Das neue Abenteuer 111
Kurt Herwarth Ball: Sonderauftrag
Verlag Neues Leben, Berlin 1957
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 111
Kurt Herwarth Ball: Sonderauftrag
Verlag Neues Leben, Berlin 1957
V 1.0 by Dumme Pute
Lizenz Nr. 303 (305/68/57) Umschlagzeichnung und Illustrationen: Manfred Stobbe, Ilmenau Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/38
Der Wagen holte den Polizei-Hauptwachtmeister Kurt Holzner aus der Schloßstraße in Steglitz, aus der Streife, die er dort ging. Fragend blickte Holzner um sich, als verstehe er nicht. Sie fuhren ins Präsidium, wo man ihm sagte, daß er sich bei Major Rübeland zu melden habe. Rübeland? überlegte er. Gewiß, den Namen hatte er gehört, im Krieg, vor Jahren - es war längst nicht mehr wahr. Sie mußten sich an irgendeiner Front begegnet sein, wohin er mit diesem und jenem Kameraden geschickt worden war, zu Sonderaufträgen, bei denen sie Fotos und Berichte vom Einsatz der Polizeibataillone anzufertigen hatten. Noch nie war es vorgekommen, daß man ihn mitten aus der Streife herausgeholt, und er war seit vierundzwanzig Jahren bei der Polizei. Nächstes Jahr, im Mai, hatte er Jubiläum. Und noch immer war er Hauptwachtmeister. Der Major wandte sich erst vom Fenster ab, als Holzner seine Meldung gesagt hatte. Da, in das Gesicht des Vorgesetzten schauend, erkannte Holzner ihn. Während Rübeland vom Fenster her durch das Zimmer auf ihn zukam, rasten in Holzner Bilder heran, Jahre jagten vorbei, das Vergessene richtete sich auf. Nur dem in vierundzwanzig Jahren zur Gewohnheit gewordenen Drill verdankte es Holzner, daß sich an ihm nicht mehr bewegte als der Ringfinger der linken Hand. Dabei wütete in ihm ein Fieber, ihn fror . das war damals Kilometer hinter dem steiermärkischen Marburg gewesen, jenseits der Drau, in den Bachern, ziemlich wilden Bergen. Da lag eine Polizeikompanie in L., einem Dorf, mit dem Sonderauftrag zur Bekämpfung der Partisanen, und der Hauptmann und SSSturmführer Werner Rübeland befehligte die Einheit. Holzner hörte seine Zähne aufeinanderklirren; er nahm
die Hand des vor ihm stehenden Majors. Das Gesicht des Offiziers veränderte sich kaum, nur das Lächeln darin schien ein fremdes Licht zu sein. "Sie erinnern sich, Hauptwachtmeister?" Eine Handbewegung zum Tisch. Holzner saß in Haltung; anders war es ihm nicht möglich. Dabei zuckte in ihm die Hoffnung auf, der Major könnte sich seiner erinnert haben und wollte ihn aus dem Revierdienst nehmen. Er hätte schon Polizeimeister sein müssen, den Jahren nach, doch immer wieder waren jüngere Kameraden vorgezogen worden. Aber vor dem Gesicht des Majors wußte er, warum er nicht befördert worden war und daß nun das Ende kam. "Jawohl, Herr Major", erwiderte er und nannte den Namen jenes Dorfes in der gewaltigen Landschaft über der Drau. "In den Bachern, Partisanenkrieg, Vierundvierzig." "Hatten nicht gedacht, daß wir uns wiedersehen, was? Rauchen? Die Zeit hebt uns füreinander auf, Holzner. Ihren Namen habe ich nicht vergessen." "Danke, Herr Major, immer noch Nichtraucher." Rübeland blies den Zigarettenrauch mit gespitztem Munde vor sich hin. "Sie sind immer in Berlin gewesen seit dem Krieg, Holzner? Hier - bei uns?" Wie er bei der Frage den Blick herumnahm! Holzner würgte die Worte heraus: "Jawohl, Herr Major. Ich wohne in Lichterfelde." Auf dem Schreibtisch stand ein Bild, von dem Rübeland sich jetzt abwandte. Sein Blick traf Holzner am unteren Uniformknopf und kam mählich Knopf um Knopf höher, glitt über das Kinn und die Nasenspitze und blieb zwischen den Augen auf der Nasenwurzel hängen. Holzner fühlte es, fühlte es wie einen Schlag. "Und wenn Sie am
Spittelmarkt wohnten, wären Sie bei der Vopo." Die Worte kamen spitz wie Sägezähne, rissen ihn auf. Er konnte nur "nein" sagen, mußte schlucken, gewann eine Überlegenheit. "Drüben haben sie doch alle alten Polizeiangehörigen entlassen ." Holzner saß auf der Stuhlkante; in seinen etwas vergrößerten Augen, von der Basedowschen Krankheit herrührend, war ein tumbes Staunen. "Richtig. Aber vielleicht wären Sie dann ein Aktivist, wie? Kommt doch immer darauf an, wo man sein Brot hat, nicht wahr? Fotografieren Sie noch? Haben Sie noch Bilder von damals? Ja - bringen Sie mir morgen welche mit. Meine sind alle weg. Die Absetzbewegungen, dann die Kriegsgefangenschaft - die Hunde haben mich zum Kriegsverbrecher gestempelt, und hier haben sie die Wohnung leergemacht." Eine Handbewegung. "Aus. Aber nicht vergessen." Jawohl, immer wieder jawohl, und immer wieder der Schmerz, als sei der Kehlkopf angerostet. Rübeland zog einen Zettel unter der Bleistiftschale hervor. Seine Hand war schmal, gepflegt, mit Ringen, die er abnahm, wenn er die Flöte blies, die Querflöte. In den Steinen flirrte das Licht des Tages, blau, orangen, gelb, rot. Die Hand berührte das Bild auf dem Tisch wieder, eine Frau mit zwei Kindern, vielleicht drei und vier Jahre. Jünger als meine beiden, dachte Holzner. Rübeland hatte wohl erst nach der Gefangenschaft geheiratet. Der Zettel kroch unter seinen Fingern über den Schreibtisch, auf Holzner zu, der, ehe er etwas entziffern konnte, einen Namen und eine Anschrift erkannte. "Ich habe Sie vom Revierdienst freistellen lassen, Holzner, zu meiner Verfügung, für einen Sonderauftrag." Rübeland wartete. "Jawohl, Herr Major." Sollte er danke sagen? Er wäre
lieber die Schloßstraße entlanggegangen. Sonderauftrag . Wie hatte Rübeland vorhin gesagt: Die Zeit hebt uns füreinander auf. Was meinte er damit, was war das für ein Sonderauftrag? "Sie sind immer noch Hauptwachtmeister? Wie lange dienen Sie?" "Vierundzwanzig Jahre, Herr Major. Ich bin mit zwanzig Jahren eingetreten, Herr Major. Neunzehnhundertzweiunddreißig." Was sollte das alles? Was war das für eine Anschrift dort? Der Major hatte die Hand auf dem Zettel, als wollte er ein weglaufendes weißes Tier festhalten. "Ich werde Sie zum Meister eingeben, Holzner. So ein alter Mann und noch kein Silber. Verheiratet?" "Jawohl - zwei Kinder." Der Major stand. Holzner gehorchten die Glieder kaum, als er sich erhob. Wenn er doch nur sagen wollte, worum es sich handelte. Dieses Hin und Her - nicht auszuhalten. "Hier, Holzner, diese Frau bringen Sie mir her." Der Zettel, endlich. "Jawohl!" Er las: Josefa Braumüller, Uhlandstraße 36, Pension . "Ein Haftbefehl?" Das war keiner, und Rübeland, der Major, besaß keinen. Holzner wußte es, als er fragte. Das kann ich doch nicht tun, das ist gesetzlos, so ohne alles. Er hob die Hand mit dem Zettel. "Vertrauenssache, Holzner. Überlasse alles Ihnen. Die Frau muß her, verstanden, Holzner? Hierher." Der Finger stieß vor Holzners Füßen zum Teppich nieder. Das Gesicht blieb Maske, hart, unerbittlich, von nichts zu ätzen. Dennoch verließen Kurt Holzner Worte, die sinnlos waren, die ihm vielleicht nicht einmal gehörten, ihm nicht zu gehören hatten, denn er war im Dienst, hatte zu gehorchen - und dennoch sprach er sie: "Ich kann doch nicht ."
Er würgte sich selbst ab. Nahm die Hände an die Hosennaht, die Hacken zusammen. Vierundzwanzig Jahre Disziplin rückten ihn zurecht. Gehorsam. Vierundzwanzig Jahre lang, "jawohl". Vierundzwanzig Jahre Streife, Betrunkene von der Straße lesen, Verwarnungen aussprechen, Ordnungsstrafen ausschreiben, Polizeigriffe anwenden, Handschellen, Gummiknüppel bei Demonstrationen. Aber Kurt Holzner hatte noch niemand niedergeschossen, im Krieg nicht und im Frieden nicht, und auch der war immer Krieg gewesen, gegen die anderen, gegen die Arbeiter. Er hatte Mechaniker gelernt und war Schupo geworden, weil er keine Arbeit gefunden damals, Einunddreißig, Zweiunddreißig. Es gab keine, sonst wäre er wohl einer von denen geworden, die er jetzt wie ein Wachhund begleiten mußte. Er konnte weiter nichts sein. Irgendwo Hofarbeiter konnte er werden . Aber das hier, das kann ich doch nicht tun. Der Gedanke schob sich hoch wie eine umgedrehte Lawine, die aus dem Tal aufrollt und auf der Bergspitze steht, zu einer Wolke wird, in den Himmel stiebt: Das ist Menschenraub . Das Gesicht vor ihm - das gehörte dem SS-Sturmführer Rübeland und stand im Schatten eines kleinfenstrigen Zimmers, in das die Bachern schauten. Eine Stimme: "Herr Hauptmann, die Ecke ist verdammt gefährlich." "Na und? Liebt ihr die Gefahr nicht? Soll wohl einen ganzen Zug schicken? Drei Mann genügen. Die Hunde sind doch feige. Nachts kommen sie aus ihren Löchern am Tage verkriechen sie sich. Lockt sie heraus, bringt einen mit, lebendig." Und Kaffeedunst in der Stube. Geruch von dickem Bauernkuchen. Eine Frau schiebt Holz in den Ofen; es war droben in den Wäldern geschlagen, die vor den Felsen standen, uralte Wälder, jene liebend und
bergend, die sie geboren, und jene hassend, die ihnen den Tod bringen wollten. Die Wälder waren Leben, noch als trockenes Scheit, prasselnd im Ofen, und die grünen Kacheln glühten lautlos. Die Frau richtete sich auf; sie ging vor dem Oberwachtmeister Schräger hinaus, und es sah aus, als wollte sie ihn hinaufführen zu dem Jagdhaus. Die Männer stapften, drei Schritt voneinander entfernt, in den Bergwald hinein, in die Stille, in das Schweigen, das sie aufnahm und nicht wieder freigab. Hauptmann Rübeland verfolgte sie vom Fenster mit dem Feldstecher. Es fiel kein Schuß. Der Hauptmann wandte sich ab und vertauschte den Feldstecher mit der Flöte, die er meisterlich handhabte. Es klang, als spielten kleine unirdische Wesen durch das alte Haus, dessen Gebälk manchmal knackte. Die drei Männer der 7. Kompanie eines Reserve-Polizeibataillons kamen nicht wieder - drei Väter . Die Gruppe, die Hauptmann Rübeland ihnen zwei Tage später nachschickte, hatte zwei Verwundete . Der Hauptmann spielte die Flöte nicht. "Sie können, Holzner. Und wenn Sie die Frau sehen, wissen Sie, daß Sie es müssen. Und vergessen Sie morgen die Bilder aus den Bachern nicht." Eine Handbewegung - aus. Holzner trank Ungeheuerliches und gurgelte, um nicht zu ersticken, die Worte hervor: "Das ist doch - Menschenraub!" Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wehrte sich gegen das Furchtbare, das ihn zu fassen begann. Der Major ruckte herum. Er zeigte die Zähne, ein tadelloses Gebiß, stellte die Schneidezähne aufeinander. "Sind Sie wahnsinnig, Hauptwachtmeister? Mann, haben Sie mich nicht verstanden?" Die Lippen bewegten sich, doch
die Zähne blieben zusammengebissen, hielten die Worte vor Holzner fest. "Die Frau - oder Sie. Ich gebe Ihnen einen Befehl." "Jawohl, Herr Major." Hacken zusammen, Kehrtwendung, zur Tür. Dort erreichte ihn die Stimme: "Holzner!" Vierundzwanzig Jahre Disziplin erzwangen die gehorsame Frage: "Herr Major?" "Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, Holzner. Bis morgen mittag. Für Ihren - Menschenraub!" Lachte der Major? "Jawohl, Herr Major. Bis morgen mittag." Jawohl, jawohl, jawohl. "Sie können Zivil tragen, Holzner." Das kam hinter ihm her, als er schon den Gang entlangschritt. Zivil. Er brauchte die Uniform nicht - nein, ich soll sie nicht tragen, soll sie nicht . nicht beschmutzen. In Uniform begeht man keinen Menschenraub. Das macht man in Zivil ab, als schlichter Bürger, der einen anderen besucht, ihn einlädt, mitnimmt. Die Uniform hat untadelig zu bleiben. Auf der Straße nachher grabbelten Holzners Finger zusammengeknülltes Papier aus der Tasche. Er warf es weg, und da erinnerte er sich: es war die Adresse. Die Blumenfrau lachte, als ein Schupo Papierfetzen vom Damm las, drei, vier, fünf Straßenbahnfahrscheine, Zigarettenbanderolen. Einen Zettel steckte er ein, ihn erst glättend. "Is woll ein Korpus delekti oder wie das heißt, Herr Wachtmeister? Scheene Rosen, zwanzig Pfennig für das Randewu, Herr Wachtmeister." Holzner ging vorbei und kam wieder zurück. "Geben Sie mir zehn Stück." Seine Frau bekam große Augen. Rosen? Ohne daß sie Geburtstag hatte? Sie brachte die Vase mit den Blüten ins Zimmer, das sich mit dem süßen Duft füllte. "Verschwen-
der. Wo wir doch selbst welche im Garten haben." Holzner besaß zuweilen eine eigenartige Bewegung, er schob die Schultern hoch, und in seinem Nacken buckelte sich ein breiter Wulst auf. So saß er jetzt am Tisch, die Fäuste vor sich gestellt, als halte er Zügel und fahre ein unsichtbares Gespann. Die Frau setzte die Vase nieder. "Was hast du? Ist etwas passiert? Du kommst doch sonst später." Holzner sah das Bangen in Grits Augen. "Nein - es ist nichts. Ich habe einen - einen Sonderauftrag vom Präsidium." Das Bangen verschwand; das Licht des Julitages und die Wärme kamen über Grit. "Vielleicht wirst du dann befördert. Zeit wird es ja." Dann gab es Schulterstücke in Silber und mehr Gehalt. Grit fragte nie nach seinem Dienst. Der geschah in einer anderen Welt, die aufhörte, wenn Kurt nach Hause kam und die Uniform auszog. Heute saß er in Uniform am Tisch, und sein Gesicht ängstigte sie, und seinen Buckel machte er auch. Heute blieb der Dienst an ihm hängen.
Der braune gestreifte Anzug konnte den Uniformträger nicht verleugnen; der helle Binder, das kleine Seidentüchlein in der Brusttasche, die scharfen Bügelfalten - alles genauso akkurat wie die Uniform. Man lebt nicht umsonst vierundzwanzig Jahre darin, noch dazu, wenn die Genauigkeit, die absolute Ordnung, der Sekundenzeiger zu den unabdingbaren Gesetzen des Lebens geworden sind zuerst vielleicht aus Furcht, etwas verkehrt zu machen, aufzufallen, unangenehm aufzufallen, denn man wollte doch die Stellung behalten. Dann wird man beherrscht davon.
Die Bilder zu finden war leicht gewesen. Die Alben lagen numeriert im Bücherschrank, unten links, die Negative waren jahrgangsweise geordnet. Ein Bild zeigte die Frau des Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters von L., eine große kräftige Frau mit eigenartig rötlichblondem Haar, das sie wie eine Krone trug. Mancher Weizen hat in der Reife diesen leicht stumpfen Glanz. Die meisten Familien dort stammten von deutschen Siedlern, die vor zweihundert Jahren ins Land gekommen waren; die nicht zu ihnen gehörten, hielten zu den Partisanen Titos. Holzner grübelte lange nach dem Namen der Frau, ohne sich erinnern zu können; Josefa Braumüller hieß sie gewiß nicht. Das Bild hatte er gemacht, als sie am Brunnen stand und ein rotes Tuch, eben ausgewaschen, über die Leine schlug. Neben ihr die beiden Kinder, zwei und drei Jahre
alt . Er ging die Uhlandstraße hinauf. Was er tun sollte, wußte er; was er tun würde, wußte er noch nicht. Die Worte des Majors hackten mit jedem Schritt hinter ihm her: Die Frau - oder Sie! Es war ein Befehl; aber einen solchen Befehl konnte es doch nicht geben. Im Krieg war so etwas möglich gewesen - aber es war Friede. Rübeland konnte ihn doch nicht bestrafen lassen, weil er sich weigerte, einen Menschen ohne Haftbefehl vorzuführen. Ein Schupo grüßte ihn. Er blieb stehen. Ja, er habe frei, einen Bummel machen - was man eben so tut, wenn man dienstfrei hat. Holzner ging weiter und kam wieder zurück. Ob der Kamerad einen Major - richtig: Major Rübeland kenne, habe eine Einheit geführt im Krieg, sei SS-Führer gewesen, Sturmführer. Der Kamerad sagte "nein" und blickte einer Frau nach. Als Holzner dem Blick folgte, erschrak er. Das war genau das gleiche eigenartig weizenreife Haar, rötlichblond. "Sitzen allerhand von denen wieder im Präsidium, von den Alten", meinte der Schupo. "Wir sind es ja auch." Er lachte. Holzner, die Augen immer noch auf die Frau geheftet, wehrte sich: "Ich bin nicht dabeigewesen." Er ging weiter und versuchte das Unmögliche in sich niederzutreten. Er schritt die Uhlandstraße hinunter bis zum anderen Ende, wollte "links - rechts!" sagen; doch wenn die Füße auftraten, flüsterte es in ihm "nein - nein, nein - nein!" Wahnsinn! Seine Stirn war heiß, die Schläfen schmerzten vom Blutschlag; in den Händen lagen Tropfen wie dünner Tau. In ihm rang alles miteinander, bis endlich das eiskalte: "Die Frau oder Sie!" sich gewandelt hatte: Die Frau - "und" Sie! Und Sie, und Sie, nicht: "oder" . Was will der Major mit der Frau? Und warum
hat er mich herausgesucht? Er hätte doch jedem anderen den Auftrag geben können. - War sie es? Eine zufällige Ähnlichkeit, mehr nicht. Wie soll sie denn nach Berlin kommen, von da unten her? Wenn er nur ihren Namen heraufholen könnte. Der Ortsgruppenleiter von L. hatte doch nicht Braumüller geheißen, ganz bestimmt nicht, aber die Frau vielleicht Josefa? Hatte der Bruder sie nicht Seffi genannt? Der Name war nicht häufig, vielleicht sogar selten - wer hieß heute schon Josefa -, und doch, warum sollte es nicht ein Zufall sein? Das war schon der zehnte Wagen, der sich nicht um die Vorschriften kümmerte. Keiner hielt richtig an, jeder glitt schnell um die Ecke, als habe er es eilig zu verschwinden. Es ist doch Wahnsinn - ich habe damit nichts zu tun, und der Major soll sich die Frau holen lassen, von wem er will! Die Fäuste preßten sich gegen die Schläfen; gab es denn hier keinen Verkehrsschupo, der die Kraftfahrer anhielt? Aus einem Fenster quarrte ein Radio: "Wenn es knallt, nachts im Wald, wenn es schaurig widerhallt - das ist Revolver-Jim aus Texas!" Der Bürgermeister hat nicht Braumüller geheißen, und die Frau - jetzt soll ich, zwölf Jahre später, die Frau dem Major zuführen? Warum denn nur? Was will er mit der Frau? Sind die Dinge denn nicht alle begraben, die damals geschahen? Das Leben ist doch weitergegangen; Oder nicht? "Peng krrrschengg! Das ist Revolver-Jim aus Texas!" Kurt Holzner ruckte den Kopf zur Seite, als könne er so die aufdringliche Musik wegschieben. Aber sie blieb, und das andere blieb auch: "Oder" hatte der Major gesagt, nicht: "und". Er mußte die Frau bringen, und dann würde er Grit die Beförderung mitteilen können. Und wenn das doch die Frau aus dem Bacherndorf gewesen ist, jene
Rötlichblonde, der er vorhin begegnete, als der Kamerad sagte, die Alten seien alle wieder da? Wenn - wenn! Ich habe einen Auftrag, einen Befehl; ich trage seit zehn Jahren die Sterne des Hauptwachtmeisters, und Grit will endlich das Silber des Meisters sehen. Und das Geld ist auch gut. Die beiden Jungen kosten jeden Tag mehr Geld, und - Herrgott, ich will mit der ganzen verdammten Geschichte von damals nichts mehr zu tun haben! Als Holzner die Treppe hinaufstieg, zog er Binder und Sakko gerade. Das Mädchen, das öffnete, sagte, Frau Braumüller sei vor einer Stunde weggegangen. Es war eine kleine Pension, in der sie wohnte. Ja, sie käme aus Dresden und sei wegen einer Erbschaftssache in Berlin. Die eine Auskunft befreite Holzner, die andere trug neue Ängste heran. Der in vierundzwanzig Dienstjahren zu seinem Ich gewordene Gehorsam schob das andere Ich, das zweifelnde, grübelnde, sich wehrende, nach Rettung um sich schauende im braungestreiften Sakko, mit einer Bewegung zur Seite. Wenn du die Uniform ausziehst, kannst du stempeln gehen, taugst nicht einmal mehr zum Hofarbeiter. Wenn diese Frau Josefa Braumüller aus Dresden eine Erbschaftssache zu regeln hatte, warum betraute sie nicht einen Rechtsanwalt damit? Aus Dresden - gab es denn das überhaupt noch? Das war doch ausgebombt, ausradiert. Ostzone - die Menschen, die dort lebten, durften den Mund doch nicht auftun. Vielleicht war es etwas anders, als die Zeitungen schrieben, nun gut und schön, sollte es anders sein, aber ein Segen war es bestimmt nicht. Aber war es ein Segen, wenn man, ohne Unterlagen in der Hand zu haben, den Befehl bekam, die Frau aufs Präsidium zu bringen? Wiederum: Segen oder nicht - einem Befehl war zu gehorchen; auf der ganzen
Welt gehorchte man. Befehlsverweigerung!? Major Rübeland würde seine Gründe haben, die Frau vorführen zu lassen, und ein Untergebener hatte nicht nach den Gründen zu fragen. Er hatte zu gehorchen.
Das Lokal war nach Bauernart eingerichtet, holzgetäfelte Wände, hölzerne Leuchtenträger, nackte Tische und hochlehnige Stühle. Die Bedienerin trug ein Dirndlkleid. Holzner ließ die Milch in den Kaffee gleiten und rührte vorsichtig mit dem Löffel um. Das Schwarz wurde braun durchwolkt. Helles und Dunkles mengte sich. Danach bekam alles eine braune Farbe, die Holzner mit einemmal ekelte. Es war genau das Braun . "Bringen Sie mir noch einmal Milch", forderte er unbeherrscht. "Wollten der Herr Kaffee verkehrt?" fragte die Bedienerin. "Nein. Ich kann nur dieses Braun nicht leiden." Holzner grübelte sich in die Vergangenheit zurück: Den Bahnhof von Graz hatten die Amerikaner von Süditalien her zerschlagen. Man mußte durch die Stadt laufen, eine von unsichtbaren Peitschen getriebene Prozession. Manche trugen mit Schreibmaschine ausgefüllte Befehlsformulare in der Tasche, andere gehorchten dem inneren Befehl. Alle fluchten. Auf die Amerikaner natürlich . In Marburg befand sich die Unterkunft in einer Schule; die Wände blickten leer und öde auf das Stroh nieder. Im Ratskeller gab es zuweilen faustgroße Klöße. An einem letzten Oktobertag fuhren sie, er und Joachim D., mit einem LKW in die Bachern. "Kommt heil wieder", verabschiedete man sie. "Laßt euch nicht greifen." Es hieß, daß manchmal die Züge stehenblieben. Dann wurden die Uniformträger herausgesucht, mitgenommen, lebend oder
tot. Die in den grünen Uniformen sollten besonders gesucht sein. Zuweilen kamen auch die LKWs nicht an; die ausgebrannten Chassis lagen am Straßenrand, die Toten daneben, ohne Waffen. Sie schoben die Pistolentaschen nach vorn und legten die Hände auf die Waffe. Der Fahrer drehte ihnen das verbissene Gesicht zu. Er schob die Unterlippe vor. "Laßt man die Finger davon. Entweder ist es doch zu spat - denn Tote schießen nicht mehr, auch wenn sie den Finger am Abzug haben -, oder es ist besser, nicht zu schießen. Manche sollen schon heil davongekommen sein." Holzner hörte die Worte jetzt wieder und wußte: Diesmal kommst du nicht davon, diesmal nicht. "Bringen Sie mir einen Kognak." Er konnte doch nicht so mit den Nerven herunter sein. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken zusammenzuhalten. Sie liefen hinter Gittern hin und her, gefangen. Er begriff, daß er seit vierundzwanzig Jahren gefangen war und die Vorgesetzten immer die gleichen geblieben waren, nur trugen sie jetzt nicht mehr die Runen. Oder noch nicht wieder .! Eine harte, unbarmherzige Hand hielt ihn im Genick, wollte seine Stirn gegen eine Mauer stoßen. "Ich habe doch die Bilder mit", stammelte er halblaut vor sich hin. An seiner Nase rann ein Schweißtropfen hinab. Der Hemdkragen schnürte. Er betrachtete die Bilder: Welch eine gewaltige Landschaft war das, maßlos und schön . Dunkel und trotzig standen die Bergwälder, und der Fluß, die Drau, rauschte grün und kalt, als Joachim D. und er mit der Fähre übersetzten. An den Flanken und in den Schluchten dieser unberührten Landschaft hing ein zarter grauvioletter Pastellschleier, und das Schwarz der Wald-
brüste war niedergestürzt in die singenden Wasser der Drau. Der Schnee auf dem kahlen Gestein der Ferne mußte weiße Asche sein, aus gelbem Sonnenbrand hinter den steinernen Bergruinen aufgeweht und niedergewirbelt vor unendlichen Zeiten. Und irgendwo - hungernd, frierend, hassend: die Partisanen. An den kleinen Nebenwassern der Drau standen Mühlen, Gatterwerke, die jetzt keine Bäume mehr in Bretter rissen. Die Partisanen hatten es verboten. Die Menschen hockten hinter den Fenstern und starrten dem Wagen nach. Die Älteren meinten, es sei wie früher, wenn kaiserlichkönigliche Regimenter hier unten zwischen den stillen Bergen und den unruhigen Menschen ihre Manöver hielten; da war auch scharf geschossen worden . Die Angst wirkt in der Einsamkeit größer als in der Gemeinschaft, oder anders. Die Menschen hinter den Fenstern wußten, daß es, war der Krieg vorbei, keine Gemeinschaft mehr in diesen Tälern geben konnte, in denen sie doch auch seit Geschlechtern ackerten und ihr Handwerk betrieben. Sie hatten sich immer noch als Deutsche gefühlt; nun haßten sie jene, die mit dieser Sprache ins Land gekommen waren und den Tod brachten für jene, die slowenisch redeten. Sie haßten und schwiegen in Angst und in Scham vor dem Entsetzlichen. Die letzte Mühle, ein steinernes Gebäude, lag aufgerissen und auseinandergeborsten am Bach, mitten im Dorf. Sie gehörte dem Bürgermeister und Ortsgruppenleiter und war gesprengt worden von den Partisanen. In der ausgebrannten Kirche schaukelte der weiße Christusleib im kalten Wind; hochgewachsenes Unkraut, welk jetzt, umwehte rischelnd seine Füße. Die Schule stand nur noch zur Hälfte, als sei man mit dem Bau nicht fertig geworden;
auch Ställe und Wohnhäuser waren ausgebrannt. Joachim D. und er meldeten sich beim Kompanieführer Hauptmann Rübeland. Er lachte über sie hin, die Flöte wie einen schwarzen Zauberstab in der Hand. Er war guter Laune. "Berichterstatter! Darauf haben wir gewartet. Nun kann der Krieg beginnen. Ihr ." Er drehte sich um und warf die Flöte in das Samtkästchen. "Granatwerfer wären mir lieber gewesen. Berichterstatter! Zwei Fresser mehr." Er musterte sie von oben bis unten, trat nahe heran, schob jedem einen Zeigefinger zwischen die Uniformknöpfe und zog sie an sich. Es schien, als wollte er an ihrem Atem ihr Denken beriechen. Plötzlich erkannte er Joachim D. "Waren Sie nicht schon in Grenzwacht bei mir, am Augustowokanal?" "Ja, Herr Hauptmann." Joachim sagte nie "Jawohl." "Immer die gleichen Gesichter. Ihr wißt eine ganze Menge, ihr beiden, kommt viel herum. Eines: Meine Leute sind seit einem Jahr nicht in Urlaub gewesen, länger schon nicht. Keiner, auch ich nicht. Verstanden? Wenn ihr sie mir verrückt macht, jage ich euch zu Fuß nach Marburg zurück. Bombenangriffe, Stimmung und so weiter - ihr habt keine Ahnung, verstanden?" Er hatte sein "Jawohl" schon hinaus, als Joachim D. noch bei seinem "Jaa" war. Es roch im ganzen Haus nach Äpfeln, schwer, herb, süß. Der Geschmack kam nicht von der Zunge; man mußte davon seltsame Träume haben. Im Gasthaussaal lagen dreißig Männer auf dem Stroh; zu ihnen wurden sie geschickt. Es waren Geschäftsleute, kleine Fabrikbesitzer, Handwerker, selten ein Arbeiter darunter. Manchmal erinnerte sich einer der Vergangenheit, doch es blieb wenig Zeit dazu. Am Tage hatten sie
Posten zu stehen, und nachts lagen sie in Bereitschaft. Oder umgekehrt. Manchmal jagte Rübeland sie in die Berge hinauf, zu den Partisanen; manchmal kamen die Partisanen herunter und jagten sie durch die Finsternis der Nächte, und das ging schneller. Vor jedem Haus, in dem Männer der Reserve-Polizeikompanie lagen, mußten Doppelposten stehen. Einzelposten fand die Ablösung oft schweigend gestorben. Die Kompanie hatte in vier Wochen zehn Tote gehabt, ohne ins Gefecht gekommen zu sein. Fünf Mann waren aus den Bergen nicht wiedergekommen, zwei bei einer Streife am hellichten Tage, einem LKW entgegensichernd, von der Straße verschwunden. In den Unterkünften wurde geflüstert, sie seien zu den Partisanen gegangen. Sie gehörten zu der gleichen Gruppe wie jene drei Männer, die Hauptmann Rübeland zum Jagdhaus geschickt hatte. Seitdem ließ er das Dorf Tag und Nacht bewachen; an den Wegen in die Berge waren spanische Reiter aufgestellt. Er ließ keine Streife mehr ohne Sicherung gehen, keine Reservisten ohne Aktive. Die Aktiven trugen zehn und mehr Jahre Uniform; von ihnen schändete keiner die Ehre der Uniform. Von ihnen besaß keiner mehr Rückgrat. Sie kannten nur das "Jawohl". Und die in die Berge gegangen waren, durften nie mehr wiederkommen. Zu den Partisanen zu gehen, dazu gehörte Mut, mehr noch, als nachts in der grauenvollen Finsternis, die so tödlich sein konnte, Wache zu schieben. Hineingeworfen in die Einsamkeit dieser Landschaft, waren sie darauf angewiesen, zusammenzuhalten. Sie wußten, daß das Ende herankam, das Ende des Krieges. Er hatte ihnen auch anderes geboten: in den Niederlanden, in Dänemark und Norwegen, in Frankreich und Italien. Man hatte genossen, was den Genuß lohnte, hatte
gekauft, was verkäuflich war, und man hatte zeitweise eine Art Soldat gespielt. Aber dies alles war vorbei . daheim zerbrachen die Familien wie an die Wand geschleuderte Flaschen; daheim starben die Geschäfte und Handwerksstuben aus, und hier tat man jeden zweiten Schritt als Zielscheibe für die Unbekannten dort oben in den Bachern. Hier lag man, einer wie der andere, Reservist, Aktiver, Offizier, in der Falle, die jede Nacht endgültig zugeklappt werden konnte. Irgendwo hinter den Wäldern in einem anderen Tag lag eine andere Kompanie mit genau den gleichen Ängsten in genau, der gleichen Falle. Es gab nur den einen unausgesprochenen Befehl: den Krieg zu überstehen . Kurt Holzner schob die Bilder zusammen wie Spielkarten; keine von ihnen würde stechen, keine war ein Trumpf. Den Krieg hatte er überstanden, aber - wer würde ihm nun helfen? Holzner spreizte die Hände, als brennten die Bilder seine Finger . und da lag das Gesicht der Frau wieder offen vor ihm, wie sie am Brunnen stand, das rote, eben gewaschene Tuch in den erhobenen Händen und bereit, es über die Leine zu schlagen. Ein Lächeln lag in ihrem Gesicht; ihre grauen Augen besaßen viel Vertrauen zu ihm. Es war ein schönes Bild geworden, das sie nie gesehen hatte. Unausgesprochen lag da schon das Geheimnis zwischen ihnen. Hauptmann Rübeland wohnte bei dem Bürgermeister und Ortsgruppenleiter. Das Haus war groß und weiträumig und noch nicht ganz eingerichtet. Er hatte vorher in dem anderen Haus gewohnt, ehe die Partisanen es gesprengt hatten; sie hatten den Sägemüller, Bürgermeister und Ortsgruppenleiter mit seinem Bett auf den Hof gestellt,
reichlich unsanft; es wäre ihnen lieber gewesen, der breite, protzige, verbissene, feige und gemeine Mann wäre in Stücke gerissen worden wie das Mauerwerk. Die Frau fand man im Brunnenloch, das Jüngste in den Armen; das andere Kind war in der Nacht bei einer Freundin geblieben. Es war am dritten oder vierten Tag seiner Anwesenheit in L. gewesen, da hatte die Frau in diesem seltsamen Vertrauen zu ihm gesprochen. Vielleicht war ein mütterliches Mitleid zu ihm in ihr, vor seinem tumben Blick und dem vorgebeugten Kopf, mit dem er immer mühsam hinter den Dingen herzuschauen schien. "Ich war vorher hineingeklettert", sagte sie. "Er war besoffen - führerbesoffen. Es war in der Nacht zum 21. April gewesen." Holzner saß am Tisch, darauf weißes, selbstgebackenes Brot, Butter und Honig standen, seine Arme lagen breit davor. Er empfand irgend etwas für diese Frau, dem er keinen Namen geben konnte, eine Art Ehrfurcht; vielleicht war mehr Furcht darin als Ehrung. Sie schien ihm großartiger als andere Frauen, denen er begegnet war; sie hielt sich aufrecht und stolz. Es schien nichts zu geben, das sie nicht bezwang. Sie mußte furchtlos sein. Vielleicht wußte nur sie allein im Dorf, was am nächsten Tage geschehen würde; vielleicht bestimmte sie es? Er begriff erst gar nicht das Ungeheuerliche, was sie eben gesagt hatte. Er sah sie an, die das Gesicht kaum bewegte, und seine Hände legten sich offen vor der Frau hin, zwischen den Schalen mit Butter und Honig und den Tellern mit Brot und Wurst, hölzernen Tellern aus den Stämmen der Bachern, geschnitzt von den Alten. Vielleicht war es für die Frau zuviel gewesen, ihr Geheimnis mit sich herumzutragen? Angst, eines Nachts im
Schlaf zu sprechen, mochte sie bewegt und das Vertrauen zu dem fremden Mann geweckt haben, das stärker war als das Grauen vor dem Verrat und der Strafe, die unerbittlich kommen mußte, von dieser und von jener Seite. Unbarmherzig mußte man auf beiden Seiten sein, es ging hier wie dort um das Leben; aber nur auf einer Seite lag das Recht neben dem Maschinengewehr. Unbarmherzig würde auch sie sein müssen, mit jedem, auch mit sich selbst. Ihre Hände legten sich sacht und schwer auf das große, zwei Finger breite Brotmesser. Der Blick der graublauen Augen . Holzner erschrak vor der Sprache dieser Augen. Nebenan, hinter der dünnen Wand und der fichtenen Tür, fluchte der Hauptmann. Der Bürgermeister saß bei ihm. Sie tranken Selbstgebrannten Pflaumenschnaps. Ihre Stimmen kamen manchmal spitz wie Bohrer durch die Wand. Der Abend glitt die Hänge herunter. Die Frau, im halben Licht stärker wirkend als in der Helle, trug ein kleines Lachen, von dem der rote Mund geöffnet wurde, einer sehr späten Mohnblume gleich in der Kachelwärme des Zimmers. "Mein Bruder ist der Partisanenführer dort oben ." Der Blick ging zum Fenster hinaus, dem nächtig werdenden Wald entgegen. "Und der Bürgermeister?" fragte Holzner. Die Lippen verzogen sich verächtlich. Sie sagte nichts. Das letzte Licht fing sie spielerisch mit der Schneide des Brotmessers auf. Fragte sie sich selbst in dieser Minute, warum sie dem Mann in Uniform das gefährliche Geheimnis verrate? Durch die Wand kam, da sie schwiegen, die Stimme Rübelands, scharf wie der Slibowitz. "Es sind Verräter im Dorf." Und nun hätte der Bürgermeister sagen müssen: "Der Bruder meiner Frau .", und diese hielt den Atem
an, lauschte gespannt, vorgebeugt, die Hand um den Griff des Messers. Aber der Ortsgruppenleiter sagte: "Es sind alles Deutsche im Dorf." Lachen des Hauptmanns: "Deutsche -!" Verächtlich hingeworfen das Wort und an der Wand klebengeblieben. Deutsche, was war das schon? "Deutsche - der Nationalsozialisten werden jeden Tag weniger. Wir sterben. Dafür! Aber sie sollen nicht glauben, daß wir untergehen. Die Idee stirbt nicht mit uns keiner kann sie vernichten." Er mußte mit zusammengebissenen Zähnen gesprochen haben; seine Fäuste mochten auf dem nackten Tisch liegen, die eine um das Glas mit Pflaumenschnaps. "Die Verräter entgehen uns nicht. Hier im Dorf nicht, und nirgends, und niemals." Schweigen hier, Schweigen drüben. Dann: "Du hast das Recht zu richten, wie ich es habe. Der Führer hat es uns gegeben. Es bleibt bei uns, in uns, und wenn nur einer noch lebt, der seinem Namen geschworen hat." Und: "Du darfst keine Rücksicht nehmen - keine. Es gibt Verräter neben uns, verstehst du. Es gibt keinen Pardon, vor niemanden." Die Frau stand groß und schwer im Dunkel. Holzner fror, und der Ofen schien doch Stimme zu haben mit seiner Wärme. Ein Licht brannte, eine dünne schmale Kerze mit einer zarten stillen Blüte. Der Schein umfaßte nur das Gesicht der Frau. Holzner, da er aufsah, erkannte unbändigen Haß in den grauen Augen. Er vermochte den Frost nicht aus seinen Gliedern zu zwingen. Steif, als habe er nach einem Tagesmarsch gerastet und könne sich nun noch nicht wieder bewegen, erhob er sich. Rübelands Worte, durch die Wand in den Nacken der Frau gesprochen und wohl nur für diese bestimmt, wühlten in Holzners Hirn, als kratze eine langnägelige Totenhand darin
umher. Er ging in sein Quartier. Die Häuser glosen mit leeren, toten Fenstern, und die Schatten in den Gärten wirkten unheimlich. Aus der Kirchenruine schimmerte der Christus. In der Nacht fiel ein Schuß. Sie ruckten sofort empor, denn der Schlaf war lange schon keinem mehr eine Gnade. Einer schrie auf. Dann sägte ein Maschinengewehr die Finsternis auseinander, Maschinenpistolen knarrten, Handgranaten bellten; weiß hingen Leuchtkugeln über der Straße. Niemand wußte, wo und wer der Feind. Es mußte an der alten gesprengten Mühle sein, deren erhaltener Speicher als Magazin diente. Ehe die Gruppen durch die Nacht den Bach erreicht hatten, fiel die Stille nieder von den Sternen und stand als lautlose Glocke über zwei toten Männern. Hauptmann Rübeland sagte: "Die fressen uns einzeln auf." Und Baumann meinte nachher: "Diesmal hat er recht - ausnahmsweise. Wie ein Stall Kaninchen sind wir, in den der Marder nach Belieben einbricht." Sie warfen sich, in Uniform und das Koppel mit der Pistole und dem Seitengewehr am Leibe, auf das Stroh. Am Vormittag, als die Appelle vorbei waren und Holzner zur Bürgermeisterin kam, hängte die Frau Wäsche auf die Leine. Es hing immer Wäsche im Hof. Die Kinder waren klein und schmutzten noch. Die weißen Wollsachen wehten im dünnen Wind wie kleine Siegeswimpel hinauf zu den Waldbergen über L. Ein Kraftfahrer kam vom Hauptmann. "Na, Holzner, wie war die Nacht? Appetit vergangen?" Er schlug ihm mit schwerer Hand auf die Schulter. "Kommst mit! Ich fahre nach Marburg. Die Hunde haben den Speicher ausge-
räumt. Hensmann und Weber waren schon längst tot, wohl gleich nach der Ablösung. Sie haben fast eine Stunde Zeit gehabt - und keiner im Dorf hat was gehört, keiner. Ein feines Dorf." Er spuckte aus. "In drei Tagen haben wir nichts mehr zu beißen. Der Schnaps ist auch alle." Holzner wollte schon zusagen. Ihn reizte die Fahrt durch die schwere Landschaft. Es gab schöne Stellen, bestimmt, einmalige Aufnahmen - und ohne Uniformen. Die Frau nahm ein rotes Jäckchen aus dem Zuber und hängte es neben die weißen Wollsachen. Sie sagte zu Holzner: "Bleiben Sie man hier. Ich backe heute einen Strudel." Ihre Augen, über des Kraftfahrers Schulter hinweg, warnten . und der Mann kehrte auch nicht zurück. Eine Kradstreife, die Maschinenpistolen schußbereit, ein Maschinengewehr im Beiwagen, fand den LKW ausgebrannt bei der unteren Mühle, vier Kilometer vor L. Der Oberleutnant, der mit seinem Zug am oberen Ende des Dorfes lag, feierte Geburtstag. Der Hauptmann war hinaufgegangen. Der Himmel, verhangen, grau, lichtlos, schob den Novemberabend am halben Nachmittag schon von den Bergen herab. Die Frau und Holzner saßen im Dämmern. Holzner wollte sich verabschieden; sie mußten zurück nach Marburg. Der Befehl war mit Funk gekommen; sie sollten über Berlin zu einem anderen Einsatz. Die Frau sagte: "Sie können ruhig gehen, Herr Holzner. Die Straße ist sicher wie im Frieden." "Und der Kraftfahrer vor fünf Tagen?" "Ihr habt euren Funk, ich hab' den meinen. Er hat uns Hunde genannt." "Sie spielen mit Ihrem Leben", warnte er mit schwerer Stimme. "Ich spiele nicht." Sie sprach, als zwänge sie sich durch
eine stachlige Hecke. Dann: "Ich kämpfe. Ich hasse euch alle, einen wie den anderen. Sie auch, Holzner, Sie auch. Ihr seid wie die Tiere - die einen wühlen und morden und fressen, und die anderen gehorchen und lecken die Reste auf. Sie auch, Holzner." Er duckte sich, zog an seinen Fingern, daß die Gelenke knackten. Sein grobflächiges Gesicht barmte; die Augen barmten; alles an ihm war schweres Mühen, als tappe er durch Sumpf. Seine Hände kamen an das Unbegreifliche nicht heran. "Aber Ihr Bruder - und Ihr Mann - und die Wäsche ." "Mein Bruder - das weiß das ganze Dorf, auch die, die mich und ihn nicht leiden mögen. Aber euch hassen sie mehr, und sie haben Angst, größere Angst vor euch als vor uns. Mein Mann . Ich hab' ihn liebgehabt, sehr lieb. Als er die verfluchte Uniform noch nicht trug. Vielleicht könnte ich ihm wieder gut werden, wenn er kein Goldfasan mehr wäre. Ich weiß es nicht." Damit kam Holzner nicht zurecht. Er konnte gut fotografieren, und er kannte Gesetze und Verordnungen, aber daß hinter den Augen eines Menschen die Seele lag, wie das Herz fingerbreit unter der Haut, und daß doch nichts sie durchleuchten konnte, kein Paragraph und kein Gebot sie an den Tag brachte, das war ihm unlösbar geblieben bisher. Als er aufstand und gehen wollte, in der Hand noch die der Frau fühlend, trat ein Mann zur Tür herein. Einer der Bauern wohl aus L. Der Mann stutzte vor der Uniform; seine Hand fuhr in die Tasche. "Paul!" sagte die Frau halblaut. "Was willst du hier?" Ihre Stimme zitterte, da sie den Namen nannte, und klang schon wieder fest bei der Frage. Sie fügte beschwörend hinzu: "Der nicht" und warf
einen Blick auf Holzner hin. Der Mann schob den Kopf langsam herum, die Hand noch immer in der Tasche. Holzner war in den Schatten zwischen Fenster und Tür gewichen ; wie an die Wand genagelt stand er. "Du kannst sprechen, Paul, er ist - ein Freund." "Es ist besser, Sie gehen", sagte der Mann über die Schulter hin. "Ich will dich mitnehmen, Seffi; es ist hier nicht mehr gut für dich und die Kinder." Holzner zerbrach fast in der Furcht vor dem Kommenden. Wenn Rübeland jetzt das Haus betrat, und der Bürgermeister - beide trunken von des Oberleutnants Geburtstag . Und er hier mit diesem - mit dem Partisanenführer, er ein Mitwisser - der Atem blieb ihm unter dem Kehlkopf stecken. Er mußte doch hinauslaufen, schreien, Alarm geben - die Kamera haben und Blitzlicht, den aus der Dunkelheit zu heben - die Pistole ziehen. Der Führer hat uns das Recht gegeben zu richten, hatte der Hauptmann gesagt, und der Mann war nichts als liebender, sorgender Bruder. "Es ist nicht mehr gut, was du tust, Seffi - für dich nicht mehr gut. Wir bringen dich und die Kinder zu Freunden." Diese Stunde. Das Licht verlosch völlig. Der Schnee der Berge veraschte in der Finsternis. Die Stimmen gingen halblaut hin und her, bewegten die heimische Wärme des grünen Kachelofens. Holzner begriff in diesen Minuten: Dies war die Stube seiner Kindheit, in der er sich an den Ofen stellen und die Hände, froststarr vom Rodeln, gegen die Kacheln legen mußte, und in der Röhre brieten Äpfel; die Nase schnüffelte den Duft, die Zunge schmeckte schon die weiche, warme Süße . Die Frau wehrte sich. "Ihr braucht mich doch noch. Es ist kein anderer im Dorf." Bitten und Abwehr hin und her,
und dann - der Bürgermeister, zur Feier des Geburtstages in brauner Uniform. Ein trunkener Schrei, Alkohol, der über den Ruch gebratener Äpfel hinwegwehte. Der andere Mann polterte dem Bürgermeister einen der Holzstühle gegen die Schienbeine. An dem Zusammenknickenden vorbei gewann er das Fenster, riß es auf, war draußen. Nur die Worte, während des Sprunges gerufen, blieben im Zimmer: "Wehe, wenn Seffi Schaden hat. Du kennst unsere Rache." Den betrunkenen Bürgermeister überkam der Zorn; die Wut rodete alle Bedenken in ihm aus und legte die gelbe Angst frei. Der Hauptmann, über das Glas hinweg, hatte zu ihm gesagt: "Wenn du mir den Verräter nicht in die Hand gibst, hole ich ihn selbst aus dem Bett - und mir ist gleich, in welchem Haus er schläft. Verstehst du?" Und Rübeland hatte die Zähne aufeinandergestellt und gezischt: "Man kann Wäsche auch woanders trocknen, verstehst du?" Und das war Drohung gewesen - und nun dies. Der Bürgermeister stützte sich am Tisch hoch. Seine Hand kam auf das Brotmesser zu liegen. Er keuchte. Er drang, Schatten nur in der durch das offene Fenster hereinkommenden Nacht, gegen die Frau vor, und Holzner, in der Ecke immer noch, sah und hörte das grausige Geschehen vor sich, die keuchende Männerstimme, die Frau schmähend, gemeine Worte aus schäumend-sabberndem Munde würgend. Und die Frau groß aufgerichtet, ruhig wartend - auch wartend vielleicht, daß Holzner aus seiner Ecke dem Wütenden Einhalt tun sollte, und sie wußte doch zugleich, daß er es nicht tun konnte, ohne selbst das Leben zu verlieren. "Du also - wenn ich fort bin, kommt dein Bruder, dieses Bolschewistenschwein. Du gemeine Verräterin, mir die
Schande ins Haus zu bringen - du - mich verraten, mich, den Führer; den Führer, der mir dies Ehrenkleid ." Er brach ab, begriff wohl selbst, wie lächerlich, was er vor sich hingeiferte. "Auf die Knie!" zischte er dann. "Bete du betest doch so gern!" Vor ihr, gebückt noch, das Messer in der Faust, hielt er sich mit der anderen Hand am Stuhl - Schatten nur alles, doch für Holzners nun dunkelgewöhnte Augen beinahe klar erkennbar wie im Sonnenlicht. "Mir das antun, in meinem Haus, unter meinen Augen. Mich - mich zum Verräter machen, zum Mitwisser mich auf das Schafott bringen - weißt du, was du getan hast?" "Ja." Dann, nach der Stille eines den Mann wohl fast spaltenden Erschreckens: "Bete - Heilige Mutter Gottes ." Gemein, leiernd, voller Wut und Haß und in Angst und Grauen um sich selbst, begann er der Frau, der Mutter seiner Kinder vorzusingen: "Heilige Mutter Gottes, nimm ." Und mit einemmal schlug seine Stimme um, zischte nur noch: "Nimm sie, nimm sie, ich will kein Bolschewistenweib unter meinem Dach haben!" Der Wind schlug die Tür zu. Ein Schritt, von Holzner getan, und der Bürgermeister schreckte herum. Stieß ihn jemand? Die Frau? Stolperte er in jähem Schreck? Zerrissen der Alkohol und die grausende Angst um das eigene Leben sein Herz? Er brach nieder, wälzte sich, während der Stuhl polterte, schreiend in das Messer. Als endlich Licht war, eine dünne kleine Kerze, niedergehalten von der neben dem Mann knienden Frau, abgeschirmt gegen den kalten Wind mit zitternder Hand, sikkerte Blut über die Dielen. Ein Rinnsal, das sich in den Ritzen verkroch. Über den Toten hinweg - oder war er
noch nicht tot? - kamen die Blicke ineinander. "Geh du, geh, ich schaff' das allein", flüsterte die Frau. "Dich darf niemand finden. Geh ." Und Holzner rannte hinaus; ein Eimer schepperte hinter ihm, von seinen flüchtenden Füßen umgerissen. Der Wind umsang ihn. Ein Stern brannte ein Loch in die Finsternis über den Bachernwäldern. Holzner riß den Mund auf, blieb doch ohne Schrei. Diese Nacht müßten sie kommen und alles abbrennen, uns alle, dachte er . aber das Kartenspielen dauerte vor flackernden Kerzen bis Mitternacht. Er lag frierend unter seiner Decke. Die Posten kamen und gingen. Einer sagte: "Beim Oberleutnant saufen sie noch." Und die Nacht blieb still. Als Joachim D. ihn weckte, wunderte sich Holzner, daß er geschlafen hatte. Sie wuschen sich, tranken kalten Kaffee, kauten Brot und Wurst. Dann meldeten sie sich ab. "Macht, daß ihr wegkommt; in der Früh ist es am sichersten", sagte der Spieß. Sie hatten ihr weniges Gepäck am Gurt des Brotbeutels hängen und die Pistolentaschen nach vorn geschoben. Im Dorf war es still, und des Morgens schmerzende Helle ließ das Fernste klar in den Himmel gezeichnet vor ihnen stehen. Die Berge trotzten als uneinnehmbare Burgen auf, und die Wälder verhüllte das Schweigen des Künftigen. Kurt Holzner konnte immer noch nicht sprechen, und Joachim D. verspürte in der lauernden Gefahr keine Lust zu belanglosen Worten. Holzner meinte, sein Kehlkopf sei gelähmt, und die Angst fraß sich aus seiner Seele durch den Leib bis an die Haut, daß er zitternd fror. Der Mann hatte die Frau töten wollen, die eigene Frau mit dem Brotmesser abstechen wollen. Holzner mußte immer wieder die Augen schließen, doch das nächtliche Bild blieb
unverlöschbar klar in ihm. Und in seinen Ohren hockte schon lautlos der Schrei, der hinter ihm aufkommen mußte: das Knattern eines Motorrades, ein Ruf, ihn anzuhalten und zurückzuholen. Daß er die Frau allein ließ . Sie hätten ihn an den nächsten Baum gebunden, Rübeland hätte es getan, unbarmherzig: Ich habe vom Führer das Recht, zu richten - jeden . Sie erreichten die kleine Bahnstation, und es kam ein Zug. Sie waren mittags in Marburg und fuhren in der Nacht noch nach Wien. Joachim D. wollte hier einen Tag bleiben, doch Kurt Holzner drängte weiter, fliehend vor den Stimmen, die ihn zur Rechenschaft ziehen würden. Rübelands zwischen schneidend-scharf aufeinandergestellten Zähnen zischender Befehl mußte kommen: Der Führer hat mir das Recht gegeben Und nun war er da, nach zwölf Jahren, und unerbittlich wie am ersten Tag: Sie oder die Frau .
Kurt Holzner schüttelte es. Er goß den Kognak hinunter, schob das Glas auf die Tischmitte. Dann zahlte er. Die Frau oder ich - ich nicht, ich nicht. Ich habe Frau und Kinder - neben mir lebt immerfort der Major Rübeland. Was will er mit der Frau? bohrte es dann wieder in ihm. Was will er - richten? Richten! Er hat doch kein Recht dazu! Es gibt keinen Führer mehr . für Sie vielleicht nicht, Holzner, aber für mich, und Sie werden begreifen müssen, daß er lebt, solange einer von uns lebt. Verstehen Sie, hatte der Major gesagt. Holzner, die Hände am Sitz des Bauernstuhles, zog den Kopf ein. Unterhalb des Genicks wulstete sich ein Buckel hervor. Und - wenn - er - nicht - verstand .
Er ging über die Straße und in das Haus. Er klingelte, aber Frau Braumüller war noch nicht zurückgekommen. Er konnte dem Major melden, daß er die Frau nicht angetroffen habe. Und dann . Ein Narr war er. Der Major würde ihn wieder schicken, ihn, und wieder ihn, und er würde gehen und würde gehen müssen - zwischen Steinmauern hin, die weder links noch rechts einen Ausweg ließen und bis an den Himmel reichten, an den Himmel des Gehorsams. Und wenn die Frau doch eine andere war - er klammerte sich an der Türklinke fest - es gab doch solche Zufälle, ja - nur diesen gab es nicht: Auf der anderen Seite der Scheibe stand das Gesicht der Frau, und es war das Gesicht Seffis, das er eben noch auf dem Bild betrachtet hatte, nur glatter, ruhiger, von einer etwas strengen Schöne, reifer. Holzner öffnete die Tür und sagte: "Frau Seffi ." Sie suchte in seinem Gesicht, erschrak, hob die Hand an den Mund, der mit hellem Stift nachgezogen war. Das Gesicht - wie hätte sie es vergessen können; nur daran zu denken, jetzt, das war zuviel verlangt. Sie war überrascht und griff schon mit beiden Händen nach ihm, jäh voller Freude. Welch ein Zufall! "Ich habe Sie immer nur in Uniform in Erinnerung gehabt." Holzner sagte nicht, daß er sich in Zivil unwohl fühle, auch nicht, daß er sie suche; er ließ es beim Zufall. Sie aber war lebendig, sprudelndes, übersprudelndes Leben, das Gegenteil von damals. Ob er Zeit habe, eine Stunde, den Abend sei sie leider bei Bekannten eingeladen, aber sie müßten sich noch einmal zusammensetzen, ganz bestimmt - was gebe es nicht alles zu erzählen . Sie wollte hinaufgehen, doch dann hätte sie erfahren, daß er sie gesucht hatte. Er drängte sie leicht, dort drüben -
wenn sie sich dort hinsetzten. So gingen sie hinüber in die Bauernstube, in der Holzner schon gewartet hatte; sie saßen in der halbschattigen Ecke und waren allein, wie damals. Holzner fühlte manchmal die Bilder in der Tasche; er mußte sich zwingen, die Hand leer herauszuziehen. Ja, sie hatte eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln; der Bruder ihres Mannes, ihres zweiten Mannes, sei vor einem Jahr verstorben, ein kleines Vermögen hinterlassend, und die Auszahlung und das alles gehe nicht vorwärts; da habe sie sich selbst einmal erkundigen wollen, und sie habe sich hier eingemietet, weil die Inhaberin der Pension eine Freundin von ihr sei, von früher, eine Marburgerin. Irr sei doch alles, bei solcher Gelegenheit merke man es: Ein getrenntes Deutschland, ein geteiltes Berlin, dann mußte es zu solchen lächerlichen Schwierigkeiten kommen das sei doch, als müsse man sich wie ein Dieb in der eigenen Wohnung von einem Zimmer ins andere schleichen. Wenn dies alles nicht wäre, die Teilung, dann würde ein Brief genügt haben, ein einziger Brief. Sie streckte die Hand über den Tisch und berührte die seine. "Das kann doch so nicht weitergehen." Und Holzner begriff. In diesem kleinen, zweibuchstabigen Wort "so" lag ihr Denken, das Denken derer von "drüben"; dieses "so" hieß: das hier muß alles weg. Alles, daß hieß: auch du in deiner Uniform . Holzner fragte nach dem Vergangenen, und sie nickte. "Ich wollte eben davon sprechen. Es war schlimm dann, und beinahe wäre ich nicht mehr weggekommen. Mein Mann war nicht tot, nicht gleich - er hat noch drei, vier Tage gelebt. Ich weiß nicht, ob und was er noch gesprochen hat; denn sie haben ihn nachher gleich in die Sanitätsstube geholt. Ein Arzt war nicht da. Der Hauptmann,
als er nüchtern war am anderen Tag, hat sich wie ein Irrer benommen, und ich weiß nicht, was er noch hat tun wollen. Ich durfte das Haus nicht mehr verlassen, und die Wäsche hat er selbst von der Leine gerissen. Da wußte ich, was los war. Vielleicht hat mich einer verraten, vielleicht haben sie es selbst gemerkt gehabt. Mir blieb nur noch die Dachluke; die rote Jacke dort war das Zeichen für höchste Gefahr für mich und die Kinder. In der Nacht kam Paul dann mit seinen Freunden, und während des Kampfes bin ich mit den Kindern in die Berge geflohen. Was aus dem Dorf geworden ist, weiß ich nicht. In der Nacht hatte die Polizei große Verluste. Es hat dann ja nicht mehr lange gedauert, bis sowjetische Truppen kamen. Meinen zweiten Mann habe ich damals kennengelernt; er war Arzt, bei den Partisanen, ein Deutscher. Und dann - nun, wie das Leben so ist, wenn man keine Angst vor dem Tod mehr zu haben braucht, schöner, größer." In ihre Augen kam Glanz, Freude. "Wir haben noch zwei Kinder - vier sind es nun. Mein Gott, was ist das für ein Leben!" Sie kramte in der rotgelackten Tasche, die zu den Blüten ihres Kleides paßte und zu den Schuhen, und ließ Holzner in einem kleinen Fotoalbum blättern, nahe herangerückt erläuterte sie: das ist der Mann, das sind die Kinder, zusammen und einzeln, und alle mit ihrem Gesicht wohl und mit ihren Augen; das ist das Haus, von außen und von innen, der Garten, das Auto, der Fernsehempfänger. Sie enthüllte Holzner ihre Welt, als erzähle sie ein Märchen. Es mußte das Glück sein - und dahinein sollte er die Frau nun nicht wieder zurücklassen . Es wäre besser gewesen für ihn, wenn er den Wütenden damals nicht abgelenkt hätte, besser auch für sie. - Welch ein wahnwitziger Gedanke! Wie unmenschlich! Und das, was ihm aufgetra-
gen, was ihm befohlen war: Die Frau oder Sie, Holzner!, war das noch menschlich? "Sie haben wohl nie wieder von dem - diesem Hauptmann gehört? Ich habe immer gefürchtet, er würde Ihnen noch Schwierigkeiten machen. Ich weiß nicht, ob der Sterbende noch gesprochen hat." Mit einer Handbewegung wischte sie das Erbärmliche vom Tisch. "Wir wollen nicht mehr davon reden." Nein, nein, davon nicht mehr - und jedes Wort gehörte doch dazu. "Wann fahren Sie wieder?" fragte er, mit knarrender Stimme und dem besorgtungläubigen Blick, den seine großen vordrängenden Augen haben konnten. "Am Donnerstag - heute ist Dienstag - ja, übermorgen. Mein Mann holt mich mit dem Wagen ab. Von drüben natürlich." Zwei Tage! Soviel Zeit ließ sie ihm also noch, ließ ihm der Major. Nein, der nicht; aber er mußte sie ihm abgewinnen. Und dann blieb er in seinen Händen zurück, hing zwischen seinen schneidend scharf aufeinandergestellten Zähnen. "Sehen wir uns noch einmal, Herr Holzner?" "Vielleicht, Frau Braumüller - morgen, wenn mein Dienst es erlaubt. Ich rufe in der Pension an, ja? Vielleicht sind Sie dann aber schon weg." "Aber nein, bestimmt nicht." Sie standen vor ihrer Tür. "Manchmal ist es besser - ich meine, wenn Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben. Man weiß nicht ." "Aber das ist doch lächerlich, Herr Holzner. Mich kennt hier doch kein Mensch, und wenn - was ist denn an mir?" "Kein Mensch! Und Ihre Freundin - und ich?" "Sie!" Er hatte sie damals nie lachen gehört, jetzt lockte
ihn ihr Lachen. "Kennen Sie den Mann da drüben, die Frau da - na also. Oder sieht man es mir an, daß ich aus der Republik komme?" Sie drehte sich vor ihm, frohgelaunt, als trage sie Modellkleider zur Schau. "Das nicht, aber Sie haben - na ja, vielleicht bin ich zu ängstlich - Sie sind eine tapfere Frau." Josefa Braumüller sah ihm nach. Er blickte sich um, und sie hob die Hand. Ein eigenartiger Mensch, tat manchmal besorgt wie ein Liebender und schaute dann wieder vor sich hin, als käme er aus dem Erstaunen nie heraus. Doch das lag wohl an seinen Augen. Er ging, den Blick auf das Pflaster gerichtet. Das Mosaik der kleinen Steine; wenn man einen herausnahm, gab es ein Loch. Wenn ein Mensch aus seinem Mosaik herausgenommen wurde . ein Mensch war kein Stein, ein Mensch, der verschwand, rief in hundert anderen Menschen Unruhe hervor, Schmerz, Sorge, Angst - und Haß. Der Major haßte auch, der Major - und der Mensch Rübeland blies vielleicht immer noch die schwarze Flöte. Aber dieser Mensch Rübeland war einmal als Hauptmann und SS-Sturmführer Kommandeur einer Kompanie der Polizeireserve gewesen, die vor zwölf Jahren in einem Bacherndorf zusammengeschossen wurde - darum haßte Rübeland. Holzner ruckte den Kopf hoch. Das rote Licht. Er hatte nicht danach geschaut, aber er war Großstädter und konnte nicht an eine Straßenkreuzung treten, ohne die Farben der Verkehrsampel zu spüren. Vielleicht besaß der Major ein ähnliches Gefühl: er konnte den Haß nicht loswerden, den der Hauptmann und SS-Sturmführer in sich gesogen hatte. Aber Haß war doch kein Instinkt, kein zur Gewohnheit werdendes Gefühl, konnte doch nicht zwölf Jahre hin-
durch am Leben und im Leben bleiben. Es gab keinen Führer mehr, keinen Nationalsozialismus, keinen Krieg, keine Partisanen - und wenn du mit dem Schädel gegen den Omnibus da rennst, Holzner, es gibt das alles noch! Holzner sah sich schreckhaft um - wer hatte da gesprochen? Als Grit nach Hause kam, lag Holzner im Bett und starrte gegen die Decke. Er griff nach der Hand der Frau, hielt sie fest wie im Fieber, und er hatte auch wohl Fieber, denn so sprach er: "Wenn ich eine Frau töten soll, Grit, eine Frau, Mutter von vier Kindern, nur weil sie vor Jahren, im Krieg, da unten hinter Marburg, in den Bachern, in ihrem Dorf - weil sie da zu den Partisanen gehalten hat und weil damals eine halbe Kompanie drauf gegangen ist -, wenn ich sie nun denunzieren soll. Grit - wenn du das getan hättest." Er klammerte sich an sie und stöhnte, begann zu weinen, das Gesicht in ihren Schoß gedrückt. Seine Hände zitterten. Grit streichelte ihn in das Kissen nieder. "Du bist krank, du hast Fieber, Kurt. Du gehst morgen nicht in den Dienst. - Das ist doch alles Unsinn", fügte sie dann mit beruhigender Stimme hinzu. Holzner betete gegen die Decke, die sich auf ihn niedersenkte, daß er zu ersticken meinte. "Wenn ich ihm die Frau nicht bringe, nimmt er mich. Mich oder die Frau, hat er gesagt." Grit saß auf dem Bettrand; ihre Hände, die seinen haltend, wurden kalt. Von den Füßen her kroch lebendiges Eis in ihr hoch. "Der verdammte Krieg", sagte sie. "An jedem hängt er, immer noch, keiner kann ihn ausloschen." Sie starrte in die Zimmerecke. Der verdammte Krieg. Von ihm kam alles Leid: der eine Bruder ertrunken im U-Boot, und
er hatte sich freiwillig gemeldet; und der andere erschossen, drei Tage vor dem Ende, weil er nicht mehr wollte und die Bomben. Aber das war doch vorbei, lange schon. Das gab es nicht mehr! Es gab nur dieses hier: den Mann, die Kinder, den kleinen Garten mit der Laube, den Blumen und dem winzigen Goldfischteich, den Wellensittich, die Sonntage - und es gab die Geschäfte, durch die man wie im Traum ging, die Warenhäuser, das Kino - das, nur das gab es! Und daß Kurt bei der Polizei war - wie viele waren das. Polizei gab es in jedem Land; das war doch nichts Schlechtes - ein Beruf. "Wenn die anderen nicht wären, die Alten, die mit den Runen", sagte Holzner auf Grits heftige Fragen. "Die Alten, die nicht vergessen können .", und der Kamerad auf der Straße hatte gesagt: Wir sind es ja auch, und hatte sich stolz gereckt. Holzner bäumte sich im Bett hoch. "Ich bin nicht so gewesen, ich nicht!" Holzner schrie das nicht, aber das halbe, beinah irre Flüstern war lauter, stärker, mächtiger. Was war der eine zwischen den vielen? Die einen wühlen und morden und fressen, und die anderen gehorchen und lecken die Reste auf, hatte die Frau damals gesagt in der Dunkelheit. Und Sie auch, Holzner, hatte sie hinzugefügt. Aber das war doch vorbei. Nein, es war nicht vorbei. Doernberg, der damals Meister bei der Film- und Bildstelle gewesen war, den hatten sie letzten Herbst fristlos entlassen - wegen kommunistischer Gesinnung. Es hatte im amtlichen Bescheid anders gestanden, schöner geklungen: "Seine derzeitige Haltung widerspricht, bei aller Anerkennung seiner Verdienste in der Vergangenheit, den für die Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlichen Notwendigkeiten ."
"Wenn Doernberg noch da wäre", überlegte Holzner laut. Grit fragte, wo der alte Freund jetzt sei. Der Mann im Bett ruckte mit dem Kopf "Drüben - drüben ."
Kurt Holzner galt als einer der pedantisch-saubersten Beamten des Reviers, innerlich und äußerlich. Der Major sagte: "Sie sehen schlecht aus, Holzner. Wohl wenig geschlafen die Nacht? Hoffe nicht, daß Sie und die schöne Josefa .? Ihre Frau würde das vielleicht verdammt krummnehmen, Holzner." Holzner stand in Haltung vor der Lache des Majors. "Herr Major, ich habe ." Rübeland winkte ab. "Sie müssen mich nicht für dümmer halten, als manche andere sind, Holzner. Er schob den linken Ärmel hoch, mit einer behutsamen Bewegung, als wolle er dem Stoff nicht weh tun. Er nahm die Zeit. "Es ist acht Uhr fünfzig, Holzner, gleich neun Uhr. In drei Stunden, punkt zwölf Uhr, sind Sie mit Frau Braumüller hier im Zimmer. Nicht früher, nicht später. Wenn nötig, können Sie die überflüssige Zeit - na, vielleicht in der Bauernstube mit ihr verbringen - gegenüber der Pension ist so ein kleines Lokal, ganz angenehm. Ein Hinweis, falls Sie es noch nicht wissen sollten." Holzner verstand; er schluckte. "Herr Major, die Frau, Frau Braumüller, hat das doch nicht getan." Rübeland lachte auf. Das Gesicht verzog sich. "Ihre Meinung interessiert mich nicht, Hauptwachtmeister. Über Schuld oder Unschuld haben Sie nicht zu befinden." Die Stimme lief einen Berg hinauf. Mit einem Sprung stand der Major vor Holzner, hakte den gekrümmten Zeigefinger hinter dessen dritten Uniformknopf, zog den in Haltung Verharrenden wie ein Stück Holz an sich. "Sie . Soll ich
Ihnen Handschellen anlegen lassen? Wegen Beihilfe zur Ermordung eines Ortsgruppenleiters der Partei? Wegen Verrats militärischer Geheimnisse an die Partisanen? Wissen Sie, daß mich das dreißig Mann gekostet hat? Die Laufbahn und dreißig Mann? Und nun wollen Sie dieses Weib auch noch in Schutz nehmen? Ich bin froh, daß ich sie erwischt habe. Manch einen unserer Besten hat so ein dämlicher Zufall den Roten in die Hände gespielt. Diesmal sind wir dran. Vorgestern lief sie mir über den Weg. Hab mich inzwischen schon erkundigt - hat in Dresden allerhand Funktionen - natürlich - so eine" Er hatte Holzner schon wieder freigegeben und sonnte sich am Fenster. "Statt sich zu verkriechen, kommt sie hierher." Er drehte sich um, stützte die Hand auf den Tisch. Der Raum dröhnte unter seiner Stimme; dabei sprach er vor sich hin, nicht laut, beinahe wie glücklich. "Wie Sie wollen, Holzner." Der Zeigefinger tippte gegen das Telefon. "Ich kann Sie abführen lassen. Aber ich mag einen Menschen, der die gleiche Uniform trägt, nicht zum Schweinehund machen. Also - wer hat den Mord und den Verrat begangen? Die Frau, der nachzuweisen ist, daß sie heute noch Verrat an der deutschen Nation und der deutschen Ehre begeht, ist sie schuldig des Mordes an ihrem Mann, an dreißig deutschen Polizeisoldaten, an der Verschleppung von sechs, sieben Kameraden durch die Partisanen - oder: Wollen Sie das auf Ihr Gewissen nehmen vor dem Staatsanwalt?" Die rechte Hand schnellte hoch. "Die Frau, Herr Major", Holzner stöhnte, schnaufte. "Die Frau, Herr Major, wenn man das heute noch als ein Verbrechen bezeichnen kann, war sie - kann man nicht, kann sie nicht sagen, daß sie im Recht gewesen ist?" Holzner schmerzten die Augen, als er sich sprechen hörte.
Er streckte den Kopf vor; bei einem anderen hätte es ausgesehen, als wollte er den Offizier anspringen. Die Faust krachte auf die Tischplatte. Mit einem gemeinen Lachen sackte der Major in den Sessel. "Recht! Sind Sie denn wahnsinnig, Mann? Sie haben zu gehorchen, Holzner! Verstanden! Sie tragen Uniform. Und die Frau hatte zu gehorchen; ihr Mann trug des Führers braunes Ehrenkleid! Sie ist schuldig." Holzner machte den Eindruck trunkenen Erstaunens; es war doch nicht möglich, daß der Major so sprach. "Die Schuld verjährt nicht. Herrgott, Mann, begreifen Sie denn nicht? Dieses Weib hetzt heute noch jeden Tag! Macht sich jeden Tag von neuem schuldig! Hetzt die Menschen drüben auf gegen Sie, Holzner, gegen Sie. Sie vertreten doch den Staat; Sie sind der Staat, den sie unterwühlt. Darum ist sie doch hier; alles andere ist Vorwand." Und wieder gutmütig: "Fallen Sie doch nicht auf die Fassade rein, Holzner." Das Gesicht verlor alle Schärfe, jetzt erst, nach der Stimme. "Schön kann sich jede machen. Die kleinen Puppen vom Kudamm laufen auch nicht wie Stallmädchen herum. Die sind mir lieber als solche rote Heroine." Er kam wieder heran, freundlich, mit dem gemeinen Grinsen. "Natürlich kann noch kein, Haftbefehl ausgefertigt werden. Dazu gehört eine Anzeige, und bis der Staatsanwalt die unterschrieben hat, ist der Vogel weg. Wir müssen selbst handeln; es ist nicht ganz einwandfrei, aber um der Sache willen werden wir nicht einmal verwarnt werden - Mord ist Mord und bleibt Mord; Mord am eigenen Mann, Verrat von militärischen Geheimnissen, Mann ." Rübeland wurde wieder lauter, ergrimmter, "Das hat mich dreißig Mann gekostet, hat mir ein Verfahren eingebracht - und nun soll ich dieses Weib laufen lassen;
genug, daß andere unser Recht mit Füßen treten, genug, daß mich die Bolschewisten bald zehn Jahre festgehalten haben. - Ich gebe Ihnen drei Stunden Zeit, nicht eine Sekunde mehr. Wie Sie sie hierherbringen, interessiert mich nicht." In einer Ecke seines Hirns sah Kurt Holzner einen Menschen, der ihm völlig glich, dem Major die Faust ins Gesicht schlagen, mitten hinein. "Herr Major ." Er wankte; es war unerträglich. "Herr Major . Ich bringe Ihnen die Frau ." Und dann übergibt er uns beide dem Gericht; die Gründe werden sich finden lassen; es braucht nicht die alte Ehre zu sein. Es findet sich ein anderer Grund. Paragraphen sind genug da. Und er hatte seine Rache - die Rache ist mein, spricht der Herr Major. "Übrigens, Holzner, sollte das Weibsstück Sie verdächtigen, in irgendeiner Weise, ich werde Sie decken. Sie kommen in meine Abteilung. Wir haben noch mehr solcher Verfahren durchzuführen. Solange haben wir den Mund halten müssen; jetzt kommt unsere Zeit. Oder nie. Aber wir dulden keine Partisanen zwischen uns. Man ist lange genug duldsam gewesen." "Jawohl, Herr Major." Hacken, Kehrtwendung, die Tür hinter sich schließen. Jawohl, noch mehr solcher Verfahren, noch mehr, noch mehr. Und zuletzt bist du dran, du selbst - vor dem Herrn Major Rübeland, denn die Kleinen kommen immer zuerst an die Reihe. Wenn die Stricke dann mürbe geworden sind und reißen, kann man die Großen nicht mehr hängen . In Kurt Holzner bäumte sich etwas auf. Er war ein wenig langsam, immer schon; es war auch einfacher gewesen, andere für sich denken zu lassen, immer schon - und
auch jetzt begriff er den Widerstand gegen das Gewohnte in sich selbst nicht sofort. Er wußte nur, daß er lebte, eine Frau hatte, Kinder, einen Garten, einen blausilbernen Wellensittich, und es war so schön, des Abends in der Sofaecke zu sitzen und die Kinder mit dem Vogel spielen zu sehen; nachher konnte man ein Buch lesen oder die Bilder betrachten, alte Bilder, neue. Danach fand er, daß Josefa Braumüller auch lebte, auch Mutter war wie Grit, und vier Kinder hatte und einen Mann, ein Haus, einen Garten, und wenn sie tat, was der Major ihr vorwarf, wenn sie tat, was er hetzen nannte, glaubte sie dann nicht, daß sie recht tat, wie sie recht getan hatte - damals in dem Bacherndorf? Die Frau war für den Major eine Partisanin, wie sie für den Hauptmann und SS-Sturmführer eine Partisanin gewesen war, und Rübeland war immer noch SS-Sturmführer.
Kurt Holzner war ein wenig langsam, immer schon. So wußte er, vor Josefa Braumüller stehend, auch noch nicht, daß in ihm bereits ein Entschluß herangewachsen war, eine seltsame Frucht, an die er noch lange nicht zu glauben vermochte. "Kommen Sie so .!" Josefa Braumüller hob die Hand gegen die Uniform, "dienstlich!" Sie hatte sich schon gefaßt. "Darf ich Ihnen keinen Stuhl anbieten?" "Ich muß Sie bitten, mich zu begleiten, Frau Braumüller." "Wohin?" Sie bewegte die Lippen kaum; ihre Augen ließen ihn nicht frei. "Zu Herrn Major - zu Major Rübeland." Es klang alles so eingelernt. Josefa Braumüller zuckte zurück. "Also doch! Sie haben mich gestern also belögen?"
"Ich habe Sie gebeten, Berlin zu verlassen." Es wäre auch gestern schon zu spät gewesen. Rübeland hatte sie beide beobachten lassen. Die Frau - oder Sie! Die Worte richteten sich mitten auf der Straße auf und pochten gegen das Fenster. "Ich habe nichts getan, das gegen das hiesige Gesetz verstößt. Ich bin eine Deutsche." "Sie haben, ist gemeldet worden, im Büro Ihres Rechtsanwaltes Propagandareden geführt, östliche, politische Diskussionen." "Ich habe .", sie sah ihn an; ein kleines, überlegenes Lächeln legte sich um ihren Mund. "Das habe ich gestern auch mit Ihnen getan, Herr Holzner, als ich Ihnen die Bilder zeigte. Mehr tat ich dort auch nicht. Und was ich sagte, wo und wie ich lebe und wodurch ich so leben kann. Ist die Wahrheit hier verboten?" "Wahrheit?" Holzner sah sich um. Er sagte: "Sie geben Gelegenheit, Ihnen vorzuwerfen, daß Sie Ihren ersten Mann ermordet und ständig Verrat an den in Ihrem Dorf liegenden Polizeieinheiten übten." Er leierte ein Gebet herunter, und so sollte er es noch hundert- oder tausendmal in erstaunte Gesichter hineinbeten! "Das eine ist nicht wahr, das können Sie selbst bezeugen - und das andere: Für mich war die Polizei ein Feind. Und gegen den Feind ist jedes Mittel recht, wenn er sich unmenschlich benimmt." Sie löste sich aus ihrer trotzigstolzen Haltung. "Sie haben einen Haftbefehl?" Das war Neugier, die lächelnd-überlegene Neugier einer reifen Frau, die unbewußt begierig ist, ihr noch Unbekanntes zu erfahren. "Ich habe - Frau und Kinder, und wenn ich Sie nicht bringe, wird man mir auch den Prozeß machen, wegen
Mitwisserschaft und Beihilfe." Er strich mit dem Handrücken Schweiß aus der Stirn. Daß er dies sagte, kam schon aus dem Entschluß, den er noch nicht kannte, an den er auch jetzt noch nicht zu glauben vermochte. Es war, als wehe ein Schleier vor ihm auf und nieder. So geschah es, daß nicht der Hauptwachtmeister Holzner befahl, bestimmte, forderte, sondern daß ein Mensch Holzner zu betteln begann, ein in Uniform gestecktes, nacktes, ratloses Wesen. "Sagte ich Ihnen nicht, daß ich vier Kinder und einen Mann habe? Soll ich mich, Ihrer Familie wegen, von diesem SS-Tier ermorden lassen, wie mein ., wie der Bürgermeister und Ortsgruppenleiter mich morden wollte, abschlachten mit dem Brotmesser, weil er zu feige war, seine Frau gegen diesen, diesen .", sie fand kein Wort, "zu verteidigen? Vielleicht macht Ihr Herr Major das jetzt liebenswürdiger. Kürzlich hat man einen augenkranken Menschen so lange unter Scheinwerferlicht gelassen, bis er erblindete. Er war allerdings kein SS-Tier, sondern ein Kommunist. Man hat Erfahrungen, Herr Holzner, stimmt's?" Holzner befreite sich mit einer schweren Bewegung der linken Schulter von dem unerträglich klaren Blick der Frau. Er sah unten Männer gehen, Männer und Frauen. Wer davon beobachtete ihn? Niemand - aber Major Rübeland betrat eben die Bauernstube, in Zivil. Irgend jemand sprach im Zimmer: "Ich habe seit Kriegsende Revierdienst gemacht, Straßendienst, manchmal Demonstrationen begleitet. Den Major habe ich gestern zum erstenmal wiedergesehen." Und jetzt steht er dort unten am Fenster neben der Tür. "Er hat vorgestern Nachricht erhalten, daß Sie hier sind und solche Reden halten.
Er hat sich erkundigt - was Sie in Dresden tun. Und wenn ich Sie nicht bringe - ich habe doch gewußt, warum und wie Sie die Wäsche auf die Leine hängten ." "Ich habe Sie am Leben gelassen, Holzner", sprach Josefa Braumüller in sich hinein. "Und wenn Sie mich damals nicht gemeldet haben - warum nicht? Weil Sie wußten, daß das Recht auf meiner Seite war? Vielleicht haben Sie es da nur erst gefühlt. Heute - heute müssen Sie wissen, daß es mehr denn je auf meiner Seite ist. Sie und Ihr Herr Major beweisen es doch eindeutig." Sie sprach halblaut, mit jener, wie eine Wurzel sich ins Gestein zwängenden Gewalt, und jedes Wort riß den Fels auseinander, daß es dröhnte. Holzner schmerzten die Trommelfelle, und er nickte dem Major zu und hob, als er seinen Atem von der Scheibe wischte, die Hand wie zum Gruß. Dann wandte er sich um und zog den Uniformrock glatt. Die Frau besaß mehr Kraft als er; sie war damals schon stärker gewesen, als sie sich zu ihrer Tat bekannte. Sie war so stark, daß ihr Wort genügt hatte, ihr Wort und ein Stück nasser Wäsche vor dem Küchenfenster, und er durfte unbehelligt zum Bahnhof hinuntergehen. Ein anderes Stück Wäsche, und irgendwo hätte ein MG-Stoß den Stoß seines Herzens angehalten. Josefa Braumüller schob ihm seine Mütze hin. Sie nahm die Handtasche, diese leuchtendrote Handtasche, warf den Trenchcoat über den Arm. "Kommen Sie, Herr Holzner, gehen wir zu Ihrem Major Rübeland." Kurt Holzner verstand nicht gleich; er erschrak. "Nein, nein - das können Sie nicht tun, Frau Braumüller. Das nicht." "Sie sind gekommen, mich zu holen. Bitte, gehen wir. Ich möchte nicht, daß Sie Schaden haben. Sie und Ihre
Familie, Holzner. Mich läßt man nicht in den Fingern des Herrn Rübeland. Mein Mann läßt das nicht zu und alle anderen auch nicht. Sie sind schuldig geworden damals, weil Sie mich nicht verraten haben. Wenn Sie heute nicht zu dieser Schuld stehen wollen, ich kann mein Recht zu jeder Stunde verteidigen, das von damals und das von heute. - Kommen Sie, ich habe Erbarmen mit Ihnen." Die Worte der Frau würgten ihn. Er sollte sie dem Major zuführen? Was waren für Rübeland Schuld und Unschuld? Er wollte seine Rache, und es war die Rache desjenigen, der kein Recht mehr besaß. Holzner wurde bedrängt von dem Entschluß, der in ihm reif geworden war. Er hatte damals die Frau gewarnt, sie spiele mit ihrem Leben; sie war stärker gewesen als ihre Feinde, sie und die, welche zu ihr standen. Und so würde es jetzt auch sein. Nun mußte er das gleiche Spiel spielen, gegen die eigene Uniform, und es ging diesmal um zwei Leben, um das ihre und um das seine. Ihm aber stand niemand zur Seite, und doch mußte er handeln, mußte nun zeigen, zu welcher Tat er fähig war. Er stand immer noch zwischen dem Fenster und der Frau. Rübeland zwang ihn, alles auf eine Karte zu setzen, auch sein eigenes Leben; er nickte. Auch das Leben des Majors Rübeland war nicht mehr wert als sein eigenes und als das der Frau - vielleicht sogar noch weniger. Holzner schob seine Mütze auf den Tisch zurück und ging hinaus, telefonierte nach einer Taxe. Hereinkommend sagte er zu Josefa Braumüller, sie möge ihren Koffer mitnehmen, denn hierher käme sie nicht wieder zurück. Sie sah ihn an, schwieg aber und packte ihre Sachen ein. Dann fuhr der Wagen vor, und der Fahrer meldete sich mit kurzem Signal.
Holzner nahm seine Mütze auf. "Kommen Sie, Frau Braumüller." Sie zögerte einen Atemzug lang; ihre Augen schauten dem Vorangehenden wägend nach, aber es war keine Angst in ihnen. Sie schloß die Lider, atmete auf und folgte ihm. Holzner ging die Treppe hinab, krumm, als trüge er Josefa Braumüller im Nacken. Er mußte sich sehr sicher sein in diesen Minuten oder einen Willen besitzen, der bedenkenlos war. Eine eigenartig große Ruhe hatte ihn befallen. Als sie die Straße betraten, verließ der Major die Bauernstube und kam über den Damm. Er trat gelassen heran und blieb zehn Schritt neben dem wartenden Wagen stehen, sah zu, wie Holzner den Koffer der Frau hineinhob und dann die Frau einsteigen ließ. Der Major und der Hauptwachtmeister blickten sich erst an, als Holzner die Tür hinter sich zuzog, und Rübeland meinte, in des Untergebenen Gesicht sei reiner Triumph. Er schob den Ärmel seines grauen Sakkos hoch und sah auf die Uhr. Es war elf Uhr dreißig, noch eine halbe Stunde bis zu dem befohlenen Termin. Rübeland ging über den Damm zurück; sollte Holzner sich mit dem Weib müde warten. "Bahnhof Zoo", wies Holzner den Fahrer an. Er kaute und schluckte. Der Schweiß rann unter der Mütze hervor und staute sich über den Brauen. Holzner schmeckte das Salz an seinen Lippen. Dies, was er tat, hätte er sich weder gestern noch seine ganze Dienstzeit hindurch zugetraut. Und es geschah auch nicht nur, weil die Frau ihm damals das Leben gerettet hatte. Es mußte etwas mit dem Recht zu tun haben; doch jetzt hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Er sah, als der Wagen anfuhr, zurück. Der Major ging eben über den Damm zur Bauernstube; die Bedienerin
stand in der Tür und lächelte. Zwei Häuser weiter - das war der Wagen des Majors. Der Fahrer las die "BildZeitung". Dann sah Holzner, daß der Major vor der Bedienerin stehenblieb und eine abwehrende Bewegung machte. Vielleicht - nein, wahrscheinlich erkannte Rübeland jetzt, daß die Taxe in falscher Richtung fuhr. Er ging mit schnellen Schritten auf seinen Wagen zu. Hatten sie genügend Vorsprung? Der Wagen Rübelands mußte erst wenden . Holzner saß vorgebeugt, duckte sich etwas; seine linke Schulter schob sich hoch, und der Wulst in seinem Nacken kam wieder hervor. Sie rutschten im Wechsel des Verkehrslichtes über den Kurfürstendamm. Das rote Auge glotzte hinter ihnen drein. Holzner starrte zurück - hatte der Major Blaulicht am Wagen? Konnte er die Funkstreifen anrufen? Er fühlte sein Herz nicht mehr und spürte zugleich, wie der Blutschlag seine ganze Brust einnahm und ihm das Atmen schwermachte. Als sie auf den Vorplatz des Bahnhofs fuhren, begegnete ihnen eine Funkwagenstreife. Holzner führte Josefa Braumüller, die sich schweigend an seiner Seite hielt, durch die Bahnhofshalle. Über ihnen donnerte ein Zug in Richtung Osten davon. Wann würde der nächste fahren? Soviel Zeit konnte er sich nicht leisten. Sie gingen hinaus. Holzner hielt eine Taxe an. Ob sie es so schaffen würden? "Friedrichstraße, Ecke Kochstraße", wies er den Fahrer an. "Fahren Sie schnell." Der Mann sah schräg zurück. "Nicht schneller, als die Polizei erlaubt, Herr Wachtmeister." Holzner antwortete nicht, er blickte mit kleinen Augen die Straßen entlang; als sie an der Gedächtniskirche vorbei
waren, ließ er sich in die Polster fallen, atmete auf. Rübelands Wagen hatte am Kurfürstendamm halten müssen. Er führte kein Blaulicht. Holzners Taxe war ihnen verlorengegangen. "Zum Bahnhof Zoo", herrschte der Major den Fahrer an. Diesem Idioten Holzner war es zuzutrauen, daß er die Braumüller in die S-Bahn setzte und abschob. Dann sollte er ihn kennenlernen . Er sah die Taxe, die Holzner zuerst benutzt hatte; er erkannte sie an der lacklosen roten Stelle des rechten Kotflügels. Der Fahrer sagte: "Die sind beide in den Bahnhof gegangen." Rübeland blickte sich um, winkte seinem Fahrer. "Wenn Sie einen Funkwagen sehen - anhalten." Er selbst lief in die Halle, rannte, immer zwei Stufen nehmend, die steile Treppe zum Bahnsteig hinauf. So geht das nicht, Holzner, dachte er, so geht das nicht . Aber der Bahnsteig war leer. Rübelands Zähne standen schneidend aufeinander; seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn ich den in die Finger bekomme - Flöte spiele ich nicht mit ihm . Der Funkwagen, den Holzner noch gesehen hatte, kam langsam die Kantstraße zurück. Rübeland ließ sich mit dem Präsidium verbinden. Die Minuten vergingen - dann begannen sich die Stimmen der Sprecher in den Peterwagen wie ein unsichtbares Netz aus heiterem Himmel auf die Straßen Berlins zu senken. Ein Polizei-Hauptwachtmeister Holzner war anzuhalten; in seiner Begleitung befand sich eine Frau Braumüller, Josefa Braumüller aus Dresden . Die Peterwagen rollten zu den Sektorengrenzen, und es war, als liefen flinke Spinnen auf vielfältigem Netz nach allen Seiten auseinander. Eine mußte die beiden greifen - eine mußte es . Major Rübeland fuhr in die Friesenstraße. Er riß sein Telefon heran, ließ sich mit der Funkzentrale verbinden.
"Alle Nachrichten sofort zu mir - nein, ich komme selbst hinunter." Er stieß den Apparat zurück, und das Bild mit der Frau und den Kindern, für das er sonst liebevolle Gesten hatte, zerklirrte neben dem Teppich. "Ich hätte den Burschen vor zwölf Jahren hängen lassen sollen - und das Weib daneben. Wenn dieser Feigling von Mann nicht so gebettelt hätte, wäre es auch geschehen. Feiglinge!" Seine Finger spielten mit dem Bleistift, als suchten sie die winzigen Löcher der Flöte. Das Holz zerbrach. Er warf die Stücke in die Ecke - wenn ihn dieser dickäugige Hund überlistete! Nein, das durfte nicht sein. Die Friedrichstraße lag lang und schmal vor ihnen. Irgendwo voraus ratterten Maschinen hinter einem gelblichen Bauzaun. An der nächsten Ecke standen die grünen Uniformen des Zolls. Schupos warteten gelangweilt. Dann eine Strecke nichts, und wieder Polizei, die andere "Gehen Sie geradeaus, hundert Meter, dann sind Sie drüben. Da gibt es keine Rübelands, Frau Braumüller", sagte Kurt Holzner. Seine Stimme klang heiser. "Und Sie?" fragte die Frau. Holzner legte die Hand gegen ihre Schulter. "Gehen Sie." Dann wandte er sich ab, ging zwei, drei Schritt und blieb stehen, sah Josefa Braumüller davongehen, eine Frau wie alle anderen. Als sie am Posten der Volkspolizei vorbei war, hob sie die rotleuchtende Handtasche. Da aber war Holzner schon in die Kochstraße hineingebogen. Er sah auf die Uhr. Der Major wartete - auf den Hauptwachtmeister Holzner. Aber es gab keinen Hauptwachtmeister Holzner mehr, und es gab keine Josefa Braumüller mehr . für den Major. In der Kochstraße, an der Ecke der Charlottenstraße, stand ein Polizei-Hauptwachtmeister; er lachte vor sich
hin, nahm die Mütze ab und wischte den Schweiß aus den Haaren und von der Stirn. Dann öffnete er den Uniformkragen. In seinen großen guten Augen, die ihn manchmal schwer und unbeholfen erscheinen ließen, blitzte ein, zwei Sekunden lang der frohe Schein auf, den Kinder nach einem gelungenen Streich haben, ehe sie an die Strafe denken. Dann verdeckte Schmerz die Freude; er dachte an Grit und die Kinder. Er trat in die Telefonzelle und rief den Kaufmann an, in dessen Haus er wohnte; seine Frau und die Kinder möchten doch gleich - sofort - zum Bahnhof Friedrichstraße fahren, der Onkel sei da, Onkel Kuddel - Grit nannte ihn immer Kuddel. Als Kurt Holzner aus der Telefonzelle trat, ertönte in der Friedrichstraße die Sirene des Peterwagens. Er wandte sich um und sah den Wagen unendlich weit entfernt vorüberfahren. Er nickte und sprach vor sich hin, wie er es manchmal tat, wenn er sich völlig klar geworden war. "Ich will zu Doernberg gehen", sagte er und nickte noch einmal. Dann ging er die Charlottenstraße hoch, auf den Volkspolizisten zu, der dort stand.
Heft 112 Aktion Bumerang
Herbst 1944, Ostfront. Ein völlig erschöpfter deutscher Soldat überbringt dem Vorposten in einem litauischen Dorf eine alarmierende Nachricht: Der längst verloren geglaubte Oberstleutnant Grellhammer ist mit 1500 Mann nördlich von Witebsk in einem Waldgebiet eingeschlossen und bittet, da die Vorräte zur Neige gehen, dringend um Flugabwurf von Munition, Proviant, Medikamenten usw. Der General in Königsberg startet die "Aktion Bumerang". Drei Mann werden zusammen mit dem Nachschub über dem bezeichneten Gebiet abgesetzt. Was sie in den Wäldern erleben und ob es ihnen gelingt, die Verbindung zur Gruppe Grellhammer herzustellen, will ich euch noch nicht verraten. Nur soviel: Die "Aktion Bumerang" stellt die drei Männer vor immer neue Überraschungen und Gefahren. Die spannende Erzählung wird in Nr. 113 fortgesetzt. Euer Felix