IMMORTAL
Robin T. Popp
SCHWARZER KUSS DER NACHT Roman Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Knaur Taschenbu...
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IMMORTAL
Robin T. Popp
SCHWARZER KUSS DER NACHT Roman Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Immortals: The Haunting« bei Dorchester Publishing Co., Inc., New York.
Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe Januar 2010 Copyright © 2008 by Robin T. Popp Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. By arrangement with Dorchester Publishing Co., Inc. Dieses Werk wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Kathrin Stachora Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Masterfile / Tyler Durden Satz: Daniela Schulz, Stockdorf Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-426-50393-5 2
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Meinen Fans, die ich über alles schätze.
Danksagung
Danken möchte ich: Marlaine Loftin, weil sie mir eine verlässliche Freundin, eine phantastische Partnerin im Geschichtenspinnen und eine unentbehrliche Erstleserin ist. Mary Baxter, mit der ich einen Moment kreativer Genialität erleben durfte, der zum Quell der verlorenen Seelen wurde. Leah Hultenschmidt, weil sie so eine wunderbare, zupackende Lektorin ist. Jennifer Ashley und Joy Nash für all ihre harte Arbeit und Mühe an diesem Projekt, die sich weit über das Schreiben einzelner Bände hinausbewegte.
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Kapitel 1
ie Fahrstuhlkabine zitterte, als sie langsam nach oben glitt. Mai Groves stellte sich vor, wie die dicken Kabel bis an ihre Belastungsgrenze gespannt wurden und eines nach dem anderen nachgaben. Wenn das letzte riss, würde die Kabine sechs Stockwerke tief in den Keller rauschen, wo sie unter der Wucht des Aufpralls wie eine leere Bierdose zerquetscht würde – und sämtliche Insassen starben. Das Läuten ihres Handys unterbrach den schaurigen Tagtraum. »Hallo?« »Mai, hier ist Tom. Alles in Ordnung?« Sie blickte sich in der leeren Kabine um. »Bisher ja, warum?« »Wo bist du?« »In einem Fahrstuhl – einem richtig alten, richtig winzigen Fahrstuhl.« Erst jetzt fiel ihr der besorgte Tonfall ihres Chefredakteurs auf. »Was ist denn los?« »Du bist also nicht bei deinem Therapeuten?« »Nein«, antwortete sie und gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung ob der Frage zu verbergen. »Ich habe dir doch letzte Woche erzählt, dass ich nicht mehr zu ihm gehe. Ich bin geheilt. Ich sehe keine Dinge mehr, die nicht da sind«, fügte sie betont unbeschwert hinzu. Würde er ihr glauben, dass sie so normal wie jede x-beliebige Waldnymphe war? Seit sie dem Hexenzirkel des Lichts, vier umwerfend gut-
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aussehenden Unsterblichenkriegern und einer Schar sonstiger magischer Geschöpfe in der Schlacht gegen einen uralten Dämon geholfen hatte, plagten Mai Probleme. Sie litt unter Halluzinationen, die laut ihrem Therapeuten auf ein posttraumatisches Stresssyndrom zurückgingen. Mai glaubte nicht, dass sie bekloppt war, nur weil sie überall Dämonen zu sehen meinte. Nach ihrem beinahe apokalyptischen Erlebnis wusste sie schließlich, dass Dämonen aussahen wie ganz gewöhnliche Leute. Andererseits sprach die Tatsache, dass niemand sonst sie wahrnahm, schon ein bisschen gegen ihre These, dass mit ihr alles bestens wäre. »Sie sind heute in die Praxis deines Therapeuten eingebrochen«, erzählte Tom. »Ich hatte Angst, dass du gerade bei ihm warst.« »Wie bitte?! Ist irgendjemandem etwas passiert?« Als Therapeut konnte Ken Barbour eine echte Nervensäge sein, aber sie konnte sich vorstellen, dass er privat recht nett war. »Ja. Dr. Barbour, nun … er wurde tot aufgefunden. Erschossen.« Mais Herz setzte kurz aus. Im selben Moment hielt der Fahrstuhl an, und die Türen öffneten sich. Eine Sekunde lang stand Mai gelähmt vor Schreck da, dann zwang sie sich, ihre Beine zu bewegen. Wie automatisch ging sie den Flur entlang zu ihrer Wohnung. »Weiß man, wer es war?« »Sie haben Verdächtige, dreißig an der Zahl, allesamt Patienten.« Ihr lähmender Schock wich blanker Entrüstung. »Du willst hoffentlich nicht andeuten, ich hätte ihn umgebracht!« »Nein, natürlich nicht, aber wir müssen bedenken, dass Dr. Barbours Patienten … gestört waren. Die Polizei fand überall Patientenakten verstreut, deshalb glauben sie, einer von ihnen könnte mit dem Mord zu tun haben.« 8
Mai fragte nicht einmal, wie Tom zu seinem Wissen kam, denn er hatte Kontakte bei der Polizei und bei allen Fernsehsendern. Außerdem würde er es ihr sowieso nicht verraten. »Geht es dir gut?«, erkundigte Tom sich, als sie zu lange schwieg. »Ja, ich bin bloß schockiert.« »Ich weiß. Kannst du jemanden anrufen, der zu dir kommt?« Mai behagte seine Andeutung nicht, sie wäre zu fragil, um allein mit dieser schrecklichen Nachricht fertig zu werden. »Tom, er war mein Therapeut, nicht mein Freund und auch nicht mein Liebhaber. Na klar bin ich traurig, wenn ich höre, dass er tot ist, aber ich brauche niemanden, der mir Händchen hält.« Sie hörte Tom seufzen. »Ich sorge mich ja bloß um dich«, verteidigte er sich. »Und ich hätte meine Spitzenreporterin gern wieder.« »Hast du mich deshalb gefeuert?« »Mai, du weißt, dass ich dich nicht weiterbeschäftigen konnte, weil du nichts geschrieben hast.« »Ja, ich weiß.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Apropos Schreiben: Ich arbeite gerade an einer neuen Story.« »Schon wieder? Hältst du das für eine gute Idee nach dem, was im Übungszentrum los war?« »Tom, ich bitte dich, das ist ewig her!« »Es war letzte Woche, Mai.« »Ich habe dir doch erzählt, dass ich nicht gehört habe, wie sie die Blitzfeuer-Demonstration angesagt haben. Als plötzlich der Blitz losging, war ich nicht vorbereitet, na ja, und … ich habe mich erschrocken.« Genau genommen hatte sie eine Riesenangst bekommen. Sofort fühlte sie sich wieder 9
in die große Schlacht gegen den uralten Dämon zurückversetzt. Das Erlebnis spielte sie allein in ihren Träumen viel zu oft wieder durch. »Du hättest fast drei Feuerwehrleute umgebracht, bevor sie dich zu Boden gerungen hatten. Und bis dahin war das Feuer viel größer als geplant.« »Trotzdem ist nichts Schlimmes passiert. Keiner wurde verletzt, sie erstatteten keine Anzeige, und ich habe mich entschuldigt. Außerdem hast du eine tolle Geschichte daraus gemacht. Vorbei und Happy End!« »Nur weil ich dem Ausbildungszentrum eine großzügige Spende im Namen der Zeitung zukommen ließ.« Oh! Das hatte sie nicht gewusst. Trotzdem spürte sie, dass er schwächelte, und sie wollte nicht aufgeben. »Hör zu, diese Sache, an der ich arbeite, wird etwas ganz Großes.« Sie befühlte das gefaltete Blatt, das ihr ein Loch in die Jeanstasche brannte. Darauf stand alles, was sie brauchte, um Bill Preston festzunageln, den führenden Kandidaten für das Bürgermeisteramt. Ihre Quelle hatte ihr reichlich Informationen über Prestons Beteiligung an der Schmutzkampagne gegen Tony Perone geliefert. Mai musste nur noch ein paar Fakten überprüfen und wenige Beweise finden, dann konnte sie alles zusammenfügen. »Prima. Worum geht’s?«, fragte er wenig begeistert. »Klar doch, ich erzähle es dir, und du setzt einen deiner Leute an, der mir die Story klaut? Träum weiter! Aber weißt du was? Weil ich dich so gern mag« – und weil du mich aus dem Feuerwehrdesaster rausgekauft hast –, »bist du der Erste, dem ich sie anbiete, wenn ich fertig bin.« Damit gab er sich zufrieden, und sie legten auf. Eine Skandalgeschichte wie diese brachte große Schlagzeilen und verkaufte jede Menge Zeitungen. Auch wenn Mai keine fest10
angestellte Journalistin mehr war, hatte sie es in ihrem Job weit gebracht, dachte sie, während sie ihr Handy in die Tasche steckte und nach den Schlüsseln wühlte. Früher hätte sie aus lauter Angst vor den Folgen nicht gewagt, einen so brisanten Artikel zu schreiben. Aber das war gewesen, bevor sie sich gegen einen Dämon stellte, um die Welt zu retten. Fast zu sterben veränderte die Perspektive recht nachhaltig. Wenn einem klar wird, dass es kein Morgen geben könnte, wird das Heute auf einmal ziemlich wichtig. Mai war immer ein lebenshungriger Mensch gewesen, was sich nicht geändert hatte. Sehr wohl verändert hatte sich jedoch die Art, wie sie jeden Tag leben wollte. Bei der Arbeit war sie nicht mehr hinter leichtgewichtigen Storys her, im Privatleben nicht mehr hinter bedeutungslosen One-Night-Stands. Natürlich bedeutete ihr neuer Lebensstil, dass sie viele einsame Nächte verbrachte. Während sie ihre Wohnungstür aufschloss, dachte sie daran, dass sie ihre beste Freundin schrecklich vermisste. Lexi war eine Hexe, Werwölfin und Kautionsjägerin im Ruhestand, die heute mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Sohn in Ravenscroft lebte, der Unsterblichendimension. Nicht dass Mai ihr übelnahm, dass sie nie nach New York City kam. Wäre Mai verheiratet und hätte ein Kind, würde sie … Sie verdrängte den Gedanken, betrat ihre Küche und ließ die Tür hinter sich zufallen. Auf dem Weg durch die Küche in ihr Schlafzimmer, das gleichzeitig als Arbeitszimmer fungierte, stellte sie ihre Handtasche auf den Tresen. Als sie das Licht anschaltete, klickte es bloß laut in der Dunkelheit. Verdammt, Birne durchgebrannt! Mai verschob das Auswechseln auf später und ging zu ihrem Schreibtisch. Dort drückte sie den Knopf der Tischlampe mehrmals und beugte sich vor, um zu sehen, warum sie nicht anging. 11
Ihre Nackenhaare begannen zu kribbeln. Hier stimmte etwas nicht! Regungslos stand sie da und versuchte, ruhiger zu atmen, damit sie besser hören konnte. Von draußen drang gedämpfter Verkehrslärm herein – Autos und Leute, die sich von einem Ort zum nächsten bewegten. Auf sie achtete Mai kaum, denn sie strengte sich an, ein Geräusch ausfindig zu machen, das nicht hierhergehörte. Nein, alles schien wie immer. Dennoch war ihr ein bisschen unbehaglich, und sie wollte ihren Laptop einschalten. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Ihre Telefonschnur war durchgeschnitten. Das eine Ende baumelte vom Schreibtisch, das andere lag zusammengerollt auf dem Teppich. Ihr stockte der Atem. Sie wusste, dass sie wegrennen sollte, war aber viel zu verängstigt, um sich vom Fleck zu rühren. Dann bemerkte sie einen Laut. Es war lediglich ein leiser Hauch, wie ein Flüstern inmitten der Geräusche von draußen. Sie hielt die Luft an und neigte ihren Kopf, während sie angestrengt horchte. Einerseits wollte sie es noch einmal hören, andererseits betete sie, es möge nicht kommen. Es kam: weiche Schritte auf dem dicken Teppichboden. Sofort waren ihre Nerven zum Zerreißen angespannt. Sie mochte vor über einem Jahr mit den Unsterblichen und anderen gegen einen Dämon gekämpft haben, aber Mai war weder eine Heldin noch blöd. Sie würde gewiss nicht hierbleiben und abwarten, wer es war und was er wollte. Also sammelte sie ihre Magie, schloss die Augen und konzentrierte sie auf den Blood Club, die Bar, die ihr guter Vampirfreund Ricco betrieb. Leider blieb der ohrenbetäubende Lärm aus, der ihr bestätigte, dass die Teleportation erfolgreich war. Sie hörte 12
nichts außer ihrem eigenen hektischen Atem und dem Rascheln von Stoff. Mist! Seit der Schlacht haperte es dauernd an ihrer Magie. Eine eisige Furcht überkam sie, als ihr klarwurde, dass sie mit dem Eindringling allein war. Dann ging das Flurlicht an. Mai blinzelte in die plötzliche Helligkeit, in der eine maskierte Gestalt ganz in Schwarz auftauchte. Sie füllte den gesamten Türrahmen aus, so dass an Flucht nicht zu denken war. »Was willst du?« Sie hasste das Zittern in ihrer Stimme. »Ich habe Geld in meiner Handtasche.« »Dein Geld will ich nicht«, entgegnete eine rauhe, heisere Männerstimme. Als er ins Zimmer trat, wich Mai unwillkürlich zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. »Verschwinde!« »Ich habe eine Botschaft für dich: Vergiss die Story!« Anscheinend hatte sie mit ihren Recherchen einen empfindlichen Nerv getroffen – was hieß, dass sie über etwas richtig Großes gestolpert war. »Wer schickt dich?« »Du stellst immer noch Fragen? Mit denen hast du dich doch überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht.« Er verkleinerte die Distanz zwischen ihnen. Nun zwang Mai sich, stehen zu bleiben. »Na gut. Du hast deine Botschaft überbracht. Jetzt raus hier!« »Das war nicht die Botschaft. Das hier ist sie.« Schmerz flammte in ihrem Gesicht auf, noch ehe sie bemerkte, dass seine Hand sich bewegte. Ihr Kopf schnellte zur Seite, und Tränen schossen ihr in die Augen. Die Innenseite ihre Unterlippe schlug gegen ihre Zähne und platzte auf, worauf der Kupfergeschmack von Blut ihren Mund füllte. Gleichzeitig drehte sich das Zimmer um sie, und sie sank auf die Knie. Sie wollte wegkrabbeln, konnte aber nicht. 13
Der Ausschnitt, den sie sah, wurde beständig kleiner, weil ihr Bewusstsein schwand. Leider hatte sie nicht das Glück, richtig bewusstlos zu werden. Sie spuckte Blut aus und blickte auf. »Wer ist deine Quelle?«, knurrte ihr Angreifer. Lenny Brown. Der Name huschte ihr durch den Kopf, und sie musste gegen den Impuls ankämpfen, ihn einfach auszusprechen. Wie leicht es wäre, ihn preiszugeben, damit der Kerl – und der Schmerz – aufhörte! Aber es wäre Lennys Todesurteil, deshalb schwieg sie. Stattdessen sann sie auf Rache. Falls sie das hier überlebte, würde sie das Papier in ihrer Tasche und alle Informationen benutzen. Ja, sie würde Preston öffentlich hinrichten, weil er hinter diesem Überfall steckte! Er war der Einzige, der einen Ruf zu verteidigen hatte. »Rede!«, befahl der Schläger. »Fick dich!« Sie schrie auf, als er ihr Haar packte und ihren Kopf nach hinten riss. Da sie zu benommen war, um allein aufzustehen, zog er sie nach oben. »Denk daran, dass du dir das selbst eingehandelt hast!« Ihr wurde schlecht vor Schmerz, als er ihr ins Gesicht boxte. Nach Atem ringend, nahm sie automatisch die Hände hoch, um ihre gebrochene Nase zu schützen. Das war ein taktischer Fehler, denn nun war ihr Bauch ungeschützt, und in dem landete seine Faust als Nächstes. »Denk daran!«, knurrte er wieder. Hilflos sackte sie zu Boden. Sie bekam keine Luft mehr. Während ihr speiübel war, dachte sie: Das war’s! So sterbe ich. Alles, was sie erreichen wollte und nicht geschafft hatte, ging ihr durch den Kopf: unerfüllte Träume, unerfüllte Liebe. Dort draußen gab es jemanden für sie, den Mann, den sie vollkommen, bedingslos lieben könnte. Wo bist du? 14
Ihr wurde schwarz vor Augen, und das Klingeln in ihrem Kopf nahm zu. Der Tod, dachte sie. Jetzt holt er mich. Sehnsucht nach einer Liebe, die sie nie gekannt hatte und nicht mehr kennenlernen würde, machte sie verzweifelt. Es tut mir leid. Wie würde der Tod sich anfühlen? Würde er schmerzen? Sie wartete. Langsam drang Luft in ihre Lunge, und ihr Selbsterhaltungstrieb setzte ein. Jeder Atemzug brannte in ihrem Hals, so dass sie fürchterlich husten musste, während ihr Tränen und Blut über das Gesicht strömten. Sie bemerkte es kaum. Als sie schließlich wagte, die Augen zu öffnen, sah sie alles verschwommen und körnig wie durch ein Sichtschutzglas. Den Kopf zu bewegen schmerzte, doch in Mai keimte Hoffnung. War der Angriff vorbei? Auf einmal packten sie Hände am Hals und drückten zu. Während ihre Kräfte schwanden, regte sich Verbitterung in ihr. Der Kerl hatte offenbar nur darauf gewartet, dass sie wieder zu sich kam, um sie endgültig zu erledigen. Dann schoss aus dem Nichts eine große Gestalt quer durch das Zimmer auf den Angreifer zu und warf ihn um. Obwohl es weh tat, den Kopf zu drehen, musste Mai wissen, was vor sich ging. Wie durch einen Schleier sah sie zwei Männer miteinander ringen. Sie wollte sich aufrappeln und ihrem Retter helfen, doch sie schaffte es nicht. Kurz darauf bemerkte sie, wie der schwarzgekleidete Einbrecher zur Tür hinausrannte und sie allein mit ihrem Retter ließ. Er kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Wärme seiner Berührung breitete sich umgehend in ihr aus. Sie blickte zu ihm auf und wünschte, sie könnte ihn deutlicher erkennen. »Geht es?«, fragte er sanft. 15
Mai schaute sich um und richtete den Blick angestrengt auf die Tür. Ihr Retter schien sie wortlos zu verstehen. »Es ist vorbei. Er ist weg.« »Danke.« Sie versuchte, sich aufzusetzen, was ihr jedoch nur mit seiner Hilfe gelang. Als sie ihn durch ihre geschwollenen Lider ansah, glaubte sie, ihn zu erkennen. Vielleicht war er ein neuer Mieter und sie ihm schon im Flur begegnet. Sie wünschte bloß, sie könnte ihn klarer sehen. »Woher wusstest du, dass ich Hilfe brauche?« »Ich habe dich rufen gehört.« Sie musste geschrien haben, als der Kerl sie bei den Haaren packte, dachte Mai. »Was für ein Glück für mich, dass du zu Hause warst!« Sie reichte ihm die Hand. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.« »Nein. Ich würde mich an dich erinnern.« Seine Stimme war tief und sinnlich. Bei ihrem Klang durchfuhr Mai ein wohliges Kribbeln. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Eine seltsam intime Geste für jemanden, den sie eigentlich gar nicht kannte. Sie konnte seine Züge nur unscharf ausmachen, dennoch war sie von ihm fasziniert. Etwas an diesem Mann, dessen Bild sie nur sehr schummrig sah, zog sie an. Als er langsam seinen Kopf neigte, kam es Mai gar nicht in den Sinn, zurückzuweichen. Seine Lippen berührten ihre sanft, vorsichtig. All ihr Schmerz sank in den Hintergrund, und die Sehnsucht, die sie vorhin empfunden hatte, verwandelte sich in rohes, heißes Verlangen. Doch genauso plötzlich, wie er erschienen war, verschwand der Fremde wieder und ließ Mai allein auf dem Fußboden zurück. Vor lauter Enttäuschung wollte sie weinen. Sie begriff nicht, wie er sie so schnell verlassen konnte – es sei denn, sie 16
war vorübergehend bewusstlos gewesen. Ja, das war die einzig logische Erklärung. Doch wenn dem so war, wieso lief er dann einfach weg? Um einen Notarztwagen zu rufen vielleicht? Sie wartete, dass er wiederkam. Und wartete. Ihr schien es, als läge sie stundenlang mit geschlossenen Augen da, bis ihr schließlich klarwurde, dass er nicht zurückkehren würde. Während sie ihre Kräfte sammelte, um sich zu bewegen, dachte sie an den Überfall. Falls Preston den Mann angeheuert hatte, der sie angriff, hatte er einen Riesenfehler gemacht. Nicht bloß würde sie die Polizei rufen und ihn anzeigen, nein, sie würde überdies noch ihre Story fertig schreiben. Von diesen Mistkerlen ließ sie sich nicht einschüchtern! Bei Gott, sie hatte es schon mit Dämonen aufgenommen! Glaubten die ernsthaft, Menschen könnten ihr Angst einjagen? Sobald sie sich ein wenig besser fühlte, hockte sie sich auf alle viere und krabbelte ins Bad. Dort hievte sie sich zum Sitzen hoch, den Rücken an die Wanne gelehnt. Sie musste erst einmal verschnaufen. Im Dunkeln blickte sie auf, so gut sie es mit dem einen zugeschwollenen Auge konnte. Der Lichtschalter war außer Reichweite. Mit einer Hand hielt sie sich am Waschtisch fest und zog sich mühsam hoch. Ohne Licht sah ihr Spiegelbild gar nicht so furchtbar aus, wie es sich anfühlte. Ihr Gesicht war weniger blutig, als sie sich vorgestellt hatte. Vielmehr … Sie schaute genauer hin. Etwas stimmte nicht. Nun streckte sie ihren Arm aus und betätigte den Lichtschalter. Was zur Hölle war hier los? Da war kein Blut. Nirgends! Vorsichtig tastete sie ihre Nase ab. Ja, sie war ein bisschen empfindlich, aber nicht gebrochen. Außerdem hatte sie nur 17
einen einzigen kleinen Bluterguss im Gesicht. Ihr Auge war überhaupt nicht geschwollen, und sie sah vollkommen klar. Was war das? Wie konnte sie so übel zusammengeschlagen worden sein und trotzdem aussehen, als wäre nichts passiert? Sie hatte geblutet wie ein … Eilig lief sie ins Schlaf-/Arbeitszimmer und sah auf den Teppich. Er war genauso makellos sauber wie am Morgen. Während sie sich umblickte, wurde ihr zunehmend mulmiger. Ihre Telefonschnur war nicht mehr durchtrennt. Und noch bevor sie das Licht anknipste, ahnte sie, was geschehen würde. Es überraschte sie nicht, nein, es machte ihr entsetzliche Angst. Nirgends erkannte sie auch nur das leiseste Anzeichen dafür, dass jemand gewaltsam eingedrungen war, nichts an ihrer Wohnung war anders. Beinahe schien es, als hätte sie sich den Überfall bloß eingebildet. »Ich halluziniere nicht!«, sagte sie laut vor sich hin – in der Hoffnung, dass es sie überzeugen würde. Das tat es nicht. Vor allem beruhigte es sie nicht, zu wissen, dass keine ihrer vorherigen Halluzinationen so furchtbar gewesen war. Sie presste ihre Hand auf den Mund, um den Schrei zu ersticken, der ihr entfuhr. Was ihr widerfahren war, war real gewesen. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Auf keinen Fall! Was hatte ihr Therapeut gesagt? Dass posttraumatische Stresssyndrome sich nicht heilen ließen und Mai für den Rest ihres Lebens an Halluzinationen leiden könnte. Sie wollte ihm nicht glauben, und gerade das Leugnen hatte in jüngster Zeit recht gut gewirkt. Anscheinend meldete ihr Problem sich nun mit verschärfter Intensität zurück. Mai strich sich nachdenklich durchs Haar. Was würde 18
der arme Dr. Barbour ihr in solch einem Moment sagen? Den Schlüssel zu Ihren Halluzinationen finden Sie in sich selbst. Ihre Angst ist es, die Sie angegriffen hat. Sie schlägt auf Sie ein, bis Sie glauben, Sie könnten nicht mehr. Aber Sie besitzen eine innere Kraft, die darum kämpft, Sie vor Ihrer Angst zu retten, und die Sie auch vor sich selbst rettet. Bei diesem Quatsch war es eigentlich kein Wunder, dass jemand genug gehabt hatte und den guten Doktor umnietete. Mai schalt sich im Geiste für ihre respektlosen Gedanken und ging die Wohnungstür verriegeln. Danach kehrte sie wieder ins Bad zurück. Alles machte sie sehr schwerfällig, allerdings dürfte ihre Müdigkeit eher von ihrer Sorge rühren als von richtiger Erschöpfung. Sie drehte das Wasser auf und zog sich aus, während sie wartete, dass es heiß wurde. In der Dusche ließ sie den Strahl auf sich niederprasseln, bis die Wärme allmählich ihr ängstliches Frösteln und mit ihm ihre Selbstzweifel vertrieb. Nach einer halben Ewigkeit ließen die fruchtlosen Grübeleien nach. Zeit, um auszugehen. Mai stellte das Wasser ab, ließ den Duschvorhang aber zu, um die Wärme drinnen zu halten, und angelte sich ein Handtuch. Grob rubbelte sie sich Haar und Haut ab, bis sie trocken genug war, um aus der Dusche zu steigen, und zog den Vorhang auf. Sobald der Wasserdampf auf den Spiegel traf, beschlug er – und zwei Worte erschienen auf dem Glas. Erinnere dich!
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