Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 470 Dorkh
Schrecken ohne Ende von Horst Hoffmann
Dorkh im Bann des Unheils ...
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Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 470 Dorkh
Schrecken ohne Ende von Horst Hoffmann
Dorkh im Bann des Unheils Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie tatsächlich alles überstehen, was Dorkh gegen sie aufzubieten hat, und sogar ihre Aufgabe erfüllen – allerdings anders, als Duuhl Larx es sich vorgestellt haben dürfte. Nun aber, da Dorkh Kurs auf den Sitz des Dunklen Oheims eingeschlagen hat, ist das Zentrum des Dimensionsfahrstuhls der Ausgangspunkt unheimlicher Vorgänge geworden. Und allen, die in der Nähe des SCHLOSSES weilen, erscheinen die Geschehnisse wie ein SCHRECKEN OHNE ENDE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide durchlebt eine Apokalypse. Razamon, Grizzard, Fiothra und Asparg ‐ Atlans Gefährten. YhmʹDheer ‐ Anführer der Gassuaren. LayʹTolʹEsh ‐ Ein Körperloser opfert sich.
1. Es war ein Bild, wie Atlan es noch nicht gesehen hatte. Selbst Razamon, der hartgesottene Berserker, der im Lauf seines langen Lebens mehr Furchtbares erlebt hatte als jeder andere, stand nun bebend und mit weit aufgerissenem Mund vor dem Bildschirm in der Zentrale der TZAIR. Sein Aufschrei hallte noch von den Wänden nach. Nur Grizzard saß mit geschlossenen Augen kraftlos nach hinten gelehnt in seinem Sessel und preßte den mit Tüchern umwickelten Kristall fest gegen seine Brust, der ihn gegen das schützte, was aus der Kuppel kam. Es befahl den Tod. Es trieb all die Dorkher, die seinem Ruf, seinen Verheißungen der Glückseligkeit gefolgt waren, zum Kampf gegeneinander. Es holte sie zu sich, peitschte sie auf, machte sie zu rasenden Bestien. Atlan konnte den Blick nicht von dem Schirm wenden, der in starker Vergrößerung das zeigte, was sich unter dem mehr als einen Kilometer von der TZAIR entfernten leuchtenden Kristalldach im Zentrum des SCHLOSSES tat. Die Durchgänge ins Innere der gewaltigen Kuppel waren hell. Jene Dorkher, die sie passiert hatten, bekämpften sich mit allem, was sie hatten. Sie gingen mit bloßen Händen aufeinander los oder benutzten ihre vom Leib gerissenen Kleider, um sich gegenseitig zu erwürgen. Jeder kämpfte gegen jeden, und jeder schien nur das eine Ziel zu haben: so viele andere wie möglich zu töten. Atlan sah
ineinander verschlungene Leiber und vorschnellende Hände, die kratzten, stießen und schlugen. Die Außenmikrophone der TZAIR nahmen die gräßlichen Schreie auf und verstärkten sie. Atlan hielt sich beide Ohren zu. Er konnte einfach nicht fassen, was er sah. Längst befanden sich noch nicht alle Dorkher in der Kuppel. Einige Gruppen standen noch genauso da wie zu dem Zeitpunkt, an dem sich nach den Mörder‐Chreeans auch die Technos zurückgezogen hatten. Andere warteten dicht vor den Eingängen und setzten sich urplötzlich in Bewegung. Sie schienen nicht schnell genug unter das Kristalldach kommen zu können. Es war der helle Wahnsinn. Die hinten Stehenden schoben und drückten ungeachtet dessen, was sich an Schrecklichem vor ihren Augen tat. Sie drängten durch die hellen Durchgänge, bis sie, eben noch friedliche Bewohner des Dimensionsfahrstuhls, selbst von diesem entsetzlichen Zwang ergriffen wurden, sich gegenseitig niederzumetzeln. »Nein!« schrie Atlan. »Es muß aufhören! Wir …« Sie konnten gar nichts tun – weder er noch Razamon, ganz zu schweigen von Grizzard. Tatenlos mußten sie zusehen, wie eine Gruppe von Dorkhern nach der anderen ihre Warteposition verließ, bis schließlich alle in der Kuppel waren. Die letzten mußten über Leichen kriechen, um hineinzugelangen. Alles ging plötzlich rasend schnell. Jeder Versuch, den Beeinflußten zu Hilfe zu kommen, wäre glatter Selbstmord gewesen, abgesehen davon, daß nichts und niemand in der Lage schien, den Bann, in dem die Unglücklichen gefangen waren, zu brechen. Atlan begann zu zittern. Ihm wurde übel, und er hörte, wie Grizzard würgte. Auch er spürte ja wie Razamon den Einfluß des Fremden. Allein der Kristall in Grizzards Händen schien die Intensität der ihn erreichenden Zwangsimpulse soweit zu mildern, daß der ehemalige steinzeitliche Jäger nicht endgültig zerbrach oder schreiend aus dem Schiff rannte. Schmerzhaft drückten sich die Fingernägel der geballten Fäuste in
die Handballen des Arkoniden. Atlan war schweißüberströmt. Ja, er hatte es kommen sehen. Er hatte gewußt, daß etwas Schreckliches geschehen würde und daß es nichts, überhaupt nichts gab, das er tun konnte, um die fatale Entwicklung aufzuhalten. Dennoch war das, was nun seinem Höhepunkt zustrebte, bei weitem grauenvoller, als er es sich in seinen schlimmsten Phantasien hatte ausmalen können. Er spürte, daß er es in diesen Augenblicken nicht annähernd erfassen konnte. Es lag jenseits jener Schwelle, bei der der menschliche Verstand sich weigerte, das Grauen zu akzeptieren, das die Sinne ihm vermittelten. Schweigend sah er, wie die letzten Dorkher starben – Opfer einer unheimlichen Macht, für die es nur einen Namen geben konnte. Plötzlich waren die Durchgänge wieder dunkel. Das Leuchten des Kristalldachs wurde schwächer, und unheimliche Stille breitete sich über die Kuppel. Niemand schrie mehr. Niemand konnte mehr schreien. Tot. Hunderte von Wesen, die das Chaos nach dem Tod der SCHLOSSHERREN überlebt und sich in die Hügel, Baracken und Lagerhallen am Rand der Senke der Sternschiffe geflüchtet hatten, bis der Ruf aus der Kuppel sie erreichte. Die plötzliche Stille war noch schrecklicher als das Schreien der zum Sterben Verurteilten. »Es ist vorbei«, sagte Razamon mit unnatürlich ruhiger Stimme. »Was immer es war, das die Dorkher zu sich rief – es hat seine Opfer bekommen. Ich spüre nichts mehr. Es ist vorbei …« Was immer es war. Atlan ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die Hände vor die Augen. Doch die Bilder, die wie in seinem Bewußtsein festgefressen waren, ließen sich nicht verdrängen. Es konnte nur einen geben, der für den Massenmord verantwortlich war. Einen Namen für die Macht, die sich in der Kuppel manifestiert hatte, und Razamon kannte ihn so gut wie er.
Nicht die Gassuaren trugen die Schuld – nicht sie allein. Vielleicht hatten sie das Entsetzliche mit ihrem geheimnisvollen Gerät vorbereitet. Selbst daran glaubte Atlan kaum noch. Der Dunkle Oheim hatte früher, viel früher als erwartet, zugeschlagen. Er hatte etwas aktiviert, das vielleicht Jahrtausende lang unter der Kuppel geschlummert hatte. * Nur diese eine Deutung der schrecklichen Vorgänge erschien logisch. Doch Atlan wußte nur zu gut, daß Dorkh noch weit vom Sitz des mysteriösen Beherrschers der Schwarzen Galaxis entfernt war. Wie groß mußte dann die Macht des Monstrums dort sein – am Ziel des Dimensionsfahrstuhls, dessen Fahrt so gut wie nicht mehr aufzuhalten war? Atlan erschauerte bei dem Gedanken. Erst jetzt, nachdem alles vorbei zu sein schien, erfaßte der Arkonide das, was sich vor seinen Augen abgespielt hatte, in seiner ganzen furchtbaren Tragweite. Zukahartos, Turganer, Valaser und wie sie alle heißen mochten, die zum SCHLOSS gekommen waren, um ihren Tribut an die SCHLOSSHERREN zu entrichten und unfreiwillig Zeuge des Todes ihrer Peiniger geworden waren – sie waren hingemordet. Warum? Welchen Sinn sollte das Gemetzel gehabt haben? Verzweifelt versuchte Atlan, seine Gedanken zu ordnen, aber zu groß war sein Zorn, zu groß der Schmerz. Du hättest nichts tun können! meldete sich der Extrasinn. Absolut nichts! Was wäre gewonnen, wenn auch du nun tot unter der Kuppel lägest? Nichts! dachte Atlan in einem stummen Aufschrei. Nichts, aber ich hätte mir nicht vorwerfen müssen, schuld am Tod dieser Unschuldigen zu sein! Ich wußte doch, was geschehen würde! Ja, er hatte es gewußt – zumindest geahnt. Die Erinnerung an die
Vorgänge auf dem Planeten Ghyx war in ihm wachgeworden, an Tolfex, den Koordinator der Ewigkeit, an die Versprechen, die den Ghyxanern gemacht wurden, um ihre Bereitschaft, sich impfen zu lassen, zu steigern. In Scharen waren sie gekommen, die kräftigsten Männer aus den Stadtstaaten, und hatten sich der »Behandlung« unterzogen, um kurz darauf wie scheintot zusammenzubrechen. Was dann mit ihnen geschah, war etwas, das Atlan am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen würde. Wie wertlose Fracht hatten Tolfexʹ Roboter sie an Bord der schwarzen Schiffe gebracht. Atlan hatte sich zum Schiff des Koordinators der Ewigkeit durchschlagen können, davon besessen, dem wirklichen Motiv des Fremden auf die Spur zu kommen. Daß irgend jemand ausgerechnet in der Schwarzen Galaxis aus reiner Nächstenliebe ewiges Glück und relative Unsterblichkeit verschenkte, war etwas, das zu glauben ihm mehr als schwerfiel. An Bord eines der schwarzen Transporter war der Arkonide zusammen mit den Scheintoten zum »Stern der Läuterung« gelangt und hatte entsetzt erkennen müssen, welches Schicksal den Geimpften bestimmt war: Sie wurden im wahrsten Sinn des Wortes verarbeitet. Ihre Körper lieferten den Grundstoff für die Organschiffe der Schwarzen Galaxis, während ihre Bewußtseine vorher von ihnen »abgezogen« und einer anderen Bestimmung zugeführt wurden. Die Parallelen zum Geschehen auf Dorkh waren offenkundig, obwohl nichts dafür sprach, daß auch hier ein Koordinator der Ewigkeit wirkte. Wie auf Ghyx wurden diejenigen, die nun tot unter dem Kristalldach lagen, in Euphorie versetzt, ehe ihr schreckliches Schicksal sie ereilte, wenn auch die Reaktion der Dorkher um ein Vielfaches heftiger gewesen war. Sie hatten gelacht und getanzt, gesungen und sich aufgeführt wie kleine Kinder vor einem großen Fest, als sie zur Kuppel gelockt wurden. Razamon hatte den Bann wie sie gespürt und nur mit Mühe widerstehen können. Aber er
hatte ausgesagt, daß den Dorkhern ebenfalls eine Erfüllung versprochen wurde, reines Glück, wie sie es sonst niemals würden finden können. Die heftigere Reaktion der Dorkher ließ sich möglicherweise damit erklären, daß jene, die ihre Lebenskraft von ihnen nahmen, hier nicht wie auf Ghyx Rücksicht auf nachfolgende Generationen zu nehmen brauchten. Wer oder was hatte sie in den Tod getrieben und warum? Um etwas vorzubereiten, das in absehbarer Zeit über Dorkh kommen würde? Baute sich in diesen Augenblicken unter der Kuppel etwas auf? War mit dem Erlöschen des unheimlichen Lichts in den Durchgängen doch noch nicht alles vorüber gewesen? Hatten Atlan und Razamon nur das Vorspiel zu etwas anderem gesehen, zu etwas, das sich jeder Wahrnehmung durch menschliche Sinne entzog? Atlans Gedanken drehten sich mehr und mehr im Kreis. Immer wieder stellte er sich die gleichen bangen Fragen, während er versuchte, seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Wenn auch nur annähernd das gleiche geschah wie durch die Koordinatoren der Ewigkeit – hieß das, daß man doch schon viel näher am Ziel der wohl letzten Reise Dorkhs war, als bisher angenommen? Der Arkonide klammerte sich an diesen Gedanken. Was geschehen war, konnte er nicht rückgängig machen, indem er sich selbst quälte. Aber vielleicht konnte er verhindern, daß es sich wiederholte. Nicht nur das, dachte er bitter. Daß alle auf Dorkh lebenden intelligenten Wesen einen schrecklichen Tod sterben. Darum waren sie hier, Razamon, Grizzard und er, um eines der zehn Sternschiffe raumtüchtig zu machen, damit sie zumindest den Hauch einer Chance hatten, wenn Dorkh den Sitz des Bösen erreichte. Atlan schloß die Augen und dachte intensiv daran. Die TZAIR, in der sie sich jetzt befanden, war das einzige Schiff, das ihnen die
Flucht ermöglichen konnte – und auch nur dann, falls es gelang, jenes Element zu finden, das entweder von den Gassuaren entwendet worden war oder tatsächlich von Anfang an verhindert hatte, daß der Antrieb des Schiffes aktiviert werden konnte. Alle anderen Fünfecke waren unbrauchbar gemacht worden, entweder durch die Uleb oder durch die Mörder‐Chreeans. Allmählich spürte der Arkonide, wie neue Kraft seinen Körper und Geist durchströmte. Was unter dem Kristalldach geschehen war, war nicht vergessen. Nie würde er das können. Es würde ihn immer dann anstacheln, wenn er den Mut verlor. Aber die Bilder schnürten seinen Verstand nicht mehr ein. Atlan schaffte es, seine Empfindungen zu kontrollieren. Als er die Augen wieder aufschlug, saß Grizzard offenbar bewußtlos in seinem Sessel, noch immer die umwickelte Kristallkugel von der Größe einer Kinderfaust in den Händen. Razamon stand so vor den Bildschirmen, wie er ihn zuletzt gesehen hatte – starr und blicklos. Atlan stand auf, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und trat auf den Pthorer zu. Sanft legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Wenn wir nur Waffen hätten«, murmelte Razamon. »Wenn wir nur wüßten, wie die Bordgeschütze zu bedienen sind. Wir sollten die Kuppel zerstören, ganz egal, ob wir damit auch die Seele von Dorkh vernichten. Wenn das, was die Dorkher tötete, noch unter der Kuppel ist, müssen wir es vernichten!« Atlan bezweifelte, daß die Strahlbahnen aus den Bordgeschützen eines Raumschiffs dies vermocht hätten. »Du müßtest es spüren, wenn es noch da wäre«, sagte er. »So wie du es gespürt hast, bevor …« Razamon fuhr herum. Wieder sah Atlan etwas in seinem Blick, das er nicht definieren konnte, das ihm aber dennoch einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Irgend etwas stimmte nicht mit dem Freund. Irgend etwas
geschah mit ihm. Atlan wagte nicht, ihn darauf anzusprechen. »Du hast wahrscheinlich recht«, gab Razamon schleppend zu. »Da ist … nichts mehr, nichts, das ich fühlen könnte.« Er schien wie aus einer tiefen Trance zu erwachen. In seinen schwarzen Augen blitzte es auf, als er Atlan an den Schultern packte und ihn heftig schüttelte. »Aber dann laß uns hingehen und nachsehen, was wirklich geschehen ist!« Atlan schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Wir würden nur Leichen finden, Razamon. Es ist schwer, aber wir müssen nun zuerst an uns denken. Wir brauchen das Teil, das im Antrieb der TZAIR fehlt. Vielleicht finden wir es in den anderen Schiffen. Und einer von uns muß die beiden Magier zurückholen. Sie warten noch am Energieschirm auf uns.« »Falls sie ihn je erreicht haben«, sagte Razamon düster. Ja, dachte Atlan. Falls sie das Tor im Energieschirm erreicht hatten, das in die Freiheit führte – aus dem SCHLOSS‐Gebiet heraus. Als er Fiothra und Asparg fortschickte, hatte er angenommen, die Zwangsimpulse aus der Kuppel würden sich abschwächen, je weiter man von ihr entfernt war. Es hatte sich herausgestellt, daß dies nicht zutraf. Atlan durfte nicht an die Möglichkeit denken, daß die Magier auf halbem Weg kehrtgemacht hatten und dem Ruf in die Kuppel doch noch gefolgt waren. Razamon hatte sich wieder umgedreht und starrte wieder auf den Bildschirm. Atlan erkannte, daß er sich vorerst nicht von ihm trennen durfte. In seiner gegenwärtigen Verfassung war Razamon zuzutrauen, daß er wirklich zur Kuppel lief – und damit vielleicht in sein Verderben. Grizzard schied als Bote aus. Selbst wenn er bei Sinnen wäre, dürfte Atlan ihm keine weitere Belastung zumuten. Der ehemalige Jäger baute rapide ab. Von Stunde zu Stunde verlor er immer mehr an Kraft und den Bezug zur Realität. Auch ihm konnte Atlan nicht helfen. Das grausame Schicksal hatte Grizzard – oder Upanak, wie er sich auf der Erde genannt hatte – zerbrechen lassen. Vor Atlans
Augen vollzog sich eine menschliche Tragödie. Grizzard machte nun den Eindruck eines Mannes, der genau wußte, daß seine Zeit bald abgelaufen war. Vielleicht gab ihm nur die Kugel in seinen Händen noch die Kraft, dem Wahnsinn zu trotzen. Atlan machte sich Vorwürfe. Er wünschte sich manchmal, daß sich die Glaspaläste auf Pthor niemals geöffnet hätten. Grizzard wäre niemals als »Der, der für alle schläft« erwacht und hätte seinen Frieden gehabt. Atlan wußte, daß er sich nichts vorzuwerfen hatte. Irgendwann hätten die Glaspaläste sich von selbst aufgetan, und Grizzard wäre dann eine von den unzähligen lebenden Galionsfiguren geworden, die die Organschiffe durch die Schwarze Galaxis steuerten. Nein, sagte er sich. Grizzards Schicksal war besiegelt worden, als die Technos ihn auf der Erde gefangennahmen, weil er ihnen den Namen Razamon genannt hatte. Die Magier mußten noch warten. Sollte ihnen die Flucht gelungen sein, befanden sie sich in Sicherheit. »Wir durchsuchen die anderen Schiffe«, entschied Atlan. »Wir wissen, wie das Teil aussieht, das wir finden müssen, und …« »Atlan!« Razamons Arm fuhr in die Höhe. Er deutete auf den Bildschirm. Atlan trat zu ihm und versuchte zu erkennen, was ihn alarmiert hatte. Schon war er wieder darauf gefaßt, daß ein neues Unheil über der Kuppel heraufzog. Dann sah er die Gestalt, die vor einem der Durchgänge zum Innern des gewaltigen Bauwerks stand und sich nun unsicher hin und her bewegte, als wüßte sie nicht, wohin sie sich zu wenden hätte. »Er kam heraus!« sagte Razamon erregt. »Aus der Kuppel!« Der Pthorer berührte einige der Tasten unter dem Monitor, bis er eine abermalige Vergrößerung erreichte.
Atlan stieß pfeifend die Luft aus, als er erkannte, wer da dem Massaker entkommen war – oder niemals selbst in Gefahr gewesen war. »Wir hätten es uns denken können«, knurrte Razamon. »Er wird uns sagen, was geschah, Atlan!« Der Arkonide brauchte einige Sekunden, bis er wieder Worte fand. Das Wesen vor dem Kristalldach bewegte sich nun zielstrebig in westliche Richtung. »Aber er ist allein?« wunderte sich Atlan. »Wo sind die anderen?« »Auch das wird er uns sagen!« Razamon fuhr herum und stürmte an Atlan vorbei aus der Zentrale. Der Arkonide rief ihm hinterher und fluchte, als die einzige Antwort in Razamons Schritten bestand, die dumpf über den Korridor hallten, der zur Rampe führte. »Atlan!« Grizzard rührte sich. Der ehemalige Jäger hatte nun die Augen aufgeschlagen und sich halb im Sessel aufgerichtet. In seinen zitternden Händen hielt er Atlan die Kugel entgegen. »Du mußt sie jetzt nehmen, Atlan«, flüsterte Grizzard. Der Arkonide sah ihn einen Augenblick unschlüssig an. Razamon hatte die Rampe erreicht und stieß einen markerschütternden Schrei aus. »Jetzt nicht!« rief Atlan Grizzard zu, als er schon in den Korridor stürmte. »Später! Bleib hier, bis wir zurück sind!« Grizzard blieb allein zurück. Er sank wieder in sich zusammen und starrte die umwickelte Kugel an. »Du mußt sie nehmen«, murmelte er. »Jetzt …«
2. YhmʹDheers Äußeres täuschte. Auch wenn der Gassuare auf den ersten Blick an eine dicke, weit über einen Meter große Birne denken ließ, deren dickes Unterteil über zwei kurze Beinchen verfügte und an deren dünnerem Oberteil zwei ebenfalls kurze und unbeweglich wirkende Arme mit polypenähnlichen Händen saßen, so war das Wesen dennoch alles andere als plump. Atlan hatte am eigenen Leib erfahren müssen, wie schnell aus den scheinbar unbeweglichen Gassuaren geschickte Kämpfer und pfeilschnelle Läufer werden konnten. Daß YhmʹDheer nun leicht schwankte, als er sich vom Kristalldach entfernte, hatte weniger mit Schauspielerei als vielmehr mit dem Schock zu tun, unter dem er stand. Die spitze Nase, die etwa eine Handspanne weit aus dem ansonsten flachen und ausdrucksarmen Gesicht herausstach, war in Bewegung. Sie schnüffelte nach allen Seiten, als ob nicht die rechts und links neben der Nasenwurzel sitzenden kleinen schwarzen Knopfaugen – jeweils fünf an der Zahl – ihm den Weg wiesen, sondern der zweifellos stark ausgeprägte Geruchssinn. YhmʹDheers schmaler Mund mit den Raspelzähnchen darin war halb geöffnet. Aus unzähligen Poren am ganzen Körper des Wesens, der nun nur noch zum Teil durch Kleidungsfetzen bedeckt war, trat eine zähe, grünlich schillernde Flüssigkeit, die den Anschein erweckte, der Gassuare sei über und über mit grünem Fett eingerieben. YhmʹDheer blieb stehen und schnüffelte. Kurz drehte er sich um und blickte zur TZAIR hinüber. Er wußte nicht, ob die Fremden, die ihn und seine Artgenossen so sehr behindert hatten, dem Chaos unter der Kristallkuppel entgangen waren. Ihre Leichen hatte er jedenfalls nicht gesehen, und wenn sie noch lebten und nicht geflohen waren, konnten sie nur in der TZAIR stecken – und ihn vielleicht in diesen Augenblicken beobachten. YhmʹDheer hatte nicht vor, ihnen Gelegenheit zu geben, ihn vor
seinem Ziel abzufangen. Die Hände mit den vielen kleinen Tentakeln daran griffen an den weit ausladenden, silbrig schimmernden Helm, der den ganzen Kopf bedeckte und wie mit den flachen, bandförmigen Haaren verwachsen schien. Der Helm war an vielen Stellen verbeult. YhmʹDheers Tentakel ließen grüne Streifen darauf zurück, als er die Arme wieder herunternahm und zu laufen begann. Jeder Beobachter, der gesehen hätte, wie schnell ihn die kleinen Beine trugen, hätte voller Unglauben den Kopf geschüttelt. Im Laufen riß YhmʹDheer sich die leuchtendrote Schärpe vom Körper, die ihn bislang als Anführer der sechs nach Dorkh gekommenen Gassuaren gekennzeichnet hatte. Er brauchte sie nicht mehr. Es gab außer ihm keine Gassuaren mehr auf dem Dimensionsfahrstuhl. Nach gut hundert Metern blieb er erneut stehen. Er sah sich scheu nach der Kuppel um. Dann wieder ein Blick hinüber zur TZAIR. YhmʹDheer hatte recht gehabt. Einer der Fremden, die dadurch, daß sie den Tod der SCHLOSSHERREN verursacht und der Seele von Dorkh das Kodewort gesagt hatten, erst den Weg für ihn und seine Artgenossen frei gemacht hatten, erschien auf der Rampe, sah ihn und schrie. Der Gedanke an die primitiven Rachegelüste dieser Wesen belustigte den Gassuaren. Sie wollten also immer noch nicht aufgeben. Wieder rannte er weiter, geradewegs auf die von ihm aus gesehen rechts von der TZAIR stehende QUORM zu. Natürlich würde er sie lange vor dem Verfolger erreicht haben. Das bereitete ihm weniger Sorgen als der Umstand, daß weit und breit noch keine Technos zu sehen waren. Sie sollten längst zurückgekehrt sein! Wenn sie nicht von selbst kamen, mußte er zu ihnen. YhmʹDheer blickte nicht mehr zurück. Vor ihm wurde die QUORM allmählich größer, das etwa hundert Meter breite und halb so hohe Fünfeckschiff, das der ZEFFIN zugeordnet war, in der bis
vor kurzem der SCHLOSSHERR Zeffin‐Quorm gelebt hatte. Befriedigt stellte der Gassuare fest, daß die Rampe nach wie vor ausgefahren und die dahinterliegende Schleuse offen war. Das Laufen schien YhmʹDheer keine Kräfte zu kosten. Im Gegenteil wirkte er agiler, je näher er seinem Ziel kam. Er erreichte die Rampe. Erst vor der Schleuse drehte er sich kurz um und sah, daß nun zwei der Fremden heranstürmten. Wie langsam sie doch waren! dachte er belustigt. Und durch ihr Schreien konnten sie ihm keine Angst einjagen. Dennoch verunsicherte ihn der Anblick etwas. Es war keine Angst. Sie konnten ihm nicht mehr gefährlich werden, jetzt nicht mehr. Aber sie bewegten sich. Sie waren das einzige außer ihm selbst, das sich in der Senke der Sternschiffe bewegte, und sie riefen die Erinnerung an das in ihm wach, das er unter der Kristallkuppel erlebt hatte. Tief in YhmʹDheers Unterbewußtsein wirkte der Schock nach. Er hatte seinen Auftrag nicht erfüllen können, doch noch war es nicht zu spät dazu. YhmʹDheer gab ein kreischendes Geräusch von sich, ohne daß sich sein Mund dabei bewegte. Dann fuhr er herum und verschwand in der QUORM. * Atlan rannte, so schnell er konnte, aber Razamons Vorsprung war zu groß, um ihn einzuholen, bevor der Pthorer die QUORM erreichte. Alles Rufen half nicht. Razamon wollte nicht hören. Zuviel hatte sich in ihm aufgestaut, und Atlan wagte nicht daran zu denken, was YhmʹDheer bevorstand, sollte er dem Berserker in die Hände fallen. Seltsamerweise glaubte er nicht an diese Möglichkeit. Alles, was die Gassuaren bisher getan hatten, war sorgsam geplant gewesen,
obwohl sie in der Kuppel ganz offensichtlich eine Schlappe erlitten hatten. Daß YhmʹDheer als einziger von ihnen herausgekommen war, sah Atlan als Bestätigung für seine Vermutung an, daß er und seine Artgenossen zwar mit einem bestimmten Ziel zur Kristallkuppel gegangen, aber nicht für das Gemetzel unter den Dorkhern verantwortlich waren. Mit ziemlicher Sicherheit hatte es sie selbst überrascht und sie bei dem, was sie zu tun hatten, gestört. Aber was war das – und wie weit waren sie damit gekommen? Atlan war nicht schlauer als zu Beginn seiner »Bekanntschaft« mit den Gassuaren, als er, Grizzard, Razamon und die Magier sie aus einer Kabine der TZAIR befreit hatten, in der sie angeblich von den Uleb gefangengehalten worden waren. Atlan glaubte inzwischen längst nicht mehr an YhmʹDheers Geschichte, daß die Gassuaren Raumpiraten seien und bei dem Versuch, sich auf Dorkh zu bereichern, überwältigt und schließlich ins SCHLOSS geschafft wurden. YhmʹDheer hatte sie angelogen und an der Nase herumgeführt, von Anfang an. Mit ihren Para‐Fähigkeiten hatten die Gassuaren sie kaltgestellt, bis sie sich aus den anderen Schiffen das besorgt hatten, was sie brauchten, um ihr seltsames Gerät zusammenzubauen. Befand sich dies noch unter dem Kristalldach? War es von den tobenden Dorkhern zerstört worden oder in diesen Augenblicken aktiv? Auf all diese Fragen konnte nur einer die Antwort geben. Razamon hatte die Rampe der QUORM erreicht und stürmte hinauf. »Nicht weiter!« schrie Atlan ihm zu. »Bleib doch endlich stehen! Er hat uns gesehen! Er wird …« Aber der Pthorer hörte nicht. Atlan ahnte, was geschehen würde. Er stand vor der Rampe und überlegte fieberhaft, wie er Razamon doch noch aufhalten konnte. Es war nicht mehr nötig. Der Berserker war noch wenige Schritte von der Schleuse entfernt, als deren Schott knirschend zufuhr. Vom
eigenen Schwung mitgerissen, prallte Razamon hart gegen das silbrig schimmernde Metall. Stöhnend ging er in die Knie. Atlan rannte die Rampe hinauf und erreichte den Freund, als dieser sich aufrichtete und damit begann, wie besessen gegen das Schott zu trommeln. »Hör auf!« Atlan riß ihn an der Schulter herum. Wieder sah er dieses unheilverkündende, drohende Feuer in den Augen des Pthorers. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Razamon sich auf ihn stürzen. Dann sanken seine Schultern herab. »Wir müssen ihn haben!« knurrte Razamon. »Er ist in der QUORM«, sagte Atlan heftig. »Er sitzt fest. Wahrscheinlich hat er viel Zeit und lacht sich jetzt ins Fäustchen.« Atlan atmete tief ein und schüttelte den Kopf. »Er hat Zeit, Razamon, wir aber nicht. Einer von uns muß versuchen, das fehlende Teil für den Antrieb der TZAIR zu beschaffen, während der andere hier Wache hält!« Atlan sah ein, daß es nun keine andere Möglichkeit mehr gab, als sich doch zu trennen. YhmʹDheers Auftauchen hatte die Situation verändert. Razamon schien sich ein wenig zu beruhigen. Dennoch wollte Atlan nicht, daß er bei der QUORM blieb. Der Arkonide stieß eine Verwünschung aus. In der TZAIR wartete Grizzard, und es war nicht ausgeschlossen, daß der Bedauernswerte sich erneut selbständig machen würde, vielleicht geleitet von seiner Kugel. Und die Magier mußten benachrichtigt werden. Wenn die beiden jetzt hier wären … Atlan hatte das Gefühl, sich zehnteilen zu müssen. »Ich bleibe hier«, sagte er zu Razamon und winkte heftig ab, als der Atlanter protestieren wollte. »Du weißt so gut wie ich, wie das Teil aussieht, das wir brauchen. Wenn die Gassuaren es nicht in allen anderen Schiffen entwendet haben, wirst du es finden.« Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte er eine Bewegung. Er
erschrak und dachte, daß Grizzard die TZAIR verlassen hatte. Dann sah er, daß eine Gruppe von etwa zehn Technos sich den Schiffen näherte. Atlan drehte sich um die eigene Achse und erblickte in der Ferne weitere Techno‐Gruppen, die zurückkehrten. Fragend blickte er Razamon an. »Es ist nichts«, gab der Atlanter widerwillig Auskunft. »Keine Beeinflussung aus der Kuppel. Jedenfalls spüre ich nichts.« Als Atlan sich noch fragte, was die Rückkehr der Technos zu bedeuten hatte, die wie die Chreeans von dem Etwas in der Kuppel fortgeschickt worden waren, bevor die Dorkher in den Tod gingen, hörte er ein Geräusch. Irgend etwas kam aus der QUORM auf die Schleuse zu. »Schnell weg hier!« rief er Razamon zu. Er packte den Atlanter und zog ihn mit sich die Rampe hinunter. Sie waren kaum zehn Meter weit gekommen, als das Schott kreischend auffuhr. Atlan fuhr herum. Er sah etwas Metallisches auf sich und Razamon zuschießen und wußte, daß sie noch viel zu hoch waren, um von der Rampe abzuspringen. »Zum Rand!« schrie er und ließ sich bereits fallen. Seine Beine glitten in die Tiefe. »Festhalten!« Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er sich blitzschnell über den Rand der Rampe fallen ließ. Nur mit den Fingern hielt er sich fest. Alles ging viel zu schnell, um zu sehen, was Razamon tat. Das Fahrzeug schoß an ihm vorbei. Die breiten Reifen verfehlten seine Finger nur um Zentimeter. »Razamon!« schrie Atlan. Der Pthorer war nicht mehr bei ihm. * Razamon sah das Fahrzeug auf sich zuschießen und handelte instinktiv. Er hatte keine Zeit mehr, ihm auszuweichen. Er konnte
nur eines tun. Razamon machte einen verzweifelten Satz in die Höhe, drehte sich noch in der Luft und landete hinter YhmʹDheer auf der kleinen Ladefläche des Gefährts, das eher an einen offenen Jeep als an einen der auf den Dimensionsfahrstühlen gebräuchlichen Tores erinnerte. Seine Finger krallten sich um eine der Metallstangen, die die Ladefläche begrenzten. In rasender Fahrt jagte das Fahrzeug die Rampe hinunter. Der Fahrtwind ließ Razamon die schwarzen Haare um die Augen und Ohren flattern. Es gab einen heftigen Ruck, als das Ende der Rampe erreicht war. YhmʹDheer beschleunigte. Razamon biß die Zähne aufeinander und hielt sich verzweifelt fest. Der Wagen vollführte einige kleine Sprünge. Razamon wurde hart durchgeschüttelt und hatte das Gefühl, der Magen müßte sich ihm umdrehen. YhmʹDheer drehte sich kurz zu ihm um und gab eine Reihe unartikulierter Laute von sich. Dann versuchte er, den lästigen Mitfahrer abzuschütteln, indem er einige halsbrecherische Kurven fuhr. Augenblicke lang fuhr der Wagen nur auf zwei Reifen. Razamon verlor den Halt, rutschte quer über die Ladefläche und bekam im letzten Moment die Sitzbank zu fassen. Als YhmʹDheer das Fahrzeug wieder auf geraden Kurs brachte und erneut beschleunigte, war er bereit. Der Pthorer schnellte sich über den Rand der breiten Sitzbank und landete direkt neben dem Gassuaren. YhmʹDheers linke Tentakelhand blieb auf der schmalen Kontrolleiste mit den unzähligen Tasten und Kippschaltern. Mit der Rechten kam er Razamons Angriff zuvor. In blitzschneller Folge, schneller als Razamon es überhaupt wahrnehmen konnte, berührten die Tentakelenden einige Stellen an seinem Hals und der Schulter. Razamon verlor augenblicklich jedes Gefühl für seinen Körper. Die nach YhmʹDheer ausgestreckten Arme blieben wie durch unsichtbare Seile gehalten in der Luft. Razamon konnte kein Glied mehr rühren. Nur YhmʹDheers
Gelächter hallte schmerzhaft in seinen Ohren. Wieder ließ der Gassuare das Fahrzeug auf engstem Raum kreisen. Es neigte sich zu Razamon hin zur Seite. Der Pthorer hatte keinen Halt mehr, als YhmʹDheers Stoß ihn in hohem Bogen aus dem Wagen beförderte. Der Gassuare verschwendete keinen Blick mehr auf ihn. Er beschleunigte und nahm Kurs auf die Technos, die sich nun der QUORM bis auf etwa zweihundert Meter genähert hatten und jetzt, als sie ihn auf sich zukommen sahen, stehenblieben. Jäh brachte YhmʹDheer das Fahrzeug neben ihnen zum Halten. Die Reifen fraßen sich tief in die Erde und schleuderten das Gras büschelweise zur Seite. YhmʹDheer stieg aus und trat vor die Technos hin, gab ihnen einige knappe Anweisungen und wartete, bis sie sich wieder in Marsch gesetzt hatten. Dann bestieg er sein Fahrzeug wieder und fuhr weiter, aus der Senke der Sternschiffe, dem eigentlichen SCHLOSS, hinaus. * Atlan zog sich an der Rampe hoch, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Razamon nicht beim Versuch, es ihm gleichzutun, in die Tiefe gestürzt war. Er brachte die Beine über den Rand und zog den restlichen Körper schnell nach. Alle Glieder schmerzten, als er sich aufrichtete. Er sah gerade noch, wie Razamon aus dem Fahrzeug gestoßen wurde und sich überschlagend auf dem weichen Boden landete, wo er reglos liegenblieb. Er rührte sich nicht! Atlans Herz schlug bis zum Hals. Er war unfähig, nach Razamon zu rufen. Die Angst um den Freund schnürte ihm die Kehle zu. Atlan rannte die Rampe hinunter und achtete nicht weiter auf YhmʹDheer.
Keuchend erreichte er Razamon. Er fiel neben ihm auf die Knie. Zögernd näherten sich seine Finger der Brust des Pthorers. Razamon atmete, und sein Herz schlug noch. Atlans Erleichterung war unbeschreiblich, doch sie hielt nicht lange an. Sie verwandelte sich in ungestümen Zorn auf den Gassuaren, der jetzt bei den Technos stand und sich offensichtlich mit ihnen unterhielt. Razamon war gelähmt, und zwar auf die gleiche Weise, wie es ihm, Atlan, in der TZAIR selbst widerfahren war, als er versuchte, sich an die Gassuaren in der Zentrale anzuschleichen. Es würde Stunden dauern, bis der Pthorer sich wieder rühren konnte. YhmʹDheer bestieg wieder seinen Wagen und jagte davon, während die Technos langsam näherkamen. Der Gedanke daran, daß der Gassuare sie wiederum überrumpelt hatte und was er noch alles in Reserve haben mochte, ließ Atlan abermals umdisponieren. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, entschloß er sich schweren Herzens, die TZAIR vorerst hintan zu stellen. YhmʹDheer mußte unschädlich gemacht werden. Das war jetzt vorrangig. Selbst wenn es gelänge, die TZAIR flottzumachen, stellte der Gassuare eine Bedrohung dar. Es war nicht auszuschließen, daß es im Bereich des SCHLOSSES Anlagen gab, die jeden Start verhinderten – und daß YhmʹDheer sie kannte, so wie er jeden Winkel dieses Gebietes zu kennen schien. Bestimmt floh er nicht. Seine Entschlossenheit zeigte nur zu deutlich, daß er das, wozu er hierhergekommen war, auch ohne seine Artgenossen ausführen wollte, die vermutlich tot zwischen den Leichen der Dorkher unter der Kuppel lagen. Er konnte Razamon nicht hier liegenlassen. Atlan sah die Technos näherkommen, aber ihre Blicke waren nicht auf ihn und Razamon, sondern starr auf die Kristallkuppel gerichtet. Dennoch ging der Arkonide in Abwehrstellung, als sie nur noch wenige Dutzend Meter entfernt waren. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Die Technos marschierten an ihm vorbei, ohne sich nach ihm umzudrehen. Ihr
Ziel war die Kuppel. Plötzlich gab es auch für Atlan nur noch ein Ziel. Obwohl er ahnte, daß er es nicht leicht haben würde, empfand er eine gewisse Erleichterung darüber, daß er nun endlich ganz klar wußte, was er zu tun hatte. Er wartete, bis die Technos weit genug entfernt waren. Dann zerrte er Razamon in die Höhe und lud ihn sich über die Schulter. Der Pthorer war schwer, und Atlan spürte die belebenden Ströme des Zellaktivators, als er mit ihm die TZAIR erreicht hatte und ihn in der Zentrale ablegte. Erleichtert stellte er fest, daß Grizzard sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Der ehemalige Jäger starrte ihn schweigend an und hielt ihm wieder die Kugel entgegen. Noch vor kurzem hatte er sich so sehr dagegen gesträubt, sie herzugeben, als hinge sein Leben daran. »Nimm sie jetzt«, flüsterte Grizzard. »Bitte … Du mußt sie nehmen …« »Gleich«, versprach Atlan. »Nur noch einen Augenblick.« Er trat vor den Bildschirm, der einen Ausschnitt der Kristallkuppel zeigte, und schaltete die Optik auf Weitwinkelerfassung zurück. Das ganze Gebäude war nun zu sehen – und die Technos, die in diesem Augenblick in einem der dunklen Durchgänge verschwanden. Weitere Gruppen standen überall zwischen den Schiffen wie träumend herum. Vielleicht warteten sie wieder auf Impulse aus der Kuppel. Atlan konnte nur hoffen, daß diese nie wieder kommen würden. »Der Kristall …« Atlan drehte sich um. Grizzard war aufgestanden und stand nun ganz nah bei ihm, die Hände mit der umwickelten Kugel weit vorgestreckt, und ein stummes Flehen im Blick der feuchten Augen. »Grizzard, bist du sicher, daß du sie mir geben willst?« fragte Atlan, immer wieder einen Blick auf den Bildschirm werfend. Noch tat sich bei der Kuppel nichts.
»Nimm sie an dich«, bat Grizzard. »Sie … sie sagen mir nichts mehr. Sie … wollen es …« Atlan stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte heftig den Kopf. Dann warf er einen verzweifelten Blick zur Decke und fragte: »Grizzard, wer sind ›sie‹? Und was wollen sie?« »Die Stimmen im Kristall.« Grizzard strich liebevoll mit einer Hand über die verhüllte Kugel. Wie zu sich selbst sagte er seltsam gedehnt: »Sie sprechen nicht mehr zu mir, weil ich sie nicht verstehen kann. Sie wissen das, Atlan, denn sie sind klug und weise. Sie wissen auch, daß du sie verstehen wirst.« »Aber das ist doch Unsinn!« Atlan ärgerte sich sofort über seine heftige Reaktion. Wenn es Grizzard glücklich machte, mußte er ihm den Gefallen tun und die Kristallkugel an sich nehmen, wenn er auch nicht an die »Stimmen« aus der Kugel glaubte. Sicher, sie hatte Grizzard zweifellos vor den Zwangsimpulsen aus der Kuppel geschützt, und auch dafür, daß Atlan und Razamon mit dem ehemaligen Jäger vor den Dorkhern hatten fliehen können, konnte nur sie verantwortlich sein. Aber Atlan hatte im Augenblick andere Probleme. Die Technos und YhmʹDheer. Er nahm Grizzard die Kugel ab und hielt sie einen Augenblick an seine Brust. Er spürte nichts. Grizzard aber atmete auf. Seine Augen richteten sich auf Atlans Hände, und sein Blick wurde zum erstenmal seit seinem Verschwinden und den darauffolgenden Ereignissen bei der Kuppel wieder klar. Es war, als wäre ein Bann von ihm abgefallen. Sein Körper straffte sich, und Grizzard brachte ein verhaltenes Lächeln zustande. »Danke, Atlan«, sagte er. »Du wirst sie hören, wenn auch nicht jetzt gleich. Sie bestimmen, wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist.« »Und du bist sicher, daß du die Kugel nicht mehr brauchst?« Lächelnd schüttelte Grizzard den Kopf. Er wirkte tatsächlich
befreiter. Die Krise, die er nach dem Auftauchen der Gassuaren durchlebt hatte, schien überwunden. Dennoch machte Atlan sich keine Illusionen, als er ihn prüfend ansah. So sehr es ihn auch berührte, daß er ihm durch die Übernahme der Kugel helfen konnte, so sehr war ihm klar, daß Grizzards geistiger Verfallsprozeß nur aufgehalten worden war. »Ich werde die TZAIR bald verlassen«, sagte der Arkonide, als er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. »Du siehst, daß Razamon gelähmt ist. Du kannst bei ihm bleiben und über ihn wachen, bis er zu sich kommt. Willst du das für mich tun?« Grizzard nickte. »Ich werde nicht wieder davonlaufen. Die Angst ist verschwunden.« Atlan glaubte ihm. Vielleicht war es das beste für Grizzard, wenn er sich um jemand zu kümmern und damit Verantwortung zu übernehmen hatte. Es würde seine trüben Gedanken an Lebo Axton und die Magier auf Pthor verscheuchen, von denen er sich nach wie vor bedroht fühlen mußte, denn er fürchtete, daß sie ihn wieder in Axtons Gnomenkörper zurückbringen könnten, falls er Copasalliors Befehl, Atlan zu töten, nicht nachkam. »Sei jetzt still!« sagte Atlan schnell, als der ehemalige Jäger etwas hinzufügen wollte. Der Arkonide deutete auf den Monitor. Die Technos kehrten zurück. Jeder von ihnen trug einen oder zwei tote Dorkher aus der Kristallkuppel. Einige Dutzend Meter vor der Kuppel legten sie sie ab und kehrten zurück, um die nächsten Leichen zu holen. Andere Technos folgten ihrem Beispiel und drangen von den Seiten in die Kuppel ein. Atlan aktivierte eine Reihe von weiteren Bildschirmen, bis einer den Rand der Senke zeigte, von wo sich große, flache Fahrzeuge näherten. »Wahrscheinlich hat YhmʹDheer auch sie geschickt«, murmelte der Arkonide. »Sie sollen die Toten abholen. Aber was werden sie mit
den Leichen tun?« Er erwartete keine Antwort. Abrupt wandte er sich ab und nickte Grizzard noch einmal zu. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Sollte Razamon zu sich kommen, bevor ich zurück bin, dann halte ihn hier fest, oder versuche ihn dazu zu bringen, mit dir nach dem fehlenden Teil für den Antrieb zu suchen. Aber ihr dürft euch auf keinen Fall von den Schiffen entfernen!« »Ich habe verstanden«, sagte Grizzard ernst. »Und geht um Himmels willen nicht zur Kuppel! Kümmert euch nicht um die Technos. Ich werde versuchen, YhmʹDheer zu erwischen.« Fast unmerklich zuckte Grizzard bei der Erwähnung des Gassuaren zusammen. »Verstanden, Atlan«, sagte er leise. Der Arkonide warf einen letzten Blick auf den gelähmten Pthorer, von dem er wußte, daß er ihn sehen und jedes seiner Worte verstehen konnte. Er verzichtete darauf, ihm selbst noch einmal einzuschärfen, nichts auf eigene Faust zu riskieren. Atlan verließ die Zentrale und machte sich auf die Suche nach einem Fahrzeug, wie YhmʹDheer es zur Flucht aus der QUORM benutzt hatte. Auch in der TZAIR, wie in jedem anderen Schiff, mußten sich logischerweise solche Wagen befinden. Atlan und seine Gefährten hatten ja nur einen kleinen Teil der TZAIR durchsucht. * Atlan band die Kristallkugel an seinem Gürtel fest, nachdem er die Zentrale verlassen hatte. Für einen kurzen Augenblick verspürte er den Drang, die Tücher zu entfernen, und einen Blick auf den Kristall zu werfen. Er tat es nicht. Irgend etwas sagte ihm, daß es noch zu früh dazu
war. So wenig er auch von Grizzards Ankündigungen hielt – irgend etwas von dem, was er gesagt hatte, wirkte in ihm nach. Atlan durchsuchte die TZAIR systematisch, Deck für Deck, von unten nach oben gehend. Er fand, wie erwartet, Hunderte leerer Kabinen, aber auch von der ehemaligen Besatzung zurückgelassene Gebrauchsgegenstände, die ihm einige Aufschlüsse über diese Wesen gegeben hätten, wäre seine Zeit großzügiger bemessen gewesen. Das war sie nicht. Sie drängte. Wieder war es nur ein Gefühl, das ihm sagte, daß er und die Gefährten nicht mehr lange in der Nähe der Schiffe bleiben durften, doch Atlan hatte gelernt, »Gefühlen« den richtigen Stellenwert zuzuordnen. Er fand einen Raum, der zu einer Nebenzentrale ausgebaut war. Nach einigen Blicken auf die Instrumentenbänke wußte er, daß er sich in einer Art Feuerleitzentrale befand. Atlan nahm sich die Zeit, einige Bildschirme zu aktivieren und eines der Geschütze, deren Abstrahlprojektoren er bisher bei keinem der Fünfecke gefunden hatte, auf die Kristallkuppel zu justieren. Sollte sich der grauenhafte Vorgang von eben wiederholen, so würde er wissen, was er zu tun hatte. Endlich sah er in einem rechteckigen Raum am Ende eines Korridors drei der offenen Fahrzeuge vor sich, wie YhmʹDheer eines benutzt hatte. Sie waren nebeneinander geparkt. Atlan bestieg eines von ihnen. Die breite Sitzbank schmiegte sich weich um seinen Rücken und die Oberschenkel. Der Wagen besaß keine Steuersäule wie ein Zugor, sondern lediglich eine schmale Kontrolleiste, die an altmodische terranische Autos erinnerte. Nur das Lenkrad fehlte. Nach kurzer Zeit wußte der Arkonide, wie das Fahrzeug zu starten und zu steuern war. Es war nicht allzu breit, höchstens zwei Meter, und paßte durch die Gänge des Sternschiffs. Vermutlich hatten die Wagen einmal zu Inspektionsfahrten oder Wartungsarbeiten im und am Schiff gedient. Atlan startete den Motor. Der Boden des Gefährts vibrierte leicht
unter seinen Füßen. Atlans Finger huschten über einige Tasten und kippten eine Reihe von Schaltern nach unten. Grüne Kontrollämpchen leuchteten auf. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Halle war groß genug für eine kurze Übungsfahrt im Kreis. Als Atlan sicher war, das Fahrzeug vollkommen zu beherrschen, steuerte er es in den Korridor, durch den er gekommen war. In der TZAIR wie in den anderen vier kleineren Schiffen gab es keine Aufzüge. Eine Rampe wand sich um die Schiffsachse herum nach unten. Atlan erreichte das Zentraldeck mit der Rampe ohne Zwischenfall. Er bremste ab, als er die Schleuse erreichte, fuhr die Rampe herab und beschleunigte wieder, als er sie hinter sich gelassen hatte. Atlan nahm Kurs auf die QUORM. Zweimal mußte er um Technos herumfahren, die offenbar bei den Bergungsarbeiten bei der Kuppel nicht gebraucht wurden, denn sie standen da wie träumend. Dort, wo ihre Artgenossen die Leichen unter dem Kristalldach hervorholten, standen die Transporter bereit und wurden beladen. Noch keines der großen Fahrzeuge hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Atlan erreichte die in die QUORM führende Rampe und brachte den Wagen zum Stehen. Er brauchte nicht lange nach den Spuren von YhmʹDheers Fahrzeug zu suchen. Tief hatten sie sich in das Land gedrückt. Atlan folgte ihnen langsam, bis er die Stelle erreichte, an der Razamon abgeworfen worden war. Die von YhmʹDheer hinterlassenen Spuren liefen selbst im steten Dämmerlicht, das Sonne und Nachthimmel abgelöst hatte, seitdem Dorkh sich wieder durch einen Dimensionskorridor bewegte, gut sichtbar als zwei dünne dunkle Linien nach Norden, zur Hügelkette, hinter der erst der Energieschirm den Boden berührte. Atlan beschleunigte, bis sein Wagen die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Es gab keine Geschwindigkeitsanzeigen, aber der Arkonide schätzte, daß er mit annähernd hundert Stundenkilometern über das unebene Gelände jagte.
Atlan ließ auch die fünf größeren Sternschiffe hinter sich, und je weiter er sich von ihnen entfernte, desto häufiger sah er nun Technos und auch Dorkher, die allein oder in kleinen Gruppen scheinbar ziellos umhergingen und nur hier und da Anstalten trafen, mit Aufräumungsarbeiten zu beginnen. Aber alles, was sie taten, wirkte ziellos und unkontrolliert. Atlan kam an einer Gruppe von Technos vorbei, die eine von Chreeans niedergewalzte Baracke, wie es sie zu Dutzenden in der Nähe der Schiffe gab, wieder aufzubauen versuchten. Andere trugen weit über das Gelände verstreutes Gerät zusammen. Aber schon nach wenigen Handgriffen schienen sie zu vergessen, was sie eigentlich gewollt hatten. Dorkher unterschiedlichsten Aussehens saßen kichernd und lachend in der Nähe und beobachteten die fruchtlosen Versuche der Technos. Es war ein Bild des Wahnsinns. Atlan mußte sich mit Gewalt ins Gedächtnis zurückrufen, daß die Ebene der Sternschiffe auch nach dem Tod der Uleb das absolute Machtzentrum Dorkhs bildete. Niemand konnte sagen, welche Anlagen sich noch in den Schiffen oder unter der Kuppel verbargen. Atlan hatte nur einen winzigen Teil davon gesehen. Jeder Techno, der seine Sinne beieinander hatte, mußte alles daransetzen, die Trümmer zu beseitigen und schnellstmöglich alle aufgetretenen Schäden zu reparieren. Aber sie kümmerten sich überhaupt nicht um die Schiffe. Bei den großen war dies noch mit ihrer Furcht vor den Uleb zu erklären. Wahrscheinlich hatten sie sie nie ohne wichtige Gründe betreten dürfen. In den kleineren aber, das zeigten ihre Spuren, waren sie ein und aus gegangen. Sie ließen sie links liegen und konzentrierten sich statt dessen nur auf die Kuppel – und das taten auch nur diejenigen, die von YhmʹDheer offensichtlich Befehle erhalten und diese an andere weitergeleitet hatten. Warum? Was gab dem Gassuaren die Macht über sie? Und die Dorkher! So erleichtert Atlan auch darüber war, daß nicht
alle, die sich unterhalb des Energieschirms befanden, in der Kuppel gestorben waren, so groß war sein Entsetzen, als er sie wie Idioten dasitzen sah. Entweder hatten die Impulse aus der Kuppel ihnen die Gehirne ausgebrannt, oder … »Oder sie spüren noch immer etwas«, murmelte der Arkonide und erschauerte. »Es ist immer noch da …« Neues Unheil lag fast zum Greifen nahe in der Luft. Und je öfter Atlan die Fahrt leicht abbremste, um Dorkher, Technos und umherirrende Chreeans zu beobachten, desto sicherer wurde er, daß noch etwas geschehen würde – etwas, zu dem das Sterben der Dorkher nur das Vorspiel gewesen war oder etwas ganz anderes. Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, so schnell wie möglich die Ebene der Sternschiffe, das SCHLOSS‐Zentrum verlassen zu müssen, wuchs. Aber er brauchte die TZAIR! Hatte er denn überhaupt eine Chance, selbst wenn er oder Razamon das fehlende Antriebselement fanden? Durften sie alle warnenden Zeichen ignorieren und im SCHLOSS‐Zentrum bleiben, bis Dorkh sein Ziel erreicht hatte? Fluchend jagte Atlan den Wagen über Steine und erste kleine Erdhügel. Er wurde hart durchgeschüttelt. Hatte er sich auch, was YhmʹDheer anbetraf, schon wieder getäuscht? War er dazu verurteilt, hier in dieser unheimlichen Umgebung alles, was ihm jetzt einleuchtend erschien, schon in den nächsten Minuten wieder zu verwerfen? Wenn YhmʹDheer nun nicht unterwegs war, um irgendwo verborgene Anlagen aufzusuchen. Wenn er doch aus dem SCHLOSSZentrum geflohen war … Atlan spürte einen Kloß im Hals. Er verlangte dem Fahrzeug alles ab und riskierte mehr als einmal, daß es sich überschlug. Er mußte den Gassuaren finden. Was wußte YhmʹDheer, das er und die Freunde nicht wußten?
Atlan erreichte die Hügelkette und trieb den Wagen in halsbrecherischer Fahrt zwischen Geröll und verlassenen Hallen bis zu einer Kuppe hinauf. Dort erst drosselte er den Motor. Er stieg aus und sah sich um. YhmʹDheers Spuren endeten ein Stück weiter unten abrupt im Gras. Doch weder von ihm noch von seinem Fahrzeug war etwas zu sehen. Und doch mußte er hier sein. Vielleicht wartete er in einem Versteck auf ihn. Atlan ließ seinen Blick schweifen. In der Ferne schien der mächtige Energieschirm aus mehreren verschiedenen Schichten aus dem Boden zu wachsen. Wie eine gewaltige Glocke lag er über dem SCHLOSS‐Gebiet. Das blutrot leuchtende Tor, das den einzigen Zugang zum SCHLOSS bildete, war von hier aus nicht zu sehen. Atlan fuhr YhmʹDheers Spuren nach, bis er fast die Stelle erreicht hatte, an der sie so plötzlich endeten. Es war unnatürlich still um ihn herum. Weit und breit bewegte sich nichts. Zögernd stieg der Arkonide aus, holte tief Luft und näherte sich vorsichtig dem Ende der Reifenspuren.
3. Grizzards Euphorie schwand allmählich. Er machte sich keine Gedanken darüber, daß er sich plötzlich so wohl gefühlt hatte wie seit seinem Aufenthalt in Zyffhans Stollen nicht mehr. Er hatte Atlan die Kugel gegeben und das Gefühl gehabt, etwas Wichtiges getan zu haben. Und er war stolz darauf gewesen, daß er sich dazu überwunden hatte. Nun, allein mit Razamon in der TZAIR, folgte die Ernüchterung. Razamon hatte sich noch nicht gerührt. Hin und wieder war Grizzard zu ihm hingetreten, um seine Arme zu bewegen, in der Hoffnung, den Atlanter dadurch zu neuem Leben erwecken zu können. Natürlich wußte er, daß Razamon nicht tot war, aber das änderte nichts daran, daß er sich bald wie lebendig begraben vorkam. In der TZAIR war es ruhig. Nur das leise Summen von Aggregaten war zu hören. Niemand war da, der ihn bedrohen könnte. Dennoch mußte Grizzard einige Male gegen den Drang ankämpfen, aus dem Schiff zu fliehen. Er hatte Atlan ein Versprechen gegeben und würde es einhalten. Er mußte es tun, für Atlan und für sich selbst. Sonst würde er den letzten Rest Respekt vor sich verlieren, der ihm noch geblieben war. Grizzard wanderte unruhig in der Zentrale auf und ab. Er ging nicht mehr zu Razamon, nachdem ihn das Gefühl beschlichen hatte, der Pthorer würde ihn unentwegt anstarren. Wenn es ging, wandte er dem Paralysierten den Rücken zu. Er fröstelte. Warum hatte er Atlan die Kugel gegeben? fragte er sich nun. Sein Stolz auf sich selbst war verflogen. Der Kristall hatte ihm schon einmal Ruhe und Wärme gegeben. Warum war er so töricht gewesen, ihn zu verschenken? Daß die Stimmen nicht mehr in ihm gewesen waren, konnte ein vorübergehender Zustand gewesen sein, und daß sie ihn auf eine
ihm unbegreifliche Art und Weise dazu gedrängt hatten, die Kugel an Atlan zu übergeben, mußte Einbildung gewesen sein. Grizzard stützte sich schwer atmend auf eine Kontrollbank. Er schloß die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie die Technos draußen immer noch mehr Leichen aus der Kuppel herausholten und auf die Transporter luden. Welchen Sinn hatte das? Warum taten sie es, wenn …? Grizzard ließ sich in den nächsten Sessel fallen und preßte die Hände gegen die Schläfen. Was war es, das in ihm war und doch nicht zu greifen? Scheu blickte er Razamon an, dessen Blicke nun starr an ihm vorbei gingen. Sie waren die einzigen! durchfuhr es den ehemaligen Jäger. Razamon und er. Sie allein hatten die Impulse aus der Kuppel gespürt und überlebt. Razamon hatte sie mit seinem starken Willen abblocken können. Er, Grizzard, hatte dazu die Kugel benötigt. Razamon hatte nur einen Teil der Impulse, sozusagen die Stoßfront, bewußt wahrgenommen. Er, Grizzard hatte alles empfangen, durch die Kräfte im Kristall auf ein halbwegs erträgliches Maß reduziert. Dies war der Unterschied zwischen ihnen. Grizzard wußte, daß noch etwas bevorstand – etwas noch Schrecklicheres als das Geschehene. Nein, korrigierte er sich. Es gab noch einen Überlebenden. Hatte auch YhmʹDheer die unterschwellige Ankündigung des neuen Unheils wahrgenommen? War er deshalb nun auf der Flucht – oder auf der Suche nach Mitteln, mit denen das, was unweigerlich kommen mußte, verhindert werden konnte? Grizzard nahm die Hände vom Kopf und ballte sie zu Fäusten. Er schwankte zwischen Angst, Verzweiflung und Trotz – dem Wunsch, seinem zerstörten Leben doch noch einen Sinn zu geben. Was war es, das sich unter der Kristallkuppel lautlos und für menschliche Sinne nicht erfaßbar vorbereitete? Was? Wenn er nur einen Anhaltspunkt hätte!
Die Impulse … Grizzard kam ein furchtbarer Gedanke. Bisher war auch er davon ausgegangen, daß sie von einer unbekannten Maschinerie oder gar der Seele von Dorkh selbst ausgestrahlt worden waren. Nun fragte er sich plötzlich, ob es nicht völlig anders war. Waren die Impulse, die die Dorkher, Technos und Chreeans zur Kuppel gelockt und in unbändige Euphorie versetzt hatten, Leben? Grizzard begann wieder heftig zu zittern. Er lachte irr und schüttelte verzweifelt den Kopf, aber je mehr er sich gegen den Gedanken wehrte, desto größer wurde die Angst davor, daß er an etwas gerührt hatte, das so ungeheuerlich war, daß schon das Denken daran Wahnsinn war. Er durfte nicht denken. Er durfte es nicht wecken. Es war noch da, überall, und bedrohte ihn. Es griff in die TZAIR hinein. Die Impulse waren Leben, schreckliches und dunkles Leben! Wie zur Bestätigung seiner Ängste spürte Grizzard plötzlich, wie sich wieder etwas in sein Bewußtsein zu schieben begann. »Nein!« schrie er in heller Panik, beide Hände wieder fest gegen die Schläfen gepreßt, als ob er so das, was von ihm Besitz ergreifen wollte, abblocken könnte. Er täuschte sich nicht. Das war nicht seine Phantasie, die ihm grausame Streiche spielte. Es war da, und es wurde stärker. Grizzard sprang auf und sah auf den Bildschirm, der die Kuppel zeigte. Er stöhnte gequält, als er sah, daß das Kristalldach wieder stärker zu strahlen begonnen hatte. Grizzard verlor fast den Verstand. Er fuhr herum, stürzte auf Razamon zu und rüttelte ihn. »Wach doch auf!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Bitte wach auf! Spürst du es denn nicht? Es kommt und …« Er drehte sich um, daß er den Bildschirm sehen konnte. »Es wird uns holen, Razamon! Wach auf, bevor es …« Ein Ruck ging durch den Körper des steinzeitlichen Jägers. Grizzards Blick wurde starr. Seine Hände krampften sich in
Razamons Kleidung, als er jede Kraft aus den Beinen verlor und neben dem Atlanter zu Boden sank. Razamon bewegte sich nicht. Er saß so, daß er den Bildschirm mit der Kristallkuppel sehen konnte, aber er konnte nichts tun … * Atlan glaubte nicht an Spuk. Er hockte neben den Reifenspuren und betastete mit den Fingerspitzen die Stelle, an der sie endeten. YhmʹDheer und sein Wagen konnten sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Bis hierher waren sie gekommen – und dann? Kein Grashalm war umgetreten. YhmʹDheer war also nicht einmal ausgestiegen, bevor er verschwand. Atlan richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Er war mit seiner Weisheit am Ende, aber nicht bereit, aufzugeben. Wenn er jetzt zur TZAIR zurückkehrte, war nichts gewonnen. Er blickte an seinem Fahrzeug vorbei den Hügel hinauf, über den er und vor ihm YhmʹDheer gekommen waren. Die Reifenspuren vom Wagen des Gassuaren verliefen geradlinig, bis YhmʹDheer drei aufeinanderliegenden, flachen Felsblöcken ausweichen mußte. Bisher waren diese dem Arkoniden nicht sonderlich aufgefallen. Jetzt fragte er sich, ob sie vielleicht von Technos aufeinandergelegt worden waren. Als eine Art Wegmarkierung? Schweigend ging Atlan den Weg zurück, bis er neben den Felsen stand. Jeder von ihnen war gute zwei Meter breit. Der »Turm« hatte eine Höhe von knapp drei Metern. Es gab nichts Auffälliges an ihnen. Keine in sie hineingehauenen Zeichen, keine Bemalung. Und doch hatte YhmʹDheer hier gehalten, bevor er langsamer weiterfuhr. Die Tiefe der Reifenspuren zeigte es ganz deutlich. Atlan trat in die Spuren und ging sie nach.
Er erreichte ihr Ende nicht ganz. Plötzlich begann die Luft um ihn herum zu flimmern. Atlan spürte einen ziehenden Schmerz im Nacken, war für Bruchteile einer Sekunde in kalte, wabernde rote Glut getaucht und fand sich in einer fremden Umgebung wieder. Instinktiv sprang er zur Seite, als er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte. Er unterdrückte einen Aufschrei und drehte sich blitzschnell um die eigene Achse. Er befand sich in einem mittelgroßen Raum mit kreisrunder Grundfläche. Die Wände verjüngten sich nach oben hin und liefen am höchsten Punkt der Decke, genau über der Mitte des Raumes, spitz zusammen, so daß der Eindruck entstand, als befände sich Atlan in einer riesigen, ausgehöhlten metallenen Zwiebel, in deren Zentrum eine blutrot flimmernde energetische Säule langsam in sich zusammenfiel. Atlan ahnte, daß er eben noch inmitten dieser Säule gestanden hatte. Dies also war des Rätsels Lösung. Wie YhmʹDheer vor ihm, war er durch einen Transmittereffekt hierhergebracht worden. YhmʹDheers Fahrzeug stand desaktiviert vor einem der drei aus dem Raum führenden ovalförmigen Durchgänge in den Wänden. Vom Gassuaren selbst war nichts zu sehen. Er mußte genau gewußt haben, daß es diese Anlage und den Transmitter gab, der sich aus dem Nichts heraus aufbaute. Die Frage war nun, wo sich diese Anlage befand, welchem Zweck sie diente und wo YhmʹDheer steckte. Wußte er bereits, daß Atlan ihm gefolgt war? Atlan bezweifelte, daß er nur wieder in die Mitte des Raumes zu treten brauchte, um durch den umgekehrten Effekt wieder an die Oberfläche gebracht zu werden. Somit war er nun in doppelter Hinsicht auf die »Hilfe« des Gassuaren angewiesen. Bei dem Gedanken an das Wissen und die damit verbundene Macht des Wesens erschauerte er abermals. Flüchtig sah er sich noch einmal um. YhmʹDheer hatte mit ziemlicher Sicherheit den Ausgang benutzt, vor dem sein Wagen
stand. Die Wände waren ringsum mit fremdartigen Geräten und Instrumenten bedeckt. Es gab drei kleine Bildschirme – neben jedem der Ausgänge einen. Atlan trat auf denjenigen neben dem Fahrzeug zu und streckte die Hand aus, um ihn zu aktivieren. Kurz vor den Tasten zuckten seine Finger zurück. Die Bedienungselemente glichen nicht jenen in der TZAIR. Er konnte alles mögliche auslösen, wenn er die falschen Tasten erwischte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als YhmʹDheer nachzuschleichen, in der Hoffnung, daß er nicht schon erwartet wurde. Sein Blick fiel auf die Ladefläche des Fahrzeugs. Er brauchte eine Waffe. Auf keinen Fall durfte er dem Gassuaren Gelegenheit geben, ihn noch einmal zu lähmen. Atlan wußte ja, wie schnell der angebliche Raumpirat sein konnte. Er braucht etwas, um ihn sich vom Leib zu halten. Nach einigen vergeblichen Bemühungen gelang es ihm, eine der Begrenzungsstangen zu lösen. Er wog das etwa ein Meter lange Stück Metall in seiner Hand und nickte grimmig. Noch einmal sah er sich um. Dann trat er entschlossen durch das in die Wand geschnittene Oval, das gerade groß genug war, um einen ausgewachsenen Mann passieren zu lassen. Noch einmal sollte der Gassuare ihn nicht hereinlegen. Diesmal ging es um alles. Entweder gelang es Atlan, ihn zu überwältigen und zum Reden zu zwingen, oder seine Chancen, mit den Gefährten zusammen einen Fluchtweg von Dorkh zu finden, waren endgültig vertan. Atlan spürte eine steigende Beklemmung. Von irgendwoher kam ein monoton auf‐ und abschwellendes Summen, in das sich Geräusche wie von einer Kreissäge mischten. Atlan betrat einen schmalen, ebenfalls oval geformten Gang. Die Wände waren ganz aus einem unbekannten, leicht schimmernden Material, und hell erleuchtet. Woher das weiße Licht kam, konnte der Arkonide nicht feststellen.
Irgendwo vor ihm polterte ein harter Gegenstand zu Boden. Atlan preßte sich instinktiv fest gegen die Wand und lauschte. Nichts war zu hören, außer den bekannten Geräuschen. Die Länge des Ganges, der wie eine riesige Röhre wirkte, war nicht abzuschätzen. Durch die Lichtverhältnisse wirkte er endlos. Vorsichtig ging Atlan weiter, die Eisenstange fest umklammert. Wieder polterte etwas zu Boden, und gleich darauf hörte er YhmʹDheers Stimme. Sie schien mitten aus dem Gang zu kommen. Atlan ging weiter. Er streckte die Hand mit der Stange vor. Wie er erwartet hatte, verschwand deren Ende plötzlich, als hätte es sich in Nichts aufgelöst. Schnell zog der Arkonide den Arm zurück. Die Stange war wieder voll sichtbar. Atlan atmete tief durch. Hinter der unsichtbaren Barriere, wußte er, erwartete ihn wieder eine völlig neue Umgebung – und vermutlich YhmʹDheer. Atlan verbarg die Stange hinter dem Rücken, als er weiterging. Diesmal war er auf den Wechsel vorbereitet. Der Gang schien niemals existiert zu haben. Vor ihm breitete sich ein ebenfalls kreisförmiger Raum aus, etwas größer als der, in dem er materialisiert war. Hier wie dort glich er einer ausgehöhlten Zwiebel, und die Wände waren von Instrumenten unterschiedlichster Form bedeckt. YhmʹDheer saß auf einem Schemel ihm genau gegenüber und wandte ihm den Rücken zu. Der Gassuare war so vertieft in seine Arbeit, daß er nicht hörte, wie Atlan sich ihm mit leisen Schritten näherte. Atlans Beklemmung war in dem Augenblick gewichen, in dem er den Gejagten gesehen hatte. Er konzentrierte sich völlig auf den Gassuaren. Vielleicht spielte dieser ihm nur etwas vor. Vielleicht wußte er doch, daß er sich ihm näherte, und wartete nur auf den günstigsten Moment für seinen Angriff. Atlan wollte ihm nicht den Hauch einer Chance dazu geben. In der Mitte des Raumes blieb er stehen.
»YhmʹDheer!« Der Gassuare zuckte heftig zusammen und ließ ein Werkzeug fallen, mit dem er sich an einem ausgefahrenen Terminal zu schaffen gemacht hatte. Langsam erhob er sich und drehte sich um. Es war fast unmöglich, im »Gesicht« dieses Wesen zu lesen. Dennoch hatte Atlan das Gefühl, die zehn Knopfaugen funkelten ihn heimtückisch an und YhmʹDheer überlegte fieberhaft, wie er den ungebetenen Gast schnellstens loswerden konnte. Immer noch hielt Atlan die Metallstange hinter seinem Rücken versteckt. »Du solltest mir nicht folgen!« krächzte YhmʹDheer, dessen lange Nase sich schnüffelnd bewegte. Noch stand der Gassuare wie ein plumper Sack neben seinem Schemel und machte keine Anstalten, sich Atlan zu nähern. Der Arkonide ließ sich nicht beirren. »Ich habe euch gewarnt!« schrie YhmʹDheer, als er keine Antwort erhielt. »Warum hörtest du nicht auf mich? Nun hast du die Folgen selber zu tragen! Spürst du denn nichts? Weißt du nicht, daß wir alle sterben werden, wenn ich nicht …« Als der Körper des Gassuaren vorschnellte, war Atlan gewappnet. Er sprang blitzschnell zur Seite und entging dennoch den nach ihm vorschnellenden Tentakelhänden nur knapp. Atlan wartete nicht ab, bis YhmʹDheer zum Stehen kommen und sich drehen konnte. Er schwang die Metallstange über seinem Kopf, machte zwei schnelle Schritte auf den Gassuaren zu und hieb sie ihm über den silbernen Helm. Die Wirkung war verblüffend. YhmʹDheer kreischte laut auf, drehte sich auf einem Bein stehend und ruderte mit den kurzen Ärmchen in der Luft, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. All seine Bemühungen waren vergebens. YhmʹDheer hielt sich noch für einige Sekunden auf dem einen Bein, wurde von heftigen Zuckungen befallen und sank schließlich wie ein nasser Sack zu Boden. Atlan starrte auf die Stange in seiner Hand und schüttelte
verwundert und erschreckt den Kopf. Der Hieb war nicht so heftig gewesen, um den Gegner gleich zu fällen. YhmʹDheers Helm wies eine Reihe von Dellen auf, ohne Zweifel die Spuren des unter dem Kristalldach stattgefundenen Kampfes. Atlan wollte den Gassuaren nur zurückdrängen. Jetzt sah es so aus, als hätte er ihn umgebracht! Oder spielte YhmʹDheer ihm wieder etwas vor? Langsam näherte Atlan sich ihm. Mit der Stange berührte er vorsichtig den Rand des weiten Helms. Augenblicklich wurde der Körper des Gassuaren wieder von heftigem Zittern durchlaufen. Er lebte! Atlan vergaß über seine Erleichterung nicht die Vorsicht. Aber YhmʹDheers Reaktion war nicht geschauspielert. Er mußte tatsächlich große Schmerzen verspüren, wenn der Helm berührt wurde, und der erste Schlag hatte eine verheerende Wirkung auf ihn gehabt. War der Helm tatsächlich mit den Haaren des Wesens verwachsen? Atlan zog sich den Schemel heran, setzte sich darauf und wartete darauf, daß YhmʹDheer sich aufrichtete. Er behielt die Stange schlagbereit in der Hand. »Kannst du mich hören?« fragte er. YhmʹDheers Arme und Beine zuckten, als wollten sie sich vom Körper selbständig machen. Die Punktaugen waren wie von einer milchigen Schicht überzogen. »YhmʹDheer!« »Was willst du?« kam es kaum hörbar vom Gassuaren. Er rührte sich nicht. Das Zucken der Gliedmaßen hatte aufgehört. Im Zustand der Benommenheit klang der fremdartige Dialekt stärker durch. »Mit dir reden«, sagte Atlan. »Tut mir leid, daß ich dich offenbar an einem wunden Punkt erwischt habe. Ich wollte nur …« »Du hättest mich töten können!« entgegnete YhmʹDheer heftig. Der milchige Schleier über seinen zehn Augen löste sich auf. Ächzend kam der Gassuare auf die Beine. »Der Helm ist ein Teil von mir!«
»Ich werde es tun, wenn du mir zu nahe kommst!« warnte Atlan ihn. »Bleib, wo du bist, und versuche erst gar nicht noch einmal, mich zu lähmen. Es ist dein Pech, daß ich dich jetzt besser kenne, mein Freund.« »Ich bin nicht dein Freund, du Unglücklicher! Weißt du, was du angerichtet hast, indem du hierherkamst? Du kanntest das Kodewort nicht und ließest dich doch in diese Anlage abstrahlen. Damit hast du alles zerstört!« »Was?« »Es ist nicht mehr unter Kontrolle zu bringen! Über diese Anlage hätte ich Einfluß auf die Seele von Dorkh nehmen können!« »Du glaubst also, daß sie für den Tod der Dorkher verantwortlich ist?« »Natürlich nicht! Aber sie könnte das, was unter der Kuppel ist, neutralisieren.« »Bist du sicher?« »Natürlich nicht!« schrie YhmʹDheer wieder, und zum erstenmal ließ er seine Maske fallen. Er war nicht das beherrschte Wesen, das er zu sein vorgab, sondern hatte schreckliche Angst. »Aber es wäre eine Chance gewesen! Eine Chance, begreifst du denn nicht? Was unter der Kuppel ist, läßt sich nicht aufhalten, es sei denn …« YhmʹDheer drehte sich zu dem Pult um, an dem er gesessen hatte. Ein Bildschirm war dunkel. »Der Kontakt ist abgerissen, bevor er überhaupt zustande kommen konnte! Daran bist du schuld, weil du als Unberechtigter die Anlage betratst.« »Und du bist berechtigt?« fragte Atlan lauernd. Auch er spürte, wie die Angst sich wieder in sein Bewußtsein schieben wollte. Sie sprang von YhmʹDheer auf ihn über. »Jeder ist es, der das Kodewort nennt.« Atlan sah keinen Sinn darin, über vertane Chancen, die vielleicht niemals wirklich bestanden hatten, zu diskutieren. Die Zeit verstrich. Er sah YhmʹDheer durchdringend an und hob drohend die Eisenstange.
»Was ist es, YhmʹDheer? Was verbirgt sich unter der Kuppel? Ich war dort, und es gab nichts außer der Seele von Dorkh und den Seelenwächtern.« Der Gassuare wich bis zur Wand zurück, als hätte Atlans direkte Frage ihn körperlich bedroht. Er stand unter Schockeinwirkung, das war ganz klar zu erkennen. »Was ist unter der Kuppel?« Atlan schrie es heraus, als er keine Antwort erhielt. Plötzlich waren die Bilder des Grauens wieder da. Er sah die rasenden Dorkher vor sich und hörte ihre entsetzlichen Schreie. Atlan stand auf und stieß mit einem Fuß den Schemel beiseite. Drohend näherte er sich dem Gassuaren, vom Zorn fast überwältigt, als er nun denjenigen, der, wie er annehmen mußte, eine Teilschuld an dem schrecklichen Geschehen gehabt hatte, zitternd vor sich sah. Er wollte ihn nicht unnötig quälen, aber er mußte wissen, was geschehen war. Zum drittenmal fragte er: »YhmʹDheer, was ist unter der Kuppel? Verdammt, wenn du nicht redest, schlage ich deinen Helm entzwei!« Atlan hatte die Eisenstange mit beiden Händen gepackt und hob sie nun in die Höhe. YhmʹDheers Körper begann zu glänzen, als dicke Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit aus seinen Poren hervorquollen. Der Gassuare hatte die Augen auf die Stange gerichtet und zitterte am ganzen Körper. Aber er sagte nichts. Atlan riß die Stange über den Kopf, stieß einen Schrei aus und ließ sie nur um Zentimeter am silberfarbenen Helm vorbei zu Boden sausen. YhmʹDheer kreischte laut und ging in die Knie. Da wußte Atlan, daß das, was den Gassuaren am Reden hinderte, stärker war als selbst die Angst zu sterben. Der Schock saß tief, und Atlan fragte sich, was einen so hartgesottenen Burschen wie den Anführer der Gassuaren in einen solchen Zustand versetzen konnte. Er hat das Massaker aus nächster Nähe erlebt, meldete sich der
Extrasinn. Er war unter den Kämpfenden und sah seine Artgenossen sterben! Aber kurz darauf war er dafür schon wieder sehr mobil, dachte der Arkonide. Etwas anderes muß ihn lähmen. Wenn er nicht irr redet und tatsächlich etwas unsagbar Fremdes unter der Kuppel lebt – wie monströs muß dieses Leben sein, wenn es aus einem Wesen wie YhmʹDheer ein zitterndes Etwas machte? Atlan spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Er ging zurück zur Mitte des Raumes, richtete den Schemel wieder auf und setzte sich darauf. Lange sahen er und der Gassuare sich schweigend an. Atlan wußte, daß er so nicht weiterkam. In seinem augenblicklichen Zustand würde YhmʹDheer ihn vermutlich sogar willig aus dieser Anlage ins Freie führen. Aber das konnte nun warten. Er mußte seine Fragen anders stellen. »Wer bist du wirklich, YhmʹDheer? Warum kamt ihr nach Dorkh – du und deine fünf Gefährten?« Der Gassuare kam nicht näher, aber allmählich wurde er ruhiger. Er wuchs ein Stück in die Höhe. »Wir Gassuaren sind das favorisierte Hilfsvolk des Neffen Germen Zurm«, sagte er langsam. Atlan kniff die Augen zusammen. »Germen Zurm?« »Du kennst ihn nicht?« kam es überrascht von YhmʹDheer, der sich zusehends erholte, aber auch daran war Atlan inzwischen gewöhnt. »Natürlich, ihr könnt Germen Zurm nicht kennen. Er ist der Herrscher des Terfen‐Reviers.« »Terfen‐Revier«, wiederholte Atlan murmelnd. »Weißt du, wo sich dieses Revier befindet? Wo in der Schwarzen Galaxis, meine ich.« »Von wo kamt ihr?« fragte der Gassuare. »Aus dem Rghul‐Revier«, sagte Atlan. »Jedenfalls waren wir dort, bevor wir vom Neffen Duuhl Larx hierhergeschickt wurden.« Er versuchte, die Nachricht zu verdauen. »Dann befand sich Dorkh schon lange im Terfen‐Revier?«
»Der Dimensionsfahrstuhl kam in diesem Revier zum Stillstand. Er materialisierte unverhofft und ließ sich nicht weiterbewegen«, lautete YhmʹDheers Auskunft. Täuschte sich Atlan, oder lag ein spöttischer, abwertender Unterton in seiner Stimme, als er hinzufügte: »Das Rghul‐Revier. Ich verstehe. Das Terfen‐Revier grenzt an Duuhl Larxens Machtbereich an.« Atlan fragte sich, was sich Duuhl Larx von einem Dimensionsfahrstuhl versprochen haben mochte, der in einem anderen Revier gestrandet war. Ein Hilfsabkommen mit Germen Zurm? Oder wollte er sich Dorkh selbst unter den Nagel reißen? Rote Lichtschauer mischten sich plötzlich in die weiße Beleuchtung. Atlan zuckte zusammen. »Wir können nicht mehr lange in der Anlage bleiben«, sagte YhmʹDheer schnell. »Sie hat dich als Unberechtigten erkannt und trifft Vorbereitungen, uns abzustoßen.« »Wie lange haben wir noch?« »Einige Minuten«, antwortete der Gassuare ohne Anzeichen von Panik. »Warum kamt ihr her?« wiederholte Atlan seine Frage deshalb. YhmʹDheer würde ihn früh genug warnen, falls sie direkt bedroht sein sollten, denn es ging auch um sein Leben. »Germen Zurm schickte eine Anzahl von Agenten aus, nachdem feststand, daß der Dimensionsfahrstuhl sich nicht aus eigener Kraft wieder bewegen würde. Sie erreichten allesamt nichts. Viele wurden von den Dorkhern selbst getötet. Die anderen scheiterten an den SCHLOSSHERREN, die alle Fremden entweder sofort umbringen oder verhaften und einsperren ließen. Nachdem schließlich klar wurde, daß Germen Zurm weder den Grund für den unplanmäßigen Halt des Dimensionsfahrstuhls in seinem Revier erfahren noch Dorkh wieder flottmachen konnte, ließ der Dunkle Oheim selbst über einen Koordinator der Ewigkeit sechs Agenten mit besonderen Kenntnissen ausstatten.«
»Das wart ihr«, sagte Atlan. »Ja.« Die Geschichte, die YhmʹDheer jetzt erzählte, klang einleuchtender als sein Märchen von den überrumpelten Raumpiraten. Nur eines sah Atlan nicht ein. »Warum hat Germen Zurm nicht versucht, Dorkh zu erobern?« fragte er, wobei er daran dachte, daß Pthor drei Invasionen nacheinander erlebt hatte – durch die Scuddamoren des Neffen Chirmor Flog, die Trugen des Duuhl Larx und schließlich die Ugharten Thamum Ghas. »Du weißt wirklich wenig«, sagte YhmʹDheer. »Kein Dimensionsfahrstuhl, dessen Herren noch leben, darf von einem Neffen eingenommen werden.« Die Herren der FESTUNG waren nicht mehr am Leben gewesen, als Pthor in die Schwarze Galaxis eindrang … Die roten Lichtblitze huschten nun in schnellerer Folge über das Gesicht des Gassu‐aren und die blinkenden Instrumente schufen verwirrende Lichtspiele. Atlan wurde unruhig, aber YhmʹDheer schien noch keinen Grund zur Flucht zu sehen. »Auch wir sechs scheiterten zunächst«, fuhr er ungefragt fort. »Wir wurden gefangengenommen wie die anderen Agenten vor uns. Wir hatten nicht die Zeit, unsere speziellen Kenntnisse zu verwerten. Erst als die SCHLOSSHERREN starben und ihr uns befreitet, konnten wir darangehen, gewisse Geräte zu aktivieren.« Oh ja, dachte Atlan grimmig. Er erinnerte sich sehr gut an die Begleitumstände. »Und nun?« fragte er, allmählich doch besorgter werdend. Wie reagierte diese Anlage auf ›Unberechtigte‹? »Was habt ihr erreicht?« YhmʹDheer starrte ihn sekundenlang schweigend an. Atlan ahnte, daß er wieder zu weit gegangen war, und die Antwort des Gassuaren gab ihm die Bestätigung. »Ich bin der einzige Überlebende. Meine fünf Gefährten starben
unter dem Kristalldach.« Atlan stand auf. Die Lichtblitze wurden greller und schmerzten an den Augen. »Wir sind nicht in direkter Gefahr«, erklärte YhmʹDheer. Fast schien es so, als wollte er solange wie möglich in dieser Anlage bleiben. Warum? Hatte er solche Angst vor »draußen«? Noch immer hatte Atlan die Eisenstange in der Hand. Er wußte nicht, was geschehen würde. Vielleicht log YhmʹDheer, und sie beide würden die Reaktion der Anlage nicht überleben. Vielleicht sehnte er den Tod herbei. »Eines muß ich noch wissen«, knurrte der Arkonide, um sich endgültige Gewißheit zu verschaffen. »Habt ihr den Tod der Dorkher verursacht, nachdem ihr mit eurem Gerät in der Kuppel verschwunden wart?« »Nein!« schrie YhmʹDheer auf. »Wir wollten es nicht! Es hat doch auch meine Gefährten umgebracht, und ich konnte nur wie durch ein Wunder entkommen!« »Was wolltet ihr dann mit eurem Gerät? Wie lautete euer Auftrag?« Auch Atlan schrie jetzt. Seine Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. Irgend etwas geschah – in diesem Augenblick. Etwas baute sich auf. Die roten Blitze folgten nun so schnell aufeinander, daß Atlan Mühe hatte, seine Umgebung zu erkennen. YhmʹDheer schrie gellend auf. Sein Schrei vermischte sich mit einem Dröhnen und Singen, das Atlans Sinne für Augenblicke lähmte. Der Arkonide hatte die Hände gegen die Schläfen gepreßt und schrie noch, als er im Gras neben dem Fahrzeug lag, mit dem er den Gassuaren verfolgt hatte. YhmʹDheer lag neben ihm und bewegte sich nicht. Die grünliche Flüssigkeit auf seinem Körper trocknete innerhalb von Sekunden aus und bildete eine harte Kruste.
4. Atlan befand sich tatsächlich wieder genau da, von wo er entmaterialisiert worden war. Zumindest die Abwehr von Unbefugten durch die Anlage, in der er sich eben noch befunden hatte, geschah auf sehr humane Art und Weise. Atlan hatte keine Ahnung, wo sich diese Anlage befand. Vielleicht direkt unter ihm? Er richtete sich auf. Nur im Nacken verspürte er noch einen ziehenden Schmerz. Die Umgebung hatte sich nicht verändert. Weit und breit war kein lebendes Wesen zu sehen. Atlan hockte sich neben YhmʹDheer nieder und legte seine Hand auf den Oberkörper des Gassuaren. YhmʹDheer war noch warm, und unter der von grüner Kruste überzogenen Haut pulsierte es leicht. Erleichtert atmete Atlan aus. YhmʹDheer war offensichtlich nur bewußtlos. Er wußte viel mehr, als er ihm gesagt hatte. Durch Gewalt war ihm sein Wissen nicht zu entlocken. Aber es war ungemein wichtig für Atlan und seine Gefährten. Vielleicht hing ihr Leben davon ab. Atlan sah nur eine Möglichkeit, YhmʹDheer doch noch zum Sprechen zu bringen. Er mußte ihn zu den beiden Magiern schaffen. Vielleicht gelang es diesen, das aus ihm herauszuholen, was tief in seinem Unterbewußtsein blockiert war. Aber zuerst mußte er mit ihm zur TZAIR zurück, um mit Razamon und Grizzard schnellstens aus der Nähe der Kristallkuppel zu verschwinden, bis er Genaueres über das wußte, was dort geschehen war und noch geschehen sollte. Atlan stand auf und ging zum Wagen. Nach kurzem Suchen fand er einige dünne Seile in einem Fach unter der Sitzbank. Er drehte YhmʹDheer auf den Bauch und band die Ärmchen mit den gefährlichen Tentakelhänden so fest wie möglich zusammen, überprüfte den Sitz der Fesseln und drehte den Gassuaren wieder auf den Rücken.
Sein Zorn auf YhmʹDheer war geschwunden. Bei allem Mißtrauen nahm er ihm die Behauptung ab, nichts mit dem Massensterben der Dorkher zu tun zu haben. Atlan brauchte all seine Kraft, um YhmʹDheer auf seine Arme zu nehmen und ihn auf die Ladefläche des Fahrzeugs zu legen. Der Gassuare war so schwer wie zwei ausgewachsene Männer zusammen. Atlan umwickelte ihn zusätzlich mit Seilen und befestigte deren Enden so an den Begrenzungsstangen der Ladefläche, daß YhmʹDheer nicht vom Wagen geschleudert werden konnte. Dann ließ er sich in die Sitzbank fallen, atmete tief durch und startete den Wagen, wendete ihn und jagte ihn den Hügel hinauf. Als er die Kuppe erreicht hatte, brachte er das Fahrzeug so abrupt zum Stehen, daß sein Oberkörper gegen die Kontrolleiste prallte. Von hinten hörte er ein Stöhnen, aber er drehte sich nicht um. Entsetzt und mit dem Gefühl, zu spät gekommen zu sein, sah er, wie die Kristallkuppel zwischen den Sternschiffen wieder heller strahlte, fast so hell wie vor dem Massensterben der Dorkher. Und das war nicht alles. Dorkher und Technos, kleine dunkle Punkte in der Ferne, rannten wie aufgescheuchte Ameisen durcheinander. Chreeans, sowohl die Reittiere der angereisten Dorkher als auch die auf Töten abgerichteten Mörder‐Chreeans, die sich auf einen Befehl der Macht unter der Kristallkuppel von Dorkhern und Technos gelöst und das Weite gesucht hatten, wüteten wieder unter den Bewohnern des Dimensionsfahrstuhls. Diese schienen allesamt nichts von dem wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Sie liefen vor den Bestien nicht fort und starben in den tödlichen Fängen der Tiere. Selbst Tarpane, die Reit‐ und Zugtiere der Zukahartos, waren nun vereinzelt zu sehen. Einer der großen Transporter, der offensichtlich Leichen von der Kristallkuppel in eine der Lagerhallen rings um die Sternschiffe herum bringen sollte, lag umgestürzt neben der Halle. Flammen
züngelten an der Mauer des Gebäudes empor, wo das außer Kontrolle geratene Fahrzeug es gerammt hatte. Atlan schluckte. Er versuchte zu erkennen, ob sich einzelne Gruppen wieder der Kristallkuppel näherten. Noch schien dies nicht der Fall zu sein. Doch allein die Furcht vor einer Wiederholung des Dramas ließ Atlan verzweifeln. Er drehte sich zögernd um, als YhmʹDheer wieder stöhnte. Der Gassuare war bei Bewußtsein und versuchte, seine Fesseln zu sprengen. Atlan hatte Mitleid mit ihm. Die neuerliche Aktivität der Kuppel – oder dessen, was sich unter ihr breitgemacht haben mochte – war der letzte Beweis dafür, daß die Gassuaren tatsächlich unschuldig am Tod der Pthorer waren. »Ich kann dir nicht helfen«, murmelte Atlan. Es war nicht zu erkennen, ob YhmʹDheer ihn verstand. Nur eines war sicher: durch die Fesseln war YhmʹDheer in erster Linie vor sich selbst geschützt. Aber Grizzard war ohne Schutz! Atlans Hände tasteten nach der Kristallkugel, die noch immer an seinem Gürtel hing. Das, was jetzt wieder auf die Dorkher, Technos und Tiere wirkte, mußte auch Grizzard zur Raserei treiben. Und Razamon war bei ihm – hilflos! Atlan wartete nicht länger. Er mußte zur TZAIR, an außer Rand und Band geratenen Dorkhern und tobenden Chreeans vorbei. Er mußte Razamon und Grizzard holen – und dann gab es nichts mehr, das ihn hier halten konnte. Der Gedanke an eine Flucht mit der TZAIR war in weite Ferne gerückt. Mit zusammengebissenen Zähnen steuerte der Arkonide den Wagen den Hügel hinunter. * Grizzard war nicht mehr er selbst. Zitternd stand er neben Razamon und rüttelte immer wieder an dessen Schultern.
»Wach doch auf, bitte! Ich weiß nicht, was ich tun werde! Hilf mir! Bitte hilf mir doch!« Aber der Pthorer bewegte sich nicht. Grizzard bekam einen Weinkrampf. Er krümmte sich zusammen und verdrehte die Augen. Dann straffte sich sein Körper. Grizzard begann wie ein Irrer zu lachen und lief im Kreis herum, um nach Minuten wieder abrupt zum Stehen zu kommen. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Mit einem markerschütternden Aufschrei warf der steinzeitliche Jäger sich neben einem von den Gassuaren achtlos weggeworfenen schweren Schraubenschlüssel zu Boden, packte diesen und stürzte sich damit auf den Bildschirm, der die strahlende Kuppel zeigte. Mit zwei heftigen Schlägen zertrümmerte er den Monitor. Für Sekunden fühlte er sich durch seine Tat befreit. Doch durch die Zerstörung des Bildes ließ sich das, was von der Kuppel aus auf ihn wirkte, nicht aus der Welt schaffen. Wieder überfluteten die Wahnsinnsimpulse sein Bewußtsein. Grizzard schrie und tobte. Dann lachte er wieder und kicherte wie ein Kind. Er hatte den Schraubenschlüssel noch in der Hand, als er sich, äußerlich nun völlig ruhig, zu Razamon umdrehte. »Du gehorchst nicht!« flüsterte er mit irren Blick, während er sich dem Pthorer langsam näherte. Seine Mundwinkel zuckten. Ein böses Grinsen trat auf sein Gesicht. »Du gehörst nicht zu uns. Du bist anders.« Razamons Blick war starr an ihm vorbei gerichtet, als er dicht vor dem Pthorer stehenblieb. »Du bist eine Gefahr für uns«, flüsterte Grizzard. »Deshalb mußt du unschädlich gemacht werden. Du mußt sterben, Razamon!« Grizzard packte den Griff des Werkzeugs mit beiden Händen, hob die Arme zum tödlichen Schlag auf Razamons Schädel, zögerte einen Augenblick und schlug zu. Der Schraubenschlüssel zerfetzte das Polster des Sessels, in dem
Razamon eben noch gesessen hatte. Grizzard stieß einen heiseren Schrei aus und fuhr herum. »Du kannst dich nicht bewegen!« schrie er in plötzlicher Panik. Razamon stand vor ihm. Er war so schnell aufgesprungen und an ihm vorbeigehuscht, daß Grizzard die Bewegung nur schemenhaft wahrnehmen konnte. Razamon wartete den nächsten Schlag nicht ab. Seine rechte Faust stieß blitzschnell vor und traf Grizzard an der Schläfe. Die Beine des ehemaligen Jägers knickten in den Knien ein. Grizzard gab einen röchelnden Laut von sich, ließ den Schraubenschlüssel fallen und starrte Razamon ungläubig an. »Tut mir leid, mein Freund«, sagte der Pthorer. »Aber es muß sein.« Noch während er sprach, versetzte er Grizzard einen zweiten, gezielten Hieb. Grizzard brach bewußtlos zusammen. Razamon sah sich um. Dann riß er ein Kabel, das zwei Kontrollbänke miteinander verband, aus der Verankerung. Bei einem der Pulte blitzte es auf. Eine Reihe von Bildschirmen implodierte mit dumpfem Knall. Razamon fesselte Grizzards Arme und Beine mit dem Kabel. »Es ist besser für dich«, murmelte er. »Wenn wir dies hier lebend überstehen sollten, wirst du einsehen, daß mir nichts anderes übrigblieb.« Er trug den Bewußtlosen in eine Ecke der Zentrale und legte ihn dort ab. Razamon versuchte abzuschätzen, wieviel Zeit vergangen war, seitdem Atlan die TZAIR verlassen hatte. Er konnte es nicht. Es mochte noch Stunden dauern, bis der Arkonide zurückkehrte – wenn überhaupt. Atlans an Grizzard gerichtete Worte im Ohr, trug der Pthorer sich doch einige Augenblicke lang mit dem Gedanken, zur Kuppel zu gehen und dort nach dem Rechten zu sehen. Er spürte den von dort kommenden Strom von Impulsen wieder, doch mittlerweile fiel es
ihm leichter, die Beeinflussung abzuwehren. Immerhin wußte er, daß die im SCHLOSSGebiet befindlichen Wesen diesmal nicht aufgefordert wurden, zum Kristalldach zu kommen. Aber dies konnte sich ändern. Noch wurden sie nur in Raserei und Euphorie versetzt, und das in schnell wechselnder Folge. Razamon hatte das vage Gefühl, als wollte das, was unter der Kuppel war, vorerst nur verhindern, daß sie das SCHLOSS‐Gebiet verließen. Das vom Energieschirm umschlossene Gebiet hatte sich in ein einziges gigantisches Gefängnis verwandelt. Razamon schüttelte den Kopf. Er würde nicht zur Kuppel gehen. Er würde in der TZAIR bleiben, wie Atlan es gewollt hatte. Noch weiter durfte die ohnehin schon dezimierte kleine Gruppe sich nicht versprengen. Aber er würde nicht tatenlos abwarten. Razamon war entschlossen, das nachzuholen, was er und Atlan beim ersten Durchsuchen des Schiffes versäumt hatten. Er mußte die Feuerleitzentrale finden. Wenn er nicht kurz vor Grizzards Angriff wieder ein Gefühl in seine Glieder bekommen hätte, läge er jetzt tot dort im Sessel. Es durfte keine weiteren Opfer mehr geben – nicht, wenn er es verhindern konnte. Voller grimmiger Entschlossenheit verließ der Atlanter die Zentrale der TZAIR. * Atlan hatte ein ähnliches Gefühl wie Razamon, obwohl er nichts von dem spürte, was die Dorkher, Technos und Chreeans beeinflußte. Die rasende Fahrt kostete ihn seine ganze Konzentration, und er hatte keine Gelegenheit, sich allzu viele Gedanken zu machen. Nur eines spürte er instinktiv: Wenn das scheinbar sinnlose Herumirren,
Tanzen und Rasen der Beeinflußten einen Zweck haben sollte, dann konnte dieser nur darin bestehen, daß sie hier, wo sie sich befanden, festgehalten wurden. Warum, das ahnte der Arkonide dumpf, als er sah, daß die Mörder‐Chreeans nun keine Dorkher mehr angriffen. Sie tobten nach wie vor, ließen ihre Wut aber an Gebäuden und den verlassen in der Gegend herumstehenden Fahrzeugen der Technos aus. Es wurden keine Toten mehr aus der Kuppel geborgen. Nichts Sinnvolles geschah mehr. Niemand dachte mehr daran, mit den begonnenen Aufräumungsarbeiten fortzufahren. Atlan jagte den Wagen mit Höchstgeschwindigkeit über die Ebene. Immer wieder mußte er Chreeans ausweichen, die ihn rammen wollten. Zu seinem Glück war das Fahrzeug schneller als die Bestien und wendig genug. Dorkher, die ihn kommen sahen, kamen herangelaufen und wollten ihn von der Sitzbank zerren. Atlan konnte einige Male nur mit Glück verhindern, daß er einige von ihnen überfuhr. Er erreichte die größeren Sternschiffe und jagte knapp an der ZEFFIN vorbei. Die TZAIR wurde schnell größer. Hier befanden sich kaum noch Dorkher, so daß Atlan auf die zeitraubenden Ausweichmanöver verzichten konnte. Er hielt nicht an, als er die Rampe der TZAIR vor sich aufragen sah. Erst nachdem er die Schleuse passiert hatte, brachte er das Fahrzeug zum Stehen. YhmʹDheers Augen sahen ihn starr an. Die gesamte Erscheinung des Gassuaren war ein einziges Flehen, daß er ihm die Fesseln abnehmen sollte. Atlan schüttelte schweigend den Kopf und lief in Richtung Zentrale. Hier war YhmʹDheer sicher, und er hatte nicht vor, lange im Schiff zu bleiben. Er erreichte die Zentrale und blieb wie angewurzelt stehen, als er den Sessel, in dem Razamon gelegen hatte, leer vorfand. Als er dann Grizzard gefesselt und bewußtlos am Boden liegen sah, ahnte er, was geschehen war. Der Gedanke daran, daß Razamon entgegen seinen Anweisungen
doch zur Kuppel gelaufen sein könnte, drohte ihn zu lähmen. Nein, dachte er verzweifelt. So töricht kann er einfach nicht gewesen sein. Dann war er noch im Schiff – aber wo? Atlan erinnerte sich an Razamons Flüche, als er die Waffen der TZAIR nicht gegen die Kuppel einsetzen konnte, und wußte plötzlich, wo er zu suchen hatte. Innerlich verwünschte er den Pthorer und hoffte inbrünstig, daß er nicht zu spät kam. Ein Feuerschlag gegen die Kuppel konnte Auswirkungen haben, die er sich nicht einmal auszumalen fähig war, ganz abgesehen davon, daß er nun fester denn je davon überzeugt war, daß dem, was unter dem Kristalldach steckte, mit einem Energiebeschuß nicht beizukommen war. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Er erreichte die Feuerleitzentrale, als Razamon gerade den ersten Schuß auf die strahlende Kuppel abgab. »Nicht!« schrie er entsetzt. »Hör auf damit!« Razamon fuhr herum. Erleichterung stand in seinem Blick, aber auch die Entschlossenheit, sich nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. »Laß mich, Atlan!« rief der Pthorer. »Sieh lieber auf die Schirme. Wir …« Er brachte kein Wort mehr hervor. Alle Bildschirme der Nebenzentrale zeigten die Kuppel und das, was jetzt bei ihr vorging. Dort, wo der Energiestrahl eingeschlagen war, stand nun eine Blase aus reiner, hellblau leuchtender Energie. Über dem Kuppeldach bildeten sich blutrote Adern, die auf die Blase zuflossen und mit ihr verschmolzen. In Sekundenschnelle entstand eine Art Trichter über ihr. Atlan, der fassungslos auf die Schirme starrte, wurde an eine Windhose erinnert. Aber diese »Windhose« sog die Energie aus der Blase und wirbelte sie in die Höhe, bis sie den Energieschirm über dem SCHLOSS erreicht hatte. Grelle Lichtblitze zuckten über das Land. Atlan schloß geblendet die Augen. Razamon
schrie auf. Dann war der Spuk vorbei. Das Kristalldach lag so im Zentrum der Senke, wie Atlan es gesehen hatte, bevor er die TZAIR betreten hatte. Es gab nicht die Spur einer Beschädigung. »Es war sinnlos!« rief der Arkonide. »Sinnlos und dumm! Das Fremde wird reagieren, Razamon! Wir müssen weg von hier!« Der Pthorer sah ihn betroffen an. »Los!« rief Atlan. Er packte Razamon am Arm und zog ihn mit sich. »Wir holen Grizzard. Ich habe einen Wagen!« »Der Einfluß ist fast erloschen«, rief Razamon im Laufen. »Die Impulse kommen nur noch ganz schwach aus der Kuppel!« »Du kannst dich darauf verlassen, daß sich dies ändert!« Atlan hob Grizzard vom Boden auf und lud ihn sich über die Schulter. Einen Augenblick dachte er daran, ihm die Kugel zurückzugeben, aber irgend etwas hinderte ihn daran. Sie rannten durch den Korridor und erreichten den Wagen. Razamon stieß einen Laut der Überraschung aus, als er YhmʹDheer gefesselt auf der Ladefläche liegen sah. »Laß ihn in Ruhe«, sagte Atlan schnell, um einer unbeherrschten Reaktion des Freundes zuvorzukommen. »Ich erkläre dir alles später!« Atlan legte Grizzard neben den Gassuaren, der nun völlig ruhig war und Razamons Worte zusätzlich bestätigte. Vielleicht war das Etwas in der Kuppel doch durch den Beschuß geschwächt worden. Vielleicht hatte es einen Schock erlitten. Aber es würde ihn überwinden, und was dann geschah, wollte Atlan lieber aus weiter Ferne erleben. Razamon sprang neben ihm auf die Sitzbank. Atlan ließ den Wagen rückwärts die Rampe hinunterfahren, wendete und beschleunigte mit Höchstwerten. Die fünf größeren Schiffe lagen gerade hinter ihnen, als das geschah, was der Arkonide befürchtet hatte. Die Macht in der Kuppel schlug zurück.
* Es schien, als hätten die herumirrenden Dorkher und Technos, ja selbst die Tiere begriffen, daß die kurze Schwäche dessen, was sie beherrschte, ihre Chance zur Flucht war. Noch immer lachten und tobten sie, doch es war nicht zu übersehen, daß sie sich dabei schnell von der Kuppel und den Sternschiffen zu entfernen versuchten. Im Gegensatz zu vorher versuchten die Technos nicht, Trümmer beiseitezuräumen. Sie machten auch keine Anstalten, weitere Leichen aus der Kuppel zu holen oder die noch vor ihr liegenden abzutransportieren. Sie bewegten sich wie die Dorkher auf die Hügel zu. Und was Atlan am meisten verblüffte, war, daß sie wie er den direkten Weg zum Tor im Energieschirm suchten. Sie kamen nicht weit. Von einem Augenblick zum anderen fielen sie ganz einfach um. Reglose Körper lagen weit verstreut am Rand der Ebene und auf den Hängen der Hügel. Atlan fuhr noch immer mit Höchstgeschwindigkeit. Alles in ihm verkrampfte sich, als er sah, was um ihn herum geschah. Bedrückende Stille legte sich über die Landschaft, nur vom Motorengeräusch durchschnitten. Neben Atlan sank Razamon in sich zusammen. Der Pthorer hatte die Fäuste geballt und die Augen weit aufgerissen, so als hätte er die Gefahr erkannt und verzweifelt versucht, sie abzuwehren. Als Atlan zwei Dorkhern ausweichen mußte, fiel er von der Sitzbank und genau auf Atlans Füße. Atlan versuchte, ihn mit einer Hand zurückzuschieben. Daß auch Razamon, der gegen die Zwangsimpulse aus der Kuppel fast immun geworden war, ihnen nun erlegen war, zeigte nur zu deutlich, mit welcher Kraft der Gegenschlag erfolgt war. Nichts sollte das SCHLOSS‐Gebiet verlassen dürfen …
Atlan brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wie es um Grizzard und YhmʹDheer bestellt war. Panik drohte ihn zu übermannen. Er achtete nicht mehr auf den Weg, hatte nur einen Gedanken. Fort von hier! Er war der einzige, der noch in der Lage war, zu handeln, der einzige wirklich Immune! Razamons Körper schob sich weiter über seine Füße. Atlan bückte sich, um Razamon fortzuschieben. Nur eine Hand lag noch auf der Kontrolleiste. Atlan steuerte das Fahrzeug, so gut es ging. Und das reichte nicht. Als er den spitzen Felsen vor sich sah, war es zu spät. Er schrie auf, riß sich beide Hände vors Gesicht und sprang im letzten Augenblick aus dem offenen Wagen. Er landete hart und hatte das Gefühl, irgend etwas wäre in seinem Gehirn explodiert. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Atlan spürte, wie er ein Stück den Abhang hinunterrollte. Ganz kurz sah er den Stein auf sich zukommen. Dann schlug er mit dem Hinterkopf hart auf. Augenblicklich verlor er das Bewußtsein. Er lag am Boden – einer von vielen, die sich nicht mehr rühren konnten. Nichts bewegte sich mehr, so weit das Auge reichte. Die Stille war vollkommen. Niemand war da, der sehen konnte, wie die an Atlans Gürtel hängende Kugel zu leuchten begann, immer stärker, bis kleine Flämmchen aus den sie verhüllenden Tüchern schlugen und diese verzehrten.
5. Da es nun weder Tag noch Nacht auf Dorkh gab, waren seine intelligenten Bewohner auf ihre »innere Uhr« angewiesen, wenn sie versuchten, die Zeit abzuschätzen. Asparg und Fiothra, die beiden jungen Magier aus dem Lande Shatna, saßen gegen die Wand einer kleinen Baracke gelehnt, die ihnen als Unterkunft diente, seitdem sie den Energieschirm erreicht hatten. Alle Dorkher, die versucht hatten, ihnen die Baracke streitig zu machen, hatten sie mit ihren magischen Fähigkeiten auf Distanz halten können. Von hier aus konnten sie den blutrot leuchtenden Torbogen sehen, vor dem sich Scharen von Dorkhern drängten, um hinaus in die Freiheit zu gelangen. Es gab kein Durchkommen. Das Tor war verschlossen. Eine unsichtbare Wand hinderte jeden daran, das SCHLOSS‐Gebiet zu verlassen. Paradoxerweise hatten die Magier, als sie sich durch die rasende Menge gedrängt hatten, sehen können, daß auch von draußen Scharen von Dorkhern gegen die unsichtbare Barriere anrannten. Die hier eingeschlossenen Wesen zerfleischten sich fast gegenseitig, um so nahe wie möglich an die Barriere zu gelangen, damit sie als erste in die Freiheit gelangen konnten, falls die Energiewand wie durch ein Wunder zusammenbrach. Die Angst vor dem, das selbst bis hierhin reichte, trieb sie in den Wahnsinn. Daß die draußen wartenden Dorkher so versessen darauf waren, zum SCHLOSS zu gelangen, konnte nur bedeuten, daß jenseits des Energieschirms die schrecklichen Impulse aus der Kuppel nicht zu spüren waren – und daß somit die Macht dessen, das sie verstrahlte, den aus mehreren verschiedenen Schichten bestehenden Schirm nicht durchdringen konnte. Die Energiebarriere im Tor ließ keinen Laut durch. Die Eingeschlossenen konnten ihre freien Artgenossen nicht einmal warnen. Diejenigen, die versuchten, dies durch Gesten zu tun,
machten sie nur noch neugieriger. Es hatte die beiden Magier viel Kraft gekostet, sich bis hierher durchzuschlagen. Fast hätten sie es nicht geschafft. Nur dem Umstand, daß sie ähnlich wie Razamon gelernt hatten, die Zwangsimpulse, die sie mit aller Gewalt zur Kristallkuppel locken wollten, immer besser abzublocken, war es zu verdanken, daß sie nicht auf halbem Weg umgekehrt und mit den ausgewählten Dorkhern zusammen in den Tod gegangen waren. Ausgewählt, ja. Was nach dem Abzug der Chreeans und der Technos nur eine Vermutung gewesen war, hatte sich bestätigt, als Asparg und Fiothra die Hügel überquert und den Energieschirm erreicht hatten. Längst nicht alle im SCHLOSS‐Gebiet befindlichen Dorkher waren dem Ruf zur Kuppel gefolgt, obwohl die meisten von denen, die die Magier auf ihrem Weg getroffen hatten, Zeit genug gehabt hätten, um sich vor der Kuppel einzufinden, bevor der Befehl erging, in sie einzudringen. Was im Zentrum des SCHLOSSES geschehen war, wußten Asparg und Fiothra von einigen Dorkhern, die sich bis zum Rand der Senke vorgewagt und gesehen hatten, was dort geschah. Die Magier selbst waren beim Energieschirm geblieben, wie es Atlans Wunsch gewesen war. Nun war keiner derjenigen, die sich vor dem Tor zusammendrängten, mehr ansprechbar. Sie lachten und sangen nicht mehr. Hier, in unmittelbarer Nähe des Schirmes, spürten sie nur furchtbare Angst. Die Magier hatten sich lange darüber die Köpfe zerbrochen. Auch jetzt, als sie spürten, daß die Impulse aus dem SCHLOSS‐Zentrum plötzlich schwächer wurden und fast gänzlich erstarben, starrte Asparg gedankenversunken auf das blutrote Tor und sagte wie zu sich selbst: »Es muß am Energieschirm liegen. Seine Struktur muß so beschaffen sein, daß sie die Impulse aus der Kuppel umwandelt. Er kann sie nicht neutralisieren, aber er verwandelt sie.«
»Wir sollten nicht länger warten, Asparg«, sagte Fiothra vorwurfsvoll. »Wir sollten Atlan, Razamon und Grizzard wenigstens entgegengehen.« »Grizzard ist sicher tot«, murmelte Asparg. »In der Verfassung, in der er sich befand, hatte er allein keine Chance gegen dieses … Tollhaus.« »Du versuchst abzulenken, Asparg!« Der junge Magier drehte den Kopf und sah Fiothra ernst in die blauen Augen. Er brauchte ihr nicht zu sagen, daß er Angst hatte, die gleiche Angst wie die Dorkher und wie Fiothra selbst. »Und was ist, wenn wir uns verfehlen?« versuchte Asparg seinen Entschluß weiter vor sich herzuschieben. »Wenn unsere Freunde hierherkommen und uns nicht vorfinden?« »Wir können ihnen nicht helfen, indem wir untätig herumsitzen, wenn du schon glaubst, sie wären auf unsere Hilfe angewiesen«, beharrte Fiothra auf ihrem Standpunkt. Sie stand auf und streckte sich. »Vielleicht sind sie in Not. Sonst müßten sie längst hier sein.« Wie lange sind wir schon hier? fragte sie sich. »Oder tot«, murmelte Asparg. »Atlan schickte uns fort, bevor das Schreckliche geschah. Wer sagt uns, daß sie nicht auch …?« »Sie leben!« rief Fiothra zornig. »Ein Mann wie Atlan weiß, was er tut. Er wußte es auch, als er sagte, wir sollten zum Tor gehen! Wir verdanken ihm unser Leben!« »Zum Tor sollten wir gehen«, bestätigte Asparg. »Und dort warten.« Fiothra gab keine Antwort mehr. Sie wandte sich von ihm ab und starrte zu den Hügeln, hinter denen die Ebene lag. Einige Gestalten erschienen nun dort oben und kamen langsam näher. Fiothra war erstaunt. Es war Stunden her, seit die letzten Dorkher aus ihren Verstecken überall in den kahlen Hügeln gekommen waren, um sich hier zusammenzudrängen. Hatte das Fremde in der Kuppel diejenigen, die sich noch in der Nähe der Senke befanden, freigegeben?
Sie konnte es sich nicht vorstellen. Die Ruhe war trügerisch. Und es dauerte nicht lange, bis sie die Bestätigung für ihre finsteren Ahnungen bekam. Die Macht in der Kuppel schlug erneut zu. Augenblicklich schirmten die Magier sich gegen den Schwall von Impulsen ab, der über sie hinwegfegte. Doch es kostete sie all ihre Kraft, sie abzuwehren. Sie waren um ein Vielfaches stärker als vorhin. Asparg und Fiothra spürten, wie ihre Glieder schwer wurden, und hatten gegen eine plötzliche Müdigkeit anzukämpfen. Irgend etwas wollte sie zu Boden ringen, all ihre Kraft aus ihren Körpern nehmen. Dann, von einem Moment zum anderen, traf sie eine Welle genau entgegengesetzter Impulse. Die Müdigkeit wich einer schier unerträglichen Anspannung. Fiothra taumelte und ließ sich fallen. Asparg stöhnte und wälzte sich neben ihr am Boden. Fiothra hatte das Gefühl, ihr Körper müßte auseinanderreißen. Sie wollte unzählige Dinge auf einmal tun. Hitze breitete sich in ihr aus. Ihr Körper schien zu brennen. Etwas putschte sie auf. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft dagegen, aktivierte ihre magischen Sinne und konnte den Einfluß zurückdrängen. Schwer atmend blieb sie am Boden liegen. Sie fühlte sich elender als jemals zuvor in ihrem Leben. Erst nach einiger Zeit, als sie wieder klar denken konnte, erkannte sie, daß nicht sie es geschafft hatte, den fremden Einfluß abzublocken, sondern daß die Impulse selbst schwächer geworden waren. Ihre Intensität war wieder auf ein Maß reduziert, das sie ertragen und abwehren konnte. Erst jetzt nahm sie die Schreie der Dorkher vor dem Torbogen bewußt wahr. Jemand berührte ihre Hand. Asparg. Fiothra drehte das Gesicht und konnte sich aufrichten. Neben Asparg blieb sie sitzen und versuchte zu verstehen, was er sagte. Der von den Dorkhern veranstaltete Lärm war zu groß. Asparg mußte schreien, um sich ihr verständlich zu machen: »Du hattest recht, Fiothra!« brüllte er. »Wir müssen ihnen entgegengehen. Vermutlich sind nun alle, die sich nicht in
unmittelbarer Nähe des Schirms befinden, gelähmt!« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Dorkher, die über die Hügel gekommen waren, aber nicht nahe genug an den Energieschirm heran, um den Impulsen zu entgehen. Fiothra begriff. Die bleierne Müdigkeit – das war die Wirkung des Primärimpulses gewesen, der aus der Kuppel kam. Er stieß auf den Energieschirm und wurde in sein Gegenteil umgekehrt. Und er wirkte immer noch nach. Die Dorkher am Tor gebärdeten sich noch rasender. Einige versuchten aufeinanderzuklettern, um in sinnlosem Bemühen am Torbogen emporzuklimmen. Das war auch schon das Höchstmaß an Zusammenarbeit, dessen sie fähig waren. Jeder handelte nur für sich. Die Angst war stärker als je zuvor. Die Macht unter der Kuppel im SCHLOSSZentrum hatte mit einem einzigen Schlag alles gelähmt, was sich in ihrem Einflußbereich befand, bis auf jene, die durch den Energieschirm auf recht zweifelhafte Weise geschützt wurden. Die nun schwächeren Impulse schienen die Gelähmten lediglich in ihrem Zustand zu konservieren. Asparg nahm Fiothra bei der Hand und half ihr auf die Beine. Er nickte ihr zu. Die beiden Magier setzten sich in Bewegung. Niemand nahm von ihnen Notiz. Die Wesen am Tor waren mit sich selbst beschäftigt, und die reglos Daliegenden sahen vielleicht nicht einmal, wie Asparg und Fiothra auf ihrem Weg zum SCHLOSS‐Zentrum an ihnen vorüberkamen. * Atlan lag völlig still. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, als die letzten Reste der verkohlten Tücher von der Kristallkugel abfielen und deren Leuchten sich schnell verstärkte. Eine Glocke aus violettem Licht schob sich über den Körper des Arkoniden und
hüllte ihn völlig ein. Atlans Bewußtsein lag hinter einer Barriere aus Schwärze, in die sich langsam und behutsam winzige Lichtpunkte schoben, schwach zunächst und flackernd, dann allmählich heller werdend. Sie breiteten sich aus, und erste Risse entstanden in der Schwärze. Dann fiel die Mauer. Während der Arkonide reglos zwischen Dutzenden von Gelähmten lag und die Bedrohung aus der Kuppel stärker war als je zuvor, versank sein Bewußtsein in einer anderen Welt. In mancher Hinsicht glich das, was nun mit ihm geschah, dem, was er vor der Rampe der PYRT erlebt hatte, als YhmʹDheer ihn durch eine Heraufbeschwörung von realen und traumhaften Erinnerungen an seiner Verfolgung hinderte. Doch die Vision, die nun von ihm Besitz ergriff, war um ein Vielfaches totaler. Leise, wispernde Stimmen waren in seinem Bewußtsein. Aus Licht und Farbe entstanden erste Bilder. Atlan sah sich in einer völlig fremden und doch so vertrauten Umgebung, und er war nicht mehr länger Atlan, der Arkonide, sondern LayʹTolʹEsh, der Mann aus dem Volk der TayʹLebarra. Er war das Wesen, dessen Geschichte seit Jahrtausenden in jenem Kristall festgehalten war, den Grizzard zusammen mit dem Dorkher Zyffhan aus einem in die Hügel getriebenen Stollen geborgen hatte. * LayʹTolʹEsh warf einen letzten Blick von der Rampe herab auf diejenigen, die gekommen waren, um ihm Lebewohl zu sagen und die Entmaterialisation der Kapsel an Ort und Stelle mitzuverfolgen. Jeder von ihnen wußte, daß es ein Abschied für immer war. LayʹTolʹEsh war der erste seines Volkes, der den Versuch unternehmen sollte, kraft der durch jahrhundertelange Konditionierung gewonnenen Geisteskräfte eine Samenkapsel zu einer anderen Welt zu tragen – der erste von insgesamt
zwölf Paranauten. Der TayʹLebarra winkte den Wartenden ein letztesmal mit allen vier dünnen Armen zu und schwang sich in die Kapsel, ein drei Meter hohes und zwei Meter breites Ei auf einem ringförmigen Gestell. Mit dem Schließen der Luke brach er die letzte Brücke zu seiner Heimatwelt ab. Auch falls der Sprung gelang, würde er den Rest seines Lebens auf Dheeder, dem Zielplaneten, verbringen und darüber wachen, daß der Same seines Volkes aufging. LayʹTolʹEsh saß in einem schalenförmigen Sitz und schloß die Augen. Was jetzt geschah, war hundertmal simuliert worden. Diesmal war es kein Test. Systematisch legte LayʹTolʹEsh alle Sektoren seines Gehirns und der drei Nervenzentren still, die auf äußere Reize reagierten. Bald war er völlig von der Außenwelt isoliert. Er brauchte keine Instrumente zu bedienen. In der Kapsel gab es nichts außer ihm und den Lebenserhaltungssystemen, die automatisch arbeiteten. Sie war eine Hülle, nichts weiter – eine künstliche Haut, die ihn vor den Einflüssen der Para‐Zonen schützen sollte. LayʹTolʹEsh war nur noch er selbst – nur eine gewaltige Zusammenballung paramentaler Energien, die seinem Gehirn nun aus allen drei Nervenzentren zuflossen. Er spürte, wie sich die Kraft in ihm aufbaute. Als der Impulsfluß aus den Nervenzentren versiegte, begann er damit, sie zu potenzieren. Wie oft schon hatte er dies simuliert? Er verdrängte die Frage, die plötzliche Angst und das Gefühl grenzenloser Einsamkeit schnell aus seinem Bewußtsein. Er durfte an nichts denken – an nichts außer Dheeder. Die Schablone der Zielwelt entstand in seinem Geist, bis sie ihn beherrschte. LayʹTolʹEsh wartete, bis das Bild vollkommen war. Ohne zu zögern, riß er die letzten Barrieren nieder, die letzten Dämme in ihm, die die Para‐ Energien am Aufeinandertreffen und ihrer explosionsartigen Entfaltung hinderten. Vor den Augen der Beobachter verschwand die Kapsel, als hätte es sie nie
gegeben. * LayʹTolʹEsh spürte keinen Schmerz. Nur das Versiegen der Sprungenergien zeigte ihm an, daß der erste Teil seiner Aufgabe erfüllt war. Er glaubte dies, bis er die Augen aufschlug und durch die transparent gewordene Schale der Kapsel sah. Um ihn herum war eine prächtige Farbenvielfalt – grüne Hügel und bunte Gewächse, wie er sie auf den von Robotsonden übermittelten Fotographien von Dheeder gesehen hatte. Aber die Welt um ihn war nicht real. Er spürte es, noch bevor die Landschaft zu verschwimmen begann und einem diffusen roten Leuchten Platz machte. Augenblicklich wurde die Kapsel wieder undurchsichtig, was dem Paranauten anzeigte, daß er sich inmitten gefährlicher paraenergetischer Strömungen befand. Die Erkenntnis, gescheitert zu sein, traf ihn hart. Aber er war darauf vorbereitet gewesen und gewann schnell die Kontrolle über sich zurück. Niemand besaß ein vollkommenes Wissen über die mannigfachen Strömungen, die in ihrem Zusammenwirken das Medium für einen Sprung bildeten. Von einem Moment zum anderen konnten sie sich verändern und den Sprung beeinflussen. Fest stand nur, daß LayʹTolʹEsh sein Ziel erreicht hatte – und doch nicht. Räumlich gesehen, befand er sich auf Dheeder. Doch er war in Feldern paraenergetischer Natur gefangen, aus denen er nicht ausbrechen konnte. Für einige Augenblicke wurde die Kapsel wieder transparent, und LayʹTolʹEsh sah sich erneut inmitten der paradiesischen Landschaft Dheeders. Hoffnung stieg ihn ihm auf. Wenn die zusammenwirkenden Strömungen ein Gleichgewicht fanden, konnte er ihnen vielleicht
entkommen. Einmal stabilisiert, »fiel« die Kapsel aus dem übergeordneten Medium und wurde Teil des normalen Raum‐Zeit‐Kontinuums. Der Paranaut wurde jäh enttäuscht. Wieder verschwamm die Umgebung. Die Kapsel wurde undurchsichtig, und LayʹTolʹEsh spürte, wie er tiefer und tiefer in den Strudel paraenergetischer Felder gerissen wurde. Er wartete so lange, bis er sicher sein konnte, jeden Bezug zu Dheeder verloren zu haben. Nun gab es nur noch eine Hoffnung für ihn. Er isolierte sich, baute erneut die zum Sprung erforderlichen Energien in sich auf und konzentrierte sich auf TayʹLebarra. LayʹTolʹEsh erreichte seine Heimatwelt nie. Seine letzten Empfindungen waren die eines bloßen Bewußtseins, das tiefer und tiefer in einen endlosen, dunklen Tunnel stürzte. Dann rissen die in ihm aufgebauten Energien die Mauern des Bewußtseins nieder und vereinten sich mit den niveaugleichen Feldern unbegreiflicher Ströme und Räume. * LayʹTolʹEsh fragte nicht danach, ob und wieviel Zeit vergangen war, als er begriff, daß er lebte. Aber es war kein Leben, wie er es als TayʹLebarra gekannt hatte. Er besaß keinen Körper mehr. Er war eines von vielen körperlosen Bewußtseinen in einem grenzenlosen, unfaßbaren Raum. Er erschrak nicht, als er erkannte, daß er nicht allein war. Andere Bewußtseine strömten heran, wie leuchtende Blasen in einem endlosen schillernden Ozean aus Farben und fließenden Formen, Wärme und tiefem Frieden. Augenblicke lang – Sekunden, Stunden oder Jahrhunderte schienen sie ihn zu umtanzen, mit ihren unfaßbaren Sinnen abzutasten und zu durchleuchten. Es gab keine Zeit mehr in diesem phantastischen Medium. LayʹTolʹEsh war. Alle Sorgen, alle kleinen und großen Probleme, die er als körperliches Wesen gekannt hatte, existierten nicht mehr. Er kannte keine
Eile und keine Hast mehr, keine Ungeduld, keinen Hunger und keinen Durst. Irgendwo dort, von wo er kam, lebten Geschöpfe, die ihm einmal etwas bedeutet hatten, und die auf ihn warten mochten. Eine Spur von Trauer mischte sich in die großartigen Empfindungen des Bewußtseins, aber sofort umfing ihn wieder das Gefühl, geborgen zu sein. Was immer mit ihm geschehen war, als sich die Para‐Energien seines Geistes mit den niveaugleichen energetischen Feldern unbekannter Überräume gepaart hatten – hier war nun sein Zuhause. Er lebte und war Teil einer neuen Gemeinschaft. Der Gemeinschaft der Körperlosen … LayʹTolʹEsh begriff, daß er eine Blase war wie all die, die immer zahlreicher aus der schillernden, wabernden Endlosigkeit um ihn herum auftauchten, und daß er sich noch abkapselte. Er spürte, wie die anderen Bewußtseine behutsam nach ihm tasteten, und öffnete sich ihnen völlig. Sie alle waren artverwandt, wenngleich es keine zwei von ihnen gab, die gleichen Ursprungs, gleicher Herkunft waren. Sie alle stellten »Zufälle« einer niemals endenden Schöpfung dar. Manche waren immer schon körperlos gewesen, andere waren durch den Aufeinanderprall gegensätzlicher Energien entstanden, in deren Brennpunkt sie sich befunden hatten. Gemeinsam bildeten sie die Gemeinschaft der Körperlosen, und die Räume, die sie bevölkerten, nannten sie die HÖHEREN WELTEN. All dies und noch vieles mehr erfuhr LayʹTolʹEsh innerhalb weniger Momente. Er gehörte zur Gemeinschaft – allein dadurch, daß er ein Artverwandter war. Die Gemeinschaft stieß ihn nicht ab. LayʹTolʹEsh verfügte kurz nach dem ersten gegenseitigen Kontakt über das gesamte Wissen der Gemeinschaft. Er wußte, daß die Körperlosen einstmals die Möglichkeit gehabt hatten, für kurze Zeit auf vielen Welten des »normalen« Universums materiell zu werden, wenn sie die Sehnsucht nach ihrer ursprünglichen Existenzform dorthin trieb oder es galt, Einfluß auf die Entwicklung des körperlichen Lebens zu nehmen. Erschien ihm dieser Gedanke zunächst noch als vermessen, so sah er doch
bald die Notwendigkeit gewisser korrigierender Eingriffe ein, als er erfuhr, daß eine unheimliche, lebensfeindliche Macht sich dort ausgebreitet hatte, wo allein die Möglichkeit zum Transit bestand. Die Körperlosen waren vom Normaluniversum abgeschnitten. Kein einziger von ihnen konnte länger als für wenige Augenblicke im Universum der Körperlichen leben, ohne in der dunklen Aura zu ersticken, die sich überall dort, wo es Berührungspunkte zwischen den Kontinua gab, wie eine bösartige Geschwulst ausgebreitet hatte. Dort, woher er kam, vergingen viele tausend Jahre, bis LayʹTolʹEsh zum erstenmal selbst den Drang verspürte, für kurze Zeit ins Universum der Körperlichen zu wechseln. Nicht allen Mitgliedern der Gemeinschaft ging es wie ihm. Doch nun begann er zu begreifen, daß es für ihre weitere Entwicklung und ihre innere Stabilität eine Notwendigkeit war für alle jene, die aus körperlichem Leben hervorgegangen waren, in gewissen zeitlichen Abständen den Puls dieses fast vergessenen Universums zu spüren. Obwohl er die Zusammenhänge noch nicht ganz begriff, wußte er, daß er »hinab« mußte. Aber die dunkle Aura verhinderte es. Schließlich beschloß die Gemeinschaft, einige Auserwählte unter großem Kraftaufwand auf jene Weltfragmente zu schleusen, die einstmals eine dominierende Bedeutung für die Körperlosen gehabt hatte. LayʹTolʹEsh befand sich unter ihnen. Kurz bevor er auf eines dieser Bruchstücke abgestrahlt wurde, erfuhr er, daß die Gemeinschaft eine zweite, möglicherweise erfolgversprechendere Maßnahme vorbereitete, um die dunkle Aura zu schwächen. Ein neues Wesen sollte künstlich geschaffen werden, indem jeder Körperlose einen Teil seiner Lebensenergie abgab. Dieses neue Wesen sollte in der Lage sein, auch körperlich in der Schwarzen Galaxis, dem Sitz der dunklen Macht, zu existieren und im Sinne der Gemeinschaft zu handeln. Er erlebte nicht mehr mit, wie aus den abgegebenen Lebensenergien dieses Geschöpf geboren wurde, das den Namen Leenia tragen sollte. Er teilte nur die Hoffnungen, die sich an dieses Vorhaben knüpften – spürte aber auch die Skepsis, die ihm von vielen Mitgliedern der Gemeinschaft
entgegengebracht wurde. LayʹTolʹEsh wurde auf jenes Bruchstück geschleust, das von seinen Bewohnern Dorkh genannt wurde. Natürlich konnte er dort nicht körperlich existieren, denn es konnten Jahrtausende vergehen, bis der Zeitpunkt kam, an dem er und die anderen Auserwählten die Gelegenheit erhielten, zum Schlag gegen die dunklen Mächte auszuholen. Der Abschied von der Gemeinschaft war von mannigfachen Gefühlen begleitet. Er bedeutete eine Verbannung aus diesem Ozean des Lebens und der Vollkommenheit für eine lange Zeit – aber LayʹTolʹEsh war ein Teil der Gemeinschaft, mit ihr verschmolzen und nur noch Individuum, was seine Erinnerungen, seine persönliche Herkunftsgeschichte betraf. LayʹTolʹEsh empfand Freude darüber, ins Universum der Körperlichen überwechseln zu dürfen und dazu beitragen zu können, eine große Gefahr von der Gemeinschaft abzuwenden, wenngleich er wußte, daß er nicht damit rechnen durfte, jemals wieder in die Gemeinschaft zurückzukehren. Denn falls es dazu kam, daß er und die anderen Auserwählten ihre Passivität aufgeben mußten, konnte dies seinen Tod bedeuten. Nein, sagte er sich. Nicht den Tod. Denn eines wußte er nun: Das Leben endete nie. Sein Geist würde weiterleben, auf diese oder jene Art – und vielleicht fand er tatsächlich eines fernen Tages in die Höheren Welten zurück. LayʹTolʹEsh, genauer gesagt: das, was ihn ausmachte, materialisierte als Kristall auf Dorkh. Nur in dieser Form war er gegen die Ausstrahlung der dunklen Macht geschützt, in deren unmittelbarer Nähe er die Jahrhunderte oder Jahrtausende verbringen sollte. Das Warten begann. * Es war vergeblich. Als LayʹTolʹEsh begriff, daß der RUF weder an ihn noch an die anderen Auserwählten jemals noch ergehen würde, wußte er, daß er auf sich selbst angewiesen war. Vielleicht hatten veränderte Umstände die Gemeinschaft dazu gezwungen, von ihrem ursprünglichen
Plan abzugehen. Vielleicht hatte sie Leenia eingesetzt. Er erhielt keine Informationen, und er konnte nicht von sich aus Kontakt zur Gemeinschaft aufnehmen. Das hatte er gewußt, als er sich zur Verfügung stellte. In ihm wohnten die Kräfte der Gemeinschaft. Sie sollten ihn vor dem Zugriff der Dunklen Mächte schützen, falls es diesen gelang, ihn aufzuspüren – obwohl dies so gut wie ausgeschlossen war. Zwei Dinge geschahen in relativ kurzer zeitlicher Abfolge. Dorkh kehrte von einem seiner ausgedehnten Flüge in die Schwarze Galaxis zurück, offensichtlich beschädigt. Jedenfalls spürte LayʹTolʹEsh die Verwirrung, die sich ausbreitete. Dann ging mit seiner direkten Umgebung eine Veränderung vor. LayʹTolʹEsh intensivierte die tastenden Ströme, die ihn verließen und ihm ein ungefähres Bild der Welt »draußen« vermittelten. Jene, die Dorkh beherrscht hatten, starben. Kurz darauf veränderten sich die Schwingungen, die er von der »Seele« Dorkhs empfing. Dorkh setzte sich in Bewegung – und zwar auf das Zentrum der Dunklen Mächte zu, auf den Sitz des Dunklen Oheims. Und die ganze Entwicklung wurde ausgelöst von einem, der alle Merkmale eines Berührten aufwies! Einer der Fremden, die nicht hierher gehörten, hatte vor nicht allzulanger Zeit Kontakt mit einem Mitglied der Gemeinschaft der Körperlosen gehabt! Die Erkenntnis war ein Schock für LayʹTolʹEsh. Unbändige Hoffnung stieg in ihm auf. Er mußte wissen, wer dieser Mann war. Wenn seine Existenz überhaupt noch einen Sinn haben sollte, mußte er ohnehin nun, nachdem Dorkh auf dem Weg zum Dunklen Oheim war, seine Passivität aufgeben. Er konnte den Unbekannten nicht zu sich locken. Dazu war er zu weit weg. Nur Wesen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden, konnte er auf sich aufmerksam machen. Dennoch wagte er einen Versuch, als der Fremde in einen tranceähnlichen Zustand verfiel und plötzlich von allen möglichen Erinnerungen geplagt wurde. Er schob sich in sein Bewußtsein und versuchte, seine »Träume« in gewisse Richtungen zu lenken. Erst da
erfuhr er, daß er niemandem anders als Leenia begegnet war, jenem künstlich geschaffenen Wesen, auf dem die Hoffnungen der Gemeinschaft geruht hatten. Und das sie enttäuscht hatte! Diese aus Atlans Gedanken gewonnene Erkenntnis war der zweite Schock. Der Versuch schlug fehl, weil Atlan – den Namen des Berührten kannte LayʹTolʹEsh nun ebenfalls aus dessen Erinnerungen – zu früh aus seiner Trance erwachte. Und er, LayʹTolʹEsh, war gefangen in einer Kugel aus Kristall! Schon war er nahe daran, zum letzten Mittel zu greifen, als er den Dorkher in seiner Nähe spürte. Er lockte ihn in den Stollen, in dessen Wand er sich befand, und brachte ihn dazu, ihn zu bergen. Der Helfer, den der Dorkher sich holte, war ausgerechnet einer von Atlans Begleitern. Für kurze Zeit glaubte der Körperlose an eine Fügung. Grizzard, wie der Begleiter Atlans sich nannte, brachte ihn schließlich in die Nähe des Berührten. Dennoch mußte LayʹTolʹEsh noch warten, bis er Grizzard dahingehend beeinflussen durfte, daß er ihn, den Kristall, an Atlan übergab. Er mußte einen Teil seiner Lebensenergie abgeben, um die von der plötzlich entstandenen Machtballung bedrohten Fremden zu retten. Dann aber, als er sich kurz vor seinem Ziel sah, mußte er feststellen, daß diese Rettung nur vorübergehend gewesen sein konnte, wenn er nicht doch noch zum Ultimaten Mittel griff, um die Mächte des Dunkels, wenn auch nur für begrenzte Zeit, zu neutralisieren. * Schweigen. Etwas in Atlan erwachte, obwohl er nach wie vor besinnungslos zwischen den Gelähmten lag. Er war nicht mehr LayʹTolʹEsh. Dessen Geschichte, das, was er hatte wissen müssen, war erzählt. Der Kristall hatte seine Erinnerungen abgegeben. Atlan fand seine Identität zurück. Sein Unterbewußtsein erwachte zu
neuem Leben. Es hatte Mühe, das Erfahrene zu verarbeiten und verstand nur wenig davon. Die Fragen füllten Atlans unterbewußtes Denken aus. Eine stumme Zwiesprache zwischen Atlans Unterbewußtsein und dem Körperlosen im Kristall begann. Es kannte die Gefahr, in der Atlan schwebte. Es erinnerte sich an alles bis zum Absprung vom Wagen und dem Schlag gegen den Felsen. Doch irgend etwas ließ es spüren, daß die Gefahr aus der Kuppel für kurze Zeit gebannt war. Sie würde reagieren, und dann … Dies war die drängendste Frage an LayʹTolʹEsh. Es fühlte, daß die Zeit des Schutzes, der ihm und vielleicht allen Betroffenen vom Kristall gewährt wurde, begrenzt war. Du willst die Macht, die von der Kuppel ausstrahlt, neutralisieren, dachte Atlan in den Tiefen seines Unterbewußtseins. Du sprachst von einer Ultimaten Waffe. Wie wird diese aussehen? Mein ultimates Mittel, Atlan, korrigierte die wispernde Stimme. Worin liegt der Unterschied? Es gibt ihn, Atlan. Aber du hast recht. Was unter der Kuppel lebt, wird mich erfassen und zu vernichten versuchen. Vielleicht gelingt es ihm. Vorher aber werdet ihr Zeit zur Flucht haben. Flucht? Flucht wohin? Zum Energieschirm, der dieses Gebiet überspannt. Stelle keine Fragen und vertraue mir. Du mußt versuchen, so vielen Dorkhern wie möglich den Weg dorthin zu zeigen, bevor … Bevor du stirbst, vollendete Atlan. Das Leben endet nie, und das weißt du. Was immer mit meiner Lebensenergie geschehen, wie weit sie sich auch zerstreuen mag, sie wird nicht ganz verschwinden. Ich werde weiterleben, wenn auch in anderer Form. In Atlans Unterbewußtsein formten sich neue Fragen, doch LayʹTolʹEsh schien nicht mehr bereit, über das, was er zu tun hatte, Auskunft zu geben. Was ist unter der Kuppel? fragte Atlan.
Vergiß alles, was du vermutest. Du wirst die Antwort erhalten, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Du willst sie mir nicht geben? Das wäre zu früh. Die Wahrheit zu kennen, würde dich lähmen. Und du brauchst all deine Kraft, um dich und deine Freunde zu retten – und die Dorkher, die noch fähig sind, Furcht zu empfinden. Auch hierzu konnte oder wollte LayʹTolʹEsh keine konkreteren Aussagen machen. Bevor Atlan dazu kam, andere Fragen zu stellen, spürte er die anwachsende Neugier des Körperlosen. Und er wußte, was ihn beschäftigte. Er berichtete alles, was er selbst über Leenia wußte. Danach war es lange Zeit so, als hätte LayʹTolʹEsh sich aus ihm zurückgezogen. Es hat vielleicht so kommen müssen, kam es dann schwach vom Körperlosen. Leenia hat uns nicht verraten. Wir hätten wissen müssen, daß sie sich anders als von uns vorgesehen entwickeln würde. Es klang resignierend. Atlan fragte schnell: Dann habt ihr alle Hoffnung aufgegeben? Ich weiß nichts über die Pläne, die die Gemeinschaft nun hegen mag. Nein, aufgeben werden wir niemals. Zu vieles ist geschehen, das berücksichtigt werden muß. Dein Erscheinen gehört zweifellos dazu, Atlan. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Der Arkonide spürte, daß es noch etwas gab, das der Körperlose ihm mitzuteilen hatte. Doch noch rang LayʹTolʹEsh mit sich. Bist du mir im Traum erschienen? fragte Atlan daher. Warst du es, an dessen Seite ich über Pthor wandelte, und der mich zur Höhle führte, in der Leenia schlief? Ja, lautete die Antwort, doch es klang, als wäre LayʹTolʹEsh schon weit fort mit seinen Gedanken. Warum nicht als du selbst? Warum als Dreiäugiger? Dein Unterbewußtsein schuf dieses Bild. Stelle jetzt keine Fragen mehr, Atlan. Halte dich bereit! Und Atlan spürte, wie der Körperlose sich zurückzog und seine
ganze Aufmerksamkeit auf die Kristallkuppel richtete. Nur für Bruchteile einer Sekunde war er Zeuge der ungeheuren Kräfte, die sich in LayʹTolʹEsh aufbauten, im Kristall, den er nun plötzlich wieder in seinen Händen spürte. Doch in dem Augenblick, in dem er zu erwachen glaubte, senkte sich erneut Dunkelheit über seinen Geist. Da war nichts mehr um ihn herum.
6. Atlan kam zu sich. Er erwachte nicht etwa langsam aus seiner Bewußtlosigkeit, sondern sprang mit einem Schrei auf. Alle Glieder schmerzten. Sein Körper wehrte sich gegen die viel zu rasche Belastung. Doch der Zellaktivator arbeitete zuverlässig. Dennoch drehte sich für lange Sekunden alles vor Atlans Augen. Er kämpfte gegen die Schwäche an. Er wußte, daß da etwas gewesen war, daß er nicht wirklich nur bewußtlos gewesen war, aber er hatte keine Zeit, in sich zu gehen. Halte dich bereit! Dieser Impuls, der nicht vom Extrasinn kam, beherrschte sein Denken. Er ließ ihn herumfahren, als der Schwindel verflogen war. Wenige Meter von ihm entfernt lag das Fahrzeug auf der Seite, mit dem er zu fliehen versucht hatte. Razamon und Grizzard waren beim Aufprall herausgeschleudert worden und lagen auf kahlem Boden. YhmʹDheers Fesseln hatten sich über eine beim Aufprall aus der Verankerung gerissene Begrenzungsstange gelegt. Reglos hing der Gassuare in der Luft. Erst jetzt bemerkte Atlan, daß das Dämmerlicht einer unnatürlichen, pulsierenden Helligkeit gewichen war. Er richtete den Blick auf den Kristall in seinen Händen und fragte sich erstaunt, wie die Kugel dorthin gekommen war, wo er doch bewegungsunfähig gewesen war. Der Kristall war erloschen. Atlan begriff, daß er nur noch eine Hülle in Händen hielt. Sein Unterbewußtsein gab einen Teil dessen, was er erlebt hatte, bei diesem Anblick frei – gerade genug, um den Arkoniden erkennen zu lassen, was sich in diesen Augenblicken tat und daß er keine Sekunde mehr zu verlieren hatte. LayʹTolʹEsh hatte sich dem Ding unter der Kuppel entgegengeworfen. Das pulsierende Licht war der Körperlose.
Razamon begann sich zu bewegen. Schnell sah Atlan sich um. Überall in der Nähe richteten Dorkher und Technos sich auf. Sie wirkten benommen und fielen hin, wenn sie versuchten, erste Schritte zu tun. Das war die Chance, die LayʹTolʹEsh ihnen bot. Die Chance, die befristet war und für die der Körperlose sein Leben gab. Bevor die Macht unter der Kuppel die Überhand im Ringen zweier unbegreiflicher Kräfte gewann, mußten sie fort von hier sein, beim Energieschirm. Atlan rannte auf Razamon zu und half dem Pthorer, sich auf den Beinen zu halten. Razamon, der nichts von dem begriff, was sich um ihn herum tat, biß die Zähne zusammen und streifte Atlans Arme ab. »Was ist geschehen?« fragte er. »Woher kommt … das Licht? Ich spüre die Impulse aus der Kuppel nicht mehr …« »Keine Fragen jetzt!« sagte Atlan schnell. Er war schon am Fahrzeug und befreite YhmʹDheer. Dann warf er sich den schweren Körper des Gassuaren über die Schulter. Er hatte Mühe, ihn festzuhalten. »Nimm Grizzard!« rief er. Ohne sich weiter um Razamon zu kümmern, legte er eine Hand an den Mund und rief den umhertorkelnden Dorkhern und Technos zu, daß sie ihm folgen sollten. Einige gehorchten. Sie mochten instinktiv spüren, daß Atlan ihnen die Chance bot, dem Zugriff der Macht in der Kuppel zu entkommen. Andere starrten ihn nur aus leeren Augen an und blieben, wo sie waren. Atlan biß sich auf die Lippen. Er konnte sich jetzt nicht damit aufhalten, sie alle einzusammeln, wenn auch nur einige in Sicherheit gebracht werden sollten. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie beim Energieschirm sicher sein sollten. Doch er vertraute auf das, was in ihm war. Und welche andere Wahl hätte er gehabt?
Das Licht wurde stärker. Atlan nickte Razamon zu und winkte die Dorkher, die langsam auf ihn zugekommen waren, heran. Noch einmal forderte er sie eindringlich auf, ihm zu folgen. Dann begann er zu laufen. Razamon war an seiner Seite, als es die Hügel hinaufging. Einige der passiv gebliebenen Dorkher und Technos wurden durch das Beispiel ihrer Artgenossen nun doch noch angeregt, sich den Flüchtenden anzuschließen. An der Spitze von etwa fünfzig Wesen erreichten die Freunde die Kuppe des ersten Hügels. Atlan blieb kurz stehen und sah nun die Senke in ihrer ganzen Ausdehnung vor sich. Die Kuppel war in einen hellen Schein gehüllt, in dem sich dunkle Risse bildeten. Von dem Kampf der dort unten tobte, konnte sich kein Wesen aus Fleisch und Blut eine Vorstellung machen. »Weiter!« rief Atlan. »Schneller!« Sie rannten den Hügel herab. Atlan konnte bald schon das blutrote Tor sehen – und die Dorkher, die sich davor drängten. Überall auf den Abhängen taumelten andere herum und setzten sich, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, in Richtung Tor in Bewegung. Als Atlan sich noch fragte, was sie zum Energieschirm trieb, ob es allein der Anblick seiner Gruppe war, sah er die beiden Magier auf einer Hügelkuppe stehen und winken. * Asparg und Fiothra blieben abrupt stehen, als sie die plötzliche Leere in sich fühlten. Das, was von der Kuppel kam, war bereits so zum festen Bestandteil all ihres Empfindens und Denkens geworden, daß sie nun, als es von einem Moment zum anderen ausblieb, fast das Gefühl hatten, einen Halt verloren zu haben. All ihre magischen, gegen die Impulse gerichteten Kräfte verpufften wirkungslos. Es dauerte Sekunden, bis die beiden ihr
inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatten. »Was ist nun?« fragte Asparg leise. Er blickte um sich. Nichts deutete zunächst darauf hin, daß sich tatsächlich etwas verändert hatte. Dann sah er das Licht, das von dort kam, wo die Ebene der Sternschiffe lag. Fiothras Miene war hart. Asparg erkannte, daß sie sich mit aller Kraft dagegen wehrte, in Euphorie auszubrechen. Es war zu früh zum Triumphieren. Die Macht in der Kuppel hörte nicht von einem Augenblick zum andern einfach auf zu existieren. Nicht, nachdem sie alle Vorbereitungen für etwas geschaffen hatte, an das Asparg jeden Gedanken verdrängte. Unsicher blickte er sich um. Das pulsierende Licht kam nur schwach über die Hügel, aber es erreichte den Energieschirm und brach sich darin. Unheimliche Leuchterscheinungen waren am »Himmel« zu sehen. Die Dorkher am Tor rührten sich kaum noch. Sie schienen zu lauschen. Aber es gab absolut nichts, das sie hören oder fühlen konnten. Da war nur Leere in ihnen, und Asparg begriff, daß etwas zum Leben erwacht war, das sich der Macht in der Kuppel entgegengeworfen hatte und diese neutralisierte. Überall begannen die bisher bewußtlos Daliegenden sich zu erheben. Noch waren sie unsicher auf den Beinen, aber langsam gewannen sie die Kontrolle über ihre Körper zurück. Was es war, dem die plötzliche Stille zu verdanken war, wußten die Magier nicht. Sie begriffen nur, daß die Impulse aus der Kuppel jeden Moment wiederkehren konnten. »Wir gehen nicht weiter«, sagte Fiothra entschieden. »Falls Atlan und seine Freunde leben, werden sie stark genug sein, um ohne fremde Hilfe den richtigen Weg zu finden.« Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf die ziellos umherirrenden Dorkher und Technos. »Diese nicht. Wir müssen sie leiten, Asparg.«
Asparg verstand. Nun, da sie nicht gezwungen waren, den Großteil ihrer magischen Kräfte auf die Abwehr der Zwangsimpulse zu konzentrieren, konnten sie versuchen, die Dorkher zu beeinflussen. Er versuchte nicht zu verstehen, was nicht zu verstehen war. Was jetzt allein zählte, war, so viele Dorkher wie möglich zum Energieschirm zu bringen. Asparg unterdrückte den Gedanken daran, daß der Weg in die Freiheit durch die Barriere im Tor versperrt war und die Bedrohten in unmittelbarer Nähe des Energieschirms in noch größerer Gefahr sein könnten als hier, im Einflußbereich des Fremden. Niemand konnte vorhersagen, wie sich die nächsten Impulse nach ihrer Umwandlung durch den Schirm auf die dort Zusammengedrängten auswirken würden. Die beiden jungen Magier konzentrierten sich auf die Umherirrenden. Nach kurzer Zeit begannen die Dorkher, Technos und Chreeans, langsam in Richtung Torbogen zu marschieren – auf die unsichtbare Grenze zu, hinter der die Primärimpulse ihre Opfer nicht mehr zu erreichen vermochten. Die Magier zählten die Wesen nicht, die sie vielleicht retteten, vielleicht in den Tod trieben. Doch kein Tod konnte so schrecklich sein wie das, was sie bei der Kuppel erwarten mochte. Minuten vergingen, vielleicht Stunden. Die beiden Magier hatten fast jeden Zeitsinn verloren. Scharen von Wesen unterschiedlichsten Aussehens kamen die Abhänge herunter oder erschienen oben auf den Hügeln. Die magischen Kräfte reichten fast bis in die Ebene hinein. Als Fiothra die Kolonne über den Kamm kommen sah, stieß sie laut die Luft aus. An der Spitze des Zuges, der sich nun die Hügel herabwälzte, gingen Atlan und Razamon. Die Magier unterdrückten den Drang, ihnen entgegenzulaufen. Sie winkten und warteten, bis die Gruppe sie erreicht hatte.
Das pulsierende Licht wurde noch einmal heller. Dann blitzte es über der Senke einige Male kurz hintereinander auf. Eine schwarze Säule stieg wie eine Stichflamme aus dunklem Rauch in die Höhe und berührte den Energieschirm. Wieder war der Himmel in alle nur denkbaren Farben getaucht, aber das nahmen die Magier kaum noch wahr. Es war wieder da, in ihren Köpfen, und es kam so überraschend, daß sie taumelten, bevor sie die Impulse einigermaßen abblocken konnten. Das Fremde in der Kuppel griff unbarmherzig nach seinen Opfern. Atlan und Razamon mit YhmʹDheer und Grizzard auf den Schultern hatten die Magier erreicht. Es gab keine freudige Begrüßungsszene. Sie sahen sich nur kurz an und wußten, was die Stunde geschlagen hatte. Die Dorkher und Technos in Atlans Gefolge blieben stehen und drehten sich langsam um. Die ersten begannen zurückzugehen. »Könnt ihr sie aufhalten?« fragte Atlan schnell. Fiothra deutete auf die Dorkher überall um sie herum. »Wir können uns nicht auf alle konzentrieren«, sagte sie traurig. »Dann versucht, so viele wie möglich dazu zu bringen, daß sie uns folgen!« »Wir müssen zum Schirm!« rief Asparg aus. Atlan nickte grimmig. Sie liefen weiter, und immer mehr Dorkher fielen von ihnen ab. Jene, die gerade erst über die Hügel gekommen waren, machten kehrt und folgten dem Ruf, der sie in die Ebene der Sternschiffe zurückholte. Und wieder gab es nichts, das die Gefährten tun konnten, wollten sie nicht auch ihre Leben und die der Dorkher aufs Spiel setzen, die noch für die beiden Magier greifbar waren. Dort, wo die unsichtbare Grenze verlief, schleppten sich Wesen teilweise auf allen vieren auf den Energieschirm zu. Dann, als sie ihn fast erreicht hatten, sprangen sie urplötzlich auf, schrien und schlugen um sich. Sie drängten sich zwischen die am Torbogen
Wartenden, und jetzt brachen dort die Kämpfe wieder aus. »Folgt uns!« rief Fiothra. »Es gibt hier nur einen Ort, an dem wir einigermaßen sicher sind.« Auf die am Torbogen Wütenden zeigend, fügte sie hinzu: »Vor ihnen.« * Atlan atmete schwer, als er YhmʹDheer in der Baracke endlich ablegen konnte. Die Dorkher, die sie besetzt gehalten hatten, waren Hals über Kopf geflohen, als Asparg und Fiothra das Bauwerk »brennen« ließen. Die kleinen Flämmchen verschwanden so rasch wieder, wie sie entstanden waren. Jene, die Atlan und Razamon bis hierher gefolgt waren, kämpften jetzt beim Tor darum, so nahe wie möglich an der Freiheit zu sein, die sie aus eigener Kraft niemals würden erlangen können. Aber das begriffen sie in ihrem Wahn nicht. Atlan, der einzige Immune in der Baracke, versuchte am Verhalten Razamons, Grizzards und YhmʹDheers abzuschätzen, wie stark die Impulse aus der Kuppel an diesem Ort wirksam waren. Sicherlich schwächer als bei den Hügeln und in der Ebene und – in umgewandelter Form – beim Energieschirm. Fiothra hatte in knappen Sätzen alles gesagt, was Atlan wissen mußte, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Die Baracke lag nahe an der unsichtbaren Grenze, bei der die Primärimpulse und die durch den Schirm umgewandelten und zurückgeschleuderten sich nahezu aufhoben. Dennoch waren sie spürbar – nicht für ihn, aber für Razamon, um dessen Mundwinkel es verräterisch zuckte, für die Magier, die sich noch unter Kontrolle hatten, und für YhmʹDheer und Grizzard. Grizzard war erstaunlicherweise ebenfalls ruhig, so daß Atlan es nach einer Weile riskierte, ihm die Fesseln abzunehmen. Bei YhmʹDheer war er vorsichtiger. Zu oft hatte er erleben müssen, daß
der Gassuare sich perfekt verstellte. Nun lag er leicht zitternd in einer Ecke der Baracke und hatte seine Knopfaugen auf Atlan gerichtet. Niemand redete. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Atlan trat in den Eingang der Baracke und starrte auf die Hügel hinaus. LayʹTolʹEsh war nicht mehr. Er hatte sich geopfert, zum Ultimaten Mittel gegriffen, um den Dorkhern die Flucht zu ermöglichen. Aber dort drüben am blutrot wabernden Torbogen, endete ihr Weg. Hatte der Körperlose das gewußt? Gab es etwas, das er Atlan verschwiegen hatte? Der Arkonide empfand tiefe Trauer um ihn. Inzwischen erinnerte er sich an alles, was er im Zustand der Bewußtlosigkeit von ihm erfahren hatte, und nun, da er für einige wertvolle Augenblicke zur Ruhe gekommen war, begann er sich wieder Fragen zu stellen. Atlan mußte an sich halten, um nicht die phantastischsten Spekulationen anzustellen. Wenn LayʹTolʹEsh ihm keine konkreteren Angaben gemacht oder auf entsprechende Fragen die Antwort verweigert hatte, mußte es Gründe geben. Einerseits hatte der Gedanke, daß die Körperlosen trotz ihrer durch Leenia erfahrenen Enttäuschung weiter nach Wegen suchten, den Dunklen Oheim zu bekämpfen, daß sie nicht resignierten etwas Beruhigendes. Andererseits war es deprimierend zu wissen, daß selbst sie jenem Etwas, das sich in der Kuppel breitgemacht hatte, unterlegen waren. Was sollte dann er, ein Wesen aus Fleisch und Blut, dagegen unternehmen können? LayʹTolʹEsh war so sicher gewesen, daß er in irgendeiner Form weiterleben würde, egal, was geschah, wenn er auf die fremde Macht prallte. Atlan wünschte ihm, daß er recht behalten hatte. »Es muß einen Weg hier heraus geben«, murmelte er. »Er hat sich nicht umsonst geopfert.« Was hatte der Körperlose verschwiegen. Was wußte er von dem,
was dem SCHLOSS bevorstand? »Was meinst du?« fragte Razamon, der an Atlans Seite getreten war, ohne daß der Arkonide etwas davon bemerkt hatte. »Nichts«, sagte Atlan und winkte ab. Noch einmal sah er hinüber zum Torbogen, wo sich inzwischen mehrere hundert Dorkher, Technos, Chreeans und Tarpane drängten und bekämpften. Ihre Schreie hallten in seinen Ohren, als er sich umdrehte und wieder in die Baracke trat. Bis hierher sind wir gekommen, dachte er bitter. Und nun? Nach allem, was er erlebt und beobachtet hatte, konnten kaum noch Zweifel daran bestehen, daß das Fremde unter dem Kristalldach sich darauf vorbereitete, alles Leben, das noch unter dem Energieschirm existierte, zu vernichten. Hatte es die unsichtbare Sperre im Tor geschaffen – oder jemand anders? Der Gedanke, im Augenblick nichts tun zu können, war deprimierend. Sich unter die Kämpfenden am Tor zu begeben, hatte keinen Sinn. Nur von hier aus hatten die Gefährten einen einigermaßen guten Überblick und konnte jede Veränderung besser erkennen als in unmittelbarer Nähe des Energieschirms. Sie mußten warten, bangen und hoffen. Hier und jetzt konnte Atlan nur eines tun. Er sah YhmʹDheer an und erinnerte sich daran, warum er die Magier unbedingt wiederfinden wollte. Er gab sich keinen großen Hoffnungen hin, als er ihnen davon berichtete, wie er den Gassuaren überwältigt und ausgefragt hatte. Zu enttäuschend waren alle Auskünfte gewesen, die er bisher von ihm erhalten hatte. Zumindest konnte er nun durch Asparg und Fiothra nachprüfen lassen, ob der Gassuare die Wahrheit gesagt hatte. Was jetzt vielleicht unbedeutend erschien, mochte später einmal wichtig sein, wenn Atlan mehr über die Zusammenhänge wußte. YhmʹDheer wirkte nun fast völlig teilnahmslos. Dennoch wiederholte er seine Geschichte bereitwillig. Atlan versuchte nicht
mehr, dieses Wesen und seine absonderliche Reaktionen zu begreifen. Asparg bestätigte, daß YhmʹDheers Worte der Wahrheit entsprachen, daß es aber noch etwas gäbe, das er verschwieg. »Er steht zu sehr unter den Nachwirkungen des Schocks, den er unter dem Kristalldach erlitten haben muß«, erklärte Fiothra. »Könnt ihr ihn davon befreien?« fragte Atlan. Der seltsam entrückte Blick in den Augen der Magier zeigte ihm, daß sie beide bereits dabei waren, dies zu versuchen. Und tatsächlich begann YhmʹDheer nach Minuten zu reden, unaufgefordert, als drängte etwas aus ihm heraus, über das er selbst keine Kontrolle hatte. »Wir hatten den Auftrag«, sagte der Gassuare mit monotoner Stimme und steil aufwärts gerichteter Nasenspitze, »Dorkh direkt zum Neffen Zurm zu bringen.« Er sprach, als befände er sich in tiefer Trance, und wieder fiel Atlan auf, daß sein Dialekt stärker zutage trat. »Zu diesem Zweck setzten wir aus Einzelteilen, deren Vorhandensein uns bekannt war, ein Gerät zusammen, das wir in den Turm unter der Kristallkuppel schafften.« Aspargs Blick klärte sich, als der Gassuare schwieg. Schulterzuckend sah er Atlan an und sagte: »Das ist alles.« »Wir schafften es gerade noch, das Gerät zu installieren, bevor …« YhmʹDheer sprach nicht weiter. Er zuckte heftig zusammen. Wieder trat die grünliche Flüssigkeit aus seinen Poren. Er erwachte aus der Trance, in die ihn die Magier versetzt hatten. »Aber das war absolut unsinnig und unnötig!« entfuhr es dem Arkoniden. »Die Seele von Dorkh hatte bereits vorher den Befehl erhalten, den befohlenen Kurs zum Dunklen Oheim einzuschlagen! Keine Manipulation kann diese Priorität brechen! Alles, was ihr getan habt, war absolut überflüssig! Es bedurfte keines Neffen mehr, um Dorkh wieder auf Kurs zu bringen!« YhmʹDheers offensichtliche Verwirrung war Beweis genug dafür, daß der Gassuare nun wieder hellwach war. Er stammelte einige unverständliche Brocken.
Razamon, der bislang unbeteiligt im Hintergrund gestanden hatte, stürzte plötzlich an Atlan vorbei auf den Gassuaren zu, ließ sich vor ihm auf den Boden fallen und griff mit beiden Händen nach dem Rand des silberfarbenen Helms. Wütend schrie er: »Das hast du nicht gewußt, wie? Aber durch eure Manipulation habt ihr Hunderte von unschuldigen Dorkhern in den Tod geschickt! So war es doch, oder nicht? Dein verdammtes Gerät schuf eine Verbindung zum Dunklen Oheim selbst, dessen Kräfte ihr hierher holtet, um Dorkh flottzumachen und zu eurem Neffen zu bringen! Was für ein Narr bist du!« YhmʹDheer schrie schrill auf. Mit seiner Ruhe war es vorbei. Er bebte am ganzen Körper und verlor endgültig die Nerven. Diesmal schauspielerte er nicht, als es aus ihm herausbrach: »Aber das ist nicht wahr! Ich sagte doch, daß wir nichts mit dem zu tun haben, was unter der Kuppel geschah! Wir nicht und der Dunkle Oheim schon gar nicht! Im Gegenteil hätte er alles getan, um das Massaker zu verhindern – hätte er die Möglichkeiten, von denen du redest. Was immer auch unter der Kuppel ist – die Kräfte des Dunklen Oheims selbst reichen nicht bis hierher! Das Massensterben durfte nicht geschehen. Es konnte nicht im Sinne des Dunklen Oheims sein – wenigstens nicht zu diesem Zeitpunkt!« YhmʹDheer sank kraftlos in sich zusammen. Seine bewegliche Nasenspitze schlug wie ein Pendel nach beiden Seiten aus. Atlan, Razamon und die Magier sahen sich betroffen an. »Laß ihn los«, forderte Atlan den Pthorer auf. Er ging auf YhmʹDheer zu. »Was meinst du damit, ›nicht zu diesem Zeitpunkt‹? YhmʹDheer, du weißt noch etwas!« Er warf den Magiern einen prüfenden Blick zu. »Du kennst den Dunklen Oheim?« »Nein!« schrie der Gassuare auf. »Ich weiß nichts! Ich …« Fiothras Aufschrei hallte durch die Baracke. Augenblicklich war YhmʹDheer vergessen. Atlan fuhr herum und sah namenloses Entsetzen in den Augen der Magier, die die Hände gegen die Schläfen preßten.
»Es greift an!« schrie Asparg. »Bei allen Göttern, es beginnt!« »Was?« schrie auch Atlan, der wieder nichts spürte. Als er keine Antwort erhielt und aus der Baracke rannte, bekam er eine Ahnung, davon, was auf sie zukam.
7. Das erste sichere Anzeichen für den bevorstehenden letzten Akt des Dramas, das auf undurchschaubare Art und Weise von dem Etwas unter der Kuppel inszeniert wurde, war die gesteigerte Hysterie der Dorkher. Sie versuchten nicht mehr allein durch den Torbogen aus dem SCHLOSS zu entkommen, sondern warfen sich nun auf breiter Front gegen den Energieschirm. Atlan schauderte, als er die blind Anrennenden sah. Doch sie verbrannten nicht im Schirm, wie er es für Augenblicke befürchtet hatte. Auch zu beiden Seiten des Torbogens prallten sie gegen unsichtbare Mauern, bevor sie die absolut tödlichen Schichten des Schirmes berühren konnten. Nichtsdestoweniger rannten sie weiter dagegen an. Sie konnten nicht mehr denken. Sie waren irr vor Angst. Was von der Kuppel kam und durch den Energieschirm jetzt wieder in reine Panikimpulse verwandelt wurde, brannte ihre Gehirne aus. Welcher Art die Primärimpulse aus der Kuppel nun waren, erfuhr Atlan von Razamon, der robuster war als die hypersensiblen Magier und Grizzard, der sich in einer Ecke zusammengekauert hatte und das Gesicht in den Händen verbarg. »Es ruft sie wieder zur Kuppel«, preßte der Atlanter mühsam hervor. »Alle, die noch in seinem Einflußbereich sind. Und die Impulse sind viel …« Razamon stöhnte und knirschte hörbar mit den Zähnen, »… sie sind jetzt viel ungestümer als beim erstenmal, als es die Dorkher, Technos und Chreeans rief. Die Opfer werden nicht mehr in Euphorie versetzt. Sie werden mit vehementer Gewalt gezwungen, und es gibt keine Rettung mehr für sie.« »Aber wie willst du …?« Razamon lachte bitter. »Ich spürte es ganz kurz, bevor der Schirm die Impulse aufnahm und umwandelte – in Panikimpulse, gegen die die der Gassuaren
eine zarte Berieselung waren, als sie uns von der TZAIR fernhalten wollten. Sieh dir die armen Burschen am Schirm nur an. Wenn nicht bald etwas geschieht, sterben sie. Es reißt sie auseinander.« Er drehte sich halb nach Asparg und Fiothra um, die sich an den Händen gefaßt hielten und stumm versuchten, gegen die Angst anzukämpfen. »Sie sind nicht viel besser dran. Das Ding unter der Kuppel muß in Panik geraten sein. Es weiß, daß versucht wurde, es zu vernichten, und muß annehmen, daß weitere Angriffe folgen werden.« Er hatte die Fäuste geballt. Verzweifelt überlegte er, was er und die Gefährten tun konnten. Auch hier waren sie nicht mehr sicher, und alles in ihm sträubte sich dagegen, die Dorkher und Technos jenseits der Hügel ihrem furchtbarem Schicksal zu überlassen. Was ist unter der Kuppel? fragte er sich immer wieder, während er mit wachsendem Unbehagen sah, daß sich eine starke Gruppe von Dorkhern langsam auf die Baracke zu bewegte. Ein lebendes Wesen? Ein Kraftfeld? Oder einfach nur substanzlose Macht, die die Lebenskraft von Wesen aus Fleisch und Blut braucht, um sich zu manifestieren? Es gab nichts in der Schwarzen Galaxis, das unvorstellbar wäre. Hier schienen andere Gesetze zu gelten als in anderen Bereichen des Universums. Hier war alles möglich, keine Phantasie so schrecklich, daß sie nicht denkbar wäre. Es muß etwas geschehen! versuchte er sich verzweifelt einzureden. Das ganze SCHLOSS war ein gigantisches Gefängnis, ein Irrenhaus. Es mußte einen Weg nach draußen gehen, wenn LayʹTolʹEsh sich nicht umsonst geopfert haben sollte! Die anstürmenden Dorkher, Zukahartos und andere stämmige Gestalten, in deren Augen der Wahnsinn stand, rissen den Arkoniden jäh aus seinen Gedanken. Er hatte keine Zeit mehr, zu überlegen, was sie davon abgebracht hatte, blindwütig gegen den Energieschirm anzurennen. Vielleicht spürten sie mit dem letzten Funken Verstand, der ihnen geblieben war, daß es hier, in der Nähe
der Baracke, leichter war, die Impulse zu ertragen. Vielleicht erinnerten sie sich unbewußt an die unsichtbare Grenze, jene Linie, auf der sich Primär‐ und Sekundärimpulse neutralisierten. Es spielte keine Rolle. Sie griffen an, und die beiden Magier waren kaum in der Lage, sie noch einmal zu vertreiben. »Zurück in die Baracke!« rief Atlan Razamon zu. Er gab dem Pthorer einen Stoß, als dieser sich zunächst nicht rührte. Hinter sich schlug er die nur noch in einer Angel hängende Tür aus dünnem Material zu. Das Gefühl der neuen, direkten Bedrohung schien die beiden Magier zu sich zu bringen. Atlan rüttelte an Aspargs Schultern, bis der Blick des jungen Magiers sich völlig klärte. Im gleichen Augenblick begannen Fäuste gegen die Wände der Baracke zu hämmern. In den kleinen Fenstern tauchten Köpfe auf. Glas splitterte. Die Eingeschlossenen schützten ihre Gesichter mit den Armen. Razamon war bei Grizzard und redete auf den steinzeitlichen Jäger ein. Atlan verstand nicht, was er sagte, aber die Dringlichkeit, mit der er es tat, ließ ihn glauben, daß Razamon jeden Augenblick mit etwas Entscheidendem rechnete und dann alle Mitglieder der Gruppe zur Flucht bereit sein mußten. Niemand kümmerte sich in diesen Minuten um YhmʹDheer. Der Gassuare lag unbeobachtet in seiner Ecke und rührte sich nicht. Niemand sah, daß seine Fesseln nicht mehr gespannt waren. Schlaff hingen die Stricke auf den Boden herab. »Könnt ihr sie aufhalten, Asparg?« fragte Atlan schnell. »Wir haben die Kraft nicht mehr«, flüsterte Fiothra. »Es dauert zu lange, bis wir …« Der Rest ging im Bersten der Tür unter. Der Dorkher, der sich dagegengeworfen hatte, fiel in die Baracke. Mehrere kräftige Gestalten schoben sich über ihn hinweg in den einzigen Raum. »Ihr müßt kämpfen!« stieß Asparg hervor. Er nahm Fiothra in seine Arme und wich bis zu der Tür gegenüberliegenden Wand zurück.
Razamon war bereits heran. Er schlug die ersten beiden Angreifer zu Boden. Dann hatte sich auch Atlan von seinem Schock erholt und packte sich den erstbesten Dorkher, der sich an ihm vorbei auf die wehrlosen Magier stürzen wollte. Von irgendwoher kam ein Knistern, als ob die Luft unter Hochspannung stünde. Niemand hörte es jetzt. Niemand sah die Veränderung, die draußen vor sich ging. * Razamon wütete wie in alten Tagen. Ihm und Atlan kam zugute, daß die Dorkher (erstaunlicherweise befanden sich keine Technos unter den Anstürmenden) nur mit den Fäusten angriffen, nicht aber mit dem Rest Verstand, der ihnen noch geblieben sein mochte. Allein der Umstand, daß Atlan, Razamon, Grizzard, die Magier und YhmʹDheer nicht wie alle anderen gegen den Schirm oder die Barriere im Tor anrannten, machte sie zu Gegnern, zu Wesen, die sich anders verhielten und damit in den Augen der Wahnsinnigen ins Abseits rückten. Welche Motive sie auch immer für ihr Kommen gehabt haben mochten, nun war in ihren Augen nur noch lodernder Haß. Hier sahen sie Gegner aus Fleisch und Blut vor sich, Gegner, die sie vielleicht die wirkliche Gefahr vergessen ließen. All die Aggressionen, die sich in ihrer Verzweiflung in ihnen aufgestaut hatten, brachen nun durch und verschafften sich Luft. Atlan versuchte, die Angreifer nur zu betäuben. Er und Razamon bildeten einen Sperriegel vor den Magiern, Grizzard und YhmʹDheer. Noch einmal, als schon ein halbes Dutzend Dorkher bewußtlos am Boden lagen, brach eine Gruppe durch den Eingang. Atlan und Razamon versuchten, sie zurückzutreiben. Es kostete all ihre Kraft und Aufmerksamkeit. Wenn sie überrannt waren, war das Schicksal der anderen, besiegelt. Die Augen der Magier und Grizzards waren in Entsetzen auf die
Kämpfenden gerichtet, als YhmʹDheer sich zu bewegen begann. * Lange hatte der Gassuare auf seine Chance gewartet. Die von der grünen Körperflüssigkeit angegriffenen und fast schon zersetzten Fesseln zu sprengen, bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er konnte wieder klar denken, und sein einziger Gedanke war der an Flucht. Er mußte hier heraus, weg von seinen Bewachern und so schnell wie möglich aus dem SCHLOSS‐Gebiet heraus, wenn er wenigstens sein Leben noch retten wollte. Als die Dorkher eindrangen und seine beiden Hauptgegner zum Kampf gezwungen waren, hielt er den Atem an. Die Panikimpulse nahm er so gut wie nicht mehr wahr. Als dann der Augenblick gekommen war, auf den er gewartet hatte, sprang er blitzschnell auf, sah die Lücke und rannte wie ein Geschoß zwischen den Kämpfenden hindurch aus der Baracke. Atlan und Razamon hatten ihn nicht einmal bemerkt. YhmʹDheer sah zu, daß er schnell soviel Raum wie möglich zwischen sich und die Baracke brachte. Hier draußen befanden sich keine nachrückenden Dorkher mehr. Sie alle drängten sich und kämpften beim Tor und dem Schirm. Der Kampf in der Baracke war bald vorüber. Erst als der Gassuare die halbe Strecke zum blutrot wabernden Torbogen hinter sich gebracht hatte, blieb er stehen. Erst jetzt sah er, wie sich der Energieschirm zu verändern begann. Überall knisterte die Luft. Risse bildeten sich in der gewaltigen leuchtenden Kuppel über dem SCHLOSS, und Blitze entluden sich krachend über dem Land, was die Panik und die Raserei der Dorkher, Technos und Tiere nur noch mehr steigerte. Einen Augenblick lang zögerte YhmʹDheer, sich unter sie zu mischen. Er begriff nicht, was jetzt vorging. Vielleicht stürzte der
Energieschirm zusammen, und niemand würde dies überleben. Doch dann hatte er nur eine Chance, wenn er so nahe am Ausgang war wie möglich. Dies und die Angst in seinem Unterbewußtsein, Atlan könnte ihn noch einmal überwältigen und mit Hilfe seiner Freunde das aus ihm herausholen, was er tief verdrängt hatte, ließen ihn weiterlaufen, bis er die Tobenden erreicht hatte. Er verschwand in der Traube der vor dem Torbogen Zusammengedrängten. * Als Atlan nur noch drei Gegner sah, glaubte er schon, das Schlimmste überstanden zu haben. Razamon und er schlugen je einen Dorkher zu Boden, doch bevor der letzte fiel, geschah etwas, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Fiothra schrie schrill auf und wand sich in Krämpfen. Asparg krümmte sich ebenfalls und gab röchelnde Laute von sich. Und plötzlich schlugen Flammen aus den Wänden der Baracke. Atlan sah den letzten Dorkher auf sich zukommen und schmetterte ihm seine Faust gegen die Schläfe. Unerträgliche Hitze breitete sich in Sekundenschnelle aus. Schwarzer Rauch erfüllte das Innere der Baracke und drang beißend in die Lungen der Freunde. Die Flammen bedeckten die Wände und fraßen sich durch das Flachdach. »Raus hier!« brüllte Atlan. »Razamon, sie haben ihre Fähigkeiten nicht mehr unter Kontrolle! Wir müssen sie betäuben! Nimm Grizzard! Wir …« Atlan stand mit offenem Mund da und starrte auf die Stelle, an der YhmʹDheer gelegen hatte. Er sah sich schnell um und fluchte laut. »Er ist entwischt«, rief Razamon. »Wir können uns nicht um ihn kümmern!«
Atlan zögerte nicht länger, war mit zwei schnellen Schritten bei Asparg, versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe und warf sich den Bewußtlosen über die Schulter. Razamon übernahm Fiothra und wollte auch Grizzard packen, doch dieser wehrte ab. Plötzlich schien er wieder völlig handlungsfähig zu sein. Er zitterte nicht mehr und rannte an Razamon vorbei aus der Baracke. Atlan verließ das brennende Bauwerk als letzter. Kurz blieb er stehen und sah, wie eine der Wände krachend einstürzte. Ein anderes, viel stärkeres Krachen und ein Blitz, der ihn für Sekunden blendete, ließ ihn zusammenfahren. Der Himmel brannte! Der Energieschirm! Überall blitzte es auf. Funken regneten herab und zogen schwarze Rauchfahnen hinter sich her. Dort, wo der Schirm aus dem Boden zu wachsen schien, brannte Gras. »Komm!« schrie Razamon. Atlan zögerte. In der Baracke lagen noch die bewußtlosen Dorkher. Sie mußten verbrennen, wenn er nicht … Razamon packte ihn und zerrte ihn fort. »Komm mit, du Narr! Du kannst nichts mehr für sie tun! Wir sind alle verloren, wenn nicht ein Wunder geschieht! Sieh dorthin!« Der Pthorer hatte den freien Arm weit ausgestreckt und zeigte in Richtung Ebene. Er schrie noch etwas, das im Knistern und dem Krachen, das nun wie über das Land rollender Donner klang, unterging. Doch Atlan sah genug. Dort, wo das SCHLOSS‐Zentrum mit den Schiffen und der Kristallkuppel lag, erschien eine gigantische, wabernde Lichtkuppel, blähte sich auf und wuchs in die Höhe. Der Anblick war dazu angetan, die Sinne zu lähmen. Es war, als ob sich dort, wo die Senke lag, eine Sonne aus dem Boden schob und alles verbrannte, was jenseits der Hügel lag. Und sie wuchs … »Zum Schirm!« schrie Razamon. Atlan begann zu rennen, hinter dem Pthorer und Grizzard her. Seine Beine schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Es gab nichts,
das dafür sprach, daß beim Schirm die Rettung lag. Nichts konnte ihn durchdringen. Um die Flüchtenden herum wuchs das Chaos. Die Trommelfelle der Gefährten drohten zu platzen. Das Knistern der Luft schwoll an und übertönte sogar den Donner. Der Energieschirm begann heftig zu flackern. Furchtbare Entladungen tauchten die Landschaft in ein Meer aus Blitzen und grellen, tanzenden Lichtern, Energiespeere fuhren in die Hügel und schlugen klaffende Krater. Das war der Untergang! Dieser eine Gedanke beherrschte den Arkoniden, während er hinter Razamon und Grizzard her auf den Torbogen zurannte. Gehetzt sah er sich um. Die strahlende Lichtkuppel über dem SCHLOSS‐Zentrum gewann immer noch an Intensität. Dort konnte weit und breit nichts mehr leben. Grizzard erreichte die vor dem Torbogen schreienden und rasenden Dorkher als erster. Verzweifelt versuchte er sich zwischen ihnen hindurchzudrängen. Razamon und Atlan mußten Dorkher zurückschlagen, die ihnen die Magier von den Schultern reißen wollten. Jeder kämpfte gegen jeden. Es gab kein Entkommen. Es gab nur noch Tod und Verderben. Wenige Meter vor dem Torbogen brach Atlan in die Knie. Er hatte keine Kraft mehr, um sich aufzurichten. Verzweifelt hielt er Asparg fest. Um ihn herum waren ineinander verschlungene Leiber. Dorkher, Technos und selbst Chreeans wälzten sich schreiend am Boden. Auf allen vieren versuchten einige noch, sich vorzuschieben. Ihre Finger krallten sich in den Boden, ihre Gesichter waren nur noch Spiegel des Entsetzens, das in ihnen war. Irgendwo steckten Razamon und Grizzard. Atlan sah sie nicht mehr. Er sah fast gar nichts mehr. Die Helligkeit hatte ein Maß erreicht, das nun jede optische Wahrnehmung so gut wie unmöglich machte. Dunkle Schatten tanzten vor Atlans Augen. Er hörte nichts mehr außer dem Knistern und Krachen der Entladungen. Aus! dachte er. Aber er wollte, er durfte nicht aufgeben, solange noch ein Funke Leben in ihm war. LayʹTolʹEsh hatte etwas gewußt!
Er hatte an die Rettung geglaubt! Atlan kämpfte mit all seiner Kraft gegen die Resignation. Er hob einen Arm vor die Augen, ohne daß die schmerzende Helligkeit gemindert werden konnte. Doch dann war es plötzlich dunkel vor ihm. Instinktiv riß der Arkonide die Augen auf – und glaubte, seine Phantasie spielte ihm Streiche. Die Dorkher und Technos um ihn herum rannten, krochen und schleppten sich vorwärts, dorthin, wo eben noch die glühende Wand des Energieschirms das Ende aller Wege bedeutet hatte. Sie existierte nicht mehr. Auf eine breite Strecke war der Energieschirm über dem SCHLOSS zusammengebrochen. Vor Atlan lag die Freiheit! Er sah es, doch er konnte es nicht glauben. Er fühlte, daß sein Körper sich bewegte, aber es war so, als gehörte sein Bewußtsein nicht ihm. Razamon und Grizzard tauchten in seinem Blickwinkel auf. Sie schoben sich durch die fliehenden Dorkher hindurch auf ihn zu und packten ihn. Da endlich begriff Atlan, daß ihn seine Sinne nicht betrogen. War dies das Wunder, auf das Razamon bis zuletzt gehofft hatte? Atlan spürte seine Beine wieder. Er rannte, immer weiter, bis er erschöpft zusammenbrach. Hinter ihm ging ein Teil von Dorkh in einem grandiosen Schauspiel unter. Schwer atmend lag Atlan auf dem Rücken und war unfähig, den Blick abzuwenden. Dies war das Ende des SCHLOSSES.
8. Eingekeilt in halb wahnsinnige Horden von Dorkhern, waren sowohl Atlan mit Asparg als auch Grizzard und Razamon mit Fiothra nach draußen gelangt – keinen Augenblick zu früh. Der Energieschirm, der das gesamte SCHLOSS‐Gebiet überspannte, brach zusammen. Es geschah unter Blitzen, die die Dämmerung über Dorkh bis zum Horizont hin aufrissen, und ohrenbetäubendem Donner. Mit gewaltigem Getöse und Krachen vollzog sich das Unbegreifliche. Lichtspeere schossen weit in den Himmel und verblaßten. Doch der Energieschirm löste sich nicht einfach auf. Wie eine elastisch gewordene Kuppel fiel er glühend und zuckend in sich zusammen, bedeckte strahlend und wabernd das gesamte Gelände, über dem er gestanden hatte. Nichts konnte diese Katastrophe überleben – wobei die Frage war, ob es überhaupt eine Katastrophe oder vielmehr ein gesteuerter Vorgang war, denn die leuchtende Kuppel im Zentrum, das gigantische Gebilde aus reinem Licht, das viel größer war als das eigentliche Kristalldach, existierte nach wie vor. Nur dort schien sich der Energieschirm aufgelöst zu haben. Ebenso denkbar war allerdings, daß die strahlende Kuppel seine Energien ganz einfach »geschluckt« und umgewandelt hatte. Und es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß das Kristalldach im Zentrum des SCHLOSSES genau unter der strahlenden Glocke lag. Es bildete ihren Kern, war mit ihr verschmolzen oder … Atlan wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er sah fassungslos, wie der glühende Teppich über dem ehemaligen SCHLOSS zur Ruhe kam. Er überzog die Hügel wie eine strahlende Haut, die Blasen warf und hier und dort noch erzitterte, dann allmählich verblaßte. Dann senkte sich Stille über das Land. Dort, wo die strahlende
Kuppel war, leuchtete der Himmel noch. Ansonsten herrschte wieder die Dämmerung, die anzeigte, daß Dorkh nach wie vor durch den Dimensionskorridor raste. Der ganze Vorgang mochte zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde gedauert haben. Atlan konnte es schwer schätzen. Er richtete sich auf und sah sich um. Von den Dorkhern, Technos und Chreeans war nicht mehr viel zu sehen. In wilder Flucht rannten sie in alle Richtungen davon. Razamon starrte noch auf das Bild des Chaos. Grizzard stand neben ihm und hatte sich abgewandt. Er war nicht zusammengebrochen, doch Atlan fürchtete, daß seine momentane, überraschende Stärke nur ein vielleicht letztes Aufbäumen vor dem unvermeidlich erscheinenden Ende war. Die beiden Magier lagen auf dem Boden und rührten sich nicht. Atlan dachte an all die Wesen, die sich noch in den Hügeln oder der Senke befunden hatten, als das Chaos über sie hereinbrach. Sie alle waren tot. Hunderte von Unschuldigen. Die Hoffnung, daß ihnen ein schlimmeres Schicksal unter dem Kristalldach erspart worden war, war nur ein schwacher Trost. Atlan fühlte wieder den Zorn auf das in sich aufsteigen, was für ihren Tod verantwortlich war. Und es hatte noch mehr getan! Es war unmöglich, daß die zehn Sternschiffe den Zusammenbruch des Energieschirms überstanden hatten, falls sie nicht schon vorher in der Strahlung der Energieglocke vergangen waren. Damit war die Hoffnung darauf ausgelöscht, an Bord der TZAIR von Dorkh fliehen zu können, wenn der Dimensionsfahrstuhl sein Ziel erreichte – direkt im Zentrum der Macht, die die Schwarze Galaxis beherrschte, im Zentrum aller Schrecken. Aber war das Etwas in der Kuppel denn wirklich für den Untergang verantwortlich? durchfuhr es den Arkoniden. Es hätte auch sein Ende bedeutet, es sei denn … Wieder versuchte er, die Folgerungen aus seinen Gedanken zu
verdrängen. Der Alptraum – wenigstens dieser – mußte zu Ende sein! Dennoch ertappte Atlan sich dabei, wie er in sich hineinlauschte. Er spürte nichts, konnte nichts spüren, aber die anderen? Die Stille wurde beängstigend, schloß die drei Männer ein und schien mit eisigen Klauen nach ihnen zu greifen. Plötzlich sagte Grizzard: »Ich sah, wie YhmʹDheer unter den Dorkhern war, die in panischer Angst davonliefen. Warum verfolgt ihr ihn nicht mehr?« Atlan und Razamon sahen sich betroffen an. Und sie hatten den gleichen Gedanken. Sie hatten YhmʹDheer völlig vergessen gehabt, nur Augen für die Bilder der Vernichtung. YhmʹDheer selbst mochte unwichtig geworden sein. Aber nun, da alle Schiffe mit Sicherheit vernichtet waren, stellte Atlan sich die Frage, auf die er schon längst hätte kommen müssen: Wenn die Gassuaren mit einem Raumschiff nach Dorkh gekommen waren, existierte es dann noch irgendwo auf dem Dimensionsfahrstuhl? Hatten die sechs Agenten des Neffen Germen Zurm es irgendwo versteckt, und befand sich YhmʹDheer jetzt auf dem Weg dorthin? Gab es plötzlich wieder Grund zur Hoffnung, dem Dunklen Oheim doch noch entkommen zu können? Atlan fiel es schwer, sich von dem Bild des Grauens zu lösen, von den Eindrücken und Gedanken, die schwer auf seiner Seele lasteten, von den Ängsten, die mit der strahlenden Kuppel inmitten der glasiert wirkenden Landschaft verbunden waren. Aber er hatte schon zu lange gezögert. Die Magier kamen zu sich. Er selbst fühlte sich wieder kräftiger, und der Zellaktivator arbeitete zuverlässig in seiner Brust. »Hast du sehen können, wohin er sich wandte?« fragte er Grizzard. Der nickte und zeigte in eine bestimmte Richtung.
»Wir müssen ihn einholen!« preßte Razamon hervor. Auffordernd blickte er Atlan an. Die Magier fanden schnell wieder zu sich und konnten mithalten, als die Gefährten sich, von Grizzard geführt, in Bewegung setzten. Nach gut einer halben Stunde sahen sie den Gassuaren in der Ferne vor sich. Immer noch wimmelte es hier von Dorkhern, die nun ziellos durch die Gegend irrten und sich wieder zu Gruppen zusammenscharten. Doch YhmʹDheer war an seinem silbrig glänzenden Helm gut auszumachen. Der Gassuare bewegte sich schnell in nördliche Richtung. Atlan, Razamon, Grizzard und die Magier folgten ihm auf Sichtweite. Unterwegs berichtete der Arkonide Asparg und Fiothra von dem, was vorgefallen war. »Es lebt«, sagte Asparg tonlos. »Es ist nicht tot.« »Was?« fragte Atlan, obwohl er die Antwort kannte. »Das Etwas in der Kuppel. Es beginnt wieder, seine Impulse auszusenden. Es ist … ruhiger geworden.« Es stimmte also! Atlans Herz schlug bis zum Hals. Er hatte es geahnt. Aber was konnte in der Lage sein, eine solche Katastrophe zu überleben – noch dazu im Brennpunkt des Chaos? »Was spürt ihr?« fragte der Arkonide. »Wieder Heiterkeit und … Euphorie. Der Wunsch nach Vollendung. Es ist wieder wie am Anfang, bevor …« »Bevor es die Dorkher zu sich rief und tötete«, vollendete Atlan. Niemand sprach mehr. Es gab nichts zu sagen. Die Gefährten klammerten sich an die verzweifelte Hoffnung, daß YhmʹDheer einen Weg wußte, um von Dorkh zu entkommen – entweder mit einem Raumschiff oder auf andere Weise. Die Angst aber saß ihnen im Nacken. Und Atlan ahnte, daß das, was sie hinter sich hatten, tatsächlich nur ein Vorspiel gewesen war. Die Macht in der Kuppel lebte und streckte wieder ihre unsichtbaren Klauen aus. Und nun gab es keinen Energieschirm mehr, der ihren Einfluß
begrenzte. Sie griff nach ganz Dorkh. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 471 von König von Atlantis mit: Die Stadt der Verlorenen von Hans Kneifel