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Ganz herzlichen Dank, dass du dich für den Roman
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salve, mule! let’s go!
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erwärmt hast!
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Viel Spaß und gute Unterhaltung!
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Olaf W. Timmroth
http://www.besuch-von-nebenan.de/
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rig h
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[email protected]
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth
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Olaf W. Timmroth
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salve, mule! let’s go!
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Ein Roman
Copyright © 1998-2004 by Olaf W. Timmroth / Germany
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth
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I
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Die Luft war trocken, es roch nach altem Papier und
Körperausdünstungen, aber auch nach einer Spur Tod, die
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mehr und mehr nahte, sich verdichtete, aus dem Nebel trat und mich für den Bruchteil eines Augenblicks meine Blä-
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hungen vergessen und auf das entfalten dieser zaghaften Knospe hoffen ließ. Doch sie lebte nicht - und ich hörte wieder das Lachen. Ein bitteres, ein böses Lachen. Und sie
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lachten und lachten. Es nahm kein Ende. Meine Ohren
laf
dröhnten, Wut verfärbte sie purpurn.
In einer lächerlich wirkenden Pose hing ich wie ein
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dahingeworfenes, kunstvoll gefaltetes Gästehandtuch auf einem unbequemen, harten Holzstuhl und sah mit seitlich verdrehtem Kopf zu ihnen auf. Mein Hals signalisierte Schmerz, aber sonst empfand ich nichts. Speichel mit dem Geschmack erdbeersüßer Mordgier sammelte sich auf meiner Zunge und seilte sich über den rechten Mundwinkel
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zwischen meinen Oberschenkeln zum Boden ab. Ohne mit der Wimper zu zucken hätte ich aufspringen und beide gleichzeitig erwürgen können. Den einen mit der Linken,
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den anderen mit der Rechten - und schnapp! Würgend ihr abstoßendes Hohn lachen zerquetschen. Ein für alle Mal
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die längst fällige abgestandene Luft aus ihnen lassen. Jesus, hatten die ein verdammtes Glück, dass ich
mich zurückhielt. Na ja, genau genommen war ich zwangsgehemmt und tat mich deshalb bei der Umsetzung meines
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Vorhabens etwas schwer. Kräftig genug war ich wohl, allein die Beherrschung zu verlieren, gelang mir nicht.
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In weiser Voraussicht legten mir die beiden Rohlinge Handschellen an, führten sie um ein Tischbein herum und
zerrten meinen Stuhl einen halben Meter nach hinten weg,
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so dass mein Kopf auf die Knie nickte und sich mein Hin-
tern in Windeseile auf der abgerundeten Kante des Stuhls
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haltsuchend ausbalancierte. Es drückte ein wenig quer,
möchte ich mal sagen. Vorbei mit aufrecht sitzen. Gepflegter Rundrücken war angesagt. Ganz klar, dass sie so
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ungestraft ihre Späße mit mir treiben konnten.
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Die Situation war mir nicht ganz neu, die Haltung dagegen schon. Äußerlich regte sich kein Muskel an mir, weil diese Begebenheit eben nichts grundlegend Neues offen-
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barte und meine gewöhnungsbedürftige Pose kein schmerzloses Muskelspiel zuließ.
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„Wollte er oder wollte er nicht?“ „Der Butler wollte!“
„Nein, nein, James wollte nicht!“ „Doch! Er wollte, konnte aber nicht!“ Wie spaßig! So ging es in einem fort. Ich bin beileibe kein
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Kostverächter, leihe einem anständig schmutzigen Witz gern beide Ohren, aber mein Verständnis für solcherart Humorausbrüche hat Grenzen. Wenn ich etwas wirklich nicht ausstehen kann, dann sind es zusammen-
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geschusterte, völlig deplazierte Witze ohne Pointe. Wie nennt man eigentlich den Witz eines Witzes? Staats-
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Diener? Ja, ich heiße James Wollter - na und?
Und damit auch das gleich geklärt ist: Ich bin weder Butler noch Komiker - und war es auch nie.
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Geboren wurde ich als kleines rotes, vom Ast gepurzeltes Käfigkind; war hässlich wie ein Teller Hafergrütze
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und zu allem entschlossen. Heute ist das alles anders.
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Aber der Reihe nach.
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II
Eifrige Geschäftigkeit deutete am Nachmittag dieses 26. Oktober im Stürmberger Polizeipräsidium Feierabend-
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stimmung an. Türen knallten, irgendwelche Menschen stürzten durch schmucklose Gänge; rempelten uns an,
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grummelten ohne aufzusehen und hasteten weiter durchs grelle Neonlicht in die Nächsten hinein. Merochs und sein Partner zerrten mich an einer
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Handschelle hinter sich her zur erkennungsdienstlichen Behandlung, wie sie die Schweinereien mit einer Farbe, die
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zu lösen mir erst beim siebenden Waschgang glückte, verhüllend umschrieben. Mit geübter Hand rollte Merochs die angeschwärzten Fingerkuppen meiner Hände über weißes Papier.
„Warum haben Sie sich freiwillig gestellt?“
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Fasziniert sah ich auf die Hinterlassenschaften meiner Finger und Handflächen in den schwarz geränderten Feldern. Ob man das verkaufen kann? Bestimmt. Musst nur einen finden, der sich freut und dafür löhnt, dann ist es Kunst
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und teuer.
So viele kleine Kringel zählt also ein Verbrecher. Doch ei-
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gentlich war ich ja gar kein Verbrecher, nur eine Nummer. Zwölf Kästchen mit den Kringeln einer Nummer. Nummern begehen keine Verbrechen. „Sie müssen nicht antworten. Ihre Vernehmung wird erst in Wünschen stattfinden. Wir sind nur neugierig. Es ist nun mal nicht alltäglich, dass sich einer wie Sie stellt.“
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Einer wie ich? Hohoho! Wohl Autogrammjäger? Ich unterließ es, vor den beiden meine Gründe auszubreiten.
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Wie sollten ausgerechnet zwei trieblose K 21-Bullen meine Beweggründe verstehen, war ich mir doch selbst nicht
mehr sicher, warum ich es tat und weshalb mich mein Weg
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der letzten Wochen bis zu diesem Tisch führte. Einerseits
hegte ich Zweifel, andrerseits war ich recht froh und auf ei-
im
ne eigenartig traurige Weise erleichtert.
Bei der sich anschließenden Fotosession bewerkstelligte es Merochs Juniorpartner nicht, den Film manuell
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zu transportieren. Technik zum Schmunzeln. Ich war sehr gespannt, zu sehen, wie ein Profi einen echten Harakiri hin-
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legt. Früher mal sah ich das in einem Film. War nicht sehr appetitlich. Aber hochinteressant. Eigentlich könnte er mir
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die kleine Freude machen.
Unablässig stieß mein Seppukuanwärter unflätige
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Flüche aus und zitterte mit fiebrig langen, spindeldürren Fingern um das zarte, schutzlose schwarzsilbrige Gerät, bis er beschloss, dem Japaner mit deutscher Geduldsamkeit zu begegnen. Und, siehe da, schon nach zwanzig Minuten hatte er meine drei Fotos im Kasten und befahl mir
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entnervt, zu jenem Tischchen zu gehen, an welchem ich zuvor - wie wir in Fachkreisen zu sagen pflegen - Klavier
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spielte.
Lustlos tapste ich die fünf Schritte am Kamerastän-
Co
der vorbei zum Tisch und sah mich fragend nach ihm um. „Setzn!“
Wenn du meinst. Junior kniete neben mir nieder, löste routiniert wie ein alter Bulle die Handfessel von meinem linken Handgelenk, forderte mit einem kräftigen Ruck meinen rechten Arm zum nachgeben auf, führte den blitzenden Stahl um das ange-
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knabberte linke Tischbein herum und ließ ihn wieder an meinem Handgelenk einrasten.
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Huch, mächtig verkeimt hier unten, war das Erste,
was mir nach dem unvermittelten Hechter durch den Kopf ging. Und das Zweite: Sieht so der Dank für meine Reser-
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viertheit aus? Keinen Mucks gab ich von mir, als du mit dem Japaner kämpftest. Gelangweilt sah ich zur Decke,
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tapfer hielt ich geistreiche Bemerkungen nieder und tötete den aufsteigenden, quälend drängenden Lachkrampf ab.
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Alles weitere ist bereits bekannt.
Sie drehten mir ihre Rücken zu, schaukelten sich
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hoch und ich kaute an meiner Wut. Schmerzliche dreißig Minuten vergingen, dann endlich nahte die Erlösung. Zwei Uniformierte schoben sich in den Raum als müssten sie ih-
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ren Körpern vor jeder Bewegung gut zureden. Der eine lüpfte seine Schirmmütze und wischte sich mit dem Hand-
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rücken über die trockene Stirn; der andere hielt sich die Dunstkiepe vors Gesicht und gähnte angestrengt. Danach ging alles sehr schnell. Sie wickelten mich vom Pflock - und schwups fand ich mich auf einem muffi-
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gen Zellentrakt im Keller wider. Mitten auf dem Gang saß ein Doppelpack in Grün an
einem kümmerlichen Tischchen und füllten mit heraushängender nachdenklicher Miene irgendwelche Formulare aus.
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Vielleicht verfassten sie auch Lyrik oder hakten den Speiseplan ab, so genau habe ich das aus drei Meter Abstand
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nicht erkennen können. Es erschien mir auch nicht so wichtig. Mein müder Begleiter stupste mir in die Seite und be-
fahl mit schleppendem Stimmchen, all die guten Sachen aus meinen Taschen vor den beiden Gelehrten auszubreiten. Artig kam ich seinem höflich vorgetragenem Wunsche
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nach. Ich war heilfroh, keinen Striptease hinlegen zu müs-
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sen. In ihrem Verlies zog es fürchterlich. Während einer der Protokollführer meine Habselig-
keiten, die aus einem silbernen Drehkugelschreiber, einer
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silbernen Halskette mit silbernem Wassermannanhänger,
einem silbernen Dupont-Feuerzeug, einem silbernen Ziga-
im
rettenetui, einer silbernen Handgelenkkette und einem
schwarzen Ledergürtel mit silberfarbener Schnalle bestanden, und von denen ich mich nur schweren Herzens
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trennte, lieblos in einen hundekotbraunen Karton mit dem vielsagendem Schriftzug „Erdbeer-Konfitüre“ warf, zählte
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sein Kollege meinen unermesslichen Reichtum. Bei 20,49 DM brach er ab und übertrug die Zahlen akkurat mit ruhig entworfenes Formblatt.
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geführter Schönschreibschrifthand in ein eigens dafür
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Nicht zu glauben, der andere schleuderte mein Geschmeide doch tatsächlich in einen klebrigen Marmeladentrog. Ja, und außerdem war das Ding auch noch viel zu groß. Doch ich hielt mich zurück, schlug die Zähne aufeinander und verfolgte mit geballten Fäusten in
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den Hosentaschen die Flugbahn meiner Kleinodien. Die grünen Männlein waren in der Übermacht. Nichts von alldem würde ich vor meiner Entlassung
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wieder zwischen die Finger bekommen, so der psychologisch schwergewichtige Einschüchterungsversuch des
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Schmuckweitwerfers. Die paar Tage, dachte ich, und fühlte mich schlagartig besser. Hastig warf ich Blicke über das Papier. Sie drängelten, hätten noch Wichtigeres zu tun. „Aus Gründen, die zur Schädigung von Leben und Gesundheit sowie zur Beschädigung fremder Sachen geeignet seien“, las ich und kritzelte ein halbes Dutzend
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Mal meinen Namen. Deshalb also. Natürlich sah ich nun ein, dass die Formalitäten unerlässlich waren.
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Aber ließe sich dieses zweckmäßig formulierte, dieses verspielte und zugleich kesse Sprüchlein nicht auch
als Warnhinweis an Fußbälle, Biergläser oder Automobile
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anbringen? Und weshalb, fragte ich mich weiter, beließen
sie mir ausgerechnet die Schuhbänder? Sollte ich sie darNein, nein, sie hatten Wichtigeres zu tun.
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auf hinweisen? Oder kommentarlos auf den Tisch legen?
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Auf dem Weg zur Schlafstelle, so an die sechs Meter den Flur entlang, beschlich mich im Duster der Kellerge-
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wölbe ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Ohne netten Plausch löste sich unsere heitere Männerrunde auf. Meine Konversationsbestrebungen ignorierend, bohrte einer der
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Sheriffs in der Nase. Er bohrte tief, wurde aber nicht fündig, so dass er den Meißelrhythmus intensivierte, was verständ-
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licherweise keinen Dialog mit mir zuließ. Die anderen drei taten es ihm zwar nicht nach, folgten jedoch seinen Bemühungen mit verstohlen neugierigen Blicken, so als erwarteten sie nach dem heben das aufteilen außer-
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gewöhnlich seltener Fundstücke. Blitzartig durchfuhr mich das Entsetzen. Ich hätte
wissen, daran denken müssen, dass so etwas geschehen konnte, bevor ich den wahnwitzigen Entschluss fasste,
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mich auszuliefern. Mir schauderte, meine Hände zitterten, Schweiß ergoss sich über meinen Körper und mein Magen
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wollte unbedingt noch einmal herzeigen, was ich ihm vor Stunden zuführte. Unbeweglich stand ich da, starrte hinauf in das fahle Licht der nackten, sich schamhaft in einer kleinen, quadratischen Vertiefung über der Tür versteckenden Glühlampe. Hilfesuchend umklammerten meine eiskalten Hände die Gitterstäbe, wurden feucht und glitten an ihnen
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hinab. Tränen tauchten meine Perspektive unter einen dichten Schleier. Und irgendwo - weit, sehr weit weg - sah
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ich ein sanftes weißes schimmern um ein verschwommenes dunkles Nichts. „Wie spät?“, fragte ich leise den Geologen.
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„Nach sechs“, beschied er mürrisch, schlug das Eisengit-
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ter und kurz darauf die schwere Zellentür ins Schloss. III
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Verstört warf ich den Kopf herum. Angst trocknete meine Augen. Scheppernd verhakte sich sein hässliches
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mausgraues Maul, rastete ein, verband sich mit der umlaufenden Mauer zu einem Ganzen. Kein Entrinnen. Ich fühlte mich beengt und bedroht. Auf puddingweichen Knien
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wankte ich durch den Schlund der Hoffnungslosigkeit als folge ich einem gespannten Gummiband. Was mich an-
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trieb, ich kann es nicht sagen. Oder doch: Eigentlich trieb mich nichts, ich wurde getrieben. Wieder dieses Zucken. Kalte Blitze durchfuhren alle Glieder. Mein Körper bebte, doch sah ich mich nicht um,
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als das zweite stählerne Schleusentor sein meterhohes gefräßiges Maul schloss, mich gefangen nahm, würgte und verschlang. Ich sah nach vorn und mir wurde kotzübel. Die Sonne schien, prasselte unbarmherzig auf mich
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hernieder. Ein wunderschöner Tag für ein Picknick im Grünen. Und höllisch heiß für einen Tag Anfang Februar. Ich
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schwitzte nicht. Warum wurde es nicht dunkel? Kommt wohl noch. Bitte etwas Regen, nur einen kühlenden Schauer. Wer friert, lebt. Ich fror nicht. ***
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Erst neun Monate lag das zurück. Fast auf den Tag genau. Bevor ich an diesem freundlichen Februartag durch
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das Haupttor der Jugendstrafanstalt in Ichtershausen, ei-
nem ehemaligen Kloster, das irgendwann korrigiert wurde, schiedenen volkseigenen Gefängnissen herum.
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schlenderte, drückte ich mich fünfzehn Monate in ver-
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Ichtershausen war nicht irgendein Jugendknast. Wen die Justiz des Arbeiter- und Bauernstaates hierher karrte, der war entweder Gewaltverbrecher oder Wiederholungstä-
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ter. Schon mit fünf Jahren war man dabei und durfte sich unter Mörder, Bankräuber und auch Republikflüchtlinge
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mischen; sie sogar als Freunde gewinnen, wenn man was anständiges vorzuweisen hatte.
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Während sich die Mehrheit mitten im Vollrausch der Pubertät befand, glitt ich zufällig - oder vielleicht auch nicht
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- genau an diesem Tag charmant und leichtfüßig über die vielgepriesene Schwelle zur Volljährigkeit. Doch irgendwie wollte es mir nicht so richtig feierlich ums Herz werden. Mag sein, es lag daran, dass noch fünfundvierzig Monate vor mir lagen. Kein Pappenstiel, aber mir machte das alles
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überhaupt nichts aus. Natürlich nicht! Festgenommen wurde ich übrigens auf der Herren-
toilette des Hauptbahnhofs. Drei Monate später verurteilte
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mich ein Jugendschöffengericht des Bezirksgericht Nord wegen versuchter Republikflucht zu sechzig Monaten Ju-
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gendhaft. Den Qualm verdankte ich den Aussagen zweier Klassenkameraden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es keine x-Beliebigen, sondern wirklich dicke Schulfreunde waren. ***
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Acht Tage verbrachte ich mit Nichtstun auf der
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Zugangsabteilung während deren die Leitung knobelte, auf welche Gruppen sie uns neun Neuzugänge am zweckmä-
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ßigsten verteile.
Als ehrlicher und unaufdringlicher Junge, der ich
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nun einmal war, sagte ich ihnen, um Missverständnissen
vorzubeugen, gleich am ersten Tag, was ich von ihnen hielte und sie mich höflicherweise könnten, wenn ihnen mal
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danach sei. Da mussten sich die Herrn aber erschrocken haben, denn sie knobelten und knobelten, knobelten und
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knobelten - oder taten jedenfalls so. Reine Zeitverschwendung, denn ich wiederholte nur, was ich drei Wochen zuvor auch schon meinen Verurteilern anbot.
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Ihr Ergebnis blieb ohne Alternative und nannte sich verschärfte Einzelhaft. Eine ebenso umständliche wie blö-
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de Bezeichnung für ein simples Fingerschnippen. Zum Davonlaufen! Irgendwas oder irgendwer moderte vor sich hin. Die Luft stand - und ich mittendrin, nackt vor dem Tresen der Effektenkammer auf dem schummeri-
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gen Dachboden des zweistöckigen Häuschen nur wenige Schritte von der Zugangsabteilung über den Hof. Und plötzlich fror ich. Mir wurde kalt, richtig furchtbar kalt. So kalt, dass ich... dass mir... Oh, nein! Ich hob den Kopf,
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schlug die Backenzähne fest aufeinander und verzog mein Gesicht zu einer Miene, die ausdrücken sollte, „Wer jetzt
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Witze macht...“ Den Rest schenkte ich mir. Keiner interessierte sich für meine Gedanken. Also änderte ich die Zielrichtung und dachte ungeniert weiter. Ich schrie, oder besser, ich flehte in mich hinein: „Komm schon, komm schon.“ Er hatte sich verkrochen, so klein gemacht, dass eine halbe Walnussschale genügte, ihn unsichtbar werden
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zu lassen. „Jetzt wird nicht Verstecken gespielt. Hör auf damit! Mach mir keinen Ärger. Bitte, bitte!“ Wie beiläufig
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sah ich auf die verstreut am Boden liegenden Kleidungsstücke, die ich auf Zugang habe tragen müssen, streifte
ebenso beiläufig über die Stelle, an der ich ihn vermutete,
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doch schien es, als habe ich ihn nun erst recht einge-
schüchtert. Von Begeisterung jedenfalls keine Spur. „Tu
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mir das nicht an. Komm her, Mann!“ Nichts. Er regte sich
nicht. „Willst du wohl!“ Nichts. „Wie du willst. Fortan sollst du fahnenflüchtiger Karottenstumpf Hermann heißen“,
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knurrte ich und griff geschwind nach der Unterhose. Mit unruhigen Fingern riss ich sie vom Tresen und schlüpfte
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hinein. Schon wärmer. Sehr viel wärmer. Weniger hastig streifte ich den dünnen, ausgewaschen blauen Overall, den mir einer der drei Kammerkalfaktoren reichte, über, schnür-
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te die ausgetretenen, absatzlosen schwarzen Halbschuhe an mir fest und schob das dunkelblaue Schiffchen entspre-
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chend der Anstaltsordnung vorschriftsmäßig auf den Kopf. Nur natürlich viel lässiger.
Kaum eine Armlänge entfernt stand Oberleutnant Borrmann zu meiner Linken und betrachtete mit wissenschaftlichem Forschungsdrang seit einer viertel Stunde
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stumm seine Fingernägel.
Er und zwei Schlüsselschwinger brachten mich von
Zugang hierher. Beim überqueren des Hofes stellte sich mir Borrmann als Erzieher jener Gruppe vor, derer ich zu-
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geteilt wurde, weil nun einmal jeder Jugendliche einer
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Gruppe zugeteilt werden müsse. Meine erste Begegnung mit ihm lag einen Tag zu-
rück. Beim Zugangsgespräch im Aufenthaltsraum der Zugangsabteilung gehörte er der fünfköpfigen Kommission an. Sie saßen vor rotweißgekästelten Gardinen hinter Schultischen. Ich stand und erzählte bruchstückhaft von meiner Verurteilung. Lust hatte ich keine, fast alles stand in
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meiner Akte. Was nicht darin stand, ging sie auch nichts an. Sie fragten nach meiner Familie, wie ich so in der Schu-
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le und beim Sport gewesen sei; welche Pläne ich für die
Zeit nach meiner Entlassung habe und ob ich eine Freun-
din hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie wollten mich
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verarschen. Ich wurde sauer und fragte, ob ich denn we-
nigstens früher rauskäme, erzählte ich ihnen schlüpfrige
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Geschichten. Daraufhin bot mir einer „eine kräftige auf
mein großes Schandmaul an“ und Borrmann, der während der zehnminütigen Aushorche regungslos aufrecht auf sei-
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nem Stuhl saß und einen blauen Kugelschreiber, den er wie eine Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand hielt,
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inspizierte, fragte mich, ohne den Blick vom Studienobjekt abzuwenden, nach den Gründen, die zu meiner Festnahme
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führten.
Gründe? Welche Gründe? Sieben unscheinbar ge-
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kleidete Herren nahmen meine beiden Freunde und mich auf dem Bahnhof fest. Schleiften uns vom Pinkelbecken weg. Dabei taten wir nichts Unrechtes, standen einfach nur da, pinkelten, rauchten und amüsierten uns über anstößige Kritzeleien an den Kacheln vor uns.
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Zuerst dachte ich an Kinderräuber oder so was, brachte meine Fäuste in Position und brüllte: „Ich darf nicht mit fremden Männern mitgehen!“. Doch die Kinderräuber waren schneller, warfen sich auf mich und legten
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mir eine Acht an. Die erste Acht in meinem Leben. Und die war wirklich total echt. Gott, war ich Stolz auf das Ding. Ich
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verdrehte den Kopf, sah in die Leidensmienen meiner Freunde, hob die Hände wie zum Gruß - Hunderte kleiner Blitze schossen über meine Acht hinweg - und rief ihnen zu: „Jetzt sind wir wer!“ „Halt die Luft an!“, befahl irgendeiner hinter mir.
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Jetzt war ich mir ganz sicher, dass die Kinderräuber Abgesandte der Staatsmacht waren.
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„Seht her, sie haben Angst!“, sagte ich laut und lachte vergnügt.
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Weit nach Mitternacht, die Vernehmungen waren abgeschlossen und meine Freunde nach Hause geschickt,
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stellten sie mir meinen Hauptgewinn zu. Beide hatten un-
abhängig voneinander Protokolle unterschrieben, in denen es hieß, ich habe die Absicht geäußert, die Deutsche De-
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mokratische Republik illegal zu verlassen. Ein
gewöhnliches, sieben Zentimeter kleines Klappmesser, das
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ich immer bei mir trug, und wie es sich vermutlich in der Hosentasche jedes Sechszehnjährigen gelernten DDRBürgers finden ließ, untermauerte ihre Behauptung und
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brach mir schließlich das Genick.
Es war mir egal. Ich war hungrig und immer wieder fielen
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mir die Augen zu.
Versuchte Republikflucht unter Anwendung einer Waffe, nannten sie es. Ganz was schlimmes. Sie meinten bestimmt nicht mich.
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Meinten sie doch. Denn nun stand ich vor Borrmann und schob mit beiden flach aufgelegten Händen mein Schiffchen noch eine Idee in Richtung rechtes Ohr. Borrmann zupfte unsichtbare Fussel von seiner dunkelblauen
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Uniform und sagte: „Das haben allein Sie sich zuzuschreiben. Denken Sie mal nach. Sie machen alles nur noch
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schlimmer als es ohnehin schon ist. Kommen Sie zur Vernunft.“ Ohne es rational begründen zu können, war mir
Borrmann auf Anhieb irgendwie, na ja, sagen wir mal, jedenfalls nicht so richtig ganz sympathisch. Und doch fühlte
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ich mich von diesem schlanken Mittdreißiger angezogen. Sein babyarschglattes, urlaubsgebräuntes Gesicht allein
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konnte unmöglich diese Kraft erzeugen. Dazu wirkte es zu weich, zu anfällig. Woraus schöpfte dieser Teufel? Wurde
ich Opfer seiner aufgesetzt abweisend, desinteressiert ge-
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langweilten Art und vielleicht auch der überdeutlichen,
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jedes Wort betonenden, leisen, hinterhältigen Sprache? Quatsch nicht rum, mach die Tür auf.
„Ich bin müde“, sagte ich schnippisch, langte nach der ü-
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belriechenden, braunen Pferdedecke auf dem Tresen; klemmte das kratzige Ding unter den rechten Arm, steckte
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beide Hände in die Taschen des Overall, drückte mich am fussel-suchenden Borrmann vorbei und folgte den beiden Ober-meisterdienstgraden die Holztreppe hinunter und ügelbes Gebäude.
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ber den Hof in ein kleines, freistehendes, einstöckiges
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Ich meine natürlich ein Gartenhäuschen. Hängepetunien bepflanzte Blumenkästen suchte ich zwar vergebens, doch fiel mir im entzückend kleinen Vorraum gleich die Schreibblockgroße Glasscheibe im Mauerwerk zu meiner Rechten auf. Eine wirklich durchdachte Lösung. Öffnen ließ
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sie sich nicht, dafür aber hatten durchblickende Aufseher eine nur anderthalb Meter entfernte, ocker Farbe abstoßende Wand vor sich. Und beugten sie sich dann nach vorn und drehten den Kopf mal nach links, mal nach rechts, ka-
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men sogar noch die Eingangstür und bestimmt zwei
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Zellentüren hinzu. Locker schlenderte ich durch den Vorraum auf einen
quer verlaufenden fensterlosen Flur. Er lag im Halbdunkel. Das lustlose Glühlämpchen aus dem Vorraum brachte keine Erleuchtung. Es tat sich schwer, vielleicht wollte es auch keinen Schritt um die Ecken wagen. Ich atmete flach in kleinen Häppchen. Zunächst glaubte ich, einer der
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Schließer habe einen mächtigen Koffer abgestellt, doch hier hinten wurde aus dem Koffer die Gepäckabfertigung
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eines internationalen Flughafens. Ich dachte nicht weiter nach und atmete mehrere Male tief ein. Mein Brustkorb
blies sich auf wie ein Ballon, der, ließe man ihn gewähren,
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im nächsten Augenblick die ihm eingepresste Luft mit ho-
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hem Druck angewidert ausstieß.
Als Kinder spielten wir oft in der Kanalisation unserer Stadt. Manchmal Verstecken, meistens aber erschlugen
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wir Ratten. Übler Fäkaliengestank war mir nicht fremd, es befremdete mich nur, ihn nun auch in der Wohnung zu ha-
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ben.
Sechs pedantisch ausgerichtete dunkelbraune Zellentüren des Gebäudes.
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verteilten sich wie Pferdeboxen über die gesamte Breite „Links! Leg die Decke hintn aufn Haufn drauf!“, befahl mir
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ein übergewichtiger Schließer.
Gehorsam trabte ich die sechs Meter bis zum Ende des Gangs. Unmittelbar neben der Zelle mit der schwarzen Nummer eins auf der Tür türmten sich zwei Stapel Seegrasmatratzen auf. Der eine mit neun, der andere mit sechs
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dieser, selbst in mattem Licht gut erkennbaren, versifften Teile. Auf dem kleineren Haufen machte ich etwas aus, das ich für zwei ordentlich zusammengelegte Pferdedecken hielt. Ich nahm die Hände aus den Hosentaschen und warf
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meinen Lappen achtlos dazu. „Mach das anständig, du Sackgesicht!“
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Ich tat einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört. Überlegte es mir aber anders, als mich sein Bummi mit voller Wucht auf dem Rücken traf und mich ein furchtbar lästiger Schmerz zusammenfahren ließ. „Los, anständig die Decke da drauf, sonst setzt’s noch was!“
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Danke für den freundlichen Hinweis. Schon überredet. Lächelnd nahm ich sie auf, legte sie ordentlich zusammen
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und zurück auf die beiden anderen.
„Geht doch. Man muss bei euch Gesindel nur etwas nachhelfen. Komm, hier geht’s rein, du Schwein!“
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Gib mir für eine Minute deinen Bummi; nur eine Minute - und ich zertrümmere dir deine aufgeschwemmte
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Visage. Mit funkelnden Augen drehte ich mich eine halbe
Drehung nach rechts, musterte das Grinsen im feisten Gesicht des Schließers, der abwartend neben der geöffneten
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Tür lauerte, und sagte: „Nach Ihnen, Herr... äh?“
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„Rein ins Loch!!!“, schrie das Ferkel mit hochrotem Kopf. Ich ging hinein als suche ich nach Beginn der Vorstellung einen Platz im Kino und zuckte zusammen, als er
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das Gitter hinter mir zuwarf und abschloss. Ich drehte mich nicht um, spannte jeden Muskel meines Körpers und zuck-
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te doch wieder zusammen, als er die beiden Riegel vor die Tür schob und den Schlüssel zwei Mal im Schloss drehte. Zelle eins war keine Zelle. Es war der wahrgewordene Albtraum, den zu träumen ich vermied. In meiner Verzweiflung trat ich wie ein ausschlagender Gaul mehr-
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fach gegen das Gitter. Mein Rücken schmerzte, und ich kämpfte mit den Tränen. „Gib Ruhe, sonst setzt’s noch mehr!“ Zum dritten Mal zuckte ich zusammen und hasste mich da-
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für.
Du bist ein Knacki in Einzelhaft. Halte dich daran! Sei gefäl-
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ligst hart und lass diese verdammt weibische Schreckhaftigkeit. Doch sein Angebot kam derart schnell und unver-
hofft, dass ich mich erschrocken umwandte und mit aufgerissenen Augen zunächst das Gitter anstarrte, bevor
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mir gewahr wurde, dass er mich durch den Spion in der Tür
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beobachtete. Mein Albtraum bestand aus vier Quadratmeter Finsternis hinter einem eigenen Zaun. So von der Art eines
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Hundezwingers - nur vielleicht nicht ganz so komfortabel. Dem eingehenden Trettest entnahm ich, dass die Einfrie-
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dung keinen Strom führte.
Der Tür gegenüber eine Fensteröffnung, bei der das Gitter nicht wie sonst bei klassischen Bauwerken diesen Typs
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üblich, auf der Außenseite, sondern innen angebracht war. Vielleicht um Unbeholfenen den Gang zu erleichtern. Nur
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einen spaltbreit ließ sich das maulwurfsgraue Milchglas kippen - nach außen. Was sich dahinter verbarg, es blieb mir verborgen. Ein außen um die Fensteröffnung ange-
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brachter, geschlossener grüngelber Drahtglaskasten mit dunklem, möglicherweise lebendig, saftig grünem Moos-
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teppich nahm mir die Kraft der Sonne, die Hoffnung des Regens und die Philosophie der Winde. Er saß wie der Deckel auf einem Einweckglas, das Großmutter weit hinten im feuchten Kellerregal vergaß. Ich sah auf dieses Loch in der Wand und fragte mich,
rig h
ob ich nicht viel zu viele Gedanken daran verschwendete, denn schließlich war ich hart, unbeugsam und überhaupt ein schlimmer Finger. Im Rücken die stumme Traurigkeit des Zaunes, der
py
wie ein Moskitonetz von der Decke zum Boden fiel und sich quer durch die Zelle von einer Wand zur anderen spannte.
Co
Womöglich ein Qualitätsprodukt des Stahlwerkes Riesa Knackischweiß vom Anfang an. Und dahinter meine Vestibül, wenn ich mal so sagen darf. Ein schönes Vestibül. Brach lag es da, erstreckte sich vom Zaun bis zur einem Meter zwanzig entfernten Tür. Nein, keine Tür. Es musste
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etwas anderes sein. Türen haben Klinken, Sargdeckel haben niemals Klinken.
oth
Wände, Decke und Fußboden in den ruhigen Farben nasser Friedhofserde. Eine schwachbrüstige Glühbirne oberhalb des Deckel, in einer Vertiefung hinter einem
mr
Schutzgitter. Das arme Dinge strengte sich an, gab ihr Bestes, und erhellte mein Daheim doch kaum mehr als es eine
im
Kerze vermochte. Irgendwann erlosch es.
Zwei in der Höhe versetzt angebrachte dunkelbraune Bretter, über Betonstützen fest in der linken Wand veran-
.T
kert, dienten als Stuhl, Hocker... was auch immer, jedenfalls zum hinsetzen und als Tisch.
W
Unmittelbar neben dem Sitz, in der Ecke links unterhalb des Fensters, ein Kübel. Kübel - das Imagemobiliar harter Jungs. Skeptisch musterte ich meinen ersten Kübel,
laf
kniete schließlich vor ihm nieder, klappte die kreisrunde, schwarze Plastiksitzfläche hoch und öffnete den darunter Metall.
tb yO
liegenden Deckel. Mausgraue Farbsplitter bröselten vom „Scheiße!“, brummte ich und warf in einem Schub von Atemnot angewidert den Kopf zurück. Abgestandene Vernehmerzimmerluft schlug mir entgegen, traf mich un-
rig h
vorbereitet und hart wie Dickerchens Bummi. Daher also das atemberaubende Bukett des Zellenhäuschens. Ich erholte mich schnell und wagte einen erneuten Vorstoß. Mein Blick fiel ins Innere. Der Eimereinsatz war leer. An seinen
py
Wänden hafteten fingerdicke schwarzbraune Ablagerungen, die mehr Bakterien beherbergten als ein
Co
Kreiskrankenhaus. „Sollte mich nicht wundern, wenn hier schon während der Kreuzzüge reingeschissen wurde“, blabberte ich mit Blick auf die leckere Kruste, welche einem Hornissennest mit gleich vielen gedeckelten und leeren Zellen nicht ganz unähnlich war.
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Ja, und dann hätte ich mich um Haaresbreite beinahe doch tes Engelsgesicht über diesen Pott halten zu müssen,
oth
noch übergeben. Allein der Gedanke, mein jugendlich zarbewahrte mich vor unkontrolliertem Aktionismus und sehr
wahrscheinlich auch vor beschleunigter Alterung, Haaraus-
mr
fall, Erblindung, Mundgeruch, Fußpilz und Impotenz.
Was mochten die beiden verstaubten Röhrchen wohl
im
führen, die sich unterm Fenster schüchtern durch mein
spartanisches Appartement schlängelten. Ich hatte da so einen heißen Verdacht, berührte sie mit den Fingerspitzen
.T
und zuckte sogleich zurück. Dann umschloss ich mit der Hand das obere Röhrchen. Lauwarm. Mein Ofen schlum-
W
merte, auch im Winter - und sogar tagsüber.
Ich setzte mich auf den kalten Betonboden, streckte die Beine lang aus, lehnte mich an meinen Ofen und begut-
laf
achtete das letzte Möbel: Ein flach an der rechten Wand angebrachtes Holzbrett. Holzbrett ist vielleicht ein ganz
tb yO
klein wenig übertrieben für die paar grob zusammengenagelten Latten. Bis auf ein paar Zentimeter auf der Zaunseite und der Fensterwand, füllte es die gesamte Breite der Wand. Ein sehr schlichter, doch um so praktischerer Wandschmuck. Ich stand auf und versuchte das Brett zu
rig h
befreien. Fehlanzeige. Wie gemein: Es hielt sich an einem Vorhängeschloss fest. Einem sehr billigen. Aber ohne Werkzeug spielte auch das nur eine eher untergeordnete
py
Rolle.
So, da wären wir also. Ich habe mich umgesehen, al-
Co
les angeschaut. Wirklich alles. Ehrlich wahr. Und, was soll ich sagen, ich bin kein bisschen beeindruckt. Tabak habe ich nicht gefunden, und auch keinen Feuerstein. Ihr könnt mich jetzt wieder abholen. Hallo, hallo, holt mich hier rauaus! Ihr wollt mich nicht rauslassen, richtig? Richtig! Wie
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ihr wollt, dann bleibe ich eben hier. Macht mir gaaaaar Scheiße, macht mir doch was aus! Verdammte
oth
nichts aus. Scheiße, ich habe keine Lust auf dieses Dreckloch. Ich
werde blöd hier drinnen. Macht den Deckel auf! Bitte! Ich
mr
ersticke doch. So wird das nichts... Dann zieht doch we-
im
nigstens gleich den Vorhang zu.
Spät am Abend, längst hatte sich mein Appartement ihr kleines schwarzes übergestreift, öffnete sich, so gegen
.T
22 Uhr, weil sich die Zeitabläufe in allen Knästen gleichen, die Tür und ein Schwall gedämpften Lichts ergoss sich ü-
W
ber mich.
„Nimm dir drei Matratzenteile und eine Decke“, sagte ein kleiner, uralter Schließer in überraschender, angenehm
laf
höflicher Tonlage und schloss dabei mit ruhiger, geübter Hand meine Zauntürchen auf.
tb yO
Kraftlos und müde ging ich an ihm vorbei, trat auf den Flur hinaus und tat, was mir aufgetragen wurde. Zwischenzeitlich entfernte Opa das Vorhängeschloss von meinem Wandschmuck, kam mir nach und knipste von außen das Licht in meiner Wohnung an.
rig h
Wieder in der Zelle, legte ich die Matratzen auf den Tischersatz, ließ das Brett herunter, breitete die drei Teile darauf aus und wartete, was als nächstes auf mich zukäme. Der zutrauliche Alte verschloss das Gitter, sah mich
py
an und sagte in väterlichem Ton: „Junge, überlege dir genau, was du tust. Es ist noch keinem gelungen. Nach
Co
einigen Wochen hat noch jeder aufgegeben. Du kannst mir glauben, ich bin schon sehr lange hier und habe schon einiges gesehen und erlebt. Gute Nacht... und denk über meine Worte nach.“
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„Nacht“, erwiderte ich leise und hoffte, der Schwätzer möge endlich den Deckel verriegeln, um mich aufs Bett werfen
oth
zu können.
Die Tür knallte ins Schloss, ein Schlüssel drehte sich
mr
mehrmals in ihm, dann ging das Licht aus. Dunkelheit - von einer Sekunde auf die andere. Und mit einem Satz lag ich
im
auf dem Brett unter der Decke.
Wovon sprach dieser versponnene Zwerg? Was ist noch keinem gelungen? Worüber soll ich nachdenken? Ja,
.T
und was tue ich denn? Was wollte mir der Alte sagen? Hält sich wohl für besonders intelligent und glaubt, deshalb in
W
Rätseln sprechen zu dürfen. Ich weiß nicht, was abgeht, und das Stück Trockenobst belegt mich. Ob er weiß, dass er eine volle Knastmacke hat? Wohl kaum.
laf
Und werde ich in ein paar Tagen ebenso delirieren? Schon möglich, aber mir total Brust. Wenn es soweit ist,
tb yO
merke ich es ohnehin nicht. Und wenn doch, dann ist es eben noch nicht weit genug. Geduld, mein Freund, was Bessres kann dir fast nicht passieren. Kaum hatte ich die Augen geschlossen und mich ei-
rig h
nem anregend schlüpfrigen Traum genähert, klirrte irgendein Nachtwächter sein schweres Schlüsselbund gegen die Zellentür, knipste das Licht an und sah durch den Spion. Instinktiv sprang ich jedes Mal von der Pritsche, be-
py
zog vor dem Fenster Stellung und machte mich voll zum Löffel. Im Halbschlaf nahm ich Ausbrüche höchster Belus-
Co
tigung wahr. Irgendwie fand ich das gar nicht lustig. Doch steckte
mir die Reaktion seit der Untersuchungshaft noch im Blut. Dort tönte allmorgendlich eine ohrenzerreißende Hupe durchs Haus. Wer das Wecksignal überhörte, konnte unmöglich noch unter den Lebenden weilen. Kurz darauf flog
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die Zellentür auf. Alle Insassen hatten stramm vor dem Fenster Aufstellung genommen und einer, in aller Regel
oth
der, der Mund und Augen aufbekam, erstattete lautstark
Meldung: „Guten Morgen, Herr Hauptwachtmeister! Zelle
Vierhundertzwölf mit drei Inhaftierten! Keine besonderen
mr
Vorkommnisse!“
Der Angebrüllte nickte selbstzufrieden, trat einen Schritt
im
zurück und ein Kalf reichte eilig das herein, was sie gerne auch als Frühstück bezeichneten.
.T
Nach zwei Tagen, oder besser Nächten, hatte ich herausgefunden, was sie mit ihren stündlichen Störmanövern
W
bezweckten. Von da ab war Schluss mit Löffel. Ich hob nur noch einen Arm oder wackelte mit einem unter der Decke hervorgestreckten Fuß, um meinem besorgten Nachtwäch-
laf
ter zu zeigen, dass ich zu Hause sei und mich bester Gesundheit erfreue. Dann schlief ich friedlich weiter - bis
tb yO
zur nächsten Runde.
Wecken war um sechs. Locker aus dem Handgelenk, ersetzten ein paar kräftige Schläge mit dem Schlüsselbund gegen die Tür das Hupsignal. Nach dem Aufschluss brachte ich Matratzen und Pferdedecke zurück auf den Flur,
rig h
klappte meinen Wandschmuck hoch, nahm den Kübeleinsatz und schlenderte zum anderen Ende des Bunkers als befände ich mich auf dem Weg zum Bäcker. In Zelle Nummer sechs leerte ich den Kübelinhalt in eine
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richtige Toilettenschüssel und drückte eine richtige Wasserspülung. Die hatten wirklich jeden Schnickschnack.
Co
Dann wusch ich mich am einzigen Waschbecken mit eisig kaltem Wasser. Übrigens einem winzigen Ding, das zudem meinem Kübel frappant ähnelte. Immer fand sich irgendwo auf dem Beckenrand eine
Ecke Kernseife. Und auch an Zahnbürsten herrschte kein Mangel. Ich wählte eine unter den fünf auf der Ablage in
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Brusthöhe über dem Waschbecken liegenden aus und schrubbte meine Zähne. Es war ein schönes Gefühl, sich sicht ließ ich an der Luft trocknen, und meine Hände
oth
etwas aussuchen, selbst bestimmen zu können. Mein Ge-
wischte ich an das Handtuch, welches Freitags gewechselt
mr
wurde.
im
Eines Morgens, ich vermute, es war der siebente
Tag, entdeckte ich auf der Ablage eine Tube Chlorodont 69. Es war ein Morgen wie jeder andere: Kein Mond, der doch sandte er einen Lichtblick.
.T
mich führte; kein Sonnenstrahl, der mich wärmte - und
W
Ein Schließer musste die Zahnpasta vergessen haben. Sofort war ich hellwach. Ich lauschte, ob sich ein Schlüssel näherte und hörte ein dumpf hämmerndes Ge-
laf
räusch - mein wild klopfendes Herz. Blitzschnell schnappte ich die Tube, drückte deren Inhalt einen fingerbreit nach
tb yO
oben, faltete den Tubenfalz zwei Mal um und bog sie solange hin und her, bis sie abbrach. Geschwind ließ ich es im Overall verschwinden, knickte das Ende der Aluminiumtube weitere zwei Mal und legte sie zurück auf die Ablage.
rig h
Arrestanten unterlagen einem strikten Sprechverbot. Obwohl mir nicht ganz klar war, welche Strafe mir drohte, umging ich dieses Verbot, da sie mir bereits alles gaben, was sie anzubieten hatten, hielt ich es dennoch ein. Aber
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nur, weil einem überzeugten Morgenmuffel wie mir nichts
Co
besseres hatte passieren können. In Gegenwart eines Schließers begrüßten wir uns mit
einem Lächeln und einer kurzen Kopfbewegung. Was selten genug geschah, denn die meiste Zeit verbrachte ich allein im Dunkel der frühen Morgenstunden. Nach der erfrischenden Morgentoilette und dem sichern des Holzbrettes mittels Vorhängeschloss, erhielt ich
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mein Frühstück - zwei Schwarzbrotscheiben mit hauchdünn aufgekratzter dunkelroter Marmelade und ein
oth
halbvolles Plastiktässchen geschmacksneutralen Tees zum runterspülen.
Abends klebte irgendwo zwischen den beiden Brotschei-
mr
ben Wurst, manchmal auch Käse. Mittags servierte man etwas warmes in einer Plastikschüssel mit Plastiklöffel.
im
Insgesamt nicht üppig, aber ausreichend.
Beim täglichen Hofgang entrann ich der Abgeschie-
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denheit und Einsamkeit meiner Tage, wenn auch nur für kurze Zeit. Sechzig Minuten lief ich vor dem Zellenhäu-
W
schen im Kreis. Jeden einzelnen Augenblick unter freiem Himmel genießend. Ich kannte weder gutes noch schlechtes Wetter, nur die Gier auf ein paar Schritte in Freiheit. Ja,
laf
in Freiheit - auch wenn es merkwürdig klingen mag. Schneller und schneller, so als verlängere sich die Zeit, lie-
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fe ich so weit wie irgend möglich. Ich drehte meine Runden, trampelte lächelnd durch Pfützen und nickte vergnügt, tippte sich einer der beiden zur Überwachung abgestellten Schließer an die Stirn. Zu anderen Gefangenen, drehten sie nun mit mir ih-
rig h
re Runden oder gingen sie nur vorüber, musste ich zwei Meter Abstand halten. Stehen bleiben, miteinander sprechen oder sich gar auf den Boden setzen führte zum
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sofortigen Abbruch des Luftschnappens. Ihren Verboten zeigte ich die Brust, denn ich liebte
diese Vorschriften. Ich wollte laufen, laufen, laufen, niemals
Co
wieder stehen bleiben. An keiner Stelle verweilen, nur eilen, weiter, weiter, vorwärts streben. Und sprechen? Worüber? Was hatte ich schon zu erzählen. Ich sah nährende Erde und ziehende Wolken. Das gehörte mir - ganz allein nur mir.
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In diesem reizvollen Fluidum verbrachte ich zwei vol-
oth
le Wochen, an deren Ende ich fest davon überzeugt war,
jeder weitere Tag triebe mich dem Tod in die Arme. Tagsüber turnte ich am Zaun, führte Selbstgespräche oder
mr
schlief auf dem kalten Boden liegend. Der Deckel öffnete
sich zu den Mahlzeiten, zum Hofgang und zur Nachtruhe.
im
Die Abstände waren groß genug, um gelegentlich auch mal meinem Klappbett etwas Bewegung zu verschaffen. Aus dem Kragen meines Overall fummelte ich den Alumi-
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niumfalz der Zahnpastatube und drückte und drehte sie einige Sekunden im Schloss. Vernahm ich sein ungeduldiKragen, bevor ich es losband.
W
ges Knacken, verbunkerte ich zunächst den Schlüssel im Ausgesprochen erholsam waren die Tagesstunden auf ihm
laf
freilich nicht. Ruhen war durchaus drin, schlafen nein. Unablässig suchte ein Ohr den Flur vor meiner Wohnung ab.
tb yO
Empfing es Geraschel, gar Klimpern, sprang ich vom Brett, klappte es hoch, ließ das sich nicht selten sträubende Schloss einschnappen und legte mich unschuldig schlafend auf den Boden.
rig h
Sieht man mal von Borrmanns Gegenwart ab, mangelte es mir an nichts. Nicht das er mir irgendwie abging. Ich hätte nur zu gern gewusst, weshalb ich in verschärfte Einzelhaft kam. Rein der Ordnung halber. Neugierig war ich
py
bestimmt nicht. Überraschenderweise besuchte er mich am vierzehnten
Co
Tag. Flankiert von zwei Schließern baute er sich vor meinem Zaun auf und fingerte desinteressiert an seinem korrekt sitzendem Plastikgezwirn. „Wie haben Ihnen die zwei Wochen gefallen?“, fragte er, an mir vorbei auf den Kübel starrend. Ich folgte seinem Blick.
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„Ich habe sie genossen, Genosse“, provozierte ich in meiner gewohnt charmanten Art.
oth
„Möchten Sie auf Gruppe?“ „Gern.“ „Noch gerner. Oder gibt’s das Wort nicht?“
mr
„Und arbeiten?“
„Also los!“, sagte Borrmann, lächelte zuvorkommend, als
im
böte er einem Mütterchen beim heruntertragen des Abfalls seine Hilfe an, und befahl seinen Lakaien: „In AbsondeHalbschuhe kehrt und verließ mich.
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rung!“, machte auf den Absätzen seiner hochglanzpolierten Ich warf den Kopf herum. Meine Augen weiteten sich, mein
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Mund war trocken und unter den Armen traten Bäche über die Ufer. Der will mich töten, war mein erster Gedanke. Ganz langsam, peu à peu.
laf
Wohl blöd geworden, das Dingsda. Ich werde nicht zulassen, dass der mich umbringt. Nicht der! Ich werde ihm die
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Brust zeigen. Ganz einfach die Brust zeigen. Aus! Basta! Von der Einzelhaft in die Absonderung. Na, wenn das nicht Ölwandwechsel bedeutet. Ohne weiteres Aufsehen klemmte ich die Pferdedecke untern Arm und folgte den beiden von Borrmann zurück-
rig h
gelassenen Schließern zur Kammer, wo mir dieselbe Ausstattung an Bekleidung, Bettwäsche, Decken, Besteck und dergleichen Notwendigkeiten, wie sie jeder andere auch erhielt, feierlich überreicht wurde.
py
Feierlich, weil mich die beiden Kalfaktoren gleichermaßen höflich und doch kumpelhaft begrüßten. Außerdem grins-
Co
ten sie unentwegt. Und daran trug nicht allein meine Frage „Trägt das der gutgekleidete Knacki dieses Jahr?“ beim überstreifen der Kleidung bei. Es waren ganz einfach nette Burschen, die, ohne dass ich darum bat oder dafür zahlte, Stapel von Wäsche nach den besterhaltensten Stücken durchwühlten. Selbst ein Offiziersstoff-Schiffchen, die nur
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von einer Handvoll Auserwählter, den durchsetzungsfähigsten und somit höhergestellten getragen wurden,
oth
steckten sie mir zu.
Nachdem ich mich in eine komplette Garnitur weißer Feinrippunterwäsche, in kratzige, dicke graue Militärso-
mr
cken, einen nagelneuen dunkelblauen Schlosseranzug und
ebenfalls neue schwarze Halbschuhe gehüllt hatte, warf ich
im
die übrigen Utensilien in den blauweißkarierten Bettbezug und diesen wie einen Sack Kartoffeln über die rechte Schulter.
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„Auf geht’s!“, verkündete ich fröhlich und lächelte meinen Bewachern aufmunternd zu. Dabei hätte ich heulen kön-
W
nen, soviel Angst hatte ich vor der Einzelhaft.
Schnurstracks führten sie mich über den Hof. Einen
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Block weiter, im Erdgeschoss des Hauptgebäudes, dem einzigen Bau, in dem es Nonnen nicht getrieben haben
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konnten, weil er sicher kaum älter als dreißig, vierzig Jahre war, machten wir halt.
Vor herumstehenden, neugierig glotzenden Teenies abgeschirmt, schoben sie mich vierzehn Stufen hoch und linksseitig in einen Zellentrakt. Scheppernd schloss sich
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die schwere Stahltür hinter mir. Auch an diesem auserwählten Ort standen mir fünf Wohnungen zur Auswahl. Alle unbewohnt. Wieder so ein Geisterflur. Spontan entschied ich mich für die Kleine links hinten. Doch ausgerechnet die
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gefiel den anderen nicht. Sie pfiffen mich zurück und bedrängten mich, die mittlere gegenüber zu beziehen. Und da
Co
sie ganz und gar nicht den Eindruck machten, mit mir handeln zu wollen, gab ich eben nach. Kaum hatte sich das Brett hinter mir geschlossen,
warf ich meinen Bettbezugrucksack schwungvoll auf die Pritsche, sah mich kurz nach allen Seiten um und begab mich gierig auf Erkundungstour durch mein neues Domizil.
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Jede Ecke und jede noch so kleine Ritze nahm ich genauestens in Augenschein. Unter dem Tisch suchte ich ebenso
oth
wie unter dem Stuhl, den Fugen am Fenster und im Hohl-
raum unter dem Toilettenbecken. Im, auf, unter und hinter dem an der Wand festgeschraubten Schrank.
mr
Dann - Der Herr sei gepriesen! - am Winkelstahl unter der
Pritsche wurde ich schließlich doch fündig. Zufrieden ließ
im
ich mich auf dem Deckel der Kloschüssel nieder und entrollte das kleine Stückchen Zeitungspapier. Vorsichtig, ganz vorsichtig und immer darauf bedacht, meine Hände
.T
im toten Winkel des Spions zu halten.
Ich war lange genug im Knast, um die wichtigsten
W
ungeschriebenen Gesetze zu kennen, ohne die ein Überleben prinzipiell möglich, aber weniger aufregend gewesen wäre. Eines der Gesetze lautete: Vererbe deinem Nachfol-
laf
ger, was von dem, was du in die Absonderung oder den Arrest geschmuggelt hast, übrig ist.
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Behutsam, als handle es sich um ein Fabergéei, breitete ich den wertvollen Inhalt auf dem linken Oberschenkel aus. In meinen dankerfüllten braunen Augen bildeten sich Rinnsale der Zuversicht. Um meine Lippen spielte ein vergnügtes Lächeln. Tausendfach dankte ich meinem
rig h
Vorgänger für die zehn Millimeter lange Bleistiftmine, die kleine Glasscherbe und für den drei Millimeter großen Feuerstein. Vornehmlich aber für die Tabakbrösel, aus denen ich bestimmt fünf, vielleicht sogar sieben kräftige Lungen-
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züge holen könnte. Kurz: Ich war happy. Meinen Körper durchzuckte ein
Co
bis dahin unübertroffenes Glücksgefühl, das sich sogleich über Achselfeuchte schamlos nach außen hin mitteilte. Mir war nach tanzen und schreien. Ja, selbst einen Borrmann hätte ich in diesem Moment umarmt und womöglich sogar küssen können. Letzteres strich ich dann doch lieber wieder. Man muss ja nicht gleich übertreiben.
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Sorgsam rollte ich nach einigen Sekunden der Andacht den kleinen Schatz wieder zusammen und beförderte
oth
ihn zu meinem anderen in die Unterhose.
Zu den Glanzpunkten der Absonderung, wenn ich
mr
mal so sagen darf, gehörte neben der gelblichen Ölwand,
dass ich Bücher und Zeitungen lesen durfte. Am Schreib-
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verbot hielt Borrmann aber weiterhin fest. Seit meiner
Landung in Ichtershausen gestattete man mir nicht, Briefe zu schreiben oder zu empfangen. Desgleichen galt auch für
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den Empfang von Paketen und Besuche, ohne dass ich erfuhr, weshalb.
W
Die Bleistiftmine versetzte mich nunmehr in die vorteilhafte Lage, anderen Informationen zukommen und sogar nach draußen zu meiner Familie schmuggeln lassen
laf
zu können. Zu dumm nur, dass ich keinen kannte, den ich um diesen oder jenen Gefallen bitten konnte. Die Zeit, die
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ich auf Transport und der Zugangsabteilung verbrachte, war einfach zu kurz, um jemanden so gut kennen zu lernen, dass ich ihm rückhaltlos vertraute. Nach dem Abendessen baute ich mein Bett, legte
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meine erste eigene Zahnbürste akkurat auf die Kante des Waschbeckens und machte ein wenig Ordnung in der Zelle. Dabei zielte ein Ohr so lange in Richtung Tür, bis mir das markante Scheppern der Stahltür zurief, nunmehr unge-
py
stört zu sein. Jedenfalls für eine Stunde. Aufgeregt fummelte ich in meiner Unterhose bis ich
Co
endlich das kleine Röllchen - Nein, das andere! - zu fassen bekam. Umständlich entblätterte ich auf dem Tisch das Papier und entnahm ihm alles außer den Tabak. Dann rollte ich mit leicht zittrigen Fingern das Zeitungspapier zu einem kleinen Tütchen, stopfte mit dem Griff des Rasierapparats, den ich auf der Kammer erhielt, den bröseligen Tabak fest
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hinein und drehte mit Daumen und Zeigefinger das vorn überstehende Papier fest zusammen. Die beim aufräumen
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eingesammelten feinen Staubflocken, von denen es be-
sonders unter dem Bett reichlich abzustauben gab, legte
ich aufgehäuft auf dem Boden bereit. Anstatt einer Klinge,
mr
die mir nur unter Aufsicht eines Schließers überlassen
werden durfte, spannte ich den Feuerstein an der Außen-
im
kante des Rasierapparats so ein, dass er ein klein wenig
überstand. Dann ging es dem ultimativen Höhepunkt entgegen. Den Rasierapparat in der Linken, das Tütchen im
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Munde und die Glasscherbe in der rechten Hand - so kniete ich auf dem abgewetzten, knastkaffee-braunen, linoleum-
W
ähnlichen Bodenbelag über der fetten Wollmaus gebeugt. Einige Augenblicke hielt ich die Luft an und horchte zum Gang hinaus, zog dann die Scherbe kratzend am Feuer-
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stein entlang, horchte wieder und kratzte mit der Scherbe erneut über den Feuerstein. Ich zitterte am ganzen Leib vor
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Aufregung. Funke um Funke besprang die Wollmaus bis sie schließlich Feuer fing. Hurtig hielt ich mein Tütchen in die für zwei oder drei Sekunden hoch-schlagende Stichflamme.
Geschafft!
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Um keine verräterischen Brandspuren zu hinterlassen, schlug ich mit der flachen Hand auf mein Feuerzeug ein und fegte mit der rechten Handfläche die noch glimmenden Flusen dahin zurück, von wo ich sie aufgelesen hatte.
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Damit ich die wenigen Züge in ihrer Gänze genießen konnte, setzte ich mich auf den Stuhl und lehnte mich entspannt
Co
zurück. Aufgrund der mir zwangsverordneten Abstinenz der letzten Wochen, war dies auch dringend geboten. Ich streckte die Beine lang aus, legte den Kopf in den Nacken, sah zur Decke und lächelte zufrieden. Das Zeug verursachte mir Schwindelgefühle. Eine überaus angenehme Begleiterscheinung.
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Ah, so lässt es sich aushalten.
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Der Service stimmte, war kaum noch zu übertreffen. Jeden Morgen wurde mir mit dem Frühstück eine JUNGE WELT
gereicht. Tatsache! Nun ja, mittags hatte ich sie wieder ab-
mr
zugeben. Doch las ich bis dahin alles, einfach alles - jede
noch so unsinnige Zeile. Und davon gab es reichlich. Tau-
im
sende, möchte ich meinen. Chinesen bekriegten sich mit
Vietnamesen. Soso. Natürlich erfuhr ich nichts wirklich interessantes. Und so blieb mir gar nichts anderes übrig, als
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zu der erfreulichen Erkenntnis zu gelangen, dass es für einen Knacki, abgesehen von einer noch erfolgreicheren
W
Getreideernte, unmöglich war, etwas zu verpassen. Die Nachmittage verbrachte ich über irgendeinem Buch gebeugt und trieb zwischen den Kapiteln Gymnastik.
laf
In der übrigen Zeit schlummerte ich so vor mich hin.
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Die Tage vergingen.
Nach zwei Wochen meldete sich Borrmann mit seinen beiden Lakaien zurück. Er begehrte zu wissen, ob ich meine Meinung geändert habe. Natürlich hatte ich diese nicht geändert. Warum auch? Zur Güte, und um ihm zu zeigen,
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dass ich durchaus willens war, bot ich ihm an, mir einige Tage Gesellschaft zu leisten. Natürlich war das völliger Humbug. Natürlich suchte ich ihn zu provozieren. Ich wollte ihn aus der Reserve locken,
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seinen Feindseligkeiten und Bedrohungen, die mich auch ohne Worte und Gestiken erschreckten, etwas entgegen-
Co
setzen. Bloß keine Schwäche zeigen; am Ende springen die einem ohne Vorwarnung an die Kehle. Natürlich war mir nicht klar, was ich tat. Und natürlich wusste ich nicht, worum es eigentlich ging. Borrmann, der sich zwei Schritte vor mir aufgebaut hatte, kam auf mich zu. Ohne mit der Wimper zu zucken
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bettete er seine rechte Faust in mein schutzloses Gesicht. Sie traf mich mit voller Wucht. Na, ich war ja vielleicht baff.
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Mit so manchem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Seine Antwort hatte mich derart übertölpelt, dass ich das Gleichgewicht verlor und rücklings aufs Bett fiel.
mr
Ein gefundenes Fressen für den Stänkerer. Auf sein Kommando hin packten mich alle drei, drehten mich auf den
im
Bauch, zerrten Arme und Beine in die Länge und fesselten sie mit Handschellen an die Ecken des Bettgestells. Ab-
scheulich, wie sie meine Hilflosigkeit ausnutzten. Einer, ich
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konnte ihn nicht erkennen, weil ein anderer meinen Kopf „Wer darf zuerst, Klaus?“ „Ich!“, sagte Borrmann.
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zur Wand gedreht festhielt, warf eine Decke über mich.
Und schon hielt einer, kurz darauf drei Bummis auf meinem
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Rücken Einzug. Die gingen wirklich stramm zur Sache. „Auaaaa!“, sagte ich langgezogen und lachte. „Auaaaa!
tb yO
Hör sofort damit auf, Klausi!“
Ich lachte laut und schluckte an den rasenden Schmerzen des einsetzenden Trommelwirbels, der, so als klebte ich an einer verdammten Hochspannungsleitung, aus meinem Körper ein dunkles, heftig krampfartig zuckendes Pferde-
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deckenbündel machte. Ein Solo für drei. Ich verstummte und biss, um nicht aufzuschreien und ihnen ein Gefühl des Erfolgs zu vermitteln, wild in den Kopfkissenbezug. Den Klausi hätte ich mir wohl besser gespart. Zu
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spät. Du weißt, mit den Zuckungen werden augenblicklich auch die Schmerzen gehen. Bitte, ich mag nicht mehr zu-
Co
cken.
„Dich biegen wir auch noch zurecht! Ich habe schon ganz andere Kaliber kleinbekommen! Lasst das Schwein liegen! Am Nachmittag zur Kammer und in Arrest mit dem! Die Tür bleibt bis dahin offen! Du bleibst hier und passt auf die Sau auf!“
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Ein furchtbar netter Mensch, mein Klausi. Aber er schrie. Ja, er brüllte tatsächlich. Ich hatte ihn herausgelockt. Und
oth
noch etwas ließ mich frohlocken: Borrmann gestand, dass er nicht weiter wusste. Üblicherweise schlägt sich das in Formulierungen wie, dass man auch schon ganz andere
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kleinbekommen habe nieder. Jedes abschreckende Mo-
ment musste zwangläufig in die Hose gehen, wenn man die runterlässt. Lasst mich zucken! Lasst mich zucken!
im
Beinkleider seiner Ausweglosigkeit so offensichtlich he-
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Als ich hörte, dass einer von ihnen einen Stuhl über die Fliesen zog und es sich auf ihm vor der offenstehenden
W
Zelle bequem macht, kam ich nicht umhin zu sagen: „Also, von zweien habe ich was verspürt. Na ja, etwas. Aber von Kleinmädchenschlag.“
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dem dritten... das war bestimmt unser Klausi mit seinem „Halt deine Fresse, sonst gibt’s was ohne Decke!“
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„Na gut. Dann bedanke ich mich ganz artig.“ „Schnauze!“
Recht hatte er insofern, als dass ihre Bummis ohne dem Schutz einer Decke weitaus schlimmere Verwüstungen auf meinem Rücken hinterlassen hätten. Aber auch mit Decke
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konnten sie ganz ordentliche Schäden an beispielsweise den Nieren verursachen. Das zärtlich Bummi genannte Schlagwerkzeug war in
py
Fachkreisen als gemeiner Totschläger bekannt. Es bestand aus drei biegsamen Teleskopgliedern an dessen vorderem
Co
Ende eine Stahlkugel eingelassen war. Dieses Gegengewicht bewirkte, dass sich bei jedem Schlag die dunkelbraun gummierten Glieder liebevoll an die jeweilige Rundung schmiegte; die Spitze mit der Kugel herumpeitschte und garantiert irgendwo am Körper einen Gruß hinterließ. Schlugen sie etwa von vorn auf die Schulter, passten sich
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die Glieder kaum spürbar den Konturen der Schulter an. Die Kugel aber schlug schmerzvoll auf dem Rücken ein.
oth
Betäubender Schmerz und Blutergüsse waren, mit etwas Glück, das Resultat dieses teuflischen Instruments, das klein und handlich wie ein Mini-Regenschirm an jedem
mr
Schließerhandgelenk baumelte.
im
Draußen auf dem Flur verkündete ein piepsendes Stimmchen, es habe Mittagessen für mich.
„Der will heute nichts“, wies ihn mein Aufpasser ab.
.T
„Doch, ich will!“, rief ich so laut es meine ungemütliche Pose erlaubte.
W
„Schnauze da drinnen! Und du hau mit dem Futter ab!“ Wie lange ich verknotet im Bett lag, vermochte ich nicht genau abzuschätzen. Es mussten Stunden - oder auch Mo-
laf
nate - gewesen sein, und ich musste dringend mal auf den Topf.
tb yO
„Wenn ich schon kein Essen bekomme, kann ich dann wenigstens aufs Klo?“
Wer so lange wie ich auf dem Bauch liegend ans Bett gefesselt ist, der entwickelt seine eigene Logik. „Nix da!“
rig h
„Ich muss pissen! Dringend!“ „Mach meinetwegen in die Hose!“, empfahl er und lachte gehässig.
Nachdem der Druck von meiner Blase gewichen war, bat
py
ich ihn, meine Wäsche wechseln zu dürfen. Irgendwie musste ich seine Anweisung falsch interpretiert haben,
Co
denn er kam zur Tür hereingestürzt, traktierte mich mit seiner Phallusprothese und schrie hysterisch: „Die alte Drecksau! Pinkelt diese Sau doch Tatsache ins Bett! Diese Drecksau!“ Und es war so schrecklich, so verdammt schmerzvoll, doch ich lachte. Ich lachte laut und handelte mir zusätzliche
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Schläge ein. Na bitte: Programm auswendig gelernt. Nahm er vielleicht an, ich lache über ihn? Wie Recht er doch hat-
oth
te. „Hauptwachtmeister!“
„Die Drecksau hat ins Bett gepinkelt“, verteidigte er klein-
mr
laut sein Tun. „Raus! Raus! Raus!“
im
Borrmann stand unmittelbar neben mir. Ich roch seine
schweißgetränkte Unterwäsche. Oder war es Rasierwasser?
.T
„Halt! Nehmen Sie ihm die Fessel ab.“
„Ich bitte darum“, murmelte ich und summte eine Melodie.
W
Ich glaube, die eines Kinderliedes.
Murrend löste er die Eisen. Ich rollte mich auf die Seite und sah hinauf zu Borrmann. Und jetzt reichts mir. Endgültig! anderen eindreschen.
laf
Morgen lasse ich mich kopieren. Dann kannst du auf den
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Zu den Schmerzen meines Rückens kamen nun noch die Druckstellen der Handschellen hinzu. Ich rieb die Gelenke meiner Hände und setzte an, die der Füße zu erreichen, doch war der Schmerz nicht auszuhalten. Mein Rücken strafte mich unbarmherzig ab, drehte oder bog ich
rig h
ihn auch nur eine Winzigkeit. „Für den Schaden, den Sie hier angerichtet haben, werden Sie aufkommen müssen. Packen Sie zusammen und gehen Sie auf Kammer duschen und umziehen. Eines verspreche
py
ich Ihnen, so wie bisher machen Sie nicht mehr lange weiter. Ich werde Ihren dummen Stolz brechen.“
Co
„Ach, und gar nicht mein Rückgrat?“ „Dein elend großes Maul auch.“ Glaubte der denn, ich bereite ihm Ungemach? Recht hat er! Ich sah ihm ins Gesicht, gähnte mit weit aufgerissenem Mund bis sich meine Augen mit Tränen füllten, schlug die
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plombierten Zähne klirrend aufeinander, sog zischend Speichel durch sie und wackelte gewichtig mit dem Kopf.
oth
„Wirklich zu dumm, dass ich nur noch etwas mehr als dreieinhalb Jahre hier sein darf“, und mein Körper schmerzte mit jedem Atemzug mehr.
mr
Stolz hatte ich ohne Zweifel. Doch mehr noch hatte
ich Angst. Ohnmächtige Angst vor dem, was Klausi aus mir
im
machen könnte. Seine Macht schien unbegrenzt. Ich war
viel zu jung, um mir ein Leben in der Psychiatrie - ganz ohne Disco, Mädchen und Bier - vorstellen zu wollen. Weit
.T
weniger freilich, im Pflegebett eines muffigen Knastkrankenhauses, gefesselt an eine Beatmungsmaschine. Eben
W
diese Angst war es, die alles mobilisierte und mir ungeahnte Kräfte des Widerstands verlieh. Vor allem dann, wenn ich mal wieder an der Richtigkeit meines handelns zweifel-
tb yO
laf
te.
IV
Wann wurde ich, was ich bin? Wie ich mich kenne, mit dem Tag meiner Geburt. Spätestens aber vor vier Jahren. Damals, ich war schlanke Vierzehn, standen zu einem
rig h
höchst unpassendem Zeitpunkt die Feierlichkeiten anlässlich der Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend an. Kein Achtklässler wurde verschont. Natürlich auch ich nicht, weshalb ich mich selbst verschonen und ins Stadion ver-
py
drücken musste. Einem Fußballspiel von Dynamo beizuwohnen erschien mir ergreifender und zwangloser als
Co
die freiwillige Aufnahme in die FDJ. Sport hatte einen unvergleichlich höheren Stellenwert für mich als irgendwelches steifes Blauhemdentheater. Schon als Sechsjähriger begann ich aktiv Fußball zu
spielen. Und mit zwölf erfüllte sich mir ein ganz, ganz großer Traum: Als Ballholer nahm ich fortan an sämtlichen
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Dynamo-Spielen teil. Direkt am Rasen, in unmittelbarer Nähe der von mir verehrten Stars.
oth
Weder meine Klassenleiterin noch die Schulleitung
zeigten Verständnis für meinen Sport und sprachen mir ei-
nen Tadel aus. Ein herber Rückschlag für einen, der sich zu
mr
den besten der Klasse zählen durfte.
Wer suchte die Konfrontation? War ich es, der pro-
im
vozierte? Oder sie, beständig auf der Suche nach dem Erlebnis ihres unbefriedigtem Daseins? Wer weiß das
schon so genau. Jedenfalls häuften sich seither die Vor-
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kommnisse.
Einmal spazierte ich in einer rosaroten Jeans mit
W
braunen aufgesetzten Taschen zur Schule. Auf dem rechten Knie prangte ein handtellergroßes schneeweißes Zeichen. Ein Symbol, nichts als ein Symbol, welches an
laf
das heißbegehrte Sammlerobjekt Mercedes-Stern erinnerte, nur dass der mittlere Balken nach unten durchgezogen
tb yO
war. Ich glaube, es hatte irgendwas mit Frieden zu tun. Nun ja, eigentlich hatten wir ja eine dressierte weiße Taube. Eine, die keine Fensterbretter vollkleckert. Wie auch immer: das Ding kam aus dem Westen und sah gar nicht so übel aus. Von einem Foto auf der ersten Seite
rig h
unserer Zeitung sprang es mich an. Es war das einzige Bild dieser Ausgabe, und es war auch größer als sonst. Eine Menschentraube mit aufgerissenen Mündern, auf irgendeinem Platz in Westberlin, wie ich dem Text unter dem Foto
py
entnahm. Einige hielten Papierschilder mit dem Zeichen über ihre und die Köpfe der anderen. Es war wohl ein sehr
Co
wichtiges Symbol für sie. Lange betrachtete ich das Foto, bevor ich das Symbol abmalte, auf einen quadratischen weißen Bügelflicken übertrug, ausschnitt und über ein kleines Loch meiner Lieblingshose bügelte.
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Versuche meiner ausrastenden Klassenleiterin, es mit Zornesröte und unpädagogischer Gewalt abzureißen,
oth
scheiterten an meinem erbitterten Widerstand. Kurzerhand verbot sie mir, die Hose zu tragen. Wollte wohl sehen, ob und was ich darunter trug, das Ferkel. Natürlich zog ich
mr
meine Hose nicht aus. Ich trug sie weiterhin - auch in der Schule. spekt ein Stück weiter vor ihnen zurück.
im
Mit jedem Verbot, mit jeder Drohung wich mein Re-
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Auf den Gipfel hievten, oder besser, katapultierten sie mich, als des Volkes Polizei meinen Personalausweis
W
kassierte und mir stattdessen eine PM 12 in die Hand drückte. Ein kleines ordinäres Faltblättchen mit meinen persönlichen Daten und Lichtbild. Damit nicht genug: Sie
laf
machten mir auch noch zur Auflage, bei ihnen kniefällig zu werden und untertänig um Erlaubnis zu bitten, wollte ich
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die Stadt verlassen.
Zeitgleich flog ich aus meinem Fußballverein, verlor meine Stelle als Ballholer und auch die Tore der Gesellschaft für Sport und Technik, wo ich Sportschießen und Segelflug trainierte, blieben von da ab für mich verschlos-
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sen. Das saß.
Stück für Stück zerbröselte eine Welt um mich her-
um, die ich nicht mehr verstand. Geräuschlos, ohne Staub, ohne Lärm.
py
Und ich, noch nicht ganz sechzehn, verkroch mich in schummrigen Kneipen, soff vom Schulschluss bis zur Poli-
Co
zeistunde und sah illusionslos desinteressiert dabei zu. Niemand fragte nach mir. Nach einem, den es nicht gibt, lässt es sich schlecht fragen. Tja, und keine drei Monate später saß ich hinter Gittern.
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„He, bleib da! Was ist mit dem Ramsch hier?“
oth
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Kurzatmig und um mindestens zehn Jahre gealtert schob
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ich mich durch die Tür, hielt nach seinem Aufschrei inne und drehte mich bedächtig, um den Schmerz in meinen
im
Gliedern nicht wachzurütteln, nach ihm um. Er stand vor
dem Bett, sah mich mit verengten Augen an und hielt seinen Bummi wie einen Zeigestock auf den Sack gerichtet, in
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dem sich alles befand, was ich zwei Wochen zuvor mitgebracht und nun wieder im Bettbezug verstaut hatte.
W
„Na, sicher doch, erst zertrümmert ihr mir das Kreuz, so dass ich mich kaum fortbewegen kann, und dann soll ich auch noch Säcke schleppen? Vergiss es!“
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Sonderliche Lust auf Umzug hatte ich sowieso keine. „Und was wird dann damit?“ Ebene.
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Sein Ton hangelte sich auf eine zunehmend aggressivere „Nehmen Sies als Dank für die schöne Zeit“, sagte ich und fügte leise, während ich mich von ihm abwandte, hinzu: „Schlepp es selbst und mach dich zum Affen.“
rig h
„Was? !“ „Was?“
„Was hast du geschwafelt?“ „Nichts weiter. Nur, dass Sie es auch den Iwans spenden
py
können, wenn Ihnen danach ist.“ „Verschwinde! Aber hurtig!“
Co
Was leichter gesagt als getan war. Ohne den Schließer, der meinen Bettbezugsack übrigens durch den halben Knast buckelte und sich dabei anständig zum Affen machte, kam ich nicht weit - schon gar nicht zur Kammer, wo eine reinigende, eine heilende Dusche auf mich wartete.
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Die Kalfs begrüßten mich wie einen alten Bekannten mit festem Handschlag und einem Lächeln, dass ihre Freu-
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de über unser Wiedersehen akzentuierte. Oder machten sie sich lustig über mich? Nein, nein, ihre Freude war ganz bestimmt echt.
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Einer steckte mir in einem unbeobachteten Moment eine Bleistiftmine zu. Plötzlich hatte ich das Gefühl nicht
im
mehr allein zu sein. Auf eine eigentümlich zufriedene Weise fühlte ich mich heimisch. Die Jungs aus der Nachbarschaft schlossen Freundschaft mit dem Zugezogenen.
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Und als ich in meinem Bunkerloch Nummer eins eintraf, schallte es, kurz nachdem sich der Schließer verzogen
W
hatte, aus der Nebenzelle: „Scheems, bist du’s? Komm ans Fenster!“
Seither unterhielt ich mich, oftmals stundenlang, mit
laf
meinen Nachbarn ohne sie je zu Gesicht zu bekommen. Und manchmal, wenn wir uns sicher glaubten, dass kein
tb yO
Schließer durchs Gebäude schlich, sangen wir mit dröhnenden Stimmen Knastlieder. Nur leider waren die anderen Zellen viel zu selten belegt.
Von Tag zu Tag ging es mir besser. Jeder Gedanke
rig h
an Aufgabe wurde mir fremd. Ich fühlte mich und die Richtigkeit meines Handelns durch die Aufmerksamkeit der anderen bestätigt. Vormittags bekam ich nun auch in der Einzelhaft die
py
JUNGE WELT. Offenbar spekulierte Borrmann, mich durch deren Lektüre in meiner Einstellung beeinflussen zu kön-
Co
nen. Obwohl ich mir viel Zeit beim lesen ließ, verkürzte sie die Tage nur unwesentlich. So begann ich das tägliche Kreuzworträtsel auszufüllen, gab nach dem Mittagessen Napf und Zeitung zurück und wartete geduldig auf meine Zerstreuung. Das Ergebnis ihrer Auswertung präsentierten sie mir stets nach meinem Mittagsschläfchen. Fixe Jungs!
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Sie stürmten herein, zerrten mich vor die Tür und filzten meine Wohnung. Komplett, versteht sich. Gefunden haben
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sie freilich nie, wonach sie suchten. Wie auch - ich trug die
Mine im Mund unter der Zunge. Und da ich die Zeitung weiterhin erhielt, etablierte sich unser kleines Spielchen zu
mr
einem festen Bestandteil und lockerte so meine Tage auf. Ich möchte fast sagen, es ritualisierte sich und machte
im
mich geradezu süchtig. Denn nach dem Essen wartete ich
sehnsüchtig auf meinen Nachtisch - die Abwechslung. Und
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ich wurde nie enttäuscht.
Es dürfte etwa der zehnte Tag gewesen sein, als ich
W
mich durch mein Mittagessen löffelte und plötzlich stutzend inne hielt. Ja, richtig, ich bekam nun ein üppiges Mittagessen. Und, jawohl, ein warmes. Wenn auch nur lau,
laf
so gab es mir doch Momente eines warmen, hellen Gefühls der Geborgenheit - bis ich die Schüssel geleert, aufsah und
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mich kalt das eisige Dunkel traf.
Rein akustisch barg das Wort Fruggeneintopf etwas positiv rätselhaftes in sich. Doch vermutlich gibt es nichts schlimmeres als in einem dunklen Loch auf einem Holzbrett zu sitzen, einen Toilettenkübel im Rücken und übel-
rig h
riechende Futterrüben, angebaut für unsere vierbeinigen Fleischlieferanten (Was, verdammt noch mal, ist Fleisch?), in sich schaufeln zu müssen. Ich hasste dieses ekelhafte orangerote, gläsern, schlapperige Zeug, das zum Montag
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gehörte wie andernorts Fisch zum Freitag. So saß ich nun leidend über dem Futtertrog gebeugt
Co
und stellte nicht ohne Verwunderung fest, ein Päckchen von der Größe einer Zündholzschachtel auf meinem Löffelchen vorzufinden. Mit wildem Herzklopfen löste ich sein schützendes Plastikkleid und warf es in den Kübel. Dem Geheimnis des Innern ging ich erst auf den Grund, nachdem Schüssel und Zeitung abgeholt waren.
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Ich war überwältigt. Tränen der Freude standen mir in den Augen als ich las, was auf einem der zusammengefalteten
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Zigarettenpapierchen stand: „Kopf hoch! Halte durch!“.
Zwischen den Fingern hielt ich Tabak, richtige Zigarettenpapierchen, eine große Bleistiftmine; eine halbe
mr
Rasierklinge, mit der sich weitaus besser und komfortabler als mit einer Glasscherbe Funken erzeugen ließen, und ei-
im
nen fast zwei Zentimeter langen Feuerstein - das alles
schickten Unbekannte und opferten mir ein kleines Vermögen. Allein für einen Feuerstein dieser Größe musste ein
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gesamtes Monatseinkommen hingeblättert werden.
W
Ichtershausen, das, wie ich eingangs anriss, aus einem uralten Kloster hervorging, bestand zu einem erheblichen Teil aus hauchdünn verputzten Strohwänden
laf
und knarrenden Dielenböden. Zündhölzer und Feuerzeuge waren wie so vieles andere unter Androhung von Strafen
tb yO
strengstens verboten.
Natürlich galt das nicht für mich. Denn ich zeigte ihnen die Brust und rauchte wann immer mir danach war, während die armen Teufel da draußen auf das Wohlwollen der Erzieher angewiesen waren. Die hielten sich in jeder Gruppe
rig h
einen Fackelträger, der seine Schwungradelli nur auf ihr ausdrückliches Kommando hin anwerfen durfte. Etwa zur Freistunde auf dem Hof oder im Duschraum auf der Station, der Platz für fünf Duschköpfe, ebenso vielen
py
Waschbecken und zwanzig bis dreißig Schulter an Schulter
Co
schmauchenden Jugendlichen bot. Nie habe ich erfahren, wem ich dieses und alle weite-
ren Kopf-Hoch-Gaben, die ich in den folgenden Wochen immer montags aus meiner Fruggenschüssel angelte, verdankte.
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Die Zeit schritt voran, legte ein atemberaubendes Tempo vor. Schon waren wieder zwei Wochen vorüber. tung, Freistunde, Mittag, Kübel, Schläfchen, Filzung,
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Teilte ich anfangs die Tagesabschnitte in Frühstück, Zei-
Abend, Sport, schlafen ein, freute mich über jede zurückge-
mr
legte Teilstrecke, strich mit dem löschen des Lichts den
überstandenen Tag gedanklich ab und sehnte mich dem
im
letzten Frühstück entgegen, so empfand ich den nahenden
letzten Tag nunmehr als erschreckend und Borrmanns Einlage als lästig.
.T
Oder war es mit mir so weit? Verlor ich den Überblick? Sagte ich nicht noch am Morgen zu meinem Begleiter, er
W
habe sieben lange Tage jede Gelegenheit zum verschwinden ungenutzt gelassen; und die nächsten sieben Tage könne ich gut ohne ihn auskommen?
laf
Klaus war schon da, als ich einzog. Ich wusste nicht, woher er kam. Er war einfach da und breitete sich in mei-
tb yO
nem Vestibül aus. Klaus kannte sich gut aus, hielt Abstand, weil er wusste, dass mich mein Zaun hinderte, zu ihm oder auch nur in seine Nähe zu gelangen. Schamlos krabbelte er umher, kreuz und quer, strickte sich ein Zuhause und entzog sich immer wieder meinen Annäherungsversuchen. Bis
rig h
zu diesem Tag, an welchem er zu seinem letzten Wettlauf gegen mich antrat, ihn führte und im Kübel endete, der Dummkopf.
Selbst als dürres, langbeiniges Spinnentier hätte er wissen
py
müssen, dass es hier für zwei Leben zu eng, die Luft für
Co
mehr als ein Lebewesen einfach viel zu dünn war. „Wie geht’s?“, fragte Klausi, vor meinem Zaun lau-
ernd. Seine beiden Lakaien hatte er links und rechts der Tür abgestellt. „Sie sehen mich leiden. Mit welchen Annehmlichkeiten wollen Sie mich denn diesmal beglücken?“
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„Auf Gruppe?“ „Wie darf ich das verstehen?“
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„Sich in die Gemeinschaft einordnen.“
„Dann kommen Sie nächstes Mal, und ich bin weg? Gar enden Besuche verzichten.“ „Arbeiten?“
im
„Sehr gern. Aber nicht für fünf Mark im Monat.“
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nicht mehr hier? Nö! Ich kann unmöglich auf Ihre aufbau-
„Wissen Sie, was Arbeitsverweigerung ist. Im günstigsten Fall fassen Sie fünf Jahre Nachschlag ab. Was halten Sie
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davon?“
Und was hältst du davon, mir mal zu flüstern – muss willst, was ihr von mir wollt?
W
ja nicht gleich jeder mitbekommen -, was hier läuft, was du Ohne seinen höchst gelangweilt dahergesagten Worten ei-
laf
ne unmittelbare Bedrohung zu entnehmen, wurde mir doch einigermaßen mulmig in der Magengegend. Ich glaubte ihm
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kein Wort. Doch beschleunigte sich der rhythmische Schlag meines Herzens als ich an das Eiltempo meiner wenige Monate zurückliegenden Verurteilung vor dem Bezirksgericht dachte. Der Richter verdonnerte mich aufgrund an Haaren herbeigezogener Beweise. Er nannte es
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Beweise. Ich nannte es Scheiße. Auch wenn Borrmann wie zu einem Fünfjährigen
sprach, entging mir doch sein drohender Unterton nicht. Er wusste, was er sagte. Und ich wusste, dass ich weder in
py
diesem noch einem anderen Loch fünf weitere Jahre unbeschadet überstehen würde.
Co
Den Nachdenklichen mimend legte ich meinen gestreckten rechten Zeigefinger an die Unterlippe, sah Borrmann bohrend in die Augen und sagte: „Raten Sie mal, wie alt ich dann sein werde.“ Juhu! Borrmann explodierte aus dem Nichts. Speichel, cremig wie aufgeschlagenes Eiweiß, quoll aus der Dat-
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schenbräune seines Gesichts, als er schrie: „Ich werde dich hier drinnen verrecken lassen! Schafft ihn mir aus den
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Augen! Raus! In Absonderung den... das... mit dem asozialen Müll!“, und stürzte hinaus.
mr
Während der folgenden Monate besuchte mich Klausi nur noch jede vierte Woche. Immer am letzten Tag der
im
Einzelhaft. Er war wohl böse mit mir. Und ich mit ihm. Ich pfiff auf ihre dämlichen Vorschriften und zeigte ihnen bei jeder Gelegenheit die Brust. Strafe muss sein.
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Nahezu täglich brachen sie meine Minuten unter freiem Himmel ab, weil ich nicht gehorchte und, gleich einem
W
trotteligen Esel, stur im abgesteckten Kreis trottete, sondern gazellenhaft kreuz und quer über den Hof hopste und Mithäftlinge ansprach.
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- o, ganz schlimm - Zellennachbarn oder vorbeiziehende Es war mir völlig gleich, ob Schließer vor meiner Tür
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lungerten, mich beobachteten und belauschten. Munter unterhielt ich mich am Fenster weiter und rauchte gemütlich ein Zigarettchen. Und ich lachte laut und irre, wenn sie zur Tür hereinstürzten, mich ans Gitter fesselten und mit ihren Bummis traktierten, begann ich doch ihren Zorn zu verste-
rig h
hen. Ekel verhinderte das Erfolgserlebnis. Dabei gaben sie sich wirklich Mühe, wurden von Mal zu Mal schneller und trickreicher. Irgendwie schafften sie es, den Deckel geräuschlos zu öffnen. Ich staunte nicht schlecht, als sie das
py
erste Mal plötzlich mitten in meiner Wohnung standen, ohne dass ich sie klopfen und hereinkommen hörte. Sie
Co
filzten gründlich, tasteten sich jede Ritze entlang, öffneten den Kübel, um sich sogleich angewidert abzuwenden und hoben ihn nach einer Atempause in der Erwartung in die Höhe, ich sei so blöd, etwas darunter zu verstecken. Verflixt, wo bunkerte der illegale Qualmer Tabak, Feuerstein und Rasierklinge? Immer der Nase nach - unter dem
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Einsatz, meine Herrn. Nichts für Feinschmecker, so ein Kübeleinsatz, ich weiß, dafür aber sehr effizient.
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Gelegentlich klappte es doch. Dann nämlich, wenn
ich mit mir würfelte. Erwischten sie mich, rissen sie mir die drei kleinen Dinger aus den willenlosen Händen und tram-
mr
pelten wild auf ihnen herum, als hätte einer dem anderen
einen Skorpion von der Nasenspitze gepflückt und todes-
im
verachtend zu Boden geschleudert. Ich wünschte ihnen
noch viele weitere durchschlagende Erfolge und sie bedankten sich mit ein paar kräftigen Bummihieben.
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Am Abend bastelte ich neue. Ich knetete den Brotteig meines Abendessens, mischte Zigarettenasche darunter,
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modellierte aus der Kugel drei gleich große Quadrate und markierte mit dem Feuerstein die Augen. Über Nacht härtemich erneut heraus.
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ten sie aus, und schon am nächsten Morgen forderte ich
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Ja, ich lachte, wenn sie mich schlugen. Ich konnte nicht anders. Ich lachte vor Wut, Schmerz und Ohnmacht. Und ich lachte auch, weil ich zu feige war, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
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Irgendwann an einem Samstag oder Sonntag, ich lag auf der Seite mit zur Brust gezogenen Knien im Halbschlaf am Boden, bohrte sich Wohlklang in meine von monatelanger Einzelhaft sensibilisierten Gehörgänge. Ich hob den
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Kopf und lauschte. Von fern drangen weiche Gitarrenklänge an mein Ohr. Eine Sinnestäuschung? Eine bange
Co
Ahnung beklemmte mir das Herz und trieb Schweiß auf meine Stirn. Im Knast gab es keine Radios, mithin auch keine Musik. Logisch. Wenn ich den Zusammenhang erkannte, konnte es dann soweit sein? Konnte wohl, durfte aber nicht, weil blöd sterben einfach nur blöd ist. Mit einem Satz stand ich auf beiden Beinen, sah mit aufgerissenen
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Augen zum Deckel und trocknete meine Stirn am rechten Ärmel des Overall. Die Musik hörte nicht auf. Ich umklam-
oth
merte den Zaun, trat zwei oder drei Mal gegen ihn und
hustete kräftig und laut die bösen Geister aus dem Leib.
Dann war alles vorbei und ich wusste, eine ganz gemeine
mr
Form der schleichenden Verblödung hatte ihren Einstand
gegeben. Ich atmete tief durch - und plötzlich war sie wie-
im
der da, die Hinterhältigkeit. Ausgelassen tanzte sie in
meinen Ohren, lärmte durch meinen Körper, meißelte durchs Hirn, saugte an meinem Verstand, wollte mich nicht
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ruhen lassen und schrie mich an: „James? ! Hörst du mich? !“
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„Ja!“, schrie ich und stürzte zum Fenster, „Ja, ich höre dich! Wer bist du? !“ „Sandro!“
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„Bist du die Musik? !“, fragte ich erregt und kämpfte mit den Tränen. Einer wie ich, der darf nicht weinen. Was soll-
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ten die anderen von einem denken, ist doch schließlich knüppelhart wer im Loch sitzt. „Gefällt sie dir? !“
„Spiel weiter! Bitte, spiel weiter!“ „Warum bist du schon wieder im Bunker? !“
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„Protektion!“ „Waaas? !“
„Mach Musik!“
„Roger! Halt die Ohren steif!“
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Viel mehr ist ohnehin nicht drin. Mach Musik - gib mir Licht, nur etwas Leben, lass mich hoffen, lass mich träumen; gib
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mir die Kraft, zu verstehen. Sandro spielte. Er spielte Santana. Samba pa ti oder so ähnlich hieß der Song. Sanft, zärtlich kamen die Töne zu mir herüber, streichelten mich, gaben mir Ruhe, Wärme und die Gewissheit, das in meinem Oberstübchen doch noch nicht das Chaos das Ruder übernommen hatte. Ich
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war glücklich und erleichtert, dem ganz großen Rieseln noch einmal entkommen zu sein.
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Doch wer war Sandro? Kannte ich ihn? Wahrscheinlich nicht. Sandro? Ich kenne keinen... Doch, ja, Sandro!
Ich lernte ihn auf Transport im Grotewohl-Express, einem
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für Gefangene hergerichteten Eisenbahnwagon, kennen.
Auch GeradewohlExpress genannt, weil kaum einer wuss-
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te, wo er am Ende landet, wie lange er unterwegs sein
würde und wie viele Stunden er in dem stickigen Wagon auf einem Abstellgleis unter der Sonnenglut zu leiden hat-
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te, bis man ihn endlich an einen Anschlusszug koppelte. Zu fünft saßen wir im Abteil, das zwei, allerhöchstens zweiein-
W
halb Quadratmeter maß. Sandro saß auf dem Klappsitz an der Tür, ich am vergitterten Milchglasfenster, auf der Holzbank links von ihm. Auf Zugang verbrachten wir noch ein
laf
paar Tage miteinander, dann sah und hörte ich nichts mehr von ihm.
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Ja, ich erinnere mich: Sandro Schömann, war sein Name. Der lange Blonde aus Hoyerswerda. Fortan verwöhnte mich mein Freund Sandro jedes Wochenende, das ich im Bunker verbrachte, mit seinen Gi-
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tarrenkünsten. Bisweilen sogar wochentags, wenn er am Abend von der Arbeit kam. Unglaublich, wie mich die Magie seiner Klänge beglückte, stärkte und über die Zeit halfen. Einer, der mal drei läppische Tage zwei Zellen neben
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mir verbrachte, so eine Art Gastarrestant, sagte mir, Sandro sitze an einem Fenster ganz rechts auf der zweiten Etage
Co
des gelben Hauses links schräg gegenüber. Nett von ihm. Jetzt wusste ich bescheid. Woher, glaubte dieser Volltrottel, sollte ich wissen, was sich bei meinem eingeschränkten Blickfeld irgendwo schräg links gegenüber abspielte? Außerdem war es mir Brust, wo er saß, lag oder stand - hauptsache er spielte.
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richt. Neben den beiden Subjekten, die vor wenigen
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„Anfang September tagt im Hause ein SchnellgeWochen versuchten, gewaltsam Hundezone und Mauer zu überwinden, und dabei einen Kollegen schwer verletzten,
mr
wird man auch Sie verurteilen. Sie werden Ihre fünf, die anderen, na ja, so zwischen sieben und zehn Jahre abfassen.
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Wie gefällt Ihnen das?“, fragte Borrmann mit dem Schatten
eines süffisanten Lächelns, als er Mitte Juli lockeren Fußes in mein unaufgeräumtes Absonderungsdomizil schwebte.
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Klausi, du machst mir Angst. Ich saß auf der Bettkante und sah auf seine polierten Halbschuhe.
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„Hm, schwer zu sagen. Ich ha... ha... ha... habe weder Vergleichswerte noch die entsprechenden Er... er... erfaahh... ruung... gen, um Ihre Fraaaa... ge erschöpfend bee... be-
laf
antworten zu können. Tu... tu... tut mir wirklich Leid.“ Und da passierte es: ich verlor das letzte Quäntchen Stolz.
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Ich hielt die Luft an, spannte jeden Muskel, und doch fiel es wie ein fauler Apfel von mir ab und stürzte zu Boden, direkt vor seinen beschissenen braunen rechten Schuh. Borrmann brauchte seinen Fuß nur leicht anheben und... Gespannt beobachtete ich den Huf, er bewegte sich nicht,
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stand regungslos neben dem anderen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken - ganz tief. Doch da stand Borrmann, und auch vom Bett konnte ich mich unmöglich erheben, wollte ich zurück, was ich verlor. Es war nämlich
py
nur während der Nachtruhe erlaubt, sich im Bett aufzuhal-
Co
ten.
Wie konnte es geschehen, dass ich hilflos blöden
Wörtern nachhing? Gott, wie erniedrigend! Borrmann musste sich seinem Ziel ganz nahe sehen. Irrtum, mei Gutster! Ich bin wieder da! „Versuchen Sie es mit Vernunft“, sagte er und trat einen halben Schritt zurück.
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Das ist ja wohl das allerletzte: braune Schuhe. „Schickes Schuhwerk“, sagte ich und lachte dabei.
oth
„Kommen Sie auf Gruppe?“
„Wegen dem N... N... Nachschlag?“, ich sah zum Fenster können Sie mir auch hie... hierher bringen.“
mr
und legte eine kurze bedeutungsvolle Pause ein, „Den
Borrmann zeigte keine Regung. Äußerlich ruhig, die Hände
im
auf dem durchgedrückten Rücken und den Blick über mich hinweg zum Fenster gerichtet, sagte er: „Ich habe getan, was ich für Sie tun konnte. Ihnen ist nicht mehr zu helfen.“
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Wer sollte mir denn helfen? Und wobei überhaupt?
„Ich fang gleich an zu heu... heulen.“ Mir war wirklich da-
W
nach.
Borrmann legte eine schneidige Kehrtwendung hin, nahm seine beiden Burschen ins Schlepptau und ging ohne ein ihrer Schleimspur.
laf
weiteres Wort hinaus. Mir war, als hörte ich das Schmatzen
tb yO
Ich befand mich in einem Zustand der Niedergeschlagenheit, innerlich verwahrlost und ohne Orientierung. Noch immer saß ich auf der Bettkante und starrte auf die Stelle am Boden, an der ich abhanden gekommene Buchstaben vermutete. Mein Puls trommelte den Todesmarsch,
rig h
ich war erregt und schwitzte wie ein ängstliches Mäuslein in den Fängen einer gefräßigen Raubkatze. Ich kam mir furchtbar klein, dünn und hilflos vor. Fünf Jahre! Fünf plus fünf macht zehn. Zehn Jahre
py
sitzt keiner auf einer Arschbacke ab. Schon den Sinn der ersten fünf verstand ich nicht; wofür, verflucht, jetzt noch
Co
mal fünf? Gibt es Scheiße nur noch im Fünferpack? Besser ich gebe auf. Was aufgeben? Was tat ich denn, dass ich hier landete? Was, was, was, was? ! Und, sag, was will ich, dass ich das auf mich nehme? Völlig egal. Ganz ohne Reiz ist es ja nun auch wieder nicht. Sollte ich aufgeben? Und dann? Was erwartet mich da draußen? Der spinnt wohl. Nix
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 53 von 53 -
mit aufgeben. Aufgeben ist wie braune Schuhe tragen. Und das, mein lieber Klausi, überlasse ich dir. Alles andere
oth
kannst du dir abschminken. Dann schon lieber die Sprache verlieren. Nur blöd werden muss nicht unbedingt sein.
mr
Zur Feier des Tages ein kräftiges Zigarettchen. Dem Tatterich meiner Hände würde es ein Ende bereiten, und
im
auf dem Topf war ich auch noch nicht. Beschwingt erhob ich mich und setzte mich sogleich wieder. Dummerweise war mir der Tabak ausgegangen.
.T
Also federte ich hoch, öffnete beide Flügel des Fensters und horchte. Sehen konnte ich nichts, weil neben
W
einem robusten Gitter zusätzlich ein Metallkasten mit gelblichgrünem, drahtdurchflochtenem Glas wie ein Fensterkorb aus der Wandflucht hervortrat. Da hatte wohl
laf
jemand Bedenken, ich könne hinausfallen, gar entfliegen. Nur in den oberen Teil des etwa zwanzig Zentimeter tiefen
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Vorbaus hatte man einige Löcher gebohrt, so dass sich zuweilen eine Brise Frischluft in meine Zelle verirrte. Nach einer Stunde, oder etwas mehr, hörte ich ganz in der Nähe Stimmengemurmel. Sicher, ob es Gefangene beim Hofgang waren, war ich mir nicht, denn jedem war der
rig h
Aufenthalt in der Nähe der Absonderungszellen verboten. „He! Komm mal her!“ „Was ist?“, flüsterte jemand, der vermutlich unschuldig blinzelnd gen Himmel blickte.
py
„Sch... schieb mir eine brennende Ziiiigarette rein. Hier, zwischen Bleeeende und Wand.“ Um die Stelle zu kenn-
Co
zeichnen, schob ich ein Stückchen Papier durch den schmalen Schlitz zwischen Hausmauer und Metallkasten. „Bist du Tscheems?“ „Ja! Und jetzt mach!“ Unendliche Sekunden vergingen, bis ich, den Kopf zwischen die Stäbe geklemmt, mit ausgestrecktem Arm nach
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 54 von 54 -
dem glimmenden Stängel fingern konnte. Gierig zog ich an ihm. Genüsslich inhalierte ich den Rauch.
oth
„Brauchst du Tabak?“
„Der war gut! Geh ein paar Schritte zur Seite, m... m... mach ein Päckchen und wirf herein, was du übrig ha... hast. Pass
mr
auf, ich ma... ch jetzt den Weg frei.“
Mit beiden Händen umklammerte ich die Gitterstäbe, zog
im
mich an ihnen hoch und kauerte auf dem abschüssigen
Fensterbrett nieder. Dann ließ ich mich etwas nach hinten fallen, schob das rechte Bein durchs Gitter, winkelte es an,
.T
atmete tief durch und trat kraftvoll gegen die Drahtglasblende. Knirschen - weiter nichts. Abermals trat ich zu.
W
Heftigeres knirschen. „Sau, du! Willst du wohl“, knurrte ich. Beim dritten Mal splitterte sie und nach dem vierten Anlauf flog das widerspenstige Teil aus seiner Halterung.
laf
Der Krach des im Hof aufschlagenden und berstenden Glases war noch nicht verhallt, da schwirrte etwas an meinem
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linken Ohr vorbei ins Zelleninnere. Draußen auf dem fußballfeldgroßen Innenhof jubelten, schrieen und klatschten weit über einhundert Knackis. Hinter dem Maschendraht der Sicherheitszone an der Mauer zerrten streitsüchtige deutsche Schäferhunde kläffend an ihren Ketten und
rig h
kampflustige Alarmpfeifen mischen ihre schrillen Töne unter das Toben im Hof und forderten mich zu unverzüglichem handeln auf. Geschwind hüpfte ich vom Fensterbrett und suchte
py
mein Päckchen, dass sich inzwischen gepaart haben musste. Gleich vier verschiedenster Größe sammelte ich auf.
Co
Just in dem Augenblick als ich sie im Hohlraum unter dem Klosettbecken gebunkert hatte, öffnete sich die Zellentür. Fünf Schlüsselschwinger stürmten mit gezückten Bummis herein und packten mich. „Ist’s mal wieder soweit?“, fragte ich unschuldig.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 55 von 55 -
Doch was echte Pfeifen sind, die gehen mit lustig grimmigem Mienenspiel über so was hinweg, werfen ihr
oth
Menschenopfer kopfüber aufs Bett, fesseln es mit routinierter Hand ans Gestell, werfen eine Decke über das da, um sich den Anblick des Leids zu ersparen - und toben sich
mr
mal tüchtig aus. Ist ja sonst nichts los in der Gegend.
Bummis prasselten danieder. Ich schwieg, um sie
im
durch das stolpern über meine gepflegte Wortwahl nicht noch mehr anzuspornen. Sie beschimpften mich, rissen
Witze, und sie lachten. Doch bald schon drangen undeutli-
.T
che Fetzen zu mir unter die Pferdedecke. Draußen wurde es still. Und plötzlich spürte ich keine Schmerzen mehr. Ein
W
schönes Gefühl.
Als ich die Augen aufschlug war Stille um mich herum. Etwas verklebte meine Lippen. Ich strich mit der Zunge
laf
darüber und hob den Kopf dabei um einige Zentimeter an. Ein Blut-Speichel-Gemisch rann aus meinem Mund und
tb yO
sammelte sich zu kleinen Pfützen auf dem blauweißkarierten Kopfkissenbezug unter mir. Erschöpft, mit Tränen unbändiger Wut in den Augen, fiel mein Gesicht in eine der Lachen.
Spät am Abend, die Nacht brach bereits herein, setz-
rig h
ten drei Hausarbeiter eine neue Blende ein. Der jüngere von ihnen, ein kleiner blonder mit ernstem Gesicht, er mochte vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, fragte mich mit fester Stimme: „Die haben dich verhauen?“
py
Wahrscheinlich einer von den Langstrafern, der seine Familie ausgerottet hat, dachte ich mir, lächelte, auch wenn
Co
es schmerzte und er darin vermutlich nur eine blutverschmierte Fratze sah, und antwortete: „Schön gesagt.“ Sein verschlossenes Kindergesicht hellte sich auf. Er lächelte zufrieden, beinahe glücklich, zog ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche, sah kurz zur Tür und schob es dann schnell unter mein Kopfkissen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 56 von 56 -
„Du schaffst das, Tscheems“, sagte er leise. Erlösung von den Handfesseln erfuhr ich nachdem
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die Handwerker meine Zelle verlassen hatten. Ich blieb lie-
gen auf dem Bauch, bewegte mich nicht; konnte mich nicht bewegen, weil mich jede noch so kleine Bewegung an den
mr
Misstönen der die Saiten ihrer Harfe zupfenden Engel im
im
Himmel teilhaben ließ.
Einige Tage nach der forschen Entgegnung auf mein ausuferndes Suchtverhalten wechselte ich in mein kleines
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Verlies des einsamen Dunkels. Sie hatten die Verlegung aufgeschoben bis nicht mehr der Schmerz die Koffer pack-
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te.
„Wer ist in der Eins?“, fragte jemand aus dem Fenster. „Frag nicht so blöd!“
laf
„Hört, hört, James ist nach Hause gekommen!“, blödelte ein anderer und lachte über seinen gelungenen Scherz.
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Im Vorübergehen hatte ich den kleinen Schildchen an der Wand neben den Zellentüren entnehmen können, dass der Bunker diesmal ausgebucht war. Denn nur wo ein Schildchen dran, war auch ein Arrestant drin. Um so besser, dachte ich mir, und weihte sie sogleich über mein
rig h
Vorhaben ein. Bis auf einen, der noch im Laufe des Tages auf Gruppe entlassen werden sollte, würden sich die
py
verbleibenden drei am Hungerstreik beteiligen. Ohne einen Bissen des gewohnt köstlichen Früh-
stücks angerührt zu haben, gaben wir vier es am
Co
darauffolgenden Morgen mit dem Hinweis, wir befänden uns schließlich im Hungerstreik und könnten nicht einfach mir nichts, dir nichts drauflos schlemmen, alles zurück. Als hätte einer von uns die Liebste des diensthabenden Schließers beleidigt, polterte dieser sich anbrüllend, dass es verboten und noch nie dagewesen sei, den Flur entlang.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 57 von 57 -
Und im Übrigen seien wir allesamt Meuterer und kämen umgehend vor ein Schnellgericht.
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Die Unverschämtheit unsere Forderung bestand darin, tagsüber eine und nachts zwei Decken zu bekommen.
Jedenfalls für so lange, bis die Heizungen funktionierten. mann hatte meine diesbezügliche Bitte mit der
mr
Obwohl kalendarischer Hochsommer, fröstelte uns. Borr-
nung, vor einigen Wochen abgelehnt.
im
Begründung, es verstoße gegen die Sicherheit und OrdSchon am zweiten Tag schrumpften wir um einen
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Hartgesottenen. Beim Hofgang legte er sich flach. Fiel einfach so um. Knickte ab, der Pfeifenkopf. Angeblich brachte
W
man ihn sofort auf die Krankenstation, wie uns einer der anwesenden Schließer weiß machen wollte. Der Umfaller habe nämlich einen Magendurchbruch erlitten, was auf das
laf
trinken von Wasser bei der Zahnpflege zurückzuführen sei. Soso, also Wasser bei der Zahnpflege. Warum nicht ein-
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fach Mundhygiene? So ein ausgemachter Quatsch! Auch ich trank, wenn auch kein Wasser, so doch Tee und das andere braune Zeug, das sie mit Kaffee ansprachen. Ich hielt es eher für wahrscheinlich, dass er sich zu dieser künstlerisch durchaus überzeugenden Akrobatenrolle hatte
rig h
überreden, meinetwegen auch zwingen lassen. Insgesamt ein exzellenter Schachzug. Denn zur Abendessenausgabe verweigerte man uns das Getränk. Erst nach Abbruch des Hungerstreiks, so ihr verlockendes Angebot,
py
bekämen wir wieder etwas von dem guten Gebräu. Schließlich wolle man weiteren Magendurchbrüchen vorbeugen.
Co
Wer kann bei so viel Fürsorge schon nein sagen? Na, wir drei! Am nächsten Tag: Schreck im Ensemble. Ja, mit dem
verzetteln ist das auch so eine Sache. Beim Hofgang war ich allein. Keine Spur von meinen Kollegen, mit denen ich noch am Morgen angeregt plauderte. Auch aus ihren Zellen
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verlautete kein Mucks. Das hatte was von grassierendem Bunker-Kannibalismus. Richtig unheimlich.
oth
Oder stänkerte nur Borrmann mal wieder? Wäre nicht das erste Mal, dass Klausi mit mir seinen Schabernack trieb. Hin und wieder setzte mir der Schlingel einen schrägen
mr
Vogel in die Nachbarschaft. Unaufhörlich laberte der mich
voll, wie toll es auf Gruppe sei. Das letzte Mal dauerten die-
im
se hirnerweichenden Attacken satte drei Tage.
Natürlich sagte keiner, dass ihn Klausi schickt, doch ich war mir sicher. Nur Klausi, der alte Schlawiner, konnte ein
.T
Interesse daran haben, dass ich das Handtuch warf. Womöglich vertraute er darauf, ich bekäme nicht mehr spitz,
W
was lief. Aber vergackeiern gilt nicht. Und mein Freund Sandro würde schon dafür sorgen, dass ich nicht vor ihm verblöde.
laf
Von da ab blieb alles an mir hängen. Meine Körperpflege beschränkte sich auf einen feuchten Waschlappen,
tb yO
den ich morgens und abends gereicht bekam. Zugleich auch die einzig verbliebene Möglichkeit, meinen jungen Körper mit Feuchtigkeit zu versorgen. Saugend entlockte ich ihm Tropfen des immer wichtiger werdenden Nass, rubbelte über Zähne, Gesicht, Brust und Arme und warf ihn
rig h
durch den Zaun vor die Tür. Lange, dessen war ich mir durchaus bewusst, würde ich nicht mehr die Kraft dazu haben. Gewöhnlich beantwortet der Körper Wasserknappheit mit ausklinken. Aber noch ging es. Und Klausi würde nie-
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mals zulassen, dass ich welke und versande. So was bricht nicht mit alten Gewohnheiten. An wem sollten er und seine
Co
Stiefellecker sich am Tag danach auslassen? Am Rande sei noch erwähnt, dass mir wenigstens
der Friseur erspart blieb. Aber nur der Kontaktsperre wegen. Ein Mal im Monat schnitt er mir unter Bewachung die Haare, und dienstags und donnerstags malträtierte er mich mit seinem Messer auf einem Schemel im Flur. Ohne Was-
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ser und Seife zog der Hufschmied über mich her. Wasser
oth
war ihm fremd, wie es mir fremd wurde. Unbeweglich und verschlungen wie ein verknotetes altes Handtuch lag ich am Boden als sich einige Tage - o-
mr
der waren es vielleicht doch Jahre? - später die Tür öffnete und mich ein Schließer barsch aufforderte, mich zu erhe-
im
ben und mit ihm zu kommen. Schwerfällig rappelte ich
mich auf die Knie und zog mich am Zaun hoch auf die Füße. Der Boden schwankte unter mir und ich fror Ich sah überhaupt kaum etwas.
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jämmerlich, war kraftlos und schläfrig. Ich sah ihn nicht.
W
Stumm, mit zu Boden gerichtetem Blick, folgte ich ihm. Jede Bewegung forderte Reserven. Es könnte an einem Wochentag, so um die Mittagszeit herum, gewesen sein.
laf
Ich nahm den Duft warmen essens wahr, und als wir das Dienstzimmer passierten, bemerkte ich zwei weitere Dienst.
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Schließer. Am Wochenende schob gewöhnlich nur einer Schlaff wie Hermann schlich ich über den Hof zum Haupttor. Vor dem Verwaltungsgebäude machte er, etwas später auch ich, Halt. Ich hob den Kopf ein wenig, um zu
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erkunden, weshalb wir unseren Verdauungsspaziergang unterbrachen. Im Eingang, locker an den Türrahmen gelehnt, standen zwei Meter korrekt übereinander gepackte Muskelmasse unter einer auf den Leib gemalten grünen Of-
py
fiziersuniform. Er sah mich an und machte ein Gesicht, als denke er: „Was, so sehen heute Rebellen aus? Also, zu
Co
meiner Zeit, damals das waren noch richtige Kerle.“. Plötzlich zog ein berufsmäßiges Lächeln über ihn hinweg, und ich hörte ihn aufgesetzt freundlich wie ein Oberarzt bei der Visite eines unheilbar Kranken sagen: „Da ist ja unser Rebell“, stieß sich lässig vom Türpfosten ab und gestikulierte einladend mit beiden Armen.
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Ungemein theatralisch für meinen Geschmack. Von einer Sekunde auf die andere vermisste ich mei-
oth
ne Beine. Um ein Nachgeben und tieferen Fall
vorzubeugen, folgte ich dem gelben Kurzhaar-King Kong
den Gang entlang und durch die zweite Tür auf der rechten
mr
Seite. Ich sah mich kurz um und entdeckte den Häftlingstypischen, gebrechlichen Holzstuhl, fiel dumpf auf ihn, „Setz dich!“
im
streckte die Beine weit von mir und atmete tief durch.
Ah, so einer ist das also. Über dreißig und Jugendspäße
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treiben. Ganz ein anhänglicher Greis.
Er setzte sich zwei Meter mir gegenüber hinter seinen
W
Schreibtisch, der bei mir in der Schule Lehrerpult hieß, und stellte sich als Verbindungsoffizier vor. Dieser Tiefstapler. Selbstverständlich musste es richtig Verbindungsoffizier
laf
der Stasi oder meinetwegen auch Staatssicherheit heißen. Unter den Gästen des Hauses zärtlich Vau-Nuller genannt.
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Und in anderen Gegenden vermutlich VOdST oder ähnlich einfallslos.
„Was ist los mit dir? Willst du dir dein Leben mit aller Gewalt selbst zur Hülle machen?“ Obacht - jetzt kommt die väterliche Tour.
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„Geben Sie mir etwas zu trinken“, flüsterte ich. „Natürlich. Ja. Einen Moment“, sagte King Kong überrascht.
Es dauerte keine zwei Minuten, da brachte er aus dem Ne-
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benraum hinter mir ein Zahnputzglas randvoll mit frischem prickelndem Leitungswasser. Ich bedankte mich heißer,
Co
sah einen Moment liebevoll in das Glas und trank dann in kleinen Schlucken. „Und? Gut?“ Ich fühlte mich besser, verriet es ihm aber nicht, weil ich befürchtete, er käme auf dumme Gedanken und verweigere mir weitere Lebensretter. Nur mit angesetztem Flüssig-
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keitspolster konnte ich weitere zwei oder drei Tage durchhalten.
oth
„Wollen wir jetzt miteinander reden?“
Über den Rand des Wasserglases sah ich ihm in die Augen und sagte: „Ohne Dampf, kein Kampf.“
mr
Er verzog die Mundwinkel; doch können kalte, tote Augen niemals lächeln. So hörte ich nur Töne aus seinem Mund,
im
vergleichbar mit Pferdefürzen.
„Darauf habe ich schon gewartet. Da, greif zu!“, und gen.
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schleuderte mir eine angebrochene Schachtel Karo entge-
schen Kräfte zu kontrollieren.
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Dieser ungehobelte Klotz verstand es nicht, seine herkuli„Hier sind Streichhölzer und Aschenbecher“, ergänzte er und zeigte dabei auf die Schreibtischkante vor mir.
laf
Andächtig zündete ich mir eine Karo an, schloss den Mund und inhalierte tief. Ah, da war es, jenes berauschende Ge-
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fühl als hätte ich mich längere Zeit in nur eine Richtung gedreht. Eine schwarze Filterlose, und du bist gleich ein ganz anderer Mensch.
„Können wir jetzt reden?“
„Sprechen Sie nur. Könnte ich noch etwas Wasser ha-
rig h
ben?“, und hielt ihm am ausgestreckten Arm das leere Glas entgegen.
Der Ausdruck väterlichen Hochmuts verschwand aus seinem Gesicht. „Hm.“
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Er nahm das Glas und ich lehnte mich entspannt zurück und saugte genüsslich an meiner Zigarette. Da war ich
Co
wieder. Es ging aufwärts. „Da! Na, greif schon zu!“, sagte er ungehalten und hielt mir das Glas vor die Nase. „Verbindlichsten Dank.“
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„Jetzt kommen wir aber zur Sache“, stützte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen des abgewetzten Sessels hin-
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term Schreibtisch und sank langsam nieder.
„Wie lange willst du noch die Nahrungsaufnahme verweigern?“
mr
Der will mich aushorchen. „Ich verweigere nicht die Nahrungsaufnahme, ich kann nur einfach nichts zu mir
im
nehmen, weil ich mich doch im Hungerstreik befinde. Hungernde nehmen nun mal keine Nahrung auf.“ „Und weshalb tust du das?“
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„Weil mir kalt ist. Und dann wäre auch noch ganz interessant, weshalb ich seit Monaten im Zwinger gehalten
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werde.“
„Kalt?“, fragte er verblüfft und keineswegs gespielt. zwei Decken.“
laf
„Richtig gehört. Ich möchte am Tag eine und in der Nacht „Was, nur wegen einer Decke setzt du deine Gesundheit
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aufs Spiel? Was steckt wirklich dahinter?“ Ach, weißt du, ich habe sonst nichts, was ich noch verlieren könnte. Von mir bekommt ihr sogar das Letzte. Da kenne ich nichts.
„Etwas Wärme vielleicht?“
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„Hören Sie auf damit. Ihr Verhalten findet bereits Nachahmer. Auch wenn sie nach kurzer Zeit das Handtuch geworfen haben, verbreitet es doch Unruhe unter die Jugendlichen.“
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„Teufel auch! Schande über mich.“ „Geh mir nicht auf die Eier!“, drohte er.
Co
Was ist denn das für ein Ton hier? So kann er meinetwegen zu Hause mit seinem Mann umspringen, aber doch nicht hier. Ich stellte mein Glas ab, zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich wieder ausgestreckt zurück.
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„Ich heiße James - und Sie können mir ohne Umschweife sagen, was Sie bedrückt. Ich verspreche, darüber nachzu-
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denken.“
„Dir... “, er holte tief Luft, sein Brustkorb nahm ein beängstigendes Ausmaß an, „dir werde ich die Flügel stutzen -
mr
und dann gibt’s kräftig Nachschlag!“
Nun krieg dich mal wieder ein und schrei hier nicht so rum.
im
Siehst doch, ich bin müde. Bring mich nach Hause. Ich ließ die Zigarette neben meinem linken Bein auf den Dielenboden fallen, trat drauf und legte mich wieder lang hin. In
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seinen blauen Augen türmten sich Eisberge auf.
Leise, so leise, dass ich mich selbst kaum verstand, sagte
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ich: „Kein halber Hahn wird mich je zu irgendetwas zwingen“, und erschrak sogleich. War ich es, dem diese Worte entglitten? Seit wann bin ich selbstmordgefährdet?
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Ruhe. Einige Sekunden herrschten völlige Stille. Er fixierte mich mit aufgerissenen Augen und schnaufte mit halboffe-
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nem Mund wie nach einem 100-m-Lauf. Plötzlich sprang er auf, sein Sessel kippte zur Seite, packte mit beiden Pranken nach der kleinen mechanischen Schreibmaschine auf dem Tischchen zu seiner Rechten, zog sie an seine aufgeblähte Angeberbrust und... tatsächlich, schleuderte die
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wehrlose Schreibhilfe als handle es sich um ein Päckchen Zigaretten in meine Richtung. Mein Reaktionsvermögen musste während der letzten Tage, Wochen, Monate fürchterlich gelitten haben. Denn was
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ablief, schnallte ich erst, als sich das Ungetüm mit schwindelerregendem Zahn wie ein Geier vom Himmel stürzte und
Co
sich knapp unterhalb des Halses in meine Brust bohrte und mich dank meiner dämlichen Sitzhaltung samt Stuhl nach hinten zu Boden riss. Ich hätte auf meinen Physiklehrer hören sollen, dann wäre mir zumindest diese Peinlichkeit erspart geblieben.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 64 von 64 -
Unsanft schlug ich mit dem Kopf auf. Ein gefundenes Fressen für das bösartige Monstrum, dass sich absichtlich
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drehte, um beim abrollen auch ja noch seine Tasten über meine linke Gesichtshälfte schleifen zu können. Autsch!
Scheppernd schlug es schnaufend auf die Dielen. Es war
mr
wohl selbst etwas überrascht.
Ja, so was aber auch. Was sind denn das für unorthodoxe
im
Sitten? Kennt man ja gar nicht. Schlägt ein wenig über die Stränge, das ungezogene Blondie.
„Tschuldigung, ist mir so aus der Hand gerutscht.“
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Selbstzufrieden grinsend kam er auf mich zu, schnappte sich den Geier und brachte ihn an seinen ursprünglichen
W
Platz zurück.
Ich lag noch außer Atem am Boden, hüstelte wie ein Asthmatiker bei der Flucht nach einem Banküberfall und tastete
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Brust und Gesicht nach Beschädigungen ab. Als er die Trophäe abgestellt und sich im Sessel zurecht-
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gerückt hatte, sagte ich keuchend: „Irre komisch, finden Sie nicht auch? Sie sollten noch etwas am Effet arbeiten“, stellte mich auf die unsicheren Beine, hob den Stuhl auf, setzte mich und zündete eine Zigarette an. „Ich habe dir kleinem Faschisten... “
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Na, nun geht’s wohl los. Jetzt wurde es selbst mir zuviel. Ich stand auf, steckte die Karos ein und ging zur Tür. „Bringen Sie mich zurück.“ Die Luft hier ist auch nicht besser als in meiner Wohnung.
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Keine Minute länger würde ich in dieser kargen Stasiabsteige bleiben. Und da kann es noch so kuschelig warm
Co
sein.
„Halt, halt! Wir sind noch nicht fertig.“ „Wir vielleicht nicht, aber ich.“ „Möchten Sie noch Wasser?“ „Ja.“ „Zigaretten?“
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„Ja.“ Scheiß Spiel. Ich setzte mich, nahm Wasser, diesmal ein
oth
größeres, ein Limo-Glas und eine weitere Schachtel Karo
entgegen. Die Karos ließ ich sofort in der anderen Tasche meines Overalls verschwinden.
mr
„Heißt Faschismus nicht Antidemokratie?“ Ich sah ihn an und trank ganz schnell mein Glas leer. „Von einem ge-
im
strauchelten Geheimen lasse ich mir doch nicht weiß
machen, wir lebten hier in einer Demokratie. Bring mich zurück!“
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„Oberleutnant Borrmann hatte Recht, du bist wirklich nur ein Haufen kümmerliche Scheiße“, sagte er sichtlich gezü-
W
gelt. „Also gut, ich bringe dich zurück. Zuvor aber sprechen wir über meinen Vorschlag. Setz dich jetzt wie„Krümelig heißt das.“ „Bitte?“
laf
der.“
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„Krümelige Scheiße. Es heißt, du bist ein Haufen krüüüümelige Scheiße.“
Godzilla verdrehte die Augen zur Decke, dann wieder zu mir, lächelte mitleidig und schüttelte den massigen Kopf als klebe daran ein gedankliches Experiment von der Art,
rig h
mir so mal nebenbei das Genick zu brechen, hartnäckig wie Kaugummi am Schuh. Ich glaube, jetzt tat ich ihm irgendwie Leid. Der Mann wäre am Theater wirklich besser aufgehoben - als Platzanweiser.
py
„In Ordnung. Setz dich!“ Ich bewegte mich nicht.
Co
„Bitte!“ Meine Brust schmerzte. Längst waren die vom Geier vererbten feinen Blutspritzer auf meiner heißen Wange getrocknet. Unentschlossen stand ich neben dem Stuhl und beobachtete den Vau-Nuller. Er saß ruhig in seinem roten Sessel, die Hände übereinander liegend auf dem
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Schreibtisch. Es sah nicht danach aus als lange er gleich nach etwas, was meine Gesundheit schädigen könnte. Also
oth
setzte ich mich.
„Sehr vernünftig. Kommen wir nun zum Wesentlichen.
Wenn Sie die Verweigerung der Nahrungsaufnahme been-
mr
den, kann ich Ihnen folgendes vorschlagen: Während der
nächsten zwei Wochen wird darüber entschieden, was mit
im
Ihnen geschieht. Es ist so gut wie sicher, dass Sie in eine Erwachsenenanstalt verlegt werden. Sagt Ihnen das zu?“
„Mir Brust. Ich brauche eine Decke“, und zündete mir eine
.T
neue Karo an.
„Mal angenommen, ich breche meinen Hungerstreik ab,
W
was ich natürlich nie tun würde, aber mal angenommen dann will ich auf Krankenstation. Sehen Sie mich an: Mein Körper ist ein einziger Pickel. Das sieht verdammt nach
laf
ärztlicher Fürsorge aus. Für die Reparatur wünsche ich zarte Frauenhände. Blond und nicht zu mager soll sie sein,
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lange Beine und griffig große...“
„Das reicht! Kann ich sonst noch was für Sie tun?“ „Einen strammen Arsch, riesige Titten, leckere...“, sagte ich mit wachsender Leidenschaft. „Schluss jetzt!“, und schlug mit der flachen Hand auf den
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Tisch.
Ich schwöre, nur aus Angst vor einem Erdbeben steckte ich zurück.
„Ich komme Ihnen entgegen und verzichte auf die Frau.
py
Aber die Decke brauche ich!“ Auf blond stehe ich sowieso nicht.
Co
„Vorschlag: Du setzt die Verweigerung der Nahrungsaufnahme für drei Tage aus und wirst, ich gebe dir mein Wort, in den nächsten drei Tagen von uns hören, wie wir weiter verfahren werden.“ „Meine Decke?“ „Genehmigt!“
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An den folgenden Tagen verwöhnten sie mich mor-
oth
gens und abends mit Weißbrot. Und mittags servierten sie
mir sogar eine Schüssel randvoll mit Vanillesoße. Alles andere, hieß es, hätte mein Körper nach den Strapazen der
mr
letzten Tage nicht verkraftet.
im
Meine Decke hatte ich erhalten, doch vom Vau-Nuller
hörte ich nichts mehr. Am Vormittag des dritten Tages nagten, sich zunehmend intensivierende, Selbstzweifel an mir.
.T
Fiebrig schlurfte ich durch meine Wohnung und schoss mich auf den Vau-Nuller, Borrmann und überhaupt alle ein.
W
„Schweine! Dreckschweine! Sauschweine! Misstschweine! Was gibt’s noch?“
„Hundeschweine!“, kam es ungefragt mit lautem, blödem sich ohne Scheu.
laf
Lachen. Mein am Morgen eingezogener Nachbar amüsierte
tb yO
„Hundeschweine! Nee, das ist albern. Die Hundeschweine nehme ich zurück! Säue! Elende Säue! Verdammte Säue!“ Und so weiter, und so weiter - bis das antiquierte Väterchen, jenes vom Abend des ersten Tages, Deckel und Zauntür öffnete. Wie jeden der letzten Tage folgte dem
rig h
Schließer ein Kalf mit meiner Schüssel leckerer Vanillesoße und wartete, dass ich sie ihm abnahm. Ihr Duft bändigte mich, machte mir Appetit. Das Fleisch ist schwach. Red nicht so einen Unsinn.
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Das hier ist Vanillesoße, kein Weib. Eben. Ich liebe Vanillesoße, und ich brauche das Päckchen! Aber du bist hart,
Co
dein Fleisch jung, gut abgeklopft und mit Streuseln verziert. Es fiel mir schwer, verdammt schwer, doch es musste sein. „Ich setze meinen Hungerstreik fort!“ „Du bist ja nicht mehr ganz bei Trost“, sagte Großvater. Und zum Kalfaktor: „Komm! Der wird langsam plemplem.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 68 von 68 -
„Tröste, wen du willst! Mach aber das scheiß Brett dicht!“ Nahm das denn nie ein Ende? Den Tränen nahe - nur nahe,
oth
schließlich wohnte wer nebenan - sank ich zu Boden und rollte mich ein.
mr
Was tust du? Ich weiß, was ich tue. Und was? Leck
mich! Was willst du? Wer will das schon wissen. Ich. Lass
im
mich in Ruhe. Ja, was nun? Darüber denke ich nach, wenn ich darüber nachdenke.
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Ich ruhte nur kurz, spürte die Kälte noch nicht an meinem Körper nagen, als mich Klausi und zwei seiner Ge-
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treuen aufscheuchten. Die Grobiane klammerten sich an meinen Armen fest und lenkten mich wie einen aufmüpfigen Alten, der prinzipiell bei Rot die Straße quert, über den aber viel fehlte nicht.
laf
Hof. Und meine Hose war voll, quoll über. Nicht wirklich,
tb yO
Erst nachdem ich ausgiebig mit warmem Wasser geduscht und statt des stinkenden Overall in ein frisches, nicht mehr ganz weißes, bretthartes Nachthemd schlüpfte, war ich mir sicher, auf der Krankenstation angekommen zu sein. Es war ausgestanden. Vorbei. Doch reichte es nicht
rig h
zu einem Freudentanz. Möglicherweise lag die Zeit der Einzelhaft hinter mir, wie aber entkam ich dem Nachschlag? Nach über sechsmonatiger Abgeschiedenheit fiel es
py
mir keineswegs leicht, einen Zellengenossen zu akzeptieren. Auf dessen Geschwätzigkeit einzugehen schon gar
Co
nicht. So glücklich ich war, der zermürbenden Unterwelt entronnen zu sein, sosehr vermisste ich deren Ruhe, die zu durchbrechen zum einschneidenden Nervenkitzel geriet. Also nahm ich sie mir und sah über das im Bett über mir, dessen Namen ich nicht kannte und nicht kennen wollte, hinweg, schluckte irgendwelche bunten Pillen, salbte
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 69 von 69 -
mehrmals täglich meinen Body und vergrub mich ansonsten hinter einer Zeitung oder einem Buch. neunte Tag des Monats, wirbelte ein Schließer herein. „Pack dein Zeug, Wollter! Und mach hin!“
oth
Anfang September, es war, um genau zu sein, der
mr
Recht junger Spund, der Hauptwachtmeister. Ich kannte
ihn nicht, wahrscheinlich frisch. Die frischen machen im-
im
mer Hektik.
Ich lag mit einem Buch im Bett und genoss den zehnten meiner aufbauenden Tage auf Revier.
.T
„Brust!“
„Auf, auf! Mach schon! Zur Kammer!“
W
Ich federte hoch und hielt mich am Waschbecken fest, um ihm nicht in die Arme zu fallen. „Auf Kammer?“
laf
„Ja! Wirst abgeholt. Die warten schon. Mach jetzt endlich hin! Gib Gas, wir haben nicht viel Zeit.“
tb yO
Abgeholt? Sagte er, abgeholt? „Abgeholt?“
Er nickte und mir wurde übel. Mein Magen verkrampfte sich, entspannte sich, ich drehte den Kopf nach links, senkte ihn und fütterte den aufgerissenen verchromten
rig h
Schlund mit meinem halbverdauten Frühstück. War eh nicht so berauschend. Fünfzehn Minuten später standen wir vor der Tür, die
zur Kammer führte und ich fragte ihn, wer mich abhole -
py
und wohin die Reise gehe. Es war nicht übermäßig warm an diesem Tag, aber ich schwitzte wie in einem kirgisi-
Co
schen Dampfbad. Er schob einen seiner Schlüssel ins Schloss, hielt inne und sah sich prüfend um. „Das darf ich nicht.“ „Tuuu... tun Sies doch einfach.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 70 von 70 -
„Nein, kann ich nicht tun. Melde dich oben“, sah mir in die Augen und lächelte milde, „wird schon nicht so schlimm
oth
werden. Gute Reise!“
Ohne Eile stieg ich die quietschende Holztreppe empor, meldete mich und erhielt die bereitliegende Kleidung,
mr
die ich vor ewigen Zeiten, damals auf dem Bahnhofsklo
und später bei der Aburteilung trug, über den Tresen ge-
im
schoben.
„Zieh dich um!“, sagte der kleine, weißhaarige Kammerbulle und musterte mich neugierig.
.T
„Kannst dich jetzt von Ichtershausen verabschieden. Wahrscheinlich wirst du’s nie wieder zu sehen bekom-
W
men“, fuhr er geheimnisvoll fort.
Ich stieg aus der Unterhose und warf erschrocken den Kopf hoch.
laf
„Was soll das hei... hei... heiiiißen?“
Daraufhin hielt mir der Kurze einen Vortrag über seine zahl-
tb yO
reichen, verdienstvollen, anstrengenden, aber auch schönen Jahre, die er in diesem Jugendknast verbrachte. Offenbar gab es da einige, die sesshafter waren als ihre Kundschaft. Noch nie sei einem der Jugendlichen gelungen, was mir gelang. Bestimmt sei es nicht immer einfach
rig h
für mich gewesen. Er respektiere meine Willenskraft, wenn er auch nicht befürworten kann, was ich tat. Halt dein dummes Maul! Ist doch wahr. Dieser hin-
terhältige Wicht wollte mich quälen, sonst nichts. Er faselte
py
und faselte und rückte einfach nicht raus, was mir so großartiges gelang. Dabei hätte ich so gern gewusst, was ich
Co
immer schon erreichen wollte. Wie wohltuend der bloße Akt des überziehens mei-
ner Privatkleidung. Ich fühlte mich frei und überhaupt nicht hilflos gefangen. Energiegeladen trat ich gegen die Anstaltswäsche, winkte den Kalfs zum Abschied und zwinkerte selbstbewusst dem Alten zu. Der wünschte mir
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Glück, doch ich beachtete ihn nicht weiter und folgte dem Schließer, der kam, um mich zu holen.
oth
Aufrecht gehend überquerte ich den Hof, sah mich
nach allen Seiten um, doch da war niemand, von dem ich mich hätte verabschieden können. Vielleicht aber doch,
mr
verborgen hinter einem der Fenster. Ich blieb stehen, drehte mich dem großen gelben Haus zu, hob die Arme und
im
schrie: „James wird abgeholt! Sie bringen mich weg!“
„Schnauze!“, fuhr mich der Schließer an, den Bummi in der Hand.
.T
Ich kannte dieses Schnauze, und ich kannte den Bummi zur Stimme, und ich hielt meine Schnauze. Wo er Recht
W
hat, soll ihm auch nicht widersprochen werden. Was ich sagen wollte, wurde ich los. Und die Kammerkalfs würden schon dafür sorgen, dass jeder, auch Sandro, die Neuigkeit
laf
erfährt.
Schmunzelnd folgte ich dem schmalen Rücken
tb yO
durchs Verwaltungsgebäude, bog nach ihm links ab und verließ es vor ihm.
In der Schleuse traten zwei scharfgescheitelte Herren von einem Fuß auf den anderen. Sie trugen dunkelblaue Präsent-20-Anzüge und hielten sich auch
rig h
sonst für etwas Besonderes. Während sich einer überschwänglich für was auch immer beim Schläger bedankte, wandte sich der andere an mich. „Steigen Sie bitte ein“, sagte er ohne mich anzusehen und
py
unterstrich seine Worte mit einer zuvorkommenden, widerwärtig geckenhaften Handwedelbewegung.
Co
Meine Augen folgten der unruhigen Hand und... Bitte nein! Bitte, lasst es nicht sein. Äußerlich kraftstrotzend, innerlich dem ertrinken nahe, musterte ich den fünf Schritte entfernten mausgrauen Barkas. Im Sog in die Tiefe, zwei Sekunden schwarz vor Augen, mir schlotterten die Knie, trocknete der Mund und ein
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 72 von 72 -
Koffer schlich sich davon. Gott, stank der! Der Geck richtete schnüffelnd seine Brillengläser auf mich und zog sich
oth
verunsichert zurück, als er auf meine geballte Nase und
den angwiderten Blick traf. Schon tauchte ich wieder auf.
Nein, ich hatte keine Angst. Wirklich nicht. Na ja, jedenfalls
mr
nicht mehr. Auch vor dem Tod nicht. Kindliche Neugier ließ mich beschwingten Schrittes auf das zubewegen, womit
im
der Untote von Ichtershausen davongeschlichen werden
VI
.T
sollte.
W
Der Tod fuhr in neutralen Fahrzeugen mit Aufbau und kleinen Zellen. Irgendwann löst sich die Selbstschusseinrichtung. Peng! Loch im Kopf. Der gefesselte
laf
Todeskandidat gemeuchelt. Ich wollte, durfte, konnte einfach nicht glauben, was sich in der U-Haft erzählt wurde.
tb yO
Die einen wussten die Hinrichtung im neutralen, fahrenden Fahrzeug. Weder der Verurteilte noch Fahrer oder Beifahrer ahnten von ihrer Exekutionstour. Sie hielten sich an den Fahrauftrag und eine vorgeschriebene Route. Andere wussten es nicht nur besser, sondern ganz genau.
rig h
In den Knästen von Bautzen, Bützow und Brandenburg, den drei berüchtigten Bs nämlich wurden die Delinquenten durch Genickschuss wie Schlachtvieh dahingemetzelt. Auch nicht appetitlicher. Wenn aber überhaupt etwas
py
stimmte, dann doch wohl eher das. Mit eingezogenem Kopf kletterte ich durch die auf-
Co
geschobene Seitentür in den Kleinbus und tastete mich vorn übergebeugt drei Schritte weiter ins Halbdunkel. Sechs Deckel zählte ich, je drei links und rechts des furchtbar schmalen Pfades. Einer, der mittlere gleich rechts, weit aufgerissen. Er lud mich ein, es mir in der
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sechzig mal achtzig Zentimeter großen Blechdose bequem zu machen.
oth
Als der Wagen anfuhr, rutschte ich nach vorn, mit
verdrehten Beinen unter den Blechsitz und kullerte mich so gut es ging ein. Ich bin doch nicht blöd. Was hätte ich nicht
mr
alles für den geschmeidigen Körper einer Artistin des chinesischen Staatszirkus gegeben. Mein steifes Gestell war
im
nicht auf derlei unbequeme und nicht eben schmerzlose Verrenkungen vorbereitet.
Wie in Sardinenbüchsen üblich, schwamm ich im ei-
.T
genen Saft. Vorsichtig tastete ich im Stockdunkel die Wände nach oben ab, fand aber nichts als glattes, kaltes
W
Metall. Wer weiß schon, was die für Tricks drauf haben. Womöglich kippen oder drehen die eine der Wände. Und das alles übertönende klappern der Blechdeckel gehörte
laf
natürlich zum Kalkül. So wollten sie mich mürbe machen, und vom Knall ablenken sowieso.
tb yO
Und wenn gar nichts passiert, die das blöde Vehikel einfach nur im Baggersee versenken? So ein Quatsch! Überträgt sich die Finsternis auf dein Hirn? Weiß doch jeder, dass in Baggerseen baden verboten ist. Der Wagen stoppte. Schlagartig herrschte Stille. Ich
rig h
hielt die Luft an und schmiegte mein Ohr an die Tür. Von draußen drangen Männerstimmen zu mir. Dann klickte Metall. Ich zuckte zusammen und stieß mit dem Kopf gegen die Tür. Kurzes scheppern, dann noch mal das metallene
py
Klicken von vorhin. Haben wohl auf Handarbeit umgestellt.
Co
Und noch mal. Was denn, drei gegen einen? Es wurde dunkler, bedrückend eng, unerträglich heiß
und furchtbar feucht. Was tun? Luft! Vielleicht sollte ich einfach weglaufen. Denk schneller, die Seitentür öffnet sich! Ich dachte nicht, stemmte mich hoch und setzte mich aufrecht hin. Musste ja nicht sein, dass ich mich in diesem Stadium auch noch voll zum Löffel machte.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 74 von 74 -
Der Büchsendeckel schwenkte quietschend zur Seite. Stur sah ich auf die Wand vor mir, leckte über die
oth
trockenen Lippen und blinzelte irritiert im einfallenden Licht. „Wir sind da. Steigen Sie bitte aus.“
mr
Erwarte nicht, dass ich heule. Erwarte überhaupt nichts
von mir. Ich erwarte auch nichts von dir. Geh weiter, tu so,
im
als sei ich nicht da. Steck die Gabel ein und geh fort, weit weg. Ich bleibe hier. Ist doch nett hier. Habe ein Zimmer
ganz allein für mich. Nun gut, mit Fernseher wird es etwas
.T
eng, Badewanne gibt es keine und das Klo ist vermutlich übern Hof, aber...
W
„Kommen Sie bitte.“
Ich sah ihn an. Er stand neben mir wie der kriecherische Boy aus amerikanischen Filmen. Verbeugte sich mit einem
laf
kleinen Lächeln. Nur die offene Hand vor meiner Nase verkniff er sich. Ob es sein letztes Wort war? Er nickte leicht.
tb yO
Also gut. Immerhin hat er Bitte gesagt. Er hat Bitte gesagt? Bitte - so wirklich ganz richtig Bitte? Zu mir? Lockt mich mit Nettigkeiten. Ganz schön ausgebufft. Wenn ich drauf hereinfalle und ihm den Rücken zuwende... Vielleicht sollte ich mich in aller Form bedanken. Später komme ich nicht
rig h
mehr dazu.
Ich glitt vom Sitz, verbeugte mich und schob die Fü-
ße übers Blech. Nicht umdrehen, sieh nach vorn. Du wirst nichts spüren. So was geht ganz schnell, sagten die in U-
py
Haft. Und der Boy versteht sein Handwerk. Die schicken keine Amateure. Aber ich habe keine Lust. Ich will nicht.
Co
Warum holt mich hier niemand raus? „Folgen Sie mir bitte!“ Der sagt auch Bitte. Ist ja nicht auszuhalten. Es ist vorbei. Siehst du, du hast nichts gespürt. Ich hielt beide Hände schützend vor dem grellen Licht der Sonne über die Augen und folgte ihm. Ihm, das war ein Unterleutnant. Ver-
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schwommen nahm ich vergitterte Fenster wahr. Augen, nach Knast, nicht nach Moder, Schweiß, Fäkalien und
oth
Mund und Ohren eines Gefängnisses. Doch roch es nicht Fruggen. Diesem Ort fehlte der richtige, der originale, der wahre Gestank. Es roch nicht gut, aber irgendwie ange-
mr
nehmer. Auch war es viel ruhiger. Und ein Unterleutnant,
der Bitte sagt, keinen Totschläger am Gürtel trägt und mir
im
die Türen aufschließt. Beängstigend. Jetzt geht’s ans Eingemachte.
Nichts, nichts, nichts ist vorbei. Sie legen mich ein-
.T
fach ab. Knüllen mich wie die unerfreuliche Nachricht auf der stand hier der Reißwolf?
W
dem Schmierzettel und warfen mich in den Papierkorb. OÜber eine Eisentreppe im Bauch des alten Backsteingebäudes folgte ich Bitte auf die erste Etage. Mein
laf
aufmerksamer Unterleutnant öffnete mir eine Tür und ich schlüpfte in einen von leisem Gemurmel und verhaltenem
tb yO
Gelächter angefüllten, etwa zwanzig Zellen großen Raum. Keiner der dreißig zivil gekleideten Männer nahm Notiz von mir. Sie standen in kleinen Gruppen beieinander, rauchten und unterhielten sich in lockerer, unverkrampften Atmosphäre. Ich schlenderte übers Parkett zu einem der
rig h
großen Fenster.
„Willkommen!“, begrüßte mich ein straffer Vierziger und streckte mir die Hand entgegen. Na gut, dann wurde mein Kommen eben doch bemerkt.
py
Und der Knilch hier spielt den Willkommensgrußclown. Glaubt, er kann mich auf den Arm nehmen. Heißt mich im
Co
Knast willkommen. Ganz neue Masche. Denkt wohl, ich schnalle nicht, dass die mich in einer Irrenanstalt abluden. Begrüßt man sich so in der Klapsmühle? Klar, die merken sowieso nichts. Zögerlich legte ich meine Hand in die des armen Irren. Er konnte ja nichts dafür, und beleidigen wollte ich ihn nicht.
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„Wwww... Scheiße! Wie geeeeehts denn immer so?“ Komisch, beim denken verheddere ich mich nie. Warum
oth
dann, wenn ich den Mund aufmache? So was dummes
kann sich doch nur jemand wie Klausi einfallen lassen. Ruhig und tief durchatmen! Ich hatte an mir - quasi im
mr
Selbstversuch - herausgefunden, dass ich seltener stotter-
te, sobald ich vor jedem Wort tief Luft holte und langsamer
im
sprach. Das dauerte zwar, aber ich wusste schließlich, was ich sagen will und musste mir nicht auch noch zuhören. „Noch nie habe ich mich so blendend wie heute gefühlt.“
.T
Das freute mich aber. Was habe ich gelacht. War der wirklich so oder hatte er was geschmissen? Eine raffinierte
W
Fangfrage würde ihn überführen. „Schön - und wo sind wir hier?“
„Weißt du das denn nicht? In Karl-Marx-Stadt. Bei der Sta-
laf
si.“
Der Griebs! Also, doch aufm Trip. An dieser Stelle brach
tb yO
ich die Verbindung zu meinem verwirrten Freund ab und verdrückte mich an ein anderes Fenster. Bei der Stasi. Aber na klar. Ich bin 18 und habe braunes Haar. Spione sind alt und haben weißes Haar - kennt
rig h
man doch schließlich aus dem Fernsehen. Was sollte ich also bei der Stasi? Oh, James, oh, James, du alter kleiner Staatsfeind du. Ich könnte mich mal wieder sinnlos mit
py
heißen Nudeln behängen. Beinahe zwei Stunden saß ich auf dem Fensterbrett,
sah mir die bunte Meute an, rauchte geschnorrte Zigaretten
Co
und grübelte vor mich hin. Dann öffnete sich die Tür. Im Raum wurde es schlagartig still und ein Leutnant forderte uns auf, mit ihm zu gehen. Einer nach dem anderen watschelten wir ihm bis auf die dritte Etage nach. Oben angekommen, versammelten wir uns im Halbkreis um ihn.
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Mit gesenkter Stimme, als trage er den Schimmelreiter vor, sagte er unsere Namen auf und verteilte Zellennummern.
oth
Mich traf es bummihart. Sie sperrten mich gemein-
sam mit dem Irren und einem weiteren zusammen in eine Zelle, die nur dadurch größer als meine letzte Wohnung
mr
wirkte, weil das Gitter vor der Tür fehlte. Zwei Männer und ein Irrer auf acht Quadratmeter - Toilette, Waschbecken,
im
Tischbrett und zwei Sitzbretter inklusive. Die reinsten U-
Haft-Zustände. Unter dem Fenster ein Einzelbett und längs der rechten Wand, gleich neben Lokus und Eckwasch-
.T
beckchen, ein Etagenbett. Mir fehlte an nichts.
Nachdem wir uns untereinander vorgestellt und sich
W
jeder für ein Bett entschieden hatte - den Irren schickte ich ins obere -, wollte ich es endlich wissen. „Wo sind wir hier?“ Stasiknast ist.“
laf
„Ich sagte dir doch, dass das hier der Karl-Marx-Städter
tb yO
Ja, und ich werde mich gleich sinnlos mit Erbsen berieseln. „Sag bloß, du glaubst das?“, und sah zu Michael. Er lag auf seinem Bett unter dem Fenster und sah zu mir herüber.
„Was stört dich daran, bei der Stasi in Kalle-Malle zu sein?
rig h
Sei froh, dass du hier bist.“
Ich setzte mich ans Tischbrett, griff mir das Päckchen Tabak von dem, der sowieso nichts merkte, und drehte mir eine.
py
„Ja, ich fange gleich an zu tanzen. Die haben mich verschleppt.“
Co
Michael lachte amüsiert. „Verschleppt?“ „Ja, verschleppt. So lustig ist das gar nicht. In Ichtershausen abgeholt und hier au... ausgeladen“, sagte ich gereizt. „Du bist Jugendlicher?“, fragte er erstaunt. „Ich habe noch nie gehört, dass die auch Jugendliche gehen lassen.“
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Warst wohl nie Jugendlicher? Haben dich gleich so blöd strafst du mich mit einem Irren UND einem Trottel? Ich hielt ein Streichholz an meine Zigarette.
oth
auf die Menschheit losgelassen? Herr im Himmel, warum
„Ich habe noch einen ganzen Arsch voll abzusitzen. Die
mr
werden mich bestimmt nicht entlassen“, und blies Rauch zur Decke.
im
„Vielleicht doch“, sagte der Irre, der vielleicht gar nicht irre war - oder jedenfalls nicht so richtig komplett. „Wen die hierher bringen, der hat es geschafft. Ja ja, wir haben es
.T
geschafft. In ein paar Tagen bringen sie uns in den Westen.“
W
Außer mich. Ich muss nicht in den Westen. Ich kenne da niemanden. Michael hat doch gesagt, dass er noch nie gehört habe, dass die Jugendliche gehen lassen. Ich muss
laf
aus einem anderen Grund hier sein. Sicher werden sie mich erschießen. Und euch Spinner gleich mit. Bei gutem
tb yO
Wetter und Sonnenaufgang. Der Dramatik wegen. Jungpioniere werden eifrig gestickte Wimpel schwenken. Verdammt, ich muss unbedingt meiner Familie schreiben. „Hat einer von euch Schreibzeug?“ „Wir dürfen nicht schreiben, solange wir hier sind. Aber wir
rig h
können uns ja aus dem Westen zu Hause melden. Na, die werden vielleicht Augen machen und...“ Wenn einem ein Irrer erst einmal auf den Sack geht, dann
py
richtig irre. Unmöglich ihn jetzt noch zu bremsen. Ich drückte die Kippe aus und schaltete ab. Sah und
Co
hörte nichts. Versank in meine Gedankenwelt. Was, wenn sie Recht hatten? Deportierte mich die Stasi? Setzt mich wie einen Köter am Straßenrand aus und wartet geduldig, bis mich ein vietnamesischer Kochkünstler wegfängt? Ich kannte niemanden da drüben. Zwar wusste ich von Berufsverboten und kannte aus der „Aktuellen Kamera“
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Arbeitslosigkeit, Jugendbanden, prügelnde Polizistenhor-
oth
den und korrupte Politiker. Aber die kannten mich nicht. An den folgenden Tagen übte ich mich in gedankenvollem Kopfschütteln. Nicht nur, dass sich sämtliche
mr
Gespräche um die bevorstehende Ausreise drehten, nein, die gesamte Atmosphäre war nicht geheuer. Höhere
im
Dienstgrade schlossen uns die Türen auf und zu. Es
herrschte ein höflicher und ruhiger Umgangston. Niemand scheuchte uns vom Bett, wenn wir tagsüber darauf saßen
.T
oder lagen. Und das Essen war eine Frechheit - eine Frechheit von gut. Täglich, also wirklich jeden Tag, eben Tag für
W
Tag, ohne Ausnahme, gab es frisches Obst. Kein Fallobst, oh nein! Allerliebst rotbäckige Äpfel, knackig grüne Birnen und sogar Pflaumen - schön, fest und furchtbar lecker. Wä-
laf
ren wir nicht zu dritt auf Zelle gewesen, ich hätte mich wahrscheinlich nie von dem Gedanken, in einer Todeszelle
tb yO
zu sitzen, befreien können.
Eine Woche war vergangen, als am Morgen uns Irrer geholt wurde. Und als er zu Mittag nicht mit uns am Tisch saß, wurde der ansonsten ausgeglichene Michael zum Hek-
rig h
tiker. Geschlagene zwei Stunden lief er die drei Schritte zwischen Tür und seinem Bett auf und ab - wild, schwitzend, fluchend. „Der Hund ist längst drüben. Uns haben die verarscht. Der
py
ist schon drüben. Bestimmt. Die Sau! Ganz bestimmt ist der drüben. Scheiße! Schweine! Die haben uns verarscht“,
Co
brabbelte er, sich unzählige Male wiederholend, beim verdichten der Betonschicht. Schließlich wurde er erhört, und die Tür öffnete sich. Doch nicht unser Irrer trat ein, sondern ein Kalf, der sich auf mein Bett stürzte und sich daran machte, es abzuziehen.
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„Was ist mit dem anderen los?“, fragte ich ihn, rauchend am Tisch sitzend.
oth
„Den haben die zusammen mit sieben anderen in ihren Knast zurückgeschickt“, flüsterte er. „Warum das?“
mr
„Schulden. Die haben noch Schulden. Die müssen die erst noch abbezahlen.“
im
„Danke! Und jetzt kannst du mein Bett wieder anziehen. Der Irre hat oben gelegen.“
Kaum war die Tür geschlossen, schoss Michael von
.T
seinem Bett hoch, erfasste meine Hände und tanzte vor mir auf der Stelle.
W
„Wir haben es geschafft! Geschafft, geschafft, geschafft! Wir sind durch! Komm, tanze!“, und lachte und hüpfte vor meiner Nase von einem Bein auf das andere. Befreiende
laf
Tränen auf den Wangen.
Ich blieb sitzen und kam mir ziemlich blöd vor. Ob sich der
tb yO
Irre wegräumt? Nein. Nein, ich glaubte es nicht. Seine Lebensfreude, seine Hoffnungen keimten nicht auf dem Schicksal anderer. Viele Jahre hatte er gekämpft. Er wird weiter kämpfen.
rig h
Wir hatten unser Frühstück beendet und saugten genussvoll an der Gutenmorgenzigarette, als man uns holte und mit fünfzehn anderen in eine Art Besprechungsraum brachte. Das war am zwölften Tag.
py
„Bitte nehmen Sie Platz!“, forderte uns ein Offizier auf und setzte sich an die Stirnseite des schlichten Konferenzti-
Co
sches. Ich rutschte neben Michael auf einen der um den Tisch drapierten abgewetzten roten Polsterstühle. Ein übersichtlicher, sehr kühler Raum. Bis auf Tisch und Stühle gab es kein Mobiliar zu bewundern. Auch verzichtete er auf Teppiche, Aschenbecher und Wand-schmuck. Einzig ein heller
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 81 von 81 -
rechteckiger Fleck mit dunkler, ausgefranster Flatterumrandung an der Wand zwischen den beiden Fenstern im
oth
Rücken des Offiziers. Der Fußabdruck der Ablichtung eines gerahmten, geschmacklosen Honi-Porträts, vermutete ich.
„Ich rufe Sie jetzt mit Ihrem Familiennamen, Vornamen und
mr
Geburtsdatum auf. Sie antworten bitte nur mit Ja und holen sich bei mir eine Urkunde und einen Stift ab. Unterschrei-
im
ben Sie die Urkunde bitte an Ihrem Platz.“
Obwohl ich für meinen Namen nun wirklich nichts kann, wird W grundsätzlich auf die hinteren Plätze gesetzt,
.T
müssen Ws ihre Neugier zügeln, sich gedulden.
Ich holte als Letzter das Papier. Den Kugelschreiber in der
W
feuchten Rechten und den Blick starr auf die Urkunde gerichtet, saß ich regungslos da. Vor mir lag eine „Ausbürgerungsurkunde“. Da war die Genossenschaft
laf
wohl nicht ganz zufrieden mit meinen Leistungen. „Geben Sie mir bitte die Urkunde zurück.“ merkt.
tb yO
Ich erschrak. Er stand hinter mir. Ich hatte ihn nicht be„Unterschreiben Sie aber vorher noch.“ „Und wenn nicht?“ „Wollter, richtig?“
rig h
„Absolut korrekt, nur das W ein ganz klein wenig akzentuieren.“
„Sie gehen, ob Sie nun unterschreiben oder nicht. Reine Formsache.“
py
Wenn das so ist. Ich zögerte einen Moment, kritzelte dann meinen Namen auf den schwarzen Strich und legte meine
Co
Zukunft in seine Hände. „Kuli!“ Mal wieder typisch. Denen entgeht nichts. Michael war außer sich. Wieder in der Zelle schrie er
mich an, ob ich denn total bescheuert sei.
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„Da stand, dass mir die Staatsbürgerschaft aberkannt wird!“, schrie ich zurück. „Ich bin hier geboren! Das ist
oth
mein Zuhause! Meine Eltern, meine Geschwister, meine
Freunde - alle sind hier! Und jetzt machen die mich heimatlos! Griene nicht so blöd! Freiwild ist nicht lustig! Das ist
mr
Scheiße!“ Michael reichte mir seinen Tabak.
im
„Bist du nicht. Drüben bekommst du eine Neue, eine viel
bessere. Ganz automatisch. Kannst mit mir kommen, wenn du willst. Ich werde dir helfen.“ Er schluckte schwer, sah
.T
zur Decke, dann aus dem Fenster. „Acht Jahre habe ich für diese beschissene Unterschrift in Bautzen gesessen. Acht
W
verdammte Jahre meines Lebens.“
Schon am Nachmittag holten sie uns erneut. Diesmal
laf
ging es ganz nach oben - bis unters Dach. Sanft umschmeichelten uns haftverschärfend aufre-
tb yO
gende Düfte. Hier also verbarg sich der schnieke kleine West-Laden, von dem beim Hofgang so viel gemunkelt wurde. Sie hatten Recht, es fehlte tatsächlich an nichts. Von Kaugummi über Zigaretten und Ananas in Dosen bis hin zu Zahnbürsten, Socken, Jeans und Reisetaschen fand
rig h
sich auf Tischen gestapelt von allem reichlich vorrätig. In Michaels leuchtendem Gesicht sah ich freudestrahlende Kinderaugen, die Heiligabend Papas Modelleisenbahn be-
py
staunen.
Ein Oberleutnant breitete die Modalitäten des Ein-
kaufs vor uns aus, aber kaum einer hörte ihm zu. Er
Co
gestattete uns die Wahl, alles Geld entweder in ihrem parfümierten Wandtresor zum Wechselkurs von eins zu eins auszugeben oder es den nächsten Angehörigen zu schenken. Mitnehmen oder Umtausch in D-Mark fiel aus ungenannten Gründen nicht unter die Wahlfreiheit.
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Schließlich rief er unsere Namen und verteilte Papierstreifen. Sechzehnmal irgendwas, dann Wollter. Kennt man ja.
oth
Nun wusste jeder, was er verprassen konnte.
Aus weiter Ferne rollte sie auf mich zu, kam näher
mr
und näher, verschlang mich, die schäumende Woge der Glückseligkeit. Ich hatte ein Stück Selbstständigkeit zu-
im
rückgewonnen. Einkaufen, einfach so einkaufen.
Aussuchen, was mir gefiel, vielleicht auch ein bisschen meckern - macht man doch so - und dann bezahlen und
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„Stimmt so“ sagen und nachsehen, ob die mich nicht nach altem kapitalistischem Brauch beschissen haben. Frei und
W
unabhängig. Ein Fest sollte es werden. Mein Zettelchen zeigte mir eine drei und eine null. Es waren die dreißig Mark vom Tag meiner Entführung. Entführung stand da na-
laf
türlich nicht, aber das Datum stimmte.
tb yO
Ich war an der Reihe, stand am Tresen und schlagartig nahm sie mir den Atem, die aromatisierte Freiheit. Mit rasendem Herzen orderte ich furchtbar schlimm stotternd zehn Schachteln Muratti-Zigaretten, ein BiC-Feuerzeug und drei Tafeln Sarotti-Schokolade. Trauben-Nuss, ganz klar.
rig h
Ich gebärdete mich nicht wie ein richtiger Westler. Die stottern sicher nicht. In nur zwei Minuten rauschte die Freiheit vorüber. Hätte ich auch drüber springen können. Nein, hätte ich nicht. Trotzdem, es ging viel zu schnell; dermaßen
py
schnell und unspektakulär vonstatten, dass ich für einen Moment unentschlossen in die Augen des uniformierten
Co
Krämers sah. Der hielt meinem Blick stand, vergrub die Hände in den Taschen seines ausgewaschenen blauen Kittels und blieb stumm. Gibt es sie, die Freiheit, die bleibende Freiheit? Oder ist es immer nur der Augenblick, ein Gefühl, gar nur ein Wort ohne Bedeutung, tieferen
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Sinn? Der Schließer war nicht eingesperrt, und doch lebten seine Augen nicht. Freiheit ist Scheiße ohne Lachen.
oth
„Nimm schon“, sagte Michael und stieß mich sanft in die
Seite. Unwillkürlich griff ich zu, nahm alles auf, drückte es an meine Brust und ging mit einem kleinen schüchternen
mr
Lächeln und einer Träne, die vergnüglich auf meiner Nase
im
tanzte, hinaus.
Wir lagen rauchend in den Betten und schwelgten in Gedanken, als Michael am Abend in die Stille hauchte:
.T
„Morgen geht es vielleicht schon los. Dann wären wir morbestimmt nicht schlafen.“ „Wohin gehst du?“
W
gen um diese Zeit schon im Westen. Ich kann heute
„Königsberg. Das liegt im Süden. Meine Verwandten haben
laf
da ein Haus. Ich kann bei ihnen wohnen, und bei der Armit?“
tb yO
beitssuche wollen sie mir auch helfen. Und du? Kommst du Ich stand auf, setzte mich ans Brett, drückte die MurattiKippe aus und zündete eine neue an. „Mal sehn. Andreas, du weißt schon, der, der überall, selbst im Gesicht, tätowiert ist, hat mir angeboten, mit ihm
rig h
nach Hamburg zu gehen. Der hat übrigens auch in Bautzen gesessen. Sechs Jahre. Er will bei der Handelsmarine anheuern und später einen Tätowierladen aufmachen. So was soll da erlaubt sein.“
py
„Und was machst du?“ „Keine Ahnung.“
Co
Er war nicht allein. Beim Hofgang stellte sich heraus, dass so ziemlich jeder mit der Abreise an diesem Tag rechnete. Eingekesselt von sechs Meter hohen Mauern drehte
ich meine Runden, wie jeden Tag, in der Schweinebox. Für andere war es die Schweinebucht, was nichts daran änderte, dass diese Parzellen nur unwesentlich größer als eine
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 85 von 85 -
Doppelgarage waren. Eine ohne Dach, versteht sich. Im Gehege zuckelten mit mir acht Staatsfeinde übers Kopf-
oth
steinpflaster. Ich kannte sie alle, nur einen nicht. Ich sprach ihn an, den Mann, von dem es hieß, er und seine Frau seien Spione. Mein erstes tiefschürfendes Gespräch mit einem
mr
lebendigen, so wirklich ganz echten Spion. Man, war ich aufgeregt.
im
„Kann deine Frau auch ausreisen?“, fragte ich unschuldig. „Ja. Wie ich hörte, soll es morgen losgehen. Du bist noch sehr jung. Wie alt bist du?“ „Und weshalb gehst du?“
W
„Ich weiß nicht. Ich muss gehen.“
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„Achtzehn. Aber dafür kann ich nichts.“
„Unbegreiflich“, und schüttelte seine weiße Mähne, als hätte ich Zweifel an deren Echtheit angemeldet, koppelte sich
laf
ab und schlurfte seine Runden solo.
Neben leutseligen Spionen, munkelte der Knastfunk, stan-
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den auch Ärzte und anderes hochqualifiziertes Gut auf der Transportliste.
Michael saß mit offenem Mund auf der Bettkante und starrte die Zellentür an. Draußen war es unruhiger als
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sonst. Er lauschte den undeutlichen Stimmen. Schritte wurden hörbar, näherten sich. „Es ist soweit“, quetschte er gurgelnd hervor, ließ sich nach hinten fallen und weinte.
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Das war am Nachmittag des 23. September. Im Schloss drehte sich ein Schlüssel. Michael schoss
Co
hoch.
„Baden?“, fragte ein Leutnant. Baden? Baden, baden, baden! Von Unmengen duftigem Schaum umgeben, lang machen, versinken, träumen. „Ja!“, rief ich, sprang aus dem Bett, riss ein Handtuch vom Haken, schnappte das Seifstück vom Waschbeckenrand,
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 86 von 86 -
wirbelte durch die Tür, machte kehrt, rief Michael zu: schwänglich den Gang entlang. Sieben Türen weiter stockte ich abrupt.
oth
„Komm! Baden!“, und hüpfte in freudiger Erregung über-
Jetzt werde ich aber böse. Wenn sich das nicht augenblick-
mr
lich als Entgleisung erweist, gehe ich in den Westen.
Ich betrat den Raum. Keine Wanne. Nicht eine. Noch nicht
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mal eine ganz kleine. Seit Donnerstag vorangegangener
Woche hatte sich nichts verändert. Traurig, traurig, wieder nur schaumungünstiges Hochkantbaden. Also gut, ihr habt
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es nicht anders gewollt. Das habt ihr nun davon.
Im Anschluss an die rituelle Waschung brachten sie
W
uns zur Kammer. Überziehen durften wir sie nicht, aber mit auf Zelle nehmen, unsere Zivilkleidung. Morgen, sagten sie, morgen könnten wir sie tragen. Und nicht vergessen, vor
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dem Frühstück die Bettwäsche abzuziehen. Bettwäschetausch? Klartext sprachen sie nicht. Keiner. ten?
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Bettwäschetausch ein Synonym für Ausreise in den Wes-
Die Nacht war angenehm kühl. Michael hampelte unruhig in seinem Bett herum und rauchte eine nach der
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anderen. Ich legte mich beizeiten schlafen, schlief aber nicht, versteckte mich. Was da auf mich zukam, sollte kommen. Ich werde es begrüßen, erfreut und dankbar sein und fragen, ob es in der
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fremden Welt ein Plätzchen für mich gibt. Nicht viel, nur etwas mehr als eine Zelle und keinen Knast an der Ecke
Co
und keine Uniform vor der Tür. Und vielleicht darf ich bis zum Abitur zur Schule und dann studieren. Wäre irre gut. Mit Sandro würde ich gemeinsam in eine Stadt ge-
hen. Aber Sandro sitzt in Ichtershausen. Wenn du mich hörst, Sandro, gib mir Licht auf den Weg. Spiel für mich,
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bitte. Hilf mir, mein Freund, spiel morgen nur für mich. Weißt du, ich habe eine scheiß Angst.
oth
„Nimm noch einmal die Gitarre und erzähl von deinem Leben...“, sickerte eine warme Frauenstimme plumpvertraulich durchs offene Fenster.
mr
Geht das jetzt auch hier los. Kannst aufhören, ich gebe nichts.
im
„Ist das nicht wunderschön?“, meldete Michael. „Hm.“
Ein Wunder, dass die herzkranke Bergziege noch keiner
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vom Fensterbrett geschossen hat. Winselt, als hätte sie sich im Gitter verfangen.
W
„... ich verspreche nicht zu weinen...“
Hör auf mit dem widerwärtig sentimentalen Schmalz. Ist ja nicht auszuhalten. Klingt wie dein Nachruf.
laf
Schon in U-Haft stieg ich darauf aus. Allabendlich mit dem aufziehen der Nacht jammerte eine oder einer drauflos. Und
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immer stimmten andere mit ein.
In Karl-Marx-Stadt blieb ich bis zu diesem Abend verschont. Vielleicht eine Stasitante, die mich noch mal so richtig quälen wollte. Sie sang lange - und allein. Ich zog die Decke über den Kopf und schlief irgendwann
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ein.
Draußen herrschte nächtliches, tiefes Dunkel, drin-
nen von weißem Neonlicht betupfte fiebrige Anspannung.
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Vom Frühstück ließen wir die Finger, sprachen nicht,
Co
rauchten Kette. Nach zwei Stunden tasteten sich erste Sonnenfühler
durch den Hochnebel. Vorboten, die von einem prachtwollen 24. September kündeten. Ich öffnete das Fenster und atmete tief durch. „Woran denkst du?“, fragte Michael.
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Willst mich aushorchen? „Woran schon - an nichts. Ist mir alles Brust.“ Nichts war mir Brust. Ich musste auf den Topf,
oth
konnte aber nicht, weil er ihn seit dreißig Minuten oder länger blockierte.
„Wird das da ein Fluchtversuch oder ist es einfach nur Ab-
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schiedsschmerz?“
„Ist ja gut. Reg dich nicht gleich künstlich auf. Wann die
im
uns wohl holen werden?“
„Falls du die Schüssel mitnehmen willst, lass mich vorher noch mal pinkeln.“
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„Dann sag doch was“, stellte sich und zog seine Hose hoch.
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Also, eines war mir da sofort klar: Wenn ich Mitte dreißig sein werde, wird Hermann ganz sicher erwachsen sein. „Vielleicht holen sie uns erst am Nachmittag. Oder am A-
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bend, wenn es dunkel ist.“
Ich stand vor der Toilette, mit dem Rücken zu ihm. „Sieh
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mich an. Sieht so Jesus aus?“ „Man, bist du heute gereizt.“
„Ich bin nicht gereizt! Weiß gar nicht, was das ist.“ Heule ein paar Runden, dann hältst du wenigstens dein Maul. Mit einem Mal stürmte er zur Tür. Ich erschrak und
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lenkte in jäher Bewegungsfolge den Strahl über die Wand zum Fußboden zurück ins Becken. Exzellente Körperbeherrschung mal wieder. Desinteressiert betrachtete ich die graugrüne Ölfarbe an der Wand vor mir.
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„Eh, James... James, es geht los“, hauchte er, und ich war mir ziemlich sicher, er schmiere augenblicklich bewusstlos
Co
ab.
Doch da hantierte es auch schon an der Tür. Gerade noch rechtzeitig brachte er sein Ohr und ich Hermann in Sicherheit.
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„Nehmen Sie Ihre persönliche Habe auf. Alles, was Sie bei uns erhalten haben, belassen Sie bitte im Haftraum. Folgen
oth
Sie mir!“
Ich drehte den Kopf, um Michael zu fragen, ob er auf mich warte, als er auch schon mit seinem Bündel unterm Arm
mr
davonhastete.
Meine Habe bestand aus vier Schachteln Zigaretten. Ich
im
steckte sie ein, wusch mir die Hände und betrachtete mich im Spiegel.
So also sah der Ostler aus. Präge dir diese Fresse gut ein,
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es wird das letzte Mal sein, ab morgen bist du ein Westler. Und wenn du irgendwann hierher zurückkommst, deine
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Familie, deine Freunde besuchen, werden dir die Mädchen mit seitlich heraushängender Zunge hechelnd nachlaufen, so wie sie immer den anderen aus dem Westen nachliefen.
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Ich trat hinaus und mengte mich unter die Ziehenden. Einige schlugen mir freundschaftlich auf die Schulter
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und flüsterten irgendetwas. Sie flüsterten alle, jubelten leise mit dem erlösenden Glanz der Getretenen in den Augen der grauen, feurig hoffnungsvoll strahlenden Gesichter. Ihr Sog trug mich in jenen Saal, in welchem ich zwei Wochen zuvor meinem Irren begegnete.
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Mein armer Irrer, ich drück dir die Daumen - beide, ganz fest.
Nur allmählich klangen die erhitzten Gemüter ab. Ein
Unterleutnant rief in alphabetischer Reihenfolge unsere
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Namen und reichte jedem Hiersager, begleitet von einem kurz einsetzenden, sofort wieder verebbendem begeister-
Co
ten, stummen Beifall, der selbst aus dem noch recht jungen Unterleutnant ein Lächeln kitzelte, seine Ausbürgerungsurkunde. „Hören Sie, bitte!“, bemühte er sich im neuerlich an-
schwellenden Raunen. „Während Ihrer Bewährungszeit ist
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 90 von 90 -
Ihnen jede Einreise in die Deutsche Demokratische Republik untersagt.“
oth
Wir brachen in schallendes Gelächter aus, trampelten mit den Füßen und applaudierten heftig. Dem Unterleutnant
stieg die Röte ins Gesicht. Doch entstammte sie weder sei-
mr
ner Gesinnung noch grollte er. Nein, der Kleine war ganz
einfach verlegen und zog eine Miene, die ausdrücken soll-
im
te: Ich kann doch nichts dafür, ich musste das sagen Vorschrift.
Seine köstliche Stasihumoreske bezog sich auf einen klei-
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nen gelblichbraunen Fetzen, den er uns mit der
Ausbürgerungsurkunde und einem heuchlerischen „Gute
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Reise!“ überreichte. Auf dem Entlassungsschein waren neben Datum, Name, Geburtsort und Geburtsdatum als Ort der Entlassung: „entlassen nach der BRD“, und bei mir, ei-
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ne Zeile tiefer, „... ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung“ vermerkt. Michael erhielt ein Jahr, mein aufgeschlossener
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Spion fasste sechs Monate ab, und die meisten anderen zwei Jahre.
Nach diesem von einfachem, heiterem Charakter untermalten Akt der Verabschiedung, ging es hinunter zur Hintertür.
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Dicht gedrängt standen wir vor der offenen Tür zum KfzHof und streckten die Hälse, suchten etwas, das sich schamhaft hinter einer bedrohlich vorspringenden, Stacheldraht gekettelten Hausecke unseren sehnsüchtig
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neugierigen Blicken entzog. Es roch sehr streng. Nein, es stank. Es stank fürchterlich nach faulen Eiern. Scharfe
Co
Winde wehten aus Ost. Einige plagten sich in einem fort mit abgehenden Blähungen. Und, natürlich, ich müsste es nicht erwähnen, rief
man unsere Namen auf - alphabetisch, sowieso. Könnte ja einer abgehauen sein. Als einer der letzten durfte ich durch die Tür auf den Hof, frische Luft und ein in glattes, kaffee-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 91 von 91 -
satzbraunes Papier eingeschlagenes Päckchen entgegenstehen und fingerte an meiner Überraschung. „Gähn Sä weidor!“, bellte die Uniform neben mir.
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nehmen. Ich nahm es mit einem dankbaren Lächeln, blieb
Bin nicht müde. „Platz!“, knurrte ich und wickelte variatives
mr
Butterbrotpapier von... oh, Blutwurst... und... oh, Griebenschmalz inzwischen weicher, frischer Schnittchen aus
im
Roggenmischbrot.
Ich verstand. Das konnte ich unmöglich annehmen. Verärgert drückte ich den rechten Daumen tief in den Teig,
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wischte ihn am Papier ab, knüllte den Batzen und formte ihn kräftig mit beiden Händen.
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„Mahlzeit!“, sagte ich und hielt ihm die Kugel vor die Brust. Er glotzte blöd wie Schmalzbrote und umklammerte es als hätschelte er seinen Einschlafteddy.
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Gleitend auf schmierigem Kopfsteinpflaster setzte ich meinen Weg über den Hof, auf welchem sie mich zwei
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Wochen zuvor aussetzten, entlang eines Dutzend Uniformen und vier Anzügen fort, bog rechts ab - und da stand er, tauchte auf aus dem Nichts, keine fünf Schritte vor mir, in praller Schönheit, der Freiheitslift wie ihn mein Irrer nannte, ohne dass er ihn je sah.
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Geblendet drückte ich die Augen zu schmalen Schlitzen, mein Atem beschleunigte sich und ich war verdammt nahe dran auf die Knie zu fallen. Kam mir bei dem Bild, kniend in Motorenöl, mit aufgerissenem Mund einen Bus anzuhim-
Co
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meln dann doch ein wenig albern vor. In unschuldig grellem Weiß ein echter Westbus mit-
ten auf dem grauen Hinterhof der Stasi. Der blanke Wahnsinn! Und sogar mit richtiger, kräftig blutroter Reklame. Kein Mensch glaubt mir das. Kein Mensch von hier. Gerade schickte ich mich an, Einzug zu halten - einen Westbus betritt man nämlich nicht, man hält Einzug -,
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 92 von 92 -
als mich einer, passend zur Stille im Totengräberkostüm, gänzlich pietätlos von rechts anmaulte: „Name? !“
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Geht schon los. Es stimmte also, die wollen einem wirklich alles andrehen. Aber nicht mit mir.
„Danke, meiner ist noch gut“, wehrte ich freundlich ab und
mr
setzte einen Fuß auf die erste Stufe des... des Westautos. „Warten Sie!“
im
„Lohnt nicht, Geld habe ich nämlich auch keines mehr.“ „Ihren Namen, bitte.“ Ach so ist das.
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Ich nannte meinen Namen, hielt Einzug und - halleluja! Überwältig hielt ich inne und blickte, nein, starrte
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schnüffelnd um mich. Gedämpfte Stimmen in einladenden Orangetönen und zartem Wohlgeruch. Aufgeregt beschnüffelte ich den Westen. Aus dem Waffenarsenal des
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Klassenfeindes? Wohl kaum, denn wer derart unverschämt gut riecht, kann unmöglich feindselig gesinnt sein.
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Bald mehr noch irritierten mich Sauberkeit und Glanz. Doch war ich verwegen genug, meine Hand auf die Griffstange zu legen. Ein schönes Gefühl: etwas kühl, aber schön.
Unter den Sohlen Teppichboden. Kein Scherz - ganz wirk-
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lich wahr! Ich stand auf Teppichboden, richtigem Teppichboden wie zuhause. Und ich überlegte, ob ich meine Schuhe ausziehen müsse. Unsicher sah ich den Gang entlang, konnte aber nicht erkennen, dass andere sie aus-
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zogen und in Socken liefen, weshalb ich meine anbehielt. Hinten, oder fast ganz hinten, fiel mir ein Kasten mit
Co
einer Holztür auf. Das allein war schon ungewöhnlich. Als ich aber genauer hinsah, erkannte ich ein kleines weißes Schildchen mit den schwarzen Lettern „WC“ an der Tür. Das ist nicht sehr nett. Auf so was falle ich doch nicht rein. Die halten uns Ostler aber für ganz schön bekloppt. War
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das der Humor des Westen? Etwas schlicht vielleicht. Habe ich noch ganz schön an mir zu arbeiten. le was auf die Straße und bleibe da dampfend liegen -
oth
Man stelle sich nur mal vor, an einer roten Ampel faljedenfalls vorübergehend. Ist das da drüben üblich, muss
mr
ich aufpassen, dass ich nicht zu nahe an den Straßenrand komme. Wenn sich Michelin darüber hermacht und es
im
schäumend nach allen Seiten perlt... Das ist nicht lustig das ist Scheiße. „James! James, hierher!“
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Ich sah über die Reihen kopfhoher Sitzlehnen hinweg und erkannte Michael, der sich mit einer Hand an die Lehne
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seines Vordermanns klammerte und mit der anderen den Westduft verteilte.
Jesus, die Leiche lebt! Warum flennst du eigentlich nicht?
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Ich denke, wir sind frei. Wenn ich frei bin, dann will ich gefälligst staunen dürfen. Ungestört, wenn dir das was sagt!
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Setz dich, flenne und lass mich in Ruhe. Da ist man schon mal frei, aber drei Minuten zum schwärmen gönnt einem keiner.
Also staunte ich schneller und setzte mich neben ihn. Warum, wusste ich nicht. Einige Minuten saß ich einfach so
rig h
da, dann stand ich auf und rutschte eine Reihe weiter hinten auf den Fensterplatz. Nach, grob geschätzt, einer Stunde steuerte der Bus
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über den Hof und aufs Tor zu. Fünfunddreißig Männer und vier Frauen hielten den Atem an. Die Frauen waren schon
Co
da, als ich den Bus bestieg. Gedämpfte Stimmung stellte sich ein. Kein Jubel,
keine Tränen - konzentriert verfolgten wir jeden sich vom Knast wegbewegenden Meter. Vielleicht zählte der eine oder andere auch mit.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 94 von 94 -
Schwer bewacht rollte die Kolonne der Grenze entgegen. Vor uns steckten zwei dunkle Limousinen die
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Holperpiste ab. In einer, hieß es, säßen Stasileute, in der
anderen ein Anwalt aus Westberlin. Auch die beiden uns folgenden Limousinen seien angemessen bestückt: Im
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Mercedes der DDR-Anwalt Vogel und in der zweiten noch ein bisschen Stasi.
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Nun sind ja Knackis immer recht gut informiert, aber woher diese Informationen stammten, wusste ich mir nur so zu erklären, dass Spione im Bus saßen. Und die, weiß man ja,
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verdienten ihr Geld bekanntlich damit, alles zu wissen. „... wir fahr’n in Puff nach Barcelona... “, blärrte es plötzlich
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von der Decke.
Erschrocken warf ich den Kopf in den Nacken. Angeber! Wie Girlanden hingen kleine Lämpchen, Schalter und Laut-
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sprecher am Gepäckkasten. Alles da, und jedem seine Dröhnung. Nur die Aschenbecher waren weiter unten.
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So plötzlich die verheißungsvolle Ankündigung über mich herfiel, so plötzlich verschwand sie auch wieder. Unser Fahrer, ein kleines, schmächtiges Männlein mit gepflegtem Scheitel von einem Ohr zum anderen, besaß jene Unverfrorenheit, die einen der vier uns begleitenden Stasi-
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gesellen auf die Pirsch lockte. Mit den Worten: „Das ist verboten!“, stürzte er sich auf den Staatsfeind und bereitete dem ungebührlichen Singsang ein jähes Ende. Wie über ein Westpäckchen machte er sich über die Kassette her,
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riss sie aus dem Recorder und warf das unschuldige Stück Plastik hasserfüllt und von Ekel geschüttelt zu Boden. Tri-
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umphierend suchte er die Blicke seiner Kollegen: Feindlichen Angreifer erlegt, zappelt nicht mehr, beantrage Sonderurlaub. Sie grinsten ermunternd, sahen in die Runde, passten auf, dass keiner von uns durchbrennt.
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Möglich, dass sie ihm gedanklich auf die Schulter klopften, alle gleichzeitig und auf dieselbe Stelle. Schön blau sollte
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sie werden, sich entzünden und abfaulen - oder besser
gleich daran verrecken. Dieser ausgerastete Unhold hatte
weder Respekt vor dem Eigentum anderer noch machte er
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vor meiner Sexualität halt. Dabei musste selbst einem Ignoranten wie ihm klar gewesen sein, dass meine Sexualität
im
während der letzten Monate beträchtlich litt. Mehr und
mehr bekam sie etwas von einem nächtlichen Wüstentrip: kalt, staubtrocken und auf sich allein gestellt. Hermann be-
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einen weiblichen Artikel.
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gann bereits unruhig herumzuturnen, benutzte ich nur
Ich kam mir vor wie auf einem Schulausflug der Klassenbesten. Keiner murrte, keiner benahm sich
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daneben. Wir forderten die Langeweile heraus und suchten den Sachverhalt zu klären, wie weit sie sich in die Ecke
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drängen ließ.
Irgendwann tauchten Wachtürme, Stacheldraht und Grenzsoldaten auf. Der Bus stoppte und unsere Aufpasser stiegen aus. Sie sprachen kein Wort. Gleichgültig sah ich ihnen nach. Alle sahen ihnen nach. Und mit jedem Schritt,
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den sie sich entfernten, lockerte die Stimmung auf, lösten sich Verkrampfungen, lächelten Augen unverhüllter. Im Schritttempo fuhr er weiter, fädelte in die äußerste
rechte Spur und hielt am Übergang, der den Militärs und
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Diplomaten vorbehalten war. „Uff!“, entschlüpfte meiner Kehle, als ich mit der linken
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Gesichtshälfte wuchtig an die Scheibe klatschte. Unerwartet und heftig fielen die Horden der rechten Sitzreihen über uns Linkssitzende her. Drei Rücksichtslose - ganz sicher Spione - drückten mich gegen die Scheibe und wichen keinen Millimeter zurück. Westglas hält das aus. Aus dem Augenwinkel sah ich vier fröhlich grinsende Soldaten.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 96 von 96 -
Richtige Amis, in Uniform und mit Kaugummi im Mund. Die ten Armen zum V gespreizt. Sie standen direkt unter
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Zeigefinger und Mittelfinger an den uns entgegengestreckmeinem Fenster und sahen hoch. Doch ich konnte mich
nicht bewegen, nicht einmal lächeln, sah einfach stur nach
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vorn. Bestimmt hielten sie mich für irgendeinen ganz schlimmen Ausdruck in ihrer Sprache.
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Bei allen anderen, also jenen, die über ihre Körper
und ihre Gefühle selbst bestimmen durften, entfachten die lustigen Farbigen jedenfalls eine Flut der Begeisterung als
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stünde Humphrey im wedelnden Trench leibhaftig da draußen. Freudengeschrei, Tränen auf beiden Seiten und
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anhaltendes Pochen gegen die Scheiben. Mein Kopf dröhnte, ich schlug um mich und entfloh den Fängen der Spione
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oder Geiselgangster oder was auch immer sie darstellten. Hinter uns lag die begleitende Geräuschkulisse holp-
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riger Panzerplatten. Geräuschlos glitten wir über den Asphalt des Westens. Nach wenigen hundert Meter verlangsamte sich die Fahrt. Unruhig sahen wir aus den Fenstern. Der Hornochse wird doch nicht etwa wenden wollen? Ein Parkplatz - unser erster Stopp, unsere erste
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Berührung der freien Welt stand unmittelbar bevor. Der Fahrer zog die Feststellbremse. Und mit dem zischen der entweichenden Luft riss sich der Bär von der Leine. Nahezu synchron sprangen wir von unseren Plätzen und
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schrieen und kreischten wild und laut durcheinander. Wirre Wortfetzen zerrannen im Jubel, stachen in die Wogen der
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Emotionen, tauchten durch, wirbelten hoch. Jeder beglückwünschte jeden; jeder umarmte jeden und jeder wünschte jedem das Beste. Tränen flossen reichlich. Schluchzend warf sich eine Frau an die Brust des Fahrers. Und Michael glotzte mich aus verheulten Augen blöd an und suchte mit tropfender Nase umständlich nach einem
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 97 von 97 -
Taschentuch in seinen Taschen, das er natürlich nicht fand, weil er keines hatte - weil keiner eines hatte.
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Und dann küsste auch noch jeder jeden - abartig feucht. Wo die das bloß herhatten?
Ich setzte mich, trocknete mein Gesicht am Hemd-
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ärmel, zündete eine Zigarette an und sah aus dem Fenster hinüber auf das sonderbare Metallding entlang dem Grün
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zwischen den Fahrbahnen.
Empfand ich Freude? Nein, ich glaube nicht. Jeden-
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falls nicht wirklich. Eher Erleichterung. Erleichterung darüber, quicklebendig dem Verderben des meuchelnden,
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knallroten Henkers entronnen zu sein. Und auch darüber, die Zeit der Gitter, der Enge, der Kälte, der Einsamkeit, der Dunkelheit und der Uniformen nunmehr in die Lade un-
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schöner Erfahrungen ablegen, um sie Schaufel für Schaufel in die Flamme der Allmählichkeit des Vergessens
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geben zu können.
Vor zwei oder drei Monaten gab mir mein großherziger Klausi den Rat, ich möchte mir bitte nicht während der Nacht die Pulsadern aufzuschlitzen, weil er keinen Nachtdienst schiebe und mir somit auch nicht zu Hilfe eilen
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könne. Ich dankte seiner Fürsorge und erwiderte, wer mit dem Leben abschließt, der bringt sich nicht um, der zieht sich zurück und schreibt ein Buch. Damals wusste ich es nicht, heute schon: Niemals werde
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ich ein Buch schreiben! Und jetzt? Jetzt schauen wir uns in der Freiheit um.
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Kopf hoch, Hermann, auch die Patina werden wir abschleifen. Vielleicht soll das Ding verhindern, dass einer wen-
det und in die andere Richtung fährt. Aber wer will schon in die andere Richtung. So viel Glück ist nicht wiederholbar.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 98 von 98 -
Ein hornbebrillter Endvierziger in Strickjacke und Häkelkrawatte kletterte die Stufen herauf. Er grüßte nicht,
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stellte sich nicht vor, schnaufte einfach nur und verfügte in unappetitlich abgehobener Sprechweise: „Behalten Sie Ihre Plätze bei und bewahren Sie die Ruhe!“
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Wir gehorchten - schlagartig.
Schon setzte sich unser Freiheitslift in Bewegung.
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Mit versteinerten Mienen nahmen wir von Strickjacke Plastiktüten mit Schokolade, belegten Brötchen, Saft und Zigaretten entgegen. Unser Fahrer schob seine Stim-
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mungskassette rein und brachte Strickjacke damit erneut außer Atem. Der hastete mit großen, rasch vorwärts-
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strebenden Schritten und, als haben sich beim verabreichen der Tüten irgendwo ein paar Schrauben gelockert, krampfartig zuckendem Haupt, triefend fiebrigen Augen,
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unruhigen Fingern und wehender Häkelei den Gang entlang nach vorn und drehte ihr bei „Puff“ den Saft ab, krallte
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sich das Mikrofon und verbiss sich darin. So erfuhren wir nun über Lautsprecher unser Reiseziel, lauschten geistreichen Ostfriesenwitzen, auf die niemand reagierte, weil sie jeder kannte, und erhielten Einblick in so essenziell Wichtiges wie: „Viele nehmen an, Bayern sei die
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waldreichste Gegend Deutschlands. Dem ist aber nicht so haha! Hessen ist das Bundesland mit dem größten Waldbestand. Na, da haben wir schon was gelernt.“ Ich kaute Brötchen, trank köstlichen Fruchtsaft aus
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einer eckigen, handtellergroßen Pappschachtel, rauchte „Camel“ nebenher und bewunderte die intakten, sauberen
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Straßen, staunte über gepflegte Gärten und all die hübschen, freundlichen Häuser. Was denn, was denn: Sie bohnern ihre Autobahn,
wirbeln mit Staubwedel durch ihre Vorgärten, legen Teppiche in Busse und trinken aus Pappschachteln? Womöglich essen sie von Papiertellern, schlürfen Suppe aus Schuh-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 99 von 99 -
kartons... unglaublich. Da kommt einiges auf mich zu. Ich werde mich umstellen, unglaublich viel vergessen, umden-
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ken und noch viel mehr lernen müssen.
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VII
So kurz kann er sein, der Weg vom gelernten Ostler
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zum ungelernten Westler.
Als wir im Auffanglager einfuhren, zeichnete sich über Gießen die heraufziehende Nacht ab. Strickjacke
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mahnte, wie in Lagern üblich, zur Eile. Ich wusste nicht warum, eilte aber, weil alle eilten - und eilte ihnen nach in den
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Speisesaal, vor dem wir parkten.
Fünf Frauen mittleren Alters, mit Papier und Stift im Anschlag, empfingen uns. Unruhig auf der Stelle tänzelnd
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riefen sie Namen. Eine rief nach mir und ich eilte zu ihr und reichte ihr meinen Entlassungsschein. Endlich war das
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Ding weg. Doch die wollte ihn nicht, gab ihn mir zurück und gleich noch einen Stapel Papier dazu. Sie sah die Enttäuschung in meinen Augen, lächelte und legte einen Schein auf den Stoß.
„Begrüßungsgeld. Unterschreiben Sie bitte - hier“, sagte
rig h
sie und fuhr mit dem Zeigefinder die Liste nach unten. Für mich war es Westgeld. Fünfzig saubere, glatte
Deutsche Mark. Ich betrachtete den Schein von beiden Seiten, faltete ihn in der Mitte, strich zärtlich mit den
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Fingerspitzen darüber und schob ihn vorsichtig in die rechte Hosentasche. Jetzt war es kein Westgeld mehr, jetzt war
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es Geld, mein Zahlungsmittel. Ich war angekommen, war Zuhause. Und den Henker wird der Teufel holen. Sie sah wieder auf ihre Liste: „Sie werden nicht er-
wartet?“
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Ich schüttelte den Kopf und sie legte auf den Stoß einen anhänger. „Ihr Zimmer ist im Gebäude gegenüber.“
oth
Schlüssel mit einer dreistelligen Nummer auf dem Papier-
Dahin schickten sie alle von uns, die nicht abgeholt wur-
mr
den. Na ja, genau genommen waren es nur zwei.
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Unser Bus war weg, als ich vor die Tür trat. Es war
kühl und mich fröstelte. Einzelne Gepäckstücke lagen verstreut auf dem Gehweg. Michael rief nach mir. Ich
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schlenderte zu ihm auf die Straße und er stellte mich seinen Verwandten vor. Vermutlich ein Ehepaar. Sie versuchte
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sein „Herzlich Willkommen!“ mit ihrem „Herzlich Willkommen!“ zu übertonen. Die Hand reichten mir beide nicht. Ich ihnen auch nicht. Statt dieser drückte mir Michael ein Kärt-
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chen mit einer eiligst aufgekritzelten Telefonnummer in die Hand und verabschiedete sich. Ich dankte ihm noch
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schnell, ohne zu wissen, wofür, lächelte verzerrt und verzog mich in eine dunkle Hausecke auf die andere Seite der Straße.
Bestimmt ganz furchtbar aufregend, wenn man erwartet wird. Drüben auf der Straße lagen sich hundert
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Menschen oder mehr in den Armen. Stürmisch fielen sie nach unserer Ankunft übereinander her, umarmten sich herzlich, wie es schien. Nur, woher wussten sie, dass wir kommen würden? Es war mir schleierhaft. Ich trat auf die
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Glut meiner Zigarette und machte mich mit hängendem Kopf und einem fußballgroßen Klos im Hals auf die Suche
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nach meinem Zimmer. Jetzt hör aber auf! Das ist doch alles gelogen. Gelo-
gen, gelogen, gelogen! Die ganze Leidenschaft nur gespielt. Ist alles gar nicht echt. Bestimmt nicht. Die sind gekauft. Genau so wird es sein. Die haben Schauspieler gekauft, die das Theater jeden Tag irgendwo abziehen. Und
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auf mich wartete keiner, weil ich kein Geld habe. Aber dafür hätte ich sowieso kein Geld ausgegeben. Wer bin ich denn,
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dass ich Geld für dummes abtatschen und albernes abgeschlecke verschleudere.
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Mein Zimmer war schön. Ich sah mich kurz um und verließ es wieder. Unter Menschen zu kommen war noch
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schöner. Der Eingang zur Kneipe befand sich gleich links neben dem Speisesaal. Ich drückte die schwere Tür auf, entdeckte Andreas und setzte mich zu ihm.
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„Was darfs d’n sei, mei Hübschor?“, grinste mich eine stämmige Blonde erwartungsvoll an.
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Ist rutschte mich zurechte, setzte mich aufrecht hin, schwellte die Brust und sagte, wie es der Mann von Welt im Westen zu sagen pflegt: „Einen Orangenjuice, bitte.“
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„Hä?“, fragte sie und zog dabei ein Gesicht als ekelte sie etwas.
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„Einen Orangenjuice, bitte!“, wiederholte ich freundlich und lauter.
„Der will nen O-Saft!“, rief der Wirt, der hinterm Tresen Gläser spülte.
„Quatsch’s näschste Moal deitsch met mer, vorstähst!“,
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bellte sie, nahm ihren riesigen, bebenden Busen und wackelte trampelnd zum Tresen. Dämliche Kuh! Ich nahm extra kein Bier, um Westsprache zu sprechen. Und wenn du schon so schlau bist, dann ver-
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rate mir doch mal, warum ich dir nicht die Fresse poliere? Stimmt, weil ich hier zu Hause bin und sich Fett von den
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Tapeten schlecht löst. In einem Zug schüttete ich das winzige Gläschen O-Saft runter, zahlte und behielt das Trinkgeld für mich; klopfte Andreas mit der flachen Hand auf die Schulter und verschwand auf mein Zimmer.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 102 von 102 -
Was war das denn für eine Kultur, die mich in ihre Arme schloss? Gar nicht so einfach. Dazu muss man zu-
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nächst einmal wissen, dass es viele Zweige der Kultur gibt. Deshalb ist Kultur nicht gleich Kultur. Oder eben doch. Auf jeden Fall aber hat sie viele Fassetten. Eine unverständli-
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cher als die andere. Aber eigentlich auch nicht. Denn
Kultur ist immer alt und irgendwie auch neu, aber schon
im
länger da und alle nehmen daran teil. Wenn also jemand seinen Frühstückstisch nicht abräumt, hat er nach vier
Wochen eine Frühstückskultur - mitten in der Küche. Und
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wenn einer etwas ablegt, aber nicht spült, dann hat er nach ein paar Tagen eine, na ja, eben eine andere Kultur im Ba-
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dezimmer. Daneben gibt es dann auch noch Kulturkreise. Aber das ist nicht so kompliziert. Das sind moderne Lieder singende alte Menschen. So einfach ist das. Muss einem
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nur richtig erklärt werden - von kompetenter Seite, versteht
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sich. Ist wohl besser, ich schlafe jetzt. In der Früh kaufte ich mir eine Bild-Zeitung und verbrachte den Rest des Tages, wie auch den gesamten folgenden, auf ungelüfteten Fluren und in muffigen Zimmern.
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Zugegeben, der „Playboy“ reizte mich, insbesondere Hermann, schon auch. Aber ich gab nicht nach, denn ein Playboy war ich nicht, demzufolge auch nicht auf Fachzeitschriften angewiesen. Was ich dagegen wirklich brauchte,
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war Arbeit oder einen Studienplatz - und eine Wohnung.
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Eine unendlich große, helle Wohnung. Im Innenteil meldete die Bild-Zeitung auf dreieinhalb
Zeilen, dass am Vortag 39 Ostzonenflüchtlinge in die Bundesrepublik einreisten. Obwohl die Zahl übereinstimmte, meinten sie sicher nicht uns. Ich war kein Flüchtling, und aus einer Ostzone kam ich auch nicht. Was ist überhaupt
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 103 von 103 -
eine Ostzone? Vielleicht eine Art Lager, so was wie in Sibirien?
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Scheiße auch, ich bin doch kein Russki!
Mit dem Laufzettel in der Hand lief ich durchs Lager,
mr
von einem Büro zum anderen. In jedem der Kämmerchen
erwarteten mich mindestens zwei Herren. Frauen schienen verdarben sowieso nur die Atmosphäre.
im
nicht geeignet für anspruchsvolle Tätigkeiten. Und Blumen Ein Raum glich dem anderen. Im Hintergrund dudel-
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ten Kofferradios und die Herren tranken Kaffee, rauchten und stellten Fragen. Sie behandelten mich ausgesprochen
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freundlich und nachsichtig. Wohl auch, weil sie mich für ein wenig - oder etwas mehr - behämmert hielten. Gleich fünfmal beantwortete ich in fünf Räumen auf fünf verschie-
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denen Fluren nahezu identische Fragen. Im Zimmer des Verfassungsschutzes - die hießen
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wirklich so und sahen gar nicht so kräftig aus - begrüßten mich gleich vier Herren. Nachdem sie ihre Fragen gestellt und ich sie artig beantwortet hatte, legten sie mir nahe, mit der Presse nicht über meine Erlebnisse zu plaudern. Es würde sich negativ für diejenigen auswirken, sagten sie,
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die drüben auf eine Chance warteten, wie sie mir zuteil wurde.
Im siebenten und letzten Zimmer fragte man mich,
wohin, in welche Stadt, welches Bundesland ich gehen
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wolle. Ich zuckte mit den Schultern und sagte, dass ich, wenn ich es mir tatsächlich aussuchen könne, ich also
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wirklich die Wahl hätte, ich mich ganz gern in einer kleinen, ruhigen Stadt niederlassen würde. „Aber klar, du kannst dir aussuchen, wohin du gehen willst“, sagte der zu meiner Rechten und schlürfte aus einer zwei Hände großen Kaffeetasse. Das Teil war so unanständig groß, dass es locker auch als Nachttopf hätte
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 104 von 104 -
durchgehen können. Einladungen bekam der mit dieser
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Frechheit sicher nicht sehr viele. Sattsam ausgestattet mit broschierter Lebenshilfe
beendete ich meinen zweitägigen Rundgang. Die Broschü-
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ren würden mir den Umgang mit Behörden erleichtern und beim zurechtfinden in dem für mich fremden Land behilfsagt, dann wird schon etwas dran sein.
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lich sein, sagte jeder in jedem Zimmer. Und wenn es jeder
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Eine Bahnfahrkarte nach Stürmberg in der Jacke, einen sauber gefalteten, nagelneuen Hundertmarkschein in
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der Gesäßtasche und das Bündel Lebenshilfe unterm Arm so gewappnet verließ ich am Morgen des dritten Tages das Lager.
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Obwohl ich mich freute, sogar riesig freute, meine Heimat zu beschnuppern, kennen zu lernen, abverlangte
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dieser erste Schritt doch ein gehöriges Maß an Überwindung. Zu Hause schrieben sie beinahe täglich über die schlimmen Zustände im Westen. Messerstechereien, Mord und Totschlag bestimmen das Bild der Großstädte, hieß es. Ich trug die Bilder in mir und war auf der Hut vor Horden
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marodierender Jugendbanden und achtete auf messerwetzende Mafiakiller in dunklen Hauseingängen. Aber da war niemand. Und trotzdem stand mir das Wasser in der
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Hose - vor allem hinten. Im Bahnhof kreuzten mehrmals Polizisten meinen
Weg, aber, so oft ich mich auch umwandte, mir stieg kein
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hübsches Mädchen nach. Selbst hässliche legten es nicht darauf an, Hermann zu belästigen. Und blutverschmierte Junkies lungerten auch nicht herum. Dabei suchte ich, neugierig wie ich nun mal war, sogar die Toilette nach ihnen ab. Und, ich ahnte es bereits, natürlich randalierte auch im Zug kein Aas.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 105 von 105 -
Es war ja so was von gewöhnlich. So was von langweilig,
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dieser Westen. In Stürmberg meldete ich mich im Übergangswohnheim für Aussiedler und rief noch am selben Abend bei
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Michael an. Einfach so. Nur um mal zu telefonieren. Eine
andere Nummer hatte ich nicht. Gut, ich hätte auch bei der
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Telefonauskunft oder der Polizei anklingen können. Ihre
Nummern standen am Apparat. Aber worüber hätte ich mit denen sprechen sollen: „Gestatten, James Wollter. Ich bin
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neu hier und wollte mich nur mal vorstellen.“?
Schon gleich beim ersten Versuch stand die Verbindung.
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Erstaunlich, es dauerte nur Sekunden - wirklich wahr, ging ganz fix.
Michael freute sich und besuchte mich auch gleich
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am darauffolgenden Tag. Drei Stunden schlenderten wir durch die Altstadt und parlierten über die alten Zeiten, den
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unermesslichen Vorzügen, ein freier Mensch zu sein, und unsere Zukunft. Michaels Rastlosigkeit, unaufhörlicher Redefluss und der weiße Schaum in seinen Mundwinkeln, den er nach jedem Satz, selbst nach den ganz kurzen, geräuschvoll einsaugte, gingen mir mächtig auf den
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Hermann, weshalb ich ihn mehrfach an die Abfahrtszeit seines Zuges erinnerte. Wir standen auf dem Bahnsteig und schüttelten uns
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die Hände. Plötzlich faltete er sein Gesicht und fing an zu heulen. Gott, war mir das peinlich. Konnte der damit nicht
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warten, bis er im Zug saß? Oder wenigstens so lange, bis ich weit weg war? Aber nein, der plätscherte lustig drauf los. Schnell nahm ich meine Hand, steckte sie vorsichtshalber ein und sah mich nach etwas schwerem um. Aber da war nichts, nur Bänke. Die hatten sicherlich ein passables Gewicht, waren nur etwas unhandlich und dummerweise
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 106 von 106 -
am Boden befestigt. Wenn der sich meiner Schulter nähert, haue ich ab.
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Ich gab ihm ein Papiertaschentuch. Er bellte hinein wie ein getretener Straßenköter und plapperte was von Nervenzu-
sammenbruch, den er erlitt, als er in der ersten Nachte die
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deutsche Nationalhymne im Radio hörte.
Na und, sei froh, dass du ein Radio hattest. Ich gab ihm ein
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zweites Taschentuch und er erzählte den zweiten Teil seiner Anekdote, die damit endete, dass er seither auf Etsch sei und nicht mehr loskomme.
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Was dieser Flennmann da redete, war mir nur noch Brust. Was glaubte der wohl, wie sehr mich seine Weiberge-
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schichten kümmerten. Warum klopfte der Wassertreter nicht beim Pfarrer an? Ich drückte ihm die restlichen Papiertaschentücher in die feuchte Linke und sagte, ich
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müsse mal kurz pinkeln.
Auf der Höhe des uringeschwängerten Zitronendufts
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beschleunigte ich meine Schritte.
Michael bestieg den Zug, sprang davor, dahinter, darüber oder darunter, ging Unterwassersurfen oder Tiefschneetauchen - was auch immer. Es interessierte mich nicht.
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Ich sah ihn nie wieder.
Nach einer Woche Stürmberg schickte man mich in
ein Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt nach Ramberg. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich stand vor dem Bahnhof und
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verknallte mich bis über beide Ohren in diese wahrlich
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schöne, kleine, alte Stadt. Ausgelassen, den Kopf vollgestopft mit Träumen, im
Herzen ganz große Pläne und pure Begeisterung im Bauch, folgte ich buchstabengetreu den Anweisungen meiner Lebenshilfefibeln und besuchte ein Amt nach dem anderen. Ordnung muss sein.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 107 von 107 -
Doch bald schon wurde ich in meinem geradezu sportlichem Ehrgeiz ausgebremst. Ohne Vorlage meiner
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Geburtsurkunde konnte mir kein Personalausweis ausgestellt werden. Arbeit vermittelte man mir keine, weil ich
weder Schulzeugnisse noch einen Berufsabschluss oder
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auch nur einen Personalausweis vorweisen konnte.
Beim Landratsamt beantragte ich einen C-Ausweis
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und erfuhr, dass diesen sogenannte Sowjetzonenflüchtlinge erhielten. Aber ausfertigen könne man ihn frühestens
dann, wenn ich einen Personalausweis vorlegte. Den wollte
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ich zwar, aber das andere Ding nicht mehr, weil ich kein Flüchtling war - ich wurde nämlich verbannt. Wann versteht
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das endlich mal jemand! Den Status eines ehemaligen politischen Häftlings verweigerte man mir, weil die Behörde der Meinung war, ich sei viel zu jung gewesen, um zu wis-
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sen, was ich tat. Weshalb sie mir auch keine Unterstützungen und Beihilfen nach dem Häftlingshilfege-
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setz angedeihen lassen könne. Das müsse ich schon verstehen.
Natürlich musste ich das verstehen, war doch laut genug und klang allein schon deshalb einleuchtend. Ich verstand nicht und sagte, dass ich ihre Entscheidung akzeptiere und
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zugleich aufrichtig bereue, mich der DDR zum austesten von Einzelhaftsituationen und als williges Prügelexperiment zur Verfügung gestellt zu haben. Danach schaute ich gleich mal bei einem Psychiater
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rein. Nicht, weil ich nicht wusste, was ich tat, sondern des Schönheitsfehlers meiner Sprachkunst wegen. Der nette
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Mensch hielt mich zwar nicht für unzurechnungsfähig, aber irgendetwas anderes, was dem sehr ähnelte. Ruhig und sachlich klärte mich Doktor Schlauberger in seiner unnachahmlich rücksichtsvollen Art darüber auf, dass die Ursache eines Sprachfehlers ganz sicher nicht die Haft, und entsprechend auch nicht die Einzelhaft bilde.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 108 von 108 -
Sehr wahrscheinlich stottere ich seit frühester Kindheit, habe dies nur nicht bewusst wahrgenommen.
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Das ich darauf nicht selbst kam?
Auf dem Sozialamt (das hieß wirklich so - mit sozial und so.) reichte man mir eine Liste mit mehr als zwanzig
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Adressen von Geschäften, bei denen ich beglaubigte Kostenvoranschläge für Schuhe, Socken, Unterhosen und
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andere Bekleidung einsammeln sollte. Ich beeilte mich und blätterte sie schon am nächsten Tag dem Sachbearbeiter
(der nannte sich auch wirklich so - mit Arbeiter und so.) auf
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den Schreibtisch.
Er warf noch nicht einmal einen heimlichen Blick darauf,
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langte danach, legte sie in einen hellbraunen Hefter und entnahm diesem einen Stapel Gutscheine, die er mir entgegenhielt. Ich nahm sie, sah sie flüchtig durch und
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entdeckte nicht ohne Befremden, dass sie in anderen Gewaren.
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schäften als denen von der Liste des Vortages einzulösen „Is noch was?“, fragte er.
Ich sah ihm beim Frühstück zu und fragte, ob er Arbeit für mich hätte oder etwas wisse, wo ich nachfragen könne. Er biss von seinem Frühstücksbrot, leckte über die Spitze
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des Zeigefingers und jagte drei gerade noch sichtbare Krümel, die sich heroisch auf die ihm als Unterlage dienenden Bewilligungsbescheide stürzten, sammelte sie seelenruhig auf, betrachtete die Eindringlinge mit trium-
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phierendem Augenaufschlag, steckte dann den Finger bis zum zweiten Glied in den Mund und sagte gedehnt: „Für
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Typen wie dich gibt es hier keine Arbeit.“ „Und gibt es für Typen wie mich Wohnungen hier?“ „Ändere deinen Ton“, schrie er, „sonst rufe ich die Polizei und lass dich verhaften! Geht ganz schnell!“, inspizierte sein Gelbwurstbrot und hackte die gelbbraunen Zähne hinein.
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„Kennst dich ja aus im Knast. Geh arbeiten, dann findet sich schon ein Erdloch für dich“, sagte er mit vollem Mund
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und lachte, holte Luft und verschluckte sich anständig,
krepierte aber leider nicht, würgte nur blöd und hustete übertrieben laut und arbeitsintensiv.
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Ich wartete noch ein, zwei Sekunden, weil ich die Hoffnung, ihn langsam ersticken zu sehen, nicht so schnell aufgeben
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wollte, riss mich dann schließlich doch los und machte kehrt. Auf dem Weg zur Tür glitten mir die Gutscheine durch die Finger und flatterten geräuschlos zu Boden.
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Am Ende dieser Tage war ich in der Verfassung, „Schatz, mir sind die Zigaretten ausgegangen. Ich geh mal
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schnell runter zum Automaten. Bin gleich wieder da“, zu sagen. Nun, wie jeder weiß, funktioniert der Trick leider
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nur, wenn man verheiratet ist.
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VIII
Wütend trat ich gegen das Gitter. Im Wechsel aufeinander folgend mit dem linken und rechten Fuß. Es half nichts.
Das mitten in die fensterlose Zelle gesetzte Gitter, das
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dämmrige Licht und das an der Wand hochgeschlossene Liegebrett brachten mich an den Rand des Wahnsinns. Unsicher schob ich den linken Arm durch die Gitterstäbe. Tastend arbeitete ich mich an der Wand bis zu dem kleinen,
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runden, schwarzen Knopf vor, drückte ihn und wartete. Nach einigen Minuten erschien ein Grüner.
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„Was gibt’s?“ Heftig stotternd bat ich um Feuer. Zigaretten hatten sie mir glücklicherweise belassen. „Warten Sie einen Moment, gerade kommt das Abendessen.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 110 von 110 -
Neben Feuer erhielt ich einen mit Leitungswasser gefüllten Plastikbecher, zwei dünne, trockene Scheiben
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Schwarzbrot und eine kleine Ecke Schmelzkäse. Gierig aß ich alles auf und rauchte nebenher. Ganz allmählich legte
sich das Gefühl der Leere, welches sich in Kopf und Magen
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wie ein bösartiges Krebsgeschwür auszubreiten drohte.
Später, sehr viel später, öffneten sich Tür und Gitter
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und ich wurde aufgefordert, mein Nachtlager herzurichten.
Ich ging auf den Flur und nahm eine mit was weiß ich nicht alles befleckte Schaumstoffmatratze und eine ungeniert vor
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sich hin müffelnde Decke vom Stapel, trug beides in die Zelle und warf es auf das zwischenzeitlich herunterge-
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klappte Schlafbrett. Ausgelaugt schlief ich bald darauf ein. Am Morgen legte ich Matratze und Decke im Flur ab.
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Auf dem Rückweg reichten sie mir ein üppiges Frühstück. Ohne genauer hinzusehen, futterte ich die Scheibe
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Schwarzbrot nach Art des Hauses, also nackt wie der Bäcker sie schuf, und spülte mit einer geruchlosen und erfreulich geschmacksneutralen bräunlichen Flüssigkeit aus einem Plastikbecherchen nach. Um ein reinigendes Duschbad bettelte ich vergebens, nicht
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jedoch um Feuer.
Alsbald danach chauffierten mich zwei Uniformen im
grünweißen VW-Bus zum Stürmberger Justizpalast. Über
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eine Stunde geduldete ich mich neben einem, der die ganze Zeit blöd auf die Tür starrte, stumm unter einer Glocke aus
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schwerem Tabakqualm in der Wartezelle. Nicht sein Blick, sondern ein ganz gewöhnlicher Schlüssel öffnete schließlich die Tür. In Handfessel und Begleitung einer mir bis dahin un-
bekannten Uniform, möglicherweise die eines Garcon, betrat ich einen Gerichtssaal. Meine Augen weiteten sich,
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ob der verteufelt gutaussehenden Protokollführerin an der Stirnseite des Richtertisches: Brünett, haftverschärfend
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kurzes Röckchen, Dekolletee bis zum Bauchnabel - oder jedenfalls beinahe. Ich bemerkte Hermanns Unruhe und
verspürte im Taumel der Augenfreude einen sich plötzlich
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über die Brust ausweitenden heftigen dumpfen Schmerz.
Einen Moment lang schien es als verlöre ich das Gleichge-
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wicht, fing mich aber und plumpste auf den schlichten
Holzstuhl vor der ersten Reihe der unbesetzten Zuschauertribüne.
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Geilheit macht blind. Ich hatte die um den Schlüsselbund geballte Faust des hinterhältigen Garcon nicht
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kommen sehen. Unbeeindruckt nickte ich ihm dankend für die, zugegeben etwas unorthodoxe, Platzanweisung zu, woraufhin er sein Antlitz in Zornesröte tauchte und sich auf
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sein Stühlchen neben dem Eingang trollte, um sogleich wieder hochzuschnellen. Durch die Tür hinter dem Richter-
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tisch trat ein sehr junger Mann in pechschwarzem Leibchen mit viel zu großen Ärmeln. Ich hielt ihn für einen Angestellten, der schnell noch den Papierkorb leert und flink die Tischplatte wienert. Dass sich Richter hier zu Lande kostümieren, also darauf war ich nun wirklich nicht
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vorbereitet und blieb, meinen Brustkorb massierend, sitzen.
Ohne jede Vorrede verlas, jetzt erkannte ich ihn, der
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Haftrichter in der Tonfolge eines psychedelisch pfeifenden Wasserkessels den Haftbefehl und schloss: „Das macht
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sich aber gar nicht gut in Ihrer Biografie.“ Jetzt erhob ich mich. „Biografien sind was für Leute, die nichts zu erzählen haben.“ „Soso. Möchten Sie sich zu den Vorwürfen im Haftbefehl äußern?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 112 von 112 -
„Ich würde gern meinen Anwalt anrufen. Er soll auch etwas von dem hier abbekommen.“
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„Soso, einen Rechtsanwalt haben Sie also. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass sich ein Anwalt für Ihren Fall interes-
sieren lässt. Und wenn doch, sind Sie besser beraten, dass
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in Wünschen abzuklären. Ich habe Ihnen hier nur den Haft-
befehl zu eröffnen. So will es das Gesetz nun mal. Möchten
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Sie nicht vielleicht doch etwas zu den Ihnen zur Last gelegten Vorwürfen sagen?“ „Na, mal seh’n.“
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„Beginnen Sie - aber gleich. Oder lassen Sie es.“
„Ich habe keine dreitausendneunhundert Mark gestohlen.
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Nichts, rein gar nichts habe ich geklaut. Sie sagten, ich hätte eine hohe Strafe zu erwarten und deshalb sei nicht davon auszugehen, dass ich mich selbst stellen würde.
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Überzeugen Sie sich bitte selbst, ich bin hier, habe mich gestellt. Freiwillig, wenn ich das mal so anmerken darf.“
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„Sie dürfen.“
„Na, und dass mit dem Raub - Gott, wie lustig - ist sicher nur ein Gaudi.“ „Soso.“
Ich stand vor dem Stuhl und war furchtbar aufgeregt. Doch
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zeigen wollte und durfte ich es nicht. Auf gar keinem Fall sollten sie Schwachstellen für gezielte Angriffe nutzen können. Erst in diesen Minuten wurde mir das ganze Ausmaß und die Auslegung meiner Tat allmählich bewusst.
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Und diese Erkenntnis versetzte mein Herz in Schwingungen, in Schwingungen der Angst. Fest und tief bohrte ich
Co
meine Fingernägel in die feuchten Handflächen, bis der Schmerz die Angst besiegte. „Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?“ „Nein. Das heißt: Warum darf ich nicht mal selbst einen Blick in den Haftbefehl werfen?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 113 von 113 -
„Soso, einen Blick in den Haftbefehl werfen also. Fragen ein Exemplar für Sie. Ich habe hier nur eine Kopie.“ Leg die Hände aufs Pult, du Ferkel.
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Sie am Besten in Wünschen. Vielleicht haben die da noch
Er sah mich nicht an. Während der gesamten Vorstellung
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nicht. Seine Augen schlapperten ungeniert den Ausschnitt der die Aufmerksamkeit sichtlich genießenden Schreib-
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braut hoch und runter, kreuz und quer, raus und rein.
Geilen Job hast du da abgegriffen. Lässt du mich dann mal in dein Kämmerlein da hinten spitzen?
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„Soso“, sagte ich und hob die Hand zum Abschied.
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Wir waren an der grauen Stahltür, die das Gericht vom angrenzenden Knast trennte, angelangt. In der halboffenen Tür wartete ein fülliger Schließer auf mich.
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„Wie lange sind Sie hier?“, fragte Garcon freundlich. „Weiß nicht, vielleicht zwei Stunden.“
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„Im Westen, meine ich.“
„Nen Monat ungefähr“, und ging an ihm vorbei dem Schließer nach durch die Tür. „Was, kaum ein paar Tage hier und schon im Knast? War wohl nicht viel mit goldener Westen?“
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Ich warf den Kopf herum, neigte ihn leicht zur Seite und riss die Augen auf. „Gold? Wo?“ „Die in der Zone müssen überglücklich gewesen sein, als sie dich endlich los waren.“
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„Ja, und nun kannst du dir einen runterholen und dich im Kegelclub ordentlich besaufen. Das Leben meint es nicht
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gut mit dir.“ „Schleich di, Rotzer!“, und schlug die schwere Stahltür zu. „Den müssen Sie nicht weiter ernst nehmen“, bemerkte, mehr beiläufig, neben mir der Schließer. „Ist mir nicht entgangen, dass der nicht alle Schnitten im Beutel hat.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 114 von 114 -
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IX Mir knurrte der Magen, ich war sauer und halb erfroren. Niemals hätte ich Luis drängen nachgeben dürfen.
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Hoffnung auf bessere Tage trieb mich voran.
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Doch jetzt war es zu spät. Oder vielleicht auch nicht. Die
Luis lernte ich im Wohnheim in Ramberg kennen. Die ersten Tage wohnte ich allein, doch dann bekam er das
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zweite Bett in meinem Zimmer zugeteilt. Es wurde eng, aber nicht unangenehm. Wir kamen prima miteinander aus.
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Vor zweiundzwanzig Jahren siedelten seine Eltern von Spanien nach Ramberg, erzählte er. Zehn Monate danach schlüpfte er. Luis machte mittlere Reife, eine
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Berufsausbildung zum Feinmechaniker und setzte sich sieben Monate wegen Scheckbetrugs in den Knast. Kurz
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darauf kehrten seine Eltern aus irgendwelchen familiären Gründen Deutschland den Rücken und ließen sich in Madrid nieder. Luis, zwischenzeitlich einundzwanzig, weigerte sich, ihnen zu folgen.
So kam es, dass er nach seiner Entlassung ohne
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Wohnsitz dastand und auf direktem Wege in mein Zimmer einquartiert wurde. Tagtäglich streifte ich von morgens bis abends su-
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chend nach Arbeit durch den Ort. Ich fragte im Hafen, auf Baustellen, in Kneipen, bei der Zeitung und im Kranken-
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haus. Ich fragte überall, selbst den Busfahrer, die Postfrau und die Müllmänner. Doch für einen ungelernten, der stotterte und auch noch, wie sie es nannten, Zoni sprach, für so einen sah es nicht eben gut aus. Einige lachten und äfften mich nach. Tiefer und tiefer fraß sich der Frust in meine Seele.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 115 von 115 -
Vom Sozialamt bekam ich wöchentlich vierzig Mark Taschengeld. Aber Winterschuhe gaben sie mir keine. Und
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auch keinen Wintermantel. Das hing wohl mit dem lausen-
den Affen zusammen, dessen Gutscheine ich verschmähte. Es war zwar kalt, nachts fiel das Thermometer auf nahe
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Null, aber insgesamt nicht so tragisch, denn schließlich
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bezahlten sie auch das Zimmer, in dem ich wohnen durfte.
An einem dieser frostigen Abende lag ich in meinem Bett und Luis redete unentwegt auf mich ein. Rastlos lief er
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im Zimmer auf und ab. Frierend lag ich in eine Decke gehüllt, sperrte die Lauscher weit auf und folgte seiner Bahn
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wie ein Zuschauer dem Ball eines Tennisspiels. Die Heizung funktionierte nicht. Noch nicht. Im Winter werde sie angestellt, versicherte uns der Hausmeister.
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Luis sprach davon, am übernächsten Tag einen Verwandten in Wünschen besuchen zu wollen. Der habe für
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ihn und, vorausgesetzt ich führe mit ihm, auch für mich Arbeit. Ganz sicher sogar. Denn schließlich besitze er ein spanisches Restaurant und könne immer Helfer gebrauchen.
Welch liebliche, welch erwärmende, welch kuscheli-
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gen Töne in meinen ausgekühlten Lauschern. Mir gefiel, was er sagte. Es gefiel mir sogar sehr. Spontan schloss ich mich ihm an. Ich war noch nie so richtig in einem Restaurant. Nur ein paar Mal ganz kurz, wenn ich nach Arbeit
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fragte. Da war es immer warm - und Essen... na, sowieso! Und wenn dieser Verwandte doch keine Arbeit für mich ha-
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be, na und, dann würde ich eben woanders welche finden. Wünschen, dass wusste ich, war eine riesige Stadt. Auf mich warteten unendlich viele Möglichkeiten. Nach zwei, drei oder fünf Jahren würde ich mir eine Wohnung mit großen lichtdurchfluteten warmen Räumen nehmen und, wer weiß, vielleicht sogar studieren können.
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Doch erst einmal musste Arbeit her. Ich werde sie ganz bestimmt nicht enttäuschen. Ich werde gut, viel und hart
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arbeiten.
Fast meine gesamten Ersparnisse ließ ich am Fahr-
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kartenschalter. Die Tante störte das nicht, beglotzte mich,
wie unzählige andere auch, mit Blicken, die mal wieder an
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meinem Geisteszustand zweifelten. Ich ließ sie glotzen,
nahm die Fahrkarte, brachte meinen Mund ganz nah an die te mich mit einem lauten: „Hu!“
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Membran in der Glasscheibe, die uns trennte, und bedankDas Tier fuhr zusammen, riss die Schweinsäugelein auf
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und rüsselte etwas, dass sich nach „Unverschämtheit!“ anhörte.
Das verstehe nun wer will: Da komme ich ihnen entgegen
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und verhalte mich wie sie es von mir erwarten, und was ist
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der Dank - meckern und maulen.
Es war nicht kalt an diesem Oktobertag, nein, es war saukalt. Auf dem Leib trug ich mein dünnes Hemdchen, meine ebenso dünne Stoffhose und ein kaum dickeres Jäckchen - alles Made in GDR. Und die Sohlen meiner Ma-
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de in China-Schuhe bedeckte an den Ballen eine hauchdünne Schicht Irgendwas. Aber ich fror nicht. Ich saß schlotternd neben Luis und hielt es mittlerweile für eine völlig normale Reaktion meines Körpers, der sich
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durch ungezügeltes zucken selbst zu erwärmen suchte. Im Wohnheim meldeten wir uns nicht ab. Luis mein-
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te, die werden schon merken, wenn wir nicht zum Abendessen erscheinen. Und außerdem kämen wir in ein bis zwei Tagen zurück - unser Zimmer auflösen. Vom Bahnhof fuhren wir mit der U-Bahn zu dem von Luis beschriebenen blühenden Park in unmittelbarer Nach-
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barschaft des Anwesens unseres zukünftigen Arbeitgebers. Nun ja, wenn einen Park drei Bänke, von denen zwei
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diesen Namen nicht verdienten, sieben dürre Sträucher
und eine angefressene Linde kennzeichnen, bitte schön,
dann sollte es eben ein Park, meinetwegen auch die grüne
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Lunge Wünschens sein.
Umgeben von zwei stark befahrenen Straßen weilte die
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vermutlich auf keinem Stadtplan eingezeichnete Oase der
Ruhe. Für Luis, der seit Ewigkeiten nicht in Wünschen war, die Orientierungshilfe par excellence. Eigentlich war mir
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das total Brust, ich war nur hungrig und meine steifen Glieder verlangten nach einer Unterlage.
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Eine Zigarette zwischen den aufgeplatzten Lippen und mit tief in den Taschen verbunkerten Händen stand ben Luis.
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ich, im Matsch von einem Fuß auf den anderen tretend, ne„Mach hin! Wo wohnt der Knabe?“
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Langsam drehte sich Luis um die eigene Achse. Luis späht, hieß das. Denn Luis musste ausschauen, weil er keine Adresse hatte, ihm aber sein Erinnerungsvermögen ganz sicher helfen werde. Ich hoffte, sein Vermögen überflügelt das, was ich in meinen Taschen trug, um Längen.
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„Da!“, rief mein Scout, „Ich wusste es. Da, gegenüber, auf der anderen Seite“, und peilte das Haus über seinen ausgesteckten rechten Arm und dessen Zeigefinger an. „Jetzt fällt es mir wieder ein: Blumenstraße dreiundsiebzig.“
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„Lesen kann ich auch.“ „Ist mir wirklich eingefallen. Im Erdgeschoss links.“
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„Wenn der Onkel nicht so furchtbar viel Angst hätte, dass es ihm seine kristallisierten Finger zerbröselt, würde er dir die Hammelbeine lang ziehen. Residiert der König der spanischen Küche in einer gewöhnlichen Absteige? In der Altbauwohnung eines ordinären Mehrfamilienhauses? Fiel sein hochherrschaftlicher Besitz räuberischen Flammen
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zum Opfer oder wurde es einfach nur von einer Herde angestochener Stiere niedergewalzt?“
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„Was gefällt dir an dem Haus nicht?“
„Mit dem Haus ist alles in Ordnung. Aber wo ist die dämliche Villa mit Park, von der du mir vorgeschwärmt hast?“
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„Hier ist doch der Park“, sagte er beleidigt. „Und das da sieht doch aus wie eine alte Villa, oder?“
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„Wenn du das sagst. Entschuldige, in meiner Verfassung
bringt man nicht mehr so viel Fantasie auf. Also, lass uns rübergehen.“
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Doch Luis ging allein. Er wolle seine Verwandtschaft auf „Es ist niemand da.“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Nada in diese Casa.“
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uns vorbereiten. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück.
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„Ich sehe selbst, dass das keine Sparkasse ist. Warum gehen wir nicht einfach zum Restaurant?“
tb yO
„Weil ich nicht mehr weiß, wo genau das war.“ „Denk nach! Streng dich an - oder schau ins Telefonbuch.“ Wieder und wieder blätterte sich Luis durch die Telefonbücher in der Zelle an der U-Bahn-Station. Fehlanzeige. Er konnte sich des Namens der Fressbude nicht vergegenwär-
rig h
tigen.
Damit war unser Schicksal besiegelt. Unter sternen-
klarem Himmel tigerte ich die Nacht durch den Park. Auf und ab, kreuz und quer, hoch und runter, rüber und nüber...
py
So was von romantisch. Nicht eine Minute ließ ich das Haus aus den Augen. Luis blieb erstaunlich gelassen. Ich
Co
weckte ihn am frühen Morgen. Es war stockfinster und hier und da eilten Menschen durch die Straße, bis unter die Nasenspitzen in warme Mäntel verpackt. Luis hatte es sich in seiner dicken Daunenjacke auf meiner Bank unter der abgefressenen Linde gemütlich gemacht. Am ganzen Leib zitternd scheuchte ich ihn hoch und zum Haus. Mir war
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 119 von 119 -
zwar nichts aufgefallen, allerdings wusste ich auch nicht, ob es einen Hintereingang gab und seine Verwandten ihre
oth
Stromrechnungen zahlten. Außerdem war ich an der Reihe, mich zu setzen. „Wolken, Gesäß und starker Regen!“
mr
„Du meinst, Himmel, Arsch und Wolkenbruch“, sagte Luis verschlafen.
im
„Ich meine, Wolken, Gesäß und starker Regen! Wer von
uns hatte denn die ganze Nacht Zeit, sich Flüche auszudenken? ! Das ist mein Fluch, kümmere du dich lieber um ber eine Zigarette hier.“
.T
deine Sippschaft! Schaff sie her! Schleunigst! Lass mir a-
W
Er schaffte sie nicht herbei. Erfolglos kehrte er zurück. Doch von nun ab wolle er halbstündlich nachsehen.
laf
Und ich? Ich saß entspannt auf meiner Bank und betrachtete das gegenüberliegende Haus. Es war nichts
tb yO
Besonderes an ihm, es war nicht einmal auffällig schön, es stand einfach nur da - und ich konnte nicht anders, kam nicht an ihm vorbei. Niemand, der sich auf meine Bank setzte, kam an ihm vorbei. Der Blick musste auf dieses Bauwerk und zwei, drei andere fallen. Ging gar nicht an-
rig h
ders. So saß ich also Stunde um Stunde und ließ mich von einer angenehm warmen Herbstsonne streicheln. Irgendwann, es dürfte um die Mittagszeit gewesen
sein, wackelte an einem Fenster auf der dritten Etage die
py
Gardine. Dann lugte ein Mütterchen hindurch, kurz darauf Väterchen, der eine Hand hob, als grüße oder drohe er je-
Co
mandem. Väterchen zog sich zurück, Mütterchen blieb. Ein paar Minuten später humpelte ein Opa breitbeinig aus dem Haus und über die Fahrbahn. Er sah nicht links, nicht rechts, kam zielstrebig auf mich zu und bezichtigte mich mit erhobener Stimme, ich wolle bei ihm einbrechen. Der hatte doch nicht alle Schnitten im Beutel.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 120 von 120 -
„Einbrechen? Bei einem Bettnässer? Na, Pfui!“ chen, das gar nicht daran dachte, seine Deutschlehrerpension mit mir zu teilen.
oth
„Kannst was af dei großa Goschn ham!“, empfahl Väter-
„Angeber! Ich habe nur darauf gewartet, dass du zu mir
mr
kommst, musst du wissen. Jetzt kann ich zu dir hoch
schleichen und mir von deiner Trockenpflaume eins mit der
im
Bratpfanne überziehen lassen. Genialer Plan, nicht wahr?“ „Und was machst dann nachher hier? ! Fensterln? !“, brummelte er.
.T
„Das frage ich dich. Du dringst ohne anzuklopfen in mein Wohnzimmer ein und hast noch nicht mal Kaffee dabei.
W
Verpiss dich, sonst gibt’s Gesichtseintopf!“
So was aber auch. Jetzt wird die Menschheit schon nervös, der Natur genießt.
laf
wenn sich wer auf eine Parkbank setzt und die Schönheiten Väterchen stiefelte davon und ich war mir ziemlich sicher,
tb yO
er würde 110 sein Leid klagen.
Luis kam von seiner Pinkelpause und fragte, was der Alte von mir wollte. Ich erzählte es ihm. „Der wird die Bullen rufen!“ „Na und?“
rig h
„Wir sind nicht irgendwo, wir sind in Wünschen. Hier wird erst eingesperrt, dann gefragt.“ Gut, dann ging letzte Nacht also auch nicht ganz spurlos an dir vorüber. Kann ich gut nachempfinden. Aber deshalb
py
musst du doch nicht gleich Deutschland mit der DDR ver-
Co
wechseln. Doch Luis tat noch viel mehr: Luis hatte nämlich ei-
nen Plan. Und dieser Plan hieß Ausweg - oder so in der Art. Ich hörte ihn an: nicht mehr, nicht weniger. Ich mühte mich nicht, Sinn oder Unsinn zu ergründen, obwohl der Unsinn zweifelsfrei auf der Hand lag. Mir war das Brust, außerdem vergrub ich meine Hände in den Hosentaschen. So was von
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 121 von 121 -
Brust, dass ich allem, was meine Lage nicht wesentlich Es war ein bisschen wie mit dem letzten Glas Bier. Du
oth
verschlechterte, sowieso zugestimmt hätte. weißt, wenn du das jetzt trinkst, würfelt es dich vom Hocker. Doch die Stimmung ist gut und der Stoff bezahlt -
mr
schütt runter, den Scheiß!
im
Nach der vierten Zigarette sattelten wir auf, ritten die
Attacke und stürmten die Festung des verschollenen Gast„Erdgeschoss links, hä?“
.T
ronom. Wie man das eben so macht.
„Ich meinte ja auch, links vom Hauseingang.“
W
Geschickt gekontert. Im Erdgeschoss befand sich lediglich eine Wohnung - die des verschollenen Paella-Papstes. „Warten wir noch einen Moment. Vielleicht hockt er auf der
laf
Schüssel, und die Sitzung zieht sich in die Länge? Oder er hat sein Hörgerät verlegt“, gab ich zu bedenken.
tb yO
Luis schüttelte den Kopf und warf sich gegen die Tür. „Erschrick ihn nicht! Vielleicht zupft er sich die Nasenhaare.“
Luis Plan, die Festung auf spanisch einzunehmen, erwies sich als wenig durchdacht. Die Wohnungstür verstand
rig h
nämlich kein Spanisch, sie verstand überhaupt kein Ausländisch, stellte sich taub und hintertrieb so unser
py
Bestreben.
Ich kann nicht sagen, worüber ich mich mehr wun-
derte: Über unsere Hartnäckigkeit, den verbissenen
Co
Widerstand der Tür oder über die Ignoranz der Hausbewohner. Vermutlich war es eine Mischung aus allem. Zunächst traten wir abwechselnd aus dem Stand un-
ter das Türschloss, dann mit Anlauf die Treppe runter. Doch mehr als einem müden Knacken war dem sturen Ding nicht zu entlocken.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 122 von 122 -
Warum funktionierte das immer im Film? Ein Tritt schwupp fliegt das Teil auf.
oth
„Wenn ich in dem Restaurant arbeiten darf, bin ich dann
ein Gastarbeiter?“, fragte ich und wischte mir Schweiß aus dem Gesicht.
mr
Luis lehnte am Geländer und lachte. „Nee, du nicht. Aber ich bin einer.“
im
„Spinner! Was arbeitest du denn? Tischler? Schlüsseldienst?“ gends. Und trotzdem bin ich einer.“
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Jetzt ging sein Lachen in helles Wiehern über. „Nichts. NirBist wohl in einem unbeobachteten Moment mit dem Schä-
W
del gegen das Brett gerannt. Ich ging rückwärts die Treppe hoch.
„Wenn du darauf bestehst. Das nächste Mal nehmen wir
laf
aber ein Beil mit oder wenigstens so einen Knilch, der im Vorübergehen so ein Stück Holz mit der Handkante zer-
tb yO
schmettert“, und rannte die Stufen runter, sprang mit der linken Schulter gegen die Tür, federte ab und setzte mich auf die dritte Stufe.
War es möglich, dass dieses Ding da lachte? Über mich? Über uns? Uns auslachte? Echt wahr, mir war, als
rig h
lache das Brett. Ein heimliches, abgehaktes, böses, sprödes Lachen. Hey, du, das ist nicht fair. Was wir hier machen, ist kein Spaß. Manchmal sind Dinge wie du einfach nur dafür da, dass jemand das macht, was wir
py
machen. Gib endlich nach, wir kriegen dich ja doch. Abwechselnd, später auch gemeinsam, warfen wir
Co
uns gegen das kleine Weißlackierte. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte das Haus, donnerte die Stufen hinauf und herab, bremste, verhaarte und stob wieder davon. „Und wenn das saublöde Brett einen geheimen Zugangscode hat?“ „Geheimer Zugangscode? Was soll das sein?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 123 von 123 -
„Na, hier hat doch irgendwie immer alles einen Code. Selbst beim öffnen einer Bonbontüte wird einem dezent die
oth
Ecke gewiesen. Ganz schön misstrauische Gemeinde, die-
se Westler. Möchte wissen, wo sich der schweine Architekt verkrochen hat“, und drückte auf den Hauslichtknopf.
mr
„Hierfür gibt es nichts geheimes, nur Schlüssel“, sagte
im
Luis ernst und nahm Anlauf.
Viele Stunden mühten wir uns, dann endlich gähnte sie, schnaufte und flog mit einem lauten Knall auf - und ich
.T
mit ihr in die Wohnung. Holz splitterte - das Türschloss polterte zu Boden.
W
„Danke!“, stöhnte Luis.
„Jederzeit, Chef“, sagte ich, fiel auf die Knie und kroch auf allen Vieren Holzstücke aufglaubend durch den Hausflur.
laf
Wie beim Kartoffeleinsatz in der Schule. Ich sammelte alles auf, rückte den Fußabstreifer zurecht
tb yO
und stutzte. War da nicht ein schleifendes, metallenes Geräusch? Ich hob ihn an und... Volltreffer! ... da lag der Zugangscode in Gestalt eines kleinen silbrigen, hämisch grinsenden Schlüssel. Selbstüberlistung war nun wirklich das Letzte, was ich an diesem Abend gebrauchen konnte.
rig h
So ließ den Fußabtreter fallen, schob ihn vor den Eingang und vergaß die Begegnung. Gleich einem Puzzle fügte ich große und kleine Teile
mit dem Schloss und der Tür wieder zu einer Einheit. Luis
py
brachte eine Rolle Heftpflaster. Mit den Zähnen riss ich Streifen von ihr und klebte sie großflächig über die Bruch-
Co
stellen der Türinnenseite. Keine drei Minuten waren vergangen, als wir die Tür vorsichtig zudrückten. Das Schloss schnappte ein, das Brett hielt dicht. Einigermaßen ausgepowert machte ich eine Kehrt-
wendung und ging ins Wohnzimmer. Es war ein kleines
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 124 von 124 -
Wohnzimmer mit zwei Fenstern, Sofa, Tisch, Stereoanlage und einem Schreibtisch.
oth
„Hey, Gastarbeiter!“
„Entschuldige mal, ich wohne gewissermaßen hier.“ Luis
stand hinter dem Schreibtisch, mit dem Rücken vorm rech-
mr
ten Fenster, und las im Licht der Straßenbeleuchtung in etwas. „Der Trottel hat sein Feilofäx vergessen.“
im
„Sein was? Tabletten?“ „Terminer.“ „Kalender?“
.T
„Hm, so in der Art. Für heute hat er IAA eingetragen.“ „Und ich habe Hunger. Sein Dünnpfiff ist mir Brust.“
W
„Der ist in Frankfurt. Automobilausstellung.“
Ich ging auf ihn zu, nahm ihm den Feilodingsbumskalender erste Seite auf.
laf
in weichem, schwarzem Leder aus der Hand und schlug die „Gerhard Niedermann. Typisch spanisch.“
tb yO
„Wir sind weitläufig verwandt.“
„Furchtbar weit“, sagte ich und dachte: Der blöde Kalender ist wärmer eingepackt als ich. Dabei braucht so was das gar nicht.
Mein Magen wies mir den Weg zur Küche - einem
rig h
schmalen Schlauch. Dicht aneinandergedrängt der Kühlschrank neben dem Elektroherd und daran die Spüle voller schmutzigem Geschirr. In einer Flucht schloss sich ein schlichtes weißes Schränkchen bis zum Fenster an. An der
py
Wand, in Blickhöhe über der Arbeitsfläche, ein Kalender. Eine getigerte Katze mit ihren beiden Jungen. Das Motiv
Co
vom Februar des letzten Jahres. Im Kühlschrank ein halbleeres Glas süßer Senf und im Schränkchen acht Beutel schwarzer Tee. Süßer Senf? Kotz! Gott, ist das abartig! Wahrschein-
lich aus einem Scherzartikelladen. Schon klar, ein wahrer
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 125 von 125 -
Genießer, der Herr Restaurantbesitzer. Nur ein klein wenig
oth
niederschmetternd, was er unangemeldeten Gästen bot. Zurück im Wohnzimmer legte ich mich auf den weichen Teppich und gönnte mir ein Nickerchen. Sicher, ich
mr
hätte mich auch aufs schwarze Ledersofa werfen können, doch das hatte etwas steifes, ungemütlich kaltes. Nichts
im
zum strecken und wohlfühlen. Wie das gesamte Wohnzimmer kalt und ungemütlich wirkte.
Ein Rauchglastisch vor dem Sofa auf der linken Seite
.T
des Zimmers. Gegenüber ein HiFi-Turm, ein Fernsehgerät und am Boden zwischen beidem ein Videorekorder. Bei-
W
derseits der Tür stapelten sich auf Regalbrettern Videokassetten dicht an dicht. Hinter dem Schreibtisch übereinander geworfene Zeitschriften auf dem Boden unter
laf
dem Fenster. Auf dem Schreibtisch ein rotes Telefon mit Wählscheibe und am linken Fenster ein verdorrtes Pflänz-
tb yO
chen. Ein Wartesaal eben - ganz ohne Wandschmuck und Gardinen.
Als ich die Augen aufschlug, saß Luis im Schreibtischsessel und sah fern. Die Heizung bis zum Anschlag
rig h
aufgedreht. Seine Füße ruhten auf der Tischplatte. Es war wohl ihre strenge Würze, die mich aus dem Schlaf riss. Luis zog sich bunte Bilderchen rein, sein Hirn schickte er irgendwohin auf Urlaub.
py
„Wieder fit?“
„Wie viele Tage war ich weg?“
Co
„Zwanzig Minuten, mehr nicht.“ „Hast du eine Ahnung, wo die Nugatschüssel ist?“ Luis sah mich mit halboffenem Mund blöd an. „Wenn man nicht alles selber macht“, knurrte ich, rappelte mich schwerfällig auf und ging raus.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 126 von 126 -
Ich fand sie am Ende des Korridor. Ein keines quadratisches Loch ohne Fenster. Als ich wieder ins Wohnzimmer te Luis von einem der vier Programme zum anderen.
oth
kam, stotterte das Fernsehgerät. Im Sekundentakt wechsel-
oder schmeiß ’ne Kassette rein.“
mr
„Wenn hier einer stottert, dann ich. Schalt den Krüppel ab
Luis griff wahllos ins Regal, entnahm die Kassette der wei-
im
ßen Buchhülle und schob sie in den Rekorder.
„Und was ist jetzt das?“, fragte ich nach wenigen Sekunden.
.T
„Kunst?“, antwortete er und grinste wie ein Luis.
„Ich muss mich doch sehr wundern. Kunst ist, was keiner ein Luis.“ „Ö! Wohl lebensmüde?“
W
versteht. Das da dürfte so ziemlich jeder verstehen. Selbst
laf
Ich kniete mich auf den Boden vor den Rekorder und spulte das VHS-Band einige Minuten vor. Dann noch ein Stück,
tb yO
und noch ein Stück. Wo ich es stoppte, es zeigte uns nahezu identische Szenen. Luis kniete sich neben mich und wechselte das Band. Doch auch auf dem zweiten und dritten und vierten - überall dasselbe. „Kunst, hä? Dein Häuptling ist gar kein Kneipier, er ist
rig h
Kunstkritiker.“ „Ist er nicht.“
„Ist er doch!“ „Ist er nicht!“
py
„Doch, doch, doch, doch, doch...“ „Ich kenne den Scheißtyp überhaupt nicht!“, schrie Luis
Co
los. “Er schuldet einem Onkel von mir Geld! Verdammt viel Geld! Ich soll ihm eine Lektion verpassen, mehr nicht!“ „Diese Onkels aber auch. Und der zahlt dafür?“ „Hm.“ „Fällt für mich was ab?“ Luis schwieg.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 127 von 127 -
„Schon in Ordnung. Meine Rückfahrkarte zahlst aber du.“ „Okay!“, sagte er leise.
oth
Ungläubig starrten wir auf die Mattscheibe.
„Wie heißt Rosi mit Vornamen?“, fragte ich, weil mir nichts wirklich dummes einfiel.
mr
„Weiß nicht. Quatsch! Da gibt’s nur Roberts.“ Luis legte
den Kopf erst auf die linke, dann auf die rechte Schulter.
im
„Wie machen die das nur? So ein Kuddelmuddel... ja, leck mich doch.“
„Könnte dir so passen. Frag deinen Künstler.“
.T
Während der folgenden anderthalb Stunden spielte Luis schätzungsweise 100 oder mehr Kassetten an. Und von je-
W
der schlugen uns gleichartige Bildfolgen und Geräusche entgegen.
Urplötzlich sprang er auf, zündete sich mit nervösen
laf
Fingern eine Zigarette an, sagte: „Kinderpornos, Kinderpornos, Kinderpornos. Was für eine Drecksau!“, und
tb yO
wuselte vor meiner Nase herum.
„Der Umgang, den deine Verwandtschaft pflegt, ist, mit Verlaub gesagt, ganz schön abgefuckt.“ „Woher sollte ich denn wissen, dass das ein Schwanzwedler ist? !“
rig h
„Ja, woher eigentlich? Wenn du noch weißt, wo deine Zigaretten sind, dann wirf sie mir rüber.“ Er warf mir die Schachtel zu und legte das Feuerzeug auf den Tisch.
py
„Ich hätte große Lust, ihm den Sack abzuschneiden. Ganz langsam. Mit einem stumpfen Messer. Einem verrosteten.“
Co
Luis lachte böse. „Die Eier kochen, schälen und ihm ins Maul stopfen. Und dann... dann... wenn diese Sau noch nicht krepiert ist, durch die Stadt jagen. Steinigen! Steinigen wäre genau das Richtige. Ich wette mit dir, der merkt sich das.“
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„Behalte dein Geld und tue verdammt noch mal nicht so, als seiest du so viel besser als er! Außerdem kann er beim
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steinigen nicht planlos durch die Gegend rennen, weil er in einen Sack gehört, wenn du es richtig machen willst, du Spinner!“
mr
„Ich ficke keine kleinen Jungs!“
„Nein, du bumst nur wehrlose Türen! Hör endlich auf mit
im
dem ekelhaften Moralgesabber! Mir gefällt der Dreck auch
nicht! Die Welt ist schlecht, ich weiß! Soll ich mir jetzt ganz fix einen Bart wachsen lassen und zur Kalaschnikow grei-
.T
fen? ! Knacke keine fremden Wohnungen, dann lebst du ruhiger! Oder geh zu den Bullen, wenn du dich dann besser
W
fühlst!“
„Deine Geistesblitze! Was soll ich denen denn sagen? ! Bin zufällig vorbeigekommen, habe Licht gesehen, mir war
laf
kalt... Scheiße! Was glaubst du wohl, was der bekäme?“ nervt!“
tb yO
„Ist mir völlig Brust. Setzt dich endlich! Deine Hampelei „Kaum mehr als ein Falschparker.“ „Ist mir trotzdem Brust. Mach Platz!“ Sanft lächelnd sagte er: „Blödmann!“, und setzte sich neben mich auf das Sofa. „So übel war er nun auch wieder
rig h
nicht, unser flotter Dreier.“
„Das sieht Hermann aber ganz anders.“ „Wer?“
„Schon gut.“
py
„Was hältst du davon, wenn wir aus der Kinderfickerstube eine mexikanische Würfelbude machen?“, fragte er kryp-
Co
tisch.
„Nichts!“ „Nichts? Wie, nichts?“ „Ich war noch nie in Mexiko, also auch in keiner Würfelbude. Außerdem habe ich keine Ader zu Glücksspielen. Und dein falscher Onkel dürfte auch bald durch die Tür fallen.“
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Luis sah mich scheel von der Seite an. Etwa so wie in nommen wird - bevor sie sich über ihn hermachen.
oth
Schweinezüchterkreisen ein Veganer in Augenschein ge„Flunkerst du?“ „Wenn hier einer flackert, dann du!“, sagte ich gereizt. Mir gefiel sein Blick nicht. Und seine abgestan-
mr
dene Sprache auch nicht.
„Ich meinte, wir suchen und sammeln den Dreck zusam-
im
men und werfen ihn da auf einen Haufen, wie es sich für
Müll gehört“, und zeigte mit dem ausgestreckten rechten Arm in die linke Ecke neben der Wohnzimmertür. „Und,
.T
pass auf, jetzt wird’s noch besser, wenn der Schwanzlutscher kommt, halten wir ihm das Zeug unter den Riecher
W
und schlagen ihm einen Deal vor.“
„Der wird eher Latte kriegen und sinnlos rumsabbern. Was hat das mit dem lateinamerikanischen Würfelspiel zu tun?“
laf
„Nichts. Warte! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns dann noch anzeigen beziehungsweise den Einbruch bei
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den Bullen melden wird.“ „Toller Plan!“ „Echt?“
„Wirklich gerissen, alter Fuchs.“ Es war ein echter Scheißplan. Wirklich wahr. Ein we-
rig h
niger stark stinkender hätte uns schlicht abhauen lassen. Tat er aber nicht. Brust! Ich machte mit. Ich konnte ihn unmöglich in dieser Verfassung allein lassen. Und überhaupt: Da es für mich nichts mehr zu gewinnen gab, was sollte ich
py
dann verlieren? Ja, und neugierig, was die Mexikanern mit
Co
dem ganzen zu tun hatten, war ich natürlich auch. Im gedämpften Licht der Straßenlaternen offenbarte
sich zwei Stunden später das, was mein Gastarbeiter eine mexikanische Würfelbude nannte. Weshalb ausgerechnet Mexikaner für dieses Chaos herhalten mussten, sah ich
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nicht. Hatte wohl verwandtschaftliche Gründe. Irgendwie erinnerte es mich an Luis Schrank im Wohnheim.
oth
Nichts befand sich mehr an seinem ursprünglichen
Platz. Wir durchwühlten alles. Lieferten saubere Arbeit ab.
Ob das Glasschränkchen im Badezimmer oder die persön-
mr
lichen Papiere im Schreibtisch, kein Stück, klein Fleck blieb verschont. Im, wie wir annahmen, Schlafzimmer, das wie
im
ein Jugendzimmer aus einem Versandhauskatalog einge-
richtet war, fand Luis mehrere Schuhkartons - randvoll mit Fotos.
.T
Onkel versteckte die Schachteln nicht, stapelte sie für jeden zugänglich neben das Kopfende des schmalen Bettes.
W
Was für ein Saustall. Glaubte dieser falsche Onkel, uneingeladene Gäste wühlen nicht, wenn sie auf Anhieb fänden, wonach sie suchten? So ein dummer Mensch. Der Reiz an
laf
dem Ganzen ist doch das wühlen, graben nach dem Ungewissen, dem sich selbst überraschen, Adrenalin
tb yO
förderndem Moment. Und stellte er seinen Abfall vor die Tür, uns vor die Füße, käme er dennoch nicht ums aufräumen herum.
Es mussten Hunderte, wenn nicht gar Tausende Fotos sein. Die Aufnahmen ähnelten sich: Kinder zwischen
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vielleicht fünf, sechs und höchsten zehn bis zwölf Jahren jung beim Sex an gesichtslosen, ausgewachsenen Männern und vereinzelt auch Frauen. Auf anderen waren Kinder untereinander zu sehen, und wieder anderen ein
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Onkel mit strenger Miene und kleine Jungs. Der einzige
Co
Erwachsene mit Gesicht. Das Werk war getan. Wir fielen aufs Sofa, warfen die
Füße auf den Tisch, steckten Zigaretten zwischen die Lippen und schwiegen. In der Ecke hinter der Tür türmten sich unzählige Videokassetten, Fotos und Magazine.
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„Der nackte Wahnsinn!“, sagte ich und drückte meine Zigarette auf der Glasplatte des Tisches aus.
oth
Luis legte drei Geldscheine und Kleingeld daneben, hielt seine Hand mit gespreizten Fingern darüber und sagte:
„Habe ich gefunden. Da hinten, im Schreibtisch. Lag da
mr
einfach so rum - und niemand in der Nähe“, und grinste lausbubenhaft.
im
„Gibt’s da noch mehr?“
„Nix da, nur jede Menge unbezahlter Rechnungen und Mahnungen. Dem gehört so gut wie nichts. Auto, Möbel,
.T
Fernseher, Videorecorder, Stereoanlage... alles gemietet.“ „Wie viel ist das? Reicht es für die Flucht nach Honolulu?“
W
Luis lachte. „Du weist doch nicht mal wo Honululu liegt.“ „Na und? Ich weiß, dass es weit weg ist - und der Pilot kennt den Weg. Und außerdem heißt es Honolulu.“
laf
„Fünfunddreißig Mark und ein paar Zerquetschte.“ „Kauf mir nen Reiseprospekt von Honolulu.“
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„Den gibt’s umsonst. Und noch was.“ Luis zauberte hinter seinem Rücken einen... einen wirklich ganz richtigen ... total echten ... habe ich noch nie zuvor so nah gesehen ... langläufigen Revolver hervor und wog ihn in seiner Hand. „Lag auch im Schreibtisch. Im untersten Schubfach. Über-
rig h
haupt nicht versteckt. Und die Schachtel mit knapp Hundert Schuss daneben“, und grinste wieder wie ein Lausbub, der sich mit einer geklauten Tüte Gummibären aus den Fängen des Hausdetektivs befreit und mit hochge-
py
stelltem Kamm und fächelnder Beute die Straße runtergaloppiert.
Co
„Dein falscher Onkel ist sehr praktisch. Hält für alle Fälle eine handliche Wumme mit unanständigem Lauf griffbereit.“ Wir lachten beide und Luis legte mir den schweren, dunklen Stahl in die Hand. Merkwürdig: Plötzlich war mir als schwelle mein Körper auf Mister Universum-Format. Besaß
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dieser tote, kalte Stahl magische Kräfte, die mein Hemd über Brust und Oberarme spannten? Unauffällig schielte
oth
ich auf meinen rechten Bizeps. Uninspiriert schlapperte der Stoff daran herum. Hinweg die Hexerei. Doch das Gefühl
der Unbezwingbarkeit blieb, solange ich das Gerät in Hän-
mr
den hielt.
„Machen wir Gefangene oder erschießen wir das Schwein,
im
wenn es aufmuckt?“
„Kannst ihm gerne auch in den Hals beißen, wenn dir danach ist“, sagte ich abwesend und tastete mit spitzen
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Fingern die Waffe entlang. Es waren keine Liebkosungen, hielt ich den Tod in Händen.
W
es war Respekt. Höllischer Respekt vor dem Tod. Nie zuvor
Das aufdringliche Schrillen des Telefons weckte uns.
laf
Wir hatten drei Stunden geschlafen, hielten nun den Atem an, spannten jeden Muskel, bewegten uns nicht, unter-
tb yO
drückten jedes Geräusch und lauschten. Nach einigen Klingeltönen verstummte der Apparat. „Eh, is gleich acht. Ich besorg uns mal was Essbares.“ Luis strich das Geld vom Tisch und ging. Nach seiner Rückkehr frühstückten wir und sahen
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fern. Irgendwann schlief ich auf dem Sofa ein - und erwachte nach Einbruch der Dunkelheit. „Wie spät ist es?“ „Zwanzig Uhr siebenunddreißig. Wie siehst du denn aus?“
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Morgens sehe ich immer so aus, Trottel. Und manchmal eben auch am Abend. Ich schüttelte mich, rückte kullernd
Co
meine verquollenen Augen zurecht und sagte mit krächzender Stimme: „Kunstwerke verdienen erstens Bewunderung und zweitens Wertschätzung! Also?“ Ich glaube, er sagte etwas wie „Puh!“ in seinen feinen Speichelsprühnebel. So richtig habe ich das nicht ge-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 133 von 133 -
schnallt. Morgens ist ein Scheiße Tag. Da bekomme ich nur
oth
manchmal alles mit. Wir rauchten Kette und besprachen unser weiteres Vorgehen.
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„Und wenn er nicht auf unseren Vorschlag eingeht?“, fragte Luis.
im
„Dann gibt’s nur eins...“
„Abmurksen!“, warf mein blutrünstiger Gastarbeiter ein und grinste wieder sein Lausbubengrinsen.
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„Schleunigst verschwinden.“
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Punkt 22 Uhr schlich sich Luis ins Treppenhaus und machte es sich auf den Stufen zum Keller gemütlich. Ich drückte die Tür zu, nahm einen Stuhl und bezog Stellung
laf
hinter der Wohnungstür im Korridor. Wir warteten. Alles blieb ruhig. Weder Hausbewohner noch
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Besucher sorgten für Abwechslung. Dagegen war ein Friedhof der reinste Rummelplatz. Eine Stunde vor Mitternacht vernahm ich das quietschen der Haustür und gleich darauf aufgeregtes Murmeln.
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Ich hielt die Luft an und presste mein Ohr an die Tür. Das Murmeln wurden lauter. Jetzt erkannte ich Luis Stimme, die auf etwas oder jemanden einredete – unmittelbar vor der Wohnungstür, nur wenige Zentimeter von meinem am Holz
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klebenden rechten Ohr. „Warst du das? Hast du hier dagegengetreten?“, fragte ei-
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ne ruhige, sachliche, Luis duzende Stimme. „Nein. Lass uns reingehen.“ Dann ein Knall. Schlagartig flog die Tür auf und mein sorgsam befestigtes Schloss davon. Gerade noch rechtzeitig brachte ich mein Ohr in Sicherheit, tigerte in kurzen eleganten Sprüngen ins Wohnzimmer, ergriff den Revolver, der
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noch immer an derselben Stelle auf dem Tisch lag, stürmte Ach, hätte mich doch nur John Wayne sehen können.
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zurück und bezog in der Türöffnung Stellung. Breitbeinig, die Waffe auf die Hufe des Angreifers gerichtet,
stand ich im bizarren Licht der Treppenbeleuchtung vor der
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Rothaut. Ein Mann um die Fünfzig mit tiefroter Kriegsbemalung, spärlichem Kopfschmuck und aufgerissener
im
Brotmühle, glotzte mich aus riesigen Augen an.
Mit grimmiger Miene und bestimmenden, seitlichen Kopfbewegungen, die jedem Widerwort die Luft nahmen,
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deutete ich ihm, einzutreten. Doch offenbar hatte er andere Pläne. Der Typ von den Kleinjungen-Fotos schüttelte nur
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wild den Schopf.
„An der Ostfront verwundet?“, fragte ich ihn. Für einen winzigen Moment hielt er still, sah sich nach Luis
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um und fuhr fort, Schuppen abzuwerfen. „Dann schieb deinen Arsch hier rein!“
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Eigentlich sollte er diese Sprache verstehen, dachte ich. Doch er verstand nicht, winselte: „Nein, nein, nein“, warf mit einem Mal seine Jacke, die er über dem linken Arm trug, zu Boden und hastete zur Haustür. Luis war schneller, versperrte ihm den Weg und verbiss sich in seinem Hemd.
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Locker in den Hüften wiegend ging auf die Streithähne zu, ergriff mit der Linken so manches fettiges Haarsträhnchen des Flüchtlings und redete auf ihn ein, mit uns in die Wohnung zu kommen. Nichts werde ihm geschehen. Wir
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wollten uns doch nur über die beschädigte Tür unterhalten und ihm eine Lösung vorschlagen. Mit der Rechten, in der
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ich den Revolver hielt, stützte ich mich an der Hauswand ab. „Nein, nein. Bitte, bitte, bitte nicht. Hilfe, Hilfe, Hilfe“, brabbelte er tonlos vor sich hin. Man musste schon sehr genau hinhören, um zu verstehen, womit er sich zu Wort meldete.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 135 von 135 -
Langsam machte mich der sture Bock wütend. Doch hinderten mich seine unkoordinierte Körpersprache sowie das
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kurze, schmierige Haar, dass ich ihn in die Wohnung zerrte. Also schnappte ich nach dem etwas weniger schlüpfrigen Hemdkragen.
mr
Und da passierte es: Ein ohrenzerreißender Knall er-
schütterte das Gebäude, setzte sich dröhnend und pfeifend
im
in mein rechtes Ohr und blockierte meine Reflexe. John
Wayne hat es nicht gesehen. Mein Gastarbeiter ließ aus irgendeinem Grund von seinem falschen Onkel ab, trat zur
.T
Seite, setzte sich auf die Kellertreppe, umklammerte seinen Kopf mit beiden Armen und legte eine Pause ein.
W
Onkel sah um sich als halte er nach etwas Ausschau, an das er sich nicht erinnerte. Es mögen drei, vielleicht auch vier Sekunden vergangen sein, bis er begriff: Luftiglocker
laf
drückte er einen ab - einen von den satten, fürchterlich stinkenden -, riss sogleich die Tür auf und wedelte davon.
tb yO
„Haltet den Dieb!“, hallte meine Stimme durchs Treppenhaus und erstickte im Echo der zufallenden, massivhölzernen Haustür. Nur ein irres Lachen blieb. Und der Gestank einer auf einem Kinderspielsplatz im Hochsommer verwesenden Kanalratte.
rig h
Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen der Wohnungstür und massierte mein rechtes Ohr. Luis fand zu sich, kam auf mich zu, beugte sich zu
meinen Füßen hinab, hob Onkels hellblauen Blouson auf
py
und rannte aus dem Haus. „Wo willst du hin? !“, rief ich, wohlwissend, dass die däm-
Co
liche schwere Haustür abermals jedes meiner Worte verschluckte. „Stratege!“, knurrte ich, machte kehrt und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen Zigaretten, Feuerzeug, die Schachtel Patronen und die Tüte, in der Luis Brötchen
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 136 von 136 -
brachte. Ich steckte alles ein und schlich zum Fenster, um zu sehen, ob mich Gaffer an der Flucht hindern könnten.
oth
Doch weder vorm noch im Haus störte sich jemand an der nächtlichen Ballerei. Und das war gut so.
Ich liebte den Westen. Niemand lässt sich von einem blö-
mr
den Schuss um seine Nachtruhe bringen. Recht habt ihr!
im
Den Gleichgültigen heraushängend verließ ich die
Wohnung und machte sofort wieder kehrt. Zufällig fiel mir auf, dass ich noch immer den Revolver in der Hand hielt.
.T
Im Badezimmer riss ich ein Handtuch vom Haken, wickelte die Waffe darin ein und verstaute das Knäuel in der Bröt-
W
chentüte. Noch immer rührte sich nichts im Haus. Seit dem Knall waren vermutlich fünf Minuten vergangen. Die Tür einfach nur vergessen.
laf
verschloss ich nicht. Warum, weiß ich nicht. Habe es wohl Ohne Eile ging ich die wenigen Meter der Durchfahrt
tb yO
zum Haupttor. Es stand offen.
Als ich auf die Straße trat, fiel die Laterne vorm Haus aus und die Beifahrertür eines auf dem Bordstein in der Einfahrt parkenden dunklen PKWs flog auf. „Komm! Beeil dich! Wir müssen weg! Mach schon! Va-
rig h
mos!“, rief Luis mit unterdrückter Stimme und fuchtelte mit den Händen herum. Ich lächelte ob des eifrig ungelenken Winkewinke. Trotz der Finsternis glaubte ich, in seinem Gesicht eine gewisse
py
Bleiche zu erkennen. Selbstverständlich bildete ich mir das nur ein. Denn die natürliche Pigmentierung seiner Haut hat-
Co
te etwas von Vollmilchschokolade. „Scheiße, ich habe was vergessen! Fahr schon mal vor vorn um die Ecke. Ich komme in zwei Minuten nach.“ Luis nickte kurz und heftig, sagte: „Roger!“, und fuhr an. Wohl die Kugel gefangen? Für dich noch immer James.
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Ich klemmte die Tüte untern Arm, wartete bis die Rücklichter des Wagens in die Nebenstraße versanken, wechselte die Straßenseite und schaltete auf zügigen
mr
Nachhauseschritt runter.
oth
flitzte hundert Meter in die entgegengesetzte Richtung,
im
X
Es ist doch immer dasselbe: Feiglinge hauen ab. Ja, hau du nur ab, gastarbeitender Feigling. Idioten bleiben.
.T
Der Held ist immer der Idiot. Falsch! Völlig falsch! Ich bin nämlich kein Idiot, Basta! Jedenfalls nicht so einer, so wirk-
W
lich ganz richtig. Ich bin der verdammte Feigling. Feige ist immer der, der bleibt, weil er nichts riskiert, sich unbekannten Abenteuern entzieht, nicht die Strapazen des Gejagten
laf
auf sich nimmt. Feige sind die, die nichts riskieren, die, die immer alles richtig machen, die, die immer alles, alles ganz
tb yO
genau wissen; und auch jene, die sich immer irgendwie im Wege stehen - eben die, die einem einfach nur noch auf die Nerven gehen.
Ich lief und lief und lief. Sah mich nicht um, strebte
rig h
vorwärts. Allmählich beruhigte sich mein Kreislauf, lief rund, eierte nicht mehr widerwillig rum wie noch vor Minuten. Doch mein Herz vibrierte. War wohl die Kälte. Zähneklappernd löste ich am Schalter eine Fahrkarte zwei-
py
ter Klasse nach Ramberg. Am Kiosk auf dem Bahnsteig kaufte ich eine „Abendzeitung“ und eine Schachtel Zigaret-
Co
ten.
Hinter einem Gartentisch bot nebenan ein dunkles,
rundes Wollknäuel Wurstbrötchen und dampfenden Kaffee unter einem zitronengelben Sonnenschirm feil. Ganz, ganz langsam schlenderte ich ganz, ganz dicht vorüber, sah in Babuschkas schmale Augen, für die sie zwischen Pullo-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 138 von 138 -
vern, Schal und Kopftuch einen Schlitz ähnlich einer Schießscharte alter Bunker schlug, durch den sie jede
oth
meiner Bewegungen, vor allem die meiner roten vor Kälte
erstarrten Hände verfolgte. Ich sog den Duft auf, gönnte ihr nichts, roch mich satt - richtig satt.
mr
Drei Mark für ein handtellerkleines Brötchen mit einem hauchdünnen Scheibchen Irgendwaswurst deren
im
ausgetrocknete Ränder sich wölbten, und zwei Mark für ein Becherchenchen Kaffee?
Ob sie meine letzten achtzig Pfennig als Anzahlung akzep-
.T
tiert? Wohl eher nicht. Da wo ich herkomme, bekäme ich für das Geld acht knusprige Brötchen beim Bäcker. Michael
W
sagte mal, die Westmark sei viel mehr Wert als das Spielgeld der DDR. Nun ja, mein Freund, der Michael - was verstand der schon. Wie auch immer, es roch trotzdem
laf
verdammt gut, mindestens ungewohnt. Und kostete keinen
tb yO
Pfennig.
Im Wagen suchte ich mir ein leeres Abteil, schloss die Tür, drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, setzte mich und legte die Füße hoch. Nachdem der Schaffner meinen Fahrschein von allen Seiten besichtigt und ihn mit
rig h
kryptischen Schmiererein versehen hatte, zückte ich meinen Geldbeutel, um ihn in einem der leeren Scheinfächer abzulegen.
Urplötzliche durchzuckte mich ein unangenehmes,
py
schmerzvolles Stechen in der Brust. Für einen Moment raubte es mir die Luft zum atmen. Prasseldürr mein Hals.
Co
Meine Finger verkrampften sich, schraubten sich fester und fester um den Geldbeutel, bis er wie ein schmieriges Seifstück meinen feuchten Händen entglitt. Der Entlassungsschein. Wo ist mein Entlassungsschein? Ich sprang auf, wühlte mit unruhigen Fingern in den Hosentaschen, sah auf und unter den Sitzen und suchte den
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 139 von 139 -
Boden nach ihm ab. Eine leere Coladose und zusammengeknülltes Schokoladenpapier. Im Abteil war er nicht. Wo
oth
war er dann? Ich musste ihn verloren haben. Unmöglich! Wie sollte das Stückchen Papier aus meinem Geldbeutel
fliehen, ohne dass der Geldbeutel... Scheiße! Scheiße Luis!
mr
Der Sauhund hat in meinem Geldbeutel gewütet. Vermut-
lich als ich schlief. Wie Freunde das eben so machen. Doch
im
wozu braucht dieser Schnarchkasper meinen DDR-
Knastentlassungsschein, mein einziges Ausweispapier? Er hat doch einen Reisepass. Soll verstehen wer will. Manche
.T
haben wirklich einen erlesenen Stil drauf. Eben doch ein rette muss her. Schleunigst!
W
klein bisschen wie in Schweinezüchterkreisen. Eine ZigaNimmt das gar kein Ende. Wo ist der dämliche Aschenbecher? Weshalb muss ich heute nach allem
laf
suchen? Da, na also, gut versteckt unterm Ablagebrett am Fenster. Dafür aber ein schönes großes Teil. Beruhige dich.
tb yO
Wird ja alles wieder gut. Halt dein blödes Maul! Ich bin die Ruhe selbst. Quasi personifiziert. Entnervt klappte ich Luis angefangene Schachtel auf, staunte: „Ja, wen haben wir denn da?“, entnahm eine Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen und hielt sie in
rig h
die Feuerzeugflamme. Dann entwirrte ich das auf Zigarettengröße gefaltete Papier, dessen Struktur einem Geldschein nicht unähnlich war. Es war ein Geldschein. Und ganz ein großer dazu. Fünfzig muntere Westmark bun-
py
kerte mein edler Freund und Gastarbeiter in einer Packung dessen Inhalt zur Vernichtung freigegeben war. Ist der
Co
denn blöd? Natürlich könnte ich nun behaupten, mir fiel ein Stein
vom Herzen. Doch erstens war mein Herz keine Steinwüste und zweitens klingt es pathetischer als es letztlich war. Zugegeben, der Schein jedenfalls, der kam gerade richtig.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 140 von 140 -
Aber suchen musste ich ihn. Man stelle sich nur mal vor, ich hätte ihn samt leerer Schachtel, nun ja, entsorgt. Welch
oth
eine Blamage. Ganz ein böser Finger.
Als Entschädigung für meinen Entlassungsschein und den Ärger, den ich ohne Ausweispapier haben würde, akzep-
mr
tierte ich Luis Beitrag - und nahm ihn an. Und dass er mich hemmungslos belog, als er beim Frühstück behauptete, er
im
habe kein Geld mehr, trug ich ihm nicht nach. Na ja, eigentlich war es mir Brust. Schließlich war ich schneller und stellte dergleichen schon viel früher an mir fest. Nur mit
.T
dem Unterschied, ich habe meine letzten paar Kröten behalten. Wer vermutet sie schon in Socken, die penetranter
W
stinken als Luis Atem?
Entspannt sah ich durch die Tür auf den Gang hinaus. Ein Mädchen, ein sehr hübsches Mädchen, kämpfte
laf
sich mit einer störrischen Reisetasche an meinem Abteil vorbei. Versonnen sah ich ihrem Hintern nach. Dabei
tb yO
schweifte mein Blick über den Glasrand der Schiebetür meines Abteils. Drei kleine Abziehbildchen schmückten sie. Oder, wie die im Westen sagen, Piktogramme. Das versteht zwar keiner, muss es wohl auch nicht. Auf einem eine glimmende Zigarette oder so was, mit Wel-
rig h
lenlinien über einer Art Glut und einem fetten diagonalen Balken über allem. Sag ich doch, versteht kein Aas, denen ihre hieroglyphischen Erklärungsversuche, die, merkwürdig oder nicht, immer irgendwelche Verbote darzustellen
py
versuchen. Aber dafür ist im Westen genug Geld da, nur nicht für ordentliche Aschenbecher. Hm, offensichtlich ein
Co
Glimmstängel im Tiefflug. Will anscheinend sagen, dass es verboten ist, Kippen auf den Boden zu werfen. Wer tut denn so was? Und auch beim Schaffner haperte es ganz gewaltig. Der stumme Pitti in alberner Heilsarmeetracht trug nicht
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 141 von 141 -
nur eine Zange im Schnellziehholster, nein, er weckte mich auch noch so wie er aussah: Auf die abscheulichste, die
oth
perfideste Weise seit Erfindung der Eisenbahn, bestimmt aber seit Erfindung der Zugabteile oder wenigstens der
Schiebetüren. Ohne ersichtlichen Grund schlug der Kobold
mr
die Abteiltür zu. Und zwar so heftig, dass ich vor Schreck vom Sitz rutschte und unsanft auf den Boden schlug.
im
Ich sah aus dem Fenster, rieb mit der einen Hand
mein angegriffenes Hinterteil und zündete mir mit der anderen eine Zigarette an. Stürmberg? Der Zug fuhr in den
.T
Bahnhof ein. Stürmberg. Vielleicht erwarten sie mich schon - in Ramberg. Wäre doch möglich. Wenn sie Luis ge-
W
schnappt und meinen Entlassungsschein bei ihm gefunden haben. Sie wollen mich abholen und wegsperren. Pfui, schämt euch was!
laf
Doofe Spielchen. Ich bin zu alt für so was. Na ja, der erste Versuch war wirklich etwas daneben. Ging ganz
tb yO
schön nach hinten los, mein Einstand. Kann man schon so sagen. Ich muss noch mal von neuem Anlauf nehmen und ganz von vorn beginnen. Es täuscht: Die Hürden sind nicht unüberwindbar, sie waren nur ein klein wenig zu hoch für
rig h
den ersten Versuch.
Wenn ihr nach Stunden bezahlt werdet, könnt ihr
euch bei Gelegenheit bei mir bedanken. Ich eilte den Gang entlang, trat den Stummel aus,
py
riss mit beiden Händen die Tür auf und sprang vom anrollenden Wagen.
Co
„Sind Sie verrückt geworden? ! Bleiben Sie sofort stehen!“, tönte ein Oberlehrer irgendwo hinter mir. Ich sah mich nicht um, schrie so laut ich konnte: „Ja!“, lachte, stieß, vom wilden Taumel der Freude gepackt, beide Arme empor, wirbelte die Brötchentüte durch die Luft, fing
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sie auf und hüpfte von einem Fuß auf den anderen dem Ausgang entgegen.
oth
„Ja, total verrückt! Sag es nicht weiter!“
Weiter vorn auf dem Bahnsteig stand das Mädchen mit der
widerborstigen Reisetasche. Sie hatte sie gezähmt, hielt sie
mr
fest zwischen ihren Füßen, ihren... - Was für Beine! - ...
Und... und... und lächelte. Ja, sie meinte mich! Das Mäd-
im
chen lächelte mich tatsächlich an. Ganz ehrlich wahr. Und es war so unverschämt süß, ihr Lächeln. So... so... doch, nein, ich durfte nicht stehen bleiben, durfte sie nicht an-
W
und ich schämte mich dessen.
.T
sprechen. Denn was ich am Leib trug war schmutzig, roch -
Vor dem Bahnhof blieb ich stehen und sah mich um. Mir war nicht kalt. Die Übung wärmte mich auf.
laf
Zunächst musste ich mich orientieren. Zwar hatte ich während der paar Tage, die ich nach der Verbannung in
tb yO
Stürmberg verbrachte, die Stadt ein wenig kennen gelernt. Aber eben nur ein wenig.
Um die Aufmerksamkeit der Bahnpolizei nicht unnötig auf mich zu ziehen, marschierte ich in östlicher Richtung drauflos. Ich gehörte nun mal nicht zu den Men-
rig h
schen, die sich immer und überall aufdrängten. Bald kam ich an einem See vorbei. Und etwas später
traf ich auf einen Fluss. Jener, der im See mündete. Auf der
py
Mitte der Brücke, die den Fluss querte, stützte ich mich aufs Geländer, legte den Kopf in beide Hände und starrte
Co
lange auf das ruhige, lautlos dahinfließende Wasser. Bist du richtig schön tief? Er antwortete nicht. Es war überhaupt sehr ruhig. Friedliche Stille umgab uns. Kein Pärchen stritt, kein Auto ratterte vorüber, kein Hund kläffte, kein Vogel sang. So als warteten sie gespannt auf das, was ich tun würde.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 143 von 143 -
Unauffällig sah ich mich nach allen Seiten um, öffnete dann die Brötchentüte und holte das Handtuch heraus.
oth
Abermals sah ich mich um. Nichts näherte sich der Brücke. Ich schlug das Handtuch auf, nahm den Revolver in die
Hand und hielt ihn ganz dicht vor den Bauch. Langsam,
mr
ohne das kleinste Geräusch verursachend, ließ ich die
Trommel seitlich herausfallen. Wieder sah ich mich unauf-
im
fällig um. Gefasste Stille. Nacheinander fingerte ich mit
spitzen, kalten Fingern vier Patronen und eine Hülse aus der Trommel. Hast du noch etwas zu sagen? Nein? Dann
.T
verabschiede dich. Fest am Lauf, hielt ich die Waffe. So fest, als wolle ich sie am weglaufen hindern. Noch einmal
W
sah ich mich um, atmete tief durch, holte weit über den Kopf aus und schleuderte sie mit elegantem Schwung in die müden Fluten. Begleitet von einem kurzen, kaum wahr-
laf
nehmbarem Plätschern, das ebenso gut der extra-feuchte Furz eines magenkranken Mops hätte sein können, tauchte
tb yO
sie unter. Bläschen gaben zu erkennen, dass sie sich ein letztes Mal aufbäumte, bevor ihr die Luft ausging. Nur ein Augenblick, schon kehrte der Friede auf die Einsamkeit der Brücke zurück.
Noch einige Sekunden schaute ich auf das dunkle Gewäs-
rig h
ser. Da unten, irgendwo im Schlamm verborgen... mache niemals wieder Ärger... Nachdenklich spielte ich in der Rechten mit den Patronen und der Hülse. Der Tag brach an und ein Lieferwagen fuhr auf die
py
Brücke. Ich schob die Hand mit den Patronen in die Hosentasche und wandte mich ab, verließ die Brücke in die
Co
Richtung aus der ich kam. Drei Stunden schlenderte ich ziellos durch die Ge-
gend. Plötzlich hielt mich etwas fest. Ich weiß nicht, was es war. Ich weiß nur, ich stand einen Moment vor einer Spar-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 144 von 144 -
kasse, ging schließlich hinein und wechselte den Fünfzigmarkschein in Kleinkram. schen wenige Meter neben der Sparkasse aufschlug, fischte ich Rechtsanwälte, zu deren Kanzlei ich ohne
oth
Aus den „Gelben Seiten“, die ich im Telefonhäu-
mr
Stadtplan finden würde. Die Schwarte hatte irrsinnig viele Einträge. Ein paar Augenblicke haderte ich mit mir, dann
im
griff ich zum Hörer und wählte mich durchs Angebot.
Gut, dass ich mir in der Sparkasse gleich Hundert Zehnpfennigstücke geben ließ. Wie gesagt: In Stürmberg hatten
.T
sich viele, sehr viele Anwälte niedergelassen. Keiner von ihnen klagte über Mangel an Arbeit. Im Gegenteil.
W
„Ich habe eine Straftat begangen und brauche einen Anwalt. Geld habe ich aber keines. Können Sie mir trotzdem helfen?“, stellte ich mich vor.
laf
„Tut mir Leid, wir sind hoffnungslos überlastet. Sonst gerne“, entschuldigten sich siebzehn nette Damen aus
tb yO
siebzehn gutgehenden Anwaltskanzleien. Und es war ganz bestimmt nie ein Anrufbeantworter. Und es war auch immer ein anderes Büro.
Zehn Damen aus zehn gutgehenden Kanzleien legten ohne ein Wort auf. Vielleicht brach aber auch nur die Lei-
rig h
tung zusammen. Die waren eben nicht mehr das, was sie mal waren. Also, früher - damals eben, als alles noch viel sicherer und einfacher und wärmer und überhaupt viel, viel
py
besser war.
In zwei, drei Monaten werde ich von neuem durch-
Co
starten. Werde es ganz anders anpacken. Einfach richtig machen. Sicher werden sie erkennen, dass ich jung, unerfahren und dumm bin - Pardon! - war. Viel schlimmer wird es schon nicht kommen. Und Luis? Wer, verdammt noch mal, ist Luis? Zweifellos werden sie mich verspotten, mir
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 145 von 145 -
dann aber eine zweite Chance zugestehen. Ganz bestimmt
oth
sogar. Unbeirrte legte ich meinen Zeigefinger auf die Wählscheibe und ließ ihn kreisen. Es gab ja so viele. Und wenn
mr
ich ganz Stürmberg kennen lernen musste. Völlig Brust.
Ruhen würde ich erst, wenn die blöde Maschine den letzten
im
Groschen verschlang.
Doch irgendetwas machte ich falsch. Nach weiteren neun Abfuhren setzte es bei mir aus. Ich schlug mit der Faust
.T
gegen den Kasten, biss in den Hörer und trat gegen die Tür. Draußen lauerte ein Mütterchen und sah mir gierig in
W
die Augen. Oder war es Entsetzen? Brust! Mein Unterkiefer schmerzte. Verdammt hart so ein Plastikknochen. Ich zündete eine Zigarette an, wählte und lauschte.
laf
„Kommen Sie bitte um vierzehn Uhr vorbei“, tirilierte eine Glücksgöttin in die Ohrmuschel.
tb yO
Juchhe! Juchei! Jucheirassassa! Jetzt, jetzt wird alles gut. Ich gab mich den Schergen zu erkennen, schlenderte frohgemut durch die City, versunken in eine Gedankenwelt aus hoffen, doch harten sie in ihren Verstecken. Strotzend vor Selbstsicherheit stolzierte ich um 14
rig h
Uhr in die erste Etage der Marktgasse 17. Eines sollte niemandem verborgen bleiben: Ich war zum Äußersten entschlossen.
In der Ferne läutete eine Kirchturmuhr und im Radio, ir-
Co
py
gendwo hinter dem Tresen, quälte sich Joe Cocker. Artig nannte ich der Sekretärin, Empfangsdame,
Hausmädchen, Sklavin - oder wie man das nennt - meinen Namen. Sie nickte wissend und bat mich, gegenüber in einem türlosen Raum Platz zu nehmen. Groß war er nicht, aber sehr ordentlich, sehr sauber, sehr geschmacklos, sehr übersichtlich und vermutlich auch sehr teuer eingerichtet.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 146 von 146 -
Noch immer überzog die Knastblässe mein Gesicht. Freiheit kann doch etwas sehr kurzlebiges sein. Habe ich
oth
geatmet, das Licht gesehen, die Luft geschmeckt? Die
westliche Kultur zu erkunden, hatte ich mir ein klein wenig anders vorgestellt. Oder gehörte dieses Kapitel doch nur
mr
zur Besichtigungstour?
Da saß ich nun und wartete... und wartete. Mir
im
schien, als vergingen Stunden.
Es war, als stündest du seit Stunden nach einer begehrten Karte für ein großes Fußballspiel in der Schlange vor der
.T
Kasse. Hinter dir eine umwerfend schöne Frau. Die Karten werden knapp, doch noch immer sind fünfzig Fans vor dir
W
und du spürst einen unerträglichen Druck auf der Blase und einen tierischen Koffer vorm Tor. Das eine lässt sich
laf
ohne das andere nicht lösen.
Nach zehn Stunden musste ich tatenlos mit ansehen,
tb yO
wie sich mein Selbstvertrauen klammheimlich, entlang der ockernen Raufasertapete kraxelnd, allmählich davon machte.
Tage später winkte mich ein großer, schlanker Mittdreißiger im dunklen Anzug in sein Büro.
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Ich ging voraus. Du musst jetzt tapfer sein. Die Uhr auf seinem Schreibtisch zeigte vierzehn durch zehn. Ich nahm Platz, ohne dass er mich dazu aufforderte, und berichtete von meinen Abenteuern und schicksalhaften Begegnun-
py
gen.
„So wie Sie mir die Ereignisse schildern, dürfte das Straf-
Co
maß nicht sehr hoch ausfallen. Vorausgesetzt, es wurde tatsächlich niemand verletzt.“ „Nein, nein, ganz bestimmt nicht! Was ist Ihre Vermutung?“ Während ich ihn fragte, erhob ich mich, kramte die Patronen aus der Hosentasche und legte sie vor ihm auf den Schreibtisch.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 147 von 147 -
„Schwer zu sagen. Irgendwo zwischen Geldstrafe und Bewährung bis maximal zwei Jahre. Das sind dann die
oth
Patronen aus dem erwähnten Revolver?“ Rechtsanwalt
Sperling schob sie mit den Fingerspitzen auf der Schreibunterlage hin und her.
mr
„Kaffee?“ „Große Tasse?“
im
Sperling lächelte nachsichtig. „Milch? Zucker?“ „Alles, was Sie haben. Danke!“
Noch immer lächelnd drückte er das rote Knöpfchen der
.T
Sprechanlage neben dem Telefon auf seinem Schreibtisch und gab den Auftrag, eine große Tasse Kaffee mit Milch
W
und Zucker für seinen Mandanten zu bringen.
Ich wusste immer, ich würde es schaffen. Der Mandant war nämlich ich, und er war jetzt mein Anwalt. Ich
laf
hatte einen Anwalt. Ein komisches Gefühl. Irgendwie wichtig. Der Mann von Welt hat doch immer einen, nein, seinen
tb yO
Anwalt parat. Die Anwälte im Westen sind gut. Und er ist einer der besten. Die moderne, teure Einrichtung und das alles. Der wird mich raushauen. „So, und nun soll ich Sie von der Polizei abholen lassen? Sagen Sie, warum wollen Sie sich stellen? Ein rein
rig h
persönliches Interesse von mir.“ Ohne anklopfen kam ein kurzes Röckchen herein. Teurer Stoff bestimmt. Die Schöne platzierte den Pott Kaffee so geschickt vor mir, dass ich - zu meiner Entschuldigung -
py
gar nicht anders konnte, als mich in ihrem Dekolletee umzusehen. Noch bevor ich Worte des Dankes fand, schlüpfte
Co
sie durch die Tür. Zugegeben, eine etwas unkonventionelle Methode
der Wohnungssuche. Und doch die einzige mit hundertprozentiger Erfolgsgarantie. Die Zimmer werden fürchterlich eng sein, gut, aber warm und die Mahlzeiten ausreichend.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 148 von 148 -
Außerdem, solange, dass ich mir das bellen angewöhne, wird es schon nicht werden. Ob er das versteht? Eher
oth
nicht. Er wird nicken, aber verstehen wird er mich nicht.
Wer hat schon immer und für alles, was er tut oder lässt eine rationale Erklärung? Es gibt Dinge, die müssen eben
mr
reifen. Ich hielt meine Entscheidung für die einzig Richtige,
im
um wirklich ganz von vorn beginnen zu können. Aus!
„Für Sie!“ Sperling legte eine Schachtel Zigaretten neben meine Kaffeetasse. „Bedienen Sie sich.“
.T
„Werde ich ganz sicher. Danke! Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl, dass es das Beste ist. Beschreiben kann ich
W
es nicht.“
„Wenn das nur alle hätten. Dann werde ich jetzt also die Polizei informieren. Und Sie unterschreiben bitte die Voll-
laf
macht hier.“ Er legte einen Kugelschreiber auf die Prozessvollmacht und schob beides herüber.
tb yO
Ich unterschrieb, zündete mir eine Zigarette an und beobachtete meinen Rechtsanwalt beim telefonieren. Nach einer Weile drehte er sich sichtlich genervt mir zu. „Die alte Leier: In der DDR ist es einfacher einen Trabi zu bekommen, als hier einen Selbststeller abzuliefern. Jetzt
rig h
verbinden die mich schon zum vierten Mal. Keiner ist zuständig. Schlimm!“, schüttelte vielsagend den Kopf, rutschte vom schwarzen Angeberledersessel, trippelte unruhig auf und ab und knabberte am Daumennagel. Die
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Kabellänge des Hörers gab ihm den Radius vor. Noch weitere drei Male stellte man ihn durch. Dann
Co
ein erleichtertes Aufatmen. Mein Interessenvertreter setzte sich und vereinbarte mit dem anderen Ende, dass ich in seiner Kanzlei abgeholt werden könne - ohne Handfessel. Denn schließlich stelle ich mich aus freien Stücken. „Ja, Sie sind zur Fahndung ausgeschrieben“, sagte er, als er auflegte.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 149 von 149 -
Dann werden die Stücke bald nicht mehr frei sein. Hm, gesie es überhaupt schon mal?
oth
nau genommen sind sie es schon jetzt nicht mehr. Waren „Lassen Sie sich Zeit mit Ihrem Kaffee. Die zeigten keine Eile an. Selbststeller sind kein Erfolg für die Brüder.“
mr
Ich lehnte mich zurück, nippte am Kaffee und rauchte.
Sperling schlug einen Hefter auf, las in irgendwelchen
im
Schriften, machte Notizen - und ich verspürte Hunger.
Sollte ich ihn fragen? Nein. Aber er könnte ja so höf-
.T
lich sein und mir eine größere Kleinigkeit anbieten. Auch nicht. Sein Job ist es, dir die Freiheit wiederzugeben, nicht
W
dich zu mästen. Er soll mich nicht mästen, nur am Leben erhalten. Kommt aufs selbe raus. Trotzdem habe ich Hunger. Und wenn er ein ganz klein wenig geizig ist? Jetzt
laf
reicht’s aber. Wäre er geizig, würdest du nicht hier sitzen und auch nicht seinen Kaffee trinken und seine Zigaretten
tb yO
rauchen. Weil wir gerade dabei sind: Gewöhne dir endlich diese widerliche Quarzerei ab. Kein Problem für mich: Wenn ich in fünf Minuten was zu beißen kriege. Ich könnte ihn doch einfach mal fragen, so ganz nebenbei, ob er Hunger hat. Den Wink wird er verstehen. Er verstand ihn nicht.
rig h
Ich fragte ihn aber auch nicht. Mit dem weichen Kirchenläuten zur fünfzehnten
Stunde des Tages hämmerte es bedrohlich gegen die Tür.
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Ich zuckte zusammen. Sperling fuhr mit dem Zeigefinger am Hosenschlitz entlang, knöpfte auf dem Weg zur Tür sein
Co
Jackett zu und öffnete. Nacheinander eilten drei Kriminalbeamte, zwei Männer und eine Frau, herein. Unverzüglich machte sich das schmucklose Fräulein an mich ran. „Nein, nein! So geht das nicht! Wir vereinbarten am Telefon, dass ihm keine Handfessel angelegt wird!“, stellte sich
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 150 von 150 -
mein schneidiger Verteidiger mit erhobener Stimme zwischen uns.
oth
Der Mann ist supergut, absolute Spitzenklasse. Der haut mich raus.
Die Aufreißerin zog sich mitsamt ihrem Handschmuck zu-
mr
rück - irritiert und ohne Gegenwehr.
Ich stand auf, gab mich locker, zündete eine neue Zigarette
im
an und nahm einen Schluck aus meiner Tasse. Mit miss-
trauischen (oder lüsternen?) Blicken verfolgte OberweitenKojak mein Tun.
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Und ich... ich... ich machte den Mund auf - und machte
W
mich ordentlich zum Fallobst.
Im Kopf schnürte ich Sätze zu mundgerechten Paketen. Doch blieben sie stecken, kamen nicht durch, gingen
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verloren. Weshalb konnte mein Mund nicht, was meinem Kopf keine Probleme bereitete, mein Hirn anstandslos ver-
tb yO
mochte? So furchtbar weit war der Weg ja nun wirklich nicht. Offensichtlich aber weit genug, um all die schönen Päckchen aufzureißen. Irgendwer hat bei der Konstruktion des Menschen anständig gepennt.
rig h
Also sagte ich nichts.
Selbst dann nicht, als mir der kleinere der beiden Kripomänner in die Wäsche griff. Ich zog die Herde an, denn ich stank wie ein junger Bulle. Aber vielleicht wetteten diese
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Schweinchen auch, wer es am längsten in meiner Nähe aushält? Dann schiebt die Knete gleich meinem Anwalt rü-
Co
ber. Der ist nämlich härter als ihr drei zusammen. Schnell und oberflächlich fummelte der Mini-
Magnum mit kurzen dicken Fingern an mir herum. Mein einsatzfreudiger Verteidiger übergab derweil dem anderen die Patronen und die Hülse samt Brötchentüte und Handtuch.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 151 von 151 -
„Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?“, erkundigte sich dieser.
oth
Er durfte. Natürlich durfte er. Fragen wie diese werden
niemals verneint. Schläfrig gab er irgendjemandem die
mr
Anweisung, schon mal den Wagen vorzufahren.
Ich bedankte mich bei Rechtsanwalt Sperling und
im
schüttelte ihm kräftig die Hand, eine Schachtel Zigaretten, die er mir zuschob, ignorierend. Einen guten Anwalt und eine ebensolche Verteidigung, ja. Aber bitte keine Almo-
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sen. Dann schnappte ich mir das Päckchen, steckte es ein und verließ unter dem Schutz der drei Glücksspieler die
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Kanzlei und das Gebäude, um in den Fond eines uralten gelben Opel, der unmittelbar vor der Haustür im Halteverbot parkte, zu klettern.
laf
Mit der Postkutsche drei Ecken weiter ins Fort galoppieren. Die Jungs verstanden ihr Handwerk. Neben mir
tb yO
nahmen die Entzückende des erfolgsorientierten Trio und der Kurze Platz.
„Wir wurden nur beauftragt, Sie festzunehmen. Zuständig ist die K einundzwanzig“, sagte sie sanft. „Is ja rührend“, sagte ich.
rig h
Ihr netter Chef fläzte im Beifahrersitz und lachte ausgelas-
py
sen wie Derrick. XI
Das Lachen fand ein Ende. Wie auch mir das Lachen
Co
verging. Durch lange Flure ihrer Festung schleiften sie mich.
Blind und widerstandslos fügte ich mich. Aus einem Raum schlug mir T. Rex, einem anderen Glitter und wieder einem anderen, einen Flur höher und viel weiter hinten, die volle Dröhnung „Africa Man“ entgegen. Das reichte, um kräftig
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 152 von 152 -
an der Leine zu zerren. Ich konnte nicht jeden Hammer an mir vorbeifliegen lassen. Wenigsten Johnny Wakelin mochdrängelte.
oth
te ich noch einmal hören. Nur ein Mal noch. Doch der Kurze Mach nur so weiter, Kobold. Wirst schon noch se-
mr
hen, was du davon hast. Dann lasse ich mich nämlich
fallen und bleibe so lange liegen, bis die Sendung im Radio
im
vorbei ist.
Sie machten seriöse Fotos von mir, und wir spielten Klavier. Hinter ihren gemeinen Angriffen vermutete ich die
„Geboren?“, fragte der Kurze. „Ja.“ „Ostern.“ „Exakt.“
tb yO
„Ostern?“
laf
„Wann? !“
W
Wochenendseminars.
.T
Verwirklichung des letzten Psychologie-
„So kommen wir nicht weiter. Der verarscht uns. Trinkst du?“
Da hat wohl jemand in der Schule nicht aufgepasst? „Wie könnte ich sonst hier bei Ihnen sein?“
rig h
„Alkohol? !“
„Nicht jetzt.“
„Du willst uns verarschen, oder?“, fragte er listig. „Niemals!“, entgegnete ich entrüstet.
py
„Kruzifix! Das wird nichts mit dem. Solln die sich in Wün-
Co
schen mit dem Saubeutel rumärgern.“ Am nächsten Morgen sah ich beim Haftrichter vor-
bei. Der faselte was von Fluchtgefahr und Verdunklungsgefahr. Was die mir alles zutrauten. Ich war aber auch so was von gefährlich. Sie fürchteten, ich könne
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 153 von 153 -
mich schwarz anmalen und bei Nacht nach drüben flüchGleich im Anschluss wartete ich der örtlichen Staatspension auf.
oth
ten. So was albernes.
mr
Die erste Nacht sei die Schlimmste, heißt es. Es war nicht meine Erste, und doch eine der unerträglichsten.
im
Erdrückend schwer lasteten die Erinnerungen der letzten
Jahre auf mir, wühlten, wüteten, bissen und boxten in mir. Sie kämpften - nicht für oder gegen, sondern des Warum
.T
wegen.
Und dann war da noch die Bettwäsche, die mir den
W
Schlaf raubte. Dieser schlichte blauweißkarierte Stoff mahnte, ließ mich am ganzen Körper erzittern. Tapfer widersetzte ich mich, mich der Reminiszenz vergangener
laf
Jahre zu unterwerfen. Ich ruhte auf der verkeimten Matratze
tb yO
und fror in meiner geheizten Zelle.
Tief in der Nacht stand ich auf, stellte mich vors geöffnete Fenster, sah hinüber auf die hell erleuchtete gelbe Fassade mit den kleinen quadratischen, vergitterten rehbraunen traurigen Augen und sang:
rig h
„Ein Raunen geht durch die Nacht - ein Bulle steht auf der Wacht - leise geht ein Lied von Mund zu Mund na, na, na, nana, nana...“
„Ruhe!“ und „Halts Maul!“ und noch mal „Ruhe!“ und „Ich
py
schneid dir die Zunge raus!“ und „Mach den Arsch zu, Kanakensau! und ähnliche ausgewählte enthusiastische
Co
Beifallsbekundungen hallten über den Hof. An der Tür befahl die uniformierte Nachtschicht schlicht: „Schnauze!“ Doch der beeindruckte mich nicht. Wusste ich doch längst, dass er nachts nur in Begleitung zweier Kollegen und auch dann nur im Notfall die Türen öffnen durfte. Noch war ich kein Notfall. Und überhaupt: Was ist ein Notfall?
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Furchtlos sang ich weiter - ganz schnell und ohne Luft zu holen: „Doch einmal wird es anders sein, dann sperren wir
oth
die Bullen ein und plötzlich über Nacht kommen die Knackis an die Macht. A...“
Beim Schlag mit einem harten Gegenstand gegen die Tür,
mr
blieben mir die vielen As des ausdrucksstarken Refrain im Hals stecken.
im
„Zum letzten Mal, halt deine verdammte Schnauze!“
Wer kann dazu schon nein sagen. Und, warum leugnen, er hatte Recht. Es war weder die Zeit noch der richtige Ort für
.T
Kultur. Der Platz war schon besetzt: mit Stockkultur.
W
Nicht Gewebtes ist der natürliche Feind des Menschen, du Dummkopf, sondern der Mensch. Du zum Beispiel. Oder Borrmann.
laf
Möglicherweise, nur ist Klausi kein Mensch. Er putzt sich doch die Zähne und geht aufrecht?
tb yO
Ja, aber in braunen Schuhen. Sei nicht so kleinlich.
Mein Befinden, wenn ich den desolaten Zustand in Kopf und Körper mal so nennen darf, besserte sich an den
rig h
folgenden Tagen allmählich. Mit jedem Tag stieg die Kurve etwas weiter an. Die Gegenwart anderer, die Gespräche während der Freistunde im Hof und der ungezwungene Umgang untereinander vermittelten mir ein Gefühl der Zu-
py
gehörigkeit und, ja, sie gaben mit etwas der dringend
Co
benötigten Wärme. Am Donnerstag, gemütlich drehte ich mit einer frisch
geschnorrten Selbstgedrehten im Mund meine Runden auf dem Hof, holte man mich zur Untersuchung. „Sin Se krank?“, fragte ein angestrengt nach Luft schnappender weißbekittelter Drei-Zentner-Mann im Arztzimmer.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 155 von 155 -
Sein Tonfall war der eines gewieften Krämers, der mich beim Bummel übern Markt schmerzvoll am Arm packt und
oth
faucht: Eine fette Wachtel gefälligst? „In Philosophie habe ich immer gefehlt.“
Er senkte seinen Blick auf das vor ihm ausgebreitete Pa-
mr
pier. „Wolldor. Hm. Habn uns die vordammdn Dedeärlor wiedor so een Gästördn geschickt. Also nisch krank.“
im
Sprach es, notierte und fragte weiter: „Halblanges, braunes Hoor. Een Medor achtunsibzsch. Dreiunsibzsch Kilo. Ognforbe?“
.T
Ja, in der Tat, manchmal bin ich tatsächlich so, wie man es von mir erwartet.
W
„Kandiszuckerbraun.“ „Ognforbe, braun.“
Für einen winzigen Moment lenkte er seinen Blick über die
laf
halben Gläser seiner goldgefassten Brille zu mir herüber. „Schilddrüsen in Ordnung. Keene besondorn Gennzeichn.“
tb yO
Ich stand neben der Tür, drei Meter vor seinem Schreibtisch. Irgendjemand hatte den armen Kerl dahinter einbetoniert.
„Transporttauglich. Unterschreibn.“ Ich unterschrieb irgendein Papier und reichte es dem
rig h
Schließer. Meine Erfahrungen lehrten mir, dass unterschrieben wird, was auf den Tisch kommt. Der Inhalt spielte eine, wenn überhaupt, untergeordnete Rolle. „Schaffn Senn wesch!“
py
Ich war hingerissen, bedankte mich freundlich und folgte meinem Schließer. Endlich hatte ich gefunden, wonach ich
Co
so lange vergeblich suchte: Der Westen, von dem alle schwärmten. Dieser Doktor war ein echtes Genie. Ganz so, wie ich
mir Profis aus dem Westen immer vorstellte. Mit ihrer erstklassigen Ausbildung können sie beinahe alles aus dem Handgelenk heraus diagnostizieren und ganz sicher auch
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heilen. Hier ist der Patient Mensch. Lästiges aushorchen, unangenehmes abtatschen, brutales abklopfen, demüti-
oth
gendes Ä-Sagen und womöglich auch noch todbringenden Röntgenstrahlenbeschuss - all das, und noch viel mehr,
entfällt, wenn man es mit wirklichen Profis zu tun hat. Sie
mr
prahlen nicht mit ihren Verdiensten um andere, verdienen ein schweine Moos und, meine Hochachtung, lassen es
im
nicht heraushängen. Sie sind bescheiden, bleiben auf dem Teppich, jeder darf an ihren Erfolgen teilhaben. Und dennoch: Der hier, dieser Sumodok, der übertrieb ein wenig.
W
nicht sparen. Das ist geizig.
.T
An Brillengläsern sollte ausgerechnet ein Arzt nun wirklich
Tags darauf gab es zu Mittag verwässerten Kartoffelsalat und etwas braunes. Ich fragte den Kalfaktor, der sich
laf
Hausarbeiter nannte, was das sei. Und er behauptete, Fisch. Freitags gebe es nämlich immer Fisch.
tb yO
„Kannst ihn haben“, sagte ich.
„Hey, Fisch ist gut. Magst echt nicht?“ „Nee.“
„Warum?“, fragte er wie ein Knacki, der sein Gegenüber für einen zurückgebliebenen Schwulen hält.
rig h
Was für ein Schwachkopf. Ich esse grundsätzlich niemals wieder etwas, was ich nicht auf Anhieb selbst identifizieren kann. Schon mal was von Fruggen gehört? Also. Sei einfach nur dankbar, friss das tote Vieh und halts Maul.
py
„Es gibt Menschen, die glauben, wenn sie das Hirn eines anderen verschlingen, werden sie schlauer. Sollte ich mir
Co
dann was reinschieben, das so blöd war, sich fangen zu lassen?“ Er grinste irritiert, legte das bräunliche Dingsbums vom Wesen eines Fladen auf einen Extrateller und schob sein Wägelchen zur nächsten Zelle.
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Essen wird er es vermutlich nicht. Er wird es einem lutschte Pornoschwarte für eine Nacht. Mir Brust.
oth
anderen verkaufen - gegen etwas Tabak oder eine ausge-
Am Nachmittag brachte man mich in eine Besucher-
mr
zelle.
„Ludowig. Ich bin der Partner von Herrn Sperling“, stellte
im
sich der mir unbekannte Anwalt vor.
„Herr Sperling hat in zwei Wochen in Wünschen zu tun. Bei der Gelegenheit wird er Sie besuchen. Ihr Transport geht
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nächste Woche?“
„Möglich. Ich habe so was läuten hören. Können wir über
W
den Unfug im Haftbefehl sprechen?“
„Sprechen Sie. Machen Sie’s aber nicht zu lang.“ Ich erzählte davon, dass mir Diebstähle in derart immen-
laf
sem Umfang vorgeworfen wurden, dass ich mit einem Möbelwagen hätte flüchten müssen. Davon, dass ich dem
tb yO
Opfer seinen Autoschlüssel und die Geldbörse gewaltsam abgenommen haben soll. Und davon, dass ich die Wohnung und den Inhaber über mehrere Wochen hinweg ausspioniert haben soll, bevor ich einbrach. „Das ist doch lächerlich. Zum angegebenen Zeitpunkt saß
rig h
ich hinter Stacheldraht, Hundezone und Selbstschussanlage.“
„Beruhigen Sie sich. Wir werden uns darum kümmern. Sie wissen, dass die Polizei auf Ihre Spur kam, weil sie Ihren
py
Entlassungsschein am Tatort fand? Was für ein Entlassungsschein ist das?“
Co
Ich wusste es nicht, vermutete aber so was in der Art. Jetzt wusste ich es. „Aus der DDR.“ Ludowig lächelte ein Lächeln, das Belustigung und Verächtung zugleich ausdrückte.
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„Die haben noch in der Nacht das Wohnheim in Ramberg gestürmt. Das ist wörtlich zu nehmen. Dreißig Polizeibeam-
oth
te mit der Waffe im Anschlag überrannten die
Heimbewohner regelrecht. Das wird scho a rechter Gaudi gewesen sein.“
mr
Und da ich mit einem gewissen Luis ein Zimmer teilte und keiner von uns den Vandalen blindlings in die sorgfältig
im
vorbereitete Falle stolperte, machten sie ihn eben zum Mittäter.
.T
Annähernd drei Stunden war der ungewaschene grünweiße Gefangenenbus mit den schmalen Gucklöchern
W
auf der Piste. Ich fragte mich, was aus uns würde, wenn es ihn die Böschung runterwürfelte und er in Flammen aufging. Zellentürchen und Gitter verriegelt und verschlossen, wohl geerdet.
laf
keine Fenster, kein Fluchtweg. Damit hätte sich das dann
tb yO
Überflüssigerweise warnte uns das Begleitpersonal vor der Abfahrt auch noch, dass sie bei einem Fluchtversuch umgehend von der Schusswaffe gebrauch machen würden. Es hatte sich herumgesprochen, dass hinter Mauern geschos-
rig h
sen werden darf.
Sie hievten die Zugbrücke hoch und durch meinen
Kopf geisterte Elvis „In the Ghetto“. In Strömen regnete es aus schweren, dunklen aus Osten kommenden, schnell
py
nach Westen ziehenden Wolken. Tadelheim, wo wir am Montag nachmittag eintrafen, war ein
Co
riesiger Hort der Einsamkeit. Mehr noch als in Stürmberg hatte ich den Eindruck, die Zeit sei vor Jahrzehnten stehen geblieben. Auf der Kammer roch es nach Eintopf. Ich war hung-
rig. Müde warf ich meine Kleidung auf den Tresen, ging nach nebenan unter die Dusche und schlüpfte nach der
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hastigen Erfrischung in knasteigene Wäsche: Einen aufgearbeiteten blauen Schlosseranzug, der mindestens drei raschte mich schon nicht mehr, um wenigstens zwei Nummern zu groß waren.
oth
Nummern zu klein war und schwarze Schuhe, die, es über-
mr
Eine Tür weiter erwartete mich eine dunkelhaarige
Frau in weißem Kittel vor einem vergilbten Paravant. Das Hände in Gummihandschuhen versteckt.
im
Gesicht hinter einer getönten Brille und Mundschutz, die
Sie saß auf einem Stuhl und befahl mir, auf dem Hocker vor
.T
ihr Platz zu nehmen und die linke Armbeuge freizulegen. Während sie meinem Körper gesundes, tiefrotes Leben ab-
W
nötigte, offenbarte sie, dass ich mich einem AIDS-Test unterziehe. Freiwillig natürlich. Eine Verweigerung hatte zwar keine gravierenden Folgen, doch kam ich zu dem
laf
Schluss, auch ohne die in Aussicht gestellte Absonderung und den roten Punkt an meiner Zimmertür ganz gut zu-
tb yO
rechtzukommen.
Die Bediensteten des Hauses traten mir wohltuend vorurteilsfrei gegenüber. Ihr Empfang war, wie ich ihn so oder ähnlich bereits kannte, betont herzlich und voller An-
rig h
teilnahme. „Hier ist wohl nicht der goldene Westen?“ und „Dann geh doch nach drüben!“ mauserten sich zu Standardsätzen. Sie meinten es nicht wirklich so, sie wussten es einfach nicht anders. Ich trug es ihnen nicht nach, weil
py
ich sehr schnell erkannte, dass das formelhaft und bedarfsgerecht dem entsprechendem Niveau Angepasste
Co
ihnen hilfreich bei der Bewältigung ihres stupiden Alltags war. Dem Ermittlungsrichter, welchem ich vier Tage nach
meiner Einlieferung vorgeführt wurde, legte ich nochmals
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 160 von 160 -
all jenes dar, was ich bereits dem Stürmberger Haftrichter zu Protokoll gab.
oth
Auf meine Frage hin, antwortete er, als bitte er beim Flei-
scher um 100g Leberkäse: „Auf fünf Jahre aufwärts können Sie sich schon mal einrichten.“
mr
Wie großzügig. Bist wohl zu viel allein? Du hast ja keinen
Durchblick, du Einzelkind. Ich habe absolute Spitzenanwäl-
im
te. Die holen mich hier raus. Rucki, zucki geht das, du Amateur! Plötzlich wurde mir speiübel.
.T
„Kann ich so was auch haben?“, fragte ich heißer. „Was?“
W
„Haftbefehl.“ „Bitte?“
„Könnte ich bitte auch einen...“ fehl wollen?“
laf
„Das meinte ich nicht. Ich meinte, was Sie mit dem Haftbe-
tb yO
„Neugier. Ich habe so was noch nie in der Hand gehabt.“ „Sie werden in Ihrem Leben sicher noch genug davon bekommen. Da kommt es auf den einen auch nicht an.“ Ich bin doch aber so sentimental, wollte ich sagen, sagte es aber nicht, sah ihn nur traurig, treudoof oder irgendwie
rig h
blöd an.
„Warten Sie“, und blätterte im Packen unter dem roten Papier des Haftbefehl. „Ich glaube... Ja, hier ist noch eine Kopie. Und hier ist auch ein Brief von Ihrem Anwalt.“
py
Ich nahm die Kopie und den Brief vom Tisch. „Der ist offen!“
Co
Er zuckte mit den Schultern und warf mir strafende Blicke über seine halben Brillengläser zu. Auch so ein Geizhals. „Er hat sein Mandat niedergelegt“, sagte er ohne auch nur eines Funken der Anteilnahme. Mein Mageninhalt trat an zum Appell. „Muss ich den Brief jetzt nicht mehr lesen?“
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„Ihm ist der Weg zu weit.“ Ich faltete den Brief und steckte ihn in die Hosentasche.
oth
Wieder auf meiner Zelle, stürzte ich zur Toilette und gab ihr tüchtig saures.
mr
In der Folgezeit vergrub mich hinter Büchern und
schrieb Briefe, die ich nie absandte, weil mir die Freundin
im
dazu, und auch das Kleingeld für Briefmarken fehlte. Einem Kalfaktor, der sich darauf berief, nicht Hausarbeiter, sondern Stationsarbeiter zu sein, vererbte ich meine
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abendlichen Wurstrationen. Dafür brachte er mir morgens mehrere Tage alte Zeitungen, die andere tags zuvor weg-
W
warfen.
Und während des täglichen Hofgangs lernte ich das ganze Leid unschuldig einsitzender kennen. Es brach mir
laf
das Herz. Für mich bis dahin unvorstellbar, wie viele Männer die Blüte ihrer Jahre unschuldig hinter Mauern
tb yO
verbringen müssen. Sie alle zu trösten, dafür fehlte mir die Kraft. Weshalb ich mich auf Peter konzentrierte. Den mochte zwar keiner, aber das war mir Brust, denn Peter hatte den SPIEGEL abonniert.
Ohne Zweifel war auch Peter ein Justizirrtum, wenn nicht
rig h
gar der Justizirrtum schlechthin. Etwas, das er nicht erklären konnte, trieb ihn, im Juli und August mit einer albernen Wollmütze auf dem Kopf herumzulaufen, in sieben Banken vorstellig zu werden und beim Hinausgehen ein paar Tüten
py
voller Geldscheine ohne Kassenbeleg mitzunehmen. Das gehörte sich zwar nicht, war aber auch nicht böse gemeint.
Co
Und da er sein ungebührliches Benehmen weder sich noch anderen gegenüber erklären konnte, war er eben unschuldig. Einleuchtend - irgendwie. Doch Peter räuberte nicht nur, nein. Als Jurist, der zwischen der vierten und fünften Bank sein Studium
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abschloss, und Sohn schwerreicher Eltern, glänzte er selbstverständlich von Haus aus mit weltmännischem Auf-
oth
treten. Zuweilen ließ er mich bereitwillig daran teilhaben.
„Wenn du kein Moos hast, ist es eh wurscht, ob du einen
guten oder schlechten Anwalt hast. Glaub mir, der eine wie
mr
der andere wird dich verhökern. Die verkaufen drei, vier
oder fünf arme Schweine wie dich, für einen, der anständig
im
was hinblättert. Eben so einer wie ich. Für den legen die
sich dann aber auch richtig ins Zeug. Die anderen rutschen bei den Deals mit Richtern und Staatsanwaltschaft durch
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den Rost. Informelle Absprache nennen wir das. Fächer Minimum fünf Tausender auf den Tisch und verspreche
W
noch mal dasselbe, wenn er dich auf Bewährung rausholt. Glaub mir, der bringt dir persönlich Kaffee und Zigarre ans Bett. Alles Gauner, sage ich dir. Merke dir das gut!“
laf
Ich nickte und schmunzelte über seine verschlagenen Blicke, mit denen er mich in die Untiefen seines
tb yO
Berufsstandes führte, sagte aber nichts. Meist nickte ich nur verstehend oder auch mal zustimmend, ging aber nur selten auf seine Weisheiten ein. Und wenn doch, dann fragte ich irgendetwas, um ihn bei Laune zu halten, lief neben ihm her, lauschte geduldig und
rig h
zählte die Tage bis Freitag. Dann nämlich brachte er mir den SPIEGEL der Vorwoche mit, den ich gierig las und spä-
py
ter gegen Tabak und Wurst weiterreichte. Aufklärung über den Zeitpunkt meiner Entlassung
versprach ich mir Ende November von einem Ausflug ins
Co
Wünschner Polizeipräsidium. Es war das erste Mal, dass ich dem Mief der U-Haft entkam. Und es war auch das erste Mal, dass ich mich über eine Begegnung mit der Bullerei freute. Das ging soweit, dass ich mich dabei ertappte, als ich gedanklich schlimme Worte wie Polizei und Polizist be-
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nutzte. Ausgesprochen habe ich sie natürlich nie, dafür schämte ich mich des atypischen zu sehr.
oth
Rastlos drehte ich kleine Runden in der verkeimten
Wartezelle im Keller des Präsidiums. Ein ausgesucht finsterer Ort, an dem es derart entsetzlich nach Urin stank,
mr
dass ich meine Atmung auf das absolut Notwendigste herunterfuhr, weil ich fest davon überzeugt war, mit jedem
im
Atemzug eine volle Dröhnung zu mir zu nehmen und es
mein Magen gar nicht lustig fände, wenn sich da vor dem Frühstück etwas ihm fremdes einschliche.
.T
Nach sechs Stunden öffnete sich die Tür. Als mein Name fiel, eilte ich hechelnd hinaus auf den hellen Flur.
W
„Sie müssen die lange Wartezeit entschuldigen. Wir haben kurzfristig einen wichtigen Fall dazwischenbekommen“, erklärte einer der beiden Zivilen. Und der andere ergänzte
laf
kryptisch, dass sie von der K 212 seien. „Noch mal Glück gehabt. Ich wollte mir eben ein Taxi rufen
tb yO
lassen“, sagte ich Frischluft konsumierend. In ihrem Büro in der zweiten Etage angekommen, bot mir der kleine weißhaarige Kripomann, der sich als Herr Knapp vorstellte, einen Stuhl an und fuhr fort. „Für eine ausgedehnte Vernehmung zur Sache reicht die
rig h
Zeit heute nicht mehr. Wir werden das am Dienstag nachholen. Jetzt sind nur zwei, drei Fragen zu klären. Einverstanden?“ Einer von uns hat nicht alle Schnitten im Beutel. Was ist
py
das für eine Masche, die ihr hier abzieht? Was, wenn ich nicht einverstanden bin und dir den Rücken kehre?
Co
Ich nickte. Er nickte und sagte: „Ein Rechtsanwalt Mach oder Mauch von der Kanzlei Sperling aus Stürmberg hat uns die letzten Tage mehrfach angerufen. Herr Sperling könne Sie nicht besuchen kommen, weil die Fahrt nach Wünschen zu kostspielig sei. Die Kostenfrage sei wohl noch nicht geklärt. Er
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lässt fragen, ob Sie die Kosten übernehmen. Außerdem wolle er beim Ermittlungsrichter anfragen, ob der Staat zur
oth
Kostenübernahme bereit sei.“ „Der ist schon davongeflogen.“ „Hm. Dann nun zu Ihnen.“
mr
„Ohne Dampf, kein Kampf.“
Er geriet ins Grübeln und ich übersetzte frei: „Darf ich rau-
im
chen?“ „Selbstverständlich.“
„Dann haben Sie bestimmt eine Zigarette für mich.“
.T
Einen Moment sah er mir irritiert in die Augen, lächelte fein und fummelte dabei Packung und Feuerzeug aus der Brust-
W
tasche seines zerknitterten rostbraunen Hemdes. Ich lehnte mich zurück und inhalierte genussvoll. Während der letzten Wochen sammelte ich meine Kippen, öffnete sie
laf
und stopfte das Zeug in ein Tütchen aus Zeitungspapier. Das wirklich widerwärtig daran war, dass es nicht nur aus-
tb yO
sah wie Kinderkacke, es schmeckte auch noch so. „Wo hält sich Luis auf?“ „Luis, wer?“
„Ihr Mittäter. Ihr Zimmergenosse.“ „Auf Genossen reagiere ich empfindlich bis allergisch.“
rig h
„Was ist das für eine Type, dieser Luis?“ „Sie meinen den, mit dem ich ein Zimmer teilte? Der hieß nämlich auch Luis. Hat er was ausgefressen?“, fragte ich neugierig.
py
„Erzählen Sie mir was über ihn.“ „Da gibt es nicht viel. Er trägt weiße Socken, braune Schu-
Co
he und manchmal, stellen Sie sich das mal vor, sogar kurze Hosen.“ „Sehen Sie sich die Fotos an.“ Knapps Partner, den ich schon vergessen hatte, kam von irgendwo aus dem Hintergrund und legte, über meine rechte Schulter gebeugt, drei
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postkartengroße Schwarzweißaufnahmen vor mir auf den „Haben sie ihn erkannt? Ist einer von denen Luis?“
oth
Tisch. Eine von sich und zwei von Luis. Möchte mal wissen, für was die mich halten. Ich zog an
meiner Aktiven, rollte sie zwischen den Fingern, sprang
mr
plötzlich auf, zeigte auf Partners Porträt und rief völlig aufgelöst: „Super, man! Das ist doch... ! Das ist doch... ! Wie
im
heißt er noch gleich! Ich bin ja so aufgeregt! Mein Lieblingsschauspieler! Echt super, eh!“, und setzte mich wieder.
.T
Umsonst abgemüht. Die beiden Spaßvögel verzogen keine Miene. fragte Partner geduldig.
W
„Haben sie ihn nun erkannt? Ist einer von denen Luis?“,
Rückseite?“
laf
„Welcher darfs denn sein? Vielleicht steht was auf der „Er ist es, glauben Sie mir. Wenige Stunden nach der Tat
tb yO
rief er bei seinem Bruder in Wetzlar an. Er bat ihn, bei der spanischen Botschaft nachzufragen, ob gegen ihn in Deutschland etwas liefe. Und von der Botschaft haben wir dann die Fotos erhalten. Vor ungefähr einem Jahr hat er einen neuen Pass beantragt und sie dort hinterlegt.“
rig h
„Soso.“
Und mir erzählte der Sausack, seine Familie lebe in Madrid. Und überhaupt: Hörte sich hier sein Lebenslauf eventuell irgendwie anders an?
py
„Wir wissen, dass er Ihr flüchtiger Mittäter ist“, sagte der Pfiffige und legte mir unter leichtem Druck eine Hand auf
Co
die Schulter. „Neben den hiesigen Ermittlungen läuft noch eine andere da oben gegen ihn - wegen Scheckbetrugs.“ An dieser Stelle schloss sich für mich das Kapitel Luis. Knapp stellte mir noch ein paar Fragen zum Tathergang und entließ mich mit den Worten: „Das Opfer hält sich derzeit bei Freunden versteckt. Er sagt, er habe große Angst.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 166 von 166 -
Wie versprochen, beförderte man mich am Dienstag ten grünen VW-Bus. Nachdem ich meinen Beitrag zur
oth
in die Mettstraße. Wiederum ganz allein in einem vergitter-
Befriedigung ihres Sammeltriebs geleistet, indem ich mich
mr
ihrem Fotografen und nicht minder ambitionierten Klavierlehrer in Personalunion zu Verfügung stellte, begleiteten
im
mich zwei Grüne hoch in die Zweite.
Knapp war, wie schon bei unserer ersten Begegnung, ruhig, freundlich und äußerst freigiebig an
.T
Zigaretten. Sein Partner saß nicht an seinem Platz. Bastelte er an einem neuen Überraschungsmoment? Vorsichtshal-
W
ber setzte ich mich seitlich an Knapps Schreibtisch, so dass ich die Tür mit dem linken Auge im Blick behielt. „Ihre Aussage bezüglich des Schusses, deckt sich mit dem
laf
Gutachten des Landeskriminalamtes. Der Schuss löste sich unmittelbar an der Wand, wobei der Lauf zur Decke
tb yO
gerichtet sein musste, schreibt das LKA. Außerdem stimmt die Hülse, die wir von Ihnen erhielten, mit dem am Tatort gefundenen Projektil überein. Allerdings sagt das Opfer aus, keinen Schuss gehört zu haben.“ „Ist das denn so wichtig? Vielleicht stand er unter Schock
rig h
oder so was. Laut genug war es aber.“ „Eine Zeugin aus dem dritten Stock hat den Schuss gehört.“
„Na bitte, Fall gelöst.“
py
„Als sie den Knall hörte, eilte sie zum Fenster und sah Sie neben einem Auto vor dem Haus. Sie hat Sie anhand eines
Co
Lichtbildes, das wir ihr vorlegten, identifiziert. Das Auto fuhr weg und Sie rannten wenig später in die andere Richtung. Sie glaubte, der Knall rühre von dem Auto.“ „Mit fünf Koffern, Stereoanlage, Videorecorder, Fernseher und Waschmaschine unterm Arm? Und was trug ich in der anderen Hand?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 167 von 167 -
„Keine Waschmaschine.“ „Hoi, keine Waschmaschine?“
oth
„Nein, und auch keine Stereoanlage.“
„Dann kann ich es nicht gewesen sein. Die Zeugin ist geplatzt. Ich weiß nämlich noch ganz genau, dass ich eine
mr
Waschmaschine unterm Arm trug, weil die mir beim Sprint
ständig verrutschte und unangenehm in die Seite drückte.“
im
„Nach ihrer Aussage, führten Sie nichts mit sich. Sie wun-
derte sich noch, dass Sie bei der Kälte keine richtige Jacke trugen. Sie kamen ihr vor wie ein...“
.T
„Zerlumpter Hofhund?“ „Hm, Sandler.“
W
„Scharf beobachtet. Wenigsten haben sich die Diebstähle geerdet“, sagte ich und atmete erleichtert aus. „Hm, da wäre noch etwas: Die Staatsanwaltschaft wirft Ih-
laf
nen vor, Sie hätten mit den Pflasterstreifen, die wir neben der Tür vorfanden, geplant, Ihr Opfer zu fesseln und zu
tb yO
knebeln. Auch, weil wir im Badezimmer ein Telefonkabel mit Doppelschlinge sicherstellen konnten.“ „Schwachfug! Mit dem Pflaster habe ich irgendwann das Schloss innen an der Tür befestigt, weil nichts anderes zu finden war. Und die Streifen, die ich nicht brauchte, habe
rig h
ich an den Sicherungskasten geklebt, weil der zufällig in der Nähe war. Und das Telefon - das klingelte irgendwann mal. Dann wird es wohl auch einen Draht nach draußen gehabt haben.“
py
Knapp runzelte die Stirn. „Hm, im Bericht der Kollegen von der Spurensicherung steht nichts von einem beschädigten
Co
Telefon. Werde ich da noch mal nachhaken.“ „Dann kann ich jetzt nach Hause?“ Er sah nachdenklich vom Blatt in der Schreibmaschine auf. „Sie haben kein Zuhause.“ „Jeder hat ein Zuhause.“ „Die Kollegen in Ramberg haben Sie abgemeldet.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 168 von 168 -
Abgemeldet wie abgeschrieben? Warum sagen die im Westen nie, was sie wirklich von einem wollen. Glaubt
oth
der denn, ich falle auf so eine billige Verarsche rein? Er will mich weichkochen, ganz klar. Aber weshalb? Erwartet der, Zeit hat nicht mal er. „Dann komme ich nicht so bald raus?“
mr
dass ich jetzt losjammer, Rotz und Wasser heule? So viel
im
„Darüber entscheide nicht ich. Das Opfer gibt an, Sie haben mit einer glänzenden, großkalibrigen Pistole auf ihn gezielt. Wo ist die?“
.T
„In eurer Sammlung, nehme ich an. Die glänzende Pistole war ein brünierter Revolver. Außerdem habe ich nicht auf
W
ihn gezielt.“
Ich lehnte mich zurück, streckte die Beine weit von mir und bediente mich aus der Schachtel Zigaretten, die Knapp
laf
leichtsinnigerweise auf dem Tisch hatte liegen lassen. Mir war die Lust vergangen. Das Verhör langweilte mich. Und
tb yO
Knapp sowieso. Er setzte mich nicht unter Druck, hackte nicht nach. Geduldig tippte er mit zwei spitzen Zeigefingern seine Fragen und meine Antworten in eine mechanische Schreibhilfe. Es schien mir, als sei er total vernarrt in seinen Job.
rig h
„Wir sind noch nicht fertig. Da gibt es noch weitere Ungereimtheiten. Zum Beispiel dieses Foto hier“, und legte mir ein Polaroid in die Hand. „Wo ist die Ungereimtheit? Das bin ich“, sagte ich und
py
spürte den verdammten Vorschlaghammer im Magen. „Es lag neben Ihrem Entlassungsschein im Wohnzimmer
Co
der Wohnung des Opfers.“ „Gefällt es Ihnen nicht? Oder wollen Sie andeuten, dass ich so blöd bin und Wohnungen knacke, wertlosen Krempel davonschleppe und als Trost Autogramme hinterlasse? Mit so viel Genialität können Sie bei mir nicht rechnen. Haben Sie sich seinen Schreibtisch vorgenommen? Nichts gehört
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 169 von 169 -
ihm. Fernseher, Stereoanlage, Möbel... nahezu die komplette Wohnungseinrichtung auf Pump - und überall Schulden.
oth
Eine Schublade randvoll mit Zahlungsaufforderungen - oder wie das heißt - und Mahnungen. Selbst der Wagen
gehört nicht ihm. Ich habe nichts geklaut! Na ja, ein HandGold noch diamantenbesetzt! Ich schwöre es!“
mr
tuch, ja. Aber der abgefressene Lumpen war weder aus
im
„Kommen wir auf das Foto zurück“, sagte Knapp unbeeindruckt.
„Warum? Sie sehen doch selbst, dass ich schlief. Augen
.T
zu, Mund auf. Im richtigen Leben laufe ich nicht so blöd herum. Was soll ich dazu sagen? Kann ich noch eine Ziga-
W
rette haben?“
Er gab mir eine und versteckte die Schachtel in der Hosentasche.
laf
„Danke! Ich weiß nicht, wer es aufgenommen hat, warum und wann es aufgenommen wurde. Und ich weiß auch
tb yO
nicht, weshalb es mit meinem Entlassungsschein in der Wohnung lag.“
„War er es? Wollte er Sie reinlegen?“ „Ich bin nicht katholisch.“
„Das soll’s für diesmal gewesen sein. Oder nein, noch
rig h
nicht ganz. Wo ist der Wagen abgeblieben?“ „Wie oft denn noch: Ich habe kein Auto! Ich kann nicht mal Auto fahren. Mach mich doch nicht strafbar.“ „Hm, wir sehen uns dann am Donnerstag. Ich hoffe, die
py
Vernehmung dann abschließen zu können. Das Opfer werde ich nochmals befragen müssen. Seine Aussagen
Co
erscheinen mir nach Ihrer Einlassung doch recht lückenhaft.“ Was habe ich da nur angerichtet? Ich habe doch gar nichts gesagt. Er stand auf und ging zur Tür. Ich folgte ihm.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 170 von 170 -
„Und Ihr Mittäter wird auch bald auf dem Stuhl da sitzen. Wir haben gegen ihn einen internationalen Haftbefehl er-
oth
lassen und an Interpol weitergeleitet“, sagte er und drückte die Klinke runter.
mr
Knapp eröffnete am darauffolgenden Donnerstag
damit, dass er am Tag zuvor unser Opfer ein weiteres Mal
im
vernommen habe.
„Wir haben ihn mit den Pornos konfrontiert. Er sagte aus, dass alle Personen in den Filmen über achtzehn Jahre alt
.T
seien.“ Filme denn nicht angesehen?“
W
„Und ich bin ein bisschen bekloppt. Haben Sie sich die „Dazu bestand keine unmittelbare Veranlassung. Aus einem anderen Grund waren wir gestern vor seiner
laf
Vernehmung noch mal da - die Wohnung ist aufgelöst. Wir wissen aber von den Tatortfotos, dass sich in der Woh-
tb yO
nung Videokassetten befanden.“
„Darüber sollten wir nachdenken.“ Knapp schleppte sich zur Tür, zog sie auf und bellte mürrisch auf den Gang hinaus: „Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.“
rig h
„Das war’s schon?“ „Das war’s!“
Im Moment des Entzuges von Liebe und Freiheit, ist
py
der Mensch lebendig und bei Besinnung. Tage später, Tränen trocknen, die Augen verblassen, die Haut vergilbt,
Co
Aggressionen wachsen, ändert sich auch sein Zeitgefühl. Tage werden länger, Wochenenden dehnen sich bis ins Unendliche. Nichts geschieht, keine Zerstreuung – Trostlosigkeit macht sich breit. Es dominierte der Trübsinn unter den grimmigen Mienen knallharter Jungs.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 171 von 171 -
Das Fenster meiner Zelle befand sich eine Handbreit unter der Decke. Es war mir nicht vergönnt, hinauszuse-
oth
hen. Selbst dann nicht, wenn ich mich auf den Tisch stellte und streckte bis es überall schmerzte. Deshalb bestand meine größte Freude im täglichen Hofgang. Eine volle
mr
Stunde unter freiem Himmel. Ich genoss jede einzelne Mi-
im
nute in vollen Zügen.
Mitte Dezember besuchte mich eine kleine, runde Endvierzigerin. Frau Jamon, auf die mich ein Richter Hoßt
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vom Landgericht drei Tage zuvor sanft vorbereitete. In seiner Verfügung bestellte er Frau Isolde Jamon zu meiner
W
Pflichtverteidigerin. Ja, dieser Richter bestellte Frau Jamon, nicht ich. Er fragte mich auch nicht. Aber das störte mich nicht, denn Frau Jamon war von nun ab nicht einfach
laf
meine Anwältin, sondern meine Pflichtverteidigerin. Es war demnach ihre Pflicht, mich zu verteidigen. Peter und sein
tb yO
angebliches Schmiergeld - beide konnten mich mal da besuchen, wo der Wind kräftig bläst. „Ich wäre gern früher gekommen, aber ich habe die Verfügung erst gestern zugestellt bekommen“, eröffnete sie und rückte unablässig an ihrer viel zu großen Brille herum.
rig h
In der Tat, früher war alles besser. Ich lächelte schüchtern, nickte mitfühlend und dachte, gute Frau, gestern war Sonntag.
„Holen Sie mich raus? Auf Kaution oder so?“
py
„Haben Sie denn Geld?“ Ich schüttelte den Kopf.
Co
Sie lachte theatralisch und laut. „Dann vergessen Sie’s. Kaution ist nichts für Sie“, und grinste ekelhaft herablassend, wobei ihre feisten Wangen das riesige Brillengestell umklammerten. „Sie müssten schon ein dickes Konto haben, wollten Sie das Gericht beeindrucken. Je praller, desto günstiger die Kaution. Je weniger sie anbieten, desto hö-
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her.“ Sie kramte in ihrer Handtasche, barg eine Schachtel „Rauchen Sie?“ „Wer nicht?“ „Bedienen Sie sich.“ schnappte mir fünf der filterlosen Franzosen.
mr
Hemmungslos griff ich zu. Anwälte sind gespickt. Ich
oth
Gauloises und hielt sie mir entgegen.
im
Eingehüllt in eine dichte Tabakwolke schilderte ich ihr meinen Fall. „Mit Waffe?“
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„Ja.“
„Dann kann ich sofort Ihre Pflichtverteidigung überneh-
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men. Andernfalls hätten wir drei Monate warten müssen. Unterschreiben Sie die Vollmacht.“
Ich griff nach Papier und Stift, zögerte aber noch.
laf
„Als erstes werde ich Akteneinsicht beantragen. So wie Sie mir den Sachverhalt dargestellt haben, könnten es mehr als
tb yO
fünf Jahre werden. Machen Sie sich aber darüber keine Gedanken.“
„Ach nein?“
„Nein. Wir werden da mit Hilfe eines Gutachtens raus kommen.“
rig h
„Gutachten? Was für ein Gutachten?“ „Über Ihre Schuldfähigkeit.“ „Verstehe ich nicht.“ „Trunkenheit, Drogen, geistige Verwirrung, seelische Be-
py
lastungen - irgendwas. Der Gutachter wird schon was passendes finden“, sagte sie ungeduldig.
Co
„Dann bin ich schon so gut wie draußen?“ „Unterschreiben Sie jetzt! Ich werde alle acht bis vierzehn Tage nach Ihnen sehen.“ Ich unterschrieb. Auch wenn ich ihre Art nicht sehr mochte, was sie sagte, gefiel mir wirklich gut. Es hatte den Wohlklang von wöchentlicher Kurzweil. Aber auch einen
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 173 von 173 -
zarten Hauch von endlich-mal-wieder-ein-Weihnachtennicht-hinter-Gittern.
oth
Sobald sie in die Akten sehen konnte, unterhalten
wir uns bestimmt ausführlicher. Die heutigen fünf Minuten waren nur zum aufwärmen, zum gegenseitigen beschnup-
mr
pern. Eine echt clevere Mutter ist mir da zugeflogen. Sie
kämpft mit Finesse und allen juristischen Tricks. Einfach
im
alles, was ich von einem Profi zu erhalten hoffte, gibt sie mir.
.T
Ich liebe den Westen!
Leuchtendblauer Himmel und eine hauchdünne,
W
schillernd weiße Schneedecke bedeckte den Hof, zart wie Puderzucker auf dem Tags zuvor verteilten Stollen, der eher ein geschickt getarntes, mehrere Tage altes Weißbrot
laf
war. Entspannt drehte ich meine Runden. Wich leichtfüßig den beiden kleinen zugefrorenen Pfützen aus und genoss
tb yO
die Momente unter freiem Himmel.
Viel zu schnell gingen die sechzig Minuten vorüber. Wie jeden Tag, so auch an diesem Tag vor Heiligabend. Es war als überschritt ich mehrere Zeitzonen, trat ich vom Haus auf den Hof hinaus. Eine ganz gemeine, üble und hinterhäl-
rig h
tige Sache war das: Drinnen schlich, draußen flog die Zeit nur so dahin.
Und an diesem Tag mehr noch als sonst. Am
Schnittpunkt der achtzehnten zur neunzehnten Runde wur-
py
de ich auf meine Station zum Stationsleiter gerufen. „So ist das eben im goldenen Westen. Müsstest dich ei-
Co
gentlich pudelwohl fühlen. Alles wie zu Hause in der Ostzone: feuchter Plattenbau mit Frischluftzufuhr. Und ein Mal täglich kriegst du sogar noch eine warme Mahlzeit. Viel zu gut geht es euch bei uns. Und dann auch noch krumme Dinger drehen und obendrein bei jeder Kleinigkeit rummaulen. Solange du U-Gefangener bist, entscheidet der
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 174 von 174 -
Staatsanwalt, ob du arbeiten darfst. Jetzt will ich nichts mehr davon hören. Raus!“
oth
Wortlos verließ ich das Dienstzimmer und stapfte
leicht verwirrt über den Stationsflur zu meiner Zelle. Von
wegen rummaulen. Ich maule nicht, ich bin zeitkritisch. Je-
mr
der wusste mehr über die DDR als ich. Muss ich noch eine Menge lernen.
im
Während der letzten Wochen stellte ich mehrere
schriftliche Anträge. Zum einen wollte ich raus aus der allgemeinen Lethargie, raus aus der Isolation, wollte
.T
anständig mit anpacken, etwas leisten und dazu auf eine Arbeitsstation verlegt werden. Zum anderen war mal wieder
W
ein Ölwandwechsel dran. Meine Wohnung hielt nämlich so manches bereit, an das ich mich nicht gewöhnen konnte, und auch nicht wollte.
laf
Das einfach verglaste Fenster ließ sich nicht zur Gänze schließen; der Metallrahmen war durchgerostet und
tb yO
an mehreren Stellen gebrochen. Ob im Bett, am Tisch oder auf der Toilette: Vor dem eisigen Luftzug gab es kein entrinnen. Doch so richtig ab ging es, öffnete sich die kleine quadratische Kostklappe inmitten der stählernen grauen Tür. Und das dämliche Teil flog verdammt oft auf, nicht nur
rig h
zur Fütterung. Dagegen kam dann auch der schmalbrüstige Heizkörper, gedrängt zwischen Tür, Waschbecken und Toilette nicht an. Tagsüber gab er sich wirklich Mühe, doch nachts verlor er an Kraft, bis er sich schließlich aus der zu-
py
gigen Ecke zurückzog. Das war dann nicht mehr so furchtbar lustig unter der dünnen Pferdedecke.
Co
Morgens perlte sich Kondenswasser an den Scheiben ab; Übersprang einen fünf Zentimeter breiten Sims und suchte sich seinen Weg entlang der dunkelgrauen Kacheln zur Bodenplatte, wo es sich in einem drei Zentimeter breiten Spalt sammelte und gemächlich versickerte - manchmal.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 175 von 175 -
Eine Silvesterparty im Knast hat nicht nur etwas sehr eigenwilliges, nein, sie ist auch urkomisch. Da purzeln
oth
glimmende Pferdedecken, lodernde Bettwäsche und bren-
nendes Toilettenpapier aus den Fenstern. Zur Begleitmusik mernder Plastik-Klodeckel stimmt ein Chor den
mr
der auf handgefertigten Fenstergitter ausgelassen häm-
Kauderwelsch unzähliger Dialekte und Sprachen seine un-
im
verständlichen Gesänge der Nacht bei. Und geistig
unbelastete Harakirimeister gehen unbeeindruckt ihrem Wunsch nach Vollkommenheit nach, anstatt ein Buch zu
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schreiben.
Letztere hatten ein sensibles Händchen für Stim-
W
mungen. Vor allem schön düster musste es sein. So wie in den Nächten nach Urteilsverkündungen. Noch besser an Heiligabend. Oder eben Silvester, wenn es sich irgendwie
laf
anbot. Die, die immer alles ganz genau nahmen, traten natürlich an ihrem Geburtstag die ganz große Reise an.
tb yO
In jener Neujahrsnacht verabschiedeten sich gleich zwei von meiner Station. Leider waren ihre Zellen auch nicht besser als die meinige. Ein dritter blieb glücklos. Der stellte sich aber auch so was von stümperhaft an. Anhand der Spuren vermuteten wir, dass er seinen dummen Schä-
rig h
del unablässig gegen Wände und die Tischkante geschlagen haben musste. Überall klebte Blut. Bis hoch zur Neonröhre an der Decke. Mit blutverkrustetem Gesicht saß er geistesabwe-
py
send am Boden vor dem Bett seines magenbelastenden Stalls. Ein Ritual? Das Blut, eine Opfergabe? Na gut, viel-
Co
leicht war auch ich nicht ganz klar nach nur drei Stunden Schlaf. Aber das Ding sah wirklich ein bisschen aus wie das zermatschte Karnickel am Straßenrand. Wie auch immer, der Harakiripicasso drei Zellen neben mir hatte, was mir seit einiger Zeit abging: eine tadellose Verdauung. Dafür leckte sein Orientierungssinn. Seine Geschäfte drückte
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 176 von 176 -
er unter den Tisch, hinten links in die Ecke unters Fenster und, wen wundert’s, auf dem Bett ab. Wie einen i-Punkt
oth
säuberlich aufs Kopfkissen gesetzt. Dabei war erst zwei
Tage zuvor Bettwäschetausch. Selbstredend war dem wahren Neandertaler Papier völlig unbekannt.
mr
Nachdem es mit der Höhlenmalerei nichts wurde, probierte er es anscheinend mit erstinken. Hätte er es mal lieber mit
im
Flucht versucht.
Eiligst brachten ihn fünf Schließer fort, als einige von uns anboten, ihm zu seinem Trip behilflich zu sein.
.T
Als ob das nicht schon genügte, verkündete der Stationsarbeiter, auf dem Freistundenhof des Westbau habe
W
sich knöchelhoher schwarzer Morast gebildet. Regen in den Morgenstunden verwandelte den verbrannten Schutt der Silvesternacht zu einem satten Brei. Mein Hofgang fiel
laf
zum ersten Mal aus, und ich wünschte mir den Typ aus
tb yO
dem zugeschissenem Loch zwischen die Finger. An einem verregneten Nachmittag Ende Januar besuchte mich Frau Jamon. Wir saßen in der winzigen Besucherzelle im Ostbau und sie erkundigte sich nach meinem Befinden.
rig h
„Hervorragend!“
„Es ging nicht früher. Über Weihnachten war ich im Urlaub bei meiner Mutter. Das musste mal sein. Es war sehr schön.“ Sie legte einen hellblauen Schnellhefter zwischen
py
uns auf den Tisch. „Das ist eine Kopie der Polizeiakte. Notieren Sie an den Rändern, was Ihrer Meinung nach nicht
Co
den Tatsachen entspricht. Bei meinem nächsten Besuch geben sie mir dann alles wieder mit. Ach ja, das mit Ihrem Gutachten habe ich in die Wege geleitet.“ Ich sah ihr eindringlich fragend in die Augen. Genug gequatscht, schieb den Stoff rüber. Sie begriff und legte die Franzosen auf den Tisch. Kaum hatte die Schachtel die
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 177 von 177 -
Platte berührt, da lag auch schon eine zwischen den Fingern meiner Rechten.
oth
„Das Gutachten kann nur zu unserem Vorteil ausfallen. Die Kosten übernimmt übrigens die Staatsanwaltschaft. Ich
war ihretwegen gestern bei Gericht und habe mit ihr ge-
mr
sprochen.“
Sie schob ihre Brille zurück, blinzelte auf ein am Tischrand
im
liegendes Blatt Papier mit schätzungsweise fünfundzwan-
zig oder mehr Namen, strich meinen durch und sagte ohne ten von der Liste hereinschicken.“
.T
aufzusehen: „Sagen Sie dem Beamten, er kann den NächsIch stand auf, steckte heimlich drei Zigaretten ein, reichte
W
ihr die Hand und verließ die Besenkammer.
„Die hat’s mal wieder eilig, hä?“, fragte der Schließer, dem ich Jamons Auftrag übertrug.
laf
Ich nickte nachdenklich. War gestern nicht Sonntag? „Die hat’s immer eilig. Ist normal bei der. Da ist kaum einer
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länger als zwei, drei Minuten drin.“
So eine Polizeiakte hat es in sich, dachte ich, und erhoffte etwas furchtbar gruseliges. Mindestens aber aufregend oder wenigstens schwer kompliziert. Auf jeden
rig h
Fall etwas anderes, als das, was vor mir auf dem Tischchen meines Zimmers ruhte. Was genau mir vorschwebte, kann ich nicht sagen. Es war eben so ein Gefühl. Etwa so ein Gefühl, das sich einem beim betreten heiliger Museumshallen
py
aufdrängt: Zurückhaltendes Murmeln, gedämpfte Schritte keiner weiß so richtig, was er eigentlich da soll, aber alle
Co
und alles ist schrecklich wichtig. Wer sich dann durch den Gestank aus Bohnerwachs und Achselschweiß schiebt, der kommt schnell zu sich - an der Wand baumeln nur alte Bilder. Und, ja, vielleicht auch irgendwie wissenschaftlicher, ganz bestimmt aber ordentlicher und gepflegter, weniger
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 178 von 178 -
durchgelutscht und oberflächliches Blabla, keine gestelzten Halbsätze und eine Orthografie, die höhere Bildung,
oth
nicht den Drittklässler erkennen lässt.
Doch eigentlich war mir das alles völlig Brust, denn was ich las, beruhigte mich trotz Kaffeeflecke, Zigaretten-
mr
asche und den Fußspuren spazieren gehender Butterbrote ungemein. Zwar fehlten, von dem in der Urschrift über
im
zweihundert Seiten, sechzig, doch gingen aus den verbliebenen einige der Zeugenaussagen sowie die polizeilichen Ermittlungen hervor.
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Mit letzteren stimmten meine Angaben weitestgehend überein. Herr Niedermann, so der Name des Geschädigten in
W
den Protokollen, verwickelte sich in seinen sage und schreibe acht Vernehmungen in immer neue Widersprüche. Angesichts der fehlenden Blätter des ballistischen
laf
Gutachtens, der Fahndungsberichte, den Beurteilungen meiner Person durch die Bullerei und aus den Vernehmun-
tb yO
gen des Opfers rundete sich ein recht verzerrtes Gesamtbild ab. Doch alles in allem sah es sehr gut für mich aus.
Lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis sie mich auf
rig h
die Straße setzen.
Zelle 33 war nicht größer als meine vorherige. Dafür
aber kein Betonloch, viel wärmer und mit einem Fenster, aus dem ich, zog ich den Stuhl heran, auf das Grün des In-
py
nenhofs sehen konnte. Am frühen Morgen des 2. Februar war es soweit. Ich wurde
Co
auf die Station EF0 in den Südbau verlegt. Kaum hatte ich mein Bett bezogen, als mich ein
Schließer holte und durch einen unterirdischen Gang zu den Arbeitshallen hinter dem Ostbau führte. Dort angekommen, wies mir ein ziviler Angestellter zwischen etwa dreißig anderen Knackis, einen Stuhl zu.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 179 von 179 -
Für weniger als siebzig Pfennige die Stunde legte ich den weltmagazin.
oth
Rest des Tages Werbeprospekte für Zigaretten in ein UmGenüsslich malte ich mir nebenher in den schillernsten
Farben aus, was ich mit der geradezu fürstlichen Entloh-
mr
nung am Zahltag anstelle. Tabak, viel Tabak und
Papierchen. Und natürlich ein Feuerzeug. Und Briefmarken war zu teuer. Viel teurer als draußen.
im
und löslichen Kaffee, wenn die Knete reicht. Alles andere Schon am folgenden Tag kam ich Briefmarken und
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Kaffee einen gehörigen Schritt näher. Da nämlich wurde mir eine nicht unbeträchtliche Lohnerhöhung zuteil, die
W
meine Versetzung in die Nebenhalle mit sich brachte. Bei einem Stundenlohn von einundachtzig Pfennigen entgratete ich mittels einer elektrischen Handfräse Gusstei-
laf
le für verschiedene Autohersteller - im Akkord, versteht sich. Darunter war zwar keiner, von dem ich mir jemals,
tb yO
sollte ich es mir eines Tages leisten können, einen Wagen kaufen würde, aber meine Arbeit machte ich trotzdem anständig.
Dass meinte auch der Arbeitsbulle, ein Schließer mit übergeworfenem blauen Kittel, der mir drei Tage später die
rig h
alleinige Endkontrolle aller bearbeiteten Stücke anvertraute. Und diese Weise Entscheidung katapultierte meine Bezüge auf eine volle Mark. Mein erstes Westgeld, für das ich mehr tun durfte als
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dumm glotzen, blödsinnige Fragen beantworten oder auf widerspenstigem Holz herumtrampeln. Echt schade nur,
Co
dass es mir nicht aufs vor Aufregung feuchte Händchen geblättert würde. Lediglich ein dämlicher Zettel sollte es sein. Haben wahrscheinlich nichts bares im Haus. Wohl der Räuber wegen.
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Ich war mir nicht sicher, ob die beiden Uniformen nun mich den beinharten Knacki oder nur wegen der Zivil-
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kleidung, die ich trug, ständig um mich herum lungerten.
Um meine Gesundheit konnten sie unmöglich besorgt sein, sonst hätten sie mir eine Decke oder wenigstens eine
mr
Schafwolljacke spendiert. Naturgemäß ist es Mitte Februar in Mitteleuropa auch tagsüber bitterkalt.
im
Zäh wie sie waren, wichen sie mir nicht von der Seite. Erst als sie eine furnierte Mahagonitür mit einem weißen Pa-
pierschildchen, auf dem in winzigkleiner schwarzer Schrift
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„Landgerichtsarzt Dr. Kurzgarten“ zu lesen war, ohne anzuklopfen öffneten und mich, ahnungslos wie ich war,
W
hineinstießen, ließen sie von mir ab und verkrochen sich irgendwo draußen auf dem Flur.
Als ich dann nach anderthalb Stunden diesem Ort ir-
laf
gendwo in der Innenstadt den Rücken kehrte, überkam mich ein dringlicher Entsorgungsdrang. Allein meine äs-
tb yO
thetische Erziehung sperrte sich, dem Bedürfnis nachzugeben und auf ungeputzte Staatsmachttreter zu reihern. Und dabei empfand ich doch im Verlauf der Fragestunde ein so wunderbar befreiendes Gefühl. Ich saß Kurzgarten gegenüber in einem weichen und so
rig h
was von bequemem Sessel, und er sprach mit mir wie mit einem vollwertigem Menschen. Aber auch das gänzliche fehlen von Knastaccessoires wie Gitter oder Kakerlaken und meine private Kleidung suggerierten mir, mich frei und
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ungezwungen fühlen und sprechen zu können. Gleich nach der Begrüßung hob Kurzgarten hervor, dass er
Co
Arzt sei und ich ihm voll und ganz vertrauen könne. Nichts würde diesen Raum verlassen. Er trug eine Geizkragenbrille, doch keinen weißen Kittel, nicht einmal weiße Socken. Der Druck der Zurückhaltung wich - und ich redete. Nichts neues, denn da gab es ja nichts, dafür aber flüssiger und
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ausführlicher. Ich redete gern. Es machte mir unheimlich viel Spaß. Und es half. Verkrampfungen lösten sich. terbrechung. Ich redete mir Hals und Mund trocken.
oth
Da war ein Mensch, der mir einfach nur zuhörte - ohne Un-
Kurzgarten unterbrach mich kein einziges Mal, stellte nicht
mr
eine Frage, hakte nicht nach, bot mir kein Glas Wasser an. Ich hörte nicht auf, wiederholte und wiederholte mich, nur
im
um dem Ende fern zu bleiben.
Zwanzig Minuten malträtierte er im holzgetäfelten Wohlund ich plapperte und plapperte.
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fühlzimmer meine Reflexe mit einem kleinen Hämmerchen -
Hand zum Abschied hin.
W
Heiser knöpfte ich mein Hemd zu und hielt ihm die „Wie sieht’s aus? Komme ich raus?“
„Ich schreibe meinen Bericht und gebe ihn der Staatsan-
laf
waltschaft. Meine Aufgabe ist hiermit getan“, sagte er, vergrub sich in seiner Schreibtischfestung und öffnete eine
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etwa zwei Zentimeter dicke, in rotbraunen Karton eingeschlagene Mappe.
Eher zufällig sah ich auf das, was er vor sich ausbreitete. Eigentlich interessierte es mich nicht, ging mir schließlich auch nichts an. Doch kaum hatte ich den Gedanken zu En-
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de gedacht, sah ich ein zweites Mal hin. Diesmal genauer. „Stimmt was nicht?“, fragte Kurzgarten und legte beide Unterarme übers Papier. Der Hungerknochen konnte mich mal. Ich griff zu, schnapp-
py
te mir die Blätter und ließ sie blitzschnell durch die Finger gleiten.
Co
„Ich will ja nicht meckern, aber gesagt werden muss es ja: Was ist das für eine gequirlte Scheiße hier? !“ Kurzgarten erhob sich. „Mäßigen Sie sich!“ Ich beugte mich über den Schreibtisch, versetzte ihm einen Puffer knapp unterhalb des linken Schlüsselbeins, schrie: „Platz!“, und ein zahmer, gar nicht mehr so jugendlich wir-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 182 von 182 -
kender Doktor rutschte in seinen hochlehnigen Angeberledersessel, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, sah
oth
an mir vorbei und hielt die fleischigen Lippen verschlossen.
In meinen Händen hielt ich Fotokopien der Brief, die
mr
ich schrieb, aber nie abschickte. Doch nicht nur das, auch
Kopien meiner Anwaltspost. Ich ging um den Schreibtisch
im
herum und baute mich neben ihm auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, jetzt richtig böse werden zu müssen. „Wie kommt das hierher?“
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„Ich weiß nicht“, und machte Anstalten, seinen Sessel nach rechts drehen zu wollen, um sich mir direkt zuzuwen-
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den.
Doch ich hielt das Ding an der Lehne fest. Sollte er sich an mich denken.
laf
doch den Hals verrenken, dann kann er auch morgen noch „Ich meine, ich dachte, Sie wüssten, dass Ihre gesamte
tb yO
Korrespondenz abgelichtet und abgeheftet wird.“ „Bin ich Jesus? Korrespondenz also. Soso. Welche Korrespondenz, bitteschön? Anwaltspost geht verschlossen raus und rein. Und die anderen wissen noch nicht einmal wie ein Briefkasten von innen aussieht.“
rig h
„Das müssen Sie mit Ihrem Richter abklären. Sie reagieren sich am Falschen ab.“ Hinter mir krachte die Tür ins Schloss. Obwohl die bauchige, dunkelgrüne Polsterung auf der Innenseite den Knall
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dämpfte, war es laut genug, meine beiden Leibgardisten zusammenfahren zu lassen.
Co
„Am Falschen. Wie lustig.“ Ich ging. Und ich war sauer. Echt total stinke sauer. Ich ärgerte mich über dieses heimtückische Knochengerüst und auch darüber, dass ich mich von einem blöden Sessel habe übertölpeln lassen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 183 von 183 -
Drei Wochen nach Kurzgarten schaute Jamon vorbei.
oth
„Heute kam das Gutachten vom Landgerichtsarzt - hier“, verkündete sie auffallend ausgelassener Stimmung und reichte mir drei großzügig beschriebene Blatt Papier.
mr
„Und, wer übersetzt mir das? Steht da was von meiner Verhandlung drin?“
im
„Ja, hm, ich weiß auch nicht. Dem Gutachten nach, wird in den nächsten zwei Wochen entschieden, ob Sie auf eine geschlossene Abteilung verlegt werden. Ich kenne den
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Richter. Er ist noch nie von der Empfehlung eines Gutachters abgewichen.“
W
„Was sollte denn geschlossener als Knast sein? Schicken die mich etwa zurück in die DDR?“ „Die Psychiatrie.“
laf
„Ich soll in die Klapse? !“
„Psychiatrie. Ist alles halb so schlimm. Sobald der Richter
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entschieden hat, wird es noch etwa drei Wochen dauern, bis Sie einen Platz erhalten. Nach der Einweisung wird man Sie vier bis sechs Wochen beobachten und im Anschluss ein Gutachten erstellen. Liegt das Gutachten dann der Staatsanwaltschaft vor, dauert es nur noch zwei bis drei
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Monate bis die Anklageschrift geschrieben und der Termin zur Hauptverhandlung angesetzt ist. Bis dahin werden vermutlich weitere zwei Monate vergehen. So in etwa sieht der Fahrplan aus.“
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„Danke, für die Aufmunterung. Ich will das nicht noch einmal mitmachen. Ich brauche kein Gutachten. Was die
Co
treiben, ist verboten. Die sind nicht besser als ich. Nur kriegen die Geld dafür, und mir wird die Wohnung genommen. Nix da, auf Irrenanstalt habe ich echt keinen Bock.“ „Psychiatrie.“ „Darauf auch nicht. Ich will meine Verhandlung. Ich will endlich Klarheit. Und ich will hier raus. Aus!“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 184 von 184 -
„Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Wir haben uns an gewisse Spielregeln zu halten. Ein von der
oth
Staatsanwaltschaft angeordnetes Gutachten muss durchgeführt werden. Das ist zwingend. Machen Sie das Beste daraus. Und unterschätzen sie sein Gewicht vor Gericht
mr
nicht. Es hat keinen Zweck, sich gegen die Anordnung zu
wehren. Es sei denn, Sie bringen einige tausend Mark auf,
im
um von unabhängigen Gutachtern ein Gegengutachten
erstellen zu lassen. In der Regel fallen die anders aus als die der Staatsanwaltschaft. Den Antrag würde ich noch heit. Haben Sie so viel?“
W
„Nicht hier. Auf Zelle.“
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heute einreichen. Zwanzigtausend Mark sind keine Selten-
Jamon riss die Augen auf, ihre Lippen öffneten sich einen Finger breit.
laf
Gelassen zündete ich mir eine weitere Zigarette an und genoss den Augenblick. Glaubte sie denn, ich würde hier
tb yO
sitzen und ihre Franzosen schnorren, hätte ich so viel Kohle? Ihrem Gesichtsausdruck nach, ja. Wirf es weg! „Natürlich habe ich nichts. Wissen Sie, ich sitze wegen Einbruch. Und wo ich rein bin, da gab es keine Goldreserven zu klauen. Da gab es nämlich gar nichts. Das ist
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doch...!“
Jamon erschrak. „Bitte?“ Während ich sprach, las ich quer im Gutachten und erkannte plötzlich, dass mir Kurzgarten ein unaufgeräumtes
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Oberstübchen attestierte. Das war nicht sehr nett. Das war richtig gemein. So gemein, dass mir die Augen tränten,
Co
sich mein Puls beschleunigte und meine feuchten Hände das Papier an den Rändern aufweichte. „Laaa... sen Sie mmm... mir ddd... daaaaaas hier.“ „Geht es Ihnen gut?“ Ich habe keine Aktien, wenn du das meinst. „Und Ihnen?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 185 von 185 -
„Gut. Morgen muss ich zum Landgericht. Gleich in der die Polizeiakte mit.“
oth
Früh komme ich vorbei. Bringen Sie mir das Gutachten und „Mei... meine Anwaltsssspost und aaaa... andere Brie... fe werden kopiert.“
mr
„So was gibt es nicht. Wie kommen Sie auf so was?“
„Bei Kurzgarten. Haaabe ich in der Akte gesehen. Der hat
im
alles zusammengerafft, der Geier.“
Jamon nahm sich eine Zigarette. Es war das erste Mal, dass ich sie rauchen sah. sehen haben“, sagte sie leise.
.T
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer weiß, was Sie ge-
W
„Ich möchte die Ermittlungsakte. Kopieren Sie sie mir?“ „Bei allem Verständnis, aber das geht wirklich zu weit. Den
laf
Aufwand bekomme ich von niemandem ersetzt.“ Die ganze Nacht machte ich kein Auge zu. Ich saß
tb yO
am Fenster, rauchte und blinzelte in das orangene Licht der Knastsonne.
Wo bin ich hier nur hingeraten? Behandelt man so einen Dieb? Ist denn ein bisschen Respekt zuviel verlangt? Eine Schande, dass das Wort eines Menschen, der Aloisius
rig h
heißt so viel Gewicht hat. Er schrieb über einen „Herr W.“. Mit „Herr W.“, meinte er mich. Wirklich wahr! Es tat nicht weh. Nicht sehr, jedenfalls. So lächerlich ist mein Name ja nun auch wieder nicht. Würde ich Schweinarsch oder Kuh-
py
schwanz heißen, na gut. Aber so. Auf der anderen Seite der Mauer war ich meistens Wollter ohne Herr und nur sehr,
Co
sehr selten Herr W. Aber dieser Herr W. hier, der im Westen, der ist gestört. Auch das tat nicht weh, nein, es machte mir Angst. Allmählich fing ich an, mich zu fragen, ob ich mir die Schräglage in der DDR eingefangen habe. Aloisius schrieb in der Betreffzeile seiner psychiatrischen Stellungnahme „wegen Raub“. Das tat auch nicht
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 186 von 186 -
weh, Räuber sein ist schon okay. Hat auch was geschichtliches. Allen Räubern wurde ein Dachschaden angedichtet.
oth
Es wunderte mich nur, weshalb ich nicht mehr unter Verdacht stand.
Doch so richtig schön heftig wurde es, als ich zu den drei
mr
Zeilen kam, in denen er meine Ausbürgerung anzweifelte. Macht nichts, sagte ich mir, bin ich eben vom Himmel ge-
im
fallen, meinetwegen auch vom Klapperstorch vors
Scheunentor gefledert. Wer bin ich denn, einem Dr. med. widersprechen zu wollen. Obwohl, es würde sich mit seiner
.T
Beurteilung decken. In der hieß es nämlich: „Ohne Kenntnis realistischer Hintergrundinformationen, die auch kaum
W
zu erhalten sein dürften, entsteht der Eindruck, dass bei Herrn W. ein ausgeprägtes Wahnsystem vorliegt.“ Wahnsystem? Wer weiß, was das heißt. Vielleicht Wahn-
laf
sinn mit System? Oder nach System? Oder ohne System? Ich bin voll blöd, aber ein System ist nicht zu erkennen. Hat
tb yO
ein System, wer blöd ist? Oder ist er nicht selbst dazu zu blöd? Also ich, ich bin, denke ich mal, einfach zu blöd für Wahnsinn. Und ein System habe ich sowieso keines. Ehrlich wahr! Bin ich doch auch viel zu blöd dazu. Na, schnurzpiepegal. Ein Profi war das jedenfalls nicht.
rig h
Westen, du enttäuschst mich. Die folgenden beiden Nächte schlief ich recht gut,
die dritte dann schon wieder weniger.
py
Als ich Mittag zum Essen auf die Station kam, erhielt ich einen blauen Brief. Überraschung! Post vom Gericht war
Co
meist von einem blauen Umschlag umhüllt. Sollte wohl beruhigend wirken. Tat es aber nicht. Bei niemandem. Es genügte schon etwas blaues in der Hand des Schließers, wenn er in der Tür stand und nach einem letzen Blick darauf artig den Namen des Empfängers aufsagte. Schlag-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 187 von 187 -
artig reagierte der Körper mit einem Flüssigkeitsverlust, der dem nach einem Wüstenmarathon gleichkam.
oth
Die beruhigende Botschaft enthielt einen Beschluss der 25. Strafkammer. Richter Hoßt ordnete an, dass ich
„zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen
mr
Zustand in die Nervenklinik der Universität Wünschen gebracht und dort auf die Dauer von höchstens 6 Wochen
im
beobachtet“ werde, da der „Eindruck entstehe, dass ein
ausgeprägtes Wahnsyndrom vorliege.“ Und hoffnungsvoller: „Zur Abklärung ist eine längere Beobachtung in einer
.T
stationären Unterbringung erforderlich.“ „Die Verteidigerin“, so der Schlusssatz, „des Beschuldigten wurde
W
gehört.“
Na, darüber hätte ich schon ganz gern mehr gewusst. Oder auch nicht, denn Saft spitzt immer aus dem Inneren. Um
laf
ihn genießen, in seinem vollen Umfang erfassen und auskosten zu können, setzte ich mich - auf den Klodeckel.
tb yO
„Die Voraussetzung des § 81 StPO sind erfüllt. Das Gericht hält die Unterbringung gemäß § 81 StPO für unerlässlich. Im Rahmen der Begutachtung sind zu klären die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten und die Frage, ob von ihm infolge seines Zustandes weitere erhebliche
rig h
rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Unterbringung steht auch zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe und/oder Maßregel der Sicherung und Besserung nicht außer Verhältnis.“
py
Stand sie doch! Eine saftige Sicherungsverwahrung bekamen, wenn überhaupt, mehrfache Wiederholungstäter
Co
aufgebrummt. Zeitlebens würden die keine U-Bahn mehr fahren. Schwarz schon gleich gar nicht. Ich aber wollte. U-Bahn fahren macht Spaß. Ich war kein verdammter Wiederholungstäter. Ich war ein Erstling, eine Erstausgabe, eine Eintagsfliege, ein Ersttäter - und ein
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 188 von 188 -
Räuber ohne Beute, der sich freiwillig stellte. Und so schrecklich jungfräulich.
oth
Der Mensch kennt nur vier Triebe: Luft, Wasser, Geld und Sex. Ich lasse sie mir nicht nehmen!
Ulkig, der Beschluss trug das Datum des Tages, an
mr
dem mich Jamon aufsuchte, um mein Herz für die Sonnenseite auf dem Umschlagplatz für Kretinos vorzuwärmen.
im
Das Luder wollte mich doch nicht meucheln? Ein ganz kleines bisschen nur? Schön langsam vielleicht?
Das kannst du nicht tun, Gutste. Das geht nämlich
.T
gar nicht. Du bis meine Anwältin und musst mich beschützen. So sieht’s aus. Besorg mir lieber eine Ohnmacht. Eine
W
ganz sanfte, die mich erst erwachen lässt, wenn die Scheiße hier gelaufen ist.
Ich schleuderte das Papier aufs Bett und überlegte,
laf
was zu tun sei. Eine halbe oder eine ganze Minute dachte ich nach, stand dann auf, eilte in die Zelle schräg gegen-
tb yO
über und schlug dem Typ einen vollen Hammer in seine überraschte Visage. Einen von den allerfeinsten, versteht sich. Das tat gut. Ich rieb mir die Knöchel der rechten Hand und ging zurück auf meinen Klodeckel. Das musste sein. War auch richtig böse gemeint. Außerdem durften Blöde so
rig h
was. Und der Typ hat es auch gebraucht. Der saß, weil er eine Frau vergewaltigt und ihr dabei
ein Messer an den Hals hielt. Die Sau saß schon mal wegen etwas ganz ähnlichem drei Jahre. Diesmal fing er läppische
py
zweieinhalb. Wahrscheinlich verknackten die ihn wegen illegalem Fleischmesserbesitz oder so was. Und mir drohte
Co
ein Qualm von fünf Jahren, und zwar ohne zwangsvögeln. Wer von uns beiden verletzte eigentlich die Würde
eines Menschen? Ich, ganz klar. Holzbretter sind auch nur Menschen. Die Sau nicht. Sein Glück, dass für Frauen und Kinder Würde nicht vorgesehen ist. Sein Pech, dass einige
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 189 von 189 -
wenige wirklichkeitsfremde das einfach nicht gelten lassen wollen. Der Typ sollte viel öfter eine auf die Fresse kriegen.
oth
So wie im DDR-Knast. Kaum war ein Schwein wie er wieder bei Besinnung, hagelte es frische Hiebe. Ich betei-
ligte mich nie. War nicht mein Ding. Jetzt aber wusste ich,
mr
warum sie es taten.
im
Einige Wochen später fragte ich Jamon, was von dem Beschluss zu halten sei.
„Das ist nichts Schlimmes“, antwortete sie mit einem selt-
.T
samen Lächeln.
„Wenn das so ist, dann sagen sie den ehrenwerten Herren,
W
ich könne an dem Ausflug leider nicht teilnehmen, mir ist unpässlich.“
„In eine Nervenheilanstalt eingewiesen zu werden, ist beisie froh.“
laf
nahe ein Privileg. Und viel besser als Strafvollzug. Seien
tb yO
„Das bin ich auch. Sehr sogar. Blöd sein heißt, nichts von seiner Umwelt wahrzunehmen. Es macht mich überaus glücklich, blöd zu sein. Darf ich trotzdem die Sicherungsverwahrung haben? Oder wenigstens eine Ihrer Franzosen?“
rig h
„Entschuldigung!“, und wackelte dabei mit dem Kopf, als wollte sie ausdrücken, wie konnte ich das nur vergessen, ich altes, trolliges Schusseltier, beugte sich zu ihrer Tasche hinunter und brachte eine Schachtel Zigaretten mit
py
nach oben. „Machen Sie sich weniger Gedanken darüber. Denken Sie mehr über Ihre Zukunft nach.“
Co
„Eben genau das tue ich ja. Ist nur etwas komplizierter mit verblödetem Hirn. Geben Sie mir Zeit, mich daran zu gewöhnen.“ Ich klopfte fünf Aktive aus der Schachtel und ging ohne ein Wort des Abschieds.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 190 von 190 -
An meinem Arbeitsplatz erwartete mich ein in Illustriertenpapier eingeschlagenes Päckchen. Ich öffnete es
oth
und murmelte mit einem selbstzufriedenem Lächeln vor
mich hin: „Jetzt könnt ihr ewig auf meine Verblödung warten.“
mr
Auf der oberen der letzten vier Ausgaben des
SPIEGEL klebte ein Zettel. Peter schrieb, dass er verlegt
im
werde und mir sein Radio vererbe. Ich solle gut darauf aufpassen, dass es mir nicht rausgefilzt wird. Sieben Jahre
habe er bekommen und das Urteil sofort angenommen. Der
.T
Glückspilz. Kein schlechter Schnitt für sieben Banküberfälle.
W
In der Unterhose schmuggelte ich es auf mein Zimmer. Es war klein und dennoch viel zu groß. Mein Gang glich dem, der einen schmerzvollen Tritt in die Weichteile
laf
tapfer wegzustecken versuchte.
tb yO
Nachdem am Abend die Lichter ausgingen, verzog ich mich unter die Decke, legte mein rechtes Ohr behutsam auf den Lautsprecher und lauschte mit erregt funkelnden Augen was mir die taschenbuchgroße Freiheit erzählte. Mir war nach tanzen. Doch dafür hätte ich das kleine
rig h
schwarze Gerät aus der Hand legen müssen. Dann aber hätte ich nichts mehr gehört, wonach ich hätte tanzen können. Also blieb ich liegen und zuckte wild mit den Füßen. Stundenlang lähmte ein glückliches Grinsen mein Gesicht.
py
Bis ich irgendwann in den frühen Morgenstunden, überzeugt, niemals so blöd werden zu können, um wirklich
Co
anständig blöd zu sein, friedlich einschlief. Ich horchte mich unter meinen Kollegen um und no-
tierte die Anschriften ihrer Rechtsanwälte. Zum Einkauf bestellte ich reichlich Briefmarken und schrieb siebzehn Kanzleien an.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 191 von 191 -
Einer meldete sich, das heißt, er kam mich an einem Vormittag Anfang April besuchen. In wenigen Worten
oth
schilderte ich den Sachverhalt und Michael Groll gab mir
zu verstehen, dass er Pflichtverteidigungen grundsätzlich nur übernehme, wenn er müsse.
mr
„Wenn ich eine übernehme soll, muss sie mich interessie-
ren und Spaß machen. Ihr Fall hat beides, wie mir scheint.“
im
Sollte nicht ich derjenige sein, der schleimt?
„Ein geplanter Raub ist auszuschließen. Darüber reden wir dann nächste Woche ausführlicher. Überdies ist mir die
.T
Vorgehensweise des Gerichts unerklärlich. Sie sind Neunzehn?“
W
Ich nickte und dachte, dann bringst du hoffentlich Zigaretten mit.
„Sie gehören vor eine Jugendkammer. Das machen wir
laf
schon. Zunächst setze ich mich mit Frau Kollegin Jamon dung.“
tb yO
bezüglich dem Wechsel Ihrer Pflichtverteidigung in VerbinÜber einen besonders festen Händedruck brachte ich ihm meine Dankbarkeit zum Ausdruck. Jetzt ist Schluss mit blöd! Sense! Jetzt übernimmt ein Anwalt. Jamon ist nett, und sie hat Zigaretten. Aber das
rig h
allein genügt nicht. Mich aus dem Schlamassel zu ziehen, dazu gehört auch Köpfchen. Und Tatkraft könnte auch nicht schaden. Ich will nämlich mehr: rasch aus dem Knast.
py
Und endlich Ruhe haben, wäre auch nicht schlecht. Abgesehen von guten Nachrichten, brachte mir Groll
Co
noch etwas mit, das er hätte ruhig wieder mitnehmen können: eine Erkältung. Eine ganz gemeine. Irgendetwas heimtückisches. Wahrscheinlich was aus dem Osten. So gebeutelt wie dieser Tage wurde ich noch nie. Ich
fühlte mich furchtbar alt, ausgetrocknet, schwach und hilflos. Fieber schüttelte meinen kraftlosen Körper,
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 192 von 192 -
unablässige Schweißausbrüche nahmen ihm sogleich, was ich ihm zuführte. Jede Bewegung, selbst der Gang zur Toi-
oth
lette, forderte allerhöchste Anstrengungen ab. Wiederholt würfelte es mich. Beim zigarettendrehen brach mir der
Schweiß aus. Ich schränkte es ein, weil Blättchen teuer und
mr
durchnässte Blättchen nicht mehr zu gebrauchen waren.
Drei Tage hielt ich mich wacker, und - Ehrenwort! -
im
ich hätte bis zum Schluss durchgehalten. Doch Montag
morgen bequatschte mich der Schließer. Das Schlitzohr nutzte meine eingeschränkte Wehrhaftigkeit aus, um mich
.T
zum Arzt zu nötigen. Schließlich folgte ich ihm. Aber nur, weil ich zufällig an diesem Tag vor der Arbeit nichts besse-
W
res zu tun hatte und dachte, ein kleiner Spaziergang am Morgen könne sicherlich nicht schaden.
laf
Zur Lokalisierung des Dämon reichte mir der Arzt, wie einem Dutzend anderer, ein gewöhnliches Fieberther-
tb yO
mometer. Als ich es ihm zurückgab, schüttelte er es ohne einen Blick darauf zu werfen und bescheinigte mir, gesund und arbeitsfähig zu sein. Und obwohl er keine Miene verzog, glaubte ich fest, er wolle mich ein wenig auf den Arm nehmen. Forschend sah ich von der Seite an ihm hoch. Er
rig h
bemerkte es und brummelte etwas in der Art von: „Ich muss meinen Dienst auch antreten, wenn mir die Nase tropft.“
Ich hielt es für einen zünftigen Beamtenwitz, lächelte ver-
Co
py
stehend und ging. Zwei Tage später holte mich ein Läufer von der Ar-
beit. Dr. Stenzel, der für unseren Bau zuständige Abteilungsleiter, habe mich zum Rapport auf die Station beordert, sagte er. Ich kannte Stenzel nicht persönlich und konnte mir auch nicht vorstellen, was einer, über den ich
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 193 von 193 -
noch nie jemanden auch nur ein gutes Wort sagen hörte, ausgerechnet von mir wollte.
oth
Vor einigen Monaten habe ihn das Ministerium von
Raubing nach Tadelheim versetzt. Er soll es eine Kleinigkeit zu wild, insbesondere im großzügigen Umgang mit
mr
Hausstrafen, getrieben haben. Womit er bei den Lebens-
länglichen nicht durchkam, setzte er in Tadelheim um. Un-
im
tersuchungshäftlinge sind ja so wunderschön wehrlos.
„Nimm dich in Acht vor ihm“, nervte mich einer, der neben mir übertrieben lässig an der Wand gegenüber des
.T
Rapportzimmers lehnte und ebenfalls darauf wartete, sein Päckchen abzuholen.
W
„Das ist ein verdammtes Arschloch. Der hasst Knackis, weißt. Wegen seiner Alten. Die hat mal mit nem Knacki rumgefickt und is auf’n Geschmack gekommen. Jetzt „Wer tut das nicht?“
laf
schafft die alte Sau an.“
tb yO
Was sollte schon sein? Zuschulden habe ich mir nichts kommen lassen. Oder... oder...? Scheiße, die haben mein Radio gefunden! Oder hat mich die Sau angezeigt? Körperverletzung? Na, und wenn schon. Brust! Aber mein Radio. Die Schweine haben mein Radio rausgefilzt. Schei-
rig h
ße! Scheiße! Scheiße! Muss ich mich gleich um ein neues Radio kümmern. „Verkaufst du dein Radio?“, fragte ich den Schwätzer.
py
Er schüttelte den Kopf. Und dann ging die Tür auf und mein Name fiel. Plötz-
Co
lich spürte ich jeden Muskel, jede Sehne meiner Beine. Ich machte drei Schritte - und Muskeln und Sehnen und Knochen lösten sich auf, wurden zu Pudding. In der Bürozelle, hinter dem Schreibtisch, saß im ein-
fallenden Sonnenlicht Klausi. Echt wirklich wahr. Der Pudding schmolz, obgleich ich fror. Klausi, du bist mir ja
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 194 von 194 -
vielleicht einer. Um Haaresbreite wäre ich auf diesen miesen Trick hereingefallen.
oth
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war erschreckend frappant. „Sie wissen, weshalb Sie hier sind?“
mr
Ich schüttelte den Kopf. Hältst du mich wirklich für blöd genug, auf so eine dämliche Frage zu antworten? Jetzt
im
weiß ich aber, dass du nicht Klausi bist. Brauchst gar nicht mehr so zu tun. Deine Stimme, und nur die, hat dich verraten.
.T
Zur Linken des falschen Klausi saß der Arzt, und neben ihm Klörr, der Dienstleiter meiner Station. Rechts von
W
mir, gleich neben der Tür, eine mir unbekannte dicke Tante, die sich Sozialarbeiterin schimpfte. Ich durfte stehen. War ja auch der Jüngste.
laf
„Weil Sie einen meiner Beamten auf das Gröblichste beleidigt und beschimpft haben!“, schrie Stenzel unvermittelt
tb yO
los und rezitierte übergangslos aus der Stellungnahme des Arztes, über den ich nun erfuhr, dass er eigentlich Sanitäter war.
„Das muss eine Verwechslung sein“, sagte ich gelassen. Natürlich war es eine Verwechslung. Aber so was gibt man
rig h
doch nicht zu. Schon gar nicht in Gegenwart eines Knacki. „Verwechslung!“ Angriffslustig schob er sein Kinn nach vorn.
Er sprach überhaupt mit dem ganzen Gesicht. Hat Klausi
py
nie getan. Betonte seine Worte mit aufgerissenen oder zusammengekniffenen Augen, hochgezogenen Brauen;
Co
unterstrich seine Sätze mit zuckenden Nasenflügeln und bediente sich einer ausgesucht asphaltierten Sprache. Unbeeindruckt sah ich ihm fest in die Augen. „Exakt. Ich konnte das gar nicht gesagt haben, weil ich überhaupt nicht sprechen konnte. Ich war so heiser, dass
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 195 von 195 -
ich bis gestern keinen Ton raus bekam. Sie hören selbst, das mir das Sprechen auch heute noch schwer fällt.“
oth
Der Sani behauptete mal so nebenbei, ich habe ihn mit „Du Schwein, gib mir eine Krankmeldung!“ und „Du kannst
mich doch am Arsch lecken!“ beschimpft. Er aber habe mir
mr
angeboten, mich beim Arzt anzumelden. Doch ich hätte ab-
gelehnt und ihn beleidigt. So einer bin ich also. Ich schäme
im
mal ganz fix.
Irgendetwas sagte mir, hier kommst du nicht mehr heil raus. Ich fror noch mehr. Und ich zitterte. Ganz leicht.
.T
„Außerdem ist diese Ausdrucksweise nicht mein Stil. Ich gebe mir stets Mühe, ein gutes Deutsch zu sprechen. Der
W
Verständigung wegen. Den Sani habe ich nicht aufs Gröbste beleidigt. Ich habe ihn nämlich überhaupt nicht beleidigt, weil ich leider kein Wort sprechen konnte. Er hat sich ge-
laf
täuscht. Kann doch mal vorkommen.“ „Eine bodenlose Frechheit, die ihresgleichen sucht! Ich
tb yO
kenne diesen Herrn seit langem. Noch nie gab es auch nur eine Beschwerde.“
Tante Gerda hätte das nicht besser sagen können. Plustere dich nur nicht so auf, so wichtig bist du nicht, alter Haubentaucher.
rig h
Vorsichtig lugte ich unter den Tisch: keine braunen Schuhe. Noch mal Glück gehabt. „Gestern hätte ich das noch geglaubt. Im Fieberwahn.“ „Halten Sie Ihr Mundwerk! Dieser Mann ist ein vorbildlicher
py
Bürger!“
Nicht mein Problem. Dafür gibt es Ärzte.
Co
„Auch ich bin ein Bürger.“ Stenzel blätterte in einem vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Hängehefter. „Ihnen...“, und scheffelte Luft, „Ihnen werden sämtliche staatsbürgerlichen Ehrenrechte abgesprochen! Verbrecher dürfen bei uns nicht wählen!“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 196 von 196 -
Wenn’s nur das wäre. Ich zeigte mit dem Finger auf das suchungsgefangener bin und...“
oth
Papier. „Steht da auch was darüber drin, dass ich Unter„Das reicht jetzt! Schluss! Mit Ganoven wie Ihnen mache
ich kurzen Prozess! Vierzehn Tage Arrest! Verschärften Ar-
mr
rest! Sieben Tage Hofgangsperre! Arbeitsentzug und
Anzeige bei der Staatsanwaltschaft wegen Beleidigung!
im
Und jetzt raus mit ihm!“
Die Mischung macht’s: Kurz, ja. Prozess, nein. Recht so. Gib es mir.
.T
„Brust!“ „Bitte? !“
W
„Über mich gab es bisher keinerlei Klagen. Weshalb sprechen Sie mir Hausstrafen in einem Umfang aus, die selbst ein Ausbrecher nicht bekäme?“, fragte ich, kratzte mir seeRitze.
tb yO
„Raus mit dem!“
laf
lenruhig am Hintern und popelte meine Unterhose aus der
Bevor mir die Türklinke aus der Hand rutschte, fragte ich mich noch schnell, wofür er eigentlich die drei Statisten brauchte?
rig h
Natürlich nahm ich ihn nicht ernst. Sobald er sich beruhigt hat, wird ihm dämmern, dass er den Falschen anpinkelte. Oder hat er vor der Sozialarbeiterin auftrumpfen wollen? Vielleicht stand er ja auf überdimensionale Ärsche
py
und Titten, um die sie jeder Kürbisbauer beneidete. Aber warum suchte er für seine Sauereien ausgerechnet ein
Co
empfindsames Gemüt wie mich aus? Ja, gibt’s denn so was. Wie auch immer: Mein Radio haben die jedenfalls nicht. Keine Stunde war vergangen, als mir unmissver-
ständlich klargemacht wurde, dass Stenzel ein Mann der Tat war.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 197 von 197 -
„Pack dein Zeug!“, forderte mich der diensttuende Schließer auf.
oth
Ich stand am Fenster meines Zimmers und sah zum Himmel empor. Sieht nach Regen aus. „Packen?“
mr
„Wirst auf EF eins verlegt. Bleibst in Doktor Stenzels Zuständigkeitsbereich. Er will es so.“
im
„Ach so.“ Was der nicht alles will. „Da liegen Nichtarbeiter.“ „Eben, drumm.“
.T
Zum Hofgang wird es bestimmt regnen. Etwas wunderbares, im lauwarmen Regen spazieren.
W
„Kannste vergessen.“
Ganz so alt, wie ich dachte, war er wohl doch noch nicht. Zehn Minuten später flog die Tür auf und knallte an die
laf
Mauer. Erschrocken wandte ich mich um und konnte ein kurzes, aber heftiges Auflachen wirklich nicht mehr recht-
tb yO
zeitig herunterschlucken. Drei in ihre dunkelblauen Uniformen gefressene, bierbäuchige Opas walzten herein und bauten sich vorn auf - hintereinander. „Komm jetzt!“, befahl einer schroff. „O, i … i … ist das ein Ton hier. Euch brauchen se wohl
rig h
nicht mehr?“
„Anordnung von Doktor Stenzel: Notfalls mit Gewalt und gefesselt aus der Zelle holen und in den Bunker werfen.“ „Werfen? Gehört sich das?“ Und dazu schickt er seine Alt-
py
herrenriege vor? „Wollt ihr mich jetzt verhauen? Grrrrr!“ „Lass die Fax’n. Komm, aufi geht’s!“
Co
Wer kann dazu schon nein sagen? Ich werde mir von niemandem nachsagen lassen, zügellosen Greisen auf die Kassenbeißer geboxt zu haben. Ich packte und folgte ihnen, um kurze Zeit später wieder in meiner alten Wohnung zu landen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 198 von 198 -
War es das, was einen running Gag ausmachte? Ihre generalstabsmäßig durchgeplante Invasion wies einen winzig
oth
kleinen, eigentlich völlig unbedeutenden Makel auf: Die E-
tage obendrüber knauserte mit leerstehenden Zellen. Also
brachten sie mich zurück und warfen schnell mal einen aus
mr
seinem Zuhause. Tja, ohne die richtigen Beziehungen läuft
im
im Knast rein gar nichts.
Noch am Morgen ging ich zufrieden meiner Arbeit nach - und plötzlich sah ich mich auf einer Station mit einer
.T
täglich dreiundzwanzig stündigen verschlossenen Tür vor der Nase wider. Ich fühlte mich einen Augenblick, als habe für einen Moment aufs Bett.
W
mich eine Abrissbirne gestriffen. Niedergeschlagen fiel ich
ein ganz großes.
laf
Na gut, dann ist Stenzel eben doch ein Arschloch. Aber nur
tb yO
Wirre Gedanken überfluteten mein Hirn währenddem ich die sieben Trippelschritte zwischen Tür und Fenster auf und ab schritt. Das Zimmer war genau so groß wie mein vorheriges. Und doch erschien es mir sehr viel kleiner. Der Boden schwankte. Bedrohlich kamen sie auf mich zu: Erst
rig h
die Wände, dann die Decke, dann Wände, Decke, Boden sie nahmen mir die Luft zum atmen, erdrückten mich. „Scheiße!“, schrie ich und schlug mit der Faust auf den Tisch, weil ich zum wiederholten Male kurz hintereinander
py
gegen die auf Betonstützen befestigten Bretter des Bettes,
Co
Tisches und Sitzes stieß. Auch während der Nacht fand ich keine Ruhe. Mein
Körper entspannte sich, doch unter der Schädeldecke tobte ein Hurrikan. Ich grübelte und grübelte und grübelte. Und obwohl ich zuweilen das Gefühl hatte, alles liefe doch nur an mir vorbei, war ich bei Sonnenaufgang fest davon
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 199 von 199 -
überzeugt, die Lösung meines Problems gefunden zu ha-
oth
ben: irgendwie musste ich mir Gehör verschaffen. Ohne mit der Wimper zu zucken übergab ich am
Morgen, als sich die Tür zum verteilen des Morgenkaffees
mr
öffnete, dem Schließer einen an den Anstaltsleiter adressierten Rapportschein. Darin zeigte ich ihm meinen an
im
diesem Tag beginnenden Hungerstreik an und bat zugleich
um Überprüfung der Vorfälle und Hausstrafen, insbesondere des Arbeitsverbots.
.T
Er las den Zettel, faltete ihn und schlenderte weiter zur nächsten Tür.
W
Also, etwas sagen oder wenigstens grimmig schauen hätte er schon können. Schließlich habe ich die ganze Nacht
laf
darüber gebrütet.
Selbstverständlich war unser Morgenkaffee kein
tb yO
richtiger Kaffee, so mit Bohnen aus Kolumbien oder so. Die hellbraune Brühe hieß nur so. Machte sich auch besser auf dem Speiseplan. Der hieß nämlich auch nur so. Im Knast gibt es keine Speisen, nur etwas Essbares - zur Lebenserhaltung.
rig h
Täglich boten sie mir etwas von dem Essbaren an, doch ich lehnte dankend mit einem Lächeln ab. Es sättigte mich, dass drei Mal täglich drei Schließer mein Zuhause filzten. Ich konnte mir nicht erklären, wonach sie suchten.
py
Vielleicht nach gebunkerten Lebensmitteln? Aber woher sollte ich die haben? Sie fanden natürlich nichts, und doch
Co
suchten sie mich jeden Tag aufs Neue heim. Davon abgesehen machte es mich auch mächtig satt, dass weder der Anstaltsleiter noch Groll, den ich immerhin zwei Mal anschrieb, von sich hören ließen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 200 von 200 -
Als sich am Vormittag des sechsten Tages meines Hungerstreiks die Tür öffnete und ein Schließer „Zum
oth
Arzt!“ befahl, fühlte ich mich von der Qual des nichts essens befreit. Mir war natürlich sofort klar, dass es nicht
zum Arzt ging. Musste ja nicht jeder wissen, dass mich der
mr
Anstaltsleiter an seinen Tisch bat. Diese Heimlichtuer wa-
ren ein offenes Buch für mich. Ganz klar, dass die erst mal
im
abwarteten, ob ich mir nicht doch bald wieder den Bauch
voll schlage. Zu diesem Zweck schickten sie drei Mal täglich ihre Spione vorbei. Was sie anscheinend nicht
.T
wussten, nach dem dritten Tag verspürte ich keinen Hunger mehr.
W
So einfach ist das alles nicht, meine Herren. Ich heiße nämlich James, nicht Hermann. Hermann ist der, der
laf
umfällt, nicht ich.
Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte ich auf der
tb yO
Schwelle zum Arztzimmer. Das reichte, um mich zu fragen, ob es wirklich und wahrhaftig geschah oder ich mich vielleicht doch im Delirium oder so was befände. Sie trug, was ich auf alten Fotos an meiner Oma sah, als sie nach Kriegsende die Trümmer einer verlorenen
rig h
Schlacht beseitigte. Lag wohl am selben Jahrgang, dass sie auf derbe, braune, absatzlose Schuhe, grobe Wollsocken und kurzgeschorenes Haar abfuhr. Ein sehr schlichtes, ein auffallend geschmackloses Mädchen, das
py
da mit gebeugtem Rücken saß. Ohne sich mir zuzuwenden, forderte sie mich auf,
Co
Platz zu nehmen. Dass sie der Anstaltsleiter war, war ohne Hermann nicht sehr wahrscheinlich. Aus selbem Grund schied auch der Alchemist aus. Aber war sie Ärztin? „Sie verweigern seit drei Tagen die Nahrungsaufnahme?“ „Nun ja, genau genommen sind es erst sechs.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 201 von 201 -
„Nach meinen Unterlagen sind es drei. Und so trage ich es auch ein. Weiterhin muss ich Sie darüber aufklären, weil es staltsärzte keine Pflicht zur Zwangsernährung haben. Wollen Sie sich wiegen?“
oth
unser Strafvollzugsgesetz nun mal so will, dass wir An-
mr
„Damit ich in eine unwiederbringliche Depression stürze?“ „Dann können Sie wieder in Ihre Zelle.“
im
Reife Leistung. Meine Hochachtung, Gnädigste! Das ra-
schelnde Filzkostüm sah nicht ein einziges Mal von ihrem Schreibtisch auf. Thronte da und kritzelte irgendwas auf
.T
Papier.
Gott, es kann doch nicht zuviel verlangt sein, mir wenigs-
W
tens die Griffel rüberzureichen. Musst mir ja nicht gleich alles Gute, Gesundheit und ein langes Leben wünschen.
laf
„Im richterlichen Auftrag wird Ihnen mitgeteilt, dass kein sachlicher Grund besteht, die Pflichtverteidigerin aus-
tb yO
zutauschen. Das sieht auch die Staatsanwaltschaft so“, stand in dem blauen Brief, welchen mir am zwölften Hungerstreiktag eine körperlos Hand durch die Kostklappe reichte.
Plötzlich bemerkte ich einen sehr strengen Geruch.
rig h
War es das Mittagessen, dessen Geruch sich heimlich in meine Zelle schlich? Oder qualmten mir nur die Socken? Ein zweites Mal las ich den Brief. Ich bekam ja sonst nie Post. Und ein drittes Mal. Ich bekam eigentlich fast nie
py
Post. Kein versteckter Hinweis. Nichts, dass mir verriet, hier triebe jemand einen üblen Scherz mit mir. Dann waren
Co
es wohl doch die Socken. Für eine Ohnmacht war ich noch nicht schwach genug. So griff ich eben auf ein verzweifeltes Lachen mit Tränen in den Augen zurück. Am Morgen danach warf ich das Handtuch. Doch nicht, weil ich schlank genug war, o nein! Die Wade meines
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 202 von 202 -
rechten Beines nahm während ich schlief reis aus. Echt wahr, so was gibt’s. Als ich aufwachte und zum üblichen
oth
elastischen Sprung aus dem Bett ansetzte, um mir meinen Morgenkaffee abzuholen und Schließer und Kalf zu beeindrucken, was für ein fitter Bub ich bin, war die Wade weg.
mr
Ich tanzte - zugegeben, nicht sehr elegant - und stürzte,
verzweifelt mit den Händen Halt suchend, neben das Bett.
im
Das sah bestimmt nicht sehr durchtrainiert aus. Und ge-
sund auch nicht so richtig. Unerschrocken tastete ich mich am Boden liegend zu der Stelle vor, an der ich meine Wade
.T
wähnte. Aber da war... irgendwie... war da nichts. Kein Muskel. Nichts. Nur eine wie Götterspeise unlustig herum-
W
schwabbelnde Masse.
„Komm hoch, wir gehen zum Arzt“, sagte der Schließer in zu hören.
laf
meinem Rücken und ich glaubte, Mitleid aus seiner Stimme „Kann ich vorher was zu essen haben?“, flüsterte ich.
tb yO
Ich futterte vier Scheiben trockenes Schwarzbrot, putzte mir die Zähne, zog mich an und bewegte mich an der Seite des Schließers zum Arzt. Meinen Fuß konnte ich zwar aufsetzen - oder sagen wir mal, er berührte den Boden -, aber nicht über den Ballen abrollen.
rig h
Es musste zum schreien tollpatschig gewirkt haben wie ich an den Wänden tastend die Flure auf dem linken Bein entlanghüpfte.
Im Arztzimmer empfing mich der Arzt, der kein Arzt
py
war.
„Vitamin-B-Mangel. Selbst Schuld!“, diagnostizierte der
Co
vorbildliche Bürger Sanitäter durch Auflegen der Hand. Mit drei rotbraunen Kapseln, die meiner Wade neuen
Schwung einhauchen sollten, trat ich den Rückzug an. Na ja, eigentlich trat ich nicht, ich hoppelte.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 203 von 203 -
Irgendwann kam ich wieder in mein Zimmer. Ich warf mich aufs Bett, las in Tolstois „Anna Karenina“ weiter und
oth
fieberte dem Mittagessen entgegen. Es gab Linseneintopf mit einem Scheibchen Bauchfleisch - und nur für mich einen Glückskeks. Den hob ich mir natürlich für später auf.
mr
Erst löffelte ich die Schüssel leer. Es war ja so schön, so angenehm warm im Bauch.
im
Dann riss ich den blauen Glückskeks auf.
Sieh an, sieh an, der Herr Ermittlungsrichter schreibt mir also: „Wird folgende Hausstrafe nach § 119 Abs. 3, 4 StPO
.T
in Verbindung mit Nr. 67 ff UVollzO verhängt: 14 Tage Arrest, 7 Hofgangsentzug, 14 Tage Verkehrsbeschränkung
W
auf dringende Fälle“, weil ich „Zu dem Sanitätsbeamten sagte: Ich Schwein solle ihn krankschreiben, weil er nicht Arsch lecken.“ Wer nun wen?
laf
arbeiten will, ich sei nicht richtig im Kopf und solle ihn den
tb yO
„Der Untersuchungsgefangene hat dadurch schuldhaft gegen die Ordnung der Anstalt verstoßen.“ Auch noch? Meine Zelle ist immer aufgeräumt, und für den Rest bin ich nicht zuständig. Jaja, erzähl mir nur mehr von zu Hause. Soso, Verkehr also nur in dringenden Fällen.
rig h
Darf ich mal kräftig lachen? Ich kann gar nicht Auto fahren. Oder... natürlich, bist in der Zeile verrutscht und zitierst aus deinem Ehevertrag. Wow - bist ein toller Hecht! Leckt mir einfach alle mal am Arsch. Aber mit Gefühl.
Co
py
Und schön lange. In den frühen Morgenstunden des 2. Mai brachten sie
mich in die Mettstraße. Ich wusste nicht, was auf mich zukam. Ich ahnte nur, dass mich etwas ganz besonderes erwarte, denn ich musste meine Privatkleidung tragen. In der Wartezelle stank es noch immer so penetrant. Bullen
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 204 von 204 -
trennen sich anscheinend nicht gern von liebgewordenen Gewohnheiten.
oth
Nach drei Stunden erlösten mich zwei Zivile und
brachten mich in einem VW-Bus zum Mozart Platz 4. Ir-
gendwas von Außenstelle der Universitäts-Klinik sowieso
mr
verriet das verwitterte weiße Schild am Eingang.
Geschickt dirigierten mich meine schweigsamen
im
Aufpasser ins zweite Obergeschoss und dort linkerseits
durch eine Glastür. Im Korridor, auf dem sich zwei Stühle an einem kahlen Tischchen langweilten, befahlen sie mir,
.T
einen der beiden zu besetzen. Sie selbst postierten sich vor dem Eingang, der aus meiner Sicht natürlich der Ausgang
W
war. Neugierig geworden, wartete ich eine Stunde. Bis endlich die Tür zu meiner Rechten aufging und sich mir schlenkernd ein Typ näherte. Er begrüßte mich mit einer
laf
knappen Kopfbewegung, stellte sich mit Radophil vor und sah missbilligend auf den Edelstahl an meinen Handgelen-
tb yO
ken. Spornstreichs kam einer der Türwärter, unruhig in der Hosentasche wühlend, auf uns zu und befreite mich. Dr. Radophil, der sich selbst wissenschaftlicher Assistent nannte und aus irgendwelchen Gründen
rig h
verschwieg, wem er beistand, war etwa fünfunddreißig Jahre, dunkelhaarig, gerade noch schlank und drei Daumen kleiner als ich. Sein permanentes Grinsen, das ich nicht einordnen konnte, und so auch nie wusste, ob er mich nun
py
anlachte oder verspottete, ging mir schwer auf den Docht. Und es bedrohte mich auch, weil ich trotz intensivsten for-
Co
schens kein Fünkchen Wärme in seinen Augen entdeckte. Sein Büro, das ein Schild an der Tür als Behand-
lungszimmer auswies, war einfach nur ein Saustall. Der verstieß nun wirklich gegen Ordnung und Sicherheit. Vor allem meine.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 205 von 205 -
Er bot mir den einzigen Besucherstuhl an. Ein ebenso hartes wie unbequemes, weil durchgesessenes
oth
Ungetüm, vor seinem mit allerlei Büchern, Akten und anderem Kram überladenen Schreibtisch. Es war ein kleines
Zimmer von höchsten 16 qm. Und furchtbar eng. Überall, Fleckchen, stapelten sich Dutzende Kartons.
mr
selbst neben meiner Sitzgelegenheit, auf jedem freien
im
„Wenn Sie nicht möchten, dass ich das, worüber wir in den
nächsten Tagen sprechen, der Staatsanwaltschaft berichte, bleibt selbstverständlich alles unter uns“, eröffnete er.
.T
Ich nickte und wusste nicht, weshalb. In den nächsten Tagen? Staatsanwaltschaft? Wovon, zum Teufel, sprach der
W
Typ?
„Wenn Sie mir freundlicherweise auch noch sagen könnunterhalten?“ „Sie wissen es nicht?“
laf
ten, weshalb Sie so scharf darauf sind, sich mit mir zu
tb yO
Reichlich blöde Frage für einen Doktor. Passt aber gut zu dem abartigen Grinsen.
„Hätte ich sonst gefragt?“
„Ihr Gutachten. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft soll Ihre Schuldfähigkeit zur Tatzeit gutachterlich festgestellt wer-
rig h
den.“
„Festgestellt? Ist demnach schon alles klar. Soso. Also, heute - Monate danach? Den Firlefanz können wir uns sparen. Ich brauche kein Gutachten. Ich stand weder unter
py
Drogen noch war ich besoffen. Ich weiß sehr genau, was ich verbockt habe. Vergessen Sie’s“, und erhob mich.
Co
„Das tut nicht weh.“ Wäre ja auch noch schöner. „Gutachten is nich!“ „Lassen Sie uns doch...“ „Abfahr’n!“ „... erst einmal in Ruhe darüber reden.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 206 von 206 -
Was, erst später laut? „Es geht allein um Sie.“ Wenn dir so viel an mir liegt, dann lass mich raus und langweile mich nicht mit deinen scheiße Sprüchen.
mr
„Lassen Sie mich raus, wenn ich blöd genug bin?“
oth
„Abfahr’n!“
„Das können wir nicht. Setzen Sie sich bitte wieder. Der
im
Richter hat das letzte Wort. Sie stellen sich das etwas zu
einfach vor. Dass Sie weder unter dem Einfluss von Alkohol noch unter dem von Drogen standen, weiß ich bereits.
.T
Aber das Gutachten müssen wir dennoch machen. Die Staatsanwaltschaft hat uns beauftragt und zahlt dafür“,
W
und breiter grinsend als bisher, „Sogar sehr gut.“ „Na, wenn das kein Argument ist.“ Schritt weiter.“
laf
„Ich fürchte, ihre ablehnende Haltung bringt uns keinen Uns nicht, aber mich. So was tun wohl blöde gewöhnlich
tb yO
nicht? Bin ich jetzt ein Ausnahmeblöder? Oder ausnahmsweise blöd? Weißt du, ich fürchte mich nämlich auch. Vor dem, was eine Träne wie du aus meinem Leben machen kann.
„Es liegt Ihnen sehr viel an meiner Gesellschaft, stimmt’s?“
rig h
„Bitte setzen Sie sich wieder.“ Schätze, Widerstand mal wieder zwecklos. Brust! Warum dann streiten? Ich setzte mich. „Na gut, wenn ich schon mal hier bin, bringen wir es hinter
py
uns. Ich möchte aber rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein.“
Co
„Danke!“ „Jederzeit, Chef!“ Und jetzt sei artig und hör, verdammte Scheiße, endlich mit diesem albernen Gegrinse auf. Kein Wunder, dass ich einen Hau wegkriege. Bei dem Anblick muss einem ja das ganz große Grausen kommen. „Der Reihe nach. Morgen werden bei einem EEG...“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 207 von 207 -
„Soso, EEG also.“ „Unterbrechen Sie mich nicht! Ja, EEG. Dabei werden Ihre
oth
Gehirnströme gemessen.“
„Oh, Gehirnströme. Klingt aber gut. Wirklich verlockend. Wird mir der Deckel aufgebohrt?“
mr
„Nein! Und unterbrechen Sie mich bitte, bitte nicht andauernd!“
im
„Schmeißen Sie mich doch einfach raus. Wie wär’s?“ „Ich merke schon, Sie sind ein schwieriger Fall.“ „Knastkoller, vielleicht?“
.T
Radophil rutschte nervös auf seinem Stühlchen umher, verdrehte die Augen - genauso wie ich es in der Pubertät
W
tat und meine Mutter nervte -, umklammerte fest seinen Bleistift und atmete tief und unüberhörbar durch: „Das EEG wird nicht hier, sondern in dem Gebäudekomplex auf
laf
der Straßenseite gegenüber durchgeführt. Ebenfalls morgen, vielleicht aber auch erst übermorgen,...“
tb yO
„Oder nächste Woche?“
„... wird Sie mein Kollege zu sich bitten. Soweit zum Ablauf. Haben Sie verstanden?“
Nein, ich bin nämlich blöd.
„Sie sind nicht zufällig Ohrenarzt? Warum bin ich hier und
rig h
nicht in der Irrenanstalt?“
„Sie meinen sicher, in der Psychiatrie. Die Einweisung auf eine geschlossene psychiatrische Abteilung könnte ich,
py
falls erforderlich, auch später noch veranlassen.“ Etwa anderthalb Stunden sprachen wir über Allge-
meinheiten. Dann transportierten mich meine Begleiter zum
Co
Mittagstisch in die Mettstraße und nach einer Stunde zurück zum Doktor, der mich nun eingehend über mein Leben ausfragte. Einsilbig bediente ich seine Neugier. Der darauffolgende Tag verlief im zeitlichen Ablauf exakt dem vorangegangenem. Einziger Unterschied: Die
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 208 von 208 -
Zivilen fuhren mich zwischendurch mal schnell auf die andere Straßenseite zum Gehirngucken.
oth
„Nehmen Sie ihm bitte die Fesseln ab. Wir möchten in der
psychiatrischen Abteilung niemanden durch deren Anblick Ärztin an die Grobiane. „Dürfen wir nicht. Der ist U-Haft. Vorschrift!“
mr
aufregen“, wandte sich eine unverschämt schnuckelige
im
Kurz darauf lag ich auf einer Pritsche. Bewegungslos. Unter mir ein gestärktes weißes Laken. Es roch nach
Chemikalien. An Kopf und Handgelenken klebten kleine
.T
Saugnäpfe mit farbigen Drähten, deren Enden in einem merkwürdigen Apparat steckten. Ein fürchterliches Durch-
W
einander war das. Doch meine süße Frau Doktor behielt den Überblick.
Ich lauschte ihrer sanften Stimme und hechelte mich „Augen auf!“
laf
durch eine Flut unanständiger Bilder in meinem Kopf.
tb yO
Mein Blick fiel auf ein Poster mit ausgefransten Kanten. Im Mittelpunkt eine weiße Taube in einem Nichts aus hellblauer Farbe. „Augen zu!“
Dunkelheit. Ich dachte an den Teufel und die Hölle, an ihre
rig h
Tittchen, leckere Eierschecke, ihren knackigen Hintern, ein saftiges Steak mit Kräuterbutter und Hermann, der für Unruhe sorgte. Ich sah Klausis abgetrennten Kopf auf einem Ameisenhügel und ihre...
py
„Augen auf!“
Immer wenn’s am schönsten wird. Das nächste Mal könn-
Co
test du vielleicht warten, bis ich fertig bin. „Augen zu!“ Radophil, du sollst deine helle Freude an meinen Gehirnströmen haben. Kann es sein, dass mir langsam gar nichts mehr gehört? Selbst Gehirnströme, womöglich intimste
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 209 von 209 -
Gedanken werden aktenkundig. Das war einmal - das mit den freien Gedanken.
oth
„Augen auf!“
Ich sah zum Fenster, vorbei an der lächerlichen, im Flug dahinscheitenden Friedenstaube.
mr
„Tief durchatmen.“
Gott, war das schön. Über eine Stunde habe ich es mit dir
im
getrieben. Jetzt muss nur noch Hermann zur Ruhe kommen.
.T
Später horchte mich Radophil zum Tathergang aus. Doch bald schon forderte er mich auf, ihn zu begleiten.
W
Ich folgte ihm über den Flur nach rechts, vorbei am Sekretariat und zwei Türen weiter. Das Zimmer war noch kleiner und, da es über nur ein Fenster verfügte, das den Blick
laf
auch noch auf den Hinterhof freigab, sehr dunkel. Radophils hatte zwar zwei Fenster, dafür aber war dieses
tb yO
Zimmer aufgeräumt und sauber. Nur der Stuhl war noch einen Tick mieser - nacktes Holz. „Doktor Rassl wird Ihnen jetzt und am Nachmittag einige Fragen stellen“, sagte Radophil, stellte mich ab und ging. Kaum war die Tür zu, legte Rassl los. Er stellte tat-
rig h
sächlich Fragen. Und was für welche! Fragen über Fragen zur Tat und, was ich nicht nur als störend, sondern überaus merkwürdig empfand, er kam zwischendurch immer wieder auf vollkommen andere Themen. Etwa wie der For-
py
schungsminister heiße. Oder so was einfältiges wie: „Zählen Sie in siebener Schritten von Einhundert rück-
Co
wärts.“ Nicht auszuhalten. Ehrlich wahr! Dann fragte er auch noch nach der Bedeutung bestimmter Sprichwörter, obwohl doch jeder Trottel weiß, dass es kaum ein Sprichwort gibt, das nicht interpretativ ist.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 210 von 210 -
Als sich das am Nachmittag nicht besserte, argwöhnte ich, hältig - wollte an ihm meine Belastbarkeit testen.
oth
Rassl hat nicht alle an der Rassl und Radophil - wie hinter„Ich nenne Ihnen jetzt eine Zahlenfolge, die Sie mir später bitte wiederholen möchten: Eins, drei, fünf, null, sechs,
mr
zwei.“
Da stand es fest, der merkte wirklich nichts mehr.
im
Just in dem Moment, als Radophil ins Zimmer trat, um mich von Rassl zu erlösen, sagte ich brav die blöde
Zahlenfolge auf und der mit der Rassl verglich sie mit jener
.T
auf seinem Vordruck.
W
Nachdem Radophil sich den Reflexzonen meiner Beine genähert und ohne Vorwarnung wild darauf herumgehämmert und anschließend noch schnell meinen
laf
Blutdruck mit: „Siebzig zu einhundertzwanzig. Nun, das ist im stehen normal“, konstatiert hatte, bohrte er skrupellos
tb yO
mein Sexualleben, wie er es nannte, an. Reichlich unverschämtes Ferkel. War das der Dank, dass ich blieb? Ich kannte diese Type überhaupt nicht. Weshalb also sollte ich diesem Schmutzfinken schweinische Geschichten erzählen? Vor allem welche? Besonders
rig h
viel konnte ich ohnehin nicht beitragen. Eher weniger. Genau genommen, sehr wenig. Na ja, eigentlich gar nichts. Der lief doch nicht mehr rund. Warum kauft der sich nicht einfach den PLAYBOY und verzieht sich damit aufs Klo,
py
wenn er sich aufgeilen will? „Ich denke gar nicht daran, Fragen zu beantworten, auf die
Co
selbst die Stasi nicht kam. Ich verrate ihnen aber was: Ich kriege ihn ohne Telefonsex hoch.“ Ich stand auf einer kleinen Insel zwischen Schreibtisch und Tür, weil sich die Kartonpest ausbreitete und nun auch meinen Stuhl infizierte. Spitzbübische lächelnd fügte ich hinzu: „Wie war ich? Liegen schon Ergebnisse vor?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 211 von 211 -
„Nichts konkretes. Bisher habe ich keine gravierenden Störungen feststellen können. Vielleicht ein paar kleinere, aber
oth
nichts, worüber Sie sich beunruhigen sollten. End-gültiges kann ich erst nach Abschluss der Tests sagen, die Sie
morgen bei Doktor Stricker machen werden. Und sind dann
mr
noch offene Fragen, kommen Doktor Rassl oder ich nochmals auf Sie zu. Und um die Sache abzurunden, stelle ich
im
Sie anschließend dem Leiter dieser Abteilung, Herrn Professor Maaß, vor.“
.T
Da bin ich aber neugierig. Wie kriegt der das alles auf die Reihe? Wie macht der das bloß? Ich habe doch gar
W
nichts getan. Profi. Ganz klar ein Profi. Ein Westprofi, um genau zu sein. Der hat ein Händchen. Und Erfahrung. Weil doch heute jeder Furz analysiert werden muss. Das Leid
laf
der Schamanen: Glück, Haus, Auto und Boot. Ein ganz klein wenig merkwürdig ist es aber schon,
tb yO
kommt doch keiner als Bankräuber zur Welt. Doch ist er dann schon mal da, wird nur er für sein Tun verantwortlich gemacht, niemals die Umstände, die dazu führten, ihn trieben, verleiteten. Wenn doch ohnehin alles klar ist, wozu, zum Teufel, brauchen die meine Gedanken? Und - Pfui! -
rig h
meinen Sex? Und was bringt es denen, ob ich aus einem intakten Elternhaus komme? Ich komme aus einer völlig normalen Familie, in der seit zig Generationen keine Geisteskrankheiten überliefert wurden. Versicherungen habe
py
ich keine abgeschlossen, weil mir ganz einfach die Zeit dafür fehlte. Und die Schule habe ich auch nicht wiederholt.
Co
Wäre auch zu blöd, alle Klassen noch einmal zu machen. Und wie oft ich mir einen von der Palme schüttle, geht denen einen Dreck an. Also, alles bestens. Eigentlich war nur die Gesellschaft Scheiße. Und der Staat, und der Knast, und die Umstände, und überhaupt... Aber danach fragt ja keiner.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 212 von 212 -
Sehnsüchtigen Blickes sah ich durch die vergitterten
oth
Fensteröffnungen des VW-Busses hinaus auf die Straße.
Mädchen! Gott, was für wunderschöne Mädchen. Sie trugen gestreifte Kleider - oder so was in der Art. War wohl
mr
gerade Mode. Die süßen Dinger waren so herrlich dünn,
dass ich durch sie hindurch und - Gott, war das ein heißer
im
Tag! - unter sie sehen konnte, nein, musste. Ich musste
doch wissen, ob meine Augen unter dem Hungerstreik litten. Sie waren in Ordnung, obwohl ich mir hier und da eine
.T
noch bessere Fokussierung wünschte.
Hermann streckte sich und schob angriffslustig den Kopf
W
vor. Weshalb nur wurde der Griebs immer dann wach, wenn es am aussichtslosesten war?
In Fachkreisen nannte man das Haftverschärfung.
laf
Daran sieht man mal wieder, dass Knast gar nicht so furchtbar komisch ist, wie mancheiner glaubt. Knast ist
tb yO
nämlich richtig Scheiße. Tatsache! Und am allerschlimmsten sind die Minuten, in denen sie einem das Leben draußen vorführen und gleich wieder zurück unter Verschluss karren. Dummes Kaspertheater.
rig h
Bei Dr. Stricker, dessen Reich sich links von Radophils erstreckte, verbrachte ich nahezu den gesamten dritten Tag. Der Mann testete mich nämlich. Und dafür war ihm nichts zu blöd. So hatte ich beispielsweise 221 Fragen
py
eines MMPI Test mit Ja oder Nein zu beantworten. Um was es dabei ging, wusste ich nicht. Interessierte mich auch
Co
nicht. Ich las nicht mal, was die von mir wollten, kreuzelte einfach blind drauflos. Ein Kreuzchen hier, ein Kreuzchen da. Zwei links, zwei rechts. War das eine Blatt voll, nahm ich das Nächste und strickte munter weiter. Im Handumdrehen war ich fertig.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 213 von 213 -
Der Arme wirkte leicht irritiert, als ich ihm den Papierkram nicht zu.
oth
zurückgab. Womöglich sagte ihm das hübsche Muster Zu einigen Testfragen sollte ich ihm Kurzgeschichten erzählen, auf andere wiederum ebensolche
mr
niederschreiben. Wenigstens bestand der nicht auf
Schweinkram. Dennoch warnte ich ihn, dass er sich nicht
im
einbilden brauche, ich würde ihm irgendwann auch noch ein Buch schreiben. Das könne er sich gleich abschminbeantworte ich prinzipiell nicht.
.T
ken. Er fragte nach dem Warum. Aber so dumme Fragen Dann legte er mir sauber auf weißes Papier gegos-
W
sene schwarze Tintenkleckse vor die Nase. Der blanke Unfug! Rorschachtest nannte er das. Weiß der Geier, was der meinte. Was ich sah, begehrte er zu wissen. Seine Bril-
laf
le tat es wohl nicht mehr. Ich half ihm und sagte, da habe jemand eine schwarze Flüssigkeit verschüttet. Doch Stri-
tb yO
cker wollte mehr.
Ich begriff nun, dass ich etwas sehen sollte, das nicht da war. Ich beugte mich weiter über das Papier und forschte. Irgendwie ähnelten sie sich alle. Saublödes Spiel. Schließlich erkannte ich Schmetterlinge und sagte: „Ein pfeifender
rig h
Elefant auf Rollschuhen.“
„Bitte? Ein Elefant?“, ereiferte sich Stricker. Er schien bestürzt.
„Auf Rollschuhen. Ja. Der Elefant pfeift und fährt auf Roll-
py
schuhen. Oder rollt. So genau kann ich das nicht erkennen.“
Co
„Ähnelt es nicht eher einem Schmetterling?“ „Nein, nein, da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden. Das sind ganz eindeutig die Ohren eines afrikanischen Elefanten. Eine verspielte Elefantendame, vermute ich mal.“ „Ein Elefant also“, und notierte es.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 214 von 214 -
Noch mehr unnütze Zeit verplemperte ich auf dem Testbarcour beim malen von Bildern, merken und wieder-
oth
holen von Sätzen sowie unzähligen Fragen, die Auskunft
über meine Intelligenz geben sollten, wie er sagte. Das war natürlich Humbug. Da steckte irgendwas ganz anderes da-
mr
hinter. Was hatte meine Intelligenz mit der Bibel zu
schaffen? Etwa zwei Drittel seiner Fragen zielten auf diese
im
Ecke. Hinterhältig und gemein, weil er wusste, dass ich
weder Religionsunterricht noch das Buch der Bücher kann-
.T
te. Da stieg selbst bei mir weißer Rauch auf.
Am späten Nachmittag holte mich Radophil erneut zu
W
sich. Dankbar für die Abwechslung schloss ich mich ihm an.
„Mich würde noch interessieren, was das mit den Pornos gekommen.
tb yO
„Ich nix verstehen.“
laf
auf sich hatte?“, fragte er, kaum in seinem Lagerraum an-
Diesmal durfte ich wieder sitzen. Denkt sich auch besser. „Die Videos, die sich in der Wohnung des Opfers befunden haben sollen.“
„Das Zeug soll sich nicht nur dort befunden haben, der
rig h
Krempel war dort“, korrigierte ich schnippisch. Weshalb zweifelte er allem und verströmt ungeniert weiter den schmierigen Charme eines Pfaffen im Todestrakt, der gerne Kumpel aller wäre? Die fehlende Verbindlichkeit ver-
py
suchte er durch markige Sprüche auszugleichen. Besonders gruselig wurde es, wenn er sich mit Gags an-
Co
biederte, die keine waren. „Und was hat Sie daran aufgeregt?“ „Nix! Ich stehe nämlich nicht auf Kleinkram.“ „Kindern macht so was durchaus Spaß. Sie machen es, weil sie sein wollen wie Erwachsene. Für sie ist das ein Spiel. Kinder lernen im Spiel, wissen Sie?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 215 von 215 -
„Nein! Woher auch? Ich war nie Kind. Sie etwa?“ Es roch nach einem unheimlich perversen Experiment.
oth
Fünf, sechs Sekunden beobachtete ich ihn. Nichts deutete auf eine veränderte Situation hin. Doch - da war eine Kleinigkeit! Während der vergangenen Tage machte er sich
mr
ununterbrochen Notizen. Zeitweilig ließ er auch ein Ton-
band mitlaufen. Nun hielt er weder einen Stift in der Hand
im
noch stand ein Mikrofon vor mir.
„Für jemanden wie Sie ist es unmöglich, auf einem Videoband das exakte Alter eines Menschen zu schätzen.
.T
Vermutlich waren die Akteure, sofern es sie gab, achtzehn oder älter.“
W
„Ja, vermutlich. Vermutlich waren sie achtzig. Haben sich gut gehalten, ihr kindliches Aussehen bewahrt. Ist doch meine Rede: Drei Mal täglich kräftig vögeln, hält jung. Es
laf
gibt Gelehrte, die behaupten tatsächlich, vögeln reinige das Hirn. Wie wär’s?“, sagte ich mit einem kessen Zwinkern.
tb yO
„Sie...!“, setzte Radophil mit aufgeblähten Backen an. „Schenken Sie Ihren Kindern an Weihnachten eine Großpackung Streichhölzer und zum Geburtstag Pariser? Oder war das andersrum?“
„Werden Sie nicht unverschämt. Meine jahrelangen Erfah-
rig h
rungen und unzählige Abhandlungen meiner Kollegen zu diesem Thema bestätigen meine Schlussfolgerungen.“ Gott, ist der zickig. „Entschuldigung! Ich bin einfach schon viel zu lange im
py
Knast. Woher sollte ich da wissen, dass es Schick geworden ist, Kinderficker zu sein?“
Co
„Noch eine Beleidigung und ich erstatte Anzeige gegen Sie!“, kläffte er unvermittelt los. Reichlich schwache Nerven für einen Psychoonkel. Das bekommen wir schon wieder hin. Nun atmen wir mal tief durch. Machst dich ja noch nass. Muss doch nicht sein.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 216 von 216 -
„Vergessen Sie nicht, wer Sie sind und weshalb Sie hier sitzen! Was haben Sie denn für Vorstellungen? ! Es ist
oth
doch nichts verwerfliches daran, wenn...“
„Natürlich nicht! Gibt es in Ihrer Gedankenwelt eventuell
auch noch ein anderes Thema?“ So was wie du hat garaneine Zigarette für mich?“
im
„Ich rauche nicht. Rauchen ist ungesund.“
mr
tiert keine Aktiven. Ich frag dich gar nicht erst. „Haben Sie
Es sind schon mehr an Scheiße reden gestorben. „Dann kaufen Sie eben nur für mich welche.“
.T
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“
„So was aber auch. Da sind Sie ganz streng, stimmt’s?“, al-
W
ter Geizknochen. Ich wusste gleich, dass dich meine Gesundheit einen Dreck interessiert.
„Hören Sie auf, ich möchte Ihnen das Besprochene an ei-
laf
nem Beispiel verdeutlichen. Bestimmt denken Sie schon heute Abend oder morgen Früh ganz anders darüber. Was
tb yO
glauben Sie, warum die Meute da draußen mit geradezu voyeuristischer Befriedigung Berichterstattungen von Strafprozessen folgt?“
Desinteressiert sah ich über Radophils linke Schulter aus dem Fenster. Aber da war niemand. Und auch das Thema
rig h
war mir neu. Hat da eventuell jemand den Faden verloren? „Insgeheim freuen sich Millionen über jede erfolgte Verurteilung. Aus gutem Grund: Sie selbst sind ebenfalls Täter. Durch die Verurteilung eines anderen halten sie ihre Straf-
py
tat für gesühnt. Jeder da draußen...“, Radophil drehte sich zur Seite und zeigte mit gestrecktem rechten Arm zum
Co
Fenster hinaus, „ist ein Krimineller. Jeder von denen hat schon einmal geklaut, betrogen oder sonst wie geltendes Recht gebrochen, wurde aber nicht gefasst. Jeder...“ Vor seinem Fenster war gar niemand. „Gut, gut, ausgezeichnet Ihr Vortrag! Sie haben mich überzeugt!“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 217 von 217 -
Ich wusste ehrlich nicht, wovon er sprach. Aber gut, dass nie drauf.
oth
einem das mal so bildreich erklärt wird. Käme man ja sonst „Wie Sie wollen. Folgen Sie mir über den Flur zu Professor Maaß“, sagte er und stemmte sich schmollend hoch.
mr
Ich war vor ihm an der Tür. Sie stand einen Spalt
breit offen. Mir war noch sehr genau in Erinnerung, dass
im
sie Radophil verschlossen hatte, weil mir auffiel, dass er
nach dem zuklinken noch einmal mit beiden Handflächen fest gegen die Tür drückte, so als sei sie verzogen und
.T
schließe nur unter Druck. An den vorherigen Tagen
W
schloss er sie ohne körperlichen Einsatz.
In Erwartung, einem energiegeladenen älteren, väterlichen Herrn mit schütterem weißem Haar, das ihm wirr
laf
über die Stirn wuchert, zu begegnen; der sein Wissen aus einem unerschöpflichen Schatz an Lebenserfahrung zog,
tb yO
folgte ich Radophil über den Flur. Im Zimmer gegenüber roch es nach Seife und Zahnpasta, doch ein Waschbecken konnte ich nirgendwo entdecken. Stricker nickte mir kurz zu. Er stand neben einem großen schwarzen Ledersessel, aus dem sich ein dunkel-
rig h
haariger Mann in weißem Kittel erhob. Gebieterisch hob Professor Maaß die manikürte rechte Hand, was mir zu verstehen geben sollte, keinen Schritt weiter zu gehen. Also blieb ich auf der Türschwelle stehen und nahm seine wei-
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che, warme Hand entgegen. Maaß war Anfang vierzig, spindeldürr und braungebrannt
Co
von falscher Sonne. „Ich möchte mich für Ihre Mitarbeit bedanken“, sagte er, grinste jovial, machte kehrt, schritt zu seinem Sessel und plumpste hinein. Ich stand in der Tür wie ätsch, ich bin blöd und überlegte, ob es sich um einen fiesen Trick handle. Zwei, drei Sekun-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 218 von 218 -
den ließ ich seine Rede auf mich wirken. Kein Trick, nur mal wieder eine völlig überflüssige Aktion. Wahrscheinlich
oth
schwer psychologisch.
War mir eine Ehre, Erhabener! Dann drehte ich seinem fend, auf den Flur. Plötzlich hielt mich was am Hemdärmel fest.
mr
Gemach den Rücken zu und schritt, seinen Gang nachäf-
im
„Ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Wir werden
uns wohl nicht mehr wiedersehen. Jedenfalls nicht vor der Hauptverhandlung. Professor Maaß bat mich, Sie darauf
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hinzuweisen, dass wir der Staatsanwaltschaft gegenüber keiner Schweigepflicht unterliegen“, sagte Radophil und
W
lächelte süffisant.
„Das haben Sie aber nett gesagt. Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin“, sagte ich und dachte, das nächste Mal sit-
laf
ze ich bestimmt wegen Tierquälerei.
Unsanft machte ich mich von ihm los und ging auf
tb yO
die Glastür und meine beiden Zivilen zu, als hinter mir Stricker rief: „Halt, warten Sie noch einen Moment! Kommen Sie doch bitte noch einmal mit zu mir.“ Roboterhaft machte ich eine halbe Drehung und näherte mich seinem Zimmer.
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„Sie können gleich da an der Tür stehen bleiben. Ich möchte nur ganz schnell ein Foto von Ihnen machen. Zur Erinnerung. Dann weiß ich später gleich, mit wem ich gesprochen habe“, schnappte vom Schreibtisch eine
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Polaroid-Kamera und drückte zweimal den Auslöser. „Ist es eigentlich Tierquälerei, wenn man ein Schwein
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schlachtet?“ Für einen Moment sah er mir irritiert in die Augen, als ergründe er den tieferen Sinn meiner Frage. „Nein. Nein, nicht, wenn es schnell geht. Wissen Sie, James... Ich darf doch James sagen?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 219 von 219 -
„Würden Sie es denn lassen, wenn ich was dagegen hätte?“
oth
„Wissen Sie, James, Sie sind kein psychiatrischer Fall. Und Ihr Intelligenzquotient liegt bei einhundertdreiunddreißig. Nachteilig wirkt sich allerdings die Waffe für Sie aus. Lei-
mr
der. Ich hoffe aber für Sie, dass Sie aus der Sache gut
herauskommen“, und drückte mir etwas in die Hand, das „Nicht so doll, wie?“ „Was?“
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„Das mit den hundertdreiunddreißig.“
im
ich geistesgegenwärtig als die seinige ausmachte.
„Och, ganz ordentlich“, sagte er schmunzelnd. Und da kam
W
er auch bei ihm durch, der freudsche Schmunzelaffe. Zwei Tage nach Radophil führte mich in der Früh ein
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Schließer zum Arzt. Die Ärztin würde mich auf eventuelle Spätfolgen des Hungerstreiks hin untersuchen, vermutete
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ich. Doch die plante etwas anderes. Sie ließen mich zwar zur richtigen Ärztin vor, aber die fragte nur, ob ich irgendwelche gesundheitlichen Beschwerden hätte. Dabei sah sie nicht mich, sondern den Schließer, der sich vor der Tür postierte, an.
rig h
Daraufhin bückte ich mich, sah unter den Schreibtisch auf ihre ungeputzten braunen Treter, schrie: „Nein, Sir!“, machte kehrt und ließ sie mit sich, ihren braunen Botten
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und ihrem sexy Wollleibchen alleine. Eine dreiviertel Stunden danach, ich hatte es mir auf
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dem Lokus mit einer uralten QUICK bequem gemacht, öffnete sich die Tür meiner Zelle und zwei Schließer spazierten herein. „Hoch! Auf geht’s! Puh, stinkt das hier!“ Ich riss dunkles, holzig grobes Toilettenpapier von der Rolle.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 220 von 220 -
„Macht die gute Ernährung. Sollten Sie auch mal probieren. Da bleibt kein Auge trocken. Eins A Hämorrhoidenkiller.“
oth
„Stink dich aus!“, befahl er, begleitet von einem demonstrativem Hustenanfall. „Das hört sich aber gar nicht gut an.“
mr
„Quatsch nicht, komm hoch!“
„Soll ich mich umdrehen, damit ihr besser sehen könnt, ob
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ich mir den Arsch ordentlich abwische?“ „Mach endlich!“ aber eine Menge zu erzählen.
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Ich machte - und sie glotzten. Na, da haben wir zu Hause „Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie ist euer Auftritt
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von tiefen Geheimnissen umwittert.“
„Ich werd dir gleich helfen, wenn hier nicht bald was vorangeht. Du fliegst in Bunker.“
laf
„Fliegen? Soso. Wegen grobem Fehlverhalten, wie ich annehme.“
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„Dein Waschzeug kannst du mitnehmen. Alles andere bleibt hier“, sagte der andere. „Gleich? Und die Arrestuntersuchung?“ „Da warst du eben, du Depp!“, klärte mich ersterer auf. „Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin, ich Depp.“
rig h
„Sag ich doch.“
„Und was ist ein Depp?“ „Diskutier nicht rum. Komm jetzt - oder Haus Drei! Suchs dir aus.“
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Da gab’s nur eins: Hose hoch, Hände waschen und durch. Man muss nicht immer alles haben. Ich werde freiwillig ver-
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zichten. Hastig fischte ich Zahnbürste, Zahncreme, Seife und Shampoo von der Ablage über dem Waschbecken, stopfte die Hosentaschen voll und eilte den beiden nach ins Parterre.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 221 von 221 -
Und die ganze Hetzerei nur wegen eines Hauses mit der Nummer drei. Drei Nummern wären mir lieber gewesen.
oth
Darauf hätte ich auch ganz bestimmt nicht verzichtet. Ehrenwort!
Unliebsamen Knackis drohten sie nicht einfach nur
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mit Haus Drei. In den meisten Fällen brachten sie sie augenblicklich da hin. Haus Drei war die Krankenabteilung
im
von Raubing. Und in Raubing saßen überwiegend lebenslängliche und solche mit Sicherungsverwahrung.
Man erzählte sich, dass dort viele auf Grund eines Gutach-
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tens von Maaß in der Sicherungsverwahrung strandeten. Dortige Krankenabteilung erarbeitete sich seinen hervorra-
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genden Ruf über einen ganz besonderen, weil einzigartigen Service: Haus Drei war das Synonym für Betonspritze. In der war irgendeine heimtückische Psychoscheiße. Wer
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aufmuckte, den brachten sie ins Haus Drei und spritzten ihn weg. Bis zum überlaufen vollgepumpt brachten sie ihn
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wieder zurück.
Die Typen sahen dann gar nicht mehr sehr lustig aus. Wochenlang schlichen sie wie Schlafwandler umher. Unmöglich mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die schnallten rein gar nichts mehr, sahen aus wie schales Bier
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und äußerten sich wie Trockenobst. Tag für Tag stopften sie irgendwelche Pillen in sie hinein, um sie langsam von ihrem Trip zurück ins wirkliche Knast-
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leben zu holen. In meinem Arbeitsbetrieb war einer, den hatten sie
kurz hintereinander gleich zweimal weggespritzt. Auf dem
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zweiten Mal blieb er hängen, wie es hieß. Pech gehabt. Kunstfehler. Dem half nichts mehr. Er war Anfang zwanzig und darf den Rest seiner Tage wie ferngesteuert umherziehen - Rückkehr ausgeschlossen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 222 von 222 -
Im Dienstzimmer der EF0 wartete bereits Knörr, der Dienstleiter, beiderseits von einem Stationsschließer flan-
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kiert. Hinter mir postierten sich die beiden, die mich holten. Und vor der offenen Tür versammelten sich einige neugierige Knackis.
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„Zieh dich aus!“, ordnete Knörr, ganz Mann, ganz die Autorität, an.
im
„Hier, vor all den fremden Männern?“, fragte ich schüchtern.
„Soll ich dir mal was über Haus Drei erzählen?“
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Ich zog mich aus. Ohne Eile.
„Gibt es da auch so leckere Rinderzunge?“
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Diesen abstoßenden Viehabfall setzten sie uns jeden Mittwoch vor. Wie, bitteschön, sollten sich die jugendlichen Knospen meiner Geschmacksnerven ausbilden, wenn die
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Zunge schon über dem Tablettrand hängt? „Könnte vielleicht einer der Herren in meiner Wohnung
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spülen? Habe ich vor lauter Aufregung vergessen. Lampenfieber, meine ich.“
„Drecksau!“, sagte die Figur links vom Dienstleiter. „Danke! Und bitte auch das Fenster...“ „Bist du bald fertig? !“, erkundigte sich Knörr, obwohl er
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sehen musste, dass ich beinahe nichts mehr auf dem Leib trug.
Als ich nackt vor ihnen stand, machte sich einer dar-
an, mein Haar mit Latex behandschuhten Fingern zu
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durchwühlen. Gleichzeitig graste sein Kollege mit einem Holzstöckchen durch Hermanns Nest.
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„Heb die Füße! Einen nach dem anderen!“ „Gut, dass einem das wenigstens vorher noch erklärt wird“, murmelte ich, drehte mich um und winkelte die Beine an - eins nach dem anderen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 223 von 223 -
Flugs setzte der Nestwühler seine erfolglose Suche nach den Zehen fort. „Beug dich nach vorn! Die Beine auseinander!“ Wann lasst ihr euch endlich mal was neues einfallen?
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verborgenen Schätzen an meinen Fußsohlen und zwischen
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„Wird das eine Orgie? Dann sollten wir langsam über den Preis verhandeln. Ich bin nicht...“ Auch das. „Weiter!“
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Kannst wohl nicht genug bekommen?
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„Zieh die Arschbacken auseinander!“
Nachdem sie die Aussicht genossen hatten, reichte mir ei-
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ner, die von ihm zuvor Naht für Naht sorgfältig abgetastete frische Kleidung.
Während ich mich anzog fragte ich mich, weshalb einer ein
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Metallstäbchen durch die Öffnung der Zahnpastatube bohrte, anstatt mir einfach eine neue Tube zu geben?
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Knörr ging voraus. Und ich stolperte ihm mit meinem in ein Handtuch eingewickeltem Waschzeug in den Händen und viel zu großen schnürsenkellosen Schuhen an den Füßen über den Gang nach.
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Drei Arrestzellen standen zur Auswahl. Zwei für den normalen und eine, die mittlere, für den verschärften Arrest. Wer in diese hinein durfte, der gehörte zu den harten Jungs. Die aus den anderen blieben, was sie immer schon
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waren: Weicheier. Mein Namensschild hatte auch schon einer angebracht. Gleich rechts neben der mittleren Tür. So
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musste ich also gar nicht lange suchen. Zelle 51 war dem verschärften Arrest vorbehalten. Halb zehn, also zu einer Zeit, zu der die Welt noch in
Ordnung ist, öffnete er die Türen. „Mach dich rein!“ Mit eingezogenem Kopf stieg ich die Stufe hoch.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 224 von 224 -
„Aber bitte nicht peitschen!“ „Halt’s Maul, Schwätzer!“
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„Rüpel!“ „Was war das?“ „Was war was?“
mr
„Das, was du eben gequatscht hast?“
„Ach das, was ich eben gequatscht habe. Ja, was quatsch-
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te... Ach ja, ich sagte, hier fehlen Dübel. Für Kleiderhaken. Sie verstehen?“
Er verstand. Oder auch nicht. Jedenfalls flogen die beiden
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schweren Bunkertüren schön laut hinter mir zu. Mit den Riegeln bemühte er sich auch sehr - damit sie wirklich je-
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der hören konnte.
„So, da wären wir mal wieder“, begrüßte ich mein
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neues Zuhause, das mir fremd und doch vertraut war. Mein Zuhause war nämlich etwas ganz besonderes. Es hat-
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te sogar einen Namen: Beton - Kein Stück Lebenskraft. Die haben mich in der Betonwüste ausgesetzt. Können manchmal ganz schön fies sein, die Westler. Und dieses Farbspiel von Grau in Grau. Aber dennoch eine sehr hübsches Stück Dunkelkammer. Doch, doch. Hat der
rig h
Innenarchitekt nach langem Grübeln sein Diplom abgeliefert. Sieht man doch gleich. Die funktionelle Liege: ein Betonklotz. Auf ihr rekelte
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sich eine von schmeichelnd dunkelgrünem Gummi umhüllte Schaumstoffmatratze. Wirklicher Sommerschick. Ein
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echter Knüller. Beides ordnete sich dezent dem Gesamtbild unter. Gleich gegenüber zwei Betonklötzer. Mit einem gewissen Raffinement auf unterschiedlichen Höhen in der Wand verankert.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 225 von 225 -
Scharfsinnig erkannte ich darin blitzschnell, dass hier Tisch und Sitzmöbel, ohne aufdringlich zu wirken, eine ge-
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radezu perfekte Einheit bildeten.
Rechts von der Tür duckte sich ein Stück dunkelwei-
ße Keramik auf einem kleinem Betonsockel. Das hatte was.
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Wirklich wahr. Ein Stehklo ohne Spülvorrichtung musste
einfach was haben. Auch wenn es nur etwas fragwürdiges
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ist. Wie auch immer, jedenfalls fügte es sich in unübertroffener Harmonie in das Ensemble. Schmeichelte ihm gar. Der gerissene Innenarchitekt ließ das gut Stück nämlich
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nicht einfach im Boden versenken. O, nein. War ihm wohl eine Spur zu ordinär. Was ich durchaus verstand. Der
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Schlingel bediente sich eines famosen Tricks: Er nahm einen Hauch Beton und erhöhte kurzerhand den Boden seines Kunstwerkes um zwanzig Zentimeter. Daher die ü-
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berraschend gelungene Stufe an der Pforte, mit der er vor allem Kleinwüchsige mit einem Gefühl räumlicher Größe
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positiv zu überraschen vermochte.
Wer außergewöhnlich hoch, so über 170 Zentimeter, gewachsen war, sollte besser den Kopf einziehen, wollte er nicht schon von Anbeginn der Bunkertage seinen Dachschaden mit sich herumtragen.
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An der Unterkante des aus milchigen Glassteinen bestehenden Ausguck entdeckte ich einen verspielten Metallschieber. Ehrfürchtig zog ich an ihm. Und, siehe da, es strömte Luft durch den freigelegten zehn Zentimeter brei-
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ten Spalt ins Innere. Sanft streichelte er meine trockene graue Haut. Den Himmel sah ich nicht, wohl aber eine schi-
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cke Sichtblende und zwei erotische feinmaschige Gitter, die sich verschämt an das unvermeidbare Gitter schmiegten. Das war wirklich so. Ohne Spaß! Wer wird den meckern?
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 226 von 226 -
Sei froh, dass du in der heutigen Zeit noch ein Einzelzimmer bekommst.
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Bin ich auch. Sogar sehr. So sehr, dass ich mich mal wie-
der sinnlos mit heißen Nudeln behängen könnte. Hier kann ich fett werden, ohne dass die Möbel unter mir die Grät-
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sche machen.
Plötzlich und unerwartet öffnete sich die Kostklappe
im
und jemand fragte: „Alles in Ordnung?“
Ich wirbelte herum und sah gerade noch das Gesicht des Sanis verschwinden, dann knallte die Klappe zu.
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„Danke, der Nachfrage“, knurrte ich, sank aufs Bett und
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weinte leise vor mich hin.
Nach Einbruch der Dunkelheit spendete mir eine in der Wand über der Tür eingelassene und mit einem Loch-
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gitter geschützte Glühbirne so viel Licht, dass ich mühelos den Weg zum Stehklo fand.
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Für die tägliche Ganzkörperhygiene stand mir ein niedliches Plastikschüsselchen zu Verfügung. Irgendwann war es vermutlich mal weiß.
Mein Wasser erhielt ich morgens und abends zur Fütterung in einem Zwei-Liter-Messbecher gereicht.
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Mit Wasser hatte ich überhaupt so meine Probleme. Um jeden Tropfen musste ich, wie in Wüsten nun mal Brauch, kämpfen. Hatte ich mein Geschäft abgewickelt, drückte ich den Klingelknopf für Notfälle und wartete eine
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Stunde oder länger auf den Ruf „Was ist los? !“ durch die verschlossene Tür, um zu antworten: „Luft! Hau weg, den
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Scheiß!“, woraufhin ein kurzes, heftiges Rauschen die Wüste erschütterte und für einen Moment zum Leben erweckte. Und nach einigen Stunden verdünnte sich dann auch schon die Umgebungsluft. Ich argwöhnte hinter dem ausgelagerten Spülknopf, die da draußen führten eine Strichliste, um gewissen Re-
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gelmäßigkeiten auf die Schliche zu kommen. Blieb mein Klingeln einmal aus, kämen sie gleich mit einem passen-
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den Karton.
Insgesamt empfand ich den Bunker nicht als Strafe.
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Man hatte ja so seine Erfahrungen. Mir gingen weder Papier und Stifte noch Tabak und Radio ab. Auch die
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Kontaktsperre war mir Brust.
Schlimm war nicht die Isolation, schlimm war die totale Isolation. Ich vermisste Zeitungen und Bücher jeden Alters.
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Am ersten Sonntag versuchte ich es mit einem Trick. Ich bat um eine Bibel, weil ich doch sonntags immer bete.
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Sie stiegen nicht darauf ein und verweigerten sie mir, weil ich ohne Konfession sei. Glaubt man kaum: Diese Ignoranz an einem mystischen Ort wie diesem. Na, so werden die
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mich ganz bestimmt nicht bekehren.
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So vergingen die Tage, ohne dass sich mir auch nur einmal eine Abwechslung bot. Ich trieb Sport, sprach mit mir selbst und schlief ansonsten. Obwohl ich es nicht mit letzter Gewissheit sagen kann, glaube ich doch, Stenzel bewahrte mich am vierten
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Tag gerade noch rechtzeitig vor dem abdriften in eine Depression.
Mit der Abendessenausgabe besuchte er mich in der
Wüste. Ich sprang vom Bett und schrie: „Bitte nicht peit-
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schen!“
Verwundert riss er die Augen auf.
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„Ist nichts ansteckendes“, beruhigte ich ihn. „Werden Sie nicht unverschämt.“ „Ich werde nicht unverschämt, ich bin unverschämt. Aber das wissen Sie doch, Herr Doktor.“ „Wie geht es Ihnen ansonsten?“ „Ansonsten blendend!“
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Stenzel verdrehte den Kopf nach allen Seiten. „Schön, nicht? Bleiben Sie zum Tee?“, fragte ich höflich
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und lächelte einladend.
„Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ab dem fünften, also mit dem morgigen Tag, die Kontaktsperre aufgehoben wird
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und Sie am Gemeinschaftshofgang teilnehmen dürfen. Außerdem...“
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„Aber da kann er doch rauchen!“, nörgelte der kleine dicke Dienstleiter dazwischen, der hinter Stenzels Rücken auf seinen Auftritt lauerte.
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„Ist mir bekannt. Außerdem erhalten Sie in den nächsten Tagen einen Rapportschein und einen Stift ausgehändigt.
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Beantragen Sie Ihre vorzeitige Entlassung aus dem Arrest. Ich werde Sie, sobald Ihr Antrag auf meinem Tisch liegt, umgehend amnestieren.“
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Ich sah ihm ins getönte Gesicht und fragte mich, ob der mich nach nur vier Tagen Bunker schon für völlig verblödet
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hielt? Normalerweise kommt keiner aus dem verschärften Arrest zum Gemeinschaftshofgang? Einzelhofgang unter Bewachung, ja. Aber niemals Gemeinschaftshofgang. Und amnestiert wurde auch noch keiner. Üblicherweise gab er, wenn überhaupt, die letzten zwei oder drei Tage auf drei
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Monate oder länger Bewährung. Aus tiefster Überzeugung beteiligte ich mich niemals an derlei perversen Spielchen. Soweit kam es noch: Ich stelle den Antrag, er lässt mich zappeln und hofft, dass ich aus-
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raste, damit er mir noch ein paar nette Tag Bunker verordnen kann. Wer bin ich denn? Ich bin doch nicht blöd.
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„Schieben Sie ein Mal, nur ein einziges Mal, Ihren Stolz beiseite und ergreifen Sie die Ihnen entgegengestreckte Hand!“, echauffierte er sich grundlos. „Contenance, Euer Gnaden.“ „Seien Sie ruhig! Werden Sie das tun? !“ „Ich bin ruhig.“
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„Den Antrag stellen!“ „Damit kann ich doch nirgendwo angeben.“
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„Noch etwas: Die angekündigte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft habe ich nicht erstattet“, sagte er und reichte mir die Hand zum Abschied. „Ich werde sie auch später nicht erstatten.“
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Als ich sie ergriff, grinste er wie ein Glückskeksbäcker.
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„Gehabt Euch wohl!“, sagte ich und sah ihm nach.
Beim Hinausgehen zog er den Kopf ein und wippte in den Knien. Stenzel bot eine wirklich alberne Vorstellung. Er
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sollte sich öfter im Bunker blicken lassen.
Knörr, das kleine schlichte, gesellige Kerlchen mit dem
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Stiernacken und den Händen einer Hebamme folgte ihm ohne in Deckung zu gehen. Dennoch passierte ihm nichts. Neben all den Merkwürdigkeiten fand ich doch eines
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heraus: Stenzel entstammte definitiv nicht dem Klausiwurf. Wie ich darauf kam, wusste ich auch nicht. Mir war so. Viel-
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leicht lag es daran, dass er nicht gleich nach dem Bummi rief. Der skurille Alte an seiner Seite, der hätte schon ganz gerne gewollt.
Kaum hatte sich die kaiserliche Brise verzogen, fiel
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ich aufs Bett und heulte.
Ihr langweilt mich. Ihr habt ja keine Ahnung, wie sehr ihr mich langweilt. Ist mir eh alles Brust. Ich übersteh das. Ganz sicher. Ich... ich... und jetzt lasst mich endlich raus!
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Das ist nicht mehr lustig. Ich mag nicht mehr! Ehrlich nicht. Oder gebt mir wenigstens was zu lesen. Eine Buchstaben-
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suppe tut es für den Anfang auch. „Gott, ist das alles eine Scheiße!“, gurgelte ich. Lasst mich RAUAUAUAUS! Wenn nicht, werde ich echt böse. Wirklich wahr. Dann gehen wir getrennte Wege. Überlegt es euch gut. Ich werde jetzt bis drei zählen. „Eins! ... Zwei! ... Zwei! Ich sagte, zwei!“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 230 von 230 -
„Goschn!“, trompetete ein sprachgewandter Knacki durch die Ritzen der Türen und schob auch noch gleich Schwa-
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den Zigarettenrauchs nach. „Zwei! ... Hallo, ich habe zwei gesagt!“ „Halt dei Maul!“
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„Anonym lebt es sich länger! Verzieh dich, Schwanzlutscher!“
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„Sausack!“ Lernfähig ist er auch noch.
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Also dann. Bitte, wie ihr wollt: „Dann eben drei!“
Meinen ersten Hofgang genoss ich bei drei geGemeinschaftshofgang.
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schnurrten Zigaretten. Stenzel ließ mich tatsächlich zum
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Trotzdem stellte ich keinen Antrag.
Sechs weitere Tage durchmaß ich die Wüste, trieb
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etwas Gymnastik und langweilte mich beim Hofgang, weil sie ihn frühmorgens ansetzten und kaum ein Knacki vor zehn von der Pritsche kriecht. Tapfer hielt ich durch, bis sie mich am Morgen des elften Tages rauswarfen. Nö, nö, keine Bewährung. Amnestie! Eine richtige Amnes-
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tie. So von fast ganz weit oben. Das ich das noch erleben durfte. Wahnsinn! Also, wenn ich das in meinem Club erzähle...
Was hilft einem so unendlich viel Zeit zum nachden-
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ken, wenn das, worüber man sich den Kopf zerbricht, am
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Ende doch keinen Sinn ergibt? Mitte Juni besuchte mich meine Frau Anwältin und
brachte auch gleich die Kopie eines Antrages der Staatsanwaltschaft zur automatischen Haftprüfung mit. „Der ist schon zwei Wochen alt“, stellte ich überrascht fest. „Ist da noch kein Beschluss unterwegs? Mir wurde gesagt,
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ohne Haftprüfung darf die Untersuchungshaft längstens sechs Monate dauern. Ich verwelke seit mehr als sieben.“
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„Das dürfen Sie nicht so genau nehmen. Die haben eben
viel zu tun. Und sie haben Zeit. Sie können ja schlecht weglaufen“, und grinste dämlich. „Vor dem Oberlandesgericht
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wird Ihr Fall derzeit geprüft. In frühestens zehn bis vierzehn Tagen können wir mit einer Entscheidung rechnen. Geben
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Sie sich aber keinen falschen Hoffnungen hin - von Tausend kommt höchstens einer raus. Ohnedies ist die
Staatsanwaltschaft gegen Ihre Entlassung. Davon abgese-
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hen wird um jede Haftprüfung ein übertriebenes Trara veranstaltet. Das OLG entlässt ungern. Zum Haupttermin
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ist dann alles nur noch halb so schlimm.“
„Jetzt bin ich aber beruhigt“, und fingerte eine ihrer Zigaretten aus der Schachtel. „Wann ist die Verhandlung?“
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Sie zog die Schulter hoch und sah dabei ein bisschen wie ein mäßig ausgeleuchteter Halloweenkürbis aus.
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„September? Wahrscheinlich können Sie gleich im Anschluss nach Hause gehen.“ Wird doch keine Pollenflugvorhersage gewesen sein? Nein, war es nicht. Denn da war es wieder, dieses unheimlich gute Gefühl, dass ich seit so unendlich langer Zeit vermisste:
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Dieses fiebernde, schweißtreibende, schlaflose Nächte bereitende Gefühl der Hoffnung. Ende des Monats dann die Überraschung, die keine
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war. Eine Woche bevor mir der blaue Wisch zugestellt wurde, hatte das OLG beschlossen, dass ich neben anderen
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30.000 DM Bargeld geklaut und bei meiner Tat einen Sachschaden von über 600.000 DM angerichtet habe. Natürlich verstand ich nun, dass die Menschheit vor einem wie mir unbedingt geschützt werden müsse. So konnte es unmöglich weitergehen mit mir.
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In ihrer Begründung, die sie wortwörtlich dem Antrag der Staatsanwaltschaft entnahmen, hieß es unter anderem:
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„Der Beschuldigte ist ohne festen Wohnsitz und sonstige
soziale Bindungen. Bei ihm besteht deshalb Fluchtgefahr; auf die erhebliche Straferwartung kommt es deshalb gar
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nicht mehr entscheidend an. Für haftverschonende Maß-
nahmen nach § 116 StPO fehlt jede Vertrauensgrundlage.“
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Nun ja, ich war wohl ein ganz klein wenig erstaunt.
Aber nur, weil sie nicht erwähnten, dass ich mich freiwillig stellte und gar keine Nationalbank ausgeräumt habe. Mehr
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aber bestimmt nicht. Ich hoffte zwar, es würde keine weitere Haftprüfung geben, um nicht auch noch einen
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Massenmord reingewirkt zu bekommen, glaubte aber nicht wirklich an so unverschämt viel Massel.
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Das Sommerprogramm des Jahres war eher lau und entsprach keineswegs den herrschenden Temperaturen.
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Nur ein wirklicher Hit darunter.
Einer meiner Kumpel verließ am Tag seines Haftprüfungstermins Tadelheim als freier Mann. Die Presse tobte: Behauptete, die Staatsanwaltschaft habe irgendeinen Termin in Verbindung mit der Anklageerhebung verschwitzt.
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Andere witterten gar einen Justizskandal. Hatte mein Schachpartner doch die Kleinigkeit von zehn Kilogramm Heroin aus Afrika nach Deutschland geschmuggelt und keinen festen Wohnsitz. Das stimmte natürlich nicht.
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Längst hatte ihn sein Bruder bei sich angemeldet, einen Anwalt beauftragt und zwanzigtausend Mark Prämie zuge-
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sichert. Nicht so clever, aber auch ganz nett: Ein Richter, der
als ausgesprochen scharf galt, räumte sich aus dem Weg als ans Tageslicht drang, dass er seine Nächte im Rotlichtmilieu verbrachte. Nun ist daran erst einmal nichts verwerfliches. Doch der vergnügungssüchtige Kreis achte-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 233 von 233 -
te bei seinen Urteilen penibel auf den Lebenswandel des Angeklagten. Je unsteter desto höher das Strafmaß. Es
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wurde nie bekannt, ob er ein Buch schrieb.
Und dann waren da noch die beiden Schließer, die ihren Kollegen über eine Million Mark abschwatzten. Als
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die versprochene 30-prozentige Verzinsung ausblieb, fand das plötzlich keiner mehr lustig. Ernüchterung und eine
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Flut von Strafanzeigen gegen beide waren die Folge.
Einer gab sich, nachdem er sich über das Autotelefon seines Mercedes Geländewagen bei seinem Anwalt
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erkundigte, was ihm im Falle der Festnahme blühe, die Kugel. Der schrieb ein Buch – ein Tagebuch.
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Seinen Kumpan quartierten sie mitsamt seiner Fünfunddreißigtausend-Mark-Rolex weitab auf dem Land in einen kleinen, beschaulichen Knast mit familiärer Atmosphäre
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und viel Grün drumherum ein.
Was es nicht alles gibt. Nicht sehr aufregend, ich
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weiß. Deshalb stellte ich mir auch die Frage, weshalb Schließer nicht einfach mal hitzefrei nahmen oder wenigstens streikten? Türen auf und an nach Hause. Ist doch so einfach. Damit bekämen die jede Forderung durch. Einfach jede! Selbst einen Dienstwagen mit oben ohne Chauffeurin.
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Muss denen wohl erst noch einer sagen. Anfang August wurde alles wieder gut. Stenzel gab
die Genehmigung zu meiner Verlegung auf EF0. Flugs
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packte ich mein Bündel, sagte der Langeweile Ade und zog eine Etage tiefer in mein altes Zuhause. Nach dem persön-
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lichen Einsatz des zivilen Angestellten der Firma, für die ich arbeitete, gab Stenzel endlich nach. Zweieinhalb Wochen später beförderte man mich zum Vorarbeiter. Stenzels Einlenken kam gerade richtig. Meiner Heule ging nämlich der Saft aus. Doch was tun? Das Ding war il-
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 234 von 234 -
legal. Da fiel mir ein, dass die Abteilungssau noch da war. Der Schnulli wartete auf seine Revision. Der hielt sein Urteil
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tatsächlich für zu hoch. Ein furchtbar lustiger Charakter.
Ich schlenderte in seine Zelle, sagte: „Hi!“, schnappte das Radio vom Tisch, klemmt die 9-Volt-Blockbatterie ab und
mr
bedankte mich.
Selbstredend hatte der eine Genehmigung. Und Geld natür-
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lich auch. Ist doch immer so. Aber, was ist schon eine
Genehmigung wert, wenn die Quietsche keinen Stoff hat? Er lag mit offenem Mund auf dem Bett, glotzte mich blöd an
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und sagte, als ich schon fast wieder draußen war: „Wohl blöd geworden? !“
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Ja, wie komme ich denn dazu? Hat denn heute niemand mehr Respekt? Ich drehte mich um, gab ihm eine wunderschön klatschende Ohrfeige und den Rat: „Sei nicht so
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frech.“
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Am Nachmittag sah Frau Jamon vorbei, um mich mit dem angestaubten Beschluss der Haftprüfung zu überraschen. Sie habe ihn eben erst erhalten, sagte sie. Ich sagte nichts, nahm zwei Zigaretten, den Wisch und verabschiedete mich.
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Angeblich soll sie im vorherigen Leben Staatsanwältin gewesen sein. Reue? Sah wohl ein, dass sie als Rechtsanwältin weit weniger bleibende Schäden anrichten
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kann.
Auf dem Rückweg laberte mich in der Wartezelle un-
entwegt ein Typ voll. Kunststück: War dich kein anderer in
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greifbarer Nähe. Trotzdem ekelhaft. Vor ihm fliehen konnte ich auch nicht. Also musste er mich mit Tabak bei Laune halten. Er käme von seinem Anwalt, den er darüber informierte, was ihm vor kurzem das Landeskriminalamt anbot.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 235 von 235 -
„Das musst du dir mal vorstellen, die wollen mir Geld geben, damit ich hier drinnen Stoff aufkaufe. Die ham sich als
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Kumpels von mir ausgegeben. Ich kenn die überhaupt
nicht. Später ham die erst gesagte, dass die vom LKA sind. Scheiße! Die wolln mich in was reinziehen. Die Namen soll
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ich denen nennen. Dafür soll ich Strafmilderung kriegen.
Die können die sich an den Arsch klatschen. Ich bin doch
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nicht lebensmüde.“
Irgendwie doch, wenn du das überall herausposaunst. „Wer ist dein Anwalt?“, fragte ich.
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„Die Jamon. Spitzenfrau!“
„Ja, habe ich gehört. Aber mir kann so was gar nicht erst „Wie? Verstehe ich nicht.“ „Wie, am Auto?“
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Du sowieso nicht. „Am Auto.“
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passieren. Einen Bullen erkenne ich auf Tausend Meter.“
„Völlig klar: Steht doch groß genug drauf“, sagte ich und
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lachte laut und hämisch.
„Hast mich ganz schön verarscht.“ „Ich doch nicht. Würde ich mir nie erlauben.“ Wenn die Bullen doch endlich nur noch auf Knaller wie ihn
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setzen würden. Um wie viel einfach wäre dann alles. Sturm mit Spitzengeschwindigkeiten, dumpfes Don-
nergrollen, abstrakte Blitze vom Himmel schießend und Regen aus Kübeln – das volle Programm: So präsentierte
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sich der 17. August. „He, Alter, was läuft denn so?“, fragte Wastl, klopfte kurz
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an die offene Tür und kam herein. Wastl war einer meiner besten Freunde, Arbeitskollege und HELLS ANGEL mit Leib und Seele. Wer ihn nach seiner Konfession fragte, dem antwortete er: HELLS ANGEL. Ich legte das Papier aus der Hand auf den Tisch und sah zu ihm auf. „Wie die mit unserer Umwelt umgehen.“
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„Hä? Drehst jetzt durch?“ „So eine Papierverschwendung.“
oth
„Red Klartext!“
„Sieh aus dem Fenster, dann kommst du selber drauf.“
„Deine Anklageschrift ist eingeflogen!“, rief er, grinste breit
mr
und schlug mir mit der flachen Hand auf die linke Schulter. „Glückwunsch! Wurde auch Zeit. Hast lange genug gebib-
im
bert.“
Wastl setzte sich auf mein Bett, kramte Tabak aus der Hosentasche hervor und drehte Zigaretten.
.T
„Bin ich auch irgendwie. Aber was die Spinner hier ablassen...“
W
„Drauf geschissen! Die Verhandlung ist entscheidend, nicht der Müll da. Staatsanwälte brauchen das. Haben eh alle nen Schlag weg. Freiwillig macht das doch keiner. Die ten Schotter.“
laf
werden nach Jahren bezahlt. LL und SV bringen den meis-
mir?“
tb yO
„Und der Herzkasper eines netten, jungen Mannes wie „Nen Porsche. Bleib cool! Da – rauch was!“, und reichte mir eine Selbstgedrehte.
„Die behaupten, ich hätte dem seine Brieftasche mit Füh-
rig h
rerschein geklaut. Dabei hat sich das Teil schon vor Monaten in der Wohnung seiner Mutter, irgendwo im Norden angefunden. Was bin ich doch für ein grandioser Hokuspokus-Räuber.“
py
„Ich sag doch, die sind nicht dicht. Halts Maul jetzt!“ „Und du erst. Oder muss ich erst Zucker in den Tank deiner
Co
Harley zaubern?“ Wastl lachte. „Ich sei brutal...“ „Stimmt!“ „Zucker?“ Jetzt lachte er nicht mehr nur, jetzt schrie er.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 237 von 237 -
„Ich sei brutal vorgegangen und hätte die Hütte wochenlang observiert. Ein perfekt geplanter Raubüberfall, bei
oth
dem der Tod des Opfers einkalkuliert wurde. Hast Recht,
die sind echt nicht dicht. Und plötzlich gehört der Revolver mir. Wie viel bringt so was eigentlich?“
mr
„Den siehst du nie wieder, Depp!“
„Schade! Ist doch der Hammer: Ich sitze im Knast, bin
im
wehrlos und die klauen seelenruhig meinen Revolver –
meine Altersvorsorge. Na, egal, habe ihn ohnehin versenkt. Jetzt kommt’s mir erst! Wie können mir diese Spinner ei-
.T
nen Revolver schenken, den es gar nicht gibt? Justizlogik, schon klar. Brust! Jedenfalls kommen denen ihre Gutach-
W
ter zum Ergebnis, ich sei zur Tatzeit in vollem Umfang schuldfähig gewesen. Profis eben. Gut, dass die einem das sagen. Darauf wäre ich nämlich nie gekommen. Und dabei
laf
war ich sogar selbst dabei.“
„Fertig? Geh die Sau drüben verprügeln. Dann geht’s dir
tb yO
wieder besser. Ich geb nen Kaffee aus. Hier kriegt man ja nichts. Kommst du mit?“ „Hast du Zucker?“
Wir gingen zu ihm, tranken Kaffee, rauchten und träumten von Kanada. Wastl war schon ein paar mal da und konnte
rig h
viele schöne und spannende kleine Geschichten über Wölfe, Indianer, einsame Hütten und unendliche Weiten und Wälder erzählen. Es machte Spaß, ihm zuzuhören. Er führte
py
mich aus dem Dunkel. Mit dem Herbstanfang flatterte die Ladung ins Haus.
Co
Höflich aber bestimmt lud mich das Gericht zur Hauptverhandlung am 17. und 18. Oktober jeweils 9 Uhr in ihr Justizgebäude zu einem Stelldichein auf Saal B 275/II. Zehn Tage später besuchte mich Frau Jamon.
„Ihre Anklageschrift ist fertig.“ „Nein? !“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 238 von 238 -
„Doch, ja! Über die Kürze war ich, ehrlich gesagt, erstaunt. Es hat aber auch sein Gutes: Wir brauchen uns nicht mit
oth
Nebensächlichkeiten herumschlagen. Sonst sieht es gar nicht so schlecht für Sie aus.“ „Wie viel?“
mr
„An einer Bewährungsstrafe wird auch die Staatsanwältin
nicht rütteln können. Ach ja, meine Sekretärin hat bei Rich-
im
ter Hoßt angefragt. Ihre Verhandlung wird voraussichtlich noch im September sein.“ „Nicht möglich!“
.T
Forschend tasteten ihre Blicke über mich hinweg. Doch ich reagierte nur auf ihre Zigaretten, die mir an diesem dritten
W
Oktober ganz besonders mundeten.
„Doch.“, sagte sie kurz, „Ich habe Ihnen eine Kopie des Gutachtens mitgebracht. Und auch gleich die ErmittlungsPapier über den Tisch.
laf
akte“, und schob dabei zwei übereinanderliegende Stapel
tb yO
Blitzartig kramte ich in den verborgensten Winkeln nach Hoffnungsfunken. Vergeblich. „Hatte ich so was nicht schon mal unter anderem Namen?“, fragte ich nach dem flüchtigen durchblättern der Ermittlungsakte.
rig h
„Tatsächlich?“ Hm, schauen Sie eben noch mal rein. Für Sie persönlich kann man sich kein besseres Gutachten wünschen. Aber für die Verhandlung – es wird sich finden. Die Kopien bringen Sie mir das nächste Mal bitte wieder
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mit. Ich muss sie vorm Termin noch durcharbeiten. Wenn Sie mit etwas nicht einverstanden sein sollten, notieren Sie
Co
es an den Seitenrändern.“ „Eine Frage. In letzter Zeit wird ständig meine Zelle gefilzt. Ich meine, die sind echt krank. Die wühlen sich da jeden Tag durch. Holen jedes Stückchen Papier aus dem Mülleimer. Mit Mundraub hat das ja wohl nichts zu tun. Kann man dagegen nicht vorgehen? Es nervt ganz schön, wenn man
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 239 von 239 -
geschafft von der Arbeit kommt und dann erst mal aufräumen darf, um sich nicht noch eine Hausstrafe einzufangen,
oth
weil die Zelle ein Saustall ist.“
„Eigentlich dürfte niemand in Ihren persönlichen Unterlagen herumwühlen. Letztlich können Sie dagegen nichts
mr
tun. Die Leitung würde sich auf die Sicherheit und Ordnung
im
in der Anstalt berufen. Das Recht ist dann auf ihrer Seite.“
Aufgelöst, eine Zigarette nach der anderen rauchend, saß ich nach Feierabend am Tisch über das Gutachten ge-
.T
beugt.
Viele Stunden vergrub ich mich in den 74 Seiten. Ich stu-
W
dierte und studierte – suchte einen klitzekleinen Hinweis, um dahinter zu kommen, warum Radophil und Stricker schrieben, was ich las.
laf
Eine Zigarette fest zwischen den Lippen und den Kopf in beide Hände gebettet. Schweiß bedeckte meinen
tb yO
Körper. Mich fröstelte.
Dass ich geordnet und realistisch denke, eine gute Lernfähigkeit, schnelle Auffassungs- und Beobachtungsgabe sowie eine gut entwickelte soziale Intelligenz habe, Wachheit und kombinatorische Fähigkeiten besitze, durfte ich –
rig h
bei aller Bescheidenheit – doch wohl erwarten. Man kennt sich ja. Und doch hätten die den Schleim für sich behalten können. Womöglich drehen andere daraus einen passenden Strick für mich.
py
Beide verneinten die Frage nach wahnhaften Zügen in meinem denken und plädierten, aufgrund meiner
Co
vorauseilenden Persönlichkeitsentwicklung nicht das Jugendstrafrecht anzuwenden. Womit die albernen Schürzenjäger die Tür zum Qualm weit aufstießen. Doch war es weder der Qualm, den sie mir wünschten, noch die Beurteilung und Einschätzung meiner Person, die mir zusetzten wie seit langem nichts mehr. Hierzu fehlte
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 240 von 240 -
mir schlicht fundiertes Wissen, um das Geschriebene korrekt interpretieren zu können. Nicht so im sogenannten
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allgemeinen Teil, dem mit Abstand umfangreichsten Kapitel.
Nach mehrmaligem lesen erkannte ich, sie wollten mich gar
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nicht verschaukeln, sie wollten mich vielmehr beschützen. Diese Schlitzohren wussten nur zu gut, ich würde ihnen hin nicht in Raubing fristen müssen.
im
nach der Lektüre nicht auflauern können, mein Dasein mitAus dem Nichts, das ich ihnen über mich erzählte, köchel-
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ten sie eine unglaubliche, weil gänzlich an den Haaren herbeigezogene Geschichte. Doch genügte ihnen das allein
W
nicht, sie sattelten noch kräftig drauf. Selbst die Ermittlungsergebnisse der Polizei, die sie zitierten, bastelten sie sich passend.
laf
Ich wurde das Gefühl nicht los, den Vorabdruck meines Urteils zu lesen. Schuldig in allen Anklagepunkten.
tb yO
Schweißgebadet schlurfte ich durchs Zimmer. Rastlos, blind, wutschnaufend. Mein Hemd klebte an Brust und Rücken, Bäche stürzten aus den Achselhöhlen herab, bahnten sich den Weg zur Unterhose. Zigaretten entzündeten sich an der vorherigen.
rig h
Was hinderte sie, bei den Fakten zu bleiben? Aus den Vernehmungsprotokollen ging doch klipp und klar hervor, dass ich eine Zeugin beim verlassen des Hauses sah. Detailliert gab sie wider, was sie beobachtete. Nach Radophil,
py
der sich ausdrücklich auf diese Aussage stützte, warf ich gleich mehrere große Gegenstände auf die Rücksitzbank
Co
des Wagens, bevor ich mich neben Luis setzte und mit ihm davonbrauste. Jeder einigermaßen intelligente Muli würde sich vehement zur Wehr setzen, packte man ihm auf, was ich alles geschleppt haben soll. Angeblich gestand ich Radophil in vertraulichen Gesprächen, die Wohnung über mehrere Wochen hinweg
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 241 von 241 -
beobachtete und dabei den Revolver stets bei mir getragen zu haben. Ich sähe mich selbst als Opfer Luis, was aber mit
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hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne.
Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass ich be-
reits in der Sowjetzone wegen Gewaltverbrechen inhaftiert
mr
war. Anderslautende Angaben meinerseits seinen wenig glaubhaft.
im
Und die Kinderpornos habe ich mir eingebildet. Eine
Schutzbehauptung, schrieben sie. Hinweise auf die Glaubwürdigkeit meiner Aussage, fänden sie nicht.
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Auch ich vermisste etwas – eine Kleinigkeit nur: Begründungen zu ihren Behauptungen, die sie nicht lieferten.
W
Vor einiger Zeit bestellte ich mir Gesetzbücher aus der Knastbibliothek. Was die da für Tierquälerei anboten – ein Lacher.
laf
Wenn ich rauskomme, kaufe ich mir gleich einen weißen Kittel. Dann bin ich wichtig und kann Tun und Trei-
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ben, was ich will und wie ich lustig bin... bekomme Arbeit und eine unheimlich große, furchtbar helle Wohnung – niemand hält mich auf.
Erschöpft fiel ich in den frühen Morgenstunden aufs Bett
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und schlief sofort ein.
Allmählich verdünnte sich die Luft. Das atmen fiel
mir schwer wie einem alten Mann beim Treppensteigen. Je näher der Tag der Verhandlung rückte desto unruhiger
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wurde ich.
Und immer öfter kämpfte ich gegen das Böse oder Gute
Co
oder was auch immer. Es setzte mir zu, quälte mich. Er oder es malträtierte mich mit Kopfschmerzen und Magenkrämpfen nie dagewesener Intensität. Manchmal, vor dem einschlafen, sah ich mich ein
Gerichtsgebäude verlassen, mehrmals tief durchatmen, eine Zigarette anzünden und fein lächelnd in Richtung
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 242 von 242 -
Hauptbahnhof davonlaufen. Weg, nicht wie weg, bevor es sich einer anders überlegt.
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Das Mädchen am Fahrkartenschalter sieht mich fragend an. Ich bitte um eine Fahrkarte für den nächsten Zug. Wohin ich wolle, fragt sie? Blöde Frage. Natürlich weg. Einfach
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nur weg. Besser, weit weg. Sieht sie denn nicht, dass ich leben will? Ich will leben, leben, leben! Fährt einer nach
im
Kanada, frage ich? Sie schüttelt den Kopf, sieht ungläubig durch die verschmierte Glasscheibe zu mir herauf. Doch ich bestehe auf eine Fahrkarte nach Kanada. Warum ich
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ausgerechnet mit dem Zug nach Kanada wolle, es gäbe auch andere Möglichkeiten, erklärt sie. Ich bleibe stumm,
W
lächle dankbar und gehe leichtfüßig durch die Halle nach draußen.
laf
Sie hatte Recht, ich sollte wirklich laufen. „Wir sind radikal überbelegt. Alles voll.“
tb yO
Ich saß am Tisch, las konzentriert in der Ermittlungsakte und machte auf dreckig gelbem, liniertem Knastpapier Notizen, als der Schließer plötzlich in der Tür stand. „Ich auch. Was is?“
Er trat einen Schritt zur Seite. Mein Blick fiel auf einen bul-
rig h
ligen Dunkelhaarigen mit dem üblichen Deckenbündel in beiden Händen. „Anweisung von oben: Einzelzellen sind doppelt zu belegen.“
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„Was? !“ Wie ein Pfeil schoss ich nach oben. Die blöde Kaffeetasse machte einen Satz. Dunkelbraune Flüssigkeit
Co
ergoss sich über meine Notizen und breitete sich schnell aus. Hilflos sah ich zu, verschluckte mich am Rauch der Zigarette und hustete, bis mir die Tränen kamen. „He, he, he, das haut nicht hin! Ich habe übermorgen Verhandlung und durfte heute auf Station bleiben, um mich in Ruhe vorbereiten zu können“, krächzte ich.
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„Kann ich nichts zu.“ „Ich wohl?“, und etwas ruhiger, „Was ist das überhaupt für
oth
einer?“
„Vom Frongkraisch“, sagte der hinter dem Pferdebündel. Das über wir dann aber noch. „Ich fragte nicht, woher.
mr
Brust! Warum sitzt du?“
„Der Schließer hob die Hand und ging. Frongkraisch kam mich wieder. „Abe Auto gebrochen. Aber ist Ümbük.“
im
herein und warf sein Bündel auf das obere Bett. Ich setzte
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Und das üben wir jetzt. „Hier machst du solche Sauereien nicht. Außerdem heißt das Humbug.“
W
„Sag üsch.“ „Eben nicht!“ „Doooch!“ Hier streite ich.
laf
Auch noch streiten. So ein Hammel! Das ist mein Zuhause.
tb yO
„Du hast Ümbük gesagt. Das ist ja nicht mal russisch. Türkisch vielleicht, aber nicht französisch. Glaubst wohl, ich bin blöd?“
„In Frongkraisch, wir sagen nicht diese...“ „Aber in Deutschland! Basta!“
rig h
Dann lass dich nächstes Mal dort einsperren, wenn es da von allem nur die Hälfte gibt. Ich hob meinen feuchten Papierberg leicht an, luckte darunter und fummelte nach meinem Tabak. Auch das noch:
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triefend nass.
„Eh, Ammel, gib mir ne Kippe!“
Co
„Was is Grippe?“ Urkomisch, der Typ. Armes Frankreich. Den haben die bestimmt ausgebürgert. „Na, vertragt ihr euch, Mädels?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 244 von 244 -
Schon wieder stand der Schließer mit seinem Kunstrasenjäckchen in der Tür und warf mit seiner intellektuellen
oth
Kritik nach mir.
„Ich habe Arbeit. Ich brauche keine geschwätzigen Untermieter. Warum legt ihr ihn nicht auf die Einundfünfzig?“
mr
„Für dich Großmaul reserviert. Wenn du endlich fertig bist, kannste jetzt mitkommen.“
im
„Hey, Ammel, geh mal mit! Da schmeißt wer ne Runde Baguette.“
„Du warst gemeint. Kammer, Privatkleider holen. Und lass
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den Jungen in Ruhe. Ist ein ganz dicker Fisch. Hat Auto gebrochen.“
W
Und dann wieherte er los – die Tonleiter unkeusch hoch und runter. Mit hochrotem Kopf, etwas vorn übergebeugt und immer wieder mit den Handrücken Tränen aus den Au-
laf
gen wischend. Erst auf der Kammer begann er, sich allmählich zu beruhigen.
tb yO
Ist es denn die Möglichkeit: Da sitzt du nun fast ein volles Jahr, und ausgerechnet an dem Tag, an dem du mal keine Unterhaltung suchst, einfach nur deine Ruhe willst, ausgerechnet an diesem Tag setzen die dir einen ins Zim-
rig h
mer.
Einundvierzig Stunden vor der Hauptverhandlung
gab ich die Ermittlungsakte und das Gutachten an Frau Jamon zurück. Im Austausch überraschte sie mich mit der
py
Kopie des Antrages der Staatsanwaltschaft zur zweiten automatischen Haftprüfung.
Co
„Der Inhalt ähnelt dem der ersten. Machen Sie sich keine Hoffnungen.“ Warum sollte ich? Ehe da einer vom anderen abgeschrieben hat, bin ich längst in Kanada und sitze mit echten, wirklich wahren Indianern am Lagerfeuer.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 245 von 245 -
„Wie funktioniert das eigentlich mit der Revision? Müssen Sie das machen oder ich?“
oth
„Ach, Revision. Wir werden nicht in Revision gehen. Machen Sie sich nicht verrückt. Sie werden schon sehen.
Haben Sie nichts anderes anzuziehen?“, missbilligend
mr
starrte sie auf mein in unzählige, furchtbar schicke Fältchen gelegtes Oberhemd.
im
„Nein, ich habe und brauche kein Yuppiekostüm. Mein
Schneider ist im Urlaub und mein Verhältnis zur Etikette wird nicht verhandelt.“
.T
„Anzug und Krawatte haben schon so manchem Pluspunkte eingebracht. Kurze Haare und glatt rasiert übrigens
W
auch.“
„Ich bin nicht irgendein mancher Pluspunkt. Ich bin James. James, der wollte, konnte und wird. James schleimt nicht.
laf
Niemals! Und James lässt sich sein Image von nichts und niemandem versauen. James hat Selbstachtung. Wäre ich
tb yO
ein verdammter Schauspieler, würde ich dann kämpfen? Wohl kaum!“
„Das müssen Sie wissen, aber...“ „Ich bin noch nicht fertig. Das, worüber Sie hier herziehen, hat meine Mutter gekauft. Die Frau hatte noch nicht einmal
rig h
das Geld für eine eigene Fernsehzeitung.“ „Wie Sie wollen. Ich werde unmittelbar hinter Ihnen sitzen. Wenn Sie eine Frage haben...“ „Ich frage niemanden, ob ich reden darf! Ich bin in einem
Co
py
freien Land!“
Als ich Sonntagnacht in meinem Zimmer saß, dem
Schnarchkonzert meines gezähmten Haushammels lauschte, Kette rauchte und immer wieder Schweiß von den Händen wusch, öffnete sich plötzlich die Kostklappe und jemand, den ich nicht sehen konnte, weil er seitlich aufrecht neben der Tür stand, säuselte: „Schlaftablette?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 246 von 246 -
Selber eine. „Wozu? Was soll das? Ich bin müde.“ „Sie haben morgen Termin?“
oth
„Eben! Ist wohl besser, ich schlafe dabei?“ „Schon gut. Gute Nacht!“
Kaum hörbar schloss sich die Klappe und die Stimme aus
mr
dem Dunkel verstummte. Gott, ist das ein aufdringliches
im
Personal heutzutage. XII
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Die Tür öffnete sich wie jeden Morgen kurz vor 6 Uhr. Für einen Moment schob sich ein Kopf durch den Spalt als
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tauche er aus einem See empor und schnappe nach Luft, hauchte ein müdes „Moorschn.“, zog sich zurück und schleppte sich zur nächsten Zelle.
laf
Anders als an den Tagen der vorangegangenen Monate lag ich an diesem Morgen nicht mehr im Bett. Ungeduldig er-
tb yO
wartete ich angezogen, gewaschen und gekämmt den Aufschluss.
Nun war es also soweit. Ich warf abschließende prüfende Blicke um mich, zog noch einmal am Bettzipfel, leerte den Aschenbecher in die Toilette, drückte auf den
rig h
Spülknopf und sah mich gutgelaunt ein letztes Mal mein Zimmer verlassen. Gelassen und bester Dinge, von Nervosität keine
py
Spur, ging ich um 7:14 Uhr den Stationsflur entlang. Ich kam von Wastl. Wir hatten gemeinsam gefrühstückt und
Co
Witze über meine anstehende Hauptverhandlung gerissen. Natürlich auf meine Kosten. Rechts von mir ein Schließer. Einige Knackis, die sich für die Arbeit fertig machten, reichten mir die Hand, andere klopften mir auf die Schulter und wünschten „Viel Glück!“. Mit einem hoffnungsvollen Lächeln dankte ich ihnen.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 247 von 247 -
Am Seitenausgang wartete ein grüner Kleinbus auf mich. Doch bevor sie mich zu ihm ließen, zogen sie ihre
oth
Filznummer ab. Als ob ich etwas aus dem Knast ins Gericht schmuggeln würde. Was überhaupt? Die haben sie ja nicht mehr alle.
mr
Ich stand in Fliegerstellung an der Wand und einer fummelte sich von hinten über meine Figur.
im
„Grapsch nicht so!“ „Solltest dich langsam dran gewöhnt haben.“
Und dann zupfte mir dieser Freigänger doch tatsächlich
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erst recht am Textil.
Bereits eine Stunde später befand ich mich in einer,
W
wie sie es nannten, Wartezelle - im Keller des Landgerichts. Der Rauputz an den Wänden hielt mich natürlich nicht davon ab „James will raus!“ und das Datum zu kritzeln. Fett,
laf
den Kugelschreiber wie einen Pinsel auf und ab bewegend, immer wieder über denselben Strich führend, malte ich
tb yO
meine Verewigung in die Tiefen und über die Höhen der schmutzigweißen Wandverzierung. Noch einmal las ich in meinen Aufzeichnung und nahm hier und da kleine Veränderungen vor. Dreißig Seiten hatte ich während der letzten Tage ausgearbeitet. Dreißig
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Seiten Argumente, die mir helfen sollten, den Rest des Tages in Freiheit zu verbringen. Punkt neun machte es Klick, der Stahl einer Fessel
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schloss sich um mein rechtes Handgelenk. Flankiert von zwei ungebügelten grünen Knastuniformen stieg ich die
Co
Treppen hinauf zum Gerichtssaal. Die Blicke der Menschen auf den Fluren sah ich nicht, spürte sie aber und konnte mir ihre Gedanken gut vorstellen. „Guten Morgen!“ Dämlich grinsend kamen Radophil und Stricker auf mich zu, kaum dass ich den sterilen, schmucklosen Saal, der
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mich an die Ausstellungsräume eines Beerdigungsinstituts erinnerte, durch den Seiteneingang betreten hatte.
oth
„Wie geht es Ihnen? Nervös?“, forschte Radophil und wedelte mit seinem dunkel behaartem, weichem Patschhändchen vor mir herum.
mr
Und dabei war es doch ein so wunderschöner Morgen. Bis jetzt. Cool bleiben, dachte ich mir, immer cool bleiben und
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bloß nichts anmerken lassen. Bis hierher ging es mir gut.
Doch nun drückte sich Schweiß durch die Poren und klebte mein Hemd für jeden sichtbar, unangenehm und verräte-
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risch, am Rücken fest.
Seine Hand ignorierend, sagte ich mit der Miene eines Do-
W
zenten: „Das gefällt mir, ein Psychofuzzie mit Feingefühl. Nur, sehr geehrter Herr Doktor, man fragt einen Ertrinkenden nicht, ob er Durst hat. Das gehört sich nicht. Ist nicht
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nett.“
„Schlecht geschlafen?“
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„Gut geschlafen. Schlechte Gesellschaft. Ich schreite erhobenen Hauptes zu meiner Hinrichtung und Sie fragen, ob ich nervös bin? Schieben Sie sich zur Seite!“ „Hinrichtung? Jetzt übertreiben Sie aber“, mischte sich Stricker ein.
rig h
„Ja, ein ganz klein wenig. Aber das stört mich nicht. Lassen Sie mich jetzt vorbei oder laden Sie mich zum Essen ein?“
„Daran sind Sie doch aber ganz alleine Schuld.“ Radophils
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Mundgeruch schlug mir unangenehm auf den Magen. „Woran?“
Co
„Das Sie heute hier sind.“ „Habe ich jemals etwas gegenteiliges behauptet? Hätte ich allerdings vor meiner Festnahme sämtliche Folgen, die über eine Verurteilung hinausgehen, abschätzen können, dann, hmm, vielleicht hätte ich mich dann irgendwie anders entschieden“, sagte ich säuerlich lächelnd, machte unver-
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mittelt eine halbe Drehung nach rechts, stieß mit angelegtem Arm Radophil unsanft zur Seite, drückte mich an
oth
Stricker vorbei und ging drei Schritte weiter zu meinem Stuhl und setzte mich.
Ich hielt das gelungene Designerstück für meinen
mr
Stuhl, weil es über eine Sitzfläche und eine Lehne verfügte und darüber hinaus das einzige Exemplar seiner Art im
im
Raum war. Es konnte nur für den Angeklagten bestimmt
sein. Alles sprach dafür: Hässlich, hart, grob, robust und abgeschabt.
.T
Kaum hatte ich mich niedergelassen, betrat eine blonde Frau um die Dreißig den Schauplatz. Sie trug einen
W
schwarzen Umhang und verbissene, eingefrorene Gesichtszüge. Geräuschvoll zog sie ihre Füße übers Parkett, entgegen.
laf
eilte schnurstracks auf Radophil zu und warf ihm ihre Hand „Haben Sie das Gutachten gelesen, Frau Staatsanwältin?“,
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fragte Radophil leutselig.
„Aber ja. Sehr gut. Danke!“, entgegnete sie hocherfreut. Kurz nach diesem denkwürdigen wie erfrischenden Dialog, erschien meine Rechtsanwältin im heiligen Tempel. Auch sie trug einen langen schwarzen Fummel.
rig h
Frau Jamon bedachte mich mit wohlwollender Nichtbeachtung, wuchtete ihren fülligen Leib auf die Bankreihe hinter mir und nickte Radophil, Stricker und der Staatsanwältin freundlich zu. Besorgt beobachtete ich sie aus den Augen-
Co
py
winkeln.
Gefolgt von zwei Richtern, und in deren Windschat-
ten zwei Schöffen, schritt Richter Hoßt punkt 9:30 Uhr zum Showdown im Waschhaus seiner Durchlaucht ein. Bis auf die beiden Schöffen hatten sie sich warme, schwarze Mäntelchen übergeworfen. Es war zwar Oktober, aber bei
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weitem nicht so schrecklich kalt, dass es angebracht war, sich in beheizten Räumen in Decken zu wickeln. nen seiner Bücher und Hefter zu. Es waren sehr dicke
oth
Wir setzten uns und ich sah dem Vorsitzenden beim ord-
Bücher. Doch auch die vier Hefter waren nicht zu verach-
mr
ten.
Der Vorsitzende eröffnete die Verhandlung. Plötzlich Spritze beim Zahnarzt - irgendwie pelzig.
im
verspürte ich im Mund ähnliche Symptome wie nach einer Nachdem der Vorsitzende flugs alle Beteiligten vor-
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gestellt hatte - ausgenommen die einzige Zuschauerin im Saal - sah er zu Radophil, der es sich mit Stricker auf der bequem machte, hinüber.
W
linken Seite des Saales am Tisch neben der Staatsanwältin „Darf ich Sie Professor nennen?“, fragte er freundschaft-
laf
lich.
Betrübt verneinte Radophil.
tb yO
Der kleine weißhaarige Mann nickte bedächtig und wandte sich mir zu.
„Ich kenne natürlich... Ach, bleiben Sie doch sitzen.“ Ich stand auf, als er das Wort an mich richtete. Genau so, wie ich es hatte in der DDR tun müssen. Konnte doch kei-
rig h
ner wissen, dass man im Westen sitzen muss, wenn Majestät Hof hält. „Ich kenne natürlich Ihre Einstellung der deutschen Gerichtsbarkeit gegenüber. Dazu beigetragen mögen im
py
wesentlichen die gezielten Falschinformationen in der Sowjetzone haben. Morgen, nach der Urteilsverkündung,
Co
werden Sie sehen, dass die deutsche Justiz sehrwohl ein gerechtes und objektives Urteil sprechen kann. Soviel dazu. Kommen wir zu Ihren persönlichen Angaben.“ Spar dir die Gerechtigkeitssülze für einen anständigen Poncho. Weißt du denn nicht, was für ein Unhold ich bin?
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Hast mich etwa nicht zu deiner heutigen Veranstaltung geladen?
oth
Ich half ihm, seine Gedächtnislücke zu schließen und nannte artig meinen Namen. „Wollter. James Wollter.“
mr
Um mich herum blieb es still. Niemand lachte mich aus.
Bei der Frage nach meinem Beruf, stutze ich erneut. Wo
im
sollte ich den denn so schnell hernehmen? Sage ich, gelernter Knacki?
„Sehen Sie, ich bin Raucher, esse Rindfleisch und spaziere
.T
im Berufsverkehr durch die Stadt. Ja, ich bin wohl Extremsportler und Überlebenskünstler zugleich. Andererseits
W
aber auch eine Art Wandersmann. Immer nach vorn gerichtet. Ohne Ziel und stets auf der Suche. Glauben Sie nur nicht, ich fand, wonach ich suchte. Es ist sehr mühselig.
laf
Mein Gastspiel bei Ihnen ist nur eine Etappe der Lehre. Ich werde nicht verweilen, weil ich auf der Suche bin, wonach
tb yO
ich suche, was zu finden ich hoffe. War das nicht riesig?“, fragte ich sibyllinisch lächelnd das Gericht. „Ich glaube fast, Sie haben den Ernst der Sache noch nicht erkannt“, nahm mir der Vorsitzende allen Spaß. Irrtum, mei Gutster, dass ist nämlich keine Frage des Glau-
rig h
bens. Allerdings glaube ich tatsächlich nicht an den Ernst, eher schon an den Spaß des Lebens, den ich nie kennen lernte, mir aber sehr gut vorstellen kann und mehr als alles andere wünsche.
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„Ich wüsste nicht, wie ich das widerlegen sollte.“ Begleitet von einem ungläubigen Kopfschütteln forderte er
Co
mich sodann auf, exakte Angaben zum bisherigen Verlauf meines Lebens und schließlich zur Tat zu machen. Mehrfach unterbrach er mich, um mich meines Le-
benswandels wegen zu rügen - ja, mit erhobener Stimme zu tadeln. Ich wusste nicht, was ihn aufregte, hatte ich doch noch gar nicht gelebt. Von welchem Lebenswandel sprach
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dieser albern verkleidete Mensch? Darüber hinaus gab er zu verstehen, dass er mir kein Wort von dem glaube, was
oth
ich über meine Festnahme, Verurteilung und Inhaftierung in der DDR vortrug. Ich sei ein gewöhnlicher Krimineller, der es nicht lange in Freiheit ausgehalten habe.
mr
Es machte mir nichts aus. Ich war sehr tapfer und wusste, ich schlug mich wacker. Ich erzählte und erzählte und
im
manchmal ließen sie mich sogar mehrere Sätze bis zum
Ende aussprechen. Doch ihre Mienenspiele und einige verzweifelte Gähnansätze der Staatsanwältin verrieten mir,
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dass keines meiner wohlüberlegten Worte bis in ihre Köpfe drang.
W
Ihre Herzen erreichen zu wollen, beabsichtigte ich ohnehin nicht.
laf
„Alles gelogen!“ Ich sprang auf und schrie weiter: „Alles gelogen! Nie habe ich denen gegenüber derartige Ümbük!“
tb yO
Angaben gemacht! Sie sprechen nicht Wahrheit! Das ist „Setzen Sie sich und warten Sie, bis Ihnen das Wort erteilt wird. Sie werden noch ausreichend Zeit und Gelegenheit dazu erhalten“, wies mich der Vorsitzende zurecht und zi-
rig h
tierte sogleich weiter aus Radophils psychologischem Gutachten.
„Der sollte es mal mit Voodoo versuchen!“ „Haben Sie mich nicht verstanden?“
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Nein, Hochwürden, ich verstehe nämlich überhaupt nichts mehr, setze mich aber trotzdem. So miserabel er auch sein
Co
mag, niemand steht mitten im Film auf und geht. Vier für den Ausgang der Verhandlung als bedeu-
tungslose einzustufende Fragen - jeweils eine von der Staatsanwältin, Radophil, Stricker und einem Schöffen -, von denen sich keine auf den Tathergang bezog, stellte
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 253 von 253 -
man mir bis Richter Hoßt gegen 11 Uhr zur Vernehmung des Geschädigten überleitete.
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Zwei Meter vor mir, in der Mitte des Raumes, nahm er auf einem gepolsterten Stuhl Platz. Seine zittrigen Hände hielten sich auf dem Tischchen vor ihm aneinander fest.
mr
Die störrischen Finger ineinander verkrampft sah er zu mir herüber, verengte die Augen, feuchtete die Lippen an und
im
beantwortete die erste Frage des Vorsitzenden.
„Doktor Gerhard Niedermann. Richter am Landgericht Wünschen.“
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Knirschend klappte mein Kiefer herab. Mein Mund war leer und trocken. Und doch verschluckte ich mich an irgendet-
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was und hustete bis mein Magen revoltierte und Erbrechen signalisierte. Jeder Illusion beraubt, trat nun das ganz groErnüchterung ein.
laf
ße Verstehen, Schulter an Schulter mit der ganz großen Ich weiß nicht mehr, ob es mich überraschte oder erzürnte,
tb yO
dass keiner der Anwesenden Erstaunen zu erkennen gab. Auch Jamon blieb unbeeindruckt. Weder bei meinen Vernehmungen noch in der Anklageschrift oder anderswo erhielt ich einen Hinweis auf den Broterwerb des Mannes, über dessen Wohnung ich herfiel.
rig h
Glück muss man haben. Nachdem ich nun wusste, wem ich auf die Füße trat, wunderte mich die Art und Weise der Befragung des Richters durch den Vorsitzenden auch schon nicht mehr. Immer und immer wieder blieb Nieder-
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mann bei seinen Aussagen stecken. Dabei sollte er doch Profi sein. Kein Problem für Richter Hoßt, der ihm ebenso
Co
oft kollegial hinter die Zunge griff. „War es nicht so, dass...“ Vorsagen gilt nicht. „Jaja, es war...“, ergriff Herr Niedermann sogleich die ihm hilfreich gereichte Hand.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 254 von 254 -
Mal erinnerte ihn Hoßt an die Farbe der Waffe, mal an die Brutalität des Gangsters. Der Gangster war übrigens ich.
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Da er sich im einzelnen auch nicht an die gestohlenen Gegenstände erinnern konnte, breitete sie der Vorsitzende verbal vor ihm aus.
mr
„Fehlten denn nicht auch noch zwei Lederjacken?“
„Ja, jetzt erinnere ich mich wieder“, nahm Kollega den Fa„Armani“, flüsterte die Staatsanwältin.
im
den auf, „Eine von BOSS, die andere ...“
„Richtig, Armani“, brachte sich Kollega mit viel Spielwitz
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ein.
Mein Körper verweigerte sich mir. Ich war unfähig
W
Widerstand zu leisten. Ohnmächtig beobachtete ich aus glasigen Augen und mit leicht geöffneten Lippen das, was ich für einen furchtbar schlecht inszenierten Komö-
laf
dienstadl hielt. Blauäugig wie ich war, vertraute ich auf mein Geständnis und den gesunden Menschenverstand
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derer, die über mich urteilten.
Zwischen meinen Aussagen und den Ermittlungen der Polizei gab es nicht eine Abweichung. Warum jetzt noch mit aller Gewalt in offenen Wunden herumstochern? Das bringt keinem was. Dem Alzheimer da vorn am aller-
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wenigstem.
Um Fassung ringend stellte ich nach der Befragung
durch das Gericht Herrn Niedermann einige Fragen bezüglich seiner Aussagen vor Gericht. Einen erheblichen Teil
py
seiner Angaben sah ich durch die Ermittlungen der Polizei widerlegt.
Co
Zu meinem Erstaunen, nein, eigentlich erstaunte es mich überhaupt nicht, ging nicht der Gefragte, sondern der Vorsitzende darauf ein und blockte jede meiner Fragen mit „Das ist uns bereits bekannt.“ oder „Das interessiert doch niemanden.“ ab. Ich nickte blöd und nahm es nunmehr als
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 255 von 255 -
gegeben hin. Resigniert lehnte ich mich zurück. Von anderer Seite folgten keine weiteren Fragen.
oth
„Dann kommen wir jetzt zu der Zeugin Rindringer. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Aussage der Zeugin, Frau
Rindringer, weitgehend bekannt ist und deshalb auf eine
mr
neuerliche Vernehmung verzichtet werden kann. Sind Sie, Frau Staatsanwältin, anderer Meinung?“
im
„Nein. Die Staatsanwaltschaft kann auf eine erneute Ver-
nehmung der Zeugin verzichten“, sagte die Staatsanwältin von oben herab, wo sie thronte wie der Sultan von... tanine? „Wir verzichten ebenfalls.“
W
„Und Sie, Frau Rechtsanwältin?“
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Quatsch! Dem Namen nach ist das ja ne Die. Dann also Sul-
„Nein!“, rief ich so laut, dass ich selbst erschrak und einen
laf
Augenblick vergaß, weshalb ich mich erhob. „Ich möchte, dass sie hier in der Hauptverhandlung vernommen wird!
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Sie kann meine Aussagen bestätigen!“ Meinen Zwischenruf mit einer Handbewegung beiseite wischend, blickte der Vorsitzende auf seine Armbanduhr. „Jetzt ist es zwölf Uhr. Wir unterbrechen die Verhandlung
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bis dreizehn Uhr dreißig.“
Staatsanwältin und Radophil traten an den Richter-
tisch. Beim hinausgehen schnappte ich Wortfetzen auf. Sie sprachen mit dem Vorsitzenden über die Waffe.
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Mich brachte man wieder in den Keller, wo mir ein spärliches Mahl in einer Plastikschüssel serviert wurde. Es
Co
könnte sich dabei um Linseneintopf mit Bauchspeck gehandelt haben. Jedenfalls dem Geruch und der Farben nach. Aber ganz sicher war ich mir nicht. Die Verhandlung wurde pünktlich mit den Aussagen des Kripomannes sowie denen der Gutachter fortgesetzt.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 256 von 256 -
Bei den Ausführungen des Bullen hielt ich mich zurück. Desgleichen bei Stricker. Doch dann, kaum setzte Radophil
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an, aus seinem Gutachten zu zitieren, hielt mich nichts
mehr. Ich sprang auf, zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf ihn und brüllte wie am Spieß: „Was soll dieses Stück
mr
verlogenes Papier? ! Das gesamte Gutachten ist...“
„Mäßigen Sie sich, sonst muss ich Sie von der Verhand-
im
lung ausschließen“, wies mich einmal mehr der Vorsitzende zurecht.
Doch ich war in Fahrt. Ich hätte zur Toilette gehen sollen.
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Auf meiner Blase lastete ein eigenartiger Druck. Nichts konnte mich jetzt noch stoppen. Auch nicht Radophils
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Mienenspiel, das mich wie irgendetwas furchtbar hartes, vor allem aber tödliches treffen sollte.
„Wann schreiben Sie denn Ihre Gutachten? ! Bevor oder
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nachdem Sie den Probanden sprechen? !“ „Diese Frage ist eine Unverschämtheit! Ich lasse sie nicht
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zu! Noch so eine Bemerkung, und Sie fliegen hochkant aus dem Saal! Das lasse ich mir von Leuten wie Ihnen nicht bieten!“, schrie Hoßt seinerseits los. „Selbstverständlich danach“, antwortete Radophil gelassen.
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„Warum trägt dann dieses Klopapier ein Datum von Mitte April, obwohl ich erstmals Anfang Mai bei Ihnen war? !“ Mir stand Schweiß auf der Stirn. Meine Stimme zitterte ebenso wie meine Hände. Mein Magen zog sich zusammen.
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Und ich musste pinkeln. Plötzliche Stille im Saal. Richter, Staatsanwältin, Rechts-
Co
anwältin und Gutachter schmökerten sich durch die vor ihnen liegenden Kopien des Gutachtens. „Das tut mir Leid. Da ist uns ein Schreibfehler unterlaufen.“ Radophil blieb unbeeindruckt. Er sprach es, als bestelle er in der Bahnhofskneipe ein Bier.
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„Ein Schreibfehler? Ümbük! Und nicht weiter schlimm? nen anderen aus dem Fenster wirft. Wenn das ein
oth
Soso. Klar, selbst bricht man sich ja nichts, wenn man eiSchreibfehler ist, dann sitze ich wegen eines verdammten Orientierungsfehlers hier. Kann ich jetzt nach Hause?“
mr
Noch immer stand ich eingeklemmt zwischen Stuhl und
Tisch. Auch mein Tonfall hatte sich nicht wesentlich ver-
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ändert. Ich fühlte mich gut. Unheimlich gut und zu allem entschlossen.
„Sind sie jetzt fertig?“, brach der Vorsitzende die eingetre-
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tene Stille.
„Natürlich nicht! Das Gutachten ist in beinahe allem, was
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mich betrifft, erstunken und erlogen!“
„Jetzt reicht es aber!“, erhob Richter Hoßt abermals seine Thema übergehen.
laf
Stimme und winkte ab, als wolle er nun zu einem anderen „Was meinen Sie damit?“, übernahm erstmals ein Schöffe
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das Wort. Ein unscheinbares, blasses, müdes Pferdegesicht mit ausgedünnter blonder Mähne, das mir sofort sympathisch war.
Dankend nickte ich ihm zu.
„Ich kann hier zwar nicht beweisen, dass sich die Gutach-
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ter große Teile meines Lebenslaufs und meiner angeblichen Aussagen zur Tat aus den Fingern gesogen haben, aber eines ist sicher: Sie schrieben kein Gutachten, sondern eine Vorverurteilung. Nur ein Beispiel möchte ich
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nennen. Ich könnte aber, wenn Sie mir einen Moment lang ein Gutachten zur Verfügung stellen, noch einige andere
Co
nachschieben. Der Zeugin, auf deren Aussage hier alle verzichtet haben, wurden in diesem Gutachten Worte in den Mund gelegt, die sie bei keiner Vernehmung ausgesagt hatte. Ginge es nämlich nach denen da, hätte mich diese Frau gesehen, wie ich all das angeblich geklaute Zeugs auf der Rücksitzbank des Audi verstaute, bevor ich mich in den
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Wagen setzte. Dem aber war nicht so. Ganz elegant wird sie auf diese Weise nicht mehr meine Entlastungs-, son-
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dern zur Belastungszeugin! Die Wahrheit ist: Die Zeugin
sah, dass ich nichts bei mir trug. Und in ein Auto stieg ich
auch nicht. Bitte glauben Sie mir, ich habe das blöde Auto
mr
nicht. Ich kann doch nicht mal autofahren. Ich würde es
Herrn Niedermann sofort vor die Tür stellen, wenn ich es
im
hätte und fahren könnte. Glauben Sie mir - Bitte! Und für
die wundersame Geldvermehrung habe ich auch keine Erklärung. Ja, ich habe vieles getan, was ich hätte besser
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lassen sollen, aber gestohlen habe ich wirklich nur ein Handtuch. Ein Handtuch, kein Stück mehr.“
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Erschöpft, durchgeschwitzt und mit ausgetrocknetem Mund ließ ich mich nach hinten auf meinen Stuhl fallen. Erneutes Schweigen; erneutes blättern in den Unterlagen
laf
und ein erneutes - fern von jeder wahrnehmbaren Aufrichtigkeit - Bedauern Radophils.
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„Der Angeklagte hat Recht. Es tut mir Leid.“ Meine Absicht, den Gutachter in seiner Glaubwürdigkeit zu erschüttern, scheiterte kläglich. Was ich auch einwarf, ich bewerkstelligte es nicht, sein Gutachten als
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das darzustellen, was es für mich war: Dreck, der in den Mülleimer gehörte. Stattdessen brachte ich den Vorsitzenden so weit gegen mich auf, dass dieser bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Gutachter in Schutz nahm und
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mir mit dem Ausschluss von der Verhandlung drohte. Auch die sich anschließenden Plädoyers vermochten
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es nicht, mich aus dem lethargischen Zustand, in den ich nach meinem Angriff auf den Gutachter fiel, herauszuholen. „Er kann von Glück sagen, dass er vor keine Schwurkammer kam. Es liegt ein eindeutiger Fall von schwerem Raub vor. Das Strafgesetzbuch sieht hierfür eine Strafe von fünf
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bis fünfzehn Jahren vor. Ich beantrage die Hälfte - also acht Jahre Freiheitsentzug“, schloss die Staatsanwältin.
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Schrecklich nett von dir. Sag doch, dass du mich füsilieren willst. Oder soll ich dir erst die Brust zeigen? !
„Es liegt kein schwerer Raub vor, sondern räuberische Er-
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pressung“, hakte Jamon ein. „Ich beantrage eine milde Strafe.“
im
Aus diesen beiden Sätzen bestand ihr gesamtes Plädoyer.
Zählt man noch den Satz hinzu, der meine Entlastungszeugin ablehnte, so sprach sie während der
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viererhalbstündigen Verhandlung exakt drei Stummelsätze. Jamon, Jamon - was, wenn ich dir den Stecker ziehe?
W
Wenig später, das Zifferblatt meiner für drei Koffer erstandenen Uhr mit schickem Edelstahlarmband zeigte halb vier, schloss der Vorsitzende die Verhandlung.
laf
„Das war’s“, verabschiedete ich mich mit einem Kopfnicken von meiner Anwältin.
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Bevor ich aus dem Saal geführte wurde, hielt ich dann doch noch einmal inne. Mit einem Ruck drehte ich mich ihr zu.
„Noch eines, Frau Jamon“, rief ich laut genug, dass es auch der Vorsitzende hören musste, „Ob nun schwerer
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Raub oder räuberische Erpressung - im Strafmaß nimmt sich das nichts. In beiden Fällen sind fünf bis fünfzehn Jahre angesagt, wenn mich nicht alles täuscht. Jemanden aus dem Verkehr zu ziehen, kann man durchaus auch ein
Co
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bisschen eleganter formulieren. Schönen Tag noch!“ Nahezu ein Jahr hatte ich Zeit, mich auf diesen Tag,
den Tag der Verkündung des Urteils vorzubereiten. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass ich diesen Tag beinahe ohne äußerlich erkennbare Gefühlsregungen über mich ergehen ließ. Im Inneren tobte wahrlich ein Orkan,
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doch äußerlich blieb ich cooler als cool, ja, ich möchte sagen, überaus gelangweilt.
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Natürlich hätte ich, wie so viele andere, ohne weiteres in
Tränen ausbrechen können. Irgendwie war mir schon danach. Doch so viel Genugtuung wollte ich der
mr
Staatsanwältin und all den anderen nun doch nicht ver-
schaffen. Zudem käme dieser Schritt einer Selbstkasteiung
im
gleich. Und darauf stand ich nun wirklich nicht.
Davon abgesehen hat sich nach monatelanger Haft jeder mit seinem zu erwartenden Urteilsspruch und dem
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damit verbundenen Schicksal längst abgefunden. Wer vor Gericht auch nur eine Träne vergoss, um so seine angebli-
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che Reue demonstrativ heraushängen zu lassen, war ganz einfach ein ekelhafter, aber - meine Hochachtung! - verteufelt guter Schauspieler. Solcherart Ambitionen waren mir
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maß erheblich drückte.
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fremd, auch wenn die Kunst des schauspielern das Straf-
Am Morgen vor der Urteilsverkündung reichte mir beim Aufschluss der Schließer einen kleinen grünen Briefumschlag. Der Nachtdienst habe es am Abend zuvor versäumt, ihn mir auszuhändigen als ich von Gericht kam.
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Zögerlich griff ich nach dem Brief. Ich war aufgeregt. Und auch etwas unsicher. Es war meine erste private Post. Ein schönes Gefühl. So warm. Es gab also doch jemanden, der an mich dachte. Drei Monate war er alt; und er war of-
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fen. Die Zensur wird ihn geöffnet haben. Auf der Rückseite
Co
stand „Von Luis“ - mehr nicht. Kein Ort, keine Straße. Ich stand neben der Toilette, nahm den Bogen hell-
blaues Papier aus dem Umschlag, entfaltete ihn und las. Es gehe ihm gut, er verdiene eine Stange Geld und genieße das Nachtleben. Das glaube ich dir sogar. Aber sag, wem hast du Zombie das billige Briefpapier geklaut?
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 261 von 261 -
Er arbeite in der Madrider Calle Fortuny 8. Dacht ich mir schon. Kennt doch jeder. Die Straße, wenn es denn eine
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Straße war, schrieb er noch mal oben rechts auf das Blatt.
Warum tat er das? Brust! Ist seine Birne. Etwas überragend seriöses wird es sowieso nicht sein. Vielleicht ein Puff, und
mr
er spült und trocknet Pariser.
Ich faltete den Bogen wieder so zusammen wie ich ihn dem
im
Umschlag entnahm, legte ihn auf den Umschlag und zerriss beides in viele ganz, ganz kleine Schnipsel.
Schwingend schneiten sie ins Becken. Ich sah ihnen nach,
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wartete geduldig, bis auch der letzte seinen Platz fand und spülte kräftig durch.
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Noch während das Wasser tosend durchs Porzellan rauschte, stieß ich die Tür auf und trat hinaus auf den Stadiesmal nicht.
laf
tionsflur. Von meinem Zimmer verabschiedete ich mich
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Kurz nach neun betrat ich den Sitzungssaal. „Grüß Gott, Herr Wollter!“ Überraschenderweise hielt mir Frau Jamon ihre Rechte entgegen. „Und - was nehmen wir an?“
Ich ließ die Hand in der Luft stehen und fragte verwundert
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zurück: „Wie - was nehmen wir an?“ „Ich würde sagen, alles bis zu sechs Jahren können wir annehmen. Das ist gerechtfertigt.“ Die merkt ja wohl gar nichts mehr.
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„Ich habe den Verdacht, einem von uns bekommt Luft hier drinnen nicht. Ist aber auch stickig. Jede Stunde, die die
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Grenze von dreieinhalb Jahren überschreitet, ist reif für Karlsruhe.“ „Erklären Sie doch bitte, nur der Form halber,“, unterbrach Richter Hoßt, der sich zu uns gesellt hatte, „der Frau Staatsanwältin, dass Sie mit der Beschlagnahme Ihrer Munition einverstanden sind.“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 262 von 262 -
Quer durch den Saal ging ich zum Pult der Staatsanmir nicht gehörte.
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wältin und erklärte ihr meinen Verzicht auf die Munition, die „Das Gericht wird es bei seiner Urteilsfindung berücksichtigen“, sagt sie mit unnachahmlicher königlicher
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Generosität.
Gehört vermutlich dazu, wenn man Weinrich-Höpf heißt.
im
„Wenn das so ist, dann behalte ich das Buntmetall.“
„Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, dass Sie sie zurückerhalten? !“, geiferte sie mich an.
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Wohl den letzten Schuss nicht gehört? „Also, doch die Luft.“
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Der ihr Mann hätte allen Grund, Alkoholiker zu werden. Aber so was hat keinen. Ach so - Na, dann. Ich machte kehrt und ging zu meinem Platz vom Vor-
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tag. Sogleich lag mir Frau Jamon erneut in den Ohren: Sechs Jahre seien nun wirklich nicht zu viel. Sechs Jahr im
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Knast schon, sagte ich.
Der zwanzigminütigen, mündlichen Urteilsverkündung wohnten außer den unmittelbar Beteiligten - also dem Gericht, der Staatsanwältin sowie Frau Jamon und natür-
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lich meiner Selbst - weder die Gutachter noch der Geschädigte oder Zuschauer bei. Stierend, als ginge mich das alles gar nichts an, sah ich über die linke Schulter der Staatsanwältin aus dem Fenster und ließ jedes gesproche-
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ne Wort auf mich nieder und an mir abprasseln. Es stinkt. Es stinkt nach Allmacht, dem Gestrigen,
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frischem Holz und dem Kot der Erhängten. Die Luft schmeckt nach Salz. Keine Fliege in den heiligen Hallen. Fliegen meiden dieses Örtchen. Wie auch dem Schmutz und jeder Art von Farbgebung keine Chance gelassen wird. Weshalb bringen die jedes Staubkörnchen in Sicherheit? Angst, der Angeklagte könne etwas mitgehen lassen, sich
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gar daran ersticken - dem Strick entfliehen? Sie strafen mich mit der Ignoranz meiner Sinne. Was mache ich an
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diesem leblosen Ort? Was will ich hier? Mir ist nach ster-
ben. Wer stirbt schon gern in einem sterilen Gerichtssaal,
auf einem knarrenden Stuhl und vor leeren Zuschauerrän-
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gen. Und Kaugummi habe ich auch keinen. Ohne
Pfefferminzgeschmack kommt auch beim schönsten Ster-
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bevorgang keine Freude auf. Nun gut, dann stehe ich eben auf und gehe. Ist mir eh zu dumm das alles. Sie werden mich töten. Ich weiß es. Mit Neunzehn eine Leiche. Hat
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auch was gutes. Kommt mein Geist knusprig da oben an. Mein Körper folgt später, schlaff und ausgedorrt. Ich gehe
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jetzt. Ich widersetze mich dem Dialog mit Paragraphenjunkies.
In seiner mündlichen Urteilsverkündung gelangte
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das Gericht zu der Überzeugung, dass ich den Geschädigten getötet hätte, wenn dieser sich nicht aus meinen
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Klauen hätte befreien können.
Ein Hirngespinst, das zuvor weder bei der Verhandlung noch bei den Vernehmungen zur Sprache kam. Ähnlich verhielt es sich auch mit einer Reihe weiterer Vorwürfe.
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Wie kaum noch anders zu erwarten, sprach mich das Gericht in sämtlichen Anklagepunkten schuldig. Den Urteilsspruch von fünf Jahren und neun Monaten wertete das Gericht als „eine Chance“ für mich, ohne aber konkret auf
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diesen Gnadenerweis einzugehen. Strafmildernde Umstände kamen nicht in Betracht. Dass ich mich selbst gestellt
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habe, bedeute gar nichts. „Er hatte jeder Zeit mit seiner Festnahme rechnen müssen“, begründete der Vorsitzende, weshalb er keine Strafmilderung zuließ.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 264 von 264 -
Außerdem kenne er Frau Rechtsanwältin seit vielen Jahren und wisse daher, dass sie mich darauf hingewiesen habe,
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die Wahrheit zu sagen.
Na, davon müsste ich aber auch was wissen. Meine Anwältin hatte mich natürlich nicht darauf hingewiesen.
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Wann auch? Sie hatte ja weder Zeit für mich noch kannte
sie meinen Fall. Der Hauptverhandlung folgte sie, indem sie
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in der Ermittlungsakte las. Andererseits hätte ein derartiger Hinweis von ihr keinerlei Auswirkung auf mich haben können, weil ich vom ersten Tag an die Wahrheit aussagte und
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nichts abstritt.
„Nur eine der Wahrheit entsprechende Aussage hätte noch
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einen strafmildernden Einfluss auf den Urteilsspruch zur Folge gehabt“, schloss der Vorsitzende. „Nehmen Sie das Urteil an?“, richtete er sich an mich.
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„Ich weiß nicht, ob es Ihrer Vorstellung und Ihrem Verständnis von Wahrheit entspricht, wenn ich das Aussage,
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was Sie so furchtbar gern hören würden und nicht das, was tatsächlich geschah. Ich für meinen Teil habe in vollem Umfang die Wahrheit ausgesagt.“ „Ich frage Sie noch einmal: Nehmen Sie das Urteil an?“ Entspannt erhob ich mich, sah zum Richtertisch und ant-
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wortete ebenso ruhig wie zuvor: „Ich nehme das Urteil - “, legte eine um Spannung bemühte Pause ein, sah nacheinander jedem Anwesenden in die Augen und endete aus dem Fenster schauend - was für ein herrlicher Herbsttag -,
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„nicht an. Ich gehe in Revision.“ „Wenn Sie in Revision gehen...“
Co
Erschrocken über die plötzliche Lautstärke fuhr ich zusammen. „Die Urteilsverkündung ist geschlossen“, beeilte sich der Vorsitzende, als ihm gewahr wurde, wie die Staatsanwältin von ihrem Stuhl hochschnellte und auf mich zu feuern begann.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 265 von 265 -
„Wenn Sie in Revision gehen,“, setzte sie von neuem an, „dann geht die Staatsanwaltschaft mit!“
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Ihr Kopf rötete und rötete sich. Ihre Augen besprühten
mich mit Hass in reinster Konzentration. Die Adern an ihrem Hals quollen so weit heraus, dass ich für einen
mr
Augenblick hoffte, sie mögen sich von ihrem Körper verabschieden.
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„Und ich verspreche Ihnen, dass Sie dann einiges mehr an Jahren bekommen werden!“
Ja, gibs mir! Ahhhh! Mach mich fertig! Ahhhh! Reizendes auf dem Jahrmarkt ausgestellt.
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Mädchen. Eine wie dich, haben die vor zweihundert Jahren
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Außerdem gehe ich nicht in Revision. Dazu brauche ich nämlich einen Anwalt, weißt du. Einen richtigen Anwalt. Und den bekomme ich nicht. Aber das binde ich dir nicht
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aufs Näschen. Wer bin ich denn, dass ich dir einen schönen Tag beschere. Inzwischen habe ich nämlich eine
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Menge gelernt, und weiß jetzt, nach welchem Gesetz ihr urteilt: Paga e sta zito.\
Ihr Organ übertreffend, schrie ich sie an: „Ich verstehe Ihre Äußerung als Nötigung!“. Und zum Richtertisch gewandt: „Herr Vorsitzender, schreiten Sie ein!“
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„Aber nein, aber nein. Frau Staatsanwältin wollte Ihnen damit nur sagen, dass Sie mit dem Urteil sehr gut gefahren sind. Vor einem Schwurgericht hätten Sie einiges mehr erhalten. Das können Sie mir glauben. Aber ich will der
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Staatsanwältin ja nichts in den Mund legen.“ „Hat die Welt so was schon mal gesehen?“ Während der
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Richter zu mir sprach, ging ich schlendernd auf ihn zu. Als ich wieder das Wort ergriff, stand ich unmittelbar vor dem Vorsitzenden. Leise, aber für alle Anwesenden hörbar, sagte ich zu ihm: „Sie kauen der Staatsanwältin vor, wie Sie ihre aggressionsgeladenen Ausbrüche erklären soll und gleichzeitig erzählen Sie mir diesen ausgemachten
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 266 von 266 -
Quatsch mit dem Schwurgericht. Unglaublich! Von Anfang an stand fest, dass keine Tötungsabsicht vorlag. So geht
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es auch aus dem Gutachten des LKA hervor. Im Nachhi-
nein wäre es mir ganz lieb gewesen, man hätte mich vor ein Schwurgericht gezerrt. Dort würde man mich sicherlich an-
mr
gehört, nicht auf Zeugen verzichtet und blind suspekten
Gutachtern gefolgt haben. Und auf Zeugen einwirken, um
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mir was reinzuwirken, gäbe es da bestimmt auch nicht. Ich
werde in Revision gehen. Daran wird das platte Getratsche dieser Tante da drüben auch nichts ändern.“
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Ich redete und redete - ich fühlte mich unendlich gut und irgendwie auch frei. Doch bereits nach dem ersten
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Satz drehte sich Richter Hoßt mit der für ihn typisch wegwischenden Handbewegung von mir ab und einem seiner beisitzenden Richter zu.
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„Wissen Sie, wann Ihr Drittel sein wird?“, fragte sie meinen Rücken.
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Schon zum dritten Mal schockierte mich Jamon an diesem Tag. Kaum war das Urteil gesprochen, hatte sie auch schon mein vorzeitiges Entlassungsdatum errechnet. Fixer Feger. Meiner Kehle entschlüpfte ein bescheidenes Rülpserchen. Mit einer Hand am Richtertisch festhaltend, drehte ich mich
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ihr zu. „Wissen Sie: Die haben mich nicht für das verurteilt, was ich angestellt habe. Hier wurde weder ein moralisches noch ein strafrechtliches Urteil gesprochen. Diese obskure Altherrenrunde bestrafte mich, weil ich die Unverfrorenheit
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besaß, einem der ihrigen die Wohnungstür einzutreten. Was hier geschah, war keine Verhandlung - das war arglis-
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tige Täuschung. Eigentlich schade, dass man so was nicht pauschal buchen kann.“ Ich stand am Abgrund. Und ich wusste es. Noch einen Schritt...
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 267 von 267 -
„Ihr könnt mir alle mal an der Pube schmatzen“, sagte ich so leise, dass ich mich selbst nur deshalb hörte, weil ich
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wusste, dass ich sprach.
„Ich setze mich dafür ein, dass Sie nach Randsberg kom-
men. Das ist ein wirklich schöner und ruhiger Strafvollzug
mr
für Ersttäter. Dort bekommen Sie ganz automatisch Ihr Drittel. In drei Jahren sind Sie dann schon wieder draußen.
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Sagen Sie dem Vorsitzenden einfach nur, dass Sie das Urteil annehmen“, beschrieb sie wortreich die tollen Zukunftschancen kreativer Knackis.
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Aber nur, wenn du Männchen machst.
„Was soll diese schwachsinnige Standortdebatte? Sicher doch - sehr erstrebenswert.“
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doch, ein schöner, ruhiger Knast, der hat schon was. Doch, Unablässig schüttelte ich den Kopf. So, als müsse Platz für te nicht hinein.
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das geschaffen werden, was ich eben hörte. Allein es woll-
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„Erklären Sie mir mal, was am Entzug der Freiheit, dem minimalsten Grundrecht eines jeden Menschen, so umwerfend schön ist? Was ich tat, tut mir Leid. Aufrichtig Leid! Ich wollte es nicht, doch ist es geschehen. Ich kann es nicht rückgängig machen. Vielleicht hatte der Zirkel hier
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in meinem Fall sogar Recht - wer weiß das schon so genau. Doch auch wenn sie mich nicht als ihren Lieblingsschwiegersohn sehen, habe ich dann nicht trotzdem etwas Fairness verdient? Ein Minimum nur?“
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„Beruhigen Sie sich. Der Vorsitzende hört jedes Wort. Sie handeln sich noch ein paar Monate zusätzlich ein.“
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„Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Der hört nur sich selbst und seine sabbernde Altherrenriege. Außerdem bin ich nicht aufgeregt. Wirklich nicht. Sehen Sie!“ Ich breitete die Arme aus und drehte mich einmal um die eigene Achse und lächelte. „Ich bin die personifizierte Ruhe.“ „Nehmen Sie das Urteil an?“
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 268 von 268 -
Ärger mich nicht, zänkische Alte. „So viel wie eben haben Sie die ganzen letzten Monate Die Drittelbestimmung ist eine Kann-Bestimmung.“
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nicht mit mir gesprochen. Ich nehme das Urteil nicht an.
„Ich setze mich für Ihr Drittel ein“, beharrte sie hartnäckig.
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Weiche von mir.
„So wie Sie sich vor Gericht für mich eingesetzt haben?
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Nein danke, ich wurde schon bedient. Vielen Dank übrigens! Sollte mir tatsächlich das letzte Drittel auf
Bewährung erlassen werden, wie lange bleibe ich dann
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noch an den Rand der Gesellschaft gedrängt? Und, Sie und alle wissen es, ich habe draußen keinen einzigen Men-
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schen, der mir, wie auch immer, im Knast oder später behilflich sein könnte. Wohin soll ich gehen? Wo einen Anfang finden?“
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Einer wie ich, der gehört hierher. Da draußen ist kein Platz für mich. Es ist an der Zeit, ein Buch zu schreiben.
tb yO
„Seien Sie doch froh, so belastet Sie wenigstens nichts. Außerdem sehen Sie gut aus; geben Sie ein Heiratsinserat auf.“
„Reifeprüfung bestanden oder doch nur natürliche Auslese? Ich habe es immer gewusst: Jeder bekommt seine
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Chance. Musst nur lange genug leben.“ Abrupt schob ich sie an der Schulter zur Seite und ging auf meine beiden zerknautschten Kunstrasenträger zu. Ohne Zögern legte einer seine Klammerfessel um mein
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rechtes Handgelenk. „Nehmen Sie doch das Urteil an. Es ist wirklich das Beste
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für Sie“, rezitierte sie aus den Leiden der hochwohllöblichen Frau Jamon. „Nee! Abfahrn!“ „Überlegen Sie es sich noch einmal in Ruhe. Ich komme Sie besuchen. Bald schon“, mühte sie sich mit blassem Gesicht und feuchter Stirn.
Roman: salve, mule! let’s go! - Copyright by Olaf W. Timmroth - Seite 269 von 269 -
„Auf den Kick kann ich verzichten.“ „Heute Nachmittag! Ich komme heute Nachmittag bei Ihnen
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vorbei!“
„Also, wenn ich das in meinem Club erzähle... Langsam
wird die mir lästig. Eine richtige Plage. Pfui!“, sagte ich laut Meine grünen Klammeraffen grinsten unsicher.
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und fügte eine Spur leiser hinzu: „Friss meinen Schwanz!“
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Schließlich drehte ich mich ein letztes Mal der Arena zu: „Ich habe nicht begangen, wofür Ihr mich verurteilt habt! Habt Dank für euren aufopferungsvollen Kampf!“,
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und zu den netten Grünen an meiner Seite: „Pack mers!“ „Duelling Banjos“ pfeifend huschte ich durch den Seiten-
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eingang hinaus.
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laf
ENDE
Co
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\ Bezahle und sei still. - Leitspruch der Mafia