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung bereitete. Mit der Neugestaltung der Norm wurde der Fokus insbesondere auf die Prozessorientierung gelenkt. Wichtige Modifikationen sind ferner die Betonung der Kunden- und Mitarbeiterorientierung. Die alten Normforderungen mit ihren 20 Elementen bleiben jedoch weitgehend in der DIN EN ISO 9001:2000 enthalten. Die in der neuen Norm verankerten Grundsätze gehen davon aus, dass das erfolgreiche Führen und Betreiben einer Organisation ein systematisches und wahrnehmbares Management erfordert. Der Weg zum nachhaltigen Erfolg einer Organisation führt über die Einführung und Erhaltung eines Qualitätsmanagement-Systems, das auf ständige Leistungsverbesserung ausgerichtet ist, indem es die Bedürfnisse aller interessierten Parteien berücksichtigt. Eine Organisation zu leiten umfasst neben betriebswirtschaftlichen Anteilen ein Qualitätsmanagement, wobei sich in dieser Konstruktion das Begriffspaar Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement auflöst und zu einer umfassenden und ständigen Qualitätsstrategie (auch Total Quality Management – TQM) wird. Um die Tendenz eines TQM stärker zu betonen, wurden innerhalb der DIN EN ISO 9001:2000 acht Grundsätze des Qualitätsmanagements aufgestellt, die der Verbesserung der Leistungsfähigkeit einer Organisation dienen: – Kundenorientierte Organisation: Organisationen brauchen ihre Kunden. Sie sollten daher deren jetzige und künftige Bedürfnisse erfassen, Kundenforderungen erfüllen und danach streben, die Erwartungen ihrer Kunden zu übertreffen. – Führungsstärke: Führungskräfte entscheiden über die inhaltliche Zielsetzung, die Richtung und das interne Umfeld der Organisation. Sie schaffen die Umgebung, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich voll und ganz für die Erreichung der Ziele der Organisation einsetzen. – Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen auf allen Ebenen das Wesen einer Organisation aus und ihre vollständige Einbeziehung gestattet die Nutzung ihrer Fähigkeiten zum Nutzen der Organisation. – Prozessorientiertes Herangehen: Das gewünschte Ergebnis lässt sich auf effizientere Weise erreichen, wenn zusammengehörige Mittel und Tätigkeiten als Prozess geleitet werden. – Systemorientierter Managementansatz: Das Erkennen, Begreifen und Führen eines Systems miteinander in Wechselbeziehung stehender Prozesse für ein gegebenes Ziel trägt zur Wirksamkeit und Effizienz der Organisation bei. – Ständige Verbesserung: Ständige Verbesserung ist ein permanentes Ziel der Organisation. – Sachkundiges Herangehen an Entscheidungen: Wirksame Entscheidungen beruhen auf der logischen und intuitiven Analyse von Daten und Informationen. – Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen.
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| Teil VI: Schule und Unterricht 27.5.2.2 European Foundation for Quality Management Neben der DIN EN ISO muss das Modell der European Foundation for Quality Management (EFQM) erwähnt werden. Es setzt bei der Einführung und Entwicklung von Qualität auf Fakten und Faktenprüfung: „Management by facts“ lautet das zentrale Prinzip. Die EFQM wurde 1989 von einigen Unternehmen gegründet mit dem Ziel, die europäische Wettbewerbskraft zu stärken. Seit 1992 gibt es daran anknüpfend einen europäischen Qualitätspreis (European Quality Award). Dieser stützt sich auf ein Grundmodell von neun Bewertungsbereichen (Befähiger-Kriterien und Ergebnis-Kriterien), nach denen eine Organisation beurteilt wird. Jeder dieser Bewertungsbereiche wird mit einer Punktzahl gewichtet. Das EFQM-Modell ist ein offen gehaltenes Rahmenkonzept, welches dazu dient, den Fortschritt einer Organisation bei der Entwicklung eines umfassenden Qualitätsmanagements zu ermitteln. Es gibt allerdings auch hier keinen Königsweg, sondern viele spezifische Wege zur Qualität. Die Bewertungsbereiche werden in sogenannte „Befähiger“ und „Ergebnisse“ aufgeteilt. Bei Befähiger-Kriterien geht es darum, wie eine Organisation ihre Hauptaktivitäten ausführt: – Führung: Wie regen Verhalten und Handlungen des Führungsteams eine Kultur des umfassenden Qualitätsmanagements an, unterstützen und fördern diese? – Politik und Strategieplanung: Wie wird in der Organisation die Politik und Strategie formuliert, operativ umgesetzt und überprüft? – Mitarbeiterorientierung: Wie setzt die Organisation das gesamte Potenzial der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter frei? – Ressourcenmanagement: Wie effizient und effektiv setzt die Organisation die Ressourcen ein? – Prozesse: Wie identifiziert die Organisation ihre Prozesse, überprüft und verbessert diese? Die Ergebnis-Kriterien beschäftigen sich mit den erzielten Ergebnissen, also damit, was eine Organisation erreicht hat. Hierzu gehören folgende Bereiche: – Kundenzufriedenheit: Was leistet die Organisation in Hinblick auf die Zufriedenheit ihrer Kunden? – Mitarbeiterzufriedenheit: Was leistet die Organisation in Hinblick auf die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? – Auswirkungen auf die Gesellschaft: Umgang mit Umwelt, Erhalt von Ressourcen, Beziehung zu anderen Organisationen im Umfeld usw. – Geschäftsergebnisse: Was erreicht die Organisation an Ergebnissen im Vergleich mit den Zielen? Entscheidend ist, dass sich jegliche Bewertung im Rahmen einer Einschätzung auf systematische Faktensammlung und -dokumentation und nicht auf subjektive Meinungen stützt. Bei der Selbstbewertung sind Fragen wie diese zu beantworten: – Wo liegen die Stärken, die sich mit Hilfe bestehender Prozesse aufbauen und erhalten lassen? – Wo liegen die Stärken, die noch weiterzuentwickeln sind? – Welche Verbesserungsbereiche wurden identifiziert und als entscheidende Bereiche erkannt?
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– Wie soll der Fortschritt im Hinblick auf die vereinbarten Verbesserungsmaßnahmen kontrolliert werden? 27.5.2.3 Systematisches Qualitätsmanagement Ein drittes Modell des Qualitätsmanagements in Berufsbildungswerken wird durch das sog. „Systematische Qualitätsmanagement (SQM)“ repräsentiert, ein „Arbeitsbuch zur Qualitätssicherung in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation“ (Schopf, 1996). In fünf Hauptkapiteln werden zentrale Fragen aufgeworfen: Was bedeutet Qualität in der beruflichen Rehabilitation? Wie kann diese systematisch gewährleistet werden? Welche Wege sind bei der Einführung zu beschreiten und welche Methoden sind einzusetzen? Das Arbeitsbuch folgt einem festen Schema, das durch das nachfolgende Beispiel verdeutlicht werden kann: – Prinzipien/These: Die Verantwortung gegenüber behinderten jungen Menschen und der Gesellschaft erfordert eine hohe Leistungsqualität. – Beispiele/Begründungen: Dafür ist es notwendig, die Angebote laufend weiter zu entwickeln und die Fachlichkeit den neuesten Erkenntnissen anzupassen. – Querverweise/konkrete Schritte: Unter anderem ist ein Leitbild zu erstellen und eine Leitbilddiskussion zu führen; interne Ziele sind zu definieren und mit angemessenen Methoden zu konkretisieren. Die drei genannten Modelle, die konkurrierend oder auch ergänzend in Berufsbildungswerken zur Weiterentwicklung der Organisation und zur Gewährleistung der Qualität eingesetzt werden, sind Handlungsleitlinien mit empfehlendem Charakter, die spezifisch und situationsadäquat angewandt werden müssen. Sie stellen lediglich den Rahmen, den es bei der Einführung von Qualitätsmanagement und ggf. bei der Reorganisation der Institution zu berücksichtigen gilt. Die spezifische Entwicklung und Ausgestaltung eines Qualitätsmanagement-Systems bleibt die Herausforderung an Berufsbildungswerke und der dort agierenden Personen und Gruppen. Die Modelle sind geeignet, die im Rahmenvertrag genannten Elemente (Leistungsbeschreibung, Beschreibung der Qualitätsanforderungen und Prüfvereinbarung) zu erfüllen. 27.5.3 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Integrationsfachdiensten Einen weiteren Zweig beruflicher Rehabilitation, der hier beispielhaft aufzugreifen ist, bilden die sog. Integrationsfachdienste (IFD), die nach § 109 SGB IX im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit, der Rehabilitationsträger und der Integrationsämter an der Durchführung der „Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben“ beteiligt werden. Nach § 111 Abs. 4 SGB IX und auf der Grundlage von bundesweiten Mustervereinbarungen ist geboten, dass zwischen Trägern und Auftraggebern der Integrationsfachdienste u. a. Elemente zur Qualitätssicherung und Ergebnisbeobachtung abgestimmt und vertraglich geregelt werden. Aus diesen Vorgaben entwickelten sich in
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| Teil VI: Schule und Unterricht verschiedenen Bundesländern Qualitätsmanagement-Richtlinien, die für Integrationsfachdienste verbindlich sind. In Nordrhein-Westfalen etablierte sich beispielsweise ein Richtlinienpaket entlang der geläufigen Unterteilung in Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (wie von Donabedian 1980 und 1982 vorgestellt). Im Rahmen der Strukturqualität benennen die Richtlinien die sächliche und räumliche Ausstattung, die Erreichbarkeit, das äußere Erscheinungsbild des IFD, die Einbindung in regionale Strukturen und die ausreichende fachliche Kompetenz des IFD. Für die Prozessorientierung werden bestimmte Phasen der Integrationsarbeit in einer Prozesskette gefordert, beginnend mit einer Phase 0 bzw. der Einschaltung des IFD, einer Phase 1 (Betreuungsaufnahme, Klärung der Eignung, Zielvereinbarungen), einer Phase 2, die die Durchführung der Integrationsmaßnahmen und die Platzierung des Klienten/der Klientin auf dem Arbeitsmarkt strukturiert. Schließlich wird in einer Phase 3 die Stabilisierung und Nachbetreuung konkretisiert. Diese Phasen werden in einer konkreten Prozesskette und über Einzeletappen innerhalb der Prozesskette reglementiert (vgl. Schartmann & Seel, 2003, S. 28). Die Qualitätsmanagement-Richtlinien beanspruchen nicht die Komplexität von Qualitätsmanagement-Systemen, sondern sind stärker praktikable Vorgaben für u. a. Zielvereinbarungen zwischen IFD und den jeweiligen Leistungsträgern. Für den Bereich der Integrationsfachdienste werden i. d. R. zwei Qualitätsmanagement-Systeme genannt: einerseits das System KASSYS (Kasseler Systemhaus – Referenzmodell zur psychosozialen Betreuung nach SGB IX; vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, 2002), andererseits das System MuQ (Modulsystem umfassendes Qualitätsmanagement für Integrationsfachdienste; vgl. Bungart, Supe & Willems, 2001b). Während das umfassende System KASSYS aus Platzgründen an dieser Stelle nicht näher erläutert werden soll, wird das im Auftrag der Integrationsämter Köln und Münster und dem Ministerium für Arbeit und Soziales NRW entwickelte Modulsystem umfassendes Qualitätsmanagement für Integrationsfachdienste (MuQ) im Folgenden kurz dargestellt. MuQ gliedert sich in Basismodule, Arbeitsstandardmodule und Rahmenmodule. Die Basismodule unterteilen sich in den Bereich Leitbild mit Aussagen über Ausgangsbedingungen und Selbstbild des Dienstes bzw. allgemeine Grundsätze. Ferner werden im Basismodul „arbeitsleitende Prinzipien“ als erste Konkretisierungen des Leitbildes aufgezeigt. Arbeitsleitende Prinzipien sind z. B. die kontinuierliche Abstimmung mit den Nutzerinnen und Nutzern und die Berücksichtigung individueller Präferenzen, um selbständiges Handeln zu fördern und zu berücksichtigen. Die Arbeitsstandardmodule beinhalten Aussagen zu Leistungszielen, Handlungsleitlinien und Verfahren zur Überprüfung der Zielerreichung (diese Aufteilung korrespondiert mit der Unterteilung in Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität; vgl. Donabedian, 1980, 1982). Die Arbeitsstandards beziehen sich auf vier elementare Arbeitsfelder innerhalb der Integrationsbegleitung: – Arbeitsfeld I: Aufnahme und Klärung der Ausgangssituation. Leistungsziele sind hier ein niederschwelliger Zugang zum Fachdienst, die Abklärung von Perspektiven, die Gestaltung einer professionellen Beziehung zwischen den Nutzern und die Erstellung eines individuellen Integrationsplans. – Arbeitsfeld II: Akquisition von Betrieben mit geeigneten Ausbildungsplätzen. Leistungsziele sind in diesem Fall die Zusammenschau geeigneter Betriebe und geeigneter Arbeitsplätze und die Kontaktpflege zu kooperationswilligen Betrieben.
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– Arbeitsfeld III: Vorbereitung der Arbeitsaufnahme und der betrieblichen Integration. Leistungsziele sind die individuelle Vorbereitung der Arbeitsaufnahme, die Sicherstellung der individuellen Passung zwischen den Fähigkeiten des Nutzers/der Nutzerin und den Anforderungen des Betriebes und die Vorbereitung auf die soziale Integration. – Arbeitsfeld IV: Krisenintervention, Stabilisierung und nachgehende Begleitung, die insbesondere die Ablösungsprozesse vom Integrationsfachdienst berücksichtigen soll (siehe in dem Zusammenhang Bungart, 2003). Mit dem System MuQ und einem entsprechenden Handbuch (vgl. Bungart, Supe & Willems, 2001a) wurde eine fachlich fundierte Arbeitshilfe geschaffen, die sowohl den gesetzlichen Rahmenvorgaben entspricht als auch auf umfassende Konzepte wie DIN ISO oder EFQM übertragbar ist. Wie bereits in Abschnitt 27.5.2 herausgestellt, beinhalten die Systeme und Methoden im Kontext von Qualitätsmanagement für Integrationsfachdienste lediglich Anhaltspunkte, die je Organisation spezifisch und situationsadäquat umzusetzen sind. Die konkrete Ausgestaltung wird zwar gesteuert durch Richtlinien und Zielvereinbarungen, die Entwicklung und Ausgestaltung eines Qualitätsmanagement-Systems bleibt jedoch als „Kerneraufgabe“ den Integrationsfachdiensten vorbehalten. 27.5.4 Ableitungen und Ausblick Die häufig gestellte Frage nach der Notwendigkeit der Debatte um Qualität, Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement (zur begrifflichen Differenzierung vgl. Wetzler, 2003, S. 33) im Kontext sozialer Arbeit stellt sich nicht mehr. Mit den aufgezeigten Mechanismen einer durch Gesetze geregelten neuen vertragsrechtlichen Beziehung zwischen Dienstleistungserbringern und öffentlichen Leistungsträgern vollzieht sich ein Transformationsprozess vom „traditionell subsidiären Leistungserbringer zum (Sozial-)Unternehmen“ (Wohlfahrt, 2003, S. 15). Organisationen im Kontext von Wohlfahrtsproduktion müssen Strategien eines Qualitätsmanagements entwickeln, die in der Regel zu Reorganisation und Organisationsentwicklung im Sinne einer ganzheitlichen Qualitätsoffensive führen. Punktuelle Maßnahmen der Qualitätssicherung sind halbherzige Offerten, die den gesetzten Erwartungen an die Organisationen sozialer Dienstleistungen nicht mehr genügen. Entsprechend verschmelzen hier Ansätze von Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement mit der konsequenten Einführung umfassender Qualitätsmanagement-Systeme. Vielfach erfolgt der Rückgriff auf Systeme aus dem industriellen Kontext (wie DIN EN ISO 9001 und 9004:2000 oder EFQM) oder auf angepasste Systeme wie KASSYS bzw. MuQ, die in der beruflichen Integrationsarbeit von Bedeutung sind. In Anlehnung an Bungart (2003, S. 3 f.) lassen sich für soziale Dienstleistungen u. a. folgende Anforderungen an Qualitätsmanagement-Systeme ableiten: – Ressourcenorientierung: ausreichende Ressourcen zur Einführung und Durchführung von Qualitätsmanagement bei gleichzeitiger Abwägung von Aufwand und Nutzen, z. B. hinsichtlich der Dokumentationsanforderungen, – Weiterentwicklung eigener fachlicher Modelle, die sich nicht in betriebswirtschaftlichen Modellen und Denkweisen erschöpfen,
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| Teil VI: Schule und Unterricht – multiperspektivischer Ansatz, der die Erwartungen aller Akteure berücksichtigt, – multidimensionaler Ansatz hinsichtlich der Einbeziehung mehrerer Faktoren bei der Erfolgsbemessung, – kontinuierliche Anwendung und Umsetzung von Qualitätsmanagement-Systemen. Bei der Untersuchung von Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe über den aktuellen Stand der Qualitätsmanagement-Systeme wurden einerseits weitreichende Aktivitäten beobachtet, andererseits ist auf Schwachstellen hinzuweisen, die auch für die Qualitätsfragen in der beruflichen Rehabilitation relevant sind (zu den Empfehlungen für Wohneinrichtungen vgl. Wetzler, 2003, S. 82 ff.): – Qualitätsmanagement (in Wohneinrichtungen) greift derzeit vorrangig auf der strukturierenden Ebene. Bei der Auseinandersetzung mit Prozessqualität geht es stärker um die Beschreibung standardisierter Prozesse, weniger um die Prozessqualität im Sinne eines permanenten Aushandlungsprozesses zwischen Nutzer/Nutzerin und dem fachlich-pädagogischen Ansatz (Stichwort: prozessorientierte Qualität im interaktiven Bereich). – Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen braucht – anders als im industriellen Kontext – die Ebene „Konzeptqualität“. Diese Konzeptqualität muss den akzeptierten Ebenen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität vorgeschaltet werden und beinhaltet bspw. Grundaussagen über das Menschenbild (Akzeptanz von Differenz), eine ethisch-religiöse Fundierung, Qualitätsstandards oder konzeptionelle Leitlinien. – Verfahren zur Erfassung einer (multidimensionalen) Ergebnisqualität sind weiter zu entwickeln und dürfen sich nicht in der Erfassung „harter“ Ergebnisdaten erschöpfen. – Qualitätsmanagement braucht Informationsmanagement und die Einbeziehung aller relevanten Gruppen. Die derzeitigen Anstrengungen in Einrichtungen der beruflichen und sozialen Rehabilitation sind hoffnungsvolle Ansätze, die aktuelle und unabdingbare Forderung nach Qualitätsmanagement konstruktiv aufzugreifen und zu interpretieren. Die konsequente Fortsetzung dieses Weges wird der sozialen Arbeit den Stellenwert in unserer Gesellschaft sichern, der ihr auf Grund ihres Beitrags zum Gemeinwohl zusteht. Dies gilt in besonderer Weise für benachteiligte Jugendliche, die besonderen Förderbedarf im Bereich des Lernens aufweisen, auch und gerade im Bereich des Erwerbs notwendiger beruflicher Qualifikationen.
Literatur Beck, I. (1994). Neuorientierung in der Organisation pädagogisch-sozialer Dienstleistungen für behinderte Menschen: Zielperspektiven und Bewertungsfragen. Frankfurt: Peter Lang. Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen. (Hrsg.). (2002). Kasseler Systemhaus – Referenzhaus zur psychosozialen Betreuung nach SGB IX – KASSYS (2. Aufl.). Verfügbar unter: www.integrationsaemter.de/webcom/show_download.php?wc_ c=534&wc_lkm=699 [17.10.2003].
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Bungart, J. (2003). Konzepte und Verfahren der Qualitätssicherung. Impulse, 8 (26), 1-4. Bungart, J., Supe, V. & Willems, P. (2001a). Handbuch zum Qualitätsmanagement in Integrationsfachdiensten. Münster: Burlage. Bungart, J., Supe, V. & Willems, P. (2001b). Qualitätssicherung und -entwicklung in Integrationsfachdiensten. Münster: Burlage. Denninghaus, E. (2002). Qualitätssicherung und -entwicklung in Berufbildungswerken – Einrichtungen machen sich auf den Weg. Blind-sehbehindert, 122, 206-214. Donabedian, A. (1980). The definition of quality and approaches to its assessment. Chicago, IL: Health Administration Press. Donabedian, A. (1982). An exploration of structure, process, and outcome as approaches to quality assessment. In H.-K. Selbmann & K. K. Überla (Eds.), Quality assessment in medical care, (S. 69-92). Gerlingen: Herausgeber. Heiner, M. (Hrsg.). (1996). Qualitätsentwicklung durch Evaluation. Freiburg: Lambertus. Korsten, S. & Wansing, G. (2000). Qualitätssicherung in der Frühförderung. Dortmund: Modernes Lernen. Merchel, J. (2001). Qualitätsmanagement in der sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz. Öhlschläger, R. & Brüll, H.-M. (Hrsg.). (1993). Unternehmen Barmherzigkeit. Baden-Baden: Nomos. Olivia, H., Oppl, H. & Schmid, R. (1991). Rolle und Stellenwert freier Wohlfahrtspflege. München: Minerva Publikation. Prognos AG. (1991). Entwicklungsdaten freier Wohlfahrtspflege im zukünftigen Europa. Herausforderungen und Chancen im europäischen Binnenmarkt. Köln, Berlin: Autor. Rahmenvertrag über die Zusammenarbeit zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke. (1999). Berufliche Rehabilitation, 13, 338-343. Rauschenbach, T., Sachße, C. & Olk, T. (Hrsg.). (1996). Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Frankfurt: Suhrkamp. Schartmann, D. & Seel, H. (2003). Der Qualitätsentwicklungsprozess für Integrationsfachdienste in Nordrhein-Westfalen. Impulse, 8 (26), 25-30. Schmid, J. (1996). Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in historisch-vergleichender Perspektive. Opladen: Leske und Budrich. Schopf, P. (1996). Systematisches Qualitätsmanagement (SQM) – Ein Arbeitsbuch zur Qualitätssicherung in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Abendsberg: Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke. Seibel, W. (1992). Funktionaler Dilettantismus: Erfolgreich scheiternde Organisationen im „Dritten Sektor“ zwischen Markt und Staat. Baden-Baden: Nomos. Speck, O. (1999). Die Ökonomisierung sozialer Qualität. München: Reinhardt. Wendt, W. R. (1998). Wirtschaften müssen wir allemal. Ökonomie ist kein Gegner – Soziale Arbeit hat sie nötig. Blätter der Wohlfahrtspflege, 145 (11/12), 221-225. Wetzler, R. (2003). Qualitätsmanagement in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Freiburg: Lambertus. Wohlfahrt, N. (2003). Ökonomisierung der Sozialen Arbeit als Auslöser von QualitätsmanagementStrategien. In R. Brückers (Hrsg.), Tandem Qualitätsmanagement (S. 13-20). Bonn: Gesellschaft Organisationsentwicklung und Sozialplanung.
Teil VII
Forschung
Einführung Jürgen Walter beschäftigt sich in seinem Beitrag „Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ weniger mit methodisch-mathematischen Problemen der Metaanalyse, sondern stellt bewusst die Zusammenstellung internationaler Befunde zu wichtigen Teilfragen der Förderpädagogik in den Vordergrund. Da Metaanalysen eine Ergebnispräsentation darstellen, bei der nicht einzelne Versuchspersonen, sondern eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen zu einer Fragestellung auf der Basis von häufig mehreren hundert oder gar tausend Probanden zum Zuge kommen, stellen sie eine Erkenntnismethode dar, die auf einer breiten empirischen Datenbasis nicht nur grundsätzliche, d. h. eindimensionale, sondern auch differenzielle Befunde generiert. Marcus Hasselhorn, Dietmar Grube, Claudia Mähler und Thorsten Roick stellen schließlich die Frage, was experimentelle Forschung für die Sonderpädagogik leistet. Während qualitative Forschung sich bevorzugt der vertieften Einzelfallanalyse widmet und dabei gern auf Interviews und biografische Verfahren der Datenerhebung sowie auf hermeneutische Ansätze der Dateninterpretation zurückgreift, steht im Zentrum der quantitativen Forschung die Quantifizierung der interessierenden Verhaltens- und Erlebensmerkmale in Form so genannter Variablen. Das Experiment stellt sich in diesem Zusammenhang als eine systematische Form der Beobachtung dar. Anhand von konkreten Experimenten geben die Autoren Antworten auf die Fragen, was die experimentelle Forschung für die Bestimmung von Störungsursachen, für die sonderpädagogische Diagnostik sowie für die Behandlung sonderpädagogisch relevanter Störungen leistet. Nicht ausgespart wird die Frage nach den Grenzen des experimentellen Forschungsansatzes in der Sonderpädagogik.
28 Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Jürgen Walter Ähnlich wie in anderen Humanwissenschaften auch kursieren im Bereich der (Sonder‑)Pädagogik eine Unmenge von Theorien, aktuellen Trends und Expertenmeinungen zur Wirksamkeit von pädagogischen Ansätzen, Methoden und Maßnahmen. Nicht selten stehen in dieser Vielfalt persönliche Meinungen, gefühlsmäßige Beurteilungen, vermeintlich „gesunder Menschenverstand“ und eine gewisse Tradition „Das haben wir schon immer so gemacht“ im Vordergrund. Mindestens so häufig treffen sich widersprechende oder sich gar bekämpfende Ansichten und Lager aufeinander. Vor diesem Hintergrund kann gerade in der Praxis eine erhebliche Verunsicherung oder gar Orientierungslosigkeit entstehen mit der Konsequenz, dass über weite Strecken insgesamt eher suboptimale Maßnahmen und Strategien gefahren werden. Um eine solche Situation zumindest etwas zu entschärfen, bieten sich Metaanalysen an. Die Analyseeinheiten einer solchen Form der Ergebnisdarstellung sind nicht einzelne Versuchspersonen, sondern meist eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen auf der Basis von häufig mehreren hundert oder gar tausend Probanden. Metaanalysen stellen in standardisierter Form die relative Effektivität einer Einzelmaßnahme (z. B. computerunterstützte Unterweisung) im Vergleich zu z. B. unbehandelten Kontrollgruppen dar. Auf diese Weise kann die Frage beantwortet werden: Sind mit einer bestimmten Interventionsform grundsätzlich Effekte zu erzielen und wie stark sind diese? Auf Grund der standardisierten Form der Effektmessung (Effektstärke) besteht darüber hinaus auch noch die Möglichkeit, den relativen Erfolg einer Maßnahme (z. B. computerunterstützter Unterricht) im Vergleich zu anderen Vorgehensweisen (z. B. motorische Trainings, Ritalin-Behandlung, äußere Formen der Differenzierung etc.) darzustellen. Damit kann z. B. die Frage beantwortet werden: Welche pädagogischen Maßnahmen erwiesen sich vor dem Hintergrund empirisch-experimenteller Untersuchungen in der Vergangenheit als effektiv und welche als weniger wirksam? Eine solche Form der Ergebnisdarstellung, also die Zusammenstellung mehrerer Metaanalysen zu unterschiedlichen Themen, kann man auch Megaanalyse nennen. In den USA haben Forness und Kavale (1996), Forness, Kavale, Blum und Lloyd (1997) sowie Lloyd, Forness und Kavale (1998) solche Megaanalysen veröffentlicht. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Befunde einem deutschsprachigen Publikum bekannt zu machen sowie die Daten der genannten Autoren um neuere Metaanalysen zu ergänzen und die Liste zu erweitern. Dies geschieht im Folgenden in der Hoffnung, die (sonder-)pädagogisch-psychologische Diskussion auf eine breitere erfahrungswissenschaftlich abgesicherte Basis zu stellen. Neben der Auswertung der genannten Quellen wie Forness und Kavale (1996), Forness et al. (1997) sowie Lloyd et al. (1998) wurde die Datenbank PsychLit für den Zeitraum ab 1990 nach Metaanalysen zu den in den einschlägigen Quellen angegebenen Themen und darüber hinaus nach sonderpädagogisch relevanten Thematiken abgefragt.
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| Teil VII: Forschung
28.1 Zum Verständnis der Metaanalyse In der Metaanalyse werden als Maße für den Erfolg einer Intervention Effektstärken (ES) angegeben (vgl. Cohen, 1988). Definiert ist dieses Maß als die Mittelwertdifferenz zwischen Experimental- und Kontrollgruppe, dividiert durch die Standardabweichung der Kontrollgruppe. Die Größe ES macht im Gegensatz zur Signifikanzprüfung eine Aussage über die praktische Relevanz (Prägnanz) eines Mittelwertunterschiedes. Bei einer sehr großen Anzahl von Versuchspersonen wird selbst ein sehr kleiner Mittelwertunterschied als statistisch signifikant eingestuft, das heißt, der Unterschied wird als von Null verschieden betrachtet, also mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit als zufallsbedingt angesehen. Führt man an einer Gruppe von mehreren hundert oder gar tausend Versuchspersonen z. B. ein Experiment zur Wirksamkeit einer Diät durch, so könnte sich selbst eine Mittelwertdifferenz von 100 Gramm als statistisch signifikant herausstellen. Auch wenn die Studie bestens kontrolliert ist, wird ein solcher Unterschied keinerlei praktischen Wert besitzen. Aus diesem Grund ist es zwingend, nach der zufallskritischen Analyse der Daten diese auf ihre praktische Relevanz (Prägnanz) hin zu untersuchen. Genau dies geschieht mit Maßen der Effektstärke (ES). Leider gibt es keine einheitlichen Richtgrößen zur Beurteilung von Effektstärken. Gemäß einer weitgehend anerkannten Konvention nach Cohen (1988) sind Effektstärken von ES = 0.20 als klein, ES = 0.50 als moderat und ES > 0.80 als groß zu bezeichnen. ES-Werte können auch als z-Werte aufgefasst werden und in Prozentränge (Perzentile) transformiert werden. Entsprechende Tabellen finden sich in jedem Statistiklehrbuch. Eine solche Umwandlung macht den „Erfolg“ einer Interventionsmaßnahme dann augenscheinlich, wie in Abbildung 1 zu sehen ist. 1.0 z
Behandelte Gruppe
Kontrollgruppe
50. Pz.
84. Pz.
Perzentile
Abbildung 1: Darstellung der Bedeutung einer Effektstärke von ES=1.0 in einem fingierten Experiment
Kapitel 28: Meta- und Megaanalyse | 875
Vor Beginn eines Experiments sollten sich Kontroll- und (die zu behandelnde) Experimentalgruppe nicht unterscheiden (vgl. linke Glockenkurve in Abb. 1). Nach dem fingierten Experiment ergibt sich eine stärkere Merkmalsausprägung in der Experimentalgruppe (z. B. bessere Leseleistungen, häufigeres aktives Mitwirken im Unterricht etc.), was durch die standardisierte Mittelwertdifferenz zwischen Experimental- und Kontrollgruppe, also durch das Effektstärkemaß, hier fingiert ES = 1.0, zum Ausdruck kommt (vgl. rechte Glockenkurve in Abb. 1). Dieser ES-Wert von 1.0 entspricht einem z-Wert von 1.0 oder einem Prozentrang von 84. Mit anderen Worten gesagt: Hatte ein Schüler (PR = 50 oder 50. Perzentil) relativ zu seinen Mitschülern vor dem Experiment eine mittlere Position, d. h. 50 % seiner Mitschüler waren besser und 50 % waren schlechter, so befindet sich genau dieser Schüler nach der Intervention auf dem Prozentrang 84 oder dem 84. Perzentil (vgl. Pfeil in Abb. 1). Durch die Intervention hat sich also der fingierte Schüler im Gegensatz zu seinem nicht geförderten fingierten Mitschüler der Kontrollgruppe um 34 Perzentilpunkte oder 34 Rangplätze verbessert, so dass nur noch 16 Prozent der nicht geförderten Schüler besser sind als er selbst. Im Folgenden werden einige Effektstärken in Form von Perzentilen inklusive der entsprechenden Interpretationen gemäß der Konvention nach Cohen (1988) angegeben: – ES = 0.20 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, die die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 58 verbessern. – ES = 0.50 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, die die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 69 verbessern. – ES = 0.80 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, die die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 79 verbessern. – ES = 1.0 bedeutet: Ein durchschnittliches Kind der Kontrollgruppe (PR = 50) würde sich durch die Behandlung, die die Experimentalgruppe bekommen hat, auf PR = 84 verbessern.
28.2 Ergebnisse von sonderpädagogisch relevanten Metaanalysen Die Resultate sonderpädagogisch relevanter Metaanalysen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Wichtig anzumerken bei der Interpretation dieser Liste von Effektstärken ist die Tatsache, dass es sich hier um globale Mittelwerte der Einzel-Effektstärken handelt, ohne dass jeweils intervenierende Variablen wie Alter, Geschlecht, IQ, Behinderungsart etc. bereits Berücksichtigung gefunden hätten. Häufig ist es nämlich so, dass eine nicht unerhebliche Varianz um den Mittelwert zu beobachten ist (Inhomogenität), dessen Ignorierung zu Fehlinterpretationen führen kann. Dies wird im Folgenden auch an einigen Beispielen gezeigt werden können. Aus diesem Grunde sollen wichtige intervenierende Größen, soweit sie in den Metaanalysen publiziert sind, in diesem Text wiedergegeben werden.
876
| Teil VII: Forschung Tabelle 1: Zusammenfassung der Metaanalysen in Anlehnung an Forness und Kavale (1996), Forness, Kavale, Blum und Lloyd (1997), Lloyd, Forness und Kavale (1998), ergänzt um weitere Publikationen Methoden/Verfahren
Anz. der Studien
Mittlere ES
1.
Mnemotechnische Strategien – Schlüsselwort-Methode (Mastropieri & Scruggs, 1989)
24
1.62
2.
Leseverständnis (Talbott, Lloyd &Tankersley, 1994) Leseverständnis (Mastropieri, Scruggs, Bakken & Whedon, 1996)
48 68
1.13 0.98
3.
Verhaltensmodifikation bei störendem Unterrichtsverhalten (Skiba & Casey, 1985) Verhaltensmodifikation bei störendem Unterrichtsverhalten (Stage & Quiroz, 1997)
41
0.93
99
–0.78
4.
Training der phonologischen Bewusstheit (Ehri, Nunes, Willows, Schuster, Yaghoub-Zadeh & Shanahan, 2001)
52
0.86
5.
DI = Direkte Instruktion (White, 1988) DI = Direkte Instruktion (Swanson, 1999) SI = Strategie-Instruktion (Swanson, 1999) DI + SI (Swanson, 1999)
25 47 28 43
0.84 0.79 0.78 0.84
6.
Strategie-Training zur Verbesserung des basalen Lernens und der Gedächtnisstrategien bei mentaler Retardierung (Forness & Kavale, 1993)
96
0.70
7.
Systematische formative Evaluation (Fuchs & Fuchs, 1986)
21
0.70
8.
Frühförderung (Casto & Mastropieri 1986)
74
0.68
9.
Stimulantienbehandlung bei ADHD (Kavale, 1982) Psychotrope Medikamentierung (Kavale & Nye, 1984)
135 70
0.58 0.30
10.
Behinderte Schüler als Tutoren (Cook, Scruggs, Mastropieri & Casto, 1986)
19
0.53
11.
Computerunterstützte Unterweisung (Schmidt, Weinstein, Niemic & Walberg, 1985/86) Computerunterstützte Unterweisung (Kulik & Kulik, 1991)
22
0.52
254
0.42/0.56
Unterrichtsbasierte Interventionen bei ADHD (DuPaul & Eckert, 1997) Unterrichtsbasierte Intervention bei Hyperaktivität-Impulsivität (Robinson, Smith, Miller & Brownell (1999)
63
0.45
17
0.79
13.
Psycholinguistisches Training (Kavale, 1981)
34
0.39
14.
Reduzierte Klassengröße (Glass & Smith, 1979)
77
0.31
15.
Training sozialer Skills bei Kindern und Jugendlichen mit spezifischen Lernproblemen (learning disabled) (Forness & Kavale, 1996) Training sozialer Skills bei Kindern und Jugendlichen mit emotionalen Problemen oder Verhaltensproblemen (emotional/behavioral disorders) (Kavale, Mathur, Forness, Rutherford & Quinn, 1997)
53
0.21
35
0.20
12.
Kapitel 28: Meta- und Megaanalyse | 877
Tabelle 1 (Fortsetzung) Methoden/Verfahren
Anz. der Studien
Mittlere ES
16.
Modalitätsspezifische Instruktion (Kavale & Forness, 1987)
39
0.14
17.
Feingold Diät (Kavale & Forness, 1983)
23
0.12
18.
Psycho-motorische Wahrnehmungstrainings (Kavale & Mattson, 1983)
180
0.08
19.
Sonderbeschulung (Carlberg & Kavale, 1980) Sonderbeschulung (Wang & Baker, 1985/1986) Sonderbeschulung (Baker, 1994)
50
-0.12
28.2.1 Auswirkungen spezifischer Trainings auf die Behaltensund Gedächtnisleistungen Die größten Effektstärken bei Interventionsstudien findet man bei der Verbesserung der Gedächtnisleistungen durch mnemotechnische Hilfen, speziell durch die Verwendung von Schlüsselworten (Schlüsselwort-Methode) und/oder Ankerbegriffen (vgl. Pos. 1 in Tab. 1). Die Effektstärken in den Studien schwanken zwischen ES = 0.68 bis ES = 3.42, darunter befindet sich nicht ein einziger negativer Wert. Versuchspersonen sind hier Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in der US-amerikanischen Terminologie als „Learning Disabled“ (LD= Personen mit partiellen Lernschwächen bei durchschnittlicher Intelligenz) bezeichnet werden. Eine schul- und altersspezifische Differenzierung bzw. andere Kontraste der Befunde auf metaanalytischer Basis werden nicht mitgeteilt. Die Kontrollgruppen bekamen in der Regel den üblichen Unterricht bzw. eine direkte Förderung (engl.: direct instruction, vgl. Kap. 23.6, Direkter Unterricht) zur Vermittlung der zu lehrenden Inhalte. Die Metaanalyse von Forness und Kavale (1993) beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema Gedächtnis, jedoch auf der Basis von Studien mit Kindern, die als geistigbehindert gelten oder zur Randgruppe der geistigen Behinderung gehören (vgl. Pos. 6 in Tab. 1). Darüber hinaus wird hier eine wesentlich weitere Palette von Gedächtnisstrategien in den Studien trainiert (Verbale Elaboration, Mediation, Generierung von Vorstellungsbildern, Input-Organisation, Labeling etc.). In dieser Studie wird im Gegensatz zur erst genannten (Mastropieri & Scruggs, 1989) der Einfluss intervenierender Variablen wie Länge des Trainings, Höhe des IQ etc. auf die Ergebnisse untersucht. Ohne Berücksichtigung von Moderatorvariablen ergibt sich hier eine generelle Effektstärke von ES = 0.70, wenn man trainierte Experimentalgruppen mit nicht weiter behandelten Kontrollgruppen vergleicht. Trägt man z. B. der Länge des Trainings Rechnung, so zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede in den Effektstärken zwischen den Zeiträumen (von einem Tag bis einer Woche), und zwar ES = 0.589, ES = 0.643, ES = 0.43, beziehungsweise ES = 1.35 für den Effekt nach einer Woche. Die mittlere Effektstärke verschleiert die Tatsache, dass unter bestimmten Zeitbedingungen der Trainingserfolg halbiert bzw. verdoppelt werden kann. Ähnlich dramatische Unterschiede ergeben sich bei der Berücksichtigung des IQ als Mo-
878
| Teil VII: Forschung derator: So zeigt sich für die Borderline-Gruppe (70 < IQ < 85) eine Effektstärke von ES = 1.50, für diejenige mit leichter geistiger Behinderung (IQ 50-70) eine ES von 0.625 und für die Gruppe mit schwerer geistiger Behinderung (IQ < 50) eine ES von 0.021. Auch hier wird deutlich, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung (d. h. Berücksichtigung von intervenierenden Variablen) bei der Interpretation von Metaanalysen ist. 28.2.2 Trainings zur Verbesserung des Leseverständnisses Zum Thema der Verbesserung des Leseverständnisses bei Kindern und Jugendlichen mit spezifischen Lernproblemen (learning disabled) liegen zwei Metaanalysen vor (vgl. Mastropieri, Scruggs, Bakken & Whedon, 1996; Talbott, Lloyd & Tankersley, 1994), die sich gegenseitig ergänzen (vgl. Pos. 2 in Tab. 1). Die Analyse von Talbott et al. (1994) umfasst 48 ausschließlich experimentelle Gruppen-Untersuchungen auf der Basis von insgesamt ca. 1500 Schülern mit einem Durchschnittsalter von 13 Jahren. Einzelfallstudien und schlechter kontrollierte Untersuchungen werden nicht berücksichtigt. Die Autoren ermitteln eine Gesamteffektstärke von ES = 1.13 auf der Grundlage von insgesamt 255 Einzeleffekten. Dabei kann der Einfluss verschiedener intervenierender Variablen nachgewiesen werden. Es besteht eine signifikante Korrelation (r = .263, p < .01) zwischen den Effektstärken und dem Alter der Probanden. Analog dazu ergeben sich signifikante Differenzen bei den Effektstärken in den verschiedenen Klassenstufen: ES = 2.26 (High School); ES = 0.995 (Middle School) und ES = 0.756 im Elementarbereich. Ebenfalls signifikante Unterschiede werden in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status der Kinder und Jugendlichen gefunden: ES = 1.41 (Oberschicht); ES = 0.91 (Mittelschicht); ES = –0.324 (Unterschicht). Während sich hinsichtlich des IQ keinerlei Zusammenhänge zeigen, treten jedoch Unterschiede in Abhängigkeit von der Art und Weise der Kontrollgruppen-Behandlung auf. Erwartungsgemäß zeigen sich die stärksten Effekte, wenn die Experimentalgruppe mit Kindern verglichen wird, die keinerlei andere Treatments erhalten haben (ES = 1.57). Niedriger fallen die Effekte aus, wenn gegen aktive Kontrollgruppen (ES = 0.845) oder normalen Unterricht (ES = 0.769) kontrastiert wird. Interessant und wichtig sind die Unterschiede im Zusammenhang mit den Interventionsmethoden. Erstaunlicherweise zeigt die Restgruppe „Sonstige Methoden“ die höchste Effektstärke mit ES = 3.08, gefolgt von kognitiv-strategischen Maßnahmen (ES = 1.60), Vor- und Mitlesen (ES = 1.18), computerunterstützte Verfahren (ES = 0.876), Wortschatztraining (ES = 0.697) und direkter Förderung (ES = 0.67). Mastropieri et al. (1996) beschreiben ebenfalls die inhaltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Interventionsmaßnahmen, die insgesamt einen globalen Effekt von ES = 0.98 auf der Basis von 68 Gruppen- und 14 Einzelfallstudien erbringen. Sie unterscheiden zwischen drei Arten von Intervention, und zwar „Self-Questioning“ (Selbstüberprüfung durch das Stellen eigener Fragen; Aktivierung von Vorwissen; Zusammenfassen des Inhalts und Vermutungen über den weiteren Verlauf anstellen), „Text Enhancement“ (Textmanipulationen, mnemotechnische Hilfen wie Bilder zeichnen und Grafiken anfertigen etc.; Unterstreichen) und „Skills“ (Dekodierstrategien und Leseflüssigkeit verbessern; Wortschatzarbeit; wiederholtes Lesen). In der genannten Reihenfolge ergeben sich Effektstärken von ES = 1.33, ES = 0.92 und ES = 0.62.
Kapitel 28: Meta- und Megaanalyse | 879
28.2.3 Effekte verhaltensmodifikatorischer Techniken im Unterricht Daten über die Effekte unterrichtsrelevanter, verhaltensmodifikatorischer Techniken Kindern und Jugendlichen gegenüber, die als verhaltensgestört oder emotional gestört (emotionally disturbed; behavior problem; behaviorally disordered) bezeichnet werden, finden sich in einer älteren (Skiba & Casey, 1985) und neueren Metaanalyse (Stage & Quiroz, 1997) (vgl. Pos. 3 in Tab. 1). In die erst genannte Studie werden von 521 gesichteten Arbeiten aufgrund von methodischen Mängeln schließlich nur 41 aufgenommen, die 883 Versuchspersonen mit einem Durchschnittsalter von 10.06 Jahren repräsentieren. Die meisten Treatments (68,3 %) fokussieren unangemessenes Verhalten in der Klasse von der Aggression bis hin zu unerlaubtem Sprechen im Unterricht, 24 % der Studien hatten das Ziel, Schulleistungen zu verbessern, bei den restlichen Studien geht es darum, vor allem die soziale Interaktion zu verbessern. Die Mehrheit der Studien (68,3 %) ist verhaltenstherapeutisch, 7,3 % psychodynamisch, 7,3 % kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet. 41 % der Arbeiten basieren auf Gruppendesigns, die restlichen auf verschiedenen Arten von Einzelfallstudien. Es zeigt sich eine globale Effektstärke von ES = 0.93 gegenüber nichtbehandelten Kontrollkindern. Hinsichtlich der Einzelverfahren ergeben sich jedoch Unterschiede: Soziale Verstärkung und Token-Verstärkung erzielen die höchste Effektstärke von ES = 1.38, das Training sozialer Fertigkeiten (social skills) zeigt nur eine ES = 0.44. Kognitive Verhaltensmodifikation und Konsultationsverfahren bzw. Lehrertraining erbringen ähnliche Effekte (ES = 1.00 bzw. ES = 1.09). Beim Bio feedback-Training oder bei psychotherapeutisch-psychodynamischen Konsultationen lassen sich keinerlei messbare Wirkungen beobachten. Skiba und Casey (1985) mahnen jedoch zur Vorsicht bei der Interpretation der Daten, und zwar wegen der relativ wenigen Effektstärken innerhalb der unterschiedlichen Kategorien von Verfahren und vor allem wegen der Tatsache, dass so gut wie keine Langfristdaten vorliegen: Die durchschnittliche Treatmentdauer lag im Mittel bei 22 Tagen und die Dauer der Untersuchungen bei 40 Tagen. Etwa 12 Jahre später können Stage und Quiroz (1997) die Anzahl der auswertbaren Studien auf 99 mehr als verdoppeln. Erklärtes Ziel der Analyse der Autoren ist, mit dem ihrer Meinung nach existierenden Mythos aufzuräumen, dass es nicht möglich sei, Verhaltensproblemen von Kindern in öffentlichen Schulen effektiv zu begegnen. Die Autoren können eine globale Effektstärke von ES = –0.78 berechnen (das Minuszeichen deutet eine verminderte Auffälligkeit an), die auf 5.067 Schülern beruht. Aus den Studien, die Angaben über das Geschlecht der Schüler machen, wird ersichtlich, dass 615 weiblich und 910 männlich waren. Auf der Basis der insgesamt 223 Effektstärken werden besonders wirksame Verfahren identifiziert: Gruppenkontingenzen (ES = –1.02), Selbstmanagement-Strategien (ES = –0.97), differentielle Verstärkungstechniken (ES = –0.95) unterscheiden sich signifikant von kognitiv ausgerichteten Verfahren (ES = –0.36). Die Effektstärken werden jedoch nicht signifikant von der Art der Konsequenz beeinflusst: Verstärkung (ES = –0.86), Bestrafung (ES = –0.78), Kombination aus beidem (ES = –0.97). Die Veränderungseffekte zur Reduzierung unangemessenen Verhaltens in der Klasse sind jedoch bei Kindern stärker, von denen man annahm, dass sie ernste emotionale Probleme haben (ES = –0.98), während sie bei aggressiven oder trotzigen Kindern geringer sind (ES = –0.48). In Abhängigkeit von der Klassenstufe (Primarstufe bis High School) ergeben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Effektstärken, die
880
| Teil VII: Forschung zwischen –0.64 und –0.91 schwanken. Ebenfalls keine differenziellen Aspekte zeigen sich bei der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Versuchsdesigns: Gruppendesign (ES = –0.71), Einzelfalldesign (ES = –0.84), Gruppen-Zeitreihenanalyse (ES = –0.75). Bemerkenswert starke Unterschiede bedingt die Art und Weise, wie die Verhaltensänderungen der Schüler gemessen werden: Benutzt man Lehrer-Rating-Skalen, zeigt sich eine Effektstärke von ES = –0.37, werden unabhängige Beobachter herangezogen, zeigt sich eine von ES = –0.83. Offensichtlich erweisen sich Lehrerbeobachtungen als weniger sensitiv für Verhaltensänderungen als Beobachtungen durch Dritte. 28.2.4 Förderung der phonologischen Bewusstheit Zur Förderung der phonologischen Bewusstheit liegt eine international angelegte und ziemlich komplexe Metaanalyse von Ehri, Nunes, Willows, Schuster, Yaghoub-Zadeh und Shanahan (2001) vor (vgl. Pos. 4 in Tab. 1). Eine in deutscher Sprache verfasste, ausführliche Zusammenfassung findet sich bei Walter (2002). Beim Training des phonologischen Wissens geht es darum, vor allem Kindern im Vorschulalter und Risikokindern Einsichten in die phonologische Struktur der gesprochenen Sprache zu vermitteln, so dass sie in die Lage versetzt werden, den Lautstrom zu analysieren und zu synthetisieren, z. B. Wörter in Sätzen zu identifizieren, Wörter in Sprechsilben zu zerlegen oder Wörter aus Silben zu synthetisieren, Phoneme in Wörtern zu analysieren etc. (vgl. z. B. Roth, 1999; vgl. auch Kap. 24.1, Walter, in diesem Band). Die gesichteten Trainingsuntersuchungen zur phonologischen Bewusstheit zeigen insgesamt eine mittlere Effektstärke von ES = 0.86, basierend auf 72 Einzelvergleichen, d. h. Vergleichen zwischen Experimental- und Kontrollgruppen. Dieser Effekt ist kaum geringer als der in einer vorherigen Meta- Analyse von Bus und Van Ijzendoorn (1999), die eine Effektstärke von ES = 1.04 auf der Basis von 36 Vergleichen ermitteln. Ehri et al. (2001) zeigen durch die Auswertung der Follow-Up-Daten, dass die Trainingseffekte auch längerfristig (2 bis 15 Wochen) stabil bleiben (ES = 0.73). Die sehr detaillierte Analyse, aus der hier nur einige wesentliche Befunde genannt werden können, zeigt, dass vor allem Risikokinder (Schüler unterhalb der 2. Klasse) von der Förderung profitieren (ES = 0.95), ältere Leseschwache dagegen weniger (ES = 0.65). Das Training der phonologischen Bewusstheit (des phonologischen Wissens) ist jedoch kein Selbstzweck. Mit Hilfe der entsprechenden Maßnahmen, die Teilprozesse des Lesens und Schreibens darstellen, soll es Kindern erleichtert werden, diese Kulturtechniken zu erlernen. So zeigt sich ein genereller Transfer auf das Lesen lernen von ES = 0.53, in Follow-Up-Untersuchungen von ES = 0.45. Analog dazu auf das Rechtschreiben: ES = 0.59 bzw. ES = 0.37. Ganz besonders bemerkenswert ist jedoch der Umstand, dass die Trainings- und Transfereffekte auch dann sehr hoch bzw. teilweise höher sind, wenn die Experimentalgruppen mit alternativ behandelten Kontrollgruppen verglichen werden. So zeigt sich bei den behandelten Kontrollgruppen eine ES = 0.89, bei den unbehandelten eine ES = 0.83. Beim Transfer auf das Lesen kann eine ES = 0.65 beim Kontrast zu behandelten Kontrollgruppen und eine ES = 0.41 bei nichtbehandelten Kontrollgruppen ermittelt werden. Analog dazu zeigt sich beim Transfer auf das Schreiben folgendes Ergebnis: ES = 0.43 vs. ES = 0.82. Im Gegensatz zu den psycho-motorisch ausgerichteten
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(Früh‑)Förderansätzen zum Schriftspracherwerb (vgl. Pos. 18 in Tab. 1) handelt es sich hier um eine sehr wirkungsvolle Methode. 28.2.5 Effekte der „Direkten Förderung“ auf die Lernleistungen Eine nicht unerhebliche Datenbasis existiert für die Wirkforschung im Bereich der Unterrichtsmethodik, speziell für die „Direkte Förderung“ (vgl. Pos. 5 in Tab. 1, vgl. auch Kap. 23.6, Wember, in diesem Band). In diesem Zusammenhang publizierte White (1988) eine Metaanalyse über 25 Experimente, in der ausschließlich die Effekte von DF immer vor dem Hintergrund von Kontrollgruppen, die anders behandelt worden waren, betrachtet werden. Einbezogen in die Analyse wurden Kinder, die nach der Terminologie von White (1988) leicht bis schwerer behindert waren. Die Spannweite von leicht nach schwer reicht von Lesestörungen über LD (learning disabled), emotional gestört bis hin zur leichten geistigen Behinderung (educably mentally retarded). Es ergibt sich eine starke ES von 0.84. Aber auch hier treten erhebliche Schwankungen zu Tage: So ist die Effektstärke beim Lesen (ES = 0.85) erheblich höher als im Bereich der Mathematik (ES = 0.50), für die leichter Behinderten (ES = 0.80) ist sie geringer als für die stärker Behinderten (ES = 1.01), in Untersuchungen mit selbstentwickelten kriteriumsorientierten Messverfahren zur Darstellung der Schülerleistungen ist sie höher (ES = 1.67) als bei normierten Standardverfahren (ES = 0.77). In einer breiter und wesentlich komplexer angelegten Metaanalyse von Swanson (1999) werden die Befunde mit einer globalen Effektstärke von ES = 0.79 für die DF insgesamt bestätigt. Als eine Variante der DF (direkte Darbietung von Übungen und Aufgaben, konsequentes und schnelles Feedback, Aufbrechen komplexer Aufgaben in Teilschritte, klares und schnelles Durchschreiten des Lernstoffs, Einsatz individueller Hilfen, Einsatz grafischer Hilfen, Kleingruppenarbeit) wird hier auch die explizite Vermittlung von Lernstrategien untersucht, die sich durch die Einführung metakognitiver Komponenten auszeichnet (verbale Elaboration des zu lernenden Stoffes im Sinne von Gedächtnishilfen, verbales Modellieren und Demonstrieren durch den Lehrer, Selbstinstruktion etc.). Hier zeigt sich mit ES = 0.78 eine substantielle Effektstärke, die nur noch durch die Kombination von DF und Strategievermittlung (ES = 0.84) leicht übertroffen wird und damit exakt den Ergebnissen der älteren Metaanalyse von White (1988) entspricht. 28.2.6 Die Wirkungsweise systematischer formativer Evaluation im Unterricht Die Metaanalyse von Fuchs und Fuchs (1986) zur Messung der Effekte der systematischen formativen Evaluation von Unterricht (vgl. Pos. 7 in Tab. 1) stellt eine eindrucksvolle Demonstration der Effekte individualisierenden Unterrichts dar. Systematische formative Evaluation wird von den Autoren definiert als curriculumbasierte Erhebung diagnostischer Lernerfolgsdaten, die mindestens zweimal pro Woche stattfindet und Aufschluss über die Adäquatheit des momentanen Lernprogramms des einzelnen Schülers, nicht der Gruppe, liefern soll. Eine solche Maßnahme bringt auf der Basis von 21
882
| Teil VII: Forschung experimentellen Untersuchungen (N = 3.835 Schüler) und 96 Einzel-Effektstärken eine mittlere Effektstärke von ES = 0.70. Auch hier zeigen sich bemerkenswerte Auswirkungen von intervenierenden Variablen: Wenn Lehrern klare Regeln zum Gebrauch und zur Interpretation der Schülerdaten vorgegeben werden, zeigen sich signifikant stärkere lernfördernde Effekte (ES = 0.91) als wenn dies durch eigene Beurteilung der Lehrer (ES = 0.42) geschieht; werden die individuellen Daten der Schüler grafisch aufbereitet (z. B. auch über Computergrafik bei computerunterstützter Unterweisung), zeigen sich signifikant stärkere Effekte (ES = 0.70) als wenn dies nicht realisiert wird (ES = 0.26); werden verhaltensmodifikatorische Maßnahmen eingesetzt, zeigen sich erheblich stärkere Effekte (ES = 1.12) als wenn dies nicht passiert (ES = 0.51). Diese Effekte zeigen sich unabhängig von der Länge der Untersuchung (weniger als 3 Wochen: ES = 0.50; 3 bis 10 Wochen: ES = 0.50; mehr als 10 Wochen: ES = 0.70) und unabhängig davon, ob die Schüler einen Behindertenstatus haben (ES = 0.73) oder nicht (ES = 0.63) und auch unabhängig von der Qualität der Untersuchungen. 28.2.7 Die Wirksamkeit von Frühförderprogrammen Zur Wirksamkeit von Frühförderprogrammen (vgl. Pos. 8 in Tab. 1) können Casto und Mastropieri (1986) auf der Basis einer Analyse von 74 empirischen Originalarbeiten und 215 individuellen Effektstärke-Maßen die generelle Wirksamkeit (ES = 0.68) von Frühfördermaßnahmen im Bereich der Behindertenpädagogik feststellen. Die meisten der in den Studien behandelten Kinder galten als mental retardiert (44 %). Andere waren mehrfachbehindert (29 %), körperbehindert (10 %), sprachbehindert (8 %), emotional gestört (4 %), generell entwicklungsgestört (3 %) und hörgeschädigt (2 %). Anders verhält es sich in dem Überblick von White und Casto (1984): Hier stammen ca. 80 % der Effektstärken aus Frühförderstudien mit Personen aus Risiko- oder Benachteiligtengruppen, und nur 20 % der Effektstärken resultieren aus Behindertenstichproben. Dies wirkt sich auf die Ergebnisse aus. Während bei den Risikokindern die Aussagen zutreffend sind „je eher desto besser“ und „je stärker die Eltern involviert sind, desto besser“, kann dies für die Behindertenpopulation so nicht bestätigt werden. Jedoch können Casto und Mastropieri (1986) zeigen, dass längere und intensivere Programme stärkere Fördereffekte (IQ, sprachliche und motorische Fertigkeiten, Sozialkompetenz) erbringen als kürzere: Bei einer Gesamtinterventionsdauer von weniger als 50 Stunden zeigt sich eine ES = 0.45, bei 50 bis 100 Stunden eine ES = 0.63 und bei mehr als 500 Stunden eine ES = 0.88. 28.2.8 Wirkungen der Stimulantienbehandlung Eine der viel beachteten Metaanalysen zum Thema Stimulantienbehandlung (meist Ritalin) bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen (ADHD) (vgl. Pos. 9 in Tab. 1) stammt von Kavale (1982). Die globale Effektstärke kann mit ES = 0.58 angegeben werden. Jedoch ergeben sich auch hier erhebliche Unterschiede z. B. zwischen globalen Verhaltensvariablen (ES = 0.89) und Schulleistungen (ES = 0.38). Eine Zusammenfassung der Wirksamkeit von Ritalin unter Einbeziehung neuerer US-amerikanischer Befunde
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findet sich bei Walter (2001a, 2001b). Kavale und Nye (1984) finden beim Einsatz von psychotropen Medikamenten bei schweren Verhaltensstörungen auf der Basis von 70 Studien, 401 Effektstärken und ca. 4000 Probanden (mittlerer IQ = 84, mittleres Alter = 16.25 Jahre) bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von neun Wochen eine globale mittlere Effektstärke von ES = 0.30, also eine schwache bis moderate Wirkung. Die unterschiedlichen Auswirkungen verschiedener intervenierender Variablen (bzw. Erfolgsmaße) sind jedoch beträchtlich: Die Auswirkungen hinsichtlich der Diagnosekategorie, in der sich die Probanden befinden, sind erheblich, und zwar ES = 0.57 (schwere emotionale Störung, spezifische psychotische Diagnose), ES = 0.11 (schwere Verhaltensstörung, undifferenzierte psychotische Diagnose) und ES = 0.43 (organisch begründete schwere Verhaltensstörung). Hinsichtlich der Art der Medikamente erzeugen Stimulantien eine schwache Effektstärke von ES = 0.25 (N = 97 Einzeleffekte), Tranquilizer eine ES = 0.28 (N = 288 Einzeleffekte) und Antidepressiva eine ES = 1.22 (N = 4 Effektstärken). Für die Verbesserung der Sozialisierung (reduzierte Aggression, erhöhte soziale Interaktion, reduzierte Angst, weniger destruktive Aktionen) ergibt sich nur eine ES von –0.05, bei den globalen Verbesserungsratings jedoch eine ES = 0.49. Insgesamt zeigen die Analysen zur Stimulantienbehandlung ein relativ heterogenes Ergebnismuster, bei dem sehr wohl zwischen unspezifischen Erfolgsvariablen (allgemeine Eltern- und Lehrerbeurteilungen) und spezifischen Variablen (Schulleistungen) sowie der Art der Diagnose unterschieden werden muss. Darüber hinaus ergeben sich durchaus Unterschiede zwischen Kurz- und Langfristuntersuchungen dahingehend, dass die Befunde von relativ kurzfristig angelegten Untersuchungen deutlich höher ausfallen als bei langfristig angelegten (vgl. Walter, 2001b). 28.2.9 Behinderte Schüler als Tutoren Gerade in Zeiten, in denen das Thema „offener Unterricht“ einen hohen Stellenwert einnimmt, sind Befunde aus Untersuchungen über die Auswirkungen des Einsatzes von Schülern als Tutoren von großem Interesse. Eine umfassende Analyse speziell für den sonderpädagogischen Bereich erstellten Cook, Scruggs, Mastropieri und Casto (1985/86) (vgl. Pos. 10 in Tab. 1). In den 19 für eine Metaanalyse brauchbaren Artikeln auf der Basis von 74 Einzeleffekten wird eine generelle Effektstärke von ES = 0.53 festgestellt. Die einbezogenen Studien schließen Tutoren ein, die als „Learning Disabled“, „Behaviorally Disordered“ oder „Intellectually Handicapped“ bezeichnet werden. Pro Einzelstudie wurden im Schnitt 18.3 Tutoren (tutors) und 20.07 (tutees) Schüler untersucht, die von dem Einsatz der Tutoren profitieren sollten. Daraus wird ersichtlich, dass der Nutzen einer solchen pädagogischen Maßnahme getrennt für die Agenten (tutors) und für die Rezipienten (tutees) ermittelt wurde. Während global im Leistungsbereich sowohl Agenten (ES = 0.59) als auch Rezipienten (ES = 0.65) etwa gleich stark profitieren, sind die mittleren Effektstärken für die Einstellung zur Schule und zu Inhalten des Unterrichts für die Rezipienten (ES = 0.86) stärker als die für die Tutoren (ES = 0.25). Hier hätte man umgekehrte Verhältnisse erwarten können, weil das Übertragen von „hoheitlichen“ Aufgaben an einen Schüler dessen Einstellung zur Schule und dem, was er vermittelt, eher förderlich sein sollte als der eines Rezipienten. Veränderungen im Selbstkonzept und
884
| Teil VII: Forschung in soziometrischen Maßen sind für beide Gruppen zu vernachlässigen (tutors: ES = –0.06; tutees: ES = 0.12). Spaltet man den Leistungsbereich in Einzelaspekte auf, so profitieren (tutor vs. tutee) durchgehend die Rezipienten: Lesen (ES = 0.30 vs. ES = 0.49); Mathematik (ES = 0.67 vs. ES = 0.85); Sprache (ES = 0.25 vs. ES = 1.13); Rechtschreiben (ES = 0.01 vs. ES = 0.51). Ob das Tutorensystem als Ersatz oder als Ergänzung zum regulären Unterricht herangezogen wird, spielt für das Profitieren der Rezipienten keine Rolle (ES = 0.66 vs. ES = 0.69), jedoch macht das für die Agenten einen großen Unterschied (ES = 0.63 vs. ES = 0.96). Dieser Unterschied kommt möglicherweise dadurch zustande, dass beim Einsatz eines tutoriellen Systems die Tutoren im Vergleich zu den anderen Schülern weniger Zeit für eigenes individuelles Üben zur Verfügung haben. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass auch in Sonderklassen Tutorensysteme pädagogisch Nutzen bringen können (vgl. dazu Kap. 23.7, Souvignier, in diesem Band). 28.2.10 Effekte computerunterstützter Unterweisung (CUU) Bei computerunterstützter Unterweisung (vgl. Pos. 11 in Tab. 1) lässt sich in sonderpädagogischen Settings auf der Basis der Analyse von Schmidt, Weinstein, Niemic und Walberg (1985/86) global eine Effektstärke von ES = 0.52 ausmachen (vgl. auch Kap. 23.8, Walter, in diesem Band). In einer im Vergleich dazu neueren Metaanalyse von Kulik und Kulik (1991) zeigt sich im nicht sonderpädagogischen Bereich eine Effektstärke von ES = 0.42, bei sonderpädagogischen Anwendungen errechnet sich eine ES = 0.56. Eine kritische Größe bleibt gerade in Untersuchungen zum CUU die Behandlung der Kontrollgruppen. So bleibt in der Metaanalyse von Schmidt et al. (1985/86) offen, welche Art von Kontrast zur Experimentalgruppe gebildet wurde. Greisbach (1998), die eine Metaanalyse zur Wirksamkeit eines bestimmten Rechtschreibübungsprogramms durchführte (ES = 0.48), verglich die übenden Schüler mit Schülern, „die am PC auf andere Art beschäftigt wurden.“ Mit anderen Worten: Die Aussage über die Wirksamkeit computerunterstützter Unterweisung beinhaltet nur, dass Schüler, die am Computer etwas Spezielles üben, dieses besser beherrschen als vergleichbare Schüler, die diesen Stoff nicht geübt haben. Damit wird also bestenfalls die Frage beantwortet, ob eine Computersoftware überhaupt Lerneffekte bei Schülern hervorrufen kann oder nicht. Dies war gerade in Deutschland Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ein wichtiger Forschungsschwerpunkt (vgl. auch Walter, 1984, 1985). Weiterführende Einzelstudien in der Sonderpädagogik (vgl. Walter, Gloer & Wellen, 1999; Walter, Körner & Waldner, 1988) können zeigen, dass computerunterstützte Unterweisung im Vergleich zur konventionellen Darbietung des Lernstoffs im Hinblick auf den Kompetenzzuwachs bei den Schülern keine besonderen Vorteile bringt, jedoch einen für die Praxis nicht unwichtigen Ersparniseffekt: Der zeitliche Aufwand für die Lehrkräfte zum Erreichen gleicher Lernzuwächse kann durch den Einsatz von Lernsoftware erheblich reduziert werden. Ein weiterer Gesichtspunkt: Undifferenziert vorgetragene Metaanalysen verschleiern möglicherweise differentielle Effekte über die Behinderungskategorien hinweg. So publizieren Schmidt et al. (1985/86) auf der Basis von relativ wenig Einzeleffekten ganz unterschiedliche Effektstärken, und zwar für Nichtbehinderte: ES = 0.30 (n = 5); Geistigbehinderte: ES = 0.85 (n = 6); Hörgeschädigte: ES = -0.33 (n = 5); Learning Disabled: ES = 0.46 (n = 14); emotional
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Gestörte: ES = 0.55 (n = 15); Sprachbehinderte: ES = 0.89 (n = 3). Insgesamt ist in der Sonderpädagogik ein großes Defizit an differenziert aufgebauten experimentellen Untersuchungen zu dieser Thematik zu beklagen. 28.2.11 Schulbasierte Interventionen speziell bei Kindern mit Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Problemen Auch im Bereich schulbasierter Interventionen bei Kindern mit Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Problemen wird deutlich, dass die Angabe einer einzigen globalen Effektstärke (vgl. Pos. 12 in Tab. 1) die Verhältnisse nicht adäquat widerspiegelt. Die Hauptergebnisse der Metaanalyse von DuPaul und Eckert (1997) werden nämlich aufgesplittet nach Charakteristika der Untersuchung (Versuchsplan), Weise der Intervention und Art der Erfolgsvariablen (Verhaltensweisen vs. Leistung). Die Analyse beruht auf 63 Studien, die zwischen 1971 und 1995 durchgeführt wurden. Betrachtet man die Verhaltensweisen der Schüler (Verringerung der Störungen, vermehrte Zuwendung zu Aufgaben etc.) als abhängige Variable (Erfolgsmaß), so ergibt sich im klassischen Versuchsgruppen-Kontrollgruppen-Design (between subjects) eine Effektstärke von ES = 0.45. Auf der Basis von CrossOver-Designs, in denen behandelte und unbehandelte Gruppen jeweils als Kontrollgruppe eingesetzt werden (within subjects), zeigt sich eine Effektstärke von ES = 0.64 und in klassischen Einzelfallstudien eine ES = 1.16. Legt man den Leistungsbereich als Maßstab an, so zeigt sich für Within-Subject-Designs eine ES = 0.31 und für Einzelfallstudien eine ES = 0.82. Für das klassische Experimentalgruppen-Kontrollgruppen-Design fehlen die Daten. Hoch interessant wird es, wenn man die Befunde nach Unterschieden in der Behandlungsart (Interventionsform) betrachtet. Es wird hier zwischen drei Formen unterschieden. Zunächst ist die Academic Intervention (AI) zu nennen, die darauf ausgerichtet ist, mit Hilfe pädagogisch-didaktischer Maßnahmen wie z. B. Unterrichtsform, Sozialform, Unterrichtsmedien (z. B. Computer) und Materialien die Situation so zu gestalten, dass Verhaltensprobleme minimiert werden. Als zweites wird das Kontingenzmanagement (CM) betrachtet, bei dem ein vom Lehrer organisiertes (auch auf den häuslichen Bereich erweitertes) Kontingenzmanagement (Belohnung, Bestrafung, Response-Cost etc.) zum Zuge kommt. Schließlich werden auch noch Maßnahmen der kognitiven Verhaltensmodifikation (CB) einbezogen, die Selbstinstruktions- und Selbstmanagement-Techniken in den Vordergrund rücken. Insgesamt zeigen für den Verhaltensbereich die unterrichtlichdidaktischen Maßnahmen (AI) und das Kontingenzmanagement (CM) bessere Erfolge (ES = 0.58) als die kognitive Verhaltensmodifikation (ES = 0.25) (between subjects). Im Within-Subject-Design ergeben sich folgende Effekte: AI: ES = 0.69; CM: ES = 0.94; CB = 0.19. In den Einzelfallstudien sind folgende Effektstärken zu beobachten: AI: ES = 1.61; CM: ES = 1.44; CB: ES = 0.80. Nur zum Vergleich sei hier folgender Befund genannt: Bei Ritalin-Behandlungen liegen in Einzelfall-Designs die Effektstärken zwischen ES = 2.54 und ES = 2.94. Trotz dieser Diskrepanz zeigt sich, dass unterrichtsbasierte Maßnahmen durchaus eine substantielle Veränderung von Verhaltensweisen hervorrufen können. Die Schulleistungen betreffend ergaben sich vergleichsweise bescheidene Verbesserungen, und zwar im Schnitt bei ES = 0.31 für Within-Subject-Designs und ES = 0.82 für Einzelfalluntersuchungen unabhängig von der Interventionsform.
886
| Teil VII: Forschung Interessant ist der Vergleich der Wirksamkeit von schulbasierter vs. psychologischklinischer Intervention bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Problemen. Für den Bereich der psychologischen Behandlungsformen liegt eine Metaanalyse von Saile (1996) vor, der auf der Basis von 44 Studien zu einer mittleren Effektstärke von ES = 0.45 kommt, ein Befund, der mit den Ergebnissen von DuPaul und Eckert (1997) exakt übereinstimmt. Bringt man die Effektstärken in Abhängigkeit von den Behandlungsverfahren in eine Reihenfolge, so zeigt sich folgendes Bild: Entspannung und Biofeedback (ES = 0.83), verhaltenstherapeutische Techniken (ES = 0.59), Elterntraining (ES = 0.49), Selbstinstruktionstraining (ES = 0.33), kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden (ES = 0.19). Die Effektstärken basieren auf jeweiligen Vergleichen einer Behandlungsgruppe mit einer Warte- bzw. Placebokontrollgruppe. Ebenso wie im schulischen Bereich zeigen also auch in klinischen Settings das Selbstinstruktionstraining sowie kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden eher schwache Effekte. In einer Untergruppe von Lernbehinderten mit Hyperaktivität konnte Saile (1996) auf der Basis von fünf Studien (klinisch-psychologische Behandlung) sogar eine Effektstärke von 1.19 ermitteln. „Hier scheint ein Anwendungsbereich gegeben zu sein, bei dem die psychologische Behandlung in besonderem Maße wirkungsvoll ist“ (S. 200). Was die Methode der kognitiven Verhaltensmodifikation im schulischen Kontext angeht, zeigt die Metaanalyse von Robinson, Smith, Miller und Brownell (1999) bei der Gruppe von Kindern (Kindergartenalter bis fünfte Klasse) mit Hyperaktivität-Impulsivität auf der Basis von 17 Studien eine Effektstärke von ES = 0.79 (vgl. Pos. 12 in Tab. 1). Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu den oben referierten Befunden von DuPaul und Eckert (1997) sowie Saile (1996). Möglicherweise liegen hier aber Gruppen mit unterschiedlichen Störungsbildern zu Grunde, aber auch die schulischen Interventionstechniken können sich unterscheiden. Leider legen Robinson et al. (1999) im Gegensatz zu DuPaul und Eckert (1997) und Saile (1996) keine weiteren differenzierten Daten vor. 28.2.12 Die Trainierbarkeit der Funktionen des Psycholinguistischen Entwicklungstests Hinsichtlich der Trainierbarkeit sprachlicher Funktionen, operationalisiert durch den Psycholinguistischen Entwicklungstest (Illinois Test of Psycholinguistic Abilities), kann Kavale (1981) auf der Basis von 39 Studien eine mittlere Effektstärke von ES = 0.39 berechnen (vgl. Pos. 13 in Tab. 1). Die Daten repräsentieren ca. 1850 Experimental- und Kontrollgruppenkinder im mittleren Alter von 7.5 Jahren und einem durchschnittlichen IQ von 82 Punkten, die im Schnitt 50 Stunden lang trainiert wurden. Wichtig ist hier anzumerken, dass die Kontrollgruppen untrainiert blieben. Leichte (nicht auf Signifikanz untersuchte) Unterschiede hinsichtlich der Effektstärken zeigen sich zwischen soziokulturell benachteiligten Kindern (ES = 0.41) und Geistigbehinderten (ES = 0.31) sowie zwischen der Art und Weise, mit welchem Material trainiert wird (ES = 0.30 mit IPTAbasierten Übungen und ES = 0.49 bei Übungen, die den Peabody Language Development Kits [PLDK] entnommen waren). Mit Hilfe der Methode der Metaanalyse kann Kavale (1981) insgesamt eine moderate Trainierbarkeit der IPTA-Funktionen nachweisen, die
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auf der Basis eher narrativer Formen der Zusammenfassung nicht deutlich werden (vgl. Hammill & Larsen, 1974). 28.2.13 Auswirkungen der Klassengröße auf die Lernleistungen Zum Thema des Effektes der Klassengröße auf die Schulleistungen (vgl. Pos. 14 in Tab. 1) sei zunächst die Metaanalyse von Glass und Smith (1979) angeführt. Die globale Effektstärke von ES = 0.31 deutet auf einen kleinen bis moderaten Zusammenhang hin. Die Analyse beruht auf 70 Studien mit 725 Einzeleffekten mit ca. 900.000 Schülern und deckt einen Zeitraum von 70 Jahren ab. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, welche Effektstärken zwischen welchen Klassengrößen auftreten. Tabelle 2 stellt dies dar. Wie zu sehen ist, ergeben sich praktisch überhaupt keine Effekte, wenn man Klassengrößen von 40 auf 30 oder 20 Schüler reduziert. Erst bei einer Klassenstärke von 10 Schülern ergeben sich schwache Effekte. Die stärksten, auch praktisch relevanten Effekte ergeben sich in Lerngruppen von einem bist fünf Schülern. Moderatorvariablen wie IQ oder Schulfach spielen keine Rolle. Die Qualität der Untersuchung und die Klassenstufe (Primar vs. Sekundarstufe) haben jedoch differentielle Wirkungen in dem Sinne, dass besser kontrollierte Studien und Untersuchungen in der Sekundarstufe höhere Effektstärken liefern. Tabelle 2: Differenzen zwischen Klassengrößen und deren Effekte auf die Schulleistung (vgl. Glass & Smith, 1979, S. 11) Kleinere Klasse
Größere Klasse
Effektstärke ES
1
40
0.565
10
40
0.268
20
40
0.051
30
40
–0.048
1
25
0.552
5
25
0.409
10
25
0.256
15
25
0.133
20
25
0.039
Neuere Einzeluntersuchungen sehr großen Stils (vgl. Ehrenberg, Brewer, Gamoran & Willms, 2001a, 2001b) in den USA, das STAR-Projekt in Tennesse, das CSR-Projekt in Californien und das SAGE-Projekt in Wisconsin, in denen insgesamt Millionen von Schülern beteiligt waren und sind, zeigen ähnliche Befunde. In dem STAR-Projekt wurden die Klassen von durchschnittlich 23 Schülern auf 13 bis 17 reduziert und eine Effektstärke von ES = 0.20 festgestellt. In dem weniger gut kontrollierten CSR-Projekt, in dem die Klassenstärken von 28.8 auf 20 reduziert wurden, ergeben sich Effektstärken von 0.05 bis 0.10. Bei einer Reduktion der Klassenstärke von 22.42 auf 13.47 in dem SAGE-Projekt
888
| Teil VII: Forschung können Effektstärken von 0.20 zu Gunsten der kleineren Klassen gefunden werden. In dem erst- und letztgenannten Projekt profitierten soziokulturell benachteiligte Schüler etwas stärker. Insgesamt sind die Effekte, die Klassengrößen auf die Schulleistung haben, gering bis moderat und werden von der Lehrerschaft möglicherweise gefühlsmäßig überschätzt. Als einen der Hauptgründe für die schwachen Effektstärken können Ehrenberg et al. (2001a) empirisch die Tatsache belegen, dass Lehrer in kleinen Klassen ihre Unterrichtsweise im Vergleich zu großen Klassen nicht wesentlich verändern. 28.2.14 Trainings zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten Nur sehr bescheidene Effektstärken lassen sich mit Hilfe von Trainings zur Verbesserung der sozialen Fertigkeiten bei Kindern und Jugendlichen erzielen (vgl. Pos. 15 in Tab. 1). Beim Training sozialer Fertigkeiten handelt es sich um den Erwerb verschiedener Kompetenzen, die dem Einzelnen erlauben, positive soziale Beziehungen mit anderen zu initiieren und aufrecht zu halten, Akzeptanz zu erreichen und ein positives schulisches Umfeld aufzubauen. Das Training sozialer Fertigkeiten umfasst üblicherweise den Erwerb alternativer prosozialer Verhaltensweisen und Strategien, indem diese von Trainern oder anderen modelliert, von den Schülern nachgemacht, verstärkt und in realen Situationen erprobt werden. Hierzu liegen zwei Metaanalysen vor, und zwar getrennt für Kinder/Jugendliche mit spezifischen Lernausfällen (LD = learning disabled, d. h. generelle Leistungs-Intelligenz-Diskrepanz) von Forness und Kavale (1996) und für Kinder/Jugendliche mit emotionalen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten von Kavale, Mathur, Forness, Rutherford und Quinn (1997). Die Metaanalyse von Forness und Kavale (1996) basiert auf 53 experimentellen Studien, die insgesamt 2.113 Versuchspersonen umfassen. Davon waren 74 % männlichen Geschlechts mit einem Gesamt-Durchschnittsalter von 11.5 Jahren und einem mittleren IQ von 96. Verglichen werden behandelte und unbehandelte Gruppen. Die globale durchschnittliche Effektstärke liegt bei ES = 0.21, basierend auf 328 Einzeleffekten, von denen immerhin 22 % negativ waren, anzeigend, dass die untrainierten Versuchspersonen besser abschneiden als die trainierten. Die Qualität der Studien hat keinen Einfluss auf die Ergebnisse. Wenn die Schüler sich selbst hinsichtlich ihrer Verbesserungen beurteilen sollen (self-rating), ergibt sich nur eine leicht höhere Effektstärke (ES = 0.244) als wenn sie von Mitschülern (peer-rating) beurteilt werden (ES = 0.205). Wenn Lehrer die Fortschritte beurteilen (teacher-rating), dann ergibt sich nur eine Effektstärke von ES = 0.163. Die Analyse von Kavale et al. (1997) basiert auf insgesamt auf 99 Studien (Gruppen- und Einzelfall-Designs) mit 1.406 Probanden (70 % männlichen Geschlechts) mit einem Durchschnittsalter von 10.34 Jahren und einem mittleren IQ von 89. Es werden hier nur die 35 experimentellen Gruppenstudien beschrieben, die ebenfalls auf 328 Einzeleffekten basieren und insgesamt zu nicht anderen Ergebnissen führen als die Einzelfallstudien. Wichtige intervenierende Variablen decken keinerlei signifikante Unterschiede auf. Das heißt, es ergeben sich keine differentiellen Wirkungen hinsichtlich der Art der Trainingsprogramme (etablierte Programme vs. experimentell ausprobierte), dem Alter der Teilnehmer, der Dauer des Trainings (< 12 Wochen vs. > 12 Wochen), der Qualität des Forschungsdesigns, der Art und Weise, wie Fortschritte evaluiert werden
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(Elterneinschätzung, Lehrer-Rating, Peer- und Selbst-Rating) sowie unterschiedlicher Erfolgsmaße (soziale Problemlösekompetenz, soziale Kompetenz, soziales Verhalten, soziale Beziehungen). Diese vergleichsweise ernüchternden Befunde dürfen nicht zu der Auffassung verleiten, dass es sich nicht lohnt, soziales Lernen bzw. Sozialverhalten im Klassenzimmer einzuüben (vgl. auch Kap. 23.7, Souvignier, in diesem Band). Soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten stellen nämlich gerade im nachschulischen Bereich gerade bei Jugendlichen mit Lernproblemen eine enorm große Rolle. Mängel in diesem Bereich führen in der Regel zu verminderter Resilienz, und zwar bis in das Erwachsenenalter hinein (vgl. z. B. Kavale & Forness, 1995). Zur Erklärung der Befunde werden unter forschungsmethodischen Gesichtspunkten von Kavale et al. (1997) Aspekte der Stichprobenzusammensetzung diskutiert, nämlich dahin gehend, dass es sich in einem Großteil der Arbeiten um Stichproben handelte, bei denen Defizite bei sozialen Fertigkeiten eher sekundär gewesen sein könnten. Des Weiteren könnte es den Programmen, die meist zu Forschungszwecken konzipiert waren, an Validität gemangelt haben. Schließlich muss bedacht werden, dass die mittlere Interventionsdauer von 12 Wochen (mit je 2.5 Stunden Training) nicht ausgereicht haben könnte, solche basalen Verhaltensweisen von Menschen sichtbar zu verändern. Hier lohnt es sich zukünftig auf jeden Fall, diesen Fragen nachzugehen. 28.2.15 (Wahrnehmungs-)modalitätsspezifisches Unterrichten Es gehört eigentlich zum pädagogischen Allgemeinwissen, dass Kinder modalitätsmäßig unterschiedliche Präferenzen und Stärken besitzen und darum manche eher visuell lernen, andere mehr auditiv und wieder andere ihre Stärken im kinästhetischen Bereich haben. Die Berücksichtigung dieser Stärken und Schwächen sollte Schülern beim Lernen helfen, davon sind nach Arter und Jenkins (1977) ca. 99 % der Sonderpädagogen überzeugt. Aber lässt sich diese Überzeugung empirisch-experimentell bestätigen (vgl. Pos. 16 in Tab. 1)? In einer Metaanalyse von Kavale und Forness (1987) kann nur eine schwache Effektstärke von ES = 0.14 auf der Basis von 39 Studien und 205 Einzeleffekten ermittelt werden. Verglichen wurden Gruppen von Kindern, die mittels Diagnostik (z. B. mit dem psycholinguistischen Entwicklungstest) einer der drei Modalitätsgruppen zugeordnet und unterrichtet wurden, mit unausgelesenen, aber leistungsmäßig vergleichbaren Kindern. Während die erste Gruppe einen modalitätsangepassten Unterricht bekam, wurde die andere Gruppe normal unterrichtet. Immerhin waren ca. ein Drittel aller Effektstärken negativ, was bedeutet, dass das nicht modalitätsangepasste Unterrichten positivere Ergebnisse lieferte. Unterteilt man die Untersuchungen in solche, welche die Modalitätshypothese unterstützen und in solche, bei denen das nicht der Fall ist, so ergeben sich Effektstärken von ES = 0.31 bzw. ES = 0.06. Unterteilt man die Untersuchungen in solche, die methodisch gut und schlecht angelegt sind, erhält man Effektstärken von ES = 0.04 bzw. ES = 0.21. Offensichtlich reichen die üblichen Methoden aus, um modalitätsspezifische Stärken oder Schwächen – so sie tatsächlich vorhanden sein sollten – ausreichend zu berücksichtigen.
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| Teil VII: Forschung 28.2.16 Meta-analytische Befunde zur Wirksamkeit der Feingold-Diät Im Jahre 1975 stellte Dr. Benjamin Feingold die Hypothese auf, dass Hyperaktivitäts- und Lernprobleme bei Kindern mit der Aufnahme von künstlichen Farb- und Geschmacksstoffen sowie mit der Zuführung der natürlicherweise in der Nahrung vorkommenden Salicylsäure im Zusammenhang stehen. Um den Betroffenen zu helfen, müssten entsprechende Nahrungsumstellungen vorgenommen werden. Kavale und Forness (1983) tragen 23 methodisch angemessene Untersuchungen über die Wirksamkeit der so genannten Feingold K-P-Diät zusammen und errechnen auf der Basis von 125 Einzeleffektstärken einen globale Effektstärke von ES = 0.12 (vgl. Pos. 17 in Tab. 1). Die Daten stammen von insgesamt 843 Probanden (87 % männlich) im durchschnittlichen Alter von 8.3 Jahren und einem mittleren IQ von 99.42 Punkten. Während die weniger gut kontrollierten Studien eine Effektstärke von ES = 0.196 liefern, zeigt sich bei den methodisch am anspruchsvollsten angelegten Arbeiten eine Effektstärke von ES = 0.045. Im Vergleich zu allen anderen hier dargestellten Maßnahmen (absolut als auch in der relativen Position) ergibt sich damit ein praktisch kaum brauchbarer Nutzen für diese Maßnahme. 28.2.17 Echter und trivialer Transfer bei psychomotorischen Wahrnehmungstrainings Das Praktizieren (psycho-)motorischer Trainings besitzt in der Sonderpädagogik eine lange Tradition (Frostig, Kephart, Delacato, Ayres) und gehört z. T. bis heute (z. B. EduKinesiologie) zu den Standard- bzw. Basisverfahren. Dabei verspricht man sich von solchen Verfahren einen (echten) Transfer auf nicht direkt trainierte Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprache, Handschrift, Verbal- und Handlungs-IQ etc. sowie einen direkten (trivialen) Transfer auf unmittelbar trainierte Bereiche wie Grob- und Feinmotorik, visuelle Wahrnehmung, auditive Wahrnehmung etc. Wie steht es aber um die empirisch-experimentelle Validität dieses Förderkonzepts? Kavale und Mattson (1983) gehen dieser Frage in einer Metaanalyse nach (vgl. Pos. 18 in Tab. 1). Diese Analyse beruht auf 180 experimentellen Studien, 637 Einzeleffektstärken und ca. 13000 Kindern mit einem Durchschnitts-IQ von 88.73. Die globale mittlere Effektstärke beträgt ES = 0.08. Von den 637 Effektmaßen waren 48 % negativ, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ein positives Ergebnis zu erhalten, gerade mal etwas höher war als der Zufall. Wie sieht es mit dem Einfluss intervenierender Variablen aus? Für Nichtbehinderte zeigt sich eine Effektstärke von ES = 0.05, für leichter geistig Behinderte (IQ = 50 – 75) eine ES = 0.13; für schwer geistig Behinderte eine ES = 0.15; für Lernbehinderte (slow learners mit IQ = 75 – 90) eine ES = 0.10. Für alle Altersklassen von der Vorschule bis zur Sekundarstufe zeigen sich durchgehend Effektstärken von ES < 0.10. Kein einzelnes Trainingsverfahren (Barsch, Cratty, Delacato, Frostig, Getman, Kephart) zeigt eine größere Effektstärke als ES = 0.16. Betrachtet man die direkt trainierten Bereiche, so ergeben sich folgende Effektstärken: ES = 0.26 für die Erfolgsmaße Körperbewusstsein/Körperbild, ES = 0.26 für Balance/Körperhaltung, ES = –0.02 für die Ortswahrnehmung, ES = 0.15 für die visuelle Diskrimination, ES = 0.17 für die Figur-Grund-Wahrnehmung, ES = 0.22 für die
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visuo-motorische Koordination, ES = 0.09 für die visuelle Integration, ES = 0.06 für das visuelle Gedächtnis. Für die Bereiche, auf die man sich einen Transfer erhofft, ergaben sich folgende Wirkungen: Wortwahrnehmung (ES = –0.02); Verständnis (ES = –0.05); lautes Lesen (ES = –0.04); Wortschatz (ES = –0.01). Das Erstaunliche an diesen Resultaten ist die Tatsache, dass selbst bei den direkt trainierten Funktionen kaum nennenswerte Effekte nachweisbar sind. In einer Einzeluntersuchung von Humphries, Wright, Snider und McDougall (1992), in der sensorische Integrationstherapie, psycho-motorisches Training und kein Training miteinander verglichen werden, ergeben sich zwar statistisch signifikante positive Effekte zu Gunsten des psycho-motorischen Trainings für den Bereich der Grob- und Feinmotorik, gemessen in Form des Effektstärkemaßes handelt es sich aber um einen sehr schwachen Effekt von ES = 0.22, der mit den oben genannten Ergebnissen in Übereinstimmung steht. Auch hier zeigen sich keinerlei statistisch signifikante Transfer-Effekte zu Gunsten unterschiedlicher Aspekte des schulischen Lernens. 28.2.18 Effekte von Sonderbeschulung Nicht weniger brisant, jedoch ziemlich eindeutig gestalten sich die Befunde hinsichtlich der Frage nach den Effekten von Sonderbeschulung (vgl. Pos. 19 in Tab. 1). In der Metaanalyse von Carlberg und Kavale (1980), die auf 50 Studien mit insgesamt ca. 27.000 Schülern im Durchschnittsalter von 11 Jahren und einem mittleren IQ von 74 beruht, zeigt sich bei einer über alle Studien gemittelten sonderpädagogischen Interventionsdauer von 69 Wochen eine negative globale Effektstärke von ES = –0.12. Insgesamt 58 % der Einzeleffekte sind negativ. Es ist jedoch wichtig, die intervenierende Variable „Schulart“ im Auge zu behalten (vgl. Abb. 2), um aus diesem Globalmaß nicht falsche Schlüsse zu ziehen. Während sich die Effektstärke für die Sonderbeschulung bei geistig Behinderten (EMR: IQ = 50-75) und Lernbehinderten (Slow Learners: IQ = 75-90) negativ auswirkt (ES = –0.14 bzw. ES = –0.34), findet man einen signifikanten positiven (!) Effekt bei Schülern, die als „Learning Disabled“ (Schüler mit partiellen Schwierigkeiten, aber durchschnittlicher Intelligenz) und als verhaltens- oder emotional gestört gelten (ES = 0.29). Zieht man wiederum global unterschiedliche Erfolgsmaße heran, so findet man nicht signifikante Unterschiede zwischen der Schulleistung (ES = –0.15), Persönlichkeitsentwicklung/Sozialverhalten (ES = –0.11) und anderen Größen (ES = –0.02). Alle drei Erfolgsmaße liegen bei den Lern- und geistig Behinderten leicht im negativen Bereich (ES zwischen –0.10 und –0.20), bei den Schülern, die mit LD (learning disabled), BD (behaviorally disturbed), ED (emotionally disturbed) bezeichnet werden, im positiven Bereich (ES zwischen 0.20 und 0.30). Es gibt keine erkennbaren Zusammenhänge zwischen den Effektstärken und Variablen wie Unterschiede im IQ zwischen Sonder- und Regelklassen, Dauer der Beschulung, Alter der Schüler, Unbefangenheit („Blindheit“) der Beurteiler, Abstand zwischen dem Ende der Beschulung und der Erfolgsmessung, Größe der jeweils untersuchten Stichproben oder Datum der Untersuchung. Schließlich sei noch eine wichtige differentielle Aussage gemacht: Je valider (besser kontrolliert) die Studie angelegt war, desto stärker sind die Effekte zu Gunsten der Regelbeschulung.
892
| Teil VII: Forschung Effektstärke .3
Leistungsmaße
.2
Soziale Wahrnehmung Selbstkonzept Andere Maße
.1
0
–.1
–.2
–.3 Langsame Lerner (Slow Learners) IQ 75–90
Geistigbehinderte (Educable Mentally Retarded) IQ 50–75
Schüler mit umschriebenen Ausfällen (Learning Disabled) und Verhaltensstörungen
Abbildung 2: Zusammenfassende grafische Darstellung der Metaanalyse von Carlberg und Kavale (1980). Negative ES bedeuten einen ungünstigen Einfluss der Sonder beschulung
Baker, Wang und Walberg (1995) ergänzen die Daten von Carlberg & Kavale (1980) um zwei weitere Metaanalysen zu der Thematik. Die Befunde sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Tabelle 3: Darstellung der Befunde dreier Metaanalysen zur Frage nach den Effekten von Sonderbeschulung (nach Baker, Wang & Walberg, 1995). Positive Effektstärken bedeuten einen positiven Einfluss der Regelbeschulung Autor/en
Carlberg & Kavale
Wang & Baker
Baker
Publikations-Jahr
1980
1985/86
1994
Analyse-Zeitraum
vor 1980
1975-1984
1983-1992
Anzahl der Studien
50
11
13
ES-Leistungsbereich
0.15
0.44
0.08
ES-Soz./Selbstkonzept
0.11
0.11
0.28
Die Effektstärken zeigen einen sehr kleinen bis moderaten Vorteil zu Gunsten einer inklusiven Regelbeschulung sowohl hinsichtlich des kognitiven Leistungsbereichs (ge-
Kapitel 28: Meta- und Megaanalyse | 893
messen mit standardisierten Leistungstests) als auch bezüglich sozialer Verhaltensaspekte gemessen durch Selbst, Peer- und Lehrerratings. Für den Bereich der deutschen Lernbehindertenpädagogik werden diese Befunde im Großen und Ganzen (möglicherweise mit Ausnahme des Bereichs der Emotionalität) durch eine Zusammenfassung von Kniel (1979) und Einzeluntersuchungen von z. B. Tent, Witt, Bürger und Zschoche-Lieberum (1991) bestätigt.
28.3 Schlussfolgerungen und Einschränkungen Legt man (nicht ohne eine gewisse Willkür, vgl. 28.1) den Maßstab für pädagogisch brauchbare Effekte bei ca. ES > 0.45 an, so kann man aus den beschriebenen Forschungsständen den Schluss ziehen, dass Interventionen zum Training psycho-linguistischer Teilkomponenten, zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten und verbesserter Psychomotorik ebenso wenig das halten, was sie versprechen, wie die modalitätsspezifische Instruktion und die Sonderbeschulung gerade von weniger intelligenten Kindern. Speziell die geradezu desaströse Befundlage zur Wirksamkeit psycho-motorischer Trainings, bis weit in die 80er Jahre hinein Standardverfahren in der Lernbehindertenpädagogik und anderen sonderpädagogischen Fachdisziplinen, kann zumindest mit dafür verantwortlich gemacht werden, dass Sonderbeschulung im Vergleich zur Regelbeschulung im Leistungsbereich nicht die erwarteten Effekte zeigt. In diesem Zusammenhang sind ebenfalls die im wahrsten Sinne des Wortes (ent-)täuschenden Befunde zur modalitätsspezifischen Instruktion sowie die wahrscheinlich stark überschätzten Effekte hinsichtlich der Klassengröße zu nennen. Brauchbare Effekte zeigen sich hier erst bei Klassengrößen von weit unter zehn Kindern. Schließlich wird deutlich, dass der Einsatz von Psychostimulantien (im Gegensatz zum Verhalten) sehr wenig die Schulleistungen verbessert und dass die Feingold Diät so gut wie keinerlei praktisch brauchbare Wirkung im Zusammenhang mit der Reduktion von hyperkinetischen Verhaltensweisen zeigt. Auf der positiven Seite kann man klar einige empirisch gut abgesicherte Empfehlungen aussprechen: – Eine möglichst frühe Intervention erweist sich im Allgemeinen als vorteilhaft. – Besonders das Training zur phonologischen Bewusstheit zeigt einen hervorragenden Transfer auf den Schriftspracherwerb, ganz im Gegensatz zu den in der Vergangenheit häufig eingesetzten psychomotorischen Trainings. – Man sollte die beschriebenen Verfahren zur Verbesserung des sinnverstehenden Lesens einsetzen (vgl. auch Kap. 24.3, Walter, in diesem Band). – Das Elaborieren von Texten (Strukturieren, Bebildern etc.) und das Lehren von mnemotechnischen Strategien steigern die Behaltensleistungen im Unterricht in einem praktisch sehr bedeutsamen Maß. – Die direkte Förderung (zusammen mit kognitiven Steuerungsfunktionen und Strategien), systematisches Unterrichten, das genaue Registrieren des Lernfortschritts der Schüler und das Organisieren positiver Konsequenzen bei Fortschritten hat sich als sehr wirksam erwiesen (vgl. auch Kap. 23.6, Wember, in diesem Band). In diesem Zusammenhang sollte man auch die computerunterstützte Unterweisung einsetzen (vgl. Kap. 23.8, Walter, in diesem Band).
894
| Teil VII: Forschung – Verhaltensproblemen mit Formen des Kontingenzmanagements zu begegnen erweist sich als überaus effektiv. – Das Anleiten einiger Schüler als Tutoren zeigt positive Ergebnisse. Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Interpretation von Metaanalysen mit einer gewissen Vorsicht geschehen sollte. Nicht immer werden, wie in diesem Beitrag, so weit wie möglich die intervenierenden Variablen und deren Auswirkungen mit genannt (vgl. auch Kulik & Kulik, 1989; Mostert, 1996). Dies kann dazu führen, dass die Effekte bestimmter Maßnahmen unter- bzw. überschätzt werden. Zu einer Überschätzung von Effekten kann es auch kommen, wenn Experimentalgruppen mit nicht behandelten Kontrollgruppen verglichen werden. Interessanter wäre hier ein Vergleich mit anderen Formen der Intervention (z. B. beim computerunterstützten Unterricht). In die gleiche Richtung gehen Bedenken beim Einbezug von Einzelfallstudien. Diese zeigen in der Regel sehr hohe Effektstärken und können im Gegensatz zu Analysen ohne einen solchen Einbezug insgesamt zu einer Überschätzung der Effekte führen. Gleiches gilt generell für publizierte Einzelexperimente: Publizierte Arbeiten „liefern“ in der Regel höhere Effektstärken als nicht publizierte, so dass die Gefahr besteht, dass man grundsätzlich die Wirksamkeit von Interventionen überschätzt.
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Kapitel 28: Meta- und Megaanalyse | 895
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29 Experimentelle Forschung: Was leistet sie für die Sonderpädagogik? Marcus Hasselhorn, Dietmar Grube, Claudia Mähler und Thorsten Roick Sonderpädagogische Forschung dient dem Zweck, mehr und besser fundiertes Wissen über Phänomene, Ursachen, Erkennung bzw. Diagnostik und erfolgreiche Behandlung sonderpädagogisch relevanter Auffälligkeiten zu erlangen. Unter den Forschern, die zu dieser Wissenserweiterung beitragen, gibt es sehr unterschiedliche Überzeugungen, Traditionen und Vorlieben bezüglich der zu verwendenden Theorien und Methoden. Letztere umfassen ein breites Spektrum qualitativer und quantitativer Ansätze. Während qualitative Forschung sich bevorzugt der vertieften Einzelfallanalyse widmet und dabei gern auf Interviews und biografische Verfahren der Datenerhebung sowie auf hermeneutische Ansätze der Dateninterpretation zurückgreift, steht im Zentrum der quantitativen Forschung die Quantifizierung der interessierenden Verhaltens- und Erlebensmerkmale in Form sogenannter Variablen. Dabei unterscheidet man zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen. Abhängige Variablen bezeichnen die quantifizierte Form der gerade interessierenden Zielbereiche des Verhaltens und/oder Erlebens von Personen. Von unabhängigen Variablen spricht man dagegen, wenn es um die Operationalisierung bzw. die Realisierung von Faktoren geht, von denen man annimmt, dass sie substanziell zur Erklärung, Vorhersage oder Kontrolle der abhängigen Variable beitragen. Würde man sich beispielsweise für die Gedächtnisleistungen von Kindern mit mehr oder weniger starker Intelligenzminderung interessieren, so wäre die in einem Gedächtnistest gemessene Leistung die abhängige Variable. Unter der Annahme, dass die Intelligenzunterschiede zur Erklärung der unterschiedlichen Gedächtnisleistungen beitragen, wäre das über den IQ gemessene Intelligenzniveau die unabhängige Variable. Quantitative Forschung kann eingesetzt werden, um mehr über die Phänomene des Erlebens und Verhaltens von Personen mit sonderpädagogisch relevanten Auffälligkeiten in Erfahrung zu bringen, oder aber um Erklärungsansätze für bekannte Phänomene zu überprüfen. Im ersteren Fall sprechen wir von deskriptiver oder exploratorischer quantitativer Forschung, im letzteren von erklärender bzw. explanatorischer Forschung. Unabhängig davon, ob mit der quantitativen Forschung eher deskriptive oder eher erklärende Ziele verfolgt werden, kann darüber hinaus noch danach unterschieden werden, ob diese Forschung experimentell erfolgt oder nicht, d. h. ob die Methode des Experimentes zum Einsatz kommt oder eine nicht-experimentelle Methode wie z. B. die Korrelationsstudie bevorzugt wird.
29.1 Was versteht man unter experimenteller Forschung? Das Experiment gilt als Königsweg der quantitativen Forschung, wenn es darum geht, kausale Zusammenhänge zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen zu prüfen. Die experimentelle Forschung geht damit einen Schritt über die Korrelationsforschung
898
| Teil VII: Forschung hinaus, in der zwar auch der empirische Zusammenhang zwischen quantitativ erfassten Variablen analysiert wird, jedoch ohne daraus Rückschlüsse auf die kausale Richtung dieses Zusammenhanges ziehen zu können. In der typischen Korrelationsstudie werden an einer interessierenden Stichprobe von Probanden zunächst die Variablen erfasst, für deren empirischen Zusammenhang man sich interessiert. Ist man z. B. an dem Zusammenhang zwischen der Nutzung von Gedächtnisstrategien und dem metakognitiven Wissen über Gedächtnisstrategien interessiert, dann sollte man mit geeigneten Erhebungsverfahren unabhängig voneinander die Nutzung von und das Wissen über Gedächtnisstrategien erfassen. Hat man beide Variablen erhoben, so lässt sich das Ausmaß der statistischen Assoziation (Kovariation) über einen sogenannten Korrelationskoeffizienten bestimmen. Nehmen wir nun einmal an, wir finden zwischen diesen beiden Variablen eine überzufällig hohe positive statistische Assoziation, dann wissen wir zwar, dass zwischen den beiden untersuchten Variablen ein Zusammenhang besteht, über eine mögliche Wirkungsrichtung, die sich hinter diesem Zusammenhang verbirgt, können wir aufgrund dieses Befundes jedoch nichts aussagen. Der Befund der Korrelationsstudie lässt nämlich mindestens vier alternative Erklärungen zu: Erstens könnte der Zusammenhang darauf beruhen, dass das intensivere Nutzen von Gedächtnisstrategien zu einem verbesserten Wissen über Gedächtnisstrategien führt (Strategienutzung als Ursache für Strategiewissen). Zweitens wäre ebenso denkbar, dass das differenziertere Wissen über Gedächtnisstrategien zu intensiverer Strategienutzung führt (Strategiewissen als Ursache für Strategienutzung). Drittens könnte es auch sein, dass der Zusammenhang auf einem gegenseitigen bzw. bidirektionalen Ursache-Wirkungs-Mechanismus beruht (Strategienutzung führt zu differenzierterem Strategiewissen, dass wiederum adäquatere Strategienutzung auslöst). Viertens wäre schließlich auch denkbar, dass gar kein Ursachenzusammenhang zwischen beiden Variablen besteht, sondern dass beide Verhaltensweisen durch eine dritte Variable verursacht werden (z. B. könnte es sein, dass die allgemeine Intelligenz sowohl eine intensivere Strategienutzung als auch ein elaborierteres Strategiewissen verursacht). Der experimentelle Forschungsansatz erlaubt dagegen die direkte Prüfung einer Kausalannahme für den empirischen Zusammenhang zwischen zwei Variablen durch die systematische Variation, Manipulation bzw. Herstellung der potenziell verursachenden Variablen, die man als unabhängige Variable bezeichnet. Möchte man z. B. prüfen, ob das Strategiewissen die Strategienutzung verursacht, muss man versuchen, das Strategiewissen als potenziell verursachende Variable systematisch zu variieren. Dies könnte man z. B. dadurch tun, dass man einen Teil der Versuchspersonen einer experimentellen Untersuchung ausführlich über Gedächtnisstrategien informiert und einen anderen Teil nicht. Zeigt sich nun, dass die informierten Versuchspersonen eine intensivere Strategienutzung zeigen als die nicht-informierten, so wird dies als Bestätigung der Hypothese aufgefasst, dass das Wissen über Gedächtnisstrategien eine Nutzung derselben verursacht. (Es widerlegt jedoch noch nicht die umgekehrte Verursachungsannahme, dass intensivere Strategienutzung zu elaborierterem Strategiewissen führt. Diese Annahme könnte in einem gesonderten Experiment geprüft werden.) Streng genommen kann jedoch der Befund der skizzierten Untersuchung nur dann als Bestätigung der mit ihr zu prüfenden Kausalhypothese akzeptiert werden, wenn potenzielle Störfaktoren durch das Prinzip der Zufallsaufteilung (Randomisierung) der
Kapitel 29: Experimentelle Forschung: Was leistet sie für die Sonderpädagogik? | 899
Versuchspersonen auf die beiden Durchführungsbedingungen (mit oder ohne Information über Gedächtnisstrategien) kontrolliert wurden. Ohne randomisierte Aufteilung der Versuchspersonen auf die systematisch hergestellten Variationen der unabhängigen Variablen können wir nicht ausschließen, dass sich die Personen unter den verschiedenen Ausprägungen der unabhängigen Variablen noch in anderen Merkmalen unterscheiden, die möglicherweise zu den beobachteten Gruppenunterschieden in der interessierenden abhängigen Variable geführt haben. In der sonderpädagogischen Forschung ist häufig das Störungsbild (z. B. Intelligenzminderung) eine zentrale unabhängige Variable. Interessiert man sich z. B. für die Frage, ob die bei Lernstörungen feststellbare niedrige Intelligenz eine reduzierte Lernmotivation zur Folge hat, steht man vor dem Problem, das Merkmal Intelligenz der Versuchspersonen systematisch variieren zu müssen. Hier sind dem Experimentator Grenzen bei der Herstellung der unterschiedlichen Ausprägungen der unabhängigen Variablen (z. B. IQ zwischen 60 und 85 vs. IQ zwischen 85 und 115) gesetzt, da diese unabhängige Variable zu den nicht experimentell manipulierbaren Personmerkmalen gehört. Solche vergleichsweise stabilen Personmerkmale nennt man organismische Variablen. Experimente, bei denen die systematisch zu variierende unabhängige Variable eine organismische ist, werden – wegen der erheblichen Einschränkungen für die Zufallsaufteilung von Versuchspersonen auf Versuchsbedingungen – als Quasi-Experiment bezeichnet. Gerade wegen der eingeschränkten Kontrolle möglicher Störfaktoren beim QuasiExperiment durch die fehlenden Randomisierungsmöglichkeiten, aber auch wegen der oft begrenzten Zuverlässigkeit der Ergebnisse einzelner Experimente, fordert man im experimentellen Ansatz den Nachweis der Wiederholbarkeit (Replikation) experimenteller Befunde. Die Wiederholung muss nicht unbedingt eine strenge Kopie des ursprünglichen Experimentes mit neuen Versuchspersonen sein. Häufig werden auch alternative Variationen der unabhängigen Variablen im Wiederholungsexperiment realisiert; man spricht dann von konzeptueller Replikation. Zusammenfassend können wir festhalten, dass die experimentelle Forschung gekennzeichnet ist durch das wiederholbare planmäßige Herstellen von Untersuchungssituationen, in denen die interessierenden unabhängigen Variablen systematisch variiert werden und in denen das Prinzip der Zufallszuteilung von Versuchspersonen zu Versuchsbedingungen realisiert wird.
29.2 Was leistet experimentelle Forschung für die Bestimmung von Störungsursachen? Eine der Grundfragen der sonderpädagogischen Forschung gilt den ursächlichen Bedingungen bzw. Mechanismen der interessierenden Störungen: Warum entwickeln einige Kinder Lernstörungen, während andere es unter vergleichbaren Umweltbedingungen nicht tun? Welche individuellen Defizite oder Dysfunktionen führen zu dem Störungsbild? Insbesondere dann, wenn wir theoretisch begründete Annahmen über (Teil-)Ursachen eines sonderpädagogisch relevanten Störungsbildes prüfen wollen, ist der experimentelle Forschungsansatz anderen Forschungsansätzen überlegen. Dabei werden bevorzugt sogenannte mehrfaktorielle experimentelle Versuchspläne herangezogen, in de-
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| Teil VII: Forschung nen mindestens eine experimentelle und eine quasi-experimentelle unabhängige Variable realisiert werden. Bei Untersuchungen dieser Art wird aufgrund der Ursachenhypothese zum Störungsbild in der Regel eine statistische Interaktion zwischen experimentellem und quasi-experimentellem Faktor vorhergesagt. Anhand eines Beispiels aus unserer eigenen Forschung zu möglichen Ursachen der Lernbehinderung lässt sich diese Art der Ursachenforschung veranschaulichen. Zahlreiche Korrelationsstudien deuten darauf hin, dass Kinder mit einer Lernbehinderung Defizite in der Funktionstüchtigkeit des Kurzzeit- bzw. des Arbeitsgedächtnisses aufweisen. Sie zeigen nämlich häufig eine vergleichsweise niedrige Gedächtnisspanne, d. h. sie erzielen niedrige Werte beim Nachsprechen einer Sequenz von Items (z. B. Wörtern), die sie einmal im Sekundenrhythmus vorgesprochen bekommen haben. Im Rahmen des Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley (1986, 1996) lässt sich dieses Defizit entweder auf eine strukturelle Störung im sog. phonetischen Speicher zurückführen, oder aber auf ein prozessuales Defizit bei der Nutzung der Arbeitsgedächtnisstruktur, für die dem Modell von Baddeley zufolge eine Art inneres Nachsprechen akustischer bzw. sprachlicher Informationen („subvocal rehearsal“) verantwortlich ist. In der Tradition der Arbeitsgedächtnisforschung im Rahmen des Baddeley-Modells haben sich nun bestimmte experimentelle Zugänge zur Erfassung der strukturellen und prozessualen Komponenten des phonologischen Arbeitsgedächtnisses bewährt (vgl. dazu ausführlich Hasselhorn, Grube & Mähler, 2000; Hasselhorn, Grube, Mähler, Zoelch, Gaupp & Schumann-Hengsteler, 2003). Eine experimentelle Methode zur Bestimmung der Funktionstüchtigkeit der strukturellen Komponente ist die Variation der akustischen Ähnlichkeit bei der Erfassung der Gedächtnisspanne. Allgemein zeigt sich, dass die Gedächtnisspanne einer Person niedriger ausfällt, wenn die in einer Sequenz vorgesprochenen Wörter akustisch ähnlich klingen (z. B. „Hand – Wand – Sand“) statt voneinander deutlich akustisch diskriminierbar zu sein (z. B. „Baum – Schuh – Topf“). Dieses typische Befundmuster wird auch unter der Bezeichnung akustischer Ähnlichkeitseffekt geführt. Das Zustandekommen dieses Effektes wird mit Interferenzprozessen zwischen den Klangspuren der nachzusprechenden Wörter im phonetischen Speicher erklärt. Eine reduzierte funktionale Kapazität des phonetischen Speichers als strukturelle Komponente des Arbeitsgedächtnisses sollte mit einem reduzierten Ausmaß des akustischen Ähnlichkeitseffektes einhergehen (Hulme & Mackenzie, 1992, S. 88 f.). Die Frage, ob die prozessuale Komponente des phonologischen Arbeitsgedächtnisses – also das „innere Nachsprechen“ – automatisch einsetzt oder nicht, wird dagegen bevorzugt über den sog. Wortlängeneffekt auf die Gedächtnisspanne untersucht. Von Untersuchungen mit lernunauffälligen Personen ab dem 7. Lebensjahr weiß man, dass sie geringere Gedächtnisspannen-Werte erreichen, wenn sie Sequenzen von langen Wörtern (z. B. „Polizist – Kneifzange – Pullover“) statt von kurzen Wörtern (z. B. „Stern – Ball – Haus“) in der richtigen Reihenfolge reproduzieren sollen. Kinder im Vorschulalter zeigen in der Regel keinen solchen Wortlängeneffekt auf die Gedächtnisspanne – ein Befund, der mit der fehlenden automatischen Aktivierung des „subvokalen Rehearsalprozesses“ bei diesen Kindern erklärt wird (vgl. Hasselhorn & Grube, 2003). In einer Serie von Experimenten zur Frage, ob Arbeitsgedächtnisdefizite möglicherweise eine Ursache für die Lern- und Leistungsprobleme lernbehinderter Kinder sind,
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ließen Hasselhorn und Mähler (im Druck) lernbehinderte und lernunauffällige Zehnjährige Gedächtnisspannenaufgaben bearbeiten (abhängige Variable). Dabei wurden die akustische Ähnlichkeit sowie die Länge der verwendeten Wörter systematisch variiert (intraindividuelle Bedingungsvariation der jeweiligen unabhängigen Variablen). Obwohl die Gedächtnisspannenwerte der lernbehinderten Kinder insgesamt bedeutsam niedriger ausfielen als die der gleichaltrigen lernunauffälligen Kinder (statistischer Haupteffekt in der Varianzanalyse bezüglich der quasi-experimentellen organismischen Variable) und sich über die Gesamtstichprobe die erwarteten experimentellen Effekte der akustischen Ähnlichkeit und der Wortlänge auf die Gedächtnisspanne fanden (statistische Haupteffekte der experimentellen unabhängigen Variablen), zeigte sich der vermutete Interaktionseffekt zwischen experimenteller und organismischer Variable nur in einem der beiden Fälle. Im Falle des Teilexperimentes mit Variation der akustischen Ähnlichkeit resultierte kein Interaktionseffekt, da in beiden Versuchsgruppen der akustische Ähnlichkeitseffekt in vergleichbarem Ausmaße auftrat. Im zweiten Teilexperiment mit Variation der Wortlänge zeigte sich dagegen ein bedeutsamer Interaktionseffekt zwischen organismischer und experimenteller Variable: Im Unterschied zu den unauffälligen Zehnjährigen war bei den gleichaltrigen Kindern mit Lernbehinderung kein Wortlängeneffekt auf die Gedächtnisspanne nachweisbar. Dieser letztere Befund erwies sich als zuverlässig; er konnte in drei weiteren Experimenten repliziert werden (vgl. Hasselhorn & Mähler, im Druck). Was können wir diesen Teilbefunden der experimentellen Untersuchungen von Hasselhorn und Mähler (im Druck) über die Ursachen von Lernbehinderung entnehmen? Der aus vorliegenden Korrelationsstudien bekannte Zusammenhang zwischen Lernstörung und Arbeitsgedächtnis ist ein Stück weit präzisiert worden. Bei lernbehinderten Schülern scheint insbesondere ein spezifisches Defizit in der automatischen Aktivierung des „inneren Sprechens“ im phonologischen Arbeitsgedächtnis vorzuliegen, die Speichergröße des entsprechenden Arbeitsgedächtnissystems scheint dagegen weniger betroffen zu sein. Bei allem Fortschritt bezüglich der präziseren Umschreibung des kognitiven Defizits bei lernbehinderten Schülern erlauben uns die Befunde in der bisher berichteten Konstellation kaum, die Frage zu beantworten, ob das Automatisierungsdefizit lernbehinderter Schüler bezüglich des subvokalen Rehearsals im Arbeitsgedächtnis eine Ursache der Lernstörung und der mit ihr einhergehenden Intelligenzdefizite ist. Ebenso gut vereinbar mit den bisher berichteten Befunden ist auch die Auffassung, dass die beschriebene Dysfunktion im Arbeitsgedächtnis eine Folge der Lernbehinderung sei. Um nun zwischen Ursachen und Folgen unterscheiden zu können, haben sich in den letzten Jahrzehnten in verschiedensten Bereichen der Sonderpädagogik Erweiterungen des quasi-experimentellen Versuchsplanes mit dem Vergleich von beeinträchtigten und gleichaltrigen nicht beeinträchtigten Versuchspersonen durchgesetzt. Im prototypischen Fall werden in diesen erweiterten experimentellen Untersuchungen mindestens drei verschiedene Gruppen in die Untersuchung einbezogen: Neben der Gruppe der Personen mit einer Lernstörung und der Gruppe der unauffälligen Personen des gleichen chronologischen Alters (CAKontrollgruppe) wird mindestens noch eine Gruppe von in der Regel deutlich jüngeren Personen untersucht, die im Hinblick auf das zentrale Merkmal der Störung vergleichbare Leistungen aufweisen wie die (älteren) beeinträchtigten Personen, bei denen diese Leistung jedoch altersangemessen und unauffällig ist. Im hier beschriebenen Beispiel zur Untersuchung der Ursachen einer Minderung der mentalen Leistungsfähigkeit spricht
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| Teil VII: Forschung man von einer MA-Kontrollgruppe, weil es sich um Personen handelt, die das gleiche mentale Alter aufweisen wie die Gruppe der Kinder mit Lernbehinderung. Sie lösen also bei einem Intelligenztest die gleiche Anzahl von Aufgaben richtig wie die Kinder mit der interessierenden Lernbeeinträchtigung; im Unterschied zu diesen ist die Leistung bei den MA-Kontrollkindern jedoch altersangemessen und unauffällig. Entscheidend für die Frage, ob das experimentell gefundene kognitive Defizit (in unserem Beispiel die fehlende Automatisierung des subvokalen Rehearsalprozesses, angezeigt über den fehlenden Wortlängeneffekt) möglicherweise eine Ursache für die interessierende Störung (in unserem Beispiel die Lernbehinderung) darstellt, ist der Vergleich zwischen Experimentalgruppe (im Beispiel: Zehnjährige mit einer Lernbehinderung) und MA-Kontrollgruppe: Ist das gefundene Defizit in der Experimentalgruppe bedeutsam stärker als in der MA-Kontrollgruppe, dann liegt ein gutes empirisches Argument dafür vor, dass es sich bei dem Defizit um eine Ursache der Störung handelt. Zeigt sich dagegen ein vergleichbares Verhaltensniveau in Experimentalgruppe und MAKontrollgruppe, dann wird das im Vergleich zur CA-Kontrollgruppe gefundene Defizit der Experimentalgruppe als Hinweis auf eine entsprechende Entwicklungsverzögerung (bzw. Folge des Störungsbildes) interpretiert. In der erwähnten Beispieluntersuchung von Hasselhorn und Mähler (im Druck) wurde zusätzlich zu der bereits berichteten CA-Kontrollgruppe auch eine Gruppe von 7-jährigen unauffälligen Kindern einbezogen, die bei einem gängigen Intelligenztest das gleiche Leistungsniveau zeigten wie die zehnjährigen Kinder mit Lernbehinderung. Die Kinder dieser Kontrollgruppe zeigten den Wortlängeneffekt. Auch dieser Befund ließ sich replizieren, so dass Hasselhorn und Mähler (im Druck) zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die fehlende Automatisierung des Rehearsalprozesses im phonologischen Arbeitsgedächtnis eine Ursachenkomponente für die Leistungsprobleme von Kindern mit Lernbehinderung darstellt.
29.3 Was leistet die experimentelle Forschung für die sonderpädagogische Diagnostik? Die Erforschung ursächlicher Bedingungen bzw. Mechanismen sonderpädagogisch relevanter Störungen sowie die Vorbereitung und Begleitung von Interventionsmaßnahmen setzt geeignete psychodiagnostische Verfahren voraus. In der Regel handelt es sich dabei um Testverfahren, mit deren Hilfe relevante Merkmalsausprägungen, interindividuelle Unterschiede und intraindividuelle Merkmalsvariabilitäten beschrieben werden (Krapp, 1993). Analog zur pädagogisch-psychologischen Diagnostik (z. B. Leutner, 2001) unterscheidet sich die sonderpädagogische Psychodiagnostik nicht grundsätzlich von einer genuinen Psychodiagnostik, wird aber durch ihr spezifisches pädagogisches Anwendungsfeld eingegrenzt, „die Begleitung von Prozessen der Bildung, Erziehung und Förderung unter erschwerten Bedingungen“ (Schuck, 2000, S. 233). Innerhalb dieses Feldes werden psychodiagnostische Testverfahren häufig dazu verwendet Selektionsentscheidungen vorzunehmen. Typische Beispiele hierfür sind die Prüfung, ob ein Kind einer Sonderschule zugeordnet werden soll (Personenselektion) oder welche Form von
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Nachhilfeunterricht für eine Gruppe von Schülern mit spezifischen Störungsmerkmalen das Optimum darstellt (Bedingungsselektion). Derartige Selektionsentscheidungen sind nicht nur für die sonderpädagogische Praxis relevant, sondern werden auch in der experimentellen Forschung getroffen, wenn Personen mittels diagnostischer Verfahren den einzelnen Stufen der unabhängigen Variable zugeordnet werden (z. B. Kinder mit Intelligenzminderung vs. Kinder mit normaler Intelligenz). Darüber hinaus können die Ergebnisse von Tests aber auch als abhängige Variable selbst eingesetzt werden (z. B. in Form von Schulleistungstest, um den Unterrichtserfolg zu überprüfen). In all diesen Fällen ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein hochwertiges Testverfahren fachgerecht zum Einsatz kommt. Die Hochwertigkeit wird dabei über eine Reihe von Gütekriterien bestimmt, wobei insbesondere die Objektivität (Unabhängigkeit des Testergebnisses von der den Test einsetzenden Person), die Reliabilität (Zuverlässigkeit des Testergebnisses) und die Validität (Gültigkeit des Testergebnisses: Das Verfahren misst tatsächlich das, was es zu messen vorgibt) von Bedeutung sind (z. B. Lienert & Raatz, 1998). Um die Validität eines Testverfahrens zu bestimmen, werden häufig Korrelationsstudien realisiert. In der Regel wird dabei das interessierende Testverfahren an einer größeren Stichprobe durchgeführt, wobei von den gleichen Personen weitere gültigkeitsrelevante Merkmale erfasst werden. So kann beispielsweise die prognostische Validität eines frühdiagnostischen Verfahrens für sonderpädagogisch relevante Störungsbilder bestimmt werden, indem an einer Stichprobe jüngerer Kinder das Testverfahren durchgeführt und einige Zeit später das Ausmaß der aufgetretenen Störungssymptomatik quantifiziert wird: Eine hohe statistische Assoziation (Korrelation) zwischen Testwert und später auftretender Störungssymptomatik gilt dann als Beleg für die gute prognostische Validität des Testverfahrens. Seltener wird der experimentelle Ansatz gewählt, um die Validität relevanter testdiagnostischer Verfahren zu bestimmen, obwohl sich mittels experimenteller Vorgehensweisen differenziertere und elaboriertere Informationen über die Validität diagnostischer Verfahren und damit über die Entscheidungssicherheit in der sonderpädagogischen Praxis gewinnen lassen. Dies kann am Einfachsten am Beispiel des Zweiklassenfalls bzw. der Entscheidung über Vorliegen versus Nicht-Vorliegen der interessierenden Störung verdeutlicht werden. Wesentlich für die Sicherheit der Entscheidung ist das Ausmaß der Zuordnungsfehler, d. h. der Diskrepanz zwischen der aufgrund des diagnostischen Verfahrens mutmaßlichen Gruppenzugehörigkeit und der tatsächlich beobachtbaren Störung. Zur Beschreibung der Zuordnungsfehler finden die zwei aus der statistischen Hypothesenprüfung bekannten Entscheidungsfehler erster Art (mit Fehlerwahrscheinlichkeit α) und zweiter Art (mit Fehlerwahrscheinlichkeit β) Berücksichtigung (vgl. Abbildung 1). Im Falle der Diagnose eines sonderpädagogisch relevanten Störungsbildes liegt ein Fehler erster Art (falsche Positive) vor, wenn z. B. ein tatsächlich unauffälliges Kind auf der Basis des Tests als rechenschwach (oder in einem weiteren Beispiel als sonderschulbedürftig) eingestuft würde. Derartige Fehlentscheidungen können sich in ihrer Tragweite natürlich erheblich unterscheiden, von der Applizierung unnötiger Fördermaßnahmen bis hin zu den erheblichen und mitunter stigmatisierenden Konsequenzen, die eine Zuordnung zur Sonderbeschulung mit sich bringt. Ein Fehler zweiter Art (falsche Negative) könnte im Rahmen von sonderpädagogischen Entscheidungen allerdings auch
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| Teil VII: Forschung Zuordnung aufgrund des psychodiagnostischen Testwertes
Zuordnung aufgrund des tatsächlich beobachteten Störungsbildes
Störung vorhanden
Störung nicht vorhanden
Störung vorhanden
wahre Positive (WP) Zugehörigkeit zur Störungsgruppe zutreffend angenommen, Wahrscheinlichkeit 1–b
falsche Negative (FN) Zugehörigkeit zur Störungsgruppe fälschlich abgelehnt, Wahrscheinlichkeit b
Störung nicht vorhanden
falsche Positive (FP) Zugehörigkeit zur Störungsgruppe fälschlich angenommen, Wahrscheinlichkeit a
wahre Negative (WN) Zugehörigkeit zur Störungsgruppe zutreffend abgelehnt, Wahrscheinlichkeit 1–a
Folgende Kennwerte sind bestimmbar (N = WP + FN + FP + WN): Sensitivität = WP / (WP + FN) Spezifität = WN / (FP + WN) Positiver Prädiktionswert = WP / (WP + FP) Negativer Prädiktionswert = WN / (FN + WN) Positive Grundrate (PGR) = (WP + FN) / N Negative Grundrate (NGR) = (FP + WN) / N Positiver Selektionsquotient (PSQ) = (WP + FP) / N Negativer Selektionsquotient (NSQ) = (FN + WN) / N Gesamttrefferquote (GTQ) = (WP + WN) / N Gesamtfehlerquote = (FP + FN) / N Zufallstrefferquote (ZTQ) = PSQ · PGR + NSQ · NGR Maximaltrefferquote (MTQ) = 1 – (| PSQ – PGR |) RATZ-Index = (GTQ – ZTQ) / (MTQ – ZTQ)
Abbildung 1: Klassenzuordnungen und Risiken beim Zweiklassenfall (nach Amelang & Zielinski, 2002, S. 443)
folgenschwer sein, da in diesem Fall ein rechenschwaches Kind nicht als solches erkannt wird und somit an entsprechenden Fördermaßnahmen nicht partizipieren kann. Prinzipiell wäre es natürlich wünschenswert, wenn im Rahmen selektiver Diagnosemethoden die Reduzierung beider Fehlerarten erreicht würde. Letztendlich hängt es aber von der Art der diagnostischen Fragestellung ab, welcher Fehler in welchem Ausmaß für den Diagnostiker verschmerzbar ist (vgl. Janke, 1982, S. 414-415). Zur Beurteilung der Zuordnungsqualität und somit auch der Qualität des testdiagnostischen Verfahrens lassen sich verschiedene Koeffizienten bestimmen, welche die Zellhäufigkeiten und die Randsummen zueinander in Beziehung setzen. Zu den bedeutsamsten Koeffizienten zählen dabei die Sensitivität und die Spezifität sowie zwei Prädiktionswerte. Eine Auflistung der Koeffizienten und ihre Berechnung lassen sich dem unteren Teil der Abbildung 1 entnehmen. Die Problematik dieser Koeffizienten ist es, dass sie einerseits nur gemeinsam etwas über die Qualität eines Verfahrens aussagen, andererseits eine inferenzstatistische Beurteilung nicht möglich ist. Als kombinierten Kennwert schlägt Marx (1992; Marx, Jansen & Skowronek, 2000) daher vor, die Bewertung eines Verfahrens anhand des RATZ-Index
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(RATZ = Relativer Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote unter Berücksichtigung der maximalen Trefferquote; vgl. zum Berechnungsmodus Abbildung 1 unten) vorzunehmen, über den der Gewinn der Testnutzung gegenüber einer Zufallszuordnung dokumentiert wird. Aber auch hier besteht das Problem, dass eine inferenzstatistische Prüfung nicht möglich ist. Marx et al. (2000, S. 25) führen Orientierungswerte auf, nach denen RATZ-Indizes ab .34 eine gute, Werte jenseits von .66 sogar eine sehr gute Vorhersageleistung widerspiegeln. RATZ-Werte unter .34 hingegen belegen eine unzureichende Validität des betrachteten Testverfahrens. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, wie unter Ausnutzung des experimentellen Ansatzes auch differenziertere Erkenntnisse über die Übereinstimmung mit weiteren zeitgleich erhobenen Variablen (konkurrente Validität) eines neuen Testverfahrens erkennbar werden. Im Rahmen einer Untersuchung zum Zusammenhang von Arbeitsgedächtnisleistungen und Rechenleistung ließen Roick und Hasselhorn (2003) eine Gruppe von Viertklässlern arithmetische Operationen im Zahlenraum bis 20 (z. B. 4 + 9 = __) unter Zeitbegrenzung ausführen. Ein Teil dieser Aufgaben (komplexe Aufgaben) waren in Form kurzer Rechenketten (z. B. 7 + 6 = 17 – __) angeordnet, wodurch eine zusätzliche zentralexekutive Anforderung des Arbeitsgedächtnisses im Sinne von Baddeley (1996) evoziert werden sollte. Als Außenkriterium wurde die Leistung in einem lehrplanvaliden Mathematiktest (Deutscher Mathematiktest für vierte Klassen, DEMAT 4; Gölitz, Roick & Hasselhorn, 2006) erfasst. Wie die Ergebnisse in Tabelle 1 dokumentieren, weisen die komplexen Aufgaben gegenüber den einfachen arithmetischen Operationen zum Faktenwissen eine deutlich höhere Sensitivität, einen höheren positiven Prädiktionswert sowie eine nach RATZ-Index sehr gute Prädiktionsleistung hinsichtlich der Leistung im DEMAT 4 (Prozentrang ≤ 10) auf. Relativ zu den einfachen Aufgaben lassen sich durch Einsatz der komplexen Aufgaben die Fehlzuordnungen (falsch Negative und falsch Positive) erheblich reduzieren. Tabelle 1: Kennwerte zweier Aufgabenarten im Hinblick auf die Rechenleistung im DEMAT 4 (Gölitz et al., 2006) einfache Aufgaben
komplexe Aufgaben
Sensitivität
0.20
0.60
Spezifität
0.88
0.98
Positiver Prädiktionswert
0.17
0.75
Negativer Prädiktionswert
0.91
0.96
RATZ-Index
0.09
0.72
Anmerkungen: Als Außenkriterium wurde der DEMAT 4 (Gölitz et al., 2006) erhoben; einfache Aufgaben: einfache arithmetische Operationen im Zahlenraum bis 20; komplexe Aufgaben: arithmetische Operationen im Zahlenraum bis 20 in Form kurzer Rechenketten.
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| Teil VII: Forschung
29.4 Was leistet experimentelle Forschung für die Behandlung sonderpädagogisch relevanter Störungen? Auch wenn es um die Frage geht, welche Interventionsmaßnahmen geeignet sind, die unerwünschten Begleiterscheinungen einer sonderpädagogischen Störung zu minimieren, hat sich die experimentelle Forschungsmethode als hilfreich erwiesen, um die Wirksamkeit und die Wirkungen vorgeschlagener Maßnahmen zu prüfen. Die Grundprinzipien der experimentellen Variation und Kontrolle lassen sich nämlich auch erfolgreich für die Evaluation von Interventionsmaßnahmen nutzen (vgl. Hager, 2000; Hasselhorn & Hager, 2001). Dabei hat sich der sog. Prätest-Posttest-Follow-up-Kontrollgruppenplan als besonders geeignet erwiesen, wenn es darum geht, ein bereits entwickeltes bzw. vorgeschlagenes Behandlungskonzept zu evaluieren. In der Standardversion dieses Versuchsplans werden Probanden per Zufall zwei Bedingungen zugeordnet (unabhängige Variable): einer Experimentalbedingung, in der die Probanden mit der vorgeschlagenen Intervention behandelt werden, und einer Kontrollbedingung. Die Personen in beiden Bedingungen werden hinsichtlich des interessierenden Verhaltens (abhängige Variable) unmittelbar vor der Intervention (Prätest), unmittelbar nach der Intervention (Posttest) und einige Zeit nach Beendigung der Intervention (Follow-up) untersucht. Was genau mit den Probanden der Kontrollbedingung zwischen Prätest und Posttest gemacht wird, hängt von der Zielsetzung der Evaluation ab. Steht man ganz am Anfang einer Interventionsforschung zu einem interessierenden Störungsbild und will mit einem Interventionsansatz prüfen, ob eine Beeinflussung in einem gewünschten Verhaltens- bzw. Erlebensbereich (abhängige Variable) überhaupt möglich ist, dann mag es ausreichen, die Probanden unter der Kontrollbedingung nicht zu behandeln (Wartegruppe). Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass eine Wartegruppe keine interventionsgebundenen Wirkungen kontrolliert; das sind solche Wirkungen, die allein durch die Tatsache entstehen, dass Personen überhaupt einer beliebigen Behandlung ausgesetzt werden. Kontrolliert werden durch Wartegruppen lediglich Retesteffekte und Entwicklungseffekte auf die abhängige Variable. Retesteffekte sind Veränderungen in der Ausprägung der abhängigen Variablen, die durch deren wiederholte Erfassung in Prätest und Posttest zustande kommen: Kinder erbringen im Posttest höhere Leistungen, weil sie den Test zum 2. Mal bearbeiten. Entwicklungseffekte sind Veränderungen in der Variablenausprägung, die unabhängig von der Intervention durch Entwicklungsveränderungen zwischen Prä- und Posttest entstehen: Kinder erbringen im Posttest höhere Leistungen, weil sie in der Zwischenzeit einen Entwicklungsschub durchgemacht haben. Beide Arten von Effekten sind z. B. bei Intelligenztestleistungen von Kindern beobachtbar (vgl. Hager & Hasselhorn, 1997). Kann man aufgrund der bisherigen Interventionsforschung davon ausgehen, dass das interessierende Verhalten oder Erleben bei der fokussierten Personengruppe prinzipiell beeinflussbar ist, so sollte auch unter der Kontrollbedingung eine Intervention stattfinden. Diese kann entweder andere Verhaltensänderungsziele verfolgen als die zu evaluierende Intervention (isolierte Evaluation), oder aber einen alternativen Ansatz zur Erreichung der gleichen (oder ähnlicher) Ziele der Verhaltensänderung darstellen (vergleichende Evaluation). Hat man z. B. ein Interventionsprogramm zur Steigerung der Intelligenz bei
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Kindern mit festgestellter Lernbehinderung entwickelt, kann man das Programm im Rahmen einer isolierten Evaluation zunächst mit einem Interventionsansatz vergleichen, der ein anderes primäres Veränderungsziel (z. B. visuo-motorische Koordination) verfolgt. Gibt es jedoch bereits andere bewährte Interventionsansätze mit ähnlicher Zielsetzung wie das unter der Experimentalbedingung durchgeführte Interventionsprogramm, dann bietet sich eine vergleichende Evaluation mit dem zielgleichen Konkurrenzansatz an. Über eine solche vergleichende Evaluation lässt sich z. B. prüfen, ob ein neuer Behandlungsvorschlag bisherigen Interventionsansätzen überlegen ist oder nicht. Viele experimentelle Evaluationen von Behandlungsmaßnahmen für Personen mit sonderpädagogisch relevanten Auffälligkeiten begnügen sich damit, die interessierende abhängige Variable zum Prätest-Zeitpunkt und zum Posttest-Zeitpunkt zu erfassen. Die Wirksamkeit der untersuchten Interventionsmaßnahme gilt dann als nachgewiesen, wenn die positive Veränderung vom Prätest zum Posttest in der Experimentalbedingung bedeutsam größer ausfällt als in der Kontrollbedingung. Obwohl dieses Vorgehen durchaus als gerechtfertigt eingestuft werden kann, ist ein Verzicht auf einen dritten Erhebungszeitpunkt (Follow-up) aus zwei Gründen suboptimal: Zum einen kann der positive Prä-PostVergleich für die Experimentalgruppe durch ein nur kurzfristig wirkendes „Anfachen“ des über die abhängige Variable erfassten Zielverhaltens zustande gekommen sein. Eine solche Wirkung verblasst schnell wieder und hinterlässt keine nachhaltigen Kompetenzsteigerungen. Um beurteilen zu können, ob eine Behandlungsmaßnahme die in der Regel erwünschten nachhaltigen Kompetenzsteigerungen bewirkt, ist daher die Erfassung der abhängigen Variable zu einem späteren Zeitpunkt unerläßlich. Zum anderen kann das mögliche Ergebnis, dass der Prä-Post-Vergleich in der Experimentalgruppe nicht günstiger ausfällt als in der Kontrollgruppe, unter Umständen fälschlicherweise zur Schlußfolgerung führen, dass die Intervention nicht wirksam ist. Es ist nämlich denkbar, dass eine neu entwickelte Interventionsmaßnahme eine Art Entwicklungsanschub bei den behandelten Personen auslöst, die sich erst eine Weile nach Ende der Intervention im Zielverhalten bemerkbar macht. Obwohl solche „Schläfereffekte“ der Wirksamkeit von Interventionen vermutlich eine Seltenheit sind (vgl. aber z. B. die von Zigler, Taussig und Black, 1992, berichteten langfristig positiven Auswirkungen der in den 1960er Jahren in den USA durchgeführten Kindergartenprogramme auf das Delinquenzverhalten im Jugendalter), kann man sie nicht ausschließen und ohne die Realisierung einer Nacherhebung auch nicht aufdecken. Ein Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung des hier vorgeschlagenen Versuchsplanes im Rahmen der isolierten Evaluation einer Intervention zur Steigerung der fluiden Intelligenz bei lernbeeinträchtigten Erwachsenen findet sich bei Hasselhorn, Hager und Boeley-Braun (1995). Überprüft wurden die kurzfristige Leistungsverbesserung und die längerfristige Kompetenzsteigerung bei erwachsenen Lernbehinderten durch das Aachener Denktraining (Klauer, 1993). Die erwachsenen Mitarbeiter einer Behindertenwerkstatt (Durchschnitts-IQ = 75) wurden per Zufall entweder dem Denktraining oder einem Kontrolltraining zugewiesen, das aus verschiedenen Übungen des Frostig-Programms zur Förderung der visuellen Wahrnehmung bestand. Realisiert wurden der hier empfohlene Zweigruppenplan und drei Erhebungszeitpunkte (Prätest, Posttest, Follow-up nach 6 Monaten). Als abhängige Variable diente ein einschlägiges Intelligenztestverfahren. Das Denktraining führte sowohl kurzfristig als auch längerfristig zu bedeutsameren
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| Teil VII: Forschung Steigerungen der Intelligenztestleistungen als das Kontrolltraining, was die von Klauer (1993) geäußerte Intelligenz-Transferhypothese über die Wirksamkeit des Aachener Denktrainings im sonderpädagogischen Feld bestätigt.
29.5 Wo liegen die Grenzen des experimentellen Forschungsansatzes in der Sonderpädagogik? Im vorliegenden Beitrag haben wir gezeigt, wie die experimentelle Forschungsmethode dazu beitragen kann, mehr und besser fundiertes Wissen über Phänomene, Ursachen, Diagnostik und erfolgreiche Behandlung von sonderpädagogisch relevanten Auffälligkeiten zu erlangen. Daraus allerdings die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es sich dabei um die einzig sinnvolle Methode sonderpädagogischer Forschung handele, scheint uns nicht gerechtfertigt zu sein. Nur von begrenztem Nutzen ist die experimentelle Methode, wenn es z. B. darum geht, die noch vielfältigen Beschreibungsaufgaben im Zusammenhang mit den unterschiedlichen sonderpädagogisch relevanten Störungsbildern zu erfüllen. Insbesondere dann, wenn die bisher vorliegenden Annahmen und Theorien zu einer Auffälligkeit an ihre Grenzen stoßen und nicht ausreichen, um hinreichend geeignete Vorhersagen bzw. Erklärungen zu leisten, liegt ein Beschreibungsproblem vor. Für die Prüfung von Hypothesen zur Verursachung sonderpädagogisch relevanter Phänomene kann der experimentelle Drei-Gruppen-Versuchsplan unter Realisierung von Kontrollgruppen chronologischen und funktionalen Alters (bzw. gleichen Leistungsniveaus bezüglich des im Zentrum des sonderpädagogischen Störungsbildes stehenden Funktionsbereiches) insbesondere dann wertvolle Hinweise liefern, wenn bei der Experimentalgruppe auf der Basis der experimentellen Variation feststellbare Defizite gravierender ausfallen als bei der Kontrollgruppe funktionalen Alters. Findet man bei dieser Kontrollgruppe Defizite, die ähnlichen stark oder größer ausfallen als bei der Experimentalgruppe, so können keine Schlüsse bezüglich der Verursachung des interessierenden Phänomens gezogen werden und die Frage bleibt offen, ob das untersuchte Defizit Ursache, Auswirkung oder einfach ein Korrelat des interessierenden Phänomens darstellt. Außerdem hängt die Realisierung dieses Versuchsplanes letztlich davon ab, ob sich potenzielle Ursachenfaktoren angemessen durch eine experimentelle Variation operationalisieren lassen. Bezüglich der Durchführung von Studien zur Evaluation von Interventionsmaßnahmen sind ethische Aspekte zu bedenken, wenn einer Kontrollgruppe eine mutmaßlich effektive Maßnahme vorenthalten wird, um die Effektivität der Maßnahme unter Beweis zu stellen oder den Mechanismus seiner Wirkung zu untersuchen. Dabei ist das Ausmaß der Konsequenzen zu berücksichtigen, wobei geprüft werden kann, ob die mutmaßlich wirksame Maßnahme ohne Abstriche in ihrer Wirkung zeitlich verzögert auch der Kontrollgruppe zugewiesen werden kann (Wartekontrollgruppe). Trotz einiger Einschränkungen ist die experimentelle Forschungsmethode ein entscheidender und eleganter Weg, theoretische Annahmen über Ursachen, Erfassungsmethoden und Behandlungsansätze zu prüfen. Für das systematische Generieren neuer Ursachenannahmen, diagnostischer Ansätze und Behandlungsideen ist sie allerdings nicht hinreichend.
Kapitel 29: Experimentelle Forschung: Was leistet sie für die Sonderpädagogik? | 909
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910
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Autorenregister Hinweis: die kursiv gedruckten Seitenangaben beziehen sich auf die Literaturverzeichnisse der Artikel.
Aarnoutse, C. A. J. 525, 539 Abé, I. 204 Abel, E. L. 70, 72, 77 Abel, J. 649, 655 Abele, A. 632 Achenbach, J. 563, 566 Addison Stone, C. 379–381, 382 Adling, I. 827, 828, 832, 850, 855 Affolter, F. 235, 241 Affolter, W. 676, 682 Ahern, F. M. 71, 79 Ahlheim, K. 731, 733 Ahmed, A. 591, 602, 604 Ahrbeck, B. 149, 151, 152, 154–156, 162, 165, 178, 182, 397, 417 Albert, M. 729, 730, 734 Albrecht, A. 649, 650, 656 Albrecht, F. 182, 699 Alisch, L. M. 655 Alper, S. 741, 748 Amelang, M. 904, 909 Amft, A. 316, 326 Amft, H. 326 Amft, S. 316, 326 Amir, N. 75, 78 Ammann, W. 88, 90 Amrhein, F. 772, 773, 775, 776, 780 Amstad, H. 676, 682 Anderlik, L. 235, 241 Anderson, J. C. 328, 335 Anderson, L. M. 462, 465 Anderson, R. C. 417, 516 Andreasen, N. C. 331, 335 Andreason, P. 482, 503 Andritzky, M. 745, 747 Anger, H. 525, 537
Anthony, H. M. 462, 465 Antil, L. R. 452, 465 Antor, G. 30, 46, 55, 81, 90, 165, 183, 215 Anumolu, V. 289 Appleton, H. 301, 303 Aps-Ellrott, B. 588 Arbinger, R. 672, 682 Arnold, D. H. 525, 526, 537 Arnold, K.-H. 185, 203, 207, 214, 390, 392 Arnold, L. E. 70, 78 Arnold, R. 134, 139, 821 Arnold, T. 683 Aronson, E. 460, 465 Arp, H. 714, 715, 721 Artelt, C. 8, 22, 30, 518, 539, 651, 653 Arter, J. A. 409, 410, 417, 889, 894 Ashman, A. F. 455, 465 Asmuth, H. 826, 831 Asperger, H. 40, 55 Aster, M. von 75, 77, 153, 166, 197, 201 Aubrey, C. 595, 604 Auer, M. 609, 617, 620, 632 Auerbach, J. 75, 80 Aufschnaiter, S. von 134, 139 Augst, G. 564 Autti-Ramö, H. 69, 79 Ayres, J. 234, 241, 773, 780
Bach, H. 42, 55, 104, 114, 116, 134, 139, 384, 392, 815, 820 Bächer, K. 229, 241 Bäcker, G. 751, 759
Baddeley, A. D. 543, 564, 900, 909 Badgett, J. 468, 469, 475 Bähr, J. 780 Baier, H. 392, 404, 405, 417, 419, 684, 710, 734 Baillet, D. 257, 264 Bairrao, J. 252, 264 Baker, E. L. 476 Baker, E. T. 877, 892, 894, 896 Baker, S. 442, 450, 460, 464, 465 Bakken, J. P. 519, 538, 876, 878, 896 Bakker, J. T. A. 380, 382 Balgo, R. 128, 133, 134, 137, 139, 140, 141, 142, 587, 590, 701 Balhorn, H. 265, 266, 547, 564, 565, 684 Ballstaedt, S.-P. 801, 802 Banaschewski, T. 187, 199, 202 Bandura, A. 443, 450 Bangert-Drowns, R. L. 415, 419 Banmen, J. 757, 759 Banse, G. 715, 721 Barclay, C. R. 287, 289 Bardeleben, R. v. 847, 856 Bargmann, R. 525, 537 Barkley, R. A. 332, 334, 335, 336 Barlsen, J. 817, 820 Barnett, W. S. 237, 241 Baron, L. 629, 632 Barsch, S. 725, 733 Bartel, N. R. 312, 313 Barth, K. 501, 502, 786, 788
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| Autorenregister Barth, R. 229, 241 Bartram, M. 338, 349 Baruk, S. 671, 682 Bässler, H. 780 Bastian, H. G. 776, 778, 780 Bateson, G. 128, 139 Battista, M. T. 637, 642, 654 Baudisch, W. 418, 420, 844, 850, 854 Bauersfeld, H. 135, 140, 578, 588, 634, 654 Baulig, V. 727, 733 Baum, A. 704, 709 Baumann, M. 527, 537 Baumberger, W. 525, 537 Baumert, J. 22, 30, 31, 110, 114, 345, 349, 367, 372, 418, 639, 651, 653, 654 Bäuml-Roßnagl, M.-A. 690, 699 Bayerhuber, H. 709 Bayraktar, S. 468, 469, 475 Bear, G. G. 380, 382 Beaton, A. E. 642, 654, 656 Beavin, J. H. 128, 142, 775, 781 Bebber, N. van 583, 590 Bebko, J. M. 282, 289 Bebout, H. C. 673, 682 Becher, R. 700 Bechtel, W. 289 Beck, D. 103 Beck, I. 214, 857, 866 Beck, U. 124, 126, 693, 699 Becker, K.-P. 42, 55, 227, 241 Becker, P. 787, 788 Becker, W. C. 440, 446, 450 Beckers, E. 783, 788 Bedürftig, T. 617, 632 Beelmann, A. 241 Begemann, E. 46, 47, 55, 104, 105, 107, 114, 135, 140, 223, 241, 404, 417, 419, 578, 588, 697, 699, 733
Begemann, E. 22, 30 Beha, K. 597, 604 Behnken, I. 735 Behring, K. 95, 103, 195, 196, 199, 201, 203, 239, 242, 444, 449, 450, 588, 642, 654 Beinlich, A. 564 Belin, T. R. 328, 336 Bell, P. A. 704, 709 Belmont, J. M. 287, 289 Bender, P. 671, 677, 682 Benkmann, R. 83, 85, 90, 187, 202, 365, 371, 373, 403, 417, 729, 733 Bennack, J. 700 Benner, D. 35, 55 Bennett, S. N. 434, 435 Benson, C. 694, 699 Berck, K.-H. 701, 708 Bereiter, C. 439, 445, 450 Berger, A. 659, 662, 664, 677, 679, 685, 686 Berger, P. A. 115 Berger, P. L. 81, 90 Bergk, M. 265 Bergmann, K. 734 Berliner, D. C. 435, 466 Bernstein, B. 105 Bertalanffy, L. von 128, 140 Bertram, H. 106, 115 Bertrand, L. 317, 326 Berwanger, D. 558, 564 Beschel, E. 45, 55 Besuden, H. 650, 654 Betz, D. 10, 30, 138, 140 Beyer, R. 527, 537 Beyersmann, J. 229, 241 Biedermann, J. 328, 336 Biehl, P. 764, 770 Bieker, M. 772, 776, 780 Bielefeld, J. 784, 788, 789 Biermann, H. 807, 808, 812, 820 Biesalski, P. 310, 311, 314 Biewer, G. 424, 435
Bilstein, J. 127 Binet, A. 189, 202 Birnstengel-Höft, U. 659, 685 Bischoff, H. 418 Black, K. 907, 910 Blackman, L. S. 287, 289 Blaney, N. 460, 465 Blankertz, H. 398, 417, 758, 759 Blässer, B. 479, 503, 559, 568 Bleidick, U. 30, 40–42, 44, 46, 55, 149, 162, 165, 183, 215, 374, 390, 392, 397, 417, 419, 684, 734 Bless, G. 87, 88, 90, 100, 102, 263, 264, 357, 373, 375–379, 381, 382, 401, 417 Blickenstorfer, J. 46, 55 Blöchlinger, H. 381, 382 Block, G. W. 70, 78 Block, J. H. 415, 417 Blomeyer, R. L. Jr. 469, 477 Bloom, B. S. 414, 415, 417 Bluhm, A. 617, 633 Blum, I. M. 873, 876, 895 Blum, W. 31 Blum-Maurice, R. 229, 241 Blumenstock, L. 502, 513, 516 Blumenthal, A. 57, 392 Blumer, H. 129, 140 Boban, I. 357, 373 Bobrowski, S. 614, 632 Bode, S. 316, 317, 326 Boeley-Braun, K. 907, 909 Bögeholz, S. 705, 708 Böhm, O. 51, 56, 404, 405, 408, 417, 430, 437, 602, 604, 680, 682, 825, 827, 831 Bolger, A. 286, 292 Bolte, K. M. 104, 115 Bönig, D. 671, 682 Bonz, B. 817, 820
Autorenregister | 913
Booij, N. 402, 418 Bopp, L. 40, 56 Boppel, W. 832 Borchert, J. 44, 45, 49, 50, 56, 58, 165, 203, 205, 244, 279, 345, 348, 374, 382, 395, 419, 420, 435, 436, 437, 451, 568, 700, 910 Borg-Laufs, M. 336 Borkowski, J. G. 273, 275, 276, 278, 279, 282, 283, 286, 287, 289, 291, 292, 442, 451 Bormann, K. 541, 564 Born, C. 196, 197, 205, 616, 633 Börner, A. 180, 184 Borsch, F. 463, 465 Bortz, J. 357, 373 Bös, K. 784, 785, 788 Bos, W. 657 Bosman, A. M. T. 380, 382 Böttcher, W. 261, 264 Botting, N. 70, 77 Boulton-Lewis, G. 659, 682 Bourdieu, P. 86, 90, 110, 115, 728, 733 Bower, G. H. 527, 538 Bower, G. M. 329, 336 Boyle, R. A. 703, 709 Brack, U. B. 45, 58, 336 Bracken, H. v. 86, 87, 90 Brady, D. R. 482, 503 Brady, S. 539 Brambring, M. 241 Brand, I. 306, 312, 786, 788 Brand-Gruwel, S. 525, 539 Brandenberg, M. 671, 683 Brandenberg, P. 385, 392 Brandt, A. von 726, 733 Bransford, J. 476 Branson, T. A. 741, 747 Braun, A. 239, 241 Braun, K. H. 173 Bray, N. W. 282, 288, 289, 290, 291, 292
Bredel, U. 566, 568 Breiteig, T. 685 Breitenbach, E. 306, 312, 786, 788 Brekke, G. 685 Brengelman, S. U. 447, 450 Breslau, N. 70, 78 Breucker, V. 741, 747 Breuninger, H. 10, 30, 138, 140 Brewer, D. J. 887, 894 Brezing, H. 561, 568, 909 Brezinka, W. 33, 34, 56 Brilling, O. 183 Brinkmann, E. 134, 140, 509, 516 Britton, L. 235, 241 Bröcher, J. 794, 800, 801, 802, 803 Brodtmann, D. 783, 788 Brög, H. 801, 804 Broihier, M. 472, 476 Broman, S. 71, 78 Bronfenbrenner, U. 23, 30, 107, 115, 176, 181, 182, 245, 254, 264, 320, 326, 373 Brooks, P. H. 289 Brophy, J. E. 12, 30 Browder, D. M. 749 Brown, A. L. 192, 202, 271–273, 277, 279, 281, 282, 287, 289, 290, 461, 466, 525, 528, 531, 532, 538 Brown, K. J. 519, 537 Brownell, M. T. 876, 886, 896 Bruchhäuser, H.-P. 821 Brückers, R. 867 Brügelmann, H. 134, 140, 256, 264–266, 508, 509, 516, 565, 566, 567, 684 Brügelmann, N. 509, 516 Brüll, H.-M. 858, 867 Bruner, J. S. 195, 196, 202,
204, 236, 241, 658, 682, 773, 780 Brünger, P. 776, 780 Brunstein, J. C. 91, 856 Brusten, M. 81, 90, 91, 129, 140 Brzoska, M. A. 283, 292 Buber, M. 368, 373 Bucher, A. 765, 769, 770 Buff, A. 345, 348 Bühlow, G. 402, 417 Bulmahn, E. 816, 820 Bundschuh, K. 49, 50, 56, 91, 102, 115 Bungart, J. 859, 864, 865, 867 Bunk, G. P. 812, 820 Bunk, H.-D. 690, 699 Burack, J. A. 289 Burgard, P. 752, 759 Bürger, W. 893, 896 Burgmer, M. 711, 713, 714, 721 Bürli, A. 403, 417 Burmester, K. 671, 682 Burns, E. M. 70, 78 Burton, T. A. 746, 748 Bus, A. G. 498, 502, 511, 516, 880, 894 Busch, B. 328, 336 Busch, C. 424, 425, 435 Buschmann, H. 560, 565 Busse, B. 745, 747 Bussing, R. 328, 336 Butler, D. L. 272–275, 277, 279 Butler, S. R. 525, 537 Butterfield, E. C. 287, 289 Büttner, G. 292, 336 Byrne, B. 519, 523, 537 Bzufka, M. W. 75, 78
Calfee, R. C. 466 Campione, J. C. 192, 202, 273, 276, 279, 281, 282, 287, 289, 290
914
| Autorenregister Cardon, L. R. 73, 78 Carey, D. A. 673, 682 Carey, S. 703, 708 Carlberg, C. 401, 417, 877, 891, 892, 894 Carle, U. 175, 176, 181, 182, 265 Carnine, D. 445–447, 450, 451 Carnine, D. W. 451 Carpenter, T. P. 667, 682 Carraher, D. W. 670, 684 Carroll, J. B. 11, 30, 414, 417 Carroll, W. M. 667, 683 Carson, J. 848, 856 Carter, B. 560, 566 Carter, M. 377, 378, 383 Carthon, P. 741, 747 Case, R. 588 Casey, A. 876, 879, 896 Castello, A. 717–719, 721, 830, 831, 852, 853, 855 Casto, G. C. 876, 882, 883, 894, 896 Castro-Caldas, A. 482, 502 Caulfield, M. 539 Cavalier, A. R. 281, 290 Cavanaugh, J. C. 286, 287, 289, 291 Cech, D. 700 Chamberlain, A. 452, 461, 466 Chambers, S. 378, 382 Chan, L. K. S. 527, 537 Chapman, J. 382 Chapman, S. 492, 503, 519, 538 Chard, D. 442, 450, 451 Chard, D. J. 462, 463, 464, 466 Chelemer, C. 631, 633 Chen, R. 518 Cho, N. K. 503 Chopich, E. J. 757, 759 Christiansen, K. 317, 327
Christmann, E. 468, 469, 475 Ciompi, L. 136, 140, 699 Clark, J. M. 475 Clark, R. E. 471, 472, 473, 476 Claros Salinas, D. 76, 78 Claußen, B. 804 Clemens, W. 402, 417 Clements, D. H. 637, 654 Clifford, R. D. 244 Cloerkes, G. 34, 56, 81, 87, 89, 90 Cohen, A. 328, 337 Cohen, E. G. 453, 455, 457, 458, 464, 465 Cohen, J. 467, 476, 483, 502, 874, 875, 894 Cohen, M. 94, 102 Cohen, R. A. 329, 331, 336 Cole, P. G. 527, 537 Collins, B. 741, 747 Coltheart, M. 541, 542, 565 Combe, A. 58 Comenale, P. L. 70, 79 Comenius, J. A. 393, 417 Conger, J. J. 697, 701 Connelly, V. 519, 537 Conners, F. 73, 79 Conners, F. A. 282, 291 Connor, R. 301, 303 Conry, J. 70, 78 Cook, S. B. 876, 883, 894 Cook, T. D. 301, 303 Cooke, R. W. I. 70, 77 Cornell, J. 705, 709 Corno, L. 435 Cornoldi, C. 283, 290 Cortina, K. S. 418 Cowan, R. 69, 79 Cox, K. E. 536, 537 Cramer, D. 746, 747 Cramer, G. 820 Cramon, D. von 76, 78 Cryer, D. 244 Csapó, B. 294, 303 Curiel, J. M. 527, 539
Cuvo, A. J. 741, 746, 747, 748 Czarnecki, D. M. 69, 79
Dacheneder, W. 308, 309, 310, 312 Dahlmeier, K. 683 Dahrendorf, R. 104, 115 Dale, E. 741, 742, 747 Damasio, R. A. 773, 780 Damerow, P. 572, 588 Dannebeck, C. 106, 115 Dannenbauer, F. M. 236, 241 Das, J. P. 191, 204, 282, 290 Daublebsky, B. 787, 788 Dauenhauer, E. 823, 831 Daum, O. 138, 140 Davids, S. 838, 842 Davis-Dorsey, J. 667, 669, 682 Dawson, M. M. 410, 420 Day, J. D. 289, 291 DeBaryshe, B. D. 539 De Beni, R. 275, 276, 279 deCharms, R. 346, 348 De Corte, E. 420, 667, 669, 671, 673, 674, 682, 685 Decoufle, P. 71, 78 Deemer, S. A. 380, 382 DeFries, J. C. 78 Dehaene, S. 76, 78, 79 Dehn, M. 202 Deinhardt, H. M. 40, 56, 792, 803 Deißinger, T. 835, 842 de Jong, R. 402, 418 De Lange, J. 648, 654 De la Ronde, M. 377, 378, 383 Delis, D. C. 70, 79 Demmrich, A. 651, 653 Denckla, M. B. 518 Denk, M. L. 743, 747 Denninghaus, E. 860, 867 Derbolav, J. 39, 56
Autorenregister | 915
Derryberry, D. 331, 337 Desberg, P. 541, 566 Detterman, D. K. 281, 289, 290 Dewey, J. 358, 370, 373 de Win, L. 667, 669, 682 Dichanz, H. 418, 439, 449, 450 Dichgans, J. 223, 241 Diesbergen, C. 123, 124, 126 Dieterich, M. 825, 826, 831 Dietrich, H. 844, 851, 855 Dietrich, I. 426, 435, 436 Dietrich, T. 260, 264 Dietzen, W. 705, 709 Dilling, H. 67, 73, 75, 78, 281, 290 Dings, W. 840, 843 Dittmann, J. 567 Döbert, H. 419, 832 Dobrindt, Y. 27, 31, 95, 103, 195, 199, 201, 203, 239, 242, 444, 449, 450, 588, 642, 654, 669, 683 Doebli, M. 676, 682 Döen, W. 784, 788 Doering, W. 234, 241 Dohmen, G. 741, 747 Dohrenbusch, H. 46, 55 Doil, H. 235, 236, 242 Dole, J. A. 519, 527, 530, 531, 537 Dolenc, R. 501, 502 Doll-Tepper, G. 784, 788 Domma, W. 803 Donabedian, A. 864, 867 Dönhoff-Kracht, D. 88, 90 Donohue, B. C. 482, 503 Döpfner, M. 28, 30, 332, 336 Döring, N. 357, 373 Dörner, D. 138, 140 Dornheim, D. 194, 202 Dostal, W. 814, 820 Dostert, E. 502 Dotzler, H. 252, 266
Drave, W. 30, 56, 97, 102, 103, 832 Dresel, M. 345, 348 Dressman, M. 495, 502 Drewlani, K. H. 335, 336 Drews, C. D. 71, 78 Dreyer, L. G. 539 Dröge, R. 617, 625, 633, 676, 684, 685 Duc, G. 70, 79 Duffy, G. 519, 537 Duffy, T. M. 134, 140 Duismann, G. H. 711, 714– 716, 721, 823–828, 831, 832, 845, 849, 850, 855 Duit, R. 834 Dumke, D. 362, 363, 373, 374, 409, 417, 562, 565 Dummer-Smoch, L. 511, 512, 514, 516, 553, 560, 563, 565 Duncan, J. C. 503 Duncker, L. 126, 690, 699, 701, 824, 832 Dunn, G. 848, 856 Dunn, L. M. 401, 417 Dunst, C. J. 228, 238, 241 DuPaul, G. J. 334, 336, 876, 885, 886, 894 Dupuis, G. 58 Dutke, S. 527, 537
Ebeling, A. 617, 625, 633, 676, 684, 685 Eberle, G. 374, 418, 420, 430, 435–437, 555, 565, 566 Ebert, B. 585, 586, 589, 725, 733 Eberwein, H. 46, 56, 84, 90, 116, 140, 163, 164, 173, 182–184, 205, 209, 214, 374, 692, 696, 699, 700 Eckert, C. 341, 349 Eckert, T. L. 334, 336, 876, 885, 886, 894
Eckhart, M. 379, 383 Eckstein, B. 408, 411, 417 Edelstein, W. 30, 417, 588, 589 Edler, M. 560, 565 Eggenberg, F. 663, 676, 683 Eggert, D. 149, 152, 156, 160, 162, 165, 189, 205, 235, 241, 315–317, 322, 326, 327, 556, 565, 785, 788 Egner, E. 736, 747 Ehmann, C. 852, 855 Ehrenberg, R. G. 887, 888, 894 Ehri, L. C. 199, 202, 482–484, 493, 494, 495, 498, 502, 541, 546, 565, 876, 880, 895 Eichholz-Schumann, H. 335, 336 Eichler, W. 546, 548, 552, 565 Eichling, H.-M. 752, 759 Einsiedler, W. 403, 418, 510, 511, 516, 517, 703, 709 Eisenberg, P. 540, 541, 560, 565 Eissing, G. 739, 740, 747 Elbaum, B. 380, 382, 383, 504, 516 Eldridge, R. C. 440, 451 Ellger-Rüttgardt, S. 116, 262, 264 Ellinger, S. 106, 115 Ellis, N. R. 282, 289–291 Ellrott, D. 588 Elschenbroich, D. 241, 253, 264 Elspaß, D. 444, 450 Emmer, A. 45, 46, 56, 277, 279, 348 Engel, J. 636, 654 Engelen, P. 293, 303 Engelmann, S. 439, 445, 450 Enggruber, R. 838, 839, 843
916
| Autorenregister Engle, R. W. 287, 290 Englert, C. S. 278, 279, 462, 465 Ennemoser, M. 479, 499, 503, 512, 517 Epstein, J. N. 525, 537 Erath, P. 231, 242 Erichson, Ch. 631, 632, 664, 676, 683 Erlinghagen, K. 423, 435 Ernst, Ch. 419, 832 Ertle, Ch. 261, 264 Esser, G. 70, 75, 78, 79, 83, 91, 224, 243, 307, 313 Esser, M. 235, 242 Esser, R. 845, 855 Eubel, K.-D. 418 Evertson, C. M. 12, 30 Ewing, S. 472, 476 Exum, M. 741, 748
Falco, F. L. 539 Falter, J. W. 731, 733, 734 Fantuzzo, J. W. 453, 459, 466 Faraone, S. V. 336 Farran, D. C. 228, 242 Faßmann, H. 848, 856 Fatke, R. 261, 264 Faust-Siehl, G. 96, 103, 259, 264, 690, 700, 710 Faw, G. D. 746, 748 Faxel, S. 745, 747 Fay, E. 638, 657 Fediuk, F. 784, 788 Feist, S. 743, 744, 747 Feldenkrais, M. 773, 780 Fengler, J. 49, 50, 56, 58 Fennema, E. 637, 654 Ferdig, R. E. 469, 477 Ferdinand, W. 104, 107, 115 Ferrara, R. A. 192, 202, 281, 287, 290 Ferretti, R. P. 281, 287, 289, 290 Feuser, G. 368, 369, 373
Fielding, L. G. 516 Filipp, S.-H. 164 Filipp, U.-D. 112, 115 Fingerle, M. 12, 31, 47, 58, 237, 243, 244 Fischel, J. E. 539 Fischer, D. 740, 743, 747 Fischer, E. 235, 242 Fischer, F. W. 560, 566 Fischer, H. E. 134, 139 Fischer, J. D. 704, 709 Fischer, K. 327 Fischer, M. 659, 662, 664, 677, 679, 685, 686 Fischer, P. M. 527, 537 Fischer, T. A. 472, 476 Fischerlehner, B. 705, 709 Fisher, K. 134, 140 Fisseni, H.-J. 147, 162 Flavell, J. H. 271, 279 Flechtcher, J. M. 539 Fleenor, K. 476 Fletcher, J. M. 503 Fletcher, K. L. 282, 288, 289, 290 Fletcher-Flinn, C. M. 469, 472, 476 Flexer, R. J. 594, 599, 604 Floer, J. 597, 604 Flor, D. 517 Fölling-Albers, M. 246, 264, 343, 344, 349, 516 Forness, S. R. 286, 290, 377, 378, 383, 410, 419, 873, 876, 877, 888–890, 895 Förster, H. von 131, 140, 182 Forster, M. 501, 502, 511, 516, 559, 565 Fowler, A. 539 Frank, A. 501, 503, 510, 516, 616, 632 Franke, E. 150, 163 Franke, M. 636, 638, 640, 645, 648, 650, 651, 654 Frederickson, N. L. 378, 382 Freebody, P. 519, 537
Freeß, D. 690, 699, 700 Freiburg, G. 746, 747 Freinet, C. 358, 373, 426 Freinet, E. 358, 373, 436 Freire, P. 170, 173, 358, 373 Frese, A. 840, 843 Freund, L. A. 459, 465 Frey, H. 556, 565 Freytag, A. 12, 31, 47, 58, 243, 244 Fricke, A. 658, 662, 672, 683 Friebertshäuser, B. 182 Fried, L. 134, 140 Friedemann, H.-J. 825, 832, 850, 855 Friedman, M. 541, 566 Friedrich, G. 437 Friedrich, H. 844, 855 Friedrich, H. F. 527, 536, 537 Fries, S. 198, 204, 338, 343, 344, 345, 349 Frith, U. 541, 545, 546, 547, 555, 565, 566 Fritz, A. 30, 31, 185, 187, 192, 194, 196, 201–205, 214, 215, 278, 279, 290, 420, 451, 466, 587, 588, 589, 590, 674, 683, 909 Fritz-Stratmann, A. 633 Fritzsche, Y. 767, 770 Frohne, I. 567 Frölich, J. 332, 336 Frost, J. 479, 503, 559, 566 Frostig, M. 310, 311, 313, 785, 788 Fuchs, A. 104, 115, 394, 418, 723, 724, 734 Fuchs, D. 452, 458, 459, 464, 465, 876, 881, 895 Fuchs, L. S. 876, 881, 895 Fuchs, R. 787, 788 Fuchs-Heinritz, W. 763, 770 Fuhrhop, N. 568 Fulker, D. 73, 79 Fulker, D. W. 78 Funk, E. 745, 747
Autorenregister | 917
Funke, E. H. 22, 32, 107, 116, 173, 183, 214 Funke, J. 187, 202 Furnham, A. F. 378, 382 Fuson, K. C. 581, 587, 588, 625, 632, 667, 683 Füssenich, I. 565
Gabriel, T. 614, 625, 632 Gage, N. L. 435, 441, 450 Galanter, E. 160, 164 Gallin, P. 134, 141 Galperin, P. J. 24, 30 Gamoran, A. 887, 894 Gans, A. M. 380, 382 Ganser, B. 518 Garlichs, A. 259, 264, 690, 700 Gärtner, H. 709, 710 Gasser, P. 430, 436 Gasteiger-Klicpera, B. 74, 79, 198, 203, 308, 313, 336, 436, 505, 507, 511, 512, 514, 517, 555, 566 Gates, A. 519, 537 Gathercole, S. E. 282, 290 Gaudig, H. 695, 700 Gaupp, N. 202, 283, 290, 900, 909 Gebhard, U. 705, 706, 709 Gehrecke, S. 104, 105, 109, 115 Gehrmann, P. 45, 46, 56, 264, 854 Geiser, H. 636, 657 Geißler, R. 106, 115 Gelhaar, K. H. 704, 709 George, S. 734 Georgens, J. C. 792, 803 Georgens, J. D. 40, 56 Gerber, J. 757, 759 Gerhards, J. 737, 747 Gerling, M. 672, 683 Gern, A. 707, 709 Gerrig, R. J. 304, 305, 314 Gerspach, M. 326
Gersten, R. 442, 443, 445, 447, 448, 450, 460, 462–464, 465 Gerster, H.-D. 197, 202, 614, 617, 632 Ghany, D. L. 380, 382 Giaconia, R. M. 412, 418, 432, 433, 434, 436 Giedd, J. N. 482, 503 Giel, K. 125, 126, 690, 700 Giesen, H. 463, 465 Giffhorn, H. 794, 803 Gifford, R. 704, 709 Gillies, R. M. 455, 465 Gines, D. 741, 747 Ginsburg, H. P. 594, 604, 629, 632, 684 Ginsburg-Block, M. D. 453, 459, 466 Glaser, R. 65, 78, 329, 336 Glasersfeld, E. von 121–123, 126, 128, 132, 139, 140, 588 Glass, G. V. 876, 887, 895 Glassner-Cohen, L. 328, 336 Glidden, L. M. 283, 290 Gloer, S. 472, 477, 884, 896 Glover, G. H. 76, 79 Gmünder, P. 767, 771 Goddar, J. 727, 734 Goetze, H. 45, 56, 83, 91, 164, 264, 411, 418, 423, 431, 436, 828, 833 Goffman, E. 81, 87, 90 Goffmann, E. 129, 140 Goin, L. 476 Gold, A. 536, 537, 539 Goldfried, M. R. 153, 154, 157, 163 Gölitz, D. 905, 909 Goll, M. 826, 831 Gomm, B. 501, 502 Gomolla, M. 100, 101, 103 Gomori, M. 757, 759 Gönnheimer, S. 770, 771 Gonser, S. 287, 290
Gontard, A. von 71, 78 Gonzales, E. J. 654 Gonzalez, E. J. 656 Goodman, J. 26, 31 Goodman, K. S. 506, 516 Goosmann, M. 848, 855 Göpfert, H. 705, 709 Gordesch, J. 567 Gore, J. C. 503 Gottke, H.-J. 669, 672, 683 Gough, P. B. 519, 520, 527, 537 Graf, D. 701, 708 Graf, S. 204 Graham, G. 289 Graham, S. 465 Grainger, J. 381, 383 Gramling, L. 70, 79 Granström, M. L. 69, 79 Grassmann, M. 614, 632, 642, 645, 654 Graube, G. 710, 721 Graumann, G. 606, 632, 648, 654 Graumann, O. 373 Gravatt, B. 469, 472, 476 Gray, J. 848, 856 Greenfield, D. B. 283, 292 Greenfield, P. M. 204 Greeno, J. G. 668, 669, 684 Greer, B. 671, 683 Greif, S. 150, 163 Greiffenhagen, S. 707, 709 Greinert, W.-D. 809, 821 Greisbach, M. 45, 46, 49, 56, 203, 467, 476, 895 Grell, J. 439, 450 Grenner, K. 227, 244 Griffin, S. M. 380, 382 Griffith, D. 476 Grimm, H. 235, 236, 241, 242, 567 Grissemann, H. 283, 291, 525, 537 Grocholl, I. 742, 747 Groeben, N. 150, 162, 163
918
| Autorenregister Groffmann, K. J. 189, 202, 909 Grohnfeldt, M. 81, 90, 235, 242 Grom, B. 764, 770 Gröschke, D. 46, 56 Gross-Tsur, V. 75, 78, 80 Grossen, B. 472, 476 Grossmann, K. E. 224, 243, 244 Grube, D. 202, 283, 290, 900, 909 Gruber, H. 349 Grund, M. 554, 565 Gruneberg, M. M. 289 Grüner, H. 741, 747 Grunert, C. 244 Grüning, E. 452, 458, 459, 464, 465 Grünke, M. 83, 90, 91, 847, 848, 852–854, 855, 856 Grupe, L. A. 289 Grüßing, M. 636, 645, 646, 649, 654 Guay, R. B. 637, 655 Guest, D. 848, 856 Günther, H. 546, 565, 566, 567, 568 Günther, K. B. 541, 545, 546, 566 Günther, S. 776, 780 Günzler, C. 766–768, 770 Guskey, T. R. 415, 418 Guthke, J. 193, 202 Guthke, T. 527, 537 Guthmann, J. 392 Guthrie, J. T. 278, 536 Gutiérrez, R. 402, 418
Habermas, J. 82, 91 Hack-Unterkircher, E. 736, 748 Hacker, H. 252, 256, 264 Häcker, H. 37, 56 Hackethal, R. 512, 514, 516, 560, 563, 565
Hackl, B. 169, 170, 173 Haeberlin, U. 46, 56, 263, 264, 357, 373, 376, 379, 382, 383 Hagborg, W. J. 381, 382 Hage, K. 395, 418 Hagemeister, U. 42, 55, 392 Hager, K. 302 Hager, W. 302, 303, 906, 907, 909 Hagstedt, H. 428, 436 Haken, H. 128, 140 Hale, C. 282, 283, 292 Hall, M. 741, 747 Hallahan, D. P. 50, 56, 401, 418 Haller, H.-D. 833 Hameyer, U. 476 Hammer, R. 787, 789 Hammill, D. 308 Hammill, D. D. 307, 309, 311, 313, 887, 895 Hampton, N. Z. 381, 382 Hanesch, W. 751, 759 Hanisch, H. 765, 770 Hanke, P. 509, 516 Hänsel, D. 690, 700 Hanselmann, H. 40, 41, 55, 56 Hänsgen, K.-D. 329, 336 Harada, N. 690, 700 Harms, Th. 244 Harris, K. 472, 476 Harris, K. R. 278, 465 Härtel, W. 714, 715, 721 Hartenstein, G. 57 Harter, S. 380, 382 Hartinger, A. 343, 344, 349 Hartke, B. 421–423, 432, 434, 435, 436 Hartmann, A. 427, 428, 436, 520, 524, 538 Hartmann, D. 427, 428, 436 Hartmann, E. 501, 502 Hartmann, F. 826, 831 Hartmann, J. 649, 650, 655 Hartwig, H. 803
Hartwig, H. W. 609, 617, 620, 632 Häsel, U. 670, 673, 678, 683 Hasemann, K. 577, 580, 581, 587, 588, 589, 834, 845, 855 Haskins, R. 228, 238, 242 Hasse, J. 690, 700 Hasselbring, T. 472, 476 Hasselhorn, M. 187, 199, 202, 204, 271, 277, 279, 282, 283, 287, 288, 290, 291, 302, 303, 527–530, 537, 571, 589, 900, 901, 902, 905–907, 909, 910 Hauer, K. 381, 382 Haug, G. 554, 565 Haugg, F. 827, 833 Haupt, H. 335, 336 Haupt, U. 163 Hausotter, A. 832 Haußer, K. 396, 418, 419 Havighurst, R. J. 254, 264, 764, 770 Haynes, J. A. 472, 476 Hebebrand, J. 73, 80 Heckel, G. 44, 55 Hecker, R. 784, 788 Heckhausen, H. 338, 349 Hecking, R. 819, 821 Heckmann, E. 803 Hedges, L. V. 412, 418, 432, 433, 434, 436 Heese, G. 41, 57, 115 Heger, B. 731, 733 Heid, H. 102, 103 Heil, G. 404, 405, 417 Heim, H. 183 Heimann, P. 808, 821 Heimbrock, H.-G. 761, 770 Heimlich, U. 46, 57, 91, 357, 359, 361, 366, 368, 371, 373, 374, 408, 418 Hein, J. 75, 78 Heiner, M. 858, 867 Heinze, A. 637, 655
Autorenregister | 919
Heinzel, F. 420 Heise, E. 349 Heitmeyer, W. 693, 700, 731, 734 Hellberg-Rode, G. 708, 709 Heller, J. H. 669, 684 Heller, T. 39, 57 Hellmich, F. 636, 640, 641, 646, 649, 650, 654– 656 Helmke, A. 12, 23, 30, 32, 50, 51, 57, 96, 98, 103, 136, 140, 186–188, 194, 198, 202, 205, 206, 251, 264, 266, 364, 373, 517, 592, 605, 652, 655 Helms, S. 780 Helsper, W. 58 Hemminger, U. 73, 80 Hempel, M. 691, 700 Hengartner, E. 684 Henke-Bockschatz, G. 724, 734 Henkemeier, F. 724, 734 Henn, W. 655 Henry, L. A. 282, 291 Henseler, K. 710, 722 Hentig, H. v. 371, 373 Herbart, J. F. 37, 57 Herlyn, I. 745, 748 Herlyn, U. 745, 748 Herné, K.-L. 552, 553, 566 Herpertz-Dahlmann, B. 66, 77, 78, 80 Hersh, R. E. 282, 289 Heseker, H. 739, 748 Heubrock, D. 69, 78, 329, 336 Heuer, G. U. 185, 203 Heyer, P. 374 Hildeschmidt, A. 160, 163, 175,–178, 180, 181, 182, 373, 375, 697, 700, 736, 748 Hilgard, R. 329, 336 Hilger, G. 771 Hiller, G. G. 125, 126, 178,
182, 690, 700, 825, 833, 850, 852, 855 Hilliard, A. E. 527, 539 Hinz, A. 102, 103, 182, 261, 264, 357, 373, 699 Höck, M. 724, 734 Hodapp, R. M. 289 Hofer, A. 516 Hofer, M. 909 Hoffmann, J. 38, 57 Hoffmann, M. 659, 664, 677, 679, 685, 686 Hofmann, B. 45, 46, 56, 277, 279, 348 Hofmann, C. 181, 182, 202–204, 214, 215, 290, 420, 451, 466, 909 Hofmann, Ch. 589 Hofmann, W. 45, 57, 386, 392 Hohmeier, J. 91, 817, 820 Höhn, E. 86, 87, 91, 809, 821 Hoien, T. 481, 482, 502, 503 Holland, G. 637, 640, 655 Holland-Rummer, C. 616, 632 Hollenstein, A. 663, 676, 683 Hölscher, P. 728, 729, 734 Holt, J. 659, 683 Holten, A. 839, 843 Hölter, G. 316–318, 327, 782–784, 786, 787, 788, 789 Holzkamp, K. 134, 140, 163, 167–71, 173, 179, 181, 182, 210, 214 Hölzl, R. 648, 654 Homfeldt, H. G. 81, 91, 129, 140 Honig, M.-S. 120, 126 Hoover, W. A. 519, 520, 527, 537 Hopf, D. 30, 402, 403, 417, 418 Höpken, G. 710, 722 Hoppe-Graf, S. 588 Horn, P. 745, 748
Horn, R. 164, 165, 205, 214 Horne, D. 310, 311, 313 Horney, W. 392 Hornsby, J. R. 193, 204 Horstmann, T. 184 Horwitz, R. A. 412, 418 Hosenfeld, I. 186, 202 Hottinger, C. 786, 789 Houben, I. 281, 291 Houlihan, D. M. 594, 604 Houser, R. F. 381, 383 Houston-Wilson, C. 784, 789 Houtveen, A. A. M. 402, 418 Hoyningen-Süess, U. 41, 43, 57 Hradil, S. 104, 106, 107, 115 Hubel, S. 287, 291 Huber, G. L. 909 Huber, H. 771 Huber, L. 518 Huber, W. 193, 202 Hübner, S. 302, 303 Huck, L. 171, 172, 173 Hudson, T. 667, 669, 683 Huffman, L. F. 288, 289, 290 Hughes, M. T. 380, 383, 516 Huisinga, R. 817, 820 Hulme, C. 900, 909 Hülsmann, M. 786, 789 Humphries, T. 891, 895 Hundertmark-Mayser, J. 31, 265 Hungerford, H. R. 705, 709 Hunting, R. P. 592, 604 Huppertz, H. 782, 789 Hurley, E. A. 452, 461, 466 Hurrelmann, K. 81, 90, 115, 129, 140, 402, 418, 729, 730, 734, 737, 745, 748 Huschke-Rhein, R. 134, 140, 183 Hüsers, F. 731, 735 Husserl, E. 725, 734 Hussy, W. 192, 202, 278, 279 Huston, A. C. 697, 701 Hüttinger, K. 563, 566
920
| Autorenregister Hüttis-Graff, P. 509, 516 Hüwe, B. 45, 46, 56, 264, 854
Ianes, D. 275, 279 Illi, U. 786, 789 Ingenkamp, K. 45, 57, 164, 165, 205, 214, 509, 517 Ingvar, M. 482, 502 Inhelder, B. 643, 644, 656 Irmischer, T. 315, 327, 784, 789 Israel, G. 748 Issing, L. 474, 477
Jackson, D. D. 128, 142, 775, 781 Jacobi, E. 746, 747 Jacobi, J. 700 Jacobs, K. 845, 855 Jacobs, S. 366, 371, 373 Jacobson, L. 630, 633 Jäger, R. S. 45, 57, 164, 165, 186, 202, 203, 205, 214 Jäger, W. 411, 418 Jahn, F. 724, 734 Jäncke, L. 482, 502 Jank, W. 369, 370, 373 Janke, W. 904, 909 Jansen, G. 49, 50, 56, 58, 163 Jansen, H. 199, 203, 238, 242, 252, 253, 264, 499, 501, 502, 904, 910 Jantzen, W. 41, 45, 57, 83, 91, 151, 163, 188, 203, 369, 374, 385, 392 Janzen, L. A. 70, 78 Jaschke, H. G. 734 Jenkins, J. R. 409, 410, 417, 452, 463, 464, 465, 889, 894 Jenkins, N. 465 Jensen, R. J. 632 Jeschke, K. 845, 855 Jetter, K. 134, 140, 151, 163, 164 Joas, H. 91
Jöckel, S. 649, 655 Johann, M. 606, 607, 612, 613, 632 Johannsen, K. 472, 477 Johnson, B. F. 741, 748 Johnson, C. 308, 313 Johnson, C. A. 71, 79 Johnson, C. J. 284, 291 Johnson, D. W. 452, 453, 455–459, 463, 464, 465, 466 Johnson, R. C. 71, 79 Johnson, R. T. 452, 453, 455–459, 463, 464, 465, 466 Johnston, R. 519, 537 Jonassen, D. H. 134, 140 Jones, K. L. 70, 79 Joosten, B. 736, 737, 743, 746, 747, 748 Jörg, H. 426, 436 Jüling, I. 637, 655 Julius, H. 83, 91, 336, 436, 828, 833 Jung, I. 849, 855 Jungmann, T. 515, 517, 519, 520, 524, 538 Junkin, L. J. 380, 382 Jürgen-Lohmann, J. 463, 465 Jürgens, E. 700 Jussen, H. 41, 57 Justice, E. M. 283, 288, 291 Jüttemann, G. 801, 802, 803 Jüttemeier, M. 659, 664, 677, 679, 685, 686
Kachouth, C. 676, 683 Kagan, J. 697, 701 Kähler, C. 395, 419 Kaiser, A. 689–691, 693, 695, 698, 699, 701 Kaiser, G. 633 Kalb, G. 525, 536, 538 Kallas, R. G. 293, 303 Kalmbach, H. 632 Kameenui, E. J. 446, 450, 451
Kaminski, G. 160, 163, 214 Kaminski, H. 822, 833 Kampshoff, M. 752, 759 Kant, I. 57, 572, 588 Kanter, G. O. 5, 30, 32, 37, 38, 50, 57, 59, 83, 91, 151, 152, 160, 163, 242, 306, 313, 314, 388, 389, 391, 392, 394, 404, 418, 419, 759, 781, 788, 789, 792, 793, 803 Kappe, D. 104, 115 Karsten, S. 379, 383 Kaspar, V. 286, 292 Kasper, H. 255, 264, 364, 374 Kastantowicz, U. 39, 57 Kats, W. 255, 265 Kattmann, U. 632, 653, 655 Katz, E. 282, 290 Katz, L. 503, 539 Katzenbach, D. 264, 362, 374 Kauffman, J. M. 50, 56 Kaufman, A. S. 190, 191, 203 Kaufman, N. L. 190, 191, 203 Kaufmann, I. 86, 87, 91 Kauper, A. 741, 742, 743, 745, 748 Kausen, R. 58 Kautter, H. 117, 126, 152, 160–162, 163, 167, 173, 182, 209, 212, 214, 238, 242 Kavale, K. A. 286, 290, 312, 313, 315, 327, 377, 378, 383, 401, 410, 417, 419, 873, 876, 877, 882, 883, 886, 888–892, 894, 895 Kay, R. 378, 382 Keeney, B. P. 133, 141 Kegel, G. 518, 683 Kell, A. 103 Keller, B. 671, 683
Autorenregister | 921
Keller, H. 243 Kellert, S. R. 705, 709 Kellner, M. 363, 373 Kelly, D. L. 642, 654, 656 Kemmelmeyer, K.-J. 772, 780 Kemmler, L. 237, 242, 555, 566 Kemp, C. 377, 378, 383 Kendall, C. R. 286, 291 Kennedy, W. 71, 78 Kenny, M. C. 380, 382 Kent, R. N. 153, 154, 157, 163 Kerkhoff, W. 58 Kern, A. 254, 265, 541, 566 Kern, E. 541, 566 Kern, H. J. 828, 833 Kersberg, H. 705, 709 Kersting, M. 737, 738, 748, 749 Kesper, G. 234, 242, 786, 789 Ketzinger, W. J. 847, 853, 855 Keune, S. 836, 837, 843 Khalili, A. 469, 476 Kibby, M. R. 134, 140 Kiefl, W. 263, 265 Kier, L. E. 503 Kieschke, U. 193, 205 Kimberling, W. J. 73, 78, 80 King, A. 534, 535, 538 Kinnunen, R. 519, 521, 538 Kintsch, W. 38, 57 Kiper, H. 632, 655, 731, 734 Kiphard, E. J. 235, 242, 306, 310, 312, 313, 315, 327, 782, 788, 789 Kipp, M. 812, 820 Kirschhock, E.-M. 501, 503, 510, 511, 516, 517 Klafki, W. 368, 374, 395, 416, 419, 690, 700, 758, 759, 773, 777, 781 Klaghofer, R. 263, 264, 357, 373, 376, 382
Klattenhoff, K. 845, 855 Klauer, K. J. 4, 30, 33, 36, 44, 45, 49, 57, 75, 79, 90, 104, 115, 189, 193, 198, 203, 265, 273, 274, 279, 281, 291, 296, 297, 302, 303, 362, 374, 417, 443, 444, 450, 527, 538, 683, 853, 855, 907, 908, 909 Kleber, Ed. W. 160, 163 Klein, F. 46 Klein, G. 22, 30, 104, 105, 108, 109, 115, 117, 126, 220, 222, 223, 231, 234, 237, 238, 242, 369, 374, 388, 392, 394, 403, 419, 424, 425, 436, 450 Klein, K. 134, 141 Kleine, F. 55 Kleine, H. 231, 244 Kleiter, F. 164 Klemenz, B. 12, 30 Klemm, F. 713, 722 Klepel, H. 332, 337 Kleppel, G. 704, 709 Klewitz, E. 257, 265 Klicpera, Ch. 74, 79, 198, 203, 308, 313, 505, 507, 511, 512, 514, 517, 555, 566 Klieme, E. 30, 367, 372, 637, 639, 655, 828, 833 Kloas, P. W. 840, 843 Klöckener, J. 669, 683 Klode, W. 204 Klotz, P. 566, 568 Kluwe, R. H. 271, 279 Knapp, I. 745, 747 Knapp, M. 631, 633 Knauer, S. 164, 173, 182–184, 205, 209, 214, 692, 696, 700 Knebel, T. von 617, 633 Kneer, G. 129, 132, 141 Kniel, A. 263, 265, 401, 419, 893, 895
Koch, J. 787, 789 Koch, K. 106, 110, 115, 116, 171, 173, 181, 182, 208–210, 214, 225, 242 Koch-Priewe, B. 691, 700 Koepsell, A. 617, 632 Kögel, A. 704, 709 Kohlberg, L. 771 Kohlmeyer, K. 78 Köhnlein, W. 700, 709 Koitka, Ch. 257, 265 Koivulehto, H. 69, 79 Kokigei, M. 231, 242 Köller, O. 345, 349 Kollmann, R. 761, 764, 771 Kolonko, A. 744, 748 Kolt, C. 150, 163, 209, 214 König, E. 35, 57 König, H.-W. 585, 586, 589 Kooij, R. van 39, 52, 58 Körkel, J. 527–530, 537 Korkman, M. 69, 79 Kornadt, H. J. 90 Körner, H. 472, 477, 884, 896 Kornmann, A. 136, 141, 727, 734, 752, 759 Kornmann, R. 58, 99, 103, 136, 141, 160, 163, 171, 173, 180, 181, 182, 183, 209, 214, 563, 566, 587, 589, 616, 632, 633, 727, 734, 752, 759 Korsten, S. 859, 867 Kösel, E. 134, 141 Koskinen, P. 474, 477 Kossow, H.-J. 558, 560, 566 Kotrschal, A. 707, 709 Kozub, F. M. 784, 789 Krainer, K. 648, 654 Krajewski, K. 195, 203, 674, 683 Kranenburg, M. 363, 373 Kranz, L. 815, 820 Krapp, A. 156, 163, 340, 344, 349, 374, 902, 909
922
| Autorenregister Krappmann, L. 82, 83, 91, 402, 418 Krause, P. 751, 759 Krauthausen, G. 594, 597, 604, 618, 633, 636, 655 Krawitz, R. 91, 364, 374 Kreckel, R. 733 Kreie, G. 369, 374 Krendl, K. A. 472, 476 Kretschmann, R. 27, 29, 30, 31, 49, 58, 95, 103, 185, 195, 199, 200, 201, 203, 207, 214, 239, 242, 253, 255, 257, 265, 390, 392, 444, 449, 450, 557, 563, 566, 588, 642, 654, 669, 683 Kretschmer, S. 705, 710 Kritz, J. 141 Kron, M. 369, 374 Kronig, W. 379, 383 Krowatschek, D. 335, 336 Krug, S. 338, 342, 345, 347, 349 Krüger, H.-G. 244 Krüger, H. H. 370, 374 Krumm, V. 11, 23, 31, 251, 265 Kruse, N. 167, 171, 173 Kuhlenkamp, S. 786, 789 Kuhn, A. 724, 734 Kuhne, M. 377, 383 Kukuk, M. 845, 856 Kuld, L. 770, 771 Kulik, C.-L. 415, 419, 876, 884, 894, 895 Kulik, C. C. 469, 476 Kulik, J. A. 415, 419, 469, 476, 876, 884, 894, 895 Kullik, U. 45, 46, 49, 56, 203, 476, 895 Küppers, J. 536, 539 Kurth, E. 183, 187, 203 Kurtz, B. E. 283, 289 Kurz, D. 782, 789 Küspert, P. 195, 203, 235,
238, 243, 253, 265, 479, 501, 502, 503, 511, 517, 559, 566, 674, 683 Kutzer, R. 159, 163, 164, 197, 203, 204, 584, 585, 586, 589 Kyllonen, P.C. 294, 303
Lach, J. 739, 740, 747 Lackmann, U. 705, 709 Ladji-Teichmann, D. 822, 833 Laging, R. 420 Laier, R. 502 Landerl, K. 198, 201, 203, 554, 555, 566 Landis, J. 667, 683 Lang, A. 803 Lange, A. 120, 126 Lange, I. 509, 516 Langeheine, R. 636, 657 Langenheine, R. 705, 709 Langenohl, H. 757, 759, 781, 789 Langfeldt, H.-P. 183, 302, 303, 417, 444, 450, 591, 604 Langone, J. 746, 748 Lankes, E.-M. 657 Largo, R. H. 70, 79, 233, 234, 243 Larsen, J. P. 482, 502 Larsen, S. C. 308, 313, 887, 895 Laschkowski, W. 849, 850, 856 Lasure, S. 671, 685 Laszlo, A. 847, 856 Laucht, M. 70, 72, 79, 83, 91, 224, 226, 243 Laupheimer, G. 238 Laupheimer, W. 117, 126, 242 Laur-Ernst, U. 837, 842, 843 Lauterbach, R. 690, 700, 709 Lauth, G. W. 4, 24, 26, 30, 31, 33, 45, 49, 57, 58, 89,
91, 187, 202, 203, 273, 274, 275, 279, 281, 291, 328, 329, 332, 334, 335, 336, 444, 450, 451, 856 Lay, K. 827, 834 Lazarus, R. S. 151, 164 LeBihan, D. 76, 79 Lehmann, J. 705, 709 Lehmann, R. H. 31, 200, 203, 639, 654 Lehmann, W. 637, 655 Lehmkuhl, G. 332, 336 Lehrndorfer, A. 667, 669, 683 Leigh, J. 312, 313 Leimgruber, St. 771 Le Mare, L. 377, 378, 383 Lemke, I. G. 811, 821 Lemke, W. 179, 180, 181, 183 Lemmermöhle, D. 758, 759 Lempp, R. 230, 243 Lengsdorf, R. 848, 856 Lengsdorf, R. G. 826, 833 Lenhard, A 538 Lenhard, W. 525 Lenzen, D. 135, 141 Leonhardt, A. 31, 58, 90, 183, 436 Leont’ev, A. N. 24, 30, 31, 233, 243 Lerra, M. J. 31, 265 Lersch, R. 358, 370, 374 Leschinsky, A. 418 Lesemann, G. 44, 58 Leu, H. R. 120, 126 Leutner, D. 31, 651, 656, 902, 909 Lewald, A. 743, 747 Lewandowski, L. 474, 476 Lewkowicz, N. K. 480, 502 Leyendecker, B. 223, 243 Leyendecker, Ch. 184 Liao, Y. 468, 469, 476 Liberman, I. Y. 560, 566 Lichtenstein-Rother, I. 393, 419
Autorenregister | 923
Lieberman, L. J. 784, 789 Liebers, K. 403, 419 Liebner, B. 742, 747 Liedtke, R. 744, 748 Lienert, C. 784, 788, 789 Lienert, G. A. 154, 164, 308, 313, 903, 909 Lignugaris/Kraft, B. 741, 748 Lin, A. 287, 289 Lindemann, H. 134, 141 Linder, M. 283, 291 Linder-Achenbach, S. 563, 566 Linderkamp, F. 45, 58, 336 Lindmeier, Ch. 42, 53, 58, 825, 833, 845, 856 Linke, H. 710, 711, 722 Linn, M. C. 638, 656 Lippegaus, P. 830, 833 Lipsmeier, A. 821 Lischer, E. 816, 821 Lloyd, J. W. 450, 451, 519, 539, 873, 876, 878, 895, 896 Lo, L. 617, 633 Lobemeier, K. 636, 657 Lockowandt, O. 235, 243, 307, 308, 311, 313 Löffler, G. 700 Löffler, I. 552, 566 Lohmüller, R. 201, 205 Lohoff, E. 404, 417 Lohoff, G. 404, 417 Lohr, H. 335, 336 Lommatzsch, E. M. 149, 162 Lompscher, J. 24, 31 Lonigan, C. J. 525, 526, 537, 538, 539 Lorenz, J. H. 194, 197, 202, 203, 583, 589, 592, 604, 614, 633, 634, 642, 643, 656 Löwe, B. 704, 709 Lowyck, J. 134, 140 Lubs, H. A. 73, 80
Lück, H. E. 163 Luckmann, T. 81, 90 Lude, A. 705, 709 Lüdke, O. 639, 655 Lüdtke, U. 265 Ludwig, J. 123, 126 Ludwig, O. 565, 567 Lüghausen, W. 745, 747 Luhaorg, H. 282, 289 Luhmann, N. 129, 130, 141 Luit, J. E. H. van 577, 587, 589 Lukesch, H. 116 Lumer, B. 358, 374 Lundberg, I. 472, 476, 479–482, 502, 503, 559, 566 Lundquist, E. 539 Lüpke, H. v. 324, 327 Luria, A. R. 191, 203 Lütje-Klose, B. 46, 59, 135–137, 142, 315–317, 326, 376, 383, 751, 760 Lutz, H. 844, 856
Maaßen, B. 705, 709 MacArthur, C. A. 472, 476 Machemer, P. 563, 566 Mack, K. 616, 632 Mackenzie, S. 900, 909 MacLean, M. 282, 291 MacLean, W. E. Jr. 289 Mader, J. 100, 103 Mähler, C. 202, 271, 277, 279, 282, 283, 287, 288, 290, 291, 571, 589, 900, 901, 902, 909 Maier, H. 662, 684 Maier, P. H. 638, 656 Main, M. 233, 243 Maisel, V. 306, 312, 786, 788 Malinowski, F. 512, 518, 558, 568 Malouf, D. B. 472, 476 Mand, J. 116, 719, 720, 722 Mandl, H. 38, 59, 156, 163,
255, 265, 371, 372, 374, 527, 537, 909 Manham, B. 258, 265 Mankinen, M. 228, 241 Mannhaupt, G. 199, 203, 238, 242, 252, 264, 499, 502, 556, 559, 563, 566 Manor, O. 75, 78, 80 Mar, H. H. 283, 290 March, J. 94, 102 Marchione, K. E. 539 Margolis, H. 459, 465 Mariage, T. V. 462, 465 Markham, P. L. 473, 476 Markowetz, R. 81, 91 Marquardt-Mau, B. 690, 700, 701, 709, 710 Marsh, G. 541, 566 Marsh, H. W. 525, 537 Marshalek, B. 294, 303 Marshall, J. C. 567 Märtens, A. 444, 449, 450 Martin, M. 694, 699 Martin, M. O. 642, 654, 656 Martin, W. B. W. 84, 91 Martini, U. 776, 781 Martschinke, S. 501, 502, 503, 510, 511, 516, 517, 559, 565 Marx, H. 198–200, 202–204, 238, 242, 252, 264, 479, 499, 502, 503, 507, 511, 515, 517, 519, 520, 524, 525, 538, 546, 567, 904, 905, 909, 910 Marx, P. 501, 503, 513, 518, 555, 567, 568 Marx, R. W. 703, 709 Maschke, M. 751, 759 Maschke, S. 735 Masendorf, F. 45, 46, 49, 50, 52, 58, 203, 287, 290, 451, 648, 649, 657, 826, 833, 848, 856 Maslow, A. H. 343, 349 Mason, E. 381, 382
924
| Autorenregister Mason, J. M. 256, 265 Mastropieri, M. A. 284–286, 290–292, 519, 527, 528, 532, 533, 538, 876–878, 882, 883, 894–896 Mathes, G. 277, 279 Mathur, S. R. 876, 888, 895 Mathwig, F. 561, 568 Matros, N. 606, 607, 612, 613, 632 Matson, J. L. 741, 748 Matthes, G. 45, 46, 56, 348 Mattner, D. 326 Mattson, P. D. 312, 313, 315, 327, 877, 890, 895 Mattson, S. N. 70, 72, 79 Maturana, H. R. 122, 126, 129, 132, 141, 176, 183, 758, 759 Maughan, B. 31 May, A. L. 379, 380, 381, 382 May, P. 201, 204, 554, 560, 563, 567 Mayer, K. U. 94, 103, 418 Mayer, R. E. 473, 476 Mayr, T. 225, 228, 238, 243 McCauley, C. 283, 289, 291 McCormick, C. 256, 265 McCuller, G. L. 741, 748 McDaniel, E. D. 637, 655 McDougall, B. 891, 895 McFarland, C. E. 283 McGee, R. 336 McGee, R. O. 328, 335 McGregor, C. J. 541, 568 McMaster, K. N. 452, 458, 459, 464, 465 McNeil, B. J. 468, 469, 476 Mc Pherson, E. 69, 79 Mead, G. H. 82, 84, 91, 129, 141 Means, B. 631, 633 Mehl, M. 740, 743, 747 Meichenbaum, D. 24, 26, 28, 31, 444, 451
Meier, R. 710 Meiers, K. 265 Meinertz, F. 40, 58 Meis, R. 257, 266, 567 Meisels, S. J. 225, 226, 242, 243 Meister, C. 492, 503, 519, 528, 538 Melchers, P. 190, 191, 204 Meltzer, L. 381, 383 Menne, J. 594, 604 Menon, V. 76, 79 Merchel, J. 858, 867 Mergenschröer, B. 362, 373 Meschenmoser, H. 826–828, 832–834, 845, 855 Messerle, E. 826, 831 Metsala, J. L. 536, 537 Metz, U. 555, 567 Metzger, R. L. 311, 313 Meyer, H. 369, 370, 373, 758, 759, 833 Meyer, L. 447, 451 Meyer, M. J. 474, 476 Meyer, R. 72, 80 Meyer, U. 849, 855 Meyer-Göllner, M. 472, 477 Meyer-Probst, B. 72, 79, 224, 243 Meyer-Schepers, U. 552, 566 Meyers, P. 311, 313 Meyser, J. 818, 821 Michel, L. 202, 909 Mick, E. 336 Mielck, A. 114, 116 Mikkilä, M. 527, 539 Milani-Comparetti, A. 138, 141 Miller, G. A. 160, 164 Miller, G. E. 466 Miller, M. D. 876, 886, 896 Miller, R. 163 Miller, S. 698, 701 Miller, T. R. 453, 459, 466 Miller-Kipp, G. 127 Milz, I. 789
Minke, K. M. 380, 382 Mitter, P. 417 Mittrowann, U. 597, 604 Mitzkat, H. 257, 265 Mitzlaff, H. 257, 265 Miyake, N. 276, 279 Möckel, A. 43, 58, 395, 400, 419 Möhle, V. 700 Möhlmann, G. 563, 566 Mohr, H. 165 Mokhlesgerami, J. 536, 537 Molkenthin, J. 395, 419 Mollenhauer, M. 819, 821 Mollinari, L. 70, 79 Mombour, W. 67, 78, 281, 290 Montada, L. 117, 118, 126, 127, 150, 164, 292, 349, 701 Montali, J. 474, 476 Montessori, M. 233, 243, 358, 374, 423, 424, 436 Monuteaux, M. C. 336 Moody, S. W. 516 Moog, W. 196, 204, 583, 586, 589, 590 Moor, P. 40, 58 Moran, J. 469, 477 Morawietz, H. 399, 400, 419 Moroder-Tischler, R. 772, 781 Morris, J. N. 527, 537 Morris, P. E. 289 Morrision, G. R. 667, 669, 682 Mortimer, P. 31 Mortimore, P. 258, 265 Moschner, B. 632, 641, 652, 655, 656 Mosenthin, G. 745, 748 Moser, E. 198, 203, 554, 566 Moser, G. 263 Moser, H. 162, 164 Moser, J. M. 667, 682 Moser, T. 317, 327
Autorenregister | 925
Moser, U. 88, 91, 264, 357, 373, 376, 382 Moser, V. 182, 699 Moser Opitz, E. 573, 576, 581, 582, 587, 588, 589, 591, 603, 604 Mostert, M. P. 894, 896 Muders, A. 304–306, 313 Mühlbauer, E. 553, 562, 567 Mühleib, F. 743, 747 Mulick, J. A. 748 Müller, G. 402, 417, 588, 589 Müller, G. N. 604, 605, 622, 634, 658, 659, 661, 662, 664, 676, 677, 679, 684, 685, 686 Müller, H. 648, 656 Müller, H. A. 525, 538 Müller, R. 541, 567 Müller, U. 659, 685 Müller, W. 94, 103 Müller-Friese, A. 761, 762, 764, 771 Mullis, I. V. S. 645, 654, 656 Münch, J. 58, 820 Munz, W. 152, 160, 161, 162, 163, 182, 209, 212, 214 Murphy, C. C. 71, 78 Murphy, M. D. 287, 290 Mussen, P. H. 697, 701 Mutch, S. 659, 682 Muth, J. 401, 406, 407, 414, 419 Muthukrishna, N. 273, 275, 276, 278 Mutzeck, W. 173, 174, 183, 209, 214 Myers, B. 784, 789 Myschker, N. 400, 419
Nace, K. 482, 503 Naegele, I. M. 563, 567 Naggl, M. 180, 183, 225, 234, 244
Nagle, R. J. 287, 290 Naglieri, J. A. 191, 204 Najjar, L. J. 472, 474, 477 Nanson, J. L. 70, 78 Nassehi, A. 129, 132, 141 Naumann, C. L. 552, 554, 563, 565–567 Naumann, K. 328, 332, 333, 336 Neber, H. 452, 459, 465 Needles, M. C. 441, 450 Neidhardt, F. 104, 115 Neise, K. 425, 436 Nelson, K. R. 468, 469, 476 Nesher, E. 669, 684 Nestle, W. 120, 125, 126, 395, 406, 419, 662, 684 Neubauer, A. 166 Neubrand, M. 31, 367, 372, 639, 655 Neubrand, U. 30 Neuhaus, N. 512, 518, 558, 568 Neuhäuser, G. 78, 80 Neukäter, H. 264, 273, 274, 276, 279, 280, 436 Neuman, S. B. 474, 477 Neumann, J. 142 Neumann, O. 329, 331, 337 Neumärker, K. J. 75, 78 Nichols, P. L. 71, 78 Nickel, S. 263, 265 Nickols, W. D. 519, 538 Niebank, K. 188, 205, 577, 589 Niemi, P. 519, 521, 538 Niemic, R. 876, 884, 896 Niemiec, R. 467, 469, 477 Nipkow, K. E. 765, 771 Nitsch, R. 822, 833 Noddings, N. 706, 709 Noll, A. 704, 709 Nolte, H. 810, 821 Norman, D. A. 276, 279 Nöthen, M. M. 73, 80 Nührenbörger, M. 659, 684
Nunes, S. R. 202, 502, 876, 880, 895 Nunes, T. 670, 684 Nunner-Winkler, G. 768, 771 Nußbeck, S. 312, 313 Nye, C. 876, 883, 895 Nyssen, E. 759
Oberliesen, R. 822, 833 O’Connor, R. E. 452, 464, 465 Odegaard, H. 482, 502 Oehl, W. 658, 684 Oehlschläger, H.-J. 418 Oehrle, B. D. 311, 313 Oerter, R. 30, 126, 127, 164, 233, 243, 292, 339, 340, 341, 349, 697, 701 Oettinger, U. 134, 141 Oevermann, U. 42, 43, 53, 58, 105, 116 Oeveste, H. zur 580, 581, 589 Ofenbach, B. 59 Öhlschläger, R. 858, 867 Ohnmacht, F. W. 308, 313 Ohrt, B. 70, 79 Olivia, H. 858, 867 Olk, T. 858, 867 Olsen, P. 94, 102 Olson, A. V. 308, 313 Olson, R. 73, 79 Olver, R. R. 193, 204 Opp, G. 12, 31, 47, 58, 91, 237, 243, 244 Oppl, H. 858, 867 Ortling, P. 424, 436 Oser, F. 767, 771 Ossner, J. 566, 568 Osterkamp, U. 171, 172, 173 Österlund, K. 70, 79 Ostrau, R. 560, 565 Otto, B. 751, 759 Otto, G. 794, 799, 803, 808, 821 Otto, W. 440, 451
926
| Autorenregister Ouston, J. 31, 258, 265 Overholser, J. C. 69, 79 Owings, M. 472, 476 Oy, C. M. von 235, 243
Padberg, F. 614, 617, 633, 634 Paiacios, J. 31, 265 Paivio, A. 473, 475, 477 Palincsar, A. S. 277, 279, 452, 453, 455, 459, 461, 462, 464, 466, 525, 528, 531, 532, 538 Palmowski, W. 134, 137, 139, 141, 142, 587, 590, 701 Panagiotopoulou, A. 265 Papoušek, M. 236, 243, 775, 781 Paris, S. G. 273, 279 Patry, J.-L. 909 Paturi, F. 572, 589 Paul, M. 757, 759 Paulsen, B. 838, 843 Pearsen, P. D. 469 Pearson, N. A. 307–309, 313 Pearson, P. D. 451, 477 Pearson, P. D. P. 519, 537 Peek, R. 200, 203 Peetsma, T. 379, 383 Peez, H. 112, 116 Pekrun, R. 31, 703, 709 Pelster, A. 341, 349 Pennington, B. F. 73, 78, 80 Perleth, C. 287, 291 Perlman, M. 381, 383 Perwien, A. R. 328, 336 Peschek, W. 655 Peschel, F. 422, 430, 436 Pestalozzi, J. H. 792, 803 Peter-Koop, A. 617, 633, 681, 684 Peterander, F. 91, 243 Petermann, F. 69, 78, 80, 188, 205, 329, 336, 577, 589, 853, 856 Petermann, U. 853, 856
Peters, H. 88, 90 Petersen, A. C. 638, 656 Petersen, G. 231, 243 Petersen, O. P. 479, 503, 559, 566 Petersen, P. 358, 374 Peterson, P. L. 412, 419, 451 Petersson, K. M. 482, 502 Petillon, H. 45, 57, 98, 103, 164 Petrat, G. 399, 419 Petrechko, L. 741, 748 Pettinger, H. 263, 265 Petzold, K. 766, 771 Pfahl-Traughber, A. 731, 734 Pfeiffer, G. 826, 831 Pfennig, R. 794, 803 Pflaum, S. W. 519, 521, 538 Phelps, L. 70, 79 Piaget, J. 117, 118, 120, 127, 136, 141, 233, 243, 572, 574, 576, 589, 643, 644, 656, 702, 709 Pichol, K. 715, 722 Pickering, S. J. 282, 290 Piercy, M. 455, 459, 466 Pigott, T. D. 415, 418 Pijl, I. J. 376, 383 Pijl, S. J. 376, 383 Pinel, J. P. J. 76, 79 Pinel, P. 76, 78 Pintrich, P. R. 703, 709 Plath, M. 343, 349 Plaute, W. 48, 59 Plickat, H.-H. 565 Pliszka, S. R. 328, 337 Pluhar, C. 209, 214 Poerschke, J. 200, 203, 509, 517 Pohle, E. 636, 638, 656 Polinski, L. 232, 243 Pollak, G. 183 Pommer-Irmisch, S. 229, 244 Popp, J. 811, 821 Popp, W. 125, 126, 690, 699, 701, 824, 832
Pörksen, B. 122, 123, 127 Portmann, R. 256, 257, 264, 265 Posner, M. I. 76, 80 Poustka, F. 66, 79 Powls, A. 70, 77 Prasse, W. 705, 710 Pratt, A. 518 Prengel, A. 102, 103, 182, 420, 694, 695, 701 Prenzel, M. 8, 30, 31, 339, 349, 372, 657 Pressley, M. 278, 284, 291, 442–444, 451 Preuß, U. 190, 191, 193, 204, 205 Preuss-Lausitz, U. 357, 364, 365, 374, 402, 417 Pribram, K. H. 160, 164 Priebe, B. 748 Prigogine, I. 128, 141 Prior, M. 74, 79 Probst, H. 105, 107, 116, 158, 159, 163, 164, 166, 187, 189, 193, 197, 203, 204, 578, 583, 589, 780 Probst, J. 584, 589 Probst, W. 772, 776, 780, 781 Prote, I. 734 Prott, R. 231, 242 Proudfoot, J. 848, 856 Puffarth, A. 563, 566 Pugach, M. 442, 450, 460, 464, 465 Pulm, D. 745, 747 Pütz, H. 810, 821 Pyter, M. 474, 477
Quaiser-Pohl, C. 638, 656 Queen-Autrey, T. 741, 747 Quinn, M. M. 876, 888, 895 Quiroz, D. R. 876, 879, 896
Raatz, U. 308, 313, 903, 909 Rabenstein, R. 525, 538 Rack, J. 73, 79
Autorenregister | 927
Radatz, H. 197, 204, 575, 583, 589, 592, 604, 617, 633, 634, 636, 637, 642, 643, 656, 658, 667, 671, 676, 680, 684 Radtke, F.-O. 100, 101, 103 Radvanski, G. A. 527, 539 Raithel, J. 737, 748 Ramisch, B. 563, 566 Ramseger, J. 259, 264, 427, 437, 690, 693, 700, 701 Raphael, T. E. 462, 465 Rapoport, A. 128, 140 Rasch, R. 675, 684 Rath, W. 149, 162, 392 Rathenow, P. 260, 265 Rau, P. 819, 821 Räuber, G. 411, 419 Rauer, W. 187, 204, 212, 214, 264, 362, 374 Rauh, H. 70, 79, 241 Rauschenbach, T. 858, 867 Raven, J. C. 189, 204, 567 Rechtin, W. 163 Reeken, D. von 700, 701 Regel, M. 704, 709 Reher, O. 715, 721 Reich, F. 310, 313 Reich, G. 710, 722 Reich, K. 125, 127, 134, 141 Reiche, T. 512, 518, 558, 568 Reichen, J. 430, 437, 509, 517 Reichenbach, C. 786, 789 Reichenbach, Ch. 316, 317, 326 Reichert, J. 188, 204 Reid, D. H. 746, 748 Reilly, K. D. 289 Reimers, P. 479, 503, 559, 568 Reinartz, A. 115, 160, 164, 235, 244 Reinartz, E. 235, 244 Reinhard, M. 138, 141 Reinhold, G. 183
Reinmann-Rothmeier, G. 371, 372, 374 Reis, A. 482, 502 Reis, O. 72, 79, 224, 243 Reischauer, U. 820 Reiser, H. 134, 142, 369, 374 Reiss, A. L. 76, 79 Reiß, E. 409, 411, 419, 430, 437 Reiß, G. 374, 409, 411, 418, 419, 420, 430, 435, 436, 437, 566 Reiss, K. 636–638, 640, 649, 650, 655, 656, 684 Reiss, M. 684 Reiter, A. 134, 142 Remschmidt, H. 66, 73, 79, 80 Renkl, A. 349, 453, 462, 466, 641, 656 Resch, F. 66, 77, 78, 80 Reusser, K. 666, 675, 684 Reuter-Liehr, C. 513, 517, 560–563, 567 Rexilius, G. 173 Reyer, J. 231, 244 Reynolds, M. 241 Reynolds, R. E. 519, 521, 538 Reynolds, W. M. 466 Rheinberg, F. 198, 204, 338, 342–345, 347, 349 Rhöneck, C. v. 834 Ribke, J. 772, 781 Rice, M. L. 473, 477 Richards, S. B. 275, 280 Richardson, V. 450, 465 Richter, A. 728, 734 Richter, H.-G. 790, 792–802, 803, 804 Richter, K. 343, 349 Richter, S. 516, 567 Richter, W. 518 Richter-Reichenbach, K.-S. 800, 803 Ricken, G. 30, 31, 185, 193–196, 201–205, 214,
215, 290, 420, 451, 466, 578, 588–590, 633, 683, 909 Rickmeyer, K. 636, 637, 656 Riedo, D. 381, 383 Riegel, K. 70, 79 Rihm, Th. 173, 183, 214 Rijt, B. A. M. van der 577, 587, 589 Riley, E. P. 70, 79 Riley, M. S. 668, 669, 684 Rinck, M. 527, 538 Ring, R. 776, 781 Rivera, S. M. 76, 79 Riviere, D. 76, 79 Roaden, S. K. 283, 291 Röber-Siekmeyer, Ch. 547, 567 Roberts, J. A. 71, 79 Robinson, M. E. 311, 313 Robinson, T. R. 876, 886, 896 Roditi, B. 381, 383 Rödler, P. 180, 183 Roeder, P. M. 362, 374 Roehler, L. R. 519, 537 Roeleveld, J. 379, 383 Rohde-Köttelwesch, E. 313 Rohr, B. 754, 759 Rohrbeck, C. A. 453, 459, 466 Röhrs, H.-J. 810, 821 Roick, T. 905, 909, 910 Rolff, H.-G. 31, 105, 116, 246, 265 Rollett, B. 338, 349 Rolus-Borgward, S. 695, 701 Romberg, T. A. 682 Rose, L. 789 Rosenquist, C. 282, 291 Rosenshine, B. 440, 441, 451, 492, 503, 519, 527, 528, 533–535, 538 Rosenthal, R. 630, 633 Roser, O. 138, 141 Roskos-Ewoldsen, B. 282, 291
928
| Autorenregister Ross, B. 312, 314 Ross, St. M. 667, 669, 682 Rossbach, H.-G. 31, 95, 103, 227, 244, 265, 402, 420 Rossbach, J. 100, 103 Rössel, F. 40, 58 Rössel, J. 737, 747 Rossmann, P. 153, 166, 190, 205 Rost, D. H. 31, 127, 189, 205, 465, 466, 518, 520, 524, 525, 538, 656, 909 Roth, E. 73, 80, 205, 479, 499, 501, 502, 503, 511, 512, 517, 880, 896 Roth, G. 131, 132, 141 Roth, H. 736, 748 Roth, N. 332, 337 Roth, W. 34, 58 Rothenberger, A. 187, 199, 202 Rother, H.-J. 150, 163, 209, 214 Röthlisberger, H. 681, 684 Rotthaus, W. 140 Royl, W. 745, 748 Ruchatz, E. 733, 734 Rudolph, M. 9, 31 Rudolph, U. 338, 349 Rudzio, K. 844, 856 Ruf, U. 134, 141 Rughöft, S. 745, 748 Rühl, K. 537 Rühl, R. 536 Rumpler, F. 30, 56, 97, 102, 103, 832 Rumsey, J. M. 482, 503 Rupley, W. H. 519, 520, 538, 539 Rupp, M. 512, 518, 558, 568 Rüsen, I. 734 Russell, M. 69, 79 Rutherford, R. B. 876, 888, 895 Rutter, M. 22, 31, 258, 259, 263, 265
Rützel, J. 807, 816, 820, 821, 827, 833, 835, 836, 840, 843 Ryan, A. W. 469, 477
Sachs, B. 722 Sachße, C. 858, 867 Sackmann, R. 820, 842 Sagi, A. 235, 243 Saile, H. 886, 896 Salber, W. 804 Salzberg, C. L. 741, 748 Samson, G. 469, 477 Samuels, S. J. 474, 477 Sand, P. 617, 633 Sander, A. 160, 163, 175–178, 180, 181, 182, 183, 185, 205, 371, 374, 384, 392, 697, 700, 701, 736, 748 Sander, E. 310, 311, 314 Sander, W. 733 Sandkühler, H. J. 127 Sandt, F.-O. 763, 771 Sänger, M. 767, 768, 771 Saß, H. 5, 31, 281, 291 Sasse, A. 106, 107, 116 Sassenroth, M. 137, 139, 142, 587, 590, 701 Satir, V. 757, 759 Sauter, F. C. 307, 314, 336 Sautter, H. 160, 163 Sayer, J. M. 336 Scanlon, D. 442, 450, 518 Schaar, M. 403, 420 Schaarschmidt, U. 193, 205 Schabmann, A. 507, 517 Schäfer, G. 362, 374 Schäfer, G. E. 119, 127 Schaffer, A. 301, 303 Schallberger, U. 153, 166, 190, 205 Schaller, K. A. 293, 303 Schardt, M. 827, 830, 833 Scharff, G. 825, 834 Schartmann, D. 867
Schebler, R. 740, 743, 747 Scheele, B. 150, 162, 163 Scheerer, H. 402, 418 Scheerer-Neumann, G. 28, 31, 49, 58, 507, 513, 517, 541, 542, 546, 551, 553, 556, 557, 560, 562, 566, 567 Scheithauer, H. 188, 205, 577, 589 Scherer, P. 117, 127, 408, 420, 591, 592, 594, 595, 600, 604, 605, 618, 633, 636, 638, 655, 656, 664, 685 Scheuerl, H. 435 Scheurer-Englisch, H. 224, 244 Scheytt, S. 707, 710 Schiefele, H. 339, 343, 349 Schiefele, U. 8, 30, 31, 339, 343, 349, 372, 518, 536, 539 Schiepek, G. 134, 141 Schifter, D. 134, 141 Schiller, N. 685 Schiller, P. 676 Schilling, K. 761, 771 Schindler, H. 671, 685 Schipper, W. 575, 589, 606, 617, 625, 633, 658, 676, 684, 685 Schirp, J. 787, 788, 789 Schittko, K. 164 Schlack, H. G. 243 Schlagmüller, M. 284, 291 Schlee, J. 148, 150, 164, 167, 173, 174, 180, 183, 209, 214 Schleiffer, R. 787, 789 Schliemann, A. D. 670, 684 Schlieper, J. 302, 303 Schlippe, A. V. 130, 134, 137, 142 Schloss, P. 741, 748 Schlosser, R. W. 828, 833
Autorenregister | 929
Schlottke, P. F. 31, 185, 196, 202, 203, 328, 332, 334, 335, 336, 337, 444, 451 Schmalt, H.-D. 349 Schmayl, W. 713, 714, 715, 716, 722 Schmeidt, G. 683 Schmetz, D. 82, 91, 418, 420, 723, 724, 733, 734, 750, 751, 754, 760 Schmid, G. 794, 804 Schmid, J. 792, 804, 858, 867 Schmid, M. 745, 747 Schmid, R. 858, 867 Schmidt, D. 151, 163 Schmidt, H. 768, 820 Schmidt, M. 467, 469, 477, 876, 884, 896 Schmidt, M. H. 66, 67, 70, 78, 79, 83, 91, 224, 243, 281, 290 Schmidt, P. F. 194 Schmidt, R. 820 Schmidt, S. 30, 31, 201–204, 582, 588–590, 633, 683 Schmidt, S. J. 132, 133, 139, 142 Schmidt-Atzert, L. 336 Schmidt-Golz, E. 784 Schmitt, R. 257, 265 Schmitz-Post, W. 786, 789 Schmutzler, H. J. 306, 314 Schnabel, K. 345, 349, 372, 374 Schneck, S. 73, 80 Schneewind, K. A. 38, 58, 112, 115 Schneider, A. 819, 821 Schneider, G. 734 Schneider, R. 780 Schneider, S. 202, 203 Schneider, W. 8, 30, 186, 195, 202–205, 235, 238, 243, 252, 253, 265, 266, 278, 279, 284, 291, 292,
372, 442, 451, 479, 480, 499–501, 502, 503, 511–513, 517, 518, 539, 555, 559, 566–568, 674, 683, 909, 910 Schnell, I. 373, 375, 701 Schnotz, W. 527, 539 Schöch, G. 737, 748, 749 Schöler, J. 358, 374, 375, 409, 420 Schöll, G. 335, 337 Schön, B. 759 Schönberger, F. 151, 163, 164 Schöne, C. 341, 349 Schone, R. 229, 244 Schoor, U. 160, 163 Schopf, P. 867 Schor, B. 403, 420 Schöttler, D. 563, 566 Schraag, M. 784, 790 Schrader, F.-W. 186, 202, 592, 605 Schreiber, W. H. 517 Schreier, H. 690, 700, 701, 710 Schrenk, M. 703–705, 707, 708, 709, 710 Schriever, G. 737, 748, 749 Schröder, E. 577, 589 Schröder, U. 5, 6, 22, 31, 33, 46, 58, 104, 105, 107, 111, 116, 142, 185, 192, 205, 271, 273, 274, 276–278, 279, 280, 306, 314, 376, 383, 384–386, 389–391, 392, 395, 404, 420, 459, 466, 702, 710 Schrodi, F. 197, 205 Schubarth, W. 731, 734 Schübel, A. 541, 561, 568 Schubert, A. 662, 684 Schuck, K. D. 148–152, 154–158, 160, 161, 162, 164–166, 171, 173, 178–181, 182, 183, 187,
189, 204, 205, 208–210, 212, 214, 215, 264, 362, 374, 397, 417, 556, 565, 902, 910 Schuker, G. 287, 291 Schulen, N. 391 Schüler, H. 705, 706, 710, 712 Schüler, U. 722 Schulte, D. 163 Schulte, W. 253, 265 Schulte-Körne, G. 73, 80, 517, 561, 568 Schulte-Markwort, E. 281, 290 Schulte-Markwort, M. 66, 77, 78, 80 Schultheiß, G. 561, 568 Schultz, R. 197, 202 Schultz, R. T. 482, 503 Schulz, A. 196, 204, 583, 586, 589, 590, 642, 643, 656 Schulz, E. 820 Schulz, W. 808, 821 Schulze, K. 560, 565 Schulze, M. 409, 420 Schumann-Hengsteler, R. 202, 283, 290, 900, 909 Schümer, G. 22, 30, 110, 114 Schumm, J. 380, 383 Schürmann, M. 341, 349 Schüssler, R. 845, 856 Schuster, B. V. 202, 502, 876, 880, 895 Schuster, J. W. 741, 749 Schuster, K.-M. 227, 244 Schütz, V. 776, 780, 781 Schwartz, L. B. 311, 313 Schwarz, H. 259, 264, 690, 700 Schwarz, L. 745, 749 Schwedes, H. 134, 139 Schwegler, J. 822, 834 Schweiger, F. 826, 831
930
| Autorenregister Schweitzer, J. 130, 134, 137, 142, 741, 747 Schwenck, O. 114, 116 Schwetz, H. 134, 142 Schwier, H.-J. 700 Schwier, V. 700 Schwippert, K. 657 Schwittman, D. 418 Schwohl, J. 171, 172, 173, 174, 181, 182, 208, 209, 210, 214 Scott, M. S. 283, 292 Scruggs, T. E. 279, 284–286, 290–292, 519, 538, 876–878, 883, 894–896 Seeger-Kelbe, A. 616, 633 Seel, H. 867 Seel, H.-J. 705, 709 Seewald, J. 316, 327 Seibel, W. 858, 867 Seidel, C. 310, 311, 314 Seilnacht, F. 392 Seitz, S. 697, 701 Selbmann, H.-K. 867 Seligman, M. E. P. 340, 348, 349 Selle, G. 745, 747 Sellin, B. 750, 760 Selter, C. 607–609, 633, 671, 685 Sengstock, W. 741, 749 Sennlaub, G. 257, 266 Seyfried, B. 816, 821, 839, 843 Seymour, P. H. K. 541, 568 Shaffer, D. R. 71, 80 Shalev, R. S. 75, 78, 80 Shanahan, T. 202, 502, 876, 880, 895 Shankweiler, D. 503, 519– 524, 527, 539, 560, 566 Shashaani, L. 469, 476 Shaughnessy, P. 71, 78 Shaywitz, B. A. 328, 337, 539 Shaywitz, S. E. 328, 337, 503, 539
Shelhav-Silberbusch, C. 786, 790 Sheppard, J. L. 525, 537 Sheppard, M. J. 525, 537 Sherman, J. 637, 654 Sherrill, C. 784, 789 Sherwood, R. 476 Shonkoff, J. P. 242, 243 Sichler, R. 705, 709 Siebert, H. 121, 122, 124, 127, 134, 139, 142 Siebert-Ott, G. 566, 568 Siegler, B. 839, 843 Siemens, B. 617, 633 Siepmann, G. 108, 116, 465 Sierck, U. 141 Sikes, J. 460, 465 Silbereisen, P. F. 202 Silbereisen, R. K. 203 Silbermann, A. 731, 735 Silbert, J. 446, 450, 451 Silva, P. A. 328, 335, 336 Simon, D. P. 541, 542, 568 Simon, H. A. 541, 542, 568 Simon, Th. 189, 202 Sipay, E. R. 518 Sipko, R. 746, 747 Skiba, R. 876, 879, 896 Skiera, E. 260, 266 Skowronek, H. 199, 203, 238, 242, 252, 264, 499, 502, 904, 910 Slavin, R. E. 402, 403, 418, 420, 452, 453, 456, 458, 459, 461, 463, 466 Small, S. G. 518 Smith, K. A. 456, 466 Smith, M. L. 876, 887, 895 Smith, R. S. 244 Smith, S. D. 73, 78, 80 Smith, S. W. 876, 886, 896 Smith, T. A. 654, 656 Snapp, M. 460, 465 Snell, M. E. 746, 749 Snider, L. 891, 895
Snow, R. E. 294, 303, 411, 435 Snyder, S. 228, 241 Sodian, B. 118, 127, 697, 701 Sohns, A. 222, 244 Solarová, S. 41, 57 Sommer, M. 781, 789 Soostmeyer, M. 134, 142 Souvignier, E. 45, 46, 49, 56, 203, 302, 303, 439, 448, 451, 458–461, 464, 466, 476, 536, 537, 539, 648, 649, 657, 895 Sowder, L. 672, 685 Spada, H. 827, 834 Spandl, H. 684 Speck, O. 32, 42, 46, 47, 49, 57–59, 83, 91, 220, 244, 313, 392, 418, 759, 857, 858, 867 Speck-Hamdan, A. 103, 518 Spelke, E. 76, 78 Spencer-Brown, G. 132, 142 Sperber, R. D. 283, 289, 291 Spiess, K. 845, 856 Spiess, W. 134, 142 Spinath, B. 340, 341, 349 Spitta, G. 509, 516, 541, 568 Spitzer, M. 223, 244 Spranger, E. 808, 821 Stach, M. 855 Stadler, H. 392 Stage, S. A. 876, 879, 896 Stahl, H. J. 748 Staib, L. H. 503 Stanat, P. 8, 30, 372, 518, 539 Stanescu, R. 76, 78 Stange, H. 751, 753, 760 Stapf, K. H. 37, 56 Stark, G. 525, 539 Stecher, L. 735 Stefanek, J. 188, 194, 206, 252, 266 Stein, M. 446, 451 Stein, R. 183, 848, 855, 856
Autorenregister | 931
Steinbring, H. 677, 685 Steinhausen, H. C. 70, 78, 79, 80 Steinmann, B. 776, 781 Stemmler, M. 287, 290 Stengers, I. 128, 141 Stephan, C. 460, 465 Stern, E. 194, 205, 576, 582, 587, 590, 667–669, 671, 673, 678, 685 Stern, W. 189, 205 Sternberg, L. 275, 280 Sternberg, R. J. 192, 202, 205, 289, 290, 303 Stevens, D. D. 462, 465 Stevens, R. 440, 441, 451 Stevens, R. J. 466 Stiensmeier-Pelster, J. 341, 349 Stock, C. 501, 503 Stöcker, H. 395, 416, 419, 758, 759 Stöcker, K. 392 Stoellger, N. 165, 392, 403, 420 Stöhr, R.-M. 307, 313 Stone-Elander, S. 482, 502 Stöss, R. 731, 734 Stötzner, H. E. 104, 116, 385, 386, 393, 394, 399, 420, 723, 735 Stratmann, K. 810, 821 Streibhardt, U. 187, 203 Strümpell, L. v. 40, 59 Strunk, H. 409, 420 Struve, H. 648, 654 Stuebing, K. K. 539 Stumpf, H. 638, 657 Stütz, G. 809, 821 Suchodoletz, W. v. 482, 503, 564, 566 Suess, G. J. 224, 244 Suffenplan, W. 425, 426, 437 Suhr, K. 591, 603, 604, 605 Sullivan, G. S. 286, 292 Supe, V. 859, 864, 865, 867
Swanson, H. L. 206, 449, 451, 462, 464, 465, 466, 504, 517, 876, 881, 896 Sykes, R. N. 289 Symons, S. 284, 291 Szeminska, A. 572, 574, 576, 589
Tabassam, W. 381, 383 Tacke, G. 201, 205, 514, 516, 517, 518, 560, 561, 568 Talbott, E. 519, 527, 528, 532, 533, 539, 876, 878, 896 Tamrat, M. 568 Tankersley, M. 519, 539, 876, 878, 896 Tarver, S. G. 410, 420, 472, 476 Taussig, C. 907, 910 Taylor, R. L. 275, 276, 277, 278, 280 Teiwes, K. 698, 700 Temple, E. 76, 80 Tent, L. 290, 893, 896 Terhart, E. 124, 127 Teubal, E. 669, 684 Teuber, O. 568 Tewes, U. 152, 156, 162, 165, 166, 190, 205 Theis-Scholz, M. 46, 59, 364, 374, 845, 856 Theuerkauf, W. E. 710, 721 Theunissen, G. 46, 47, 48, 59, 792, 800, 803, 804 Thiele, H. 705, 709 Thiemann, K. 614, 633 Thieroff, R. 568 Thimm, W. 22, 32, 70, 80, 81, 85, 87, 91, 105, 107, 116 Thomae, H. 349, 802 Thomas, J. 640, 656 Thomé, D. 552, 568 Thomé, G. 540, 548, 552, 565, 568 Thompson, G. B. 519, 537
Thompson, I. 604 Thornton, C. A. 594, 600, 605 Thraten, W. 519 Thümmel, I. 364, 374 Thurmair, M. 225, 234, 244 Thurstone, L. L. 638, 657 Tiedemann, J. 255, 260, 266 Tietjens, M. 787, 790 Tietze, W. 31, 100, 103, 227, 238, 244, 252, 264, 265 Tiffin-Richards, M. C. 187, 199, 202 Till, W. 694, 699 Tillmann, K.-J. 30, 372 Tirosh, E. 328, 337 Tischer, B. 683 Tischler, B. 772, 781 Tonn, A. 638, 657 Torgesen, J. K. 390, 393, 442, 451 Tornieporth, G. 736, 749 Tortello, M. 279 Townsend, M. 455, 459, 466 Traebert, W. E. 714, 715, 722 Trathen, W. 537 Treinies, G. 510, 516, 517 Treml, A. 771 Tress, J. 826, 831 Troltsch, K. 847, 856 Trommer, G. 705, 710 Trommer, L. 418 Trost, R. 221, 222, 244 Troutner, N. M. 465 Tsai, S.-L. 301, 303 Tsivkin, S. 76, 78 Tucker, D. M. 331, 337 Turner, L. A. 273, 275, 279, 282, 283, 288, 289, 292 Twomey, C. 141
Überla, K. K. 867 Uhr, R. 104, 107, 115 Ulrich, D. 115 Ulrich, J. 847, 856 Underwood, G. 565
932
| Autorenregister Unglaube, H. 710 Unterbrunner, U. 709 Urban, K. K. 525, 539
Vadasy, P. F. 452, 465 Valdez-Menchaca, M. C. 526, 539 Valtin, R. 127, 185, 198, 200, 205, 261, 264, 308, 314, 504, 510, 518, 567, 657 van Aken, M. A. G. 186, 205 van de Grift, W. J. C. M. 402, 418 Van den Bos, K. P. 525, 539 Van den Heuvel-Panhuizen, M. 592, 605, 654, 678, 685 van der Meer, E. 193, 205 Van de Vijver, F. 294, 303 Van de Walle, J. A. 630, 633 van Hiele-Geldorf, P.M. 639, 640, 655 van Ijzendoorn, M. H. 498, 502, 511, 516, 880, 894 Varela, F. J. 122, 126, 129, 132, 141, 176, 183, 758, 759 Vaughn, N. M. 463 Vaughn, S. 380, 381, 382, 383, 462, 464, 466, 516 Vauras, M. 519, 521, 538 Veenman, S. 402, 420 Vellutino, F. R. 515, 518 Vergeer, M. 379, 383 Vernooij, M. 116 Verschaffel, L. 667, 669, 671, 673, 674, 682, 685 Vester, F. 223, 244, 245, 266 Vetter, G. 89, 91 Vetter, K.-F. 711, 716, 721, 722, 824, 825, 834 Vianello, R. 283, 290 Viebrock, B. 134, 139 Vierstraete, H. 671, 685 Vieth, J. 789 Viganske, C. 854, 855
Villa, M. 289 Vincent, J.-D. 773, 781 Visé, M. 284, 291, 479, 503, 559, 568 Vöge, J. 260, 265 Voigt, F. 578–581, 590 Voigt, M. 525, 537 Volk, T. L. 705, 709 Völker, R. 201, 205 Vollmuth, I. 741, 743, 747 Vollmuth, M. L. 142 Völzke, V. 563, 566 Voress, J. K. 307, 308, 309, 313 Voß, R. 127, 134, 142, 324, 327 Vossler, N. 134 Vygotskij, L. S. 368, 375, 462, 466
Wabitsch, M. 737, 749 Wachtel, G. 116, 452, 458, 459, 464, 465 Wachtel, P. 30, 46, 47, 56, 59, 97, 102, 103, 733, 734, 832, 833 Wacker, G. 204 Wagner, C. 527, 539 Wagner, E. 776, 781 Wagner, H. 204 Wagner, H.-J. 196, 197, 205, 632, 633 Wagner, I. 26, 32 Walberg, H. J. 241, 301, 303, 451, 467, 469, 477, 876, 884, 892, 894, 896 Walberg, H. L. 419 Waldner, J. 472, 477, 884, 896 Wallesch, C.-W. 567 Wallrabenstein, W. 437 Walter, J. 187, 198, 200, 201, 205, 285, 292, 311, 312, 314, 472, 475, 477, 493, 502, 503, 509, 513, 514, 518, 555, 558, 563, 568,
591, 603, 604, 605, 883, 884, 896 Walter, N. 512 Walter, P. 367, 375 Walther, G. 636, 639, 641, 645, 657 Walthes, R. 134, 142, 326, 327 Waltz, M. 121, 127 Wang, M. 241 Wang, M. C. 367, 375, 877, 892, 894, 896 Waniek, D. 158, 166, 197, 204, 578, 583, 589 Wansing, G. 859, 867 Warm, U. 259, 264, 690, 700 Warnke, A. 66, 71, 73, 74, 75, 77, 78, 80 Warnke, F. 558, 568 Warnock, H. M. 207, 215 Warzecha, B. 802 Wasik, B. A. 225, 226, 243 Wasilewski, R. 848, 856 Watkins, C. 741, 748 Watzlawick, P. 128, 142, 630, 633, 775, 781 Wayne, S. K. 452, 465 Webb, N. M. 452, 453, 455, 458, 462, 464, 466 Weber, E. 116 Weber, J. 567 Weber, J.-M. 513, 518, 555, 568 Weber, M. 70, 79 Weber, R. 780 Wechsler, D. 153, 166, 190, 205 Wegner-Blesin, N. 316, 327 Weidenmann, B. 374, 909 Weidner, M. 366, 375 Weigert, H. 183 Weigt, M. 794, 804 Weiner, B. 32 Weinert, F. E. 23, 30, 32, 38, 44, 51, 57–59, 96, 98,
Autorenregister | 933
103, 118, 125, 127, 136, 140, 186, 188, 194, 202, 205, 206, 264, 266, 279, 291, 364, 373, 417, 420, 422, 435, 437, 517, 590, 605, 655 Weinert, S. 241 Weinstein, T. 467, 469, 477 Weinstein, Th. 876, 884, 896 Weis, T. 527, 537 Weiß, H. 84, 91, 92, 243, 244 Weiß, M. 30, 372 Weissbach, H.-J. 402, 417 Welch, V. 541, 566 Wellen, P. 472, 477, 884, 896 Wellenreuther, M. 402, 420 Welling, A. 151, 162 Wells, G. 256, 266 Wember, F. B. 31, 46, 47, 51, 58, 59, 90, 117, 127, 179, 180, 183, 184, 237, 244, 308, 311, 314, 367, 375, 397, 398, 401, 410, 420, 422, 423, 425, 430, 435, 436, 437, 439, 442, 446, 449, 451, 571, 572, 574, 575, 580, 583, 588, 590, 592, 605, 676, 685 Wendeler, J. 256, 266, 311, 314, 525, 539, 571, 590 Wendland, D. 845, 856 Wendt, W. R. 857, 867 Werner, B. 138, 142, 587, 588, 590, 591, 603, 604, 605 Werner, D. B. 311, 313 Werner, E. E. 244 Werning, R. 46, 59, 133–137, 139, 140, 141, 142, 376, 383, 587, 590, 692–694, 697, 701, 731, 735, 751, 760 Wetzek, G. 31, 265 Wetzel, K. 173 Wetzler, R. 857, 865, 866, 867
Weymann, A. 103 Whedon, C. 519, 538, 876, 878, 896 White, C. D. 76, 79 White, K. R. 228, 244, 882, 896 White, W. A. T. 447, 451, 876, 881, 896 Whitehurst, G. J. 525, 526, 537, 539 Whitesell, N. R. 380, 382 Whitman, T. L. 287, 292 Wiater, W. 690, 701 Wichelhaus, B. 801, 803, 804 Wichmann, H. 781 Widawski, M. 328, 336 Wiebe, D. 283, 291 Wiechmann, J. 430, 437, 450 Wieczerkowski, W. 565 Wiedemeyer, M. 844, 855 Wiederhold, K. A. 257, 265 Wiegand, H.-S. 117, 126, 238, 242 Wieland, A. 556, 565 Wieland, G. 602, 605, 676, 682 Wiemann, G. 818, 821 Wiener, J. 377, 383 Wiese, I. 647, 657 Wieser, W. 773, 781 Wigfield, A. 536, 537 Wild, K.-P. 349 Wildenhues, U. 676, 685 Wilken, E. 228, 244 Wilkenning, F. 713, 714, 715, 716, 722 Wilkens, K. 156, 166 Willand, H. 59 Willems, P. 859, 864, 865, 867 Williams, J. E. 282, 290 Williams, S. M. 328, 335, 336 Willke, H. 130, 132, 133, 142
Willmes, K. 193, 202 Willms, J. D. 887, 894 Willoughby, T. 286, 292 Willows, D. M. 202, 502, 876, 880, 895 Willson, V. L. 519, 520, 538, 539 Wilson, E. O. 705, 709 Wilson, P. G. 746, 748 Wilson, P. T. 516 Wilss, L. 659, 682 Wilton, K. 455, 459, 466 Wimmer, H. 198, 203, 554, 566 Wingens, M. 820, 842 Winkel, G. 708, 710 Winkler, J. R. 734 Winnicott, D. W. 233, 244 Winning, A. 626, 633 Winograd, P. 273, 279 Winter, H. 596, 605, 641, 657, 658, 660, 661, 685 Winters, B. 711, 713, 714, 715, 716, 722 Winters, J. J. 283, 292 Wirsich, W. 818, 821 Wischer, B. 731, 735 Wise, B. 73, 79 Wisotzki, K. H. 392 Witruk, E. 437 Witt, M. 893, 896 Wittchen, H.-U. 5, 31, 281, 291 Wittgenstein, L. 572, 590 Wittmann, B. 726, 735 Wittmann, E. Ch. 134, 142, 588, 589, 602, 604, 605, 617, 622, 631, 634, 659, 661, 662, 664, 675–677, 679, 684–686 Wittoch, M. 587, 588, 590, 651, 652, 657 Wittrock, M. 46, 47, 59, 116, 142 Wittrock, M. C. 435, 451 Wittwer, W. 820
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| Autorenregister Wocken, H. 88, 92, 107, 108, 116, 264, 369, 370, 375, 388, 393, 692, 697, 701 Woerner, W. 187, 199, 202 Wöhler, K. H. 126 Wohlfahrt, N. 865, 867 Wolf, A. 440, 451 Wolf, B. 57, 164 Wolf, K. 527, 538 Wolke, D. 70, 72, 79, 80 Wöll, G. 690, 701 Wollring, B. 647, 657 Woloshyn, V. 443, 444, 451 Wolschke, P. 193, 202 Wong, B. Y. L. 192, 206, 279, 393, 444, 451, 535, 539 Wood, C. 473, 477 Wood, E. 286, 292 Woodley-Zanthos, P. 282, 292 Woodsmall, L. 473, 477 Wörner, G. 794, 799, 804 Wörner, R. 561, 568 Wright, M. 891, 895
Wudtke, H. 264, 362, 374 Wulf, Ch. 127 Wunder, M. 141 Wyatt, K. 741, 749 Wyschkon, A. 313
Yaghoub-Zadeh, Z. 202, 502, 876, 880, 895 Yates, D. 263, 266 Yeargin-Allsopp, M. 71, 78 Younger, J. 286, 292
Zahorik, J. A. 439, 449, 450 Zallen, B. 336 Zapf, A. 567 Zapf, G. 335, 336 Zaudig, M. 5, 31, 281, 291 Zedler, P. 35, 57 Zeller, W. 811, 821 Zeyringer, M. 134, 142 Ziebertz, H.-G. 764, 771 Zielinski, W. 4, 11, 32, 33, 45, 49, 59, 329, 337, 904, 909
Zielke, D. 811, 816, 821 Zigler, E. 289, 907, 910 Zima, B. T. 328, 336 Zimbardo, P. G. 304, 305, 314 Zimmer, J. 252, 266 Zimmer, R. 304, 306, 314, 315, 327 Zimmermann, P. 224, 244, 246, 265 Zinnecker, J. 735 Zoelch, Ch. 202, 283, 290, 900, 909 Zollinger, B. 236, 238, 244 Zöllner, H. 822, 833 Zschoche-Lieberum, Ch. 893, 896 Zulliger, H. 787, 790 Zwaan, R. A. 527, 539 Zwack-Stier, C. 180, 184
Sachregister ABC-Modell 399 Abnorme psychosoziale Umstände 68 Abstraktion, reflexive 574 Abweichungsintelligenz quotient 152 Abziehen 617 Abziehen mit Entbündeln 617, 618, 620 Abziehen und Entbündeln 619 Abziehverfahren mit Entbündeln 621 Adaptive Learning Environment Model 367 Addition, schriftliche 615, 622 ADHD 882 Affekte 699 AFRA 552 Aktivierungsniveau 330 Aktivität, metakognitive 531 Aktivitäten, bildnerische 798 Aktivitätsannahme 150, 178, 179, 180 Allgemeinbildung 711 Alltagskultur 572 Anforderungen – graphomotorische 309 – räumlich-geometrische 645 Animation 799 Ansatz – allgemeintechnologischer 714 – arbeitsorientierter 714, 716 – förderdiagnostischer 414 – mehrperspektivischer 714, 715 – ökosystemischer 175 – systemischer 128
Anschauungsmethodiker 575 Anspruchsniveau 345 Anstrengungsvermeidung 338 Antwort 673 Antwortsatz 674, 678 Anwendungssituation 634, 641 Aptitude-Treatment-Inter action-Forschung 367 Äquilibration 576 Äquivalenzintelligenzquotient 152 Arbeitsgedächtnis 199, 282, 283, 479 Arbeitslehre 710, 714, 719 Arbeitslosigkeit 844 Arbeitsteilung 742 Armut 84, 109, 136, 229, 728 Armutsforschung 727 Armutsquote 109 Attribution 338 Attributionsmuster 342 Auffüll-Methode 621 Auffüll-Verfahren 618, 619, 621 Aufgabe – eingekleidete 662 – sachstrukturierte 664 – strukturbezogene 584 Aufgabenmerkmal 197 Aufgabenstellung, offene 681 Aufgabentypen 662, 675 Aufmerksamkeit, selektive 329 Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Probleme 885 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 328 Aufmerksamkeitssteuerung 428
Aufmerksamkeitsstörungen 328 ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) 852 Ausdruck 772, 777 – musikalischer 775 Ausdrucks- und Kommunikationsmedium 774 Ausdrucksfähigkeit 793 Aussonderung, schulische 375 Austauschaufgabe 668 Auswertung, entwicklungs orientierte 201 Automatisierung 610, 616 Autopoiese 129 Autopoiesis 122
Basiscurriculum 405 Basisfakten 609, 610, 615, 631 Bedingtheitsdiskurs 179 Bedingungen, motivationale 651 Bedingungsgefüge 186 Bedürfnis- und Zielorientierung 319 Bedürfnisorientierung 318 Bedürfnistheorie 207 Beeinträchtigungen des Lernens 33, 43 Begriffe, geometrische 650 Begriffserwerb 650 Begründungsdiskurs 171 Behalteziffer 623, 624 Behindertenberufe 810, 815 Behindertenpädagogik 39, 42 Behinderungsbegriff, ökosystemischer 177 Benachteiligtenförderung 810, 811, 816 Benachteiligung, soziokulturelle 481
936
| Sachregister Beobachter 132 Beobachtung 133 – I. Ordnung 133 – II. Ordnung 133 – pädagogische 138 berufs-/ausbildungsvorbereitende Maßnahmen 851 Berufsausbildungsvorbereitung 837, 841 Berufsbildungsgesetz (BBiG) 815, 846 Berufsbildungswerke 808, 810, 811, 813, 814, 848, 852 Berufskonzept, deutsches 835, 836, 839 Berufsreife 809, 813 Berufsvorbereitung 716 Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) 813, 850 Beschäftigung, unterstützte 817 Bewegung 773, 778, 782 – musikalische 774 Bewegungserziehung – allgemeine 782 – inklusive 781 Bewegungsförderung 317 bewegungstherapeutische Schleifen 786 Bewusstheit – numerische 578 – phonologische 74, 199, 479, 511, 512, 513, 514, 515, 546, 880 Beziehung 317 Beziehungen – euklidische 644 – projektive 644 – räumliche 638 – topologische 644 Beziehungsdiagnose 137 Bezugsnorm – interindividuelle (soziale) 344, 345
– intraindividuelle 344, 345 – soziale 345 Bigger Ausbildungskonzep tion 841 Bilderliste, diagnostische 553 Bilderzählung 795 Bildnerei 790 Bildsamkeit 40 Bildsprache 793 Bildsystem, mobiles 794 Bildungsbegriff 180 Bildungskarriere 100 Bildungsklima 111 Bildungsorientierung 783 Bindung 233, 234 Binnenklima 258 Biologiedidaktik 702 Biophilie-Hypothese 705 blending 495 Bottom Up 519 Brennpunkt, sozialer 227 Buchstaben-Laut-Beziehung 514, 515 Buchstaben-Laut-Zuordnung 512 Bundesagentur für Arbeit 851
Chancengleichheit 94, 102 Chancenungleichheit 102 Coaching 801 Code, restringierter motorischer 785 Compassion 770 Computer 497 Computer-Managed-Instruction 468 Computerspiele 648 Curriculum 528
Darstellung 772, 777 Defizitorientierung 180 Dekategorisierung 179 Deklassifikation von Kindern 179
Dekodieren 200 Dekodierstrategie 520 Demokratieverständnis 726 Denken, ökosystemisches 321, 323 Depersonalisierung 800 Deprivationszirkel 85 Deskription 37 Detektivmethoden 536 Diagnose 548, 692 – direkte 438 Diagnose-Förderungs-Modell 409 Diagnose- und Förderklasse 391 Diagnoseaufgabe 617, 621, 625, 629 Diagnostik 674 – kriteriumsorientierte 157 – lernprozessbegleitende 208, 209 – lernzielorientierte 157 – pädagogische 147 – strukturorientierte 158, 193 – verhaltensorientierte 157 – zyklische Modelle 160 Diagnostik von Gedächtnisproblemen 283 Dialog, psychomotorischer 324 Didactica Magna 393 Didaktik – entwicklungslogische 368 – lebensweltorientierte 801 – reduktive 395 – subjektorientierte 368 Differenz 618 Differenzierung 395, 416, 435, 680 – äußere 396, 398, 404, 414
Sachregister | 937
– innere 396, 406, 407, 411, 414 – lehrerzentrierte 408, 409 – natürliche 408 Differenzierungsmöglichkeit 741 DIN EN ISO 9001:2000 861 DIN ISO 859, 860 direct instruction 437, 441, 446 Diskrimination von Phonemen 558 Diskriminierung 101 DISTAR-Programm 446 Division – schriftliche 607, 625 Divisionsalgorithmus 626 Divisionshandlung 625, 626, 627 Dokumentenanalyse 801 DoRA 552 DORT-E 586 DRT 553 DRT1 554 DRT2 554 DRT3 554 DRT4 554 DRT5 554 DSM-IV 5 Dummheit 88 Dyskalkulie 76
Effektivität 873 Effektkontrolle 102 Effektstärke 483 EFQM 859, 862 Eigenaktivität 228, 233, 236, 238 Einfache Auffassung vom Lesen 515 Einkommensarmut 109 Einschulung 94, 222, 240 Einstellungen 89 Einüben realistischer Zielsetzungen 345, 346, 347
Einzelarbeit 427 Elaborationen 284, 285, 286 Elementarbereich 252 Elementarerziehung 251, 253 Elementarisierung 763 Eltern 220, 221, 224, 226, 228, 229, 231, 238 Emotion 136 Empfehlungen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD 175 Empowerment 47 Engagement – politisches 730 Entbündelungsverfahren 617 Entlastungsfunktion 98 Entlastungsstrukturen 100 Entscheidungsgelegenheit 97 Entscheidungskriterien 95 Entscheidungsprozess 93, 94, 99, 101, 102 Entwicklung – bildnerische 802 – kognitive 117 Entwicklung geometrischen Denkens 639 Entwicklung räumlich-geometrischen Denkens 643 Entwicklungsanalyse 548, 549 Entwicklungsaufgaben 95, 764 Entwicklungsbegriff – interaktionistischer 178, 179 Entwicklungschancen 245 Entwicklungsfortschritt 238 Entwicklungslogik 118 Entwicklungsmodell 119, 194 Entwicklungsnachteile 84 Entwicklungsorientierung 180 Entwicklungsphase 200
Entwicklungsprozess 185 Entwicklungsstadium 577 Entwicklungsstufe 200 Entwicklungstheorie 120, 125, 126 Entwicklungsumwelt 261 Entwicklungsverzögerungen 221, 223, 225, 228, 232 Entwicklung und Evaluation eines Förderkonzepts 150 Erfahrungswissenschaft 37 Ergänzen ohne Erweitern 618 Ergebnisbeobachtung 863 Ergebnisqualität 866 Erkenntnismethode 873 Erkrankung, klinisch psychiatrische 66 Erkundung 800 Ernährungserziehung 737 Ernährungskonzept 738 Ernährungslehre 739 Ernährungsverhalten 737 Erschließung – wechselseitige 772, 779 Erstkontakt 225 Erwartungseffekt 98 Erziehung 33 – ästhetische 792 – funktionale 34, 38 – intentionale 34, 38 – kompensatorische 439 Erziehung durch Bewegung 782 Erziehungs- und Bildungskonzeptionen 44 Erziehungsarbeit 262 Erziehungserfordernisse 42 Erziehungsgeschehen 35, 47 Erziehungshandeln 35, 47 Erziehungslehre 35, 48 Erziehungsschule 44 Erziehungsstil 112, 113 Erziehungswissenschaft 35 – deskriptive 35 – normative 35
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| Sachregister Erziehungsziel 111 Ethikdidaktik 761 Ethikunterricht 760, 762, 766, 768, 769 Etikettierung 81 Evaluation, systematische formative 881 Evolution 118 Exosystem 176
Fähigkeiten – allgemeine 776 – behinderte 777 – metakognitive 191 – musikalische 776 – räumliche 634 – soziale 377 Fähigkeitstraining 439 Faktoren – motivationale 652 – selbstbezogene 652 Faktorenanalyse 190 Familienhebamme 229 Familienhilfe, Sozialpädagogische 229, 230 Fantasien 798 Farbmalen 793 FEGA-System 399 Fehleranalyse 549, 614, 674 – linguistische fundierte 551 Fehlerbehebung 624 Fehlerbeispiele 607, 608, 623 Fehlernährung 737 Fehlertyp 607, 624 Feingold-Diät 890 Fertigkeiten, soziale 888 Festschreibung, diagnostische 692 Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs 388 Figur-Grund-Unterscheidung 636 Folgebeeinträchtigungen 10
Follow Through 446, 447 Förder- und Erziehungsplan, individueller 51 Förderangebot 245 Förderausschuss 181 Förderbedarf 7, 316, 376 – sonderpädagogischer 181, 207 Förderdiagnostik 175, 777 – ökosystemische 178 Förderkonzept 209, 212, 518 – computerunterstütztes 650 – psychomotorisches 235 Fördermaßnahme 632 Fördern 556 Förderpädagogik 39 Förderplan 209, 212, 322 – individueller 52, 390 Förderplanung 210 Förderschule 384, 403 Förderschule/Schule für Lernbehinderte 238 Förderschule für Lernbehinderte 222 Förderschwerpunkt 207 Förderschwerpunkt Lernen 221 Fördersituation 315 Förderung 137, 149, 557 – computerunterstützte 648, 649 – der orthographischen Strategie 561 – der phonologischen Bewusstheit/Phonem analyse 559 – direkte 881 – durch Musik 773 – materialgebundene 648, 649 – pädagogische 179 – psychomotorische 315, 326 – Methode 318 – Vorgehen 319
– Ziele 321 – remediale 415 Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen 284, 288 Förderzentren 389 Formen des gemeinsamen Unterrichts 360, 361 Formenrepertoire 790 Forschungsaktivität 381 Fragen – elaborative 286 Freiarbeit 429, 431 Freinet 421, 426, 427, 428 Fremdbild 89 Frontalunterricht 393, 449, 510 Frühberatungsstelle 229 Früherkennung 221, 223, 224, 225, 226, 227, 229, 232 Frühförderprogramm 882 Frühförderstelle 220, 230, 232, 240 Frühförderung 220, 221, 222, 224, 225, 227, 228, 230, 232, 233, 234, 238, 240 – Methoden 234 – Programme 234 Frustration 773 Funktionen 658 Funktionstraining 556
g-Faktor 189 Ganzheitlichkeit 238 Ganztagsschule 261 Ganztagsunterricht 262 Gebärde 512 Gedächtnis 434 Gedächtnisleistungen 426, 877 Gegenstand, diagnostischer 147 Gehirnentwicklung 305 Gehirnforschung 223, 233 Geschichte 723
Sachregister | 939
Geschichtsbewusstsein 726 Geschlechtsrollenentwicklung 751 Gesellschaft 723 Gesellschaftslehre 732 Gestalt/Ordnung 772, 777 Gestalten, technologisches 714 Gestaltung modularen Lernens, didaktisch-methodische 840 Gesundheitsförderung 739, 740 Gleichaltrige 83 Gottesbild 765 Größen 658 Grundbedürfnisse 223, 233 Grundbildung, mathematische 636, 640 Grundgesetz 846 Grundlage, rechtliche 228 Grundschulalter 480 Gruppenarbeit 344, 427, 697
Habitus 121 Haltschwäche 40 Hamburger Schreibprobe 554 Hand-Werk-Lernen (HWL) 849 Handlungs- und Veränderungswissen 49 Handlungsfähigkeit 210 – sozio-sexuelle 756 Handlungskompetenz 736 – berufliche 837, 840 – technische 711 Handlungsorientierung – Konzept 840 Handlungsplanung 330 Handlungssicherheit 330 Handlungssteuerung 330 Hauswirtschaftslehre 735, 746 Heilpädagogik 39, 43, 44 Heimatkunde 689, 690 Helfen 43
– sonderpädagogisches 42 Herkunftsverhältnisse, soziale 86 Heterogenität 95, 96, 97, 99, 101, 366, 696 Hilfen, ausbildungsbegleitende 814 Hilflosigkeit, erlernte 340 Hilfsklasse 400 Hilfsschuldidaktik 442 Hilfsschule 385, 386, 394, 395, 399, 400 Hilfsschulpädagogik 449 Hilfsschulunterricht 394 Hinweiskarte 534, 535 Homogenität 93, 96 Hörverständnis 515 HSP 554 Humanität 754 Hygiene 743 Hypermedia-Software 470 Hypertext 467 Hypothese 137 Hypothesenbildung 138, 325
Identitätsbedrohung 88 Identitätsentwicklung 84, 86 Ideologie, rechtsextreme 731 Idiotenanstalt 385 IGLU 636 IGLU/E 639 Implementation 470 Improvisation 799 Impulsivität 328 Individualisierung 397, 413, 416 Industrieschulen 713 Infantilismus, sexueller 750 Information, förderdiagnostische 553 Informationsmanagement 866 Informationstechnologische Grundbildung 467 Informationsverarbeitung 190, 281, 304
Informationsverarbeitungsstil 191 Inhalts- und Förderbereich 758 Inklusion 46, 783 Instruktion – direkte 440, 441, 447 Instruktionsdesign 472 Instruktionsmodell 475 Instruktionsprinzip 519 Instrumente – diagnostische 641 Integration 375, 397, 401, 416 Integrationsdiskussion 696 Integrationsforschung 357, 362 Integrationstherapie – sensorische 234 Integrationswissenschaft 34 Integration von Methoden 514 Integrative Regelklasse 260 Intelligenz 188, 425, 555, 560 Intelligenzminderung 67 Intelligenzmodelle 189 Intelligenzpotenzial 155 Intelligenz und Trainings erfolg 562 interaktionistisches Modell integrativer Didaktik 369 Interessantheit 339 Interesse 339, 340, 343, 344 intermediäre Position 386 Interpretation 674 Intervention 24, 501 – entwicklungsproximale 236 – schulbasierte 885 Interventionsprogramm 238 Interview, klinisches 675 Invarianz 584, 585 Islamunterricht 762 Isolierung der Schwierigkeiten 424
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| Sachregister Jahrgangsklasse 398, 402, 403, 404 Jobcoaching 853, 854 Jugendamt 230
Kalkülorientierung 606 Kapital, kulturelles 110 Kapitänsaufgabe 671 Kardinalzahltheorie 574, 576 Kardination 573, 574, 578, 579, 580 Kausalattribuierung 345, 346, 347 Kausalattribution 273 Kind, lernbehindertes 375 Kind-Umfeld-Analyse 175, 177, 188 Kind-Umfeld-Diagnose 175 Kind-Umfeld-Modell 371 Kind-Umfeld-System 177 Kinder- und Jugendhilfe 229 Kinderfehler 40 Kindergarten 232 Kinderkrippe 231 Kinderschutzbund 226, 227 Kinderwahlrecht 730 Klassengröße 887 Klassifikation 150, 573, 576, 578, 581, 584, 585 Klassifikations- und Prognosekriterium 149 Kleinklasse 391 Klientel 316 KMK 386, 389 KMK-Empfehlungen 148, 179 Ko-Konstruktion 83, 84 Ko-Konstruktionsprozess 84, 89 Kognition 136 Kombinationsaufgabe 668 Kommunikation, musikalische 775 Kompensation 801 Kompetenz – graphomotorische 308
– mathematische 194 – räumliche 637 Komplexität 672 Komplexitätsreduktion 795 Konstrukteur 86 Konstruktion 123 Konstruktivismus 35, 117, 121, 123, 124, 128 – sozialer 82, 83 konstruktivistische Sicht 630, 631 Konsumverhalten 744 Kontext 670 Kontextnutzung 507, 508 Kontingenzmanagement 334 Kontrolle 272, 273, 274, 276 Kontrollgruppendesign 649 Kontrollrechnung 621 Kontrollverlust 10 Konzentration 425 Konzept – modulares 835, 837, 838 – Reichensches 510 Konzeption, zielgruppen spezifische 837 Konzeptqualität 866 Kooperation 229, 230, 255, 324 Kooperationswissenschaft 34 Kopfrechnen 607, 609, 622 Koppelung, strukturelle 132, 135, 136, 137 Körperlichkeit 772 Körperlich neurologische Erkrankung oder Behinderung 68 Korrelationen 186 Korrelationsdidaktik 763 Krankheiten – ernährungsabhängige 739 – ernährungsbedingte 738 Kreativität 426, 432, 433 Kritik, systemimmanente 156 Küchenorganisation 742
Kumulation 187 Kunst 800 Kunstdidaktik 794 Kunsttherapie, pädagogische 795 Kunstunterricht, therapeutisch gestützter 794 Kurssystem 402 Kurzzeitgedächtnis 480
Lagebeziehungen 634, 638 Längsschnittstudie 224, 226 Längsschnittuntersuchung 227 Langzeiteffekt 238 Lautgebärde 514, 558 Lebensbedeutsamkeit 389 Lebensbedingungen 22 Lebenserfahrung 763, 768 Lebensgeschehen 792 Lebenskonstellation 322 Lebenskontext 226, 320, 326 Lebenslage 106 Lebenssituation 321 Lebenswelt 697, 787 Legasthenie 72, 482 Legastheniker 481 Lehr-Lern-Kurzschluss 134 Lehrereffektivität 440 Lehrertraining 470 Lehrerurteil 380 Lehrplan 696 Lehrverhalten, effektives 439, 442 Leistungsentwicklung 378 Leistungsfähigkeit 381 – motorische 784 Leistungsmotivation 338, 339, 340, 341, 425, 428, 432, 433 Leistungsschule 45 Leistungsstörung 65 Leitfaden 185 Leitfaden für ein schuldiagnostisches Interview 178
Sachregister | 941
Leitvorstellungen 43 Lektüre, außerschulische 516 Lern- und Gedächtnisverhalten, selbstreguliertes 284, 286 Lernarrangement 168 Lernausgangslage 642 Lernbehinderter 151 Lernbehinderung 4, 33, 70, 281, 306, 376, 424 Lernen 65, 126, 329 – aktiv-entdeckendes 638 – Beeinträchtigungen 82 – jahrgangsübergreifendes 402 – leibhaftiges 785 – musikalisches 772, 777 – politisches 727 – selbstgesteuertes 434 – selbstreguliertes 651 – zielerreichendes 414, 415, 416 Lernen am Modell 444 Lernen mit allen Sinnen 180, 690 Lernerfahrungen, integrative 359 Lernförderung, konzeptgebundene 52 Lernfortschritte 379 Lernkontrollen 340 Lernkultur, politische 733 Lernleistungen 887 Lernmotivation 338, 508 Lernpotenzial 692 Lernprinzip 660 Lernprogramm, computer unterstütztes 648 Lernprozess 117, 306 Lernprozessebene, individuelle 839, 841 lernschwach 630, 631 Lernschwierigkeiten 4, 33, 187, 310, 422, 642 Lernsituation, integrative 358, 359
Lernsituationen – gemeinsame 369 – integrative 371 – kooperative 370 Lernstandsanalyse 632 Lernstoff 658 Lernstörung 4, 33, 65, 152, 308 – generalisierte 4 – partielle 4 Lernstrategie 26, 239 Lernsubjekte 691 Lerntestkonzeption 193 Lerntheorie 125 – sozial-kognitive 443 Lernumgebung 371 – situierte 372 Lernumwelt, offene 448 Lernversagen 11 Lernvoraussetzungen 406, 691, 697 Lernwege der Kinder 694 Lernwörter 548, 563 Lernziel 661 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten 311 Lese- und Rechtschreibstörung 72 Lesegeschwindigkeit 513 Leseleistung 308, 311, 312, 491 Lesen – alphabetisches 515 – sinnverstehendes 518, 519 Lesen als Ratespiel 506, 507, 515 Lesen durch Schreiben 509, 511 Leseverständnis 492, 515, 878 Lexikon, orthographisches 545, 563 Linkshänder 309 Lösung, zeichnerische 677 Lösungsprozedur 535 Lundberg 480
Makrosystem 176 Manipulation 125 Materialien 746 – alltagsgeschichtliche 725 – ontogenetisch frühe 799 materialistisches Modell integrativer Didaktik 368 Mathematical Literacy 640 Mathematisierung 661, 671 Matrix der Sexualerziehung 755 Medien 741 Megaanalyse 873 Mesosystem 176 Messinstrument 659 Metaanalyse 401, 402, 412, 449, 467, 483, 873, 874 Metagedächtnis 282 Metakognition 271 Metakomponente 192 Metalearning 695 Methode – analytische 506, 514 – diagnostische 181 – handlungsorientierte 719 – Reichensche 509 – synthetische 510, 514 Methodenrepertoire 214 Migrantenkinder 379 Migrationshintergrund 22, 692 Mikrosystem 176 Mindmap 698 Mitsprechen, synchron-syllabierendes 561 Mittelwertdifferenz 875 Mnemotechnik 285, 288 Modell 542 – diagnostisch-präskriptives 410 – förderdiagnostisches 409, 410 – indirekter diagnostischer Schlussweisen 153 – indirektes 151
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| Sachregister Modellbildung 661 Modelle mathematischer Kompetenz 639 Modellieren, kognitives 334 Modellverhalten 535 Modellvorstellungen 323 Modularisierungsverständnis 835, 836 monitoring 272, 536 Montessori 421, 423 Montessori-Pädagogik 239 Morphemkonstanz 541 Motiv 338 Motivation 338, 422, 424 – extrinsische 338, 345 – intrinsische 338, 339, 345 Motivationsprozess 198 Multiaxiales Klassifikationsschema (MAS) 66 Multikausalität 5 Multikulturalität 769 Multiplikation, schriftliche 622 Multisymptomatik 5 Museum 726 Musik – mit der Stimme 772, 779 – mit Instrumenten 772, 779 – und Bewegung 772, 779 Musik als Medium 771 Musikhören 772, 779 Musikinstrumente 776 Musiktherapie 772
Nachhaltigkeit 708 Nachhilfeklasse 400 Nahrungszubereitung 740, 741 Nationalgeschichte 724 Naturerfahrungen 705 Naturkunde 702 NCTM-Standard 637 Netzwerk 136 New Social Studies 723
Nichtzählstrategie 611, 616 Normalisierung 401 Normalpädagogik 42 Normation 37 Notation 673, 678 Novize 529 Null 616, 617, 620, 621, 623, 624, 625, 627, 628
Objektivität 133 Öffnung von Unterricht 364 ökologisches Modell integrativer Didaktik 370 OLFA 552 Operationen, ontogenetisch frühe 798 Operationsverständnis 631 Ordinalzahltheorie 574, 575, 576 Organisationsentwicklung 856, 865 Orientierungswissen 49 Orthographie – deutsche 539 OTZ 587
Pädagogik 33, 35 – – – –
Aufgaben 36 deskriptive 36 empirische 35 geisteswissenschaftliche 35 – normative 36 – präskriptive 36 Pädagogik der Vorsorge 45 pädagogische Differenz 55 Paradigma 117, 121 – systemisch-konstruktivistisches 128 Partnerarbeit 427 Passivitätspostulat 150 Passung – kompensatorische 410 – präferenzielle 410 – remediale 410 Passungsprobleme 207
peer collaboration 365 peer tutoring 365 PEKiP 232 Person-Umwelt-Zusammenhang 325 Persongenese 38 Perspektivenübernahme 82 Perturbation 122 Pfadanalyse 186 Phase – alphabetische 505 – pädagogische 213 – praktische 212 Phasenmodell 703 Philosophie, dialogische 368 PISA 8, 639, 651 Planum Temporale 482 Planungsprozess 192 Platzierungsentscheidung 98 Polytechnik 710 Popkultur 800 Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP) 231 Prägnanz 874 Präskription 37 Prävalenz 6 Prävention 24, 251, 479, 501 – primäre 246 – sekundäre 246 – tertiäre 246 Präventionserfolg 500 Prinzip, phonographisches 540 Prinzipien 360 – des gemeinsamen Unterrichts 359 – handlungsleitende 736 – methodische 772, 778 – ökosystemischer psychomotorischer Förderung 322 – psychomotorischen Handelns 320 Problemlöseverhalten 530 Problemmodell – episodisches 665, 671
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– mathematisches 669, 672 Professionalisierung 784 Profilinterpretation 191 Prognose 150 Projekte, bewegungsorientierte 787 Prozessanalyse 193, 195, 200 Prozesse – exekutive 271, 272, 273, 275 Prozesstraining 438 Psychodiagnostik 147 Psycholinguistischer Entwicklungstest 886 Psychologie 37 – Kritische 181 – Pädagogische 38 Psychomotorik, ökosystemische 320 Psychomotoriker 323
Qualifizierungsbausteine 837, 838, 839, 841 Qualifizierungspass 839 Qualität, prozessorientierte 866 Qualität des gemeinsamen Unterrichts 372 Qualitätsentwicklung 857 Qualitätskontrolle 99 Qualitätsmanagement 856, 857, 859 – systematisches 863 Qualitätssicherung 858, 863 Qualitätsstandards 372
Randständigkeit, soziale 751 Raum 119 Raum- und Zeitbewusstsein 120 Raumdarstellung 790 Rechenstörung 75 Rechenverfahren, schriftliche 605 Rechnen 673
– algorithmisches 607 – halbschriftliches 607, 609, 622 Rechtschreiben 542 Rechtschreibentwicklung 544 Rechtschreibkartei 563 Rechtschreibkompetenz 541 Rechtschreibleistung 483, 491 Rechtschreibregeln 562 Rechtschreibtest 552, 553 – diagnostischer 553 Rechtschreibung 548, 556 – deutsche 540 reciprocal teaching 277 Reflexion 318, 319 Regression 797 Rehabilitationspädagogik 39 Reifungsvorstellung, endo genistische 179 Rekodieren 200 Religion 765 Religionspädagogik 761 Religionsunterricht 760, 762, 764, 765 Religiosität 762 Reorganisation 865 Repräsentation 797 Repräsentationsniveau 209 Resilienz 47 Resilienzforschung 729 Ressourcen 187 Ressourcenorientierung 138, 865 Retardierung, mentale 281, 285 Richtziele 43 Risiken, psychosoziale 223, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 237 Risikofaktoren 188, 223–226 Risikokind 199, 224, 499 Rotation, mentale 638
Sachbild 676 Sachproblem 663, 676 Sachprojekt 664, 676 Sachtext 664, 676 Sachunterricht 661 – kommunikativ-handlungsorientierter 699 – der Vielfalt 693, 694 Sachunterrichtsdidaktik 690, 697 Salzburger Lese- und Rechtschreibtest 554 scaffolding 534 Schattenspiel 776 Schemata 797 Schließung, operationale 130 Schlüsselqualifikationen 818 Schlüsselwörter 667 Schönheitsnormen 753 Schonraumeffekt 401 Schreiben, logographemisches 545 Schreibfehler 201 Schreibprozess 541, 542 Schreibstrategie 541 Schrift, alphabetische 540 Schriftspracherwerb 198, 481, 497, 518 – Entwicklung 504 Schulalter 245 Schüleraktivität 362 Schülerfirmen 849, 850 Schülermerkmale 493 Schülerorientierung 691 Schulfähigkeit 95 Schulkindergarten 259 Schulklima 344 Schullaufbahnentwicklung 652 Schulleistungen 186, 307, 312, 425, 426, 432 Schulleistungsdiagnostik 189 Schulleistungsprobleme 378 Schulleistungsversagen, systembedingtes 93 Schulstrukturen 100
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| Sachregister Schulwesen, leistungsorientiertes 181 Schwarzes Theater 776 Schwierigkeitsmerkmal 617, 621, 625 Segmentierung von Wörtern 513 Selbst-Befragung 277 Selbst- und Weltkonzept 326 Selbstbewertung 342, 345–347 Selbstbild 88, 434 Selbstdifferenzierung 681 Selbstentfaltung 46 Selbstinstruktion 275, 334, 444 Selbstinstruktionstraining 28, 332 Selbstkonzept 88, 317, 379, 380 Selbstkonzeptwert 198 Selbstmanagement 332 Selbstorganisation 698 Selbstorganisationsthese 176 Selbstregulationsfähigkeit 335 Selbstständigkeitserziehung 736 Selbststeuerung, volitionale 434 Selbstüberwachungsprozess 521 Selbstvertrauen 652 Selbstwahrnehmung 380, 695 Selbstwertgefühl 10 Selbstwirksamkeit 324, 348, 381 Selektionsdiagnostik 552 self-efficacy 273 Sensomotorik 315, 772, 773, 774 Seriation 573, 574, 576, 578, 580, 583, 584, 585 Sexualmoral 754 Shell-Jugendstudien 729 Sicherheit 743 Silbe 513, 515, 560
Silben- und Phonemsegmentierung 559 Silbenverfahren 560 Silbieren 513 Simple View of Reading-Ansatz 520 Simplexaufgabe 678 Singen 775 Sinn 130 Sinnentnahme 518 Situation – emotionale 212 – soziale 212 Sonderbeschulung 891 Sonderpädagogik 39, 42, 43 – Auftrag 43 Sonderpädagogisches Förderzentrum 391 Sonderschule für Lernbehinderte 403 Sonderunterricht 376 Sozialgesetzbuch – drittes (SBG III) 846 – neuntes (SGB IX) 846 Sozialisation, ästhetische 801 Sozialisationsforschung 105, 107 Sozialisationsprozess 104 sozialökologisch 176 Sozio-Sexualität 749 Spiel 233, 239, 798 Spielen 787 Spielförderung 232, 233, 234 Spielzeug 799 Sport 782 Sportpädagogik 783 Sportunterricht 781 Sportvereinsmitgliedschaft 787 Sprachcode 105 Spracherfahrungsansatz 508, 509, 511, 563 Spracherwerb 235, 237 Sprachförderung 235, 236, 238, 311 Sprachform 271
Sprachstörungen 235 Sprachverhalten, sexuelles 757 Sprechspiele 775 Stationenlernen 698 Stationslernen 429 Status – soziometrischer 377 – sozioökonomischer 494 Stellenwert 607, 623 Stellenwertschreibweise 612, 613 Stellenwertsystem 613 Stellung, soziale 377 Stigma-Identitäts-These 87 Stigmamanagement 88, 89 Stigmatisierung 81, 85, 90 Stigmatisierungserleben 727 Stimme 775 Stimulantienbehandlung 882 Stimulierung-Strukturierung 778 Stoff, ästhetischer 797 Strategie 201, 271, 273, 276, 646 – alphabetische 544, 546, 547, 549, 557 – holistische 646 – lineare diagnostische 160 – logographemische 543, 544 – logographische 506 – orthographische 505, 545, 547 – phonemische 544 – sequentielle 646 Strategieanalyse 196 Strategie der Informationssammlung 159 Strategiegebrauch 282, 287, 288 Strategietraining 443–445 Strategiewissen, allgemeines 273, 275 Strukturdeterminierung 131
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Strukturen 118, 121 Strukturierung 333 Strukturwandel 858 Stufenfolge, didaktische 658 Stufenlehre 505 Stufenmodell 196, 544 Stufenmodelle der Rechtschreibentwicklung 543 Stützpunktvorstellungen 659 Subjekt 763, 767 Subjektstandpunkt 210 Subsidiarität 387 Subsidiarität des Sonderschulwesens 149 Subtraktion, schriftliche 607, 609, 617 Sure Start 229 Symbolischer Interaktionismus 81 Symbolsysteme 573 Syndrom, autistisches 750 Synkretismus 797 System – lebendes 129 – nicht-triviales 131 – psychisches 130, 134, 135 – soziales 130, 134 – triviales 131, 135 System der Frühförderung 220, 222, 224, 229, 237 Systeminteressen 96
Tagesmutter 230 Tagesplan 429, 430 Teamdiagnose 181 Team Teaching 433 Technik, verhaltensmodifikatorische 879 Technikunterricht 710, 714, 716 Technikverständnis 711 Teile-Ganzes-Konzept 611, 618 Teilfertigkeiten 197, 199 Teilleistungskonzept 180
Test, diagnostischer 614 Testbatterie 190 Textaufgabe 662, 666, 675 Textproduktion 272, 278 Textverarbeitungsprozess 527 Textverbesserung 532 Textverständnis 272, 277, 667 Theorie, subjektorientierte 167 Tiefencodierung 647 Tierhaltung 706 TIMSS 639, 651 TIMSS I 645 Top-Down-Prozess 519 TQM 861 Training 26 Trainingsprogramm 233, 253 Training von Lernstrategien 443 Transfer 287, 491 Transferleistung 641 Transsexuellen-Gesetz 752 Triple Code Model 76 Tutor 883
Übergang von der Schule in die Berufstätigkeit 845 Überschlagsrechnung 629 Übertrag 616, 619, 621 Überwachen 273, 275 Überwachung 272, 274, 276, 536 Überweisungsverfahren 148 Übungsbehandlung, psychomotorische 315 Umschriebene Entwicklungsstörung 67 Umsetzen, technologisches 714 Umstrukturierung 798 Umwelt 225 Umweltschutz 745 Unaufmerksamkeit 328 Ungleichheit, soziale 106 Unruhe, motorische 328
Unterricht – adaptiver 367, 430, 435 – computerunterstützter 466 – direkter 437, 438, 442, 448 – effektiver 440 – ganzheitlicher 506 – gemeinsamer 357, 358, 359 – als Konzept 366 – im Sekundarbereich 366 – lehrerzentrierter 435 – mehrperspektivischer 125 – offener 407, 408, 411, 412, 421, 449, 509, 510, 883 – Formen 423 – traditioneller 433 Unterrichten – modalitätsspezifisches 889 Unterrichtsansatz, diagnostisch-präskriptiver 414 Unterrichtsebene 257 Unterrichtsformen 364, 435 Unterrichtsklima 653 Unterrichtskonzept 357 Unterrichtskonzepte, reformpädagogische 358 Unterrichtsorganisation 363 Unterrichtsplanung 741 Unterrichtsstil 653 Unterschichttheorie 107 Unterschiede, geschlechtsspezifische 728 Unterweisung, computerunterstützte 884 Ursachen 223, 233
Validität 153 Variable, intervenierende 468, 494 Variationen, didaktische 801
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| Sachregister Verfahren – curriculumorientiertes 194 – eigenschafts- und norm orientiertes 153 – entwicklungsorientiertes 195 – operantes 332 Verfahren zur Früherkennung 225 Vergleichsaufgabe 667, 669 Verhalten, prosoziales 378 Verhaltenshemmung 330 Verhaltensmodifikation 334, 431 – kognitive 444 Verhaltensprobleme 431 Vermittler 497 Vermittlung 495 Vermittlungsprozess 711 Vernachlässigung 226 Vernetzung 229 Verstehensprozess 527 Verteilhandlung 626 Viabilität 122, 124 Videodisc 472 Videopräsentation 474 Volksschule 385, 386 Vorausläuferfähigkeiten 236 Voraussetzungen 197, 199 Voraussetzungsanalyse 195 Voraussetzungsstrukturen 197 Vorgehen – algorithmisches 606 – synthetisches 511 Vorschulerziehung 237 Vorsorgeuntersuchung 235 Vorurteile 89, 90 Vorurteilsforschung 731 Vorwissen 136, 283, 422, 428, 434, 529 Vulgärsprache 754
Wahrnehmung 304 – musikalische 775 – visuelle 235, 642
Wahrnehmungsförderung 180, 310 Wahrnehmungsfunktionen 307 Wahrnehmungsprozess 304, 305 Wahrnehmungsstörungen 305, 306, 312 Wahrnehmungstest 307 Wahrnehmungstraining 310, 311, 890 Wäschepflege 745 Welterfahrung 690 Weltwissen 527 Werkstattunterricht 430 Werkunterricht 710 Werte 767 Wertsinnsminderung 40 Wertvorstellungen, demokratische 729 Wiederholung 778 Wille 338 Wirkfaktor 316 Wirkung früher Hilfen 228 Wirtschaftlichkeit 858 Wissen 194 – bereichsspezifisches 278 Wissenschaftstheorie 35 Wissenserwerb 284 Wochenplan 429, 430 Wochenplanarbeit 427 Wohnen 744, 745 Wortlesefähigkeit 515, 521
Zahl 571, 572, 573, 574, 575, 576, 577, 579, 582, 583, 585 – Bedeutungsaspekte 577 Zahlbegriff 573, 574, 575, 576, 577, 578, 581, 585 – Entwicklung 571, 575, 578, 581, 584 Zahldarstellung 611, 612, 613, 614, 628 Zählen 572, 575, 576, 578,
579, 581, 582, 583, 585, 587 Zahlensatz 671, 680 Zahlenstrahl 610 Zahlinvarianz 579, 580, 582, 583 Zählkompetenz 582 Zählmethodiker 575 Zählprinzipien 576, 587 Zahlverständnis 612, 628 Zahlvorstellung 612, 631 Zahlwörter 571, 575, 577, 582 Zahlwortreihe 610 Zahlwortsequenz 581 Zehnersystem 612, 613, 614, 615, 616 Zehnerüberschreitung 615, 618 Zeichenunterricht 792 Zeichnen 791 – Collage-unterstütztes 794 Zeit 119 Zeitbewusstsein 725 Zertifizierung einzelner Module 837, 838 Ziele 658 Ziele und Methoden 325 Zirkelschluss 156 Zone der nächsten Entwicklung 209 Zugangsweise 693 – alltagsgeschichtliche 724 Zurückstellung 237 Zusammenlauten 512 Zusammenschleifen 513, 514 Zusatzcurriculum 405 Zuschreibung 86 Zuschreibungszirkel 81 Zweitafelprojektion 647