John Grey
Roter Bruder – toter Bruder Ronco Band Nr. 130/07
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Ja...
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John Grey
Roter Bruder – toter Bruder Ronco Band Nr. 130/07
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Der weiße Apache, der auszieht, Medizin zu machen, um ein Krieger zu werden. Little Friend – Blutsbruder Roncos, der ihm das Überleben in der Wildnis beigebracht hat. Rennender Bär – Neidet Ronco die Chance, Krieger zu werden und will ihm den Medizinbeutel rauben. Kaktusblüte – Junge Apachin, die Roncos seelisches Gleichgewicht in Unordnung bringt. Nochalo – Schamane, der Ronco in Trance versetzt und auf die große Bewährung vorbereitet.
Roter Bruder – toter Bruder 2. November 1878 Ich befinde mich wieder einmal in Gefangenschaft. Diesmal nicht in einem schmutzigen Gefängnis, sondern in einem Kriegslager der Apachen. Ich habe die Freiheit, mich im Camp zu bewegen, solange ich keinen Fluchtversuch unternehme. So kann ich ungehindert weiter an meinem Tagebuch schreiben. Wenn ich mich umschaue, fühle ich mich in meine Kinderzeit und frühe Jugend zurückversetzt. Bei den Apachen hat sich nicht viel verändert. Noch immer sind sie Verbannte, noch immer müssen sie kämpfen, um zu leben. Aus der Wüste streicht ein heißer Wind heran. Hier und da flackern Kochfeuer. Ich denke an die Zeit, als ich bei den Indianern lebte, als ich selbst ein Apache war, ein weißer Apache…
1. Die dünne Rauchsäule war in der hitzeflimmernden Luft kaum wahrzunehmen. Es herrschte fast völlige Windstille. Unter den Hufen unserer Pferde hob sich der feinkörnige Sand der Wüste bei jeder Bewegung. Er ballte sich zu feinen gelben Wölkchen, die fast steigbügelhoch über dem Boden schwebten und sich nur zögernd wieder senkten. Wir waren sieben. Alles Apachen. Daß meine Haut heller war als die der anderen, hatte ich längst vergessen. Schnelltöter führte uns an. Er war noch jung, aber seine Erfahrungen waren groß. Als er jetzt den Kopf wandte und uns anschaute, schimmerte die gezackte Narbe auf seiner linken Wange im grellen Sonnenlicht fast schwarz. Er redete nie mehr als unbedingt nötig. Auch diesmal sagte er kein Wort, wir wußten auch so, was wir zu tun hatten. Ich zog mein Pferd herum. Es war ein narbiges, hageres Armeepferd, das ich ritt, seit ich Shita im Kampf verloren hatte. Ich
hatte dem braunen Hengst nicht zu viel zugetraut, hatte jedoch inzwischen feststellen können, daß er an Zähigkeit den kleinen, stämmigen Apachenponys nicht nachstand und sich gut mit dem Wüstenklima abgefunden hatte. Außerdem war er willig und bereitete mir keine Schwierigkeiten. Ich war zufrieden mit ihm und begann, mich mit ihm anzufreunden, obwohl mir noch kein Name für ihn eingefallen war. Ich ritt eine flache Düne hinauf, während auch die anderen Krieger ausschwärmten. Vor mir hatte ich quer über den Knien meinen kurzen Spencer-Karabiner liegen. Die Metallteile mit der fleckigen Brünierung waren heiß von der Sonnenbestrahlung. Der zerkratzte Holzschaft aus dunklem Nußbaum mit dem Armeestempel schimmerte matt. Ich nahm das Gewehr fest in die Rechte. Mit der linken Hand hielt ich den Zügel und dirigierte den Hengst. Auf meiner rechten Schulter drückte der schwere Patronengurt, den ich schräg um den Oberkörper geschnallt hatte. Schweiß rann mir über das Gesicht und über meine Brust und wurde vom Stoff meines Kalikohemdes aufgesogen. Wir folgten der Spur des Rauches. Als vor uns eine breite Furche auftauchte, konnten wir den Rauch riechen. Dann fanden wir das Camp. Es lag tief in der Bodenfurche, im Schatten einer überhängenden Sandsteinklippe. Wäre das Feuer nicht gewesen, hätten wir es gar nicht entdeckt. Das Feuer war aus vertrockneten Zweigen abgestorbener Yuccapflanzen angefacht worden, die fast rauchlos abbrannten. Ein verbeulter, rußiger Kessel hing an einem Dreibein über den Flammen. Ein Stück abseits standen die Pferde, und am Feuer saßen vier weiße Männer. Sie fühlten sich sehr sicher. Sie sprachen, lachten ab und zu und tranken Kaffee aus Blechbechern. Sie redeten von Whisky aus Kentucky, von feinem Tabak aus Tennessee und von Frauen aus Texas, die Pfeffer im Hintern hätten und einige andere Vorzüge. Ich betrachtete ihre Pferde und wußte, was für Männer wir vor uns
hatten. An den Sätteln hingen lange Skalpzöpfe, und an einigen Hautfetzen war das Blut noch nicht einmal eingetrocknet. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bodenfurche sah ich Schnelltöter auftauchen. Er hielt seinen Bogen in der Rechten und legte einen Pfeil auf die Sehne. Ich glitt aus dem Sattel und lief geduckt den Hang hinauf. Auf der Klippe über der Bodenfurche blieb ich stehen, den durchgeladenen Karabiner in den Fäusten. Da sah ich auch die anderen Krieger. Wir hatten das Lager umzingelt – lautlos und schnell. Die weißen Männer hatten nichts bemerkt, und sie hatten keine Chance mehr. Sie hatten Apachen der Skalpprämien wegen getötet. Das Risiko eines solchen Jobs war groß. Das wußten sie selbst. Wir hatten keinen Grund, gnädig mit ihnen zu verfahren. Schnelltöter hob den Bogen. Da wußte ich, daß es nun soweit war. Ich fühlte eine leichte Nervenanspannung – wie immer vor einem Kampf. Aber ich war nicht sonderlich beunruhigt. Angst kannte ich in solchen Situationen nicht. In diesem Moment schnellte der Pfeil von Schnelltöters Bogen. Er bohrte sich in den Rücken eines der Männer. Der Kerl zuckte hoch, verharrte in halb aufgerichteter Stellung und kippte gurgelnd nach vorn. Er fiel mit dem Gesicht ins Feuer. Die Flammen schlugen sofort hoch. Das halblange, dunkelbraune Haar des Mannes brannte ab. Binnen weniger Sekunden war sein ganzer Schädel schwarz. Das war das letzte was ich in diesem Moment von ihm wahrnahm, dann hob ich mein Gewehr an die Schulter. Die drei Kumpanen des Toten sprangen vom Feuer auf und rissen ihre Revolver aus den Halftern. Ich feuerte, ohne lange nachzudenken, instinktiv, fast automatisch. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Die Männer unter mir hatten Apachen abgeschlachtet. Männer, Squaws und Kinder. Ich war ein Apache, und die Killer waren meine Feinde. Ich traf den Mörder rechts von dem Toten in die Seite.
Der Mann brüllte laut und taumelte. Sein Hemd färbte sich dunkel, und Blut rann ihm über den Hosengurt an den Beinen hinunter. Er sank in die Knie und feuerte auf die Krieger, die in die Senke sprengten. Seine beiden unverletzten Kumpanen warfen sich verzweifelt hinter einigen Steinbrocken in Deckung. Der Verletzte kroch auf allen vieren durch den Sand und schrie dabei wie irre. Schnelltöter ritt direkt auf ihn zu und schwang seinen Schädelbrecher. Der Verwundete schoß und tötete Schnelltöters Pferd. Schnelltöter wurde zu Boden geschleudert, richtete sich benommen auf und blickte direkt in die Mündung des Revolvers, den der verletzte Killer auf ihn richtete. Doch als er abdrückte, klickte es nur. Die Waffe war leergeschossen, und Schnelltöter schleuderte seinen Schädelbrecher nach vorn. Ich zwang mich, den Blick abzuwenden, um nicht sehen zu müssen, wie der Mann starb. Die anderen Killer feuerten nun auch. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Sandbiber, ein dreißigjähriger Krieger, vom Rücken seines Pferdes gerissen wurde. Sein Oberkörper war nackt, und das Blut strömte aus einer großen Wunde in der Brust wie aus einem Schlauch. Er war tot, noch bevor er hart im Sand aufschlug. Da feuerte ich zum zweiten Mal. Mit häßlichem Laut schrammte meine Kugel über einen Stein, hinterließ eine tiefe Furche und streifte einen der Skalpjäger seitlich am Schädel. Der Mann sackte flach in den Sand und bewegte sich nur noch schwach. Ich ließ meinen Spencer sinken. Es war vorbei. Der letzte Mann warf seine Waffe weg und wich vor der Lanze Tulanas bis an einen hohen Felsquader zurück. Hier blieb er stehen, am ganzen Körper zitternd. Die Hitze schien sich in diesem Moment noch zu verstärken. Dichte Pulverdampfschwaden hingen über der Bodenfalte. Es stank nach verbranntem Menschenfleisch und Blut, das in der Hitze rasch zu einer Kruste gerann. Der Bandit, der als erster gestorben war, brannte wie eine Fackel. Seine Kleidung hatte Feuer gefangen. Niemand kümmerte sich um
ihn, niemand bemühte sich, die Flammen zu löschen. Die Pferde scheuten vor dem Gestank, der sich in der glühenden Luft noch verstärkte. Ich ritt hinunter in die Bodenfalte, als Chikula den Mann hochriß, den meine Kugel am Kopf verletzt hatte. Er taumelte benommen und wimmerte leise. Seine linke Kopfseite war voller Blut. Schnelltöter trat auf die beiden Weißen zu. Er war fast einen Kopf kleiner als sie, aber ihre Gesichter verzerrten sich, als sie in seine Augen schauten. Sie hatten Angst. Schnelltöter zeigt auf die Pferde der Killer und auf die Skalps, die an den Sätteln baumelten. »Wir haben doch die Skalpprämien nicht erfunden!« schrie einer der Männer. »Wir haben die Gesetze nicht gemacht. Wir halten uns nur daran.« Schnelltöter lachte. Er drehte sich zu uns um. »Bringt sie weg«, sagte er in der kehligen Apachensprache. Ich zog mein Pferd herum, während Tulana und Chikula die beiden weißen Killer aus der Bodenfalte trieben. Sie stolperten durch den knöcheltiefen Sand und stürzten häufig. Sie taumelten vor den Kriegern her und hielten nicht an. Sie rannten, als hofften sie, auf diese Weise ihr Leben zu retten. »Ronco!« Ich hörte Schnelltöters Stimme und wandte mich um. »Nimm die Pferde«, sagte er. »Und die Waffen.« Er lächelte etwas. »Gute Beute«, sagte er. Ich nickte und stieg ab. Schnelltöter schwang sich auf das Pony des getöteten Sandbiber und ritt hinter den anderen Kriegern her, die die beiden Gefangenen auf eine Gruppe Saguarokakteen zu jagten. Ich nahm ein geflochtenes Lederlasso, ging zu den Pferden der Killer und befestigte ihre Zügel daran. Sie sträubten sich erst, mir zu folgen, aber ich zwang sie, stieg wieder in den Sattel meines Braunen und zerrte sie hinter mir her. Wind kam auf, als ich aus der Bodenfalte ritt. Er war glühend und schien aus einem Backofen zu wehen, aber er vertrieb den Gestank von verbranntem Menschenfleisch. Feiner Sand wirbelte mir entgegen und setzte sich in dem dünnen Schweißfilm auf meinem
Gesicht fest. Als ich die Kakteengruppe erreichte, waren die beiden Skalpjäger nackt. Sie schrien und schlugen um sich. Ich zügelte die Pferde und stieg ab. Da riß sich einer der beiden Männer los. Er rannte direkt auf mich zu und brüllte dabei. In seinem Gesicht war nichts Menschliches mehr zu entdecken. Ich erschrak nicht einmal. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich daran, zur Seite zu treten, um ihn vorbeilaufen zu lassen. Dann aber dachte ich an die Apachen, die er ermordet hatte, deren Skalps am Sattel seines Pferdes hingen. Ich dachte daran, was mit mir geschehen würde: Ich wäre bei den Apachen erledigt gewesen, und der Mann hätte doch nichts davon gehabt. Er wäre ohnedies nicht weit gekommen. Das alles schoß mir durch den Kopf, während er auf mich zuraste, ohne mich wirklich zu sehen. Als er heran war, hob ich meinen Spencer-Karabiner und schlug zu. Ich war groß für mein Alter und sehr kräftig. Ich war zwölf Jahre alt, doch ich sah aus wie fünfzehn. Mein Schlag traf den Killer in den Leib. Er schwankte, krümmte sich zusammen und kreischte, während seine Augen fast aus den Höhlen quollen. Ich preßte die Lippen fest zusammen und schlug noch einmal zu. Da stürzte er vor meinen Füßen in den Sand und wand sich wie ein Fisch. Büffelmann, mein erster Pflegevater bei den Chiricahuas, war ihm gefolgt. Er bückte sich, packte den Mann an den Schultern und riß ihn hoch. Er schleifte ihn zurück zu dem anderen, der apathisch dastand und nicht mehr wahrzunehmen schien, was mit ihm und um ihn herum geschah. Schnelltöter hob die Rechte. »Zastee, Pindalickoyi«, sagte er. »Tötet die Weißaugen.« Die Krieger trieben die Killer auf zwei einzeln stehende Saquaros zu. Der eine Mann wehrte sich noch immer. Lanzenspitzen schlitzten seine Haut auf, Stöße mit wuchtigen Schädelbrechern ließen ihn vorwärts taumeln. Der andere begann erst wieder zu schreien, als er an einen Saguaro-Kaktus gefesselt und sein Leib fest an den Kaktusstamm gepreßt wurde. Die dolchspitzen Stacheln gruben sich
in seinen Körper, und binnen weniger Sekunden bedeckte Blut seine helle Haut und netzte den Kaktus. Der zweite Mann schrie jetzt noch mehr und wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Er riß sich noch einmal los und wollte fliehen. Tulana stieß seine Lanze nach ihm. Sie bohrte sich tief in seine linke Kniekehle und zerschnitt seine Sehnen. Er brach aufheulend zusammen und versuchte, auf dem Bauch liegend weiterzukriechen. Tränen strömten aus seinen Augen, und er schluchzte wild, als er zu dem Kaktus zurückgeschleift wurde. »Ihr Teufel!« schrie er. »Ihr dreckigen, roten Schweine …« Dann bohrten sich die fingerlangen Stacheln auch in seinen Rücken, in seine Beine, in sein Genick, in seine Arme. Was er rief, war nicht mehr zu verstehen. Sein Körper bäumte sich heftig auf, immer und immer wieder, bis Blut aus seinen Mundwinkeln floß. Sein Kumpan hatte das Bewußtsein verloren. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Ich wandte mich schnell ab. An solche Szenen hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt, und würde ich mich auch nicht gewöhnen. Es war fast ein Wunder, daß die Killer noch lebten, als wir wegritten. Wir hörten ihre Schreie noch, als wir sie längst nicht mehr sehen konnten.
2. Die Chiricahuas kamen uns entgegen. Wir waren dem Zug als Kundschafter vorausgeritten und sahen ihn jetzt wieder vor uns. In langer Reihe bewegte sich die Karawane durch den Sand. An der Spitze und am Ende ritten die Krieger. Zwischen ihnen schritten die Squaws und die Kinder, für die es keine Pferde gab. Sie trugen schwere Lasten auf dem Rücken. Die Hitze schien sie nicht sonderlich zu behindern. Wir trafen Black Hawk an der Spitze des Zuges. Groß und breitschultrig saß er in einem einfach gefertigten Holzsattel. Schnelltöter berichtete, was wir erlebt hatten und verwies auf die Beutestücke.
Schweigend hörte der Häuptling zu. Er betrachtete die Pferde und Waffen nur flüchtig und schien zufrieden zu sein. »Das Land vor uns ist leer«, sagte Schnelltöter. »Wir haben keine weiteren Spuren gefunden. Der Weg nach Westen ist frei.« »Enju«, sagte Black Hawk. »Es ist gut.« Und er nickte. Wir reihten uns in den Zug ein und ritten Stunde um Stunde. Mitten unter den Squaws und Kindern entdeckte ich Heulgesicht. Er war ein weißer Apache wie ich und ein Jahr älter. Doch wer ihn sah, glaubte das nicht. Er lebte seit Jahren unter den Apachen. Trotzdem war es ihm nicht gelungen, sich einen festen Platz zu erkämpfen, sich durchzusetzen. So war er nicht mehr als ein besserer Sklave, der Dreckarbeiten erledigen durfte, die sonst niemand verrichten wollte. Er litt um so mehr unter seiner hoffnungslosen Situation, als er ziemlich mickrig gewachsen war, schmächtig und schwach. Mir tat er leid. Ich hatte schon ein paarmal versucht, ihm zu helfen, was ihn mit großer Dankbarkeit erfüllt hatte. Jetzt schleppte er einen Packen Decken auf seinem krummen Rücken und schien bei jedem Schritt mit seiner Last im Wüstensand zu versinken. Er schwankte hin und her wie ein Strohhalm im Wind. Ich trieb meinen Braunen an und lenkte ihn neben ihn. »Hallo, Heulgesicht«, sagte ich. Er hob mit viel Mühe den Kopf und blinzelte in die Sonne. Dann erkannte er mich. Sein Gesicht war wie immer weinerlich verzogen. Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. »Bist du müde?« fragte ich. »Willst du ein Stück mit mir reiten?« Er war so tief beeindruckt, daß ihm wirklich ein paar Tränen aus den Augen rollten. »Meinst du wirklich …« »Steig auf«, sagte ich. Er blieb stehen, und die Squaw hinter ihm stieß gegen ihn, stolperte und keifte wütend. »Was bleibst du stehen, du räudiger Kojote, du weiße Klapperschlange!« Heulgesicht begann zu zittern, als er die Stimme seiner Pflegemutter hörte. Ich beachtete die Alte nicht, obwohl sie mich
wütend anblitzte und dabei immer wieder ihren einzigen Zahn bleckte, als ob sie mich damit zu Hackfleisch zerkauen wollte. Ich beugte mich im Sattel vor, griff nach Heulgesichts Hand und zog ihn hinter mich auf den Pferderücken. »Komm runter«, kreischte die Alte. »Du hast zu laufen, du fauler Bastard!« »Halt die Klappe«, sagte ich und trieb den Braunen an. Wir hörten die Squaw noch lange keifen, und Heulgesicht flennte ein bißchen, weil er daran dachte, wie sehr sie ihn am Abend, wenn das Lager aufgeschlagen wurde, schikanieren würde. Doch er stieg nicht ab, denn er war am Ende seiner Kraft. Wir ritten westwärts, der untergehenden Sonne entgegen. Als der Abend kam, färbte sich der Himmel rötlich, und die Dämmerung malte farbige Schatten in den hellen Sand der Wüste. Der Wind von Süden kühlte sich ab, die Temperaturen sanken fast schlagartig, je mehr das Tageslicht an Stärke verlor. Ich lenkte den Braunen zurück zu den Squaws, wo ich Heulgesicht absetzen wollte. Ich half ihm hinunter, und er rannte mit seinen dürren Beinen los, um sich wieder in den Zug einzureihen. Aus seinen wässerigen Augen blickte er mich dankbar an wie ein treuer Hund. Da traf ihn ein heftiger Schlag ins Genick, so daß er nach vorn torkelte und fast stürzte. Die alte Squaw hinter ihm schrie auf ihn ein, mit so schriller Stimme und so schnell, daß ich kaum ein Wort verstand, obwohl ich längst den Apachendialekt wie ein geborener Indianer beherrschte. Sie keifte wie ein wilder Geier und schlug Heulgesicht noch mehrmals die hornige Rechte auf den Hinterkopf. Schweigend taumelte er vor ihr her und sagte kein Wort. Ich hatte gute Lust, der alten Hexe ins Genick zu springen. Aber sie war nicht ganz richtig im Kopf und galt daher als etwas Besonderes. Es war zwecklos, sich mit ihr anzulegen und konnte höchstens Ärger einbringen. Ich schaute rasch weg und trieb den Braunen an. Als ich die Spitze des Zuges erreichte, ließ Black Hawk halten. Wir hatten ein tellerartiges Tal erreicht, das sich, umgeben von Dünenwällen, vor uns erstreckte. Gerade versank die Sonne hinter den Tafelfelsen im
Westen wie ein Rad aus Feuer. Wir schlugen unser Nachtlager auf. Ich hobbelte den Braunen unweit der kleinen Feuer, die überall aufflackerten, an, und bereitete mir mit meiner Decke und dem Woilach auf dem nackten Boden das Nachtlager. Da stand eine große Gestalt vor mir – wie aus dem Erdboden gewachsen. Ich hatte ihn den Tag über nur immer von weitem im Zug gesehen: Little Friend, hochgewachsen, breitschultrig, das scharfgeschnittene, markante Gesicht, das so untypisch für einen Apachen war, ernst und verschlossen wirkend wie immer. Er schaute mir zu, wie ich den braunen Hengst abrieb. Ich erwiderte seinen Blick und lächelte ihn an. Er war mein Freund, mehr noch, wir waren Blutsbrüder, und das war bei den Apachen so gut, als wären wir leibliche Brüder. Ich wohnte mit ihm zusammen. »Ich weiß noch nicht, wie ich ihn nennen werde«, sagte ich und deutete auf den Hengst. »Es ist gar nicht einfach, einen Namen für ein Pferd zu finden.« »Es braucht keinen Namen«, sagte Little Friend. »Es ist ein gutes Pferd, und das genügt.« »Vielleicht hast du recht.« Ich klopfte dem Braunen auf den Hals und setzte mich neben mein Deckenlager. Little Friend ließ sich mir gegenüber nieder. »Du hast heute gekämpft?« sagte er. Es war eigentlich keine Frage, mehr eine Feststellung. »Es war nichts weiter«, sagte ich. »Wir haben vier Pferde erbeutet, Gewehre, Revolver und einiges mehr.« »Die Männer sind tot?« »Es waren Skalpjäger«, sagte ich. »An ihren Sätteln hingen mindestens vierzig Skalps.« Er nickte versonnen und blickte über mich hinweg in die Dunkelheit. »Wir mußten diese Männer töten«, sagte ich. »Es waren gemeine Mörder, die unsere Brüder und Schwestern getötet haben.« »Cochise hat gesagt, wir kämpfen, um zu leben«, sagte Little Friend. »Solange die Weißen Geld für unsere Skalps bezahlen, wird
sich das nicht ändern.« »Kennst du Cochise?« fragte ich. »Du wirst ihn auch bald sehen«, sagte er. »Er hat eine von Mangas Coloradas Töchtern zur Squaw genommen.« Little Friend blickte mich ernst an. »Ich habe mit Black Hawk gesprochen«, sagte er. »Wegen dir.« Ich schwieg und wartete ab. »Er meint wie ich, daß es jetzt Zeit für dich ist.« »Zeit für was?« »Medizin zu machen.« Mein Herz schlug plötzlich schneller. »Du reitest mit den Kriegern, du kämpfst mit ihnen. Du hast gezeigt, daß du ein guter Apache bist. Du weißt fast alles, was ein Krieger wissen muß. Du bist noch jung, aber dein Kopf und dein Herz sind über dein Alter längst hinausgewachsen.« Ich hörte stumm zu. Mein Hals war ganz trocken. »Medizin machen«, das bedeutete den endgültigen Eintritt in die Reihen der Krieger. Meist geschah dies im Alter von etwa vierzehn Jahren. Ich war erst zwölf. Wenn ein Indianer erwachsen wurde, zog er einige Tage allein, nur auf sich gestellt, in die Wildnis, fastete, betete zu den Göttern und wartete darauf, daß ihm in Trance der Große Geist Hinweise auf sein weiteres Leben gab. Anhand dieser Vision stellte er seinen Medizinbeutel zusammen, den er von da an stets bei sich trug, der ihn vor Schaden bewahrte. »Medizin machen« war das entscheidende Erlebnis im Leben des jungen Kriegers, und ich war stolz, daß mir zugetraut wurde, diese Prüfung zu bestehen. Little Friend schien zu ahnen, was ich dachte. Er legte seine Rechte schwer auf meine Schulter. »Du kannst noch warten, wenn du dich noch nicht stark genug fühlst«, sagte er. »Es ist eine schwere Prüfung. Nicht jeder kann sie bestehen. Manchmal ist es besser, sich Zeit zu lassen und Geduld zu haben, statt zu scheitern. Denn das wäre schlimm.« Ich nickte. Ein Versagen würde mich zum Außenseiter stempeln. Die Verachtung der Krieger und selbst der anderen Jungen würde
mir sicher sein. In diesem Moment hatte ich ein wenig Furcht bei dem Gedanken. Ich las in Little Friends dunklen Augen Sorge, und auch leise Zweifel an mir, obwohl er selbst Black Hawk vorgeschlagen hatte, mir die Prüfung aufzuerlegen. Das gab den Ausschlag. »Ich werde es schaffen«, sagte ich. »Bestimmt.« »Ich bin sicher«, sagte er. Der zweifelnde Unterton in seiner Stimme wich. Er blieb ernst. »Es wird bald soweit sein. Wenn wir das Lager von Mangas Coloradas erreicht haben. Bereite dich darauf vor. Es wird sehr, sehr schwer werden. Du bist kein geborener Apache, du bist nicht mit unseren Mythen erzogen worden. Deshalb wirst du es schwerer haben.« »Ich weiß.« »Ich wußte, daß du nicht warten würdest.« Befriedigung lag in seinem Blick. »Man darf Entscheidungen nicht ausweichen. Ich werde dir sagen, wenn es soweit ist.« Jetzt lächelte er, und ich lächelte zurück. Dann ging er davon, während ich den Braunen weiter versorgte, bevor ich zu einem der Feuer ging, um zu essen. Doch was ich auch tat, ich konnte an nichts anderes mehr denken als an das, was Little Friend mir gesagt hatte. Ich würde meinen Medizinbeutel erhalten, früher als manche geborenen Apachen. Das Vertrauen, das in mich gesetzt wurde, war groß. Ich wollte es nicht enttäuschen. Das schwor ich mir. Das war ich auch Little Friend schuldig, meinem Blutsbruder. Ich aß ein Stück gebratenes Pferdefleisch und hörte nicht, daß ich angesprochen wurde. Plötzlich sah ich die wässerigen Augen Heulgesichts vor mir. Sie schwammen in Tränen. »Sie hat mich geschlagen«, sagte er leise und schluchzte. »Sie hat mich schrecklich verprügelt, die alte Hexe, weil ich mit dir geritten bin.« Ich schluckte den Rest meines Fleisches und richtete mich auf. Nicht einmal das konnte meine gute Stimmung mindern. »Gib ihr endlich einen Tritt in ihren fetten Hintern«, sagte ich. »Aber nicht zu sanft.« »Du meinst …?« Er starrte mich ungläubig an. »Sicher«, sagte ich. »Was denn sonst.«
Dann ging ich zu meinem Lager. In der Nähe sah ich Little Friend, der ebenfalls seine Decken am Boden ausbreitete. Ich sprach ihn nicht mehr an. In diesem Augenblick wollte ich alleine sein. Ich streckte mich am Boden aus und rollte mich in meine Decke. Die Geräusche des Lagers, das Schnauben und Stampfen der Pferde, die Stimmen der Männer, die an den Feuern zusammensaßen, das Weinen der Säuglinge, die nach der Brust ihrer Mutter verlangten, das Knistern der Feuer – ich hörte das alles kaum. Meine Gedanken waren weit fort. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich allein in die Wildnis ziehen würde, um meinen Medizinbeutel zu erwerben. Meine Augenlider wurden plötzlich zentnerschwer. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen. Ich war müde. Meine Gedanken verschwammen immer mehr. Sanft und schwer kroch der Schlaf durch meine Glieder. Da ertönte Geschrei im Lager. Eine Frau kreischte schrill, andere lachten laut. Dann hörte ich schnelle Schritte. Jemand rannte unweit von mir vorbei und schrie: »Heulgesicht hat die alte Hexe in den Hintern getreten. Sie ist mit dem Kopf in Pferdescheiße gefallen …« Mehr hörte ich nicht. Ich grinste nur und schlief ein. * Zwei Tage später erreichten wir eine Oase. Wir sahen Grashütten und Zelte. Dazwischen viele Feuer. Struppige Hunde streunten herum. Kinder spielten zwischen den Wickiups und den Zelten, und Krieger waren mit ihren Waffen beschäftigt. Ein Posten kündigte uns an. Kurz darauf ritten uns zehn oder zwölf Krieger entgegen. Der Zug hielt an. Black Hawk sprach mit dem Anführer des kleinen Trupps. Wenige Minuten nur dauerte es. Dann konnten wir weiterziehen und ritten in das riesige Lager, lebhaft begrüßt von den anderen Stammesgruppen, die bereits vor uns angekommen waren. Als ich vom Pferd stieg, sah ich Mangas Coloradas. Noch niemals zuvor und auch später nicht habe ich einen so hünenhaften Apachen gesehen. Er maß gewiß mehr als zwei Meter und hatte mächtige, ausladende Schultern. Er trug ein schlichtes
Wildledergewand ohne überflüssigen Schmuck, ohne Verzierungen. Sein Haar war grau wie das Gefieder einer Wildgans und wurde von einem schmalen Stirnband gehalten. Keine Feder, keine Perlen. Ich schaute in ein dunkles, faltenzerfurchtes, kühn geschnittenes Gesicht, das Energie ausstrahlte, Mut und auch Würde. Jeder, der ihn sah, wußte, daß er ein Häuptling war. Er brauchte keine Zeichen seiner Macht mit sich herumzutragen. Seine bloße Erscheinung genügte. Er ging an mir vorbei. Jung war er nicht mehr, doch sein Gang war elastisch und geschmeidig. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden. Langsam drehte ich mich um und schaute ihm nach, als er in der Mitte des Lagers stehenblieb und wartete, bis Black Hawk auf ihn zutrat. Sie reichten sich die Hand und wechselten einige Worte. Ich mußte an die Geschichte denken, die mir Schnelltöter von Mangas Coloradas erzählt hatte. Als bei Pinos Altos vor einigen Jahren Gold entdeckt worden war und Scharen von Abenteurern ins Land geströmt waren, hatte Mangas Coloradas versucht, sich friedlich mit den Goldgräbern zu einigen. Er war zu ihnen gegangen nach Copper Mines, allein und ohne Waffen. Doch sie hatten ihn gefangen und fast zu Tode gepeitscht. Seitdem hatte er allen Weißen Todfeindschaft geschworen, seitdem zitterten die Siedler im Grenzland, wenn sie nur das Geräusch unbeschlagener Pferdehufe hörten, und verkrochen sich in ihren Hütten. Hinter ihm sah ich jetzt einen zweiten Krieger auftauchen. Little Friend trat neben mich und legte mir die Rechte auf die Schulter. »Das ist Cochise«, sagte er. »Der Oberhäuptling aller Chiricahuas.« Ich schaute den athletischen, schlanken Krieger mit dem harten, schmalen Gesicht und der kühn gebogenen Nase genauer an. Er war jünger als Black Hawk, doch auch er war eine Persönlichkeit, wie sie einem nur selten im Leben begegnet. Cochise umarmte Black Hawk. Seine Begrüßungsworte waren herzlich. Als die Häuptlinge in einem großen Wickiup verschwanden, kamen Krieger zu uns, die uns unseren Platz in der
Oase zeigten, wo wir unser Lager aufschlagen konnten. Little Friend und ich machten uns zusammen an den Bau einer Laubhütte. Wir kamen gut dabei voran. Es gab Bäume aller Art in der Oase, durch die glühend der Wüstenwind strich. Wir schnitten biegsame Äste von einem Pecan-Baum, die wir in der Form eines Kreises in den Boden steckten und an der Spitze zusammenbanden, so daß sie eine regelrechte Kuppel bildeten. Sodann flochten wir dünne, geschmeidige Zweige in das Gerüst. Nach knapp anderthalb Stunden waren wir fertig und räumten unsere Decken und Waffen hinein. Unsere Pferde weideten in kniehohem Grammagras, und knapp zweihundert Yards entfernt lag in einer Senke die Quelle für einen breiten Bach, der die Oase von Norden nach Süden durchschnitt und dann wieder im Boden versickerte. Ich war sicher, daß fast tausend Indianer die Oase bevölkerten. Davon waren gewiß vierhundert Krieger. So viele Apachen auf einmal hatte ich vorher noch nie gesehen. »Es werden noch mehr sein, wenn wir nach Norden ziehen«, sagte Little Friend. »Wir werden wie ein Hagelsturm über die Weißaugen herfallen.« Ich schaute ihn an. »Glaubst du, daß wir siegen?« Er schwieg. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er schien mich nicht zu sehen. »Vielleicht siegen wir irgendwann«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht …« »Auf jeden Fall dürfen wir nicht aufhören, zu kämpfen. Niemals. Wenn wir aufhören, zu kämpfen, werden wir nicht einmal mehr in der Wüste sicher sein.« Er senkte den Kopf und schaute mich an. »Die Weißen fallen wie die Ameisen über das Land her. Wenn zehn von ihnen vernichtet werden, stehen gleich hundert andere wieder auf. Wenn aber bei uns einer fällt, gibt es niemanden, der ihn ersetzt. Wir werden weniger, die Weißen werden mehr.« »Und trotzdem kämpfen wir?« »Trotzdem, ja. Wir haben versucht, in Frieden mit den Weißen zu leben«, sagte Little Friend. »Das ist lange her. Die Weißen wollten
keinen Frieden. Wer einen Krieger schlägt, muß wissen, daß er zurückschlägt. Gewalt wird immer aus der Gewalt selbst geboren. Deshalb können wir nicht aufhören, zu kämpfen.« Ich schwieg. »Vielleicht gibt es eines Tages doch Frieden«, sagte Little Friend. »Wenn du älter bist, wenn die Vernunft gewachsen ist.« Ich nickte, und ich dachte nach über das, was Little Friend gesagt hatte. Alles hatte ich nicht verstanden. Doch ich war sicher, es eines Tages zu begreifen. Ich wußte, daß ich nicht vergessen würde, was er gesagt hatte. Gewalt wird aus der Gewalt selbst geboren … Little Friend ging hinüber zu den Ratsfeuern in der Mitte der Oase, wo sich jetzt die Häuptlinge versammelten. Ich blickte mich um. Es wurde Zeit, daß ich mich mit der neuen Umgebung vertraut machte. Unweit von unserer Grashütte hatte Schnelltöter mit seinen beiden Frauen sein Quartier aufgeschlagen. Sie stritten schon wieder. Das war nichts Besonderes. Als die beiden Squaws aufeinander losgingen, schien es interessant zu werden. Doch da kroch bereits Schnelltöter aus dem halbfertigen Wickiup und verabreichte beiden schallende Ohrfeigen. Da wurden sie still, und ich zog los, um das Lager kennenzulernen. * Ich sah das Mädchen, als ich zur Quelle hinunterging. Sie tauchte plötzlich vor mir auf, mit zwei Ledereimern in den Händen. Wie angewurzelt blieb ich stehen und schaute ihr nach. Sie ging keine fünf Schritte entfernt an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Dann verschwand sie hinter einer dichten Strauchgruppe. Ich bemerkte erst jetzt, daß mir der Schweiß in dünnen Bahnen über das Gesicht rann. Mir war, als hätte ich eine Luftspiegelung gesehen. Ich ging zögernd einige Schritte, blieb hinter den Büschen stehen, atmete tief durch und umrundete das dichte Strauchwerk. Dahinter fiel ein Hang ab in eine flache Senke, durch die der Bach floß, der die Oase bewässerte. Gegenüber davon reckte sich wuchtig der
Stamm einer Organ-Pipe-Kaktee in den heißen Himmel. Unten am Bach sah ich sie wieder. Sie hockte bis zu den Knöcheln im Wasser und füllte die beiden Ledereimer. Ihr Schatten fiel in den hellen Ufersand. Sie war vermutlich ein oder zwei Jahre älter als ich und etwas kleiner. Ihre Gestalt war nicht von jener muskulösen Stämmigkeit, wie bei den älteren Apachensquaws, deren Körper von dem harten Leben und der schweren Arbeit gezeichnet waren. Sie wirkte kräftig, war aber schlank und geschmeidig und bewegte sich leichtfüßig wie eine junge Antilope. Das blauschwarze Haar flutete ihr lang auf die Schultern und rahmte ihr Gesicht ein, das nicht rund war, wie das der meisten Squaws, sondern oval, so daß die schmalen Augen und die hohen Wangenknochen ihm einen eigenartigen Reiz verliehen. Ihre Füße waren klein und noch nicht vom vielen Laufen plattgetreten. Ich konnte sie sehen, denn sie ging barfuß, und mein Mund wurde ganz trocken, als ich bemerkte, wie der helle Ufersand ihr durch die Zehen rieselte. Sie trug ein schlichtes, knielanges Kleid aus Kaliko, das mit sparsamen Stickereien versehen war. Darunter zeichneten sich schwach ihre knospenden Brüste ab. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Ich wußte nicht, wann ich mich jemals früher so gefühlt hatte – und das beim Anblick eines Apachenmädchens. Einen Moment lang kam ich mir blöd vor. Aber das war schnell wieder vergessen, als sie sich unter mir aufrichtete und plötzlich den Kopf wandte. Einen Augenblick lang schaute sie mich an und wandte sich dann wieder ihren Eimern zu. Mir wurde die Kehle eng. Ich begriff in diesem Moment nicht, daß ich im Begriff war, mich zum erstenmal zu verlieben. Es hatte bisher auch keine Gelegenheit dazu gegeben, dazu waren die letzten Wochen und Monate viel zu sehr mit ständigem Kampf erfüllt gewesen. Und früher war ich allem, was nach Mädchen aussah, lieber aus dem Weg gegangen. Ich hatte nie geahnt, wie schnell sich das ändern konnte. Ich war sicher, Blei in den Gliedern zu haben und mich nie mehr rühren zu können. Daß um mich herum Hunderte von Apachen waren, hatte ich in diesem Moment völlig vergessen. Ich sah nur das
Mädchen und sonst nichts. Sie hatte die beiden Eimer gefüllt und trat den Rückweg an. Das Wasser in den Eimern schwappte bei jedem Schritt über den Rand. Sie hatte es nicht einfach, als sie den steinigen Hang heraufstieg. Ich nahm mir vor, sie anzusprechen, wenn sie oben angelangt war und dachte krampfhaft darüber nach, was ich sagen sollte. Da stolperte sie plötzlich. Sie rutschte aus, stieß einen spitzen Schrei aus und fiel hin. Sie rollte den Hang ein Stück hinunter. Die beiden Eimer liefen aus. Das Wasser versickerte sofort im Boden. Das war meine Chance. Ich hastete den Hang hinunter und hockte auch schon neben ihr, als sie gerade den Kopf hob. »Kann ich dir helfen?« Ich erkannte meine Stimme nicht wieder. Sie schwieg, und ich faßte einfach nach ihren Händen und half ihr hoch. Sie ließ es sich gefallen. »Hast du dir weh getan ?« Ihre Knie waren leicht aufgeschrammt, und ihr Kleid war etwas staubig. Sonst schien ihr nichts zu fehlen. »Es geht schon«, sagte sie, und als ich sie anschaute, errötete sie ein wenig. Ich hob wortlos die beiden Eimer auf und ging zum Bach, wo ich sie ins Wasser hielt, bis sie wieder gefüllt waren. Sie stand neben mir und schaute mir zu. Ich fühlte ihre Blicke in meinem Nacken brennen und verfluchte mich innerlich für meine Unsicherheit, die mir völlig neu war. »Wir sind erst heute angekommen«, sagte ich, während ich mich umdrehte. »Ich gehöre zu Black Hawks Stamm.« »Ich weiß.« Sie nickte und musterte neugierig mein blondes Haar. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Und du?« »Kaktusblüte.« Sie lächelte ein wenig. Für einen Moment sah sie wirklich aus wie der zarte Blütenkelch eines Saguaro, der sich nach einem der seltenen Regenfälle in der Wüste geöffnet hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war sie wieder ernst. »Gib mir die Eimer«, sagte sie. »Danke, daß du mir geholfen hast.« »Ich kann die Eimer doch tragen«, sagte ich.
»Das ist Arbeit für eine Squaw«, sagte sie sehr bestimmt. »Wenigstens den Hang hinauf«, sagte ich. »Sonst stolperst du wieder.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du willst.« Ich ging neben ihr her und trug die Eimer, als seien sie mit rohen Eiern gefüllt. Dabei schaute ich starr geradeaus, obwohl ich Kaktusblüte gern angesehen hätte. Aber ein unerfindliches Gefühl hinderte mich daran. Dabei war ich sicher, daß Kaktusblüte mich die ganze Zeit anblickte und von oben bis unten musterte. Es war ein scheußliches Gefühl, und ich war so durcheinander, daß ich das Auftauchen des jungen Apachen vor mir erst sah, als ich fast gegen ihn stieß. Ich blieb stehen und hob den Kopf. * Er war etwa zwei Jahre älter als ich, doch er schien etwas kleiner zu sein. Genau konnte ich das in diesem Moment nicht abschätzen, denn er stand oben auf dem Hang, und damit ein Stück über mir, und im ersten Moment erschien er mir riesig. Er hatte breite Schultern, sein Gesicht war düster, und aus seinen Augen blitzte mir nackte Wut entgegen. Ich wandte rasch den Kopf zur Seite und sah, daß Kaktusblüte zwei Schritte hinter mir stand und erschrocken auf den Jungen blickte. »Laß die Eimer los«, sagte er, bevor ich ganz begriff, was er eigentlich wollte. Seine rauhe Stimme holte mich aus meinen Träumen. Doch noch war ich zu verwirrt, um zu reagieren. Alles war viel zu plötzlich. Erst die Begegnung mit Kaktusblüte und die Erfahrung, welchen Gefühlswirrwarr der Anblick eines Mädchens in mir auslösen konnte, und nun dieser wütend aussehende Bursche. »Laß die Eimer los«, wiederholte er, diesmal etwas lauter. »Und dann verschwinde, Weißauge.« Das hätte er besser nicht gesagt. Jetzt zuckte auch in mir der Zorn hoch, und meine augenblickliche Verwirrung war wie weggeblasen. »Sag das nicht noch einmal«, erwiderte ich.
»Du weiße Schlange«, sagte er. Dann hob er sein rechtes Bein und trat blitzschnell zu. Sein Fuß traf den Eimer in meiner linken Hand. Das Wasser schwappte über den Rand, und ich ließ den Eimer fallen. Er kullerte den Hang hinunter. Der Junge über mir spuckte aus, und Kaktusblüte sagte hinter mir: »Laß uns in Ruhe, Rennender Bär. Warum schleichst du mir ständig nach? Kümmere dich um deine eigenen Sachen und geh weg.« Er achtete nicht darauf, sondern spuckte mir wieder vor die Füße und trat zum zweiten Mal zu. Diesmal war ich schneller, und jetzt, nachdem ich wußte, daß Kaktusblüte vom Auftauchen des anderen ganz und gar nicht begeistert war, hatte ich keine Hemmungen mehr, ihm seine Frechheit heimzuzahlen. Ich zog den zweiten Eimer blitzschnell zur Seite, so daß sein Fuß ins Leere stieß, und dann hob ich den Eimer und kippte dem Burschen das Wasser ins Gesicht. Der Junge, den Kaktusblüte »Rennender Bär« genannt hatte, stand einen Moment da wie ein begossener Pudel, nachdem er nach seinem fehlgegangenen Tritt fast das Gleichgewicht verloren hätte und es gerade noch hatte vermeiden können, vor meine Füße zu stürzen. Das schwarze Haar klebte ihm am Kopf, und das Wasser rann in schmalen Bächen über sein Gesicht, das für einen Vierzehnjährigen viel zu kantig war. Sein bloßer Oberkörper glänzte vor Nässe. Ich hörte Kaktusblüte lachen. Das war Musik in meinen Ohren, und obwohl ich durchaus begriff, daß die Situation gar nicht so lächerlich war, konnte auch ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Rennender Bär sah es, und das ließ ihn noch wütender werden. »Dir wird das Lachen noch vergehen, Weißauge«, sagte er. »Du bist erst heute hier angekommen, bist kein richtiger Apache und streckst trotzdem deine schmutzigen Finger nach Kaktusblüte aus.« »Geh weg«, sagte Kaktusblüte. Ihre Stimme klang wütend. »Ich habe dir schon ein paarmal erklärt, daß ich nichts von dir wissen will. Du drängst dich auf, und du weißt, was passiert, wenn mein Vater das erfährt.« »Was würde er wohl sagen, wenn er dich mit diesem weißen Bastard sähe«, erwiderte Rennender Bär, ohne seinen Blick von mir zu wenden.
»Das hast du nicht umsonst gesagt«, sagte ich. Ich tat so, als würde ich den zweiten, nun auch geleerten Eimer, wegwerfen. Aber ich holte nur Schwung für einen mächtigen Schlag und schmetterte Rennender Bär den Ledereimer gegen die Brust. Er warf beide Arme hoch und stürzte rücklings zu Boden. Da sprang ich den Hang hinauf und stürzte mich auf ihn, denn er hatte mich jetzt lange genug beleidigt, und was er gesagt hatte, war mehr, als ich hinzunehmen bereit war. Jetzt würde er dafür bezahlen. Ich kannte ihn nicht und wußte nicht, ob er ein guter Kämpfer war. Meine Chance war, ihn zu überrumpeln, so daß er gar nicht erst zum Zuge kommen konnte. Ich packte ihn an den Schultern und zerrte ihn hoch. Für einen Sekundenbruchteil war sein Gesicht dicht vor meinem. »Nimm zurück, was du gesagt hast!« »Weißer Bastard«, sagte er. Ich riß mein rechtes Knie hoch und rammte es ihm in den Leib. Er krümmte sich zusammen und stieß fast gleichzeitig den Kopf vor wie einen Rammbock. Ich war nicht darauf gefaßt und nahm voll den wuchtigen Stoß, hinter dem das ganze Körpergewicht lag. Der Schmerz durchschoß mich. Ich konnte gerade noch mit beiden Händen zupacken und das nasse Haar von Rennender Bär festhalten. So zog ich ihn mit, als ich nach hinten auf den Hang stürzte. Aus den Augenwinkeln sah ich Kaktusblüte für einen kurzen Moment. Sie stand da wie angewachsen und hatte die Hände vor dem Mund zu Fäusten geballt. Ihre Augen waren entsetzt geweitet. Mehr nahm ich nicht wahr, denn ich rollte zusammen mit Rennender Bär den Hang hinunter und zerriß mir dabei mein Kalikohemd. Er kam auf mir zu liegen und preßte beide Hände auf meinen Hals. Die Luft wurde mir knapp. Ich wand mich wie ein Aal und versuchte verzweifelt, mich von seinem Gewicht zu befreien. Schwarze Punkte tauchten vor meinen Augen auf, die Konturen verschwammen, und ich röchelte. Da bekam ich meine rechte Hand frei, holte mit letzter Kraft aus und schmetterte meine Faust Rennender Bär seitlich in die linke Nierengegend. Er quiekte wie ein sattes Schwein. Sein Griff lockerte sich. Ich zog
die Beine an und stieß ihn von mir herunter. Er rollte durch den Staub und sprang mit verzerrrtem Gesicht wieder auf die Beine. Aber da stand ich bereits, nach Atem ringend, aber unversehrt. Ich schlug ihn mitten ins Gesicht. Blut tropfte aus seiner Nase. Er ging in die Knie und fiel wieder, rollte blitzschnell über die Schulter ab und sprang mich an wie eine Raubkatze. Und auf einmal hielt er sein Messer in der Faust. Ein kurzes Messer mit gebogener Klinge und einem Griff aus Ledergeflecht. Ich sah es und wich ein paar Schritte zurück. Wenn ich jetzt auch mein Messer zog, war ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich. Ich wußte nicht, zu welcher Stammesgruppe Rennender Bär gehörte, aber ich wußte, daß es Mangas Coloradas nur nach zähen Beratungen gelungen war, die Stämme der Apachen zu vereinigen. Sie waren vorher untereinander uneins gewesen, und manchmal genügte ein kleiner Anlaß, um solche alten Streitigkeiten wieder aufleben zu lassen. Wenn ich Rennender Bär tötete, konnte das große Probleme heraufbeschwören. Und wenn Rennender Bär mich tötete? Es würde keinen Unterschied bedeuten. Das alles schoß mir in diesen wenigen Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Ich ließ mein Messer stecken. Statt dessen sprang ich nach vorn, fintete, ließ einen Messerstich ins Leere gleiten und packte das rechte Handgelenk von Rennender Bär. Ich wirbelte herum, zog den Arm mit und schlug die Faust mit dem Messer mit aller Wucht auf mein hochgezogenes rechtes Knie. Fast gleichzeitig drehte ich mich und schleuderte dadurch Rennender Bär mit einem Hüftschwung zu Boden. Sein Gesicht war blaß vor Schmerz, doch kein Ton drang über seine Lippen. Er fiel auf den Rücken und klammerte das Messer weiter fest. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, setzte ich meinen rechten Fuß auf sein Handgelenk und trat zu, bis er das Messer losließ. Ich bückte mich, nahm es auf und schleuderte es weit über den Bach. »Gib es auf«, sagte ich. Mein Atem ging schwer. »Ich rate dir, nenne mich nie wieder Weißauge oder weißer Bastard. Das nächste Mal werde ich dich töten.« Er schwieg. Ich nahm den Fuß von seinem rechten Handgelenk
und wich ein paar Schritte zurück, blieb aber in gespannter Haltung stehen, um einen Überraschungsangriff abfangen zu können. Aber Rennender Bär schien genug zu haben. Er richtete sich wortlos auf, klopfte sich den Staub von seiner Kalikohose, drehte sich um und stolperte den Hang hinauf. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auch Kaktusblüte nicht an, als er davoneilte. Ich hob den Kopf und blickte zu dem Mädchen hoch. Sie stand noch immer auf dem Hang. Ihr Gesicht war ernst. »Die Eimer sind wieder leer«, sagte ich. Etwas Besseres fiel mir im Moment nicht ein. Da lachte sie plötzlich, und ich lachte auch. Sie sprang den Hang herunter und brachte den Eimer mit, mit dem ich Rennender Bär geschlagen hatte. »Ich hatte Angst«, sagte sie, als er vor mir stand. »Ich habe geglaubt, daß Rennender Bär dich besiegt. Er ist unbeherrscht und schleicht mir schon seit zwei Wochen nach.« Als sie so nah vor mir stand, hatte ich auf einmal ganz weiche Knie. Ich schluckte und versuchte, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu zeigen. »Kleinigkeit«, sagte ich. »Wenn er dich nicht in Ruhe läßt, dann ruf mich nur.« Ich nahm den Eimer und hob auch den zweiten auf, der am Ufer des Bachs lag. Dann füllte ich beide und schritt neben ihr den Hang hinauf. Neben dem dichten Buschwerk oberhalb des Bachs blieben wir stehen. »Rennender Bär wird dich hassen«, sagte sie. »Er ist eifersüchtig, obwohl er kein Recht dazu hat.« »Ich werde nicht daran sterben.« »Ich bin froh, daß du ihn verjagt hast«, sagte sie. »Ich auch.« Ich grinste. »Sehen wir uns mal wieder.« »Vielleicht.« Sie schaute sich schnell um. »Man darf uns nicht zusammen sehen.« Ich nickte. Die strengen Sitten waren mir bekannt. Kaktusblüte war bereits im heiratsfähigen Alter und hatte sich daher von jungen Kriegern fernzuhalten. Auch von mir, obwohl ich längst nicht soweit
war, auch wenn ich schon mit den Kriegern ritt und kämpfte. Junge Apachen heirateten meist mit siebzehn Jahren. Sie konnten sich nicht viel länger Zeit lassen, denn Apachen wurden in diesem Land nur selten alt. Sie mußten für Nachkommen sorgen, bevor sie im Kampf fielen. Squaws wurden meist von ihren Eltern vermählt, sowie sie in der Lage waren, Kinder zu gebären. Sie hatten nur selten das Recht, bei der Wahl ihres Ehepartners mitzubestimmen. Nachdenklich schlenderte ich durch das große Camp. An den Ratsfeuern in der Mitte der Oase palaverten sie. Mangas Coloradas sprach gerade. Seine mächtige Stimme hallte weit über das Lager. Doch ich hörte nicht hin und verstand nichts von dem, was er redete. Ich dachte nur an Kaktusblüte und hatte immer nur ihr Bild vor Augen. Es war sinnlos, und ich wußte es. Vermutlich war sie längst einem Krieger versprochen. Wahrscheinlich einem starken und reichen Krieger, denn sie war schön, und ihre Eltern konnten bei der Auswahl des Ehegefährten für ihre Tochter wählerisch sein. Ich war in jedem Fall zu jung und viel zu unbedeutend, und wenn man Kaktusblüte und mich zusammen sah, würde es wahrscheinlich Ärger geben. Aber nichts konnte mich von den Gedanken an sie abbringen. Ich erreichte den Wickiup von Little Friend und mir und legte mich davor ins Gras. Ich blinzelte in die Sonne und kaute auf einem Grashalm. Kaktusblüte … Was für ein Name! Was für ein Mädchen! Warum war ich nur erst zwölf. Zwar wurde ich in ein paar Monaten dreizehn. Aber das änderte noch gar nichts. Ich wälzte mich auf den Bauch und starrte versonnen vor mich hin. Ein Schatten fiel auf mich, und ich dachte an Kaktusblüte. Wenn mir vor einigen Monaten noch jemand gesagt hätte, daß mich ein Mädchen völlig durcheinander bringen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Ich wandte den Kopf und entdeckte zwei krumme, stämmige Beine. Sie waren stark behaart und muskulös und zerstörten das Bild von Kaktusblüte, das ich vor Augen gehabt hatte. Mürrisch blickte ich auf und schaute in zwei gutmütige, große Augen. »Natanah«, sagte ich, etwas enttäuscht. »Willst du allein sein?« Breitschultrig und muskelbepackt stand er vor mir, etwas hilflos, den Kürbiskopf leicht schräg gelegt. »Schon in Ordnung«, sagte ich. Ich richtete den Oberkörper auf, zog die Beine an den Leib und schlang die Arme darum. Schwerfällig hockte sich Natanah neben mich. Er war ein gutmütiger, freundlicher Bursche, nicht besonders klug, stets hilfsbereit, aber dabei unsicher. Er wußte vor Kraft manchmal nicht wohin. Überall an seinem Körper quollen Muskelwülste unter seiner Haut hervor. »Was hast du?« fragte er. »Nichts.« Ich schaute an ihm vorbei. »Ich kann verstehen, daß du ein bißchen durcheinander bist.« Natanah sprach so, wie er aussah: langsam, schleppend, mühsam nach Worten suchend. »Ich war fünfzehn, als ich meinen Medizinbeutel erhielt.« Er klopfte auf das bestickte Ledersäckchen, das er um den Hals hängen hatte. »Du bist viel jünger.« Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, seit ich Kaktusblüte gesehen hatte. Es erschien mir für den Moment auf einmal gar nicht mehr so wichtig. »Hast du etwas darüber gehört?« fragte ich dennoch. »In ein paar Tagen schon ist es soweit«, sagte Natanah. »Little Friend hat vorhin mit Black Hawk darüber gesprochen.« Ich riß mir einen neuen Grashalm aus und schob ihn in den Mund. »Dann ziehen wir nach Norden gegen die Weißaugen«, sagte Natanah. Er blickte nachdenklich ins Gras. »Es wird ein großer Krieg werden.« »Glaubst du, daß wir siegen?« »Sicher werden wir siegen.« Er schaute mich von der Seite an. »Wir werden die Weißaugen vernichten. Wir werden sie
hinwegschwemmen wie ein Sommerregen, der die Flüsse überflutet.« Das hörte sich anders an als das, was Little Friend gesagt hatte. Ich zog es vor, zu schweigen. »Wenn du diesmal in den Kampf reitest, wirst du deinen Medizinbeutel tragen«, sagte Natanah. »Noch habe ich es nicht geschafft«, sagte ich. »Vielleicht versage ich, vielleicht bin ich der Prüfung noch nicht gewachsen.« Natanah lachte dumpf und kehlig. Er klopfte mir auf die Schulter, daß ich dachte, ungespitzt in den Boden geschlagen zu werden. Er hatte Fäuste wie Schmiedehämmer und ahnte nichts von der Kraft, die in ihnen steckte. Er konnte sie nicht kontrollieren. Ein freundlicher Händedruck von ihm konnte mit gebrochenen Fingern enden. »Wenn es einer schafft, dann du. Ich habe da gar keine Sorge.« »Dann ist es ja gut.« Ich blickte wieder an ihm vorbei in die Wüste hinaus, über deren starre Oberfläche Staubteufel tanzten, vom Südwind getrieben. »Was ist los mit dir?« Natanahs Stimme klang besorgt. »Da ist ein Mädchen«, sagte ich widerwillig. »Eine Squaw?« Natanah grinste über sein ganzes breites Kürbisgesicht. »Eine kleine Squaw?« »Sie heißt Kaktusblüte«, sagte ich. »Ich habe sie vorhin am Bach getroffen.« »Das ist ein bißchen früh für dich«, sagte Natanah. »Das kann Ärger bedeuten.« »Hatte ich schon.« Ich blickte Natanah an. »Es tauchte einer auf, der sich einbildete, Rechte zu haben und eifersüchtig wurde. Ich habe ihn verprügelt. Er heißt Rennender Bär.« »Du hast ihn richtig verhauen?« »Und wie.« Ich zeigte auf die Risse in meinem Hemd. »Es ist ziemlich wild zugegangen.« Natanah grinste wieder und sagte dann: »Laß trotzdem die Finger davon. Du bist zu jung.« »Das weiß ich allein«, sagte ich heftig. »Ich hab gedacht, du wüßtest, was ich tun soll.«
»Ich habe dir gesagt, was du tun sollst«, sagte Natanah beleidigt. »Es ist nicht gut, wenn ein junger Krieger seine Kraft an Frauen vergeudet.« Er erhob sich. »Vielleicht bist du doch lieber allein.« »So war's doch nicht gemeint«, sagte ich. Aber Natanah ging, watschelnd und schwerfällig, wie es seine Art war. Ich schaute ihm nach und streckte mich im Gras aus, bis es Abend wurde, die Kraft der Sonne nachließ und ein kühler Wind über die Oase strich. Da erst kehrte Little Friend von den Ratsfeuern zurück. Ich erwartete, daß er etwas erzählen würde. Aber er schwieg. Stumm ließ er sich nieder und schien mich eine ganze Zeitlang nicht wahrzunehmen. Dann sagte er plötzlich: »Du hast dich geschlagen?« Ich war überrascht, daß er es schon wußte, und nickte nur. »Es war eine Squaw dabei«, sagte Little Friend. »Ja.« »Du bist zu jung, um dich mit einer Squaw abzugeben, und du bringst sie in Schwierigkeiten.« »Woher weißt du Bescheid.« »Ihr seid gesehen worden«, sagte er. Das war alles. Keine weitere Erklärung. »Der Vater von Rennender Bär ist ein Mescalero-Häuptling«, sagte Little Friend. »Nimm dich in acht vor ihm.« »Ich habe ihn besiegt«, sagte ich. »Ich kann ihn immer besiegen.« »Vielleicht.« Little Friend erhob sich. »Komm zum Essen. Ich habe mit Nochalo wegen dir gesprochen. Ich bringe dich morgen zum Medizinmann.« Mein Herz schlug plötzlich wieder schneller. In diesem Moment hatte ich Kaktusblüte und Rennender Bär und alles andere wieder vergessen. Natanah hatte also recht gehabt. Es war soweit: Ich würde in wenigen Tagen hinaus in die Wildnis ziehen. Jetzt, da ich wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, erfüllte mich eine seltsame Unruhe. Auch eine leichte Angst befiel mich. Ich zweifelte plötzlich daran, es schaffen zu können. Unkonzentriert und zerstreut schlang ich mein Essen hinunter. Ich bemerkte zwar Rennender Bär, der
unweit von mir am Feuer saß und mich haßerfüllt anstarrte. Doch ich achtete nicht auf ihn und machte mir auch keine weiteren Gedanken über den Vorfall am Bach. Ich schlief an diesem Abend spät ein.
3. Nebelfetzen hingen über der Oase, kühl und klamm wie Leichenfinger. Irgendwo bellte ein Hund. Pferde schnaubten. Die Squaws entfachten Kochfeuer und gingen zur Quelle hinunter, um Wasser zu holen. Little Friend brachte mich zur Hütte des Medizinmannes. Er sprach kein Wort während des Weges. Auch ich schwieg. Beklommenheit hatte mich ergriffen. Jetzt wurde es ernst. Es gab kein Zurück mehr. Ich würde meinen Weg gehen müssen und entweder als Versager zurückkehren oder als ein vollwertiger Krieger. Wir erreichten den nördlichen Rand der Oase. Die Nebelfetzen hatten sich weitgehend aufgelöst. Im Osten stieg aus einem Meer von flammendem Orangenrot die Sonne auf. Wir blieben stehen. Ich trug nichts weiter, als meine Mokassins und meinen Lendenschurz. Glatt fiel mein blondes Haar auf die Schultern. Ich stand aufrecht da und reichte Little Friend bis zu den Schultern. Mein Oberkörper war breit geworden, und an meinen Armen und Schultern entwickelten sich kräftige Muskeln. Etwas trotzig hatte ich mein Kinn vorgeschoben. Am Gürtel trug ich nur mein Messer. »Ich gehe jetzt.« Little Friend legte mir die Rechte auf die Schulter. »Du weißt, was du zu tun hast. Alles übrige wird Nochalo dir sagen. Du kennst die Wildnis, du weißt, wie man überlebt. Ob du verstehst, was Nochalo dir beibringt, weiß ich nicht. Darauf wird es ankommen.« Ich nickte. Little Friend ließ mich los. Einen Moment lang blieb ich mit hängenden Schultern stehen. Dann gab ich mir einen Ruck, drehte mich um und ging ohne ein Wort zu der großen Grashütte, vor der ein Gerüst in den Boden gerammt worden war, von dem Skalps
und getrocknete Schlangenhäute, Vogelbälge, Tierfelle und Ketten aus bunten Glasperlen hingen. Daneben steckte eine Lanze im Boden, an deren Schaft ein runder Schild angebracht worden war, der mit dem Donnervogel und anderen Symbolzeichnungen versehen war. Vor dem Eingang zierten bunte Kreise, Fünfecke und Pfeile den Boden. Aus der schmalen Öffnung im Dach zog rötlicher Rauch. Ich atmete tief durch und hätte gern gewußt, ob Little Friend noch hinter mir stand. Aber ich schaute mich nicht mehr um, zog die Decke vor dem Eingang weg und kroch in die Hütte. Süßlich-bitterer Rauch stieg mir in Mund und Nase. Er erfüllte die ganze Hütte. Meine Augen begannen zu tränen. Ich blieb am Eingang hocken und wartete, bis sich meine Augen an den Dunst gewöhnt hatten. Ein Hustenreiz stieg in mir auf. Ich unterdrückte ihn. In der Mitte der Hütte brannte ein Feuer in einer von rußigen Steinen umgebenen Mulde. An den Wänden hingen schmale, kurze Teppiche mit einfachen Stickereien, die die Sonne, den Mond, die Erde und den Himmel darstellten. Auf dem Boden rings um das Feuer lagen bemalte und mit Perlen verzierte Rasseln und Klappern und ein paar kleine Handtrommeln, deren Körper aus Menschenschädeln bestanden, die mit Menschenhaut bespannt waren. Dann erst sah ich den Schamanen. Er hockte hinter dem Feuer gegenüber dem Eingang. Er hatte die Beine verschränkt und trug nichts, außer einem Lendenschurz. Sein Körper war mager, leicht gekrümmt und von Narben gezeichnet. Die Rippen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Von keinem Stirnband gehalten, fiel aschgraues Haar weit über die knochigen Schultern des Mannes herab. Sein Gesicht war so hager und eingefallen, daß es im Zwielicht der Hütte wie ein von gegerbtem Leder überzogener Totenschädel wirkte. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, der Mund war kaum zu sehen. Sein ganzer Körper war bemalt. Gelbe und rote Striche bedeckten seine Wangen, das Zeichen des Blitzes seine Brust. Ich kannte ihn nur vom flüchtigen Sehen. Nochalo war ein Chiricahua wie ich, gehörte aber zu Cochises Stammesgruppe. Er warf ab und zu ein Pulver ins Feuer, das den rötlichen Rauch
und den seltsamen Geruch erzeugte. Ich wurde nach und nach ruhiger, entspannter. Der betäubende Geruch schien daran nicht unschuldig zu sein. Nochalo sprach kein Wort. Er begann plötzlich zu singen. Seine Stimme klang heiser und leise, wurde dann kräftiger. Es war ein monotoner Singsang. Der Text war einfach und wiederholte sich immer wieder. Nochalo flehte den Beistand des Großen Geistes, bat um Gnade für mich und darum, daß die bösen Geister vertrieben wurden. Irgendwie wirkte der Gesang auf mich einschläfernd. Benommen hockte ich da, atmete den bittersüßen Rauch ein und verlor schon bald jedes Zeitgefühl. Ich glaubte, zu schweben und fühlte mich leicht. Nochalo griff nach den Rasseln beiderseits des Feuers und erhob sich. Er sang weiter, ohne Pause, und schwang nun die Rasseln, deren Griffe mit Schlangenhaut überzogen waren. Er begann zu tanzen, gebückt sprang er von einem Bein aufs andere, drehte sich im Kreis, wiegte den Oberkörper im Rhythmus seines Gesangs. Ich konnte meine Blicke nicht von ihm wenden, folgte jeder seiner Bewegungen. Ich weiß heute nicht mehr im einzelnen, was die Lieder dieser Zeremonie aussagten. In jedem Fall beschwor Nochalo die guten Geister gegen die bösen, so daß ich rein und unbefleckt meinen Weg antreten konnte. Seine Stimme schien eine hypnotische Wirkung zu haben. Ich fühlte, wie meine Gedanken mir nicht mehr gehorchten. Anfangs wehrte ich mich dagegen. Aber es war sinnlos. Ich sah noch, daß Nochalo eine Handvoll grünliches Pulver ins Feuer warf und eine grelle Stichflamme aufzuckte. Dann fiel ich in Trance. * Das monotone Hämmern der Trommel weckte mich. Ich hatte das Gefühl, weit fort gewesen zu sein. Ich lag flach neben dem Feuer im Wickiup des Schamanen. Die Flammen brannten jetzt klein und ohne beißenden Rauch. Es roch nach einem Sud aus vielen Kräutern.
Nochalo sang immer noch. Er schien jetzt selbst in Trance versunken zu sein und schlug wie mechanisch die Trommel aus dem Menschenschädel, die er in der Linken hielt. Sein Blick war glasig. Als ich an mir hinunterblickte, sah ich, daß Nochalo meinen Körper bemalt hatte, mit Symbolen, die mich vor bösen Geistern schützen sollten. Ein angenehmes Gefühl erfüllte mich. Wohlige Wärme war in meinem Körper. Ich war sicher, mich nicht rühren zu können, und versuchte auch erst gar nicht, mich zu bewegen. So blieb ich liegen, stundenlang, und hörte die Reinigungsgesänge, die geheimnisvollen Beschwörungsformeln. Während der ganzen Zeit erhielt ich weder Essen, noch Wasser, um den Körper frei zu halten von allen äußeren Einflüssen. Auch Nochalo nahm nichts zu sich. Erst nach Einbruch der Dunkelheit endete die Zeremonie. Ich erhielt getrocknetes Fleisch und trank Wasser, in das Nochalo ein Pulver gemischt hatte. Es schmeckte bitter, aber ich schluckte es. In dieser Nacht schlief ich in Nochalos Wickiup. Am nächsten Morgen ging die Zeremonie weiter. Mit dem Aufgehen der Sonne begann Nochalo sein Werk wieder. Er lehrte mich die Gebete und Sprüche und die einfachen Texte der Lieder. Das meiste davon kannte ich, denn ich hatte es oft bei Feierlichkeiten der Apachen gehört. Es fiel mir leicht, Nochalos Anweisungen zu folgen. Und doch war es so viel, was er von mir verlangte, daß ich schon an diesem Tag manchmal glaubte, aufgeben zu müssen. Auch die nächste Nacht verbrachte ich bei Nochalo. Der Vormittag des folgenden Tages verging damit, daß Nochalo mich in die mythologischen Symbole einweihte. Dann verließ ich zum erstenmal wieder den Wickiup. Da war es schon dunkel. Im großen Apachencamp brannten nur noch wenige Feuer. Ich sah einige Wachen an den Rändern der Oase. Nur wenige Schritte von Nochalos Wickiup stand ein spitzes Zelt ohne Rauchabzug. Daneben brannte ein Feuer, und kopfgroße Steine lagen in der Glut. Am Feuer saßen zwei Gehilfen des Schamanen. Sie waren fast nackt wie wir und trugen holzgeschnitzte Masken.
Nochalo und ich betraten das Zelt. Es wurde mit Tierhäuten fest verschlossen. Ein Talglicht brannte im Innern. Wir hockten uns nebeneinander und warteten. Zwei mit Wasser gefüllte Gefäße standen vor uns, und ich bemerkte erst jetzt, das ein schmaler, schräg nach unten führender Kanal unter der Zeltwand hindurch ins Innere führte. Da rollte auch schon ein Stein von draußen herein, der in der Feuersglut gelegen hatte Nochalo griff nach einem der Wassergefäße und schüttete Wasser auf den Stein. Es zischte, und sofort stieg Dampf auf, der das ganze Zelt erfüllte. Die Hitze, die sich verbreitete, war fast unerträglich. Ich konnte kaum noch atmen. Der Schweiß strömte mir aus allen Poren. Dann begriff ich den Sinn der Sache. Die Tage zuvor hatten bereits dazu gedient, mich geistig und seelich von allen schlechten Einflüssen und bösen Geistern zu »reinigen«. Das Dampfbad war der letzte Akt der körperlichen Reinigung. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, fühlte ich wirklich, daß es mir guttat. Stein um Stein rollte durch den Kanal in das Zelt. Und erst, als das letzte Wasser verdampft war, verließen wir es. Es war gegen Mitternacht, und ich fühlte mich schwach. Als ich aus dem Zelt kroch, empfing mich ein Schwall Wasser, das mir eisig erschien. Doch seltsamerweise fror ich nicht. Die beiden Gehilfen Nochalos rieben mich ab. Dann kroch ich in die Hütte des Schammanen und fiel sofort in einen tiefen, erquickenden Schlaf. Noch vor dem Morgengrauen weckte Nochalo mich. Es war kühl, und ich fröstelte, aber ich fühlte mich gut, befreit von allem, was mich hätte belasten oder ablenken können. Ich war gerüstet. Nochalo führte mich durch den Frühdunst zum nördlichen Rand der Oase. Hier blieben wir stehen. »Geh jetzt«, sagte er mit seiner eigentümlich knisternden, hohen Stimme. »Du bist nun rein an Seele, Geist und Leib. So trittst du vor den Großen Geist hin. Du kannst auf ihn vertrauen. Dein Schicksal liegt in seiner Hand. Sei stark, erweise dich ihm würdig.« Wie eine Statue stand er da, als sei er aus Holz geschnitzt. Reglos, hochaufgerichtet, die Arme vor der Brust gekreuzt.
Ich tastete zum Griff meines Messers im Gürtel. Das war alles, was ich mitnehmen durfte. Dann lief ich los. Ich beeilte mich. Wenn die Sonne aufging, durfte ich das Lager nicht mehr hinter mir sehen. Stetig lief ich durch den Sand, nach Art der Wölfe, das Gewicht des Körpers in Intervallen mal auf das eine, mal auf das andere Bein verlagernd, um Kraft zu sparen. Die kühlen Nebelfetzen umstrichen mich. Ich atmete tief durch und hatte den herben Geschmack des Wüstenwindes auf der Zunge, der mir das Leben noch zur Qual machen sollte. Der Sand wurde weicher, nachgiebiger, je weiter ich mich von der Oase entfernte. Ich versank bei jedem Schritt, den ich tat, tief darin. Dünen tauchten vor mir auf, Kakteen, Yuccasträucher. Um mich herum war es still wie auf einem Friedhof. Das einzige Geräusch, das ich hörte, war das meines eigenen Atems.
4. Als die Sonne aufging und Feuer auf das Land zu speien schien, lief ich noch immer. Hinter mir kam Wind auf, traf meinen Rücken und wirbelte feinkörnigen Sand hoch, den er gegen mich warf, und der mich bald einhüllte. Die Sonne stieg rasch am Firmament, bildete einen grellen Glutfleck, eine schwärende Brandwunde an einem glatten, farblosen Himmel. Hitze lastete auf dem Land, legte sich auf meine Schultern wie ein Tonnengewicht. Meine Bewegungen wurden langsamer. Ich schwitzte, und der feine Staub, der die Luft erfüllte, setzte sich auf meinem Körper fest und bildete mit dem Schweiß feste Krusten, die meine Poren verstopften. Staub drang in meinen Mund, trocknete meinen Hals und meine Mundhöhle aus, ließ sie rauh werden, verursachte bald Schmerzen, setzte sich in den Augenwinkeln fest und unter den Achseln. Die Luft wurde mir knapp, meine Muskeln begannen zu schmerzen. Aber ich hielt nicht an. Als es Mittag wurde, war ich völlig ausgepumpt und ließ mich im Schatten einer Düne nieder. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde zerplatzen. Der Durst quälte mich, und in meinem Magen fraß der
Hunger. Um mich herum war nichts als die ewige Weite der Wüste, die kein Ende zu haben schien. Ich spürte in mir bereits schwach den Wunsch, ins Lager zurückzukehren. Das war unmöglich. Ich wußte es, und es gelang mir, die Gedanken fürs erste zu unterdrücken. Doch sie kehrten immer wieder, und ich fragte mich, wie es um meine Willenskraft erst in einigen Tagen bestellt sein würde, nachdem ich schon nach wenigen Stunden Schwächen zeigte. Ich raffte mich auf und zwang mich, weiterzulaufen. Wenn ich liegenblieb, würde ich verdursten oder von der Sonne getötet werden. Die Hitze schien sich in den folgenden Stunden noch zu verstärken. Die Luft flimmerte vor meinen Augen und lag wabernd auf dem Land wie ein unsichtbares Kissen aus Glut und Feuer. Ich lief längst nicht mehr leichtfüßig und schnell wie am Morgen, sondern schleppte mich schwerfällig durch den Sand, der mir jetzt wie ein zäher Teig erschien, in dem ich bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln versank, in dem meine Füße festzukleben schienen. Der Durst ließ mich fast verrückt werden. Meine Haut auf Rücken, Schultern und Brust hatte sich gerötet und spannte. Ich dachte an den Sonnenbrand, den ich mir im vorigen Jahr bei einer Flucht von den Apachen zugezogen hatte, der mich fast umgebracht hatte. Flucht! Zum erstenmal seit sehr langer Zeit dachte ich wieder daran. Hatte ich jetzt nicht die beste Gelegenheit dazu? War es nicht wirklich das beste für mich? Ich konnte mir all die Strapazen, all die Gefahren, all die Entbehrungen, die das Apachenleben bot, ersparen. Ich hatte mir eingebildet, bereits völlig mit meinem Leben bei den Weißen gebrochen zu haben, hatte geglaubt, nicht nur zu leben und zu sprechen, sondern auch zu denken wie ein Apache. Der Durst löste verschwommene Phantasiebilder in mir aus. Ich sah mich auf den Feldern der Mission arbeiten, in der ich aufgewachsen war, sah mich in weichen, weißen Betten schlafen … Und dann sah ich die Bilder niedergemetzelter Apachen, ich erlebte das Massaker noch einmal, das skrupellose Indianerhändler, deren Haut so weiß war wie meine, unter meinem ersten Stamm angerichtet hatten. Ich dachte an die Liebe und Güte, die mir bei den Apachen entgegengebracht worden war, nachdem ich mich
eingewöhnt hatte und nach und nach ein weißer Indianer geworden war. War das Leben bei den Apachen wirklich so anders als bei den Weißen? War es nicht nur so, daß ich bei den Apachen auf der Seite der Schwächeren lebte, auf der Seite der Gehetzten, denen ein friedliches Leben von weißen Landräubern unmöglich gemacht wurde? Freilich: Es war bequemer, auf der Seite der Sieger zu stehen. Ich fiel auf die Knie. Mir wurde schwarz vor Augen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Stechende Schmerzen erfüllten meine Schläfen, meinen ganzen Körper. Da biß ich die Zähne zusammen und kämpfte mich wieder hoch. Nein, so ging es nicht weiter. Nicht nur der Durst, der Hunger, die Hitze setzten mir zu, auch diese Gedanken, die weit weg führten von dem, auf das ich mich zu konzentrieren hatte, von dem, was Nochalo, der Schamane der Chiricahuas, mir in den letzten drei Tagen gesagt hatte. Meine Zweifel, die in mir in den letzten Stunden aufgestiegen waren, wurden aus meiner augenblicklichen Schwäche geboren, aus dem Wunsch nach Bequemlichkeit, nach dem Ausweichen vor weiteren Strapazen. Andere Gründe gab es nicht, und Schwäche war kein guter Grund. Ich fühlte mich als Apache. Wenn ich die Apachen verließ und zurück zu den Weißen ging, dann war das nichts als ein Versagen. Mir wurde plötzlich klar, daß ich, wenn ich bei den Apachen versagte, auch später bei den Weißen versagen würde. Das Leben war nicht einfach, egal, wo man aufwuchs. Das hatte ich auch schon bemerkt, als ich noch in der Mission gelebt hatte. Überall wurde man vor harte Prüfungen gestellt, und wo man versagte, da ging man unter. Das Gesetz der Wildnis herrschte überall in diesem Land. Es gab keinen Grund, die Apachen zu verlassen. Meine Chancen bei ihnen waren die gleichen wie anderswo. Ich mußte mich durchbeißen. Bis jetzt hatte ich es immer geschafft. Auch diesmal, bei der schwersten Prüfung, würde ich es schaffen. Das schwor ich mir, obwohl ich mehr auf allen vieren als aufrecht weiterkroch. Es gab in diesem Moment kein Zurück. Aber es gab auch kein Fortlaufen. Ich war ein Apache, und ich würde einer bleiben. Das war das letzte, war mir durch den Kopf schoß, bevor die
Schwäche mich übermannte und ich mit dem Gesicht zuerst in den Sand sackte und für kurze Zeit das Bewußtsein verlor. * Es war Nacht, und es war kühl. Ich hob den Kopf. Ein sanfter Wind strich über meinen Rücken. Milchiges Mondlicht lag über dem Land. Mein Hals war geschwollen, meine Zunge schien dick zu sein wie ein Ballon. Mühsam richtete ich mich auf. Schwindel erfaßten mich. Ich taumelte, torkelte wie betrunken. Meine Füße waren bleischwer. Doch ich zwang mich, weiterzugehen. Schritt um Schritt stapfte ich durch den Sand. Den Hunger spürte ich eigenartigerweise nicht mehr, nur den beißenden Durst. Wie lange ich mich so dahinschleppte, wußte ich nicht. Irgendwann jedenfalls sah ich vor mir im Sand Schatten, deren Konturen schärfer wurden, je näher ich ihnen kam. Dicke Bälle schienen am Boden zu liegen, und erst, als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, erkannte ich, daß es Kugelkakteen waren. An liebsten hätte ich vor Erleichterung laut aufgeschrien. Doch aus meiner Kehle drang kein Laut. Ich taumelte auf die Niggerheads zu und zog mein Messer. Vor den grünen, stachligen Kugeln fiel ich auf die Knie und schnitt die Schachein der einen ab. Ich verletzte mich ein wenig dabei, achtete jedoch nicht darauf, sondern stieß mein Messer tief in die runde Pflanze. Ich schnitt ein großes Stück heraus und biß in das helle Fruchtfleisch. Mein Zahnfleisch schien zu brennen, doch das dauerte nur wenige Minuten. Ich lutschte an dem Kaktusfleisch, bis ich alle Flüssigkeit herausgesogen hatte, dann biß ich ein weiteres Stück ab. Langsam begann ich mich besser zu fühlen. Mein Körper sog die Flüssigkeit dankbar in sich auf wie ein Schwamm, obwohl sie bitter schmeckte. Aber sie erfrischte und tat mir gut. Als ich mich wieder auf den Weg machte, trug ich ein großes Stück Kaktusfleisch bei mir. Doch nachdem mein Durst gestillt war, meldete sich bohrend das Hungergefühl wieder. Ich hatte nichts, um es zu beseitigen. Es ließ sich nur schwer unterdrücken. Doch der Hunger hatte auch sein Gutes. Er hielt mich wach. Ohne
Müdigkeit zu verspüren, trabte ich nordwärts. * Als der Morgen graute und das Mondlicht verblaßte, die Luft trüb wurde, sah ich spärliche Vegetation vor mir. Ich schritt durch taufeuchtes Gras und ließ mich neben einer mannshohen Yuccastaude nieder. Es war kalt. Ich fröstelte. Doch ich zog mein Messer und stieß es in den Boden, statt auszuruhen. Mit der Klinge wühlte ich die Erde auf. Es dauerte nicht lange, dann stieß ich auf die Wurzel der Staude. Ich schnitt sie heraus und befreite sie flüchtig von der Erde, schnitt die Keime ab und hielt schließlich die Knolle in der Hand. Bisher hatte ich sie nur gekocht und gebraten gegessen. Jetzt war mir vor Hunger alles egal, und ich biß in die rohe Frucht. Es schmeckte scheußlich, aber ich kaute und schluckte und aß weiter, obwohl zwischen meinen Zähnen die Erdkrumen knirschten. Danach war ich nicht satt. Mein Appetit war erst geweckt. Ich riß einige der reifen Yuccafrüchte vom Strauch und schlang sie in mich hinein, obwohl sie nur geröstet gegessen werden sollten. Mein Magen hob sich, aber ich überwand meinen Ekel. Der Hunger war stärker. Als die Sonne den Frühdunst durchstieß, lag ich gesättigt im Gras, im Schatten eines Sumachstrauches, dessen Beeren ich auch noch gegessen hatte. Ich saugte die Flüssigkeit aus dem Kaktusfleisch, das ich mitgenommen hatte, und als die Sonne über der Wüste aufging, schlief ich erschöpft ein. Mit heftigen Leibschmerzen erwachte ich. Als ich meine Därme entleerte, hatte ich fast flüssigen Stuhl und war schweißgebadet. So machte ich mich auf, um weiterzugehen. Ich hatte ein Randgebiet der großen Wüste erreicht, des »Unerforschten Landes«, wie die Mexikaner sagten, des »Landes der tausend Gräber«. Hartes, kniehohes Bärengras wucherte hier in bräunlichen Büschlein, von der Sonne verbrannt und scharfkantig wie feine Messer. Der Boden war steinig und verkarstet. Einige vulkanische Felsen reckten sich in die hitzeflimmernde Luft. Ich lief etwa eine Stunde, orientierte mich am Stand der Sonne und stieß dann auf einige Wacholdersträucher. Die Beeren, die ich von
den Zweigen pflückte, waren wohlschmeckend und saftig. Ich schnitt einen starken Zweig herunter, der geschmeidig, und biegsam war. Aus ihm wollte ich mir einen Bogen fertigen. Gegen Mittag erreichte ich ein Wasserloch. Die Vegetation war in der Nähe des Tümpels üppiger. Das Wasser schmeckte faulig, schien aber in Ordnung zu sein. Der zerwühlte Boden an den Rändern des Wasserlochs war ein Zeichen dafür, daß es Wild in der Nähe gab. Ich beschloß, hierzubleiben. Keine hundert Yards vom Wasserloch entfernt fand ich dichtes Strauchwerk und Baumgruppen. Etwas versteckt zwischen den Büschen begann ich mit dem Bau eines Wickiup. Ich tarnte ihn gut mit großen Zweigen und ganzen Büschen, die ich ausgrub und in das Gerüst der Hütte steckte. Im Innern säuberte ich den Boden von Gras und Steinen, glättete ihn und malte mit einem Stock die mythologischen Symbole in den Sand, wie Nochalo es mir beigebracht hatte. Bis es Abend wurde, hatte ich damit zu tun. Dann ging ich hinaus zum Wasserloch. Ich wußte, die Stunde, da die Wildtiere der Gegend zum Wasser gingen, war gekommen. Während der Tageshitze mieden die Tiere das Wasser. Sie waren erst an der Tränke zu finden, wenn es sich abgekühlt hatte. Ich prüfte den Wind und legte mich dann oberhalb des Wasserlochs hinter einem riesigen Felsklotz, der von Moos und Gras überwuchert war, auf die Lauer. Ein Jäger braucht Geduld. Das hatte ich bei den Apachen gelernt. Ich hatte Geduld, denn ich hatte Zeit. Als die Sonne im Westen versank, tauchten die ersten Tiere auf. Zunächst handelte es sich um Kleingetier. Einige Wildkaninchen hoppelten in die Senke, in der das Wasserloch lag. Sie flohen rasch, als in der Nähe Kojoten heulten. Dann ertönte ein dumpfes Geräusch, verursacht von schmalen Hufen. Ich ahnte, was für Tiere gleich auftauchen würden, und zog mein Messer. Little Friend hatte mir beigebracht, was in solchen Situationen zu tun war. Dann sah ich sie schon: Antilopen. Es war ein kleines Rudel, das in die Senke hinuntersprang und ins seichte Wasser am Rand des Tümpels drängte.
Ich wartete, bis der Führer des Rudels, ein erfahrener alter Bock, sich sichernd umgeschaut hatte und offenbar zu dem Ergebnis gelangt war, das alles in Ordnung sei. Dann hob ich mein Messer, richtete den Oberkörper halb auf und schleuderte das Messer mit aller Kraft. Es überschlug sich zweimal in der Luft und grub sich dann bis zum Heft seitlich in die Brust einer jungen Antilopenkuh. Das Tier taumelte und brach im seichten Wasser zusammen. Da erst stoben die anderen Tiere auseinander und jagten in wilder Flucht davon. Ich sprang auf und lief hinunter zum Wasserloch. Die Antilopenkuh lebte noch. Ich zog das Messer aus der Wunde und stieß es ihr in die Halsschlagader. Da war sie sofort tot. Ich zog sie aus dem Wasser, hob sie hoch und schleppte sie zu meinem Wickiup. * Im letzten Schimmer des Tageslichts enthäutete ich sie. Ein Stück Haut befreite ich sorgfältig von Fleisch- und Blutresten und vom Fell. Daraus wollte ich meinen Medizinbeutel anfertigen. Aus dem rechten Hinterlauf entnahm ich die Sehne für meinen Bogen. Einen Teil des Fleisches behielt ich, um es gleich zu braten. Den Rest wickelte ich in die Haut und vergrub ihn. Aus vertrockneten Zweigen und Ästen entfachte ich ein Feuer, wie Little Friend es mich gelehrt hatte. Ich spitzte ein Stöckchen an und drehte es wie einen Quirl zwischen einigen trockenen Spänen und morschen, leicht brennbaren Rindenstückchen, bis die sich entwickelnde Hitze das Holz schließlich in Brand setzte. Ich briet das Antilopenfleisch und aß es, während es Nacht wurde. Dann ging ich noch einmal zum Wasserloch. Der Mond spiegelte sich darin. Ich füllte eine kleine Schale aus dem Holz eines Pinyonbaumes, die ich am Nachmittag geschnitzt hatte. Sie trug ich vorsichtig zum Wickiup und setzte sie hinein. Dann betrat ich selbst die Hütte und verschloß den Eingang mit Zweigen. In den nächsten Tagen würde ich sie nicht mehr verlassen. Ich legte mich zum Schlafen nieder. Von den Zweifeln, die mich
noch am Vortage gepeinigt hatten, während ich erschöpft und am Ende meiner Kraft durch die Wüste getaumelt war, war nichts mehr geblieben. Ich dachte nicht einmal mehr daran. Es war eine kurze Schwächeperiode gewesen, und ich verdrängte jeden Gedanken an sie aus meinem Kopf, denn ich schämte mich dafür vor mir selbst. Es war stockfinster in meiner Hütte. Ich schloß die Augen und schlief sofort ein. Mein Schlaf war traumlos und ruhig. Ich erwachte, als einige Sonnenstrahlen durch kleine Lücken in der Laubwand meines Wickiups drangen. Ich richtete mich auf, trank einen Schluck von dem Wasser in der Schale und setzte mich mit verschränkten Beinen vor die Symbole, die ich tags zuvor auf den Boden gemalt hatte. Ich begann mich zu konzentrieren, meinen Geist zu befreien für die Offenbarung des höchsten Wesens, des Herrn der Wasser und der Winde, des Erbauers der Erde und des Schöpfers aller Tiere und Menschen, des Großen Geistes. Die religiösen Vorstellungen der Apachen waren mir im Laufe des vergangenen Jahres längst in Fleisch und Blut übergegangen. Ich hatte sie übernommen, und Nochalo hatte mich in die Einzelheiten der geheimen Riten eingeweiht. Ich entspannte mich, hielt mich an das, was Nochalo mir gesagt hatte, was ich von anderen, von Little Friend, von Schnelltöter und Natanah, wußte. Nach einiger Zeit bemerkte ich das Hungergefühl, das anfangs hatte in mir aufkeimen wollen, nicht mehr. Ich fühlte mich leicht, so wie in der Hütte des Schamanen. Und ich begann zu singen. Leise flossen die Töne über meine Lippen. Ich sang die alten Texte, die monotonen Melodien, sprach die Gebete und hörte nicht auf zu singen und zu beten. Bald hörte ich nichts mehr, außer meiner eigenen Stimme, bald wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ich geriet in Ekstase, erhob mich und tanzte vor den Symbolen auf dem Boden. Alles, was ich tat, geschah instinktiv. Das, was Nochalo mir vorgeschrieben hatte, hatte ich in diesen Augenblicken vergessen. Auch daran, daß Little Friend mir gesagt hatte, bei manchen dauere es viele Tage und Nächte, bis sie in
Trance fielen, dachte ich nicht mehr. Ich tanzte und sang bis zur totalen Erschöpfung und brach schließlich zusammen. Vor meinen Augen wirbelten die wildesten Bilder in einem tollen Reigen. Ich erkannte kaum etwas und hatte das Gefühl, zu sterben. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf.
5. Am nächsten Tag war ich vom Hunger sehr geschwächt. Trotzdem tanzte ich wieder in der engen, niedrigen Hütte, und sang den ganzen Tag, bis meine Kehle schmerzte und ich abermals zusammenbrach. Ich zitterte am ganzen Körper. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich hatte Fieber und war nicht mehr Herr meiner Sinne. Während ich am Boden lag, sang ich noch immer. Mein Körper schien sich aufzulösen. Ich war sicher, fliegen zu können, fühlte mich federleicht, und dann fiel ich in Trance. Schwach nahm ich noch wahr, daß draußen ein trockenes Gewitter tobte. Das war ein gutes Zeichen. Der Gott des Donners und des Blitzes war ein mächtiger Gott. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich dunkel, daß ich die schrecklichsten Fieberphantasien und Visionen hatte. Ich verwandelte mich in einen Bussard und stürzte plötzlich aus vollem Flug zu Boden, wurde zum Krieger und kämpfte mit einem riesigen, schwarzen Wolf. Als ich erwachte, irgendwann, war es finsterste Nacht. Ich lag flach ausgestreckt auf dem nackten Boden und fühlte mich zu schwach, um auch nur eine Hand zu heben. Nach, wie es mir schien, endlos langer Zeit, wälzte ich mich auf die Seite und griff nach der Schale mit dem Wasser. Ich mußte sie mit beiden Händen heben, um sie überhaupt halten zu können. Gierig trank ich das abgestandene Wasser und ließ die Schale dann einfach fallen. Dann schlief ich wieder ein, diesmal aber, um auszuruhen. Am nächsten Morgen öffnete ich meine Hütte wieder. Die grelle Sonne blendete mich. Ich ging hinaus zum Wasserloch. Ein hageres, eingefallenes
Gesicht mit tiefliegenden Augen schaute mir entgegen, als ich meinen Kopf im Wasser spiegelte. Fast erschrak ich über meinen Anblick. Ich kehrte zur Hütte zurück. Der Hunger wühlte jetzt wieder heftig in meinen Eingeweiden. Doch ich verrichtete noch die letzten Gebete des Rituals, bevor ich den Rest der Antilope ausgrub, ein Feuer anfachte und mir Fleisch briet, das ich fast unzerkaut hinunterschlang. Dann richtete ich mich auf und löschte das Feuer. Ich hatte es geschafft. Das wurde mir erst jetzt richtig bewußt. Ich hatte mich verhalten wie ein Indianer, und ich hatte eine Vision gehabt wie ein Apache, obwohl ich nicht als Apache geboren und nicht von klein auf in den Mythen und Vorstellungen der Apachen erzogen worden war. Stolz erfüllte mich, aber dann dachte ich daran, daß meine Aufgabe noch nicht beendet war. Was ich in Trance gesehen hatte, konnte ich mir nur unvollkommen erklären. Das war auch nicht wichtig. Dazu war Nochalo da, dem ich nach meiner Rückkehr alles berichten mußte. Ich nahm meinen Bogen auf und ließ die Laubhütte hinter mir zurück. Als ich einen Pecanbaum fand, schnitt ich mir mehrere Zweige ab und schnitzte aus diesen nadelspitze Pfeile für meinen Bogen. Dann zog ich weiter nordwärts. * Am Abend schlief ich im Schatten dichter Mesquitesträucher. Aus einem schmalen Rinnsal stillte ich meinen Durst. Meinen knurrenden Magen sättigte ich mit den Früchten von einem Stachelbirnenkaktus. Meine Füße schmerzten jetzt. Ich war schon lange nicht mehr gewöhnt, weite Strecken zu Fuß zu gehen. Am nächsten Tag schritt ich weiter. Der Pflanzenwuchs wurde immer reichlicher, je weiter ich nach Norden gelangte. Es gab viel Schatten, und ich war nicht mehr so sehr der prallen Sonne ausgesetzt. Bald merkte ich, daß ich mich dem Rio Bravo näherte. Die nächste Nacht verbrachte ich in einer halbverfallenen Weidehütte. Am nächsten Vormittag sah ich einen Bussard über mir
am Himmel. Mein Herz schlug schneller. Das erste, was ich gesucht hatte, hatte ich gefunden, wenigstens fast. Ich hatte mich in Trance selbst als Bussard gesehen und brauchte für meinen Medizinbeutel Symbole aus meinen Fiebervisionen. Der Bussard zog ruhig seine Kreise am wolkenlosen Himmel. Auf einmal stieß er jäh nieder. Ich beobachtete ihn genau und sah ihn wenig später wieder aufsteigen. Er hielt etwas im Schnabel. Mit kräftigen Flügelschlägen flog er davon. Ich bemühte mich, ihm zu folgen. Er war mir überlegen, und so konnte ich nur beobachten, daß er in einem Wald verschwand, der gut dreihundert Yards vor mir lag. Ich machte mich auf den Weg, erreichte den Wald jedoch erst gegen Mittag. Denn der Weg war schwierig. Er führte durch ein langgezogenes Tal, in dem vor Urzeiten ganze Halden vulkanischer Felsen aufgetürmt worden waren, die ich zu überwinden hatte. Erschöpft brach ich schließlich durch das Unterholz des verwilderten Mischwaldes. Seit ich meinen Wickiup verlassen hatte, hatte ich kein Fleisch mehr gegessen und nur von Beeren und Wurzeln gelebt. Wie ich nun, in dem Gewirr von Bäumen, das Nest des Bussards finden sollte, war mir völlig schleierhaft. Ich ließ mich nieder, um zu rasten. Es war wie ein Fingerzeig des Himmels für mich, daß plötzlich ein Wildkaninchen von einer nahen Lichtung auftauchte. Ich handelte fast instinktiv, riß den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil auf und traf das Tier in die Seite. Es überschlug sich und blieb reglos liegen. Ich zog dem Kaninchen das Fell ab, sammelte Holz und briet es auf der Lichtung, von der es gekommen war. Das Fleisch schlang ich mit Heißhunger herunter. Viel blieb nicht übrig. Den Rest aber briet ich auch, wickelte ihn in die blutige Haut und steckte mir das Bündel hinter den Gürtel. Es war vielleicht zwei Stunden nach Mittag, als ich den Bussard wiedersah. Er kreiste über der Lichtung. Es war ein ungewöhnliches großes Tier. Ich sprang auf und beobachtete es. Als es ostwärts
davonschwebte und langsam niederging, beeilte ich mich, ihm zu folgen. Stundenlang irrte ich durch das dichte Unterholz. Tiefhängende dornige Zweige zerkratzten meinen bloßen Oberkörper, mein Gesicht. Ich spürte es kaum. Ich lief, den Blick nach oben gerichtet, durch den Wald, stolperte mehrmals und schlug der Länge nach hin, wobei ich mir beide Knie aufschürfte. Als es Abend wurde und die Dunkelheit über das Land sank, gab ich es auf. Unter einem vom Blitz geknickten Doughwoodbaum hockte ich mich ins Moos und schlief. Bei Tagesanbruch nahm ich die Suche wieder auf, durstig und hungrig, obwohl ich den Rest des gebratenen Kaninchens gegessen hatte. Ich fühlte mich wie zerschlagen. Meine Glieder waren steif, und ich hatte Schmerzen im ganzen Körper. Schwerfällig setzte ich meinen Weg durch den Wald fort. Dann sah ich den Bussard wieder. Er schwebte dicht über die Baumkronen, eine Maus im Schnabel. Er tauchte in den Wald ein und landete auf dem Ast eines Baums, der nur wenige Schritte von mir entfernt war. Da entdeckte ich im dichten Zweiggewirr das Nest. Ich setzte mich unter den Baum und wartete. Töten durfte ich das Tier nicht, da ich mich in meiner Vision selbst als Bussard gesehen hatte. Nach fast einer Stunde erhob sich der Vogel und flog davon. Jetzt begann ich, an dem knotigen, rauhen Stamm des Baumes hochzuklettern. Einmal brach ein Ast unter meinem rechten Fuß, aber ich konnte mich festklammern und wieder Halt gewinnen. Doch ich war schweißgebadet, als ich das Nest des Bussards erreicht hatte. Graue Federn lagen darin, und Fellreste von der Maus, die er verzehrt hatte. Ich nahm mir einige Federn heraus. Damit kletterte ich wieder hinunter. Sorgfältig steckte ich die Federn zu dem Stück Antilopenhaut, aus dem ich den Medizinbeutel fertigen wollte, hinter meinen Gürtel. Dann trat ich den Rückweg aus dem Wald an.
6.
Die Wolfspur fand ich zwei Tage später. Das Glück war mir wohlgesonnen. Sie führte von Osten nach Westen auf ein Steppengebiet zu. Der Fährte nach zu urteilen, hatte ich einen riesigen Einzelgängerwolf vor mir. Ich schnitzte mir noch einige Pfeile und nahm die Verfolgung auf. Ich hatte von einem Wolf geträumt, ich hatte geträumt, mit ihm zu kämpfen. Die ganze Zeit über lebte ich von kleinerem Wild, das ich schoß und briet. Klagen konnte ich nicht. Immer wieder stieß ich auf Wasser, und Hunger litt ich nicht mehr. Die Fährte führte mich zu einem kleinen Rancho unweit des Rio Bravo. Von weitem sah ich zwei schäbige Hütten, einen Stall und einen Korral. Auf einer nahen Weide standen mehrere magere Kühe und Ziegen. Der Wolf hatte anscheinend hier Beute gerissen. Ich fand Blutspuren im Gras. Die Wolfspur führte weiter bis in ein Arroyo, das eine knappe Meile von dem Rancho entfernt in einem unwirtlichen Gebiet lag. Hier endete die Fährte. Der Boden des ausgetrockneten Flußbettes war zu hart, als daß Pfotenabdrücke hätten zurückbleiben können. Ich suchte lange und hartnäckig. Dann fand ich einen kleinen Blutfleck im Sand, und ich wußte, in welche Richtung der Wolf gelaufen war. Die Sonnenhitze staute sich in dem schmalen Arroyo wie in einem Backofen. Ich schwitzte und kriegte kaum Luft. Doch ich wußte, daß ich meinem Ziel nahe war. Gegen Abend erreichte ich einen Steinwall. Oberhalb des Arroyos lagen riesige Quaderfelsen übereinandergetürmt, willkürlich angeordnet, wie die vergessenen Bauklötze eines urweltlichen Riesen. Vor Jahren schon mußte es einmal einen Steinsturz gegeben haben. Mehrere der kleineren Quader waren in den Arroyo gestürzt und bildeten ein natürliches Hindernis. Ich überstieg es und hatte auf einmal einen scharfen Wildgeruch in der Nase. Seit ich bei den Indianern in der Wildnis lebte, waren meine Sinne empfindlicher geworden. Spuren konnte man nicht nur sehen, man konnte sie auch fühlen, spüren und riechen. Ich zögerte einen Moment, nahm dann den Bogen von der Schulter und einen Pfeil in die rechte Hand. Langsam kroch ich
weiter. Unterhalb von mir entdeckte ich schließlich eine Stelle, wo die in den Arroyo gestürzten Felsen einen Überhang über einer Vertiefung im Boden bildeten. So war eine natürliche Höhle entstanden. Davor lagen ein paar Knochen. Der scharfe Geruch nach Verwesung, Blut und Kot wurde noch stärker. Ich wußte, daß ich den Bau des Wolfes gefunden hatte. Die intensive Ausdünstung sagte mir, daß er in seinem Loch saß. Ich blieb oberhalb der Höhle hocken, legte den Pfeil auf die Sehne und wartete. Der Wolf hatte nicht weniger Geduld als ich, aber ich vertraute darauf, daß er seine Höhle einmal würde verlassen müssen. Die Frage war, wer länger durchhielt. Das Tier oder ich. Wenn ich einschlief, konnte er entwischen. Vielleicht aber würde er mich auch angreifen. Bei Einzelgängern wußte man nie, wie sie sich verhalten würden. Die Jagd auf einen Wolf war ein großes Risiko, besonders dann, wenn man nur mit einfachen Waffen ausgerüstet war wie ich. Dann waren die Chancen gleich verteilt. Die Stunden verstrichen. Die Hitze waberte zwischen dem grauen Gestein. Ich fühlte Schwäche und Erschöpfung von den Strapazen der letzten Tage in mir. Als es dunkel wurde, stellte sich auch wieder brennender Durst ein. Doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich wollte nicht aufgeben. Mehr als einmal fielen mir die Augen zu. Jedesmal riß ich sie fast gewaltsam wieder auf und hätte viel dafür gegeben, wenn ich ein Mittel gehabt hätte, um die Müdigkeit zu verdrängen. Die Nacht war still und klar. Eine Vollmondnacht. Der helle Mond stand wie eine silberne runde Scheibe am bläulich schimmernden Himmel. Es war eine Nacht, wie für Wölfe geschaffen. Eine Nacht zum Töten. Schwüle Luftmassen lagen über dem Arroyo. Es strich nur ein müder Wind über das Land, der nicht in der Lage war, die Schwüle aufzufrischen. Salzig schmeckte ich den Schweiß auf den Lippen, der mir in dichten Bahnen über das Gesicht rann. Wieder sackte mein Kopf
nach vorn. Bleierne Schwere erfüllte meine Glieder. Mein Körper bäumte sich dagegen auf, daß ich versuchte, ihm den Schlaf zu entziehen. In diesem Moment bemerkte ich eine Bewegung unter mir. Sofort war ich wieder hellwach. Die augenblickliche Nervenanspannung vertrieb die Müdigkeit. Ich beugte mich vor. Meine schmerzenden Augen weiteten sich. Ein Schatten glitt geräuschlos aus der natürlichen Felsenhöhle, geduckt und katzengleich. Vor der Höhle blieb er stehen und richtete sich steil auf. Mir stockte fast der Atem. Ein so riesiges Tier hatte ich nicht erwartet. Der Wolf stand in Kampfstellung vor seinem Loch. Das Maul war ein Stück geöffnet. Die nadelscharfen Zähne darin blinkten weiß wie eine Perlenkette. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Augen. Das Fell des Wolfes war fast schwarz und dicht und buschig. Ich sah, wie er die Lauscher bewegte und dann den schweren Kopf hob. Sekundenlang bohrten sich unsere Blicke ineinander. Ich schwitzte nicht mehr. Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Der riesige Wolf blickte mich an wie ein Mensch – wie ein Killer, der bereit ist, zu kämpfen. Irgend etwas hinderte mich daran, sofort den Bogen zu heben und zu schießen. Ich wußte selbst nicht, was es war. Vermutlich war es das, daß mir das Tier da unten plötzlich irgendwie menschlich erschien. Ein dumpfes Knurren, das aus der Brust des Wolfes drang wie ein leises Donnergrollen, riß mich aus der Erstarrung. Ich zog die Sehne zurück und ließ den Pfeil nach vorn schnellen. Im selben Moment sprang der Wolf mit einem Satz auf mich zu. Der Pfeil streifte ihn nur am Hals, was lediglich ein weiteres wütendes Knurren auslöste. Er zog die Lefzen hoch. Ein rötlicher Schimmer lag in seinen Augen. Sein riesiger, muskulöser Körper streckte sich. Er schnellte auf mich zu, wie von einer Sprungfeder geschleudert. Ich hatte gerade wieder einen neuen Pfeil auf die Sehne gelegt. Meine Hände zitterten ein wenig, obwohl ich mich zwang, ruhig zu
bleiben. Ich richtete mich auf. Da erfolgte der Anprall. Ich hatte den Kopf eingezogen und mich leicht nach vorn gestemmt. Trotzdem warf der mächtige Stoß mich von den Beinen. Ich prallte mit dem Rücken hart auf die schroffkantigen Felsen und rutschte an einem Gesteinsquader hinunter. Der Wolf hatte mich nicht fassen können. Ich hatte das Zusammenklappen seines Gebisses dicht neben meinem Gesicht jedoch deutlich gehört. Sein stinkender Atem hatte mich getroffen. Jetzt fuhr er blitzschnell herum und griff wieder an. Ich ließ den Bogen fallen und auch den Pfeil, denn mir war klar, daß ich damit nichts anfangen konnte. Hier hatte ich einen erfahrenen Kämpfer vor mir, der sich auskannte, der vielleicht schon mehrere Jäger getötet hatte. Er sprang mich wieder an und stieß mich um. Ich hob beide Arme vor das Gesicht, fühlte das harte, verfilzte Fell in meinen Händen und zog beide Beine an den Leib, um das Tier mit den Knien zu rammen. Es gelang mir. Der Wolf flog über mich hinweg gegen einen Stein. Er stieß keinen Laut aus. Ich sprang auf und riß mein Messer aus dem Gürtel. Damit empfing ich ihn, als er wieder angriff. Es war wie in meinem Traum. Er flog durch die Luft, geschmeidig und kraftvoll wie ein Berglöwe, und schnappte nach meinem Hals. Ich tauchte unter ihm weg und stieß das Messer mit aller Kraft von unten nach oben. Ein schrilles Röcheln drang aus seinem Maul, als sich die Klinge in seinen Leib bohrte. Er stürzte hart auf den Fels und wälzte sich jaulend herum. Schwerfällig richtete er sich wieder auf und tappte mit gesenktem Kopf auf mich los. Roter Schaum stand plötzlich zwischen seinen Fängen, als er sein Gebiß bleckte und mich anknurrte. Er war verletzt, war angeschlagen. Aber er war noch nicht besiegt, und er dachte gar nicht daran, aufzugeben. Er war nach wie vor gefährlich, und wenn mein Messerstich kein lebenswichtiges Organ verletzt hatte, hatte er alle Aussicht, mich zu überleben, wenn ich dem Kampf nicht ein rasches Ende bereitete. Zusammengeduckt hockte er vor mir, angestrahlt vom Mondlicht, mit gefletschten Zähnen. Seine Flanken zitterten, und in seinen
rötlich schimmernden Augen stand nackter Haß. Ganz plötzlich sprang er wieder hoch. Ich reagierte schnell, doch nicht schnell genug. Hart traf mich der Anprall des schweren Körpers. Ich fiel mit dem Rücken auf den Fels und umklammerte den Hals des Wolfes mit beiden Armen. Sein aufgerissenes Maul war dicht neben meinem Gesicht. Er versuchte, nach mir zu schnappen, versuchte, mir die Kehle aufzureißen. Ich hielt ihn fest und wandte meine ganze Kraft auf, um ihn an mich zu pressen und ihm die Bewegungsfreiheit zu nehmen. Mit seinen Hinterpfoten zerkratzte er meine Oberschenkel. Er wand sich wie eine Schlange. Die Kraft, die in seinem sehnigen Körper steckte, war erstaunlich. Ich hatte plötzlich Angst, es nicht zu schaffen und von ihm besiegt zu werden. Noch einmal nahm ich alle Kraft zusammen und preßte Kopf und Hals des riesigen Tieres an mich. Ich hoffte, ihm das Genick brechen zu können. Aber es gelang mir nicht. Seine Bewegungen wurden lediglich etwas schwächer. Das nutzte ich. Ich ließ ihn mit der rechten Hand los, hob sie blitzschnell und stieß mit dem Messer zu, das ich die ganze Zeit über in der Faust behalten hatte. Die Klinge grub sich seitlich in seinen Hals. Ein Strom warmen Blutes ergoß sich über meinen Körper. Der Wolf bäumte sich auf, riß sich los und stand für einen Sekundenbruchteil über mir. Ich glaubte, verloren zu sein. Verzweifelt versuchte ich, mich herumzuwälzen, um dem Biß in meine Kehle zu entgehen. Da brach der Wolf zusammen. Blut floß aus seinem Maul. Er lag auf der Seite. Seine Läufe zuckten noch schwach. Der Haß in seinen Augen glühte noch immer. Ich richtete mich auf. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Stumm stand ich neben dem Raubwolf und begriff, warum die Indianer den Wolf fast als ein menschliches Wesen ansahen. Sein Blut trocknete auf meinem Körper. Ich achtete nicht darauf. Ich wartete, bis der Glanz in den Augen des Wolfes plötzlich erlosch und sein Leib schlaff wurde. Er war tot. Ich hockte mich neben ihn.
* Irgendwann in der Nacht war ich eingeschlafen. Die Sonne weckte mich. Nachdenklich beugte ich mich über den Körper des Wolfes. Er war kalt und steif. Mit meinem Messer schnitt ich ihm das Fell auf. Ich legte das Stück. Antilopenhaut vor mich hin, auf dem bereits die Federn des Bussards lagen. Mein Messer war noch blutig, als ich es aus der Scheide zog. Ich beugte mich vor und öffnete dem toten Wolf damit das Maul. Seine Kiefer waren so ineinanderverkeilt, daß ich es fast aufgeben wollte. Dann schaffte ich es doch. Ich grub die beiden unteren Reißzähne aus dem Kiefer und legte sie zu den Vogelfedern. Zwei Krallen aus dem Vorderlauf und ein paar Haare aus dem dichten Pelz des toten Mörders folgten. Mit dem Messer löste ich aus den Eingeweiden des Wolfes eine starke Sehne. Ich schloß die Antilopenhaut um die Wolfszähne und Krallen, um die Bussardfedern und die Wolfshaare und verschnürte das kleine Bündel mit der Wolfssehne. Ich hatte meinen Medizinbeutel. Aus der Wolfshaut schnitt ich einen langen, fingerbreiten Streifen und befreite ihn von den Haaren und von Blut und Fleischresten. Ich klopfte das Leder mit dem Messergriff, bis es geschmeidig und weich war. Dann befestigte ich den Medizinbeutel daran. Zum Schluß schnitt ich dem Wolf die Ohren ab und brachte sie an dem Lederstreifen an, den ich mir um den Hals band. Der Medizinbeutel hing jetzt auf meiner Brust, links und rechts daneben die Wolfsohren. Ich richtete mich auf. Es widerstrebte mir, den Wolf, der ein so guter Gegner gewesen war, einfach liegenzulassen, so daß er zum Fraß der Krähen wurde. Nach kurzem Zögern wandte ich mich ab und suchte nach kleineren Steinen, die nicht zu schwer für mich waren. Ich schleppte sie zu dem Kadaver des Wolfes und türmte sie über ihm auf. Es dauerte Stunden, bis ich fertig war. Fast die ganze Zeit kreisten Krähen hoch über dem Arroyo, angelockt von dem Blutgeruch, der
sich mit zunehmender Tageshitze verstärkt hatte. Gegen Mittag brach ich auf. Meiner Rückkehr in die Wüste, ins Lager der Apachen, stand nichts mehr im Wege. Ich verließ den Arroyo. Eine Stunde später stieß ich auf einen schmalen Nebenfluß des Rio Bravo. Ich legte meine Waffen ab und sprang ins Wasser, um mich vom Blut des Wolfes und vom Staub und Schweiß des langen Weges zu reinigen. Das Wasser war klar, sauber und kühl. Es war eine Wohltat für mich. Ich schwamm fast eine Stunde im Fluß, bevor ich an Land ging und mich im Gras ausstreckte, um mich von der Sonne trocknen zu lassen. Wie viele Tage ich brauchen würde, um zurück in die Wüste zu gelangen, wußte ich nicht, und ich zerbrach mir darüber in diesem Moment nicht den Kopf. Die Strapazen der letzten Tage und die Anstrengungen der Nacht steckten in meinen Knochen, und so überkam mich der Schlaf heimlich und sacht. Ich nickte ein. Stimmen und Hufgeräusche weckten mich. Erschrocken fuhr ich mit dem Oberkörper hoch. Die Sonne stand weit im Osten. Ich mußte mehrere Stunden geschlafen haben. Rasch tastete ich nach meinem Bogen und den Pfeilen, die neben mir im Gras lagen. Ich hob sie auf und sprang auf die Beine. Der Wind strich von Süden heran, heiß, trocken und nicht erfrischend, sondern quälend. Er trug die Geräusche mit sich. In der Nähe gab es Büsche und Bäume. Ich überlegte nicht lange. Mit weiten Schritten lief ich darauf zu und nahm Deckung im dichten Strauchwerk. Ich wartete. Angespannt lauschte ich. Die Stimmen wurden lauter. Unwillkürlich duckte ich mich noch mehr. Dann sah ich zwei Reiter hinter einer Bodenwelle auftauchen. Meine Überraschung war groß: sie trugen blaue Uniformen.
7. Sie schienen einen weiten Ritt hinter sich zu haben. Staub von vielen Meilen bedeckte sie und die Pferde.
Amerikanische Soldaten in Mexiko. Ich atmete flach, um kein Geräusch zu verursachen. Sorgfältig beobachtete ich die beiden Männer, registrierte jede ihrer Bewegungen, um wenigstens erahnen zu können, was sie vorhatten. Sie schienen allein zu sein, nicht zugehörig zu einer Truppe. Anscheinend waren sie als Kundschafter über den Rio Bravo geritten. Sie sahen rauh und wie ausgekochte Einzelkämpfer aus. Das waren Männer, die kein Risiko scheuten, die kaltblütig und eisenhart waren. Als sie am Fluß ihre Pferde zügelten, abstiegen und die Tiere zum Saufen ins seichte Uferwasser führten, hörte ich besser, was sie redeten. Meine Vermutung war richtig gewesen. Die beiden waren als Kundschafter ausgeschickt worden. In Amerika wurde darüber gemunkelt, daß sich die Apachen zusammenscharten und sich auf einen Krieg vorbereiteten. Aus diesem Grund waren die beiden Männer über die Grenze geschickt worden. Sie hatten versuchen sollen, etwas mehr über die Gerüchte in Erfahrung zu bringen. Offenbar war es ihnen gelungen. Sie sprachen von den Prämien, die ihnen versprochen worden waren, und dem Sonderurlaub, den sie erhalten sollten. Sie schienen froh zu sein, bald wieder die Grenze überschreiten zu können und während ihres Aufenthaltes in Mexiko auf keine Menschenseele gestoßen zu sein. Das war im Grunde kein Wunder. Das Land in diesem Grenzabschnitt war, abgesehen von wenigen kleineren Ranchos, menschenleer. So dicht an der Wüste, die das Land der Apachen war, siedelte kaum jemand. Die meisten Reisenden schlugen um »Apacheria« einen weiten Bogen. Sie hockten sich an das Flußufer und drehten sich Zigaretten. Einer erhob sich nach wenigen Minuten wieder, um sein Pferd zurückzuholen, das, im Wasser watend, sich ein Stück von ihm und seinem Begleiter entfernt hatte. Als er es aus dem Wasser zurückführte, entdeckte er meine Spur. Wo ich gelegen hatte, war das Gras niedergedrückt, und meine
Fußabdrücke waren noch im weichen Ufersand, wo ich ins Wasser gegangen war, zu sehen. Der Mann blieb neben seinem Pferd stehen, bückte sich, suchte mit Blicken den Boden ab und richtete sich wieder auf. »Komm mal her, Jim!« rief er. Der zweite Soldat erhob sich schwerfällig und stelzte mit müden, etwas eckigen Bewegungen zu dem anderen hinüber, die Zigarette im linken Mundwinkel. Auch er sah die Spur, bückte sich und legte die flache Hand ins Gras. »Der Boden ist noch warm«, sagte er. Er riß einen niedergedrückten Grashalm aus und zerrieb ihn zwischen den Fingern. »Feucht«, sagte er. »Schweiß.« Seine Rechte lag plötzlich auf der schwarzen, abgewetzten Revolvertasche. Der andere Soldat drehte sich um und zog seinen Sharps-Karabiner aus dem Sattelschuh. Die Haltung der beiden hatte sich schlagartig verändert. Sie wirkten auf mich in diesem Augenblick fast wie Raubtiere. Ihre hageren, unrasierten Gesichter, gezeichnet von Übermüdung und Erschöpfung, unterstrichen das noch. Der eine zerrte jetzt seinen schweren Dragoon-Revolver aus der Halfter. Da hielt ich es für an der Zeit, in Verteidigungsstellung zu gehen. Ich war mir darüber im klaren, daß ich nur noch wenige Sekunden hatte, bis die beiden Männer mich entdecken würden. Ich legte einen Pfeil auf die Sehne meines Bogens und wartete, bis der Mann auf meiner Fährte in die Nähe meiner Deckung geriet. Dann ließ ich den Pfeil von der Sehne schnellen. Ich traf den Mann in die rechte Schulter. Er schrie auf und reagierte blitzschnell. Ein Schuß krachte. Eine Kugel jagte dicht an meinem Schädel vorbei. Dann warf der Mann sich herum und stürmte zurück zu dem anderen, der sein Gewehr an die Schulter riß. Im selben Moment schoß ich meinen zweiten Pfeil ab. Ich handelte kaltblütig und überlegt, obwohl ich wußte, daß meine Chance nur minimal war. Mein Pfeil ging fehl und traf das Pferd hinter dem Soldaten in den
Hals. Es kippte mit schrillem Wiehern um. Die beiden Männer warfen sich dahinter in Deckung. Die Sharps krachte. Ich jagte einen weiteren Pfeil zu den Soldaten hinüber, die geduckt hinter dem Pferdeleib lagen. Das Tier lebte noch und zuckte mit den Läufen. Der verletzte Soldat, der sich meinen Pfeil aus der rechten Schulter gerissen hatte, preßte dem Tier die Mündung seines Dragoon-Colts an den Kopf und drückte ab. Das Tier lag still, und die beiden Männer feuerten jetzt aus allen Rohren auf die Buschgruppe, in der ich mich versteckt hielt. Ich warf mich flach auf den Boden, preßte mich hart an die Erde und wußte, daß ich verloren war. Die Kugeln rasten dicht über mich hinweg, fetzten Zweige und Blätter von Büschen und Bäumen. Ich spürte häufig genug den heißen Luftzug der Geschosse. Als ich einmal den Kopf hob, sah ich, daß die beiden Soldaten hinter dem toten Pferd aufgesprungen waren und auf das Gebüsch zustürmten. Ich griff nach meinem Bogen, legte einen Pfeil auf die Sehne. Diesmal zitterten meine Hände. Der Pfeil, den ich abschoß, ging fehl. Die Kugel des einen Soldaten aber, der die Sharps in den Fäusten hielt, traf. Ich sah den grellen, orangenfarbenen Mündungsblitz auf mich zurasen. Der Bogen fiel mir aus den Händen, und dann fühlte ich einen mörderischen Schlag am linken Arm. Ich hatte das Gefühl, von einer Titanfaust erfaßt zu werden. Der Aufprall der Kugel schleuderte mich von den Beinen. Ich stürzte rücklings gegen einen Baum und sackte am Stamm hinunter. Benommen blieb ich liegen, während warm und dickflüssig das Blut aus der Wunde rann. Seltsamerweise verspürte ich nicht den geringsten Schmerz. Lediglich ein taubes Gefühl erfüllte meine linke Körperseite. Und dann brachen die beiden Soldaten durch das Dickicht. Die Uniformbluse des einen war über der rechten Schulter, wo ich ihn getroffen hatte, durchgeblutet. Sie liefen auf mich zu und erschienen mir riesengroß wie Türme. Wuchtig und drohend standen sie über mir, breitbeinig, hager und
böse. Mitleidlos blickten sie auf mich herunter. Ihre Augen glitzerten kalt. »Eine kleine Rothaut«, hörte ich einen wie durch dicke Mauern sagen. »Eine kleine Rothaut mit blonden Haaren.« »Die sind manchmal schlimmer als die geborenen Apachen«, sagte der Soldat, den ich verletzt hatte. Er bückte sich, packte mich am rechten Arm und riß mich hoch. Da durchfuhr mich der Schmerz wie eine Stichflamme. Ich schrie auf und verlor das Bewußtsein. * Wasser traf mich ins Gesicht. Ich erwachte und schlug die Augen auf. Heftig pulsierte der Schmerz in meinem linken Arm. Durch dichte Betäubungsschleier sah ich verschwommen die rauhen Gesichter der beiden Soldaten. Ich fühlte mich schwach und schlapp. Meine Hände waren gefesselt. »Am besten schießen wir ihm eine Kugel in den Kopf«, sagte der, den ich verletzt hatte, und den der andere Jim genannt hatte. »Vielleicht.« Der andere nagte auf seiner Unterlippe. »Immerhin ist er ein Weißer.« »Sieh dir meine Schulter an, dann weißt du, wie sehr er ein Weißer ist«, sagte er erste wieder. »Und sieh dir seinen Hals an. Da hängt sein Medizinbeutel, und der ist neu. Der Bursche ist allein hier. Er hat Medizin gesucht. Nein, nein, laß dich von der weißen Haut und den blonden Haaren nicht täuschen. Der Junge ist ein Apache bis in die Knochen. Ich wette, er kann nicht mal mehr seine Muttersprache. Du kennst solche Kinder doch: Wenn sie nicht zerbrechen, werden sie wildere Apachen als die geborenen Rothäute.« »Trotzdem …« Der andere zögerte. »Vielleicht weiß er, wo das Apachencamp ist, und vielleicht weiß er, was die Rothäute vorhaben.« »Dafür ist er zu jung.« »Er hat Medizin gemacht, nicht wahr? Also ist er nicht zu jung, sondern ein Krieger.«
»Aus dem kriegen wir kein Wort 'raus.« »Abwarten. Wir sollten ihn mitnehmen.« »Mitnehmen? Wir haben nur noch ein Pferd, auch wegen dieses verdammten Kerls. Wie sollen wir ihn mitnehmen? Der bereitet uns nur Schwierigkeiten.« »Wir sind dicht an der Grenze. In zwei Tagen ist alles ausgestanden, und wir stehen prächtig da, mit einem Gefangenen, der genau über die Pläne der Apachen Bescheid weiß. Das wird uns nutzen.« »Ich sage, daß es ein verdammter Blödsinn ist und ein viel zu großes Risiko dazu.« »Aber ich bin Sergeant und du nur Corporal.« Die Stimme des anderen wurde härter. »Außerdem hat man dich nur für diesen Auftrag aus dem Arrest entlassen. Ich befehle, wir nehmen ihn mit.« »Ich will dir mal was sagen!« Auch die Stimme des anderen hob sich jetzt. »Wir sind hier in Mexiko, und es ist mir scheißegal, ob du einen Streifen mehr am Ärmel hast als ich. Hier sind deine gelben Winkel einen Dreck wert, und deshalb interessieren mich deine Befehle nicht. Hast du mich verstanden?« »Nein«, sagte der andere. »Ich habe nichts gehört. Und wünsch dir lieber nicht, daß ich etwas höre, sonst bist du dran, sowie wir den Rio Bravo hinter uns haben. Dann bringe ich dich vor ein Militärgericht.« »Glaubst du?« »Nein, weiß ich.« »Vielleicht gelangst du nicht mal mehr bis zum Rio Bravo«, sagte der Corporal. »Glaubst du im Ernst, nur weil du einen Apachenbengel mitschleppen willst, riskiere ich meinen Hals?« »Ich denke schon, daß ich es bis zum Rio Bravo schaffe«, sagte der Sergeant. »Aber du wanderst ins Jail, Freundchen. Wenn du mich wirklich umbringst, kannst du nicht mehr zurück in die Staaten, und dann ist es Essig mit deiner Prämie.« Ich konnte jetzt wieder klarer sehen. Die Schmerzen ließen etwas nach. So sah ich, daß der Corporal leicht grinste. »Ich habe eine Pfeilwunde in der Schulter«, sagte er. »Wir hatten einen Zusammenstoß mit Indianern. Was denkst du: Wird man mir diese Geschichte glauben, wenn ich die Wunde vorzeige?«
Der Sergeant schwieg. Ich sah, daß sich seine Fäuste fester um den Schaft der Sharps krampften. »Du glaubst es also auch«, sagte der Corporal. Er lachte jetzt. »Nun, in diesem Kampf bist du nach heldenhaftem Einsatz gefallen. Ich hatte keine Zeit mehr, deine Leiche zu bergen. Was sagst du nun?« Der Sergeant sagte nichts, und obwohl ich für solche hinterhältigen Dinge eigentlich noch zu jung und in diesem Moment durch meine Verletzung nur begrenzt aufnahmefähig war, dachte ich, daß mir wahrscheinlich an Stelle der Sergeants auch die Spucke weggeblieben wäre. »Ich werde als Held gefeiert«, sagte der Corporal. »Und du auch. Nur schade, daß du dann nichts mehr davon hast. Aber ich denke, daß an deinem Gedenkstein auf dem Friedhof im Fort eine Menge Orden hängen werden.« »Du redest Unsinn«, erklärte der Sergeant. »Und du weißt es. Nachdem, was du hier gesagt hast, kannst du es dir gar nicht mehr erlauben, mich lebend über die Grenze zu lassen, denn dann würde ich dich einbuchten lassen, bis dir graue Haare wachsen.« »Kaum.« Der Corporal lächelte wieder. »Du hast keinen Zeugen. Man wird glauben, daß du mir lediglich die Prämie neidest.« »Du hast jetzt lange genug gequatscht«, sagte der Sergeant. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Eben«, sagte der Corporal. Er wandte sich zu mir und hob seinen Dragoon-Revolver. Langsam richtete er ihn auf meinen Schädel. In diesem Moment stieß der Sergeant den Lauf seiner Sharps vor. Die Mündung bohrte sich in die Magengrube des Corporals. Die Wucht des Stoßes schleuderte ihn zur Seite. Er warf die Arme hoch und fiel auf den Rücken. Der Revolver entglitt seiner Hand. Bevor er ihn aufheben konnte, hielt der Sergeant ihn in der Hand und steckte ihn hinter seinen Gürtel. »Der Junge kommt mit, Jim Cranco«, sagte er. »Und ob ich das vergesse, was du hier gesagt und getan hast, werde ich mir noch überlegen.« Der Corporal stand wieder auf den Beinen. Der Schmerz hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. »Du bist verrückt«, sagte er. Seine Stimme klang längst nicht mehr
so überlegen wie vorhin. »Du weißt genau, wie ich das gemeint habe. Wir sind hier auf einem Himmelfahrtskommando und können uns einfach solche Mätzchen nicht erlauben. Von Gefangenen war nicht die Rede. Wir sollten lediglich Informationen sammeln und dann zurückreiten. Es geht mir nur um den Erfolg der Order. Ich will nicht, daß im letzten Moment alles scheitert.« »Ich weiß genau, was du gemeint hast.« Jetzt lächelte der Sergeant dünn. »Und die Order wird erfolgreich abgeschlossen. Da kannst du ganz sicher sein.« »Gib mir meinen Revolver zurück.« »Ich bin doch kein Selbstmörder.« »Wir sind im Apachenland, Frank. Noch immer.« »Mag sein. Im Moment sind die Apachen nicht gefährlich für mich.« Der Sergeant wandte sich mir zu und deutete mit dem Gewehr lauf auf mich. »Du, steh auf«, sagte er. »Verstehst du, was ich sage?« Ich schwieg und blieb liegen. »Da merkst du es«, sagte der Corporal Jim Cranco. »Er versteht nicht mal mehr seine Muttersprache, wie ich es dir gesagt habe.« »Halt's Maul.« Der Sergeant bückte sich. »Wir nehmen dich mit«, sagte er. »Ich wette, du wirst bald froh darüber sein, wieder unter zivilisierten Menschen zu leben. Vielleicht finden wir sogar deine Eltern wieder. Du bist schließlich kein Apache, und die Rothäute hätten dich nur völlig verdorben.« Ich blickte ihn starr an. Seine Worte plätscherten wie ein häßlicher, kalter, grauer Regen an mir vorbei. Ich zwang mich, sie nicht in mich aufzunehmen. Doch ich konnte es nicht verhindern, daß sie sich in meinem Kopf festsetzten. In mir wuchs der Haß gegen diesen Mann. Als er immer so weiterredete, um mich dazu zu bringen, mit ihm zu sprechen, übermannte mich der Zorn. Ich spuckte plötzlich aus. Mein Speichel traf ihn mitten ins Gesicht. Er zuckte zurück und war für einen Moment sprachlos, während der Corporal triumphierend meckerte. Da flog das rechte Bein des Sergeanten hoch. Der harte Kavalleriestiefel traf mich in die Seite. Ich konnte mir den Schrei
nicht verkneifen, der sich aus meiner Kehle rang. Ich rollte auf den Bauch und blieb in verkrümmter Haltung liegen. Harte Fäuste packten mich und hoben mich hoch. »Gib mir Verbandszeug«, hörte ich den Sergeant sagen. Wenig später wurde mir eine weiße Binde um den linken Arm gewunden, nicht sehr sorgfältig, aber ausreichend, um zu verhindern, daß Schmutz in die Wunde eindringen konnte. »So, Bürschchen«, sagte der Sergeant. Er blieb jetzt in respektvoller Entfernung von meinem Gesicht. »Und jetzt wirst du laufen, bis dir die Sohlen dampfen. Und wenn du Faxen vorhast, gibt es Prügel, bis du dich dafür entschuldigst, auf der Welt zu sein. Ich bringe dich über die Grenze, Freundchen, und dort wirst du reden, über alles, war wir von dir wissen wollen. Und Gnade dir Gott, du weigerst dich. Du bist jetzt nicht mehr bei diesen Wilden. Es nutzt dir gar nichts, wenn du deine Götzen um Hilfe bittest oder sonst irgendeinen heidnischen Unsinn anstellst. Lauf zu!« Ich antwortete nicht und rührte mich nicht. Da holte er aus und schlug mir den Kolben seines Karabiners in den Rücken. Ich hatte das Gefühl, in der Mitte zu zerbrechen. Brüllend torkelte ich einige Schritte und brach dann auf die Knie nieder. Aber der Sergeant prügelte mich wieder hoch und trieb mich weiter. Und dann lief ich, denn ich sagte mir, daß es immer noch besser war, zu laufen, als totgeschlagen zu werden. Solange ich lebte, würde sich schon eine Chance zur Flucht ergeben. Hinter mir stiegen die beiden Soldaten zusammen auf das noch lebende Pferd. Der Corporal saß vorn, so daß er nichts gegen den Sergeant unternehmen konnte. Er sagte nichts mehr, aber ihm war anzusehen, daß er mich am liebsten doch noch abgemurkst hätte. Und der Sergeant schien ähnliche Gedanken zu haben, Hätte er nicht vor dem Corporal auf seine Autorität und seinen Rang gepocht und darauf bestanden, mich lebend mitzunehmen, hätte er mich jetzt wohl auch getötet. So aber ging es ihm ums Prinzip. Das rettete mir das Leben. Wenigstens vorläufig.
8.
Ich hatte Fieber. Erst war es nicht besonders stark gewesen, und ich hatte es ertragen. Nun aber, nachdem ich stundenlang unter der glühenden Sonne vor dem Pferd der Soldaten hergetrabt war, nichts zu essen und nichts zu trinken erhalten hatte, machte sich der Blutverlust und die Schwächung durch meine Verletzung stärker bemerkbar. Die Fieberwellen fluteten wie regelmäßig wechselnde Gezeiten durch meinen Körper, und jedesmal nahmen sie an Kraft zu. Es fiel mir immer schwerer, mich auf den Füßen zu halten. Wo wir uns befanden, wußte ich ohnehin nicht mehr. Ich wußte nur, daß ich mit Mißhandlungen zu rechnen hatte, wenn ich nicht weiterlief, wenn ich nicht schnell genug lief. Immer, wenn ich den heißen Atem aus den Nüstern des Pferdes in meinem Nacken spürte, wußte ich, daß ich zu langsam war, und dann wartete ich auf den brutalen Hieb mit dem Gewehrlauf, der mich unvermeidlich vom Pferderücken herab traf und weiter vorwärts jagte. Vor meinen Augen tanzten farbige Punkte und Kreise, drehte sich die ganze Welt. Ich torkelte dahin wie betrunken. Ob es hell oder dunkel war, wußte ich nicht mehr, ob es Tag war oder Nacht, ob Nachmittag oder Abend. Irgendwann stürzte ich. Ich hatte das Gefühl, in eine unendlich tiefe Schlucht zu fallen. Um mich herum war nichts als finsterste Nacht, und ich glaube, ich schrie. Meine Hände krallten sich in den weichen Boden, ohne daß ich es selbst wußte. Ich spürte und hörte nichts mehr. * Die beiden Soldaten saßen an einem kleinen Feuer und brieten einen Schwarzschwanz-Eselshasen. Sein Fell lag abseits von der Feuerstelle. Ich sah das alles durch einen feinen Schleier, der über meinen Augen zu liegen schien. Der Schmerz in meinem Körper hatte sich verringert, aber auf meiner Stirn lastete ein mächtiger Druck. Ich konnte kaum die Augen offenhalten.
Mir war heiß. Ich schwitzte. Mein Arm schien angeschwollen zu sein wie ein Ballon. Es dauerte lange, aber nach und nach wurde mein Blick klarer. Es war Nacht. Das Mondlicht war schwach. Am Himmel ballten sich finstere Wolken zusammen. Ein kühler Wind strich über das Land und ließ die Flammen des Feuers unruhig flackern. In der Nähe mußte sich ein Fluß befinden. Ich glaubte, leise das Plätschern von Wellen zu hören. In der Ferne rollte Donner. Die Männer am Feuer hoben die Köpfe. Besorgnis stand in ihren Gesichtern. Ich sah, daß der Corporal Jim Cranco wieder seinen Revolver trug. Offenbar hatte er sich mit dem Sergeant geeinigt. Es donnerte abermals. Diesmal klang es lauter. Wieder trieb eine Windböüber das Land. »Sieht aus, als würde es ein Wetter geben«, sagte der Sergeant. »Verdammt noch mal. Das hat uns noch gefehlt. Wenn jetzt der Rio überschwemmt, sind wir schön aufgeschmissen,« »Hätten wir den Jungen nicht bei uns, wären wir schon auf der anderen Seite des Rio«, sagte Cranco. »Ich dachte, das Thema wäre erledigt.« Der Sergeant erhob sich und kam zu mir herüber. »Er ist wach«, sagte er, nachdem er sich über mich gebeugt hatte. »Und er sieht nicht mal schlecht aus.« »Die sind zäh, diese Burschen«, sagte Cranco. »Die halten was aus. Die Wunde am Arm ist doch nur ein Kratzer.« »Hat aber schlimmer ausgesehen«, sagte der Sergeant. »Solange es blutet, sieht es immer schlimmer aus, als es ist.« »Hm.« Der Sergeant hockte sich neben mich und löste den Verband. Er riß ihn brutal ab, obwohl er in Blut und Eiter an den Wundrändern festgeklebt war. Diesmal schrie ich nicht. Ich preßte die Lippen zusammen und verkniff mir den Schmerz, obwohl mir übel wurde und ich mich sofort hätte übergeben können. Die Wunde entpuppte sich als Streifschuß und war bereits verkrustet. An den Rändern platzte sie jetzt wieder auf. Dünne rote Fäden rannen über meinen Arm, die jedoch rasch versiegten. »Er hat gutes Heilfleisch«, sagte der Sergeant. »Vielleicht redest
du jetzt, Kleiner.« Ich wandte den Kopf zur Seite und schloß die Augen. »Aha.« Die Stimme des Sergeants klang triumphierend. »Du verstehst also, was ich sage. He, Jim, was habe ich gesagt? Er versteht mich. Er will nur nicht sprechen.« Seine Rechte griff nach meinem Kinn. Wie eine Schraubzwinge umspannte seine Faust meinen Unterkiefer. Er zwang mich, das Gesicht wieder ihm zuzuwenden. »Du wirst mich ansehen, Kleiner«, sagte er. Sein Gebiß war lückenhaft und offenbar durch Huftritte oder Schlägereien etwas dezimiert. Er bleckte es jetzt zu einem häßlichen Lächeln. »Unter zivilisierten Menschen schaut man sich in die Augen, wenn man sich miteinander unterhält.« Ich schwieg. Er ließ mich los und schlug blitzschnell zu. Die Ohrfeige schleuderte meinen Kopf herum. Schwindel krochen wieder durch meinen Körper. Das Blut in meiner Wunde pulsierte heftig. »Bring mir neues Verbandszeug, Jim«, sagte der Sergeant. »In meiner Satteltasche steckt eine Salbe. Bring auch die mit. Der Junge kann von mir aus verrecken, aber erst, wenn wir ihn über die Grenze geschafft haben und er geredet hat.« »Ich sage dir, das ist sinnlos«, sagte Cranco. »Der Junge weiß bestimmt nichts.« »Bring mir die Salbe.« Der Corporal brachte die Salbe und das Verbandszeug. Ich biß die Zähne zusammen, als der Sergeant mir die Salbe unsanft auf die Wunde schmierte und dann den Arm neu verband. »Sind wir nicht nett zu dir?« Der Sergeant grinste wieder. »Wir lassen dich nicht abkratzen. Ist das nichts? Obwohl du Jim einen Pfeil in die Schulter geschossen hast.« Ich sah, daß Cranco auch einen Verband um die rechte Schulter trug, doch die Wunde schien ihn nicht sonderlich zu behindern, was mich nicht wunderte. Meine kleinen Pfeile, die ich mir notdürftig geschnitzt hatte, waren allenfalls für Kleinwild gefährlich. Ich hätte den Corporal richtig ins Herz treffen müssen, um ihn zu töten. »Wie wär's, wenn du zum Ausgleich dafür mal ein bißchen plauderst?«
Ich schwieg, und der Sergeant schlug wieder zu. »Sie Schwein!« entfuhr es mir. »Sie Dreckskerl!« Im selben Moment tat es mir leid. Der Sergeant aber lächelte, als hätte ich ihm ein Kosewort gesagt. Triumphierend wandte er den Kopf zum Corporal um. »Was habe ich dir gesagt, Jim? Er versteht uns, und er spricht sogar noch unsere Sprache.« »Wahrscheinlich ist er noch nicht lange bei den Apachen.« Der Corporal beugte sich nun auch interessiert vor. »He, Junge, wie lange warst du bei den Rothäuten?« »Jetzt schweigt er wieder«, sagte der Sergeant. »Aber wir bringen ihn schon zum Reden. Sagte ich nicht, daß der Junge uns noch nützlich sein wird?« »Vielleicht.« Der Corporal wandte sich ab. »Wir sollten versuchen, noch schnell über den Rio zu gelangen, bevor das Wetter losbricht.« Er blickte skeptisch zum Himmel, wo die schwarzen Wolkenballungen immer dichter und immer gigantischer wurden. »Jetzt, da der Junge wieder bei Bewußtsein ist, sollten wir es wirklich versuchen.« »Vielleicht ist es besser.« Er warf noch einen Blick auf mich. Dann sagte er: »Pack die Sachen zusammen.« Er ging zu dem Pferd und zog den Sattelgurt fest an. Es donnerte wieder, diesmal ganz nah. Ich sah in der Ferne einen Blitz über den Himmel zucken wie ein feines Spinnengewebe aus Feuer. Danach donnerte es wieder. Diesmal nicht dumpf und grollend, sondern knatternd und grell wie das Gewehrfeuer einer Kavalleriekompanie. Der Himmel verfärbte sich langsam, und der Mond verschwand hinter einer dunklen Wolke. »Komm, Junge!« schrie der Sergeant. Er stampfte auf mich zu und bückte sich. »Nun komm schon, sonst kannst du was erleben.« Er zerrte mich auf die Beine. Ich fühlte mich etwas schwach. Meine Knie waren weich wie Butter. Aber ich konnte stehen und laufen, was ich zuvor bezweifelt
hatte. Mein Fieber war anscheinend schon wieder im Abklingen. In diesem Moment ertönte Hufschlag. * Sekundenlang standen die beiden Soldaten wie erstarrt. Dann stürzten sie zu dem einen Pferd. Die bereits am Boden ausgerollten Schlafsäcke ließen sie liegen. Auch um mich kümmerten sie sich nicht mehr. Der Corporal schwang sich auf das Pferd. Als der Sergeant hinter ihm aufsitzen wollte, trat Cranco wuchtig gegen die linke Schulter des Mannes. Der Sergeant fiel rücklings zu Boden, und Cranco trieb das Pferd an. »Du Schweinehund!« Der Sergeant schrie. Ein jäher Windstoß riß ihm die Worte von den Lippen. Seine Stimme schnappte über. »Du Miststück!« Er begann zu laufen. Schwerfällig stolperte er in seinen hochhackigen Reitstiefeln hinter dem Corporal her, an dessen offener, löchriger Uniformbluse der Wind zerrte. Der Hufschlag war jetzt lauter als die Donnerschläge des nahenden Gewitters. Auch meine Erstarrung löste sich. Ich drehte mich um und lief davon. Jedenfalls versuchte ich es. Aber ich gelangte nur langsam voran. Denn meine Beine waren bleischwer und kraftlos zugleich, und ich keuchte schon nach wenigen Schritten, als sei ich einmal um die Welt gelaufen. Die Luft war plötzlich schwül und drückend. Schweiß perlte auf meiner Stirn. Aber ich lief weiter, hoffte auf den Schutz der Dunkelheit, hoffte, lange genug durchzuhalten, bis sich ein Versteck fand, wo ich das Unwetter abwarten konnte, das all meine Spuren vernichten würde. In diesem Moment tauchten die Reiter aus der Nacht auf. Es waren Mexikaner. Sie trugen grüne Uniformen und hatten sich Patronengurte schräg um den Oberkörper geschnallt. Es waren zehn, soweit ich sehen konnte, denn ich schaute zurück, während ich lief. Das war ein Fehler. Ich stolperte über einen am Boden liegenden Ast, weil ich nicht nach vorn geschaut hatte, und schlug der Länge nach
hin. Sofort durchzuckten mich wieder heftige Schmerzen. Hinter mir krachten Schüsse. Mündungsfeuer glühten durch die Dunkelheit. Dann sah ich den Sergeant auf einmal wieder. Er rannte in meine Richtung. Plötzlich taumelte er. Wieder krachten Schüsse. Er sackte in sich zusammen und fiel nach vorn aufs Gesicht. Wenig später hielten die Reiter neben der Feuerstelle, wo noch immer die Flammen schwach waberten. Ich richtete mich auf und lief weiter. Stimmen schrien hinter mir. Ich ahnte, daß ich entdeckt war. Aber ich rannte. Es war schon alles egal. Wenn ich liegengeblieben wäre, hätten sie mich auch gefunden. So kriegen sie mich wenigstens nicht kampflos. Der Wind peitschte mir ins Gesicht und ließ mein Haar flattern. Wieder rollte der Donner, diesmal sehr schnell hintereinander. Blitze zuckten knatternd über den Nachthimmel, der eine giftiggrüne Farbe angenommen hatte, die sich mit einem schmutzigen Gelb und einem trüben Grau mischte. Unweit von mir schlug ein Blitz in einen Busch ein. Die Luft schien plötzlich zu brennen. Geblendet schloß ich die Augen und wurde zu Boden geschleudert. Die Erde schien zu erzittern. Eine seltsame, knisternde Spannung erfüllte die Luft, und ein eigenartiges Kribbeln floß durch meine Glieder. Ich glaubte, ich sei blind. Unter Schmerzen öffnete ich die Augen und sah, nachdem ein heftiges Flimmern vor meinen Pupillen gewichen war, daß der Busch vor mir brannte. Im selben Moment fielen die ersten schweren Regentropfen. Sekunden später war ich von den Mexikanern gefangen.
9. Ich konnte die Ränge der Rurales damals noch nicht unterscheiden. Ich wußte nur, daß es ein Offizier war, der mich einfing. Er trug ein paar einfache Schulterstücke auf der hüftkurzen grünen Uniformjacke. Der Wind zerrte an seinem großen Sombrero, den er mit einer Fangschnur am Hals festgebunden hatte. Er war hinter mir
hergeritten, aus dem Sattel gesprungen und hatte mich gepackt, nachdem der Einschlag des Blitzes nur wenige Yards vor mir mich niedergeworfen hatte. Der Mann schleppte mich zurück zu den anderen, die sich um das erlöschende Feuer scharten. Als ich näherkam, sah ich, daß Jim Cranco gefangen worden war. Er blutete aus einer klaffenden Wunde an der Stirn. Zwei bullige Mexikaner hielten ihn an den Oberarmen gefaßt. Ein dritter prügelte auf ihn ein. Er schlug ihn rechts und links ins Gesicht, gegen den Hals, gegen die Brust und in den Leib. Cranco krümmte sich zusammen, rang nach Atem und schrie. Die Mexikaner schienen ihn etwas zu fragen. Ich verstand damals noch kein Spanisch, jedenfalls nur wenige Brocken, die ich von den Mönchen in der Mission gelernt hatte. So konnte ich nur ahnen, daß sie ihn fragten, was zwei amerikanische Soldaten auf mexikanischem Territorium zu suchen hätten. Cranco antwortete. Er sprach Spanisch. Seine Antwort schien ihnen nicht zu gefallen. So schlugen sie ihn wieder. Schließlich ließen sie von ihm ab und stießen ihn weg. Ein kleiner, magerer Mexikaner mit kalten Augen schrie ihn an. Cranco zögerte. Ich sah nackte Angst in seinen Augen. Ein anderer Mexikaner versetzte ihm einen Tritt. Cranco begann zu rennen. Der kleine, magere Mexikaner wartete, bis Cranco fast in der Dunkelheit untergetaucht war. Dann feuerte er von der Hüfte aus mit seinem Gewehr. Zur selben Zeit zuckten mit lautem Getöse wieder ein Netz von Blitzen über den Himmel. Für einen Sekundenbruchteil war die Ebene taghell erleuchtet. Ich sah Cranco fallen, und ich hatte zu jenem Zeitpunkt schon viele Männer, von Kugeln oder Pfeilen getroffen, stürzen sehen. Ich wußte, wann ein Mann tot war, wann er noch lebte. Jim Cranco würde nicht mehr aufstehen. Die Mexikaner lachten. Als der Regen einsetzte, zogen sie schwere Umhänge hinter den Sätteln ihrer Pferde hervor und warfen sie sich um die Schultern. Ich stand zwischen ihnen. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch.
Der Regen fiel nun dichter. Schwer und kalt trafen die Tropfen meinen bloßen Oberkörper. Der kleine, magere Mann baute sich vor mir auf. Ich war so groß wie er und hätte ihn in einem Zweikampf sicher besiegen können. Aber ich war noch gefesselt. Das hatten die beiden Soldaten noch besorgt und damit, ohne es zu wissen, den Rurales Arbeit abgenommen. Der Kleine schien der Anführer der Rurales zu sein. Er musterte mich finster, während der Regen auf seinen breitrandigen Sombrero prasselte. Dann fragte er mich etwas. Ich verstand kein Wort und schüttelte den Kopf. Der Mann wandte sich um und winkte einen anderen herbei, auf den er heftig einredete. Der Mann wandte sich mir zu und sprach mich in gebrochenem Apachendialekt an. »Wie heißt du? Zu welchem Stamm gehörst du? Wo liegen deine Leute?« »Ich heiße Ronco«, sagte ich. Schweigen hätte hier wenig Sinn gehabt. Nachdem ich gesehen hatte, was die Rurales mit Jim Cranco getan hatten, war ich fast sicher, daß sie mich auch sehr bald abknallen würden. Wenn ich ihnen keine Schwierigkeiten bereitete, konnte ich meinen Tod vielleicht etwas hinauszögern. »Ich bin ein Chiricahua.« »Wo liegt dein Stamm ?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. Das wollte ich auf keinen Fall beantworten. Lieber sollen sie mich totschlagen. Sie schlugen mich wirklich. Sie schlugen mich nicht gerade tot, aber was sie taten, reichte völlig. Ich wehrte mich, so gut ich konnte. Aber ich war verletzt und nicht ganz bei Kräften, ich war gefesselt, und ich war ein Kind, obwohl ich groß und kräftig war für mein Alter. Ich hatte keine Chance. Sie schlugen mich zusammen. Als ich am Boden lag und der Regen in mein Gesicht klatschte, schmeckte ich Blut auf der Zunge. Dann sah ich das Gesicht des Rurales wieder über mir!
»Wo liegt dein Stamm?« fragte er. »In der Wüste«, sagte ich gepreßt. Mehr würde ich nicht sagen. »Wo?« »Keine Ahnung.« Er versetzte mir einen Tritt. »Du wirst schon reden. Wir nehmen dich mit nach Santa Rica. Dort hat es in den letzten drei Wochen fünf Indianerangriffe gegeben. Die Leute werden sich freuen, dich zu sehen. Sie haben einen Scheiterhaufen gebaut, um den nächsten Apachen, der ihnen in die Hände fällt, lebendig zu rösten.« Er wandte sich ab. Der kleine, magere Anführer sprach noch ein paar Worte, dann wurde ich hochgehoben und zu den Pferden getragen. Donner und Blitz wechselten sich jetzt in ständigem, hämmerndem Stakkato ab. Dazwischen rauschte der Regen, der den Boden in kurzer Zeit in grundlosen Morast verwandelte. Er fiel fadendicht. Sturmböen, die ihn vor sich her schoben, verstärkten seine Wirkung noch. Ich wurde auf eines der Pferde gesetzt und am Sattelhorn festgebunden. Hinter mir stieg ein Rurale auf. Auch die anderen schwangen sich in die Sättel, die vor Nässe knarrten. Wir ritten an. Der Regen klatschte uns in die Gesichter. Um uns herum zuckten die Blitze wie ein Feuerwerk und rollte der Donner, als wolle der Himmel einstürzen. Die Pferde versanken mit ihren Hufen tief im Morast. Ich fragte mich, woher die Rurales so sicher wußten, in welche Richtung sie zu reiten hatten. In diesem Wetter gab es nichts, aber auch gar nichts, woran man sich hätte orientieren können. Nach einem Ritt von mehreren Stunden tauchte ein kleines Rancho vor uns auf. Das Unwetter tobte noch immer. Die Gebäude des Ranchos wirkten im tosenden Sturm wie kleine, zerbrechliche Schachteln, die der Wind hierhergeweht hatte. Auf dem Hof standen knietiefe Pfützen. Die Regenrinnen und Regenfässer unter den Abflußrinnen an den Gebäuden liefen über. Die Rurales stiegen ab. Ich mußte auf dem Pferderücken sitzen bleiben. In ihren langen Regenumhängen und großen Sombreros wirkten
die Männer in der Nacht wie Gestalten aus dem Schattenreich. Sie traten zur Tür des Hauses und pochten mit den Kolben ihrer Gewehre dagegen. Nach einiger Zeit ging hinter einem der Fenster Licht an. Dann wurde die Tür geöffnet. Ich erkannte einen verhärmten Mann mit einem Gewehr, der von den Rurales zurückgedrängt wurde. Wenig später trat einer wieder aus dem Haus, löste meine Fesseln und hob mich vom Pferd. Ich mußte zum Haus gehen und eintreten. Mir klebte das Haar am Kopf. Mein Lendenschurz war durchweicht. Ich hatte am ganzen Körper keine trockene Stelle mehr. Mir war kalt. Ich fröstelte und konnte nicht verhindern, daß meine Zähne geräuschvoll aufeinanderschlugen. Die Rurales nahmen keine Rücksicht darauf. Ich wurde in ein ärmlich eingerichtetes Zimmer geschoben. Die Möbel darin waren selbst geschreinert, aus Holzabfällen offenbar. Alles wirkte derb und primitiv und roch förmlich nach Armut. Der Mann, den ich an der Tür gesehen hatte, der offenbar der Ranchero war, kniete halbangezogen vor dem Kamin und bemühte sich, ein Feuer anzufachen. Rings herum saßen die Rurales. Sie hatten sich auf Stühlen niedergelassen, auf einer Eckbank und auf dem Fußboden. Im Hintergrund des Raumes entdeckte ich eine verängstigte Frau im Nachthemd, und einen Jungen von vielleicht acht Jahren, der sich gegen sie drängte und seine Arme um sie geschlungen hatte. Auf einen barschen Befehl des Anführers hin verließ die Frau hastig mit ihrem Sohn den Raum. Im Kamin brannte endlich das Feuer. Zögernd züngelten die Flammen über das harzige Holz. Wenig später erfüllte würziger Rauch den Raum, denn der Sturm drückte den Rauch immer wieder in den Schlot zurück, und das Feuer wollte nicht richtig brennen. Ich wurde an ein Tischbein gefesselt und mußte in ziemlich unbequemer Haltung auf dem Boden hocken. Seltsamerweise war ich nicht müde. Aber an Schlafen wäre in meiner Haltung ohnehin nicht zu denken gewesen. Die Frau des Rancheros trat wieder ein. Sie trug einen Stapel Blechbecher bei sich und eine verbeulte Kanne, der aromatischer
Kaffeeduft entströmte. Die Rurales fielen gierig über den Kaffee her. Ich erhielt natürlich nichts. Draußen raste das Wetter ums Haus. Doch das Gewitter schien langsam nachzulassen und sich nach Norden zu verziehen. Der Regen prasselte jedoch nach wie vor mit unverminderter Stärke gegen die Fensterscheiben. An einer Stelle der Kammer regnete es durch das flache Dach. Darunter stand ein alter Eimer, der alle halbe Stunden geleert werden mußte. Rings herum hatte sich dennoch eine Pfütze gebildet. Es war kalt im Raum. Das Feuer im Kamin verbreitete keine Wärme. Ich fror nun wirklich und spürte die Nässe meines Körpers erst jetzt in der kalten Trockenheit richtig. Doch niemand kümmerte sich um mich, niemand rieb mich trocken. Ich fürchtete, eine Lungenentzündung zu kriegen. Aber im Grunde war das jetzt auch schon egal. Ich war sicher, ohnehin sterben zu müssen und glaubte schon nicht mehr an eine Chance. Die Rurales kümmerten sich auch nicht um den Besitzer des Ranchos. Sie taten so, als seien sie hier zu Hause. Manchmal warf ich einen Blick zu dem Ranchero hinüber. In seinen Augen sah ich Zorn, aber auch Furcht und Hilflosigkeit. Er wagte nicht, etwas zu sagen, obwohl er es gern getan hätte. Sicher war er müde, seine Frau und sein Sohn auch. Ich wußte, wie schwer die Arbeit auf einer Farm ist. Er und seine Familie brauchten Schlaf. Aber das schien den Rurales gleichgültig zu sein, und der Ranchero handelte sicher klug, daß er den Mund hielt. Draußen wurde das Donnern immer leiser. Ich sah auch keine Blitze mehr, wenn ich durch eines der kleinen Fenster der Kammer hinausschaute. * Gegen Morgen hörte es auf zu regnen. Die Rurales hatten auf dem Fußboden rings um den Kamin geschlafen. Mit dem ersten Sonnenstrahl erhoben sie sich. Einer band mich vom Tisch los und trug mich hinaus auf den Hof.
Die Pferde standen im Stall. Der Ranchero hatte sie noch in der Nacht dort untergebracht, gefüttert und gründlich abgerieben. Die Rurales zahlten nicht einen Peso dafür. Sie ritten mit mir vom Hof, ohne sich noch einmal umzublicken. Das Land vor uns glänzte vor Nässe. Das Gras, die Bäume und die Sträucher wirkten wie frischgewaschen. Die Farben der Natur erschienen kräftiger, und der Pflanzenduft schien intensiver. Überall standen Pfützen. Die Erde dampfte, denn die Sonne brannte vom Himmel, als hätte es nie ein Unwetter gegeben, und verdunstete die Feuchtigkeit. Alles blühte in dem Landstrich, wo sonst vor Hitze fast alle Pflanzen verdorrten und eingingen. Die Blüten riesiger Säulenkakteen waren ausgeschlagen und präsentierten sich in prachtvollen Farben. Ich hatte kein Auge für all die Schönheiten der Natur. In meiner Lage war das kein Wunder. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun konnte, um den Rurales zu entwischen. Aber es schien keine Möglichkeit zu geben. Jedenfalls nicht während des Rittes, da ich am Sattelhorn eines Pferdes festgebunden war. Und in Santa Rica? Das war unwahrscheinlich. Nach allem, was der eine Rurale mir gesagt hatte, war ich sicher, daß die Bewohner von Santa Rica mich in der Luft zerreißen würden, wenn sie mich in die Finger kriegten. Zwar hatte ich keine Angst vor dem Sterben. Bei den Apachen hatte ich gelernt, daß ein Krieger nach seinem Tod in die Ewigen Jagdgründe einging, die das wahre Paradies waren. Trotzdem hing ich am Leben wie wohl jeder. Und der Gedanke, hilflos, mit gefesselten Händen, sterben zu müssen, machte mich fast verrückt. Doch ich zeigte es nicht. Bei den Apachen hatte ich gelernt, meine Gefühle zu unterdrücken, meine Feinde zu beschämen, indem ich ihnen trotzte, weder Furcht oder Schwäche noch sonst eine innere Regung zeigte. Ich wollte meinem Stamm keine Schande bereiten. So bat ich auch nicht um Wasser oder Essen. Ich war ohnehin sicher, daß es sinnlos gewesen wäre. Die Rurales hätten mir sicher nichts gegeben. Deshalb hielt ich lieber den Mund.
Gegen Mittag rasteten wir. Die Hitze hatte zu diesem Zeitpunkt bereits fast alle Spuren des Unwetters beseitigt. Jetzt endlich erhielt ich Wasser. Ich trank gierig, denn ich wußte ja nicht, wann ich wieder welches erhalten würde. Seltsamerweise hatte ich kein Fieber mehr. Die Schmerzen, die der Streifschuß am linken Arm verursachte, hielten sich in Grenzen. Nur meine Augen konnte ich nicht mehr länger offenhalten. Nachdem ich getrunken hatte, überfielen mich die Müdigkeit und die Erschöpfung. Ich kippte um und schlief ein, wo ich hingestürzt war. Als ich erwachte, waren die Rurales schon lange wieder unterwegs. Ich lag auf dem Hals eines Pferdes und war wieder am Sattelhorn festgebunden. Stunden mußten vergangen sein. Es ging auf den Abend zu. Von Süden strich Wind heran. Ich schmeckte ihn herb auf den Lippen. Wüstenwind. Vor uns in der Ebene tauchte ein Ort auf. Santa Rica. Mein Herz schlug schneller. Im Osten hinter uns färbte sich die Sonne rötlich. Die Dämmerung sank über das Land, als wir in das Nest ritten. Santa Rica – ein viel zu schöner Name für ein schäbiges Drecknest. Es bestand nur aus flachen Hütten, die aus Adobelehmziegeln und Kistenbrettern gebaut worden waren. Es gab ein paar staubige, unbefestigte Straßen ohne Gehsteige. Die meisten Häuser hatten nicht einmal Scheiben in den Fensterrahmen. Irgendwo am Ende des Dorfes stand eine kleine Kapelle. Der Turm mit dem offenen Glockenstuhl überragte alle übrigen Bauten des Ortes. Er hatte das Unwetter offenbar unbeschädigt überstanden. Die Glocke begann zu läuten, als wir die Ortsgrenze erreichten. Ein paar Kinder spielten in einer Seitengasse. Vor uns rannte ein struppiger Hund bellend über die Straße. Im Schatten einiger Häuser hockten Männer in einfacher Kleidung mit großen, löchrigen Sombreros. Sie schliefen, rauchten oder sprachen. Einer zupfte an einer Gitarre. Am Brunnen auf der Plaza standen zwei oder drei Frauen mit Holzeimern, in denen Wäschestücke in einer trüben Lauge
schwammen. Als die Rurales durch den Ort ritten, schauten alle auf. Aus den Häusern traten weitere Menschen, die die staubigen, grünuniformierten Reiter anstarrten. Und mich auch. Ich konnte die feindseligen Blicke fast körperlich spüren. Als wir die Plaza erreichten, sah ich den Scheiterhaufen. Die Rurales hatten nicht übertrieben. Reisigbündel, alte Balken, harzige Holzscheite und morsche Bretter waren hier übereinandergestapelt worden. Ich sah nun auch ein paar niedergebrannte Hütten. In den Dächern einiger Häuser steckten Pfeile mit gefiederten Schäften. Ein paar Adobemauern waren von Einschußlöchern gezeichnet, Spuren der letzten Indianerangriffe. Die Rurales hielten auf der Plaza an. Sie sprangen aus den Sätteln. Am Südrand der Plaza entdeckte ich einen großen Korral mit hohen Adobemauern. Daneben gab es ein Officegebäude, die Niederlassung der Rurales. Am Rand des Platzes scharten sich immer mehr Leute. Ich fühlte mich wie auf dem Präsentierteller. Der kleine, magere Ruraleskommandant stolzierte umher wie ein gespreizter Pfau und zeigte anklagend auf mich, während er einen wahren Redeschwall auf die Bürger von Sante Rica losließ. Ich hörte einige Männer etwas rufen. Da ich die Sprache nicht verstand, konnte ich nur ahnen, was geschrien wurde. Eine Frau drängte aus der Menge, rannte über die Plaza auf mich zu und blieb vor dem Pferd stehen, auf dem ich saß. Ihr Gesicht war verzerrt, ihre Augen rot entzündet vom vielen Weinen. Auch jetzt rannen Tränen über ihre Wangen. Sie hatte die Hände geballt und hämmerte gegen meine Beine. Dabei schrie sie mich mit überschnappender, kreischender Stimme an. Die Rurales traten zu mir, schoben die Frau beiseite, lösten meine Fesseln und hoben mich vom Pferd. Sie trieben mich quer über die Plaza zu ihrem Office. Die Leute schrien jetzt alle und zeigten auf den Scheiterhaufen. Mir war nicht gerade wohl zumute. Als ich in das Gebäude geschoben wurde und an einigen zerlumpt wirkenden Männern
vorbei mußte, von denen zwei oder drei frische Verbände trugen, erhielt ich einen heftigen Schlag ins Genick und stolperte über die Schwelle. Die Tür schlug hinter mir zu. Der Lärm draußen war nur noch gedämpft in dem einfach eingerichteten Raum zu hören. Ich wurde durch das Büro in einen angebauten Zellentrakt gestoßen. Ein bestialischer Gestank schlug mir entgegen. Offenbar waren die Zellen seit Jahrzehnten nicht mehr gereinigt worden. Auf dem Boden lag eingetrockneter Kot, waren große Urinflecke. Die Strohsäcke auf den Pritschen waren durchgefault. Ohne lange suchen zu müssen, entdeckte ich Wanzen, kaum daß ich in meine Zelle getreten war. Der Rurale hinter mir sagte in schlechtem Apache: »Morgen ist Sonntag. Nach der Kirche bist du dran. Und vorher wirst du uns noch sagen, wo dein Stamm sein Lager hat.« Ich schwieg, und die Männer gingen hinaus. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Ich war allein, denn außer mir saß niemand in den Zellen. Ich warf den stinkenden Strohsack von der Pritsche, verjagte alles Ungeziefer von den blanken Balken und setzte mich darauf. Draußen hörte ich noch immer die Menschen schreien. In einem Nebenraum lachten die Rurales und redeten laut. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich gewußt hätte, um was es dabei ging. Ich versuchte, zur Ruhe zu kommen und meine Lage klar zu sehen. Bis zum nächsten Tag hatte ich noch Zeit. Eine ganze Nacht. So viele Stunden und doch, wenn ich es recht bedachte, so wenig. Unwillkürlich tastete ich an meiner Brust hoch und faßte nach dem Medizinbeutel. Die Götter waren mir offenbar nicht mehr wohlgesonnen, oder sie stellten mich lediglich vor eine weitere Prüfung, in der ich mich zu bewähren hatte. Unter dem Medizinbeutel berührte meine Rechte auch das Medaillon aus Silber, das ich an einem dünnen Kettchen um den Hals trug, das Medaillon, das ich bei mir gehabt hatte, als Mönche mich als Baby aus einem niedergemetzelten Treck geborgen hatten. Ich warf einen Blick darauf, auf das zierliche Frauenbild, das in die silberne Fassung eingelegt worden war. Irgendwie schien es mir plötzlich, als strahle das kleine Bild eine seltsame Kraft aus.
Ich erhob mich und trat an das kleine Gitterfenster meiner Zelle. Es lag sehr hoch, so daß ich nach der Unterkante des Fensters greifen und mich hochziehen mußte, um einen Blick hinauswerfen zu können. Das Fenster führte auf den Hinterhof, wo sich zerbrochene Flaschen und andere Abfälle türmten. Lange konnte ich mich nicht festhalten, zumal mein verletzter Arm bei der Anstrengung wahnsinnig schmerzte. Ich ließ los und fiel wieder hinunter. Nachdenklich wanderte ich in der Zelle auf und ab. Währenddessen wurde es draußen dunkler. Ein rötlicher Schimmer der verglühenden Sonne fiel auch in meine trostlose Zelle. Das Geschrei der wütenden Bürger nahm ab. Nur die Rurales hörte ich nebenan noch immer mit unverminderter Lautstärke. Sie schienen zu feiern. Ich fragte mich, was sie feierten. Die Erschießung der beiden amerikanischen Soldaten? Das war kein Kunststück gewesen. Oder meine Gefangennahme? Ich war ein Kind, trotz allem. Es konnte mit dem Rurales nicht weit her sein, wenn sie die Gefangennahme eines Kindes als Erfolg feierten. Ich dachte an Little Friend, meinen Blutsbruder, und an die Chiricahuas, meinen Stamm. Auch Kaktusblüte fiel mir in diesem Moment wieder ein. Für kurze Zeit hatte ich ihr Bild vor Augen. War ich vielleicht ausgezogen, um sie nie mehr wiederzusehen? Hatte ich dafür tagelang gefastet, getanzt und gebetet, hatte ich dafür meinen Medizinbeutel erworben, um von den Mexikanern auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden? Es war jetzt dunkel in meiner Zelle, stockfinster. Ich hockte mich wieder auf die Pritsche. Hinlegen wollte ich mich nicht. Ich dachte an das Ungeziefer, das ich jetzt in allen Ecken knistern und krabbeln hörte. Als ich etwas Rauhes an meinem Bein spürte, stand ich schnell auf, schüttelte mich angewidert und wanderte in der dunklen Zelle auf und ab. Womöglich gab es auch giftige Spinnen oder Skorpione hier. * Nach und nach wurde es kühl. Die Tageshitze wich. Die Nähe der
Wüste machte sich bemerkbar, und die für eine Wüstennacht typische Kälte trat ein. Sie setzte sich in der feuchten Zelle fest. Bald fröstelte ich, die klamme Kälte kroch durch meine Glieder und ließ mich steif werden. Meine Wunde im linken Arm schmerzte wieder heftiger. Es war ein dumpfer, hämmernder Schmerz, der bis in die Zehen und Haarspitzen flutete. Doch er war zu ertragen, wenn ich auch gut darauf hätte verzichten können. Schließlich stand ich wieder an der Gittertür, hatte die zolldicken Eisenstäbe mit beiden Händen umklammert und preßte die Stirn gegen das kühle, rostige Metall. Noch immer lärmten nebenan die Rurales, auch wenn sie etwas leiser geworden waren. Ich hörte das Geklirr von Flaschen und Gläsern, und zwischen den rauhen Männerstimmen ertönte jetzt auch ab und zu das Lachen von Frauen. Ich dachte an den Scheiterhaufen draußen auf der Plaza. Er ging mir nicht aus dem Sinn. Die Zeit verran. Ich rüttelte an den Gittern. Es war sinnlos. Die rückwärtige Zellenwand unter dem Fenster klopfte ich auch ab. Eine Stelle klang hohl. Sofort begann ich, mit den Fingernägeln daran zu kratzen. Der alte Adobelehm war brüchig, und als ich einen schmalen Spalt in der Wand fand, wo meine Fingernägel ansetzen konnten, gelang es mir, kleinere Brocken aus der Wand herauszubrechen. Ich konnte sie nur fühlen, nicht sehen, und ich hörte sie zu Boden rieseln. Das gab mir Auftrieb. Ein wahrer Rausch packte mich. Mit beiden Händen bearbeitete ich die Wand und mußte mich bezähmen, um nicht bei jedem Bröckchen, das zu Boden fiel, einen Freudenschrei auszustoßen. Meine Fingerkuppen schmerzten eine Weile, wurden dann von einem tauben Gefühl erfüllt, und schließlich fühlte ich sie nicht mehr. Das war mir egal. Je tiefer ich in die Wand vorstieß, um so leichter wurde es, um so spröder und brüchiger war der gebrannte Lehm. Der Schweiß rann mir schon bald in dichten Strömen über das Gesicht und über den Oberkörper. Doch ich gab nicht nach, bis – ja, bis ich plötzlich auf Widerstand stieß, den ich mit bloßen Händen
nicht beseitigen konnte. In das Mauerwerk aus Adobelehm war ein festes Drahtgeflecht eingearbeitet worden. Ich riß mir die Fingerkuppen daran auf. Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, daß alles umsonst gewesen war, daß ich Zeit vertan hatte und meiner Rettung nicht um einen Millimeter nähergelangt war. Fast hätte ich losgeheult. Doch ich beherrschte mich und lehnte mich schweratmend mit dem Rücken an die Wand. Meine Muskeln und Sehnen vibrierten noch von der Anstrengung. Ich war ratlos. Ein Anflug von Panik erfaßte mich. In einer so ausweglosen Situation hatte ich mich bisher noch nie befunden. Es schien keine Chance mehr zu geben. Jede Minute, jede Sekunde, die verstrich, brachte den Tod näher. Da ging plötzlich die Tür zum Zellentrakt auf. Ein trüber Lichtschimmer fiel in den niedrigen Gang vor den Gittertüren. Die Gestalt eines Rurale tauchte in der Tür auf. Er schwankte hin und her und war offenbar stark angetrunken. Seine Uniformbluse war über der Brust offen und hing aus der Hose. Das schwarze Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht. In der Rechten hielt er eine Petroleumlaterne, mit der Linken klammerte er sich am Türrahmen fest, bis er das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte. Er rülpste laut und stieß ein lallendes Lachen aus. So torkelte er durch den Gang und blieb vor meiner Zelle stehen. Ich wich bis an die rückwärtige Wand zurück. Meine Blicke glitten durch den kleinen Raum, doch es gab nichts, was ich als Waffe benutzen konnte. Der Rurale fiel mit dem Oberkörper gegen die Gitterstäbe der Zellentür und stierte mich an. Offenbar konnte er mich nicht richtig erkennen, denn er hob die Lampe, die klirrend gegen die Eisenstäbe schlug. Von draußen aus dem Office rief jemand, der offenbar genauso betrunken war wie der Mann vor meiner Zelle. Der antwortete und zerrte ein Schlüsselbund hinter seinem Gürtel hervor. Es dauerte lange, bis er den richtigen Schlüssel fand, mit dem er die Tür meiner Zelle öffnen konnte. Er rülpste wieder geräuschvoll und stand einen Moment schwankend im Rahmen der Gittertür.
»Komm her, du kleiner Bastard«, sagte er mit schwerer Stimme. Er sprach englisch, gebrochen zwar und schlecht in der Aussprache, aber ich konnte ihn verstehen. »Komm her, du – hupp – wir wollen – hupp – unseren Spaß haben mit dir.« Seine Augen glänzten im trüben Schein der Laterne. Ich rührte mich nicht vom Fleck, blickte ihn starr an und wartete darauf, was er als nächstes tun würde. Er übergab sich plötzlich. Angewidert zog ich die Schultern hoch und schluckte meinen Ekel herunter. Er kotzte quer durch die Zelle auf den Fußboden und würgte geräuschvoll. Sein Magen hob sich. Er klammerte sich an den Gitterstäben der Tür fest. Er war ganz bleich geworden und schwankte noch heftiger, als er fertig war. Reste des Erbrochenen klebten ihm an Mund, Kinn und Nase. »Komm jetzt – hupp – endlich, du kleines Dreckstück – hupp …«, sagte er. Dann tappte er auf mich zu, zeigte auf mich und lallte: »Roter Mann, toter Mann …« Er war glücklicherweise viel zu betrunken, um zu sehen, daß ich einen Teil des Mauerwerks aus der Wand herausgekratzt hatte. Ich spannte alle Muskeln. Innerlich war ich wieder völlig ruhig. Als mich der stinkende Atem des Mannes traf, wurde mir fast schlecht. Er schien ein ganzes Faß vom billigsten Fusel in sich hineingekippt zu haben, den es in ganz Mexiko gab. Ich handelte fast instinktiv. Mit einem Satz sprang ich zur Seite, bückte mich und schleuderte dem Rurale den verfaulten Strohsack vor die Füße. Er stolperte und stürzte mit einem urigen Brüllen zu Boden. Mühsam versuchte er, den Oberkörper hochzustemmen. Da war ich schon bei ihm. Ich hatte lange genug Zeit gehabt, über meine Chance nachzugrübeln. Jetzt war ich sicher, daß sie gekommen war, und ich zögerte keine Sekunde. Ich bückte mich und riß dem Rurale die Waffe aus dem Gürtel. Es war eine altertümliche, doppelläufige Perkussionspistole. Aber das war egal. Es war eine Waffe, und sie war geladen. Ich holte aus und schlug dem Betrunkenen damit auf den Schädel. Stöhnend sackte er zu Boden und rührte sich nicht mehr. Rasch
zerrte ich ihm das Messer aus dem Stiefel, steckte es in den Gürtel und verließ die Zelle. * Ich handelte, als hätte ich alles lange geprobt, doch noch hatte ich nicht gewonnen, und ob ich das Ende des nächsten Tages erleben würde, stand noch in den Sternen. Jedenfalls steckte ich nicht mehr in der finsteren Zelle, und hoffnungslos war meine Lage auch nicht mehr. Ich dachte nicht lange darüber nach, wie sehr mir das Glück in den Schoß gefallen war. In diesem Moment war keine Zeit dazu, weder zum Hoffen noch zum Bangen, nur zum Handeln. An der Tür zum Office blieb ich stehen. Um den Schreibtisch herum saßen und lagen sechs Rurales, alle mehr oder weniger betrunken wie der Bursche in meiner Zelle. Einige schliefen tief und fest im Vollrausch, ein paar andere tranken noch aus den Flaschen, die auf dem Tisch standen. Der kleine, magere Anführer hatte ein vollbusiges, fettes Weib im Arm, in deren Kleid er dreimal hineingepaßt hätte. Ihr gewaltiger Busen erdrückte ihn beinahe, und er tastete mit Wollust daran herum. Doch seine Hand war viel zu klein für diese wogende Pracht. Außerdem sah er aus, als habe er bereits so viel getrunken, daß er jenseits von Gut und Böse war. Der Mann, der mir am nächsten saß, wandte den Kopf. Stupide glotzte er mich an. Dann stieß er einen spanischen Fluch aus und sprang auf. Er schwankte hin und her wie ein Halm im Sturm. Dazu schrie er. Seine Kameraden schienen aus dem Suff zu erwachen. Ich hatte keine Lust, sie nüchtern werden zu lassen. Als der Mann vor mir nach seiner einschüssigen Reiterpistole griff, spannte ich den Hammer meiner Waffe und drückte den ersten Lauf ab. Die Detonation fing sich dröhnend in dem engen Raum. Der Rückschlag war hart. Ich mußte die Waffe mit beiden Fäusten festhalten. Der Mündungsstrahl stach auf den Rurale zu. Die Kugel grub sich in seine rechte Hüfte. Brüllend stürzte er zu Boden. Er riß einen
Stuhl um und fiel auf einen anderen Mann, der geschlafen hatte und nun erschrocken hochfuhr. Da befand ich mich schon an der Tür und öffnete sie. Hinter mir schien eine jähe Ernüchterung unter den Mexikanern einzusetzen.
10. Bleiches Mondlicht lag auf der Plaza von Santa Rica. Als ich die Tür des Ruralesoffices hinter mir zuschlug, sah ich den Mann neben dem Scheiterhaufen und wußte, was für einen »Spaß« sich die Rurales mit mir hatten machen wollen. Der Alkohol hatte anscheinend ihre Sinne beflügelt, und sie hatten nicht mehr bis zum nächsten Morgen warten wollen. Als Höhepunkt ihrer Fiesta hatte ich mitten in der Nacht gebraten werden sollen. Der Mann neben dem Scheiterhaufen hielt eine Fackel in der Linken, und in der Rechten eine Flasche Tequila, an der er ständig nuckelte. Als er mich sah, verschluckte er sich. Er hustete sich fast die Lunge aus dem Leib. Ich rannte an ihm vorbei. Was ich brauchte, war ein Pferd. Hinter einigen Fenstern in der Stadt sah ich Licht. Mir war klar, daß der Schuß gehört worden war. Ich hatte nicht viel Zeit. Ich umrundete den Scheiterhaufen und lief in einen Hof, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift ›Establo‹ hing. Soviel Spanisch konnte ich aus meiner Zeit bei den Mönchen, um zu wissen, daß das Stall hieß. Der Stall war unbewacht. Nach allem, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte, meinte es das Schicksal jetzt wirklich gut mit mir. Ich löste den Riegel aus der Verankerung, stemmte einen Flügel des großen Stalltores auf und lief hinein. Rechts und links in den Boxen vom breiten Mittelgang standen die Pferde der Rurales. Ich suchte nicht lange. In der ersten Box links vom Eingang stand ein Apfelschimmel. Ich streifte ihm ein Halfter über, zerrte ihn aus der Box und warf mich auf den ungesattelten Rücken. Im vollen Galopp sprengte ich über den Hof und hinaus auf die Plaza.
Da standen bereits mehrere Rurales vor der Tür ihres Amtsgebäudes. Sie schrien wild und feuerten ihre Gewehre ab, ohne mich zu treffen. Aus einigen Seitengassen stürmten halbangekleidete Bürger von Santa Rica, und neben dem Scheiterhaufen stand noch immer der Mann mit der Fackel. Er stellte sich mir in den Weg. Da erschoß ich ihn. Ich feuerte, ohne zu zielen, den zweiten Schuß aus der Pistole ab. Der Rurale neben dem Scheiterhaufen wurde von der Kugel in die Brust getroffen. Er stürzte rücklings gegen den Holzstapel. Die Fackel entglitt seiner Linken und setzte den Scheiterhaufen in Brand. Einem Mann, der mir entgegenlief und versuchte, mich aufzuhalten, hämmerte ich vom Pferd herab die Pistole auf den Schädel. Dann hatte ich freie Bahn. Ich warf mich flach auf den Pferdehals und schlug dem Schimmel die Absätze in die Weichen. Immer noch krachten Schüsse hinter mir. Doch ich tauchte in der Dunkelheit unter. Der Apfelschimmel war ein gutes Tier. Er war kräftig und ausdauernd, und er bereitete mir keine Schwierigkeiten. Schon nach wenigen Minuten hörte ich den Hufschlag von Verfolgern hinter mir. Ich trieb den Schimmel abermals an und zwang ihn, alles zu geben, was in ihm steckte. Er flog dahin wie ein Sturmwind und schien den Boden gar nicht mehr zu berühren. Sein Körper streckte sich. Ich klammerte mich in seiner Mähne fest, um nicht zu Boden geschleudert zu werden. Das Risiko des wilden Ritts war mir bewußt. Ein unglücklicher Tritt des Hengstes, eine in der Dunkelheit plötzlich auftauchende Bodenfalte, der Bau eines Murmeltiers konnte dazu führen, daß meine Flucht so überraschend scheiterte, wie sie begonnen hatte. Aber ich hatte keine Wahl. Hinter mir hörte ich noch immer die Verfolger. Sie schienen jedoch nicht näher gerückt zu sein. Einmal wandte ich mich im Sattel um. Doch ich konnte nichts entdecken. Die Nacht war zu dunkel. Der Reitwind peitschte mein Gesicht. Ich schluckte Staub, und ich merkte bald, daß ich die Wüste erreicht hatte. Der Schimmel wurde
langsamer. Er versank mit den Hufen im weichen Sand, was ihm Schwierigkeiten bereitete. Sein Atem wurde geräuschvoll und rasselnd. Schaumflocken hingen bald vor seinen Nüstern. Ich zügelte ihn schließlich und ließ ihn langsamer gehen. Der Hufschlag hinter mir war verstummt. Die Verfolgungsjagd hatte gut drei Stunden gedauert. Mir rann der Schweiß in Strömen über die Stirn und den Oberkörper. Schließlich hielt ich den Schimmel an und glitt aus dem Sattel. Schweratmend hockte ich mich in den Sand, um zur Ruhe zu kommen. Mit hängendem Kopf blieb das Pferd neben mir stehen. Meine Verfolger hatten offenbar aufgegeben. Ich blickte mich um. Die nächtliche Wüste bot keinerlei Orientierungspunkte für mich. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden mußte, um zum Lager der Apachen zurückzugelangen. Der Himmel war ohne Sterne, kein Zeichen, an dem ich mich hätte orientieren können. Ich würde den Tag abwarten müssen. Müde richtete ich mich wieder auf. Wahrscheinlich sorgte man sich bereits um mich im Apachenlager. Hätten mich nicht die beiden spionierenden Soldaten aufgegriffen, und wären dann nicht noch die Rurales dazwischengekommen, wäre ich vermutlich längst wieder bei den Apachen. Ich klopfte dem Schimmel auf die schweißnasse Flanke. Das Tier hatte wirklich alles gegeben. Ich konnte nicht noch mehr von ihm in dieser Nacht verlangen. Als ich aufbrach und zu Fuß weiterging, zog ich das Tier am Halfter hinter mir her. Es folgte willig. Wie lange ich durch den Sand stapfte, wußte ich nicht. Als ein riesiger Felsquader vor mir auftauchte, der einsam im Sand lag wie ein Monument der Ewigkeit, hielt ich an. Ich klopfte den Boden ringsherum nach Schlangen ab und band den Schimmel mit dem Halfter die Vorderläufe zusammen, damit er nicht fortlaufen konnte. Dann legte ich mich in den Sand und schlief bis zum nächsten Morgen. *
Ich ritt dem Wind entgegen. Heiß und trocken umstrich er meinen Körper. Die feinen Sandkristalle, die er mit sich trug, warf er gegen meine bloße Haut, so daß ich meinte, von glühenden Nadeln gepeinigt zu werden. Doch es war der Wüstenwind, der Wind des Apachenlandes. Er zeigte mir, daß ich in einem Land war, in dem ich kaum Verfolger zu fürchten hatte. Und wenn ich zurückschaute, auf einer hohen Düne stehend, konnte ich auch nichts sehen als die unendliche Weite. Die Rurales hatten aufgegeben. Mein Weg führte nach Südosten. Ich hatte Glück, denn am Abend des ersten Tages stieß ich auf ein Wasserloch. Hier ruhte ich zum erstenmal richtig aus. Vieles ging mir durch den Kopf, nachdem ich meinen Durst gestillt hatte und im Schatten eines Yuccastrauches faul im Sand lag. Im Westen ging die Sonne unter, und über der Wüste lag die Stille einer Kirche. Alles, was ich in den vergangenen Tagen erlebt hatte, zog in Bildern vor meinen Augen vorbei. Ich dachte an das Apachenlager und an die Rückkehr. Kaktusblüte fiel mir ein. Jetzt, nachdem ich meinen Medizinbeutel hatte, war ich ein vollwertiger Krieger, wenn auch noch nicht heiratsfähig. Aber reif genug für ein Heiratsversprechen, das in einigen Jahren eingelöst werden konnte. Nachdenklich blickte ich in die Dämmerung. Warum sollte ich mit knapp dreizehn Jahren eigentlich noch nicht daran denken, eine Familie zu gründen? Andere Apachen taten das auch. Zuweilen wurden schon Zehnjährige einander versprochen. Es war also möglich, daß ich mit Kaktusblüte eine solche Verbindung einging. Entscheidend war nur, was ihre Eltern dazu sagten. Kaktusblüte selbst mußte vielleicht nicht einmal gefragt werden … Mein Blick fiel auf den Schimmel. Ein schönes Tier. Stark und ausdauernd. Nach einem Geschenk, mit dem ich die Eltern von Kaktusblüte für mich einnehmen konnte, brauchte ich nicht zu suchen. Was war besser als dieser Schimmel, den ich selbst erbeutet hatte? Ich steigerte mich richtig in diesen Plan hinein und konnte an
nichts anderes mehr denken. Als es Nacht wurde, war ich so weit, daß es mir als die natürlichste Sache von der Welt erschien, um Kaktusblütes Hand anzuhalten und sie in drei oder vier Jahren zu heiraten. Ich bezweifelte auch nicht im geringsten, daß ihre Eltern die Einwilligung dazu geben würden, obwohl sie mich gar nicht kannten. Am nächsten Tag hatte sich dieser Rausch nicht etwa verflüchtigt. Er hielt auch an, während ich weiterritt. Ich hatte es jetzt sogar sehr eilig, zurückzugelangen. Anhand der Sonne und der Tagesfelsen im Westen fiel mir die Orientierung leicht. Vermutlich war noch nie ein junger Krieger so fröhlich aus der Wildnis zurückgekehrt wie ich. Je länger ich über meinen verwegenen Plan nachdachte, um so mehr war ich überzeugt, daß er im Grunde nichts weiter war als ebenfalls ein Fingerzeig der Götter, die mein Glück abrunden wollten. Die Ungeduld in mir, Kaktusblüte wiederzusehen, wuchs darum nahezu von Stunde zu Stunde. Und am dritten Abend legte ich daher nur eine kurze Rast ein und ritt dann weiter, die ganze Nacht. Kurz vor dem Morgengrauen sah ich die Oase vor mir liegen. Ein vertrauter Anblick, wie mir schien, obwohl ich nur wenige Tage bisher dort gelebt hatte. Schemenhaft tauchten die Umrisse der Wickiups und Zelte aus den Nebelschwaden des Morgens auf. Ich bemerkte einige Wachen am Rand der Oase und stieg in etwa hundert Yards Entfernung vom Pferd, um den Anblick des großen Lagers aus der Entfernung etwas länger genießen zu können. Langsam schritt ich auf die Oase zu, zog den Schimmel hinter mir her und war von einer eigenartigen, prickelnden Erregung erfüllt. Taufeuchtes Grammagras strich um meine Beine. Als ich den Ruf eines Postens hörte, blieb ich stehen. Dann stand er vor mir, und meine Gedanken an Kaktusblüte, an meinen großartigen Plan, in den ich als erstes Little Friend einweihen wollte, verflüchtigten sich wie Butter in der Sonne. Rennender Bär stand vor mir. Er hatte Morgenwache. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er mich erkannte. In seinen Augen aber zuckte Haß auf.
»Na, wieder da?« »Das siehst du ja.« »Ja, das sehe ich.« Er stützte die rechte Hand auf eine Lanze, die er fest gepackt hielt, und die ihn eine Handbreit überragte. Er hob sie jetzt an und deutete mit der Spitze auf meine Brust. »Dein Medizinbeutel, eh?« »Ja.« »Ich habe nicht geglaubt, daß du es schaffst.« Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich bin vierzehn Sommer. Du bist jünger, habe ich gehört.« »Ja.« »Ich habe noch keinen Medizinbeutel.« »Das sehe ich.« Ich spürte seine Feindseligkeit jetzt fast körperlich. Er schien sich kaum noch beherrschen zu können. Seine Stimme klang gepreßt, und ich sah, daß er seine Rechte immer fester um den Lanzenschaft krampfte, um nicht zu zeigen, wie sehr er zitterte. Ganz konnte er es aber nicht unterdrücken. »Ja, du siehst es«, sagte er. »Ich frage mich, wieso ich noch keinen habe, wenn du bereits für gut genug angesehen wurdest.« »Das mußt du dich selbst fragen«, sagte ich. »Du bist verletzt?« Er deutete auf meinen schmutzigen Verband am linken Arm. »Ein Streifschuß.« Ich dachte nicht daran, Rennender Bär mehr darüber zu erzählen. »Und das Pferd?« »Erbeutet.« Ich setzte mich wieder in Bewegung. »Halt mich nicht länger auf«, sagte ich. »Ich will zu Nochalos Hütte.« »Ich halte dich auf, solange ich will«, sagte er. »Wir sind ziemlich allein hier. Der Nebel ist noch dicht. Die nächste Wache steht weit entfernt. Sie kann uns nicht sehen.« »Und?« Meine Muskeln spannten sich. Ich fühlte, daß Rennender Bär etwas plante und mein Unterbewußtsein signalisierte Gefahr. »Nochalos wird deinen Medizinbeutel niemals sehen«, sagte Rennender Bär. »Behaupte danach, was du willst. Mein Vater ist ein Häuptling. Mir wird man glauben.«
»Du tust mir leid, daß du dich hinter deinem Vater verstecken mußt«, sagte ich. »Geh zur Seite.« Er lachte leise. Die Lanze flog plötzlich hoch und zuckte auf mich zu. Instinktiv wich ich zurück. Die Spitze fuhr nur um Haaresbreite an meinem verletzten Arm vorbei. Ich ließ den Zügel des Schimmels fallen und konnte den Schaft der Lanze packen, bevor Rennender Bär sie zurückziehen konnte. Als er an der Lanze zerrte, merkte ich, wie wenig Kraft ich im linken Arm hatte. Doch ich ließ die Lanze nicht los. Ich warf mich herum und riß die Lanze mit. Rennender Bär wurde zur Seite geschleudert, weil er zu spät losließ, verlor so das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Als er wieder hochwollte, hob ich den Lanzenschaft und schlug ihn damit auf die rechte Schulter. Kein Laut des Schmerzes drang über seine Lippen. Sein Gesicht verzerrte sich lediglich ein wenig. Er richtete sich auf und tauchte unter meinem nächsten Schlag weg. Mit dem Kopf rammte er vor und umklammerte meinen Leib. Ich ließ die Lanze fallen und stürzte auf den Rücken. Als ich die Knie an den Leib riß, lockerte sich der Griff von Rennender Bär. Stöhnend rollte er ins Gras. Sekunden später war ich über ihm und schlug ihn ins Gesicht. Er versuchte gar nicht, meine Hiebe abzuwehren. Seine Hände griffen nur nach meinem Medizinbeutel. Er packte ihn und zerrte daran. Da zog ich das Messer, das ich dem Rurale abgenommen hatte, und setzte es Rennender Bär an die Kehle. Ich brauchte die Spitze nur ein wenig in seine Haut zu pressen, um ihn davon zu überzeugen, daß es besser war, den Medizinbeutel loszulassen. Während ich aufsprang und zurückwich, behielt ich das Messer in der Hand. Daß ich jetzt wieder heftige Schmerzen im linken Arm hatte, ließ ich mir nicht anmerken. »Bleib liegen«, sagte ich, als Rennender Bär aufstehen wollte. »Ich habe dich wieder besiegt, und ich sage dir, ich kann dich immer besiegen. Aber merke dir eines: Wenn du mich noch einmal angreifst, werde ich dich töten.« Da richtete er sich trotzdem auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Nimm dich vor mir in acht«, sagte er. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Du hast einen schönen Skalp. Irgendwann hängt er an meinem Gürtel.« Er wandte sich halb ab und bückte sich, um seine Lanze aufzuheben. Ich wollte nach dem Zügel des Schimmels greifen. Da bemerkte ich aus den Augenwinkeln, daß Rennender Bär plötzlich herumwirbelte. Er griff blitzschnell an. Aber ich hielt bereits die doppelläufige Pistole in der Rechten und schlug sie ihm über den Schädel. Rennender Bär stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden und rührte sich nicht mehr. Ich steckte die Pistole weg, nahm den Schimmel am Zügel und ging weiter in das Lager. Neben der Hütte von Nochalo blieb ich stehen. Ich hobbelte den Schimmel an und hockte mich auf den Boden. Lange brauchte ich nicht zu warten, dann öffnete Nochalo seine Hütte und trat heraus. Wenn er überrascht war, mich zu sehen, zeigte er es nicht. Ich erhob mich und blickte ihm gerade in die Augen. »Du bist zurück?« »Ich habe alles getan, was du mir aufgetragen hast«, sagte ich. »Der Große Geist war mir gnädig.« Er warf einen Blick auf das Pferd, auf die Pistole in meinem Gürtel und auf den Verband. »Du bist verletzt?« »Es geschah auf dem Rückweg«, sagte ich. »Zwei amerikanische Soldaten nahmen mich gefangen. Sie haben mich angeschossen. Kurz vor der Grenze tauchten Mexikaner auf. Sie töteten die Amerikaner und schleppten mich nach Santa Rica. Von da konnte ich fliehen.« »Hast du ungestört Medizin machen können?« »Es gab nichts, was mich gestört hat«, sagte ich. »Ein Gewitter stand über mir, als ich betete.« »Das ist gut. Du stehst unter dem Schutz des Blitzgottes.« Ein seltsamer Schimmer stand jetzt in seinen großen, tiefliegenden Augen. »Geh jetzt. Wir werden am Abend deine Rückkehr feiern.« Ich ging ohne ein weiteres Wort. Die Sonne stieg gerade auf, als ich den Wickiup erreichte, den Little Friend und ich gebaut hatten.
Little Friend war bereits wach. Er umarmte mich, als ich auf ihn zutrat. Als ich den warmen Glanz in seinen Augen sah, dachte ich noch einmal an die Augenblicke der Schwäche, die ich am ersten Tag durchgestanden hatte, und ich schämte mich dafür.
11. Ich schlief bis zum Mittag und ging dann im Lager umher, während in der Mitte des Camps Vorbereitungen für das Fest getroffen wurden. An der Quelle traf ich Kaktusblüte. Nach ihr hatte ich gesucht. Mein Herz schlug schneller, als sie vor mir stand. Ich hatte mir vorgenommen, ihr alles zu erzählen, was ich mir ausgedacht hatte, sie in meinen Plan einzuweihen, der unser beider Zukunft betraf. Doch in diesem Moment konnte ich es nicht. Mein Mund war wie zugeklebt. Schließlich kannte wir uns kaum. Vielleicht war sie gar nicht einverstanden. Tausend Bedenken schossen mir auf einmal durch den Kopf. Als sie mich sah, lächelte sie und trat auf mich zu. »Ich habe schon gehört, daß du wieder da bist«, sagte sie. Sie schaute auf meinen linken Arm, an dem ich jetzt einen neuen Verband trug, den Little Friend mir angelegt hatte. Die Wunde darunter heilte schnell. Sie war nicht sehr tief. »Das spricht sich schnell herum.« »Ja.« Sie ging mit einem Kleiderbündel am Bach entlang, um zu waschen. Ich schritt neben ihr her. Zwischen uns und den Wickiups befanden sich nun Büsche und Bäume. »Hat Rennender Bär dich in Ruhe gelassen?« »Ach, der …« Sie schaute mich von der Seite an. »Du bist mit einem erbeuteten Pferd zurückgekehrt, wird gesagt.« »Es ist ein Schimmel«, sagte ich geschmeichelt. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Es reizte mich, ihr einmal über das seidig schimmernde Haar zu streicheln. Aber ich traute mich nicht. Sie kniete sich an den Rand des Baches und breitete die
Kleidungsstücke am Ufer aus, die sie waschen wollte. Einen Moment blickte ich zu ihr hinunter, dann hockte ich mich unweit von ihr in den Sand. »Weißt du«, sagte ich, »ich habe mir auf dem Weg hierher vieles durch den Kopf gehen lassen, und …« »Ja?« Sie hob den Blick und blickte mich an. In diesem Moment war meine Kehle wieder wie zugeschnürt. »Was wolltest du sagen, Ronco?« Ich hörte ihre Stimme kaum. »Ach, nichts«, hörte ich mich sagen. »Es war nicht so wichtig.« Im selben Moment hätte ich mich verfluchen können. Doch ich brachte einfach nicht über die Lippen, daß ich mir vorgenommen hatte, sie in drei oder vier Jahren zu heiraten. Die Furcht, von ihr ausgelacht zu werden, war zu groß. »Du bist ja ganz rot im Gesicht«, sagte sie. Ich erhob mich rasch. Mir war unerträglich heiß, und ich schämte mich noch mehr. »Bis später«, sagte ich. Es war fast eine Flucht. Ich glaubte, einen enttäuschten Ausdruck in ihrem Gesicht zu entdecken. Aber das war wohl nur ein Teil meiner Wunschvorstellungen. Little Friend saß in der Hütte und schnitzte an einem Lanzenschaft. Ich hockte mich schweigend auf meine Decke und schaute ihm eine Weile zu, bevor ich meine Gedanken wieder geordnet hatte und ihn ansprach. »Es ist doch möglich, daß über eine Heirat schon Jahre vorher eine Absprache getroffen werden kann, wenn Mann und Frau noch zu jung sind.« Little Friend schaute auf, hielt kurz in seiner Arbeit inne, senkte dann den Kopf und schnitzte weiter. »Ja«, sagte er. »Wie geht das vor sich?« »Die Eltern der beiden jungen Leute sprechen miteinander. Wenn sie sich einig werden, wird ein Zeitpunkt verabredet, an dem die Hochzeit stattfindet.« »Sind Geschenke erforderlich?«
»Im allgemeinen ist es üblich.« »Und wenn einer keine Eltern hat?« »Dann schickt er einen Zwischengeher.« »Einen Vermittler?« »Ja.« »Würdest du das für mich tun?« »Für dich?« Jetzt legte Little Friend die Arbeit weg und blickte mich voll an. Einen Moment schien er zu überlegen. Dann sagte er: »Kaktusblüte?« »Woher weißt du das?« »Du weißt, daß dein Kampf mit Rennender Bär gesehen worden ist«, sagte Little Friend. »Kaktusblüte war dabei.« Er lehnte sich zurück. »Du bist noch nicht ganz dreizehn Sommer alt. Vier Jahre sind lang, und so lange wirst du mindestens warten müssen. Warum willst du dich binden?« »Sie gefällt mir«, sagte ich trotzig. »Ich bin ganz verrückt nach ihr. So wie sie soll die Squaw sein, die ich heiraten will. Deshalb will ich sie.« Little Friend nickte ergeben und sagte nichts mehr dagegen. Er wiegte den Kopf. »Die Eltern von Kaktusblüte sind Nahalzay und Melana. Er ist Unterhäuptling von Mangas Coloradas, nicht sehr wichtig, aber sehr eingebildet. Das wird schwierig werden. Was für ein Geschenk willst du geben?« »Den Schimmel.« »Sehr gut. Zur Hochzeit in vier Jahren wirst du dann allerdings noch zwei oder drei Pferde auftreiben müssen. Aber bis dahin ist ja noch viel Zeit. Hast du schon mit Kaktusblüte gesprochen?« Ich senkte den Kopf. So konnte ich nicht sehen, daß Little Friend wieder grinste. »Es ist nicht so wichtig«, sagte er. »Ich werde morgen zu ihren Eltern gehen.« Ich fühlte mich auf einmal ganz leicht. »Danke«, sagte ich. Ich nahm die doppelläufige Pistole auf, die ich von den Rurales erbeutet hatte, und reichte sie ihm. »Ich schenke sie dir«, sagte ich. »Nun, dann …« Er nahm die Waffe und betrachtete sie. Seine
Augen glänzten. Und auch ich war glücklich. * Am Abend brannten im Camp große Feuer. Ich war fast nackt und bemalt mit dem Zeichen des Blitzes, als mich die Gehilfen des Schamanen in den Kreis der Tänzer führten. Trommeln dröhnten, Nochalo sang, und ich sprach zum erstenmal zum versammelten Stamm, berichtete von meiner Vision und erzählte, was ich erlebt hatte. Es wurde gefeiert. Zum erstenmal tanzte ich mit den Kriegern, trank Mescal und Tiswin und hatte das Gefühl, nun endlich wirklich dazuzugehören. Ich war jetzt ein vollwertiger Krieger, und ich dachte an diesem Abend nur daran, daß Little Friend am nächsten Tag zu den Eltern von Kaktusblüte gehen und für mich um sie bitten würde. Es war fast zuviel Glück auf einmal an einem Tag. Ich trank zuviel Mescal und konnte spät in der Nacht nur mit Little Friends Hilfe unseren Wickiup wiederfinden. Mit einem schweren Kopf wachte ich am Morgen auf. Mir war hundsmiserabel übel. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß mir bald noch viel übler werden würde. Ich kroch aus dem Wickiup und ging zum Bach, wo ich mich wusch. Als ich zur Hütte zurückkehrte, war Little Friend da. Sein Gesicht war ernst. Ich schlang die Früchte in mich hinein, die als Frühstück auf meinem Platz lagen. »Hör zu«, sagte Little Friend. Ich aß weiter, ohne ihn anzuschauen, doch mein Herz klopfte heftig. »Ich habe mein Bestes getan«, sagte er. »Aber es war sinnlos.« »Was war sinnlos?« »Kaktusblüte ist vergeben«, sagte Little Friend. »Seit drei Jahren schon. Testihanee wird sie heiraten.« »Was?« Das Entsetzen durchfuhr mich kalt. Ich hätte vermutlich nicht anders reagiert, wenn Little Friend mir mitgeteilt hätte, daß ich erschossen würde. »Aber, warum …« »Du bist Nahalzay und Melana zu jung. Außerdem wollen die
beiden nicht jetzt nur ein Pferd und in vier Jahren die nächsten zwei. Sie wollen sofort drei Pferde für ihre Tochter. Testihanee gibt drei Pferde, und er heiratet Kaktusblüte in zwei Wochen. Er ist ein großer Krieger. Nahalzay ist froh, ihn zum Schwiegersohn zu bekommen.« »Und Kaktusblüte?« Ich schnappte nach Luft. »Sie mag ihn doch gar nicht. Ich bin ganz sicher, daß sie …« »Sie mag ihn bestimmt, und wenn nicht, so ist das unerheblich. Du hast sie doch auch nicht gefragt, ob sie dich mag.« Little Friends Stimme hatte bis jetzt sanft geklungen. Nun wurde sie hart. »Die Sache ist erledigt. Das mußt du einsehen. Ich habe nicht gewußt, daß sie schon vergeben war, aber damit gerechnet. Sie ist alt genug, um Kinder zu gebären. Sie ist schön wie ihr Name. Du wirst eine andere finden, später, wenn du älter bist.« »Nein«, sagte ich. Meine Stimme zitterte. »Bestimmt nicht.« »Man heult einer Squaw nicht nach«, sagte Little Friend. »Selbst wenn du einmal verheiratet sein wirst, merk dir, daß deine Squaw nicht dein Eigentum ist. Sie ist nicht verpflichtet, bis ans Lebensende bei dir zu bleiben.« Ich hörte nicht mehr hin. Stumm hockte ich da, den Kopf gesenkt. Ich kämpfte mit mir, um nicht loszuheulen. Als Little Friend mich schließlich allein ließ, war ich froh darüber. * Am nächsten Tag sah ich Kaktusblüte wieder. Sie trug das Haar jetzt im Nacken zu einer Acht gelegt, wie es für heiratsfähige und verlobte Squaws Sitte war. »Hallo!« rief sie unbefangen und ohne Scheu, als sie mich sah. Ich nickte, winkte und rannte davon. Am Bach traf ich Rennender Bär. Er schnitt ein grimmiges Gesicht. Ich wollte an ihm vorbeigehen. Aber er sprach mich an: »Du hast Pech gehabt, wie?« »Wieso?« »Kaktusblüte.« Er grinste hämisch. »Melana ist geschwätzig. So hat es jeder erfahren, daß du dir Kaktusblüte sichern wolltest.« Auch das noch. Aber mir war schon alles egal. »Und?«
»Ich hätte es auch gern getan. Dich hätte sie sowieso nicht genommen.« Ich blickte ihn stumm an, und seine hämische Visage ließ mich wild werden. Unvermittelt gab ich ihm einen Schlag ins Gesicht, und dann einen gegen die Brust. Er kippte rücklings um und plumpste wie ein Kartoffelsack ins Wasser. Lachend ging ich weiter, eine tiefe Befriedigung in mir fühlend. Zwei Tage später erschienen mexikanische Händler im Lager, die uns Waffen lieferten. Da tauschte ich den Schimmel gegen Patronen für mein Gewehr. Ich wollte ihn nicht mehr sehen. Er erinnerte mich zu sehr an meine, wie ich meinte, wirklich schwere Niederlage. Als ich hörte, daß wir in knapp drei Wochen nach Norden ziehen würden, um zu kämpfen, war ich froh. Ich wollte weg von hier. Ich wollte vieles vergessen. Doch als zwei Wochen um waren und ich der Hochzeit von Kaktusblüte und dem mehr als doppelt so alten Testihanee beigewohnt hatte, fragte ich mich, wieso ich mich jemals hatte von ihr um den Verstand bringen lassen. Little Friend hatte recht gehabt. Ich hatte noch viel Zeit. Es gab nichts mehr, was mich belastete. Als der Aufbruch nach Norden begann, ritt ich mit den Kriegern …
ENDE
Vorschau Camargo Kid hieb mit dem Handballen den Hammer des Colts zurück und wollte Dutch Cassidy aus dem Sattel schießen. Doch sein Colt war leergeschossen. Mit einem Fluch warf er ihn Cassidy ins Gesicht »Du Bastard!« schrie er. Der Hilton-Killer zog die Winchester aus dem Scabbard. Aus dem Hüftanschlag feuerte er, immer wieder, so schnell er den Unterladehebel durchreißen konnte, bis das Magazin leer war. Die Kugeleinschläge rissen Camargo Kid herum und trieben ihn zum Explosionskrater. Er stürzte und rollte hinein. Mit brechenden Augen starrte er in den blaugrauen Himmel … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 131 dieser spannenden großen WesternSerie:
Camargo Kid