Berte Bratt Mein großer Bruder (Mamies Männer)
Vivis lebenslustige Mami sorgt ständig für Aufregungen. Dabei hat Vivi g...
83 downloads
752 Views
719KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Berte Bratt Mein großer Bruder (Mamies Männer)
Vivis lebenslustige Mami sorgt ständig für Aufregungen. Dabei hat Vivi genug eigene Sorgen: Torsten verursacht ihr Herzklopfen und alle Aufregungen der ersten Liebe. Aber Vivis großer Bruder bringt stets alles wieder ins Lot. Wird Vivi ihr Ziel erreichen?
Schutzumschlag und Illustration: Nikolaus Moras Bestellnummer: 7917 1979 Franz Schneider Verlag, München – Wien ISBN 3 505 07.917 0
Mami, Johannes und ich Als Mamilein achtzehn war, heiratete sie Johannes Kruse. Als sie neunzehn war, kam ihr Sohn zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt war Mamilein so verliebt in ihren Johannes, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, ihren Sohn anders zu nennen als Johannes. Als Johannes junior sechs Jahre alt war, wurde Mamilein von Johannes senior geschieden. Als junior sieben war, heiratete Mamilein meinen Vater, und ein Jahr darauf kam ich zur Welt. Ich heiße Vivi. Das heißt, eigentlich heiße ich nicht so. Ich wurde aus unbekannten Gründen Vivian getauft, bekam aber schon sehr früh den Kosenamen Vivi, und der ist an mir hängengeblieben. Glücklicherweise. Mein Bruder Johannes ist niemals Johnny oder Hansi oder Hansemann genannt worden. Mein Bruder hat so ein gewisses Etwas, daß niemand darauf verfällt, ihm Kosenamen zu geben. Er ist und bleibt Johannes. Er ist und bleibt ein Prachtkerl. Und er ist und bleibt acht Jahre älter als ich an Jahren, dreißig Jahre älter an Geist und Weisheit. Mamilein nahm Johannes mit in ihre neue Ehe, und mein Vater sorgte „wie ein Vater“ für ihn, wie es so schön heißt. Jeden zweiten Sonntag aß Johannes zu Mittag bei seinem richtigen Vater und dessen neuer Frau, und am Ersten jedes Monats kam das Geld von Johannes senior für Johannes Juniors Unterhalt.
Als ich sieben Jahre alt war, wurde Mamilein von meinem Vater geschieden. Jeden zweiten Sonntag aß ich zu Mittag bei meinem Vater und dessen neuer Frau, und jeden Monat kamen mit unerschütterlicher Pünktlichkeit die Gelder für meinen Unterhalt. Johannes hatte über seinem Bett das Bild seines Vaters hängen, und über meinem Bett hing das Bild meines Vaters. Beide Väter bekamen neue Kinder mit ihren neuen Frauen und zeigten kein übergroßes Interesse für uns. Eltern sind manchmal recht sonderbar. Als ich elf Jahre alt war, starb mein Vater. Außer einem fernen Onkel, meinem Vormund, der das Erbteil meines Vaters in Verwahrung hatte, und von dem wir jeden Monat mein Unterhaltsgeld bekamen, hatte ich niemand mehr als meinen Bruder Johannes und Mamilein. Mamilein war nunmehr das Familienoberhaupt. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der zum Familienoberhaupt weniger geeignet ist als Mamilein. Als Mamilein vierzig Jahre war, sah sie aus wie sechsundzwanzig. Ich weiß nicht, ob man sie hübsch nennen kann. Aber sie sieht bestimmt amüsant aus, mit ihrem kleingelockten Haar, der zierlichen Gestalt, mit der Stupsnase, der klaren Haut und den großen, blauen Kinderaugen, die so rührend hilflos dreinschauen können. Mamilein versteht es, immer den Beschützerinstinkt in den Männern zu wecken, und alle wollen sie schrecklich gern beschützen. Denn Mamilein ist, nebenbei gesagt, von Kopf bis Fuß sehr sexy. Ich kann wirklich nicht behaupten, daß ich eine unglückliche Kindheit gehabt hätte. Aber eine abwechslungs- und ereignisreiche, so kann ich wohl sagen, eine Kindheit voller Überraschungen, die meine sehr impulsive Mutter mir bescherte. Mamilein liebte es, Gäste zu haben. In unserem Heim kamen und gingen unzählige „Onkels“ und „Tanten“. Ich wunderte mich nie, wenn ich als Kind in die Küche kam und einen neuen, wildfremden „Onkel“ vor dem Herd stehen und Spiegeleier braten sah oder eine ebenso neue und fremde „Tante“, die aus unserem sehr unterschiedlich bestückten Kühlschrank etwas hervorholte. Das bedeutete bloß, daß Mamilein irgendwelche „neuen amüsanten Leute“ kennengelernt und sie nach Hause mitgenommen hatte zu dem, „was das Haus zu bieten“ hatte. Was es zu bieten hatte, hing von den Finanzen ab, und die hingen
wieder davon ab, ob Mamilein sich nicht zu einem Modellkleid, einem teuren Hut oder einem Teeservice hatte hinreißen lassen. Außerdem hing es sehr davon ab, welche Interessen und Liebhabereien Mamilein im Augenblick hatte. Eine kurze Periode lang lebten wir einmal vegetarisch, und Mamilein war Feuer und Flamme für gesunde Kost. Leider fiel diese Periode in den Winter, als Gemüse teuer und selten war. Nachdem wir eine Woche Kohl und Kartoffeln gegessen hatten, waren Mamileins vegetarische Gelüste befriedigt, und wir feierten eines Tages die Umstellung mit einem grandiosen Schweinebraten. Am Abend wurden Mamilein und ich krank, Johannes aber nicht; er war vernünftig gewesen und hatte mit Vorsicht gegessen. Wir haben Gerson-Diät und Waerland-Kost absolviert, wir haben eiweißreiches und eiweißarmes Essen erlebt, Milchdiät, Schlankheitskost und Kraftnahrung. Daß Johannes und ich trotzdem gesund und kräftig sind, ist ein Beweis für unsere Zähigkeit und Anpassungsgabe. Auch meine Schulzeit war von Mamileins Impulsivität geprägt. Ich bin in eine Privatschule, in die gewöhnliche Grundschule und in die Rudolf-Steiner-Schule gegangen. Ich habe eine Tanzschule besucht, einen Ballettkurs und eine Turnschule. Als eine einfallsreiche Haushaltslehrerin einen Kochkurs für kleine Mädchen einrichtete, wurde ich augenblicklich dafür angemeldet. Ich habe Klavierstunden genommen, bis Mamilein eines Tages ein reizendes junges Mädchen mit einem Geigenkasten auf der Straße sah. Das fand sie so entzückend, daß ich anfangen mußte, Geige spielen zu lernen. Ich fühle mich zu der Erläuterung verpflichtet, daß ich dennoch nicht Ballett tanzen, nicht Klavier spielen, nicht Violine spielen und nicht turnen kann. Kochen mußte ich mir später selbst beibringen. Tanzen – nun ja, das kann ich – so zum Hausgebrauch. Mit Johannes war es anders. Ich glaube, Mamilein begriff instinktiv, daß Johannes sich nicht zum Versuchskaninchen eignete. Er ging standhaft und ruhig seinen eigenen Weg. Er brachte von der Volksschule, der Realschule, dem Gymnasium und dem Handelsgymnasium Noten und Zeugnisse nach Hause, die bei ehrgeizigen Eltern Freudenschreie ausgelöst hätten. Aber Mamileins Ehrgeiz ist immer nur sporadisch aufgetreten. Johannes war fünfzehn Jahre, als meine Eltern geschieden wurden. Und ich weiß nicht, wie es gegangen wäre, wenn Mamilein
nicht Johannes als Rückhalt gehabt hätte. Er war es, der daran dachte, wann Miete und Versicherung und Telefon und Strom bezahlt werden mußten. Er war es, der für Ordnung sorgte, soweit man überhaupt von Ordnung in unserem Heim reden konnte. Er war es, der die Hemdsärmel aufrollte und den Aufwasch in Angriff nahm, wenn er sich allzu hoch in der Küche auftürmte, und der mich zum Abtrocknen und Aufräumen kommandierte. Und es war Johannes, der mich erzog. Es war sogar Johannes, der mich verprügelte. Allerdings nur einmal, dafür aber so gründlich, daß die Abreibung vorhielt. Ich werde es nie vergessen. An diesem denkwürdigen Tag war ich ungefähr dreizehn bis vierzehn Jahre alt. Ich kam eines Tages ein paar Stunden später als gewöhnlich von der Schule nach Hause, woraus ich mir nicht das geringste Gewissen machte. In unserem Heim kannte man ohnehin nicht den Begriff fester Mahlzeiten. Waren wir zufällig alle drei zur Zeit des Mittagessens daheim, aßen wir zusammen, und es war dann riesig gemütlich. Aber sonst gingen wir eben bloß in die Küche und suchten uns etwas Eßbares. An diesem Tag empfing mich Johannes in der Diele. „Wo in aller Welt bist du denn so lange gewesen, Vivi?“ „Auf einer Autotour“, sagte ich strahlend und aufgeräumt. „Mit wem?“ fragte Johannes weiter. „Mit einem netten Mann natürlich.“ „Was für ein Mann? Wie heißt er?“ „Keine Ahnung. – Au, quetsche doch meinen Arm nicht so! Er war furchtbar nett, er hielt seinen Wagen neben mir an und fragte mich, ob ich Lust auf eine Autofahrt hätte, und…“ „Und du bist mit ihm gefahren? Wo wart ihr?“ „Ach, wir fuhren erst durch die ganze Stadt und dann gegen Langerud hinaus und dann – ich weiß nicht, wie alle die Orte heißen, und dann – bekam ich Schokolade von ihm – und… au!“ Johannes hatte mich im Nacken gepackt und hielt mich wie in einem Schraubstock. „Ich werde dich lehren, mit fremden Mannsbildern Autotouren zu machen!“ Diese bewegte Szene fand, wie gesagt, in der Diele statt. Leider lag eine Haarbürste griffbereit, und leider fiel Johannes’ Blick auf sie. Und ehe mir klarwurde, was er sich vorgenommen hatte, fand ich mich über sein Knie gelegt, den Faltenrock hochgezogen,
während die Rückseite der Haarbürste auf meinen Hosenboden klatschte. Ich brüllte, sowohl vor Schreck als auch vor Schmerzen – zum Schluß nur vor Schmerzen, denn die Rückseite einer Haarbürste haut gräßlich zu, wenn die Hand, die sie schwingt, genügend kräftig ist. Und erst, als ich heulte: „Ich werde es nicht mehr tun Verzeihung, ich werde es nicht mehr tun…“, ließ mich Johannes los. Das Ganze war reichlich überraschend gekommen. Nach und nach dämmerte es Johannes wohl, daß ich in gutem Glauben gehandelt hatte. Denn als ich meinen Schmerz fortgeheult hatte und gerade anfing, meinen Wutanfall vorzubereiten, kam Johannes still auf mich zu und strich mir über die Haare. „Verstehst du denn gar nichts, Vivi?“ sagte er, und seine Stimme war so, daß ich vergaß, wütend zu sein. Ich sah ihn fragend an. Da begann Johannes zu reden, ruhig, nüchtern, beinahe wissenschaftlich. In einem Ohrenlehnstuhl kniend, die Arme auf die Rücklehne gestützt – es war die einzige Stellung, die sich im Augenblick für mich eignete –, bekam ich aus dem Mund meines klugen Bruders zu hören, was „junge Frauen wissen müssen“. Als Johannes mit seinem Vortrag fertig war, hatte sich meine Wut gelegt. In dieser halben Stunde war ich viel, viel klüger geworden. „Du mußt versuchen, nicht böse zu sein, weil ich dir den Hintern versohlt habe, Vivi“, sagte Johannes zum Schluß. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“ „Ich bin nicht böse, Johannes“, sagte ich. Damals war ich also zwischen dreizehn und vierzehn. Als ich sechzehn war, machte ich mein Examen in der Realschule. Gerade zu dieser Zeit war ein neuer „Onkel“ in unserem Heim aufgetaucht. Er kam oft und blieb lange. Mamileins Augen waren blauer denn je und appellierten intensiver denn je an den Beschützerinstinkt des „großen, starken Mannes“. Johannes veranlaßte, daß ich in ein Internat gesteckt wurde. Dort sollte ich mich in weiblichen Fertigkeiten vervollkommnen. Als ich nach einem Jahr zurückkam, „sweet seventeen“ und, unglaublich genug, noch ungeküßt, war der neue Onkel von der Bildfläche verschwunden, und es war wieder Johannes, der auf Mamilein achtgab.
Dann kam ich, wieder auf Johannes’ Betreiben, nach England. Dort war ich in einem Haushalt tätig. Als ich heimkam, war ich ungefähr neunzehn. Bis dahin hatten sich also keine großen Ereignisse in meinem Leben abgespielt, jedenfalls nicht seit Mamileins und Vaters Scheidung und seit Vaters Tod. Aber dann änderte sich vieles schlagartig. „Johannes“, sagte ich, „glaubst du, daß es diesmal Ernst ist bei Mamilein?“ Johannes schaute von der Zeitung auf. Es war Abend, und wir beide waren allein daheim. Mamilein war irgendwo, mit dem Großkaufmann Bergum. Sie war zur Zeit in einer blankäugigen Periode und schwebte herum mit einem glücklichen und hilflosen Kleinmädchenlächeln in ihrem süßen Gesichtchen. „Schon möglich“, antwortete Johannes. „Was würdest du denn dazu sagen, Johannes?“ „Wozu?“ „Ja, ich meine, was würdest du sagen, wenn Mamilein sich wieder verheiratet?“ „Dazu ist wohl nicht viel zu sagen, es würde sicher das beste für sie sein.“ „Ja“, sagte ich, „es wäre gut für sie, wenn sie in… in…“ „… in geordnete Verhältnisse kommen könnte“, vollendete Johannes, „in einen Hafen, sozusagen.“ „So, daß wir ihretwegen beruhigt sein könnten“, ergänzte ich. Weder Johannes noch ich empfanden das Komische dieses Gesprächs. Wir waren so sehr daran gewöhnt, auf Mamilein aufzupassen, gewöhnt an ihre Impulsivität, ihre Hilflosigkeit und… nun ja, wir waren an dies und jenes gewöhnt und hatten aufgehört, uns zu wundern. Der Großkaufmann Bergum war verliebt wie ein Gymnasiast, das war sonnenklar. Er war „der große, starke Mann“, der sich mit Wonne um Mamileins wohlmanikürten kleinen Finger wickeln ließ. Großkaufmann Bergum hatte eine Villa, gleich außerhalb der Stadt, und ein solides Geschäft. Er war ein Mann so ungefähr um die Fünfzig, geschieden und mit einer Tochter, die inzwischen verheiratet war und im Ausland wohnte. Alles war danach angetan, daß Mamilein glücklich werden konnte. „Was sollen wir dann tun, Johannes?“ fragte ich.
Johannes legte die Zeitung weg. Seine Antwort kam prompt, ganz ohne Zögern – es war klar, daß er diese Frage schon gründlich durchdacht hatte. „Wir behalten die Wohnung hier. Du führst den Haushalt, und ich kümmere mich um die Finanzen.“ Gut. Dazu hatte ich nichts zu sagen. Ich fand’s eigentlich auch das beste. Wir schwiegen beide. „Johannes“, sagte ich schließlich, „hast du Mamilein lieb?“ Es lag ein sonderbares Lächeln um Johannes’ Mund, als er antwortete. „Sie ist ja meine Mutter.“ Mehr sagte er nicht. Als Mamilein zwei Tage später heimkam, mit leuchtend blanken Augen, zerzausten Locken und einem neuen Brillantring, waren Worte ziemlich überflüssig. Sie wollte sich nächsten Monat mit Alfred Bergum verheiraten. Wir gratulierten, nett und aufrichtig. Johannes stand, groß und breitschultrig, ruhig und zuverlässig, und sah herunter auf Mamileins errötetes, lächelndes Gesicht. „Du kleines Mamilein“, sagte er und strich ihr mit der Rückseite seiner Hand über die Wange, leicht und vorsichtig, als berühre er ein zerbrechliches kleines Glastierchen. Da lehnte sich Mamilein an seine Brust, und er strich ihr über die Locken. Ich verstand erst später, was Johannes in diesem Augenblick fühlte: eine unendliche Erleichterung, daß zwölf Jahre Verantwortung und Kümmernisse überstanden waren, und gleichzeitig eine merkwürdige Zärtlichkeit, eine Mischung von kindlicher und väterlicher Zärtlichkeit, für die charmante Ursache dieser Kümmernisse. Dann ordnete Johannes alles, was geordnet werden mußte, in einem ruhigen und vernünftigen Gespräch mit dem Großkaufmann Bergum, den wir von diesem Tage an Alfred nennen sollten. Auf Mamileins ausdrücklichen Wunsch waren Johannes und ich bei der Trauung auf dem Standesamt zugegen, beim Hochzeitsschmaus hinterher natürlich auch. Die Braut sah in ihrem neuen, eleganten Kostüm und dem Nerzkollier aus, als ob sie nicht einen Tag älter als dreißig wäre. Dann begleiteten wir die Neuvermählten zum Flughafen und wanderten zurück in unsere eigene Wohnung, sehr schweigsam, jeder hing seinen Gedanken nach.
Als Johannes aufschloß, sah er einen Augenblick auf das neue Türschild: „J. Kruse, Bürochef“. Es hatte „Ulla Fenger“ abgelöst. Ich heiße Fenger, und so hatte auch Mamilein bisher geheißen. Dann waren wir allein in unserem eigenen Heim. Besonders einladend war es im Augenblick in unserer Wohnung nicht. In der Küche stand der Aufwasch von zwei Tagen. Mamileins Schlafzimmer zeigte deutlich, wie sie gepackt hatte: ohne System und unpraktisch wie immer. Überall lagen Kleidungsstücke und Kleinigkeiten, die sie im letzten Augenblick zurückgelassen hatte. Das Bett war nicht gemacht. Auf dem Nachttisch stand ein Strauß halbverwelkter Blumen neben Mamileins reizendem kleinen Reisewecker, den sie vor langer Zeit bekommen hatte – von irgendeinem großen, starken Mann, den ich Onkel genannt hatte. Johannes sah sich einen Augenblick das Durcheinander an. Dann holte er einen leeren Koffer. „Komm und hilf mir, Vivi, wir schaffen hier ein wenig Ordnung.“ Mamileins Hinterlassenschaft wurde hübsch ordentlich in den Koffer gepackt und von Johannes auf den Boden gebracht. „So“, sagte ich, „hole nun deine Sachen, dann werde ich hier für dich alles zurechtmachen.“ „Für mich?“ sagte Johannes. „Nein, du sollst dieses Zimmer haben, Vivi, ich ziehe in deins.“ „Johannes“, sagte ich und sah ihn streng an, „du hast dein Leben lang auf dem Diwan im Eßzimmer geschlafen. Jetzt wird es Zeit, daß du endlich ein ordentliches Schlafzimmer bekommst. Ich habe mich so an meins gewöhnt.“ Seit ich zehn Jahre alt war, hatte ich das Mädchenzimmer gehabt. Johannes stand in der Tür und betrachtete das verlassene Schlafzimmer, dieses Zimmer mit dem Duft und der Atmosphäre von Frau, von Weib. „Nein“, sagte er, „ich will dein Zimmer haben, Vivi. Tu, wie ich gesagt habe!“ Er hatte um den Mund einen kleinen Zug, der mich zum Schweigen und Gehorchen brachte. „Und jetzt waschen wir auf“, sagte Johannes. Seine Stimme klang sehr bestimmt. „Mein Lieber, das kann doch ich…“ „Ja, von morgen ab“, sagte Johannes, „aber dieses erste Aufräumen erledigen wir zusammen.“
Ich spülte, und Johannes trocknete ab. Dann räumte er, ordnete und rückte zurecht, bis alles in schönster Ordnung war, in der Küche so gut wie in den Zimmern. So hatte es schon lange nicht mehr bei uns ausgesehen. Als wir uns beim Abendessen gegenübersaßen – ich auf Mamileins Platz –, lächelte Johannes mich an. Er kann so schön lächeln, schade – dachte ich –, daß er es so selten tut! „Das war es dann, Vivi“, sagte er – sonst nichts. Von diesem Abend an schlief Johannes in meinem nüchternen kleinen Mädchenzimmer, in meinem schmalen, weißen Bett. Und ich fühlte mich in Mamileins riesengroßem Rokokobett wie eine Prinzessin. Plötzlich überlegte ich, daß ich morgens zeitig aufstehen und Frühstück für Johannes machen mußte. Ich streckte die Arme aus der Daunendecke und stellte den feinen kleinen, vergoldeten Reisewecker. Der tickte so weich und leise… tickte mich in den Schlaf.
Mein Bruder und ich Als ich damals anfing, Johannes den Haushalt zu führen, habe ich mich oft unbeschreiblich dumm angestellt. Heute noch tut es mir in der Seele weh, wenn ich bloß dran denke. Es hat lange gedauert, bis mir die Augen dafür aufgingen. Erst im Laufe der Zeit habe ich gelernt, Johannes zu verstehen. Aber im Anfang war ich ein richtiger Trottel. Ich habe in meinem ganzen Leben niemand getroffen, der pünktlicher gewesen wäre als Johannes. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Genau um 8.05 Uhr ging die Tür zum Speisezimmer auf, und Johannes sagte: „Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“ Dann erwartete er, daß die Kaffeekanne und das weichgekochte Ei um 8.06 Uhr auf dem Tisch standen. Bis Johannes mich an diese Pünktlichkeit gewöhnt hatte, verging eine ganze Weile. Wo sollte ich sie auch gelernt haben? Auf der Schule? Nun ja, gewiß! Aber die Schulzeit lag schon weit zurück. Ich hatte in England einen Haushalt geführt, gewiß, aber da gab es das Frühstück unregelmäßig. Die Familienmitglieder kamen, wann sie gerade Lust hatten, und aßen nur selten gemeinsam. Johannes dagegen verlangte von mir plötzlich eine Pünktlichkeit, wie es kein tyrannischer Ehemann ihm hätte gleichtun können. Um 8.35 Uhr ging er von daheim fort, um 17.25 Uhr hörte ich seinen Schlüssel an der Wohnungstür. Dann mußte das Essen um 18.30 Uhr auf dem Tisch stehen. Diese schreckliche Genauigkeit irritierte mich. Ich war ein junges Mädchen und kein justiertes Chronometer. Und Mamileins Blut pulsierte in meinen Adern – das schlug ganz und gar nicht wie ein Uhrwerk. Merkwürdig: es ging dennoch! Freilich gab es Augenblicke, in denen ich vor Wut schäumte, aber – ich hatte und habe Johannes lieb. Ich habe wohl auch ein paar Eigenschaften von Vater geerbt. Ich fühlte mich wohl in dem geregelten Leben. Am ersten Morgen unseres gemeinsamen Haushaltes streckte ich mich zehn Minuten zu lange in Mamileins Riesenbett. So konnte ich gerade noch rasch in einen Bademantel schlüpfen, mir die Hände waschen und einen Kamm durch die Haare ziehen, ehe ich in die Küche eilte, um das Frühstück zu richten. Ich tat es so, wie ich es gewöhnt war: setzte zwei Tassen und zwei Teller auf den Küchentisch, legte das Brot auf
ein Brettchen, die Butterschale daneben, holte die Sahneflasche, ein Restchen Käse, ein Glas Marmelade – und war fertig. Eine andere Form des Frühstückens kannte ich nicht. Johannes erschien in der Tür. Er sah von mir auf den Tisch, vom Tisch auf mich. „Na, hast du verschlafen?“ „Aber nein, hier bin ich ja. Der Kaffee ist fertig. Bitte!“ Johannes setzte sich, rückte die Sachen auf dem Tisch etwas anders und sah mich prüfend an. „Weil du keine Zeit hattest, dich anzuziehen, meine ich.“ „Du stirbst wohl nicht, wenn du mich im Bademantel siehst!“ Noch verstand ich nicht, worauf er hinauswollte, und schenkte Kaffee ein. Johannes schwieg eine Weile, trank ein paar Schlucke Kaffee und strich sich ein Butterbrot. „Ich möchte gern, daß wir im Speisezimmer frühstücken“, sagte er schließlich. „Und ich würde es nett finden, wenn du angezogen dabeisäßest.“ Lieber, lieber Johannes! Warum halfst du mir nicht, dich besser zu verstehen? Warum halfst du mir nicht auf die Sprünge? Warum hast du nicht auf die Loyalität gepfiffen und das gesagt, was du über Mamilein dachtest? Ich habe mein ganzes Leben in Schlamperei verbracht. Laß mich nun endlich fühlen, wie es ist, wenn man ein anständiges, bürgerliches Leben führt. Ich habe meine Mutter zu allen Tageszeiten in luftigen Negliges herumflattern sehen. Laß mich meine Schwester in einem netten Hauskleid sehen. Du hast es nicht gesagt, Johannes. Du hast immer zu wenig gesagt. Und ich habe dich nicht verstanden. Ich war ein junges, dummes Gänschen – und Mamileins Tochter. Aber das gutbürgerliche Frühstück bekamst du jedenfalls vom nächsten Tag ab, und wäre ich nicht so erzdumm und egozentrisch gewesen, würde ich Tränen in die Augen bekommen haben über dein glückliches Lächeln, als du mich in einem huschen, blauen Hauskleid und mit einer Schürze am Kaffeetisch vorfandest. Ich hätte begreifen sollen, wieviel Dank in deiner Handbewegung lag, als du mir beim Fortgehen schnell und scheu über die Haare strichst. Die ersten Tage hatte ich genug zu tun. Es war lustig, selbst die Verantwortung zu haben: Einkäufe zu machen, das Haus instand zu halten, zu kochen, kurz gesagt: eine richtige Hausfrau zu sein. Und
ich lüge nicht, wenn ich sage, daß Johannes und ich es nett und gemütlich hatten. Wir lebten ruhig, friedlich und regelmäßig. Aber bald arbeitete ich mich ein, gewöhnte mich daran, und – dann war es nicht mehr spannend. Außerdem füllte die Hausarbeit meinen Tag längst nicht aus. Ab und zu kribbelte es mir in den Fingerspitzen, ich war zu allem möglichen aufgelegt, gleichgültig, was es sein mochte – ich wünschte nur, irgend etwas möchte geschehen. Aber es geschah nichts Aufregendes. Einmal rief eine meiner alten Schulkameradinnen an. Sie wollte versuchen, die alte Clique wieder zusammenzutrommeln. Ob ich mittäte? Natürlich sagte ich begeistert zu. Von da ab trafen wir uns einmal wöchentlich. Es war nett, wieder mit den alten Freundinnen zusammen zu sein. Alle hatten viel zu erzählen, von der Schule, von Festen, von Freunden, ich kam mir dagegen als Hausmütterchen recht spießig vor. Ab und zu ging ich ins Kino. Ein paarmal kam eine Freundin zu einer Tasse Tee zu mir – das war alles. Das war eben nicht genug für mich. Der Kontrast zu früher war zu groß. Wohl hatte Mamilein immer Schlamperei und Unregelmäßigkeit mit sich gebracht, aber gleichzeitig auch Leben, Lustigkeit und Überraschung. Das vermißte ich. Johannes dagegen schien sich wohl zu fühlen wie ein Fisch im Wasser. Zu Hause war es für ihn am schönsten. Er liebte seine regelmäßigen Mahlzeiten, seinen guten Lehnstuhl, seine Pfeife und sein Briefmarkenalbum. Ich sah nicht, daß mein guter, prächtiger Bruder drauf und dran war, alt zu werden, ohne jemals jung gewesen zu sein. Egoist, der ich war! Es war die Haushaltsabrechnung, die unseren ersten ernsteren Zusammenstoß verursachte. Ich bekam am Ersten und Fünfzehnten jedes Monats Haushaltsgeld. Außerdem gab mir mein Bruder eine nicht zu knapp bemessene Summe zu meinem persönlichen Gebrauch. Und Johannes bezahlte die Miete, die Stromrechnung, Telefon und Versicherungen. Alles war ausgezeichnet für mich geordnet. Aber am Zwölften des Monats war ich blank. Unbekümmert bat ich Johannes um mehr Geld. „Nanu“, sagte Johannes, „du hast alles aufgebraucht? Hast du Extraausgaben gehabt?“
„Der Himmel weiß, wo das Geld hingekommen ist“, sagte ich. „Jedenfalls ist es weg, und du mußt schon ein bißchen mehr ausspucken.“ Johannes verzog das Gesicht. Schnoddrige Redeweise war ihm zuwider. „Laß mich erst dein Haushaltsbuch sehen, Vivi.“ Ein Haushaltsbuch? Au, das war schlimm! Ich hatte wohl einiges in ein Buch geschmiert, aber es gehörte schon etwas dazu, diese Kritzelei und das System zu verstehen – besonders das System, denn das war äußerst sprunghaft. Johannes studierte meine Notizen mit gerunzelten Brauen. Langsam kroch ein unangenehmes Gefühl in mir hoch. Ich kam mir vor wie ein unartiges kleines Mädchen, das von einem gestrengen und altmodischen Vater zur Rechenschaft gezogen wird. Schließlich wurde ich wütend. „Ich bitte dich, Johannes, vergeude doch nicht die Zeit mit diesem Kram! Willst du oder kannst du mir nicht mehr Geld geben, so kann ich die drei Tage bis zum Fünfzehnten auf Kredit kaufen.“ „Kommt gar nicht in Frage“, sagte Johannes. „Niemals auch nur einen Pfennig Schulden, hörst du, Vivi? Sieh mal her – du sollst schon noch Geld bekommen, aber du mußt lernen, darüber Buch zu führen. Hier hast du die Ausgaben für die erste Woche aufgeschrieben, aber du hast vergessen…“ „Johannes, das halte ich nicht aus“, unterbrach ich ihn. „Ich kann diesen Schulmeisterton nicht ausstehen. Ich bin nicht mehr zehn Jahre! Und du sollst kein Wort weiter von mir über das Geld hören; ich werde schon zurechtkommen!“ „Vivi, es ist doch nicht meinetwegen, daß ich möchte, du sollst richtig anschreiben.“ „Nein, das sagen die Eltern auch, wenn sie ihre Sprößlinge mit etwas Langweiligem plagen. ,Es ist zu deinem eigenen Besten, Liebes’, heißt es nicht so? Das ist lächerlich, Johannes, und du brauchst mir das Dasein wirklich nicht noch langweiliger zu machen, als es ohnedies schon ist.“ Johannes blickte mich lange und ernst an. „Ist dein Dasein langweilig, Vivi?“ „Ja, findest du es vielleicht amüsant? Es passiert ja rein gar nichts. Ab und zu möchte ich beinahe wünschen, Mamilein würde plötzlich mit einer Schar unbekannter Leute auftauchen, und die Küche sähe am Morgen wie ein Schlachtfeld aus. Bloß mal etwas
anderes als die ewige Ordnung hier.“ Johannes stand plötzlich auf, ging zum Fenster, wendete sich um, kam zu mir zurück, sah aus, als ob er etwas sagen wolle, besann sich aber dann anders. Seine Schritte wurden langsamer. Er blieb stehen und zog seine Brieftasche heraus. „Hier, Vivi“, er reichte mir einige Banknoten. „Danke“, sagte ich. Ich hörte, daß meine Stimme unsicher klang. „Du mußt sagen, ob wir die Ausgaben für den Haushalt zu knapp berechnet haben. Ich dachte, es müßte reichen. Gesellig leben wir ja nicht.“ „Nein, weiß Gott! Wenn du nicht zwei Tees für Lilian und mich als Geselligkeit rechnest. Hätten wir nur ab und zu Gäste! Warum bittest du denn niemand zu uns, Johannes?“ Johannes stand da, die Hände in den Hosentaschen. Er hob den Kopf, blickte über mich hinweg, weit weg an mir vorbei. „Wen sollte ich denn einladen?“ „Das ist es ja gerade“, brauste ich auf, „warum vergräbst du dich eigentlich in eine ,splendid isolation’? Hältst du dich für zu gut, um dich unter gewöhnliche Sterbliche zu mischen? Gibt es niemand, der erlesen und ordentlich genug ist für dich? Was für ein Mannsbild bist du eigentlich, Johannes? Wenn man bedenkt – ein Mann, der keine Freunde hat!“ Da blickte mich Johannes an, sein Gesicht war bleich, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug. Seine Stimme war ganz leise, als er antwortete: „Du hast recht, Vivi, ich habe keine Freunde.“ Er ging still zur Tür hinaus. Ich hörte seine Schritte im Vorzimmer, und ich hörte ihn die Tür zu der kleinen weißen Kammer öffnen und wieder schließen. Wie konnte ich nur! Obgleich ich im Augenblick das Ausmaß meiner Roheit nicht begriff, soviel wußte ich immerhin, daß ich etwas schrecklich Verletzendes gesagt hatte. Sechs Jahre vorher hatte Johannes mich verprügelt, ungerechtfertigt. Blitzartig ging es mir auf, daß ich jetzt Schläge verdient hätte. Die von damals hatte ich nur als Vorschuß für etwas bekommen, für das ich viel, viel mehr Prügel verdient hätte. Als wir uns am nächsten Morgen beim Frühstück trafen, ging ich zu ihm und legte meine Arme um seinen Hals. „Verzeihung, Johannes.“ Er strich mir über die Haare, sagte nichts.
Wir aßen und schwiegen.
Eine Freundin, ein Sonntagsessen und ein Geschenk „Nein, aber… Vivi!“ Ich blieb stehen und schaute auf ein großes, braunhaariges junges Mädchen mit einem feinen, ovalen Gesicht, glitzernden grauen Augen und schmalen bogenförmigen Brauen. Die schlanke Figur war in einem molligen Pelzmantel verborgen. Eine Sekunde, dann erkannte ich sie. „Elsa, bist du es wirklich?“ „Menschenskind, Vivi, wie schön, daß ich dich treffe! Ich hatte mir gerade vorgenommen, dich anzurufen. Wie geht es dir? Was treibst du? Hast du es eilig? Komm, trinken wir zusammen einen Kaffee!“ Elsa nahm mich beim Arm und zog mich in die nächste Konditorei. Wir hatten einander viele Jahre nicht gesehen. Genauer gesagt, seit wir in die letzte Klasse der Schule gegangen waren. Damals waren wir ganz große Freundinnen gewesen, hatten nebeneinander auf einer Bank gesessen und unsere tiefsten Geheimnisse einander anvertraut. Dann war Elsa verschwunden. Ihre Eltern waren fortgezogen. Post hatte ich kaum von ihr bekommen. Mädchen von dreizehn Jahren sind im allgemeinen keine besonders eifrigen Briefschreiberinnen. Nur ein paarmal hatte sie geschrieben. Sie lebte in Schweden und war dort in die Ballett- und Theaterschule gegangen. Auch Gesangsunterricht hatte sie genommen. Schauspielerin hatte sie schon werden wollen, als sie noch winzig klein war, und sie schien für diesen Beruf auch sehr begabt und hatte ihr Ziel immer vor Augen. Die Zeit verging. Jede von uns hatte neue Interessen und neue Freunde gewonnen. Ich war ja drei Jahre von daheim fort gewesen und hatte in dieser Zeit den Kontakt mit vielen alten Freundinnen verloren. Ich freute mich so, gerade Elsa wiederzusehen. „Erzähle, Elsa. Wie kommt es, daß du plötzlich hier bist? Wirst du hier bleiben? Und was treibst du? Und…“ „Stopp, das langt vorderhand. Was ich treibe? Ich spiele Theater.
Habe einige kleine Rollen in Schweden und ein paar große Rollen auf Tournee gehabt. Der Theaterdirektor hier in der Stadt hat mich auf einer Tournee gesehen, er kennt Papa und erinnerte sich meiner aus der Zeit, als ich noch klein war. Kurz und gut: Ich komme in diesem Augenblick von ihm… mit diesem…!“ Elsa wedelte mir mit einem zusammengefalteten Papier um die Nase. „Was ist es denn, Elsa?“ „Ein Kontrakt, mein Mädchen. Für ein halbes Jahr! Ich habe einige feine Kritiken von Schweden, verstehst du? Übrigens hat er mich auch geprüft. Und es ist ein wahres Glück, daß gerade du mir in den Weg gelaufen bist. Sonst hätte ich irgendeinen fremden Menschen ansprechen müssen, um meine Freude loszuwerden!“ „Wann fängst du an?“ „In ein paar Wochen soll ich meine erste Rolle bekommen. Wenn ich in dieser Spielzeit gefalle, werde ich vielleicht fest engagiert für die nächste. Ach, du ahnst nicht, wie sehr ich mich anstrengen werde!“ Elsas Augen glänzten, und ihr Lächeln war ebenso spielerisch munter wie früher. „Wo sind deine Eltern, Elsa?“ „In England. Papa hat dort Wurzeln geschlagen. Und Mama hat sich auch gut eingelebt. Ich habe sie jeden Sommer besucht. Aber sonst bin ich in Stockholm geblieben, rundherum auf Tournee gefahren und dergleichen. Und jetzt wohne ich bei Tante Charlotte am Birkenweg. Du erinnerst dich doch noch an Tante Charlotte?“ Ich nickte. Gewiß erinnerte ich mich an Tante Charlotte, dieses Ideal einer Tante, die uns immer Geld für Kekse und Bonbons gab, die uns die Beerenbüsche plündern ließ, die unsere Sünden den strengen Eltern gegenüber deckte, das heißt Elsas Eltern gegenüber, die übrigens keine Spur streng, sondern ganz normale Eltern waren. Bei Mamilein war es nicht nötig, etwas zu verdecken. Mamilein schalt nie und strafte nie. Soweit Moralpredigten notwendig waren, hielt Johannes sie mir. Er verpaßte mir in besonders ernsten Fällen sogar den notwendigen Hausarrest. Das war übrigens für ihn anstrengender als für mich: Ich hatte immer ein spannendes Buch unter der Matratze und machte es mir in meinem Arrest behaglich; Johannes aber mußte daheim bleiben und aufpassen, daß Mamilein mich nicht herausließ. „Erzähle jetzt von dir selbst, Vivi“, ermunterte Elsa. „Was treibst
du, und was hast du in all den Jahren getan?“ Da war nicht viel zu erzählen. Internat, Haushaltsposten in England, Mamileins Hochzeit – und nun Hausarbeit in meinem und Johannes’ Heim. Elsa und ich plauderten, bis wir trocken im Hals waren, und schließlich mußte Elsa gehen. „Ich rufe dich an, Vivi“, versprach sie, „du mußt mich besuchen. Wir müssen eine Brücke über diese Jahre schlagen und einander wiederfinden, meinst du nicht auch? Und du mußt mir noch viel, viel mehr von dir selber erzählen.“ Ich mußte lächeln. „Von mir gibt es nichts zu erzählen, Elsa.“ Elsa sah mich forschend an. „Aber ja, das gibt es sicher. Und ich werde es schon aus dir herausholen, Mädchen. Verlaß dich drauf!“ Bei unserem Plaudern hatte ich die Zeit vergessen. Es reichte gerade noch, daß ich das Mittagessen für meinen pünktlichen Bruder zustande brachte. Das fiel auch danach aus, aber Johannes ist nicht wählerisch. Ich hatte das Gefühl, was ich ihm vorsetzte, wäre ganz gleich, Hauptsache, es stände mit dem Glockenschlag auf einem ordentlich gedeckten Tisch. „Ich soll dich von Mutter grüßen“, sagte Johannes beim Mittagstisch. „Sie hat im Büro angerufen, denn sie hatte dich daheim nicht erreicht.“ Wie merkwürdig, wenn Johannes „Mutter“ sagte! „Nein, ich war am Vormittag aus. Wie geht es Mamilein denn?“ „Oh, wie es scheint, ganz großartig. Sie hat uns für Sonntag mittag eingeladen.“ „Wie nett“, rief ich aus und meinte es auch. Ich hatte Mamilein lieb und nahm sie, wie sie war. Und ich war glücklich über jede Unterbrechung unseres einförmigen Alltags. „Was hast du denn heute getan, Vivi?“ Ich erzählte von Elsa und merkte selbst, wie begeistert meine Stimme klang. „Ach so“, sagte Johannes. „Ich wußte nicht, daß ihr so gute Freundinnen seid. Übrigens erinnere ich mich an die Kleine mit dem braunen Haar. Sie holte dich doch jeden Morgen zur Schule ab.“ „Wir waren mächtig gute Freundinnen“, versicherte ich. „Aber ihr habt euch doch viele Jahre nicht gesehen?“ „Ja, ist das nicht sonderbar? Und doch fanden wir uns gleich wieder auf derselben Wellenlänge. So muß es eben bei wahrer
Freundschaft sein, siehst du. Wir konnten uns vorher ja auch gar nicht sehen. Elsa war in Schweden und ich in England, du selbst hast mich doch dahin geschickt.“ „Ja“, sagte Johannes. Er lächelte mir zu. Es war so schrecklich selten, daß Johannes lächelte. Wenn es einmal geschah, wurde mir ganz warm ums Herz. „Das war wirklich nett für dich, Vivi. Du kannst Elsa ja hierher einladen, wenn du willst.“ „Ja, natürlich“, sagte ich verwundert. Hielt Johannes es denn für notwendig, etwas so Selbstverständliches auszusprechen? War es nicht mein Heim genausogut wie seines? Oder glaubte Johannes wirklich, daß ich noch ein kleines Mädchen wäre, auf das man aufpassen und das für alles erst die Erlaubnis einholen müßte? Wenn er diese Einstellung hatte, würde ich sie ihm schon austreiben, je eher, desto besser! Es war Spätherbst und schon recht kalt. Der Himmel war von einem kühlen Blau. Die Sonne schien angestrengt blaßgelb, aber immerhin: sie war da und umspielte die letzten goldbraunen Blätter. Johannes hat nie ein Auto gehabt. „Was sollte ich damit?“ hatte er geantwortet, als ich einmal fragte. „Zum Büro gehe ich immer zu Fuß, und wenn wir mal ausgehen sollten, können wir ein Taxi nehmen, das wird längst nicht so teuer wie Garage, Benzin, Wartungsdienst und all das andere.“ Wir fuhren mit dem Bus bis zum Stadtrand, von dort gingen wir zu Fuß eine dreiviertel Stunde. „So kommen wir zu einem schönen Sonntagsspaziergang“, sagte mein vernünftiger Bruder. Während wir loswanderten, mußte ich ein bißchen so vor mich hin lächeln. Ich dachte daran, daß Johannes sich zum erstenmal um mein Kleid gekümmert hatte. Ich hatte das Burgunderrote angezogen, das mir von allen am besten steht. Johannes betrachtete es mit kritischen Augen. „Hast du dies nicht von Mamilein bekommen?“ „Gewiß“, sagte ich. „Ich habe bloß am Hals und an den Ärmeln etwas geändert. Ist es nicht hübsch?“ Johannes schwieg einen Augenblick. Dann kam es: „Mir gefällst du am allerbesten in dem neuen Schottischen, Vivi.“ Lieber Johannes, ich verstand es. Zum erstenmal funktionierte mein Gehirn einigermaßen. Ich lächelte. „Ich kann ja das Schottische anziehen, Johannes, ich mag es selber auch gern.“
Das schottisch gemusterte Kleid hatte ich mir vor ein paar Wochen ausgesucht, und Johannes hatte es mir geschenkt. Ich zog mich um und wollte die grüne Kette um den Hals nehmen, aber dann legte ich sie beiseite. Die Kette hatte ich von Mamilein, und ihr hatte sie vor sehr vielen Jahren ein Mann geschenkt, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnerte. Sie hatte diese Kette eines Tages in Ärger und Zorn mir zugeworfen und gesagt: „Die kannst du haben, Vivi.“ Und der Mann hatte sich bei uns nicht mehr blicken lassen. Als ich noch klein war, dachte ich nie über so etwas nach und hätte natürlich auch keinen Zusammenhang darin gesehen. Eine hübsche Halskette war eben eine hübsche Halskette, das genügte mir. Aber heute legte ich sie nicht um. Statt dessen befestigte ich die kleine Goldnadel mit dem Kranz aus winzig kleinen Zuchtperlen, die mir Johannes zur Konfirmation geschenkt hatte, am Hals. Es war ein sonderbares Gefühl, zu einem feierlichen Sonntagsfamilienessen zu Mamilein zu gehen. Ein Gefühl, das ich gar nicht beschreiben kann. Ich hatte Herzklopfen, als wir vor der schweren Eichentür zu Alfreds und Mamileins Villa standen. Unwillkürlich steckte ich meine Hand in Johannes’ große Faust. Er antwortete mit einem raschen Druck und läutete. Stubenmädchen in Schwarz-Weiß, Halle in weißem Empire, breite Wendeltreppe mit einem weichen dunkelroten Teppich. Eine Tür ging auf, und Alfred erschien. Groß und breit, lächelnd und jovial. „Nett, euch zu sehen, Kinder. Herzlich willkommen. Ulla kommt gleich, sie ist wohl…“ „Ach, seid ihr schon da!“ tönte Mamileins Stimme von oben. „Ich komme in zwei Minuten.“ Wir blickten hinauf. Oben auf der Treppe stand unser Mamilein mit roten Backen und blonden Locken, in einem Traum von apfelgrüner Seide. Der raffinierteste Filmregisseur hätte es nicht schmeichelhafter arrangieren können. Nie hatte ich sie so hübsch gesehen. Und die Zärtlichkeit für meine kleine Mutter stieg in mir hoch, diese unerklärliche Zärtlichkeit, die alles verzeiht. Ich rannte die Treppe hinauf und hörte, wie sich unten eine Tür hinter Alfred und Johannes schloß. „Wie nett, dich wiederzusehen, Mamilein. Wie… hübsch du
bist!“ „Ja, nicht wahr? Das sagt Alfred auch. Ich freue mich, daß du da bist, meine Vivi. Komm und erzähle mir, wie es euch geht. Bis ich mich fertig gemacht habe, können wir noch ein bißchen unter uns sein. Kannst du alles schaffen? Habt ihr oft Gäste?“ Sie umarmte mich rasch und zog mich in ein riesengroßes Schlafzimmer hinein, es blinkte von polierter Ulme, Spiegeln und duftigen Vorhängen. Mamilein plauderte, während sie das Apfelgrüne über das Bett warf und mir die Gelegenheit gab, ihre Unterwäsche zu bewundern. Sie stand da wie eine zarte Puppe in handbestickter Seide und hauchdünnen Spitzen. O ja, man sah schon, daß die Hochzeitsreise sie nach Paris geführt hatte. Dann holte sie ein Kleid aus der überquellenden Schrankwand, bürstete die Haare mit einer Schildpatt-Bürste, steckte zwei Perlen an die Ohrläppchen und schob drei Ringe auf die sorgfältig manikürten Finger. Dann schlüpfte sie in ein Paar italienische Pumps und war schließlich gerüstet, um ihren Sohn und ihre Tochter zu empfangen. Sie plauderte, lächelte und war glücklich. Ich fühlte mich linkisch, hausbacken und ungeschickt in meiner schottischen Wolle. Ich trat so vorsichtig auf den weichen Treppenläufer, als bäten meine plumpen Schuhe mit den flachen Absätzen um Entschuldigung. Wir fanden Alfred und Johannes bei einem Apéritif. Mamilein nahm das halbgeleerte Glas ihres Mannes und trank es aus. Sie bekam von Johannes einen Kuß auf die Wange, und dann meldete die Schwarz-Weiße, daß serviert sei. Wenn ich an diesen Mittag zurückdenke, weiß ich tatsächlich nicht, wovon wir redeten. Ich weiß bloß, daß mein Ohr etwas auffing, was mir nicht gefiel. Mamilein plauschte und war süß. Alfred strahlte vor Verliebtheit. Aber – aber – da war etwas, das knirschte. Es dauerte ein wenig, ehe ich erfaßte, was es war. Aber schließlich kam es mir, zum Bewußtsein. Mamilein als die Gnädige. Mamilein, die mit der Würde der Frau Direktor das Hausmädchen dirigierte. Mamilein als Gastgeberin an einer Tafel voll Silber und Meißner Porzellan. Dies war nicht Mamilein. Unser Mamilein hatte ständig an Geldmangel gelitten, hatte unregelmäßige Mahlzeiten daheim auf dem Küchentisch gegessen. Sie hatte unzählige Freunde gehabt, Geschenke gekriegt und war unpraktisch, leichtsinnig und verantwortungslos gewesen. Aber sie war trotz allem eine Persönlichkeit gewesen – damals. Sie war sie selbst gewesen, ihr
eigenes, unmögliches, wuscheliges und impulsives Selbst. Dies hier war nicht unser Mamilein – diese elegante Dame in einem Pariser Kleid, die sich mit Besitzerstolz in Alfred Bergums großen, schönen Zimmern bewegte. Das war nicht unser hoffnungslos inkonsequentes, heiteres Mamilein, das uns Bilder von seiner Reise nach Paris zeigte und mit vielen klugen Worten über Gemälde im Louvre und Kunstschätze in Versailles redete. Mamilein und Gemälde! Sie verstand davon soviel wie ich von höherer Mathematik. Aber Alfred saß ihr gegenüber und verschlang sie mit Haut und Haar, verschlang jedes Wort, das sie sprach, verschlang ihr Mienenspiel und jede Bewegung ihrer kleinen ringgeschmückten Hände. Alfred war der einzige unter uns, der den Mißklang nicht hörte, der einzige, der nicht ahnte, daß Mamilein Komödie spielte. Für ihn, uns und sich selbst. Ich fühlte mich fremd und hilflos und war froh, Johannes an meiner Seite zu haben, und erleichtert, als Johannes schließlich zum Aufbruch mahnen konnte. Alfred und Mamilein begleiteten uns in die Garderobe. Alfred reichte mir meinen Mantel. Er hing bescheiden neben einem glänzenden dunkelbraunen Nerz. „Was für einen entzückenden Pelz du bekommen hast, Mama“, sagte ich. Nie vorher hatte ich sie so genannt. „Ja, nicht wahr?“ Sie musterte mich, als ich so dastand, in meinem alten Wintermantel und dem karierten Schal, der in einer großen Schleife unter dem Kragen gebunden war. „Du könntest eigentlich meinen alten Pelz bekommen, Vivi. Auf jeden Fall kannst du noch eine hübsche Jacke daraus arbeiten lassen.“ „Es ist ja noch nicht Winter“, sagte Johannes, verabschiedete sich und dankte für die Einladung. Alfred hatte einen Arm um Mamileins Schulter gelegt. Glücklich und stolz stand er da, als er uns bat, bald wiederzukommen. Draußen steckte ich meinen Arm unter den von Johannes, und er hielt ihn fest. Wir schwiegen lange. Wie auf Verabredung gingen wir zu Fuß zur Stadt zurück. Wir brauchten frische Luft. Das Schweigen zwischen uns war gut und voller Verstehen. Nie hatte ich das Zusammengehörigkeitsgefühl mit meinem Bruder so stark
empfunden wie jetzt. Aber die Eindrücke von diesem Nachmittag arbeiteten in meinem Kopf fort. Neue und verwirrende Gedanken wollten eingeordnet und ausgesprochen werden. Der erste Augenblick war so gemütlich gewesen. Daß Mamilein um drei Uhr nachmittags im Morgenrock aufgetreten war, hatte ich keinen Augenblick als merkwürdig empfunden. Daran war ich gewöhnt. Aber das andere – all das andere… Schließlich mußte ich reden. „Johannes, findest du nicht auch, daß Mama anders geworden ist?“ „Doch, ja“, sagte Johannes. „Du.“ Ich blieb stehen. Plötzlich wußte ich, was mich abgestoßen hatte! „Du, Johannes, ist das nicht sehr sonderbar, daß ein Mann einer Frau Pelze und Brillanten und ein wunderbares Haus gibt, ohne daß sie einen Gegenwert bietet? Wir wissen doch beide, daß sie nie einen Knopf für ihn festnähen oder eine Tasse Kaffee für ihn machen würde. Sie bezahlt für diesen Reichtum bloß… mit… bloß mit ihrem Charme – bloß mit ihrem weiblichen Charme.“ „Du meinst ihre geschlechtlichen Reize?“ sagte Johannes, und seine Stimme war hart wie Glas. Ich sah ihn erschreckt an. Erst später verstand ich, daß jahrelange Bitterkeit, jahrelange hoffnungslose Versuche, Mamilein zu einem anderen Lebenswandel zu bringen, jahrelang aufgespeicherter Widerwille gegen Mamileins Lebensart in diesen wenigen Worten zum Ausbruch kamen. Wir schwiegen wieder. Ich wußte, daß Johannes nichts weiter sagen würde. Seine ritterliche Nachsicht Mamilein gegenüber war grenzenlos. Zum erstenmal war ein Sprung in den Panzer gekommen, mit dem er sich jahrelang umgeben hatte. Ich würde bestimmt nicht versuchen, ihn von dieser Haltung abzubringen. Schweigend ging ich an seiner Seite und hatte ihn gern. Zu Hause zogen wir stumm unsere Mäntel aus. Dann wandte Johannes sich zu mir um. „Weißt du, jetzt hätte ich eigentlich Lust auf eine Tasse starken Kaffee.“ Ach, der gute brave Johannes! Ein anderes Mannsbild hätte sich einen dreifachen Whisky gewünscht. Ich deckte den Kaffeetisch besonders hübsch, wagte sogar, eine Likörflasche daraufzustellen. Und Johannes protestierte nicht im geringsten, daß ich die Gläser vollschenkte und meines erhob:
„Prost, Johannes!“ Er lächelte. Sein Lächeln hatte Wärme und Charme. „Zum Wohl, Vivi! Es ist schön, daheim zu sein!“ Ehe Johannes am nächsten Morgen fortging, bat er mich kurz und sachlich, um halb eins ins Büro zu kommen. Er wollte gern in der Mittagspause eine Besorgung machen und mich dabei haben. „Ist es etwas Unangenehmes oder etwas Nettes?“ fragte ich. „Wollen hoffen, daß du es nett findest. Also um halb eins.“ Ich war pünktlich und platzte fast vor Neugier. Auch heute schien die Sonne. Ich fühlte mich, ehrlich gesagt, recht schäbig in meinem Wollmantel und wünschte, es wäre warm genug für das Kostüm gewesen. Aber mit der Wärme war für dieses Jahr wohl Schluß. Johannes sagte nichts, aber er hatte frohe Augen. Vor dem größten Pelzgeschäft der Stadt blieb er stehen. „Du sollst einen Pelzmantel haben, Vivi. Ich kann dir zwar keinen Nerz kaufen, aber etwas Solides und Warmes möchte ich dir schenken.“ Noch ehe ich die Sprache wiedergefunden hatte, standen wir in dem Geschäft. Und ehe ich mich’s versah, hatte Johannes mir meinen Mantel abgenommen. Die Verkäuferin fragte, an welche Farbe ich gedacht habe und ob ich eine bestimmte Pelzart wünsche. Ich hatte überhaupt noch nichts gedacht und war in diesem Augenblick vollkommen außerstande, einen Gedanken zu formulieren. Johannes sprach für mich. Und so stand ich da, angetan mit etwas Weichem, mollig Grauem… Alle Nerze der Welt konnten nicht konkurrieren mit diesem weichen Grauen. Fohlen, Lamm, Nutria, Bisam wurden mir anprobiert. Von allen war ich begeistert. „Dieser hier kleidet die gnädige Frau wunderbar“, sagte die Verkäuferin. „Ich fand, der vorige stand meiner Schwester besser“, meinte Johannes. Die Verkäuferin stand hinter mir. Ich sah ihr Gesicht im Spiegel. Es war mir, als spielte ein winziges Zucken um ihre Mundwinkel. Endlich einigten wir uns. Ein schlichter, hübscher Nutriamantel. Die Verkäuferin versicherte, er würde fünfzehn Jahre halten. Johannes bezahlte mit einem Bündel Hundertkronenscheinen. Ach, Johannes blieb sich doch immer gleich! Jeder andere Mann würde sein Scheckbuch und den Kugelschreiber herausgeholt haben. Die Knöpfe mußten versetzt und der Mantel sollte am nächsten
Tag geschickt werden. „Wie ist der Name?“ fragte die Verkäuferin. „Kruse“, sagte Johannes. „Fenger“, sagte ich. Wir sagten es gleichzeitig. Die Verkäuferin beugte sich über den Kassenblock, und nur weil ich sie direkt anstarrte, entdeckte ich wieder das Vibrieren im Mundwinkel. „Johannes“, sagte ich, als wir wieder auf der Straße standen, „glaubst du, die Verkäuferin dachte, daß wir…“ „Es schien so“, sagte Johannes. „Vielleicht glaubt sie, daß wir verlobt sind“, versuchte ich zu trösten. „Nun ja. Vielleicht. Allerhand, daß sie mir so eine hübsche kleine Braut zutraut!“ Du liebe Zeit! Der Pelzmantel hatte mir fast schon den Atem geraubt. Aber von Johannes ein Kompliment zu bekommen, ein richtiges, charmantes Kompliment, das gab mir wahrhaftig den Rest. Also mußte ich fast ohne Atem zurechtkommen, als ich nach Hause rannte, um ein großes Kreuz in den Kalender zu malen!
Theaterluft Die Dachkammer in Tante Charlottes kleinem weißen Haus am Birkenweg war früher voll Koffer, alter Kleider und Plunder gewesen. Wie oft waren wir als Kinder hineingeschlüpft, wenn wir an Regentagen dort Verstecken spielten! Jetzt war sie nicht wiederzuerkennen. Helle Tapeten, wenige, aber ausgesucht schöne Möbel, ein paar gute Stiche und ein Aquarell an den Wänden. Ein niedriges Bücherregal, auf dem Fußboden ein schöner Teppich, eine bequeme Couch, die im Handumdrehen in ein Bett verwandelt werden konnte. Und selbstverständlich ein paar weiche Sessel, ein Schrank, ein Schreibtisch, ein niedriger Teetisch, Lampen und Blumen. Elsa braucht nur eine Lampe zehn Zentimeter weiterzurücken oder Blumen in ein Glas zu stellen, schon hat das Zimmer ihr Gepräge und ist behaglicher als früher. Dieser Raum, der ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet war, war so urgemütlich, daß alle professionellen Innenarchitekten sich selbst einpacken könnten – in ihre eigenen Entwürfe! Tee dampfte in den blauen Keramiktassen. „Für feines Porzellan langt das Geld nicht – da mag ich schon lieber Keramik“, erklärte Elsa. Der Kessel surrte leise auf dem elektrischen Ofen, und wir plauderten uns den Mund fusselig. Wir hatten uns viel zu erzählen und so viel zu fragen. Ich wurde nicht müde, Elsas amüsante Theatergeschichten anzuhören, von ihren Freunden und Kollegen, von den Rollen, die sie gespielt hatte oder die sie gern spielen wollte. Und Elsa fragte und bohrte. Am Anfang antwortete ich ausweichend, denn es war ja nicht immer leicht, von unserem „Daheim“ zu erzählen. Aber Elsa ging direkt zur Sache. Mit ihrem guten Lächeln und der vernünftigen, klaren Stimme sagte sie: „Du, Vivi, weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du hast eine Aussprache nötig. Als ich klein war, habe ich deine Geheimnisse immer für mich behalten, und das werde ich jetzt wohl auch können. Ich möchte ja nicht indiskret sein. Aber mir scheint, du hast verschiedenen Schutt in dir aufgespeichert, den du einmal gründlich ausräumen mußt. Und einen besseren Mülleimer als mich kannst du kaum finden.“ Ich lachte laut. Aber gleich darauf war ich wieder ernst. „Warum glaubst du, daß ich eine Aussprache nötig habe, Elsa?“
„Das braucht doch jeder Mensch ab und zu. Und du bist einsam, Vivi. Schauderhaft einsam. Du bist es immer gewesen.“ „War ich das?“ „Ja. Du hattest Freundinnen genug, aber ohne rechte Vertraulichkeit zu einer von ihnen. Du hast nie geredet, weil du so viel zu verschweigen hattest. Stimmt es?“ „Ja, Elsa.“ „Und jetzt, wo ich dich nach all diesen Jahren wieder getroffen habe, hatte ich sofort den gleichen Eindruck tiefer Einsamkeit von dir. Du hast ja nur einen Menschen, mit dem du reden kannst, deinen Bruder. Aber wenn ich mich recht erinnere, lädt er nicht gerade zur Vertraulichkeit ein. Ist er noch immer so vortrefflich und pflichtgetreu?“ „Ja, das kannst du glauben! Ich habe nie im Leben einen pflichtgetreueren Menschen getroffen.“ Elsa nickte. „Er hat viel für dich getan, Vivi. Sei froh, daß er pflichtgetreu ist.“ „Er ist auch herzensgut zu mir. Aber er ist so, so…“, ich suchte nach Worten. Elsa half. „Phantasielos? Lebt er vielleicht gar zu sehr nach der Uhr?“ „Ja, genau das.“ „Ja, aber Vivi, verstehst du nicht, das ist eine ganz natürliche Reaktion auf… auf…“, jetzt war es Elsa, die stammelte. „Worauf, Elsa?“ Ich hörte selbst, daß mein Ton herausfordernd war. Elsa sah mich kurz an und lächelte. „Darf ich so reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, Vivi?“ „Ja“, flüsterte ich. Aber dann fügte ich hinzu – beinahe flehend: „Aber sage nichts Häßliches über Mamilein.“ Elsa strich mir über die Haare. „Meine kleine Vivi. Damit hast du es selbst schon ausgesprochen, und ich brauche nichts mehr zu sagen. Du hast eines mit deinem Bruder gemeinsam, eine enorme Loyalität. Nun, Vivi, ich bin froh, daß deine Mutter wieder verheiratet ist und einen guten Mann hat.“ „Ich bin auch froh“, sagte ich. Elsa stand auf und goß Tee ein. Und ich saß da mit dem bedrückenden Gefühl, daß ich trotz allem Mamilein verraten hatte – und daß unsere Bemühungen doch nicht viel genützt hatten. All das, was Johannes und ich viele Jahre hindurch getan hatten, um zu
verbergen und zu bemänteln. Mamilein war zu gut bekannt, alle wußten Bescheid über sie. Die Leute schüttelten ihre Köpfe und lächelten gutmütig über sie - bestenfalls. Es waren wohl auch einige, besonders Frauen, deren Kopfschütteln genau das Gegenteil von gutmütig war. Ich schnitt ein anderes Thema an. „Du, Elsa, weißt du, was ich wünschte? Daß ich einen Beruf hätte, eine Arbeit, bei der ich ein wenig verdienen könnte und durch die ich meine leeren Stunden besser ausnützen könnte. Das bißchen Haushaltführen für zwei Personen füllt mich ja doch nicht aus.“ Elsa nickte. „Das verstehe ich gut. Vielleicht am besten eine Arbeit, die dich mit anderen Menschen zusammenbrächte und damit etwas Abwechslung in deinen Alltag, nicht?“ „Ja, genau das.“ Elsa sah mich abschätzend an. „Du bist hübsch“, sagte sie plötzlich. „Was… was sagst du da?“ „Hübsch, sagte ich. Du bist wirklich hübsch, Vivi. Ich denke darüber nach“, Elsa sah mich wieder an, „ob ich dir eine Beschäftigung vorschlagen kann.“ „Vielleicht als Mannequin?“ Ich sagte es selbstverständlich ironisch. „Nicht gerade das, nein. Hör mal zu, würde dein braver Bruder dich wohl einige Stunden am Tag beurlauben?“ „Gott bewahre! Mein Heim ist doch schließlich kein Gefängnis. Und wenn wir um sechs Kaffee getrunken haben, habe ich für den Rest des Tages nichts mehr zu tun. Wir essen ja so spät zu Mittag, daß wir kein Abendessen brauchen. Was ich also eigentlich haben möchte, wäre eine Abendbeschäftigung. Ihr habt wohl keine Verwendung für ein Konfektfräulein in eurem Theater? Du weißt, so ein blondlockiges Ding – die blonden Locken sind schon vorhanden – in einer kessen Uniform, so ein Mädchen, das von den älteren Jahrgängen hier und da ein Kläpschen kriegt, besonders da…“ „Nein“, sagte Elsa. „Aber ich denke an das Lustspiel, das wir jetzt proben, mit meiner Wenigkeit in der Hauptrolle. Darin werden viele Statisten gebraucht. Keinen Muckser sagen, weißt du, bloß auf der Bühne sein, kommen und gehen, als Volksmassen und so weiter, und dabei einige Kronen am Abend verdienen. Würdest du das scheußlich finden?“ „Bist du verrückt? Begeistert würde ich sein! Du redest von Menschen treffen – das würde ich dabei haben und ringsherum
Leben, Spannung, Licht und Farben – und…“ „Na, na“, beruhigte Elsa, „male es nur nicht allzu himmelblau aus, Mädchen! Theaterleben ist eine größere Strapaze, als du ahnst. Aber wenn du willst, kannst du sicher einen Statistenjob bekommen. Für dieses Stück wenigstens.“ „Ja“, sagte ich, aber da fiel mir plötzlich etwas ein. „Nein, es geht wohl doch nicht, wegen der Proben. Ihr probt doch wohl den ganzen Vormittag?“ „Nein, nicht mit den Statisten. Die sind bloß bei den letzten Proben dabei, und die haben wir am Abend nach der Vorstellung. Beinahe alle Statisten haben tagsüber eine Arbeit und nehmen diese Beschäftigung im Theater nur als Extraverdienst an.“ „Ja, dann!“ sagte ich erleichtert. Mein Herz schlug höher bei der Aussicht, eine Arbeit zu bekommen, neue Menschen kennenzulernen, vielleicht lustige Kostüme zu tragen, Theaterluft, Schminkeduft und Kulissenstaub zu atmen. „Also, wenn du wirklich willst“, sagte Elsa, „dann komm morgen gegen halb elf ins Theater. Die Probe beginnt um elf. Da wollen wir sehen, was wir mit dem Regisseur in der halben Stunde ausmachen können.“ Am nächsten Tag um elf Uhr hatte ich mich verpflichtet, als Statistin in dem Lustspiel „Zwei in einem Kutter“ aufzutreten, solange es auf dem Programm stand. Für zehn Kronen pro Abend. Ich sollte im ersten Akt ein Gast in einer Hotelhalle sein, im zweiten Akt nichts und im dritten Akt ein junges Mädchen am Badestrand. Für Schuhe und Strümpfe mußte ich selbst sorgen, alles andere würde ich vom Theater bekommen. Ich war glücklich und schwebte heim in meinem Nutriamantel. Vorderhand erzählte ich Johannes nichts. Mir schien es besser, vorläufig zu schweigen. Sollte es zu einer Explosion kommen, dann lieber so spät wie nur möglich. Ich sollte telefonisch Bescheid erhalten, wann die Proben mit den Statisten beginnen würden. In der Zwischenzeit übte ich mich darin, Theaterschminke aufzulegen. Elsa ließ mich das Stück lesen, damit ich ungefähr wußte, was ich zu tun hatte. Und dann versuchte ich, leicht und beschwingt gehen zu lernen. Im ersten Teil sollte „ein Teil der Gäste“ in der Halle eines eleganten Sommerhotels flanieren. Endlich wurde eines Tages vom Theater angerufen. Alles war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hätte
nie gedacht, daß eine Theaterbühne hinter den Kulissen so stimmungslos sein könnte. Graue Wände aus Rupfen, aufgestapelte staubige Möbel und hastende Menschen in Arbeitskitteln. Und die Bühne selbst! Ich hatte nie geahnt, daß sie so schräg war. Anfangs war ich geradezu in Panik. Ich dachte, ich würde jeden Augenblick hinunter ins Orchester schlittern. Der Zuschauerraum war von der Bühne aus gesehen ein großes, schwarzes, gähnendes, leeres Loch! Nein – ganz leer war er nun auch wieder nicht. In einer der ersten Reihen saß der Regisseur und rief seine Anweisungen, brach das Spiel ab, schalt den Beleuchter oder einen Schauspieler und war im nächsten Augenblick wieder sanft. Ein paar Minuten lang herrschte oft ein furchtbares Durcheinander. Aber die geübten Augen und Hände des Regisseurs brachten erstaunlich bald Ordnung und System in das Ganze. Im ersten Akt arbeiteten zwölf bis vierzehn Statisten. Soweit ich begriff, waren die Hälfte davon Anfänger, die anderen hatten schon Übung in diesem Beruf. Die alten und trainierten Statisten bekamen je einen Anfänger als Partner. Wenn der Vorhang zum ersten Akt aufging, sollten wir in der schicken Hotelhalle stehen, einige bei der Bar, einige beim Portier, einige sollten mit Zeitungen und Getränken dasitzen, es sollte das Bild eines mondänen Sommerhotels entstehen. „Torsten“, rief der Regisseur, „nehmen Sie sich der kleinen Blonden da an, wie heißt sie denn schnell? – richtig, Fenger. Fräulein Fenger, Sie und Torsten Holm stehen rechts von der Tür im Hintergrund. Mit Gläsern in den Händen. Bißchen Leben, Torsten, eine Andeutung von Flirt, aber diskret, so daß es nicht die Aufmerksamkeit vom Spiel ablenkt. Verstanden?“ „Okay“, sagte der Mann, der Torsten hieß. „Hierher“, sagte er, sich mir zuwendend. „Wie heißt du?“ „Vivi Fenger“, sagte ich, außerstande, mehr zu sagen. „Lächle süß, Vivi, scher dich den Teufel drum, was sonst auf der Szene vor sich geht, vorläufig jedenfalls. Konzentriere dich auf meine Unwiderstehlichkeit.“ Ja, Torsten Holm war hervorragend trainiert, das war leicht zu merken. Die Statisten wurden plaziert und bekamen Anweisungen. Nein, daß ein Theater so unglaublich alltäglich wirken konnte! Da gingen wir und standen und setzten uns, ohne Kostüme, ohne Requisiten.
Die Gläser, die wir in den Händen halten sollten, wurden nur durch Handbewegungen markiert. Dann begann die erste Szene. In dem Augenblick, als „Vorhang auf“ markiert wurde, bekam Torstens Gesicht einen lebendigen, lächelnden Ausdruck. Er beugte sich zu mir und flüsterte: „Magst du marinierten Hering? Ich mag ihn gern, aber nicht mit zuviel Zwiebel. Aber es soll reichlich Pfeffer daran sein. Prost, Vivi!“ Er tat, als ob er sein Glas zum Mund führte, und unwillkürlich äffte ich ihn nach. „Schürfwunde an den Fersen ist das Scheußlichste, das ich kenne“, fuhr Torsten fort und sah mir immer noch lächelnd ins Gesicht. „Aber ein Filzring hilft. Denke daran: kein Pflaster, das macht es schlimmer. Nur ein gewöhnlicher Hühneraugenring.“ „Was – was ist der Sinn von dem allen?“ flüsterte ich. „Von was? Ach, von meiner geistreichen Konversation? Himmel, irgend etwas muß ich ja sagen, weißt du. Du mußt mir antworten. Ich kann hier nicht stehen und einen flüsternden Monolog halten.“ „Ich mag marinierte Heringe gern und verabscheue Schürfwunden“, antwortete ich und kam mir reif für eine Irrenanstalt vor. Dann begann das Spiel vorn an der Bühne. „Schluß mit unserem geistvollen Gespräch“, flüsterte Torsten. „Jetzt kommt Elsa gleich die Treppe herunter, und da sollen wir sie bewundernd anstarren. Was würden die Autoren wohl ohne dekorative Treppen tun? Es ist die einzig wirkungsvolle Art, die Primadonna auf die Bühne zu bringen.“ Gleichzeitig hörte ich ein unterdrücktes „Nein, zum Teufel“ hinter den Kulissen. Ich schaute vorsichtig hinaus. Da stand Elsa am Fuß einer Leiter und betrachtete ärgerlich eine Laufmasche in ihrer Strumpfhose. Aber im nächsten Augenblick kletterte sie behende die Leiter hinauf, und kurz darauf kam sie oben auf der dekorativen Treppe zum Vorschein. Niemand konnte ihr ansehen, daß sie gerade wie ein Affe geklettert war. Dann wurde das Spiel abgebrochen. Der Regisseur gab einige Anweisungen, und uns wurde die nächste Szene erklärt, wie wir uns nach und nach unbemerkt zurückziehen sollten, so daß Elsa und der Held die Bühne für sich allein hatten. Das war mein wertvoller künstlerischer Einsatz im ersten Bild des ersten Aktes. Im zweiten Bild und bei der gleichen Dekoration sollte ich ein elegantes Abendkleid tragen und mit Torsten hinter
einer großen Glaswand tanzen, zu einer Musik, die das Publikum fast nur ahnen konnte, denn inzwischen sollte ja das Spiel vor der Glaswand seinen Fortgang nehmen. Nun gut, wir tanzten. Ich merkte gleich, daß dieser Teil der Arbeit der leichteste und lustigste sein würde. Allerdings war es sehr eng, und Kulissenstaub umwirbelte uns. Und wenn wir mal aus dem Gesichtsfeld des Publikums gerieten, um bald darauf wieder aufzutauchen, mußten wir uns um die Leiter winden und um einen Haufen zusammengeklappter Strandstühle, die im nächsten Akt gebraucht wurden. Dann kam der zweite Akt ohne uns Statisten und im dritten Akt ein Badestrand. Der Regisseur saß da, die Nase im Manuskript vergraben. Plötzlich schaute er auf. „Laßt mich sehen, wer kann das machen…“, seine Augen glitten über die Reihe der Statisten. Ich hatte schon herausbekommen, daß ich die kleinste und dünnste und wahrscheinlich auch die jüngste von allen war. „Du, die Kleine da – Fenger, nimm den Ball da rechts; Nilsen, gib ihr den Ball, so, ja, bilde dir ein, daß du vierzehn Jahre bist und verspielt wie ein junges Kätzchen. Nimm den Ball zwischen die Hände, hebe ihn, während du läufst – so…“ Nachdem er mich eine Viertelstunde geschliffen hatte, war mir klar, was ich tun sollte. Leicht wie eine Feder über die Bühne laufen, mit einem riesengroßen Wasserball, ihn in die Kulissen werfen, selbst über ein niedriges Geländer springen und hinunter verschwinden in etwas, was das Publikum für ein Boot halten sollte, das in Wirklichkeit aber eine Matratze war, die mich weich aufnahm. Meine elfenhafte Flucht über die Bühne hatte eine gewisse Bedeutung: Elsa sollte nämlich nachher vor Eifersucht toben. Ihr Held hatte mir einige begehrliche Blicke nachgeworfen. Dieses Begehren wurde verständlich gemacht durch das Kostüm, das ich am nächsten Tag geliefert bekam. Nur beim allerbesten Willen konnte man das Minimum, das ich anziehen sollte, ein Kostüm nennen. Meine Nacktheit wurde nicht bedeckt, sondern vielmehr unterstrichen. Ich bekam einen Tangaslip ausgehändigt und dazu ein Oberteil, das aus mehreren schmalen Bändchen und zwei briefmarkengroßen Stoffstückchen bestand. Die Hüften blieben nackt, die Rundungen meines Allerwertesten waren deutlich zu erkennen – mit anderen Worten, die Heldin hatte allen Grund, eifersüchtig zu werden.
Ich mußte mich von oben bis unten sonnenbraun schminken, was viel mühsamer war, als den Körper mit richtigen Kleidungsstücken zu bedecken. Ja, falls Johannes sich eines Abends ins Theater verirren sollte, dann – bei dem Gedanken wurde mir schwindelig. Vielleicht war es das kindliche Benehmen, das der Regisseur von mir verlangte, das die Erinnerung an die strafende Haarbürste von damals so beunruhigend nahebrachte. Aber als dann die Generalprobe kam und ich hinter der Glaswand in einem trägerlosen goldgelben Kleid und in einer schwarzen Perücke tanzte, da fand ich meine neue Tätigkeit sehr amüsant. Als ich elfengleich über die Bühne wirbelte, mit meinem sonnenbraunen Körper, im Minitanga, und den großen Ball in einem flotten Bogen warf, da fühlte ich mich federleicht und froh. Und als Torsten mich auf der Matratze auffing und sagte: „Donnerwetter, ich kann gut verstehen, daß Elsa vor Eifersucht zerspringt“ – da fand ich das Leben lustiger als je zuvor. Wir hatten im ganzen vier Proben gehabt. Am ersten Abend war ich zeitig von zu Hause fortgegangen und hatte gesagt, ich ginge zu Elsa. Am zweiten Abend war Johannes merkwürdigerweise selbst einmal aus. Der halbjährliche Besuch bei seinem Vater war fällig. Am dritten Abend ging Johannes zeitig zu Bett und merkte nicht, daß ich gleich nach seinem Verschwinden davonschlich. Die Probe sollte erst um elf beginnen. Am vierten Abend sagte ich, daß ich mit Lilian ins Kino gehen wollte und nachher vielleicht noch auf eine Weile heim zu ihr. Ich dachte nicht daran, wie schäbig es von mir war, Johannes so anzulügen. Ich war wieder eine kleine Range und fand es schrecklich spannend, abzuwarten, ob und wie ich mit allem fertig würde. Ich kam mir sehr geschickt vor, wenn es mir gelang, von daheim fortzukommen, ohne Johannes’ Mißtrauen zu wecken. Am Tag der Premiere sagte ich nichts bis zum Nachmittag. Ich wollte nicht riskieren, daß Johannes plötzlich ins Theater ging. Und ich hoffte inständig, daß keine Karte mehr aufzutreiben wäre, als ich endlich beim Kaffee sagte: „Du, Johannes, heute ist Premiere. Du weißt: das Lustspiel, in dem Elsa die Hauptrolle spielt. Sie hat mir Zugang verschafft. Karten konnte ich zur Premiere nicht mehr haben, aber so bekomme ich sie immerhin zu sehen. Du kannst dir denken, wie ich mich freue.“ „Du hättest ja etwas sagen können, dann hätten wir rechtzeitig
Karten gekauft. Nun ist es wohl zu spät.“ „Ach ja, es war schon gestern ausverkauft, sagte Elsa.“ „Nun gut! Ich wünsche dir viel Vergnügen. Aber jetzt fange ich an, mich darauf zu freuen, daß du wieder mal einen Abend zu Hause bist. In letzter Zeit warst du ja ständig unterwegs. Ich habe dich vermißt.“ Mein Herz krampfte sich zusammen. Mit einemmal fand ich meine Schwindelei gar nicht mehr amüsant. Ich fühlte mich nicht länger wie ein Schulmädel, das einen Streich ausheckt. Ich war erwachsen. Erwachsen und -niederträchtig.
Der erste Kuß Es ist viel über die Gefühle eines Schauspielers an einem Premierenabend geschrieben worden, über die Stimmung beiderseits des Vorhangs, gesehen mit den Augen des Publikums, des Autors und des Schauspielers. Aber niemand hat sich Gedanken darüber gemacht, wie das auf uns, die Statisten, wirkt. Diese verdichtete nervöse Stimmung, mit der man selbst nichts zu tun hat, von der man aber doch ein Teil ist. Das Abrollen der ganzen großen Maschinerie, in der man selbst nichts zu sagen hat und in der man doch ein wichtiges Rad ist. Die Augen des Publikums hängen an den Schauspielern und bemerken die Statisten kaum. Die aber schminken und putzen sich doch allein für die Zuschauer. Im Saal summte es. Ach wie gern hätte ich durch den Vorhang gelugt! Aber das Guckloch war ständig von Schauspielern besetzt. Ich bin in meinem Leben nicht oft im Theater gewesen. Aber diese wenigen Male hatte ich stets die erwartungsvolle Stimmung der letzten Minuten vor Beginn in mich hineingetrunken. Ein Theaterabend war für mich immer noch ein Ereignis und von demselben Märchenglanz umgeben wie beim erstenmal, als ich neben Mamilein saß und „Hansel und Gretel“ sah. Mamilein hatte damals einen Schauspielerfreund, der Freibilletts verschaffte. Diesmal trank ich die Stimmung noch intensiver in mich hinein. Und, um im Bild zu bleiben: Die Erwartung im Zuschauerraum ist wie ein Glas fader Limonade im Vergleich zu dem Spannungscocktail, der auf der anderen Seite des Vorhangs getrunken wird. Die Musik setzte ein. Wir ordneten uns in die vorgeschriebenen Gruppen. An der Tür standen Torsten und ich mit den Gläsern in der Hand. Die schwarze Perücke machte mich erwachsener. Ich sollte ja auch eine ganz andere Person sein als das Mädel im dritten Akt. Das Kleid fiel in den richtigen Falten; die Schminke saß richtig. Elsa hatte es mich ja gelehrt. Von mir aus konnte der Vorhang hochgehen. Jetzt wurde er hochgezogen. Vor uns lag der Zuschauerraum – ein großes, schwarzes Loch mit einer nebelhaften Masse von weißen Gesichtern über dunklen Schultern.
So wirkte das Publikum von der Bühne aus gesehen! „Was hast du heute zu Mittag gehabt, Vivi? Ich habe Kohlrouladen gegessen. Die waren wirklich scheußlich. Magst du sie lieber in weißer Sauce oder mit brauner Butter?“ „In weißer Sauce, Torsten. Aber hör mal, hast du denn keine Spur von Herzklopfen, wenn du an das Publikum denkst?“ „Prost, Geliebte! Nein doch, nimm mich nicht ernst. Aber wir sollen ja trinken. Pfui, wie Nilsen am Fruchtsaft spart. In unserer Operette ging ihm der Saft mal aus, da hat er uns Wasser gegeben, mit Hummerfarbe gefärbt. Wir haben ihn nachher beinahe gelyncht. Das hier ist übrigens die billigste Sorte Haushaltungssaft.“ Torsten quasselte drauflos und sah mich die ganze Zeit dabei an, lächelnd interessiert, aufmerksam zuhörend, leicht verliebt. Torsten schien eine märchenhafte Routine in diesem sonderbaren Statistenberuf zu haben. Dann kam das Stichwort; wir glitten leicht und unbeschwert durch die Glastür und verschwanden in den Kulissen. Als wir später zusammen tanzten und das Publikum uns nur von ferne sah, redete Torsten relativ vernünftig. Ich fragte ihn, wie lange er diese Beschäftigung schon ausübe, und er erzählte, es sei seine zweite Saison. „Was tust du sonst, Torsten?“ „In dicken Büchern lesen. Ich nenne es studieren. Mit dieser Tätigkeit beim Theater friste ich mein Leben. Und du? Was machst du?“ Ich erzählte, daß ich meinem Bruder das Haus führte. „Was sagt er denn dazu, daß du plötzlich fast nackt hier im Theater herumflatterst?“ „Er weiß es nicht“, sagte ich, und mein Herz sank ganz tief. Jetzt bekam ich wirklich Magenschmerzen bei dem Gedanken, was Johannes sagen würde, mein armer Bruder Johannes. „Er ist schrecklich brav“, erklärte ich. „Ich habe mich einfach nicht getraut, es ihm zu erzählen. Er paßt auf mich auf wie ein strenger Vater, der außerdem Vorsitzender eines Sittlichkeitsvereins ist.“ „Himmel“, sagte Torsten, „der sollte dich mal in dem Tangaslip sehen! Dann setzt es was!“ „Aber, Torsten!“ „Du siehst aus, als ob du mich ernst nähmst. Wie alt bist du denn, Vivi?“ „Bald zwanzig.“
„Na, dein Glück! Es hätte schlimmer für dich ausgesehen, wenn du erst vierzehn gewesen wärest. So, nun können sie da vorne auf unsere wertvolle Mitarbeit verzichten. Darf ich mir erlauben, Madame in ihre luxuriöse Garderobe zu begleiten?“ „Da brauchst du dich gar nicht lustig zu machen. Ich teile die Garderobe mit Elsa. Sie hat sie ja allein, weil Fräulein Brandt in diesem Stück nicht dabei ist.“ „Hoho, du teilst die Garderobe mit der Primadonna? Großartig. Ich komme mit hinein und setze unsere geistreiche Unterhaltung dort fort. Bei uns unten ist es etwas übervölkert.“ Wir blieben sitzen und plauderten bis zum Aktschluß. Dann hörten wir das Rascheln des Vorhanges und den Applaus, erst schwach – dann schlug er uns entgegen, als der Vorhang aufging – wurde wieder schwächer. Und das wiederholte sich mehrere Male. Dann kam Elsa. Warm und rot unter der Schminke. „Gute Stimmung, Kontakt vom ersten Augenblick. Verschwinde, Torsten, oder suche dir was anderes zum Angucken.“ Torsten zog das letztere vor. Er drehte Elsa den Rücken zu, und sie schlüpfte aus dem Kleid, stand einen Augenblick da in Höschen und Büstenhalter und zog den Tennisanzug an, den sie im zweiten Akt tragen sollte. Schon an diesem ersten Abend bekam ich einen Einblick in die selbstverständliche Kameradschaft am Theater. Umziehen und Schminken gehörten zur Arbeit, die Schauspieler waren es gewohnt, einander in allen möglichen Kostümen – oder fast ohne Kostüm – zu sehen. Ein paar lange nackte Beine oder ein halbnackter Körper waren durchaus keine Sensation. Diese unbefangene Gelassenheit war so ganz frei von Schwüle. Es ist möglich, daß ängstliche Moraltanten recht haben mit dem gefährlichen Einfluß der Theaterluft. Aber daß Kameradschaft und Kollegialität viel mehr in die Augen fallen als eine „gefährliche“ Atmosphäre, das ist sicher. Und wahrhaftig glaube ich, daß junge, halbbekleidete Schauspielerinnen, für die diese Kostüme zu ihrer Arbeit gehören, mindestens so moralisch sind wie manche älteren Tanten, die unter einem ehrbaren Deckmantel in ihrem hochanständigen Kaffeeklatsch häßlich von ihrem Nächsten reden. Dann kam meine Bade-Szene, und da machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Zum ersten Male in meinem Leben wurde es mir bewußt, daß ich hübsch war. Als ich mit dem großen Ball
über die Bühne tanzte, wußte ich, daß die Leute meinen Körper betrachteten, und ich zeigte ihn ihnen – mein ganzes Bewußtsein konzentrierte sich in den wenigen Sekunden nur auf dies eine: Ja, ich bin hübsch und bin jung! Ich weiß auch, daß ihr das findet, und das ist wunderschön. Dann warf ich den Ball, sprang über das Geländer, und da stand Torsten und fing mich auf der Matratze auf. Er hüllte mich in einen Bademantel. „Na, na“, sagte ich, „hast du moralische Anwandlungen meinetwegen?“ „Es gibt ein paar ungeschriebene Gesetze beim Theater. Zeige dich so nackt, wie das Stück es verlangt, wenn du auf der Bühne bist. Kleide dich in der Kulisse um, wenn es eilt und du nicht in die Garderobe gehen kannst. Aber unterlaß es, einer Dame zuzusehen, wenn sie sich in deiner Nähe umkleidet. Es wäre genauso ungehörig, wie einem Mädel zuzusehen, das sich am Strand auszieht. Daß du beinahe ,netto’ auftrittst, das ist in Ordnung. Aber wenn dein Auftritt fertig ist, brauchst du deine Reize nicht länger zur Schau zu stellen. So, jetzt kannst du hineingehen und dich abschminken.“ Er folgte mir in die Garderobe. Ich stand da, von Kopf bis Fuß in einen alten Bademantel gehüllt. „Ich hätte Lust, dir eine ganze Menge über das Theaterleben zu erklären, Vivi“, sagte er. „Und das wird noch kommen. Aber gerade jetzt ist es wohl besser, du entfernst rasch die Kriegsbemalung und gehst heim zum Gerichtstag bei deinem Bruder. Denn auf die Dauer kannst du dein Doppelleben doch nicht vor ihm geheimhalten.“ „Nein“, sagte ich kläglich. Torsten sah mich an. „Ich glaube wahrhaftig, du hast Angst.“ Er nahm mich in die Arme, und es tat gut, den Kopf an seine Schultern zu lehnen. „Ja. Ich habe Angst, Torsten.“ „Arme Kleine“, sagte Torsten und der Klang seiner Stimme ließ mir das Blut in die Wangen steigen. Er griff unter mein Kinn und hob meinen Kopf in die Höhe. Und dann küßte er mich. Das war sonderbar, höchst sonderbar. „Vivi“, sagte Torsten, und seine Stimme war leise und verwundert, beinahe etwas unsicher, „du willst doch nicht etwa sagen, daß… daß dies dein erster Kuß war?“ „Doch, Torsten“, flüsterte ich, und meine Wagen brannten wie
Feuer. „O mein Gott“, sagte Torsten, und seine Arme umschlossen mich fest, „o mein Gott!“ Dann küßte er mich wieder. Nun war es nicht mehr bloß sonderbar, es war auch wunderschön. Ja, je mehr ich daran dachte, desto schöner schien es mir.
Mittagsgäste Geschlafen habe ich diese Nacht nicht besonders gut. Der Tag hatte mir ein bißchen viel auf einmal gebracht. Erst die Sorge, wie ich von daheim fortkäme. Dann die Premierenstimmung, die auf jeden einzelnen kleinen Statisten abfärbte. Die merkwürdige Ereude, die mich beseelte, als ich über die Bühne wirbelte und tanzte. Dann die Magenschmerzen, weil ich Johannes beichten mußte. Und dann – Torstens Küsse. Das allein wäre genug gewesen, um mich wach zu halten. Ob es wohl ein Mädchen auf der Welt gibt, das ruhig und unangefochten schläft, nachdem es den ersten Kuß bekommen hat? Ja, vielleicht wenn sie es – wie die meisten – mit vierzehn Jahren erlebt. Aber ich war neunzehn! Also in hohem Maße ein Spätentwickler! Niemand hätte es mir geglaubt, deswegen hatte ich es auch verschwiegen. Eigentlich konnte ich Torstens Ausruf „O mein Gott!“, als er es erfuhr, gut verstehen. Aber -Torsten hatte es mir geglaubt, und er hatte mich nicht damit aufgezogen, hatte keine Witze darüber gemacht. Er hatte es als die äußerst erstaunliche Tatsache hingenommen, die es auch war. Ich empfand abwechselnd Angst und Freude. Bald schoß mir das Blut in die Wangen, weil ich Torstens Arme in Gedanken um mich fühlte. Bald wurde mir eiskalt, wenn ich daran dachte, was mein strenger Bruder zu der Statistinnenrolle seiner Schwester sagen würde. Ich entwarf mindestens zehn verschiedene Pläne, wie ich es Johannes beibringen wollte. Und ich hörte die ganze Zeit Torstens verwunderte warme Stimme: „Ich glaube wahrhaftig, du hast Angst.“ Unsinn! Ich wollte keine Angst haben. War es vielleicht keine ehrliche Sache, einen kleinen Job zu haben und ein bißchen Geld zu verdienen? Ach was! Es würde schon gutgehen. Ich würde mit meinem sanftesten Lächeln zu Johannes gehen. „Weißt du, Johannes“, würde ich sagen, „ich habe eine Stellung bekommen“, und dann würde ich davon erzählen wie von der natürlichsten Sache der Welt. Ach ja. Es ist so leicht zu planen. Alles kommt einem dabei ganz vernünftig und einfach vor. Schlimm wird es meist erst dann, wenn der Plan ausgeführt werden soll.
Trotzdem ging es besser, als ich gedacht hatte. „Na, mein unsolides Schwesterchen“, sagte Johannes beim Frühstück. „Du siehst recht müde aus, Vivi. Willst du nicht versuchen, von jetzt an ein paar Abende zeitig zu Bett zu gehen?“ Ich murmelte etwas und schenkte den Kaffee ein. Johannes sah mich prüfend an. Sein Blick glitt vom Gesicht auf die Mitte meines Halses hin. „Was hast du denn für einen braunen Fleck am Hals, Vivi?“ Ich griff an den Hals. Du liebe Zeit, das war die Schminke die ich nicht ordentlich abgekriegt hatte! Mut, Vivi, dachte ich. Prügeln kann er dich ja nicht – hoffentlich nicht! Und so nahm ich alle Selbstsicherheit zusammen, über die ich verfügte – leider war es trotzdem jämmerlich wenig. „Das ist Schminke“, sagte ich forsch. Ich hatte dabei das gleiche Gefühl wie damals, als ich springen lernte, mich zum ersten Male mit dem Mut der Verzweiflung vom Sprungbrett abstieß und einen donnernden Bauchklatscher hinlegte. – Jetzt nahm ich einen erneuten Anlauf: „Ich habe eine Stellung bekommen, verstehst du, Johannes, ich gehöre zu der arbeitenden Klasse, hahaha.“ Mein Lachen klang beinahe wie Begräbnismusik. „Eine Stellung? Was meinst du damit?“ „Eine Stellung für zehn Kronen am Abend. Beim Theater.“ Johannes legte den Eierlöffel nieder. „Das erkläre bitte genauer!“ „Sieh mich nicht so böse an, Johannes. Es ist keine Spur sensationell. Ich tanze hinter einer Glaswand fünf Minuten lang, und nachher laufe ich mit einem Ball über die Bühne, das ist alles, und dafür kassiere ich zehn Kronen am Abend.“ Johannes wurde flammend rot und bekam den Ausdruck, den ich nur ein einziges Mal an ihm gesehen hatte. Das einzige Mal, als er die Beherrschung verloren hatte. Damals, als sich die denkwürdige Sache mit der Haarbürste zutrug. Ich fühlte mich, gelinde gesagt, nicht wohl in meiner Haut. Einen Augenblick war ich drauf und dran, davonzulaufen, aus Angst vor einer Wiederholung. Aber ich blieb und versuchte, Johannes’ Blick offen und freimütig zu erwidern. „Zum Kuckuck, was meinst du damit? Soll das heißen, daß du als Statistin auftrittst? Wozu brauchst du denn Geld? Glaubst du, ich bin nicht Manns genug, dir diese zehn Kronen am Tag zu verschaffen,
wenn du sie absolut haben mußt?“ „Beruhige dich doch, Johannes. Du kannst dir wohl denken, daß ich es nicht nur tue, um Geld zu verdienen. Es ist so lustig, ein bißchen Abwechslung zu haben, eine Beschäftigung, zu der man gehen und bei der man Menschen treffen kann. Sei nett und habe Verständnis dafür, Johannes.“ „Du hättest doch aber auch etwas anderes finden können, als ausgerechnet Statistin zu werden.“ „Die Art, wie Johannes „Statistin“ aussprach und betonte, hätte jeden Statisten rot sehen lassen. „Nein – das konnte ich nicht, denn tagsüber bin ich damit beschäftigt, für dich den Haushalt zu besorgen. Aber am Abend bin ich frei. Was weißt du von Statistenarbeit, Johannes? Ich kann dir sagen, daß die Statisten zum größten Teil ehrsame, fleißige Menschen sind, die am Tag eine Stellung haben oder studieren.“ Ich hörte selbst, daß meine Stimme plötzlich sicherer wurde. Dank Torsten. Er war es, der im Vordergrund meines Bewußtseins auftauchte, als ich „studieren“ sagte. Damit gewann ich vollends die Selbstsicherheit, die ich so sehr brauchte. Denn ich hatte das erlebt, was einer Frau größere Sicherheit gibt, als Tüchtigkeit, Lob, ehrenvoller Leumund und wohlausgeführte Pflichten es vermögen: Ein Mann hatte mir reizende Dinge zugeflüstert, und ein Mann hatte mich geküßt. Ich redete weiter, erklärte, daß es eine Arbeit war, ebenso rechtschaffen und ebenso notwendig wie jede andere. Johannes liebte es doch selbst, ins Theater zu gehen, und wer sollte denn dort die Statistenarbeit ausführen, wenn alle so dächten wie er? Und ich schloß mit der Frage, ob er vielleicht kein Vertrauen zu mir hätte und mir diese unschuldige Freude nicht gönnte. Johannes nahm seinen Eierlöffel wieder auf und setzte sein unterbrochenes Frühstück fort. Es dauerte eine kleine Weile, ehe er antwortete. „Du hast mich also an diesen Abenden belogen, Vivi. Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?“ „Lieber Himmel, Johannes, weil ich bange war. Kurz und gut: ich hatte Angst. Du bist strenger mit mir als irgendein Vater mit seiner minderjährigen Tochter. Du nimmst alles so gräßlich schwer. Wenn du dich nur auf die Kunst verstündest, Kleinigkeiten Kleinigkeiten sein zu lassen – wenn du mich anlächeln und sagen könntest: ,Ach du kleiner Rappelkopf’, statt ein schrecklich ernsthaftes Gesicht
aufzusetzen und lauter salbungsvolle Sachen zu sagen! Meine Lebensfreude ist wie ein Löwenzahn, Johannes. Wenn sie tatsächlich blüht in der kargen Erde, die du ihr gibst, dann nur, weil sie ebenso zäh ist wie ein Löwenzahn an einer staubigen Wegkante.“ Da – o Wunder – lächelte Johannes. „Und nun bist du ins Theater geflüchtet, um dort dem Löwenzahn den milden Sommerregen zu verschaffen, den er nötig hat, um nicht in der kargen Erde zu Hause zu verwelken?“ Ich sah meinen Bruder mit offenem Mund an. Was ging in ihm vor? Hatten meine Worte etwas in ihm aufgetaut, hatten sie einen Riß in den Panzer seiner Vernunft und Bravheit geritzt? Hatte ich ihm unrecht getan? Als ich aufstand, um ihm mehr Kaffee einzuschenken, blieb ich einen Augenblick hinter seinem Stuhl stehen und strich ihm über die Haare. „Lieber Johannes“, sagte ich. Das hatte ich auch vorher oft gesagt. Aber nun merkte ich selbst, daß ich es auf eine andere Weise sagte. Das war nicht das respekterfüllte kleine Schwesterchen, das es in Bewunderung und Dankbarkeit sagte. Die erwachsene Schwester sagte es, und es stand Mitleid dahinter, Mitleid mit ihrem guten und einsamen Bruder. Ja, selbst die Handbewegung, mit der ich ihm über das Haar strich, war neu, war die einer erwachsenen Frau. Ich war seit zehn Stunden erwachsen. Ich wurde es im Laufe von fünf Minuten, in Torstens Armen und mit Torstens Küssen. Elsa rief an. „Hast du die Kritiken gelesen, Vivi? Kannst du dir vorstellen, daß ich ganz aus dem Häuschen bin?“ Ja, natürlich hatte ich die Zeitungen gelesen, kaum, daß Johannes gegangen war. Ich gratulierte Elsa und fragte, was sie sich heute vornehmen wollte. „Weiß ich nicht. War bei einem Nachspiel bis drei heute nacht und bin müde wie ein Kuli.“ „Komm und iß mit uns zu Mittag, ich werde etwas Gutes kochen.“ Warum ich sie plötzlich zum Essen eingeladen hatte, wußte ich selber nicht. Vielleicht, weil ich das Eisen schmieden wollte, solange es warm war, und Elsas Hilfe bei Johannes brauchte. Elsa versprach zu kommen. Jede Frau mit gesundem Verstand weiß, was ein extra gutes Essen bei einem Mann ausrichten kann. Sicher hat ein zartes Beefsteak mit knusprigen Zwiebeln schon oft eine eheliche
Auseinandersetzung verhindert. Und sicher hat eine große Portion saftiger Karbonaden schon oft den Auftakt zu einem neuen Kleid gebildet oder die erwünschte Badereise in den Horizont der Möglichkeiten gebracht. Die einzige Frau, die ich kenne, die sich souverän über solche Praktiken erhebt, ist Mamilein. Was andere Frauen mit Hilfe eines lecker duftenden Hammelbratens eventuell zuwege bringen, gelingt ihr spielend bei einem Teller angebrannter Milchsuppe. Ich schmeichle mir, im Besitz meiner Instinkte zu sein, und die sagten mir, daß ich gerade an diesem Tag meinem Bruder etwas extra Gutes vorsetzen sollte. Also nahm ich die Frikadellen in Angriff, die meine Glanznummer im Kochunterricht des Internats gewesen waren, und den Apfelkuchen, den zu backen ich bis zur Vollkommenheit in England gelernt hatte. Ich summte und lächelte vor mich hin, während ich brutzelte und backte. Ich war ja so froh, so froh über Johannes’ kleinen Anflug zur Munterkeit und zum Verständnis heute morgen. Froh, weil Elsa zum Mittagessen kam, und froh, weil die Vorstellung ein Erfolg gewesen war. Und alle diese Freuden waren nur die Schale um das Eigentliche, das Wunderbare, das Herrliche: um die Tatsache, daß ich Torsten heute abend wieder treffen würde. Wir würden zusammen tanzen, und er würde mich auffangen, wenn ich über das Geländer sprang, und er würde mich zur Garderobe begleiten… Mein Herz war voller Freude. Heute abend würde Torsten mich wieder küssen… Gerade als ich über die Äpfel zum Kuchen gebeugt ,Torsten’ vor mich hin flüsterte, klingelte das Telefon. Es war Johannes. Er würde nicht zum Mittagessen kommen, er mußte sich in Abwesenheit des Direktors eines auswärtigen Geschäftsfreundes annehmen und mit ihm in der Stadt essen. Meine Enttäuschung war grenzenlos. Gibt es etwas Schlimmeres, als mitten in den festlichen Vorbereitungen zu einer einzigartigen Mahlzeit zu stehen und dann zu hören, daß dies alles vergebens ist? Aber dann kam mir die glorreiche Idee, Johannes könnte doch diesen auswärtigen Herrn mit heimbringen. Ich versicherte, daß ich massenhaft Essen hätte und gutes Essen, und ich würde es so behaglich machen. Johannes zögerte, ja zu sagen. Solch ein Vorschlag wurde ihm zum ersten Male gemacht. Aber schließlich willigte er ein.
Und nun war mir das gute Essen für Johannes nicht mehr die Hauptsache. Ich ging mit vollen Segeln daran, ihm zu zeigen, daß er ein gastfreies Heim hatte, ein Heim mit einer Hausfrau, die verstand, es gemütlich zu machen. Ich wollte ihm Sicherheit geben und Gelegenheit, endlich einmal der Wirt an seinem eigenen Tisch zu sein. Elsa kam zuerst. Ich machte sie mit der Situation bekannt. Worauf Elsa ins Schlafzimmer ging und die Hälfte ihrer Kriegsbemalung entfernte. Je besser die Laune, desto mehr Rot legte sie auf ihren Mund, behauptete sie selbst. Weil sie an diesem Tag drei phantastisch gute Kritiken bekommen hatte, war ihr Mund um mehrere Nuancen zu rot für einen braven, bürgerlichen Mittagstisch. Ich selbst war die Adrettheit in Person, in einem hübschen blauen Kleid, mit etwas Weiß am Hals. Natürlich war es die reinste Koketterie von mir, daß ich mir eines meiner süßesten Schürzchen umband, ehe ich die Tür aufmachen ging. Der Gast mochte einige Jahre älter sein als Johannes, ein gewandter Großstädter, der mit einer leichten Verbeugung und einigen höflich-witzigen Worten Blumen für „die bezaubernde kleine Wirtin des Hauses“ überreichte. Johannes sah etwas verwundert aus, als er Elsa erblickte; aber ich griff sofort ein und stellte den Gast vor – Direktor Bentsen –, und der wandte sich lächelnd an Johannes. „Sie haben aber wirklich Dusel, Kruse. Haben Sie jeden Tag solche charmante Tischgesellschaft? Da kann ich ja auch gleich zu Ihrem gestrigen Erfolg gratulieren, Fräulein Semming. Warum haben Sie es mir nicht vorher gesagt, daß ich den Star des Tages bei Ihnen treffen würde, Kruse?“ „Der Star des Tages“ lächelte so süß, wie nur Elsa lächeln kann. „Der Arme, er wußte es ja nicht“, sagte sie. Sie wandte sich an Johannes. „Du erkennst mich wohl beinahe nicht wieder, nach all diesen Jahren, Johannes? Bin ich nicht groß geworden? Aber du bist ganz unverändert.“ Es ging ein erstaunter kleiner Zug über Johannes’ Gesicht. Er hatte sicher nicht viele Worte mit Elsa gewechselt, damals, als sie ab und zu bei uns gewesen war. Aber die wenigen Worte, die damals gewechselt wurden, waren per du gewechselt, so war es ganz in Ordnung und sehr nett, daß Elsa beim „Du“ blieb. Wir gingen zu Tisch, das Essen war wohlgelungen und die Stimmung ausgezeichnet. Zum Glück hatten Elsa und Direktor
Bentsen erheblich mehr Erfahrung als Gäste als Johannes und ich als Gastgeber. Es war ausschließlich ihr Verdienst, daß die Mahlzeit so glänzend verlief. Lebhafte Fragen und Antworten, ein paar Witze, das Gespräch geriet nie ins Stocken. Ich vergaß meine Wirtinnennervosität und amüsierte mich köstlich. Selbst Johannes taute auf und wurde lebhafter, als ich ihn je gesehen hatte. Später beim Kaffee erzählte Elsa bunt durcheinander von ihrer Theaterzeit in Schweden, erwähnte auch einen Brief von einer Kollegin, die durch ihre Heirat in Südafrika gelandet war, und holte einen Brief aus ihrer Handtasche. Johannes’ Augen hingen an dem Umschlag. „Sammelst du Briefmarken, Elsa? Könnte ich vielleicht…“ „Na klar! Ich sammle doch nichts außer Kritiken, das heißt natürlich die guten. Bitte, nimm nur den ganzen Umschlag. Ich werde nachsehen, ob ich mehr von diesem Zeug zu Hause habe, dann kannst du sie kriegen.“ „Sind Sie auch Sammler, Kruse?“ Direktor Bentsens Stimme verriet lebhaftes Interesse. „Das ist ja nett. Dann kommen Sie wohl am siebten Dezember nach Oslo?“ „Am siebten Dezember?“ „Ja, zu der Weihnachtstagung der Philatelisten.“ „Nein, ich bin nicht Mitglied des Vereins.“ „Ja, aber Mann, warum sind Sie denn das nicht? Das ist doch die halbe Freude beim Briefmarkensammeln. Haben Sie eine gute Sammlung?“ Wie der Wind war ich beim Schreibtisch und holte die drei schönen Alben von Johannes vor. Direktor Bentsen besah sie mit Kennerblick. „Kruzitürken, diese Porträtsammlung ist ja die reinste Prämienarbeit! Haben Sie noch nie ausgestellt?“ Bentsen hatte gerade Johannes’ Lieblingsalbum vor sich, eine Sammlung von Porträts aus den skandinavischen Ländern. Unter jeder Marke stand in Johannes’ zierlicher Schrift eine Biographie der Person auf der Briefmarke. Bentsen blätterte feierlich alle drei Alben durch und war so vertieft, wie es nur der wahre Philatelist sein kann. Ich starrte gespannt und schweigend auf ihn. Ob er es wohl fertigbringen könnte, Johannes aufzupulvern und ihn mit Hilfe dieser Marken in die Gesellschaft anderer Menschen zu lotsen? „Melden Sie sich gleich morgen beim Philatelistenverein an“,
sagte Bentsen mit großer Bestimmtheit, als er die Alben durchblättert hatte. „Und selbstverständlich kommen Sie zu der Weihnachtstagung. Es wird ein sehr interessanter Vortrag gehalten, das kann ich Ihnen versprechen. Und nachher Tanz. Das Schwesterchen kommt mit, nicht wahr?“ „Schwesterchen kann leider nicht“, sagte ich. „Ich habe eine Abendbeschäftigung.“ „Sieh mal an, sieh an, Sie sind also eine berufstätige Frau?“ „Ja, wenn man das einen Beruf nennen kann, im Hintergrund der Bühne zu stehen und dabei stumm zu bleiben wie eine Auster. Ich habe zu meines Bruders großem Schrecken eine Statistinnenrolle beim Theater angenommen.“ „Nur für dieses eine Stück“, beeilte sich Johannes hinzuzufügen. „Ja, warum nicht, warum nicht! Ich bin sicher, Sie nehmen sich bezaubernd aus auf der Bühne. Was meinen Sie, Fräulein Semming?“ „Aber sicher. Sie ist die Jüngste und Hübscheste von allen.“ „Passen Sie nur auf sie auf, Kruse! Mit diesem Aussehen! Glauben Sie, daß Sie sich von der Theateratmosphäre losreißen können? Daß Sie nicht für immer den Brettern verfallen?“ Ein Schatten glitt über Johannes’ Gesicht. „Nie im Leben“, versicherte ich vorsichtshalber schnell, „ich habe nicht das geringste Bühnentalent. Nein, wenn ich nachher etwas anfange, dann wird es wohl ein Abendkurs in Stenografie und Schreibmaschine sein, nicht wahr, Johannes?“ Jetzt wich der Schatten aus seinem Gesicht, und er lächelte mir zu. „Das wäre keine dumme Idee, Vivi. Wir haben ja schon darüber gesprochen, und ich bin froh, daß du noch an diesem Plan festhältst.“ Elsa sah auf die Uhr. „Es wird bald Zeit“, sagte sie, „ich muß in einer halben Stunde im Theater sein.“ „Sollen wir uns nicht diese süßen kleinen Mädchen ansehen gehen, Kruse? Darf ich Ihr Telefon benützen? Dann bestelle ich Karten.“ Bentsen wartete nicht auf Antwort. Alles, was er sich vornahm, war gewissermaßen selbstverständlich. Es war selbstverständlich, daß Johannes sich in den Philatelistenverein meldete, weil Bentsen das vorgeschlagen hatte, und es war ebenso selbstverständlich, daß sie ins Theater gingen, auch weil Bentsen es vorgeschlagen hatte.
Elsa und ich gingen eine Stunde vor den anderen aus dem Hause. Unterwegs sprach ich zu Elsa von meiner Angst. Was würde Johannes zu meiner dürftigen Aufmachung sagen? Elsa borgte mir ein Paar kleine Shorts und ein kleines Etwas für oben. Ich entschuldigte mich nachher beim Regisseur damit, daß an dem Anzug ein Trägerband abgerissen wäre, gerade als ich auftreten wollte, und Elsa zum Glück den Sonnenanzug in ihrer Garderobe gehabt hätte. Was eine glatte Lüge war, denn wir holten ihn bei ihr zu Hause! Ich bekam einen Verweis, in Zukunft hätten meine Kostüme in Ordnung zu sein. Ich hatte Herzklopfen, als ich Torsten wiedertraf. Als wir im ersten Akt auf der Bühne standen und er mir mit Nilsens skandalös dünnem Saftwasser zutrank, sah er mir in die Augen. „Du bist hübsch, Vivi, verteufelt hübsch. Du bist seit gestern richtig schön geworden.“ Ich hob mein Glas und merkte, daß meine Hand zitterte. „War der große Bruder böse? Hat er Gericht gehalten?“ „Ach nein, er nahm es mit Fassung auf. Übrigens ist er heute im Theater.“ „Du, da müssen wir aber aufpassen! Wir dürfen nicht zu persönlich reden, dabei vergessen wir, unsere eminente Schauspielkunst auszuüben. Frau Gräfin, Sie kommen ja direkt aus Paris. Haben Frau Gräfin Ihre entzückende Toilette auf dem Flohmarkt gekauft? Ich kleide mich dort regelmäßig zu Saisonbeginn ein. Sie haben wohl nicht zufällig meine echte unschätzbare Nickeluhr gesehen, die mir kürzlich in der Untergrundbahn gestohlen wurde?“ Nun redete Torsten also wieder Quatsch, und mein Herz schlug so, daß ich dachte, man müßte es durch das Kleid sehen. Jedenfalls war ich sicher, daß Torsten mein Herzklopfen fühlte, als wir zusammen hinter der Glaswand tanzten. Er mußte es fühlen, so fest, wie er mich an sich drückte. Dann kamen das Umkleiden, die Pause und die Badestrandszene, und Torsten fing mich wieder auf und folgte mir in die Garderobe, genau wie gestern. Ich war ganz schwindlig vor Glück und Spannung, und mein Körper war wie ein gespannter Bogen, als er mich in seine Arme nahm. Aller Blödsinn und alle burschikosen Redensarten glitten von ihm ab. Zurück blieb ein dreiundzwanzigjähriger Junge mit flammenden dunkelblauen Augen und starken Händen, die mich wie in einem Schraubstock hielten.
„Vivi – kleine, wunderbare Vivi…“ Seine Küsse waren heißer als gestern, fester und verlangender. Und ich wußte nicht: war ich glücklich oder war ich bange? Aber plötzlich war alles einfach herrlich, und ich wünschte, ich könnte für immer in seinen Armen bleiben. Aber anderthalb Stunden später fühlte ich Direktor Bentsens Arme um mich, als wir auf des „Grand Hotels“ spiegelglattem Parkett tanzten. Er und Johannes hatten Elsa und mich abgeholt, und Direktor Bentsen war offenbar aufgelegt, einen langen Abend daraus zu machen. Nicht um alles in der Welt hätte ich ihm erzählen mögen, daß ich das erste Mal in meinem Leben zu einem richtigen Souper mit Tanz aus war. Alles war mir neu. Ich schwieg und staunte und genoß. „Kleine Vivi“, flüsterte Direktor Bentsen mir ins Ohr, „kleine, wunderbare Vivi.“ Da fuhr ich zusammen. Es waren die Worte, die Torsten gesagt hatte. Redeten alle Mannsbilder so? Bentsen konnte doch unmöglich wissen, wie wunderbar ich war! War dies nur eine der gebräuchlichen Floskeln, zu einem jungen Mädchen liebenswürdig zu sein? „Sehen Sie nicht so erschrocken aus, Fräulein Kruse“, lächelte Bentsen, „ist es so schlimm, daß ich Sie wunderbar finde?“ „Ja, denn ich bin keine Spur wunderbar“, sagte ich. Da lachte er und drückte mich fester an sich. Ich beeilte mich fortzufahren: „Übrigens heiße ich nicht Kruse. Bloß Johannes heißt so. Wir sind Halbgeschwister.“ „So? Das hat Ihr Bruder nicht erwähnt. Und wie heißen Sie denn, Vivi?“ „Fenger.“ „Fenger?“ Bentsen stutzte ein wenig und dachte nach. „Fenger – warten Sie mal, halt, ich habe es. Sie hieß doch Fenger, die kleine Sexbombe damals in Oslo – Ulla Fenger hieß sie. Sind sie verwandt mit Ulla?“ Bentsen hatte durchaus nicht das Recht, meine Mutter beim Vornamen zu nennen. Ich antwortete steif: „Frau Ulla Fenger, wie sie damals hieß, ist meine Mutter.“ „Ihre Mutter? Das ist doch nicht möglich! Da würde sie also auch die Mutter Ihres Bruders sein?“ „Ja, meine Mutter heiratete schon mit achtzehn Jahren. Sie sieht sehr jung aus.“
Die Musik brach ab, Bentsen bot mir den Arm, und wir gingen zu unserem Tisch. „So – Sie sind also die Tochter von Ulla Fenger“, sagte er nachdenklich und blickte mich lange an. „Donnerwetter!“
Panne auf der Bühne „Hast du dich gestern gut unterhalten?“ fragte Johannes beim Frühstück. „Ja, herrlich“, ich lachte ein wenig. „Ist es nicht komisch, Johannes, ich bin bald zwanzig Jahre, und dies war das erste Mal, daß ich richtig aus war, aus zum Tanzen, meine ich. Niemand kann sagen, ich hätte keine ,wohlbehütete’ Jugend gehabt, wie es wohl heißt.“ „Tut dir das leid?“ „Leid? Nein, ich fühle mich bloß etwas rückständig, etwas zu unerfahren für mein Alter.“ Johannes sah mich an, antwortete aber nicht. Etwas später fragte ich: „Meldest du dich bei diesem Philatelistenverein an?“ „Ja, das ist sicher keine dumme Idee.“ „Ich finde, das ist eine glänzende Idee, Johannes. Es ist Zeit, daß du endlich mal ein bißchen an dich selber denkst. Und jetzt, weißt du, bist du freier. Du kannst ausgehen, wenn du willst, weil du nicht mehr auf Mamilein aufzupassen brauchst.“ Erst als ich es gesagt hatte, ging mir auf, wie komisch das klang. Und gleichzeitig hörte ich wieder Direktor Bentsen fragen: „Sie sind also die Tochter von Ulla Fenger? Donnerwetter!“ Was hatte er damit gemeint? Ach, lieber Gott, meine Gefühle für Mamilein waren so verworren und unbegreiflich. Ich wollte nicht, daß jemand das Recht hatte, ein böses Wort über sie zu sagen, sie war doch meine Mutter und oft so süß und amüsant, und es gab nichts Böses in ihr. Und doch mußte ich zugeben, daß etwas an Mamilein war, das die Männer dazu berechtigte, sie lässig beim Vornamen zu nennen und „Donnerwetter“ zu sagen. Zwischen Johannes und mir bestand ein stillschweigendes Übereinkommen, daß wir untereinander nie ein abfälliges Wort über unsere Mutter sagten. Nur einmal hatten wir diese Übereinkunft gebrochen, an dem Tag, als wir bei Rolf und Mamilein zum Mittagessen waren. Aber gerade deshalb hatten wir sie seither kaum zwischen uns erwähnt. Ein schalkhaftes Lächeln flog über Johannes’ Gesicht. „Und auf dich brauche ich nicht aufzupassen, meinst du?“ Ich blickte Johannes gerade an, und meine Stimme war fest und
sicher, als ich antwortete: „Ich bin deine Schwester, Johannes. Und die Tochter meines Vaters. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Auch nicht, wenn du am Theater herumläufst?“ „Hör mal, Johannes, wenn ich Dummheiten machen wollte, würde ich sie sicher machen, ob ich nun beim Theater bin oder nicht. Ich habe dir nie einen Grund gegeben, mir nicht zu vertrauen. Warum bist du dann so gräßlich besorgt und ängstlich? Ich bin doch kein Porzellanpüppchen und auch nicht unmoralisch.“ „Nein, Vivi, nein, das ist es nicht. Aber du… du…“ Johannes suchte nach Worten, und endlich brach es aus ihm heraus, hilflos und ungeschickt: „Du… du… hast so viel Sex, Vivi. Das ist es. Du bist die Tochter deines Vaters, aber auch die Tochter deiner Mutter. Verstehst du das nicht? Verstehst du nicht, daß du gerade deswegen mehr Rückgrat, strengere Moralbegriffe und einen kühleren Kopf brauchst als andere Mädchen?“ Ich saß und starrte ihn mit offenem Mund an. Ich – ich armes kleines Ding, hatte ich Sex? „Johannes, war es deswegen…“ „Ja, deshalb sandte ich dich damals fort, deshalb solltest du damals, als du sechzehn warst, nicht hier sein und Mamileins Freunden so oft begegnen. Deshalb mag ich es nicht, wenn du halbnackt auf der Bühne herumläufst.“ Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Hundert verschiedene Gedanken schwirrten in meinem Kopf. Mamilein und ihre Gabe, alle Männer zu Verehrern zu machen. Direktor Bentsens stürmische Hofmacherei – ja, er hatte mir den Hof gemacht. Sein Tonfall, als er Mamilein erwähnte. Die Gedanken schwirrten weiter. Meine eigene Freude, mich auf der Bühne zu zeigen; das Gefühl, hübsch zu sein, dem Publikum gefallen zu wollen, in dem kurzen Augenblick, wenn ich über die Bühne lief. Und dann Torsten. Torstens Küsse. Torstens Fürsorge. Du liebe Zeit, war es denn dasselbe, das alle Männer fühlten, die Mamilein umsorgt hatten? Interessierte sich Torsten nur deshalb für mich? War nicht etwas anderes der Grund, etwas, das ich selbst war, als Mensch, als Frau? So weit war ich in meinen verworrenen Gedanken gekommen, als Johannes mich fragte. „Na, Vivi, du siehst so nachdenklich aus?“ „Ist das so merkwürdig? Wenn du mir etwas so Schreckliches erzählst.“ „Aber Liebes, ist das so schrecklich?“
„Ja, das ist schrecklich. Ich will nicht, will nicht werden wie – ich will nicht, daß die Leute über mich reden wie…“ Ich brach ab, wollte nichts Verletzendes über unsere Mutter sagen. Aber meine Verwirrung war so groß, daß mir plötzlich die Tränen aus den Augen stürzten; ich rannte hinaus in mein Zimmer, und da flennte ich hemmungslos und hilflos und wußte nicht, warum ich heulte. Plötzlich fühlte ich Johannes’ Hand auf meinem Haar. „Na, na. Vivi, du bist doch ein sonderbares kleines Mädchen! Andere Mädchen würden sicher froh sein, so etwas zu hören. Aber du…“ „Johannes, warum mußt du mir erzählen, daß ich gerade die Eigenschaft habe, die das Leben für dich und mich so erschwert hat und die unser Heim – “, wieder brach ich ab. „Das ist keine schlechte Eigenschaft, Vivi, wenn man nur außerdem einen kühlen Kopf hat und ein warmes Herz und eine gewisse Vernunft.“ „Du verlangst so viel von mir. Meinst du, ich habe eine Eigenschaft, die mir soviel Verantwortung auferlegt?“ Seine Hand strich behutsam über mein Haar. „Denke nicht mehr daran. Willst du lieber so gut sein nachzusehen, wie es mit meinen weißen Hemden bestellt ist und glaubst du, daß du den Smoking aufdämpfen könntest? Oder wollen wir ihn zum Bügeln schicken?“ „Nein, auf keinen Fall, das kann ich doch selber. Du fährst also zu dieser Weihnachtstagung?“ „Das könnte ja ganz unterhaltend sein. Nur schade, daß du nicht mitfahren kannst.“ Da stand ich auf und fühlte mich sicher und erwachsen, als ich sagte: „Nein, Johannes, das ist sogar sehr gut. Du hast lange genug deine Schwester immer mit dir herumgeschleppt. Jetzt sollst du an dich denken und es nett haben, und ich möchte wünschen, daß du ein ausnehmend süßes Mädchen triffst und dich bis über die Ohren verliebst.“ Johannes lachte. „Dafür bestehen wohl nur geringe Aussichten. Die Damen, die ich treffen werde, sind sicher die Frauen der Briefmarkensammler. – Du wirst dich also meines Smokings annehmen?“ „Mit Freuden.“ Während ich dämpfte und bügelte, das Haus in Ordnung brachte und kochte, dachte ich über mein Gespräch mit Johannes beim
Frühstück nach. Nie war ich mir so klein und ratlos vorgekommen. Am Abend in der Theatergarderobe war ich wortkarg. Es war Elsa, die die Unterhaltung führte. Sie erzählte mir von ihren Tournees. Elsa konnte lebendig und farbig berichten. Ich erinnere mich noch an zwei schlimme Geschichten, die sie erwähnte: einmal von ihrer Verlegenheit, als ihr Mitspieler auf sein Stichwort nicht erschienen war und sie mutterseelenallein auf der Bühne stand. Damals hatte sie improvisieren müssen, um die Lücke zu überbrücken. Und den zweiten Reinfall erlebte sie, als sie ein Telegramm aus ihrer Tasche nehmen und es in höchster Aufregung dem Schurken des Stückes unter die Augen halten sollte. Sie öffnete die Tasche und merkte, daß sie vergessen hatte, das Telegramm einzustecken. „Glücklicherweise war es auf einer Tournee, bei der wir am Gepäck sparten“, erzählte Elsa, „ich gebrauchte auf der Bühne meine eigene Tasche. Mich rettete eine alte Rechnung, die ich darin fand. Mir tat ja bloß der Ärmste leid, der das Telegramm vor seine Schurkenaugen gehalten bekam und den erschütternden Inhalt nach dem Text lesen mußte: ,Ein Paar Sportstiefel besohlt, ein Paar Sandalen ausgebessert’.“ Gute Elsa! Ihre kleinen Geschichten lenkten meine Gedanken ein Weilchen von meinen eigenen Problemen ab. Dann stand ich wieder auf der Bühne, und Torsten machte die übliche idiotische Konversation. „Kannst du stricken, Vivi? Was möchtest du am wenigsten gern stricken, Halstuch für eine Giraffe oder Socken für einen Tausendfüßler?“ „Pullover für einen Tintenfisch. Bedenke, acht Ärmel stricken zu müssen!“ „Übrigens kannst du sicher gar nicht stricken“, fügte Torsten hinzu. „Hast du eine Ahnung! Ich, die ich die beste Ausbildung in allen altmodischen weiblichen Künsten habe.“ „Wirklich? Kannst du denn auch kochen?“ „Worauf du dich verlassen kannst! Was ist dein Leibgericht?“ „Beefsteak mit Zwiebeln.“ „Schön. Ich werde dich mal zum Mittag einladen, dann kannst du selbst urteilen.“ „Bist du närrisch? Glaubst du, ich würde es wagen, deinem strengen Bruder unter die Augen zu kommen?“
„Er wird bald verreisen, dann kannst du ja zu mir zu Besuch kommen.“ Torsten sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, lange und intensiv. „Sieh mal an“, sagte er. „Wer hätte das gedacht!“ Und dann erinnerte er sich plötzlich, daß er auf der Bühne stand, er hob das Glas mit dem ekelhaften dünnen Saft und trank mir mit seinem berufsmäßigen „Ein-Herr-der-Gesellschaft“-Lächeln zu. Elsa war beinahe den ganzen zweiten Akt auf der Bühne. Ich pflegte mich ziemlich rasch umzukleiden, und dann rief ich Torsten, damit er mir half, den Rücken zu schminken, sobald ich meinen Badeanzug anhatte. Aber an diesem Abend rief ich ihn nicht. Ich verstand selbst nicht, warum. Ich hatte mit einemmal Gewissensbisse, weil ich Torsten zum Mittagessen eingeladen und ihm von Johannes’ Reise erzählt hatte. Dann kam der dritte Akt, und ich stand in der Kulisse in meinem Nichts von Kostüm, mit dem Ball im Arm. Ich war hübsch geschminkt, und die blutroten Zehennägel guckten aus den Riemchensandalen heraus. Der cremefarbene Tangaslip stand in raffiniertem Kontrast zu meiner braunen Haut. Das Stichwort fiel, und ich tanzte hinaus ins Rampenlicht und spürte das feine Sausen vom Zuschauerraum, dieses Sausen von Bewegungen, von Menschen, die sich rührten und vorbeugten, um besser zu sehen. Und es war alles zusammen wieder herrlich, ich war hübsch, ich war eine Frau, die gefiel – und ich hatte Lust, noch viel länger auf der Bühne zu bleiben. Ach ja, ich war nicht nur meines Vaters Tochter und Johannes’ Schwester. Ich war auch Mamileins Tochter. Zwischen wirklichen Schauspielern und der Masse der Statisten ist eine tiefe Kluft. Die Statisten wagen es kaum, ihre angeklebten Wimpern zu einem Schauspieler zu erheben. Wir, die wir in trägerlosen Abendkleidern herumwanderten und Gräfinnen und Herzoginnen imitierten, waren auf der Probe und außerhalb der Bühne stumme Kreaturen. Ebensowenig wie ein Schauspieler daran denkt, mit einem Stuhl, der auf der Bühne gebraucht wird, ein Gespräch anzuknüpfen, ebensowenig würde er mit einem Statisten sprechen. Das war mein Eindruck in den ersten Wochen am Theater, und ich glaube nicht, daß er falsch war.
Wenn ich selbst in den inneren Kreis des Theaters kam, jedenfalls mit der einen Zehenspitze, dann war es in erster Linie Elsas Schuld. Als ihre Freundin wurde ich geduldet. Außerdem hatte mich jeder in der berühmten Badeszene bemerken müssen. Und schließlich geschah etwas, unerheblich zwar, aber im Augenblick doch aufregend genug, um meine zweite Zehenspitze in den inneren Kreis zu bringen. Es war am Anfang des ersten Aktes. Torsten stand da, verzapfte seinen Blödsinn, wie gewöhnlich, und starrte begeistert auf den Saft in seinem Cocktailglas. Elsa erschien oben auf der Treppe. Gut, daß das Publikum nicht hörte, wie sie über die Hühnerleiter schimpfte, die sie zur Treppe emporsteigen mußte. Ich starrte fragend auf Torsten. Wo in aller Welt war denn der Held – der übrigens im Privatleben Birger Hallwig hieß und ein riesig netter Junge war? Er sollte nun am Fuße der Treppe stehen mit dem Ausruf: „Sehe ich recht? Ist das wirklich Felice Wendell? Wann sind Sie gekommen, Felice?“ Darauf sollte Elsa antworten, daß sie eben angekommen sei, und Birger sollte noch etwas anderes fragen und Elsa damit Gelegenheit zu einer langen und inhaltsreichen Antwort geben. Und während all dies vor sich ging, sollten wir, die Sprachlosen, uns diskret zurückziehen. Aber da stand kein Birger, und Elsa kam die Treppe mit einem fragenden Ausdruck herunter, und wir, die Sprachlosen, sahen uns erschrocken an. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm. Vielleicht war es Elsas Schilderung, wie schauderhaft es ist, wenn auf der Bühne etwas schiefgeht. Vielleicht war es Mitleid mit ihr, was mich handeln ließ. Oder vielleicht – und das ist das Wahrscheinlichste – war es das scheußliche Gefühl, das man hat, wenn etwas schiefgeht, selbst dann, wenn es einen selbst gar nicht angeht. Man fühlt es wie ein persönliches peinliches Erlebnis, wenn ein Pianist danebenhaut oder ein Rezitator plötzlich nicht weiter weiß, ein Redner sich blamiert – oder wenn etwas auf der Bühne nicht klappt und eine unbeabsichtigte Kunstpause entsteht. Während Torsten in den Kulissen verschwand, um Birger Hallwig zu holen, während „Tante Kristofa im Kasten“, die alte treue und von allen geliebte Souffleuse, wie eine Verrückte klingelte, glitt ich über die Bühne hin zu Elsa und gab ihr Birgers Fragen. Es ging ja nur darum, ihr ein Stichwort zu geben, so daß sie weiter kommen
konnte. Elsa hat Routine. Sie zog die Antwort in die Länge mit einem kleinen Gelächter, glitt graziös über die Bühne, stahl der furchtbaren Wartezeit eine Sekunde nach der anderen. Ich gab ihr die nächste Frage, und so begann sie mit der langen Antwort, und während sie die sprach, hörten wir Laufschritte. Jetzt war Birger in der Leinwandtür, und als Elsa die letzten Worte sagte, kam er herein. Jetzt galt es für mich, so natürlich wie möglich zu verschwinden, während Birger ein paar Sätze improvisierte. Dann ging das Spiel wieder seinen normalen Gang, und die Lage war gerettet. Aber ich stand in der Kulisse und war kalt im Gesicht unter der Schminke. Das Herzklopfen kam nicht nur von der Tatsache, daß Torsten seine Arme um mich geschlungen hatte und sagte, das wäre verdammt tüchtig von mir gewesen. In der kleinen Pause zwischen dem ersten und zweiten Bild kam Elsa geflogen und preßte mich zum Dank halb tot. „Du bist ein Prachtmädel, Vivi. Ich glaube, das Publikum hat tatsächlich nicht die Spur gemerkt.“ Birger sagte auch, ich wäre ein Pfundskerl, und alles in allem war die Dankbarkeit so groß, daß ich mich fast genierte. Aber Recht muß Recht bleiben, es war tatsächlich eine ekelhafte Lage, aus der ich Elsa herausgeholfen hatte. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als auf der Bühne etwas tun zu müssen, was nicht auswendig gelernt und geprobt ist. So wurde also die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Ein paar Tage darauf kam der Autor von „Zwei in einem Kutter“ in die Stadt. Nachdem er, die Vorstellung gesehen hatte, wurde ich zum Theaterdirektor gerufen. Der Autor hatte gefunden, daß man ein paar Sätze in die Badeszene einfügen sollte. Mein Auftauchen sollte ja Eifersucht in der Heldin wecken, und deshalb sollte ich etwas deutlicher in Erscheinung treten. Bisher verschwand meine verführerische Schönheit zu rasch vom Schauplatz. Nach meiner Rettungsaktion von neulich glaubte der Theaterdirektor, daß man mir schon drei, vier Sätze anvertrauen könnte. Diese Sätze wurden fabriziert und am nächsten Vormittag geprobt. Ich sollte mitten auf der Bühne von Birger angehalten werden, er sollte fragen, ich sollte antworten, außerdem verführerische Blicke werfen und unergründliches Lächeln aufsetzen, dann meine Flucht fortsetzen und übers Geländer
springen. Ich war stolz wie ein Pfau, weil man mir etwas so enorm Wichtiges anvertraute. Und schon an demselben Abend stand ich im Licht der Scheinwerfer, ganz vorn auf der Bühne, hob meine für diese Gelegenheit extra schwarzgeschminkten Wimpern zu Birger auf und versuchte verführerisch zu sein. Es glückte. Denn als Torsten mich wie gewöhnlich auf der Matratze auffing, fauchte er mich an: „Ha, du, jetzt bist du im richtigen Fahrwasser! Eines schönen Tages springen die Mannsbilder aus dem Zuschauerraum quer übers Orchester und stürzen sich auf dich.“ Ich tat einen kleinen Schrei vor Schreck. Torsten schob mich in die Garderobe und folgte nach. Er stellte sich mit dem Rücken an die Tür und griff mich um beide Schultern. „Du bist schön, Vivi, verstehst du das? Verdammt schön. Aber du weißt es, du Teufelsmädel. Und du genießt es, schön zu sein. Na, habe ich recht?“ „Torsten – aber Torsten, was ist denn los mit dir? Ich tue doch bloß das, was man mir beigebracht hat.“ „Und du genießt es – gib es zu!“ „Torsten, sage das nicht, du weißt nicht, wie abscheulich, wie gräßlich das ist…“ Mehr konnte ich nicht sagen. Das Gespräch mit Johannes neulich morgens wurde wieder lebendig. Ratlosigkeit, Hilflosigkeit überfielen mich, und dann heulte ich schwarze Schminktränen auf den alten Bademantel. Torsten war mit einem Male ruhig. Er setzte sich und zog mich auf seine Knie. „Na, na, Vivi, beruhige dich nur. Sei nicht böse, weil ich heftig gegen dich war. Versuche, einen guten Freund in mir zu sehen! Ja, ich fühle wirklich Freundschaft für dich, Vivi. Also, was quält dich denn? Irgend etwas hast du doch!“ Torstens Stimme war warm und weich. Und ich war so durcheinander und unglücklich, daß ich die gewohnte Selbstbeherrschung zum Thema „Mamilein“ nicht aufbringen konnte. Damit hing ja doch alles zusammen, mit ihr und dem Erbe, das sie mir mitgegeben hatte. Zum ersten Male in meinem Leben sprach ich mich darüber aus. Ich erzählte Torsten von meiner sonderbaren, schlampigen Kinderstube, von Johannes, der so brav und aufopfernd war, von Mamilein, die sich wieder verheiratet hatte, und von mir selbst, von
meinen zwiespältigen Gefühlen, mit denen ich nicht fertig wurde, und von meiner Angst vor gewissen Eigenschaften in mir, die ich bis vor kurzem noch nicht ahnte, dieser merkwürdigen Anziehungskraft, die von mir ausgehen sollte. Torsten hielt mich ganz fest und ließ mich reden. Als ich endlich mit einem tiefen Schnaufer schloß, strich er mir über den Kopf. „Kleine Vivi“, sagte er. „Wenn du jetzt ehrlich bist, und ich glaube, du bist es, dann bin ich verdammt ungerecht gegen dich gewesen. Ich kann dir jetzt nicht auf alles zusammen antworten, Vivi, aber wenn du auch meinst, was du sagtest, nämlich, daß du mich mal zum Mittagessen einladen willst, dann tue es. Wir können dann lange und ungestört über alles reden. Willst du?“ „Ja, Torsten“, sagte ich. Meine Tränen waren versiegt.
„Ich habe mich geirrt, Vivi!“ Johannes war nach Oslo gefahren, und ich stand mit klopfendem Herzen in der Küche und brutzelte Beefsteaks. Zum ersten Male in meinem Leben sollte ich einen Gast haben, der nur mein Gast war, und zum ersten Male sollte ich einen Nachmittag allein mit einem Mann verbringen. Ich hatte ein Lampenfieber, wie es eine erfahrene Frau kaum gehabt hätte bei zwölf Gästen und einem Souper mit Suppe, vier Gängen und Nachtisch. Ich erwartete den Studenten und Statisten Torsten. Mit den Vorbereitungen begann ich um acht Uhr morgens. Ich hatte ihn für fünfzehn Uhr eingeladen. Das Ergebnis war, daß alles vor Sauberkeit glänzte bis in die hintersten Winkel. Das Wohnzimmer und das Eßzimmer waren piekfein, nichts gab es daran auszusetzen. Auch mein Schlafzimmer schimmerte vor Ordnung und Sauberkeit, und Johannes’ kleine Kammer, die übrigens immer aufgeräumt und ordentlich war, sah schmuck und einladend aus. Von der Küche will ich schon gar nicht reden. Konnte es denn nicht sein, daß Torsten Lust bekam, die ganze Wohnung zu sehen? Damals war mir nicht ganz klar, warum ich mir so lächerlich viel Mühe gab. Später habe ich es verstanden. Torsten sollte sehen, daß ich nicht nur ein Sexpüppchen war, sondern auch etwas
Rechtschaffenes zu leisten verstand, jedenfalls auf einem Gebiet – im Heim. Ich konnte ja nicht mitreden, wenn es um Kunst, Politik oder Literatur ging, leider. Ich hatte – oder habe keine besonderen Talente. Gereist bin ich so gut wie gar nicht, denn das eine Jahr in England, als Haustochter in einer Pastorenfamilie, vermittelte mir nur ein paar Sprachkenntnisse und einige Erfahrungen mit schlechtem Essen: mit warmen Puddings, die wie klitschige Kuchen schmeckten, und gekochtem Fisch von einer Qualität, wie ihn keine norwegische Hausfrau ihrer Katze vorsetzte. Also: ich zeichnete mich auf gar keine Weise aus. Bisher wußte Torsten nur, daß ich gut aussah und - wenn ich ihm glauben durfte –, daß ich auch charmant sein konnte. Deshalb tat ich das einzige, das ich wirklich verstand: ein Heim gemütlich zu machen. Ich mußte ihm doch zeigen, daß noch etwas anderes an mir dran war. Ich räumte den Flickkorb weg und nahm statt dessen mein Strickzeug hervor, einen Pullover, den Johannes zu Weihnachten bekommen sollte. Hatte Torsten nicht angezweifelt, daß ich stricken konnte? Er kam pünktlich. Und blieb in der Diele stehen, um mich anzuschauen. „Mein Gott, wie süß du bist, Vivi“, platzte er heraus. Da mußte ich lachen. „Nein, jetzt hör auf, Torsten. Du, der du gewöhnt bist, mich im Abendkleid und Mini-Bikini zu sehen, du willst behaupten, du fändest mich süß in einer Küchenschürze.“ „Du redest ja Blödsinn“, sagte Torsten und drückte mich schnell an sich. War wohl das nette und anständige Schürzchen daran schuld, daß er mich nicht küßte? Dann öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer. Torsten blieb stehen und sah sich um. „Weißt du Vivi, so habe ich mir dein Heim am allerwenigsten vorgestellt.“ „Ja, aber, Torsten, was ist denn daran Besonderes?“ „Nein, eben nichts Besonderes. Hier ist es wirklich gemütlich, Vivi. Aber so ein bißchen, ein bißchen, ja was soll ich sagen… ein bißchen…“, er saß fest. „Bürgerlich“, lachte ich. Die Sachen, die wir besaßen, waren vor ungefähr dreißig Jahren angeschafft, einzelne Sachen von den Großeltern geerbt. Vor allem waren die Möbel nach Johannes’ Vorstellungen angeordnet. „Ja, eben. Gerade das ist es, was mir gefällt, Vivi. Hier könnte
ich mich wohl fühlen.“ „Nett von dir, Torsten. Setz dich und fange an, dich wohl zu fühlen, während ich einen Augenblick in die Küche gehe.“ Ich war nervös gewesen, ehe Torsten kam; jetzt war ich ruhig und froh. Es war so gemütlich, als ich dann ihm gegenüber bei Tisch saß und seine Komplimente über das gute Essen hörte. Es war auch eine reine Freude, seinen Appetit zu sehen. „Etwas so Gutes habe ich seit Jahren nicht gegessen“, lobte er aufrichtig. „Denk mal an, was du für verborgene Talente hast, Vivi! Wer würde ahnen, daß das kleine Bikinimädchen mit dem Ball…“ „Hör auf damit, Torsten! Das gehört zur Arbeit, genauso wie dein zerschlissener Smoking und dein schmutziges Hemd dein Arbeitsanzug sind.“ Torsten lachte. Das mit dem schmutzigen Hemd bezog sich auf eine Belehrung, die er mir gegeben hatte. Während wir hinter der Glaswand tanzten, hatte ich ihm gesagt, daß sein Hemd geradezu skandalös schmutzig wäre. „Macht nichts“, hatte er mich belehrt. „Weiß kann noch so schmierig sein, die Zuschauer können es in dem starken Scheinwerferlicht nicht sehen. Tritt mal auf in einem florleichten und schneeweißen Elfengewand, es wirkt noch nach der dreißigsten Vorstellung schneeweiß, selbst wenn es vor Schmutz starrt. Aber einen Fleck auf dunklem Stoff sieht man augenblicklich. Merke dir das, Vivi, das ist wichtig für Kinder der Bühne.“ „Oder für eine Statistenkreatur“, hatte ich geantwortet. „Du erzählst nie etwas von dir selbst, Torsten. Ich weiß bloß, daß du versuchst zu studieren und daß du Statist bist, um dein Leben zu fristen. Aber sonst?“ „Ja, was sonst? Das ist rasch erzählt und höchst uninteressant. Mutter ist tot. Vater ist alt, er war schon fünfzig, als ich geboren wurde. Ist in Pension gegangen, war nie vermögend. Hatte bescheidene Staatsbeamtenstellung. Wir haben eine Putzfrau, die den schlimmsten Dreck aus der Wohnung entfernt und das nötigste Essen zubereitet. Die Frau ist billig, ihre Kochkunst entsprechend. Ich habe in den Ferien gearbeitet und so viel verdient, daß ich zwei Semester in Oslo sein konnte. Jetzt war ich blank und habe ein Jahr auf eigene Faust weitergelernt. Aber ich muß sehen, daß ich wieder eine ordentliche Arbeit bekomme, damit ich nach Oslo gehen und endlich mein Studium beenden kann.“
„Ich weiß nicht einmal, was du studierst, Torsten.“ „Juristerei. Sehr intelligent von mir, findest du nicht? Und geradezu tollkühn, wenn man das Überangebot von Juristen hierzulande bedenkt.“ „Warum hast du dann ausgerechnet Jura gewählt?“ „Nun, weil es mich interessiert. Weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, daß ich etwas anderes studierte. Aber du, Vivi? Was wirst du denn in Zukunft tun? Du willst doch nicht diese Statisterei als schöne Lebensaufgabe wählen?“ „Ach, nein, da kannst du beruhigt sein. Vorläufig ist es meine schöne Lebensaufgabe, meinem Bruder den Haushalt zu führen.“ „Und dann?“ „Dann?“ „Nun ja, einmal mußt du doch anfangen, dein eigenes Leben zu leben, mußt dir einen Beruf suchen.“ „Ja, ich werde wohl Stenografie und Maschinenschreiben lernen.“ Ich lächelte. „Dann kann ich einen Sekretärinnenposten bei dir bekommen, wenn du eine blühende Anwaltspraxis hast!“ „Ich nehme das Angebot mit Dank an. Stell dir vor, wie du die Klienten anlocken wirst!“ „Rechne nicht zu sehr damit. Ich werde im Büro nicht im Tangaslip auftreten.“ „Du bist noch anziehender in dem Kleid, das du heute anhast“, sagte Torsten mit einem anerkennenden Blick auf mein blaues Alltagskleid mit dem weißen Krägelchen am Hals. Sein Blick verwirrte mich. Ich war froh, daß ich jetzt aufstehen, die Teller hinaustragen und den Apfelkuchen hereinholen konnte. „Du bist wirklich eine famose Wirtin, Vivi“, lachte Torsten. „Das ist ein kleines Wunder“, sagte ich, „denn ich habe gar keine Übung darin, Wirtin zu sein. Aber weißt du, oft habe ich schon Lust gehabt, eine größere Party zu geben, viele Gäste zu haben und es ihnen nett und gemütlich zu machen.“ „Dann tue es doch“, sagte Torsten, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Sollte ich es tun? Ja, warum nicht? Gerade jetzt hatte ich ja die Wohnung allein. Es war Samstag, und Johannes sollte erst mit dem Nachtzug Dienstag morgen zurückkommen. Wenn ich nun einige Kollegen vom Theater für Montag abend einlud? Ich bekam Herzklopfen bei diesem Gedanken. Ich fing gleich an, mir auszumalen, was ich alles machen müßte und wie ich den Tisch
decken würde. „Ja, wirklich, das werde ich tun, Torsten. Ich lade dich hiermit für Montag abend nach dem Theater ein. Und Elsa und Birger. Wen könnte ich denn noch einladen, was meinst du?“ Wir machten Pläne für meine erste Party, ganz eifrig und wichtig. Als wir mit dem Essen fertig waren, wurden Torstens Augen plötzlich schwer. Er war müde. „Ich komme ja immer spät zu Bett“, sagte er entschuldigend, „und ich stehe so zeitig auf und arbeite den ganzen Vormittag hart, also – “ „Leg dich doch aufs Sofa“, ermunterte ich ihn, holte Johannes’ Plaid und legte es über ihn. Dann machte ich mich an den Aufwasch und lächelte vor mich hin. Ach, wie gemütlich es war! Torsten zeigte sich von einer ganz neuen Seite: ruhig, vernünftig, alltäglich. Nichts vom albernen Theaterschwatz. Auch nichts von stürmischer Verliebtheit. Er hatte mich heute tatsächlich noch nicht geküßt, obwohl wir allein waren. Warum eigentlich? Er gab mir die Antwort darauf, als ich mit dem Kaffeetablett ins Zimmer trat. Er sprang auf, ein wenig zerzaust und schlaftrunken, und lächelte mich an. „Du vereinst zwei Menschen in dir, Vivi, zwei absolut verschiedene Menschen. Nicht zu glauben, daß diese anmutige Hausfrau hier das halbnackte Statistenmädel vom Theater ist.“ „Was gefällt dir denn besser?“ „Du gefällst mir, so wie du bist, wie du jetzt bist. Ich habe einen – einen neuen Respekt vor dir bekommen, Vivi.“ „Ist es deshalb, daß du…“, ich schwieg und wurde brennend rot. „Ja, genau deshalb. Du hast es erraten. Deswegen habe ich dich nicht geküßt. Das kleine Mädel vom Theater kann ich küssen, weil es süß ist, und weil es reizend ist, es in den Armen zu halten – aber wenn ich das Mädel küßte, das du jetzt bist, da – da, ja siehst du, ein solches junges Mädchen küßt man nur, wenn man es ehrlich meint.“ „Das gefällt mir an dir“, sagte ich. „Ich bin nicht so anständig, wie du glaubst“, wehrte Torsten ab. „Weißt du, was du tun solltest? Mir eine Ohrfeige geben.“ „Könnte mir nicht einfallen.“ „Aber du solltest.“ „Warum?“ „Weil ich nicht so anständig bin, wie du glaubst.“ Er sah mich an,
und die Röte stieg in seine Wangen. „Ach, Unsinn, Vivi! Ich will lieber beichten. Weißt du, als du mich zum Essen batest und sagtest, dein Bruder sei nicht zu Hause, da dachte ich, also doch wieder die übliche Tour, was für ein Idiot muß ich sein, daß bei mir der Groschen so langsam fällt“, er konnte nicht weiter und sah mich hilflos an. Jetzt war ich an der Reihe, rot zu werden. „Ich habe mich so sehr in dir geirrt, Vivi. Ich war ein Riesenroß. Sei nicht böse auf mich. Du verstehst, du warst so warm, du warst so verteufelt süß, du bist so verteufelt süß, meine ich, wenn wir jeden Abend zusammen tanzen. Und wenn du so über das Geländer springst, und dann in der Garderobe in dem Bademantel – da bist du ein einziges Bündel von Charme, und ich konnte nicht wissen, daß…“ Lieber Gott, da war es also wieder. Ach, dieser alberne „Charme“. „Hör nun endlich auf mit dem Unsinn, Torsten. Ich bin kein Vamp, es ist nichts Sonderbares an mir als das, daß ich ungeküßt blieb, bis ich beinahe zwanzig Jahre alt war. Ich gebe zu, daß dies merkwürdig genug ist, aber es ist doch wirklich kein Grund, mich so mißzuverstehen.“ Torsten streckte die Hand nach mir aus. „Bist du böse auf mich, Vivi?“ „Nein, Torsten. Es war vielleicht nicht so sonderbar, daß du etwas so… so Dummes von mir geglaubt hast.“ „Komm und setz dich zu mir, Vivi.“ Er zog mich an seine Seite und legte mir den Arm um die Schultern. Es war gut, so zu sitzen, den Arm zu fühlen, der mich hielt und beschützte. „Vivi, hör zu. Ich habe viel über das nachgedacht, was du mir gestern erzählt hast. Über deine Schwierigkeiten und all dies aus deiner Kindheit. Jetzt bin ich bange, daß es sich bei dir festsetzt und ein Komplex wird, dieses mit deiner… nun ja, deiner weiblichen Anziehungskraft.“ „Ich habe zu viele traurige Ergebnisse dieser sogenannten weiblichen Anziehungskraft gesehen, Torsten. Wenn du miterlebt hättest, wie es bei uns zu Hause zugegangen ist, wer sich alles angezogen fühlte…“ „Ja, aber, mein Schätzchen, du hast doch einen klaren Kopf, und vor allem hast du ein Gefühl für Anständigkeit. Vivi, es hängt nur von dir ab, ob diese Eigenschaft, deine weibliche Anziehungskraft,
sich bei dir als eine – Gabe der Götter erweisen kann!“ Wir blieben still auf dem Sofa sitzen. Es wurde dunkel. Das Licht der Straßenlaterne draußen blitzte im Silber und den geschliffenen Glastellern auf dem Kaffeetisch. „Wir müssen bald gehen, Torsten“, sagte ich leise nach einer Weile. Torsten hielt den Arm in den Lichtschimmer und sah auf die Armbanduhr. „Noch zehn Minuten, Vivi.“ Er drückte mich fester an sich, ich streckte die Hand aus und zündete die Lampe auf dem kleinen Tischchen an. Da lag mein Strickzeug, ich hatte es nicht angerührt. „Wie hübsch du strickst, Vivi. Ist es für dich selbst?“ „Oh, nein, das ist ein Männerpulli, ein Geschenk für Johannes.“ „Der hat Dusel“, sagte Torsten. „Jetzt müssen wir aber gehen, Torsten.“ „Ja-“ Er beugte sich über mich. Seine Augen blickten in die meinen. Lange. „Vivi“, flüsterte er. Und dann küßte er mich. Er küßte mich auf eine ganz andere Weise als in der Theatergarderobe. „Torsten“, flüsterte ich, „du sagtest doch…“ „Ich weiß, was ich sagte, Vivi. Daß man so ein Mädchen wie dich nicht küßt, ohne es ehrlich zu meinen.“ Er fand wieder meinen Mund, und plötzlich legte er seinen Kopf in meinen Schoß. Ich konnte nur noch mit Mühe hören, was er sagte: „Ich meine etwas damit, Vivi. Ich meine so schrecklich viel damit.“ So glücklich war ich, daß ich zu schweben glaubte. Ich dachte nicht an die Zukunft, dachte nicht daran, was aus Torsten und mir werden würde. Ich lebte einfach im Augenblick und in den paar nächsten Tagen. Elsa kam am Sonntag zu mir und half mir, Gläser und Geschirr hervorzuholen und für die Party bereitzustellen. Am Montag würde ich das Essen vorbereiten. Wir planten ein kaltes Büfett, so daß für mich nicht viel Arbeit blieb, wenn die Gäste gekommen waren. Ich hatte neun Leute gebeten, außer Elsa und Torsten. Mit uns dreien waren es also zwölf, wenn alle kamen. Elsa borgte mir Tanzplatten. Wir hatten wohl einen Plattenspieler, aber Johannes’ Platten eigneten sich schlecht, um danach zu tanzen. Wir hatten überlegt, wen und wie viele ich einladen sollte. Schließlich einigten wir uns darauf, einfach alle Jüngeren aus dem
Stück zu bitten. Aber wo lag die Grenze? „Bei Steffen Brede“, sagte Elsa, „er ist gerade so alt, daß er nicht mehr zu den Jungen gehört.“ Ich stimmte ihr zu, außerdem konnte ich Steffen Brede nicht ausstehen. Auf der Bühne sah er gut aus mit seiner großen, schlanken Figur. Niemand konnte ihm da ansehen, daß er über vierzig war. Aber wenn man ihn aus der Nähe und ohne Schminke sah, wirkte sein Gesicht stark verlebt. Es war bekannt, daß er gewöhnlich verheiratete Frauen als Freundinnen hatte. „So ist es praktischer“, sagte Steffen Brede selbst lakonisch, „dann hat man keine Verantwortung.“ Er war, kurz gesagt, abscheulich. Aber ein guter Schauspieler, das muß der Neid ihm lassen. In „Zwei in einem Kutter“ spielte er den raffinierten Intriganten ausgezeichnet. Er also wurde nicht eingeladen. Am Vormittag hörte ich im Radio, daß es auf der Bahn eine Störung gegeben hatte und die Nachtzüge eingestellt waren. Diese Nachricht erleichterte mich. Johannes konnte also erst am Abend kommen. Da hatte ich den ganzen nächsten Tag Zeit, das Haus wieder in Ordnung zu bringen. Vorsorglich machte ich die Familie, die unter uns wohnte, darauf aufmerksam, daß es bei uns an diesem Abend etwas unruhig zugehen würde. Aber die gute Frau strich mir über die Wange und sagte: „Liebes Kind, unterhaltet euch nur lustig, es ist wirklich so selten, daß wir einen Laut von oben hören. Wir werden uns Watte in die Ohren stecken, und dann schlafen wir schon.“ Das Fest konnte also beginnen. Es wurde wundervoll. Torsten und ich, die wir früher als die anderen im Theater fertig waren, stürzten heim, um letzte Hand an die Vorbereitungen zu legen. Als die anderen sich endlich abgeschminkt hatten und kamen, stand Torsten in weißer Jacke da und mixte Cocktails, während ich gerade dabei war, Bierflaschen ins Zimmer zu holen. Kurz darauf hatten alle ihre Teller gefüllt und sich mit ihrer Beute an den unmöglichsten Stellen niedergelassen. Fensterbretter, Radioapparat, Bücherregal, alles wurde benutzt, um Gläser und Teller darauf abzusetzen – außer den kleinen Tischen im Wohnzimmer, da sie sich schnell als unzureichend erwiesen.
Torsten und ich legten uns schließlich Kissen auf den Fußboden und machten es uns darauf bequem. Alle beteiligten sich an der fröhlich lebhaften Unterhaltung. Leere Gläser wurden schnell wieder gefüllt. Auf alle möglichen und unmöglichen Dinge wurde angestoßen. Zum Schluß brachte Birger einen schwungvollen Trinkspruch auf die Wirtin aus und dankte mir nochmals, weil ich damals die Lage gerettet hatte, als er zu spät kam. Es wurden lustige Frechheiten gesagt und herzlich gelacht. Kurz: die Stimmung war glänzend. An diesem Abend verwischten sich auch die Unterschiede zwischen Schauspielern und Statisten. Ich sah mit Vergnügen, wie Birger, der verhätschelte erste Liebhaber vom Theater, in einer lauschigen Ecke saß mit Nini, der kleinen Statistin, die ihn schon lange von ferne angebetet hatte. Dann räumten wir das Eßzimmer zum Tanzen aus. Jeder griff zu, und wir arbeiteten recht munter und geräuschvoll. Alles wurde in wirrem Durcheinander in der Küche gestapelt; die Eßzimmerstühle schleppten wir in Johannes’ Zimmer. Auf dem Küchentisch häuften sich malerisch Essensreste und gebrauchtes Geschirr. Geschirr in Bergen… Es wurde getanzt, es wurde geflirtet, und die Stunden flogen. Einige von uns hörten zu tanzen auf und ließen sich im Wohnzimmer nieder. Allmählich nahmen die Gespräche einen etwas ernsteren Charakter an. „Denke lieber hundertmal drüber nach, Nini“, sagte Birger. „Du mußt dir darüber klar sein, worauf du dich einläßt. Als Statistin dazustehen und zehn Kronen am Abend zu verdienen ohne irgendeine Verantwortung ist etwas ganz anderes, als im vollen Ernst eine Bühnenlaufbahn einzuschlagen. Denn dazu gehört Arbeit, Mädchen, und was für eine Arbeit! Sieh uns an – oder sieh mich an. (Das brauchte er allerdings Nini kaum zu bitten; ihre großen Kinderaugen hingen den ganzen Abend unverwandt an ihm.) – Ich war heute von elf Uhr bis beinahe sechzehn Uhr auf der Probe. Kam heim so müde im Gesicht, daß… Lache nicht! Meine Gesichtsmuskeln waren tatsächlich ganz müde, nicht wahr, Elsa, so ist es doch nach einer langen Probe?“ Elsa nickte verständnisvoll. „Dann würgte ich das Mittagessen herunter, mußte die Rolle lernen, die ich durchaus noch nicht sicher konnte, und versuchte, mit gestelltem Wecker zu schlafen. Um halb sieben stürzte ich wieder fort, schminkte mich und hatte dann eine Rolle zu spielen, bei der
man fast die ganze Zeit auf der Bühne steht. Dann wieder abschminken und – jetzt bin ich also hier. Das alles ist noch erträglich, solange man sich wohl fühlt. Aber denke nur an den Tag, an dem mir dieses Malheur passierte, und als Vivi eingriff. Ich kam damals zu spät, weil ich neununddreißig Grad Fieber hatte und ganz benommen war. Glaubst du, so etwas ist ein Vergnügen?“ „Bist du verrückt, Birger?“ fragte ich dazwischen. „Du hast mit neununddreißig Grad Fieber gespielt?“ „Klar habe ich gespielt. Ich konnte doch die Vorstellung nicht schmeißen. An den großen Theatern im Ausland hat man immer eine zweite Besetzung. Da ist stets jemand da, der die Rolle gelernt hat und einspringen kann, aber so einen Luxus kann sich unser kleines Theater nicht leisten.“ Elsa saß da und nickte zu allem, was Birger sagte. „Frage Tante Kristofa“, sagte er. „Sie kann dir viel erzählen. Von Schauspielern, die mit Magenkrampf gespielt haben, mit gräßlicher Migräne, mit Blinddarmentzündung, und die dann direkt nach dem Fallen des Vorhangs in den Krankenwagen getaumelt sind.“ Nini lauschte mit großen Augen. „Darüber habe ich im Grunde nie nachgedacht“, murmelte sie. Jetzt kam Ida Börre, die feste Stütze und erste Kraft des Theaters für Soubretten-Partien, zu uns. Wir waren es gewöhnt, Ida immer in jener übersprudelnden Laune zu sehen, wie es ihre Rollen von ihr verlangten. „Entschuldigt, meine Herrschaften, daß ich die wertvollen Aufschlüsse meines Vorredners ergänze. Liebe, junge, unerfahrene und theaterbegeisterte Freunde! Am Todestag meiner Mutter spielte ich die Stasi in der Csardasfürstin. Ich bekam das Telegramm am Nachmittag. Zwei Stunden später saß ich da und schminkte mich und kämpfte mit den Tränen, die immer wieder meine Wimperntusche verdarben.“ „Ida! Ist das wahr? Kann das Theater so grausam sein?“ „Grausam, ja, das ist das richtige Wort, Vivi. Das Theater schluckt uns, mit Haut und Haar, läßt keine Sentimentalität zu, keine Müdigkeit, keine persönlichen Wünsche und Pläne. Es ist ein Sklaventreiber. Und wir opfern, wir opfern mit Freuden. Wir studieren, wir trainieren, wir tanzen, wir singen und treiben Gymnastik und führen einen ewigen, unermüdlichen Kampf gegen Runzeln und Alter. Seht mich an. Wißt ihr, wie alt ich bin? Fünfundzwanzig? Danke für das Kompliment. Ich bin
siebenunddreißig, was glaubt ihr, kostet es mich, wie fünfundzwanzig auszusehen? Und wir träumen von unseren Wunschrollen, wir würden Jahre unseres Lebens darum geben, Ophelia oder Agnes oder Maria Stuart spielen zu können. Und dann müssen wir sehen, wie diese Wunschrollen andere erhalten. Eins kann ich euch sagen, liebe Kinder: die Eifersucht, die man fühlt, wenn der Geliebte sich einer anderen zuwendet, ist nichts gegen die Eifersucht, die man fühlt, wenn die ersehnte Lieblingsrolle eine andere bekommt. Und der Kampf, ehe man gelernt hat, zu resignieren, ist der bitterste Kampf auf der Welt.“ Ich blickte Ida an. Sie saß auf der Armlehne des Sofas und schaute gerade vor sich hin, während sie redete. Ihre Stimme hatte einen zitternd warmen Unterton. Eine ganz andere Ida saß dort als jene, die Abend für Abend die muntersten Kapriolen auf der Bühne machte, über die das Publikum vor Lachen brüllte. „Aber Ida, magst du denn deine Arbeit überhaupt nicht?“ „Nicht mögen? Bist du total verrückt? Ich liebe sie! Sonst hätte ich es wohl nie fertiggebracht, so viel für sie zu opfern. Ich liebe den Kulissenstaub und den Geruch von Schminke und das Rampenlicht, und wenn ich gefalle, und das tue ich in der Regel – entschuldigt meine Unbescheidenheit! –, da liebe ich auch das Publikum. Weißt du nicht, daß der Hund auch seinen strengen Herrn lieben kann? Das Theater ist mein sehr strenger und unbarmherziger Herr, den ich liebe – beinahe demütig liebe.“ Es folgte eine kleine Pause nach Idas Worten. Dann hob Birger sein Glas. „Prost, Ida. Das hat erleichtert, nicht wahr? Und ich glaube, wir können alle unterschreiben, was du gesagt hast. Es ist eine Mühsal. Das soll man wissen und darüber nachdenken und sich auf unwahrscheinliche Opfer und Enttäuschungen vorbereiten, wenn man den Schauspielerberuf ergreift. Denke daran, kleine Nini!“ Birger lächelte sie an, und als er ihr über die Wange strich, war Nini so selig, daß sie jeden seiner Ratschläge, auch den verrücktesten, befolgt hätte. „Vivi“, sagte Elsa, „jetzt habe ich Lust auf einen Kaffee. Hast du etwas in der Büchse?“ Ich wollte mich erheben. „Bleibe du nur sitzen – Birger und Nini können mir helfen.“ Bald darauf werkelten die drei in der Küche. Ida war in das Eßzimmer geschlendert. Einen Augenblick hatten Torsten und ich
das Wohnzimmer für uns allein. Torsten legte den Arm um mich, und ich lehnte mich an seine Schulter. „Siehst du, Vivi“, sagte er, „das Theaterleben ist nichts für uns beide. Wir wollen uns lieber an Jus und Stenografie halten.“ Ich hatte einen Stapel Platten auf den Plattenspieler gelegt, und der spielte drauflos. Eben wechselte er die Platte, und jetzt kam ein Kosakentanz. „Nein, hört doch damit auf“, riefen die tanzenden Paare aus dem Eßzimmer, aber Ida überschrie sie. „Nein, wartet einen Augenblick!“ Wie der Wind war sie im Vorzimmer und kam wieder herein, mit Johannes’ Pelzmütze auf dem Kopf. Sie schnappte ein Papiermesser vom Schreibtisch, und im nächsten Augenblick ging sie auf dem Fußboden in die Hocke, mit gekreuzten Armen. Ihre trainierten Beine sprangen vor und zurück, im richtigen Kosakentanzrhythmus. Sie sah urkomisch aus mit dem Papiermesser und der hohen Pelzmütze. Wir lachten und klatschten Beifall, und in der Küche sprudelte der überkochende Kaffee, und dann… „Was in aller Welt…“, sagte eine Stimme von der Tür her. Keiner von uns hatte jemanden kommen gehört. Ich wandte mich erschrocken um. Da stand Johannes. Torsten sprang auf und schaltete den Plattenspieler aus. Ich fühlte, daß ich ganz bleich wurde. Der Respekt der kleinen Schwester vor Johannes stieg in mir hoch. Meine Gäste sahen fragend von Johannes zu mir. Da erschien Elsa. „Nein – aber, bist du es, Johannes? Ist es der große böse Kater, der die Mäuse fressen will, weil sie auf dem Tisch getanzt haben, während er weg war? Fauche nicht, Pussy, komm, du sollst eine Schale mit Sahne bekommen, miau, miau!“ Elsa gelang es, die anderen zum Lachen zu bringen, dann packte sie Johannes am Arm und zog ihn mit sich aus dem Wohnzimmer hinaus. Ein Gedanke fuhr durch meinen Kopf; Johannes’ Zimmer? Es war halbvoll von Eßzimmerstühlen, und der Himmel mochte wissen, was sonst noch für Kram. Ich schlich mich hinaus. Im Vorzimmer stand Elsa und hielt Johannes an beiden Rockaufschlägen fest. „Du sollst Vivi den Abend nicht verderben, Johannes“, sagte sie, und ihre Stimme war leise und eindringlich. „Es sieht natürlich für
deine Augen wild hier aus, weil du müde von der Reise kommst. Du platzt in eine Party hinein, die den Höhepunkt erreicht hat. Aber es ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussieht. Wir haben es riesig lustig und fidel.“ „Ja, das sehe ich deutlich“, sagte Johannes leise und verbissen. „Entschuldige, Elsa, daß ich so unangenehm bin, aber diese Sache geht dich – strenggenommen – nichts an.“ „Doch, Johannes. Denn ich habe Vivi gern und spreche in ihrem Interesse. Sie selbst kann es nicht, weil sie Todesangst vor dir hat.“ „Angst? - Vor mir?“ „Genau das. Hast du ihr Gesicht gesehen, als du kamst? Wenn alles so wäre, wie es sein sollte, dann würde Vivi gerufen haben: ,Oh, hallo, Bruderherz, wie reizend, komm, hier hast du auch ein Glas!’ Aber was tat sie? Sie wurde steif vor Schrecken. Der Abend ist für sie völlig verdorben, wenn du jetzt nicht ein bißchen Verständnis zeigst. Herrgott, Menschenskind, Vivi ist neunzehn Jahre! Laß sie doch ein wenig Vergnügen haben! Vivi ist ein grundanständiges Mädchen, das weißt du genauso gut wie ich, und du brauchst nicht zu glauben, daß eine etwas übermütige Party ihr gleich zum Verderben wird.“ „Gut“, sagte Johannes, „darüber werden Vivi und ich morgen sprechen. Tut, was ihr wollt, aber ich bin müde und gehe zu Bett.“ Ich schlich mich in sein Zimmer und räumte auf, so gut es sich machen ließ. „Bist du hungrig, Johannes?“ „Ach ja, ich möchte gern ein paar Butterbrote haben.“ Ich wollte ihn daran hindern, in die Küche zu gehen, aber er stand schon in der Tür. Und nun sah ich die Küche mit Johannes’ Augen und wußte plötzlich, was er fühlte: Abscheu vor all dem Kram und den zwei wildfremden Menschen mittendrin, die soeben ihre Küchentätigkeit unterbrochen hatten. Wir platzten gerade in dem seligen Augenblick herein, als Nini den ersten Kuß von Birger bekam. Das ganze Bild war eine getreue Kopie jenes Bildes, das wir so oft gesehen hatten, wenn Mamilein in ihrer impulsiven Art das Haus mit aufgelesenen Gästen gefüllt hatte. Johannes machte auf der Schwelle kehrt und ging in sein Zimmer. Ich brachte ihm belegte Brote und ein Glas Milch. „Wieso kommst du denn um diese Zeit?“ fragte ich. „Bruch auf der Linie. Wir wurden mit Bussen über die Bruchstelle verfrachtet, mußten eine Ewigkeit warten, und dann hatte der Zug auch noch Verspätung.“
„Ich hörte von dem Bruch auf der Linie, deshalb dachte ich, du würdest morgen mit dem Tageszug kommen.“ „Ich verstehe, daß du mich heute nicht erwartet hast. Nun, gute Nacht, Vivi, ich möchte jetzt schlafen.“ „Gute Nacht, Johannes.“ Ich fühlte mich klein und häßlich und unglücklich, als ich aus Johannes’ Zimmer schlich. Im Vorzimmer stand Torsten. „Vivi, Mädchen“, er nahm mich in seine Arme. „Nimm’s nicht so schwer. Wir werden jetzt so rasch wie möglich aufbrechen. Mach gute Miene zum bösen Spiel, die Party ist bisher so wohlgelungen, daß dein betrübtes Gesichtchen die letzte halbe Stunde nicht verderben darf. Nicht wahr, Kleines?“ „Ach, Torsten!“ Ich vergrub meinen Kopf an seiner Brust, und er küßte mich ebenso zart und innig wie vorgestern. Torsten gab mir die Kraft, mein Gesicht in die verlangten munteren Falten zu legen und zu lächeln, als ich wieder zu meinen Gästen ging. Die Kaffeepartie war bereits im vollen Gange, und wenn auch die Stimmung etwas gedämpfter war, verdorben war sie keineswegs. „War dein Bruder böse?“ fragte Nini aus Birgers Armbeuge heraus. „Ach nein, bloß müde. Er ist schlafen gegangen, wollte nicht stören.“ „Da du vom Schlafengehen redest“, sagte Elsa, „fühle ich mich auf einmal hundemüde. Wollen wir Taxis bestellen?“ Die anderen waren einverstanden. „Soll ich bleiben und dir beim Aufwaschen helfen?“ flüsterte Torsten. Ich drückte seine Hand und schüttelte den Kopf. Torsten verstand und ging zusammen mit den anderen. Es war viel besser, diesen Riesenaufwasch allein zu bewältigen als zu riskieren, daß Johannes wach wurde und mich womöglich mit einem wildfremden Mann in der Küche fand. Bis halb sechs morgens ging ich lautlos auf Filzpantoffeln, räumte auf und wusch ab. Ich öffnete die Fenster und machte Gegenzug, ich überwand meine Müdigkeit und brachte die Wohnung in Ordnung. Zwei Stunden schlief ich, dann riß mich der unbarmherzige Wecker aus dem Schlaf. Ich war schrecklich in Versuchung, mir
rasch den Morgenrock umzuhängen und einen Schluck Kaffeee für Johannes zu machen, aber die Vernunft siegte. Ich nahm eine kalte Dusche und wärmte schnell eine Tasse starken Pulver-Kaffees von heute nacht auf, und damit war ich soweit in Form, daß ich mich anziehen und den Frühstückstisch decken konnte, wie Johannes es gewohnt war. Ich sah die Verwunderung in Johannes’ Gesicht, als er eine saubere Küche und einen gedeckten Frühstückstisch vorfand. Das jedenfalls hatte Mamilein nach ihren Gesellschaften nie fertiggebracht. Besser den Stier bei den Hörnern packen, dachte ich. „Na – bist du böse?“ „Nein, nicht böse, nur enttäuscht.“ „Enttäuscht? Von mir?“ „Ja, Vivi. Du sagtest, ich könnte ruhig verreisen, du würdest keine Dummheiten machen. Und dann komme ich heim, früher, als du mich erwartest, und…“ „… und da hatte ich einige Kollegen und Freunde eingeladen, ja. Und wir hatten es riesig nett, was weiter?“ „Vivi, ich verabscheue dieses Theatermilieu“, stieß Johannes heraus. „Wie kannst du etwas verabscheuen, was du nicht kennst? Wenn du wüßtest, was dieses Theatermilieu mich gelehrt hat, Johannes! Da habe ich die intensivste Arbeitsfreude getroffen, da habe ich gesehen, wie man Enttäuschungen ertragen lernt, und da habe ich vor allen Dingen Kameradschaft gefunden. Aber tröste dich, ich habe nicht vor, zum Theater zu gehen. Wenn dieses Stück abgesetzt wird, werde ich zunächst einmal Stenografie und Maschinenschreiben lernen.“ Da hellte Johannes’ Gesicht sich auf. „So, daran hältst du also fest, Vivi?“ „Das ist doch klar. Also, um Himmels willen, Johannes, spiele nun nicht den strengen Papa, sondern sei der nette Bruder und erzähle mir, wie es dir in Oslo ergangen ist.“ Johannes erzählte von dem Philatelistenfest. Er hatte das Album mit seiner Porträtsammlung mitgehabt und viel Lob dafür geerntet. Einige Briefmarken, die er sich seit langem gewünscht hatte, bekam er im Tausch. Er hatte versprechen müssen, daß er zu der nächsten Tagung in einem Monat seine anderen Briefmarkensammlungen mitbrächte. Und Direktor Bentsen schickte viele Grüße für mich. Er würde bald
wieder zu uns kommen. Als Johannes gegangen war, erledigte ich geschwind die eiligste Hausarbeit, zog mein Kleid aus und ging ins Bett. Ich war so müde, daß mich alle Glieder schmerzten. Zu müde zum Schlafen. Ich dachte an Johannes und war von Mitleid erfüllt. Lieber Gott, so jung zu sein und dabei ohne alle Freude! War es die jahrelange Fürsorge für mich und Mamilein, die alle Lebensfreude und allen Lebensüberschuß in ihm erstickt hatte? Dann glitten die Gedanken zum Theater, zu der Party vom vergangenen Abend und zu dem, was Ida gesagt hatte. Und dann dachte ich an Torsten. In – in – ich sah auf die Uhr – in elf Stunden würde ich wieder seine Arme um mich fühlen, wenn wir auf der Bühne hinter der Glastür zusammen tanzten. Schließlich sank die Müdigkeit, die gute, große Müdigkeit über mich und löschte alle Gedanken aus. Ich hörte nur noch Torstens Stimme: „Ich meine etwas damit, Vivi, ich meine so schrecklich viel damit.“ Und diese Worte lullten mich in einen tiefen Schlaf.
Abschied vom Theater Es war mir längst zur Gewohnheit geworden, mich zu schminken, das trägerlose Kleid anzuziehen, das im Stoff brüchig und an den Kanten zerschlissen war. Es war mir zur Gewohnheit geworden, den Minislip anzuziehen, der jetzt angegraut war, und von der Schminke bräunliche Kanten hatte. Und ich mußte mich ordentlich zusammenreißen, um einen lebhaft interessierten Ausdruck zu mimen, während ich die Repliken über mich ergehen ließ, die ich nun von vor- und rückwärts kannte, und den gräßlichen dünnen Saft trinken mußte. Vieles wird zur Gewohnheit und verliert seinen Glanz. Aber niemals wurde ich müde, mit Torsten zu tanzen. Doch nun nahte Weihnachten, und am zweiten Feiertag sollte ein neues Stück Premiere haben, in dem keine Statisten gebraucht wurden. „Zwei in einem Kutter“ sollte nun als Nachmittagsvorstellung an jedem Feiertag, vom zweiten Weihnachtsfeiertag angefangen, auf dem Spielplan erscheinen. Am Abend vor Weihnachten war die Vorstellung eine Plage. Das Haus knapp halb voll, eine Menge Freikarten, matte Stimmung. Wir waren alle erleichtert, als der Vorhang fiel und wir einander frohe Weihnachten wünschten. An diesem Abend brachte Torsten mich heim, und als wir zum siebenten Male gute Nacht gesagt hatten, steckte er mir ein kleines Päckchen in die Hand. Auch ich hatte etwas für ihn: ein Paar selbstgestrickte Norweger-Handschuhe. Daß ein Pulli in Arbeit war und zu seinem Geburtstag im Februar fertig sein sollte, verriet ich ihm nicht. Johannes und ich hatten eine Einladung bekommen, den Weihnachtsabend bei Alfred und Mamilein zu verbringen. Aber wir hatten dankend abgelehnt und wollten lieber für uns sein. So feierten wir einen sehr stillen und ruhigen Abend, mit gedämpfter Radiomusik und Johannes’ schönsten Platten. Er ist Bach-Verehrer. Ich bekam von ihm Pelzhandschuhe, und er war sehr gerührt über den Pullover. Der Abend verlief stiller als jeder andere Weihnachtsabend zuvor. Am ersten Weihnachtsfeiertag mußten wir zu Alfred und Mamilein gehen. Es gab ein riesiges Festmahl, mit Austern, Pute, Pfirsichcreme und am Abend einen kalten Weihnachtstisch, wie ich
ihn nie gesehen hatte. Diesmal waren wir nicht die einzigen Gäste. Alfreds Tochter aus seiner früheren Ehe, sein Schwiegersohn und der vierjährige Enkel waren auf Weihnachtsbesuch gekommen und zum Festessen beim Vater. Sie wohnten bei der Mutter, „sie verteilten sich“, wie Mrs. Home, oder Edna, wie sie hieß, lächelnd erzählte. Es war also der reine Familienweihnachtsbesuch, zu dem wir gebeten waren, selbst wenn die Familie, gelinde gesagt, etwas zusammengewürfelt war. Johannes hatte drei Väter und zwei Mütter, Edna hatte nur einen Vater und zwei Mütter, ich zwei Väter und zwei Mütter. Und nun waren wir bei dem Elternpaar, das wir gemeinsam hatten. Ednas Mann konnte nicht Norwegisch, der kleine Junge auch nicht. Und da ich diejenige in der Versammlung war, die am besten Englisch sprach, mußte ich Robert Hörne und den kleinen Tim unterhalten, während die anderen verschnaufen und Norwegisch reden konnten, Ich kann nicht behaupten, daß die Gesellschaft besonders amüsant war. Robert Hörne zeigte mir Bilder von Schottland, wo sie wohnten, und erzählte ein paar Schottenwitze, über die ich höflich lachte. Er berichtete, daß sie bis über Neujahr in Norwegen bleiben und dann zurückfliegen und den Schwiegervater mitnehmen würden. „Ja, stellt euch vor, mein schlimmer Mann verläßt mich“, sagte Mamilein. „Er behauptet, er muß auf eine Geschäftsreise.“ Alfred sah sie liebevoll an. „Ja, leider. Aber du kannst sicher sein, ich werde mich beeilen, zurückzukommen, Ullachen. Mit dem Koffer voller Geschenke für dich.“ Ach ja, an Geschenken war gewiß kein Mangel hier im Haus. Alfreds Weihnachtsgabe für Mamilein glitzerte in ihren Ohrläppchen in Form von zwei tiefroten Rubinen. Aber Mamilein war sicher nicht glücklicher über ihre kostbaren Rubine als ich über ein dünnes, bescheidenes Silberkettchen mit einem hellblauen Aquamarin daran und über die Karte, die zusammen mit dem Aquamarin in der Schachtel gelegen hatte. Die lag in meiner Handtasche, und ich hatte die wenigen Worte darauf wohl fünfzigmal gelesen: „Für die kleine Hausfrau, das Teufelsmädel, meinen guten Kameraden Vivi von Torsten.“ Aber das mit dem Teufelsmädel sollte er trotzdem zurücknehmen, der Racker!
„Aber Vivi“, rief da Mamilein plötzlich, „sag, warst du das im Theater neulich oder war es deine Doppelgängerin?“ „Nein, ich war es. Aber ich mache jetzt Schluß, war bloß so ein Einfall von mir.“ „Na, ich muß schon sagen, du nimmst dich gut aus!“ sagte Mamilein. „Du hast hübsche Beine, Vivi, die hast du von mir.“ Eine unerklärliche Bitterkeit stieg in mir auf, und ich merkte selbst einen fremden Klang in meiner Stimme, als ich antwortete: „Ich habe wohl viel von dir, Mutter. Aber je älter ich werde, desto mehr merke ich, daß ich auch sehr viel von meinem Vater habe.“ Es entstand eine Pause, die zum Glück der kleine Tim mit seinem Geplauder unterbrach. Und dann wurde nicht mehr über meine Theatertätigkeit gesprochen. Es war das erstemal, daß ich zu Mamilein Mutter gesagt hatte. Bei der Nachmittagsvorstellung am nächsten Tag hatte ich aus Elsas Garderobe verschwinden müssen, denn Lilli Brandt, die Kollegin, mit der sie sie teilte, wirkte in dem neuen Stück mit. So mußte ich hinunter in die große Statistinnengarderobe, wo es keineswegs sehr behaglich war. Mit Torsten konnte ich also nur sprechen, während wir tanzten und die Augen des Publikums auf uns hatten. Aber ich konnte ihm doch für den Aquamarin danken, und er gab mir in den Kulissen einen flüchtigen Kuß. „Ich würde dich so gern heimbegleiten, Vivi“, sagte Torsten, „aber ich muß rasch nach Hause. Vater fühlt sich nicht wohl.“ „Ist es etwas Ernsthaftes, Torsten?“ „Ich weiß nicht. Der Doktor sollte heute nachmittag kommen. Bin gespannt, was er gesagt hat.“ Ich wanderte also allein nach Hause. Ich war Torsten und Elsa sehr dankbar. Weil sie die Situation so glücklich gerettet hatten an jenem Abend, als Johannes unerwartet heimgekommen war. Elsa durch ihre Geistesgegenwart, Torsten durch seine Güte und sein Verständnis. Und die Kollegen hatten sich so herzlich für den wohlgelungenen Abend bedankt! Keiner ahnte den Skandal, den es gegeben haben würde, wenn Elsa nicht so blitzschnell Johannes abgefangen hätte. Denn ich kannte meinen Bruder und wußte: wenn er diesen Ausdruck in den Augen hatte, war er kurz vor einer Explosion. Die hatte Elsa aber verhindert. Lieb, klug und geistesgegenwärtig, wie sie war.
In den nächsten Wochen fühlte ich mich verlassen. Ich vermißte das Theater, und ich vermißte Torsten. Er rief einige Male an; einen Vormittag nahm er sich frei von seinem Studium und frühstückte bei mir; einmal waren wir im Kino. Ich fragte, ob er nicht an einem Abend kommen und Johannes kennenlernen wollte. Aber Torsten schüttelte den Kopf. „Erstens kann ich Vater am Abend nicht allein lassen“, erklärte er. „Es war ein Glück, daß diese Krankheit nicht kam, solange ich jeden Abend beschäftigt war. Und zweitens, Vivi, habe ich keine Lust, deinen Bruder jetzt schon zu treffen. Was bin ich? Ein armer Student mit einer Zukunft voll ungelöster Probleme. Ein Mann mit der Einstellung deines Bruders wird erwarten, daß wir uns verloben. Aber das kann ich nicht, Vivi, solange ich auf unsicheren Füßen stehe. Ich weiß nicht, wie lange Vater lebt, und ich weiß – na, ich weiß, kurz gesagt, überhaupt nichts. Ich habe dich lieb, das ist das einzige, was ich weiß.“ „Das ist das Wichtigste, Torsten“, sagte ich. Und zu mir selbst sagte ich, wenn nur das feststeht, dann soll mich nichts erschüttern.
Das Opfer meines Lebens „Zwei in einem Kutter“ ging zum letzten Male über die Bretter. Für diesen Abend wurden wir zu Elsa eingeladen. Die Tante hatte das ganze Haus zur Verfügung gestellt, und Elsa hatte alle eingeladen, die im Stück mitspielten. Allerdings mußte das Fest spät beginnen, denn Elsa hatte eine kleine Rolle im ersten Akt des neuen Stückes. Um halb zehn war sie fertig abgeschminkt. Und um zehn Uhr sollte das Fest steigen. Ich wartete auf sie im Schauspielerfoyer. Da kam Steffen Brede in Kostüm und voller Kriegsbemalung dahergeschlendert. „Na, kleine Verführerin? Man geht heute in Gesellschaft?“ „Ja, wir sind doch eingeladen.“ „Nicht wir, mein Püppchen. Meine Wenigkeit ist verhindert. Angenehm verhindert. Sehr angenehm verhindert. Schöne Dame mit eigener Villa, mein Püppchen. Verschmust wie ein Kätzchen, außerdem hat sie den Weinkellerschlüssel vom Ehemann! – Auf Wiedersehen, mein Süßes, noch eine kurze Szene, dann herunter mit der Kriegsbemalung und kopfüber ins Glück!“ Er winkte mit der Hand und bog um die Ecke. Brr! Ich verabscheute Steffen Brede. Immer mußte er mit seinen Abenteuern prahlen. Der Portier, der gute alte Lauritzen, blickte Steffen Brede kopfschüttelnd nach. „Haben Sie schon so was gehört, Fräulein Fenger? Wie der Bursche angibt? Jawohl, und jetzt ist’s so eine Großkaufmannsfrau mit verreistem Mann und Weinkellerschlüssel – daß die sich nicht schämen!“ Ich blieb steif wie eine Statue stehen. Ein schrecklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Eine Großkaufmannsfrau, der Mann verreist, verschmust wie ein Kätzchen – Weinkellerschlüssel – eigene Villa – o Gott, lieber Gott, es könnte doch nicht – Vivi, schön auf dem Teppich bleiben, du spinnst wohl – es durfte nicht sein. Aber der Gedanke hatte sich bei mir festgehakt und ließ mich nicht mehr los. Ich freute mich so auf dieses Fest bei Elsa. Endlich wieder einen Abend mit Torsten zusammen. Er hatte versprochen, bestimmt zu kommen, denn seinem Vater ging es besser. Jetzt war er nur
heimgegangen, um zu sehen, ob alles geordnet war für den Vater, und dann wollte er um zehn bei Elsa sein. Aber dieses - ach Gott, was sollte ich nur tun…? Mich Torsten anvertrauen? Nein, das konnte ich nicht. Vielleicht war es nur Einbildung von mir. Es gab sicher viele Großkaufmannsfrauen mit verreistem Mann und eigener Villa. Ich konnte doch nicht zu Torsten sagen, ich hätte meine eigene Mutter in Verdacht, daß sie die Abwesenheit ihres Mannes ausnütze – zu – zu – und noch dazu Steffen Brede! Von allen Menschen gerade er! Da kam er von der Bühne. Ich sah ihn im Gang, er verschwand in der Garderobe. Ich setzte mich wieder ins Foyer und dachte nach, bis mein Kopf beinahe zersprang. Nach verblüffend kurzer Zeit zeigte sich Steffen Brede wieder, jetzt abgeschminkt, in Pelz und Persianermütze. „Sitzt man noch immer da, kleines Badepüppchen? Viel Vergnügen heute abend. Möget ihr einen ebenso vergnüglichen Abend haben wie ich, liebe Kinder.“ Die Drehtür schwang hinter ihm zu. Ich hörte, daß er seinen Sportwagen startete. Als ich ihn verschwinden hörte, wurde mir klar, was ich zu tun hatte. „Lauritzen, sagen Sie bitte Elsa Semming, daß ich gehen mußte. Ich komme wahrscheinlich erst später zu ihr. Wollen Sie das ausrichten? Danke.“ Damit war ich aus dem Theater hinaus und lief wie ein geölter Blitz zum Bus. Pech, daß ich nicht genügend Geld für ein Taxi bei mir hatte. Die Busfahrt zu Mamilein dauerte mindestens eine halbe Stunde. Gedämpftes Licht aus den Wohnzimmerfenstern. Sonst war das Haus dunkel. Ein paar Meter von dem Tor entfernt sah ich ein geparktes Auto. Ich hatte mir nie die Autonummer von Steffen Brede gemerkt, aber es war ein Sportwagen, und er war grün wie seiner. Mein Herz klopfte, als ich klingelte. Ich wartete. Kein Laut. Ich klingelte wieder, lange und dringend. Endlich raschelte es hinter der Tür. Sie wurde einen Spalt geöffnet. Mamilein selbst stand im Türrahmen. „Wer ist da?“ Sie konnte nicht sehen, wer da im Dunkeln stand. „Ich bin es, Mamilein.“ Ich ging stracks hinein und schloß die Tür hinter mir. „Aber Vivi,
meine Liebe – um diese Zeit…“ „Plötzlich bekam ich Lust, auf einen Sprung zu dir zu kommen. Dachte, du könntest dich einsam fühlen, jetzt, wenn Alfred fort ist. Wann haben wir schon mal Gelegenheit, gemütlich unter uns zu klönen.“ Meine Augen überflogen die Garderobehaken. Und mein Herz blieb einen Moment stehen. Da hing Steffen Bredes auffälliger Pelz und darüber seine Persianermütze. „Ich sehe, du hast einen Gast, Mamilein. Sogar einen, den ich kenne. Das paßt ja fein, da habe ich Begleitung für den Heimweg, wenn es soweit ist.“ Ich hörte, daß meine Stimme eiskalt war, und ich fühlte auch eine kühle, starke Ruhe in mir. „Du verstehst, Vivi…“ „Gewiß verstehe ich, Mami. Du verstehst sicher auch.“ Hart und zielbewußt ging ich auf die Wohnzimmertür zu, hart und unbarmherzig öffnete ich sie und trat ein. Im Sofa saß Steffen Brede. „Na, Ulla, war es… Aber, lieber Himmel, was suchen Sie denn hier?“ „Guten Abend, Herr Brede. Was ich hier suche? Ich besuche natürlich meine Mutter. Wußten Sie nicht, daß Frau Bergum meine Mutter ist?“ Hätte ich in diesem Augenblick den geringsten Sinn für Humor gehabt, würde ich wohl laut gelacht haben über Steffen Bredes törichtes Gesicht. Aber mir war ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Ich wandte mich zu Mamilein um. „Also, Mutter – das war die Überraschung, die du mir versprochen hast? Sie verstehen, Herr Brede, als Mutter mich bat, heute abend heraufzukommen, versprach sie mir eine Überraschung.“ Hatte ich einmal gesagt, ich hätte kein Schauspielertalent? Etwas davon mußte ich immerhin besitzen. Ich kämpfte für Mamileins Ruf, für ihr eheliches Glück einen verzweifelten Kampf. Und dieser Kampf zwang mich zu einer Leistung, die ich nie für möglich gehalten hätte. Der Gedanke an das ungeheure Opfer, das ich brachte, machte meinen Kampf noch verbissener. Wenn ich auf den Abend verzichtete, auf den ich mich so gefreut hatte, auf die kostbaren Stunden mit meinem geliebten Torsten – dann wollte ich nicht, daß mein Opfer vergeblich sein sollte. Ich ließ mich neben Steffen Brede aufs Sofa sinken. „Mixen Sie mir einen Cocktail, Herr Brede, ich bin müde und brauche einen.“
Endlich fand Steffen Brede seine Stimme wieder. „Ach, ich dachte… ich glaubte, du wärest… Sie wären auf Elsas Fest?“ „Da sollte ich auch sein. Aber als Mutter anrief und mich zu sich bat, sagte ich ab. Man sagt doch nicht nein zu seiner Mutter. Ich soll übrigens von Johannes grüßen, Mutter.“ Ich hatte ein Glas in die Hand gesteckt bekommen, jetzt wandte ich mich zu Steffen Brede. „Können Sie verstehen, daß ich stolz bin auf meine junge, hübsche Mutter, Herr Brede? Ist es nicht unbegreiflich, daß sie einen Sohn von achtundzwanzig Jahren hat? Prost, Mutter, es war reizend von dir, mich herzubitten.“ Mamilein murmelte etwas von „Vielleicht ein belegtes Brot…“ „Blendende Idee“, sagte ich entzückt, und doch graute mir davor, etwas zu essen. Ob ich überhaupt einen Bissen schlucken konnte? „Hast du eine Hausgehilfin da, oder sollen wir uns selbst bedienen?“ Es stellte sich heraus, daß die Hausgehilfin durch Abwesenheit glänzte. So zog ich Mamilein mit mir in die Küche. „Vivi“, begann sie. „Schweig!“ sagte ich hart. „Du machst jetzt gute Miene zum bösen Spiel, verstanden? Du hast mich angerufen und zu dir gebeten, weil du dachtest, es würde nett für mich sein, einen meiner großen Kollegen vom Theater zu treffen, sozusagen privat. Halte fest an dieser Version.“ „Laß mich erklären, Vivi.“ „Nicht jetzt. Wenn Alfred erfährt, daß Brede hier war, muß es heißen, ,Vivi und ein Freund von ihr’, verstanden?“ Ich konnte selbst hören, daß meine Stimme einen unheimlichen Klang hatte. Am liebsten hätte ich vor Verzweiflung laut geschrien. Da ich das nicht konnte, sondern dastehen und Brote streichen mußte, auf die keiner von uns Lust hatte, wurde meine Selbstbeherrschung so hart und verdichtet, daß sie wie Metall hinter meinen Worten klang. Schließlich hatten wir eine Platte mit belegten Broten angerichtet. Ich nahm sie, um sie hineinzutragen. Vor der Tür drehte ich mich nach Mamilein um. „Zeige jetzt, daß du etwas schauspielern kannst, setze ein lächelndes Gesicht auf und kokettiere damit, daß du eine Tochter hast, die wie deine Schwester aussieht. Necke Steffen Brede, rede vom Theater, nur mache irgend etwas. Laß mich nicht allein die
ganze Bürde tragen!“ Dann ging ich hinein, und Mamilein kam hinterher mit Tellern und Gläsern. Und ihre Stimme klang beinahe natürlich, als sie Steffen Brede fragte, ob er Bier zu den Broten haben wolle. Ich lenkte das Gespräch aufs Theater, lächelte und plauderte, während meine Nerven zitterten. Heimlich blickte ich auf die Uhr. Lieber Gott, jetzt war das Fest bei Elsa in vollem Gange. Und Torsten, was dachte sich Torsten? Nein, ich durfte nicht daran denken, ich mußte mich auf das konzentrieren, was ich mir hier vorgenommen hatte. „Wann erwartest du Alfred zurück, Mutter?“ Mamilein befeuchtete die Lippen. „Morgen, oder vielleicht übermorgen, es kommt darauf an, ob er über Oslo fährt.“ „Ach, wenn ich ihn recht kenne, kommt er direkt heim. Du wirst sehen, seine Sehnsucht ist so groß, daß er schon mit der Nachtmaschine kommt.“ Mamilein wurde blaß, und gleich, als ich das gesagt hatte, durchfuhr es mich: das war ja gar nicht so unmöglich, daß Alfred schon auf dem Heimweg war. Aber ich hatte genug von Männern, die überraschend heimkamen. Ich hatte das einmal erlebt; sollte es noch einmal geschehen, würde ich glatt einen hysterischen Anfall bekommen… Es geschah. Und ich wurde nicht hysterisch. Wir hatten schließlich die belegten Brote doch verdrückt, und ich hatte, ohne die anderen zu fragen, das Radio angestellt. So brauchten wir uns nicht so schrecklich anzustrengen, einander zu unterhalten. Am liebsten wäre ich aufgebrochen, aber es wäre doch zu auffallend gewesen. Ich mußte diese schreckliche Komödie zu Ende spielen. So hörten wir also Radio. Auf einmal hob Mamilein den Kopf und lauschte. Kein Zweifel, jemand schloß die Haustür auf. Auf einmal wurde meine Stimme laut und hell. „Hörst du das, Mutter, was sagte ich? Ich wußte, daß er nicht länger warten konnte.“ Mamilein erhob sich, und gleichzeitig ging die Tür auf. „Ullachen…“ „Nein, aber Alfred…“ Er breitete die Arme aus und drückte Mamilein an sich. Dann erst bemerkte er uns. „Nein, bist du da, Vivi? Das ist aber nett, daß du deine Mutter
nicht allein sitzen läßt.“ „Willkommen, Alfred, und das ist ein Kollege von mir vom Theater, Herr Brede.“ „Na, ich kenne doch Herrn Brede – vom Aussehen her wenigstens! Das war eine gute Idee von dir, Vivi, daß du ihn mit heraufgebracht hast. Mir gefiel der Gedanke gar nicht, daß mein Ullamädchen allein hier oben saß. – Nein, setzt euch wieder! Ich möchte euch nicht etwa verjagen. Mach mir einen Whisky zurecht, Ullachen, und nachher wollen wir sehen, was der Weihnachtsmann mitgebracht hat.“ Froh, glücklich und lächelnd saß Alfred da, einen Arm um Mamileins Schulter mit strahlender Besitzermiene und so überströmend in seiner Freude, daß er sie mit anderen teilen mußte. Keine Rede davon, daß wir gehen durften, er hatte doch etwas Besonderes, auch für mich, im Koffer. Er wollte nur ein paar Minuten verschnaufen und den Durst stillen, dann wollte er gleich… Ich saß wie auf Kohlen. Endlich, endlich stand Alfred auf. Er und Mamilein verschwanden. Wir hörten Knistern und Rascheln von Papier aus dem Rauchzimmer. Und dann erschien Mamilein in einem wundervollen Pelzcape und legte mir etwas in die Hände. „Hier, Vivi, dein alter Onkel darf wohl…“ Ich sah mir seine Gabe an. Es war eine sehr geschmackvolle, elegante Handtasche. „Das ist lieb von dir, Alfred…“ „Und darin liegt etwas, was du Johannes mitnehmen kannst, mit herzlichen Grüßen.“ Eine echte Dunhillpfeife. Ja, Alfred war sehr nett. Ich hatte ihn gern. Und wenn ich heute das größte Opfer meines Lebens gebracht hatte – Alfred war es wert. Ich wagte einfach nicht daran zu denken, wie es gekommen wäre, wenn ich nicht diese „Eingebung“ gehabt hätte und hier heraufgestürzt wäre. Dann endlich, endlich konnte ich aufbrechen. Alfred hatte einige nette Worte mit Steffen Brede gewechselt. Der war nicht umsonst Schauspieler, er antwortete höflich und natürlich. Ich bangte vor der Fahrt in die Stadt, allein mit Steffen Brede. Hart und sachlich konnte man meine Furcht so formulieren: Die Mutter ist ihm entgangen, vielleicht versucht er es jetzt bei der Tochter. Aber ich glaube, auch für Steffen Brede war der Abend zu
aufreibend gewesen. Jedenfalls bewahrte er eisiges Schweigen während der Fahrt. Als er vor meiner Tür hielt, stieg er aus und wartete, bis ich aufgeschlossen hatte. Ein einigermaßen höfliches „Gute Nacht“, und dann war ich innerhalb meiner vier Wände und schloß die Tür hinter mir mit bebenden Händen. Es war schon zwölf Uhr, und ich ging ans Telefon. Elsa antwortete, und ich hörte Lachen und Lärm um sie herum. „Ihr seid noch fest dabei, Elsa?“ „Was? Nein, seid doch still, ihr da! Wer? Ach du bist es, Vivi? Wo bist du denn geblieben? Komm nur her, wir bleiben noch lange beisammen. Torsten war wütend; er hat den ganzen Abend dagesessen wie ein versteinertes Gewitter, und jetzt ist er gegangen. Aber du mußt noch kommen. Unsinn, so müde bist du ja gar nicht! – Nein, nein. Nun ja, dann nicht. Schade, Vivi. Nein, ihr da, ich kann ja nichts hören, könnt ihr nicht den Plattenspieler leiser stellen!“ Ich legte den Hörer auf. Ich bebte am ganzen Körper und ich schluckte, schluckte krampfhaft, als ich mich so still wie möglich in mein Zimmer schlich. Ich fühlte, wie ich taumelte. Gerade konnte ich noch die Tür meines Zimmers schließen, da stürzten die Tränen. Ich heulte, daß ein einziger, schmerzhafter Krampf meinen Körper schüttelte. Es dauerte lange, lange, ehe ich zur Ruhe kam, und noch länger, ehe ich mich auskleiden und richtig zu Bett gehen konnte. Aber schließlich lag ich und fühlte die kühlen Laken wohltuend an meinem heißen Körper. Alfred und Mamilein waren jetzt glücklich. Wo aber war Torsten? Was dachte er von mir? Dieser Abend hätte Torsten und mir gehören sollen. Ich schloß die Augen, fühlte die Müdigkeit in meinem Kopf und Körper schmerzen. Das Opfer war gebracht. „War es lustig bei Elsa?“ fragte Johannes. „Was? Ach – ja, gewiß, riesig nett. Elsa ist ja so eine geschickte Wirtin…“ „Du siehst blaß aus. Bist du spät heimgekommen?“ „Hast du mich nicht gehört?“ „Nein, ich habe geschlafen.“ „Ach so. Ja, es wurde ziemlich spät. Aber jetzt ist auch Schluß mit dem Bummeln. Ich habe genug.“
„Wie vernünftig du geworden, bist.“ Johannes lächelte ein bißchen. „Übrigens hat dich gestern jemand angerufen, ein… ein…“ „Hieß er Holm?“ „Ja, richtig, Holm. Ich sagte, du wärest bei Elsa Semming. Hat er dich erreicht?“ „Nein, aber das ist nicht so wichtig.“ Ich leerte die Kaffeetasse und schenkte neu ein. Essen konnte ich nichts. Und es war eine unsagbare Erleichterung, als Johannes die Wohnung verließ. Wie im Schlaf machte ich Ordnung, staubte ab, räumte die Schlafzimmer auf und wusch das Geschirr. Ich hatte Kopfschmerzen, und ich fror. Ich zog eine Strickjacke an und fror trotzdem. Dann machte ich Feuer in dem offenen Kamin, setzte mich hin und starrte in die Flammen. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich fuhr zusammen. Ob es wohl… Ach, lieber Gott, laß es Torsten sein – lieber Gott… Es war Mamilein, die draußen stand. Im Nerzmantel und mit einem Blumenstrauß in der Hand. „Vivi, ich muß mit dir reden.“ Die Augen unter dem Nerzhütchen flackerten hilflos. „Komm herein.“ Meine Stimme war tonlos. „Vivi, wieso hast du gewußt… warum…“, sie stockte. Ich antwortete hart und kurz: „Ich hörte Steffen Brede etwas von einem Stelldichein schwätzen mit einer reichen Frau, mit Villa und Weinkellerschlüssel und verreistem Mann.“ „Und da… bist du davon ausgegangen, daß ich das bin?“ „Ich ging nicht davon aus. Ich dachte daran als an eine grausame Möglichkeit.“ „Vivi, was glaubst du… was denkst du…“ „Ich glaube und denke das, was wahr ist. Daß dir vollständig jedes Verantwortungsgefühl fehlt. Die Macht, die du über Männer hast, nützt du aus zu etwas, was für dich ein Gesellschaftsspiel geworden ist. Es ist ein Lebensbedürfnis für dich geworden, anbetende Mannsbilder um dich zu haben. Gestern hätte es dein Leben zerstören können.“ Mamilein schluchzte ein bißchen und wischte sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch. „Du weißt nicht, wie das ist…“ „So, das weiß ich nicht? Glaubst du, du bist die einzige, die die Männer um den kleinen Finger wickeln kann? Das kann ich auch, sogar besser als du, denn ich habe etwas, was du nicht hast – die Jugend!“
Ich kam mir brutal und unbarmherzig vor, aber ich redete weiter, und ich sah, daß es Mamilein weh tat. „Aber ich habe etwas, von dem du keine Ahnung hast, ich habe Verantwortungsgefühl! Die Macht, die du über Männer hast, solltest du zu etwas Gutem ausnützen. Du kannst einen Mann dazu bringen, alles zu tun, worum du bittest. Bitte doch zum Kuckuck nicht um Geschenke und Anbetung. Sporne lieber einen Mann an, das Beste in seiner Arbeit zu leisten oder auf irgendeinem vernünftigen Gebiet. Großer Gott, willst du denn nie erwachsen werden? Jetzt bist du siebenundvierzig, ich bin zwanzig, und hier sitze ich und bin die erwachsenere von uns beiden.“ „Du… du bist so anders. Du warst früher nicht so.“ „Weißt du, was ich früher war? Ich war nichts! Ein kleines Schulmädchen, das recht vernachlässigt wurde, ehe Johannes Ordnung in mein Leben brachte. Du, ich, wir beide schulden Johannes alles, bist du dir darüber klar? Jetzt bin ich aber kein Niemand mehr, die Augen sind mir aufgegangen für allerhand Dinge im Leben!“ Jetzt konnte Mamilein nicht mehr. Sie warf sich aufs Sofa und weinte, als ob sie geschlagen würde. Das schicke Hütchen glitt ihr über das eine Ohr, die blonden Haarwellen wurden zerzaust, und das wenige, was ich von ihrem Gesicht sah, war rot und glänzend und tränennaß. Als ich so dasaß und sie anblickte, sank eine Art von müdem Frieden über mich. Die Bitterkeit und der Aufruhr legten sich. Ich wollte eigentlich noch viel mehr sagen. Aber nun war es mir gleichgültig geworden. Ich saß ruhig da und schaute auf meine kleine wildschluchzende Mutter. Und dann klingelte das Telefon. „Guten Tag, Vivi.“ „Ach - Torsten!“ „Wo warst du gestern?“ Die Stimme war kalt und scharf. „Bei meiner Mutter.“ „Da warst du also? - Vivi, ich wollte dir eine Chance geben, die Wahrheit zu sagen, aber die hast du jetzt verspielt.“ „Was meinst du denn?“ „Ich habe gesehen, wer dich gestern nacht heimbegleitete. Ich ging von Elsa kurz vor zwölf. Als du heim kamst, stand ich auf der anderen Seite der Straße. Und ich weiß auch…“
„Torsten warte, laß dir erklären…“ Aber die Stimme fuhr hart und unbarmherzig fort: „Ich weiß auch, daß Steffen Brede nicht zu Elsa kommen konnte, weil er ein Stelldichein mit einem charmanten kleinen Teufelsmädel hatte, ja – diese Worte stammen von ihm, ich habe sie selbst gehört. Gut, dann haben wir jetzt einander nichts mehr zu sagen.“ „Torsten – warte, ich kann es jetzt nicht erklären, ich bin nicht allein…“ „Nein, das will ich dir gern glauben.“ „Torsten, meine Mutter ist hier.“ „Schon wieder deine Mutter? Erfinderisch bist du ja nicht. Ich bin ein schrecklicher Esel gewesen, aber du hast mir eine kräftige Lehre erteilt, Vivi. Ich danke dir untertänigst dafür.“ „Ach, Torsten…“ Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer aufgelegt. Als ich wieder ins Zimmer ging, war ich kalt und durch und durch wie versteinert. Mamilein weinte nicht mehr. Sie saß auf dem Sofa und trocknete die Augen. Dann kam die Puderdose zum Vorschein. „Sei so gut und geh jetzt, Mutter, ich kann nicht mehr.“ „Vivi – es ist nur… hast du es Johannes erzählt?“ „Nein, Johannes glaubt, daß ich gestern auf einem Fest war. Nicht deinetwegen habe ich den Mund gehalten. Ich wollte Johannes nicht weh tun. Ich habe ihm auch nicht die Pfeife gegeben oder die Handtasche gezeigt. Das tue ich heute beim Mittagessen. Du warst heute hier und hast beides gebracht. Verstehst du?“ „Ja – jawohl, Vivi.“ „Und gelegentlich mußt du Alfred sagen, er soll es nicht vor Johannes erwähnen, daß Steffen Brede und ich bei dir waren. Gib als Grund an, daß Johannes es nicht gern sieht, wenn ich mit Steffen Brede zusammen bin. Bist du im Bilde?“ „Ja, Vivi.“ „Gut. Es ist leider nötig, diese Lüge zu gebrauchen. Gott gebe, daß es das letztemal ist, daß du deinen Mann anlügst.“ „Es… es soll das letztemal sein, Vivilein.“ Es kam flüsternd. Der Blumenstrauß, den sie mitgebracht hatte, blieb auf dem Tisch liegen. „Du vergißt deine Blumen, Mutter.“ „Sie sind für dich, Vivi.“ Dann ging sie. Ich packte die Blumen aus. Langstielige, duftende Rosen. Ich umfaßte sie so fest, daß die Dornen in meine Hand stachen. Ich ging
hart und schnell durchs Zimmer und warf den Strauß ins Kaminfeuer.
Start am Geburtstag Die Tage schleppten sich hin. Ich hatte einen langen Brief an Torsten geschrieben. Lang, verwirrt und verzweifelt. Ich las ihn durch und warf ihn weg. Schrieb einen neuen und warf auch diesen weg. Der, den ich schließlich sandte, bestand nur aus wenigen hilflosen Zeilen: „Liebster Torsten! Was Du von mir glaubst, ist erschütternd falsch. Du mußt mir eine faire Chance geben, mit Dir zu reden und alles zu erklären. Es ist wahr, daß S. B. mich heimbegleitete, sehr gegen meinen Willen, und es ist wahr, daß ich mich an jenem Abend bei meiner Mutter befand. Es ist ebenfalls wahr, daß sie bei mir saß, als Du anriefst. Torsten, mit geht es so elend. Dir kann ich alles erzählen, weil Du der einzige Mensch bist, der alles von mir und meiner Familie weiß und meine Schwierigkeiten kennt. Kufe mich an, sei so lieb. Und glaube mir, wenn ich sage, daß ich immer nur, nur Dein bin. Deine Vivi.“ Ich bekam keine Antwort. „Bist du krank, Vivi?“ Johannes’ Stimme klang besorgt. „Nein, Johannes, warum meinst du?“ „Du bist so dünn und siehst schlecht aus. Gibt es etwas, das dich bekümmert? Kann ich etwas für dich tun?“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Aber nein, lieber Johannes, ich bin ganz auf dem Damm. Vielleicht ist es der Gegensatz zu dem Theaterleben, der mir etwas zusetzt.“ „Das kann schon sein“, meinte Johannes. Dann sagte er mit heiterer Miene: „Willst du jetzt nicht Ernst machen mit der Stenografie und dem Maschinenschreiben, Vivi? Ich will dir diesen Kurs gern spendieren!“ „Tausend Dank, Johannes. Ja, ich will mich zu einem Kurs melden.“ Und das tat ich. Ich warf mich auf diese Arbeit und versuchte, alle Gedanken darauf zu konzentrieren. Ich hatte mich für norwegische und englische Stenografie gemeldet. Das war gut – um so mehr Arbeit kostete es. Mein zwanzigster Geburtstag stand bevor. Johannes bestand
darauf, daß wir den Tag feiern sollten. Ob ich nicht Lust hätte, eine Party zu geben? Ich weigerte mich, versicherte, daß ich lieber mit ihm allein sein wollte. „Ja, aber Elsa?“ Doch ja, damit war ich einverstanden. Ich lud Elsa zum Mittagessen ein. Blumen standen auf dem Frühstückstisch, und auf meinem Teller lag ein Juwelieretui. Es enthielt ein hübsches, schlichtes Goldarmband. Vormittags kam Mamilein zu Besuch, mit Blumen und Geschenken. Diesmal landeten die Blumen nicht im Kamin. Mamilein blieb nur kurz. Ich glaube, wir waren beide erleichtert, als sie die notwendige halbe Stunde abgesessen hatte. Aus einer Konditorei kam eine üppige Geburtstagstorte, „Vivi, 20 Jahre“ stand in Schokoladenglasur darauf. Johannes war wirklich rührend. Ich kochte ein feines Mittagessen, und Elsa kam. Während Johannes sein Mittagsschläfchen hielt, plauderte ich mit Elsa. „Hör mal, Vivi, dir geht es elend, du brauchst gar nicht zu protestieren. Man sieht es dir ja deutlich genug an. Es ist etwas zwischen dir und Torsten. Und jetzt ist er fortgereist…“ Mir stockte der Atem. „Er ist weggereist?“ Dann hat er den Brief nicht bekommen, dachte ich gleichzeitig. „Wußtest du das nicht? Er fuhr gleich am Tag nach meinem Fest fort. Na also, Vivi, was ist denn eigentlich zwischen euch beiden? Es geht mich ja nichts an, aber Torsten war so entsetzlich enttäuscht an dem Abend, als du nicht kamst, und dir geht es jetzt noch schlimmer. Kann ich irgend etwas für dich tun, dann sage es. Kann ich es nicht, dann habe ich einen Vorschlag für dich.“ „Wo ist Torsten denn hingefahren?“ „Ahne ich nicht. Aber er wollte länger fortbleiben. Doch was ich sagen wollte, Vivi: Weißt du, ich mag Johannes gern. Er ist sicher nicht besonders begeistert von mir. Ich gehöre für ihn ja zu dem bösen, leichtsinnigen Künstlervölkchen.“ Elsa sagte es lächelnd. „Aber trotzdem, ich habe ihn gern. Und ich bewundere ihn, ja, vielleicht mehr als irgendeinen Menschen. Du, Vivi, wenn nun das Dasein ziemlich leer für dich ist, könntest du dich nicht bemühen, etwas daraus zu machen, ihm einen Sinn zu geben?“ „Welchen denn, was meinst du?“
„Lehre Johannes, froh zu sein, Vivi. Da hast du meine ganze Weisheit in einem kurzen Satz. Erinnerst du dich noch an den Abend, als er in deine Gesellschaft platzte? Du tatest mir mächtig leid. Beinahe wäre das Ganze verdorben gewesen. Wenn ich damals nicht eingegriffen hätte, hätte es einen Skandal gegeben, nicht wahr? Aber noch mehr hat mir Johannes leid getan. Mit achtundzwanzig Jahren so alt zu sein! Aber sieh mal seine Augen an, Vivi, höre auf seine Stimme, wenn er ruhig und in guter Stimmung ist. In seinen Augen und in seiner Stimme liegt Wärme.“ „Und was soll ich tun, Elsa?“ „Ihn dazu bringen, daß er von sich selbst spricht, von seinen Interessen. Was weißt du eigentlich von deinem Bruder? Er ist zuverlässig in seiner Arbeit, hat einen Vertrauensposten, wie es heißt. Das wissen alle, die ihn kennen. Und er sammelt Briefmarken. Was mehr? Sieh dir sein Bücherregal an, Vivi. Liest du vielleicht mal etwas von seinen Büchern? Kann er seine Interessen mit dir teilen? Schau her, klassische Romane, moderne Romane, Reiseschilderungen, Biographien. Siehst du nicht, daß er ein reiches Innenleben hat, mit dem er allein ist? Allein, weil er keine Freunde hat. Und warum hat er keine: Weil er sein Leben dazu gebraucht hat, das Dasein für dich und deine Mutter in Ordnung zu halten. Er hat so viel für dich getan! Ist es nicht an der Zeit, daß du ihm nun etwas davon vergiltst? Lies doch mal ein paar seiner Bücher. Sprich mit ihm darüber. Sieh dir seine Schallplatten an. Wie oft spielt er sie? Natürlich sehr selten. Hör dir mit ihm zusammen gute Musik an. Frage ihn, laß dir erklären. Gib ihm Zutrauen, Vivi, und lehre ihn zu verstehen, daß er eine erwachsene Schwester hat, mit der man reden und Gedanken austauschen kann. Und mit der man lachen kann. Johannes kann nicht lachen, Vivi! Denk dir, achtundzwanzig Jahre alt, und nicht herzhaft lachen zu können!“ Ich saß ganz still und hörte zu. Ab und zu nickte ich mit dem Kopf. „Elsa, du hast recht, du hast so recht. Und ich fühle mich wie ein abscheulicher Egoist. Jetzt weiß ich: mein ganzes Leben hindurch bin ich egoistisch gewesen.“ „Da ist es ja ein Glück, daß dein Leben bisher nur zwanzig Jahre gedauert hat“, sagte Elsa trocken. „Da ist es noch nicht zu spät, anzufangen.“ Elsa mußte zeitig gehen, sie sollte auftreten. Ich räumte die Kaffeetassen weg und kam ins Zimmer zurück.
Johannes las Zeitung. Nachdenklich betrachtete ich ihn von der Seite. Eigentlich war es eine Schande, daß Elsa meinen Bruder soviel besser kannte als ich! Ob ich gleich einen Versuch machte, mal auf seine Interessen einzugehen, wie Elsa es mir geraten hatte? Ich sah im Radioprogramm nach. „Johannes, jetzt ist ein Mozartkonzert, sollen wir uns das anhören?“ Erstaunt ließ Johannes das Zeitungsblatt sinken: „Machst du dir denn etwas aus Mozart, Vivi?“ „Natürlich höre ich gern gute Musik. Wieviel ich davon verstehe, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vielleicht könntest du mir manches erklären?“ Johannes’ ernstes Gesicht leuchtete auf. Wir hörten das Konzert zusammen, es war die Es-Dur-Symphonie. Nachher schwiegen wir eine Weile. Dann wagte ich mich weiter vor: „Johannes, bitte betrachte mich nicht als einen Idioten. Aber kannst du nicht so nett sein und mir erklären, was eine Symphonie eigentlich ist?“ „Ja, das kann ich schon, wenn du es wirklich wissen willst.“ „Deshalb frage ich ja.“ Dann erklärte Johannes. Von der Sonate ging er aus, erklärte deren Aufbau und erzählte dann weiter von der Symphonie. Ich nickte und konnte seinen Erklärungen folgen. „Übrigens“, sagte Johannes, „kannst du das alles nachlesen!“ Er stand auf und holte ein Buch aus dem Regal. Nicht einen Augenblick brauchte er zu suchen, er wußte genau, wo es stand. „Hier hast du ein Musiklexikon, daraus habe ich auch meine Weisheit.“ „Ich will gern darin lesen, Johannes. Wahrscheinlich kann ich es aber viel leichter begreifen, wenn du es mir erklärst.“ Johannes öffnete die Tür seines Plattenschrankes. „Wir wollen jetzt eine Sonate von Haydn spielen. Während wir die anhören, solltest du lesen – sieh, hier.“ Er blätterte und schlug die Seite auf. „Mal sehen, ob du es verstehst.“ Ich hörte zu und las. Und ich fand alles so interessant, daß ich gar nicht mehr daran dachte, warum ich dies Thema überhaupt angefangen hatte. Was vorher für mich einfach „gute Musik“ gewesen war, bekam eine neue Bedeutung und einen neuen, klaren Sinn. Ich hörte die wiederkehrenden Themen heraus. Johannes konnte alle meine Fragen beantworten. Er wurde ganz beredt, zeigte
Sicherheit, Wissen, beinahe Überlegenheit – etwas, was ich nie von ihm erwartet hatte, was ihm aber gut stand. Wir merkten nicht, wie die Zeit verging, bis die Uhr elf schlug. „Ja, aber Vivi“, sagte Johannes da ganz entsetzt, „du bringst mich dazu, die Hauptsache zu vergessen.“ Er ging hinaus und kam gleich wieder herein. Tolpatschig und befangen stand er in der Tür, mit zwei Gläsern in der einen Hand und einer halben Flasche Sekt in der anderen. Guter, großer Bruder, mein täppischer lieber Bär, dachte ich zum erstenmal voller Zärtlichkeit, ich weiß, was ich dir danke. „Ich finde, daß wir zu deinem Geburtstag doch auf dein Wohl trinken müssen, Vivi, du und ich.“ Er schenkte ein. „Ja, Johannes, du und ich.“ Ich hob mein Glas und sah ihm in die Augen. Und da nahm er auf einmal sein Glas in die linke Hand und reichte mir die rechte. „Liebes kleines Schwesterlein.“ Dann leerten wir die Gläser bis auf den Grund.
Die kleine Gazelle Wie hatte Elsa doch recht! Ich nahm mir vor, für Johannes da zu sein, ein wenig von der grenzenlosen Schuld zu bezahlen, die ich ihm gegenüber hatte. Es war sonderbar. Ich war innerlich so unglücklich, daß ich Torsten verloren hatte. Die Bitterkeit gegen ihn, weil er so schlecht von mir gedacht hatte, ohne mich etwas erklären zu lassen, nagte und nagte an mir. Es wäre eine glatte Lüge, wenn ich behaupten würde, ich hätte einen Überschuß an Lebensfreude zu verschwenden gehabt. Aber trotzdem. Jedes, auch das leiseste Lächeln spiegelte sich in Johannes’ Gesicht wider und gab mir neue Stärke. Ich las seine Bücher, manche davon verschlang ich geradezu. Ich sprach mit Johannes darüber und war oft stumm vor Staunen über all die Kenntnisse, die er besaß. „Liebe Vivi“, schmunzelte Johannes, als ich ihn eines Tages offenkundig bewunderte, „die Bücher sind immer meine besten Freunde gewesen, und seine Freunde studiert man doch und lernt sie bis auf den Grund kennen.“ Das tat mir weh. Denn ich erinnerte mich, wie ich einmal Johannes ins Gesicht gesagt hatte, er hätte überhaupt keine Freunde. Dabei war das meine Schuld, meine und Mamileins. Wir hörten zusammen Musik, gingen in Konzerte, drehten das Radio an. Ab und zu besuchte uns Elsa, und sie nahm an unseren Interessen teil. Ihre Augen bekamen einen leuchtenden Ausdruck, wenn Johannes zu reden anfing. Ein einziges Mal in dieser Zeit mußte ich weinen. Das war, als ich den halbfertigen Pulli wegräumte, den ich Torsten hatte schenken wollen. Direktor Bentsen kam wieder in die Stadt. Diesmal war es selbstverständlich, daß Johannes ihn mit heimbrachte. Ich bat Elsa zu uns, und wir hatten alle zusammen einen netten Tag. Johannes war redseliger, als ich ihn je gehört hatte. Die Gemütlichkeit, die wir Direktor Bentsen bei seinen Besuchen bieten konnten, trug gute Früchte. Johannes’ Chef wälzte gern einige gesellschaftliche Pflichten auf seinen Bürochef ab. Und für mich war es Ehrensache, den Gästen, die Johannes von Zeit zu Zeit mit heimbrachte, es so behaglich wie möglich zu machen. Ich legte mir einen kleinen Vorrat an Konserven zu und hatte immer einige
Getränke zu Hause. Johannes wußte, daß auch ein unerwarteter Gast jederzeit willkommen war. Ich selbst empfand es als durchaus angenehm, daß ab und zu eine Schachtel Konfekt oder ein Blumenstrauß für mich abfielen. Ich nasche gern und liebe Blumen. Johannes fuhr wieder zu einer Tagung des Philatelistenvereins nach Oslo. Diesmal waren dort Briefmarkensammlungen ausgestellt worden, und Johannes erhielt den zweiten Preis und viel Lob und Anregungen. Direktor Bentsens Besuche wurden häufiger. Immer brachte er Leben und Lustigkeit mit sich. Und immer bestand er darauf, daß Elsa die vierte im Bunde sein sollte. Ich fragte Johannes, ob Bentsen wirklich so viele Geschäfte hier in der Stadt abzuwickeln hätte. Da schmunzelte Johannes. „Na, es sind wohl nicht bloß Geschäfte, die ihn hierherziehen. Das solltest du doch verstanden haben.“ Nun, das war deutlich genug! Aber Johannes schien das nicht zu mißfallen. Im Gegenteil. Er konnte ja nicht wissen, daß ich mein Herz an einen Habenichts verloren hatte, der außerdem noch spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Es war vielleicht ganz natürlich, daß Johannes Bentsens Begeisterung für mich mit Freude betrachtete. Ein vielversprechender, tüchtiger Geschäftsmann, ein gutaussehender Herr Mitte Dreißig, für einen verantwortungsbewußten älteren Bruder mußte Bentsen der ideale Schwager sein. Ich mochte ihn auch gern. Er brachte frischen Wind, Großstadtluft, Leben und Fröhlichkeit mit sich. Bei einem seiner verdächtig häufigen Besuche rief er eines Morgens an. „Morgen, Vivi. Willst du leichtsinnig sein und heute mal deine Hausfrauenpflichten im Stich lassen?“ Auf Bentsens Vorschlag sagten wir alle längst du zueinander. „Wofür hältst du mich?“ „Doch, hör mal zu. Ich muß in den Langerudwald hinauf und ein Grundstück ansehen. Kannst du nicht mitkommen? Es ist so schönes Wetter. Ich möchte wetten, daß wir sogar Leberblümchen finden.“ „Ja, aber Johannes muß doch sein Mittagessen haben.“ „Kann er sich denn nicht dieses eine Mal selber helfen? Also, sag ja, oder soll ich den großen Bruder anrufen und artig fragen, ob du darfst?“ Ich willigte ein, rief Johannes an. Er war sofort einverstanden.
Dann kam Helge Bentsen und holte mich mit einem Taxi ab. „Das habe ich nun davon!“ sagte Helge. „Was hast du wovon?“ „Ich habe die Notwendigkeit eines Taxis davon, daß ich immer fliege und also nicht meinen Wagen mitbringen kann. Aber das nächste Mal komme ich per Auto, dann können wir auch schöne Autofahrten machen.“ „Hast du feste Schuhe, Vivi? Es ist sicher naß auf den Waldwegen.“ Wir zogen los. Bentsen war nett und gemütlich, machte nicht den geringsten Versuch, mich zu hofieren. Wir fuhren nach Hoytorp, einem bekannten Ausflugsziel. Dort gibt es eine herrliche Aussicht und ein nettes kleines Café. Wir tranken eine Tasse Kaffee und gingen zu Fuß weiter. „Du hast wohl nichts dagegen, daß wir bei diesem schönen Wetter anderthalb Stunden wandern, Vivi?“ „Etwas dagegen? Wunderliche Frage! Was soll das übrigens heißen, daß du hier ein Grundstück kaufen willst?“ „Ich habe daran gedacht, mir eine kleine Hütte zu bauen. Mir gefällt diese Gegend, und das Grundstück ist hübsch. Warte nur, bis du es gesehen hast.“ Wir wanderten durch den frühlingsfrischen Wald. Hier und da lag noch ein schmutziger Schneerest unter den Büschen; an anderen Stellen sproß schon helles Grün. „Warum schleppst du eigentlich diese Aktenmappe die ganze Zeit mit dir herum?“ fragte ich. „Warte ab, du wirst schon sehen, du Naseweis“, lachte Helge. Kurz danach jubelte ich laut vor Freude und bückte mich, um die ersten haarigen Leberblümchenknospen zu pflücken. „Na, habe ich zuviel versprochen?“ lächelte Bentsen. „Du siehst übrigens selber aus wie ein kleines Leberblümchen.“ „Und du? Vielleicht wie ein großer Löwenzahn?“ „Paß nur auf, vielleicht beißt der Löwe mit seinem Zahn.“ „Ich bin nicht bange. Löwen sind keine Vegetarier. Die, fressen Gazellenfleisch lieber als Leberblümchen.“ „Ich kann dich ja auch meine kleine Gazelle nennen.“ „Erstens bin ich nicht klein, zweitens keine Gazelle und drittens nicht dein.“ „Aber vielleicht kannst du das werden.“ Ich erhob mich, die Hände voller Leberblümchen. „Du redest Unsinn. Laß uns
weitergehen.“ Es sah aus, als ob er etwas sagen wollte. Dann schien er es sich aber anders zu überlegen. Mit einem Lächeln ging er weiter und ließ den Frühlingswind in seinem braunen Haar wühlen. Hübsch war er, das konnte man nicht leugnen. Warum in aller Welt konnte ich mich nicht auch ein bißchen für ihn begeistern. Es wäre doch so wunderbar praktisch gewesen. Wenn ich nun Torsten nicht begegnet wäre? Wenn mein Herz mir nicht diesen dummen Streich gespielt hätte? Ob ich mich dann wohl hätte in Helge Bentsen verlieben können? Warum konnte ich mich nicht überwinden und vernünftig handeln? Warum sollte diese idiotische Geschichte mit Torsten meine Zukunft ruinieren? Wie froh würde Johannes sein, wenn ich mich mit Helge Bentsen verlobte! Ich war so tief in meine Gedanken versunken, daß ich gar nicht merkte, wie weit wir gegangen waren. „Na, Vivi, so nachdenklich?“ Sein Ton war warm und herzlich. Er nahm meine Hand. „Meine kleine Gazelle.“ Wir waren eine gemächliche Steigung hinaufgegangen. Und nun waren wir auf der Höhe. Über dem Höhenkamm lief zwischen Felsbrocken und Gebüschen ein Pfad. Er mündete in einen Weg zum Nachbarort. Und hier, unterhalb des Höhenkammes, lag eine Rodung, eine kleine grüne Fläche neben einem Bach. Mitten darauf stand eine baufällige Hütte. Ich lachte. „Das Grundstück ist gut, aber die Villa da…“ „Ja, ,Villa’ ist gut. Nun, wenn ich das Grundstück kaufe, soll dies ein Holzschuppen werden oder das Häuschen mit dem Herzen. Übrigens: ganz so schlimm ist die Villa gar nicht, komm und sieh sie dir an.“ Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Ich betrat einen kleinen Raum, beileibe nicht luxuriös, aber sehr behaglich. Ein Tisch, eine Bank, ein paar Hocker und ein offener Kamin. „Hier ist es ja beinahe herrschaftlich“, rief ich. „Nur ein bißchen kalt. Ob wir irgendwo Brennholz für den Kamin finden?“ Tatsächlich entdeckten wir bald ein paar Äste, die einigermaßen trocken aussahen. Aus der Aktentasche holte Helge eine Konfektschachtel. Das Einwickelpapier nahmen wir zum Anzünden. Das Konfekt kam ebenfalls sofort zur Verwendung. Die Wanderung hierher hatte mich hungrig gemacht. „Wie herrlich, Helge! Du verwöhnst mich.“ „Findest du? Wenn du mir nur Gelegenheit gäbst, dich richtig zu
verwöhnen.“ Ich setzte mich auf die Schwelle der offenen Tür. Unter mir breitete sich der Wald aus, und weit, weit weg lag die Stadt unter einem Nebelschleier. „Bist du hungrig, Vivi? Vielleicht hätte ich Proviant mitbringen sollen. Aber wir essen ja auf Hoytorp zu Mittag, und von dort holt uns ein Taxi ab.“ „Du hast ein großartiges Organisationstalent!“ lachte ich. „Nicht wahr? Und dabei hast du noch nicht einmal alles gesehen. Hokuspokus!“ Er griff wieder in die Mappe, und plötzlich stand eine Flasche Wein mit zwei Gläsern da. „Willst du mich dazu bringen, mitten am Vormittag Alkohol zu trinken? Ich vertrage soviel wie eine Zwölfjährige.“ Helge stand hinter mir. Er legte seine Wange an meine und ließ sie darübergleiten. „Du hast auch eine Haut wie eine Zwölfjährige“, sagte er, und seine Stimme war ganz leise. Aber gleich darauf war er wieder der alte. „Du mußt auf jeden Fall mit mir anstoßen, Vivi. Gratuliere mir zu dem Grundstück!“ „Ehe du es gekauft hast?“ „Ich hab es an der Hand. Kann es haben, wann es mir paßt.“ Er schenkte ein. Nun ja, gratulieren mußte ich ja. „Prost Vivi!“ „Prost!“ Es schmeckte süß und ganz wunderbar, schien auch gar nicht so besonders stark zu sein. „Wie wundervoll das schmeckt, Helge.“ Er leerte sein Glas und schenkte neu ein. „Trink aus, die Flasche ist groß.“ Ich trank, und es war riesig gemütlich. Das Wetter war herrlich, und es war Frühling. Wenn Helge mich jetzt küssen wollte, würde ich nicht böse sein. „Du solltest nicht hier in der Zugluft sitzen, Vivi, die Frühlingsluft ist scharf.“ Er zog mich mit sich in die Hütte auf die Bank und legte den Arm um mich. „Meine kleine Gazelle“, ich fühlte seinen Atem gegen meine Wange. Und was dann passierte, kam alles so wahnsinnig schnell. Seine Augen waren nicht mehr fröhlich, lieb und strahlend. Sie waren dunkel und verlangend. Seine Hände waren nicht mehr freundlich, sie waren gierig und rücksichtslos. Es war nicht mehr schön – es war
schrecklich, und ich hatte Angst, Todesangst; ich war allein in großer, wahnsinniger Gefahr. Ich biß und schrie und strampelte, es gelang mir, mich loszureißen, ich bekam ein halbgeleertes Glas zu fassen und warf es ihm direkt ins Gesicht. Sein Schreck gab mir Zeit, hinauszustürzen, die Tür hinter mir zuzuschlagen. Ich sah den Schlüssel, den er steckengelassen hatte, drehte ihn herum und rannte fort. Nicht den Weg, den wir gekommen waren, sondern – in der anderen Richtung, über die kleine Anhöhe, weiter hinunter, gegen die andere Landstraße zu, die ich weit unter mir wie ein graues Band liegen sah. Ich hörte ein Geräusch hinter mir. Instinktiv warf ich mich nieder, lag flach hinter einem Stein. Ich hörte Bentsen rufen und traute mich nicht zu atmen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Die Rufe klangen entfernter. Gott sei Dank! Er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich den anderen Weg gelaufen sein konnte. Lange dauerte es, ehe ich mich hervorwagte. Niemand und nichts zu sehen! Ich fror so, daß ich mit den Zähnen klapperte. Ich steckte die Hände tief in die Taschen. Dabei merkte ich erst, daß ich den Schlüssel zur Hütte in der Hand hatte. In meiner Erregung wollte ich ihn wegwerfen, aber dann besann ich mich. Sollte es jemals notwendig werden, diese Geschichte zu belegen, dann hatte ich den Beweis in der Hand. Bis zur Hauptstraße war es sehr weit. Ich war müde, und während ich trabte, kullerten mir die Tränen über die Wangen. Zu allem Überfluß begann es auch noch zu regnen, ich fühlte mich elend wie nie zuvor. Ich war erleichtert, als ich endlich die Landstraße unter den Füßen fühlte; und beinahe glücklich, als eine halbe Stunde später ein Autobus auftauchte. Ich fror fürchterlich. Ich fühlte mich todkrank während der Stunde, die der Bus bis in die Stadt brauchte. Mit steifen Fingern fummelte ich an der Wohnungstür herum. Da wurde sie von innen geöffnet. „Aber, Vivi – liebes Kind, was ist denn mit dir los?“ Ich versuchte, mich aufzurichten, versuchte, Johannes in die Augen zu sehen. Mit letzter Kraft antwortete ich: „Ich habe eine Autofahrt gemacht, Johannes. – Nach Langerud. – Mit einem Mann. – Aber diesmal brauchst du mich nicht zu verprügeln.“
Dann schwankte ich, die Wand vor mir fing an, sich zu drehen, und ich fiel in die Arme meines Bruders.
Johannes und Elsa Die nächsten vierundzwanzig Stunden stehen unklar vor mir. Ich erinnere mich nur an einzelne Dinge. Ich weiß, daß ich aufwachte, und merkte, daß ich in meinem Bett lag. Dann döste ich wieder vor mich hin. Ob für Sekunden oder Stunden, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an Johannes’ Stimme. Sie klang behutsam, voller Sorge: „Geht es dir besser, Vivi? Hast du Schmerzen?“ Ich glaube, ich antwortete, nein, ich sei bloß müde. Dann erinnere ich mich, daß jemand versuchte, mich auszukleiden. Ich öffnete die Augen und sah Elsa. Überdeutlich steht nur eine einzige Sache vor mir. Als ich ausgezogen im Bett lag und Elsa mir Gesicht und Hände gewaschen und mir etwas zu trinken gegeben hatte, da fragte sie leise, aber deutlich: „Vivi, ich will dich nicht plagen, ich sehe ja, daß du hohes Fieber hast. Aber Johannes’ wegen mußt du versuchen, einen Augenblick zu denken und bloß diese eine Frage zu beantworten: Ist dir etwas geschehen?“ Da lächelte ich. Jedenfalls behauptet Elsa, daß ich es tat. Und antwortete: „Nein, Elsa, niemand hat mir etwas angetan. Beinahe – aber es ist nichts passiert. Falls es das ist, was er wissen will.“ Das Reden strengte mich an. Aber es war gut, daß ich es aussprechen konnte. Nun konnte ich in die wohltuende Schlaffheit zurücksinken. Das Fieber raste zwei Tage in meinem Körper. Der Arzt kam und gab mir Penicillinspritzen. Ich atmete schwer, und einige Male klagte ich über Schmerzen in der Seite. Ich hatte eine Lungenentzündung bekommen. Aber nach zwei Tagen war das Fieber gefallen, und meine Gedanken wurden wieder klar, selbst wenn ich noch zu müde war, den Kopf von den Kissen zu heben. Als ich wieder denken konnte, kamen alle meine Fragen hervor. Elsa antwortete bereitwillig. Naß wie eine ertrunkene Ratte wäre ich heimgekommen. Johannes hatte mir zunächst ein paar Kleidungsstücke ausgezogen und mich mit Wolldecken und Wärmflasche ins Bett gesteckt. Dann hatte er im Theater angerufen. Und Elsa, die zum Glück nur im ersten Akt beschäftigt war, war gerannt gekommen, sobald sie die Schminke herunter gehabt hatte.
Das Gastbett war vom Boden geholt, Betten aus der Truhe genommen, etwas Heißes zum Trinken gebraut, die Temperatur gemessen und unmittelbar danach der Doktor gerufen worden. Es sieht ja immer etwas beängstigend aus, wenn das Quecksilber zielbewußt gegen vierzig Grad hochklettert. Elsa schlief auf dem Feldbett in meinem Zimmer und pflegte mich wie eine Krankenschwester. Sie sollte im nächsten Stück nicht mitspielen und hatte also keine Proben. Die paar Stunden, die sie am Abend weg war, saß Johannes an meinem Bett. An einem Abend fragte ich ihn: „Bekommst du denn dein Essen, Johannes? Kocht Elsa für dich?“ „Doch, ja, Vivi, Elsa ist rührend und sehr geschickt. Sie kocht und wäscht auch ab, und – ja, sie tut alles Mögliche.“ „Wie gut, daß du sie angerufen hast.“ „Hast du Schmerzen, Vivi?“ „Nein, ich bin bloß müde. Du, Johannes, du brauchst wirklich nicht bange zu sein, es ist nichts passiert, verstehst du.“ „Denke nicht mehr daran, Schwesterlein.“ „Weißt du, Johannes, wenn du so ,Schwesterlein’ zu mir sagst, dann… dann bist du nicht nur brav und pflichtgetreu – dann klingt es, als ob du mich liebhättest…“ „Als ob ich dich liebhätte? Aber du liebe Zeit, Vivi, hast du denn eine Sekunde daran gezweifelt? Ich habe dich unbeschreiblich lieb, das mußt du doch wissen.“ Plötzlich konnte ich nicht reden. Ich hatte einen Kloß im Hals, und es dauerte eine Weile, ehe ich ihn herunterschlucken konnte. Es glückte schließlich. „Johannes, Elsa hat mich auch lieb, sonst würde sie nicht all das für mich tun.“ „Ja, darauf kannst du dich verlassen.“ „Dann sind es zwei, die mich liebhaben, Johannes, ehrlich lieb, weil ich eben ich bin, und nicht nur ein weibliches Wesen mit Sex. Eben nur, weil ich Vivi bin.“ „Meine liebe, kleine Schwester…“ Jetzt war es Johannes, der eine belegte Stimme hatte. Langsam, aber sicher ging es mir besser. Sie paßten aber auch so auf mich auf, daß es manchmal kaum erträglich war. Zuerst wurde ich gezwungen, eine ganze Woche im Bett zu bleiben. Der Arzt, Johannes und Elsa verschworen sich auf die abscheulichste Weise gegen mich. Als ich endlich gnädigst
Erlaubnis erhielt, mich zu erheben, führten Elsa und Johannes mich zu einem Lehnstuhl, als ob ich eine gebrechliche Urgroßmutter wäre. Ich durfte eine Stunde darin sitzen. Dann wurde ich trotz heftiger Proteste wieder ins Bett beordert. Johannes trug mich hinüber und lachte über meine matten Versuche, mich auf die eigenen Beine zu stellen. „Na, du Zappelphilipp, halte deine Pfeifenstiele ruhig, sonst brechen sie noch ab.“ „Pfeifenstiele, du Scheusal! Ich habe hübsche Beine!“ Johannes lachte, und ich fuhr zusammen. Wann hatte Johannes lachen gelernt, so herzlich und gelöst? „Elsa, hör dir sie an! Sie glaubt, daß sie hübsche Beine hat!“ Ich zog das Nachthemd hoch und blickte auf meine Beine. Sie waren dünn wie Streichhölzer. „Ja, aber, ja, aber – bin ich überall so dünn?“ „Genau das, und deshalb hast du auch keinen Mucks zu riskieren. Das einzige, was du zu tun hast, ist essen.“ „Es ist aber so langweilig, allein zu essen.“ „Versprichst du zu essen, wenn wir es mit dir zusammen tun?“ „Ja“, sagte ich begeistert und hatte meine „Pfeifenstiele“ schon wieder auf dem Bettvorleger. „Halte dich ruhig, du Hampelmann. Mohammed darf nicht zum Berg, es ist der Berg, der zu Mohammed kommt. Elsa, hilf mir bitte, den Berg zu bewegen.“ Einen Augenblick darauf brachte sie den kleinen Tisch aus dem Eßzimmer angeschleppt. Elsa ging geschäftig hin und her und deckte den Tisch. Ich habe schon gesagt, daß alles hübsch wird, was Elsa in die Hand nimmt. Auch das Essen war gut. „Johannes“, sagte ich, „kriegst du jeden Tag so was?“ „Ja“, sagte Johannes, „von mir kann man wahrhaftig nicht sagen, daß ich Pfeifenstiele habe.“ „Und ich bekomme bloß scheußliche Hafersuppe.“ „Mit Schlagsahne darin“, ergänzte Elsa. „Und Saft…“ „… von den besten Orangen, mit der neuen Zitruspresse ausgepreßt, die Johannes spendiert hat, du Range, du undankbares Geschöpf.“ Zwei Tage darauf durfte ich dann richtig aufstehen. Es war herrlich, wieder auf den Beinen zu sein. Dann ging es rasch aufwärts. An einem sonnenblanken Tag, Anfang Mai, spazierte ich zum
erstenmal auf der Straße und im Park. Daheim war es jetzt so gemütlich. Johannes war nicht nur sanft und freundlich, er war geradezu redselig. Elsas Neckereien fing er auf und gab sie oft schlagfertig zurück. Es war eines Abends nach dem Abendbrot. Wir tranken immer eine Tasse Tee und aßen Butterbrot dazu, wenn Elsa gegen halb zehn vom Theater kam. Wir saßen im molligen Zimmer bei gedämpftem Licht und leiser Radiomusik. Elsa und Johannes schwiegen. Lange… Endlich sah Johannes auf und lächelte – warf einen kurzen Blick auf Elsa und wandte sich dann an mich. „Du, Vivi, du weißt, daß ich das Theatermilieu hasse.“ „Immer noch?“ fragte ich trocken. „Und ich war wohl recht eklig, als du mit Theaterleuten verkehrtest?“ „Eklig? Du warst unausstehlich.“ „Und als ich heimkam, mitten in deine Gesellschaft…“ „… wäre ein Skandal daraus geworden, wenn Elsa den Stier nicht bei den Hörnern gepackt hätte.“ „An den Rockaufschlägen, meinst du. Nun also, weil ich alles hasse und verabscheue, was mit dem Theater zu tun hat, und weil ein Mann immer konsequent und logisch ist und nach seinen Grundsätzen handelt…“ „Johannes!“ schrie ich und fuhr aus dem Lehnstuhl auf. „Johannes! Du hast dich mit Elsa verlobt!“ „Ach, du lieber Gott“, stöhnte ich. „Wo ist der Sekt?“ „Im Kühlschrank“, sagte Elsa, „ich hole ihn.“ Ich legte die Arme um Johannes’ Hals. „Lieber, lieber Johannes – ich bin so froh, so schrecklich froh.“ Johannes und Elsa strahlten vor Glück. Elsa zog wieder in ihre Bude bei Tante Charlotte, aber beinahe jeden Tag kam sie zu uns. Nicht eine Sekunde ließen die beiden mich fühlen, daß ich überflüssig war oder fünftes Rad am Wagen. Aber trotzdem – trotzdem! Was sollte aus mir werden? Elsa und Johannes wollten im Juni heiraten. Sie sprachen so einfach und selbstverständlich davon, und daß ich bei ihnen wohnen würde, verstand sich anscheinend bei den beiden von selbst. Es war also bestimmt nicht ihre Schuld, wenn ich mich entwurzelt und überflüssig fühlte. Ich war zwanzig Jahre. Mein Vater war tot. Meine Mutter war mit ihrem Mann und ihrem Glück beschäftigt. Ja, daran konnte ich
jedenfalls mit Freude denken, daß ich ihre Ehe vor dem Zusammenbruch gerettet hatte. Bei den letzten Besuchen konnten wir sehen, wie glücklich sie und Alfred waren. Johannes, der eigentlich Mutter und Vater und Bruder zugleich für mich gewesen war, der hatte – Elsa. Und der, der nun alles für mich hätte sein können, er war verschwunden. Ob Torsten wohl einmal wieder auftauchen würde? Über diese Geschichte im Langerudwald hatten Johannes und ich nur einmal gesprochen. Jetzt, da sie etwas zurücklag, konnte ich nüchterner darüber nachdenken, und es wurde mir klar, daß Helge Bentsen vielleicht kein so gemeiner Schurke war, wie ich damals gedacht hatte. Er hatte bestimmt keine Verführungsszene geplant. Wenn er das getan hätte, hätte er sich eine betörendere Umgebung gewählt als die verwahrloste Hütte. Seine Absicht war wohl nur ein netter Ausflug gewesen und ein Küßchen, in Ehren. Und dann – na ja, dann hatte er also die Besinnung verloren, und ich hatte eine solche Angst gehabt, daß ich nicht einmal den Versuch gemacht hatte, ihn zur Vernunft zu bringen. Dies alles erklärte ich Johannes, und Helge Bentsen war jedenfalls so taktvoll, daß er aus unserem Gesichtskreis verschwand. Ich hatte meinen Kurs in Stenografie und Maschinenschreiben beendet. Johannes schlug mir vor, vom Herbst ab eine Stellung zu suchen. Im Sommer wollte er mir gern eine Reise spendieren. Ich durfte mir aussuchen: die See, das Gebirge, oder vielleicht eine Fahrt nach Deutschland? Ich konnte mich nicht sofort entscheiden, sondern dachte und grübelte für mich allein nach. Endlich kam ich zu einem Ergebnis und beschloß, auf eigene Faust zu handeln. Johannes hatte genug für mich bezahlt. Ich hatte doch Geld von meinem Vater geerbt. Ich mußte meinen Vormund bitten, mir etwas davon zu geben. Wie praktisch wäre es gewesen, wenn ich zum Beispiel in Deutschland gewohnt hätte, wo man schon mit achtzehn volljährig ist! Hier mußte ich warten bis zum 21. Geburtstag, und jetzt mußte ich also zum Vormund. Wenn ich Geld bekam, konnte ich wieder nach England reisen, mir eine Stellung suchen und fortkommen, sowohl von traurigen Erinnerungen als auch von Elsas und Johannes’ Flitterwochenglück. Das sollten sie allein genießen. Mein Vormund, der gute alte Advokat Mortensen, würde mir
sicher die Fahrkarte nach England genehmigen und einige hundert Kronen dazu, damit ich mich einkleiden konnte. Darum ging ich eines Morgens in Advokat Mortensens Büro, das am anderen Ende der Stadt lag. Ich fand das Haus, den Eingang, die Etage. Ich klopfte an, und eine Stimme sagte: „Herein!“ Ein dunkler, glatthaariger Kopf und ein schmaler Nacken waren das erste, was ich sah. Im nächsten Augenblick erfaßte mich ein Schwindel. Ich ergriff die Kante eines Tisches und hielt mich so fest, daß es in der Hand weh tat. „Torsten! Torsten!“ „Bist du es, Vivi?“ Seine Stimme war ohne Freude. Nur ein Gedanke stand fest in meinem Kopf. Jetzt war die Gelegenheit da, jetzt konnte ich mich reinwaschen, und jetzt mußte ich es tun, schnell, ehe Torsten seiner Wege ging. Es war die Chance! „Torsten, höre mich an. Ich bin bei meiner Mutter gewesen an dem Abend. Sie war es, die mit Steffen Brede ein Stelldichein verabredet hatte! Verstehst du Torsten, ich mußte zu ihr, mußte verhindern, daß… daß… verstehst du, Torsten! Es ließ sich nicht vermeiden, daß Steffen Brede mich heimbegleitete. Torsten, höre mich an, jedes Wort ist wahr – ich habe dich nie, nie hintergangen, Torsten, und ich habe an dem Abend Höllenqualen gelitten – und seither…“ Torsten stand still. Seine Augen begannen zu strahlen, und zum Schluß leuchteten sie. Sie glänzten klar und dunkelblau. „Vivi, wenn du von Höllenqualen sprichst – ich weiß, was das ist.“ Dann stieß er mit dem Fuß den kleinen Tisch weg, der zwischen uns stand, und im nächsten Augenblick wußte ich, was man mit dem „Himmel auf Erden“ meint. War eine halbe Stunde, eine Stunde oder waren zehn Minuten vergangen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß wir Seite an Seite auf einem Tisch saßen und redeten, redeten… Torsten bekam alle Einzelheiten des Abends bei Mamilein zu hören. Er war der einzige auf der Welt, der dies je erfuhr. Dann war er an der Reihe zu berichten. „Bekam einen Job bei der Winterheringsfischerei. Ich habe entfernte Verwandte im Nordland, die es für mich ermöglichten. Wir hatten riesiges Glück und holten Tag und Nacht große Fänge herein. Ich hatte einen Anteil und kam heim mit genügend Geld, um zwei
Monate lang wie ein Verrückter studieren zu können. Wagte es dann, ins Examen zu steigen. Hatte Dusel. Bekam Aufgaben, die glücklicherweise nicht die Lücken in meiner Weisheit berührten. Und dann Anstellung hier. Übrigens, was zum Kuckuck tust du denn hier?“ Ich erzählte ihm auch das. Während wir sprachen, erschien Advokat Mortensen. Er kam gerade von einer Sitzung. „Ja, was sehe ich da. Bist du es, kleine Vivi? Mädel, bist du groß geworden, eine richtige junge Dame! Und hübsch noch dazu! Na, was hast du denn auf dem Herzen, Vivilein?“ Ehe ich dazu kam, etwas zu sagen, antwortete Torsten und seine Augen leuchteten, wie ich es nie gesehen hatte. „Herr Advokat, Vivi Fenger möchte die Erlaubnis ihres Vormunds einholen, zu heiraten, bevor sie mündig wird…“
Ein Jahr später Es ist unfaßbar, wie schnell die Zeit vergeht! Torsten und ich sind längst verheiratet und bewohnen eine nette kleine Zweizimmerwohnung, nicht allzu weit von unserer alten Wohnung, die Johannes und Elsa behalten haben. Sie brauchen auch mehr Raum als wir, denn sie sind seit einigen Monaten zu dritt. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich es gewagt, meinen respekteinflößenden, großen Bruder zu necken. „Und dies mußte ausgerechnet dir passieren!“ war mein Kommentar, als die kleine Felice sieben Monate nach der Trauung das Licht der Welt erblickte. „Du tugendhafter, fehlerfreier Johannes!“ „Betrachtest du vielleicht unsere Tochter als einen Fehler?“ fragte Johannes. Sein Blick hing an dem kleinen Geschöpf im Babykörbchen, und seine Augen leuchteten vor Glück. „Ich betrachte nichts als Fehler!“ beeilte ich mich zu erklären. „Eure Tochter ist das süßeste Baby der Welt, das steht fest. Aber ich dachte, daß du es als einen Fehler betrachtest, wenn das Erstgeborene so kurz nach der Trauung erscheint!“ „Das zeigt, wie schlecht du deinen Bruder kennst“, schmunzelte Johannes. „Wenn zwei Menschen sich lieben, dürfen sie meinetwegen auch ohne Trauschein ein Kind bekommen. Wenn sie aber Sex als ein Gesellschaftsspiel betrachten, dürfen sie überhaupt keine Kinder auf die Welt setzen – meine also ich!“ „Du bist ja direkt liberal geworden, Bruderherz!“ sagte ich. „Das war ich immer, ich hatte nur keine Gelegenheit, es zu zeigen“, antwortete mein Bruder und hielt somit anscheinend das Thema für erledigt. „Warum heißt sie eigentlich Felice?“ fragte ich. „Rate mal!“ antwortete Johannes. Ich dachte nach. In welchem Zusammenhang hatte ich nur den Namen Felice gehört? Dann fiel bei mir der Groschen. „Oh, ich weiß!“ rief ich. „So hieß ja Elsa in ihrer ersten Rolle hier am Theater! So hieß sie in ,Zwei in einem Kutter’ – das war die erste Rolle, in der du sie gesehen hast!“ „Gut, eins rauf!“ schmunzelte Johannes. „Außerdem bedeutet der Name ,Die Glückliche’, was du wahrscheinlich nicht weißt.“
„Dann wünsche ich nur, daß sie ihrem Namen immer Ehre machen wird“, sagte ich. Torsten und ich hatten auch viel Freude an der kleinen Felice. Wenn Elsa einen Babysitter brauchte, brachte sie uns das Töchterchen, ich wickelte es und machte das Fläschchen zurecht, ich fütterte und bettete die Kleine, mit Torsten als Zuschauer, bis er eines Tages bat, ob er das Baby versorgen durfte? Er durfte – unter meiner Aufsicht! – und schaffte es tadellos. „So eines müssen wir uns auch gelegentlich zulegen“, sagte er, als er das Kindchen zärtlich in den Kinderwagen gelegt und es zugedeckt hatte. „Unbedingt“, stimmte ich zu. „Wenn die Möbel und das Auto bezahlt sind!“ Wir mußten nämlich vorerst mit dem Geld vorsichtig umgehen. Natürlich war es furchtbar leichtsinnig, daß wir uns einen Kleinstwagen zugelegt hatten, aber es war eine einmalig günstige Gelegenheit, einen kleinen Gebrauchtwagen um ein Butterbrot zu kriegen. Torsten hatte den Führerschein, und ich würde den meinen machen, wenn wir alle Raten bezahlt hatten. Um unsere Finanzen etwas aufzufrischen, ergriffen wir unseren alten „Nebenberuf“: Wir machten Statistenjobs im Theater. So allmählich betrachtete man uns dort als „feste Stützpunkte“ in der Statisterie, und wir wurden oft beschäftigt. Was meine Wenigkeit betrifft, war ich zum Platzen stolz: In einem kleinen Lustspiel wurden mir ganze vier Repliken anvertraut! Ja, mehr als das, mein Name kam sogar mit ins Programm! Ganz unten, in der letzten Zeile: „Stubenmädchen – Vivi Holm.“ Jeden Abend hatte ich dann die ungeheuer wichtige Aufgabe, zu sagen: „Der Tee ist serviert, Herr Direktor.“ – „Die Post, gnädige Frau.“ – „Bitte sehr, Herr Doktor.“ – Und zuletzt einen ganz aufregend langen Satz: „Was machen wir bloß – in einer Stunde kommen die Gäste, und die Blumen für den Tisch sind noch nicht da!“ So komisch es auch klingen mag: Ich freute mich jeden Tag auf das Auftreten und auf meine vier Sätze! Der Regisseur hatte mir beigebracht, wie ich bei dem Satz über die nicht angekommenen Blumen das Entsetzen und die Ratlosigkeit in Stimme und Gesichtsausdruck legen sollte, und nach ein paar Wiederholungen war er mit mir zufrieden. Torsten schmunzelte über meine Theaterfreude. Für ihn war die
Statistenarbeit nichts anderes als ein Mittel zum Geldverdienen. Für mich war es mehr. Ich mochte die Luft, die Atmosphäre, „den Schminkenduft und den Kulissenstaub“, wie Elsa immer sagt. In der Zeit, als ich allabendlich als Stubenmädchen auftrat, war Elsa noch am Theater tätig. Kurz danach mußte sie wegen der Schwangerschaft aufhören. „Aber ich komme fürchterlich zurück!“ versicherte sie. „Im Mai geht es ja mit dem Ibsen-Jubiläum los, und wenn ich den Chef richtig verstanden habe, hat er die Absicht, mir die Hilde in ,Baumeister Solness’ zu geben.“ „Schade!“ sagte ich. „In ,Baumeister Solness’ gibt es ja keine Statisten, also nichts für eine arme Komparsin zu verdienen!“ „Du kennst anscheinend nicht deinen Ibsen“, sprach mein literaturkundiger Bruder. Er stand auf und holte einen Ibsen-Band aus dem Bücherbord. „Darf ich dir etwas vorlesen, Schwesterchen? Hier, im dritten Akt: ,Auf der Straße hat sich eine Menge Menschen angesammelt…“‘ „Au fein!“ rief ich. „Nichts geht über Menschenmengen!“ „Es wird eine schöne Rolle für dich, Elsa“, sagte Johannes. „Ich freue mich darauf, dich als Hilde zu sehen.“ „Eigentlich ist es komisch mit dir, Johannes“, philosophierte ich. „Du hast immer gern Dramatik gelesen, ich glaube, du kennst Schiller und Strindberg und Shakespeare und natürlich Ibsen, ja überhaupt all die Klassiker, beinahe auswendig. Und trotzdem hattest du früher so einen Anti-Theater-Komplex!“ „Das hat meine kluge Frau mir gründlich ausgetrieben“, gab Johannes schmunzelnd zu. „Sie hat nämlich unbedingt recht, wenn sie sagt…“ „… daß es auch Schauspieler geben muß!“ unterbrach Elsa. „Und was sollten die großen Dramatiker machen, wenn niemand da wäre, der ihren Gestalten Leben geben könnte?“ „Vollkommen logisch“, nickte Torsten. „Und wenn auch Theaterleute manchmal anders sind als die braven Geschäftsleute und Handwerker und Wissenschaftler…“ „… und Juristen!“ warf ich ein. „… und Ärzte und Beamte und so weiter – dann muß man es verstehen!“ „Ich verstehe es ja auch“, sagte Johannes. „Ich verstehe es sogar sehr gut!“ Dieses Gespräch hatte an einem Novembertag stattgefunden.
Weihnachten kam, und wir vier feierten den Heiligen Abend zusammen bei Elsa und Johannes. Am ersten Weihnachtsfeiertag waren wir alle zu Mamilein und Alfred eingeladen. Alfred war glücklich und verliebt wie immer, und Mamilein wirkte ausgeglichener als je zuvor. Ja, hier war alles in Ordnung. Ich dachte an den Abend, als ich angerast gekommen war, als meine Gegenwart Mami vor einer Katastrophe gerettet hatte. Der Abend blieb ein Geheimnis zwischen uns beiden, zwischen Mutter und Tochter. Daß ich es Torsten erzählt hatte, wußte Mami nicht. Mein Opfer damals war nicht vergeblich gewesen. An einem eiskalten Tag im Januar wurde die kleine Felice geboren. Und vierzehn Tage später fand das schon erwähnte Gespräch zwischen Johannes und mir statt. Es war bei der Gelegenheit, daß ich sagte: „Und dies mußte ausgerechnet dir passieren!“ Mein Gedächtnis funktionierte ausgezeichnet. Ich wußte sehr gut, wann ich krank gewesen war, wann Elsa bei uns gewohnt und mich gesund gepflegt hatte. Es war genau vor neun Monaten!
Hedwig Es war das bevorstehende Ibsen-Jubiläum, das mich dazu brachte, Ibsens gesammelte Werke aus dem Bücherbord zu holen. Aus einem sehr prosaischen Grund: Ich wollte wissen, in welchen Dramen man Statisten brauchen würde! Wenn man nun zum Beispiel Peer Gynt aufführen würde! Da waren Hochzeitsgäste in rauhen Mengen, da waren all die kleinen Trolle, und da waren die drei Säterdirnen. Dann studierte ich „Ein Volksfeind“ – ja, da war auch Statisterie, gesegneter alter Ibsen, und dann stolperte ich sozusagen über „Die Wildente“. Da war nichts für mich zu tun. Es gab nur männliche Komparsen. Aber das Schauspiel packte mich, und ich las weiter. Dabei dachte ich an etwas, das mein kluger Bruder einmal gesagt hatte: „Ibsen war ein Genie. Und sein genialstes Werk, finde ich, ist ,Die Wildente’.“ Es packte mich, so daß ich Zeit und Pflichten vergaß. Oh, diese kleine Hedwig! Die kleine vierzehnjährige Hedwig, die nicht weiß, daß sie eines Tages blind wird. Die kleine Hedwig im Gespräch mit Gregers, von dem sie nicht weiß, daß er ihr großer Halbbruder ist. Die kleine Hedwig, die nicht ahnt, daß ihr geliebter Vater gar nicht ihr Vater ist. Hedwig – die kleine Wildente, die erleben muß, daß ihre ganze Welt zusammenbricht. Ich versuchte, mir Hedwig auf der Bühne vorzustellen. Wie würde sie sich bewegen – wie würde ihre Stimme sein in dem ersten Gespräch mit der Mutter? Wie ihr Gesichtsausdruck in der Enttäuschung, als der Vater vergessen hat, ihr „was Gutes“ mitzubringen? Ich war von Hedwig wie besessen. Sich denken, eine solche Gestalt darzustellen, einem solchen kleinen Menschenkind Leben und Fleisch und Blut zu geben! „Du bist verrückt, Vivi“, sagte ich mir selbst. „Du leidest an Größenwahn! Komm zurück in die Wirklichkeit, ein bißchen dalli!“ Leichter gesagt als getan! Zuletzt mußte ich Torsten meine Verrücktheit beichten. Zu meinem großen Staunen lachte er mich gar nicht aus. Er sah mich aufmerksam an, es war ein Blick voll Interesse und Verständnis. „Weißt du, was du tun solltest, Vivi? Lerne die Rolle und laß dich prüfen! Entweder kriegst du zu wissen, daß es doch nicht reicht, und daß du schön bei den Statisten bleiben sollst, oder der Chef
meint, daß du Talent hast und Schauspielunterricht nehmen sollst. In beiden Fällen hast du dann deine verlorene Seelenruhe wieder!“ „Torsten, du bist ein Goldschatz!“ „Klar bin ich das. Ich sehe mich schon als Ehemann der neuen Sarah Bernhardt!“ „Du Quatschkopf! Aber Torsten, versprich mir eins!“ „Natürlich. Daß ich dies für mich behalte. Daß ich weder Elsa noch Johannes etwas darüber erzähle!“ „Du liest meine geheimsten Gedanken! Genau darum wollte ich dich bitten.“ „Ehrenwort“, sagte Torsten. Es war ein Wunder, daß Torsten in der Zeit, die nun folgte, jeden Tag ein genießbares Essen bekam, und daß die Wohnung einigermaßen saubergemacht wurde. In jeder freien Minute saß ich da mit dem vierten Band von Ibsens Werken, las Hedwigs Szenen wieder und wieder. Ich versuchte, die kleine Vierzehnjährige zu verstehen, ihre ahnungslose Liebe zu dem verlogenen, sentimentalen, egoistischen Vater. Ich fragte mich immer: Was empfindet Hedwig, wenn sie so dasitzt und mit der Mutter, mit dem Vater, mit dem Halbbruder spricht? Was geht in ihrem unschuldigen kleinen Kopf vor? Es dauerte nicht lange, bis ich die Rolle auswendig konnte. Wenn ich allein in der Wohnung war, versuchte ich, sie zu spielen. Ich sprach die Sätze laut, ich bewegte mich so, wie Hedwig sich in dem armseligen Fotoatelier bewegen soll. Ich versuchte vor allem, das Kindliche, das Ahnungslose in Wort und Bewegung einzubauen. Ab und zu mußte ich mich selbst fragen, ob ich wohl irgendwie „erblich belastet“ sei. Von der Familie meines Vaters wußte ich sehr wenig. Vielleicht war da irgendein Schauspieler gewesen? Jedenfalls, dieses „Etwas“ war da. Und ich arbeitete weiter mit der kleinen Hedwig. An einem sonnigen Märztag tauchte Elsa unverhofft bei mir auf. „Nanu?“ fragte ich. „Was soll das heißen? Du bist allein? Wo ist das achte Weltwunder?“ „Bei Tante Charlotte“, sagte Elsa. „Zur Generalprobe.“ „General… was hast du gesagt? Drück dich bitte in verständlicher Weise aus!“ „Ja, wenn ich dazu imstande bin, ich bin vollkommen durchgedreht! Also, Vivi, halt dich fest: Ich fahre mit Johannes nach Australien!“
„Austra…. habe ich richtig gehört?“ „Vollkommen. Dein Bruderherz, mein geliebter Herr und Gebieter, arbeitet doch in der Wollbranche…“ „Denk dir, das ist mir bekannt!“ „Ja, und jetzt will seine Firma unbedingt einen Vertrag mit einem ganz großen Schafzüchter in Australien zustande bringen, du weißt…“ „Ja, ich weiß: Merinowolle!“ „Genau. Und der kluge Chef hat eingesehen, daß er seinen klügsten und zuverlässigsten Mitarbeiter hinschicken muß.“ „Sieht er auch ein, daß der besagte Kluge und Zuverlässige seine unentbehrliche Frau mitnehmen muß?“ „Er hat jedenfalls nichts dagegen! Also, dies wird eine kombinierte Geschäfts- und verspätete Hochzeitsreise! Johannes nimmt zwei Wochen seines Sommerurlaubs auf Vorschuß, zwei Wochen rechnet die Firma für das Geschäftliche – vier Wochen in Australien, Vivi! Ich bin vollkommen durcheinander, ich habe mir die Arme blau und grün gekniffen, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träume! Ich habe mich nie in meinem Leben so gefreut!“ „Oh, Elsa, wie ich euch das gönne! Und mein Brüderchen, sind seine Arme auch grün und blau?“ „Ja, und außerdem schwarz und lila! Ich kenne meinen prächtigen und ruhigen Mann nicht wieder! Er ist wie ein Kind am Tage vor dem Heiligen Abend! Er trällert und lacht den ganzen Tag!“ „Und warum kommt nun Felice zu Tante Charlotte und nicht zu uns?“ „Sie hat doch flehentlich darum gebeten! Nachdem sie pensioniert wurde, weiß sie gar nicht, wie sie ihre Tage in einer vernünftigen Weise ausfüllen soll, und sie ist ja ein Kindernarr!“ „Aha“, sagte ich. „Du hast es also Tante Charlotte erzählt, bevor du deiner besten Freundin und Schwägerin…“ „Das mußte ich doch! Ich mußte doch das Problem mit dem Kindchen regeln. Wenn Tante Charlotte es nicht getan hätte…“ „… hättest du kniefallend mich gebeten, ich verstehe.“ „Ja, aber ich bin sehr froh, daß es mit Tante Charlotte klappte. Ich möchte nur ungern, daß du vielleicht irgendeinen Statistenjob absagen müßtest! Na, dies mußte ich dir also erzählen – ach ja, und dann, daß wir für zwei Tage nach Oslo fahren. Johannes’ Vater wird sechzig, und er wollte so gern seinen einzigen Sohn mitsamt
Schwiegertochter bei der Feier mit dabei haben.“ „Ach ja, er hat ja nur zwei Töchter aus seiner zweiten Ehe.“ „Und ist bestimmt einsam, nachdem seine zweite Frau starb. Klar, daß wir fahren. Ein bißchen unpraktisch ist es natürlich, wenige Tage bevor wir unsere große Reise antreten, aber Johannes möchte ungern nein sagen.“ „Sicher, das verstehe ich. Und während ihr in Oslo seid, bleibt auch die Kleine bei Tante Charlotte?“ „Ja, das versteht sich. Oh, Tante Charlotte ist einmalig, du ahnst nicht, was für eine Expertin sie in Säuglingspflege ist. Und eine Geduld hat sie!“ „Ihr könnt also ruhig und mit gutem Gewissen fahren! Wann geht es los?“ fragte ich. „In drei Wochen! Du ahnst nicht, was ich alles zu tun habe! Ich muß mich auf eine ganz andere Jahreszeit umstellen, da unten ist ja Herbst, das heißt wahrscheinlich ein milder, warmer Herbst, danach muß ich meine Garderobe einrichten. Ja, und dann brauchen wir Visum und Impfung, und der Himmel weiß was.“ „Wenn du nun die Kleine gestillt hättest.“, sagte ich. „Ja, dann hätte ich nicht fahren können. Gott, wie war ich unglücklich, weil meine Milchquellen so schnell versiegten, aber jetzt macht mir diese Tatsache die Reise möglich! Denn die Fläschchen macht Tante Charlotte genauso sorgfältig wie ich selbst!“ „Oder wie ich!“ „Selbstverständlich, Vivi, du bist auch vorbildlich. Aber ich bin doch froh, daß ich dich diesmal nicht zu belästigen brauche. Vivichen, ich muß los. Wenn ich nicht eiligst zum Fischmarkt renne, ist alles ausverkauft, und ich habe meinem Australienfahrer hoch und heilig gekochten Dorsch zu Mittag versprochen!“ Die Tür schlug mit einem freudigen Knall hinter Elsa zu. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Oh, wie freute ich mich doch für die beiden lieben Menschen! Wie ich ihnen diese Reise gönnte! Ganz besonders Johannes, der auf so unsagbar viel hatte verzichten müssen – wegen Mami und meinetwegen. Wie schön, wie schön, daß das Schicksal sich jetzt für all seine Opfer revanchierte! Dann setzte ich mich wieder hin mit dem vierten Band von Ibsens gesammelten Werken. Ich schickte der guten Tante Charlotte einen liebevollen Gedanken. Grade jetzt war es sehr schön, daß ich mich nicht als Ersatzmutti für die kleine Felice betätigen mußte! Denn jetzt hatte ich andere – ganz andere Dinge im Kopf!
Ich gab alles… So hatte ich meinen Bruder nie gesehen. Er war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Er sprach nur noch von der Reise. Lieber Johannes! Der Himmel weiß, er hatte nicht viele Reisen in seinem Leben unternommen. Abgesehen von ein paar kurzen Geschäftsreisen war er nicht über Norwegens Grenzen hinausgekommen. Und jetzt wurde es ihm vergönnt, eine so großartige Reise mit seiner geliebten Frau zu unternehmen. Torsten und ich waren eines Abends bei den beiden, und es wurde geredet, gefragt, erzählt bis Mitternacht! „Und daß es gerade jetzt sein wird!“ sagte Elsa strahlend. „Es hätte gar nicht besser passen können! Ich bin ja noch beurlaubt und komme gerade zurecht für die ,Baumeister-Solness’-Proben.“ „Welche Ibsen-Dramen gibt es sonst zum Jubiläum?“ fragte ich. „Ich weiß nicht so recht. Ja, ,Brand’ glaube ich. Freut euch, da ist viel Statisterie. Und vielleicht ,Die Wildente’.“ Ich schluckte und zwang meine Stimme dazu, ruhig zu bleiben, als ich fragte: „Mit dir als Hedwig?“ „Keinesfalls!“ sagte Elsa. „Hedwig ist nicht mein Fall. Denk an die Rollen, die ich bis jetzt gespielt habe. Erwachsene, raffinierte, intrigante Frauen. Mein Talent ist nicht so umfassend, daß ich mich auf die kleine Hedwig umstellen könnte. Das weiß auch der Chef, er würde mir nie die Rolle anbieten!“ „Wer kann sie dann spielen?“ „Wahrscheinlich ein teurer Gast. Tatsache ist, daß wir keine richtige Hedwig am Theater haben. Nun ja, vielleicht lassen sie die ganze Wildente fallen und geben dafür ,Rosmersholm’.“ „Die Rebekka könntest du spielen“, sagte Torsten. „Ja“, stimmte Elsa zu, „die könnte ich spielen. Die Rolle hätte ich gern gehabt. Nun ja, mal sehen, wie es geht. Vorerst pfeife ich auf das ganze Theater und kümmere mich nur um meinen Mann und um Australien!“ Dann kam der Tag, als ich all meinen Mut zusammenraffte und zum Intendanten ging. Er empfing mich freundlich und sagte gleich ein paar nette Worte über meine Zuverlässigkeit als Statistin, und fragte dann, ob ich etwas Besonderes auf dem Herzen hätte. Ich schluckte, biß auf die Lippe – ach, was hatte ich doch für
Herzklopfen! – und dann fragte ich endlich, ob er mich eine Probe ablegen lassen wollte. Ich hätte eine Rolle studiert. „Glauben Sie bitte nicht, daß ich an Größenwahn leide, Herr Intendant“, fügte ich hinzu. „Ich… ich habe einfach keine Ruhe, bis ich nicht Ihr Urteil bekommen habe, wie es auch ausfallen mag.“ „Wenn Sie an Größenwahn leiden, dann tun es auch unzählige andere junge Frauen“, schmunzelte der Intendant. „Ahnen Sie vielleicht, wie viele Mädchen bei mir vorsprechen? Natürlich werde ich Sie anhören. Mal sehen“, er warf einen Blick auf seinen Tischkalender, „das paßt ja gut, morgen habe ich eine Stunde frei – kommen Sie morgen vormittag um zehn!“ „Ich halte dir Daumen und große Zehen!“ versprach mir Torsten. „Und du rufst sofort im Büro an, wenn du zurück bist!“ Gott sei Dank, Elsa und Johannes waren gerade in Oslo. Sie sollten ja auf keinen Fall wissen, was ich vorhatte! Punkt zehn Uhr am nächsten Tag war ich beim Intendanten, mit Band vier von Ibsen unter dem Arm. „Na, dann wollen wir mal. Wir gehen auf die Probebühne. Birger Hallwig wird die Stichworte lesen – ach, da sind Sie ja, Birger, das ist fein. So, und was wollen Sie uns nun vorführen, Vivi?“ „Hedwig“, sagte ich leise. „Hedwig in ,Die Wildente’.“ Dann saß ich an einem Tisch auf der Probebühne und tat so, als ob ich Fotos retuschierte. Ich kniff die Augen zusammen, ich war die kleine Hedwig, die schlecht sehen konnte, Hedwig, die dem geliebten Vater die langweilige Arbeit abgenommen hatte. Birger deutete ein Türklopfen an, ich stand auf und ging ihm entgegen. Und der lange Dialog zwischen Gregers und Hedwig fing an. Meine Nervosität war wie weggeblasen. Ich war nicht mehr Vivi, ich war die kleine Hedwig, die ihrem Vater half, die kleine Vierzehnjährige, die ihre Wildente liebte, und die es so unheimlich fand, wenn Gregers von dem „Meeresgrund“ sprach. Wir hatten uns an den Tisch gesetzt, wie es vorgeschrieben war, und ich retuschierte weiter, wobei ich mir ein paarmal die Augen rieb. Die Worte zwischen uns fielen so natürlich, so richtig, so wie Ibsen sie uns in den Mund gelegt hatte. Als die Szene zu Ende war, wurde es still. Der Intendant und Birger wechselten einen Blick. Endlich sprach der Intendant, und seine Stimme war sehr sanft: „Bitte, dann die große Szene im vierten Akt. Birger, lesen Sie bitte
Ekdals Repliken. Sie wissen schon.“ Birger nickte, blätterte weiter, fand die Szene. Ich stellte mich dorhin, wo man sich die Küchentür denken mußte. Und Birger las die verhängnisvollen Worte: „Gregers, ich habe kein Kind!“ Ich lief auf Birger zu, ich schlang meine Arme um seinen Hals, und es waren echte Tränen, die mir aus den Augen stürzten, als ich rief: „Was sagst du? Vater, Vater!“ Es ging weiter, und wieder war ich Hedwig, ich litt mit ihr, ich war in ihre Haut gekrochen, ich war ratlos und verzweifelt wie sie. Es war mein eigenes Herz, das blutete, und ich war es, die ich mich tapfer dazu entschloß, die Wildente zu opfern. Dann spielte ich die letzte, beinahe stumme Szene. Genau wie Ibsen es vorgeschrieben hat: Hedwig steht einen Augenblick unbeweglich in Angst und Ratlosigkeit. Sie beißt die Lippen zusammen, um die Tränen hinunterzuwürgen, dann ballt sie krampfhaft die Hände und sagt leise: „Die Wildente!“ Ich ging auf Zehenspitzen an das gedachte Wandregal, suchte mit Hedwigs halb zusammengekniffenen Augen, suchte mit der Hand und fand die – wenn auch nur gedachte – Pistole. Ich blieb stehen, das Gesicht zum Publikum – also zum Intendanten – gewandt. Jetzt öffneten sich Hedwigs Augen zum erstenmal ganz, jetzt wollte ich, daß man ihren Entschluß aus ihrem Gesicht lesen sollte. Dann drehte ich mich um und verschwand im Hintergrund. Stille. Eine lange Stille. Die Stille tat mir gut. Ich brauchte Zeit, um wieder aus Hedwigs Haut und in meine eigene zu kriechen. Birger legte das Buch weg, stand auf, kam zu mir, nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuß. Er sagte kein Wort. Dann kam der Intendant. Er legte beide Hände auf meine Schultern und sah mir ins Gesicht. Dann sprach er. „Kleine Vivi. Ich weiß nicht, ob Sie andere Rollen so spielen könnten. Ich habe so das Gefühl, daß Sie alles, aber auch alles, was Sie haben, in Hedwig gelegt haben. Ja, dann wäre nur eins zu fragen: Wollen Sie beim Ibsen-Jubiläum die Hedwig spielen? Die Proben fangen übernächste Woche an!“ Was mit mir von diesem Augenblick an passierte, bis ich eine halbe Stunde später in unserer Wohnung stand, ahne ich nicht. Ich muß ja nach Hause gegangen sein, muß den Schlüssel aus der Tasche geholt haben, ich hatte wohl meinen Mantel aufgehängt – ich sah nur, daß ich mitten im Wohnzimmer stand, von einem Glück erfüllt, das ich überhaupt nicht beschreiben kann.
Alles drehte sich in meinem Kopf. Aber endlich drängte sich ein einziger vernünftiger Gedanke hervor aus dem Wirrwarr: Ich muß Torsten anrufen! Außer Atem, mit zitternder Stimme sagte ich nur: „Torsten! Ich werde die Hedwig spielen! Beim Ibsen-Jubiläum!“ Mehr schaffte ich nicht. Denn jetzt fing ich an zu heulen! Es war Abend geworden. Als wir zu Mittag gegessen hatten, war ich so müde, daß ich kaum stehen konnte. Ohne große Kommentare nahm Torsten mich in seine Arme und trug mich ins Bett. Als ich am späten Nachmittag aufwachte, war ich ein neuer Mensch. Der sinnlose Glücksrausch war vorüber. Das, was ich jetzt empfand, war ein großes, reiches – und beinahe demütiges Glück. „Was wird wohl Elsa sagen?“ fragte Torsten lächelnd. „Sie wird sich freuen! Und ich glaube, Johannes auch. Du, ist es nicht… nicht… sagen wir ungewöhnlich, daß man bei einem Theaterchef vorspricht und statt eines sachlichen Urteils ein Rollenangebot bekommt?“ „Doch“, lächelte Torsten, „das ist äußerst ungewöhnlich, wenn es überhaupt jemals vorgekommen ist. Jetzt platzt du wohl vor Stolz?“ „Nein, merkwürdigerweise nicht. Ich fühle mich klein und demütig – ich meine, demütig dankbar. Daß ich das alles nun geben darf, was sich in mir gespeichert hat – ja, weißt du, die Probe heute war mir wie eine Erlösung! Ich gab alles, wirklich alles – und dann war ich meine Besessenheit los, dann war ich nur müde und unbeschreiblich glücklich!“ Wir plauderten leise weiter. Torsten war der beste Kamerad auf der Welt, so wie er an meiner Freude teilnahm! „Weißt du, Torsten“, sagte ich, „der glücklichste Tag meines Lebens war der Tag, an dem ich dir bei Advokat Mortensen plötzlich gegenüberstand und alle Mißverständnisse wegräumen konnte.“ „Wem sagst du das?“ Torsten drückte mich enger an sich. „Das war doch auch für mich der glücklichste Tag im Leben.“ „Und heute“, fuhr ich fort, „heute ist der zweitglücklichste!“ Torsten stand auf und ging in die Küche. Gleich darauf kam er wieder. Er trug ein Tablett mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern. Mit einem verschmitzten Lächeln machte er sich daran, die Flasche aufzumachen. Er goß den perlenden Wein in die Gläser, ich streckte die Hand nach meinem Glas aus – und in dem Augenblick
klingelte das Telefon. „Oller Bimmelkasten“, murmelte Torsten und ging in den Flur, wo der Apparat stand. Ich blieb sitzen, ich wartete da, vor dem perlenden Champagner. Ich hörte nur schwach Torstens Stimme durch die geschlossene Tür, es war mir, als ob er ein paar Fragen stellte. Dann wurde aufgelegt, und er kam zurück. Sein Gesichtsausdruck war völlig verändert. „Vivilein – es war die Nachbarin von Elsas Tante. Da ist was passiert. Tante Charlotte ist auf der Treppe gestürzt, der Arzt ist gerade dagewesen, und jetzt warten sie auf den Krankenwagen. Es ist ein Beinbruch. Sie bat uns, sofort die Kleine zu holen.“ Ich fühlte selbst, daß ich erblaßte. Mein Gesicht, meine Wangen wurden ganz kalt. Ich stand auf, ich flüsterte nur: „Ja, ja, selbstverständlich.“ Mit zitternden Händen holte ich meinen Mantel. Torsten drückte mich einen Augenblick ganz fest an sich. Dann verließen wir das Haus und die beiden vollen Champagnergläser.
Dies ist mein Dank, Bruder Es war Nacht. In ihrem Kinderwagen schlief die kleine Felice rosig und gesund. Wer nicht schlief, war ich. Torsten auch nicht. Ich lag da, den Kopf auf seiner Schulter. Lange hatten wir geredet, überlegt, nach einem Ausweg gesucht. „Da gibt es nur zwei Möglichkeiten, Torsten“, sagte ich. „Entweder wir erzählen Elsa und Johannes von Hedwig und dem Rollenangebot und allem. Dann wird Elsa die Reise aufgeben und Johannes allein fahren lassen. Oder wir erzählen gar nichts, wir behalten das Kind hier, und die beiden können fahren. Und ich verzichte auf Hedwig.“ „Es ist noch etwas dabei“, sagte Torsten. „Wenn du dich dazu entschließt, dieses Riesenopfer zu bringen, dürfen die beiden es nicht wissen. Der Himmel weiß, ob sie es annehmen würden.“ „Wahrscheinlich nicht“, meinte ich. „Wenn jemand weiß, was es bedeutet, seine Lieblingsrolle spielen zu dürfen, dann ist es Elsa. Nein, wir müssen den Mund halten, und ich muß den Intendanten und Birger flehentlich bitten, daß sie es auch tun. Torsten, was soll ich machen? Was wäre richtig und anständig von mir?“ Torsten war ja der einzige Mensch, der es beurteilen konnte, denn er kannte mein ganzes Leben und wußte genau, was Johannes durch all die Jahre für mich getan hatte. „Ja, Vivichen, so hart, wie es auch klingen mag: Ich fände es richtig von dir, dieses große Opfer zu bringen. Du hast oft genug gesagt, daß du nie all das gutmachen könntest, was Johannes für dich getan hat. Jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Es liegt in deiner Hand, ob Johannes jetzt die größte Freude seines Lebens beschert wird, oder ob er, wie unzählige Male in den vergangenen Jahren, verzichten muß.“ „Johannes soll nicht verzichten“, sagte ich. „Er soll die Freude haben, ganz und ungetrübt. Es ist an der Zeit, daß ich einmal verzichte!“ „Mein Vivilein“, flüsterte Torsten mir ins Ohr. „Ich bin stolz auf dich!“ „Das wird gleich anders“, flüsterte ich. „Denn jetzt heule ich gleich.“ „Tu das ruhig, mein Schatz“, sagte Torsten. „Das ist dein gutes Recht!“
Torsten nahm mir etwas ab, wovor es mir furchtbar gegraut hatte: Er ging zum Intendanten, erklärte ihm die Situation und bat ihn, kein Sterbenswort über die Geschichte zu reden. Das andere, wovor es mir auch graute, konnte er mir nicht abnehmen: meine Versicherung Elsa und Johannes gegenüber, daß ich furchtbar gern die kleine Felice versorgen würde, und die beiden könnten getrost losfahren. „Und wenn du nun einen Statistenjob kriegst?“ fragte Elsa. „Den laß ich sausen!“ „Es ist wahnsinnig lieb von dir, Vivi! Ist es dir klar, daß ich ohne deine Hilfe nicht hätte fahren können?“ „Dann ist es ja gut, daß du mich hast“, sagte ich. „Und ob das gut ist! Nicht auszudenken, daß ich die Reise hätte aufgeben müssen, so wie Johannes sich freut! Ja, ich auch, aber ich denke vor allem an Johannes!“ „Genau das tue ich auch“, sagte ich. Nach diesem Gespräch war ich wirklich ein klein bißchen stolz. Elsa, die doch das feine Ohr einer Schauspielerin hatte, hatte nichts gemerkt. Sie ahnte nicht, wie mein Herz blutete. Sie wußte nicht, was es mich an Selbstbeherrschung gekostet hatte, ruhig und unbefangen mit ihr zu sprechen. Es war Torsten, der die beiden per Auto zum Oslozug brachte, ganz früh morgens. Gegen Mittag sollte das Flugzeug von Oslo starten. Dann saß ich da mit dem kleinen rosigen Knäuelchen, das uns schon in einem so zarten Alter solche Komplikationen verschafft hatte! Die ersten Tage waren hart. Es war nicht nur die natürliche Babyflüssigkeit, die die Windeln naß machte. Meine Tränen trugen auch dazu bei. Sie fielen auch ab und zu in die Babybadewanne und sogar in den Babybrei. Aber nach einigen Tagen versiegten endlich die Tränen, und ich fing an, mich wieder in dem täglichen Rhythmus zurechtzufinden. Torsten erzählte mir – ich glaube, wörtlich – was der Intendant ihm gesagt hatte. „Es war ganz merkwürdig mit Ihrer Frau“, hatte er gesagt. „Was sie vorführte, war keine schauspielerische Leistung, es war ein Stück Leben, ein tragisches Stück Wirklichkeit. Sie spielte nicht die Hedwig, sie war Hedwig. Sie weinte echte Tränen, konnte ein paarmal kaum sprechen vor Weinen. Ich hätte sie so, wie sie war,
ohne Regie, ohne Instruktion auf die Bühne lassen können, und ich hätte es sehr gern getan. Aber wie lange sie das durchgehalten hätte, ist eine andere Frage. Wenn die Vorstellung lange gelaufen wäre, hätte sie sich selbst verbraucht, sie wäre zusammengeklappt. Oder es wäre Routine geworden, und ihre Darstellung hätte darunter gelitten.“ Ich dachte sehr viel über diese Worte nach, und zu guter Letzt verstand ich sie. Ich dachte daran, wie vollkommen erschöpft ich nach der Probe gewesen war. Ich dachte an das, was ich Torsten gesagt hatte: „Es war beinahe wie eine Erlösung.“ Vielleicht war es am besten so. Ich war besessen gewesen, ich mußte einmal die Hedwig sein, mußte jemandem dieses kleine Menschenkind zeigen. Ich tat es auf der Probe, ich hatte es zwei Menschen gezeigt, die es verstanden. Wer konnte mir garantieren, daß jeder Zuschauer meine Hedwig verstanden hätte? Die Besessenheit war vorüber. Ich war nicht zur Schauspielerin geboren. Elsa hatte einmal gesagt, es gäbe Menschen, die eine einzige Rolle glänzend spielen können und in anderen Rollen hoffnungslose Versager sind. Es hat schon einen Grund, wenn die strengen Prüfer so einen Prüfling in zwei oder drei ganz verschiedenen Rollen sehen wollen! Ja, so ein Mensch war ich. Ich hatte als Hedwig auf der Probe die „Erlösung“ gehabt. Meine Bühnenkarriere war abgeschlossen, bevor sie angefangen hatte. Es war gut so. Elsa und Johannes kamen zurück. Strahlend glücklich, voller Berichte und Erzählungen, mit den Koffern voller Bilder und Reiseandenken und Mitbringsel. Elsa begann mit den Proben als Hilde. Eines Tages kam sie direkt von der Probe zu mir. „Vivi! Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen!“ Es war Birger, der sich verplappert hatte. Jetzt kannte Elsa die ganze Geschichte. Sie fing an, mir eine Rede zu halten, aber ich unterbrach sie: „Hör, Elsa. Wäre es wertvoller, daß ich die einzige Rolle meines Lebens gespielt hätte, oder daß Johannes diese unendlich große Freude erleben durfte?“ „Ja, wenn du es so formulierst – aber es war phantastisch von dir, Vivi.“ „Wie oft, glaubst du, war Johannes phantastisch zu mir?“
„Ich weiß, Vivi. Aber trotzdem… Birger erzählte mir von deiner Leistung – und daß du auf der Stelle das Angebot bekamst. Menschenskind, was wird es dich gekostet haben, es abzulehnen!“ „Aber es ist doch gut so, Elsa. Das verstehe ich jetzt.“ „Aber Vivi! Weißt du, es ist möglich, daß ,Die Wildente’ später in diesem Jahr gespielt wird. Birger deutete so was an. Vielleicht im Oktober. Dann wirst du bestimmt…“ „… nicht die Hedwig spielen“, ergänzte ich. „Warum in aller Welt nicht?“ „Weil meine Figur zu dem Zeitpunkt durchaus nicht zu Hedwigs Rolle passen wird. Es ist nämlich so, siehst du – ich habe ja deine Tochter so liebgewonnen, daß ich ihr alles Gute wünsche. Und das Beste, was ich für sie tun kann, wäre doch, ihr einen kleinen Vetter zu verschaffen. Oder vielleicht wird es eine Cousine.“ „O Vivi! Wie freue ich mich! Für dich und Torsten und für Felice! Und wie wird Johannes sich freuen!“ Elsa behielt recht. Denn am gleichen Abend kam Johannes vorbei. Elsa hatte wohl nicht den Mund halten können. Johannes wußte über alles Bescheid – über das abgelehnte Angebot, über meine Hedwig-Besessenheit und über das kommende freudige Ereignis. Johannes war nie ein Mann von vielen Worten. Er nahm mich fest in die Arme, er küßte meine Stirn und sagte leise: „Mein liebes, liebes Schwesterchen!“ Ich guckte rauf in sein Gesicht, in seine so unsagbar gütigen Augen. „Ich habe dich so lieb, Johannes. Lieber, großer Bruder!“