Mit dem Wind nach Westen - die Flucht, die keine war 1979 sollte für die Strelzyks ein Leben in Freiheit beginnen. Mit e...
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Mit dem Wind nach Westen - die Flucht, die keine war 1979 sollte für die Strelzyks ein Leben in Freiheit beginnen. Mit einem Selbstgebauten Heißluftballon waren sie erfolgreich über die Grenze geflohen. Doch die Stasi ließ nichts unversucht, den Strelzyks auch im Westen das Leben zur Hölle zu machen. Ein aufschlußreiches DeutschDeutsches Schiksal und eine bewegende Familiengeschichte.
Scanner und K-Leser - Keulebernd
Doris und Peter Strelzyk
Schicksal Ballonflucht Der lange Arm der Stasi
Unter Mitarbeit von Gudrun Giese
QUADRIGA
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Bildnachweis: Bilderdienst Süddeutscher Verlag, München: Abb. 7a, 7b/BStU, Berlin: Abb. 2, 4a, 4b, 5b/Foto-Peterlein, Pößneck: Abb. 6b/Picture Press, Hamburg: Abb. l, 3, 5a, 8, lOb, lla, llb, 12a, 12b, 13/Privat: Abb. lOa, 15a, 15b, 16/STERN Nr. 42 v. 11.10.79: Abb. 6a/Tom Jacobi/STERN: Abb. 9/Ullstein Bilderdienst, Berlin: Abb. 14
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Strelzyk, Doris: Schicksal Ballonflucht: der lange Arm der Stasi/ Doris und Peter Strelzyk. Unter Mitarb. von Gudrun Giese. Berlin: Quadriga, 1999 ISBN 3-88679-330-3
Copyright © 1999 by Ullstein Buchverlage GmbH & Co KG, Berlin Quadriga Verlag Alle Rechte vorbehalten Satz: LVD GmbH, Berlin Druck und Bindung: Grafischer Großbetrieb Pößneck Printed in Germany ISBN 3-88679-330-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff 3
Inhaltsverzeichnis Von Pößneck nach Pößneck.................................................... 7 Fremd im eigenen Land .......................................................... 9 Landung im Sperrgebiet........................................................ 15 Die Fahndung ....................................................................... 23 Diplomaten sollen helfen ...................................................... 27 Der zweite Ballon ................................................................. 34 Der Apparat läuft an ............................................................. 44 Sippenhaft in der DDR.......................................................... 49 Schaut auf diese Kleinstadt!.................................................. 53 Die Stasi bei der »Sicherungsarbeit«..................................... 59 Kampf für schuldlose Häftlinge ............................................ 63 Die Stasi knüpft ihr Spitzelnetz............................................. 69 Alltäglicher Psychoterror ...................................................... 74 Nachahmung unerwünscht .................................................... 80 Stasi-Spitzel überall .............................................................. 82 Besuch aus Pößneck ............................................................. 87 Filmpremiere mit Hindernissen............................................. 92 Ein Freund übt Verrat ......................................................... 112 Fröhliche Weihnacht mitten im September.......................... 116 Ein IM im Wartestand......................................................... 123 Eine spektakuläre Aktion.................................................... 125 Rückschläge ....................................................................... 128 4
IM »Karl Diener« wird aktiv............................................... 133 Anschläge........................................................................... 141 Diener fremder Herren........................................................ 148 Neubeginn in der Schweiz .................................................. 152 Spitzeldämmerung .............................................................. 158 Die Grenze fällt .................................................................. 160 Zähes Ringen mit Einheitsgewinnlern................................. 170 Zwanzig Jahre danach......................................................... 175 Blick zurück nach vorn ....................................................... 178 Anhang Abkürzungen................................................................... 182 Dokumente.................... Fehler! Textmarke nicht definiert.
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Viele Stasi-Dokumente sprechen den Regeln der deutschen Rechtschreibung Hohn. Dies ist ein Charakteristikum bürokratischer Machtausübung. Daher wurden die Zitate im Text und die Dokumente im Anhang nicht korrigiert. Die Namen der Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit sind vom Verlag geändert worden.
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Von Pößneck nach Pößneck In dem Wohnzimmer der Pößnecker Neubauwohnung erinnert wenig an das spektakuläre Ereignis, das ihr Leben vollständig verändert hat. Eine Sitzgarnitur, ein Sofatisch, eine Schrankwand, ein Fernseher - es sieht aus wie in Millionen deutscher Wohnzimmer. Nur ein paar Urkunden haben Doris und Peter Strelzyk an die Wand gehängt, Urkunden für Ballonfahrer. Sie künden nicht von einem exklusiven Hobby. Es sind vielmehr Erinnerungen an eine tollkühne und lebensgefährliche Flucht. In der Nacht des 16. September 1979 stiegen die vierköpfige Familie Strelzyk mit einem befreundeten Paar und deren zwei Kindern in Thüringen in die Gondel eines selbstgebauten Heißluftballons. Die Luftreise führte sie nur einige Kilometer nach Westen, aber in eine andere Welt. Nach der glücklichen Landung im bayerischen Naila sollte sich für die beiden jungen Familien mehr als nur der Wohnort verändert haben. Die spektakuläre Flucht aus der DDR sicherte ihnen nicht nur im Westen, sondern auch im Osten große Aufmerksamkeit. Bevor sich Strelzyks auch nur halbwegs in ihrer neuen Heimat eingelebt hatten, waren ihnen schon die ersten Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf den Fersen. Fortan blieb kein Schritt der Familie unbeobachtet. Als Doris und Peter Strelzyk zudem im Westen nicht schwiegen und Menschenrechtsverletzungen in der DDR anprangerten, wurden sie zu Staatsfeinden, die die Stasi nach allen Regeln der geheimdienstlichen Kunst bespitzelte. Ungeachtet der Observationen, Drohungen und Anschläge baute sich die Familie eine neue Existenz erst in der Bundesrepublik, dann in der Schweiz auf. Doch einfach und unkompliziert war ihr Leben nie. Wer sie wann und wo ausspioniert und detaillierte Dossiers an die Stasi geliefert hatte, erfuhren Strelzyks erst nach der 7
Wende. In der Gauck-Behörde lagern insgesamt 25 Kilogramm Akten über die Familie, über ihren ersten, mißglückten Fluchtversuch, den zweiten, gelungenen mit einem Ballon und vor allem über die Jahre in der Bundesrepublik. Die Lektüre vieler hundert Seiten Stasi-Dokumente hat am Ende manchen zaghaften Verdacht der Strelzyks bestätigt und einige böse Überraschungen zu Tage gefördert. Nach der Wende konnte die Familie ihr Hab und Gut zurückfordern, auch das Eigenheim in der thüringischen Kleinstadt Pößneck. Doch mussten Strelzyks die bittere Erfahrung machen, dass die Demokratie keineswegs umstandslos zurückerstattete, was die Diktatur des Proletariats nach der Flucht umgehend eingezogen hatte. Doch Strelzyks sind hartnäckige Menschen. So beharrlich, wie sie Jahre zuvor die Ballonflucht vorbereitet hatten, nutzten sie nun die Mittel des Rechtsstaates, um ihr Eigentum zurückzuerhalten. Schließlich führte ihr Weg wieder zurück in die thüringische Heimat - von Pößneck nach Pößneck. Eine lange Strecke liegt dazwischen, länger als sich in Kilometern beziffern läßt. Doris und Peter Strelzyk haben erlebt, wie groß die Entfernung zwischen Deutschland und Deutschland, DDR und Bundesrepublik tatsächlich war. Sie haben die brutale Härte eines Systems am eigenen Leib auch dann noch erfahren, als sie meinten, es längst glücklich hinter sich gelassen zu haben.
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Fremd im eigenen Land »Zu einem der vielen kleinen Auslöser unserer Flucht«, erzählt Peter Strelzyk, »wird ein Tag im Spätsommer 1968. Im Volkseigenen Betrieb Polymer, in dem ich als Leiter der Abteilung Automatisierung arbeite, findet eine außerordentliche Betriebsversammlung statt. Nur ein Thema steht auf der Tagesordnung: >Die Zerschlagung der Konterrevolution in der CSSR<. Eigenartigerweise stehen die SED-Parteigenossen der Grundorganisation unseres VEB auf der Seite der tschechoslowakischen Opposition. Ich erlebe zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Demokratie. Langjährige Genossen sind empört über die Parteilinie und halten - das war undenkbar - mit ihrer Meinung nicht zurück: >Deutsche Truppen, die Nationale Volksarmee, stehen schon wieder mit Panzern in einem - noch dazu sozialistischen - Staat. Wir lehnen eine solche Gewaltpolitik ab.< Doch den mutigen Genossen wird schnell der Schneid abgekauft. Die SED-Kreisleitung und die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit schicken eigens einige Genossen aus Gera in unseren Betrieb, um die Mitarbeiter auf Linie zu bringen. Schließlich erzwingen sie die Abstimmung über einen vorbereiteten Text: >Wir verurteilen die Konterrevolution in der CSSR. Wir begrüßen als Grundorganisation deren Niederschlagung durch die Bruderstaaten der sozialistischen Staatengemeinschaft.< Es folgt die Bitte um das Handzeichen. Zögern. Doch schließlich heben sich alle Arme, auch meiner. Aber in diesem Augenblick hat die Diktatur einen Rebellen geboren. Meine Familie stammt aus Oppeln in Schlesien. 1945 mussten wir unsere Heimat verlassen. Ich war damals drei Jahre alt. Mein Vater war schon ein Jahr zuvor verschwunden. Als sogenannter Halbjude konnte er nicht länger bei uns bleiben und tauchte unter. Wie viele Frauen damals musste 9
meine Mutter ihre drei Kinder allein durchbringen: Erich, den Ältesten, meine kleine Schwester Maria und mich. Vater überlebte glücklicherweise. Mutter fand ihn nach dem Krieg mit Hilfe des Rote-Kreuz-Suchdienstes München. Wir lebten damals in Neuenbeuthen in Thüringen, und ich besuchte die Zentralschule im Nachbarort Drognitz. Die DDR hatte in den Anfangsjahren erhebliche Probleme, genügend Lehrer zu finden. Viele setzten sich in den Westen ab. So wurden wir schon bald von älteren Pädagogen unterrichtet, die nach dem Krieg aus dem Schuldienst entlassen worden waren wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der NSDAP. Aber im Grunde war es egal, ob wir alte oder neue Lehrer hatten. Alle hielten sich an die Parole: Vorwärts, wir bauen mit Hilfe der Sowjetunion den wahren Sozialismus auf. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Im Neuen Deutschland war zu lesen, dass die Amerikaner von Flugzeugen aus Kartoffelkäfer auf die DDR abwerfen. Wir Schüler mussten jeden Sonntag auf den Äckern die Kartoffelkäfer von den Pflanzen sammeln. Dort bekamen alle Zweifler wieder und wieder zu hören, dass die Herkunft der Kartoffelkäfer ganz einwandfrei feststehe; schließlich hätten sie Streifen auf dem Rücken, ganz ähnlich denen auf dem Sternenbanner. Solche phantastischen Geschichten weckten nicht nur bei mir erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Lehrern und Funktionären. Die Obrigkeit kannte noch weit wirksamere Methoden, um die Loyalität der Bürger zu erschüttern. Einige Jahre später, ich war bereits Lehrling, führte ich meinen Freunden stolz eine nagelneue Nietenhose vor, die ich von Verwandten aus dem Westen geschenkt bekommen hatte. Sofort rückten einige Volkspolizisten an, beschimpften uns als Halbstarke und brachten uns zur Wache. Dort griff einer der Polizisten zur Schere und schnitt die Markenzeichen aus der Hose. Mein Traumberuf war Pilot. Deshalb hatte ich mich für die Luftwaffe entschieden, als ich zur Nationalen Volksarmee 10
einberufen worden war. Doch ich blieb bei der Bodentruppe und wurde Flugzeugmechaniker für Triebwerk und Hydraulik. Die Ausbildung war im Berufsleben sehr nützlich. 1963 fing ich im VEB Polymer in Pößneck als Mechaniker an. Ich kümmerte mich um die Wartung und Instandhaltung von hydraulischen Spritzgießautomaten, mit denen Kunststoffe verarbeitet wurden. Später wurde ich Leiter der Abteilung Automatisierung. Im Gegensatz zu den meisten DDR-Betrieben war unser VEB sehr produktiv. Oft musste ich nachts in den Betrieb fahren, um defekte Maschinen zu reparieren, die dringend für die laufende Produktion benötigt wurden. Für den Erfolg des Betriebes war vor allem ein Mann verantwortlich, der Leiter Horst Schaudienst. Er hatte im Westen gelebt und war in den sechziger Jahren freiwillig in die DDR gekommen. Ärzte im Westen hatten einen unheilbaren Blasenkrebs diagnostiziert, und er wollte die letzten Monate bei seinen Eltern in Thüringen verbringen. Doch es kam anders. Schaudienst wurde gesund und übernahm die Leitung unseres VEB. Anders als die Parteifunktionäre, die üblicherweise große Betriebe leiteten, kümmerte er sich um den Betrieb und die Beschäftigten. Schaudienst war menschlich in Ordnung und auch fachlich sehr kompetent. Für einen Parteisekretär in einem Volkseigenen Betrieb war dagegen ein sechsjähriger Schulbesuch die beste Qualifikation. Schließlich wurde eigenständiges Denken beinahe als strafbare Handlung gewertet. Pößneck war damals eine Kreisstadt mit rund 20 000 Einwohnern. Von den Häuserfassaden bröckelte der Putz, an den Sommertagen roch es in den Gassen nach Fäkalien, eine Kanalisation gab es natürlich nicht. Nachts lag die Stadt verwaist, uralte Laternen tauchten die Straßen in ein schummriges Licht. Eine ideale Kulisse für einen Nach11
kriegsfilm. Am Stadtrand entstanden Plattenbausiedlungen. Nicht schön, aber allemal besser als die verfallenden Altbauten. Wir hatten mehr Glück, denn wir wohnten in einer Doppelhaushälfte am Altenburgring. Das Haus war 1934 gebaut worden, und wir hatten es mit viel Mühe ausgebaut und modernisiert - der reine Luxus in der DDR. Zufrieden waren wir trotzdem nicht. Die politischen Verhältnisse bedrückten uns: Volkskammerwahlen, die die SED und die Blockparteien regelmäßig mit über 99 Prozent der Stimmen gewannen; ein Antifaschistischer Schutzwall und perfekte Grenzanlagen, angeblich zum Schutz der DDR-Bürger vor den kapitalistischen Nachbarn; demonstrative Loyalitätsbekundungen nicht nur am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. All das engte uns immer mehr ein, schnürte uns die Luft ab. 1974 beantragten wir eine Reise nach Jugoslawien. Eine Antwort erhielten wir nie.« »Es muss ein Sonnabend gewesen sein«, erinnert sich Doris Strelzyk, »irgendwann 1963. Ich war 16, lernte Industriekaufmann und war sehr schüchtern. Also wurde ich erst einmal tiefrot und brachte kein Wort heraus, als mich im Cafe Neubert am Markt plötzlich ein junger Mann ansprach. Er stellte sich als Peter Strelzyk vor, und nachdem ich meine Verlegenheit überwunden hatte, kamen wir doch noch ins Gespräch und tanzten schließlich miteinander. Der ersten Begegnung folgten schnell weitere. Ich konnte Peter für das neugegründete Arbeitertheater gewinnen, wo ich in meiner Freizeit als Souffleuse hinter der Bühne stand. Uns fehlte noch ein Darsteller für die Rolle des Advokaten in Molieres Der eingebildete Kranke. Die übernahm Peter. Die Theatertruppe fiel nach einiger Zeit auseinander, Peter und ich aber blieben zusammen. Wir heirateten am 17. Juni 1966. Ich bin in Pößneck aufgewachsen. Meine Eltern waren beide berufstätig, deshalb musste ich mich meistens um meinen drei 12
Jahre jüngeren Bruder Kurt kümmern. Später hieß es, ihm habe ein ordentliches Elternhaus gefehlt. Da war Kurt 15 Jahre alt und wegen versuchter Republikflucht angeklagt. Er hatte von der Tschechoslowakei aus die Grenze nach Bayern überwinden wollen und war festgenommen worden. Kurt erhielt trotz seiner Jugend eine zwanzigmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Peter und ich liebten uns. Unser erster Sohn Frank kam 1964 auf die Welt, der zweite, Andreas, 1968. Wir führten ein inniges Familienleben. Vor der Geburt von Andreas waren wir an den Wochenenden oft per Motorrad unterwegs und besuchten die Saale-Talsperren in der näheren Umgebung. Als dann unser zweiter Sohn auf der Welt war, brauchte die Familie ein geräumigeres Beförderungsmittel. Wir kauften den ersten Trabant. Das Auto ermöglichte größere Reisen: In den Sommerferien fuhren wir an die Ostsee, nach Polen oder in die Tschechoslowakei. Unsere Söhne besuchten, so war es in der DDR üblich, bis zu ihrem sechsten Lebensjahr den Kindergarten. Frank war ein ruhiger Typ, Andreas dagegen ziemlich wild. Als er sechs Jahre alt war, biß ihn unser Kater Purzel in die Wade. Andreas revanchierte sich sofort und biß den Kater in den Schwanz. Fortan nannten ihn seine Freunde nur noch Fitscher. Den Spitznamen trägt er bis heute in der Familie. 8. März 1978. Der alljährliche Internationale Frauentag wird feierlich begangen. Lobesreden werden gehalten, Orden in den Betrieben und Verwaltungen an Frauen verliehen, vor allem an jene, deren Revers das Abzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ziert. Ich verspürte wenig Lust, an der verordneten Feierstunde in der Kreissparkasse Pößneck teilzunehmen, wo ich als Sachbearbeiterin arbeitete. Um solchen Pflichtveranstaltungen fernbleiben zu können, brauchte man eine gute Ausrede. Im Grunde bestand das ganze DDR-System nur aus Ausreden. 13
>Mein Sohn Andreas ist erkältet, ich muss ihn versorgen<, verhalf mir zu einem frauentagfreien 8. März. Ehrlichkeit war nur im engeren Familien-, Verwandten- und Freundeskreis möglich. Wir trafen uns meist privat mit unseren Freunden. Besonders engen Kontakt hatten wir zu Thomas Dietrich, einem Arbeitskollegen von Peter, und seiner Frau Brunhild. Auch meine beste Freundin Gisela war oft mit ihrem Mann bei uns. Doch die offenen Gespräche mit ihnen waren kein vollwertiger Ersatz für Meinungs- oder Reisefreiheit.«
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Landung im Sperrgebiet »Wir haben nur eine einzige Möglichkeit, hier wegzukommen.« »Und welche ist das?« fragt Doris. »Der Luftweg«, sage ich und blicke ihr fest in die Augen. Doris erklärt mich für verrückt. Erregt reden wir aufeinander ein. »Ich bin doch Flugzeugmechaniker. Mir wird schon einfallen, wie ich ein für uns alle geeignetes Luftfahrzeug bauen kann«, sage ich. Sie schüttelt weiterhin zweifelnd den Kopf, und so endet das Gespräch. Doch die Idee beschäftigt uns weiter. Es muss irgendwann im März 1978 gewesen sein. In der Frühstückspause unterhalte ich mich mit meinem jüngeren Kollegen Günter Wetzel über Fluchtmöglichkeiten. Wir sind uns schnell einig, dass nur der Luftweg in Frage kommt. Denn die Grenze ist mit Minen, Selbstschußanlagen und Zäunen gesichert, gut ausgerüstete Wachposten kontrollieren jeden Zentimeter und schießen auf jeden Verdächtigen, die Ostsee wird von Patrouillenbooten überwacht. Davon weiß jeder DDR-Bürger, der Westfernsehen sieht. Und das tun eigentlich alle. »Warum bauen wir nicht einfach einen Heißluftballon?« Die Frage steht plötzlich im Raum. Kommt sie von Günter Wetzel oder von mir? Das ist nicht mehr wichtig, denn die Idee fasziniert uns beide. Wir beschließen, zunächst mit unseren Frauen zu reden. Dann wollen wir weitersehen. Doris ist erst einmal skeptisch, als ich ihr euphorisch vom Luftschiff erzähle. »Wie sollen wir denn in aller Heimlichkeit einen Ballon bauen, der vier Erwachsene und vier Kinder sicher über die DDR-Grenze trägt?« fragt sie. An Antworten fehlt es mir nicht, doch am Ende überzeugt sie wohl meine Begeisterung. Zunächst berechnen wir, wie die Ballonhülle beschaffen sein muss, um acht Menschen in den anderen Teil Deutschlands zu tragen. Doch die Berechnungen sind der einfachste 15
Teil der Arbeit. Der Ballon muss ein Volumen von 2800 Kubikmetern haben. Im Balloninneren muss eine Temperatur herrschen, die mindestens 80 Grad über der Außentemperatur liegt. Die Umsetzung des Projektes ist dagegen unendlich kompliziert, schließlich herrscht in der DDR Mangelwirtschaft. Nachdem sich auch Petra Wetzel mit der Flucht in einem Ballon einverstanden erklärt hat, beginnt die schwierige Phase der Materialbeschaffung. Wir benötigen insgesamt 850 Quadratmeter Stoff. Oft führen die Geschäfte überhaupt keinen geeigneten Stoff. Sonst erhalten wir nur 5 oder auch 20 Quadratmeter. Dann haben wir großes Glück: Im Warenhaus von Gera erstehen wir 460 Quadratmeter auf einen Schlag. Der Verkäuferin gaukeln wir vor, dass wir Vorzelte für unseren Camping-Club nähen wollen. Die 850 Quadratmeter werden im langen Flur des Wetzelschen Hauses zugeschnitten. Unermüdlich rattert dann ihre alte Gritzner-Nähmaschine und näht aus 48 Stoffbahnen die riesige Ballonhülle zusammen. Ich beschäftige mich derweil mit der Konstruktion eines geeigneten Brenners und eines Gebläses, das die Ballonhülle vor dem Start mit Kaltluft füllt. Im September 1978 ist die Ballonausrüstung vollständig. Nun folgt die Erprobung der Eigenkonstruktion. Damit beginnt eine Zeit der Rückschläge. Beim Test auf einer abgelegenen Waldwiese bei Neuenbeuthen merken wir schnell, dass der Brenner zu schwach geraten ist. Seine Leistung reicht nicht aus für den Auftrieb. Wir tüfteln weiter. Bald darauf gibt es den nächsten, noch schmerzlicheren Rückschlag. Günter und Petra Wetzel steigen aus. Vor allem Petra befürchtet, dass der Ballon abstürzt. Gegen Angst läßt sich nicht argumentieren. Wir beseitigen alle Spuren des Ballonbaus in ihrem Haus und meiden in der folgenden Zeit jeden Kontakt, damit die Wetzels mit ihren zwei kleinen Kindern nicht wegen Mit16
wisserschaft belangt werden können, falls uns die Flucht gelingt - oder man uns erwischt. Wir arbeiten allein weiter. Frank hilft mir bei der Weiterentwicklung des Brenners. In einer Aprilnacht finde ich endlich die Lösung: Das Gas muss fein zerstäubt erst in der Ballonhülle gezündet werden, so dass keine Hitze zu den Seiten entweichen kann. Innerhalb von nur zwei Tagen bauen Frank und ich den neuen Brenner zusammen. Das Gerät besteht den Test ohne Schwierigkeiten. In dieser aufreibenden Zeit ist nichts wichtiger, als nach außen hin den Anschein einer normalen Familie zu wahren. Nachts entwickeln wir die Anlagen für den Ballon, tagsüber gehen wir wie normale Bürger unseren Beschäftigungen nach. Die Jungen lassen sich in der Schule und gegenüber den Freunden nicht das geringste anmerken. Die l.-Mai-Feier wird in Pößneck mit großem Aufwand vorbereitet. Schließlich jährt sich 1979 die Gründung der DDR zum dreißigsten Mal. Wir erleben die Paraden und Demonstrationen nur am Rande mit, unser Leben kreist längst nur noch um die Fluchtvorbereitungen. Frank drängt auf einen weiteren Ballontest. Mitte Mai fahren wir zu viert auf die Waldwiese bei Neuenbeuthen. Im Anhänger unseres Moskowitsch liegen die riesige Ballonhülle, mehrere Propangasflaschen, ein Flammenwerfer und der Brenner. Wir haben keine Angst, entdeckt zu werden, denn die Wiese liegt weitab von jeder menschlichen Behausung. Um l Uhr nachts packen wir die Gerätschaften aus. Die Gondel wird im Boden verankert und das Gebläse aufgebaut. Frank, Fitscher und Doris halten die Öffnung der Stoffhülle auf, damit die Luft einströmen kann. Nach 15 Minuten ist der Ballon prall gefüllt, liegt aber noch am Boden. Ich stelle den Flammenwerfer an. Die Flamme schießt zischend in die Hülle, und die Stoffmassen richten sich allmählich auf. Frank zündet den Brenner. Wir 17
stellen uns zu viert auf den Boden der Gondel und spüren, wie der Ballon an ihr zieht. Wäre die Gondel nicht mit Seilen und Rohren fest in der Erde verankert, wir würden sofort aufsteigen. Doch heute weht der Wind aus Westen, und das ist die falsche Richtung. Aber wir sind froh über den gelungenen Test. Bis die Luft aus der Ballonhülle entwichen und alles wieder auf dem Anhänger verstaut ist, vergeht eine halbe Stunde. Kurz vor 3 Uhr ist der Versuch beendet. Nach dem geglückten Test fehlt uns nur noch eines: geeigneter Wind. Jeden Tag hören wir um 18 Uhr nervös den Segelflugwetterbericht von Bayern 3 mit Angaben über Thermik, Windgeschwindigkeit und Windrichtung. Aus Norden weht der Wind leider nur selten. Obwohl wir innerlich auf dem Sprung sind, müssen wir noch einen sozialistischen Akt über uns ergehen lassen. Am 27. Mai feiert Frank seine Jugendweihe. Anfangs wollte er nicht teilnehmen, bis er begriff, dass wir gerade jetzt nicht auffallen dürfen. Nun wird diese »Aufnahme in die Gemeinschaft der Werktätigen« für ihn zu einer Abschiedsveranstaltung. Nach dem Festakt im Kreiskulturhaus Pößneck feiern wir mit Verwandten und Bekannten in unserem Haus. Auch für uns ist es ein heimlicher Ausstand. Der ganze Juni vergeht ohne geeignetes Fluchtwetter. Wir werden ungeduldig. Doch am 3. Juli 1979 ist der große Tag gekommen. Die Wolken ziehen von Nord nach Süd. Doris hört stündlich den Wetterbericht. Der Nordwind bläst stetig. Gegen 20.30 Uhr fahren wir zu Hause los, holen den Anhänger mit dem Ballon aus der Garage in der Orlamünder Straße und verlassen dann langsam Pößneck. Es ist l Uhr, als wir den Startplatz zwischen Wurzbach und Lobenstein erreicht haben. In beiden Orten sind in den letzten Jahren Kasernen für die Grenztruppen der Nationalen Volksarmee gebaut worden. Die Grenze ist etwa zwölf Kilometer entfernt, das Sperrgebiet, 18
durch das Tag und Nacht Patrouillen streifen, sieben Kilometer. Im Nu ist der Ballon ausgeladen und zusammengebaut. Jeder Handgriff sitzt. Wir haben ihn unzählige Male geübt und den Augenblick herbeigesehnt, in dem wir ihn ein letztes Mal tun werden. Die Gondel wird im Boden verankert, während sich die Ballonhülle mit Luft füllt. Nach dem Flammenwerfer wird der Brenner angestellt, und wir besteigen die Gondel. Mächtig erhebt sich die Ballonhülle in den dunklen Nachthimmel. Ich werfe den Flammenwerfer über Bord. Dann kommt der große Augenblick: Frank und ich durchtrennen im selben Moment die Verankerungsseile. Unsere Reise Richtung Himmel beginnt. Wir steigen drei Meter pro Sekunde und erreichen nach etwa 25 Minuten eine Höhe von 1900 Metern. Plötzlich wird es dunkel. Der Ballon ist in die Wolkendecke eingetaucht. Im ersten Moment bin ich froh darüber, weil der Feuerschein des Brenners von unten nicht mehr zu sehen sein wird. Doch im Nu saugt sich der Baumwollstoff der Ballonhülle voll mit Wasser. Das Gewicht steigt, und der Ballon sinkt. Obwohl der Brenner mit voller Leistung läuft, verlieren wir immer schneller an Höhe. Die Lichter von Häusern sind unter uns zu sehen, der Druck in den Ohren nimmt zu. Die Brennerflamme wird kleiner, die Gasflaschen sind schon leer. Baumwipfel tauchen aus dem Dunkel auf, streifen den Boden der Gondel, es knackt mehrmals laut. Eine hochgewachsene Fichte zerfetzt die Ballonhülle. Die Gondel setzt hart auf. Wir halten uns aneinander fest, niemand wird verletzt. Nach 34 Minuten ist die Luftfahrt im Wald plötzlich zu Ende. Ob wir es geschafft haben, über die Grenze zu kommen? Der Flugzeit nach wäre es wohl möglich. Ich gehe mit Kompaß und Taschenlampe in Richtung Westen. Nach 200 Metern stoße ich auf einen Metallgitterzaun, vier bis fünf Meter hoch, in kurzem Abstand dahinter befindet sich ein zweiter Zaun. Ein 19
Stück weiter rechts sehe ich eine Art Beobachtungsturm. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir östlich oder westlich der Grenze gelandet sind. Ich schleiche zu den anderen zurück und berichte, was ich entdeckt habe. Doris fragt, was keiner von uns weiß: »Sind wir nun im Osten oder im Westen?« Da findet Frank auf dem Boden ein bedrucktes Stückchen Papier. Toastbrot steht darauf, VEB Nahrungs- und Genußmittel Wernigerode. Dieser Fund raubt uns die letzte Hoffnung. Wir sind im Sperrgebiet kurz vor dem ersten Sicherheitszaun gelandet. Ich breche vollständig zusammen und bekomme einen Schweißausbruch. Er dauert wohl nur drei Minuten, kommt mir aber wie eine Ewigkeit vor. Schließlich helfen mir Doris und Frank wieder auf die Beine. Jeden Moment können Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag zwischen den Bäumen erscheinen. Wir müssen den Grenzstreifen möglichst schnell verlassen und gehen Richtung Osten. Plötzlich liegen Stolperdrähte und Erdgräben vor unseren Füßen. Wir dürfen die Drähte keinesfalls berühren, weil sie mit Sicherheit Minen oder Signalgeräte auslösen. Vorsichtig steigen wir über die Hindernisse. Aus der Ferne ist das Geräusch eines Lastwagens zu hören. Kommen sie jetzt? Unsere Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Doch allmählich wird das Motorengeräusch schwächer. Nach zwei Stunden lichtet sich der Wald. Wir haben den Grenzstreifen mit Drähten und Gräben hinter uns. Aber ein weites und kaum weniger gefährliches Stück liegt noch vor uns. Wir überqueren eine Straße und verstecken uns in den Furchen eines Kartoffelackers, als zwei Autos vorüberfahren. Dann erreichen wir wieder ein Waldstück. Acht Kilometer Luftlinie sind es laut Karte und Kompaß bis zu unserem Startplatz. 20
Kurz davor müssen wir die Fernverkehrsstraße 90 überqueren. Ein Abschleppauto fährt in Richtung unseres Startplatzes vorbei. »Das war's. Sie haben unser Auto gefunden«, sagt Doris resigniert. Wir können sie etwas beruhigen. Aber insgeheim denken wir alle dasselbe. Noch 500 Meter Ungewißheit. Dann liegt die Wiese vor uns. Es ist kaum zu glauben: Es sieht aus, als ob wir vor fünf Minuten gestartet wären. Nun ist der Bann gebrochen. Innerhalb kürzester Zeit laden wir den abgeworfenen Flammenwerfer, Seile und Rohre auf den Anhänger. Nicht der kleinste Gegenstand darf zurückbleiben. Wir fahren auf einer anderen Strecke zurück nach Pößneck. Dabei quält uns die bange Frage: Wer wartet im Haus auf uns? Polizei? Oder Staatssicherheit? Als wir in die Einfahrt einbiegen, springt nur unser Kater Purzel aus dem Haus. Wir sind wieder daheim - erschöpft und enttäuscht, aber bisher unentdeckt. Zunächst müssen Entschuldigungen für die Kinder beschafft werden. Wir fahren zum Kinderarzt, der Frank und Fitscher einen Magenkatarrh bescheinigt. Sie sehen nach den Anstrengungen der Nacht wirklich krank aus. Doris erhält einen Arbeitsbefreiungsschein, um die Kinder pflegen zu können. Dann sitzen wir zu Hause. Bis auf Fitscher findet niemand Schlaf. Wir überlegen, welche Gegenstände in der Gondel zurückgeblieben sind. Es sind ein Barometer, eine Wasserpumpenzange und ein Taschenmesser - alles Massenartikel, die es überall zu kaufen gibt. Aber Doris fällt ein, dass sie einen Plastebeutel mit Medikamenten liegengelassen hat. »Auf den Packungen stehen doch die Chargen-Nummern. Daraus können sie sicher Schlüsse ziehen«, befürchtet sie. Ich weiß, dass die Sicherheitskräfte die kleinste Spur sichern und verfolgen werden. »Den Ballon haben sie längst gefunden. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns erwischen.« Frank spricht schließlich aus, was uns dreien im Kopf 21
herumgeht: »Wir müssen eben einen neuen Ballon bauen!« Er hat recht. Wir haben keine Wahl. Ein neuer Ballon muss gebaut werden, koste es, was es wolle. Vor allem muss es schnell gehen. Ein zweites Mal steht uns die schwierige Materialbeschaffung bevor. Wenn wir den Wettlauf mit der Zeit nicht gewinnen, dann landen wir im Gefängnis und Fitscher im Heim. Wir haben keine Alternative. Die Flucht kann gelingen, sie muss gelingen. Schließlich fliegt unser Eigenbauballon. Wir haben nur Pech mit dem Wetter gehabt.
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Die Fahndung In einem Punkt hatten Strelzyks recht: Nachdem die Reste der Ballonhülle und die abgestürzte Gondel im Sperrgebiet gefunden worden sind, laufen die Apparate der Staatssicherheit und der Volkspolizei an, um die gescheiterten Republikflüchtlinge ausfindig zu machen. In einem anderen Punkt jedoch irrten Strelzyks: Es dauert 17 Tage, bis ein Kollektivjäger die Reste des Ballons im Wald bei Neundorf findet. Der Angehörige eines Jagdkollektivs informiert umgehend die Grenzposten. Aber 17 Tage sind inzwischen vergangen, 17 Tage, die die Familie Strelzyk Vorsprung vor Stasi und Volkspolizei hat. Allerdings können die gescheiterten Flüchtlinge natürlich nicht ahnen, wie schlampig die Grenztruppen die ihnen anvertraute und der DDR äußerst wichtige Aufgabe erfüllen. Wieviel Energie Staatssicherheit und Volkspolizei dann in nachholendem Aktivismus auf die entdeckten Überreste des Ballons verwenden, dokumentieren eindrucksvoll Dutzende von Dokumenten, die mittlerweile bei der Gauck-Behörde lagern. Auf 39 Blatt Papier werden immer wieder aufs Neue und mit zunehmender Ausführlichkeit die Umstände, die beteiligten Personen und das zentrale Objekt der geheimdienstlichen und volkspolizeilichen Begierde beschrieben. In der ersten telegrafischen Nachricht an einen Obersten der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Gera vom 20. Juli 1979 fällt die Beschreibung noch relativ knapp aus, obwohl eine DDR-typische Liebe zum Detail zu erkennen ist: »durchmesser ca. 25 m, farbe: grau, braun, rot-braun gefleckt, material: seide, schriftzeichen nicht erkannt, [...] grundplatte aus blech mit teppichboden ausgelegt, ca. 1,20 m im quadrat, an dieser plattform befindet sich eine stahlkonstruktion mit seilen umwickelt in form eines kleinen boxringes. in der gondel 23
sind 3 propangasflaschen angebracht, ddr-produktion, Volumeninhalt je 11 kg.« Diese Meldung der Stasi-Bezirksverwaltung setzt den Apparat in Bewegung. Blatt um Blatt Papier füllen Mitarbeiter, die der deutschen Sprache oft in nur eingeschränkter Weise mächtig sind. Sie dokumentieren, wie hoch die Ballonhülle ist, welche Stoffsorten verwendet wurden, wie der Brenner konstruiert ist. Natürlich werden auch die in der Gondel vergessenen Gegenstände, darunter die Wasserpumpenzange und die Medikamente, exakt beschrieben. In einem Schreiben der Stasi-Bezirksverwaltung Gera vom 20. Juli heißt es: »Durch den ABV wurde der Gruppenpostenleiter [...] und der OdH des VPKA Lobenstein gegen 07.50 Uhr informiert. Zum gleichen Zeitpunkt erhielt die KD Lobenstein Kenntnis durch den OdH des VPKA. Zwischenzeitlich begab sich der ABV und der Gruppenpostenleiter zum Fundort und führten Erstuntersuchungen durch, nahmen eigenhändige Veränderungen an den vorhandenen Gegenständen vor und suchten die nähere Umgebung nach weiteren Gegenständen ohne Ergebnis durch.« In diesem Tenor geht es über Seiten weiter. Wer wann wen informiert hat. Welche Beobachtungen gemacht wurden. Wie der Fundort aussah. Der Apparat hat ein nicht geringes Eigengewicht, das bei jedem Schritt mitbewegt werden will. In einem Punkt verschätzen sich die Stasi-Experten bei aller Akribie nicht unerheblich. Vier bis vierzehn Tage habe die Ballonhülle im Sperrgebiet gelegen, folgern sie aus dem Umstand, dass das Gras unter den Fundstücken leicht vergilbt ist. Tatsächlich sind es 17 Tage. Die folgenden Untersuchungen zielen in die Breite: Da wird Anweisung gegeben, sämtliche Untersuchungshäftlinge der Haftanstalt Rudolstadt, die nach dem 25. Juni 1979 eingeliefert wurden, nach Kenntnissen des Fallschirmsports, des Schweißens sowie des Installateurhandwerks zu befragen. Die 24
Grenzkreisdienststellen Lobenstein, Saalfeld und Schleiz sollen ermitteln, ob im fraglichen Zeitraum »verdächtige männliche und weibliche Personen« gesehen wurden, die ortsunkundig waren, verschmutzte Kleidung trugen oder sich zur Behandlung von Verletzungen in ein Krankenhaus begaben. Auch Inoffizielle Mitarbeiter werden mobilisiert: »Über die Bezirkskoordinierungsgruppe wird an die Bezirke Erfurt, Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Gera ein gesonderter Informationsbedarf für den dortigen Einsatz der inoffiziellen Kräfte zur Ermittlung der Täter gegeben.« IMs sollen sich auch mit dem Operativvorgang »Maulwurf« befassen. In Stadtroda hatte ein DDR-Bürger angekündigt, per Ballon die DDR von Thüringen aus zu verlassen. Nun soll untersucht werden, ob die inkriminierte Person nach dem 25.06.79 für ein oder zwei Tage verschwunden und später möglicherweise verletzt war. Außerdem sei zu klären, heißt es im »Maßnahmeplan«, ob dieser Bürger überhaupt die »handwerklichen und technischen Möglichkeiten besitzt, einen solchen Ballon wie er aufgefunden wurde herzustellen bzw. herstellen zu lassen«. Die Ermittlungen sind so umfassend, weil die Ermittler im Dunkeln tappen. Sie sind sich nicht einmal sicher, ob der Fluchtversuch geglückt ist. Also werden auch Publikationen des Klassenfeindes zur Aufklärung herangezogen. Westliche Publikationsorgane sollen durchgesehen werden, um festzustellen, ob »es Bürgern der DDR im Grenzabschnitt Süd gelungen ist, die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen«. Doris Strelzyk behält recht mit ihrer Vermutung, dass die vergessenen Medikamente von besonderem Interesse für die Staatssicherheit sind. Nicht weniger als 800 000 Arztrezepte läßt der Geheimdienst in den nächsten Wochen erfassen. Am 21. Juli 1979 eröffnet die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Gera offiziell den Operativvorgang »Birne«. Alle gefundenen Gegenstände werden in der Technischen Untersuchungsstelle des Ministeriums für Staatssicherheit in 25
Ost-Berlin untersucht. Der sechzehnseitige Bericht attestiert den gesuchten Familien Strelzyk und Wetzel einige Kompetenz: »Zur Konstruktion und Berechnung eines Heißluftballons sind sichere Grundkenntnisse der Mathematik und Physik sowie über die physikalisch-technischen Parameter der verwendeten Materialien notwendig. Konfektion und Zuschnitt der Ballon-Hülle erfordern Fachkenntnisse der Textiltechnologie und spezielle maschinelle Voraussetzungen.« Der Apparat läuft auf vollen Touren. Aber er tappt im Dunkeln und besitzt vorerst keine verwertbaren Spuren. Familie Strelzyk hat dagegen, auch wenn sie davon nichts weiß, einen Vorsprung von 17 Tagen. Und sie kennt ihr Ziel genau.
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Diplomaten sollen helfen Zu Hause ist es nach unserer unfreiwilligen Rückkehr kaum auszuhalten. Die vier Wände werden uns zu eng. Doris schlägt vor, für ein paar Tage wegzufahren. Also beschließen wir eine Reise nach Berlin, nicht zuletzt, um dort Stoff für den neuen Ballon zu kaufen. Eine Woche müssen wir noch bis zum Beginn der Sommerferien warten. Im Betrieb übernehme ich möglichst viele Aufträge und installiere in verschiedenen Unternehmen selbständig Schaltschränke zur Steuerung von Maschinen. Kaum haben die Kinder Ferien bekommen, fahren wir Richtung Hauptstadt. Seit kurzem gehört uns ein Wartburg, den uns Schwager Horst verkauft hat. Die Wartezeit auf ein neues Auto in der DDR beträgt zwölf bis vierzehn Jahre, da ist ein gebrauchter Wagen Gold wert. In Berlin nehmen wir für eine Nacht ein Zimmer im Interhotel Stadt Berlin, dem größten und luxuriösesten Hotel weit und breit. Der nahe Alexanderplatz ist mit Fahnen geschmückt. Berlin rüstet sich für die Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag der DDR. Das große Centrum-Warenhaus am Alex wirbt auf rotem Stoff mit der Losung: »30 Jahre DDR - Alles zum Wohle des Volkes«. Doris denkt bei dem Banner gleich an die Ballonhülle, doch die Stoffabteilung ist enttäuschend schlecht sortiert. Kein Taft, kein Segeltuch - nichts, was sich für unsere Zwecke eignen würde. Wir suchen im KonsumentWarenhaus zwei Straßen weiter, dann im Haus der Stoffe in Pankow - beide Male ohne Erfolg. Am Abend genießen wir den Ausblick vom 35. Stock über die Stadt. West-Berlin ist ganz nahe, wir können die Leuchtreklamen des Kurfürstendamms erkennen. Noch näher aber liegt die Mauer, und sie wird mit starken Scheinwerfern angestrahlt. Wir erkennen sogar die Aufschrift >Pan Am< auf den Flugzeugen, die im Start- und Landeanflug dicht über das 27
Hotel hinwegfliegen. Am Morgen sichern wir uns das Hotelzimmer für eine weitere Nacht, kaufen einen Stadtplan und ziehen so ausgerüstet in die äußeren Stadtbezirke. Karlshorst hat drei Stoffgeschäfte, doch in keinem gibt es geeignetes Tuch. Wir geben die Suche nicht auf, verlassen aber jedes Geschäft mit dem gleichen deprimierenden Resultat. Die Fahrt erweist sich als Fiasko. Nach dem Besuch von nicht weniger als elf Berliner Textilgeschäften liegt kein einziger Quadratmeter Ballonstoff im Kofferraum des Wartburgs. »Vielleicht haben sie nach unserem Fluchtversuch alle brauchbaren Stoffe aus den Regalen genommen«, sucht Frank nach einer Erklärung. Unsere Hoffnungen schwinden. Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten, in den Westen zu gelangen? Es muss ja nicht mit einem Heißluftballon sein. In der Tiefgarage des Interhotels parken viele westliche Autos. Einige von ihnen tragen den Aufkleber CD, Corps Diplomatique. Könnten wir nicht mit Hilfe westlicher Diplomaten über die Grenze kommen? Mir fällt ein Film ein, den ich vor einiger Zeit im Westfernsehen gesehen habe: Vier DDR-Bürger versahen einen Wagen mit einem CD-Aufkleber und fuhren unbehelligt über den Grenzübergang Checkpoint Charlie in den Westen. Warum sollte uns das nicht mit einem echten Diplomatenfahrzeug gelingen? »Wir haben doch keinen Schlüssel für einen von diesen Botschafterwagen«, schüttelt Doris den Kopf, als wir im Panoramacafe bei Club-Cola und Wein nachdenken. Frank sitzt neben ihr, während Fitscher begeistert mit dem Fahrstuhl auf und ab fährt. Frank fällt ein, dass die Ausfahrt der Tiefgarage eine Schranke besitzt. »Die Wagentür läßt sich mit einem Grillspieß öffnen«, sage ich, »das Zündschloß schließen wir schnell kurz, und die Schranke läßt sich mit der Lochkarte öffnen, die wir als Hotelgäste bekommen haben.« Doch auch ich merke, dass der Plan sehr riskant ist. Schließlich werden 28
Interhotels intensiv vom Staatssicherheitsdienst überwacht. Wir würden kaum unbemerkt mit einem Diplomatenwagen aus der Tiefgarage kommen. Doris schlägt vor, Kontakt zu einer westlichen Botschaft aufzunehmen. Die Idee gefällt mir. Wir wollen es bei den USAmerikanern versuchen und dort erzählen, dass wir verfolgt werden. Frank und ich fahren ins Erdgeschoß, Fitscher schließt sich uns an. Gemeinsam suchen wir die Adresse und Telefonnummer der Botschaft im Telefonbuch. Dann schicken wir Fitscher zu Doris in das Panoramacafe. »Was hast du vor?« fragt Frank. »Laß uns in der Botschaft anrufen«, antworte ich, »aber nicht vom Hotel aus.« Wahrscheinlich werden die Hoteltelefone abgehört. Deshalb gehen wir zu einem öffentlichen Fernsprecher unter dem Fernsehturm. Ich ziehe den Notizzettel aus der Tasche und wähle. »Embassy of the United States of America«, sagt eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Wir werden vom Ostgeheimdienst verfolgt! Bitte helfen Sie uns! Interhotel Stadt Berlin, Zimmer 3507«, sage ich langsam und deutlich. Der Mann antwortet mit amerikanischem Akzent: »Rufen Sie morgen wieder an, die Botschaft ist geschlossen.« Frank und ich verlassen fluchtartig die Zelle und mischen uns unter die Passanten. Wir gehen zurück zum Hotel. Ob die Amerikaner unsere Zimmernummer notiert haben und nun versuchen, Kontakt aufzunehmen? Wir warten im Zimmer auf den Rückruf. Aber es passiert nichts, der Telefonapparat bleibt still. Nach zwei Stunden fahre ich schließlich hinunter in die Hotelhalle und bestelle mir einen Whisky und ein Neues Deutschland. In der Halle herrscht Hochbetrieb. Ich setze mich auf einen zentralen Platz, so dass ich gut gesehen werden kann, und lege den Schlüssel mit der Zimmernummer nach oben auf den gläsernen Beistelltisch. Ich nippe bereits an meinem zweiten Whisky, als mich ein 29
Mann anspricht. Ob der Platz neben mir noch frei sei, fragt er mit amerikanischem Akzent. Das kann nur mein Kontaktmann sein. Ich mustere ihn kurz: Er hat dunkle, kurze Haare, ist etwa vierzig Jahre alt und trägt eine schwarze Lederjacke. Er zündet sich eine Marlboro an. Nervös drehe ich den Zimmerschlüssel in sein Blickfeld. Nach einigen Minuten steht er auf und geht zum Lift. Ich fahre hinterher, gehe zu unserem Zimmer und frage Doris, ob der Mann dagewesen sei. »Nein«, sagt Doris, »und ein Anruf ist auch nicht gekommen.« Sofort fahre ich wieder hinunter in die Hotelhalle und sehe den mutmaßlichen US-Amerikaner zum Hotelparkplatz gehen. Er steigt in einen dunklen Lada. Ganz langsam rollt der Wagen an mir vorüber. Am Heck erkenne ich neben dem Nummernschild den CD-Aufkleber. War das unser Kontaktmann? In den folgenden Stunden lassen wir das Zimmertelefon nicht aus den Augen. Doch es passiert nichts. Auch in der Nacht klingelt es nicht ein einziges Mal. Am folgenden Morgen verlängern wir den Aufenthalt im Hotel um eine weitere Nacht und beschließen, noch einen Versuch zu unternehmen, nun mit der chinesischen Botschaft. Diesmal rufen wir nicht an, sondern schreiben uns nur die Anschrift aus dem Telefonbuch ab. Frank und ich fahren mit dem Auto zum Botschaftsgebäude in Pankow, um die Gegebenheiten vor Ort auszukundschaften. Doris und Fitscher bleiben im Hotelzimmer, um den sehnsüchtig erwarteten Anruf der Amerikaner nicht zu verpassen. Nach zwanzig Minuten sind wir am Ziel. Die Botschaft in der Heinrich-Mann-Straße ist ein größeres, etwas abseits liegendes Haus aus den zwanziger Jahren. Der Vorgarten wird durch einen Metallzaun gesichert. Wenn die Chinesen mitspielen, könnte uns eine Botschaftsflucht gelingen. Wir bleiben nicht allzu lange, weil wir befürchten müssen, beobachtet zu werden. 30
Im Hotel überlegen wir die nächsten Schritte. Doris hat nichts zu berichten. Die Amerikaner haben uns entweder nicht ernst genommen, oder sie fürchten das Risiko. Wir leihen uns eine Reiseschreibmaschine an der Rezeption aus, um den Chinesen von unserem gescheiterten Fluchtversuch zu berichten. In knappen Sätzen schildern wir unsere Bedrängnis und bieten an, drei Jahre lang kostenlos für das Land zu arbeiten, falls uns geholfen werde. Am Ende des Briefes vermerken wir Hotel und Zimmernummer. Das gefaltete Schreiben stecke ich in eine Cabinet-Zigarettenschachtel mit nur noch einer Zigarette. Eine Stunde später fahren wir vier mit der Straßenbahn nach Pankow. Langsam schlendern wir von der Endhaltestelle zur Botschaft der Volksrepublik China. Am Zaun, dessen Farbe abblättert, bleiben wir vor einem Schaukasten stehen und betrachten scheinbar sehr interessiert die Abbildungen von MIGKampfflugzeugen und Panzern. Ich ziehe die präparierte Schachtel aus der Hosentasche und stecke mir die einzige Zigarette an. Ein Blick nach links, einer nach rechts, dann landet das kleine Päckchen mit Schwung im Vorgarten. Als ich mich dann noch einmal umdrehe, entdecke ich in fünfzig Metern Entfernung einen Wachposten. Wir bemühen uns, ganz ruhig zu bleiben. Jetzt auf keinen Fall wegrennen! Das würde uns nur verdächtig machen. Noch ein kurzer Blick in den Schaukasten. Mein Hände zittern, Doris ist blaß. Nur die beiden Jungen wirken völlig ungerührt. Langsam entfernen wir uns vom Botschaftsgebäude und gehen allmählich schneller. Die Straßenbahn lassen wir davonfahren. Man könnte unsere Nervosität bemerken. Wir laufen einfach weiter und werden ruhiger, je größer die Entfernung zur Botschaft wird. »Die Chinesen werden uns nicht ans Messer liefern«, sage ich, »die liegen mit der Sowjetunion und den anderen Warschauer-Pakt-Staaten im Streit.« 31
Nach einer Stunde Fußweg quer durch die Stadt erreichen wir das Hotel. Es tut sich überhaupt nichts. Frank und ich gehen zur Telefonzelle unter den Fernsehturm und wählen die Nummer der chinesischen Botschaft. Eine Frau meldet sich auf chinesisch. »Sprechen Sie auch deutsch?« frage ich. »In Ihrem Garten liegt eine Zigarettenschachtel der Marke Cabinet mit einer wichtigen Nachricht für Sie.« Wir essen auf dem Zimmer zu Abend und sehen fern. Das Fernsehen der DDR verkündet Erfolgsmeldungen aus Landwirtschaft und Produktion, die uns nicht recht fesseln. Aber auch die Westsender können uns nicht ablenken. Wir warten in unerträglicher Anspannung auf einen Anruf der Amerikaner oder der Chinesen. Es ist schon 22 Uhr, als das Telefon endlich klingelt. Sofort reiße ich den Hörer ans Ohr. Aber niemand meldet sich. »Hallo, hallo, hier 3507«, sage ich, doch immer noch bleibt es am anderen Ende der Leitung still. Plötzlich höre ich für einen kurzen Moment chinesische Musik, dann wird aufgelegt. »Die melden sich bestimmt nochmal«, meint Frank. »Vielleicht wollten sie bloß die Nummer überprüfen.« Noch dreimal rufen sie während der Nacht an. Jedesmal ist im Hintergrund chinesische Musik zu hören, aber es wird kein Wort gesprochen. Um 6 Uhr früh klingelt das Telefon wieder. Ich rufe flehend in die Sprechmuschel: »Bitte helfen Sie uns. Die Nachricht im Garten ist von uns.« Wieder wird auf der anderen Seite wortlos aufgelegt. »Bist du wahnsinnig?« ruft Doris. »Was ist, wenn das Telefon abgehört wird?« Mir ist bewußt, wie riskant meine Worte waren. Aber haben wir überhaupt noch eine Chance? Nach dem Frühstück fragen wir an der Rezeption, ob wir das Zimmer noch einen weiteren Tag behalten können. Doch es ist bereits vergeben. Ich schlage vor, die Chinesen ein letztes Mal von der Telefonzelle aus anzurufen. »Vielleicht wollten sie bloß am Hoteltelefon nicht offen sprechen.« Ich gehe mit Frank zur Zelle. Am Apparat ist dieselbe Frauenstimme wie 32
beim ersten Mal. »Ich rufe von einer Telefonzelle aus an, nicht vom Hotelzimmer«, sage ich. Auf der anderen Seite wird der Hörer sofort aufgelegt. Enttäuscht und unverrichteter Dinge verlassen wir die Hauptstadt. Ballonstoff haben wir nicht gefunden, und die zwei Versuchsballons mit Hilferufen, die wir haben steigen lassen, sind unbeantwortet geblieben. Wir müssen aus eigener Kraft die Grenze überwinden. Es wird uns niemand dabei helfen.
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Der zweite Ballon Die Uhr läuft gegen uns. Auf den Feldern um Pößneck hat schon die Ernte begonnen. Volkspolizei und Stasi werden nicht aufgeben, bis sie uns ausfindig gemacht haben. Jetzt dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Doris und ich sind uns einig, dass uns jetzt nur noch die Möglichkeit bleibt, einen zweiten Ballon zu bauen. Wir wollen den Urlaub nutzen. Frank und Fitscher sollen die Zeit bei Doris' Mutter verbringen, während wir in den umliegenden Städten auf die Jagd nach geeigneten Stoffen gehen. Am Tag nach der Rückkehr aus Berlin fahren wir nach Rudolstadt und Weimar und haben Glück. In den Läden gibt es Stoffe, aus denen sich die Ballonhülle nähen läßt. Wir kaufen immer nur kleine Mengen, um nicht aufzufallen, und notieren die Namen der Geschäfte. In Rudolstadt erhalten wir sieben Meter Nylon, in Weimar sind es zwölf Quadratmeter Taft. Nun muss die Nähmaschine in Ordnung gebracht werden. Das fast antike Stück gehört Günter und Petra Wetzel. Sie haben es bei uns gelassen, als sie während der Fluchtvorbereitungen ausstiegen. Wir organisieren einen Motor für die Nähmaschine und bauen eine Kalibrierdüse ein, die den Stoff beim Nähen automatisch umschlägt. Ein paar Tage später besucht uns Günter Wetzel. »Ich habe gehört, dass in der Nähe von Lobenstein ein Ballon gefunden worden ist. Wart das etwa ihr?« fragt er. Wir wollen sofort wissen, wer Günter das Gerücht erzählt hat. Sein Vater hat es am Vortag bei der Firma Elektronik in Lobenstein gehört. Dort sei die versuchte Ballonflucht das Thema des Tages gewesen. Nun erzählen wir, dass der Ballon wunderbar funktionierte, uns aber das Wetter im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung machte. Wir verschweigen Günter auch nicht, dass wir es möglichst bald wieder versuchen müssen, weil uns die Stasi auf den Fersen ist. »Macht doch mit«, ermutigen wir ihn, 34
»wir haben schon etwa hundert Quadratmeter Stoff beisammen. Zusammen schaffen wir es schneller, den zweiten Ballon zu bauen.« Günter scheint nicht abgeneigt zu sein. »Aber dann müssen wir einen größeren Ballon konstruieren«, überlegt er laut. Das stimmt. Die neue Ballonhülle müsste, überschlagen wir, ein Volumen von 4000 Kubikmetern haben. Technische Probleme dürfte es nicht geben, das Prinzip bleibt das gleiche. Am nächsten Tag kommt Günter wieder vorbei. Er und Petra wollen mit uns gemeinsam den zweiten Ballon bauen und fliehen. Wir haben Mitstreiter gewonnen, aber die Zeit läuft uns davon. Die Verfolger kommen mit jedem Tag näher. Im Kopf fliegt der Ballon bereits über alle Berge und Hindernisse, in der Realität fehlen uns noch etliche hundert Quadratmeter Stoff und einige Propangasflaschen. Dennoch müssen wir uns bei jedem Einkauf höchst vorsichtig verhalten, nur kleine Mengen einkaufen und dabei immer unauffällig wirken. Stoff finden Petra und Doris vor allem in kleineren Orten. Sie gehen meistens auf Einkaufstour, schließlich nähen üblicherweise Frauen. Bei uns allerdings näht vor allem Günter. Dank des Elektromotors und der Kalibrierdüse gelingen ihm sehr saubere und haltbare Nähte; damit sie Wind und Wetter überstehen, wird der Stoff jeweils viermal umgeschlagen. Schon nach acht Tagen fieberhaften Nähens ist die Hälfte der Ballonhülle fertig, stehen der Brenner und die Gondel bereit. Am 14. August 1979 leitet die Volkspolizei die öffentliche Fahndung nach den Republikflüchtlingen ein. Wir erfahren es aus der Volkswacht, in der sich ein Aufruf zur Mithilfe findet. Ein Foto zeigt unsere Wasserpumpenzange, das Taschenmesser und das Barometer. Die Leser werden aufgefordert, sich mit »zweckdienlichen Hinweisen« bei der Kriminalpolizei in Gera zu melden. 35
Mir zittern die Hände. Diese Meldung kann doch nur bedeuten, dass uns die Fahnder bereits dicht auf den Fersen sind. Günter reagiert dagegen gelassen. »Das sind handelsübliche Gegenstände, die es in jedem Haushalt gibt. Damit finden sie euch nicht.« Doch wir beruhigen uns nicht. Schließlich hat die Polizei auch noch die Medikamente, und unsere Fingerabdrücke sind ihr sicher längst bekannt. Frank zieht den einzig möglichen Schluß. »Wir müssen uns noch mehr beeilen. Jeder Tag, den wir länger hier bleiben, kann uns zum Verhängnis werden.« In den nächsten Tagen arbeiten wir mit Hochdruck. Doris und ich sind schon frühmorgens in der Umgebung unterwegs, um die letzten Quadratmeter Stoff zu finden. Günter sitzt von früh bis spät, oft sechzehn Stunden lang, an der Nähmaschine. Petra führt ihm die langen Stoffbahnen zu. Jeden Quadratmeter Stoff bezahlen Doris und ich zweimal: mit Geld und mit Angst. Wie dicht sind uns Volkspolizei und Sicherheitsdienst auf den Fersen? Wir wissen es nicht. Vielleicht sind alle unsere fieberhaften Bemühungen letztlich umsonst. Die Chancen, dass wir es schaffen, stehen 1: 99. Oder 1: 999? Wie gut, dass Günters erfrischender Optimismus ungebrochen ist. Der Urlaub von Doris geht zu Ende, und für Frank und Fitscher beginnt am 1. September wieder die Schule. Nach außen hin muss der Schein der Normalität gewahrt bleiben, daher wollen wir sie nicht krank schreiben lassen. Doris gibt sich ruhig und gelassen, doch ich sehe die schwarzen Ringe unter ihren Augen. Vor dem Einschlafen betet sie manchmal: »Lieber Gott, behüte uns bei unserem Vorhaben und hilf, dass wir alle gesund auf die Erde gelangen und beschütze uns vor unseren Verfolgern.« Ich frage mich oft, in welch gefährliche Lage ich sie und die Kinder eigentlich gebracht habe. Es wird immer schwieriger, geeigneten Stoff zu beschaffen. 36
Schließlich kommen wir auf die Idee, Bettinlett zu nehmen. Das Material ist imprägniert, allerdings sehr schwer. Mit ihm würden Hülle und Gondel samt Ladung immerhin zwei Tonnen wiegen. Wir rechnen und tüfteln wieder einmal. Schließlich sind wir uns sicher: Es wird funktionieren. Bleibt noch das Problem, dass Inlett eine geringe Reißfestigkeit hat. Auch dafür finden wir eine Lösung. Günter näht Nylonseile ein, so dass die Spannung auf die Seile und nicht auf den Stoff übertragen wird. Die Nähmaschine ist alt, aber sie arbeitet zuverlässig wie ein Uhrwerk. Stück für Stück wächst die Ballonhülle. In unserer Nachbarschaft am Altenburgring wohnen einige hundertprozentige Parteigenossen. Deshalb müssen wir vorsichtig sein. Günter näht überwiegend nachts an der Ballonhülle. Er ist krankgeschrieben, so dass er sich voll und ganz den Fluchtvorbereitungen widmen kann. Doris führt wieder Konten in der Kreissparkasse Pößneck, Fitscher und Frank gehen zur Schule. Ich fahre jeden Morgen mit dem Wartburg vom Grundstück. Selbst sehr aufmerksame Nachbarn könnten beim besten Willen nichts Ungewöhnliches feststellen. Allerdings fahre ich nicht nur zu Kunden, sondern zwischendurch immer auch zu Stoffgeschäften, um weiteres Inlett zu besorgen. Oft bringe ich bis zu dreißig Quadratmeter Stoff mit nach Hause. Am Nachmittag des 11. September dröhnt es draußen plötzlich. Ein Hubschrauber der Nationalen Volksarmee überfliegt in geringer Höhe unser Haus. Dreimal kehrt er zurück, so niedrig, als ob er im Garten landen wolle. Der starke Luftstrom des Rotors peitscht die Bäume, unreife Äpfel fallen auf den Boden. Ich erinnere mich sofort an den Fahndungsaufruf in der Volkswacht. In Thüringen ist nämlich nicht die DDR-Luftwaffe für Patrouillenflüge zuständig, sondern die Sowjetarmee. Es ist also ein außerplanmäßiger Einsatz. Hat ein Bürger die NVA auf uns aufmerksam gemacht? 37
Doch nach einem weiteren Überflug entfernt sich der Hubschrauber endlich in nordöstlicher Richtung. Wir sind höchst beunruhigt und können uns nicht erklären, was das Erscheinen des Hubschraubers zu bedeuten hat. Die Konzentration auf die Arbeiten am Ballon fällt uns schwer. Am nächsten Tag erfährt Doris in der Sparkasse, dass sich ein russischer Soldat aus der Kaserne in Saalfeld abgesetzt haben soll. Ihm wird der Lufteinsatz wohl gegolten haben, nicht uns. Das beruhigt uns etwas. Die Gondel sieht sehr fragil aus. Das Bodenblech ist nur 0,8 Millimeter dick. Kaum zu glauben, dass es den Brenner, die Gasflaschen und acht Menschen tragen kann. Aber ich habe den Rahmen diagonal mit Winkeleisen verstärkt. Bei einem Test im Keller stellen wir fest, dass das Blech unser Gewicht trägt. Sechs Kilometer Nähgarn haben Günter und Petra inzwischen in 2,2 Kilometer Nähten verarbeitet. Aber noch immer fehlen uns 210 Quadratmeter Stoff, und Brenner und Flammenwerfer müssen getestet werden. Der 13. September ist ein erfolgreicher Tag. In Schmölln finden wir Inlett, aber auch Nylonstoff. Es sind 155 Quadratmeter, die sich Günter und Doris gleich zurechtlegen. Nachts fahren Frank und ich zu einer abgelegenen Waldwiese bei Liebschütz. Dort testen wir den Brenner, den Flammenwerfer und die Propangasflaschen. Alles funktioniert einwandfrei. Die Energieversorgung für die Ballonfahrt ist sichergestellt. Als wir zurückkehren, nähen Günter und Doris noch. Erst in den frühen Morgenstunden haben sie den Stoff in die Hülle eingearbeitet. Jetzt beginnt der Endspurt. Es fehlen nur noch 55 Quadratmeter Stoff. Am 14. September haben wir im Konsumwarenhaus in Schwarza Glück. Die Verkäuferin schneidet zwölf Quadratmeter Inlett von einem dicken Ballen ab. Günter 38
wartet im Auto und schlägt beim anschließenden Kaffeetrinken vor, gleich noch mehr zu kaufen. Nach einer Wartezeit von einer Stunde ersteht er weitere 24 Quadratmeter Inlett. Langsam füllt sich der Kofferraum des Wagens. In Saalfeld bekommen wir nochmals acht Meter. Bereits um 22 Uhr ist das gesamte Material vernäht. Den restlichen Stoff kaufen Doris und ich am nächsten Tag in Jena. Der 15. September ist unerträglich schwül, ein Gewitter braut sich zusammen. Zu Hause erwartet uns Günter. Die letzten Bahnen werden genäht, während es draußen blitzt und donnert. Die letzte Naht ist die schwierigste, aber auch sie gelingt. Dann muss die riesige Ballonhülle umgedreht werden, eine wahre Schwerstarbeit. Der Stoffberg wiegt immerhin 175 Kilogramm. Das Gewitter zieht ab. Wir können es kaum glauben: Der Ballon ist fertig, und das ideale Fluchtwetter stellt sich ein. Der Wind weht aus Norden. Schweigend hören wir den Segelflugwetterbericht auf Bayern 3. Dies ist unsere Chance, so gute Wetterbedingungen herrschen nur selten. Ohne zu zögern beginnen wir mit den Startvorbereitungen. Ballon, Gondel, Gasflaschen, Brenner und Flammenwerfer werden in den Anhänger geladen. Zwischendurch fahren wir auf die Bahrener Höhe und überprüfen die Windrichtung, indem wir Taschentücher in die Luft halten. Der Wind bläst beständig von Nord nach Süd. Es bleibt dabei: Diese Nacht soll unsere letzte auf DDR-Boden sein. Petra kocht Kaffee, die Kinder schlafen. Wir packen die nötigen Utensilien zusammen. Angst verspürt keiner von uns, aber jeder hängt seinen Gedanken nach. Wird alles wie geplant gelingen? Werden wir mit dem Ballon über die Grenze kommen? Wird das Gas reichen? Günter und Frank fahren mit einem Moped zum Startplatz. Die anderen steigen in den Wartburg, der mit drei Erwachsenen und drei Kindern sowie einem tonnenschweren Anhänger 39
völlig überladen ist. Mit einer Stunde Fahrtzeit ist zu rechnen. Wir fahren extrem langsam, die Federn des Wartburgs knirschen bei jedem Schlagloch. Vor der Dorfkneipe in Liebschütz steht ein Polizeiauto. Aber die Vopos zeigen kein Interesse an uns. Offensichtlich kontrollieren sie Jugendliche, die an einer Tanzveranstaltung teilgenommen haben. Unser Ziel ist eine Wiese zwischen Unterlemmnitz und Heinersdorf, dicht an der Bahnlinie Lobenstein - Triptis. Von vorbeifahrenden Zügen aus können wir nicht gesehen werden, weil neben den Bahngleisen dichtes Gestrüpp wächst. Es ist kalt geworden. Der Himmel ist klar und voller Sterne. Günter und Frank steigen zu uns in den Wartburg, um sich ein wenig aufzuwärmen. Wir warten bis 1.30 Uhr. Ein Zug rollt oben auf den Gleisen vorbei. Sonst ist alles ruhig, kein Tier, kein Mensch ist zu sehen. »Geprobt haben wir oft genug, der Wind kommt aus der richtigen Richtung. Woran sollen wir jetzt noch scheitern?« fragt Günter. »An uns«, antworte ich. Wir entladen den Anhänger und breiten als erstes die Ballonhülle aus. Günter und Frank verankern die Gondel, dann schlagen wir Rohre in den Waldboden, die den Ballon zunächst am Boden halten sollen. Das aus einem Motorradmotor gebaute Gebläse wird vor der Ballonöffnung aufgestellt und schaufelt unter infernalischem Lärm Luft in die schlaffe Hülle. Allmählich füllt sie sich. Wir montieren Flammenwerfer und Brenner. Sieben Propangasflaschen werden auf den Kopf gestellt, damit das Gas flüssig aus den Düsen austritt. Das Ventil wird langsam aufgedreht, das Gas mit einem Streichholz entzündet. Mit enormer Kraft schießt eine zwölf Meter lange Flamme ins Balloninnere. Plötzlich gibt es einen Knall. Die Flamme schlägt zurück, und im Nu ist die linke Hälfte meines Bartes weggesengt. Jetzt bloß nicht aufgeben. Ich öffne das Ventil weiter. Der Ballon bäumt sich auf, die Stoffhülle erhebt sich majestätisch über die Wiese. An den Seilen ist eine gewaltige Zugkraft zu spüren. 40
Wir steigen in die Gondel und zünden den Brenner. Frank und Günter sollen je zwei der Seile kappen, die das Gefährt mit dem Boden verankern. Doch Günter schneidet nur ein Seil durch. Der Auftrieb ist so stark, dass das letzte Verankerungsrohr aus der Erde gerissen wird. Es fliegt wie von einem Katapult geschleudert Frank und Fitscher gegen die Köpfe. Doris drückt Taschentücher auf die Platzwunden. Unser Verbandskasten ist im Wartburg zurückgeblieben. Zum Glück haben sich die beiden Kleinen von Wetzels nicht erschrocken. Wir steigen mit drei Metern pro Sekunde schnell in den klaren Nachthimmel und drosseln den Brenner bald. Plötzlich fängt ein Stück Stoff Feuer, weil durch die Schräglage beim Start der Brenner zu nah an die Hülle gekommen ist. Günter ist mit dem Feuerlöscher zur Stelle und erstickt den kleinen Brand sofort. Ohne Feuerlöscher hätte die Hülle in kürzester Zeit in Flammen gestanden, und wir wären unweigerlich abgestürzt. Der Ballon steigt langsamer, wir öffnen das Brennerventil wieder. Nach wenigen Minuten sind wir in 1800 Meter Höhe. Der Wind erfaßt die Hülle mit voller Kraft und dreht den Ballon einmal um sich selbst. »Scheinwerfer von unten«, meldet Petra. Wir drehen den Brenner voll auf und steigen auf über 2500 Meter. Das Licht bleibt zurück. Die größte Gefahr würde ein Kampfflugzeug bedeuten. Aber weit und breit ist am Himmel Ruhe. Nur der Wind rauscht in der mächtigen Hülle über unseren Köpfen. Der Ballon beginnt, langsam zu sinken. Wir versuchen nochmals aufzuheizen, doch die Gasflaschen sind leer. Wir verlieren weiter an Höhe. Der Brenner geht aus. Nur für Augenblicke gelingt es Günter, ihn noch einmal zu zünden. Es wird dunkel in der Gondel. Die Erde kommt rasend schnell näher. Ein Wald ist zu erkennen, Felder, einzelne Häuser, dann einzelne Bäume. Plötzlich prallen wir hart auf. Die Gondel fegt eine dünne Akazie um. Wir sind gelandet. Die Ballonhülle legt sich langsam, wie ein großes erschöpftes Tier, 41
auf die Seite. Wir klettern alle zugleich aus der Gondel. Haben wir es diesmal geschafft? Sind wir im Westen? Oder...? Günter und ich beschließen, die Gegend zu erkunden. Die beiden Frauen sollen sich mit den Kindern in den Büschen versteckt halten. Nach etwa 400 Metern erreichen wir einen Bauernhof. Ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern kommt näher, und wir verbergen uns schnell in der Scheune. Der Wagen stoppt direkt davor. Aus der Ferne ist Hundegebell zu hören. »Das sind doch westdeutsche Polizisten!« ruft Günter laut. Er hat den Wagentyp erkannt und die Aufschrift auf der Seite lesen können. Schon laufen wir zusammen auf das Polizeiauto zu. Als wir die Wagentür aufreißen, schrecken die Beamten zusammen. »Sind wir hier im Westen?« frage ich. »Nein«, antwortet der eine verblüfft, »in Oberfranken.« Wir haben es geschafft! Günter zündet eine Silvesterrakete als Zeichen für Doris, Petra und die Kinder. Sie kommen schnell herbeigelaufen. Die Polizeibeamten sind immer noch etwas fassungslos. Aber dann rufen sie den Bundesgrenzschutz und das Rote Kreuz herbei, damit Franks und Fitschers Wunden versorgt werden. Wir sind in der Nähe des Städtchens Naila auf der Anhöhe Finkenflug gelandet. Die Polizeibeamten Hamann und Gölkel fahren Günter und mich zur Polizeistation, Doris, Petra und die Kinder folgen in einem Krankenwagen. Während Frank und Fitscher im Krankenhaus versorgt werden, unterziehen wir uns der ersten amtlichen Vernehmung. Wir können es noch gar nicht richtig fassen, dass wir es wirklich geschafft haben sollen. Die langwierigen Vorarbeiten, die wochenlange Anspannung - und nun sollen wir nach wenig mehr als einer halben Stunde Luftfahrt fast mühelos das erträumte Ziel erreicht haben. Endlich ist das Polizeiprotokoll aufgenommen. Ihm entnehmen wir, dass unsere Ballonflucht schon einige Zeit vor der 42
Landung bemerkt worden ist. Die Polizisten hatten gegen 2.40 Uhr einen hellen Feuerschein am Himmel gesehen. Später meldete eine Frau aus Naila die Landung eines Flugkörpers bei Finkenflug.
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Der Apparat läuft an Nicht nur zwei oberfränkische Polizisten und eine Nailanerin beobachten in den frühen Morgenstunden des 16. September einen Flugkörper zwischen Thüringen und Bayern. Auch auf DDR-Seite entdecken Grenzsoldaten den Ballon: Um 2.50 Uhr wird »ein ballonflugkoerper in betraechtlicher hoehe festgestellt [...], welcher sich mit langsamer fluggeschwindigkeit in rtg. [Richtung] Staatsgrenze bewegt«, telegraphiert ein Major vom Grenzkontrollpunkt Hirschberg an die vorgesetzten Dienststellen. Von Versuchen, die Ballonflüchtlinge noch in der Luft abzufangen, berichtet der Grenzsoldat nichts. Statt dessen beschreibt er die weitere Route des entdeckten Flugkörpers und schließt lapidar: »durch beobachtung der grenztruppen wurde [...] ein starkes absinken des flugkoerpers [...] festgestellt und vermutet, dasz eine landung im gegnerischen vorfeld erfolgte.« Die bei der Gauck-Behörde lagernden Stasi-Unterlagen gewähren einen ausgezeichneten Einblick in das oft absurd anmutende Tun der »Sicherheitsorgane«. Der Ballon mit den Strelzyks und den Wetzels bleibt zwar unbehelligt, aber alle Details seines Fluges werden registriert und akribisch dokumentiert. Der Heißluftballon sei rund gewesen, schreiben die Kriminalpolizisten, »nach unten zipfelförmig, schätzungsweise 8-10 Meter Durchmesser. Gondel oder Personen konnten auf Grund diesiger Sichtverhältnisse, nicht erkannt werden.« Wenige Stunden später weiß die Stasi-Bezirksverwaltung in Gera, dass es sich bei den Flüchtlingen um jene DDR-Bürger handeln muss, die bereits im Juli per Heißluftballon das Land verlassen wollten. Die Berichte werden fortan unter dem einmal angelegten Operativvorgang »Birne« geführt. Den Ablauf der Flucht können die Stasi-Mitarbeiter recht leicht rekonstruieren: Sie schalten das Radio ein und schöpfen 44
den Feindsender Bayern 3 ab. Am Morgen des 16. September fassen die Mitarbeiter ihre aufwendigen Recherchen in einem ersten Bericht zusammen. Dessen Rechtschreibung ist fast so abenteuerlich wie die Flucht: »In einem selbst gepastelten Heißluftballon, landeten sie am Morgengrauen etwa 2 Km westlich von Neila im Landkreis Hof. [...] Als die Polizei am Landeplatz eintraf, war sie völlig überrascht. Man hielt es für unvorstellbar, wie sich die acht Flüchtlinge aus der DDR auf der nur etwa 2m x 2m großen Stellfläche unterhalb des Heisluftballons so lange in der Luft halten konnten. Wie der Bürgermeister von Neila erfuhr, hatten die Flüchtlinge vor zwei Monaten schon einen Versuch unternommen, der aber gescheitert war. Der Ballon landete damals auf den Gebiet der DDR.« Das freilich ist den DDR-Sicherheitsbehörden nur zu gut bekannt. Welche umfangreichen Untersuchungen hatten sie nicht in Auftrag gegeben! Erst wenige Tage zuvor waren die Ermittlungen von der Bezirksverwaltung der Stasi in Gera ausgeweitet worden. Man wollte wissen, ob die Leihbüchereien im Einzugsbereich so verdächtige Titel wie Leichter als die Luft, Handbuch der Flugnavigation oder Flüssiggas Handbuch rühren. Alle Personen sollten namhaft gemacht werden, die diese Bücher 1979 ausgeliehen hatten. Außerdem hatten Geraer Stasi und Volkspolizei am 15. September, einen Tag vor der geglückten Ballonflucht, mit der systematischen Ausforschung aller Ortschaften nahe der gefundenen Ballonhülle begonnen. Dabei war man Strelzyks schon sehr nahe gekommen. Am 16. September bricht dann hektische Aktivität im Raum Lobenstein und Pößneck aus. Auf fünf Papierbögen halten die Ermittler nicht weniger als 36 einzelne Maßnahmen fest, die zwischen 10.45 und 22.50 Uhr eingeleitet werden. Zuerst wird der Startplatz des Ballons gefunden und eingehend untersucht. Kurz nach 11 Uhr taucht die Behauptung auf, ein zweiter 45
Ballon sei gesichtet worden. Um 11.15 Uhr werden in den Unterlagen erstmals die Namen Peter und Doris Strelzyk genannt. Umgehend fahren Beamte zum Haus am Altenburgring 46 und stellen dort verdächtiges Material sicher, darunter eine Gasflasche, verschiedene Seile und die alte Gritzner-Nähmaschine. Schlag auf Schlag werden nun Zeugen vernommen, Protokolle erstellt, Spuren gesichert. Polizeiroutine wie bei jedem Fall. Nur sind bei diesem die Gesuchten namentlich bekannt. Darüber hinaus haben sie sich dem Zugriff der Stasi und der Volkspolizei entzogen. Deshalb werden Spitzel im Westen mobilisiert. Die Inoffiziellen Mitarbeiter mit den Decknamen »Willi Meier«, »Hans Peetz« und »Karl« sind schon wenige Stunden nach der Ballonlandung am oberfränkischen Ort des Geschehens und übermitteln ihre ersten Beobachtungen an die Hauptabteilung VII des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Als besonders aktiv erweist sich der in Naila lebende IM »H. Schneider«. Er sorgt dafür, dass schon in der Nacht zum 17. September Flugblätter in die Briefkästen von Naila gesteckt werden. Darin agitiert »H. Schneider« gegen die Flüchtlinge: »Die haben das Leben ihrer Kinder auf's Spiel gesetzt. Es kann sich nur um Verbrecher handeln.« Am 18. September 1979 findet im Ost-Berliner Amtssitz des Ministers für Staatssicherheit eine denkwürdige Zusammenkunft statt. Wütend hat Erich Mielke die Chefs der Bezirksverwaltungen von Gera, Erfurt und Suhl zu sich zitiert. Ein anonym gebliebener Oberstleutnant der Stasi protokollierte den Auftritt des Herrn über Tausende von Spitzeln Jahre später. »Ihr Vaterlandsverräter, ihr Hurensöhne, ihr elenden Versager, ich müßte euch alle an die Wand stellen lassen«, leitet Mielke seine Schimpftirade ein. Nach dem ersten Ballonfluchtversuch vom Juli hätte doch er persönlich ihnen jede erdenkliche Unterstützung zukommen lassen - und nun eine zweite Flucht, 46
wieder mit einem Ballon. Der cholerische Minister fürchtet vor allem den politischen Schaden. »Jetzt haben wir die Blamage. Der 30. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik steht vor uns. Dieser Grenzdurchbruch hat uns schweren politischen Schaden zugefügt, nur weil in meinem Ministerium solche nutzlosen Gestalten wie ihr herumsitzen. Die Ballonverbrecher haben uns an der Nase herumgeführt, sie haben unsere Schlagkraft in Frage gestellt.« Dann folgt die Direktive von ganz oben zum rücksichtslosen Durchgreifen auch gegenüber Unschuldigen: »Der Genosse Honecker und ich haben festgelegt, dass alle Mitwisser zu finden und zu verhaften sind. Die Verwandten von Strelzyk sind bereits inhaftiert. Es ist egal, ob sie von der Sache was gewußt haben oder nicht.« Die Staatssicherheit soll sich nicht nur an die Verwandten, Freunde und Bekannten halten. Auch an den Ballonflüchtlingen will man ein Exempel statuieren, und dafür soll die Stasi auch jenseits der Landesgrenzen agieren: »Wir müssen den Strelzyk in der BRD weich machen, damit er das Maul hält. Alle Kräfte, wenn es sein muss, von Rostock bis Suhl, sind bei der Rekonstruktion der Fluchtvorbereitungen einzusetzen. Ich will wissen, wo ist der Stoff gekauft worden? Ich will wissen, woher haben sie die Gasflaschen? Übrigens will ich alles wissen, was diesen Fall betrifft.« Diese von der Furcht vor Nachahmungstätern inspirierten Instruktionen treffen bei den Untergebenen sicher auf Zustimmung. Die detaillierte Registration ist schließlich ihr tägliches Geheimdienstbrot. »Wir haben die Macht«, ruft der Minister seinen Offizieren aufmunternd zu, und es muss in diesen Stunden, da die Mächtigen gerade von späten Nachfahren Montgolfiers an der Nase herumgeführt worden sind, wie eine Selbstbeschwörung geklungen haben. »Täglich müssen wir dem Gegner klar 47
machen, wo es lang geht. Auf ein paar Tote soll es nicht drauf ankommen.« Der Dienstherr weiß um die Feinheiten der Mitarbeiterführung und läßt seine Untergebenen nicht lange im Unklaren darüber, wem diese Drohung auch gilt: »Wenn ihr die Hintermänner zum Operativvorgang >Birne< in der DDR und BRD nicht bis zum 30. Jahrestag aufklärt, erschieß ich euch persönlich.« Das motiviert die Ermittler ungemein.
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Sippenhaft in der DDR Erich Strelzyk sieht die letzten Nachrichten des ZDF am 16. September und erfährt so von der Ballonflucht seines Bruders. Nur kurz werden die Fotos der Flüchtlinge gezeigt, aber keine Namen genannt. Erich Strelzyk ist sich dennoch ziemlich sicher, die Familie seines Bruders erkannt zu haben. Er freut sich über die geglückte Flucht, ist aber auch etwas erschreckt. Er ahnt nicht, welches Martyrium ihm bevorsteht. Zu den üblichen Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes gehört es, Verwandte festzunehmen. Die Drohung mit Sippenhaft soll abschreckend wirken. Erich Strelzyk wird gegen 6 Uhr früh am 16. September von zwei Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes in seiner Potsdamer Wohnung abgeholt. »Zur Klärung von bestimmten Sachverhalten« solle er mitkommen, heißt es. Die beiden StasiMitarbeiter bringen ihn zu einem Auto. Jahre später erinnert sich Erich Strelzyk an die Einzelheiten seines Alptraums: »Der Lada steuert die Potsdamer Otto-Nuschke-Straße, wo sich der Stasi-Knast befindet, an. Das große Panzerstahltor öffnet sich automatisch. Der Lada fährt in eine abgesicherte, gepanzerte Schneise ein.« Erich Strelzyk weiß immer noch nicht, was die Stasi eigentlich von ihm will. Die Männer wechseln kein Wort mit ihm. »Ich werde in einen erhellten Raum mit verdunkelten und vergitterten Fenstern geführt und darf auf einer Bank Platz nehmen. Dieser Platz wird genau angewiesen. Durch zwei vergitterte Türen sehe ich einen Posten, der mich jetzt stets beobachtet. Als ich mich auf diesem Platz nach links oder rechts bewege, werde ich von dem Posten aufgefordert, den zugewiesenen Platz nicht zu verlassen.« Mehrere Stunden wird Erich Strelzyk in Ungewißheit gelassen. Er denkt an seinen Bruder, vor allem aber an seine Frau, seine Tochter. »Was wird aus mir und meiner Familie?« fragt 49
er sich mehr als einmal. »Werde ich ein Opfer? Oder bin ich es schon?« Erst gegen 10 Uhr öffnet sich die Gittertür. Ein Stasi-Mitarbeiter holt Erich Strelzyk zum Verhör. »In einem hellerleuchteten Raum darf ich an einem großen Tisch Platz nehmen. Auf dem Tisch stehen eine Schreibmaschine und zwei Aschenbecher. Ein älterer Mann betritt den Raum und setzt sich an den Tisch.« Er nimmt Erich Strelzyks Personalien auf und tippt das Protokoll selbst mit der Schreibmaschine. Immer noch weiß der vermeintliche Delinquent nicht, welche Vergehen ihm zur Last gelegt werden. Gegen 13 Uhr traut Erich Strelzyk sich endlich zu fragen. »Das ist unsere Angelegenheit«, wird ihm kurz entgegnet. Im Laufe des Nachmittags erfährt er dann doch, aus welchem Anlaß er festgenommen wurde: Der »Hochverräter und Feind der DDR Hans-Peter Strelzyk« habe mit seiner und einer anderen Familie »unter Mißachtung des Lebens und der Gesundheit die Staatsgrenze verletzt«. Nun wird Erich Strelzyk auch mitgeteilt, dass seine Frau und seine Tochter abgeholt worden seien. »Ein Schreck durchfährt meine Glieder. Wie gelähmt sitze ich da und rege mich nicht. Meine Gedanken sind bei meiner kleinen Tochter. >Wo haben Sie sie hingeschleppt?<, schreie ich plötzlich. >Ihre Tochter ist gut aufgehoben< wird mir entgegnet. >Und meine Frau?< >Ihre Frau haben wir auch hier.< Die Welt ist für mich zu Ende. Schluß, denke ich. Auf Fragen gebe ich keine Antworten mehr.« Erich Strelzyk wird in eine enge, fensterlose Zelle gebracht. In tiefer Verzweiflung wirft er sich auf der Pritsche umher, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Allmählich wird ihm bewußt, dass seine Lage hoffnungslos ist. Auch wenn er noch immer nicht genau weiß, was die Stasi ihm eigentlich vorwirft. Bald wird er wieder zum Verhör geholt. Erich Strelzyk 50
reagiert nicht auf die Fragen. »Ich möchte wissen, wo sich meine Tochter und meine Frau befinden«, fragt er. Sie seien »gut aufgehoben«, wird ihm entgegnet. Daraufhin steht Erich Strelzyk auf. Die Stasi-Mitarbeiter drohen nun unverhohlen. Wenn er sich nicht fügen wolle, dann hätte man auch andere Mittel zur Verfügung. Nach einer kurzen Ruhepause beginnt das Verhör. Langsam begreift Erich Strelzyk, welches Vergehen die Stasi ihm unterschieben will. In seinem Erinnerungsprotokoll heißt es: »Der Vernehmer, ein Mann, etwa 60 Jahre alt, sieht mich an. Er richtet sich auf. >Sie haben doch den Heißluftballon mitkonstruiert und gebaut, mit dem ihr Bruder den Luftraum und die Staatsgrenze der DDR verletzt hat. Das ist Hochverrat!< >Ich habe weder einen Ballon konstruiert noch gebaut. Außerdem bin ich kein Hochverräter< erwidere ich. >Sie waren doch bei den Luftstreitkräften<, sagt nun der Vernehmer, was ich bestätige. >Und was haben Sie da gemacht?< >Die DDR geschützt, antworte ich. So geht es immer weiter. Das Verhör wird bis in die Morgenstunden fortgesetzt. Ich gebe kurze Antworten auf die Fragen, der Vernehmer tippt lange auf der Schreibmaschine herum. Als er etwa fünfzig Seiten des Protokolls aufgenommen hat, bietet er mir eine Zigarette an. Schweigend rauchen wir. > Nehmen Sie ihre Sachen und kommen Sie<, sagt schließlich der Vernehmer. Endlich bist du frei, denke ich.« Doch das ist ein Trugschluß. Erich Strelzyk wird durch enge Gänge und um mehrere Ecken geführt. Am Ende eines langen Korridors öffnet sich eine Tür. In dem Raum befinden sich zwei Frauen, eine Haftrichterin und eine Schreibkraft. Die Juristin liest den Haftbefehl vor. »Ich verstehe nur Paragraphen und dass Haftbefehl wegen Beihilfe zur Republikflucht gegen mich erteilt wurde«, erinnert sich Erich Strelzyk. »Ich öffne den Mund, möchte etwas sagen, um mich zu verteidigen, aber ich bringe kein Wort heraus. Wie gelähmt stehe ich mit 51
gesenkten Armen da.« Zwei Stasi-Mitarbeiter holen ihn ab und bringen ihn in einen Kellertrakt. Eine Tür wird geöffnet, und ein Mann in einem weißen Kittel fordert Erich Strelzyk auf einzutreten. Stück für Stück muss er seine Kleidung ablegen, der Inhalt aller Taschen wird säuberlich auf einen Tisch gelegt. »Jetzt stehe ich splitternackt vor ihm. >Mund auf!< sagt er und schaut in meinen Rachen. >Arme hoch!< Mit einem Holzspatel untersucht er meine Achselhöhlen. >Suchen Sie Filzläuse?< frage ich leise, bekomme aber keine Antwort. Statt dessen das nächste Kommando: >Reißen Sie ihre Pobacken auseinander!< Ich muss mich fügen. Erst nach dieser letzten entwürdigenden Untersuchung darf ich die Stasi-Knastkleidung anziehen. Ich erhalte einen Satz Armeeunterwäsche und einen Armeetrainingsanzug mit schwarz-rot-goldenen Streifen. Hammer, Zirkel und Ährenkranz aber sind abgetrennt.« Erich Strelzyk wird in Zelle Nummer 36 eingesperrt. Er läßt sich auf die Holzpritsche fallen und fängt an zu grübeln. »Was ich an Lebenssinn hatte, ist zu Ende«, schreibt er später nieder. »Im Leben hatte ich Situationen, die hart an der Grenze des Überlebens waren, aber geschafft hatte ich es immer, den richtigen Ausweg zu finden.« Es dauert Tage, bis Erich Strelzyk vollständig erfassen kann, was mit ihm geschehen ist. Dazu kommt die fortwährende Angst um seine Familie. Er erfährt erst später, dass seine Frau und seine Tochter wieder freigelassen worden sind. Auch Peter Strelzyks Schwester Maria und ihr Mann Horst werden kurz nach der Ballonflucht festgenommen. Wegen angeblicher Mitwisserschaft und Nichtanzeige der Fluchtvorbereitungen erhalten sie Haftstrafen zwischen zwei und zweieinhalb Jahren. Das gleiche Schicksal erleidet Strelzyks bester Freund und Arbeitskollege Thomas Dietrich. Er wird zu Hause abgeholt und in die Haftanstalt Naumburg gebracht. 52
Schaut auf diese Kleinstadt! Acht Ballonflüchtlinge »von drüben« würden wohl auch einen größeren Ort als die Kleinstadt Naila in helle Aufregung versetzen. Doch die Oberfranken erweisen sich als bodenständige Leute. Wir finden erst einmal Unterkunft beim bayerischen Roten Kreuz. Ein Fleischermeister bringt Tabletts voller Fleisch, Wurst und Brot herbei, als ob wir nach einer tagelangen entbehrungsreichen Reise ausgehungert wären. Keiner greift zu. Wir sitzen alle etwas blaß und still am Tisch. Die Aufregung der letzten Stunden und die Anspannung von Wochen macht sich erst jetzt bemerkbar. Plötzlich tauchen Journalisten und Fotografen auf. »Wo kommen Sie her?« »Wie haben Sie den Ballon gebaut?« »Wie lange sind Sie geflogen?« »Hatten Sie Angst?« »Sind Sie in der DDR verfolgt worden?« Die Fragen prasseln von allen Seiten auf uns nieder. Im Blitzlichtgewitter sehe ich, wie erschöpft Doris, Petra und die Kinder sind. Auch ich wünsche mir nur noch Ruhe, weiß aber nicht, wie der Spuk zu beenden ist. »Stop«, ruft plötzlich jemand. »Hören Sie bitte mit dem Fotografieren auf.« Ein Mann an unserem Tisch ist aufgestanden. »Sie können später wiederkommen, aber jetzt sollten Sie den Menschen Zeit lassen, sich von ihrer abenteuerlichen Flucht etwas zu erholen.« Als die Journalisten nicht auf ihn hören wollen, droht er, seinen Dobermann von der Leine zu lassen. Mit furchtsamen Blicken auf den großen Hund ziehen sie sich endlich zurück. Der Mann ist Arzt. Doktor Niernheim aus Naila untersucht Günter, der über starke Schmerzen im linken Bein klagt. Es ist ein Muskelfaserriß, wahrscheinlich eine Folge der harten Landung auf dem Finkenflug. Günter muss zur Behandlung in das städtische Krankenhaus. Wir sinken erschöpft auf die Betten. Unsere Gastgeber haben sogar an Schlafanzüge, Waschzeug und Windeln für 53
Wetzels Jüngsten gedacht. Aber Schlaf finden nur die Kinder. Petra, Doris und ich bekommen kein Auge zu. Erst jetzt haben wir Gelegenheit zum Nachdenken. »Wir haben riesiges Glück gehabt«, sagt Doris. Obwohl wir kürzer in der Luft waren als bei der ersten Ballonfahrt, sind wir diesmal über die Grenze gekommen. Wir hätten abstürzen oder sehr hart landen können. Gut, dass wir vor dem Flug nicht über die Risiken nachgedacht haben. Jetzt ist es geschafft. Wir sind im Westen. Die Mühe hat sich gelohnt. Die Nacht ist kurz. So viel Trubel wie an diesem 17. September hat Naila vermutlich noch nie erlebt. Neugierige streifen durch die Gassen, überall werden Kameras aufgebaut, der Ort unserer nächtlichen Landung ähnelt einem Rummelplatz. Wir gehen zur Anhöhe Finkenflug hinauf, um den Ort der glücklichen Landung im Tageslicht zu sehen. Von allen Seiten werden wir mit Fragen bestürmt. Einige Schaulustige möchten gar Autogramme, andere wollen wissen, wie es uns in der DDR ergangen sei. Wir bleiben nicht lange, der Trubel ist einfach zu anstrengend. Aber auf unsere mühselig zusammengenähte Ballonhülle werfen wir doch noch einen langen Blick. Riesenhaft liegt sie auf dem Hügel, einige der kunterbunten Stoffbahnen haben bei der Landung Risse bekommen. Das Technische Hilfswerk birgt den Ballon und lagert ihn in einer Garage zwischen. Später soll entschieden werden, ob sich eine Reparatur lohnt. Wir spazieren zurück in den Ort. Die Kinder machen große Augen, als sie die Schaufenster in Nailas Einkaufsstraße sehen. »Laßt uns doch reingehen«, drängt Fitscher vor einem Fahrradgeschäft, während Wetzels Söhne die Auslagen eines Spielwarenladens bewundern. Aber wir gehen weiter, um den Kindern nicht die Enttäuschung zu bereiten, keinen ihrer Wünsche erfüllen zu können. Das wird bald anders sein. Die Zeit wird kommen. Es sind ja noch keine 24 Stunden seit unserer Ankunft vergangen. 54
Der nächste Pflichttermin steht bereits fest. Am Nachmittag werden wir zu einem weiteren Verhör gebeten. Diesmal vernehmen uns Beamte der bayerischen Grenzpolizei. Der zuständige Hauptkommissar empfängt uns gutgelaunt mit der Frage, ob wir nicht einen Tag später hätten kommen können; gestern sei er bis spät in die Nacht mit seiner Frau auf einer Feier gewesen. Wir bedauern voller Mitgefühl und fragen, was wir nun zu erwarten hätten. Wir müßten mit einer Anklage wegen Luftraumverletzung rechnen, erklärt der Beamte, aber das Verfahren werde anschließend eingestellt. »Warum muss denn überhaupt ein Protokoll aufgenommen werden, wenn es am Ende gar nicht gebraucht wird?« frage ich. Das sei seine Pflicht, antwortet der Hauptkommissar. Dieser Satz erinnert uns fatal an die Bürokratie der DDR, der wir gerade den Rücken gekehrt haben. Solche Deja-vu-Erlebnisse sind zum Glück die Ausnahme. Gerade in den ersten Tagen nach unserer Flucht erfahren wir von vielen Seiten unbürokratische Unterstützung. Robert Strobel, der Bürgermeister von Naila, setzt sich nach Kräften für uns ein. Er besorgt Arbeitsangebote und eine Wohnung. Unser erstes Domizil im Westen liegt in der Straße Am Hammerberg 1 in Naila. Bis die Wohnung bezugsfertig ist, leben wir in verschiedenen Pensionen. Unsere erste D-Mark verdienen wir mit der Geschichte unserer Flucht. Das Recht zur Veröffentlichung erwirbt eine große Illustrierte. Möglichst authentische Fotos sollen den Artikel begleiten. Daran haben wir während der Flucht nicht gedacht, mit Originalaufnahmen können wir daher nicht dienen. Also wird der Ballon für einen Fototermin in Augsburg repariert und anschließend in einer Kiesgrube mit Heißluft gefüllt. Seine Ausmaße erstaunen auch uns. In der Fluchtnacht hatten wir nicht die Musse, die riesige Hülle zu bewundern. Frank und ich gehen noch einmal mit dem Ballon in die Luft - aber in nur zwanzig Meter Höhe und gesichert durch ein Seil. Es ist ein schönes Gefühl. 55
»Ballonfahren kann ja richtig Spaß machen«, sagt Frank fröhlich. Ich nicke nur. Mit dem Illustriertenhonorar finanzieren wir eine neue Wohnungseinrichtung. Wir streifen durch die Kaufhäuser und Möbelgeschäfte der nahen Kreisstadt Hof. Das Einkaufen macht uns allen Freude. Zum ersten Mal sehen wir, wie groß die Auswahl an allen nur denkbaren Sachen ist. Mitte Oktober ziehen wir Am Hammerberg l ein. Doris erhält mittlerweile Arbeitslosengeld, für mich sind mehrere Arbeitsangebote bei der Stadtverwaltung eingegangen. Wir haben neue Personalausweise und Pässe erhalten, Frank und Fitscher besuchen die Schule im Ort. Allmählich kehren Ruhe und Alltag in unser Leben ein. Nicht alltäglich ist das enorme Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an unserer Fluchtgeschichte. Es gibt wohl keine Zeitung, die nicht über die »Ballonflüchtlinge aus der DDR« berichtet. Schnell spricht sich unsere neue Adresse herum. Wir erhalten zahlreiche Anrufe, Briefe von ehemaligen Flüchtlingen oder Vertriebenen, sogar Heiratsanträge für Frank. Auch beim Bürgermeister geht stoßweise Fan-Post für uns ein. Leider sind unter den Schreiben immer auch Drohbriefe, und anonyme Anrufer kündigen an, Fitscher zu entführen. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei verlaufen im Sande. Natürlich befürchten wir, dass der DDR-Staatssicherheitsdienst hinter den Drohungen steckt. Doch die Polizisten winken ab. Es könne schon sein, dass die Stasi uns nicht in Ruhe lassen wolle, sagt ein Beamter, aber wie solle man dafür Beweise finden? Darauf wissen wir auch keine Antwort, doch uns erschreckt die Vorstellung, ständiger Bedrohung ausgesetzt zu sein. Bei unseren Fluchtvorbereitungen haben wir an vieles gedacht, aber nie waren wir auf die Idee gekommen, dass uns die DDR nach der Landung im Westen weiter verfolgen könnte. 56
Die ständige öffentliche Aufmerksamkeit ist zwar nicht bedrohlich, aber doch belastend. Auf Schritt und Tritt werden wir in Naila mit unserer Flucht konfrontiert. »Ich möchte mich auch mal über etwas anderes unterhalten als über Ballons und die DDR«, stöhnt Doris. Selbst beim Einkauf im Supermarkt muss sie immer wieder dieselben Fragen beantworten. Glücklicherweise ist nach der Einrichtung der Wohnung so viel Geld vom Illustriertenhonorar übrig, dass wir uns einen Gebrauchtwagen leisten können. An den Wochenenden fahren wir mit dem Opel oft hinaus aus der Stadt, einfach irgendwohin, um Abstand zu bekommen. In Naila tauchen daraufhin Gerüchte auf, wir seien Millionäre geworden. Andere halten uns für Spione, deren Flucht nur geschickt vorgetäuscht sei. Wider Erwarten nimmt die Neugier mit der Zeit nicht ab. Außerdem stört uns zunehmend die Nähe zur Grenze. Sie ist gerade einmal fünfzehn Autominuten entfernt. Im Oktober liegt inmitten des täglichen dicken Poststapels ein Umschlag von der Filmproduktionsfirma Walt Disney. Die Kalifornier möchten unsere Fluchtgeschichte verfilmen. Wir reiben uns die Augen: Eines der größten Filmunternehmen der Welt hat Interesse an unserer Geschichte! Um keinen Fehler zu begehen, lassen Wetzels, die denselben Brief bekommen haben, und wir uns von einem Anwalt in Naila über unsere Rechte informieren. Er erklärt, dass die Filmgesellschaft auch ohne unsere Einwilligung und Beteiligung die Flucht verfilmen dürfe. Wir möchten aber gerne die Möglichkeit nutzen, den Film mitzugestalten. Kurz darauf treffen wir die Agentin des Filmkonzerns in Hamburg. Sie lädt Wetzels und uns zu weiteren Besprechungen nach Los Angeles ein. Ein reizvoller Vorschlag. Wer hätte sich vor ein paar Monaten träumen lassen, jemals in die USA zu reisen? Fitscher und Frank werden nach einigem Hin und Her für sechs Tage vom Schulbesuch freigestellt. 57
Am 8. November starten wir acht zu unserer zweiten großen Luftreise. Nach dreizehn Flugstunden landen wir in Los Angeles. Die neue Welt ist faszinierend, und wir erleben einige wunderbare Tage in Kalifornien. Die Kinder möchten am liebsten dort bleiben. Die Verhandlungen mit Walt Disney, bei denen ein deutschstämmiges Ehepaar für uns übersetzt, kommen schnell voran. Wir freunden uns mit dem Gedanken an, dass die Geschichte verfilmt wird. Der Film soll Night Crossing heißen, möglichst authentisch sein und innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt werden. Vor Drehbeginn sollen wir den Drehbuchschreibern Informationen über unsere Vorbereitungen, die Schauplätze und die Umstände der Ballonflucht liefern. Aufgeregt und voller neuer Eindrücke treten wir den Flug zurück an. In den wenigen Tagen unserer Abwesenheit haben sich neue Briefstapel aufgetürmt. Wir spüren noch stärker als zuvor, dass wir Naila verlassen müssen. »Hier bleiben wir die ewigen Ballonfahrer«, sagt Doris, und sie hat recht. Wir hatten nie die Absicht, aus unserer Flucht eine Sensation zu machen. Uns ging es um Freiheit, um Reisefreiheit, um Meinungsfreiheit. Doch die neugewonnenen Rechte können wir gar nicht genießen. Es wird Zeit, nach einem anderen Wohnort zu suchen. Ich habe ein Anbot einer Gießener Kunststoffverarbeitungsfirma erhalten. Wir fahren gemeinsam nach Hessen. Das Vorstellungsgespräch verläuft angenehm, anschließend unterschreibe ich gleich den Vertrag für die Stelle als Betriebstechniker. Auch eine Wohnung findet sich schnell. Nach Fernwald-Annerod, ein Ortsteil der Universitätsstadt Gießen, wollen wir im Januar 1980 umziehen.
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Die Stasi bei der »Sicherungsarbeit« Nach Mielkes drastischer Standpauke verdoppeln seine Untergebenen die Anstrengungen im Operativvorgang »Birne«. Die Mitarbeiter der Stasi-Bezirksverwaltung Gera legen lange Listen über Maßnahmen, Umsetzungen, Zuständigkeiten und Kompetenzen an, um die »Motive und Hintergründe der erfolgten Grenzprovokation mit dem Ziel« aufzuklären, »eine mögliche Inspiration und Organisation dieser Straftat durch den Gegner nachzuweisen«. Hinter einer Flucht aus der DDR konnte für die Stasi niemand anders als der Bundesnachrichtendienst stehen. »Eine derart spektakuläre Flucht wurde damals nicht als ein individuell-persönlich motiviertes Ereignis angesehen, sondern als politisch-ideologischer Angriff, hinter dem die gegnerischen Kräfte standen«, meint ein früherer StasiOberstleutnant, der anonym bleiben soll, da er sich nicht mit dem Operativvorgang »Birne« befaßte. Zunächst aber stellt Mielkes Wunsch, alles zu erfahren, den Staatssicherheitsdienst vor enorme Fleißaufgaben: »Durch geeignete Ermittlungshandlungen ist in kürzester Frist herauszuarbeiten, wie und unter welchen Umständen es den Beschuldigten gelang, diese umfangreichen Materialien (Stoff, Wäscheleine, Propangasflaschen u. a.) zum Bau der beiden Ballons zu beschaffen.« Später werden Strelzyks von Freunden und Bekannten in der DDR erfahren, dass nach ihrer gelungenen Ballonflucht alle Käufer von Propangasflaschen registriert wurden und Stoffe, die sich für Ballonhüllen eigneten, nicht mehr in größeren Mengen erhältlich waren. Die Stasi-Offiziere in Gera veranlassen zwei Tage nach der Ballonflucht umfassende Postkontrollen. Kein Brief aus der DDR an Strelzyks, keine Post von ihnen in Gegenrichtung passiert fortan ungeöffnet die Grenze. Zudem sollen die westlichen Massenmedien ausgewertet werden, »um mögliche 59
Hinweise für die weitere zielgerichtete Untersuchungsarbeit in allen Ermittlungsverfahren zu erhalten«. Während die Stasi auf Nachrichten über die Ballonflucht im Westen setzt, sollen aus der DDR keine Informationen über die Geflüchteten nach außen dringen. Am 19. September wird in Gera deshalb ein spezieller »Maßnahmeplan« erarbeitet: »Die Zielstellung der nachfolgend aufgeführten Maßnahmen und Aufgaben besteht darin, alle journalistischen Vorhaben, die im Zusammenhang mit dem Operativvorgang >Birne< durch Massenmedien kapitalistischer Staaten geplant oder durchgeführt werden, zu erkennen und zu verhindern.« An den Grenzübergangsstellen wird nach West-Journalisten gefahndet, die in den Bezirk Gera reisen wollen. Die Anweisung im nie ganz fehlerfreien Stasi-Deutsch geht noch weiter: »Durch die Abteilung VI ist eine operative Kontrolle in den Übernachtungsobjekten ihres Verantwortungsbereiches zu den dort aufhältlichen Personen aus den journalistischen Bereich durchzuführen.« Besonders aufmerksam wacht die Stasi über Berichterstatter mit dem Reiseziel Pößneck. Auch Informelle Mitarbeiter werden auf westliche Journalisten in der DDR angesetzt: »Alle IM der Abteilung II, die operativ bedeutsame Kontakte zu Personen aus dem journalistischen Bereich der BRD unterhalten, sind mit dem Informationsbedarf zum OV >Birne< vertraut zu machen und zur Abwehr journalistischer Tätigkeiten zum Einsatz zu bringen.« Bei aller Akribie sind die Maßnahmen unverkennbar defensiv. Sie sollen den entstandenen Schaden begrenzen. Die Berichterstattung im Westen kann die Stasi nicht verhindern. Die Ballonflucht beherrscht im Herbst 1979 die Medien. Von einer »Hymne auf die Freiheit« schreibt die Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel sieht in der Flucht der Strelzyks und der Wetzels einen Akt der »Tollkühnheit«. Der Stern berichtet als erste Illustrierte mit zahlreichen - gestellten - Fotos über die 60
spektakuläre Reise von Deutschland nach Deutschland, und der Stern-Reporter Jürgen Petschull veröffentlicht nach ausführlichen Gesprächen mit beiden Familien schon im Januar 1980 das Taschenbuch Mit dem Wind nach Westen. Dagegen ist die Stasi machtlos. Sie kann Berichte in der Bundesrepublik ebensowenig unterbinden wie in anderen westeuropäischen Ländern oder den USA. Die Ermittlungen über die Fluchtvorbereitungen verlieren für die Stasi im Spätherbst 1979 an Bedeutung. Anfang Januar 1980 resümiert einer der leitenden Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Gera in einem mehrseitigen Bericht den Operativvorgang »Birne«. »Die Frage, wie die Straftat hätte verhindert werden können, beschäftigt uns vom ersten Tage an. Es gibt dazu verschiedene Erwägungen, die von der Forderung nach verstärkter vorbeugender Arbeit bis hin zu Forderungen nach Maßnahmen unmittelbar an der Staatsgrenze, die ein Überfliegen mit Luftfahrzeugen verhindern können, reichen. [...] Als Vertreter der operativen Linien des MfS muss uns aber eins klar sein, wenn ein solches Gerät einmal fliegt, ist es zu spät, da haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt, ganz gleich, ob die Vollendung der Straftat gelingt oder nicht.« Also, lautet die Schlußfolgerung, müsse eine »qualifizierte vorbeugende Sicherungsarbeit« geleistet werden, um potentielle weitere Ballonflüchtlinge noch während der Vorbereitungen zu stellen. Mit deutlichen Worten tadelt der Stasi-Offizier in seinem Bericht das wenig wachsame Verhalten vieler nach dem ersten Ballonfluchtversuch der Strelzyks. Sechzehn Augenzeugen hätten die Ballonfahrt beobachtet, ohne umgehend Alarm auszulösen. Jeder hätte sich darauf verlassen, dass die Sicherheitskräfte bereits Bescheid wüßten. Der Stasi-Mitarbeiter rechtfertigt jedoch, dass bei den späteren Ermittlungen Familie Strelzyk nicht zu den Verdächtigen gehörte. Sie sei nicht in den Karteien der Stasi oder 61
der Volkspolizei registriert. Selbst unter den 600 »operativ interessanten« Personen, die die sehr aufwendige Überprüfung von 800 000 Arztrezepten ergab, hätten sich Doris oder Peter Strelzyk nicht befunden. Nach dem kläglichen Ende der Ermittlungen über die Fluchtvorbereitungen versucht die Stasi, das Leben der Strelzyks im Westen auszuspionieren. Der neue Wohnort der Familie in Gießen wird mit zweimonatiger Verspätung am 11. März 1980 aktenkundig. Unter der Überschrift »Information zur Feindperson Strelzyk« werden die Auskünfte einer »Quelle« zusammengefaßt. In gewohnter Detailtreue beschreibt der Informant das Wohnhaus, die Straße und das Umfeld: »Die Quelle traf die Feststellung, dass in diesem Neubaugebiet neben Bürgern der BRD auch amerikanische, polnische und türkische Familien wohnhaft sind. [...] Bewegungen und Verhaltensweisen von Türken sind der Quelle aus eigenem Erleben bekannt.« Wichtiger dürfte für die Stasi-Offiziere sein, dass die Quelle die neue Telefonnummer der Strelzyks mitzuteilen weiß - konspirativ erfragt bei der Telefonauskunft. Ruhe und Anonymität, die sich Strelzyks von ihrem Umzug erhofft haben, sind deshalb nur von kurzer Dauer.
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Kampf für schuldlose Häftlinge Die Nachricht versetzt uns in helle Aufregung. Vier uns nahestehende Menschen sind in den Händen der Stasi! Doris hält den Brief ihrer Mutter noch in den zitternden Händen. Mein Bruder Erich, meine Schwester Maria, ihr Mann Horst und mein Freund Thomas Dietrich sind verhaftet worden und sitzen wegen »Fluchthilfe« hinter Gittern! Ich kann es nicht fassen. »Wie können die bloß so was tun«, sage ich zu Doris. »Keiner von ihnen hat von unserer Flucht gewußt. Der DDR ist es anscheinend vollkommen egal, wen sie zum Sündenbock stempelt und quält!« Wir überlegen bis tief in die Nacht, wie wir den Unschuldigen helfen können. Am nächsten Tag schreiben wir an das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen in Bonn. Nach einigen bangen Tagen erhalten wir einen dicken Stapel Formulare, in die die persönlichen Angaben der Inhaftierten und die Umstände unserer Flucht eingetragen werden müssen. In dem beiliegenden Brief verspricht Minister Egon Franke, sich auf diplomatischem Weg um eine möglichst schnelle Haftentlassung zu bemühen. »Aber lassen Sie die Medien aus dem Spiel«, schreibt er. »Öffentlichkeit könnte eher schaden als nützen.« Zwei Anwälte in West-Berlin werden eingeschaltet, die sich um die Freilassung unserer Angehörigen kümmern sollen. Das bedeutet Freikauf. Über die moralische Bewertung eines solchen Menschenhandels kann man sicher geteilter Meinung sein. Schließlich birgt der Freikauf die Gefahr, dass die DDR politische Häftlinge um der Valuta willen produzierte. Doch moralische Bedenken kümmern uns jetzt wenig. Wir müssen alles tun, um Erich, Maria, Horst und Thomas freizubekommen - so schnell wie möglich. Während die diplomatischen Räder mahlen, können wir die Hände nicht in den Schoß legen. Wir schreiben an 63
Bundeskanzler Helmut Schmidt und bitten ihn um eine persönliche Intervention bei der DDR-Staatsführung. Wir nehmen Kontakt zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte auf, zu amnesty international und zu Rainer Hildebrandt von der Arbeitsgemeinschaft 13. August. Hildebrandt kümmert sich seit Jahren um politische Häftlinge in der DDR und ihre Angehörigen, und er weiß, wie die Staatsmacht empfindlich zu treffen ist. Wir besuchen ihn in West-Berlin in seinem Privatmuseum Haus am Checkpoint Charlie, das eindrucksvoll die Folgen von Mauer und Schießbefehl dokumentiert. »Ihr müßt an die Öffentlichkeit gehen. Nichts fürchten die DDR-Oberen mehr als eine negative Presse«, sagt uns Rainer Hildebrandt. Wir beherzigen seinen Rat. Mitte Dezember lädt die Arbeitsgemeinschaft 13. August zu einer Pressekonferenz, auf der wir die Journalisten über die Inhaftierung unserer Angehörigen informieren. Das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen haben wir zuvor unterrichtet, dass wir doch die Öffentlichkeit einschalten werden. »Der diplomatische Weg allein scheint nicht zu reichen«, schreibe ich an den Minister. Bald ergibt sich eine weitere Gelegenheit, den Umgang der DDR mit unseren Verwandten und Freunden öffentlichkeitswirksam anzuprangern. Am 18. April 1980 wird in Naila die Ausstellung Grenzen durch Deutschland eröffnet. Neben Günter und Petra Wetzel treffen wir dort auf zahlreiche Journalisten und informieren sie ausführlich über das Schicksal unserer inhaftierten Verwandten. In den darauffolgenden Tagen erscheinen viele groß aufgemachte Berichte. »In der DDR wird Sippenhaft praktiziert«, heißt es in einem Artikel. »Nichtsahnende Verwandte der Ballonflüchtlinge wurden in der DDR zu Haftstrafen verurteilt«, in einem anderen. Die Berichte haben den gewünschten Effekt. Schon nach einer Woche erfahren wir, dass Erich aus der Haftanstalt Potsdam entlassen worden ist; Maria und ihr Mann Horst kommen Mitte Mai frei. Mein Freund und ehemaliger 64
Arbeitskollege Thomas Dietrich allerdings bleibt in Naumburg inhaftiert. »Wir dürfen nicht lockerlassen«, sage ich zu Doris. Sie nickt. »Immerhin wissen wir jetzt, dass die DDR auf öffentlichen Druck reagiert.« Zu dieser Zeit boykottieren dreißig Staaten, darunter die USA und die Bundesrepublik, die Olympischen Sommerspiele in Moskau, um gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan zu protestieren. Die Nato will mit dem sogenannten »Doppelbeschluß« Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR erreichen oder atomare Mittelstreckenraketen in Westeuropa stationieren. Wir registrieren diese Entwicklungen mit Sorge. Aber stärker beschäftigt uns doch unser ganz persönlicher OstWest-Konflikt: Wie können wir Thomas Dietrich zur Freiheit verhelfen? Ich arbeite mittlerweile engagiert in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte mit. »Wir müssen den Fall auf der großen diplomatischen Bühne anprangern«, meint der Vorsitzende Joachim Gnauck. Die Gelegenheit dazu ergibt sich bald. Im Dezember 1980 tagt die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Madrid. Für Verwandte und Freunde von Inhaftierten, die überwiegend in Ostblockländern einsitzen, organisiert die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte eine Fahrt nach Spanien. Eine Demonstration und Gespräche mit KSZE-Teilnehmern sind geplant. Joachim Gnauck schlägt mir vor, mitzufahren und den Kontakt zu den DDR-Vertretern bei der KSZE zu suchen. Doris ist einverstanden, und ich bekomme kurzfristig Urlaub. Am 12. Dezember fahren die Busse in Frankfurt am Main ab. In den zwei Tagen bis Madrid lerne ich viele erschütternde Schicksale kennen. Eine ältere Frau aus der Sowjetunion erzählt mir, dass ihr jüngster Sohn seit drei Jahren verschwunden sei. Er diente beim Militär, einige Monate auch in der DDR. Seit drei Jahren wartet sie auf ein Lebenszeichen 65
von ihm. Die zuständigen Behörden verweigern jegliche Auskunft. Neben mir sitzt ein Rumäne. Er hat ein ähnliches Anliegen wie ich. Auch er hat sein Heimatland auf abenteuerliche Weise verlassen: in einer tagelangen mühseligen Wanderung über die Berge nach Jugoslawien und von dort nach Österreich. Seine Verlobte wurde daraufhin von der Securitate abgeholt und in ein Gefängnis gebracht. Aus welchem Land wir auch kommen, uns eint die Sorge um Angehörige und Freunde. Und wir alle setzen große Hoffnungen auf den Protest bei der KSZE. Gleich am ersten Tag in Madrid versucht jeder, bei der zuständigen Botschaft seine Unterlagen über die Inhaftierten abzugeben. Die Resonanz ist sehr unterschiedlich. Die Botschaften der DDR und der Sowjetunion reagieren abweisend. Die Vertreter OstBerlins in Madrid teilen den Bittstellern mit, sie seien ausschließlich für Angelegenheiten zwischen der DDR und dem Königreich Spanien zuständig. Ich bin enttäuscht, auch wenn ich eigentlich mit einer solchen Reaktion gerechnet habe. Schließlich kenne ich meinen Heimatstaat. Dagegen nehmen die diplomatischen Vertreter Polens die Schreiben entgegen und versprechen, sie nach Warschau weiterzuleiten. Entgegenkommen zeigt auch der Erste Sekretär der Botschaft Rumäniens, der gleichzeitig Leiter der KSZEDelegation seines Landes ist. Er sagt zu, den Häftlingsschicksalen nachzugehen. Mein Gesprächspartner aus dem Bus darf also hoffen. Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes findet eine Anhörung mit Vertretern der KSZE-Delegationen aus der Bundesrepublik, Frankreich, dem Vatikan und den USA statt. Bei diesem Treffen habe ich endlich Gelegenheit, auf das Schicksal von Thomas Dietrich aufmerksam zu machen. Die Herren nehmen mein Schreiben entgegen. Am Ende unseres Aufenthaltes beteiligen wir uns an einem Schweigemarsch 66
durch das Zentrum Madrids, den amnesty international initiiert hat. Ich kehre mit gemischten Gefühlen nach Gießen zurück. Die Aktionen in Madrid haben zwar einige Resonanz in den Medien gefunden, aber konkret habe ich nichts für Thomas Dietrich erreicht. Der Freund ist weiterhin in Haft. Alle Briefe und Eingaben, die Doris und ich schreiben, bleiben ohne Wirkung. Die Monate vergehen. Als bekannt wird, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 1981 den DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker im Jagdschloß Hubertusstock treffen wird, schreiben wir ihm noch einmal und bitten ihn, sich für die Freilassung von Thomas Dietrich einzusetzen. Diesmal erhalten wir eine prompte Reaktion. Ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes verspricht brieflich, dass sich der Kanzler für Thomas Dietrich verwenden wird. Offenbar hat er Wort gehalten, denn nach kurzer Zeit wird unser Freund freigelassen. Doris' Mutter schreibt uns, dass Thomas sie in Pößneck besucht habe. Er wolle so schnell wie möglich mit seiner Familie in den Westen übersiedeln. »Ob wir ihm auch dabei helfen können?« überlegt Doris. Uns ist zwar bewußt geworden, wie mühselig es ist, vom Westen aus Einfluß auf die DDR zu nehmen, und nebenbei haben wir ja noch unseren Alltag zu bewältigen. Doch wir fühlen uns verpflichtet, Thomas zu helfen. Schließlich ist er unseretwegen verhaftet worden - auch wenn wir das nie beabsichtigt hatten und er nicht einmal etwas von unseren Fluchtplänen wußte. Warum die Staatsmacht ausgerechnet Thomas inhaftiert hat, wissen wir nicht. Andere Freunde und Verwandte bleiben merkwürdigerweise unbehelligt. Bei Doris' Mutter wendet die Stasi die Methode der kleinen Nadelstiche an. Briefe, die wir mit fingiertem Absender versehen, werden ihr persönlich überreicht. Ihr Haus wird Tag und Nacht beobachtet, ein Lada mit Funkantenne steht immer in Sichtweite. In der StasiBezirksverwaltung Gera ist ein Major Stephan für ihre 67
persönliche »Betreuung« zuständig. Er sucht sie regelmäßig auf und deutet wiederholt an, dass die »Ballon-Oma« in Pößneck nicht mehr erwünscht sei. Außerdem droht er Anschläge auf uns an. Die Stasi sei schon mit anderen fertig geworden. Doris' Mutter berichtet von diesen nicht sehr angenehmen Unterhaltungen in ihren Briefen. Zum Glück ist sie eine couragierte Frau und läßt sich nicht leicht einschüchtern. Aber wir machen uns große Sorgen und hoffen, dass sie bald ausreist. Um uns haben wir weniger Angst. »Alles nur Wortgeklingel«, sage ich zu Doris. Insgeheim fürchten wir allerdings, dass die Stasi es auf unsere Söhne abgesehen hat.
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Die Stasi knüpft ihr Spitzelnetz Im Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit und in der zuständigen Bezirksstelle in Gera wird mit zunehmendem Ärger registriert, dass Peter und Doris Strelzyk sich für die Inhaftierten engagieren und wiederholt an die Öffentlichkeit gehen. Am 3. Juni 1980 faßt Major Stephan, Referatsleiter in der Abteilung VII der Stasi in Gera, einen Bericht ab, der in diffamierendem Ton die Kontakte Peter Strelzyks zu seinen gerade aus der Haft entlassenen Geschwistern referiert. Durchgehend ist von »feindlichen Aktivitäten« die Rede, weil Strelzyks den Freigelassenen Hilfe anbieten. Besonderer Ausdruck der »feindlichen Handlungen und Machenschaften des Gegners« seien, so schreibt Major Stephan, »die Bemühungen des Haupttäters STRELZYK und seiner Hintermänner, Verwandte die im Zusammenhang mit dem Vorkommen vom 16.9.79 inhaftiert wurden, aufzufordern in die BRD zu >übersiedeln<«. Auslöser für diese »Kampagne«, wie der Stasi-Major es nennt, sei eine als Pressekonferenz getarnte »Hetzveranstaltung« der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 17. Dezember 1979 in WestBerlin gewesen. Stephan unterstellt in seinem Bericht wie selbstverständlich, dass Peter Strelzyks Geschwister kein eigenes Interesse an einer Übersiedlung in die Bundesrepublik hätten. Er behauptet, Strelzyk hätte sofort Kontakt zu Schwester und Bruder »nach deren Entlassung aus der Haft« aufgenommen und »Druck und Zwang« auf sie ausgeübt. Der Bericht zeigt nicht allein, wie selbstgerecht Stasi-Offiziere mit Begriffen wie gut und böse, Feind und Freund operieren - er dokumentiert auch sehr eindrucksvoll, wie lückenlos die Strelzyks bereits zu diesem Zeitpunkt überwacht werden. Major Stephan zitiert gleich mehrfach aus Briefen und 69
Anrufen Peter Strelzyks. Er hätte, so heißt es, am Tag nach der Haftentlassung Maria Städters seine Schwiegermutter Eise Glaser in Pößneck angerufen, um seiner Schwester ausrichten zu lassen, »dass für ihre >Übersiedlung< alles vorbereitet sei. Es stehe eine Wohnung, die notwendige Ausstattung, ein PKW sowie geeigneter Arbeitsplatz für sie und ihrem Ehemann und ein Studienplatz für die Tochter bereit«. In Telefongesprächen mit Maria Städter am 22. und 25. Mai 1980 hätte Peter Strelzyk »teilweise unter Druck und vor allem Versprechungen« versucht, seine Schwester zu einem Antrag auf Ausreise aus der DDR zu bewegen. »STRELZYK drohte in Briefen und bei Telefongesprächen unmißverständlich, dass bei Nichtbewilligung der Ausreiseanträge durch die DDR-Behörden Massenmedien und die >Weltöffentlichkeit< eingeschaltet werden.« Kürzer behandelt Stephan die Kontakte Strelzyks zu seinem Bruder, dem er ebenso wie seiner Schwester zur Ausreise in die Bundesrepublik verhelfen möchte. Interessant ist der Schlußsatz des Berichtes: »Durch gezielte politisch-operative Maßnahmen und Einflußnahme auf das Ehepaar STÄDTER und die Person Strelzyk, Erich, konnte die Zielstellung des STRELZYK vorerst verhindert werden.« Später wird sich herausstellen, dass die Stasi die Geschwister tatsächlich in das um Strelzyks gewobene Spitzelnetz einbinden konnte. Allerdings haben sie niemals Geheimnisse über ihren Bruder verraten. Die Anstrengungen der Stasi, den Strelzyks zu schaden, werden auch auf anderen Ebenen verstärkt. Am 18. April 1980 erweitert das Kreisgericht Gera-Stadt den Haftbefehl gegen Peter Strelzyk: Er stehe, heißt es, »im weiteren dringenden Tatverdacht, nach dem am 16.09.1979 vollzogenen ungesetzlichen Grenzübertritt gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem Ehepaar Wetzel staatsfeindliche Hetze betrieben zu haben«. 70
Peter Strelzyk - in den Akten auch >Strelczyk< genannt gilt der Justiz ebenso wie der Stasi als Haupttäter. Im erweiterten Haftbefehl werden ihm Kontakte zur Arbeitsgemeinschaft 13. August und zu Medienvertretern zur Last gelegt. »Weiterhin übermittelte STRZELCZYK Vertretern von Zentren der politisch-ideologischen Diversion gegen hohe Bezahlung eine Vielzahl der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der DDR [...]«. Im Ministerium für Staatssicherheit bleibt kein Artikel unbemerkt, der über das Schicksal der Strelzyks und ihrer Angehörigen berichtet. Am 5. Juni 1980 schickt Mielkes Stellvertreter, Generalmajor Neiber, ein Päckchen an die Bezirksverwaltung Gera. In ihm befindet sich ein Artikel aus Der Spiegel, das Taschenbuch Mit dem Wind nach Westen und ein IM-Bericht über Peter Strelzyk. Der Begleitbrief enthält einige nicht sehr originelle Anweisungen: »Zu Strelczyk besteht dringender Informationsbedarf, insbesondere zu folgenden Problemen: - alle Hinweise zum Lebensstil und Lebensgewohnheiten, Tagesablauf, Arbeitsstelle, Verbindungen am neuen Wohnort; - Typ, Farbe und poliz. Kennzeichen des Pkw, wo wird das Fahrzeug abgestellt, Garage oder im Freien.« Das klingt, als ob die Stasi keine oder nur spärliche Informationen über Peter Strelzyk und seine Familie besäße. Doch nicht nur der neue Wohnort Fernwald-Annerod ist zu diesem Zeitpunkt längst aktenkundig. Eine Kontaktperson mit Decknamen »Luchs« liefert auch Informationen über das Umfeld der Familie. Jeder Brief, den Strelzyks zu Verwandten und Freunden in die DDR schicken, wird ebenso wie jedes Päckchen von ihnen im Postzollamt Saalfeld geöffnet und kontrolliert - trotz fingierter Absender. Ebenso untersucht man hier jeden Brief aus der DDR an die Familie Strelzyk. Außerdem werden die Telefone aller Verwandten und 71
Bekannten der Strelzyks in der DDR abgehört. Damit nicht genug: Die Stasi bittet auch die Geheimdienste Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und den sowjetischen KGB um Mithilfe. Von Erfolg dürften die Hilfeersuchen allerdings nicht gewesen sein. Einige der Bruderländer haben ganz andere Sorgen. In Polen beispielsweise tobt ein Machtkampf zwischen Staat und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc; die Sowjetunion kämpft in Afghanistan. Der Staatssicherheitsdienst ist bei der Bearbeitung des Operativvorgangs »Birne« weiterhin auf den eigenen Fleiß angewiesen. Schon bald nach der gelungenen Ballonflucht mobilisiert die Stasi immer mehr Inoffizielle Mitarbeiter in Ost und West. Bei Anbahnungsversuchen ist sie jedoch nicht immer erfolgreich. Major Stephan, der die Mutter von Doris Strelzyk in Pößneck regelmäßig heimsucht und ihr die Ausreise nahelegt, bemüht sich um Brunhild Dietrich, die Ehefrau des Inhaftierten. Mit der Kontaktperson »Mechaniker« unternimmt Major Stephan Autofahrten ins Erzgebirge, nach Saalfeld und Weimar. Von den Reisen zeugen hohe Spesenrechnungen, die der spendable Major Stephan unter der Registriernummer X/485/79 im Operativvorgang »Birne« verbucht. Der Kontakt verläuft offenbar im Sande. Das Ehepaar Dietrich hat bald nach der Ballonflucht der Strelzyks die Aufmerksamkeit der Stasi und der Polizei auf sich gezogen. Am 23. September 1979 erhält es Besuch von Verwandten aus Hannover. Thomas Dietrich bittet sie, Kontakt zu Peter Strelzyk aufzunehmen. Er hofft, dass sein Freund ihn und seine Familie aus der DDR ausschleusen kann. Dietrich wird immer unvorsichtiger. Ein weiteres Gespräch mit den Verwandten aus Hannover im November 1979 über die Flucht aus der DDR findet im Interhotel Stadt Berlin statt und wird von der Stasi aufgezeichnet. Später besucht Dietrich seine Mutter in Salzwedel und bittet sie, in die Bundesrepublik zu 72
reisen. Sie soll Strelzyk aufsuchen und um Hilfe bitten. Kurz darauf wird Thomas Dietrich festgenommen. Am 13. Dezember 1979 eröffnet die Justiz das Ermittlungsverfahren. Er kommt in das Naumburger Gefängnis. Neben versuchter Republikflucht werden ihm auch Wirtschaftsvergehen zur Last gelegt. Er soll Maschinenersatzteile des VEB Polymer verkauft und die Erlöse in die eigene Tasche gesteckt haben. Auch hinter diesem Verfahren steckt Major Stephan von der StasiBezirksverwaltung Gera. Brunhild Dietrich sitzt vom 22. Januar bis zum 6. Februar 1980 in Haft. Ein gegen sie eingeleitetes Verfahren wird eingestellt.
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Alltäglicher Psychoterror Es ist ein schöner Frühlingsabend. Die Jungen, Doris und ich sitzen im Wohnzimmer unserer neuen Wohnung in FernwaldAnnerod. Fitscher erzählt von einer Mathematikarbeit, Frank unterbricht ihn mit der Frage, ob er am Wochenende mit einem Freund zum Zelten fahren darf. In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Doris geht an den Apparat. Ich merke schnell, dass etwas nicht stimmt: Sie ist merkwürdig kurz angebunden, sagt verärgert »Was soll das?« und dann knapp »Falsch verbunden«. Wir blicken sie neugierig an. »Wer war das?« »Nichts weiter«, schüttelt Doris den Kopf. »Da hatte sich jemand verwählt.« Gleich darauf bittet sie Frank, nicht zum Zelten zu fahren. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, sagt sie, »es kann soviel passieren.« Frank ist irritiert. Als die Kinder in ihre Zimmer gegangen sind, erzählt Doris, dass der Anrufer gedroht habe, Fitscher zu entführen. »Dann sagte er: >Euch Verräter kriegen wir noch klein.<« Ich bin entsetzt. Wir werden die Stasi wohl niemals wieder los. Nach allem, was Doris' Mutter über ihre Gespräche mit Major Stephan schreibt, kann eigentlich niemand anders hinter diesem Anruf stecken. Nun haben uns die Drohungen, mit denen wir schon in Naila gerechnet haben, in Gießen eingeholt. Doris bricht das Schweigen. »Ich glaube, sie wollen uns nur nervös machen. Das ist Psychoterror.« Aber die Angst um die Kinder bleibt. »Wir lassen Frank nicht zum Zelten fahren. Dort kann er wirklich leicht irgendwelchen Stasi-Agenten in die Hände fallen«, sagt Doris, und ich gebe ihr recht. Von dem Anruf sollen die Kinder nicht erfahren. Zumindest sie sollen die DDR-Vergangenheit vergessen können. Nur kurz denken wir daran, die Polizei einzuschalten. Schon in Naila mussten wir erfahren, wie hilflos die Beamten auf die ersten Entführungsdrohungen reagierten. Die 74
Anrufe dauerten nicht lang genug für eine Fangschaltung. Deshalb müssen wir auf uns selber aufpassen und lassen größte Vorsicht walten. Jeden Morgen kontrolliere ich vor der Fahrt zur Arbeit, ob die Radmuttern festsitzen und die Bremsen funktionieren. Doris legt die Sicherheitskette vor die Wohnungstür, außerdem haben wir ein zusätzliches Schloß eingebaut. Die anonymen Anrufe wiederholen sich. Wir hören unterschiedliche Männerstimmen, aber sie sagen immer das gleiche: Unser Sohn wird entführt werden, und wir sollen uns in Acht nehmen. Glücklicherweise ist Fitscher kein einziges Mal am Apparat und bleibt unbehelligt von der ständigen, schleichenden Bedrohung. Wir richten es so ein, dass er nie allein zur Schule gehen muss. Meistens nehme ich beide Jungen im Auto mit, oder Doris verbindet ihren Einkauf mit einem Abstecher zur Schule. Frank fügt sich zähneknirschend dem Verbot, zum Zelten zu fahren. Vermutlich ahnt er, dass wir uns nicht unberechtigt Sorgen machen. Schließlich ist er 15 Jahre alt und hat schon in Pößneck gelernt, auf Andeutungen und Zwischentöne zu achten. Trotz der ständigen Bedrohung genießen wir das neue Leben in Freiheit. Wir waren von jeher kontaktfreudige Menschen und finden auch in der neuen Umgebung schnell Freunde und Bekannte. Die Nachbarn sind freundlich, und durch die zahlreichen Kontakte zu politischen Gruppen und Parteien sind ebenfalls etliche persönliche Beziehungen entstanden. Vor allem aber nutzen wir jede freie Stunde, um die nähere und fernere Umgebung kennenzulernen. Am Wochenende sind wir nun fast immer unterwegs. Für Frank und mich wird das Ballonfahren zum echten Hobby. Nach unserer spektakulären Flucht haben uns viele Ballonfahrer-Vereine eingeladen. Jetzt haben wir endlich die Musse, die Angebote zum Mitfahren anzunehmen. In der Freizeit sind wir oft in der Luft, bei Tageslicht und jedem 75
Wind, ohne Druck und Heimlichkeit. Noch immer werden wir gebeten, Vorträge über die Flucht zu halten oder an Podiumsdiskussionen teilzunehmen. Wir treten auf Veranstaltungen des Lions Clubs, der Jungen Union, der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und vor Schulklassen auf. Überall ist das Staunen über die Umstände der Flucht groß. Uns zeigen diese Erlebnisse, wieviel Glück wir hatten. Franks sechzehnten Geburtstag feiern wir in einem kleinen Gießener Restaurant. Unser Sohn weiß genau, was er will. Nach dem Schulabschluß möchte er eine Elektrikerlehre beginnen. Während des kleinen Festes überrascht uns Doris mit einer Idee. »Wollen wir uns nicht selbständig machen?« Erst ist es still am Tisch. Eigentlich eine tolle Idee, denke ich. Frank hält seine Begeisterung nicht zurück: »Das wäre prima, wirklich. Macht doch einen Elektroladen auf! Dann kann ich bei euch in die Lehre gehen.« Ein eigener Laden würde gleich mehrere Probleme auf einmal lösen. Nicht nur, dass Frank bei uns seine Lehre beginnen könnte - wir hätten alle einen gemeinsamen Arbeitsplatz, wenn Doris den Verkauf übernehmen würde und ich die Reparaturen und Installationen. »Dann wären wir immer zusammen und könnten aufeinander aufpassen«, sage ich. Gleich schmieden wir Pläne. Am besten übernehmen wir ein bestehendes Geschäft. »Da ist das Risiko am kleinsten«, sage ich. »Wir haben von Anfang an einen Kundenstamm, und außerdem brauchen wir uns nicht um die Ladeneinrichtung zu kümmern.« Ein kleines Geschäft soll es sein, damit wir uns nicht in allzu große Schulden stürzen müssen. Der Ort ist gleichgültig. Die Stasi wird ihn ohnehin in kürzester Zeit wieder ausfindig machen und uns auf den Fersen bleiben. Aber das denke ich nur im Stillen. In den folgenden Tagen besorgt Doris Fachzeitschriften. Im Elektropraktiker finden sich eine Reihe von Inseraten, in denen 76
Fachgeschäfte zum Verkauf angeboten werden. Wir schreiben einige Firmen an. Bevor es ernst wird mit der Selbständigkeit, steht uns noch eine angenehme Reise bevor. Malcolm Forbes, der Chef des amerikanischen Forbes Magazin, hat Wetzels und uns zum Internationalen Ballon-Treffen eingeladen, das Anfang Juni 1980 auf seinem Schloß in der Normandie stattfindet. Wir verbringen vier wunderbare Tage in Frankreich. In seiner Eröffnungsrede hebt der Präsident der Organisation vor den Ballonfahrern aus aller Welt hervor, dass er erstmals Gäste aus dem Ostblock begrüßen könne. Günter Wetzel und ich sehen uns an. Wir denken in diesem Augenblick wohl beide das gleiche: in welch mühevoller Kleinarbeit der Ballon entstand, welche Ängste wir ausstehen mussten und wie unfaßbar es eigentlich ist, dass wir jetzt hier stehen, gesund und munter. Wir nutzen die Tage in Frankreich noch für einen kurzen Abstecher an die Kanalküste. Die schöne Landschaft beeindruckt uns und die historischen Stätten des zweiten Weltkriegs, die an die Landung der US-Amerikaner und der Briten am 6. Juni 1944 erinnern. Vor unserem Rückflug lernen wir einen neuen Aspekt der Demokratie kennen: das Streikrecht. Das Bodenpersonal der Air France hat die Arbeit niedergelegt, und die Folgen sind unübersehbar. Der Flughafen ähnelt einer Müllkippe. Die Toiletten sind verstopft, das Wasser ist abgestellt. Mit sechsstündiger Verspätung fliegen wir zurück. Zuhause finden wir Antwortbriefe verkaufswilliger Inhaber von Elektrogeschäften vor. Jedes Wochenende sind wir nun unterwegs, um Läden in Norddeutschland, in BadenWürttemberg, in Bayern zu besichtigen. Nebenbei lernen wir so die Bundesrepublik kennen. Die meisten Unternehmen sind zu teuer. Ein großes Münchener Elektrogeschäft mit zwanzig Angestellten soll 1,5 Millionen D-Mark kosten. »So hoch wollen wir uns nicht 77
verschulden«, sagt Doris. Dann werden wir fündig. In Bad Kissingen will ein Ehepaar aus Altersgründen sein Elektrogeschäft für 250.000 D-Mark verkaufen. Wir werden uns einig und übernehmen den Laden zum Januar 1981. Gerade noch rechtzeitig finden wir eine neue Wohnung. Sie liegt in Poppenroth, zehn Kilometer von Bad Kissingen entfernt. Frank kann die nahegelegene Berufsschule in Hammelburg besuchen, während er bei uns seine praktische Ausbildung absolviert; Fitscher wird mit dem Bus zur Schule nach Bad Kissingen fahren. Wir freuen uns auf den Neubeginn. Es ist nun schon unsere dritte Wohnung in der Bundesrepublik. Aber diesmal, da sind wir uns einig, wollen wir für lange Zeit bleiben. Bad Kissingen und Poppenroth sollen unsere neue Heimat werden. Vor dem Umzug schließt die Behörde in Gießen das Notaufnahmeverfahren offiziell ab. Doris und ich erhalten Flüchtlingsausweise und je 150 D-Mark, Fitscher und Frank bekommen je 75 D-Mark Startkapital. Unser Jüngster ist nicht ganz zufrieden; schließlich hat er sich bereits ein Fahrrad ausgesucht, das 190 D-Mark kostet. Es ist wohl kein Zufall, dass er an diesem Nachmittag freiwillig den Abwasch übernimmt. »Fitscher hat die Hoffnung nicht aufgegeben und dreht insgeheim eine Runde nach der nächsten mit dem Rad«, lästert Frank. Doris und ich sind uns schon einig. Am Abend steht das neue Fahrrad im Hausflur, und Fitscher ist überglücklich. Ich freue mich, dass er auf diese Weise einen kleinen Ausgleich für seine eingeschränkte Freiheit hat. Inzwischen sind die Drohanrufe zwar seltener geworden. Dennoch achten Doris und ich darauf, dass Fitscher längere Wege nie allein zurücklegt. Zur Schule fährt er mit einem Freund oder mit Frank, und bisher ist alles gutgegangen. In diesen Tagen haben wir alle Hände voll zu tun. Die Inventur im neuen Geschäft muss vorbereitet werden: den 78
Warenbestand auflisten, die Buchhaltung sichten, notwendige Bestellungen notieren. Zugleich müssen die Umzugskisten gepackt werden. Auf die Weihnachtspost an Verwandte und Freunde in der DDR schreiben wir noch unseren alten Absender. Doch in der Saale-Zeitung zeigen wir die Geschäftsübernahme von Elektro Jung in Bad Kissingen zum 2. Januar 1981 an. Hoffentlich bemerkt die Stasi unseren Umzug nicht sofort, aber vermutlich wird irgendein fleißiger Mitarbeiter selbst Geschäftsanzeigen auswerten. Wir wollen uns dennoch nicht verrückt machen lassen. »Wir werden es schon schaffen«, sagt Doris, »und die Stasi wird hoffentlich bald das Interesse an uns verlieren.«
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Nachahmung unerwünscht Die spektakuläre Ballonflucht der Familien Strelzyk und Wetzel blieb in der DDR natürlich nicht unbemerkt. Trotz aller Bemühungen der SED war ein Großteil der Arbeiter und Bauern unbotmäßig und sah regelmäßig Westfernsehen. Die Partei nahm es seit Anfang der 70er Jahre resigniert hin. Die westliche Berichterstattung über die Flucht im Ballon und dann der mehrfach gezeigte Film Mit dem Wind nach Westen wirkten daher auch in die DDR hinein. Nicht alle beließen es bei stiller Bewunderung für die tollkühnen Flüchtlinge. Mindestens zwei weitere Ballonfluchtversuche hat die Stasi dokumentiert. Per Telegramm werden am 14. März 1983 »Verdachtsmomente für ein versuchtes ungesetzliches Verlassen der DDR mittels Heißluftballon« gemeldet. Zwei Tage zuvor seien in der Gemarkung Seeburg, Kreis Potsdam, angebrannte Stoffreste und zwei rauchgeschwärzte Fünf-Kilogramm-Propangasflaschen gefunden worden. Der Fundort liege etwa 1,8 Kilometer Luftlinie von der Grenze zu West-Berlin entfernt. Die Ermittlungen müssen im Sande verlaufen sein. Von Verdächtigen oder weiteren Spuren ist nicht die Rede. Im zweiten dokumentierten Fall hat die Stasi dagegen Erfolg. »Am 13.6.1988 wurde in Erlau, Krs. Rochlitz, ein Heißluftballon aufgefunden, welcher an dieser Stelle nach vorangegangenem Flug aus unbekannter Entfernung niedergegangen war«, heißt es im schönsten Stasi-Deutsch. Schon neun Tage später sind die abgestürzten Flüchtlinge gefaßt: ein 27jähriger Elektriker und ein 24jähriger Zimmerer. Die Stasi-Mitarbeiter frohlocken. Mit den Aussagen der beiden Brüder aus Hainichen im Bezirk Karl-Marx-Stadt können sie nun in gewohnter Detailverliebtheit den Ballonstart rekonstruieren. »Unter Anwendung aus westlichen Fernsehsendungen entlehnter Kenntnisse wedelten sie die 80
Ballonhüllenöffnung so, dass sich dadurch im Innern eine zunehmend größere Luftmasse bildete.« Nach diesem Hinweis auf die Ballonflucht der Strelzyks und Wetzels ziehen die Stasi-Mitarbeiter eine allgemeine Schlußfolgerung: »Es wurde die bereits bei anderen Ballonfunden mit unbekannten Tätern gewonnene Erfahrung unterstrichen, dass eine unverzügliche konzentrierte operative Bearbeitung [...] die größten Erfolgsaussichten zur schnellen Feststellung der Täter und damit zur wirksamen Unterbindung erneuter Angriffe hat.« Das ist eine im Gewand des Eigenlobs versteckte Klage über die verschleppte Fahndung nach Strelzyks und Wetzels. Der Schock über ihre geglückte Ballonflucht muss nachhaltig gewesen sein. Fünf Jahre danach, im November 1984, brachte die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG) des Staatssicherheitsdienstes ein Grundsatzpapier mit dem Titel »Information über Erkenntnisse zur Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR mittels Fluggeräten« in Umlauf. »Hohe Bedeutung«, heißt es darin, »kommt [...] der vorbeugenden Verhinderung spektakulärer Angriffe auf die Staatsgrenze, besonders mittels Ballon [...] zu.« Ratlosigkeit scheut offenbar vor Binsenweisheiten nicht, zumal, wenn man sich mit ihnen einen Freibrief für verstärkte Ermittlungen gegen die eigenen Bürger ausstellen kann. Eine zweite gelungene Ballonflucht blieb der DDR-Staatsmacht erspart. Die Möglichkeiten, große Mengen luftdichten Stoffs sowie Propangasflaschen zu kaufen, waren schon nach dem September 1979 erschwert worden. Wie auf Erden, so auch in der Luft sollte allein der Wille der Staatsmacht herrschen.
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Stasi-Spitzel überall Es dauert nicht lange, bis in Gera und Ost-Berlin die neue Adresse und die neuen Lebensumstände der Familie Strelzyk bekannt sind. Einer ihrer Kunden gibt die Informationen weiter. Der harmlos wirkende Karl Kappelt arbeitet seit 1978 als Inoffizieller Mitarbeiter »Buchholz« für die Hauptabteilung VII des Staatssicherheitsdienstes. Kappelt ist Bundesbürger und stammt aus Duisburg; er ist als Rentner nach Bad Kissingen gezogen. Die Stasi-Honorare erhöhen die Rente nicht unerheblich: Im Laufe der Jahre verdient er mit seiner Spitzeltätigkeit einige tausend D-Mark. Seiner Verpflichtungserklärung zufolge arbeitet er allerdings in erster Linie aus Idealismus für den Staatssicherheitsdienst. Schon bald nach der geglückten Ballonflucht hat die Stasi IM »Buchholz« auf die Strelzyks angesetzt. Kappelt meldet die jeweils neuen Adressen der Familie umgehend weiter. Über den Umzug nach Poppenroth bei Bad Kissingen informiert er seine Auftraggeber mit der gewünschten Detailtreue: »St. ist Mieter der oberen Etage des Hauses.« Dann folgen die Namen der Nachbarn sowie Lage, Ausstattung und Organisation des Elektrogeschäfts. »Die Frau des St. ist als Verkäuferin tätig, der größere Sohn ist gleichfalls im Geschäft mit Aufgaben betraut. [...] St. selbst wurde beim Aufsuchen des Ladens zu unterschiedlichen Zeiten und mit längeren Abständen, niemals im Geschäft gesehen. Er soll viel außergeschäftlich unterwegs sein.« IM »Buchholz« zählt sämtliche benachbarten Geschäfte auf und vergißt nicht zu erwähnen, dass in der Straße absolutes Halteverbot gilt. Ein Fahrzeug besitze die Familie offenkundig nicht. Abschließend stellt der IM fest: »St. ist gegenwärtig kein Gesprächsthema in Bad Kissingen, Veröffentlichungen in der Presse sind nicht bekannt geworden.« Kappelt nimmt im März und April 1981 Kontakt zu Peter 82
Strelzyk auf. Die Männer unterhalten sich längere Zeit im Elektrogeschäft. Brauchbare Informationen für die Stasi erfährt der IM nicht. Immerhin ist Strelzyk so vertrauensselig, dass er Kappelt einige Briefe mitgeben will, sobald dieser wieder zu Verwandten in die DDR reist. Doch die Stasi scheint IM »Buchholz« zu dieser Zeit allmählich aus dem Verkehr gezogen zu haben. In der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) wird 1981 über Unkorrektheiten Kappelts im Zusammenhang mit dem Operativvorgang »Birne« berichtet. Offenbar hat er nicht alles, was er über Strelzyks in Erfahrung bringen konnte, an die Stasi weitergegeben. Seine Motive erschließen sich aus der Akte nicht. Am 17. April 1981 verfaßt der verantwortliche Generalmajor Büchner aus der Hauptabteilung VII des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin eine »Konzeption zur weiteren Bearbeitung des OV >Birne<«. Im ersten Satz des achtseitigen Schreibens wird Günter Wetzel gemeinsam mit Peter Strelzyk dem Operativvorgang zugeordnet. Doch im weiteren Text taucht nur noch ein »Täter« auf, dessen Name in nahezu allen Stasi-Unterlagen falsch geschrieben wird: »Strelczyk«. Peter Strelzyks Handlungen stören die Stasi zunehmend. »Weiterhin wurde herausgearbeitet, dass insbesondere der Täter Strelczyk vom Territorium der BRD aus intensive subversive Aktivitäten gegen die DDR entwickelte und Verbindung zu mehreren Feindorganisationen aufnahm.« Und ein paar Sätze weiter: »Gegenwärtig setzt Strelczyk seine gegen die DDR gerichteten Handlungen durch aktive Unterstützung der Dreharbeiten des US-amerikanischen Hetzfilms >Night Crossing< [...] und durch Stabilisierung und gleichzeitige intensive feindliche Beeinflussung seiner Rückverbindungen in der DDR fort.« Immerhin, so stellt Generalmajor Büchner zufrieden fest, sei 83
es infolge »konzentrierter operativer Bearbeitung« gelungen, »feindliche Auswirkungen dieser Aktivitäten« zu verhindern. Dabei bleibt jedoch offen, welche Befürchtungen die Stasi hatte und warum sie glaubte, erfolgreich gewesen zu sein. Insofern lassen sich die umfangreichen Berichte und Dossiers der Stasi-Mitarbeiter immer auch als Rechtfertigungen der eigenen Handlungen lesen: Wenn es nichts Handgreifliches zu berichten gab, dann musste die Spitzelei einem höheren Ziel dienen - der Abwehr recht wolkiger »feindlicher Auswirkungen«. Nach wie vor möchte der Staatssicherheitsdienst Strelzyks Verbindungen zu »imperialistischen Geheimdiensten« nachweisen. Eine Flucht aus persönlich-politischen Motiven, ohne die Beteiligung der Drahtzieher bei BND oder CIA, liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens von DDRGeheimdienstlern. Das ist nur zu gut verständlich: Sie hätten sich sonst ja mit der Herrschaftspraxis der Partei beschäftigen müssen, der sie dienen. Punkt für Punkt legt der Generalmajor auch in dieser Konzeption das künftige Vorgehen gegen Familie Strelzyk fest. Einen Hinweis auf Angriffe gegen Hab und Gut oder gar Leib und Leben der Strelzyks enthält Punkt 2.1.: Die weitere Aufklärung der Verhaltensweisen und Aktivitäten von Peter Strelzyk soll »Voraussetzungen für die Durchführung offensiver Maßnahmen gegen ihn« schaffen. Daher wird angeordnet, auf allen Ebenen weiter Informationen zu sammeln. Strelzyks Privatleben, die Arbeit, sämtliche Kontakte zu »feindlichen Dienststellen«, die materielle Lage der Familie - buchstäblich nichts soll der Aufmerksamkeit der Stasi entgehen. Außerdem will die Stasi Einfluß auf Peter Strelzyks Aktivitäten in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (GfM) nehmen. Mit »operativen Mitteln« soll erreicht werden, »dass Str.[elzyk] sich in die GfM integriert mit dem Ziel, seine 84
subversiven Aktivitäten festzustellen und unter op.[erative] Kontrolle zu bringen«. Hier zeichnet sich ab, dass eine andere Stasi-Abteilung den Operativvorgang »Birne« übernimmt: die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG). Ihre 192 Mitarbeiter im Ost-Berliner Staatssicherheits-Ministerium sind für die »zentrale Koordinierung des Vorgehens des MfS zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des >ungesetzlichen Verlassens der DDR< (§ 213 StGB der DDR) und zur Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels (§ 105 StGB)« zuständig. Zu den vielen Einzelaufgaben der ZKG gehört auch die »Bekämpfung von Feindorganisationen«, zu denen die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte ausdrücklich gezählt wird. Leiter der ZKG ist Generalmajor Gerhard Niebling; seine beiden Stellvertreter sind Oberst Manfred Nothing und Oberstleutnant (später Oberst) Gerd Held. Sie werden sich in den folgenden Jahren verstärkt um die koordinierte und kontinuierliche Bespitzelung der Strelzyks kümmern. Am Ende seiner Konzeption formuliert Generalmajor Büchner von der Hauptabteilung VII eine Aufgabe von einiger Brisanz: Die Verbindungen Strelzyks zu den Inoffiziellen Mitarbeitern »Sabine Unger« und »Klaus Vogkt« sollen stabilisiert werden. Mit Hilfe der Gauck-Behörde ist jetzt festzustellen, wer sich hinter den Decknamen verbarg: Peter Strelzyks Schwester wurde als »Sabine Unger«, sein Bruder als »Klaus Vogkt« geführt. Berechnung oder böse Absicht ließen Maria und Erich jedoch nicht zu Spitzeln der Stasi werden. Sie waren vor der Haftentlassung unter Druck gesetzt worden, Informationen über ihren geflohenen Bruder und seine Familie zu beschaffen. Ihre Spitzeltätigkeit reduzierte sich auf die Weitergabe von Briefen, die die Strelzyks an ihre Verwandten in der DDR geschrieben hatten. Da die Korrespondenz ohnehin komplett 85
überwacht wurde, erfuhr die Stasi durch die beiden Geschwister nichts Neues. Sie konnte allerdings stets kontrollieren, ob sich Erich Strelzyk und Maria Städter loyal gegenüber dem Staatssicherheitsdienst verhielten. Strelzyks vertrauten keinem Brief in die DDR Geheimnisse an. Die umfassende Postüberwachung durch die Stasi war daher - wie so viele andere Aktionen des Geheimdienstes - eine recht stupide und ergebnislose Fleißarbeit. Obwohl die zur Spitzeltätigkeit gezwungenen Geschwister ihrem Bruder also keinen Schaden zufügen konnten, litten sie doch unter schlechtem Gewissen. Nach der Maueröffnung konnten sie nicht über die erzwungene IM-Verpflichtung reden. Das spricht keineswegs gegen sie. Dagegen gab es etliche DDR-Bürger, die aus niederen Motiven Verwandte, Freunde und Bekannte ausspionierten und verwertbare Informationen aushändigten. Auch die Strelzyks werden Opfer eines solchen willfährigen Freundes.
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Besuch aus Pößneck Freudestrahlend tritt Doris in den Laden. Über Mittag war sie in Poppenroth und hat den Briefkasten geleert. »Mutter darf uns besuchen!« ruft Doris. Darauf haben wir lange gewartet. Die Behörden verweigerten hartnäckig die Genehmigung, obwohl Else Glaser längst Rentnerin ist. Nun darf sie endlich kommen, fast genau zwei Jahre nach unserer Ballonflucht. Immerhin können wir ihr jetzt einiges bieten, denn der Laden läuft gut. Zum ersten Mal, seit wir in der Bundesrepublik leben, haben Doris und ich das Gefühl, genau das Richtige getan zu haben. Die vorherigen Inhaber haben uns einen ansehnlichen Kundenstamm hinterlassen, der in den ersten Monaten nach der Übernahme noch gewachsen ist. Mancher kommt wohl auch aus Neugier in den Laden. Die Ballonflucht ist zwar längst nicht mehr das beherrschende Gesprächsthema, aber noch immer werden wir darauf angesprochen. An einem schönen Septembertag trifft Else mit dem Zug in Schweinfurt ein. Fitscher und Frank laufen der Großmutter auf dem Bahnsteig entgegen, und wir alle fallen ihr um den Hals. Sie ist der erste uns nahestehende Mensch aus der DDR, den wir seit der Flucht Wiedersehen. Briefe haben wir zwar regelmäßig gewechselt und miteinander telefoniert, aber sie nach so langer Zeit wiederzusehen, ist doch etwas anderes. Zumal wir uns in Pößneck fast täglich besucht haben. In Poppenroth staunt Mutter über die großzügig geschnittene Wohnung. Die Jungen wollen sie in ihre Zimmer ziehen, um ihr Schallplatten, Bücher und Spiele zu zeigen. Doris hat den Tisch gedeckt, und ich rücke Mutter den bequemsten Sessel im Wohnzimmer zurecht. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander. Irgendwann sitzen wir dann doch in vertrauter Runde um den Eßtisch herum. In Pößneck hatte sie seit unserer Flucht 87
einiges auszuhalten, erzählt Mutter. Ausführlich schildert sie die Besuche des Stasi-Majors Stephan. Regelmäßig erkundige er sich nach uns und dränge sie, in den Westen überzusiedeln. Aber Mutter ist kein Mensch, der sich leicht einschüchtern läßt. »Ich möchte ja gerne auf Dauer zu euch kommen«, sagt sie. »Nur nicht sofort.« Den Stasi-Major beschreibt sie als ausgesucht höflichen Menschen. »Er tut sehr freundlich, bringt mir auch meistens etwas mit, Blumen oder Kuchen. Und er wiederholt dauernd, dass ich es in der Bundesrepublik doch viel besser hätte.« »Und wie erklärt er dir den Lada mit der Funkantenne vor dem Haus?« fragt Frank gespannt. »Er redet von Sachzwängen und sagt, dass er es bedauere. Aber die Überwachung sei >von oben< angeordnet.« »Da kommen einem ja beinahe die Tränen«, rufe ich. »Furchtbar, dass du dich mit so einem Menschen abgeben musst.« Mutter winkt ab und wechselt das Thema. Wie es uns denn nun wirklich im Westen gehe, will sie wissen, in den Briefen sei vieles ja nur angedeutet. Wir erzählen ausführlich vom Geschäft, von den Reisen nach Frankreich und in die USA. Die anonymen Anrufe der Stasi erwähnen wir nicht, solange die Jungen dabei sitzen. In letzter Zeit ist es ohnehin ruhig geworden. In Poppenroth haben wir keine Drohanrufe mehr erhalten. Die zwei Wochen Besuchszeit vergehen wie im Flug. Wir fahren zu Verwandten von Doris' Mutter nach Frankfurt, Offenbach und Idstein und reden jeden Abend bis spät in die Nacht hinein über vergangene Zeiten und die Ereignisse seit unserer Flucht. Frank und Fitscher möchten ihre Großmutter gar nicht fahren lassen. Doch Else ist pflichtbewußt. In Pößneck will sie ihren Haushalt Stück für Stück auflösen, bevor sie zu uns zieht. Auf jeden Fall werden wir ihr eine Bleibe bieten können, wenn sie übersiedelt: Die Wohnung über dem Laden in Bad Kissingen mussten wir mitmieten. Sie steht leer. 88
Im ersten Brief nach ihrer Rückkehr schreibt Mutter, dass sie schon wieder Besuch von Stasi-Major Stephan erhalten habe. Mit Blumen und einem Geschenk sei er bei ihr aufgetaucht und habe sich nach uns erkundigt. Es ist ein routiniertes, abgekartetes Spiel. Die Stasi demonstriert, dass sie bestens Bescheid weiß und niemand einen Schritt unbemerkt tun kann. Mutter stillt Major Stephans unersättliche Neugier. Sie erzählt ihm, dass es uns gut geht und sie wohl bald dem Wunsch der Stasi nachkomme, in den Westen zu ziehen. Unser Haus am Altenburgring, schreibt Mutter außerdem, sei mittlerweile leergeräumt und neu vermietet. Unser Hausrat sei verkauft worden. Genossinnen aus dem Rat des Kreises Pößneck würden nun Röcke und Blusen von Doris tragen. »Wie die sich wohl darin fühlen mögen?« frage ich Doris. »Die meisten der Damen kennen dich doch.« Doris winkt ab. »Sie werden sich gar nichts dabei denken. Wir sind jetzt Klassenfeinde, und da zählen die alten Verbindungen überhaupt nichts mehr.« Eines Tages kommt ein älterer Mann in unser Geschäft. Er ist recht aufgeschlossen und erzählt, dass er als Rentner nach Bad Kissingen gezogen sei, ursprünglich stamme er aus Duisburg. Sein defektes Transistorgerät kann ich sofort reparieren. Aber der Kunde sucht offensichtlich Kontakt. Er kommt wieder, stellt sich als Karl Kappelt vor und genießt es, mit mir zu plaudern. Wir unterhalten uns über das Geschäft, auch über die Ballonflucht. Ab und zu verdient er sich als Taxifahrer etwas dazu. »Die Rente reicht ja vorne und hinten nicht, wenn man sich mal etwas außer der Reihe gönnen möchte.« Kappelt reist gern und fährt regelmäßig zu Freunden und Verwandten in die DDR. Er bietet mir an, Briefe mitzunehmen. »Alles, was Sie mit der Post schicken, wird doch bestimmt kontrolliert«, sagt er. Ich danke ihm für das freundliche Angebot. Wir tauschen Telefonnummern aus und vereinbaren, 89
dass er anruft, bevor er in die DDR reist. Es ergibt sich aber aus irgendwelchen Gründen nicht. Der Laden ist ein guter Ort, um neue Kontakte zu knüpfen. Mit den Inhabern der benachbarten Geschäfte verstehen wir uns gut. Im Cafe Rüttinger treffen wir uns manchmal zur Mittagszeit und sprechen über die Geschäfte, die dank des Kurbetriebs florieren. Natürlich sind die Nachbarn an den Details der Ballonflucht interessiert. Im Laufe der Zeit wächst das Vertrauen, und wir reden offen über die Drohungen der Stasi. Ein Ehepaar, das in Kissingen ein Lokal betreibt und auch aus der DDR stammt, kann unsere Bedrängnis gut nachempfinden. »Schlimm, dass die das immer noch nötig haben. Dabei ist der Kalte Krieg doch längst vorbei«, schütteln sie die Köpfe. »Aber es ist kein Wunder, dass sie euch verfolgen. Ihr habt sie mit eurer Ballonflucht weltweit blamiert.« Doris und ich sind froh, nicht länger allein mit unseren Sorgen dazustehen. »Es kann nicht schaden, wenn Freunde und Bekannte von den Bedrohungen wissen«, sage ich. »Das erhöht die Aufmerksamkeit, sollte die Stasi doch irgendwann einmal einen Anschlag auf uns ausführen.« Ich engagiere mich auch parteipolitisch und werde Mitglied der CSU. Einen sehr engen Kontakt knüpfen Doris und ich zum Bundestagsabgeordneten Eduard Lintner und seiner Frau. Lintner ist in der CDU/CSU-Fraktion für deutsch-deutsche Fragen zuständig und kennt die Stasi-Praktiken. »Ihr dürft euch nicht verrückt machen lassen«, sagt er uns. »Die wichtigste Taktik der DDR gegenüber sogenannten Staatsfeinden ist Verunsicherung. Ich glaube nicht, dass sie riskieren würden, einen eurer Söhne zu entführen. Das würde viel zuviel Aufsehen erregen, und eine negative Presse kann die DDR nicht gebrauchen. Schließlich sind sie auf gute wirtschaftliche Beziehungen zur Bundesrepublik angewiesen.« Darin stimmen wir mit Eduard Lintner überein. Aber wir sind uns einig, dass 90
es keinen Grund zur Beruhigung gibt. Obwohl ich mich politisch den Christdemokraten zuordne, begrüßen Doris und ich die Deutschland-Politik der Bonner SPD/FDP-Regierungskoalition. Wir unterstützen alle Versuche, mit der DDR-Staatsführung bessere humanitäre Bedingungen auszuhandeln. Wer miteinander spricht, schießt schließlich nicht aufeinander. Frank hat viel Spaß an seiner Elektrikerlehre, Fitscher findet mühelos neue Freunde in Bad Kissingen. Über die StasiGefahren reden wir auch jetzt nicht mit ihnen. Unsere Söhne sollen so unbelastet wie möglich aufwachsen können. Da wir seit langem keine Drohanrufe mehr erhalten haben, lassen wir ihnen auch mehr Freiheiten. Die Auftragslage des Geschäfts ist weiterhin zufriedenstellend. Wir renovieren die Ladenräume und die darüberliegende Wohnung, in die Doris' Mutter einziehen soll. »Eigentlich ist hier Platz genug für uns alle«, bemerkt Doris erstaunt. So planen wir, die Wohnung in Poppenroth aufzugeben und nach Bad Kissingen zu ziehen, sobald feststeht, wann Doris' Mutter ausreisen darf.
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Filmpremiere mit Hindernissen Lange haben wir nichts von Walt Disney gehört. Ich frage telefonisch in Hamburg nach, welche Fortschritte die Dreharbeiten von Night Crossing machen. Die Mitarbeiterin bedauert: »Die Schauspieler in Hollywood streiken.« Aber sie hat einen kleinen Trost parat. Gleichzeitig mit der amerikanischen soll eine deutsche Fassung mit demselben Titel wie das Buch auf den Markt kommen: Mit dem Wind nach Westen. Die Fernsehrechte sind schon verkauft. Als die Dreharbeiten wieder aufgenommen werden, schreibt uns der Regisseur, er werde überwiegend in Deutschland arbeiten. Auf dem Münchener Bavaria-Studiogelände entsteht die deutsch-deutsche Grenze im Miniaturformat, und in einer bayerischen Kleinstadt wird der Marktplatz von Pößneck nachgebaut. Ausgerechnet die Ballonfahrt aber kann nicht in Bayern gedreht werden: Das Wetter ist zu schlecht. »Siehst du«, unterbricht mich Doris, der ich den Brief vorlese, »es ist wie bei uns. Wir mussten beim ersten Mal doch auch wochenlang auf passendes Wetter warten.« Walt Disney hat nicht so viel Zeit. Produktionsleiter und Regisseur entscheiden, die Flugsequenzen in den USA zu drehen. Die Weltpremiere von Night Crossing findet im New Yorker Rockefeller Center statt. Die New York Times meint, die Flucht spreche Bände über die politischen, wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in der DDR. Selbst in Hollywood, für deren Medien und Einwohner Deutschland ein weitgehend unbekannter Zwergstaat ist, bewegt die Verfilmung der Ballonflucht die Gemüter. Der Regisseur Delbert Mann interessiert sich allerdings weniger für die politischen Hintergründe unserer Geschichte als für die spektakulären Umstände der Flucht. Während der Dreharbeiten in München erklärt er: »Wir machen einen Film über Menschen und über das, was fanatische Zielstrebigkeit 92
ausrichten kann. Der politische Aspekt ist dabei uninteressant. Es könnte sich auch um eine Naturkatastrophe handeln.« Dennoch wird die Filmaufführung in der Bundesrepublik zu einem politischen Akt. Die Verleihfirma Century Fox bietet den Berliner Filmfestspielen Mit dem Wind nach Westen als Eröffnungsfilm an. Am 5. November 1981 erhält der Generaldirektor der Century Fox, Helmuth P. Gattinger, eine Antwort von Moritz de Hadeln. Der Leiter der Berlinale bedauert, sich den Film nicht selbst ansehen zu können, und äußert vorsorglich Befürchtungen, dieser verstoße gegen die Regeln des Festivals. Die Berlinale dürfe keine Filme zeigen, »die sich gegen andere beteiligte Staaten richten«. »Ich möchte Ihnen ganz ehrlich sagen«, schreibt de Hadeln, »dass ich mir große Sorgen mache bezüglich des Inhaltes dieses Films, der mit Sicherheit bei der DDR Unwillen erregen würde.« Solches Verhalten nennt man gemeinhin vorauseilenden Gehorsam. Das Ost-West-Verhältnis ist Anfang der achtziger Jahre sicher gespannt. Die sogenannte Nato-Nachrüstung ist beschlossen, und in Polen verhängt General Jaruzelski Mitte Dezember 1981 das Kriegsrecht. Nur in der DDR herrscht scheinbar Ruhe, eine organisierte Demokratiebewegung gibt es nicht. In einem zweiten Brief lehnt Moritz de Hadeln Anfang Januar 1982 Mit dem Wind nach Westen endgültig als Eröffnungsfilm der Berlinale ab. Nun ist keine Rede mehr davon, dass der Film gegen Wettbewerbsregularien verstoßen könnte. De Hadeln führt vielmehr Qualitätsaspekte ins Feld: Er sei nach Rücksprache mit seinen Ratgebern zu dem Schluß gekommen, »dass dieser Film als Festspielfilm leider nicht so recht geeignet ist, obwohl er zweifellos große Qualitäten hat. Ein Festspielfilm muss, wie Sie wissen, ein außerordentlicher Film sein.« Daraufhin ergreift der Berliner Zeitungsverleger Axel Springer die Initiative. Er mietet den Royal Palast und 93
übernimmt die Schirmherrschaft über die Vorführung des Filmes. Springer legt größten Wert darauf, diese Produktion gerade in der geteilten Stadt Berlin der Öffentlichkeit zu präsentieren. »Es wäre fatal, es wäre unwürdig gewesen, diesen Film über eine Flucht aus Deutschland nach Deutschland ausgerechnet aus dieser Stadt auszusperren, in der die Menschen besser als irgendwo sonst in der Welt wissen, was es heißt, sein Leben für die Freiheit zu riskieren«, sagt der Verleger in seiner einleitenden Rede. Dann sehen wir zum ersten Mal Mit dem Wind nach Westen. Der Film packt uns. Rolf Zehetbauer vom Münchener Bavaria Studio hat anhand einiger Fotos von den Originalschauplätzen Kulissen gebaut, die den Vorbildern täuschend ähneln. Und wir sehen vier DDR-Bürger, die unter großen Strapazen und in aller Heimlichkeit das Material beschaffen und mit bescheidenen häuslichen Mitteln einen Ballon bauen. Die letzten Monate in der DDR erstehen vor unserem inneren Auge auf, während auf der Leinwand ein Ballon Gestalt annimmt. Im Kino sehen wir uns selbst zu, wie wir eines Nachts in die Nähe der Grenze fahren, mit unseren Kindern und einem schwer beladenen Anhänger. Wir staunen über die gigantischen Ausmaße des Ballons und seine bunte Fleckenflut, und als das seltsame Gefährt glücklich abhebt, drücken Doris und ich uns die Hände. Nach der Filmvorführung haben wir beide feuchte Augen. Die Erinnerungen sind wieder da. Alles ist ganz nah, und an Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken. Doris und ich reden stundenlang über die Flucht und ihre filmische Darstellung. Es ist unsere Hoffnung, dass möglichst viele Menschen Mit dem Wind nach Westen sehen. Am 1. März 1982 läuft der Film in mehreren bayerischen Kinos, kurz darauf bundesweit an. Unsere Söhne haben nach der Vorführung viel gelassener als wir reagiert. Beide halten den Film für gut gemacht. Aber für sie ist es ein Film. Beide haben die Flucht offenkundig gut 94
verarbeitet und leben ganz in der Gegenwart.
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Auf der Flucht hat niemand an die Nachwelt gedacht. Also wird einige Tage nach der glücklichen Landung in einer Kiesgrube bei Augsburg der mehr als 20 Meter hohe farbenprächtige Ballon noch einmal mit Heißluft gefüllt.
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Glück im Unglück: Die Überreste des ersten Fluchtballons nach dem Absturz.
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Am 4. Juli 1979 stürzte Familie Strelzyk bei ihrem ersten Fluchtversuch im Ballon nahe dieser Stelle kurz vor dem Todesstreifen der DDR-Grenze ab. Rechts ist Blankenstein zu sehen.
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17 Tage lagen die Überreste des ersten Ballons im Wald, bis sie von einem Kollektivjäger entdeckt wurden.
Die Wasserpumpenzange unter den Trümmern des ersten Ballons ist ein wichtiges Beweisstück der Staatssicherheit.
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Der Traumberuf dieses Offiziers der Luftwaffe war Pilot. Doch bei der NVA blieb Peter Strelzyk am Boden und wurde zum Mechaniker ausgebildet.
Den Wartburg 311 mussten die Flüchtlinge zurücklassen.
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Die verzweifelte Kontaktaufnahme mit der chinesischen Botschaft in Berlin-Pankow misslingt. Der Brief in einer Zigarettenschachtel, die Peter Strelzyk konspirativ über den Zaun in den Vorgarten wirft, bleibt unbeantwortet.
Blick von der Altenburg auf das thüringische Pößneck.
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Die erschöpften Flüchtlinge werden unmittelbar nach der Ankunft von Fotografen umlagert. Ein Kind schläft bereits, Günter Wetzel ist ins Krankenhaus gefahren worden.
Peter Strelzyk in der Nacht auf den 17. September.
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Sieben strahlende Gesichter unter einer Ballonhülle. Nur Günter Wetzel fehlt auf diesem Foto, das wenige Tage nach der Flucht aufgenommen wird. Er muss mit einem Muskelfaserriss das Krankenhausbett hüten.
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Die Familien Wetzel und Strelzyk (von links nach rechts): Frank, Doris, Peter und Andreas Strelzyk, Günter und Petra Wetzel mit ihren Söhnen Peter und Andreas.
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1966 heiraten Doris und Peter Strelzyk.
Petra und Günter Wetzel lassen sich 1974 trauen. Beide Eheleute sind 19 Jahre alt.
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Die Fluchtstrecke des Ballons am 16. September 1979.
Eine Augsburger Ballonfabrik flickt den beschädigten Ballon für die Fotoaufnahmen in der Kiesgrube wieder zusammen. Mehr als 20 Arbeiterinnen sind 2 Tage lang beschäftigt.
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Auf dieser 40 Jahre alten Gritzner-Nähmaschine wird nicht nur der erste Ballon mit 800 m² Stoff, sondern auch der zweite mit 1250 m² Streifen für Streifen zusammengenäht.
Ehepaar Wetzel, Ehepaar Strelzyk und Frank Strelzyk mit ihren Personalausweisen der Bundesrepublik Deutschland.
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Ehrengäste in Hans Rosenthals Fernsehquiz Dalli-Dalli vom 5. Oktober 1979: Petra und Andreas Wetzel, Nailas Bürgermeister Robert Strobel, Andreas Strelzyk, der Quizmaster, Frank, Doris und Peter Strelzyk (von links nach rechts).
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Wirklichkeit und Fiktion: Familie Strelzyk und Günter Wetzel 1982 vor dem Berliner Royal Palast, in dem der Film „Mit dem Wind nach Westen“ anläuft.
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Neubeginn: Die stolze Familie Strelzyk 1981 vor ihrem Elektrogeschäft in Bad Kissingen.
Das von Strelzyks aufgegebene Elektrogeschäft in Bad Kissingen heute.
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Das Haus der Familie Strelzyk in Pößnek.
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Ein Freund übt Verrat Thomas Dietrich kommt Anfang 1982 aus der Haft frei. Wahrscheinlich hat er das Ende der Haft den intensiven Bemühungen von Peter Strelzyk zu verdanken. Sein Freund glaubt, dass Dietrich nun so schnell wie möglich mit seiner Frau Brunhild und den beiden Kindern in den Westen ausreisen möchte, und läßt in seinen Anstrengungen nicht nach. Doch Thomas Dietrich spielt längst ein doppeltes Spiel. Anhand der Stasi-Unterlagen läßt es sich genau nachvollziehen. Bereits vor seiner Inhaftierung kontaktiert ihn die Stasi. In einer Vernehmung am 29. November 1979 hebt Dietrich hervor, dass sein einst sehr gutes Verhältnis zu Peter Strelzyk seit 1977 getrübt sei. Sein Freund habe ihn bei einem Autokauf im Preis gedrückt. Von weiteren Auseinandersetzungen berichtet Dietrich nicht. Die Stasi schlußfolgert, so steht es im Vernehmungsprotokoll, Thomas Dietrich sei hinter dem Geld her. Das ist ein erster Ansatzpunkt für die spätere Anwerbung des IM. Weil die Stasi offenkundig bereits zu diesem Zeitpunkt daran denkt, Strelzyks engen Freund und Arbeitskollegen als Inoffiziellen Mitarbeiter einzusetzen, beschäftigt sie sich genauer mit ihm: Belastendes Material verpflichtet nachhaltiger als die besten Vorsätze. Seit der Ballonflucht wird Dietrich observiert. Interessanterweise erhält er in diesem Zusammenhang den Namen »Birne«; die Flucht der Strelzyks und der Wetzels firmiert unter der Bezeichnung Operativvorgang »Birne«. Am 17. Dezember 1979 kommt Thomas Dietrich wegen vermeintlicher Mitwisserschaft in Haft. Während seiner Haftzeit in Naumburg wird er regelmäßig zu Gesprächen mit Stasi-Major Stephan aus dem Gefängnis geholt. Die offizielle Erklärung ist eine Krankheit, die außerhalb der Haftanstalt behandelt werden muss. Wochen vergehen, in denen Dietrich offenkundig auf seine 112
Mission vorbereitet wird. Seine handschriftliche Verpflichtungserklärung verfaßt Dietrich am 28. Januar 1981 in Naumburg. Darin gelobt er, nach der Haftentlassung mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten und dazu beizutragen, »die Machenschaften des Feindes Peter Strelzyk mitaufklären zu helfen«. Und weiter: »Ich werde alle Aufträge welche ich zu Peter Strelzyk erhalte, strikt erfüllen und mein Tun und Handeln in der Weise ausrichten, dass daraus keine Gefahren für die Gewährleistung der Konspiration entstehen. Ich werde über alle Aufträge in ehrlicher und gewissenhafter Form berichten. Zur besseren Wahrung der Konspiration wähle ich mir den Decknamen Karl Diener.« Anfang 1982 wird Thomas Dietrich vorzeitig aus der Haft entlassen. Umgehend nimmt er seine Spitzeltätigkeit auf. Einen der ersten IM-Berichte schreibt er über Doris Strelzyks Mutter, die er im Frühjahr 1982 in Pößneck besucht. Der handschriftliche Bericht des neuen IM »Karl Diener« datiert vom 12. Mai 1982. Doris' Mutter, Else Glaser, heißt es darin, habe ihm von dem Treffen mit einem niederländischen Kapitän berichtet. Im Auftrag von Peter Strelzyk solle dieser in der DDR erkunden, wie es Thomas Dietrich gehe und ob er weiterhin ausreisen wolle. IM »Karl Diener« faßt diese Passage so ab, als handele es sich bei Dietrich um eine dritte Person. Doch die Spitzelei ist noch neu für Dietrich/»Diener«. Anschließend unterläuft ihm ein sprachlicher Lapsus: »Kürzlich sei auch P. St. in London gewesen, um meine Probleme bei einer Konferenz der Internationalen Gesellschaft vorzutragen«, schreibt er und läßt damit die eigene schizophrene Situation offenkundig werden. Der Mann meldet der Stasi wahrheitsgetreu, dass sein Freund sich vom Westen aus bemühe, ihm die Ausreise zu ermöglichen. Dietrich hat der Stasi schriftlich zugesichert, dass er es ablehne, »freigekauft« zu werden; er wolle überhaupt nicht durch 113
die Hilfe bundesdeutscher Organisationen oder Politiker in den Westen ausreisen. Pößneck aber möchte Thomas Dietrich nach seiner Entlassung aus der Haft schon gerne hinter sich lassen. Er arbeitet wieder im VEB Polymer, doch ohne richtig Fuß zu fassen. Den Stasi-Akten zufolge läßt er gegenüber Arbeitskollegen immer öfter durchblicken, er werde in naher Zukunft ohnehin in die Bundesrepublik übersiedeln. Im Herbst 1982 läßt die Stasi Thomas Dietrich und seine Familie tatsächlich aus der DDR ausreisen. Anders als Strelzyks und Wetzels können sie Hausrat und Mobiliar mitnehmen. Ihre erste Anlauf stelle sind Verwandte in Hannover. Die Stasi entläßt ihren IM ohne konkreten Auftrag in den Westen. In den Akten ist der Grund festgehalten: Im Fall eines »Verrates« soll der IM unglaubwürdig sein und nichts gegen die Stasi in der Hand haben. Es dauert über ein Jahr, bis Thomas Dietrich sich seiner IM-Verpflichtung erinnert und den Kontakt zur Stasi sucht. Brunhild Dietrich hat nach einigen Treffen mit Major Stephan keinen eigenständigen Kontakt zur Stasi. Ob sie von den Spitzelaktivitäten ihres Mannes weiß, bleibt offen. Bevor IM »Karl Diener« in der Bundesrepublik zum Einsatz kommt, mobilisiert die Stasi einen Aufklärer der Abteilung ZAIG/5: Dahinter verbirgt sich die Zentrale Auskunfts- und Informationsgruppe des Staatssicherheitsdienstes in Ost-Berlin, die von Markus Wolf geleitet wird. Die ZAIG/5 sammelt Informationen zu Personen, die »subversive Tätigkeiten« gegen die DDR sowie andere sozialistische Staaten ausführen. Die Mitarbeiter dieser Abteilung arbeiten im Ausland und setzen häufig Mittel wie Einschüchterungen, Drohungen und auch Angriffe auf Leib und Leben ein. Der nach Bad Kissingen geschickte ZAIG/5-Mitarbeiter liefert Anfang 1982 einen Bericht nach Ost-Berlin, der Anhaltspunkte für ein mögliches Attentat enthält: »Nach Geschäftsschluß ist die Eingangstür zum Geschäft durch ein Gitter gesichert. Die Schaufensterscheibe bleibt ungesichert. [...] 114
Die Ludwigstr. ist eine Einbahnstraße. Auf der Geschäftsseite besteht Halte-, auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite Parkverbot.« Das sind hilfreiche Informationen für einen kleinen Anschlag. Der läßt denn auch nicht lange auf sich warten.
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Fröhliche Weihnacht mitten im September In der Nacht vom 1. auf den 2. März 1982 zerbricht das ohnehin bescheidene Maß an Sicherheit, das wir uns bewahren konnten. Erst seit kurzem wohnen wir in der Wohnung über dem Geschäft. Doris sieht noch fern, ich liege bereits im Bett. Plötzlich ist aus dem Laden ein lauter Knall zu hören. Es klingt, als sei ein Lastwagen durch die Schaufensterscheibe gefahren. Der Boden bebt, die Möbel schwanken. Ich springe aus dem Bett und laufe die Treppen hinunter. Schon im Flur riecht es nach Sprengstoff. Das Schaufenster ist völlig zertrümmert, der Laden voller Qualm. Fernseher und Radios sind durch die Druckwelle aus den Regalen auf den Boden geschleudert worden. »Um Himmels willen!« ruft Doris und ringt nach Luft. Ich stehe schweigend in den Scherben und bin innerlich ganz leer. »Diese Verbrecherbande! Da steckt doch mit Sicherheit die Stasi hinter.« Doris ist voller Wut. Frank und Fitscher geht es nicht anders. Neugierige aus der nahen Gaststätte kommen hinzu. Polizisten sichern die Spuren, fotografieren den verwüsteten Geschäftsraum und die zertrümmerte Scheibe. Ich habe mich wieder gefangen und kann die Fragen beantworten. Die Beamten wollen wissen, um welche Uhrzeit sich die Explosion ereignet hat, wo wir uns zu diesem Zeitpunkt aufgehalten haben, ob die Scheibe gesichert war und vieles mehr. Ein Nachbar bietet freundlicherweise eine Spanholzplatte an, mit der die Fensterhöhlung provisorisch abzudichten ist. An Schlaf ist nicht zu denken. »War das wieder die Stasi?« will der Nachbar Nenninger wissen. Der Inhaber des Bad Kissinger Kindl weiß von den Drohanrufen und -briefen. »Wer sollte es denn sonst auf uns abgesehen haben?« frage ich zurück. »Aber die Brüder sind ja geschickt. Am Ende wird kaum nachzuweisen sein, dass die Stasi für den Anschlag 116
verantwortlich war.« Die Kriminalpolizei trifft zwei Stunden später ein und sucht nach weiteren Spuren. Die Beamten finden aber nur Fingerabdrücke von uns und dem Personal. Am Tag darauf wird ein Protokoll aufgenommen. »Wissen Sie vielleicht, wer Ihnen Schaden zufügen will?« fragt einer der Beamten. »Der DDR-Staatssicherheitsdienst«, erwidere ich ohne Zögern. Der Beamte schaut mich verdutzt an. »Wie kommen Sie denn darauf?« fragt er. Doris erzählt, dass wir nach der Ballonflucht lange Zeit anonym bedroht wurden. Der Beamte sieht uns nachdenklich an. »Sie mögen recht haben. Aber mit polizeilichen Ermittlungen werden wir nicht weit kommen.« Was sie denn zu tun gedächten, fragen Doris und ich. »Ich werde den Bundesnachrichtendienst informieren«, sagt der Kriminalkommissar. »Aber ich sage ihnen schon jetzt, dass nach meiner Einschätzung nicht viel dabei herauskommen wird. Wenn die Stasi für den Anschlag verantwortlich ist, und dafür spricht tatsächlich einiges, dann hat sie ihr Vorhaben äußerst sorgfältig vorbereitet.« Es sei nun einmal charakteristisch für Geheimdienste, die ihren Namen verdienen, Straftaten so zu verüben, dass kein Verdacht auf sie fallen könne. Deprimiert gehen Doris und ich nach Hause. »Der Kommissar hat recht. Die Stasi ist professionell und versteht sich darauf, keine Spuren zu hinterlassen«, sage ich. Wir kehren zurück in unseren Laden, der noch immer einem Trümmerfeld gleicht. Vier Wochen später wird das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingestellt. Die Aufklärungsmöglichkeiten seien zu gering, heißt es. Wir haben es erwartet. Nach dem Anschlag müssen Frank und Fitscher alles wissen. »Die Stasi? Das habe ich mir sowieso schon gedacht«, sagt unser Ältester. Fitscher aber ist völlig überrascht. Für den Jüngsten der Familie ist seine Kindheit in der DDR ferne Vergangenheit. Dass wir im Westen bedroht werden, will er 117
kaum glauben. »Das ist ja wie im Film«, sagt Fitscher, und im Stillen gebe ich ihm recht. So manches, was uns in den letzten zweieinhalb Jahren zugestoßen ist, ist wie im Film. In einem schlechten. Für einen besonders unerfreulichen Regieeinfall halten wir es, dass die DDR-Staatsmacht Familie Dietrich nicht ausreisen läßt. Lange genug musste Thomas schuldlos im Gefängnis sitzen. Nun möchte er, vertraut er Doris' Mutter bei einem Besuch an, nicht länger in Pößneck bleiben. Wir wenden uns an Eduard Lintner, der als Bundestagsabgeordneter und deutschlandpolitischer Sprecher der CDU/CSU über gute Kontakte verfügt. Lintner fragt in den zuständigen Bonner Ministerien nach und erhält vielversprechende Auskünfte. »Die Familie Dietrich ist bereits in die besonderen Bemühungen der Bundesregierung einbezogen worden«, weiß er, »das bedeutet Freikauf.« Lintner will nach Pößneck fahren, um die Ausreise voranzutreiben. Sein Engagement begeistert uns. Wenn sich ein Bundestagsabgeordneter höchstpersönlich für Familie Dietrich einsetzt, wird die DDR sie bald ziehen lassen. Es dauert zwei Wochen, bis Eduard Lintner die Einreisegenehmigung in die DDR erhalten hat. Er packt Obst und Kaffee in den Kofferraum des BMW und bricht mit einem Fahrer und einem Fotografen nach Pößneck auf. Nervös warten wir in seinem Haus auf die Rückkehr. Kann die Stasi einen Bundestagsabgeordneten als Geisel nehmen? Frau Lintner beruhigt uns und meint, damit würde sich die DDR nur selbst schaden. Am Abend darauf kehren Lintner und seine Reisegefährten zurück. »Auf DDR-Seite sind wir die ganze Zeit von LadaLimousinen begleitet worden«, erzählt er. Von Familie Dietrich gibt es jedoch nur gute Nachrichten: Thomas, Brunhild und ihre zwei Kinder werden in Kürze die Ausreisegenehmigung erhalten und dürfen sogar ihren kompletten Hausrat in die Bundesrepublik mitnehmen. 118
Wir wundern uns, dass plötzlich alles so schnell und reibungslos geht. Hat der politische Druck des Westens endlich gewirkt? Oder steckt etwas anderes dahinter? Lange denken wir jedoch nicht nach. »Was auch immer sich die Stasi gedacht haben mag«, sage ich, »Hauptsache, sie dürfen jetzt ausreisen.« Wir bedanken uns herzlich bei Lintner und fahren nach Hause. Frank, der mit Dietrichs Sohn Mathias befreundet war, und Fitscher freuen sich über die gute Nachricht. Schon nach zwei Wochen, im September 1982, trifft Familie Dietrich bei ihren Verwandten in Hannover ein. Um die Freunde zu begrüßen, fahre ich am nächsten Tag nach Norden. Ein Ford Taunus folgt mir von Bad Kissingen bis Hannover. Als ich Thomas umarme, zittern mir die Knie. »Heute ist Weihnachten«, sagt Thomas und hat wie ich Freudentränen in den Augen. Brunhild und die Kinder schütteln mir lebhaft die Hände. Sie gehen bald mit den Hannoveranern in ein Lokal, damit Thomas und ich uns ungestört unterhalten können. Im Wohnzimmer frage ich, wie es ihm ergangen ist. Thomas winkt resigniert ab. »Im Gefängnis war es schlimm, aber ich versuche, nicht oft daran zu denken.« Wir reden von den alten Zeiten, von der Arbeit im VEB Polymer und den gemeinsamen Ausflügen, von den früheren Arbeitskollegen, Nachbarn und Freunden. Unsere Ballonflucht sei lange Zeit das Gesprächsthema Nummer Eins gewesen, erzählt Thomas. »Im kleinen Kreis waren die meisten auf eurer Seite, aber nach außen hin taten alle sehr entsetzt. Na, du erinnerst dich ja sicher noch an das typische Doppelleben bei uns.« Ich nicke heftig. »Ehrlichkeit und Offenheit herrschten immer nur im engsten Freundes- und Verwandtenkreis. Am Arbeitsplatz war man immer hübsch auf Parteilinie.« Es ist schon weit nach Mitternacht, als ich von den letzten drei Jahren berichte, von Naila, dem Trubel nach der Ankunft, dem Umzug nach Fernwald-Annerod und schließlich dem Entschluß zur Selbständigkeit. »Ganz schön mutig«, meint 119
Thomas. »Warum?« frage ich. »Der Laden läuft prima, und wir können endlich eigenverantwortlich arbeiten. Davon haben wir doch früher oft geträumt.« Thomas nickt und sieht mich nachdenklich an. »Eigentlich hast du recht«, sagt er. »Ich bin sehr gespannt, wie der Laden aussieht und wie ihr euch in Bad Kissingen eingerichtet habt.« Der Besuch ist längst verabredet. Die Nacht vergeht zu schnell, vieles bleibt ungesagt. Ich muss wieder in das Geschäft. Bevor ich fahre, gebe ich Thomas noch eintausend D-Mark als Startkapital. Obwohl ich während der Nacht kein Auge zugetan habe, bin ich munter und aufgekratzt. Lange habe ich mich nicht mehr so gefreut. Ich habe das Gefühl, noch einmal und mit frischen Kräften im Westen angekommen zu sein. Alte Freunde lassen sich nicht ohne weiteres durch neue ersetzen. Doris bestürmt mich mit Fragen, die ich gar nicht so schnell beantworten kann: wie Dietrichs aussehen, wie es ihnen geht, was sie vorhaben, wann sie uns besuchen kommen. Schließlich seufzt Doris zufrieden. »Siehst du«, sagt sie, »alle Mühe hat sich gelohnt. Sie sind da.« Drei Tage später sind sie in Bad Kissingen. Die Sektkorken knallen, und wir schwelgen in Erinnerungen. Die alten Zeiten erstehen auf, die guten und die schlechten. Brunhild erzählt von den Diffamierungen, denen sie während der Inhaftierung von Thomas ausgesetzt war. »Einige Arbeitskolleginnen wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, und verhört worden bin ich etliche Male.« Wir berichten von den Aktionen der Stasi in der Bundesrepublik gegen uns, den Drohungen per Telefon und Brief, vom Sprengstoffanschlag auf das Geschäft. Dietrichs sind begeistert von Bad Kissingen. »Hier könnte ich mich wohlfühlen«, sagt Brunhild Dietrich und reckt die Arme in die Luft. »Als Krankenschwester hast du bestimmt gute Chancen, in einer der vielen Kurkliniken Arbeit zu finden«, sage ich. »Für dich wird es schwieriger, Thomas. Die Stadt hat kaum Industrie. Aber wir werden schon eine Lösung 120
finden.« Die beiden freunden sich im Laufe des Tages sichtlich mit dem Gedanken an, in Bad Kissingen zu leben. Am Abend fällt mir aber auf, dass Thomas zurückhaltender als früher ist. Vielleicht ist es eine Nachwirkung des Gefängnisaufenthalts, oder er hat Angst vor der Stasi. Schüchert ihn die Ungewißheit der Situation, des Neuanfangs, ein? Anders als wir, die vor drei Jahren niemanden in der Bundesrepublik kannten, hat er ja nun ein klareres Bild von den Verhältnissen, den Chancen und den Gefahren. »Ihr werdet euch schnell eingewöhnen«, sagt Doris zu Thomas und Brunhild. »Hier kann man sagen, was man will.« Bis in den frühen Morgen sitzen wir beisammen. Die Kinder vergnügen sich auf ihre Weise. Sie hören Schallplatten und tanzen. Am Sonntag fahren wir in die Rhön und auf den Kreuzberg. Thomas staunt über die gut ausgebauten Straßen, die für uns inzwischen selbstverständlich geworden sind. Vom Kreuzberg können wir über die Grenzanlagen hinweg bis in unsere alte Heimat blicken. Doris streckt den Arm aus und zeigt in Richtung des unsichtbaren Pößneck. »So nah ist unsere Heimatstadt und doch unerreichbar.« Wir schweigen. Die Teilung Deutschlands wirkt sich auf unser aller Leben aus. Schließlich geben wir uns einen Ruck und freuen uns an der hervorragenden Fernsicht. Auf dem Parkplatz bestaunen einige Ausflügler den Lada von Dietrichs mit dem DDRNummernschild. An diesem Abend entscheiden sich Dietrichs, in Bad Kissingen zu bleiben. Wir freuen uns unbändig. Zunächst können sie bei uns wohnen, wir haben genug Platz für alle. Schon am Montag erledigen wir zusammen die wichtigsten Behördengänge. Bis eine Wohnung gefunden ist, vergehen zwar etliche Wochen. Aber die Zeit vergeht schnell mit vielen Gesprächen und Erinnerungen. Thomas interessiert sich für das Elektrogeschäft. Ich erkläre ihm in groben Zügen, welcher 121
Papierkrieg mit dem Laden verbunden ist, zeige ihm das Kassenbuch, die Bestellzettel, Auftragsbestätigungen und Rechnungsbelege. Wie man Haushaltsgeräte, Fernseher oder Radios repariert, muss ich ihm nicht sagen. Als Mechaniker mit DDR-Vergangenheit ist er ans Tüfteln gewöhnt. Kurz vor Weihnachten finden wir eine Wohnung für Dietrichs. Mit einem Lastwagen holt Thomas die Möbel von den Verwandten in Hannover. Brunhild arbeitet mittlerweile in einer Kurklinik, und Thomas wird im Elektroladen helfen. Während Dietrichs noch ihre Sachen in unserer Wohnung zusammenpacken, kündigt sich eine neue Mitbewohnerin an: Doris' Mutter hat eine Ausreiseerlaubnis für April erhalten. «Ist das alles nicht wunderbar«, sagt Doris zu mir, »jetzt haben wir endlich wieder die lieben Menschen um uns, mit denen wir auch in Pößneck zusammen waren.« Mutter verbringt nach ihrer Ankunft viel Zeit mit Fitscher, um den wir nach wie vor Angst haben. Frank ist oft mit seiner Freundin unterwegs, vergißt aber nicht, uns Bescheid zu sagen, weil er unsere Sorgen kennt. »Nehmt euch vor Thomas in acht«, sagt Mutter eines Abends. Wir sehen sie erstaunt an. »Ich glaube, er arbeitet für die Stasi«, sagt sie, »in Pößneck sind immer wieder solche Gerüchte aufgetaucht.« »Aber Mutter, wir dürfen doch nicht auf Gerüchte bauen und uns hier von der Stasi verrückt machen lassen«, entgegne ich. »Nein, ihr habt recht. Aber ich habe trotzdem ein komisches Gefühl. Ihr solltet vorsichtiger sein.« Der Gedanke, dass unser endlich der DDR entkommener Freund diesem Staat durch solch einen Pakt verbunden ist, wäre uns nie gekommen. Nun ist der Verdacht ausgesprochen, und wir sind nachdenklich geworden. Thomas soll nichts davon wissen. Es sind ja nur Gerüchte.
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Ein IM im Wartestand IM »Karl Diener« ist der Familie Strelzyk nun nahe, aber noch im Wartestand. Die Abteilung VII des Staatssicherheitsdienstes in Gera vermerkt am 4. April 1983 über »Karl Diener« alias Thomas Dietrich, der IM sei »aus politischoperativen Gründen am 15.9.1982 in die BRD übersiedelt und wurde in diesem Zusammenhang aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen«. Jetzt wäre zu erwarten, dass die Stasi ihren Spitzel alsbald auf Familie Strelzyk ansetzt. Doch das Ministerium für Staatssicherheit hat andere Pläne. Nach der Ausreise steht die Familie Dietrich selbst unter ständiger Beobachtung der Staatssicherheit. Thomas und Brunhild Dietrich seien seit der Ausreise »verbürgerlicht«, heißt es in dem Bericht, und hätten sich schnell im Kapitalismus eingerichtet. Damit rechnet die Stasi offenbar. Sie läßt ihrem inaktiven Mitarbeiter Zeit, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Vorerst wird Dietrich/»Diener« kein Arbeitsauftrag erteilt, und notfalls scheinen die Offiziere in Gera und Ost-Berlin gar bereit, auf seine Dienste zu verzichten. Die Stasi besitzt in der Bundesrepublik auch kaum Druckmittel, um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen und Dietrich gefügig zu machen. Also lautet die Parole: Abwarten. Falls sich Thomas Dietrich von selbst bei seinem Führungsoffizier Major Stephan melden sollte, dürfte er auch motiviert sein, gegen Strelzyk aktiv zu werden. Zwei Faktoren sprechen nach den reichhaltigen Erfahrungen der Stasi dafür, dass Dietrich sich seiner früheren IM-Verpflichtung erinnern wird: Zum einen hat er eine Geliebte in Pößneck. Im Laufe der Zeit wächst der Wunsch, sie wiederzusehen, doch ohne Mithilfe der Stasi kann Thomas Dietrich nicht in die DDR einreisen. Zum anderen kann die Stasi darauf bauen, dass die Geldgier Dietrich zu den Fleischtöpfen der finanziell lukrativen Spitzeltätigkeit treibt. Es 123
ist alles eine Frage der Zeit. Mehr als ein Jahr vergeht, bis Thomas Dietrich die ausgestreckte Hand der Stasi ergreift. Dann erweist er sich als rühriger, einfallsreicher und ergiebiger Inoffizieller Mitarbeiter.
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Eine spektakuläre Aktion Der Staatssicherheitsdienst verläßt sich nicht darauf, dass sich Thomas Dietrich seiner Selbstverpflichtung erinnert. Die Hauptamtlichen werben einen weiteren Spitzel im Umfeld der Strelzyks an. Walter Müller teilt bei der Kraftwerksunion in Nürnberg das Büro mit Peter Strelzyk. Weil das Elektrogeschäft in Bad Kissingen keine ausreichenden Einnahmen mehr abwirft, arbeitet Strelzyk dort als Konstrukteur an Plänen für das Atomkraftwerk Brokdorf. Sein Arbeitskollege stammt ebenfalls aus der DDR und ist ihr wie Strelzyk auf dem Luftweg entkommen. 1980 hat er sich mit seinem Bruder von dem Fluchthelfer Friedemann Späth aus der Tschechoslowakei in den Westen fliegen lassen. Als IM »Flug« spioniert Müller sowohl seinen Fluchthelfer wie den neuen Arbeitskollegen aus. Er trifft sich in regelmäßigen Abständen in Budapest mit seinen Führungsoffizieren. Neben anderen Informationen überreicht er etliche Fotos, die er von Strelzyks bei einem Besuch in Bad Kissingen gemacht hat. Bei einem dieser Treffen werden die Leistungen des IM mit 2000 DM honoriert. Offenbar kann Müller/»Flug« die Stasi nicht vor einem Fluchthilfeversuch von Friedemann Späth im Mai 1983 warnen. Es ist eine der spektakulärsten Luftraumverletzungen der DDR und darin der Ballonflucht von Strelzyks und Wetzels vergleichbar. Da Späth mit Peter Strelzyk, Walter Müller und Thomas Dietrich befreundet war, sei sie kurz nachgezeichnet. Aus den Stasi-Unterlagen in der Gauck-Behörde läßt sie sich mühelos rekonstruieren. Früh am Morgen des 21. Mai 1983 startet Friedemann Späth mit einer einmotorigen Piper in Jossa bei Fulda Richtung Osten. Bei Pößneck soll er landen, ein junges Paar an Bord nehmen und es in die Bundesrepublik bringen - einen Neffen von Brunhild Dietrich mit seiner Freundin, der Tochter eines 125
Gerd-Michael Schmitt, der bereits im Westen lebt und Späth den Auftrag erteilt hat. Die Piper hält strikt auf ihr Ziel in Thüringen zu und überfliegt die Grenze. DDR-Grenzposten entdecken die Maschine um 7.45 Uhr, verlieren sie aber wieder aus den Augen. Späth kann sich über eine halbe Stunde unbehelligt im DDRLuftraum bewegen. Doch die Zeit ist zu knapp, um Pößneck zu erreichen. Um 8.25 Uhr wird der Pilot wieder gesichtet. Ein Agrarflieger nimmt die Verfolgung auf. Nahe der Grenzstadt Lobenstein sind sowjetische Kampfhubschrauber in der Luft. Per Funk erhalten sie Order, das feindliche Flugzeug zur Landung zu zwingen. Die Hubschrauberbesatzungen feuern Signalraketen ab. Späth dreht um, denkt aber nicht daran zu landen. Ungerührt fliegt er weiter Richtung Westen. Die Hubschrauber kommen näher, beschädigen in einer waghalsigen Aktion das Höhenruder der Piper und schießen schließlich scharf. Zwei Garben Sperrfeuer gehen auf das Sportflugzeug nieder. Späth setzt seinen tollkühnen Flug trotz erheblicher Beschädigungen fort. Im Tiefflug überquert er kurz vor 9 Uhr im Raum Wurzbach die Staatsgrenze der DDR. Sicher landet die arg ramponierte Piper auf dem Flugplatz Jossa. Am nächsten Tag fertigt ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes einen langen, detaillierten Bericht über diese »Luftraumverletzung durch ein Sportflugzeug der BRD« an. Darin attestieren die Besatzungen der Kampfhubschrauber dem Piper-Piloten, er habe »ausgezeichnete fliegerische Fähigkeiten« und »mit äußerster Risikobereitschaft und Brutalität« gehandelt. Die Stasi weiß nicht, ob die Maschine auf dem Gebiet der DDR gelandet ist. »Aufgrund des Zeitraumes der Luftraumverletzung von insgesamt 66 Minuten ist jedoch nicht auszuschließen, dass zwischen 07.45 Uhr und 08.25 Uhr, wo es 126
nicht unter ständiger Kontrolle stand, eine Landung erfolgt sein könnte.« Auch die Identität des Piloten ist der Stasi unbekannt. Doch sie hat Friedemann Späth bereits im Fadenkreuz. Der Bericht listet diverse seiner Luftraumverletzungen und Fluchthilfeversuche auf und erwähnt einen Bericht des Spiegel, in dem der Fluchthelfer nach einer geglückten Landung in der DDR mit dem Satz zitiert wird: »Genossen - ich komme wieder.« Gegen Späth eröffnet die Staatsanwaltschaft Fulda ein Ermittlungsverfahren. Der Flug war nicht genehmigt, und Späth besaß keinen gültigen Pilotenschein. Der Prozeß geht glimpflich für ihn aus: Späth wird zu einer Bewährungsstrafe von einem halben Jahr verurteilt. Dass er DDR-Bürger aufnehmen und in den Westen bringen wollte, wird erst viel später bekannt. Folgen hat der spektakuläre Flug allerdings auf DDR-Seite: Eine der von den Kampfhubschraubern in Richtung Piper abgeschossenen Raketen landete im Backofen einer Lichterbrunner Bäckerei. Der Bäcker wird mit 700 Mark und einer neuen Haustür entschädigt. Er und seine Nachbarn müssen den Vorfall vertraulich behandeln. Im Stasijargon heißt es: »Mit den betroffenen Bürgern wurden Aussprachen geführt.«
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Rückschläge Unser neuer Mitarbeiter arbeitet sich schnell ein. Thomas übernimmt Installationsaufträge, hilft Doris bei der Buchhaltung und wird bald darauf Geschäftsführer. Ich verstehe mich gut mit dem alten Freund, aber das herzliche Einvernehmen aus Pößnecker Zeiten stellt sich wider Erwarten nicht ein. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass etwas zwischen Thomas und mir steht«, sage ich eines Abends halb zu mir. »Er hat wahrscheinlich seine Haftzeit noch nicht verkraftet«, meint Doris. »Vielleicht macht ihm auch die Umstellung länger als uns zu schaffen.« Aber eigentlich hat Doris keine Veränderungen bei Thomas bemerkt. Früher sah sie ihn allerdings nur auf Festen oder an Wochenenden. Jetzt kommt sie mit seiner zurückhaltenden Art und konzentrierten Arbeitsweise gut zurecht. Mein Gefühl ist viel zu vage, um mehr darüber sagen zu können. Damit ist das Thema fürs erste beendet. 1983 geht unser Umsatz leicht zurück. Schlimmer wird die Lage im Frühjahr und Sommer 1984. Der Kurbetrieb in Bad Kissingen floriert nicht mehr, einige Hotels haben sogar geschlossen, und mit den Kurgästen bleiben bei uns wie bei nahezu allen Einzelhändlern die Kunden aus. Wir müssen mit Ausnahme von Thomas Dietrich und der zwei Lehrlinge alle Angestellten entlassen. Die verschlechterte wirtschaftliche Lage trifft uns besonders hart, weil der Kredit für die Ladenübernahme noch nicht zurückgezahlt ist. Regelmäßig werden Zinsen und Tilgung fällig, aber das Geschäft wirft kaum genug ab. Doris, Thomas und ich sitzen mal wieder über den Büchern und rechnen verzweifelt hin und her. »Ich werde mich nach einer neuen Arbeit umsehen«, schlage ich Doris und Thomas vor. Thomas nickt, aber Doris zögert. »Wir brauchen dich doch im Laden«, 128
sagt sie. Thomas zerstreut ihre Bedenken. »Was noch zu tun ist, schaffen wir beide allein. Ich bin ja inzwischen voll eingearbeitet. Und in schwierigen Fällen kann Peter uns immer noch helfen.« Die Kraftwerksunion in Nürnberg sucht einen Konstrukteur, der an den Plänen für das Kernkraftwerk Brokdorf mitarbeitet. Ich übernehme den gut bezahlten Auftrag und muss leider über die Woche oft in Nürnberg bleiben. Jeden Abend rufe ich Doris an. Sie fehlt mir. Eines Abends ist Doris am Telefon sehr aufgeregt. »Die Kriminalpolizei Schweinfurt hat angerufen. Sie wollen in den nächsten Tagen vorbeikommen, um uns über Thomas Dietrich zu befragen.« Einen Grund wollten ihr die Beamten jedoch nicht nennen. Die zwei Beamten sind höflich und außerordentlich wißbegierig. Sie wollen wissen, warum Thomas Dietrich erst ein Vierteljahr nach unserer Flucht verhaftet wurde, wo er in der DDR gearbeitet habe, wie eng unser Kontakt sei. Auf die meisten Fragen haben wir keine Antworten. Schließlich platzt mir der Kragen. »Jetzt habe ich einmal eine Frage«, sage ich. »Was soll das Verhör? Haben Sie etwas Konkretes gegen Thomas Dietrich in der Hand?« Die Beamten drucksen etwas herum. Konkretes wüßten sie auch nicht. Sie hätten einen Hinweis vom Bundesnachrichtendienst erhalten. Zu Dietrich bestünde Klärungsbedarf. »Wir sind auch nur geschickt worden«, entschuldigt sich einer von ihnen. »Ich kann Ihnen wirklich nichts Genaueres sagen, selbst wenn ich es wollte.« Nach dieser Befragung sind wir nicht schlauer als vorher, aber mißtrauischer gegenüber Thomas Dietrich. »Hat Mutter vielleicht doch recht?« fragt Doris. »In Pößneck kursierten ja Gerüchte über eine Stasi-Mitarbeit von Thomas.« Ich schüttele den Kopf. »Gibt das irgendeinen Sinn, Doris? Dieser Mann hat über zwei Jahre in einem DDR-Gefängnis gesessen. Warum 129
sollte er für die Stasi arbeiten?« »Vielleicht ist er erpreßt worden?« überlegt sie. Aber das klingt auch ihr zu sehr nach Räuberpistole. Wann immer ich in der folgenden Zeit am Abend oder am Wochenende im Geschäft bin, beobachte ich Thomas. Nie fällt mir etwas Verdächtiges auf, und mein Mißtrauen kommt mir zunehmend grundlos vor. Was sollte er auch unternehmen, um uns Schaden zuzufügen? Der Sprengstoffanschlag fällt mir ein, aber er verwüstete ein halbes Jahr vor Thomas' Ausreise den Laden. Allmählich vergessen Doris und ich die Befragung durch die Kriminalpolizei. Doch das Vertrauen zu Thomas wird weiter erschüttert, als Doris zahlreiche große Benzinrechnungen von ihm in den Büchern findet. Nach ihnen zu urteilen, hat er rastlos Kunden in der ganzen Bundesrepublik besucht. Als Doris ihn verärgert auffordert, seine privaten Spritztouren selbst zu bezahlen, beteuert er treuherzig, nicht zu wissen, wie die hohen Rechnungen zustande gekommen seien. »Du kannst mir doch vertrauen, Doris, ich bin ehrlich«, sagt er. Von nun an erstattet Doris nur noch das Benzingeld, das Thomas nachweislich für Firmenfahrten benötigt hat. Dann fehlt wiederholt Geld in der Kasse. Doris und Thomas haben keine Erklärung für die Fehlbeträge. Die Auftragslage ist weiterhin schlecht. »Wenn das so weitergeht, können wir den Laden nicht halten«, sagt Doris. Auch Geräte verschwinden seit einiger Zeit spurlos. Doris fragt Frank und den zweiten Lehrling, ob jemand in ihrer Abwesenheit im Geschäft war. Aber niemand hat den Laden betreten. Dennoch fehlt weiterhin oft Geld in der Kasse, und Doris bittet mich, für ein paar Tage nach Bad Kissingen zu kommen. Bei der Kraftwerksunion bekomme ich frei und nehme Arbeit mit nach Hause. Eine Erklärung für die rätselhaften Vorgänge aber finde auch ich nicht. Die Fehlbeträge in der Kasse sind eher klein und selbst die Gerätediebstähle wären noch zu 130
verkraften, wenn der Laden nur gut liefe. Aber das ist nicht der Fall. Doris und ich reden einen Abend lang über die Lage. »Wir können das Geschäft nicht mehr halten«, sage ich. »Von den Schulden kommen wir nicht herunter, und bei der anhaltenden Flaute müssen wir bald einen neuen Kredit aufnehmen.« Das wollen wir auf keinen Fall und beschließen schweren Herzens, den Elektroladen aufzugeben. Wir schalten den Schweinfurter Rechtsanwalt Dr. Zeller ein, der sehr erfahren in der Abwicklung von Unternehmen sein soll. Er schlägt uns einen Vergleich vor. »Damit stehen sie besser da als mit einem Konkurs. Sie müssen zwar in einem festgelegten Zeitraum die Verbindlichkeiten begleichen, was nicht leicht sein wird. Aber danach sind sie anders als beim Konkurs frei von Schulden«, meint Dr. Zeller. Wir folgen seinem Rat, sorgen aber dafür, dass unser Sohn Frank und der zweite Lehrling vor der Geschäftsaufgabe ihre Ausbildung abschließen können. Die Handwerkskammer stimmt einer vorzeitigen Gesellenprüfung zu. Mittlerweile ist der Auftrag der Kraftwerksunion abgeschlossen, und ich suche eine neue Arbeit. Ich nehme Kontakt zur österreichischen Firma Engel auf, die eine Niederlassung in Nürnberg hat. Das Unternehmen stellt Spritzgießmaschinen zur Kunststoffverarbeitung her und hat einst eine Maschine im Wert von über einer Million D-Mark an den Pößnecker VEB Polymer geliefert. Damals habe ich die Inhaber des Unternehmens, das Ehepaar Schwarz, kennengelernt. Die Bekanntschaft und meine Fachkenntnisse öffnen mir die Türen. Engel stellt mich ein. Die regelmäßigen Gehaltszahlungen haben wir bitter nötig, um den Vergleich durchstehen zu können. Ich schule Kunden und setze Kunststoffverarbeitungsmaschinen in Süddeutschland instand. Es ist eine aufreibende Arbeit, oft zwölf bis fünfzehn Stunden am Tag. Doch anders als im Geschäft werden meine Anstrengungen materiell belohnt. 131
Für Doris ist die Situation nicht einfach, aber sie weiß, dass es nicht anders geht. Die Vergleichsbedingungen sind hart: Vierzig Prozent der Schulden müssen innerhalb von achtzehn Monaten beglichen werden, um einen Anschlußkonkurs zu verhindern. Siebzig Prozent meines Einkommens fließen in das Geschäft. Als wir Thomas Dietrich von der Aufgabe des Geschäfts nach abgeschlossenem Vergleich erzählen, wirkt er nicht überrascht. »Ich könnte ihn doch übernehmen«, sagt er. »Nett, dass du so herzlich Anteil nimmst«, bedankt sich Doris. Thomas setzt seine unschuldige Miene auf. »Ihr könntet doch froh sein, wenn ich das Geschäft fortführe. Peter hat sowieso einen gut bezahlten Job.« Ich sage nichts. Thomas scheint nur noch auf seinen Vorteil zu sehen. In einem hat er allerdings nicht unrecht: Ich bin froh, wenn wir den Laden endlich abgewickelt haben und ich mich ausschließlich auf die Arbeit bei Engel konzentrieren kann.
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IM »Karl Diener« wird aktiv Thomas Dietrich hat sich in der Bundesrepublik schnell eingelebt. Er arbeitet im Elektroladen von Strelzyks als Geschäftsführer, hat ungehinderten Zugang zu sämtlichen betrieblichen Vorgängen und zur Familie. Die Schwierigkeiten des kleinen Unternehmens sind ihm ebensowenig verborgen geblieben wie die Belastungen, die sie für Familie Strelzyk mit sich bringen. Im Frühjahr 1984 ergreift Thomas Dietrich die ausgestreckte Hand der Stasi. Er nimmt Kontakt zum Staatssicherheitsdienst in Gera auf. Aus der Stasi-Akte geht nicht eindeutig hervor, was ihn dazu bewogen hat. Ein Motiv Dietrichs scheint zu sein, dass er seine Geliebte in Pößneck besuchen möchte. Nach der sogenannten »ständigen Ausreise« in die Bundesrepublik wurde Familie Dietrich für die Einreise in die DDR gesperrt, eine in solchen Fällen übliche Praxis. In den Akten findet sich ein Telegramm an die Stasi in Gera vom 23. April 1984, wonach Thomas Dietrich die Einreise nach Pößneck für den Zeitraum vom 25. Mai bis zum 4. Juni beantragt habe und ihm wegen seiner besonderen Bedeutung für den Fall Strelzyk eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden solle. Dietrich reist nach Pößneck, wo er am 26. Mai 1984 zum ersten Mal seit seiner Ausreise in die Bundesrepublik wieder mit Stasi-Offizieren zusammentrifft. Dietrich ist nach eigener Aussage nicht überrascht von seiner Kontaktierung. IM »Karl Diener« verläßt den Wartestand und tritt in den aktiven Spitzeldienst ein. Dietrich offenbart der Stasi, dass Peter Strelzyk ein Egoist sei, der seinen Geschäftsführer ausnutze und schlecht bezahle. Außerdem seien Strelzyks für die von ihm erlittene Haft in der DDR verantwortlich, teilt Dietrich sinnigerweise ausgerechnet jenen mit, die ihn tatsächlich hinter Gitter gebracht haben. Die Herren Führungsoffiziere werden sich ins Fäustchen gelacht 133
haben. Mit Menschen, die sich als autoritäre Charaktere stets mit den Stärkeren identifizieren, läßt sich gut spitzeln. Rache ist also ein zentrales Motiv für Dietrich, die Spitzeltätigkeit wieder aufzunehmen. Sobald Strelzyks den Vergleich abgeschlossen haben, will er das Elektrogeschäft übernehmen. Um seinem ehemaligen Freund zu schaden, ist Dietrich/»Diener« bereit, seine guten Kenntnisse der Strelzykschen Geschäftsführung einzusetzen. Den Führungsoffizieren kann das nur recht sein. Der Rachewunsch Dietrichs und sein Bedürfnis, aus der Spitzeltätigkeit einen persönlichen Vorteil zu ziehen, spielen ihnen einen engagierten Inoffiziellen Mitarbeiter in die Hände. Außerdem geht die Stasi davon aus, dass Strelzyks die Geschäftsaufgabe als persönliche Niederlage empfinden werden, was als Erfolg der Stasi-Arbeit gegen den »Staatsfeind« interpretiert werden kann. Nach diesem ersten Treffen vom 26. Mai 1984 wird Thomas Dietrich alias »Karl Diener« zur wertvollsten Informationsquelle der Stasi im Operativvorgang »Birne«. Ein Großteil seiner Berichte besteht aus detaillierten Schilderungen der Geschäftsabläufe. Dabei wird nicht erkennbar, inwieweit Dietrich aktiv den Niedergang des Elektroladens betrieben hat. Ein weiteres Treffen von Thomas Dietrich mit Stasi-Offizieren findet am 2. November 1984 im Ost-Berliner Hotel Stadt Berlin statt. Der ausführliche Bericht hält fest, dass Dietrich über den aktuellen Stand des Vergleichsverfahrens informierte. Der mit dem Verfahren betraute Rechtsanwalt Dr. Heinrich Zeller wird mit persönlichen Daten und politischen Verbindungen genannt. Dietrich/»Diener« glaubt, dass »Strelzyk Dr. Zeller im geschäftlichen Bereich völlig ausgeliefert« sei. Dietrich schätzt den Rechtsanwalt als integere Persönlichkeit und sucht »Dr. Zeller davon zu überzeugen, dass Strelzyk ein Aufschneider und Nichtskönner ist«. Tatsächlich hat Thomas Dietrich den Kontakt zu Zeller 134
gesucht und sich ihm gegenüber abfällig über Strelzyks geäußert. Zeller warnte daraufhin Peter und Doris Strelzyk vor ihrem »Freund« und Geschäftsführer, ohne ihnen jedoch von Dietrichs Äußerungen zu erzählen. Außer dem Anwalt seien Strelzyks Ehefrau Doris, der Sohn Frank, der Steuerberater und Mitarbeiter der Hausbanken mit der finanziellen Situation der Familie vertraut, plaudert Dietrich über das ihm am Herzen liegende Thema. Eine exakte Prognose für den Laden könne noch nicht abgegeben werden, jedoch zeichne sich ab - und an dieser Stelle wird die Schizophrenie des IM »Karl Diener« erneut augenfällig -, »dass der derzeitige Geschäftsführer [..] versucht, das Geschäft in seinen Besitz zu bringen und sich damit eine Existenz aufzubauen«. Ein Stasi-Spitzel, der sich selbst beobachtet und die Ergebnisse der Selbstbeobachtung der Stasi nicht vorenthält, muss ein zuverlässiger, leider jedoch nur begrenzt einsetzbarer Mann sein. Ausführlich informiert Dietrich/»Diener« über Peter Strelzyks neue Tätigkeit bei der Firma Engel, nennt sein Gehalt, beschreibt den Dienstwagen und legt der Stasi sogleich nahe, gegen Strelzyk vorzugehen: »Der Unterhalt des PKW wird über das Elektrogeschäft in Bad Kissingen finanziert, obwohl Strelzyk von der Firma Engel die gefahrenen Kilometer vergütet bekommt. (Nachweis von Rechtsverletzungen durch Strelzyk wäre in diesem Zusammenhang möglich.)« Bekanntlich besitzt der tugendhafte Denunziant auf dem weiten Feld der Finanzierung von Wagenbetriebskosten selbst beachtliche Kenntnisse. Neben solch kleinlicher Niedertracht finden sich auch positive Bemerkungen. Der Spitzel attestiert seinem »Freund«, in kurzer Zeit ein guter Kundendienstmonteur geworden zu sein. Strelzyk habe sich vielfältige Kenntnisse in verschiedenen technischen Bereichen angeeignet. Interessanter dürfte für die Stasi die Schilderung des wöchentlichen Arbeitsablaufes von 135
Peter Strelzyk sowie die abschließende Einschätzung gewesen sein: »Er ist derzeitig nicht in der Lage, Vorträge über die Ballonprovokation durchzuführen. Er hat dazu einfach zeitlich keine Möglichkeit.« Schließlich liefert Dietrich/»Diener« noch einen Hinweis für gezielte Aktionen gegen Strelzyk: Bei seinen regelmäßigen Fahrten zum Hauptsitz der Firma Engel in Österreich werde Strelzyk jedes Mal vom Zoll kontrolliert, was ihn sehr ärgere. Im offenbar obligatorisch falschen Stasi-Deutsch heißt es: »Er geht davon aus, dass die österreichischen Zollorgane zielgerichtet nach ihn fahnden. (Diese Tatsache sollte zur weiteren Bekämpfung des Strelzyk zielgerichtet genutzt werden.)« Tatsächlich empfindet Peter Strelzyk, der stets Sorge hat, die Stasi könne ihm Rauschgift ins Auto schmuggeln, die regelmäßigen Kontrollen an den Grenzen zur Schweiz und zu Österreich als Belastung. Als zielgerichtete Fahndung interpretiert er sie jedoch nicht. Der CSU-Politiker Eduard Lintner hat ihm erklärt, dass die Paßnummern von gefährdeten Personen an den Grenzstationen gespeichert seien. Durch die Ballonflucht und das spätere Engagement vor allem in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte gehört Strelzyk zu diesem Personenkreis. Ein anderer Stasi-Bericht aus dieser Zeit, dessen Quelle nicht identifizierbar ist, beschreibt Strelzyks persönliche und politische Kontakte. Hervorgehoben werden seine Verbindungen zu Rainer Hildebrandt und der Arbeitsgemeinschaft 13. August, zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, zu »Angehörigen staatlicher Organe der BRD, des Bundesgrenzschutzes, der Kriminalpolizei und der Bundeswehr«. Strelzyk habe Vorträge vor der Schlesischen Landsmannschaft, bei Veranstaltungen von CSU-Ortsgruppen und anderen Parteien gehalten. Der Bericht zählt einige Bekannte von Peter Strelzyk auf 136
und bezeichnet sie als »Provokateure«. Genannt werden unter anderem der Pilot und Fluchthelfer Friedemann Späth sowie Walter Müller, der Arbeitskollege von Strelzyk, der als IM »Flug« selbst für die Stasi spitzelt. Auffällig ist, dass Strelzyks Kontakt zu zweien der »Provokateure« durch Thomas Dietrich zustandegekommen ist. Es handelt sich um Robert Andreas und Gerd-Michael Schmitt, dessen Tochter Friedemann Späth im Mai 1983 gemeinsam mit ihrem Freund, dem Neffen von Brunhild Dietrich, aus der DDR ausfliegen sollte. Der Kontakt zwischen Strelzyk und Robert Andreas, heißt es im Stasi-Bericht, sei intensiv. Beide Männer seien auf Anraten von Thomas Dietrich im Februar 1983 in die USA gereist, um dort eine Arbeit im Zusammenhang mit dem Film Mit dem Wind nach Westen aufzunehmen. Die Verhandlungen hätten sich aber zerschlagen, weil das Filmunternehmen Strelzyk und Andreas ein finanziell wenig attraktives Angebot gemacht habe. Eine enge Beziehung gebe es auch zwischen Gerd-Michael Schmitt und Peter Strelzyk. Beide hätten Konflikte in einer finanziellen Angelegenheit. »Trotz dieser Probleme in den persönlichen Beziehungen sind sich Strelczyk und Schmitt darüber einig, wenn es darum geht, dem Sozialismus zu schaden.« Abgesehen von den Verbindungen zu den »Provokateuren«, den ehemaligen DDR-Bürgern, und dem Fluchthelfer Späth ist Familie Strelzyk nach Einschätzung der Stasi eher isoliert. »Lediglich die Familie FRIEDRICH, Günter und Liane, wh. [wohnhaft in] Offenbach, besuchen die Familie Strelczyk zu Geburts- und Feiertagen in Bad Kissingen. Ehemalige Bekannte aus der DDR mit Reisemöglichkeiten nach der BRD meiden gleichfalls die Familie Strelczyks.« Die Stasi führt die vermeintliche Isolierung der Familie Strelzyk auf den Erfolg der eigenen Arbeit zurück. Außerdem seien inzwischen Peter 137
Strelzyks Möglichkeiten eingeschränkt, »feindlich tätig zu werden, [...] weil ihm die finanziellen Voraussetzungen für größere Aktionen fehlen«. Doch das Ziel des Operativvorgangs »Birne« ist noch nicht erreicht. Der »Staatsfeind« Strelzyk soll vollständig verunsichert und demoralisiert werden. Explizit ist davon zwar in keinem der Dokumente die Rede. Doch die Vorgehensweise in den nächsten Monaten läßt keinen Zweifel daran. Günter Wetzel, anfangs als einer der Ballonflüchtlinge stets in den Stasi-Akten genannt, ist daraus längst verschwunden. Er hat sich in der Bundesrepublik nicht wie Strelzyk politisch engagiert. Zwar erhalten auch Günter und Petra Wetzel in der ersten Zeit nach der Flucht Drohanrufe und -briefe, doch massiver Bespitzelung sind sie offenbar nicht ausgesetzt. Für die Stasi reduziert sich schließlich der Operativvorgang »Birne« auf den »Haupttäter« Peter Strelzyk. Ein Elf-Punkte-Konzept enthält Ende 1984 konkrete Arbeitsanweisungen für IM »Karl Diener«. Er soll auf »die Geschäftstätigkeit der Firma des Strelczyk derartig Einfluß [...] nehmen, dass es spätestens im Jahr 1985 zu einem Konkurs mit den ungünstigsten Bedingungen für Strelczyk kommt«. Und weiter: »Sämtliche in dieser Richtung einzuleitenden Schritte sind so vorzutragen, dass Strelczyk sie nicht durchschauen kann und damit das persönliche Vertrauensverhältnis einschließlich der familiären Verbindung auch nach dem Konkurs aufrecht erhalten bleibt.« Besonders stark ist die Stasi an den Verbindungen zwischen Peter Strelzyk, Gerd-Michael Schmitt, Rainer Hildebrandt und Friedemann Späth interessiert. Hier soll der IM »alle Möglichkeiten der Gesprächsabschöpfung« nutzen, sich aber nicht an »Feindhandlungen dieser Personen aktiv beteiligen«. Die »Abschöpfung« von Peter Strelzyk wird noch einmal intensiviert. Die Stasi möchte seinen Schriftverkehr nunmehr vollständig kontrollieren und möglichst sämtliche Adressen 138
und Telefonnummern ermitteln und überprüfen. IM »Karl Diener« hat Geschäftspapier aus dem Elektroladen von Strelzyks zu besorgen. Der letzte Punkt sorgt für eine dramatische Aufladung der im Einzelnen recht niederträchtig und kleinlich wirkenden Schritte: »Bei Feststellung akuter Gefahren wird die Quelle die Hauptstadt der DDR aufsuchen und unverzüglich persönlich über die festgestellten Zusammenhänge berichten.« Die Sorge der Stasi vor der Enttarnung von Spitzeln war groß. Mehr als einen außer Landes geflohenen »Staatsfeind« wie Peter Strelzyk muss sie gefürchtet haben, dass Geheimdienstoperationen auf »feindlichem« Terrain bekannt werden und das Ansehen der DDR beschädigen. In aller Regel blieb die Konspiration gewahrt. Enttarnungen wie die von Günter Guillaume, der in den siebziger Jahren Bundeskanzler Willy Brandt bespitzelte, blieben die Ausnahme. Wieviele ehemalige DDR-Bürger im Westen observiert beziehungsweise bedroht wurden, läßt sich kaum noch rekonstruieren. Die Akten von »Karl Diener« belegen, dass Thomas Dietrichs Tätigkeit vor allem im Sammeln von Informationen bestanden hat. Auf das laufende Vergleichsverfahren kann er kaum Einfluß nehmen, Strelzyk schadende Handlungen sind nicht nachzuweisen. Sein Einfluß bleibt begrenzt. Frappierend ist allerdings die Skrupellosigkeit, mit der Dietrich/»Diener« versucht, seinen Freunden zu schaden. Thomas Dietrich muss jedenfalls zum Zeitpunkt seiner IMVerpflichtung eine an Schizophrenie grenzende Persönlichkeitsverfassung besessen haben. Freunde und Bekannte, darunter der CSU-Politiker Eduard Lintner, beschreiben ihn jedoch als sympathisch und offen. Selbst die mißtrauisch gewordenen Strelzyks glauben vor der Einsicht in die StasiAkten nicht daran, dass ihr Freund sie ausspioniert haben könnte. Dass Thomas Dietrich über Jahre hinweg das Kunststück 139
fertigbrachte, als harmloser und freundlicher Bürger zu gelten, dürfte ihm psychisch einiges abverlangt haben. Einige Menschen in seiner Nähe durchschauten ihn allerdings: Doris Strelzyks Mutter und etwas später seine Ehefrau Brunhild Dietrich. Die andere Seite dieses so nett wirkenden Zeitgenossen war eine enorme Geldgier. Der Staatssicherheitsdienst hat sich Dietrichs Wunsch nach materiellem Wohlstand von Anfang an zunutze gemacht; dem scharfen, auf persönliche Schwächen und Unzulänglichkeiten trainierten Blick der Offiziere fiel dieser Umstand bereits in einem der ersten Berichte über den künftigen IM auf. Die Spitzeltätigkeit war für Dietrich vor allem eine willkommene Einnahmequelle. In der ansonsten weitgehend vollständigen Akte Dietrich/»Diener« fehlt die übliche Gesamtaufstellung der Honorare und Spesen. Die Einzelposten lassen aber erkennen, dass Dietrich im Laufe der Zeit etliche tausend D-Mark von der Stasi erhalten hat, dazu die unbezahlbare Vergünstigung, zu Besuchen von Verwandten, Freunden und einer Geliebten in die DDR reisen zu dürfen.
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Anschläge Thomas erzählt, dass er Ende Mai ohne seine Familie nach Pößneck fahren und Verwandte und Freunde besuchen will. »Du hast tatsächlich die Erlaubnis bekommen?« frage ich ihn erstaunt. Eigentlich wird jeder frühere DDR-Bürger, der durch Flucht oder Freikauf in den Westen gekommen ist, für die Einreise gesperrt. Thomas lacht und zuckt mit den Schultern, als wolle er die Frage abschütteln. »Glück muss der Mensch haben«, sagt er. »Ich habe einfach einen Reiseantrag gestellt und die Genehmigung erhalten. Ich bin ja auch nicht geflohen, sondern ganz normal ausgereist.« Darauf erwidere ich nichts. Was Thomas für eine ganz normale Ausreise hält, war erheblichem politischem Druck aus der Bundesrepublik zu verdanken. Sollte die DDR das vergessen haben und sich ungewöhnlich generös zeigen? Vielleicht hat Thomas recht, und Flüchtlinge werden anders behandelt als regulär aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Bürger. Aber ein wenig wundert es mich doch. Doris geht es ebenso. Seit sie den Betrug mit den Tankbelegen entdeckt hat, traut sie Thomas nicht mehr über den Weg. Es fällt ihr nicht leicht, bis zum Ende des Vergleichs mit ihm zusammenzuarbeiten. »Vergiß nicht, was Mutter von den StasiGerüchten über Thomas erzählt hat«, fällt mir ein. »Auch die Kriminalpolizisten haben ja so etwas angedeutet.« Wir sind beide ratlos. Das Mißtrauen ist stärker geworden, aber noch immer haben wir nur einen Verdacht. Was sollen wir tun? Thomas direkt ansprechen? Ich bin strikt dagegen. »Beweisen können wir nichts, Doris, und ich würde mir schwere Vorwürfe machen, wenn wir Thomas zu Unrecht beschuldigt hätten.« Aber wir sind uns einig, mehr Vorsicht walten zu lassen. Zehn Tage ist Thomas in Pößneck. Nach der Reise kommt er zu uns, zieht mich zur Seite und erzählt mit leuchtenden 141
Augen, dass er seine Geliebte getroffen habe. »Kannst du mir helfen, Peter?« fragt er. »Wir wollen in Kontakt bleiben, aber sie kann mir doch nicht nach Hause schreiben. Brunhild ist furchtbar eifersüchtig. Kann sie an dich schreiben?« »Nein«, sage ich empört. »Ich gebe mich doch nicht dazu her, dass du deine Frau hintergehst.« Thomas schweigt und geht aus dem Zimmer. Später erfahre ich, dass ein gemeinsamer Bekannter aus Bad Kissingen seine Adresse für Thomas' Liebeskonspiration zur Verfügung gestellt hat. Die alte Freundschaft hat Risse bekommen. Als im September 1984 Frank und seine langjährige Freundin Andrea heiraten, scheint Thomas ganz der Alte zu sein. Er lacht und scherzt mit allen auf seine mir gut vertraute Weise. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, ob ich nicht zu hart über ihn urteile. Fitscher steht kurz vor dem Schulabschluß und kümmert sich ohne unser Zutun um eine Lehrstelle. Er hat sich entschieden, Maler und Lackierer zu werden. Einige Wochen geht alles seinen Gang, die Abwicklung des Ladens, das Alltagsgeschäft, meine Arbeit. Ich bin viel in Süddeutschland unterwegs. Auf der Fahrt zu einer Schulungsveranstaltung stelle ich erschrocken fest, dass der Wagen in den Kurven und beim Bremsen ausbricht. Die Reifen machen beängstigende und laute Geräusche. In der nächsten Werkstatt findet der Meister schnell heraus, dass die Radmuttern des linken Vorderrades locker sitzen. »Haben Sie beim letzten Reifenwechsel nicht aufgepaßt?« fragt er. »Das hätte schief gehen können.« Ich werde weiß im Gesicht und sage nichts. Die Räder habe ich regelmäßig kontrolliert. Nie waren die Muttern lose. Nach meiner Rückkehr gehe ich zur Polizei und erstatte nicht zum ersten Mal Anzeige gegen Unbekannt. Man macht mir wenig Hoffnungen, den Täter ermitteln zu können. Wie bei den Drohanrufen, den Drohbriefen und dem 142
Sprengstoffanschlag auf unser Geschäft verlaufen die Spuren im Dunkeln. Dass die Polizei meine Vermutung ernst nimmt, hinter allem stecke die Stasi, kann man nicht behaupten. »Was soll ich denn tun?« fragt mich der Beamte, der das Protokoll aufnimmt, etwas gelangweilt. »Benachrichtigen Sie endlich den Bundesnachrichtendienst«, erwidere ich. Aber der Polizist winkt ab. »Das nützt doch nichts. Falls wirklich der DDRStaatssicherheitsdienst seine Finger im Spiel hat, kann auch der BND nichts tun.« Dieser Fatalismus bei den Ordnungshütern, die das eigene Leben schützen sollen, macht mich mutlos. Ist die Bundesrepublik denn hilflos den Angriffen der Stasi ausgeliefert? Wozu hat sie einen eigenen Geheimdienst, wenn sie gegen die Stasi nichts unternehmen kann? Und was muss uns denn noch alles zustoßen, bis die Polizei ernsthafte und nicht nur Proforma-Ermittlungen veranläßt? Dann wird in einer Sommernacht des Jahres 1985, nachdem das ZDF Mit dem Wind nach Westen wiederholt hat, die Schaufensterscheibe unseres Geschäftes eingeworfen. Es passiert nicht zum ersten Mal. Längst hat die Versicherung den Vertrag gekündigt, und wir müssen den Schaden aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Polizeibeamten protokollieren den Schaden, nehmen die Anzeige auf und zucken fast sichtbar mit den Schultern. Es ist Alltag für sie, beruflicher Alltag. Für uns nicht. Der zeitliche Zusammenhang mit der Fernsehwiederholung des Filmes über unsere Flucht läßt uns an einem Dummejungenstreich zweifeln. »Man sollte ja glauben, dass Sachbeschädigungen auf diesem Niveau eher von kleinen Jungen als von den gedungenen Schurken eines Geheimdienstes begangen werden«, meint Doris. »Andererseits paßt es zu der Taktik, die sie uns gegenüber gewählt haben: ständige kleine Nadelstiche und Bedrohungen.« Dass Thomas etwas mit dem Anschlag zu tun haben könnte, glauben wir nicht. 143
An einem der nächsten Wochenenden besuchen uns Thomas und Brunhild Dietrich. Die Stimmung zwischen ihnen ist gereizt, sie reißen sich spürbar zusammen. Doch nach einigen Gläsern Wein beginnt Brunhild zu sticheln. Thomas reagiert nicht. Ich versuche, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, doch Brunhild antwortet nur kurz und läßt ihren Mann nicht aus den Augen. Dann bricht es aus ihr heraus. »Glaubst du, ich merke nicht, wie du mich nach Strich und Faden betrügst?« »Was willst du?« wehrt Thomas ab. »Es ginge uns prima, wenn deine ewige Eifersucht nicht wäre!« Doris sieht mich entsetzt an. Es hat uns gerade noch gefehlt, dass Dietrichs ihren Ehestreit bei uns austragen. Aber auf uns hören sie jetzt nicht mehr. Brunhild sieht Thomas voller Haß an und zischt zwischen den Zähnen hervor: »Gegen Geld verrätst du doch deine eigene Mutter.« Wir horchen auf und sind zugleich peinlich berührt. Auf was spielt Brunhild an? Nicht nur Ehebruch, auch noch Verrat? Als sich Brunhild fluchend auf Thomas stürzt, können wir beide nur mit Mühe trennen. »Sie war angetrunken«, sage ich zu Doris, nachdem beide gegangen sind. »Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit«, erwidert sie. Aber was ist die Wahrheit? Eifersucht war wohl im Spiel und löste den Streit offenbar aus. Danach spielte Brunhild jedoch auf einen finanziell lukrativen Verrat an. Wir können uns darunter nur eine Stasi-Mitarbeit von Thomas vorstellen. Die Indizien verdichten sich. Beiläufig warnt uns Dr. Zeller in diesen Tagen davor, Thomas Dietrich zuviele Informationen über den Vergleich und unsere persönlichen Angelegenheiten anzuvertrauen. »Ich kann nicht genau sagen, warum, aber ich habe kein gutes Gefühl, was Ihren Freund angeht«, sagt er. Thomas hätte ihn einige Male angerufen und sich sehr eingehend nach dem Stand des Vergleichsverfahrens erkundigt. »Ich habe ihm aber keine Details anvertraut«, betont Dr. Zeller schnell. »Als 144
Geschäftsführer des Ladens hat er ohnehin Zugang zu allen Unterlagen«, entgegne ich. »Er hätte sich gar nicht bei Ihnen erkundigen müssen.« Wir überlegen, ob wir den Laden nach erfolgreichem Vergleich weiterführen sollen. Schließlich sind wir dann schuldenfrei. Aber Doris möchte nicht mehr. Gerade in letzter Zeit hat sie das Geschäft zu viel Nerven gekostet. Dr. Zeller schlägt uns vor, das Unternehmen an Thomas Dietrich zu verkaufen. »Wenn ich mich nicht irre, ist das seit langem sein größter Wunsch.« »Ja, das hat er uns sofort gesagt, als er vom Vergleich erfahren hat«, fällt mir ein. »Aber damals habe ich es als grob empfunden und gar nicht daran gedacht, ihm das Geschäft auf dem Silbertablett zu überreichen.« »Bieten Sie ihm das Geschäft an«, empfiehlt Zeller, »auf dem Silbertablett soll er es nicht bekommen. Sorgen Sie dafür, dass Dietrich alle noch ausstehenden Verbindlichkeiten übernimmt.« Doris und mich regt die Unverfrorenheit unseres Geschäftsführers kaum noch auf. »Er hat versucht, uns übers Ohr zu hauen, und jetzt fällt ihm der Laden wie ein reifer Apfel in den Schoß«, sagt Doris. »Mag sein«, erwidere ich. »Aber es sollte uns jetzt egal sein. Das Wichtigste ist, dass wir die Schulden los sind und wieder frei atmen können.« In der Zwischenzeit habe ich ein lukratives Angebot von der Firma Engel erhalten, die einen Mitarbeiter für die Schweizer Niederlassung sucht. Engel in Nürnberg will mich nur gehen lassen, wenn ich einen Ersatzmann stelle. Mir fällt Walter Müller ein, mit dem ich bei der Kraftwerksunion das Büro geteilt habe. Müller ist gerade arbeitslos und dankbar für die Vermittlung. Das Vorstellungsgespräch im schweizerischen Liestal verläuft nach Erwarten, und zur Vertragsunterzeichnung fehlt nur noch die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung von der Fremdenpolizei. Das ist uns recht. Vor der Übersiedlung in die 145
Schweiz wollen wir den Laden in Bad Kissingen abwickeln. Wir sind glücklich über die neuen Aussichten. »Das ist ein zweiter Neuanfang im Westen«, sagt Doris. Uns allen wird es guttun, nach der anstrengenden Zeit wieder in geregelten Verhältnissen zu leben und Abstand zu dem nervlich belastenden Vergleichsverfahren sowie zu Thomas Dietrich zu bekommen. Auch für die Stasi werden wir wohl in der Schweiz weniger interessant sein. Alle unsere Probleme scheinen sich schlagartig zu lösen. Die Beamten der Schweizer Fremdenpolizei arbeiten schnell. Schon nach zwei Wochen erhalten wir die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen. Mitte September 1985 beginne ich mit meiner neuen Arbeit. Das Vergleichsverfahren für unser Geschäft ist fast beendet. Thomas Dietrich wird es übernehmen und denkt schon an Erweiterungen. Er will Getränkeautomaten in Schulen und Verwaltungen aufstellen. »Damit kann man das Finanzamt am besten umgehen«, meint er. »Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass du vor allem daran denkst«, sage ich trocken. »Du hast doch selbst erlebt, dass der Laden nicht genug abwirft«, rechtfertigt sich Thomas. »Ich muss von Anfang an lohnende Nebengeschäfte einplanen.« Thomas kennt nur noch ein Thema: das Geld. Schon in der DDR hat er keine Gelegenheit ausgelassen, ein paar Mark nebenbei zu verdienen. Im Westen ist diese Gier beherrschend geworden. Ich bin froh, dass wir bald nicht mehr täglich miteinander zu tun haben. Ende 1985 ist es schließlich soweit. Wir haben den Vergleich erfüllt. Thomas Dietrich übernimmt den Laden und alle noch offenen Rechnungen. Im Januar 1986 ziehen wir mit Doris' Mutter in die Schweiz. Die Firma hat eine sehr schöne Wohnung für uns gemietet. Fitscher findet sich rasch in seiner neuen Lehrstelle und der Berufsschule ein; die Probleme mit dem Schweizerdeutsch überwindet er schnell. Doris genießt 146
ihre wiedergewonnene Freiheit. Endlich haben wir an den Wochenenden wieder Zeit, etwas gemeinsam zu unternehmen. Wir fühlen uns so unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Alle Ängste sind in Deutschland zurückgeblieben.
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Diener fremder Herren Der Spitzeleifer von Thomas Dietrich ist groß. Seine von Doris Strelzyk geschätzte konzentrierte Arbeitsweise zeichnet auch »Karl Diener« aus, nur Dietrichs zurückhaltende Art hat der IM hinter sich gelassen. Sie wäre auch hinderlich bei seiner Spitzel-Tätigkeit. »Dieners« Akte in der Gauck-Behörde ist prall gefüllt mit den Auswertungen seiner Berichte. Er übermittelt alles, was die Stasi nur im Entferntesten interessieren könnte. Selbst dilettantische Grundrißzeichnungen des Ladens und der Wohnung von Familie Strelzyk sind unter den Papierbergen. »Karl Diener« erhält für seine Informationen jeweils Vergütungen in Höhe von einigen hundert bis über tausend DMark. Die Stasi schätzt seine Zuträgerdienste. Oberstleutnant Gerd Held von der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) vermerkt zufrieden: »Der IM hat die zu Strelzyk getroffenen Festlegungen strikt durchgesetzt. Es ist einzuschätzen, dass die mit ihm vereinbarten Aufträge erfolgreich realisiert werden.« Wenn Thomas Dietrich seine Eltern in Salzwedel besucht, nutzt er den Aufenthalt stets für Treffen mit den Führungsoffizieren. Die oft acht- bis zehnstündigen Gespräche mit Oberstleutnant Held und Oberstleutnant Geithner werden auf Tonband mitgeschnitten. IM »Karl Diener« berichtet über Strelzyks und ihre Bekannten. Die Stasi ist besonders an Informationen über den CSU-Bundestagsabgeordneten Eduard Lintner interessiert, der sich für die Ausreise von Thomas und Brunhild Dietrich eingesetzt hat. Beide pflegen mit Lintner dank Strelzyks privaten Kontakt, so dass »Diener« den Wissensdurst der Stasi stillen kann. Wiederholt berichtet »Diener« über Doris Strelzyks Mutter Else Glaser. Sie ist bei einem DDR-Besuch im September 1984 von einem Stasi-Mitarbeiter »kontaktiert« worden; wahrscheinlich handelt es sich um den ihr bekannten Major 148
Stephan. »Diener« berichtet, dass Else Glaser nach der Rückkehr mit Doris und Peter Strelzyk über die Begegnung mit dem Stasi-Mitarbeiter gesprochen habe. Er habe sie gefragt, erzählt Else Glaser, ob ihr Schwiegersohn »nicht um sein Leben Angst hätte«. Else Glaser ängstigt sich daraufhin nachhaltig und ist mehrere Wochen krank. Sie reist nie wieder in die DDR, obwohl sie ihren Sohn Kurt gern wiedergesehen hätte. Major Stephan korrigiert übrigens in einem Vermerk zu dem Bericht von »Diener«, der operative Mitarbeiter habe Else Glaser gefragt, »ob der Strelzyk, zumal er nur Schulden kennt und über kein eigenes Geld verfügt, er nicht die Lust am Leben verliert«. Wahrscheinlich wollte die Stasi Strelzyks durch die Kontaktaufnahme zu Else Glaser einschüchtern, nicht durch eine ausdrückliche Drohung. Peter Strelzyk, berichtet »Diener«, hätte den Bundesnachrichtendienst von dem Erlebnis seiner Schwiegermutter in Kenntnis gesetzt. »Diener« suggeriert, dass Strelzyk in kontinuierlicher Verbindung zum BND steht. Auch hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter unterstellen in zahlreichen Berichten enge Kontakte von Strelzyks zum bundesdeutschen Nachrichtendienst. Tatsächlich beschränkt sich die Informationsweitergabe auf diesen einen Fall, in dem sich Peter und Doris Strelzyk Sorgen um Else Glaser machen. Im Sommer 1985 ist die Stasi mit der Arbeit von »Diener« höchst zufrieden: »Zur Auftragsrealisierung ist einzuschätzen, dass der IM die gestellten Aufgaben erfüllt hat und Voraussetzungen für die weitere operative Bearbeitung bzw. Kontrolle der feindlichen Kräfte Strelczyk, Peter [...] schuf. Mit dem IM wurde vereinbart, dass er die Verbindung zu den dem MfS interessierenden Personen weiter festigt.« Der »Fall Strelzyk« bindet viele Kräfte im Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Die Treffen mit dem IM werden nicht nur ausführlich nach-, sondern auch ausgiebig 149
vorbereitet. Oberstleutnant Held verfaßt am 27. Dezember 1985 eine umfangreiche »Treffkonzeption« für die nächste Begegnung mit IM »Karl Diener«, die für den 5. Januar 1986 geplant ist: »Der IM berichtet über die weitere Entwicklung des STRELCZYK, Peter seit dem letzten Treff im Juni 1985. Es werden alle Details der weiteren Entwicklung des Str. in persönlicher und beruflicher Hinsicht festgehalten.« Die Stasi erteilt dem IM den Auftrag, »das Wohnobjekt des Strelzyk in Liestal gründlichst aufzuklären, bestehende Zahlungsverpflichtungen gegenüber Schweizer Banken und anderen Geldinstituten festzustellen und jegliche Unstimmigkeiten mit den Schweizer Behörden detailliert zu ermitteln«. Außerdem soll Dietrich/»Diener« über die Gründe des Arbeitsplatz- und Wohnortwechsels in die Schweiz Bericht erstatten und die Kontakte zu Gerd-Michael Schmitt, Robert Andreas und Walter Müller beobachten. Am wichtigsten scheint es der Stasi nach wie vor zu sein, Peter Strelzyk Verbindungen zu »feindlichen Kräften« nachzuweisen. Auch das ist Gegenstand des neuen Auftrags an den IM. Ständige Verbindung zu seinen Führungsoffizieren soll er über IM »Sylvia« in Bad Kissingen halten. 1500 Mark werden »Karl Diener« für Auslagen überreicht. Dokumentiert ist ein weiteres Treffen des IM »Karl Diener« mit Mitarbeitern der ZKG am 10. November 1986, das in Neustadt/Orla stattfindet. Das Gros dieses »Treffberichtes« ist allerdings aus Datenschutzgründen von der Gauck-Behörde geschwärzt worden. Lesbar bleibt Dietrich/»Dieners« Einschätzung, dass der Kontakt von Peter Strelzyk zu Schmitt, Andreas und Späth im Streit abgebrochen sei. Einzig zu Walter Müller bestehe noch eine Verbindung, die aber rein persönlicher und nicht politischer Natur sei. »Karl Diener« fährt mit dem Auftrag nach Hause, seine Tätigkeit in gewohnt bewährter Weise fortzusetzen. Einem alten Agentenfilm entnommen erscheint die folgende An150
weisung des Führungsoffiziers: »Der nächste Treff mit dem IM findet am 20.3.1987 um 13.00 Uhr in Berlin statt. Der IM erscheint in der Nähe der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz und läuft hinter dem Mitarbeiter unter zwischenzeitlicher Nutzung der U- bzw. S-Bahn (eine Station) bis zu dem ihm bekannten PKW unauffällig nach.« Kontinuierlich, aber weniger umfangreich als Thomas Dietrich berichtet Walter Müller alias IM »Flug« über Peter Strelzyk und seine Bekannten. Müller fährt in regelmäßigen Abständen nach Budapest, um dort seinen in der DDR lebenden Sohn zu treffen - und seine Führungsoffiziere. In den Stasi-Unterlagen findet sich eine kurze Notiz aus dem Jahr 1988, die neben zwei Aufgaben für IM »Flug« die Bewertung enthält: »Der Treff mit dem IM >Flug< war langfristig geplant und verlief ohne Zwischenfälle.« Müller soll die Stasi weiterhin vor allem über Peter Strelzyk, Gerd-Michael Schmitt und Friedemann Späth auf dem Laufenden halten. Er erhält 1500 D-Mark als Honorar sowie Übernachtungs- und Reisespesen. Ein nächstes Treffen wird für den 14. September 1988 in Budapest vereinbart. Doch die politische Entwicklung in Osteuropa bringt es mit sich, dass die »Feindperson Strelzyk« für die Stasi erheblich an Bedeutung verliert. Schon bald wird man im MielkeMinisterium mehr damit beschäftigt sein, alte Akten verschwinden zu lassen als neue zu erstellen.
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Neubeginn in der Schweiz Seit wir nach Liestal übergesiedelt sind, fühlen Doris und ich uns wie neugeboren. Endlich sind wir die materiellen Sorgen der letzten Jahre los, endlich haben wir wieder Zeit füreinander. Auch die Bedrohung und Verfolgung durch die Stasi hoffen wir in der neutralen Schweiz hinter uns gelassen zu haben. Ich arbeite mich problemlos ein und habe schnell einen Kundenstamm für Engel aufgebaut. Zwei Wörterbücher trage ich immer bei mir, eines für Französisch, eines für Italienisch. Doris begleitet mich hin und wieder und nutzt die Gelegenheit, die kleine Alpenrepublik kennenzulernen. Meistens bin ich aber allein unterwegs, weil sich Doris um Mutter und Fitscher kümmert. Einmal im Quartal fahre ich zum Hauptwerk der Firma nach Österreich, um mit den Kunden die Maschinen abzunehmen. Außerdem finden am Stammsitz Schulungen statt. Regelmäßig werde ich an der Grenze herausgewunken und kontrolliert. Der Bundesgrenzschutz hat meine Paßnummer und das Autokennzeichen gespeichert, eine Sicherheitsmaßnahme für gefährdete Personen, wie mir Eduard Lintner erzählt hat. Manchmal muss ich den Wagen auf eine Rampe fahren, damit er von unten untersucht werden kann. Oft überlege ich während der Wartezeit, was wohl passieren würde, wenn die Stasi Waffen oder Rauschgift ins Auto geschmuggelt hätte. Der Wagen steht schließlich immer im Freien. Wie in der Bundesrepublik kontrolliere ich vor jeder Fahrt ins Ausland den Kofferraum, greife unter die Sitze, sehe unter die Fußmatten. Nie werde ich fündig. Darüber sollte ich eigentlich froh sein. Doch es stürzt mich nur tiefer ins Grübeln. Vielleicht sehe ich inzwischen überall Verfolger, auch dort, wo gar keine sind. Ende April 1986 besuchen Brunhild und Thomas Dietrich 152
uns für drei Tage in der Schweiz. Wir fahren mit ihnen nach Zürich und Genf und wandern in unserer neuen Heimat. Sie gefällt ihnen sichtlich. Unser Verhältnis ist distanzierter geworden. Auch Thomas und Brunhild gehen sehr verbindlich miteinander um, das einstige Vertrauen zwischen ihnen ist offenbar erschüttert. Zu Streitigkeiten kommt es diemal nicht. Brunhild erzählt Doris, sie habe sich mit Thomas arrangiert. Sie ist krank und kann nicht mehr arbeiten. »Eine Trennung kommt für mich nicht in Frage«, sagt Brunhild. »Ich spreche nicht mehr über seine Untreue. Dafür erwarte ich, dass er mich materiell absichert.« Als mir Doris von diesem Gespräch mit Brunhild berichtet, bin ich erschüttert. Früher hätte sie nicht klein beigegeben. Brunhild war immer eine fröhliche und couragierte Frau. Thomas ist dagegen ganz der Alte geblieben. Unter vier Augen frage ich ihn, wie der Laden läuft; von sich aus hat er noch kein Wort darüber verloren. Thomas antwortet kurz und abweisend. »Wir schlagen uns so durch. Zum Glück habe ich einige neue Geschäftsfelder aufgetan. Die Getränkeautomaten machen sich bezahlt.« Dann lenkt er ab und will wissen, was ich bei Engel täte, welche Zuständigkeiten ich hätte, wie oft ich unterwegs sei. Aber nun bin ich kurz angebunden. Aus meinen Antworten kann er sich kein Bild machen. Mein Mißtrauen ist geweckt. Ausfragen lasse ich mich nicht, schon gar nicht von Thomas. Wir verabschieden uns freundlich, aber Doris und ich sind uns einig, Dietrichs nicht so bald wieder als Gäste empfangen zu wollen. »Wir sind uns sehr fremd geworden in diesen wenigen Monaten«, stellt Doris fest. Ganz anders verläuft der Besuch meines ehemaligen Kollegen Walter Müller. Er kommt auf der Fahrt nach Budapest vorbei, wo er seinen Sohn trifft, der im thüringischen Rudolstadt wohnt. Mit Walter verstehen wir uns auf Anhieb so gut wie früher. Er ist ein zurückhaltender Mann, sehr 153
freundlich und hilfsbereit. Als er Fitscher an den Ventilen seines Mopeds herumschrauben sieht, hockt sich Walter zu ihm. Unser Leben in der Schweiz verläuft in ruhigen Bahnen. Zum Glück gibt es keinen Anlaß, an die Stasi zu denken. Leider fühlt sich Doris' Mutter in der Schweiz nicht sehr wohl. Sie möchte am liebsten zurück nach Bad Kissingen ziehen, wo ihre Freundinnen und Bekannten leben. Eine Wohnung in Bad Kissingen ist schnell gefunden. Dass Else uns verläßt, gefällt uns zwar nicht, doch auch sie soll sich wohl fühlen. Den anderen gefällt es in der Schweiz: Fitscher, der in seiner Lehrzeit bei uns lebt, hat sich gut eingelebt, macht den Führerschein und spart für ein gebrauchtes Auto. Wenn er seine Eltern ärgern will, spricht er schnell und flüssig Französisch. Er hat die Sprache in bemerkenswert kurzer Zeit gelernt, und wir beide können ihm nicht folgen, wenn er parliert. Doris' Mutter lebt sich in Bad Kissingen schnell wieder ein. Regelmäßig besuchen Brunhild und Thomas Dietrich sie und erkundigen sich eingehend nach uns. »Neulich waren sie besonders daran interessiert zu erfahren, wohin ihr im Urlaub fahrt. Aber ich habe gesagt, dass ich es nicht weiß«, erzählt Else am Telefon. »Mutter versteht sich gut darauf, freundlich zu Leuten zu sein, ohne ihnen etwas anzuvertrauen, was sie besser nicht wissen sollten«, sagt Doris anschließend. Am 5. Dezember wird Else 74. Doris schickt Blumen, da wir erst am darauffolgenden Wochenende nach Bad Kissingen fahren können. Am Tag vor der Abreise ruft Doris mehrere Male bei Mutter an, doch niemand hebt den Hörer ab. Als sie schließlich in ihrer Verzweiflung bei der Polizei nachfragt, wird sie an den Hausarzt von Else Glaser verwiesen. Er teilt Doris mit, dass ihre Mutter in den frühen Morgenstunden an einem Herzversagen gestorben ist. Wir sind fassungslos. Wir übernehmen die traurigen letzten Liebesdienste. Kurt, 154
dem Bruder von Doris, schicken wir ein amtlich bestätigtes Telegramm in die DDR, damit er zur Beerdigung kommen kann. Am Abend vor der Bestattung ruft Kurt an und sagt weinend, dass er keine Reisegenehmigung erhalten habe. Ohne ihn stehen wir am Grab von Mutter. Wir wollten ihren Geburtstag feiern, und nun nehmen wir für immer von ihr Abschied. Knapp zwei Monate später wird unser erster Enkel Sebastian geboren, auf den sie sich so sehr gefreut hatte. In unserem Gastland fühlen wir uns sehr wohl und nutzen die Nähe zu Frankreich zu vielen Ausflügen. Dennoch ziehen wir bald aus der Schweiz in die Bundesrepublik. Wenige Meter hinter der Grenze in Rheinfelden profitieren wir von den niedrigeren Lebenshaltungskosten in Deutschland und sind den Arbeitsstellen in der Schweiz doch nah. Im Frühjahr 1987 sprechen wir in Rheinfelden mit einem Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes. Herr Metzger, ein seriös wirkender, etwas dicklicher Endvierziger, gehört nicht zu den Menschen, die gleich mit der Tür ins Haus fallen. »Ich kann mich gut an die Berichte über ihre Ballonflucht erinnern«, erzählt er im Plauderton. Unser Mut hätte ihn beeindruckt. Auch den Film habe er gesehen. Später kommt er dann doch noch zu seinem Anliegen. Es überrascht uns kaum. Welchen Kontakt wir in der DDR zu den Dietrichs hatten, möchte der BND-Mann wissen, wie die Beziehung zu ihnen heute aussehe und vieles mehr. Auf unsere Fragen weiß er nichts zu antworten. Es gebe »gewisse Verdachtsmomente«, dass Thomas Dietrich Kontakte zum DDR-Staatssicherheitsdienst unterhalte. Doch fehle es an Beweisen. Herr Metzger warnt uns eindringlich davor, eine der Transitstrecken nach West-Berlin zu benutzen, auch von Reisen nach Ungarn oder Jugoslawien rät er ab. Ohnehin hätten wir weder das eine noch das andere getan. Dass die DDRStaatsmacht uns immer noch umgehend festnehmen würde, wenn sie nur die Gelegenheit dazu erhielte, ist uns beiden klar. 155
In der DDR gärt es zunehmend. Friedensdemonstranten gehen auf die Straße. Der Ruf nach Freiheit und Demokratie wird lauter, seit Michail Gorbatschow Perestroika und Glasnost ausgerufen hat. Erich Honecker aber will nun nichts mehr von der alten Losung wissen, wonach von der Sowjetunion lernen siegen lernen heiße. »Die Einheit der Massen mit der Partei war noch nie so stark wie heute. Das Volk steht hinter der Partei«, lautet das Credo des greisen Unbelehrbaren. Als er am 7. September in Bonn von Bundeskanzler Kohl empfangen wird, hat Frank eine blendende Idee: »Schicken wir ihm doch ein Telegramm und laden ihn zu einer Ballonfahrt ein.« Dass uns Honecker mit den Freuden der Ballonfahrt bekannt gemacht hat, verbindet eben in ewiger Dankbarkeit. Mai 1989. Gespannt verfolgen wir im Fernsehen die Ereignisse in der DDR. Wie im Zeitraffer verändert sich der Osten. Immer mehr Menschen, vor allem junge, verlassen die DDR. Zu Tausenden suchen sie Zuflucht in den Botschaften der Bundesrepublik in Prag und in Budapest. Wir können es kaum fassen. Bis tief in die Nacht sitzen Doris und ich vor dem Fernseher, um diese vor kurzem noch unvorstellbaren Bilder nicht zu versäumen. »Die DDR ist endlich am Ende«, jubele ich. Seit unserer geglückten Ballonlandung waren wir nicht mehr so euphorisch. Nach langer Zeit treffen wir die Wetzels wieder. Aus Anlaß des zehnten Jahrestages unserer Ballonflucht sind wir einige Tage vor dem 16. September in den Fernsehtalkshows von Günter Jauch und Dieter Thomas Heck zu Gast. Beide Male sitzen wir anschließend lange in einem Lokal zusammen, und fast jeder Satz beginnt mit: »Weißt du noch ...?« In den letzten Jahren haben wir ab und zu miteinander telefoniert, aber keinen engen Kontakt gehalten. Die Sympathie war vorhanden, nur der Altersunterschied zwischen uns wohl zu groß. Der Jahrestag der Ballonflucht beflügelt uns alle ebenso wie die aufregende Massenflucht über die bundesdeutschen 156
Botschaften. Wetzels glauben wie wir, dass die Grenze bald fallen wird. Den 16. September 1989, an dem sich die Flucht zum zehnten Mal jährt, feiern wir im Familienkreis. Gegen Abend ruft ein Reporter des Sender Freies Berlin an und bittet um ein Telefoninterview. Wie ich die aktuelle Entwicklung in der DDR beurteile, will er von mir wissen. »Wir stehen kurz vor der deutschen Wiedervereinigung«, antworte ich. Der Reporter lacht und meint: »Vielleicht haben die Strelzyks den zehnten Jahrestag ihrer Flucht schon kräftig begossen.«
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Spitzeldämmerung Die politischen Ereignisse im Sommer und Herbst 1989 lösen nicht nur in Ost-Berliner Regierungsgebäuden Bedenken oder gar Angst aus. Auch in Bad Kissingen verspürt mindestens ein Mensch keine Freude beim Anblick der Flüchtlinge und Demonstranten. IM »Karl Diener« trifft sich kurzfristig mit seinen Führungsoffizieren. Ein Honorar für seine Informationen über Familie Strelzyk erhält er diesmal nicht. Auch im Ministerium für Staatssicherheit hat man mittlerweile bemerkt, dass sich der real existierende Sozialismus größerer Feinde als eines Peter Strelzyks erwehren muss. Dennoch läßt die Stasi nicht von erprobten bürokratischen Verfahren. Über das Treffen mit IM »Karl Diener« wird ein Protokoll verfaßt und zu den Akten genommen: »Wir danken IM >Karl Diener< für seine langjährigen Informationen. >Karl Diener< wurde bei dem Gespräch in dem Glauben gelassen, dass die von ihm dargestellten Zusammenhänge zu den Personen Peter Strelzyk und Friedemann Späth neue Erkenntnisse für das MfS darstellen. Damit soll erreicht werden, dass der IM zu der Auffassung gelangt, Personen aus der BRD belastet zu haben.« Das ist eine späte kritische Bewertung des fleißigen Inoffiziellen Mitarbeiters. All die langen Berichte über Familie Strelzyk, die mühselig gesammelten Informationen über ihre Kontakte, Reisen und Pläne sollen keine »neuen Erkenntnisse« gewesen sein? Dennoch läßt die Stasi Dietrich glauben, gute Arbeit geleistet zu haben. Der Spion wird bei der Stange gehalten. Er könnte sich ja noch als brauchbar erweisen. Thomas Dietrich verspürt zunehmend Angst, dass seine Spitzeltätigkeit bekannt werden könnte. Einige Tage nach dem Treffen mit den Stasi-Offizieren ruft er über IM »Sylvia« seinen Führungsoffizier, Oberstleutnant Held, an und fragt, was mit seinen Aufzeichnungen geschehen werde, falls die DDR 158
zusammenbrechen sollte. Held beruhigt IM »Karl Diener« und verspricht für diesen unwahrscheinlichen Fall die rechtzeitige Vernichtung der Akten. Es kommt anders. Bevor die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes auch nur einen Bruchteil der in Jahrzehnten gesammelten Dossiers und Unterlagen durch den Reißwolf gejagt haben, stürmen empörte Bürgerinnen und Bürger die Räume der Mielke-Behörde in der Ost-Berliner Normannenstraße und in den Bezirken der DDR. Die Tonnen sichergestellter Akten voller Spitzelberichte tragen in der folgenden Zeit Licht in das Dunkel von Mißtrauen und Verrat. Die bekannte Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger etwa muss erfahren, dass sie jahrelang vom eigenen Ehemann bespitzelt wurde. Sekretärinnen in Bonner Ministerien hatten sich auf Beziehungen zu Stasi-Mitarbeitern eingelassen und Informationen ausgeplaudert - manche von ihnen wohl ahnend, dass das starke Interesse des Geliebten an dienstlichen Angelegenheiten mit Anteilnahme an ihrem Leben wenig gemein hat. Viele von ihnen sind nun doppelt gedemütigt. Der Liebhaber ist verschwunden, während sie als Verräterinnen und als Verratene dastehen. Unter all den Akten mit ihren oft tragischen Schicksalen finden sich auch die Berichte von Thomas Dietrich, Walter Müller und anderen über Familie Strelzyk und ihre Freunde. Als Opfer können Strelzyks bei der Gauck-Behörde einen Antrag auf Einsicht in die sie betreffenden Akten stellen. Sie tun es sofort, zögern dann jedoch angesichts des Papierbergs, der sie erwartet. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist schwierig und schmerzlich. Sie schafft jedoch auch Klarheit, wo zuvor nur ein Verdacht war. Eine langjährige Freundschaft zerfällt endgültig zu Nichts. Jedes Wort, jede Geste erhält im Nachhinein einen bitteren Beigeschmack.
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Die Grenze fällt Im Herbst 1989 überschlagen sich die Ereignisse. Tausende von DDR-Bürgern verlassen ihr Land via Ungarn in Richtung Westen. Die Besetzer der bundesdeutschen Botschaftsgebäude in Prag und Budapest können in den Westen ausreisen, nachdem sich Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Ost-Berlin für sie eingesetzt hat. DDR-Staats-und Parteichef Erich Honecker tritt im Oktober von seinen Ämtern zurück. Nun ist für jeden sichtbar, dass das realsozialistische System der DDR abgewirtschaftet hat und sein Zusammenbruch nur noch eine Frage von Wochen ist. Am 9. November 1989 gibt Politbüro-Mitglied Günter Schabowski überraschend und eher beiläufig auf einer abendlichen Pressekonferenz die sensationelle Nachricht bekannt, dass jeder DDR-Bürger künftig ohne Voraussetzungen ein Visum für eine sogenannte »ständige Ausreise« beantragen und über alle Grenzübergänge zur BRD und zu West-Berlin ausreisen könne. Der Beschluß der DDRRegierung soll erst am nächsten Tag, dem 10. November, in Kraft treten und die »Bruderstaaten« Ungarn und Tschechoslowakei entlasten, über die viele tausend DDR-Bürger ausgereist sind. Doch die Ost-Berliner wollen nicht erst ruhig schlafen gehen, um am nächsten Tag ein Visum zu erbitten und dann noch einmal zu warten. Sie strömen zur Mauer und drängen die völlig überraschten Grenzer beiseite. Tausende von DDR-Bürgern werden im Westen begeistert empfangen, wandern staunend über den Kurfürstendamm und kehren freiwillig zurück. Unsere Verwandten lassen nicht lange auf sich warten. Meine Schwester Maria und ihr Mann Horst sind eine Woche nach der Grenzöffnung in Rheinfelden. Es ist ein bewegender Augenblick, als wir ihnen die Tür öffnen. Zehn Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. 160
Die Jahre gingen nicht spurlos an uns vorüber, und wir müssen uns erst an den Anblick des anderen gewöhnen. Maria ist an Krebs erkrankt, aber sie klagt nicht. »Lange Zeit sind wir von vielen in Pößneck schief angesehen worden, vor allem nach den Monaten im Gefängnis«, sagt Horst. »Nur enge Freunde trauten sich, uns auf eure Flucht anzusprechen. Es ist viel darüber spekuliert worden, wer euch damals geholfen hat. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass ihr den Ballon allein gebaut habt.« Maria und Horst hoffen, dass nun auch für sie bessere Zeiten anbrechen. Bei uns gefällt es ihnen sehr. »Was für eine wunderbar reine Luft«, schwärmt Maria am Morgen nach ihrer Ankunft. Dass wir saftige Wiesen, Wald und Berge fast vor der Haustür haben, beeindruckt sie sehr. Wir fahren mit ihnen auf den Sankt Bernhardino. Vom Gipfel genießen wir die Fernsicht. »Das alles hat man uns so lange vorenthalten«, sagt Horst mit Tränen in den Augen. Maria strahlt begeistert und sagt: »Ich möchte am liebsten gleich dableiben.« »Aber du kannst jetzt doch jederzeit wiederkommen«, entgegne ich meiner Schwester. Beide schauen mich erstaunt an. »Du hast recht, Peter«, sagt Horst. »Wir müssen uns erst noch an den Gedanken gewöhnen, reisen zu dürfen, wohin wir wollen.« Als Maria und Horst nach zwei Tagen ihre Rückreise nach Pößneck antreten, laden sie uns für Januar nach Pößneck ein. Drei Wochen nach ihnen kommen Doris' Bruder Kurt und seine Frau zu uns. Zum ersten Mal kann Kurt das Grab seiner Mutter besuchen. »Hätte ich doch nur ein paar Jahre früher fahren können, um Mutter noch lebend zu sehen«, sagt er traurig. Im Januar 1990 fahren Frank, Andrea, Sebastian und Fitscher nach Pößneck. Im Altenburgring treffen sie einen jungen Mann, der ihnen erzählt, dass er unser altes Haus gemietet 161
habe. Als Frank erwidert, dass wir versuchen würden, unser Eigentum zurückerstattet zu bekommen, hat er plötzlich keine Zeit mehr. Doris und ich fahren Ende Januar zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren nach Pößneck. Je näher die Grenze rückt, desto aufgeregter werden wir. Die Zäune und Absperranlagen stehen noch. Bei der Paßkontrolle zittern mir die Hände. »Führen Sie Waffen oder Munition mit sich?« fragt der Volkspolizist. Was für eine absurde Frage, denke ich mir. Nein, bin ich versucht zu antworten, viel besser: Wir sind die Ballonflüchtlinge Strelzyk. Wollen Sie uns nicht verhaften? Aber ich halte den Mund. Der Grenzpolizist erwartet ohnehin keine Antwort. Eingespielte Routine hält ihn auf den Beinen. Er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Wir erhalten unsere Pässe und dürfen weiterfahren. Wir sind wieder dort, von wo wir einst aufgebrochen waren. Die altvertraute Autobahn liegt unter unseren Reifen, zusammengefügt aus gleich großen Betonplatten, zwischen denen ein Spalt klafft. In regelmäßigen Abständen knallt es leise, der Wagen ruckt, und die Federung quietscht. Die Luft wird von Kilometer zu Kilometer schlechter. Es riecht nach verbrannter Braunkohle. Der Geruch ist vertraut und unangenehm zugleich. Dann sehen wir Pößneck vor uns. Doris schweigt, ich auch. Erst nachdem wir das alte Ortsschild passiert haben, sagt sie: »Sieh nur, wie rußig die Häuser sind!« Die gleichmäßig schwärzliche Färbung der Häuser sticht ins Auge. Alles ist düster, nicht ein Farbtupfer heitert die lange Reihe der Häuser auf. Statt dessen bröckelt überall der Putz. »Früher hat es nicht viel besser ausgesehen«, sage ich. »Aber früher hatten wir keinen Vergleich und waren daran gewöhnt«, entgegnet Doris. »Willkommen in der alten Heimat«, ruft Thomas, der Sohn von Maria und Horst. Ich stutze. In der Heimat fühle ich mich nicht, alles ist vertraut und doch fremd. Erst die guten 162
Thüringer Klöße, die Maria zubereitet hat, lassen mich in Pößneck ankommen. »Zieht ihr wieder zurück?« möchte Maria wissen. Aber darauf wissen Doris und ich keine Antwort. »Wir wollen das Haus gerne zurückerhalten, wenn es möglich ist«, sage ich. Aber nach Pößneck ziehen, es bewohnen? Vielleicht, wenn sich die Verhältnisse geändert haben. »Im Moment ist Pößneck kein sehr anziehender Ort«, fahre ich fort. Horst versteht mich gleich. »Wenn ich an Rheinfelden und die Nähe zur Schweiz denke, kann ich euch gut verstehen.« Die Nacht ist furchtbar. Doris wacht schreiend aus einem Alptraum auf: Polizisten hatten uns in Handschellen gelegt und abgeführt. Auch ich habe mich unruhig hin- und hergeworfen. »Pößneck macht Angst«, stelle ich überrascht fest. Die Vergangenheit nagt an uns. Schließlich stehen wir auf, rauchen und reden miteinander. »Meinst du, wir können hier jemals wieder leben?« fragt Doris und schüttelt sich. »Es wird sich vieles ändern«, sage ich. »Im Moment ist noch alles grau und verfallen, aber das bleibt auf keinen Fall so. Und die DDR wird in kürzester Zeit von der Landkarte verschwunden sein.« Am nächsten Tag gehen wir zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren durch die Innenstadt von Pößneck. Es scheint keinen zu geben, der uns nicht erkennt. Jeder mustert uns. Manche schauen gleich weg, andere drehen sich um und starren, sobald wir an ihnen vorüber sind. Getuschel liegt in der Luft. Es ist, als kämen wir von einem anderen Planeten. Glücklicherweise treffen wir einige Freunde von früher. Das Ehepaar Werner und Uta Herold, mit denen wir vor der Flucht oft zusammen waren, lädt uns zu sich ein. »Ihr seid Rebellen«, sagen sie. »Eure Ballonflucht hat damals für einen unglaublichen Wirbel gesorgt.« »Und warum schauen heute noch so viele mißtrauisch?« frage ich. »Was weiß ich?« erwidert Werner. »Viele sind neidisch. Die meisten wären doch gerne zu irgendeinem 163
Zeitpunkt aus der DDR abgehauen, aber kaum einer hatte den Mut dazu.« »Natürlich gibt es auch heute noch die Hundertfünfzigprozentigen, die davon überzeugt sind, dass die DDR noch zu retten ist«, ergänzt Uta. Beide haben sicher recht. Nur als Rebellen empfinden wir uns nicht. Nach dem Besuch in Pößneck können wir die Vorzüge unserer neuen Heimat erst richtig schätzen. Unser Haus in Pößneck wollen wir dennoch zurückerhalten. Am 16. Februar 1990 stellen wir beim Rat der Stadt und des Kreises Pößneck einen Antrag auf Rückübertragung unseres Eigentums. Nach einer Eingangsbestätigung, die im April eintrifft, hören wir lange nichts vom Verfahren. Unterdessen überschlagen sich in der Politik die Ereignisse. Die erste demokratisch legitimierte Volkskammer wird am 18. März gewählt, zwei Monate später finden erstmals freie und demokratische Kommunalwahlen in der DDR statt. Wird die DDR als souveräner Staat mit der Bundesrepublik eine Konföderation bilden? Stimmen mehren sich, die die Vereinigung mit der Bundesrepublik wünschen. Bei den schon traditionellen Montagsdemonstrationen in Leipzig und Dresden heißt es nicht länger: »Wir sind das Volk«, sondern: »Wir sind ein Volk«. Und neue Slogans werden gerufen: »Kommt die DMark nicht zu uns, gehen wir zu ihr.« Die Abwanderung von Arbeitskräften aus der DDR in die Bundesrepublik hält an. Die Währungsunion wird beschlossen, Umtauschkurse zwischen Mark und D-Mark werden festgesetzt, und am 1. Juli ist es so weit: Die D-Mark ist alleiniges Zahlungsmittel in beiden deutschen Staaten. Von Woche zu Woche zeichnet sich für uns deutlicher ab, dass der Währungsunion die staatliche Einheit folgen muss. Nachdem die Alliierten in den sogenannten Vier-plus-zwei-Gesprächen ihr Einverständnis gegeben haben, stimmen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der DDR-Volkskammer mehrheitlich dem 164
Einheitsvertrag zu. Am 3. Oktober tritt die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei und hört damit auf zu existieren. Unsere Trauer ist nicht allzu groß. Aber mit dem Ende der DDR hört ihre Geschichte nicht auf. Ihre Hinterlassenschaften sind brisant. Die Offiziere der Stasi haben zwar schon im Spätherbst 1989 damit begonnen, Dokumente zu vernichten. Aber die Reißwölfe bewältigten nur einen Bruchteil der in Jahren angehäuften Spitzelberichte und IM-Verpflichtungen. Als erboste Bürger im Winter 1989/90 die Stasi-Zentralen stürmen, finden sie den größten Teil der Aktenbestände vor; auch eine große Zahl zerrissener Akten wird sichergestellt. Unter den Dokumenten vermuten wir auch jene Papiere, die die Stasi über uns angelegt hat. 1990 beschließt die Bundesregierung, eine eigene Behörde einzurichten, die die Bestände archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen soll. Sie erhält die sperrige Bezeichnung »Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«. Schnell bürgert sich nach ihrem Leiter, dem Rostocker Pfarrer Joachim Gauck, der Begriff Gauck-Behörde ein. Die Opfer erhalten das Recht auf Akteneinsicht. Wir stellen sofort einen Antrag. In dieser Zeit bekomme ich eine neue Arbeitsstelle angeboten: Ein Kunststoffmaschinen-Hersteller sucht einen Außendienstmitarbeiter für technische Beratung und Verkauf in den neuen Bundesländern. Die Aufgabe reizt mich. Es ist ein neues Gebiet, das ich eigenständig aufbauen kann, und dank meiner Herkunft weiß ich, wie mit den Kunden umgegangen werden muss. Ich kann die Stelle sofort antreten, muss jedoch in der Nähe der ehemaligen Grenze wohnen. Das bedeutet Abschied von Rheinfelden und von der Schweiz, wo wir uns so wohl gefühlt haben wie an keinem anderen Ort seit unserer Flucht. »Wenn wir unser Haus in Pößneck bloß schon zurücker165
halten hätten, könnten wir jetzt dort wohnen«, sagt Doris. Aber bisher haben wir nicht einmal einen Bescheid bekommen und wissen nicht, wie lange das Verfahren dauern wird. Wir ziehen nach Bad Neustadt nahe bei Bad Kissingen. Allmählich baue ich einen Kundenstamm in Sachsen und Thüringen auf. Überwiegend habe ich es mit Firmengründern zu tun, die ausführlich beraten werden müssen. Doris begleitet mich oft. Fitscher heiratet seine langjährige Freundin Susanne, zwei Monate nach der Hochzeit kommt Christopher auf die Welt. Die Strelzyk-Familie wächst. Von Thomas Dietrich haben wir lange nichts mehr gehört. Als er erfährt, dass wir wieder in der Nähe wohnen, besuchen er und Brunhild uns an einem Wochenende. Es scheint ihnen gut zu gehen, das Geschäft läuft recht ordentlich. Irgendwann kommen wir auf die Stasi-Akten zu sprechen. Doris und ich warten gespannt auf Thomas' Reaktion. Er gibt sich unbeteiligt. »Nach allem, was zu lesen und zu hören war, sind die Unterlagen wohl vernichtet worden«, sagt er. »Ich glaube, dass sehr vieles sichergestellt wurde«, entgegne ich sofort. Darauf geht Thomas nicht weiter ein. Dietrichs bleiben nicht lange, wir haben uns nicht mehr viel zu sagen. Dann trifft die Nachricht ein, dass wir in der Geraer Niederlassung der Gauck-Behörde Einsicht in unsere Akten nehmen können. »Bringen sie viel Zeit mit«, warnt uns die Mitarbeiterin am Telefon. »Die Unterlagen über ihren Fall sind sehr umfangreich.« Sie hat nicht übertrieben. In Gera stehen wir vor einem übergroßen Tisch, auf dem sich prall gefüllte und ordentlich beschriftete Pappordner türmen. Doris und ich machen große Augen. »Wie sollen wir das alles in ein paar Stunden lesen?« frage ich erschüttert. Wir lassen Kopien von den Akten anfertigen und fahren erst einmal nach Hause. Es ist besser, sich mit diesen Papieren in aller Ruhe auseinanderzusetzen. Nach drei Wochen können wir 25 Kilogramm Aktenkopien 166
abholen. »Es werden wohl einige bittere Enttäuschungen auf uns zukommen«, mahnt Doris, bevor wir mit dem Ordnen und Lesen beginnen. »Wollen wir nicht lieber alles wegwerfen?« »Nein, dazu hätten wir den ganzen Aufwand nicht treiben müssen. Einen Blick in unsere Vergangenheit sollten wir schon riskieren.« Wir lesen oft bis in die Nacht hinein. Bald kommt uns der Gedanke, die Akten ungelesen wegzuwerfen, merkwürdig vor. Es ist unsere Vergangenheit, die uns auf jeder dieser Seiten mit Macht einholt. Aber die Vergangenheit ist in den Akten wie verzerrt. Es ist ein fremdes Leben. Was wir schwarz auf weiß lesen, können wir kaum mit unseren Erinnerungen in Verbindung bringen. Vom »Staatsfeind Strelczyk« ist in den Akten ständig die Rede - das klingt, als ob der Fortbestand der DDR von mir abhängig gewesen ist. Weil wir aus dem real existierenden Sozialismus geflüchtet sind, wurden wir zu Staatsfeinden, die den real existierenden Sozialismus zerschlagen wollten. Die auf uns angesetzten Spitzel werden in den Akten mit Decknamen genannt. Aber wir wissen, wer sich dahinter verbirgt, und die Spitzel wissen wohl auch, dass wir es wissen. Thomas Dietrich meldet sich nicht mehr bei uns. Walter Müller hat bis zum Zusammenbruch der DDR ab und zu bei uns angerufen; jetzt hören wir nichts mehr von ihm. Frank trifft Familie Dietrich zufällig in Bad Kissingen. Brunhild und Thomas tun, als hätten sie Frank nicht gesehen und gehen weiter. Frank spricht Mathias an, mit dem er in Pößneck befreundet war. Während ihres kurzen Gesprächs über die politische Entwicklung wechseln Brunhild und Thomas auf die andere Straßenseite. Ohne dass ihn Frank auf das Thema angesprochen hat, sagt Mathias, die Stasi-Unterlagen seien sicher vernichtet worden. Bei uns melden sich die Dietrichs auch nach diesem Gespräch nicht. »Seltsam, jetzt scheinen sie ein schlechtes Ge167
wissen zu haben. Was dachten sie sich eigentlich in all den Jahren, als Thomas uns bespitzelte?« sagt Doris bitter. Auch Dr. Zeller, unser Anwalt, und Eduard Lintner, inzwischen Staatssekretär, haben die Kopien der Gauck-Behörde eingesehen. Lintner rät uns, den Kontakt zu Thomas Dietrich zu suchen, um auf irgendeine Weise mit der Enttäuschung und der Bitternis umzugehen. »Ihr habt ihm genug Zeit zu einer Reaktion gegeben.« Ein paar Wochen warten wir noch, dann rufe ich Thomas Dietrich in Bad Kissingen an. »Ich würde mich gerne demnächst mit dir treffen«, sage ich so ruhig wie möglich. Thomas schweigt einen kurzen Moment. »Gibt es einen besonderen Grund?« fragt er und klingt nicht gerade erfreut. »Wir haben etwas zu besprechen, Thomas«, erwidere ich. Überraschend schnell willigt er ein. Allerdings frage ich mich, was bei dem Gespräch herauskommen soll und bin ohne Hoffnung. Der einstige Freund ist mir fremder als ein Fremder geworden. Ich treffe Thomas Dietrich in einem Restaurant in Bad Kissingen. Blaß sieht er aus, seine Hände zittern. »Tag«, sagt er kurz, sonst nichts. Keine Entschuldigung kommt über seine Lippen, kein Wort des Bedauerns. Nicht einmal eine Rechtfertigung. Er wartet. Schließlich frage ich, was er sich dabei gedacht habe, seine Freunde jahrelang auszuspionieren und die Informationen an die Stasi zu liefern. Thomas zuckt nur mit den Schultern. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?« frage ich und spüre, wie die Wut in mir hochsteigt. Schließlich macht Thomas doch noch den Mund auf. »Ich gebe dir Geld, wenn du die Klappe hältst«, sagt er. »Über die Summe müssen wir reden. Im Moment habe ich sowieso nichts dabei.« Ich bin fassungslos. »Du sprichst von Geld? Glaubst du, dieser Vertrauensbruch, diese Enttäuschung läßt sich mit Geld aus der Welt schaffen? Du kennst mich schlecht, Thomas. Nicht jeder ist käuflich«, sage ich und verlasse das Restaurant ohne Abschiedsgruß. 168
Die Saale-Zeitung hat durch einen Freund von dem Verrat erfahren. Ein Journalist führt ein Interview mit Doris und mir. Er befragt auch Dietrich, der behauptet: »Strelzyk hat das Gespräch mit mir gesucht, um mich zu erpressen.« Als der Reporter entgegnet, ich hätte doch lange vor dem Treffen mit ihm im Restaurant mit meinem Anwalt und dem Staatssekretär Lintner gesprochen, eine Erpressung sei also äußerst unwahrscheinlich, kommt Dietrich ins Schleudern. Einige Tage, nachdem der Artikel erschienen ist, erhalten wir einen Brief vom Generalbundesanwalt. Er teilt uns mit, dass von der Einleitung eines Strafverfahrens gegen Thomas Dietrich abgesehen werde, da dessen Taten inzwischen verjährt seien. Wir haben uns weder an die Staatsanwaltschaft noch an die Polizei gewandt. Aber wir empfinden es als höchst anrüchig, dass Spitzeltätigkeiten nicht mehr geahndet werden können, zumal die Gauck-Behörde noch längst nicht alle StasiAkten aufgearbeitet hat. Eines Tages rufe ich meinen Ex-Kollegen Walter Müller an. Als er sich mit seinem Namen meldet, sage ich: »Ich hätte gerne den Inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes >Flug< gesprochen.« Müller antwortet: »Ich werde mich erschießen.« Das tut er nicht. Warum sollte er auch? Nach bundesdeutschem Recht müssen Spione nichts befürchten. Die Opfer aber sind noch überhaupt nicht zu Wort gekommen.
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Zähes Ringen mit Einheitsgewinnlern Nach der Eingangsbestätigung für den Rückübertragungsantrag haben wir vom Rat des Kreises Pößneck nichts mehr gehört. Als wir im Sommer 1990 wieder einmal Maria und Horst besuchen, fahren wir zu unserem ehemaligen Nachbarn Achim A. Holzhey am Altenburgring. Er erzählt, dass unser Haus am 8. Mai verkauft worden sei. Wir können es nicht glauben, aber die Information stimmt. Trotz einer Verkaufssperre für Immobilien hat der Pößnecker Bürgermeister Gerhard Reißig Haus und Grundstück veräußert. 33 462 Ost-Mark erhielt er für das Haus, 1302 OstMark für das Grundstück. Reißig ist ein in Immobiliengeschäften versierter Mann: 1976 hat er dasselbe Haus am Altenburgring Doris und mir verkauft. Damals war er ebenfalls Bürgermeister. »Offenbar gelten in der DDR keine Gesetze mehr«, sagt Doris, »jedenfalls für Amtsinhaber.« Dr. Zeller kann uns gar nicht glauben. »So dreist kann der Bürgermeister nicht sein, dass er sich über geltendes Recht hinwegsetzt«, meint er und muss sich vom Gegenteil überzeugen lassen. Der Anwalt legt umgehend Rechtsmittel ein. Wir sind ein wenig beruhigt und hoffen auf einen glücklichen Ausgang. Lange Zeit sieht es nicht danach aus. Nur die Aktenordner füllen sich mit Briefen und Bescheiden. Dann tritt die DDR der Bundesrepublik bei. Wir wenden uns an das Bundeskanzleramt, an die Landesregierung in Thüringen, an die Kommunalverwaltung. Keine Stelle, kein Amt fühlt sich zuständig. Die übernommenen DDR-Verwaltungsangestellten haben sich offenbar schnell mit den Segnungen der westdeutschen Bürokratie vertraut gemacht. Mein Firmenchef drängt mich, nach Pößneck zu ziehen, damit ich nahe bei den Kunden lebe. Wir sind nicht begeistert von der Vorstellung. »Wenn wir schon zurückgehen, dann 170
wenigstens in unser Haus«, sage ich zu Doris. Aber unser Rückübertragungsanspruch ist nach wie vor ungeklärt. Im Sommer 1994 hat das neugegründete Amt für offene Vermögensfragen zwar entschieden, dass wir das Haus zurückerhalten. Doch unsere Freude ist von kurzer Dauer. Der Arzt, der das Haus im Mai 1990 zu einem Spottpreis erworben hat, gibt nicht auf. Er legt Widerspruch ein. Wieder vergehen Monate, dann entscheidet der Widerspruchsausschuß des Landesamtes in Erfurt gegen uns. Die Bürokraten haben nämlich nach genauem Aktenstudium festgestellt: »Gemeinsam mit Ihrer Ehefrau Doris haben Sie das Gebiet der DDR ohne Beachtung der polizeilichen Meldevorschriften verlassen und unterliegen mit Ihrem Vermögen dem § l der AO Nr. 2 vom 20.08.1968 (GBL.S.664).« »Kann denn ein denkender Mensch so einen Unsinn fabrizieren?« empört sich Doris. »Wir hätten also am Tag vor der Ballonflucht brav zur Volkspolizei gehen und uns offiziell aus der DDR abmelden sollen!« Die von Verwaltungsangestellten der DDR durchsetzte Bürokratie nutzt offenkundig die unklare Rechtslage. Nach Ermessen werden mal die DDRGesetzbücher, mal die bundesdeutschen herangezogen. Wir haben das Gefühl, als Täter und nicht als Opfer behandelt zu werden. Voller Dankbarkeit haben wir immerhin inzwischen erfahren, dass das Bezirksgericht Gera die DDR-Haftbefehle gegen Doris und mich aufgehoben hat. Wer weiß, ob wir sonst nicht eines Tages bei einer Rückübertragungsverhandlung aus dem Gerichtssaal heraus verhaftet worden wären. »Sollen wir aufgeben, Doris?« frage ich eines Abends. »Soll ich mir eine andere Arbeit suchen, damit wir nicht nach Pößneck ziehen müssen, immer unser Haus vor Augen, das uns verwehrt bleibt?« »Kommt nicht in Frage«, erwidert Doris. »Eine neue Stelle wirst du nicht ohne weiteres finden. Wir ziehen nach Pößneck, und wir werden unser Haus zurückbekommen.« 171
Also legen wir gegen die Entscheidung des Widerspruchsausschusses Anfang 1996 Klage beim Verwaltungsgericht Gera ein. Bis zur Verhandlung vergehen Jahre. Längst wohnen wir wieder in Pößneck, wenn auch ungern; die Jahre im Westen haben uns geprägt. Unsere Mietwohnung ist nicht allzu weit von unserem Haus entfernt, das vermietet ist. Gerhard Reißig, der geschäftstüchtige ehemalige Bürgermeister Pößnecks, der das Haus gleich zweimal verkauft hat, amtiert dank seines uneigennützigen Rechtsempfindens mittlerweile als Schiedsmann, gewählt vom Stadtrat und verpflichtet vom Amtsgericht. Wir leben uns im Laufe der Zeit wieder ein. Schließlich haben wir beide unsere Jugend und viele Ehejahre in Pößneck verlebt und den weichen thüringischen Dialekt nie ganz verloren. In den Jahren nach der Wende verändert sich Pößneck stark und nicht nur positiv. Die meisten Arbeitsplätze im Ort gehen verloren, kaum ein Betrieb überlebt. Eine Ausnahme ist der frühere VEB Polymer. Viele Pößnecker ziehen fort, oft nach Bayern oder Baden-Württemberg, wo Facharbeiter mühelos eine Anstellung finden. »Es ist ziemlich absurd«, sage ich zu Frank, der mit seiner Familie in Pößneck zu Besuch ist. »Endlich könnte hier investiert und aufgebaut werden, und es passiert genau das Gegenteil. Betriebe werden geschlossen, Leute entlassen, und die Jungen ziehen fort.« »Wenn wir damals nicht mit dem Ballon geflüchtet wären«, sagt Frank, »stünde ich heute vor der gleichen Entscheidung, und ich würde natürlich auch dorthin gehen, wo es Arbeit gibt.« Vielleicht haben Doris und ich mit der Rückkehr nach Pößneck ein kleines Zeichen gegen die allgemeine Wanderungsbewegung gesetzt. Auf den Gerichtstermin haben wir lange gewartet, aber als die Benachrichtigung endlich im Briefkasten liegt, sind wir überrascht. Am 29. Juli 1998 verhandelt das Verwaltungsgericht Gera unser Rückübertragungsbegehren. Doris und 172
ich sind sehr aufgeregt. Wir haben uns intensiv vorbereitet. Doch unser Anwalt meint, dass das gar nicht nötig sei. »Sagen Sie am besten gar nichts. Die Rechtslage spricht eindeutig für Sie, und meine Beweisanträge dürften die Richter überzeugen.« Dr. Zeller hat recht. Die Vertreterin des Landesamtes und der Anwalt des Käufers behaupten, in der DDR sei eine Entschädigung gewährt worden, wenn Hauseigentümern ihr »Nutzungsrecht« entzogen worden sei - auch dann, wenn die Eigentümer die DDR verlassen hätten und selbst dann, wenn sie ihr als »Republikflüchtlinge« den Rücken gekehrt hätten. Ich muss mich stark beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Wer kann ernsthaft glauben, dass Flüchtlinge von der DDR eine Entschädigung bekommen hätten? Das Gericht glaubt es jedenfalls nicht. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass im Falle von »Republikflucht« generell Entschädigungen festgesetzt worden seien, sagt der Richter. Eine solche Annahme werde weder dem Recht der DDR noch deren Rechtswirklichkeit gerecht. »Republikflüchtige wurden zu DDR-Zeiten als Straftäter verfolgt. Das zeigt das Schicksal der Kläger exemplarisch.« Doris drückt kurz und kräftig meine Hand. Mir wird wohler ums Herz. Endlich spricht eine amtliche Autorität aus, was jeder weiß. Nun versucht es der Anwalt des Käufers mit einer anderen Taktik. Sein Mandant habe sich schon vor dem 19. Oktober 1989 bemüht, unser Haus zu kaufen, vor jenem im Nachhinein festgesetzten Stichtag also, bis zu dem Immobiliengeschäfte als rechtmäßig gelten. Das Gericht zeigt sich unbeeindruckt. Das Grundstück Altenburgring 46 sei am Stichtag vermietet gewesen, entgegnet der Richter, die Mieter hätten das Haus erst nach der Maueröffnung im November 1989 verlassen. Dass sich der Käufer zu DDR-Zeiten aber für eine vermietete Immobilie interessiert habe, sei mehr als unwahrscheinlich. Jetzt drücke ich Doris' Hand. Auch Dr. Zeller ist mit dem 173
Verlauf der Verhandlung zufrieden. »Wir sind an einen sehr guten Vorsitzenden geraten«, sagt er in einer Verhandlungspause. »Wie kommt es denn, dass nun alles klar und eindeutig zu sein scheint, nachdem jahrelang verschiedene Ämter alles unternommen haben, um uns unser Eigentum streitig zu machen?« frage ich ihn. »Es ist leider vielen ähnlich ergangen wie Ihnen, und die wenigsten haben sich auf einen langwierigen Rechtsstreit eingelassen. Viele Leute haben sich die Rechtsunsicherheit und die Wirren der Nachwendejahre gewinnbringend zunutze gemacht.« Nur auf den ersten Blick unterscheidet sich unser Fall von den Machenschaften, mit denen Investoren und Immobilienhändler nach der Wende die Unwissenheit der DDR-Bürger ausgenutzt haben. Schließlich wollten »Ostler« uns »Westler« über den Tisch ziehen. Als »Republikflüchtlinge« würden wir kein Interesse an einer Rückkehr haben, wird sich Bürgermeister Reißig gedacht haben, als er unser Haus zum zweiten Mal verkaufte. Und später muss er darauf gesetzt haben, dass wir das langwierige Verfahren scheuen würden. Glücklicherweise haben wir nicht klein beigegeben, sondern bis zum Ende durchgehalten. Den Prozeß gewinnen wir vollständig: Der Widerspruchsbescheid wird aufgehoben, unser Rückübertragungsantrag bewilligt. Gegen das Urteil ist keine Revision zugelassen. Im Jahre 1998, neun Jahre nach der Wende, ist unser Haus wieder unser Haus. Eine Ballonfahrt geht schnell vorüber, ihre Folgen können lange währen.
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Zwanzig Jahre danach Eine riskante Flucht mit kleinen Kindern in einen anderen Staat, über Jahre hinweg Drohungen am Telefon und im Briefkasten, Spitzel im Gästebett und bei der Arbeit, ein Sprengstoffanschlag, zerschlagene Fensterscheiben, Ränke und Heimtücke - hat es sich für Familie Strelzyk gelohnt, die DDR zu verlassen? Die Frage ist falsch gestellt. Man flieht, weil die Vergangenheit und die Gegenwart unerträglich sind. Weil die Zukunft anders aussehen soll. Die Hoffnung war der neunte Passagier in der selbstgebauten Gondel. Mit ihr stiegen acht DDR-Bürger in den Himmel auf. Keiner von ihnen wußte, was auf ihn zukommen würde. Keiner konnte ahnen, dass die DDR selbst im Ausland mit ihren früheren Bürgern umsprang, wie sie es im Lande gewohnt war. Keiner mochte glauben, dass der gute Freund ein noch besserer Freund der Stasi war. Und keiner bereut es dennoch, die Flucht gewagt zu haben. Doris und Peter Strelyzk haben Erfahrungen gemacht, auf die sie nicht verzichten möchten. Nach der Flucht atmeten sie freier, sie mussten ihre Worte nicht mehr wägen und gegenüber Bekannten oder Fremden keine Vorsicht walten lassen. Sie fanden neue Freunde, kosteten die Reisemöglichkeiten aus und bauten sich eine neue Existenz auf. Die Risiken der Flucht haben sie auch auf sich genommen, um ihren beiden Söhnen Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, die diese in der DDR nicht besessen hätten. Frank und Andreas blicken ohne Reue oder Zweifel zurück. »In der DDR hätte ich mir nie etwas Vergleichbares aufbauen können«, sagt Frank. »Heute wäre ich vermutlich einer der vielen Arbeitslosen in Thüringen.« An die Vorbereitungen der Flucht erinnert sich der ältere Strelzyk-Sohn recht gut. Die Bedrohung durch die Stasi in den achtziger Jahren, von der ihm 175
die Eltern erst spät erzählt haben, hat er dagegen kaum bemerkt. »Natürlich habe ich die Anschläge auf unser Geschäft in Bad Kissingen als gefährlich empfunden. Aber das waren Einzelereignisse, die mein Leben nicht prägten. Ich habe es sehr genossen, im Westen zu sein.« Frank lebt heute mit seiner Frau und seinem 12jährigen Sohn in einem kleinen bayerischen Dorf. Er ist in das Dorfleben integriert, hat den Dialekt angenommen und ein Haus gebaut. Sehnsucht nach Pößneck verspürt er nicht. Ebensowenig zieht es seinen jüngeren Bruder Andreas zurück. Er lebt mit seiner Familie in Weil am Rhein nahe der Schweizer Grenze. Von den Fluchtvorbereitungen habe er damals als letzter erfahren, erinnert er sich. Alles sei dann ganz schnell gegangen. Seine Angst hat er nicht vergessen. »In der Luft war es ziemlich schlimm. Zum Glück konnten wir in der Dunkelheit nicht erkennen, wie hoch wir flogen. Aber«, fährt er fort, »hätten unsere Eltern die Flucht nicht gewagt, hätten wir zehn Jahre verschenkt.« Auch Andreas hat sich schnell im Westen eingelebt. Von der Drohung, ihn zu entführen, hat er erst spät erfahren. »Ich habe eine ziemlich unbeschwerte Kindheit verbracht. Erst nach dem Sprengstoffanschlag auf unser Geschäft haben die Eltern mir von der Stasi erzählt.« Beiden Strelzyk-Söhnen war Thomas Dietrich sympathisch. »Ich hätte ihm niemals eine Spitzeltätigkeit zugetraut«, sagt Andreas kopfschüttelnd. Wie sein Bruder erinnert er sich an die Warnungen der Großmutter. »Doch wir nahmen sie damals nicht ernst, es schien uns abstrus zu sein. Erst als wir die Akten der Gauck-Behörde gelesen hatten, fiel uns Großmutters Mahnung wieder ein.« Thomas Dietrich, der fleißige IM »Karl Diener«, hat seine Chancen im Westen ebenfalls genutzt. Bis heute betreibt er den Elektroladen in Bad Kissingen, den er Mitte der achtziger Jahre von Strelzyks übernommen hat. Die Auseinandersetzung mit 176
seinem einstigen Freund und späteren Ausspähobjekt hat er nie gesucht; Peter und Doris Strelzyk haben nach dem einen gescheiterten Versuch aus nachvollziehbaren Gründen kein Interesse mehr, ein Gespräch mit Dietrich zu führen. Außenstehenden drängt sich die Frage auf, warum Strelzyks und ihre Freunde und Bekannten die Verdachtsmomente gegen Thomas Dietrich nicht ernst nahmen. Offensichtlich hat er seine Doppelrolle gut gespielt. Das bestätigt ein Beteiligter, der von Amts wegen stets mißtrauisch sein musste: Eduard Lintner, in den achtziger Jahren deutschlandpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, später Staatssekretär und heute Bundestagsabgeordneter der CSU, erfuhr wie Strelzyks erst durch die Akten der Gauck-Behörde, in welchem Ausmaß Thomas Dietrich als »Karl Diener« der Stasi gedient hatte. Familie Dietrich habe er als freundlich und eher unpolitisch wahrgenommen, erinnert sich Lintner. »Ihre Geschichte erschien mir glaubwürdig. Es war nur zu gut nachvollziehbar, dass sie nach der Haft die DDR verlassen wollten.« Der Anwalt der Familie Strelzyk, Dr. Zeller, hat früh Unbehagen gegenüber Thomas Dietrich verspürt. Er ist jedoch betagt und kann sich nicht mehr an Details erinnern. Bald nach der Ankunft in der Bundesrepublik haben Strelzyks Günter und Petra Wetzel mit ihren zwei Söhnen aus den Augen verloren. Sie sahen sich erst zum zehnten Jubiläum der Ballonflucht wieder, als beide Ehepaare zu Gast in zwei Talkshows waren. Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR haben Strelzyks dann Wetzels in Hof besucht, doch nach einigen Telefonaten riß der Kontakt wieder ab. Daher wissen Strelzyks nicht, ob Günter und Petra Wetzel ähnlich wie sie von der Stasi bespitzelt worden sind. Ihre Versuche, Wetzels ausfindig zu machen, blieben bisher erfolglos.
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Blick zurück nach vorn Wir sind wieder daheim. Pößneck ist uns erneut Heimat geworden. Noch leben wir nicht im alten Haus, aber ganz in der Nähe. Auch sonst ist nicht nur politisch einiges anders als früher. Wenn Doris und ich zum Einkaufen in die Stadt gehen, spricht uns fast immer jemand an. Es gibt wohl niemanden in Pößneck, der uns nicht kennt - wenn nicht persönlich, dann zumindest durch die zahlreichen Berichte und Sendungen über die Ballonflucht. Die häufigste der Fragen begleitet uns seit nun 20 Jahren: »Wie war das damals mit dem Ballon?« Jünger ist eine Frage, die sich meist anschließt: »Warum sind Sie wieder zurückgekommen?« Wir nehmen uns immer Zeit zu antworten, auch wenn es manchmal schwer fällt, alles von neuem zu erzählen und Ereignisse, die sich in Jahrzehnten zugetragen haben, in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Doch wir freuen uns, dass es Interesse an unserer Geschichte gibt. Nicht verstehen können Doris und ich die anderen, die Menschen, die hinter vorgehaltener Hand flüstern, »die Täter sind an den Tatort zurückgekehrt«. Während uns die Stasi immerhin noch politische Motive unterstellt hat, betrachten uns diese Menschen als Kriminelle. Für sie ist die DDR noch lebendig. Wir waren wahrlich nicht die einzigen, die der DDR den Rücken gekehrt haben. Vier Millionen Menschen haben sie in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens verlassen. Wieviele wären es gewesen, wenn der »Antifaschistische Schutzwall« und die barbarische Grenze sie nicht daran gehindert hätten? »Haben wir das Risiko der Flucht und die Gefährdung unserer Kinder auf uns genommen, weil die Margarine im Westen besser sein sollte?« frage ich Doris. »Ganz sicher nicht«, antwortet meine Frau. »Wir wollten frei sein, sagen können, was wir denken, uns politisch nach unseren Vor178
stellungen betätigen können. Aber das kann wohl niemand begreifen, der sich in der DDR wohlfühlte und den allenfalls die schlechte Versorgung störte.« Aber uns ist nicht wichtig, was manche Menschen in Pößneck oder anderswo über unsere Fluchtmotive denken. Wir müssen vor uns selbst Rechenschaft ablegen: War der Preis, den wir gezahlt haben, zu hoch? Wir haben eine gefährliche Flucht auf uns genommen, all unsere Sicherheiten, unser Haus, Verwandte, Freunde und Bekannte hinter uns gelassen - für eine ungewisse Zukunft im Westen. Und dann waren wir dort der geballten Aufmerksamkeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes sicher. »In meinen finstersten Träumen hätte ich mir nicht ausgemalt, was uns in den Jahren nach der Flucht widerfahren ist«, sagt Doris. »Aber von den ungeheuren Ausmaßen dieser Bespitzelung wissen wir ja erst, seitdem wir die Stasi-Akten gelesen haben«, erinnere ich sie. Dennoch hatten wir Angst. Ob aus den Drohungen Ernst werden würde, konnten wir nicht ahnen, und die Polizei hat sich nicht sehr bemüht, unsere Ängste zu zerstreuen. Die Sorge um unsere Söhne hat uns oft nicht ruhig schlafen lassen. »Doch die Angst hat unser Leben nicht bestimmt, Doris«, sage ich. »Wir haben viele positive Erfahrungen gemacht. Sie überwiegen Sorgen und Nöte bei weitem.« Nur zu gutgläubig waren wir lange Zeit. Dass ein Freund, für den wir uns eingesetzt haben, als er in der DDR im Gefängnis saß, uns fortgesetzt und kaltblütig verraten würde, war unvorstellbar für uns. »Hätten wir nicht viel früher auf die Warnungen vor Thomas Dietrich reagieren müssen?« fragt Doris. »Gewarnt worden sind wir oft genug - von Mutter, von Dr. Zeller. Statt dessen haben wir ihm weiter vertraut, ihn im Geschäft angestellt und sogar an unserem Familienleben teilnehmen lassen.« »Wir können es nicht mehr ändern. Damals wollten wir den Warnungen nicht glauben, weil Thomas uns lange 179
nahegestanden hatte und wir glaubten, er habe Ähnliches wie wir durchgemacht.« Dass uns gerade dieser einst so enge Freund bespitzelt und betrogen hat, war eine der größten Enttäuschungen in unserem Leben. Doch wir sind nicht verbittert. Einen späten Sieg soll die Stasi nicht über uns erlangen. Zwanzig Jahre nach unserer Flucht und zehn Jahre nach dem Fall der DDR-Grenzen staunen wir immer öfter. Wir staunen, dass eine Staatsmacht es für nötig befand, eine Familie mit zwei Kindern zu »Staatsfeinden« zu stilisieren. Wir staunen, dass eine Staatsmacht den geballten Apparat seines Geheimdienstes auf uns hetzte. Und wir staunen, dass sich Menschen ohne eigene Not dazu hergaben, eine ganz normale Familie auszuhorchen. Im Nachhinein erscheint das Treiben der Stasi lächerlich. So viele Berichte, so viele Spitzel - und so wenige Ergebnisse. Selbst die Anschläge waren verhältnismäßig harmlos und konnten uns nicht viel anhaben. Ganz anders erging es meiner Schwester, die nach unserer Ballonflucht von der Stasi inhaftiert wurde. Maria ist an Krebs gestorben, und die Nachrichten über die radioaktive Verstrahlung von politischen Häftlingen in DDR-Gefängnissen geben uns zu denken. Wir dagegen sind unversehrt geblieben. Dabei hätte es genug Mittel und Gelegenheiten gegeben, uns wirklich zu schaden. Aus welchen Gründen es beim Ausspionieren, bei Drohanrufen und Anschlägen auf das Geschäft blieb, können wir nur vermuten. Noch in den fünfziger Jahren wurden WestBerliner, etwa der Filmjournalist Gero Gandert, beim Besuch in Ost-Berlin auf offener Straße entführt und jahrelang in einem DDR-Gefängnis festgehalten. Dank der Entspannungspolitik der SPD/FDP-Koalition waren solche Methoden in den achtziger Jahren unmöglich geworden. Die Beziehungen zur Bundesrepublik waren gut, und das SEDRegime war auf Devisen angewiesen. Konflikte gab es nur in 180
Fragen, die für die DDR unverzichtbar waren. Zu ihnen gehörte unser Fall nicht. Dass wir zu unseren Fluchtpartnern, dem Ehepaar Wetzel, vor Jahren den Kontakt verloren haben, bedauern wir sehr. Wir hoffen, dass auch sie gut in der Gegenwart angekommen sind. Wenn wir mit unseren Söhnen zusammensitzen, stellen wir uns manches Mal die Frage, ob wir mit den Erfahrungen der letzten 20 Jahre die Flucht noch einmal wagen würden. Die Antwort heißt uneingeschränkt Ja.
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Anhang Abkürzungen ABV: Abschnittsbevollmächtigter der Deutschen Volkspolizei amnesty international: 1961 vom englischen Anwalt Peter Benenson gegründete Hilfsorganisation, die sich für die Freilassung politischer Gefangener einsetzt. Antifaschistischer Schutzwall: Bezeichnung der DDR für die Berliner Mauer Arbeitsgemeinschaft 13. August: Nach dem Tag, an dem die Berliner Mauer erbaut wurde, benannte Organisation, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten und insbesondere die Berliner Mauer anprangerte. Die Arbeitsgemeinschaft wurde im Juni 1963 in West-Berlin von Rainer Hildebrandt gegründet, der auch das Mauermuseum »Haus am Checkpoint Charlie« ins Leben rief. BdVP: Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei BV: Bezirksverwaltung für Staatssicherheit EV: Ermittlungsverfahren
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HA: Hauptabteilung; selbständige Diensteinheit im Ministerium für Staatssicherheit IM: Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: 1972 von Joachim Gnauck in Frankfurt am Main gegründete Organisation, die sich schwerpunktmäßig mit Menschenrechtsverletzungen in sozialistischen Staaten befaßte. KD: Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit LSK-LV: Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der Nationalen Volksarmee MfS: Ministerium für Staatssicherheit ODH: Offizier des Hauses mit besonderen Kompetenzen OLZ: Operatives Leitzentrum der Staatssicherheit zur Koordination von Dienstabläufen, zur direkten Einflussnahme auf die Durchführung von Maßnahmen, zur unverzüglichen Informationsaufbereitung und zum Treffen von Entscheidungen OV: Operativvorgang
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OvD: Offizier vom Dienst VEB: Volkseigener Betrieb VK: Abteilung Verkehrskontrolle der Deutschen Volkspolizei VP: Volkspolizei VPKA: Volkspolizeikreisamt ZAIG: Zentrale Auswertungsund Ministeriums für Staatssicherheit
Informationsgruppe
des
ZKG: Zentrale Koordinierungsgruppe. 1975 gegründete Diensteinheit im Ministerium für Staatssicherheit. Sie koordinierte das Vorgehen der operativen Diensteinheiten im Zusammenhang mit Übersiedlungen sowie zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des »ungesetzlichen Verlassens« der DDR und zur Bekämpfung des »staatsfeindlichen Menschenhandels«.
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