Alexander Sergejewitsch Puschkin Romane und Novellen
Alexander Sergejewitsch Puschkin Gesammelte Werke in sechs Bänden...
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Alexander Sergejewitsch Puschkin Romane und Novellen
Alexander Sergejewitsch Puschkin Gesammelte Werke in sechs Bänden Herausgegeben von Harald Raab
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Alexander Sergejewitsch
Puschkin Romane und Novellen
Aufbau-Verlag
Die Übersetzer dieses Bandes sind: Wolfgang E. Groeger, Arthur Luther, Michael Pfeiffer
Der Mohr Peters des Grossen
Verwandelt ist der Russen Land Durch Peters eisenharten Willen. Jasykow
Erstes Kapitel
Ich bin in Paris. Ich beginne zu leben und nicht nur zu atmen. Dmitrijew, Tagebuch eines Reisenden
Unter den jungen Leuten, die Peter der Große in fremde Länder geschickt hatte, damit sie sich die Kenntnisse aneigneten, die ein reformierter Staat brauchte, befand sich auch sein Patenkind, der Mohr Ibrahim. Er studierte an der Pariser Militärschule, ging von ihr als Artilleriehauptmann ab, zeichnete sich im Spanischen Krieg aus und kehrte, schwer verwundet, nach Paris zurück. Der Imperator wurde bei seiner vielseitigen Tätigkeit nicht müde, sich nach seinem Liebling zu erkundigen, und erhielt über seine Fortschritte und sein Benehmen immer schmeichelhafte Auskünfte. Peter war sehr zufrieden mit ihm und rief ihn mehrere Male nach Rußland zurück, doch Ibrahim hatte keine Eile. Er redete sich unter den verschiedensten Vorwänden heraus, bald schützte er seine Verwundung vor, bald den Wunsch, sein Wissen zu vervollkommnen, bald Geldmangel, und Peter kam seinen Bitten entgegen, bat ihn, auf die Gesundheit zu achten, war ihm für seinen Lerneifer dankbar und schonte – obgleich äußerst sparsam in seinen eigenen Ausgaben – nicht das Staatsvermögen, wobei er den Goldrubeln väterliche Ratschläge und warnende Belehrungen hinzufügte. Nach dem Zeugnis sämtlicher historischer Aufzeichnungen konnte sich nichts mit dem überschwenglichen Leichtsinn, mit der Tollheit und dem Luxus der Franzosen jener Zeit vergleichen. Die letzten Herrscherjahre Ludwigs XIV., die sich durch strenge Frömmigkeit des Hofes, Würde und Anstand auszeichneten, hatten keinerlei Spuren hinterlassen. Der Herzog von Orléans, der viele hervorragende Eigenschaften mit Lastern jeglicher Art 7
vereinigte, besaß unglücklicherweise nicht das geringste Talent zum Heucheln. Die Orgien des Palais-Royal waren kein Geheimnis für Paris; das Beispiel machte Schule. Zu jener Zeit erschien Law; Geldgier verband sich mit der Jagd nach Genüssen und Zerstreuungen; Besitzungen schwanden dahin; die Sittlichkeit lag darnieder; die Franzosen lachten und rechneten, und der Staat verfiel unter den frivolen Refrains satirischer Vaudevilles. Die verschiedenen Kreise boten indessen ein äußerst interessantes Bild. Vergnügungssucht und Bildung brachten alle Schichten einander näher. Reichtum, Liebenswürdigkeit, Ruhm, Talent, ja selbst eine Absonderlichkeit – alles, was der Neugier Nahrung gab oder ein Vergnügen versprach, wurde mit der gleichen Gunst aufgenommen. Literatur, Gelehrsamkeit und Philosophie verließen das stille Arbeitszimmer und erschienen, der Mode folgend und ihre Meinungen bestimmend, im Kreise der großen Welt. Die Frauen herrschten, doch forderten sie keine Vergötterung mehr. Oberflächliche Höflichkeit ersetzte tiefe Ehrerbietung. Die Streiche des Herzogs Richelieu, eines Alkibiades des neuesten Athen, sind in die Geschichte eingegangen und geben eine Vorstellung von den Sitten jener Zeit. Temps fortuné, marqué par la licence, Où la folie, agitant son grelot, D’un pied léger parcourt toute la France, Où nul mortel ne daigne être dévot, Où l’on fait tout excepté pénitence. Das Auftauchen Ibrahims, sein Äußeres, seine Bildung und sein angeborener Verstand erregten in Paris allgemeine Aufmerksamkeit. Alle Damen wünschten le Nègre du czar bei sich zu sehen und stritten sich um ihn; der Regent lud ihn mehr als einmal zu seinen lustigen Abenden ein; er war bei Abendessen zugegen, die die Jugend eines Arouet und das Alter eines Chaulieu, die Gespräche eines Montesquieu und Fontenelle beseelten; er versäumte keinen einzigen Ball, kein einziges Fest und keine einzige Premiere und gab sich dem allgemeinen Trubel mit 8
der Leidenschaftlichkeit seiner Jahre und seiner Rasse hin. Doch nicht nur der Gedanke, diese Zerstreuungen, diese glänzenden Vergnügungen mit der strengen Einfachheit des Petersburger Hofs vertauschen zu müssen, schreckte Ibrahim. Andere, stärkere Bande hielten ihn in Paris zurück. Der junge Afrikaner liebte. Die Gräfin D. war, obschon nicht mehr in der ersten Blüte ihrer Jahre, noch für ihre Schönheit berühmt. Als sie mit siebzehn Jahren das Kloster verließ, verheiratete man sie mit einem Mann, den zu lieben ihr nicht gleich gelang und der im folgenden auch niemals Wert darauf legte. Das Gerücht schrieb ihr Liebhaber zu, doch dank den wohlwollenden Gesetzen der Gesellschaft erfreute sie sich eines guten Rufs, denn es war nicht möglich, ihr ein lächerliches oder anstößiges Abenteuer vorzuwerfen. Ihr Haus war in großer Mode. Bei ihr versammelte sich die erlesenste Pariser Gesellschaft. Ibrahim wurde ihr von dem jungen Merville vorgestellt, der als ihr letzter Liebhaber galt und dies auch auf alle mögliche Weise zu zeigen bemüht war. Die Gräfin empfing Ibrahim höflich, aber ohne jede besondere Aufmerksamkeit. Das schmeichelte ihm. Gewöhnlich wurde der junge Neger wie ein Wunder angestaunt, man umringte ihn, überhäufte ihn mit Begrüßungen und Fragen, und diese Neugier, war sie auch verdeckt vom Schein des Wohlwollens, verletzte seine Eigenliebe. Die süße Aufmerksamkeit der Frauen, fast das einzige Ziel unserer Bemühungen, erfreute nicht nur nicht sein Herz, sondern erfüllte es sogar mit Bitterkeit und Unwillen. Er empfand, daß er für sie eine Art seltenes Tier war, ein besonderes, fremdes Geschöpf, das der Zufall in eine Welt verschlug, die nichts Gemeinsames mit ihm hatte. Er beneidete sogar die Menschen, die niemand beachtete, und hielt ihre Nichtigkeit für ein Glück. Der Gedanke, daß er von der Natur nicht für wechselseitige Liebe geschaffen sei, bewahrte ihn vor Überheblichkeit und den Anmaßungen der Eigenliebe, was seinem Umgang mit Frauen einen seltenen Reiz verlieh. Seine Redeweise war einfach und würdevoll; er gefiel der Gräfin D., die der ewigen Späße und 9
feinen Anspielungen des französischen Geistes überdrüssig geworden war. Ibrahim besuchte sie oft. Allmählich gewöhnte sie sich an das Äußere des jungen Negers und fand sogar etwas Anziehendes an diesem Krauskopf, der schwarz unter den gepuderten Perücken ihres Salons hervorstach. (Ibrahim war am Kopf verletzt worden und trug an Stelle der Perücke einen Verband.) Er war siebenundzwanzig Jahre alt, groß und kräftig, und manche Schöne betrachtete ihn mit einem Gefühl, das schmeichelhafter war als einfache Neugier, doch der voreingenommene Ibrahim bemerkte entweder nichts oder sah darin nur Koketterie. Wenn sich aber seine Blicke mit denen der Gräfin trafen, verschwand sein Mißtrauen. Ihre Augen drückten solch eine liebevolle Gutmütigkeit aus, ihre Art, mit ihm umzugehen, war so einfach, so ungezwungen, daß es unmöglich war, darin auch nur einen Schatten von Koketterie oder spöttischem Scherz zu vermuten. Der Gedanke an Liebe kam ihm nicht in den Kopf – doch war es ihm bereits zur Notwendigkeit geworden, die Gräfin jeden Tag zu sehen. Überall versuchte er ihr zu begegnen, und eine Begegnung mit ihr schien ihm jedesmal ein Geschenk des Himmels. Früher als er selbst erriet die Gräfin seine Gefühle. Was man auch sagen mag, aber Liebe ohne Hoffnungen und Forderungen rührt ein weibliches Herz sicherer als alle Verführungskünste. In Ibrahims Gegenwart verfolgte die Gräfin alle seine Bewegungen, hörte auf alles, was er sagte; ohne ihn war sie nachdenklich und fiel ihrer gewöhnlichen Zerstreutheit anheim … Merville bemerkte als erster diese gegenseitige Neigung und gratulierte Ibrahim dazu. Nichts facht die Liebe so an wie eine ermutigende Bemerkung eines Außenstehenden. Die Liebe ist blind, und da sie sich selber mißtraut, greift sie eilig nach jeder Stütze. Mervilles Worte brachten Ibrahim zum Erwachen. Die Möglichkeit, die geliebte Frau zu besitzen, hatte er sich bisher nicht vorzustellen vermocht; Zuversicht erfüllte sein Herz; er verliebte sich hoffnungslos. Vergebens versuchte die Gräfin, von seiner rasenden Leidenschaft erschreckt, dieser freundschaftliche Ermahnungen und einsichtsvolle Ratschläge entgegenzustellen, 10
sie wurde selber schwach. Ein unvorsichtiger Lohn folgte dem anderen. Und schließlich gab sie sich, von der Kraft der Leidenschaft, die sie selbst entfacht hatte, mitgerissen und erschöpft, dem entzückten Ibrahim hin … Den Blicken der aufmerksamen Mitwelt bleibt nichts verborgen. Die neue Verbindung der Gräfin wurde bald allen bekannt. Einige Damen waren über ihre Wahl verwundert, vielen schien sie sehr natürlich. Manche lachten, andere wiederum sahen darin eine unverzeihliche Leichtfertigkeit von ihr. Im ersten Rausch der Leidenschaft bemerkten Ibrahim und die Gräfin nichts, doch bald drangen die zweideutigen Späße der Männer und die spitzen Bemerkungen der Frauen auch zu ihnen. Das würdige und kühle Benehmen Ibrahims hatte ihn bisher vor solchen Angriffen geschützt; er ertrug sie ungeduldig und wußte nicht, wie ihnen begegnen. Die Gräfin, an die Achtung der Welt gewöhnt, konnte nicht ruhigen Blutes ertragen, sich als Gegenstand des Klatsches und des Spotts zu sehen. Bald beklagte sie sich darüber unter Tränen bei Ibrahim, bald machte sie ihm bittere Vorwürfe, bald flehte sie ihn an, nicht für sie einzutreten, damit sie durch unnötigen Lärm nicht gänzlich ins Verderben gestoßen werde. Ein neuer Umstand erschwerte ihre Lage noch mehr. Die Folgen der unvorsichtigen Liebe traten zutage. Trost, Ratschläge, Vorschläge – alles war versucht und abgelehnt worden. Die Gräfin sah ihren unvermeidlichen Untergang kommen und erwartete ihn voller Verzweiflung. Sowie der Zustand der Gräfin bekannt wurde, setzte das Gerede mit erneuter Kraft wieder ein. Die empfindsamen Damen stöhnten vor Entsetzen, und die Männer gingen Wetten ein, ob die Gräfin ein schwarzes oder ein weißes Kind zur Welt bringen werde. Es regnete Epigramme auf ihren Mann, der als einziger in ganz Paris von nichts wußte und nichts Böses ahnte. Der entscheidende Augenblick kam heran. Der Zustand der Gräfin war furchtbar. Ibrahim befand sich jeden Tag bei ihr. Er sah, wie ihre seelischen und physischen Kräfte allmählich schwanden. Ihre Tränen und ihr Entsetzen brachen immer wieder her11
vor. Schließlich verspürte sie die ersten Wehen. In aller Eile wurden Maßnahmen ergriffen. Man fand eine Möglichkeit, den Grafen zu entfernen. Der Doktor kam. Zwei Tage zuvor hatte man eine arme Frau überredet, ihr neugeborenes Kind in fremde Hände zu geben; dorthin wurde ein Eingeweihter geschickt. Ibrahim befand sich im Kabinett neben dem Schlafzimmer, in dem die unglückliche Gräfin lag. Er wagte kaum zu atmen, hörte ihr dumpfes Stöhnen, das Flüstern der Dienerin und die Anordnungen des Doktors. Sie quälte sich lange. Jeder Schmerzenslaut zerriß ihm das Herz; jedes Schweigen dazwischen erfüllte ihn mit Entsetzen … Plötzlich hörte er das schwache Schreien eines Kindes, er brachte nicht die Kraft auf, seine Begeisterung zurückzuhalten, und stürzte in das Zimmer der Gräfin – ein schwarzer Säugling lag auf dem Bett zu ihren Füßen. Ibrahim näherte sich ihm. Sein Herz schlug stark. Er segnete den Sohn mit zitternder Hand. Die Gräfin lächelte schwach und streckte ihm ihre schwache Hand entgegen … doch der Doktor fürchtete eine allzu starke seelische Erschütterung für die Kranke und zog Ibrahim vom Bett fort. Das Neugeborene legte man in einen zugedeckten Korb und schaffte es über eine Geheimtreppe aus dem Haus. Das andere Kind wurde gebracht und seine Wiege im Schlafzimmer der Wöchnerin aufgestellt. Ibrahim fuhr einigermaßen beruhigt fort. Man wartete auf den Grafen. Er kehrte spät zurück, erfuhr von der glücklichen Niederkunft seiner Gattin und war sehr zufrieden. Auf diese Weise wurde das Publikum, das einen verlockenden Skandal erwartet hatte, in seiner Hoffnung getäuscht und mußte sich mit übler Nachrede begnügen. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Doch Ibrahim fühlte, daß sein Schicksal sich ändern müsse und daß seine Verbindung früher oder später dem Grafen D. zur Kenntnis gelangen werde. In solch einem Fall war, was immer auch geschah, der Untergang der Gräfin unvermeidlich. Er liebte leidenschaftlich und wurde ebenso wiedergeliebt; doch die Gräfin war launisch und leichtsinnig. Sie liebte nicht zum erstenmal. Ekel und Haß konnten in ihrem Herzen an die Stelle der zärtlichsten Ge12
fühle treten. Ibrahim sah den Augenblick voraus, da ihre Liebe erkaltete. Bisher hatte er keine Eifersucht gekannt, doch er fühlte sie mit Schrecken kommen; er überlegte sich, daß die Leiden einer Trennung weniger qualvoll sein müßten, und ging schon mit dem Gedanken um, die unglückliche Verbindung zu lösen, Paris zu verlassen und nach Rußland zu fahren, wohin ihn schon immer Peter und das eigene unklare Pflichtgefühl gerufen hatten.
Zweites Kapitel
Nicht so erfreuet Schönheit uns, Nicht allzu sehr begeistert Wonne, Nicht allzu leicht ist mir zu Sinn, Nicht überhäuft bin ich vom Glücke … Bestrebt, daß Ehre mich entzücke. Mich zieht’s, ich fühl’s, zum Ruhme hin! Dershawin
Die Tage und Monate vergingen, und der verliebte Ibrahim konnte sich nicht entschließen, die von ihm verführte Frau zu verlassen. Die Gräfin gewann ihn von Stunde zu Stunde immer lieber. Ihr Sohn wurde in einer entfernten Provinz erzogen. Das Gerede der Gesellschaft hörte allmählich auf, und die Liebenden kamen in den Genuß größerer Ruhe, wobei sie schweigend des vergangenen Sturms gedachten und sich bemühten, nicht an die Zukunft zu denken. Eines Tages war Ibrahim bei der Cour des Herzogs von Orléans zugegen. Als der Herzog an ihm vorüberging, blieb er stehen, übergab ihm einen Brief, den er ihm in Ruhe zu lesen empfahl. Es war ein Brief Peters des Ersten. Der Herrscher, der den wahren Grund seines Fernbleibens erriet, schrieb dem Herzog, daß er nicht die Absicht habe, Ibrahim Zwang anzutun, daß er es seinem guten Willen überlasse, nach Rußland zurückzukehren oder nicht, daß er jedoch keineswegs seinen früheren Zögling jemals im Stich lassen werde. Dieser Brief rührte Ibrahim zutiefst. Von diesem Augenblick stand sein Schicksal fest. Am folgenden Tage teilte er dem Regenten seine Absicht mit, sofort nach Rußland zu reisen. „Überlegen Sie, was Sie tun“, sagte der Herzog zu ihm. „Rußland ist nicht Ihr Vaterland; ich glaube nicht, daß es Ihnen jemals gelingen wird, Ihre heiße Hei14
mat wiederzusehen; doch Ihr langjähriger Aufenthalt in Frankreich hat Sie sowohl dem Klima als auch der Lebensweise des halbwilden Rußlands entfremdet. Sie sind nicht als Untertan Peters geboren. Glauben Sie mir: Machen Sie von seinem großmütigen Anerbieten Gebrauch. Bleiben Sie in Frankreich, für das Sie bereits Ihr Blut vergossen haben, und seien Sie versichert, daß auch hier Ihre Verdienste und Talente nicht ohne würdigen Lohn bleiben.“ Ibrahim dankte dem Herzog aufrichtig, doch er blieb fest in seinem Entschluß. „Ich bedauere es“, sagte der Regent, „doch im übrigen haben Sie recht.“ Er versprach, ihm den Abschied zu geben, und unterrichtete über alles den russischen Zaren. Ibrahim machte sich bald auf die Reise. Den Abend vor der Abreise verbrachte er wie gewöhnlich bei der Gräfin D. Sie wußte von nichts; Ibrahim hatte nicht den Mut, sich ihr anzuvertrauen. Die Gräfin war ruhig und heiter. Sie rief ihn mehrere Male zu sich und scherzte über seine Nachdenklichkeit. Nach dem Abendessen fuhren alle fort. Im Salon blieben nur die Gräfin, ihr Mann und Ibrahim zurück. Der Unglückliche hätte alles auf der Welt dafür gegeben, um nur mit ihr allein sein zu können, doch Graf D. hatte es sich, wie es schien, am Kamin so bequem gemacht, daß keinerlei Hoffnung bestand, ihn aus dem Zimmer zu vertreiben. – Alle drei schwiegen. „Bonne nuit“, sagte schließlich die Gräfin. Ibrahim zog sich das Herz zusammen, und er fühlte plötzlich das ganze Entsetzen der Trennung. Er stand unbeweglich da. „Bonne nuit, messieurs“, wiederholte die Gräfin. Immer noch rührte er sich nicht … Schließlich wurde es ihm schwarz vor den Augen, ihn schwindelte, und er konnte nur mit Mühe das Zimmer verlassen. Zu Hause angekommen, schrieb er, einer Ohnmacht nahe, den folgenden Brief: Ich fahre fort, liebe Leonora, und verlasse Dich für immer. Ich schreibe Dir, weil mir die Kraft fehlt, mich auf andere Art Dir zu erklären. Mein Glück konnte nicht ewig währen. Ich habe es trotz Schicksal und Natur ausgekostet. Deine Liebe mußte erkalten, der Zauber mußte vergehen. Dieser Gedanke hat mich immer ver15
folgt, selbst in jenen Minuten, da ich alles zu vergessen glaubte und mich zu Deinen Füßen an Deiner leidenschaftlichen Selbstverleugnung, Deiner grenzenlosen Zärtlichkeit berauschte … Die leichtsinnige Welt verfolgt in Wirklichkeit ohne Gnade, was sie in der Theorie erlaubt: Ihr kalter Hohn hätte Dich früher oder später besiegt, hätte Dein feuriges Herz bezwungen, und schließlich hättest Du Dich Deiner Leidenschaft geschämt … Was wäre dann mit mir geworden? Nein! Lieber sterben, lieber Dich verlassen noch vor diesem entsetzlichen Augenblick … Deine Ruhe ist mir teurer als alles. Du konntest sie nicht genießen, solange die Blicke der Welt auf uns gerichtet waren. Erinnere Dich an all das, was Du erlitten hast, an all die Beleidigungen der Eigenliebe, all die Qualen der Angst; denke an die entsetzliche Geburt unseres Sohnes. Überlege: Soll ich Dich weiterhin diesen Aufregungen und Gefahren aussetzen? Warum sich bemühen, das Schicksal solch eines zarten, solch eines herrlichen Geschöpfes mit dem armseligen Los eines Negers zu verbinden, einer bemitleidenswerten Kreatur, die kaum verdient, Mensch genannt zu werden? Verzeih, Leonora, verzeih, lieber, einziger Freund. Ich verlasse Dich und mit Dir die ersten und letzten Freuden meines Lebens. Ich habe weder ein Vaterland noch Menschen, die mir nahestehen. Ich fahre in das traurige Rußland, wo meine völlige Einsamkeit mir Trost sein wird. Die ernste Arbeit, der ich mich von jetzt an widme, wird die qualvollen Erinnerungen an die Tage der Begeisterung und des Glückes wenn nicht auslöschen, so doch wenigstens zerstreuen … Verzeih, Leonora – ich reiße mich von diesem Brief los wie aus einer Deiner Umarmungen; verzeih, sei glücklich – und denke manchmal an den armen Neger, an Deinen treuen Ibrahim. In derselben Nacht machte er sich auf den Weg nach Rußland. Die Reise erschien ihm nicht so schrecklich, wie er erwartet hatte. Seine Phantasie triumphierte. über die Wirklichkeit. Je weiter er sich von Paris entfernte, desto lebendiger, desto näher schien ihm all das, was er für immer verlassen hatte. 16
Unmerklich war er bis an die russische Grenze gelangt. Schon nahte der Herbst. Doch die Kutscher fuhren ihn trotz des schlechten Weges mit Windeseile, und am siebzehnten Tag seiner Reise traf er morgens in Krasnoje Selo ein, durch das der damalige Reiseweg führte. Es blieben nur noch achtundzwanzig Werst bis Petersburg. Während die Pferde angespannt wurden, ging Ibrahim in die Kutscherstube. In der Ecke saß ein Mann von hohem Wuchs in einem grünen Rock, die Arme auf den Tisch gestützt, eine Tonpfeife im Mund, und las Hamburger Zeitungen. Als er hörte, daß jemand eingetreten war, hob er den Kopf. „Ho! Ibrahim?“ rief er aus und erhob sich von der Bank. „Sei gegrüßt, Patenkind!“ Ibrahim erkannte Peter und wollte voll Freude zu ihm stürzen, doch blieb er ehrerbietig stehen. Der Herrscher trat heran, umarmte ihn und küßte ihn auf den Kopf. „Mir war deine Ankunft gemeldet worden“, sagte Peter, „da bin ich dir entgegengefahren. Ich warte hier seit gestern auf dich.“ Ibrahim fand keine Worte, um seine Dankbarkeit auszudrücken. „Laß deine Kutsche hinter uns herfahren“, fuhr Peter fort, „und setz dich neben mich – wir fahren zu mir.“ Die Kutsche des Herrschers fuhr vor. Er nahm mit Ibrahim darin Platz, und sie fuhren im Galopp davon. Nach anderhalb Stunden langten sie in Petersburg an. Ibrahim betrachtete voller Neugier die neugeborene Hauptstadt, die sich auf den Wink des Herrschers hin aus dem Sumpf erhob. Kahle Dämme, Kanäle ohne Ufermauer und hölzerne Brücken wiesen allerorts auf den kürzlichen Sieg des menschlichen Willens über den Widerstand der Naturgewalten hin. Die Häuser schienen in aller Eile erbaut. In der ganzen Stadt gab es nichts Großartiges außer der Newa, die noch keine Graniteinfassung schmückte, aber auf der schon ein Kriegs- und Handelsschiff neben dem anderen lag. Die Kutsche des Herrschers hielt am Schloß des sogenannten Zarizyn Sad. Auf der Freitreppe empfing Peter eine wunderschöne und nach der letzten Pariser Mode gekleidete Frau von etwa fünfunddreißig Jahren. Peter küßte sie auf den Mund, nahm Ibrahim bei der Hand und sagte: „Hast du mein Patenkind erkannt, Katenka: Ich bitte, ihn wie früher zu achten und zu lie17
ben.“ Jekaterina richtete ihre schwarzen durchdringenden Augen auf ihn und reichte ihm wohlwollend ihre kleine Hand. Zwei junge Schönheiten, groß, schlank und frisch wie Rosen, standen hinter ihr und näherten sich ehrerbietig Peter. „Lisa“, sagte er zu einer von ihnen, „erinnerst du dich an den kleinen Mohren, der für dich bei mir in Oranienbaum Äpfel gestohlen hat? Das ist er: Ich stelle ihn dir vor.“ Die Großfürstin lachte und errötete. Sie gingen in den Speisesaal. Der Tisch war schon in Erwartung des Herrschers gedeckt. Peter setzte sich mit der ganzen Familie zu Tisch und lud auch Ibrahim ein. Während des Essens sprach der Herrscher mit Ibrahim über die verschiedensten Dinge, fragte ihn über den Spanischen Krieg aus, über die inneren Angelegenheiten Frankreichs und über den Regenten, den er liebte, wenn er auch vieles an ihm verurteilte. Ibrahim zeichnete sich durch einen scharfen und beobachtenden Verstand aus. Peter war mit seinen Antworten sehr zufrieden; er erinnerte sich an einige Charakterzüge Ibrahims aus dessen Kindheit und erzählte sie mit solch einer Gutmütigkeit und Heiterkeit, daß niemand in dem liebenswürdigen und gastfreundlichen Hausherrn den Helden von Poltawa, den mächtigen und strengen Reformator Rußlands vermutet hätte. Nach dem Essen zog sich der Herrscher zurück, um nach russischer Gewohnheit zu ruhen. Ibrahim blieb mit der Zarin und den Großfürstinnen allein zurück. Er war bemüht, ihre Neugier zu befriedigen, beschrieb das Pariser Leben, die dortigen Feste und eigentümlichen Moden. Unterdessen hatten sich einige Persönlichkeiten, die dem Herrscher nahestanden, im Palast versammelt. Ibrahim erkannte den prachtliebenden Fürsten Menschikow, der den Mohren, als er ihn im Gespräch mit Jekaterina sah, stolz von der Seite anblickte, er erkannte den Fürsten Jakow Dolgorukij, Peters rauhen Ratgeber, den gelehrten Bruce, der im Volk für einen russischen Faust galt, den jungen Ragusinskij, seinen ehemaligen Kameraden, und andere, die sich eingestellt hatten, um dem Herrscher Bericht zu erstatten oder von ihm Befehle zu empfangen. Der Zar erschien nach ungefähr zwei Stunden. „Wir wollen 18
sehen“, sagte er zu Ibrahim, „ob du dein altes Amt noch nicht verlernt hast. Nimm die Schiefertafel und folge mir.“ Peter schloß sich in der Drechslerwerkstatt ein und beschäftigte sich mit Staatsangelegenheiten. Nacheinander arbeitete er mit Bruce, mit dem Fürsten Dolgorukij, mit dem Generalpolizeimeister Devier und diktierte Ibrahim einige Erlasse und Beschlüsse. Ibrahim konnte sich nicht genug über seinen schnellen und sicheren Verstand wundern, über die Kraft und Elastizität seiner Auffassung und die Vielfältigkeit seines Wirkens. Nach Beendigung der Arbeit zog Peter ein Notizbuch aus der Tasche, um sich zu überzeugen, ob alles, was er sich für diesen Tag vorgenommen hatte, erledigt sei. Dann sagte er zu Ibrahim, als er die Drechslerwerkstatt verließ: „Es ist schon spät; ich denke, du wirst müde sein, übernachte hier, wie in alten Zeiten. Morgen wecke ich dich.“ Als Ibrahim allein war, konnte er kaum zu sich kommen. Er befand sich in Petersburg, er sah von neuem den großen Mann, in dessen Nähe er, ohne seinen Wert zu kennen, die Kindheit verbracht hatte. Fast reuevoll mußte er sich eingestehen, daß seine Gedanken zum erstenmal seit seiner Trennung nicht einzig und allein den ganzen Tag der Gräfin D. gegolten hatten. Er sah, daß die neue Lebensweise, die ihn erwartete, daß Tätigkeit und dauernde Beschäftigung seine durch Leidenschaft, Untätigkeit und heimliche Schwermut ermüdete Seele beleben kann. Der Gedanke, ein Mitkämpfer des großen Mannes zu sein und gemeinsam mit ihm auf das Schicksal eines großen Volkes einzuwirken, erweckte in ihm zum erstenmal das edle Gefühl des Ehrgeizes. In dieser Stimmung legte er sich auf das für ihn vorbereitete Feldbett, und dann trugen ihn die gewohnten Träume nach Paris, in die Umarmungen der geliebten Gräfin.
Drittes Kapitel
Wie am Himmel die Wolken, So wechseln in uns ihr Bild die Gedanken, Was heut wir lieben, gehaßt wird es schon morgen. Küchelbecker
Am nächsten Tag weckte Peter, wie er versprochen hatte, Ibrahim und gratulierte ihm zum Rang eines Kapitänleutnants der Bombardierkompanie im Preobrashenskij-Regiment, in der er selber Hauptmann war. Die Höflinge umringten Ibrahim, jeder versuchte auf seine Weise, den neuen Günstling für sich zu gewinnen. Der hochmütige Fürst Menschikow schüttelte ihm freundschaftlich die Hand. Scheremetew erkundigte sich nach seinen Pariser Bekannten, und Golowin lud ihn zum Mittagessen ein. Diesem letzten Beispiel folgten auch andere, so daß Ibrahim Einladungen für mindestens einen ganzen Monat erhielt. Die Tage, die Ibrahim verbrachte, waren eintönig, jedoch mit Tätigkeit ausgefüllt – infolgedessen kannte er keine Langeweile. Von Tag zu Tag gewann er den Herrscher immer lieber, begriff seine edle Seele besser. Den Gedanken eines großen Mannes zu folgen, ist eine äußerst interessante Wissenschaft. Ibrahim sah Peter im Senat, wie er von Buturlin und Dolgorukij angegriffen wurde, wie er wichtige Fragen der Gesetzgebung untersuchte, er sah ihn im Admiralitätskollegium, wie er Rußlands Größe auf dem Meer begründete, sah ihn mit Feofan, Gawriil Bushinskij und Kopijewitsch, wie er in Mußestunden Übersetzungen ausländischer Publizisten durchsah oder wie er die Fabrik eines Kaufherrn, die Werkstatt eines Handwerkers oder das Kabinett eines Gelehrten aufsuchte. Rußland stellte sich Ibrahim als eine riesige Werkstatt dar, in der sich nur Maschinen bewegten und in der jeder Arbeiter, eingefügt in eine bestimmte Ordnung, seiner 20
Tätigkeit nachging. Er fühlte sich auch verpflichtet, an seiner eigenen Werkbank zu arbeiten, und war bemüht, den Vergnügungen des Pariser Lebens so wenig wie nur möglich nachzutrauern. Schwerer fiel es ihm, eine andere, liebe Erinnerung von sich fernzuhalten: Er dachte oft an die Gräfin D., stellte sich ihre gerechte Empörung, ihre Tränen und ihre Trauer vor … Doch manchmal schnürte ihm ein entsetzlicher Gedanke die Kehle zu: die Zerstreuungen der großen Welt, eine neue Verbindung, ein anderer Glücklicher – er erbebte; die Eifersucht brachte sein afrikanisches Blut zum Kochen, und heiße Tränen wollten über sein schwarzes Gesicht fließen. Eines Morgens saß er, von Papieren umgeben, in seinem Arbeitszimmer, als er plötzlich eine laute Begrüßung in französischer Sprache vernahm; Ibrahim wandte sich rasch um, und der junge Korsakow, der in Paris im Trubel der großen Welt zurückgeblieben war, umarmte ihn unter freudigen Ausrufen: „Ich bin eben erst angekommen“, sagte Korsakow, „und gleich zu dir gelaufen. Alle unsere Pariser Bekannten lassen dich grüßen und bedauern deine Abwesenheit; die Gräfin D. hat mir aufgetragen, dich zurückzuholen, und hier ist für dich ein Brief von ihr.“ Ibrahim ergriff bebend den Brief, sah die bekannte Handschrift auf der Adresse und traute seinen Augen nicht. „Wie froh bin ich“, fuhr Korsakow fort, „daß du in diesem barbarischen Petersburg vor Langerweile noch nicht gestorben bist! Was macht man hier, womit beschäftigt man sich? Wer ist dein Schneider? Habt ihr wenigstens eine Oper?“ Ibrahim antwortete zerstreut, daß der Herrscher jetzt wahrscheinlich auf der Schiffswerft arbeite. Korsakow lachte. „Ich sehe“, sagte er, „daß du jetzt für mich nichts übrig hast; wir wollen uns ein andermal aussprechen; ich fahre zum Herrscher, um mich vorzustellen.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf einem Bein um und lief aus dem Zimmer. Als Ibrahim allein geblieben war, erbrach er hastig den Brief. Die Gräfin beklagte sich zärtlich über ihn, warf ihm Verstellung und mangelndes Vertrauen vor. „Du sagst“, schrieb sie, „meine Ruhe sei Dir teurer als alles auf der Welt. Ibrahim! Wenn das wahr wäre, wie hättest Du mich in den Zustand versetzen kön21
nen, in den Du mich durch die unerwartete Nachricht von Deiner Abreise gebracht hast? Du fürchtetest, daß ich Dich zurückhalten könnte; glaube mir, daß ich trotz meiner Liebe imstande gewesen wäre, sie Deinem Wohlergehen und dem, was Du für Deine Pflicht hältst, zu opfern.“ Die Gräfin schloß den Brief mit leidenschaftlichen Beteuerungen ihrer Liebe und beschwor ihn, ihr wenigstens hin und wieder zu schreiben, wenn es schon für sie keine Hoffnung gäbe, sich irgendwann wiederzusehen. Ibrahim las diesen Brief zwanzigmal und küßte voller Entzücken die teuren Zeilen. Er brannte vor Ungeduld, etwas über die Gräfin zu erfahren, und wollte schon zur Admiralität fahren, weil er hoffte, Korsakow dort noch anzutreffen, doch die Tür ging auf, und Korsakow selber erschien wieder; er hatte sich dem Herrscher schon vorgestellt – und schien, seiner Gewohnheit entsprechend, sehr zufrieden mit sich zu sein. „Entre nous“, sagte er zu Ibrahim, „der Herrscher ist ein sehr seltsamer Mensch; stell dir vor, ich habe ihn in so einer Leinenjacke angetroffen, auf dem Mast eines neuen Schiffes, auf den ich mit meinen Depeschen hinaufklettern mußte. Ich stand auf der Strickleiter und hatte nicht genügend Platz, um eine anständige Reverenz zu machen, und war völlig durcheinander, was bei mir noch nie im Leben vorgekommen ist. Als der Herrscher jedoch meine Papiere durchgelesen hatte, betrachtete er mich von Kopf bis Fuß und war wahrscheinlich angenehm überrascht von dem Geschmack und der Eleganz meiner Kleidung; jedenfalls lächelte er und lud mich zur heutigen Assemblee ein. Doch ich bin in Petersburg völlig fremd, während meiner sechsjährigen Abwesenheit habe ich die hiesigen Bräuche ganz vergessen, bitte, sei mein Mentor, hole mich ab und stelle mich vor.“ Ibrahim erklärte sich bereit und beeilte sich, das Gespräch auf einen Gegenstand zu bringen, der ihn mehr interessierte. „Nun, wie geht es der Gräfin D.?“ – „Der Gräfin? Sie war natürlich am Anfang sehr betrübt über deine Abreise; dann hat sie sich natürlich allmählich getröstet und sich einen neuen Liebhaber genommen; weißt du, wen? Den langen Marquis R.; was rollst du so deine Mohrenaugen? Oder kommt dir das alles seltsam vor; weißt du denn nicht, daß lange Trauer 22
nicht in der menschlichen Natur liegt, besonders nicht in der weiblichen; denk mal gut darüber nach, ich gehe jetzt und ruhe mich von der Reise aus; vergiß nicht, mich abzuholen.“ Was für Gefühle erfüllten Ibrahims Seele? Eifersucht? Raserei? Verzweiflung? Nein; doch eine tiefe, würgende Schwermut. Er wiederholte für sich: Das habe ich vorausgesehen, das mußte geschehen. Dann faltete er den Brief der Gräfin auseinander, las ihn von neuem, ließ den Kopf hängen und weinte bitterlich. Er weinte lange. Die Tränen erleichterten ihm das Herz. Als er auf die Uhr blickte, sah er, daß es Zeit war, zu fahren. Ibrahim hätte gern darauf verzichtet, doch die Assemblee war eine Angelegenheit der Pflicht, und der Herrscher forderte streng die Anwesenheit seiner Vertrauten. Er kleidete sich an und fuhr zu Korsakow, um ihn abzuholen. Korsakow saß im Hausrock da und las ein französisches Buch. „So früh“, sagte er zu Ibrahim, als er ihn sah. „Ich bitte dich“, entgegnete dieser, „es ist schon halb sechs; wir kommen zu spät; zieh dich so schnell wie möglich an, und wir fahren.“ Korsakow lief eilig hin und her und zog aus aller Kraft an der Klingel; die Diener kamen hereingestürzt, und er begann sich hastig anzukleiden. Der französische Kammerdiener reichte ihm Schuhe mit roten Absätzen, hellblaue Samthosen und einen rosafarbenen, mit Flitter besetzten Rock; im Vorzimmer wurde eilig die Perücke gepudert und dann hereingereicht. Korsakow steckte seinen kurzgeschorenen Kopf in sie hinein, verlangte Degen und Handschuhe, drehte und wendete sich ein dutzendmal vor dem Spiegel und verkündete Ibrahim, daß er fertig sei. Die Heiducken reichten ihnen die Bärenpelze, und sie fuhren zum Winterpalais. Korsakow überhäufte Ibrahim mit Fragen, wer in Petersburg die größte Schönheit sei? Wer als bester Tänzer gelte? Was für ein Tanz jetzt in Mode sei? Ibrahim befriedigte seine Neugier sehr ungern. Unterdessen fuhren sie am Palais vor. Eine Menge langer Schlitten, alter, ungefüger Wagen und vergoldeter Kutschen stand schon auf der Wiese. An der Freitreppe drängten sich Kutscher in Livree und mit Schnurrbart, reich betreßte Diener mit Federn und Stäben, Husaren, Pagen und schwerfällige Heiducken, die 23
mit den Pelzen und Muffen ihrer Herren beladen waren: Nach den Vorstellungen der Bojaren damaliger Zeiten ein notwendiges Gefolge. Bei Ibrahims Erscheinen erhob sich unter ihnen ein allgemeines Flüstern: „Der Mohr, der Mohr, der Mohr des Zaren!“ Er führte Korsakow schnell durch die bunte Dienerschaft. Ein Lakai vom Hof riß vor ihnen die Tür weit auf, und sie traten in den Saal. Korsakow erstarrte … In einem großen Zimmer, das von Talgkerzen erleuchtet wurde, die schwach in Wolken von Tabaksqualm brannten, gingen Würdenträger mit hellblauen Bändern über der Schulter, Gesandte, ausländische Kaufleute, Gardeoffiziere in grünen Uniformen und Schiffbauer in Jacken und gestreiften Hosen bei pausenloser Blasmusik auf und ab. Die Damen saßen längs der Wände; die jungen glänzten in der ganzen Pracht der Mode. Gold und Silber blitzte auf ihren Roben; aus den prachtvollen Reifröcken erhob sich gleich einem Stengel die schmale Taille, Diamanten funkelten an den Ohren, in den langen Locken und rings um den Hals. Sie drehten sich munter nach rechts und links in Erwartung der Kavaliere und des Tanzbeginns. Die bejahrten Damen versuchten die neue Art der Kleidung listig mit der alten, verpönten zu vereinigen: Die Hauben erinnerten an die Zobelmütze der Zarin Natalja Kirilowna, und die Roberonden und Mantillen gemahnten irgendwie an Sarafan und Seelenwärmer. Es schien, daß sie eher mit Verwunderung als mit Vergnügen diesen neu eingeführten Belustigungen beiwohnten, und sie sahen die Frauen und Töchter der holländischen Kapitäne mißbilligend an, die in gestreiften Baumwollröcken und roten Miedern ihren Strumpf strickten und miteinander lachten und redeten, als wären sie zu Hause. Korsakow konnte nicht zur Besinnung kommen. Als der Diener die neuen Gäste bemerkte, trat er zu ihnen und bot Bier und Gläser auf einem Tablett an. „Que diable est-ce que tout cela?“ fragte Korsakow halblaut Ibrahim. Ibrahim konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Die Herrscherin und die Großfürstinnen, im Glanze ihrer Schönheit und ihrer Gewänder, gingen durch die Reihen der Gäste und unterhielten sich freundlich mit ihnen. Der Herrscher war in dem anderen Zimmer. Korsakow, der sich ihm zeigen 24
wollte, konnte sich dorthin nur mit Mühe einen Weg durch die ständig hin und her wogende Menge bahnen. Dort saßen größtenteils Ausländer, die würdevoll ihre Tonpfeifen rauchten und Tonkrüge leerten. Auf den Tischen standen Flaschen mit Bier und Wein, mit Tabak gefüllte Lederbeutel, Gläser mit Punsch und Schachbretter. An einem dieser Tische spielte Peter mit einem breitschultrigen englischen Kapitän Dame. Sie gaben eifrig Salutschüsse in Form von Tabakrauchsalven ab, und der Herrscher war von einem überraschenden Zug seines Gegners so verblüfft, daß er Korsakow nicht bemerkte, wie sehr sich dieser auch in ihrer Nähe drehte und wendete. In diesem Augenblick trat ein dicker Herr mit einem dicken Blumenstrauß auf der Brust geschäftig herein, verkündete mit lauter Stimme, daß der Tanz begonnen habe – und ging sofort hinaus; ihm folgte eine Menge Gäste, unter ihnen auch Korsakow. Ein unerwarteter Anblick verblüffte ihn. In der ganzen Länge des Tanzsaales standen bei der erbärmlichsten Musik Damen und Kavaliere einander in zwei Reihen gegenüber; die Kavaliere verbeugten sich tief, die Damen knicksten noch tiefer, erst geradeaus, dann nach rechts, dann nach links, dann wieder geradeaus, dann wieder nach rechts und so weiter. Korsakow sah sich diesen spaßigen Zeitvertreib an, machte große Augen und biß sich auf die Lippen. Die Knickse und Verbeugungen dauerten ungefähr eine halbe Stunde; schließlich hörten sie auf, und der dicke Herr mit dem Blumenstrauß verkündete, daß die zeremoniellen Tänze zu Ende seien und befahl den Musikanten, ein Menuett zu spielen. Korsakow freute sich darüber und hatte vor, zu glänzen. Unter den jungen weiblichen Gästen gefiel ihm eine besonders. Sie war etwa sechzehn Jahre alt, reich, doch mit Geschmack gekleidet und saß neben einem älteren Mann von würdevollem und strengem Aussehen. Korsakow flog zu ihr hin und bat sie, ihm die Ehre zu erweisen und mit ihm zu tanzen. Die junge Schöne sah ihn verwirrt an und schien nicht zu wissen, was sie ihm sagen solle. Der Mann, der neben ihr saß, wurde noch finsterer. Korsakow wartete auf ihre Entscheidung, doch der Herr mit dem Blumenstrauß trat an ihn heran, führte ihn in die Mitte 25
des Saales und sagte voller Wichtigkeit: „Mein Herr, du hast dich vergangen, erstens, weil du an diese junge Person herangetreten bist, ohne ihr die drei schuldigen Reverenzen zu erweisen, und zweitens, weil du es auf dich genommen hast, sie zu wählen, wo doch bei einem Menuett dieses Recht der Dame zukommt und nicht dem Kavalier; dieserhalb mußt du gehörig bestraft werden, du sollst nämlich den großen Adlerpokal austrinken.“ Korsakow wunderte sich von Stunde zu Stunde mehr. Im Nu hatten ihn die Gäste umringt und forderten laut, daß dem Gesetz sofort Genüge getan werde. Peter hörte das Lachen und die Schreie und kam aus dem anderen Zimmer, da er solchen Strafen sehr gern persönlich beiwohnte. Die Menge machte ihm Platz, und er trat in den Kreis, in dem der Verurteilte und vor ihm der Hofmarschall mit einem riesigen Pokal voll Malvasier stand. Er versuchte den Übeltäter vergeblich zu bewegen, sich freiwillig dem Gesetz zu unterwerfen. „Aha“, sagte Peter, als er Korsakow sah, „du bist ertappt, Bruder, habe die Güte zu trinken, Musjö, und verziehe nicht das Gesicht.“ Da war nichts zu machen. Der arme Stutzer leerte, ohne abzusetzen, den ganzen Pokal und gab ihn dem Marschall zurück. – „Höre, Korsakow“, sagte Peter zu ihm, „deine Hosen sind aus Samt, solche trage ich nicht einmal, und ich bin viel reicher als du. Das ist Verschwendung; paß auf, daß ich mich mit dir nicht zanke.“ Als Korsakow diese Rüge vernommen hatte, wollte er sich aus dem Kreis entfernen, doch er schwankte und wäre beinah hingefallen, zum unbeschreiblichen Vergnügen des Herrschers und der ganzen lustigen Gesellschaft. Diese Episode schadete in keiner Weise der Einigkeit und Unterhaltsamkeit der Haupthandlung, sondern belebte sie noch. Die Kavaliere machten ihre Kratzfüße und Verbeugungen und die Damen ihre Knickse, wobei sie mit noch größerem Eifer mit den Absätzen aufstampften und schon gar nicht mehr die Kadenzen beachteten. Korsakow konnte an der allgemeinen Fröhlichkeit nicht teilnehmen. Die Dame, die er aufgefordert hatte, ging auf Befehl ihres Vaters, Gawrila Afanasjewitsch, zu Ibrahim, senkte die blauen Augen und gab ihm schüchtern die Hand. Ibrahim tanzte mit ihr ein Menuett und begleitete sie zu ihrem 26
Platz; dann suchte er Korsakow, führte ihn aus dem Saal, setzte ihn in die Kutsche und fuhr ihn nach Hause. Unterwegs lallte Korsakow erst undeutlich: „Verfluchte Assemblee! Verfluchter großer Adlerpokal! …“, doch bald fiel er in tiefen Schlaf und merkte gar nicht, wie er nach Hause kam, wie man ihn auszog und schlafen legte; er wachte am nächsten Tag mit Kopfschmerzen auf und erinnerte sich dunkel an Kratzfüße, Knickse, Tabakqualm, an den Herrn mit dem Strauß und den großen Adlerpokal.
Viertes Kapitel
Wenn unsre Ahnen festlich speisten. Dann mußte es vergnüglich sein. Schöpfkellen, Silberschalen kreisten Mit goldnem Bier und edlem Wein. Ruslan und Ludmila
Jetzt muß ich den geneigten Leser mit Gawrila Afanasjewitsch Rshewskij bekannt machen. Er entstammte einem alten Bojarengeschlecht, verfügte über einen riesigen Besitz, war gastfreundlich und liebte die Falkenjagd; sein Gesinde war zahlreich. Kurzum, er war ein echter russischer Herr; seinen eigenen Worten zufolge konnte er den fremdländischen Geist nicht leiden und bemühte sich, im häuslichen Kreis die Sitten der ihm so lieben alten Zeit zu erhalten. Seine Tochter war siebzehn Jahre alt. Bereits als Kind hatte sie die Mutter verloren. Erzogen war sie in althergebrachter Weise: Sie war von Ammen, Kinderfrauen, Freundinnen und Stubenmädchen umgeben, stickte mit Goldfäden und konnte weder lesen noch schreiben; ihr Vater vermochte sich trotz seiner Abscheu vor allem Überseeischen ihrem Wunsch nicht zu widersetzen, ausländische Tänze von dem gefangenen schwedischen Offizier zu erlernen, der in ihrem Hause wohnte. Dieser verdiente Tanzmeister war fünfzig Jahre alt, sein rechtes Bein war bei Narwa durchschossen worden und deshalb nicht allzu sehr für Menuette und Couranten geeignet, dafür vollführte das linke mit erstaunlicher Kunst und Leichtigkeit die allerschwierigsten Pas. Die Schülerin machte seinen Bemühungen alle Ehre. Natalja Gawrilowna galt auf den Assembleen als beste Tänzerin, was zum Teil auch der Grund für Korsakows Fehltritt war, der am nächsten Tag vorgefahren kam, um sich bei Gawrila Afanasjewitsch zu 28
entschuldigen; doch die Gewandtheit und Geckenhaftigkeit des jungen Stutzers gefielen nicht dem stolzen Bojaren, der ihn auch geistreich einen französischen Affen nannte. Es war ein Feiertag. Gawrila Afanasjewitsch erwartete einige Verwandte und Bekannte. Im altertümlichen Saal wurde der lange Tisch gedeckt. Die Gäste kamen mit Frauen und Töchtern angefahren, die endlich durch den Erlaß des Herrschers und sein eigenes Beispiel vom häuslichen Einsiedlerleben befreit worden waren. Natalja Gawrilowna reichte jedem Gast ein silbernes Tablett mit goldenen Bechern, jeder leerte einen davon, wobei er nur bedauerte, daß der Kuß, den man in alten Zeiten bei dieser Gelegenheit empfing, schon nicht mehr üblich war. – Man ging zu Tisch. Den ersten Platz, neben dem Hausherrn, nahm dessen Schwiegervater ein, Fürst Boris Alexejewitsch Lykow, ein siebzigjähriger Bojar; die übrigen Gäste setzten sich, wobei sie die Rangordnung beachteten und so der glücklichen Zeit der Ämterverteilung nach dem Geburtsadel gedachten – die Männer ließen sich auf der einen Seite nieder, die Frauen auf der anderen; auf ihren gewohnten Plätzen am Tischende saßen: die Wirtschafterin in altertümlicher Jacke und feiertäglichem Kopfputz, die Zwergin, ein dreißigjähriges winziges Wesen, steif und runzlig, und der gefangene Schwede in einer blauen abgetragenen Uniform. Der Tisch, auf dem eine Vielzahl von Gerichten stand, war von einer geschäftigen und vielköpfigen Dienerschaft umgeben, unter welcher der Haushofmeister durch strengen Blick, dicken Bauch und majestätische Unbeweglichkeit auffiel. – Während der ersten Minuten des Essens galt die Aufmerksamkeit einzig und allein den Erzeugnissen unserer alten Küche; nur das Klappern der Teller und geschäftigen Löffel störte das allgemeine Schweigen. Schließlich sah der Hausherr, daß es Zeit war, die Gäste mit angenehmem Gespräch zu unterhalten, drehte sich um und fragte: „Wo ist denn die Jekimowna? Ruft sie her.“ Einige Diener stürzten schon in verschiedene Richtungen davon, doch in demselben Augenblick kam unter Singen und Tanzen eine alte, weiß und rot geschminkte, mit Blumen und Flitter geschmückte Frau in einer Roberonde aus schwerem Stoff, mit freiem Hals und tiefem 29
Brustausschnitt herein. Ihr Erscheinen rief allgemeines Vergnügen hervor. „Guten Tag, Jekimowna“, sagte Fürst Lykow. „Wie geht es dir?“ „Gut und schön, Gevatter: Ich singe und tanze und warte auf Freier.“ „Wo bist du gewesen, Närrin?“ fragte der Hausherr. „Ich habe mich schöngemacht, Gevatter, für die teuren Gäste, zu Gottes Feiertag, auf Geheiß des Zaren, auf Befehl der Bojaren, der ganzen Welt zum Lachen, wie es die Fremdländischen machen.“ Bei diesen Worten brach ein lautes Gelächter aus, und die Närrin nahm ihren Platz hinter dem Stuhl des Hausherrn ein. „Die Närrin redet so lange Unsinn, bis sie dabei doch die Wahrheit ausplappert“, sagte Tatjana Afanasjewna, die älteste Schwester des Hausherrn, die dieser herzlich verehrte. „Tatsächlich, die jetzige Tracht dient der ganzen Welt zum Gespött. Wenn ihr schon, meine Herren, die Barte abrasiert und den kurzen Rock angezogen habt, so braucht man über die Fetzen der Frauen erst recht kein Wort zu verlieren: Wirklich schade ist es um den Sarafan, um das Mädchenband und um das Kopftuch. Wenn man sich die heutigen Schönheiten ansieht, so könnte man lachen und auch weinen: die Haare aufgetürmt wie Filz, eingefettet und mit französischem Mehl bestreut, der Bauch zusammengeschnürt, daß er beinah wie abgeschnitten ist, die Unterröcke auf Reifen gespannt, so daß sie seitlich in eine Kutsche einsteigen müssen; wenn sie zur Tür hereinkommen, bücken sie sich. Weder stehen, noch sitzen, noch atmen können sie – die reinsten Märtyrerinnen, die lieben Kleinen.“ „Ach, Mütterchen Tatjana Afanasjewna“, sagte Kirila Petrowitsch T., der in Rjasan Woiwode gewesen war, wo er sich dreitausend Seelen und eine junge Frau zugelegt hatte, wenn auch beides nicht eben auf geradem Wege, „von mir aus mag sich die Frau anziehen wie sie will: meinetwegen wie eine Bettlerin oder auch wie der Kaiser von China, wenn sie sich nur nicht jeden Monat neue Kleider bestellen und die vorigen funkelnagelneu wegwerfen würde. Früher, da bekam die Enkelin den Sarafan 30
der Großmutter zur Mitgift, aber die jetzigen Roberonden trägt heute die Herrin und morgen die Magd. Was soll man tun? Das ist der Ruin für den russischen Adel! Ein Unglück, und nichts weiter.“ Bei diesen Worten sah er mit einem Seufzer seine Marja Iljinitschna an, der, so schien es, weder das Lob der alten Zeit noch der Tadel der neuesten Sitten gefiel. Die übrigen Schönen teilten ihre Unzufriedenheit, doch sie schwiegen, denn Bescheidenheit galt zu jener Zeit als unerläßliche Eigenschaft einer jungen Frau. „Und wer ist daran schuld?“ fragte Gawrila Afanasjewitsch und füllte sich seinen Becher mit schäumendem Kwas. „Sind wir es denn nicht selbst? Die jungen Weiber treiben Possen, und wir unterstützen sie dabei.“ „Was sollen wir denn tun, wenn es nicht von uns abhängt?“ entgegnete Kirila Petrowitsch. „Mancher wäre froh, wenn er die Frau in der Kemenate einsperren könnte, sie aber wird mit Pauken und Trompeten zur Assemblee befohlen; der Mann greift zur Peitsche, doch die Frau zu den Festkleidern. – Ach, diese Assembleen! Gott hat uns mit ihnen für unsere Sünden gestraft.“ Marja Iljinitschna saß wie auf Nadeln; die Zunge juckte sie förmlich; schließlich hielt sie es nicht mehr aus, wandte sich ihrem Mann zu und fragte ihn mit säuerlichem Lächeln, was er denn Schlechtes an den Assembleen fände? „Schlecht ist an ihnen“, antwortete der erregte Gemahl, „daß von der Zeit an, wo sie eingeführt wurden, die Männer nicht mehr mit den Frauen auskommen. Die Frauen haben das Wort des Apostels vergessen: Das Weib aber fürchte den Mann; sie kümmern sich nicht um die Wirtschaft, sondern um neue Kleider; sie bemühen sich nicht, es dem Mann recht zu machen, sondern diesen Windbeuteln von Offizieren zu gefallen. Und ist es etwa anständig, verehrte Frau, wenn die russischen Bojarenfrauen und Bojarenfräulein mit den deutschen Tabakrauchern und ihren Mägden zusammen sind? Wo hat es jemals so etwas gegeben, daß bis in die Nacht hinein getanzt wurde und man sich mit jungen Männern unterhielt? Wenn es wenigstens noch Verwandte wären, aber es sind Fremde, Unbekannte.“ 31
„Ich würde schon ein Wort sagen, doch der Wolf ist nicht weit“, sagte Gawrila Afanasjewitsch finster. „Ich muß gestehen – auch mir gefallen die Assembleen nicht; eh du dich’s versiehst, stößt du auf einen Betrunkenen, oder man macht dich, den anderen zum Gespött, selbst betrunken. Eh du dich’s versiehst, hat so ein Windbeutel mit deiner Tochter etwas angestellt; heutzutage ist die Jugend so verwöhnt, daß es kaum vorzustellen ist. Da hat zum Beispiel der Sohn des seligen Jewgraf Sergejewitsch Korsakow beim letzten Ball mit der Natascha solch einen Staub aufgewirbelt, daß ich vor Scham rot geworden bin. – Am nächsten Tag, sehe ich, kommt jemand geradewegs zu mir auf den Hof gefahren; ich denke, wen hat mir Gott da beschert – vielleicht gar den Fürsten Alexander Danilowitsch? Nichts dergleichen: Iwan Jewgrafowitsch war es! Nicht einmal am Tor halten konnte er und sich die Mühe machen, zu Fuß zur Treppe zu gehen – i wo! Hereingeflogen kam er! Macht einen Kratzfuß! Fängt an zu schwatzen! … Die Närrin Jekimowna kann ihn äußerst spaßig nachmachen; übrigens, Närrin, ahm doch mal den fremdländischen Affen nach.“ Die Närrin Jekimowna nahm den Deckel von einer Schüssel, klemmte ihn wie einen Hut unter den Arm, begann Grimassen zu schneiden, Kratzfüße zu machen, sich nach allen Richtungen zu verbeugen, wobei sie sprach: „Musjö … Mamsell … Assemblee … Pardon.“ Das allgemeine und lang anhaltende Gelächter zeigte von neuem das Vergnügen der Gäste. „Korsakow, wie er leibt und lebt“, sagte, als es allmählich wieder ruhiger wurde, der alte Fürst Lykow, wobei er sich die Lachtränen abwischte. „Warum sollen wir es nicht laut sagen? Nicht als erster und auch nicht als letzter ist er als Hanswurst aus der Fremde in das heilige Rußland zurückgekehrt. Was lernen unsere Kinder dort? Kratzfüße zu machen, Gott weiß was für eine Sprache zu sprechen, die Älteren nicht zu achten und fremden Frauen nachzustellen. Von allen jungen Leuten, die in fremden Ländern erzogen worden sind (Gott verzeih mir’s!), sieht der Mohr des Zaren noch am ehesten wie ein Mensch aus.“ „Freilich“, bemerkte Gawrila Afanasjewitsch, „er ist ein ernster 32
und anständiger Mensch, nicht zu vergleichen mit dem Windbeutel … Wer fährt da wieder durchs Tor und in den Hof? Vielleicht wieder der fremdländische Affe? Was haltet ihr Maulaffen feil, ihr Ochsen?“ fuhr er, zu den Dienern gewendet, fort. „Lauft, weist ihn ab; und auch in Zukunft …“ „Alter Krautbart, was redest du da?“ unterbrach ihn die Närrin Jekimowna. „Oder bist du blind: Der Schlitten gehört dem Herrscher, der Zar ist gekommen.“ Gawrila Afanasjewitsch erhob sich eilig vom Tisch; alle stürzten zu den Fenstern; und sie erblickten in der Tat den Zaren, der die Treppe hinaufstieg und sich dabei auf die Schulter seines Burschen stützte. Es entstand ein Durcheinander. Der Hausherr stürzte Peter entgegen; und die Diener liefen auseinander, als hätten sie den Verstand verloren, die Gäste bekamen einen Schreck, manche von ihnen dachten sogar daran, sich so schnell wie möglich davonzumachen. Plötzlich ertönte im Vorzimmer die laute Stimme Peters, alles verstummte, und der Zar trat in Begleitung des vor Freude verwirrten Hausherrn herein. „Seid gegrüßt, meine Herren“, sagte Peter mit fröhlichem Gesicht. Alle verbeugten sich tief. Die flinken Augen des Zaren suchten in der Menge nach der jungen Tochter des Hausherrn; er rief sie zu sich. Natalja Gawrilowna näherte sich recht mutig, doch errötete sie nicht nur bis zu den Ohren, sondern sogar bis auf die Schultern. „Du wirst von Stunde zu Stunde hübscher“, sagte der Herrscher zu ihr und küßte sie nach seiner Gewohnheit auf den Kopf; dann wandte er sich den Gästen zu: „Nun? Ich habe euch gestört. Ihr habt gegessen: Ich bitte, wieder Platz zu nehmen, und mir, Gawrila Afanasjewitsch, gib etwas Aniswodka.“ Der Hausherr stürzte zu dem majestätischen Hofmeister, nahm ihm das Tablett aus der Hand, füllte selbst einen kleinen goldenen Becher und überreichte ihn mit einer Verbeugung dem Zaren. Peter trank ihn aus, aß eine Brezel dazu und forderte die Gäste zum zweitenmal auf, mit dem Essen fortzufahren. Alle nahmen ihre früheren Plätze ein, außer der Zwergin und der Wirtschafterin, die nicht wagten, an der Tafel zu bleiben, die durch die Gegenwart des Zaren geehrt wurde. Peter setzte sich neben den Hausherrn und 33
bat um Kohlsuppe. Der Bursche des Zaren gab ihm einen hölzernen, mit Elfenbein eingefaßten Löffel sowie ein Messer und eine Gabel mit grünen knöchernen Griffen, denn Peter benutzte nie ein anderes Besteck außer seinem eigenen. Das Essen, das vor einer Minute laute Fröhlichkeit und Gesprächigkeit belebte, verlief nun still und gezwungen. Der Hausherr aß aus Ehrfurcht und Freude gar nichts, die Gäste zierten sich ebenfalls und hörten andächtig zu, wie sich der Herrscher mit dem gefangenen Schweden in dessen Sprache über den Feldzug von 1701 unterhielt. Die Närrin Jekimowna, an die der Herrscher einige Fragen richtete, antwortete mit einer gewissen schüchternen Kälte, was (nebenbei bemerkt) durchaus nicht für ihre angeborene Dummheit sprach. Schließlich war das Mittagessen zu Ende. Der Herrscher erhob sich und nach ihm alle Gäste. „Gawrila Afanasjewitsch“, sagte er zu dem Hausherrn, „ich muß mit dir unter vier Augen sprechen.“ Er nahm ihn bei der Hand, führte ihn in das Gästezimmer und schloß hinter sich die Tür. Die Gäste blieben im Speisezimmer, unterhielten sich flüsternd über den unerwarteten Besuch und fuhren dann, da sie fürchteten, unbescheiden zu sein, bald nacheinander fort, ohne sich beim Hausherrn für die Gastfreundschaft zu bedanken. Sein Schwiegervater, die Tochter und die Schwester begleiteten sie still und leise bis an die Schwelle und blieben in Erwartung des Herrschers allein im Speisezimmer zurück.
Fünftes Kapitel
Eine Frau werd ich dir frei’n, Sonst will ich kein Müller sein. Ablessimow, aus der Oper „Der Müller“
Nach einer halben Stunde öffnete sich die Tür, und Peter trat heraus. Mit einem würdevollen Kopfnicken beantwortete er die dreifache Verbeugung des Fürsten Lykow, der Tatjana Afanasjewna und Nataschas und ging geradewegs in das Vorzimmer. Der Hausherr reichte ihm seinen roten Pelzrock, begleitete ihn bis zum Schlitten und dankte auf der Treppe noch einmal für die ihm erwiesene Ehre. Peter fuhr davon. Als Gawrila Afanasjewitsch in das Speisezimmer zurückkehrte, schien er sehr besorgt zu sein. Ärgerlich befahl er den Dienern, den Tisch abzuräumen, schickte Natascha auf ihr Zimmer, teilte der Schwester und dem Schwiegervater mit, daß er mit ihnen reden müsse, und führte sie in das Schlafgemach, wo er gewöhnlich nach dem Essen ruhte. Der alte Fürst legte sich auf das Eichenbett, Tatjana Afanasjewna setzte sich in einen altmodischen, mit Stoff bezogenen Sessel und schob sich einen Schemel unter die Füße; Gawrila Afanasjewitsch schloß alle Türen, setzte sich auf das Bett, dem Fürsten Lykow zu Füßen, und begann mit halblauter Stimme folgendes Gespräch: „Der Herrscher hat mich nicht ohne Grund besucht; ratet, worüber er geruhte, sich mit mir zu unterhalten?“ „Wie können wir das wissen, Herr und Bruder“, sagte Tatjana Afanasjewna. „Hat der Zar dir nicht befohlen, eine Woiwodschaft zu verwalten?“ fragte der Schwiegervater. „Es wäre längst Zeit. Oder hat er dir eine Gesandtschaft angetragen? Wie? Es werden ja 35
auch Adlige und nicht nur Beamte zu den fremden Herrschern geschickt.“ „Nein“, sagte der Hausherr und runzelte die Brauen. „Ich bin ein Mann vom alten Schlag, heutzutage braucht man unseren Dienst nicht, obwohl ein rechtgläubiger russischer Edelmann wohl ebensoviel wert ist wie die jetzigen Neulinge, Pfannkuchenbäkker und Ungläubigen – doch das steht auf einem anderen Blatt.“ „Worüber denn also, Bruder“, erkundigte sich Tatjana Afanasjewna, „geruhte er so lange mit dir zu sprechen? Es wird dir doch kein Unglück zugestoßen sein? Der Herr schütze uns und sei uns gnädig!“ „Nicht gerade ein Unglück, aber ich gebe zu, ich bin besorgt.“ „Was ist es, Bruder? Worum geht es?“ „Es geht um Natascha: Der Zar ist gekommen, um sie für jemand zu werben.“ „Gott sei Dank“, sagte Tatjana Afanasjewna und bekreuzigte sich. „Das Mädel ist im heiratsfähigen Alter, und wie der Brautwerber ist, so ist auch der Freier – Gott gebe ihnen Liebe und Eintracht, die Ehre ist groß. Für wen wirbt denn der Zar?“ „Hm“, räusperte sich Gawrila Afanasjewitsch krächzend, „für wen? Das ist es eben, für wen.“ „Für wen denn?“ wiederholte der Fürst Lykow, dem schon die Augen zufielen.“ „Ratet mal“, sagte Gawrila Afanasjewitsch. „Herr und Bruder“, sagte die Alte, „wie sollen wir das erraten? Gibt es etwa wenig Freier am Hof? Jeder wäre froh, wenn er deine Natascha bekäme. Ist es vielleicht Dolgorukij?“ „Nein, nicht Dolgorukij.“ „Soll er bleiben, wo er ist, er ist allzu hochmütig. Vielleicht Schejn oder Trojekurow?“ „Nein, weder der eine noch der andere.“ „Mir gefallen sie auch nicht allzu sehr: Windbeutel sind es, haben zuviel vom fremden Geist in sich aufgenommen. Dann ist es vielleicht Miloslawskij?“ „Nein, er nicht.“ „Soll er bleiben, wo er ist: Reich ist er, aber dumm. Nun? Viel36
leicht Jelezkij? Lwow? Nein? Etwa Ragusinskij? Wie du willst, aber ich komme nicht darauf. Für wen hält denn der Zar um Natascha an?“ „Für den Mohren Ibrahim.“ Die Alte ächzte und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Fürst Lykow hob den Kopf von den Kissen und wiederholte voller Verwunderung: Für den Mohren Ibrahim!“ „Herr und Bruder“, sprach die Alte mit weinerlicher Stimme, „richte nicht dein eigenes Kind zugrunde, gib die Nataschenka nicht dem schwarzen Teufel in die Krallen.“ „Aber wie soll ich das dem Herrscher abschlagen“, entgegnete Gawrila Afanasjewitsch, „der uns dafür seine Gnade verspricht, mir und unserem ganzen Geschlecht?“ „Wie“, rief der alte Fürst aus, dem der Schlaf ganz und gar vergangen war, „Natascha, meine Enkelin, soll mit einem gekauften Mohren verheiratet werden!“ „Er ist nicht von einfachem Herkommen“, sagte Gawrila Afanasjewitsch, „er ist ein Sohn des arabischen Sultans. Die Ungläubigen haben ihn gefangengenommen und in Konstantinopel verkauft, und unser Gesandter hat ihn ausgelöst und dem Zaren geschenkt. Der älteste Bruder des Mohren ist mit einem hohen Lösegeld nach Rußland gekommen und …“ „Väterchen, Gawrila Afanasjewitsch“, unterbrach ihn die Alte, „wir kennen das Märchen vom Bowa Korolewitsch und Jeruslari Lasarewitsch. Erzähl uns lieber, was du dem Herrscher auf seine Werbung geantwortet hast.“ „Ich habe gesagt, daß wir ganz in seinen Händen sind und es an uns Untertanen sei, ihm in allem gehorsam zu sein.“ In diesem Augenblick hörte man hinter der Tür ein Geräusch. Gawrila Afanasjewitsch ging hin, um sie zu öffnen, doch als er Widerstand spürte, drückte er kräftig dagegen; die Tür öffnete sich – und man sah Natascha, die ohnmächtig auf dem blutigen Fußboden lag. Ihr Herz hatte vor Schreck ausgesetzt, als der Herrscher sich mit ihrem Vater einschloß. Eine Vorahnung flüsterte ihr zu, daß die Sache sie anginge, und als Gawrila Afanasjewitsch sie weg37
schickte und dabei verkündete, daß er mit ihrer Tante und ihrem Großvater reden müsse, konnte sie der Versuchung weiblicher Neugier nicht widerstehen, leise schlich sie durch die inneren Gemächer bis zu der Tür des Schlafzimmers und ließ sich kein einziges Wort des ganzen entsetzlichen Gesprächs entgehen; als sie die letzten väterlichen Worte hörte, verlor das arme Mädchen das Bewußtsein, fiel zu Boden und schlug sich den Kopf an der eisenbeschlagenen Truhe auf, in der ihre Mitgift aufbewahrt lag. Die Diener kamen herbeigelaufen; man hob Natascha auf, trug sie in ihre Stube und legte sie auf das Bett. Nach einiger Zeit kam sie zu sich und öffnete die Augen, doch erkannte sie weder Vater noch Tante. Ein starkes Fieber brach aus, und sie redete im Fieberwahn vom Mohren des Zaren, von der Hochzeit – und plötzlich schrie sie mit kläglicher und durchdringender Stimme: „Valerian, lieber Valerian, mein Leben! Rette mich: Da sind sie, da sind sie! …“ Tatjana Afanasjewna blickte beunruhigt ihren Bruder an, der wurde blaß, biß sich auf die Lippen und ging schweigend aus der Stube. Er kehrte zu dem alten Fürsten zurück, der unten geblieben war, da er nicht die Treppe hinaufgehen konnte. „Wie geht es Natascha?“ fragte er. „Schlecht“, sagte der verärgerte Vater, „schlechter, als ich dachte: Sie phantasiert in ihrer Bewußtlosigkeit von Valerian.“ „Wer ist dieser Valerian?“ fragte der beunruhigte Alte. „Etwa die Waise, der Strelizensohn, der bei dir im Hause erzogen wurde?“ „Der ist es“, antwortete Gawrila Afanasjewitsch. „Zu meinem Unglück hat mir sein Vater während des Aufstandes das Leben gerettet; und der Teufel muß mir den Rat gegeben haben, dieses verfluchte Wolfsjunge in mein Haus zu nehmen. Als sie ihn vor zwei Jahren auf seinen Wunsch hin in das Regiment aufnahmen, fing Natascha beim Abschied an zu weinen, und er stand, als wäre er von Stein. Mir kam das verdächtig vor – und ich habe der Schwester davon erzählt. Doch seit dieser Zeit hat ihn Natascha nicht mehr erwähnt, und von ihm selber war nichts zu hören und zu sehen. Ich dachte, sie hätte ihn vergessen; aber anscheinend ist dies nicht der Fall. – Es ist beschlossen: Sie heiratet den Mohren.“ 38
Fürst Lykow widersprach nicht, das wäre vergeblich gewesen. Er fuhr nach Hause. Tatjana Afanasjewna blieb an Nataschas Bett; Gawrila Afanasjewitsch schickte nach einem Arzt und schloß sich in seinem Zimmer ein, und alles in seinem Hause wurde still und traurig. Die unerwartete Brautwerbung versetzte Ibrahim mindestens ebensosehr in Erstaunen wie Gawrila Afanasjewitsch. Es kam auf folgende Weise dazu: Als Peter zusammen mit Ibrahim arbeitete, sagte er zu ihm: „Ich sehe, Bruder, du läßt den Kopf hängen; sag mir geradeheraus, was fehlt dir?“ Ibrahim versicherte dem Herrscher, daß er mit seinem Los zufrieden sei und sich kein besseres wünsche. „Gut“, sagte der Herrscher, „wenn du ohne jeden Grund traurig bist, dann weiß ich, was dich fröhlich macht.“ Nach Beendigung der Arbeit fragte Peter Ibrahim: „Gefällt dir das Mädchen, mit dem du auf dem vorigen Ball das Menuett getanzt hast?“ „Sie ist sehr lieblich, Majestät, und scheint ein bescheidenes und gutes Mädchen zu sein.“ „So werde ich dich mit ihr schnell bekannt machen. Willst du sie heiraten?“ „Ich, Majestät?“ „Höre, Ibrahim, du bist ein alleinstehender Mann, ohne Geschlecht und Stamm, allen fremd außer mir. Wenn ich heute sterbe, was wird dann morgen aus dir, mein armer Mohr? Du mußt deinen Platz in der Gesellschaft finden, solange noch Zeit ist, du mußt neue Verbindungen anknüpfen und dich mit dem russischen Bojarentum verbünden.“ „Euer Majestät Schutz und Gnade machen mich glücklich. Gott gebe, daß ich meinen Zaren und Wohltäter nicht überlebe, weiter wünsche ich nichts; doch wenn ich heiraten wollte, würden denn das junge Mädchen und ihre Verwandten einverstanden sein? Mein Äußeres …“ „Dein Äußeres! Was für ein Unsinn! Was ist an dir schlecht? Das junge Mädchen muß sich dem Willen der Eltern unterordnen, und wir wollen doch einmal sehen, was der alte Gawrila Rshew39
skij sagt, wenn ich selbst dein Brautwerber sein werde?“ Nach diesen Worten verlangte der Herrscher seinen Schlitten und ließ Ibrahim in tiefes Nachdenken versunken zurück. Heiraten! dachte der Afrikaner. Warum nicht? Soll es mein Schicksal sein, mein Leben in Einsamkeit zu verbringen und die schönsten Freuden, die heiligsten Pflichten des Menschen nicht kennenzulernen, nur weil ich unter dem *** Breitengrad geboren bin? Ich kann nicht hoffen, geliebt zu werden – welch ein kindlicher Einwand! Kann man denn der Liebe glauben? Ist sie denn in dem leichtsinnigen Herzen einer Frau vorhanden? Ich habe mich für immer von den lieblichen Verirrungen losgesagt, ich habe andere Verlockungen gewählt, die wesentlicher sind. Der Herrscher hat recht: Meine Zukunft muß gesichert werden. Die Hochzeit mit der jungen Rshewskaja verbindet mich mit dem stolzen russischen Adel, und ich werde aufhören, in meinem neuen Vaterland ein Fremdling zu sein. Von meiner Frau werde ich keine Liebe verlangen, ich werde mich mit ihrer Treue zufriedengeben, und ihre Freundschaft erwerbe ich durch beständige Zärtlichkeit, Vertrauen und Nachsicht. Ibrahim wollte sich, seiner Gewohnheit entsprechend, der Arbeit zuwenden, doch seine Phantasie war zu erregt. Er ließ die Papiere sein und ging ein wenig am Ufer der Newa spazieren. Plötzlich vernahm er die Stimme Peters; er sah sich um und erblickte den Herrscher, der seinen Schlitten verlassen hatte und Ibrahim mit fröhlicher Miene folgte. „Alles ist erledigt, Bruder“, sagte Peter und faßte ihn unter den Arm. „Ich habe für dich geworben. Fahr morgen zu deinem Schwiegervater; doch paß auf, schmeichle seinem Bojarenstolz, laß den Schlitten am Tor, geh zu Fuß über den Hof, sprich mit ihm über seine Verdienste und über seinen Adel – und er wird von dir ganz begeistert sein. Doch jetzt“, fuhr er fort und schüttelte seinen Eichenstock, „führe mich zu dem Spitzbuben Danilytsch, mit dem ich wegen seiner neuen Streiche abrechnen muß.“ Ibrahim dankte Peter für seine väterliche Sorge um ihn, begleitete ihn zu dem großartigen Palast des Fürsten Menschikow und kehrte nach Hause zurück. 40
Sechstes Kapitel
Still, mit kleiner Flamme, brannte das Öllämpchen vor dem gläsernen Heiligenschrein, in dem die goldenen und silbernen Einfassungen der ererbten Ikonen glänzten. Das zitternde Licht beleuchtete schwach ein verhängtes Bett und ein Tischchen, auf dem etikettierte Fläschchen standen. Am Ofen saß eine Dienerin am Spinnrad, und nur das leise Geräusch ihrer Spindel unterbrach die Stille in der Stube. „Wer ist hier?“ fragte eine schwache Stimme. Die Dienerin stand sofort auf, ging an das Bett heran und hob leise den Bettvorhang. „Ist es bald Morgen?“ fragte Natalja. „Es ist schon Mittag“, antwortete die Dienerin. „Ach, du lieber Gott, und warum ist es so dunkel?“ „Die Fensterläden sind geschlossen, Fräulein.“ „Ich will mich schnell anziehen.“ „Das geht nicht, Fräulein, der Doktor hat’s verboten.“ „Bin ich denn krank? Und seit wann?“ „Jetzt sind es schon zwei Wochen.“ „Wirklich? Und mir ist es so vorgekommen, als hätte ich mich erst gestern hingelegt …“ Natascha verstummte; sie versuchte ihre zerstreuten Gedanken zu sammeln. Irgend etwas war mit ihr geschehen, doch was? Daran konnte sie sich nicht erinnern. Die Dienerin stand die ganze Zeit vor ihr und wartete auf Befehle. In diesem Augenblick hörte man unten gedämpften Lärm. „Was ist das?“ fragte die Kranke. „Die Herren sind mit dem Essen fertig“, antwortete die Dienerin, „sie erheben sich von der Tafel. Gleich kommt Tatjana Afanasjewna hierher.“ Natascha schien sich zu freuen; sie machte eine Bewegung mit 41
ihrer schwachen Hand. Die Dienerin zog den Vorhang vor und setzte sich wieder an das Spinnrad. Nach einigen Minuten zeigte sich in der Tür ein Kopf in einer breiten weißen Haube mit dunklen Bändern, und eine leise Stimme fragte: „Was macht Natascha?“ – „Guten Tag, Tantchen“, sagte die Kranke leise, und Tatjana Afanasjewna eilte zu ihr hin. „Das Fräulein ist bei Bewußtsein“, sagte die Dienerin und schob vorsichtig einen Sessel heran. Die Alte küßte unter Tränen das blasse, leidende Gesicht der Nichte und setzte sich neben sie. Hinter ihr trat in schwarzem Rock und gelehrter Perücke der deutsche Arzt ein, fühlte Natascha den Puls und erklärte auf lateinisch und dann auf russisch, daß die Gefahr vorüber sei. Er verlangte Papier und Tinte, schrieb ein neues Rezept und fuhr davon, die Alte aber stand auf, küßte Natalja abermals und begab sich mit dieser guten Nachricht sofort nach unten zu Gawrila Afanasjewitsch. Im Gastzimmer saß in Uniform und Degen, den Hut in der Hand, der Mohr des Zaren und unterhielt sich ehrerbietig mit Gawrila Afanasjewitsch. Korsakow hatte sich auf das Daunensofa bequem niedergelassen, hörte ihnen zerstreut zu und neckte den verdienstvollen Windhund; als er dieser Beschäftigung überdrüssig wurde, trat er zum Spiegel, dem gewöhnlichen Zufluchtsort seines Müßiggangs, und erblickte in ihm Tatjana Afanasjewna, die hinter der Tür hervor dem Bruder heimliche Zeichen machte. „Man ruft Sie, Gawrila Afanasjewitsch“, sagte Korsakow, wobei er sich an ihn wandte und Ibrahim in seiner Rede unterbrach. Gawrila Afanasjewitsch ging sofort zu seiner Schwester und machte hinter sich die Tür zu. „Ich wundere mich über deine Geduld“, sprach Korsakow zu Ibrahim. „Eine geschlagene Stunde hörst du dir das Geschwätz über das Alter des Geschlechts der Lykows und Rshewskijs an und fügst noch deine moralisch-belehrenden Bemerkungen hinzu! An deiner Stelle j’aurais planté là den alten Lügner mitsamt seinem Geschlecht, einschließlich Natalja Gawrilowna, die sich ziert, so tut, als ob sie krank sei, une petite santé … Sag einmal ehrlich, bist du denn wirklich in diese kleine mijaurée verliebt? Höre, 42
Ibrahim, folge wenigstens ein einziges Mal meinem Rat; im Ernst, ich bin klüger, als ich aussehe. Laß diesen albernen Gedanken fahren. Heirate nicht. Mir scheint, daß deine Braut keinerlei besondere Zuneigung zu dir empfindet. Was kann in der Welt nicht alles vorkommen? Zum Beispiel: Ich sehe natürlich nicht schlecht aus, doch es kam vor, daß ich Männer zu Hahnreien gemacht habe, die bei Gott nicht im geringsten häßlicher waren als ich. Du selbst … erinnerst du dich an unseren Pariser Bekannten, den Grafen D.? Es ist unmöglich, auf weibliche Treue zu hoffen; glücklich, wem sie gleichgültig ist! Aber du! Willst du dich mit deinem feurigen, nachdenklichen und mißtrauischen Charakter, mit deiner platten Nase, mit den aufgeworfenen Lippen, mit diesem wolligen Haar all den Gefahren einer Heirat aussetzen?“ „Ich danke für den freundschaftlichen Rat“, unterbrach ihn Ibrahim kühl, „doch du kennst das Sprichwort: ‚Nicht deine Sorge soll es sein, fremde Kinder in der Wiege zu schaukeln …‘“ „Paß auf, Ibrahim“, antwortete Korsakow lachend, „daß sich dieses Sprichwort später nicht einmal an dir beweist, im buchstäblichen Sinn.“ Doch das Gespräch in dem anderen Zimmer wurde heftig. „Du wirst sie zu Tode quälen“, sagte die Alte. „Sie wird seinen Anblick nicht ertragen.“ – „Überleg doch einmal selbst“, entgegnete der starrköpfige Bruder. „Schon seit zwei Wochen kommt er zu uns als Freier ins Haus und hat bis jetzt die Braut nicht gesehen. Er kann schließlich denken, daß ihre Krankheit einfach erfunden ist, daß wir nur Zeit gewinnen wollen, um ihn irgendwie loszuwerden. Und was wird der Zar sagen? Er hat sich auch so schon dreimal nach Nataljas Gesundheit erkundigt. Ganz wie du denkst, aber ich habe nicht vor, mich mit ihm zu entzweien.“ „Du lieber Gott“, sagte Tatjana Afanasjewna, „wie wird sie, die Ärmste, das nur ertragen? Laß mich sie wenigstens auf solch einen Besuch vorbereiten.“ Gawrila Afanasjewitsch war einverstanden und kehrte in das Gästezimmer zurück. „Gott sei Dank“, sagte er zu Ibrahim, „die Gefahr ist vorüber. Natalja geht es sehr viel besser; wenn es mir nicht leid täte, den teuren Gast, Iwan Jewgrafowitsch allein hierzulassen, würde ich 43
dich hinaufführen, damit du einen Blick auf deine Braut werfen kannst.“ Korsakow beglückwünschte Gawrila Afanasjewitsch, bat, sich nicht zu beunruhigen, beteuerte, daß er unbedingt fahren müsse, lief in das Vorzimmer und ließ nicht zu, daß ihn der Hausherr begleitete. Unterdessen beeilte sich Tatjana Afanasjewna, die Kranke auf das Erscheinen des schrecklichen Gastes vorzubereiten. Als sie in die Stube getreten war, setzte sie sich, nach Atem ringend, am Bett nieder und nahm Nataschas Hand, sie hatte noch kein Wort gesagt, als die Tür aufging. Natascha fragte, wer gekommen sei. Die Alte erstarrte vor Schreck und brachte kein Wort hervor. Gawrila Afanasjewitsch schob den Vorhang zur Seite, sah kalt auf die Kranke und fragte, wie es ihr ginge. Die Kranke wollte ihm zulächeln, doch konnte sie es nicht. Der strenge Blick des Vaters verwirrte sie, und Unruhe überkam sie. In diesem Augenblick schien es ihr, daß jemand an ihrem Kopfende stehe. Mit Mühe hob sie den Kopf und erkannte plötzlich den Mohren des Zaren. Nun erinnerte sie sich an alles, den ganzen Schrecken ihrer Zukunft sah sie vor sich. Doch die erschöpfte Natur erlitt keine merkliche Erschütterung. Natascha legte von neuem den Kopf auf das Kissen und schloß die Augen … Ihr Herz schlug schmerzhaft. Tatjana Afanasjewna gab dem Bruder ein Zeichen, daß die Kranke einschlafen wolle, und alle, außer der Dienerin, die sich wieder an das Spinnrad setzte, verließen leise die Stube. Die unglückliche Schöne öffnete die Augen, sah niemand mehr an ihrem Bett, rief die Dienerin heran und schickte sie nach der Zwergin. Doch im gleichen Augenblick rollte ein rundes, altes, winziges Wesen wie ein Ball an ihr Bett heran. Schwälbchen (so hieß die Zwergin) war mit all der Kraft ihrer kurzen Beine hinter Gawrila Afanasjewitsch und Ibrahim die Treppe hinaufgelaufen und hatte sich hinter der Tür versteckt, sie wollte der Neugier nicht untreu werden, die dem schönen Geschlecht eigen ist. Als Natascha sie bemerkte, schickte sie die Dienerin hinaus, und die Zwergin setzte sich auf einen Schemel vor das Bett. Niemals hat ein derart kleiner Körper so viel geistige Aktivität 44
beherbergt. Sie mischte sich in alles ein, wußte alles, kümmerte sich um alles. Mit ihrem schlauen und einschmeichelnden Verstand hatte sie sich die Liebe ihrer Herrschaft erworben und den Haß des ganzen Hauses, über das sie unumschränkt herrschte. Gawrila Afanasjewitsch hörte sich ihre Zuträgereien, Klagen und kleinlichen Bitten an; Tatjana Afanasjewna fragte sie alle Augenblicke um ihre Meinung und folgte ihren Ratschlägen; und Natascha zeigte ihr gegenüber eine unbegrenzte Anhänglichkeit und vertraute ihr alle ihre Gedanken, alle Regungen ihres sechzehnjährigen Herzens an. „Weißt du es schon, Schwälbchen?“ fragte sie. „Der Vater verheiratet mich mit dem Mohren.“ Die Zwergin seufzte tief, und ihr runzliges Gesicht wurde noch runzliger. „Gibt es denn keine Hoffnung mehr“, fuhr Natascha fort, „hat denn der Vater kein Mitleid mit mir?“ Die Zwergin schüttelte ihre Haube. „Wird nicht der Großvater für mich eintreten oder die Tante?“ „Nein, Fräulein. Der Mohr hat während deiner Krankheit alle von sich eingenommen. Der Herr ist ganz begeistert, der Fürst redet nur noch von ihm, und Tatjana Afanasjewna sagt: ‚Schade, daß er ein Mohr ist, einen besseren Freier zu wünschen wäre geradezu eine Sünde.‘“ „Du lieber Gott, du lieber Gott!“ stöhnte die arme Natascha. „Sei nicht traurig, meine Schöne“, sagte die Zwergin und küßte ihr die schwache Hand. „Wenn du auch den Mohren heiraten mußt, so wirst du doch trotz allem deine Freiheit haben. Heutzutage ist es anders als früher, die Männer sperren ihre Frauen nicht ein, der Mohr ist, wie man hört, reich; in eurem Haus wird es euch an nichts fehlen, du wirst ein herrliches Leben führen …“ „Der arme Valerian!“ sagte Natascha, doch so leise, daß die Zwergin diese Worte nur erraten, aber nicht hören konnte. „Jaja, Fräulein“, sagte sie und senkte geheimnisvoll ihre Stimme, „wenn du weniger an die Strelizenwaise gedacht hättest, so hättest du im Fieber nicht von ihm geredet, und der Vater wäre nicht böse.“ 45
„Was?“ sagte die erschrockene Natascha. „Ich habe von Valerian geredet, der Vater hat es gehört, der Vater ist böse!“ „Das ist ja das Unglück“, antwortete die Zwergin. „Wenn du ihn jetzt bittest, dich nicht mit dem Mohren zu verheiraten, so wird er denken, daß Valerian der Grund dafür sei. Da ist nichts zu machen: Füge dich dem elterlichen Willen, und was kommen muß, wird kommen.“ Natascha erwiderte kein Wort. Der Gedanke, daß das Geheimnis ihres Herzens dem Vater bekannt sei, wirkte stark auf ihre Phantasie. Eine Hoffnung blieb ihr noch: vor der Vollziehung der verhaßten Ehe zu sterben. Dieser Gedanke tröstete sie. Schwachen und traurigen Herzens fügte sie sich in ihr Los.
Siebentes Kapitel
Im Hause Gawrila Afanasjewitschs befand sich rechts von der Diele eine enge Kammer mit nur einem kleinen Fenster. In ihr stand ein einfaches, mit einer Baumwolldecke bedecktes Bett und vor ihm ein kleiner Tisch aus Tannenholz, auf dem eine Talgkerze brannte und aufgeschlagene Noten lagen. An der Wand hing eine alte blaue Uniform und ihr Altersgenosse, ein Dreispitz; über ihm war mit drei Nägeln ein einfacher Holzschnitt befestigt, der Karl XII. hoch zu Roß darstellte. Die Töne einer Flöte erfüllten diese einfache Behausung. Der gefangene Tanzmeister, ihr einsamer Bewohner, versüßte sich in Nachtmütze und Nankingschlafrock die Langeweile des Winterabends, indem er alte schwedische Märsche spielte, die ihn an die fröhliche Zeit seiner Jugend erinnerten. Als sich der Schwede dieser Übung ganze zwei Stunden gewidmet hatte, nahm er die Flöte auseinander, legte sie in den Kasten und begann sich zu entkleiden. In diesem Augenblick hob sich der Türriegel, und ein hübscher junger Mann von hohem Wuchs und in Uniform trat ins Zimmer. Der erstaunte Schwede stand erschrocken auf. „Du hast mich nicht erkannt, Gustav Adamytsch“, sagte der junge Besucher mit gerührter Stimme. „Erinnerst du dich nicht mehr an den jungen, dem du die schwedischen Gewehrgriffe beigebracht hast, mit dem du beinah einen Brand verursachtest, als du hier in dieser Kammer mit ihm aus einer Spielzeugkanone geschossen hast?“ Gustav Adamytsch sah ihn aufmerksam an … „E-he-he“, schrie er plötzlich und umarmte ihn, „gut“ Tag, du schon lang hier sein? Du dich setzen, lieber Herumtreiber, wir uns erzählen.“ 47
Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitch Belkin
Frau Prostakowa: Schon von klein auf, Väterchen, hört er Geschichten gern. Skotinin: Mitrofan ist mir ähnlich. Der Landjunker
Vom Herausgeber
Als wir uns um die Herausgabe der Erzählungen I. P. Belkins bemühten, die nun dem Publikum vorliegen, wünschten wir, denselben wenigstens eine kurze Lebensbeschreibung des verstorbenen Autors beizugeben und dadurch zu einem Teil die berechtigte Neugier der Liebhaber vaterländischer Literatur zu befriedigen. Zu diesem Zweck wollten wir uns an Marja Alexejewna Trafilina wenden, die nächste Verwandte und Erbin Iwan Petrowitsch Belkins; doch bedauerlicherweise war sie nicht in der Lage, uns etwas über ihn mitzuteilen, da sie den Verstorbenen überhaupt nicht gekannt hatte. Sie empfahl uns jedoch, in dieser Angelegenheit an einen ehrbaren Mann heranzutreten, der früher mit Iwan Petrowitsch befreundet war. Wir folgten diesem Rat und erhielten auf unseren Brief die nachstehende gewünschte Antwort. Wir veröffentlichen sie ohne jede Änderung oder Bemerkung, als einen wertvollen Beweis edler Gesinnungsart und rührender Freundschaft, zugleich aber als ein durchaus zureichendes biographisches Zeugnis. Hochgeehrter Herr ***! Ihr geschätztes Schreiben vom 15. des Monats hatte ich die Ehre zum 23. desselben Monats zu erhalten; Sie äußern darin den Wunsch, ausführlich über den Zeitpunkt der Geburt und des Todes, über die Dienstzeit, die häuslichen Verhältnisse und auch über die Interessen und den Charakter des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, meines ehemaligen aufrichtigen Freundes und Gutsnachbarn, unterrichtet zu werden. Mit dem allergrößten Vergnügen erfülle ich Ihren Wunsch und sende Ihnen, hochgeehrter Herr, alles, was mir aus Gesprächen mit ihm und auch 51
aus meinen eigenen Beobachtungen in Erinnerung geblieben ist. Iwan Petrowitsch Belkin wurde 1798 als Sohn ehrlicher und adliger Eltern auf dem Gut Gorjuchino geboren. Sein verstorbener Vater, der Sekundmajor Pjotr Iwanowitsch Belkin, hatte die Jungfrau Pelageja Gawrilowna aus dem Hause der Trafilins geheiratet. Er war kein reicher Mann, aber maßvoll und in wirtschaftlichen Dingen sehr beschlagen. Ihr Sohn empfing den ersten Unterricht vom Dorfküster. Diesem ehrwürdigen Manne verdankte er, so scheint es, die Lust am Lesen und die Liebe zur russischen Literatur. Im Jahre 1815 trat er den Dienst in einem Infanterie-Jägerregiment an (seine Nummer ist mir entfallen), in dem er bis zum Jahre 1823 blieb. Der Tod seiner Eltern, die beide fast zur gleichen Zeit starben, zwang ihn, den Abschied zu nehmen und auf das Dorf Gorjuchino, sein Stammgut, zu ziehen. Iwan Petrowitsch nahm die Verwaltung des Gutes in seine Hand, vernachlässigte innerhalb kurzer Zeit auf Grund seiner Unerfahrenheit und Weichherzigkeit die Wirtschaft und lockerte die strenge Ordnung, die sein verstorbener Vater eingeführt hatte. Er setzte den verläßlichen und geschickten Dorfältesten ab, mit dem seine Bauern (wie das bei ihnen so üblich ist) unzufrieden waren, und beauftragte mit der Verwaltung des Dorfes seine alte Haushälterin, die sein Vertrauen durch die Kunst, Geschichten zu erzählen, erworben hatte. Diese dumme Alte wußte niemals einen Fünfundzwanzigrubelschein von einem Fünfzigrubelschein zu unterscheiden; die Bauern, die sie alle zur Gevatterin hatten, fürchteten sich nicht im geringsten vor ihr; der von ihnen gewählte Dorfälteste war derart nachsichtig – zudem betrog er auch –, daß Iwan Petrowitsch sich gezwungen sah, den Frondienst aufzuheben und einen sehr gemäßigten Zins einzuführen; aber auch hier nutzten die Bauern seine Schwäche aus und erbaten sich für das erste Jahr eine erhebliche Erleichterung, und in den nächsten Jahren zahlten sie mehr als zwei Drittel des Zinses in Nüssen, Preiselbeeren und ähnlichem; doch auch hier gab es Rückstände. 52
Da ich mit Iwan Petrowitschs verstorbenem Vater befreundet war, hielt ich es für meine Pflicht, auch dem Sohn meinen Rat anzutragen, und erklärte mich mehrmals bereit, die frühere, von ihm vernachlässigte Ordnung wieder einzuführen. Mit dieser Absicht kam ich eines Tages zu ihm gefahren, verlangte die Wirtschaftsbücher, rief den betrügerischen Dorfältesten herbei und ging in Iwan Petrowitschs Gegenwart daran, sie durchzusehen. Der junge Herr folgte mir zunächst mit allergrößter Aufmerksamkeit und voller Eifer; doch als sich auf Grund der Rechnungen herausstellte, daß die Zahl der Bauern in den letzten zwei Jahren gestiegen war, die des Hausgeflügels und des Viehs sich jedoch beträchtlich verringert hatte, genügte diese erste Mitteilung Iwan Petrowitsch; er hörte mir nicht mehr zu, und in dem Augenblick, da ich den betrügerischen Dorfältesten durch meine Nachforschungen und mein strenges Verhör in äußerste Verlegenheit und zu völligem Schweigen gebracht hatte, vernahm ich zu meinem größten Ärger, wie Iwan Petrowitsch laut auf seinem Stuhle schnarchte. Seit jener Zeit hörte ich auf, mich in seine wirtschaftlichen Weisungen einzumischen, und überließ die Dinge (ganz wie er) den Weisungen des Allerhöchsten. Dies störte übrigens nicht im mindesten unser freundschaftliches Verhältnis, denn ich hatte Iwan Petrowitsch aufrichtig gern, obwohl ich seine Schwäche und seine unglückselige Nachlässigkeit, die allen unseren jungen Adligen eigen ist, bedauerte; es war ja auch ganz unmöglich, so einen sanftmütigen und ehrlichen jungen Menschen nicht liebzugewinnen. Iwan Petrowitsch seinerseits erwies meinen Jahren Achtung und war mir von ganzem Herzen zugetan. Bis zu seinem Ende sahen wir uns fast täglich, denn er legte auf meine einfache Unterhaltung Wert, wenn wir auch in Gewohnheit, Denkweise und Charakter im großen und ganzen einander nicht ähnelten. Iwan Petrowitsch führte ein äußerst genügsames Leben und vermied jeglichen Aufwand; niemals hatte ich ihn in angetrunkenem Zustand gesehen (was in unserer Gegend als ein uner53
hörtes Wunder gelten kann); zum weiblichen Geschlecht hingegen verspürte er eine große Neigung, doch war er von einer wahrhaft mädchenhaften Schamhaftigkeit. * Außer den Erzählungen, die Sie in Ihrem Brief zu erwähnen belieben, hinterließ Iwan Petrowitsch eine große Anzahl Handschriften, die sich teils bei mir befinden und teils von seiner Haushälterin für verschiedene häusliche Zwecke verwendet worden sind. So waren vorigen Winter alle Fenster des Seitengebäudes mit dem ersten Teil eines Romans verklebt, den er nicht beendet hatte. Die obengenannten Erzählungen waren, so scheint es, sein erster Versuch. Sie sind, wie mir Iwan Petrowitsch berichtete, zum größten Teil wahr und ihm von verschiedenen Personen erzählt worden. ** Allerdings sind fast alle Personennamen, die darin vorkommen, von ihm selbst erdacht und die Namen der Dörfer und Flecken unserer Gegend entnommen, so daß auch mein Dorf an einer Stelle erwähnt wird. Dies ist nicht auf irgendeine böse Absicht zurückzuführen, sondern allein auf den Mangel an Phantasie. Iwan Petrowitsch erkrankte im Herbst 1828 an einer fieberhaften Erkältung, die sich in ein Delirium steigerte, und starb, trotz der unermüdlichen Anstrengungen unseres Kreisarztes, eines sehr beschlagenen Mannes, besonders was die Heilung tiefsitzender Leiden betraf, wie Hühneraugen und ähnliches. Er verschied in meinen Armen im dreißigsten Lebensjahr und wurde in der Dorfkirche von Gorjuchino neben seinen Eltern begraben. Iwan Petrowitsch war von mittlerem Wuchs, hatte graue Augen, hellblondes Haar und eine gerade Nase; sein Gesicht war bleich und hager. * Es folgt eine Anekdote, die wir nicht veröffentlichen, da wir sie für überflüssig halten; übrigens versichern wir dem Leser, daß sie nichts enthält, was dem Andenken Iwan Petrowitsch Belkins schaden könnte. ** Tatsächlich ist im Manuskript des Herrn Belkin von der Hand des Autors übet jeder Erzählung vermerkt: Erfahren von der und der Person (Rang oder Stand und die Anfangsbuchstaben des Vor- und Familiennamens). Wir führen sie für neugierige Forscher an: Den „Postmeister“ erzählte ihm der Titularrat A. G. N.. den „Schuß“ der Oberstleutnant I. L. P., den „Sargmacher“ der Verwalter B. W., den „Schneesturm“ und das „Adelsfräulein als Räuerin“ das Fräulein K. I. T.
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Das, hochgeehrter Herr, ist alles, woran ich mich, was Lebensweise, Interessen, Charakter und Äußeres meines verstorbenen Nachbarn und Freundes betrifft, erinnern kann. Doch falls es Ihnen beliebt, diesen meinen Brief auf irgendeine Weise zu verwenden, so bitte ich untertänigst, auf keinen Fall meinen Namen zu erwähnen; denn ich halte es, obgleich ich die Dichter durchaus achte und liebe, für überflüssig und meinen Jahren nicht angemessen, diesem Stand beizutreten. Mit aufrichtiger Hochachtung etc. 16. November 1830 Gut Nenaradowo Wir halten es für unsere Pflicht, den Willen des ehrbaren Freundes unseres Autors zu achten, sprechen ihm den tiefstes Dank aus für die Nachricht, die er uns zukommen ließ, und hoffen, daß das Publikum ihre Aufrichtigkeit und Güte schätzen wird. A. P.
Der Schuss
Wir schossen uns. Baratynskij Ich schwor, Ihn nach dem Recht des Duells zu erschießen (ich hatte noch einen Schuß gut). Abend im Biwak
I Wir standen in der Ortschaft ***. Das Leben eines Armeeoffiziers ist jedem bekannt: morgens Exerzieren und Reitbahn; mittags – beim Regimentskommandeur oder in einer jüdischen Schenke; abends – Punsch und Karten. In *** gab es nicht ein einziges gastliches Haus, kein Mädchen in heiratsfähigem Alter; wir versammelten uns mal bei dem einen, mal bei dem anderen, wo wir nichts außer unseren Uniformen zu sehen bekamen. Nur ein einziger Mensch, der kein Militär war, gehörte zu unserer Gesellschaft. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt und deshalb in unseren Augen ein alter Mann. Seine Erfahrung verschaffte ihm uns gegenüber viele Vorteile; zudem machten sein gewöhnlich finsteres Wesen, seine kurzangebundene Art und seine scharfe Zunge einen starken Eindruck auf unsere jugendlichen Gemüter. Etwas Geheimnisvolles haftete seinem Schicksal an; er schien Russe zu sein, doch trug er einen ausländischen Namen. Einst diente er bei den Husaren, und sogar mit Erfolg; niemand wußte, warum er den Abschied genommen und sich in einer elenden Ortschaft niedergelassen hatte, wo er ärmlich und verschwenderisch zugleich lebte: Er ging immer zu Fuß, in einem abgetragenen schwarzen Gehrock, doch hielt er offene Tafel für alle Offiziere des Regiments. Das Essen bestand allerdings nur 56
aus zwei oder drei Gängen, die ein abgedankter Soldat zubereitete, aber der Champagner floß dabei in Strömen. Niemand kannte sein Vermögen oder seine Einkünfte, und niemand wagte es, ihn danach zu fragen. Er besaß Bücher, zum größten Teil militärischen Inhalts, und Romane. Er überließ sie einem gern zum Lesen und forderte sie nie zurück; dafür gab er auch die Bücher, die er sich lieh, nie wieder. Seine Hauptbeschäftigung war das Pistolenschießen. Die Wände seines Zimmers waren von Kugeln durchlöchert und sahen aus wie Bienenwaben. Eine reichhaltige Pistolensammlung war der einzige Luxus in der ärmlichen Lehmhütte, die er bewohnte. Die Kunstfertigkeit, zu der er es gebracht hatte, war unglaublich, wenn er sich anheischig gemacht hätte, jemandem, wer es auch immer sei, eine Birne von der Mütze herabzuschießen, so hätte keiner aus unserem Regiment gezögert, seinen Kopf hinzuhalten. Untereinander sprachen wir oft von Zweikämpfen; Silvio (so will ich ihn nennen) mischte sich nie in diese Gespräche ein. Auf die Frage, ob er sich schon einmal geschlagen habe, antwortete er trocken, daß dies der Fall gewesen sei, ließ sich aber auf keinerlei Einzelheiten ein, und es war zu spüren, daß ihm solche Fragen unangenehm waren. Wir nahmen an, daß irgendein unglückliches Opfer seiner schrecklichen Kunst auf seiner Seele lastete. Übrigens kam es uns überhaupt nicht in den Sinn zu vermuten, daß irgend etwas in ihm an Furchtsamkeit erinnern könne. Es gibt Menschen, deren Äußeres allein schon solchen Verdacht ausschließt. Eine unvorhergesehene Begebenheit setzte uns alle in äußerstes Erstaunen. Eines Tages speisten ungefähr zehn unserer Offiziere bei Silvio. Getrunken wurde wie üblich, das heißt sehr viel; nach dem Essen redeten wir unserem Gastgeber zu, die Bank zu halten. Lange lehnte er ab, da er fast nie spielte; schließlich ließ er sich die Karten geben, schüttete ein halbes Hundert Goldstücke auf den Tisch, setzte sich und begann auszugeben. Wir umringten ihn, und das Spiel nahm seinen Lauf. Silvio hatte die Gewohnheit, während des Spiels völliges Schweigen zu bewahren, nie stritt er oder ließ sich in Erklärungen ein. Kam es einmal vor, daß sich der Pointeur verrechnete, so bezahlte er entweder sofort 57
den Fehlbetrag oder schrieb den Überschuß auf. Wir kannten das schon und ließen ihn gewähren; indessen befand sich in unserer Mitte ein Offizier, der erst vor kurzem zu uns versetzt worden war. Er spielte auch, und in seiner Zerstreutheit bog er eine Karte zuviel um. Silvio nahm die Kreide und glich nach seiner Gewohnheit die Rechnung aus. In der Annahme, Silvio hätte sich geirrt, fing der Offizier an, sich in Erklärungen zu ergehen. Silvio gab weiter aus, ohne ein Wort zu verlieren. Der Offizier verlor die Geduld, nahm die Bürste und wischte ab, was ihm zu Unrecht aufgeschrieben zu sein schien. Silvio nahm die Kreide und schrieb es von neuem auf. Der Offizier, erregt durch den Wein, das Spiel und das Gelächter der Kameraden, hielt sich für zutiefst beleidigt, ergriff in rasender Wut einen auf dem Tisch stehenden schweren kupfernen Leuchter und schleuderte ihn nach Silvio, der kaum dem Wurf ausweichen konnte. Wir waren bestürzt. Silvio erhob sich, bleich vor Zorn, und sagte mit funkelnden Augen: „Werter Herr, wollen Sie bitte hinausgehen, und danken Sie Gott, daß dies in meinem Hause geschah.“ Wir zweifelten nicht an den Folgen und hielten den neuen Kameraden schon für so gut wie tot. Der Offizier ging hinaus, wobei er sagte, daß er für die Beleidigung dem Herrn Bankhalter zur Verfügung stehe, in welcher Form es dieser auch wünsche. Das Spiel nahm noch für einige Minuten seinen Fortgang, da wir aber fühlten, daß unserem Gastgeber der Sinn nicht nach dem Spiel stand, hörten wir einer nach dem anderen auf und gingen in unsere Quartiere, dabei sprachen wir von der Stelle, die bald frei sein würde. Am nächsten Tag auf der Reitbahn fragten wir uns bereits, ob der arme Fähnrich noch lebe, als er selber unter uns auftauchte; wir stellten an ihn die gleiche Frage. Er sagte, daß er von Silvio noch keinerlei Nachricht hätte. Das verwunderte uns. Wir gingen zu Silvio und trafen ihn auf dem Hof an, wie er Schuß auf Schuß in ein As setzte, das an das Tor geklebt war. Er empfing uns wie üblich und verlor kein Wort über den gestrigen Vorfall. Es vergingen drei Tage, und der Fähnrich lebte noch. Voller Verwunderung fragten wir uns: Wird sich Silvio etwa nicht 58
schlagen? Silvio schlug sich nicht. Er gab sich mit einer oberflächlichen Erklärung zufrieden und söhnte sich aus. Zu Anfang schadete ihm das sehr in den Augen der Jugend. Mangel an Kühnheit findet am wenigsten Gnade vor jungen Leuten, die in der Tapferkeit gewöhnlich die Krone der menschlichen Tugenden sehen und mit ihr sämtliche Laster entschuldigen. Allmählich jedoch fiel alles der Vergessenheit anheim, und Silvio erwarb sich seinen früheren Einfluß. Nur ich vermochte mich ihm nicht mehr zu nähern. Da ich von Natur aus eine romantische Einbildungskraft besaß, fühlte ich mich mehr als alle anderen zu dem Menschen hingezogen, dessen Leben ein Rätsel war und der mich wie ein Held aus irgendeiner geheimnisvollen Erzählung anmutete. Er hatte mich gern, jedenfalls unterdrückte er, wenn er mit mir allein war, seinen gewöhnlich beißenden Spott und sprach über verschiedene Dinge vertrauensvoll und außerordentlich liebenswürdig. Doch nach dem unglückseligen Abend verließ mich nicht der Gedanke, daß seine Ehre befleckt und durch sein eigenes Verschulden nicht wiederhergestellt worden sei – dieser Gedanke hinderte mich, auf frühere Weise mit ihm zu verkehren; es war mir peinlich, ihn anzusehen. Silvio war zu klug und zu erfahren, um dies nicht zu bemerken und den Grund dafür nicht zu erraten. Er schien betrübt, jedenfalls bemerkte ich zweimal, daß er den Wunsch hatte, sich mit mir auszusprechen; doch ich ging solchen Aussprachen aus dem Wege, und Silvio ließ von mir ab. Von dieser Zeit an sahen wir uns nur noch in Gegenwart anderer, und unsere früheren aufrichtigen Gespräche fanden ein Ende. Die an Zerstreuungen gewohnten Bewohner der Hauptstadt haben keine Vorstellung von den vielfältigen Eindrücken, die den Bewohnern der Dörfer und kleineren Städte so bekannt sind wie zum Beispiel das Warten auf den Posttag: Dienstags und freitags war unsere Regimentskanzlei immer voller Offiziere – der eine erwartete Geld, der andere Briefe, der dritte Zeitungen. Die Sendungen wurden meist auf der Stelle geöffnet und die Neuigkeiten einander mitgeteilt, so daß die Kanzlei ein äußerst lebhaftes Bild bot. Silvio erhielt Briefe, die an unser Regiment adressiert waren, 59
und fand sich gewöhnlich hier ein. Eines Tages erhielt er eine Sendung, die er mit den Zeichen größter Ungeduld erbrach. Als er den Brief überflog, funkelten seine Augen dabei. Die Offiziere, von denen jeder mit seinen Briefen beschäftigt war, bemerkten nichts. „Meine Herren“, sagte Silvio zu ihnen, „die Umstände fordern meine sofortige Abreise; noch heute nacht fahre ich; ich hoffe, Sie schlagen mir nicht ab, ein letztes Mal bei mir zu speisen. Ich erwarte auch Sie“, fuhr er, an mich gewandt, fort, „ich erwarte Sie unbedingt.“ Nach diesen Worten ging er eilig hinaus; wir waren einverstanden, uns bei Silvio zu treffen, und jeder ging seines Weges. Zur festgesetzten Zeit kam ich zu Silvio und fand bei ihm fast das ganze Regiment vor. All sein Hab und Gut war schon verpackt, nur die nackten durchschossenen Wände waren zu sehen. Wir setzten uns an den Tisch; unser Gastgeber befand sich in ausgezeichneter Stimmung, und bald wurden alle von seiner Fröhlichkeit ergriffen; alle Augenblicke knallten Korken, ohne Unterlaß schäumte und zischte der Sekt in den Gläsern, und wir wünschten dem Scheidenden mit dem größten Eifer eine gute Reise und alles erdenkliche Wohlergehen. Es war schon spät am Abend, da wir uns von der Tafel erhoben. Als wir unsere Mützen nahmen und Silvio sich von allen verabschiedete, ergriff er gerade in dem Augenblick, da ich fortgehen wollte, meine Hand und hielt mich auf. „Ich muß mit Ihnen sprechen“, sagte er leise. Ich blieb. Die Gäste gingen: Wir waren zu zweit, setzten uns einander gegenüber und rauchten schweigend unsere Pfeifen an. Silvio war bekümmert; nicht eine Spur seiner früheren hektischen Fröhlichkeit war zu bemerken. Die düstere Blässe, die funkelnden Augen und der dichte Rauch, der seinem Munde entquoll, gaben ihm ein wahrhaft diabolisches Aussehen. Es vergingen einige Minuten, und Silvio brach das Schweigen. „Es ist möglich, daß wir uns nicht mehr wiedersehen“, sagte er zu mir. „Vor dem Abschied möchte ich Ihnen einiges erklären. Wie Sie bemerken konnten, gebe ich wenig auf fremde Meinungen; doch Sie habe ich liebgewonnen, und ich fühle, daß es mich 60
bedrücken würde, wenn Sie einen falschen Eindruck von mir zurückbehielten.“ Er hielt inne und stopfte seine Pfeife von neuem; ich schwieg und senkte den Blick. „Es kam Ihnen seltsam vor“, fuhr er fort, „daß ich von diesem betrunkenen Narren R*** keine Genugtuung gefordert habe. Sie werden zugeben, daß sein Leben in meiner Hand war, meines aber fast ungefährdet, da ich das Recht hatte, die Waffe zu wählen; ich könnte meine Zurückhaltung einzig und allein meiner Großmut zuschreiben, doch ich will nicht lügen. Wenn ich in der Lage gewesen wäre, R*** zu strafen, ohne mein Leben einer Gefahr auszusetzen, hätte ich ihm auf keinen Fall verziehen.“ Ich sah Silvio äußerst verwundert an. Solch ein Bekenntnis verwirrte mich gänzlich. Silvio fuhr fort. „Genau so ist es: Ich habe nicht das Recht, mich der Gefahr des Todes auszusetzen. Vor sechs Jahren erhielt ich eine Ohrfeige, und mein Feind lebt noch.“ Meine Neugier war bis zum äußersten erregt. „Sie haben sich mit ihm nicht geschlagen?“ fragte ich. „Sicherlich haben sie die Umstände getrennt?“ „Ich habe mich mit ihm geschlagen“, antwortete Silvio, „und hier ist das Andenken an unseren Zweikampf.“ Silvio erhob sich und holte aus einer Schachtel eine rote Mütze mit goldener Troddel und einer Tresse hervor (die Franzosen nennen so etwas bonnet de police); er setzte sie auf, sie war einen Zoll über der Stirn durchschossen. „Sie wissen“, fuhr Silvio fort, „daß ich in dem *** Husarenregiment gedient habe. Sie kennen meinen Charakter: Ich bin gewohnt, der Erste zu sein, von Jugend an war das meine Leidenschaft. Tolle Streiche waren zu unserer Zeit Mode, ich war der erste Händelsucher der ganzen Armee. Wir prahlten mit unserer Trinkfestigkeit. Ich habe den berühmten Burzow, den Denis Dawydow besungen hat, unter den Tisch getrunken. Duelle gab es in unserer Armee alle Augenblicke, bei allen war ich entweder Sekundant oder selbst Duellant. Die Kameraden vergötterten 61
mich, und die Regimentskommandeure, die ständig wechselten, betrachteten mich als ein notwendiges Übel. Ich genoß ruhig (oder unruhig) meinen Ruhm, als ein junger Mann aus reicher und adliger Familie zu uns versetzt wurde (ich will seinen Namen nicht nennen). Noch nie war mir solch ein glänzender Günstling des Schicksals begegnet! Vergegenwärtigen Sie sich: Jugend, Verstand, Schönheit, ausgelassene Fröhlichkeit, verwegene Kühnheit, einen klangvollen Namen, Geld, das nicht zu zählen war und nie versiegte, und stellen Sie sich vor, was für einen Eindruck er auf uns machen mußte. Meine Vorherrschaft war erschüttert. Von meinem Ruhm verlockt, suchte er anfangs meine Freundschaft, doch ich begegnete ihm kühl, und ohne Bedauern ließ er von mir ab. Ich begann ihn zu hassen. Seine Erfolge im Regiment und in Gesellschaft von Damen brachten mich zur völligen Verzweiflung. Ich suchte Streit mit ihm; auf meine Epigramme antwortete er jedoch mit Epigrammen, die mir immer überraschender und geistreicher schienen als die meinen und die natürlich weitaus lustiger waren: denn er scherzte, und ich wütete. Schließlich, als ich ihn auf einem Ball, den ein polnischer Gutsherr gab, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Damen und besonders der Gastgeberin sah, mit der ich in Verbindung stand, flüsterte ich ihm eine geschmacklose Grobheit ins Ohr. Er brauste auf und gab mir eine Ohrfeige. Wir stürzten zu den Säbeln; die Damen fielen in Ohnmacht, man brachte uns auseinander, und noch in derselben Nacht brachen wir auf, um uns zu schlagen. Dies geschah im Morgengrauen. Ich stand mit meinen drei Sekundanten am verabredeten Ort. Mit unbeschreiblicher Ungeduld erwartete ich meinen Gegner. Die Frühlingssonne war aufgegangen, und es wurde schon heiß. Ich sah ihn von ferne. Er ging zu Fuß, sein Uniformrock hing am Säbelgriff, und ein Sekundant begleitete ihn. Wir gingen ihm entgegen. Er kam näher, in der Hand hielt er seine Mütze, die voller Kirschen war. Die Sekundanten maßen uns zwölf Schritte ab. Ich hatte als erster zu schießen, aber die Wut schüttelte mich so sehr, daß ich der Zuverlässigkeit meiner Hand mißtraute und ihm den ersten Schuß 62
überließ, um mich in der Zwischenzeit zu beruhigen; doch mein Gegner war damit nicht einverstanden. Wir beschlossen, das Los sprechen zu lassen: Die erste Nummer erhielt er, der ewige Liebling des Glückes. Er zielte und durchschoß meine Mütze. Jetzt war ich an der Reihe. Endlich hatte ich sein Leben in meiner Hand, ich sah ihn an, begierig, wenigstens den Schatten einer Unruhe zu bemerken … Er stand vor meiner Pistole, suchte sich aus seiner Mütze die reifsten Kirschen hervor und spuckte die Kerne aus, sie flogen bis zu mir. Sein Gleichmut brachte mich zur Raserei. Was habe ich davon, dachte ich, wenn ich ihn töte, er aber seinem Leben überhaupt keinen Wert beimißt? Ein böser Gedanke schoß mir durch den Kopf. Ich senkte die Pistole. ‚Sie scheinen nicht auf das Sterben eingestellt zu sein‘, sagte ich zu ihm. ‚Sie belieben zu frühstücken; ich möchte Sie dabei nicht stören …‘ – ‚Sie stören mich nicht im geringsten‘, widersprach er. ‚Bitte schießen Sie nur, im übrigen, ganz wie Sie wünschen: Sie haben einen Schuß gut; ich stehe immer zu Ihrer Verfügung.‘ Ich wandte mich an die Sekundanten und erklärte, daß ich nicht die Absicht habe, heute zu schießen, und damit war der Zweikampf beendet. Ich nahm meinen Abschied und siedelte in diese Ortschaft über. Seit jener Zeit verging kein einziger Tag, an dem ich nicht an Rache gedacht hätte. Jetzt ist meine Stunde gekommen …“ Silvio zog aus seiner Tasche den Brief, den er am Morgen erhalten hatte, und gab ihn mir zum Lesen. Jemand (scheinbar sein Beauftragter in dieser Angelegenheit) schrieb aus Moskau, daß die bewußte Person nächstens ein schönes und junges Mädchen ehelichen würde. „Sie erraten“, sagte Silvio, „wer diese bemußte Person ist. Ich reise nach Moskau. Wir wollen sehen, ob er vor seiner Hochzeit den Tod ebenso gleichmütig entgegennimmt, wie er ihn einst beim Kirschenessen erwartet hat!“ Mit diesen Worten erhob sich Silvio, warf seine Mütze auf den Boden und begann, wie ein Tiger im Käfig, im Zimmer hin und her zu gehen. Ich hatte ihm zugehört, ohne mich zu rühren; seltsame, widersprechende Gefühle bewegten mich. 63
Der Diener trat ein und verkündete, die Pferde stünden bereit. Silvio drückte mir kräftig die Hand. Wir umarmten uns. Er nahm im Wagen Platz, in dem zwei Koffer standen – der eine mit den Pistolen, der andere mit seinen Habseligkeiten. Wir verabschiedeten uns noch einmal, und die Pferde galoppierten davon. II Einige Jahre vergingen, und die häuslichen Umstände zwangen mich, in ein armes Dörfchen des Kreises N. überzusiedeln. Ich beschäftigte mich mit der Wirtschaft, doch insgeheim trauerte ich meinem früheren aufregenden und sorglosen Leben nach. Am schwersten gewöhnte ich mich daran, die Herbst- und Winterabende in völliger Einsamkeit zu verbringen. Bis zum Mittagessen schlug ich noch irgendwie die Zeit tot, indem ich mich mit dem Dorfältesten unterhielt, auf das Feld fuhr oder neue Gebäude besichtigte, doch sowie es anfing dunkel zu werden, wußte ich einfach nicht, wohin mit mir. Die geringe Anzahl von Büchern, die ich unter den Schränken und in der Vorratskammer gefunden hatte, kannte ich bald auswendig. Sämtliche Märchen, an die sich die Haushälterin Kirilowna nur erinnern konnte, hatte ich mir erzählen lassen; die Lieder der Bauernweiber stimmten mich noch trauriger. Ich hätte mich auf den ungesüßten Fruchtschnaps verlegt, doch davon bekam ich Kopfschmerzen, auch gebe ich zu, daß ich fürchtete, ein Trinker aus unheilbarem Kummer zu werden, das heißt, ein unheilbarer Trinker, für die es sehr viele Beispiele in unserem Kreis gab. Nachbarn hatte ich nicht in meiner Umgebung, bis auf zwei oder drei jener Unheilbaren, deren Gespräch hauptsächlich aus Aufstoßen und Seufzern bestand. Die Einsamkeit war erträglicher. In einer Entfernung von ungefähr vier Werst befand sich ein reiches Gut, das der Gräfin B. gehörte; doch wohnte auf ihm nur der Verwalter; die Gräfin hatte es ein einziges Mal, im ersten Jahr ihrer Ehe, besucht und auch dann nicht länger als einen Monat dort zugebracht. Jedoch im zweiten Frühjahr meines Ein64
siedlerlebens verbreitete sich das Gerücht, daß die Gräfin und ihr Ehegemahl diesen Sommer ihr Dorf aufsuchen würden. Sie trafen tatsächlich auch Anfang Juni ein. Die Ankunft eines reichen Nachbarn ist ein wichtiges Ereignis im Leben der Landbewohner. Die Gutsherren und ihr Gesinde sprechen schon zwei Monate vorher und noch drei Jahre danach von dieser Begebenheit. Was mich anbelangt, so, ich gestehe es, machte die Nachricht von der Ankunft der jungen und schönen Nachbarin einen starken Eindruck auf mich; ich brannte vor Ungeduld, sie zu sehen, und begab mich deshalb am ersten Sonntag nach ihrer Ankunft nachmittags in das Dorf ***, um mich Seiner Erlaucht als nächster Nachbar und allerergebenster Diener vorzustellen. Der Diener führte mich in das Arbeitszimmer des Grafen und entfernte sich, um meine Ankunft zu melden. Das geräumige Zimmer war mit dem größten Luxus ausgestattet; an den Wänden standen Bücherschränke und auf jedem von ihnen eine Bronzebüste, über dem Kamin aus Marmor hing ein breiter Spiegel, der Boden war mit grünem Tuch beschlagen und mit Teppichen bedeckt. Da ich in meiner armseligen Behausung keinen Luxus gewohnt war und schon lange keinen fremden Reichtum gesehen hatte, wurde ich ganz schüchtern und wartete auf den Grafen voller Bangen wie ein Bittsteller aus der Provinz auf das Erscheinen des Ministers. Die Tür ging auf, und herein trat ein Mann von etwa zweiunddreißig Jahren und schönem Äußeren. Der Graf näherte sich mir mit offener und freundlicher Miene, ich faßte Mut und wollte mich vorstellen, doch er kam mir zuvor. Wir setzten uns. Seine ungezwungene und liebenswürdige Art der Unterhaltung zerstreute meine hinterwäldlerische Schüchternheit, ich gewann allmählich meine Fassung wieder, als plötzlich die Gräfin eintrat und mich eine noch größere Verlegenheit als vorher überkam. Sie war in der Tat eine Schönheit. Der Graf stellte mich vor, ich wollte nonchalant erscheinen, doch je ungezwungener ich mich gab, desto gehemmter fühlte ich mich. Um mir Zeit zu geben, zu mir zu kommen und mich an die neue Bekanntschaft zu gewöhnen, unterhielten sie sich miteinander und behandelten mich wie 65
einen guten Nachbarn und ohne jegliche Zeremonie. Ich ging unterdessen auf und ab und betrachtete die Bücher und Bilder. Ich bin kein Kenner von Gemälden, doch eines von ihnen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte eine Schweizer Landschaft dar, doch nicht die Malerei interessierte mich, sondern der Umstand, daß das Bild von zwei Kugeln durchschossen war, und zwar an ein und derselben Stelle. „Das ist ein guter Schuß“, sagte ich, an den Grafen gewandt. „Ja“, bestätigte er, „ein außerordentlich bemerkenswerter Schuß. Schießen Sie denn gut?“ fuhr er fort. „Ausgezeichnet“, antwortete ich und freute mich, daß das Gespräch einen mir nahen Gegenstand berührte. „Auf dreißig Schritt verfehle ich keine Karte, selbstverständlich mit Pistolen, die ich kenne.“ – „Wahrhaftig?“ sagte die Gräfin mit allen Zeichen großer Aufmerksamkeit. „Und du, mein Freund, triffst du eine Karte auf dreißig Schritt?“ – „Irgendwann einmal müssen wir es versuchen“, erwiderte der Graf. „Ich habe seinerzeit nicht schlecht geschossen, aber es sind schon vier Jahre her, daß ich eine Pistole in der Hand gehalten habe.“ – „Oh“, sagte ich, „in diesem Falle wette ich, daß Euer Erlaucht eine Karte auch auf zwanzig Schritt nicht treffen: Die Pistole erfordert tägliche Übung. Das weiß ich aus Erfahrung. Bei uns im Regiment galt ich als einer der besten Schützen. Ich hatte einmal einen ganzen Monat lang nicht geschossen: Meine Pistolen wurden repariert; und was meinen Sie, Euer Erlaucht? Als ich dann das erste Mal wieder schoß, verfehlte ich viermal hintereinander eine Flasche auf fünfundzwanzig Schritt. Wir hatten einen Rittmeister, einen Spötter und Spaßvogel, er stand dabei und sagte zu mir: ‚Wie es scheint, Bruder, kannst du einer Flasche nichts zuleide tun.‘ Nein, Euer Erlaucht dürfen das Schießen nicht vernachlässigen, sonst verlernt man es sehr schnell. Der beste Schütze, den ich je gekannt habe, schoß jeden Tag, und zwar mindestens dreimal vor dem Mittagessen. Das war ihm genauso zur Gewohnheit geworden wie das Glas Wodka.“ Der Graf und die Gräfin waren froh, daß ich meine Sprache wiedergefunden hatte. „Und wie schoß er?“ fragte mich der Graf. „Folgendermaßen, 66
Euer Erlaucht: Wenn er sah, daß sich eine Fliege auf der Wand niedergelassen hatte – Sie lachen, Gräfin? Bei Gott, es ist wahr. Er sieht die Fliege und schreit: ‚Kuska, die Pistole!‘ Kuska bringt ihm die gespannte Pistole. Er, bums, schießt die Fliege in die Wand hinein!“ – „Das ist erstaunlich!“ sagte der Graf. „Und wie hieß er?“ – „Silvio, Euer Erlaucht.“ – Silvio!“ rief der Graf und sprang auf. „Sie kannten Silvio?“ – „Wie sollte ich ihn nicht kennen, Euer Erlaucht; wir waren miteinander befreundet, in unserem Regiment betrachteten wir ihn als einen der Unseren, als Kameraden; jetzt ist es aber schon ungefähr fünf Jahre her, daß ich von ihm keine Nachricht bekommen habe. So haben Euer Erlaucht ihn also auch gekannt?“ – „Ich kannte ihn gut, kannte ihn sehr gut. Hat er Ihnen nicht erzählt … Doch nein, ich glaube kaum; hat er Ihnen vielleicht einmal von einem seltsamen Zwischenfall erzählt?“ – „Meinen Sie etwa die Ohrfeige, Euer Erlaucht, die ihm auf einem Ball ein Tunichtgut gegeben hat?“ – „Und hat er Ihnen nicht den Namen dieses Tunichtguts genannt?“ – „Nein, Euer Erlaucht, den hat er mir nicht genannt Ach! Euer Erlaucht“, fuhr ich fort, denn ich erriet die Wahrheit, „entschuldigen Sie … ich wußte nicht … Sind Sie das etwa?“ – „Ich bin es“, sagte der Graf mit außerordentlich verstimmtem Gesichtsausdruck. „Und das durchschossene Bild ist ein Andenken an unser letztes Zusammentreffen …“ – „Ach, mein Lieber“, sagte die Gräfin, „um Gottes willen, erzähle das nicht, es ist zu entsetzlich, ich kann das nicht hören.“ – „Nein“, entgegnete der Graf, „ich werde alles erzählen; er weiß, wie ich seinen Freund beleidigt habe, und so soll er auch wissen, wie sich Silvio an mir gerächt hat.“ Der Graf rückte mir einen Sessel heran, und ich hörte mit dem lebhaftesten Interesse folgende Geschichte. „Vor fünf Jahren heiratete ich. – Den ersten Monat, the honeymoon, verbrachte ich hier, auf dem Dorf. Diesem Hause verdanke ich die schönsten Minuten meines Lebens und eine der schlimmsten Erinnerungen. Eines Abends ritten wir gemeinsam aus; das Pferd meiner Frau scheute, sie erschrak, gab mir die Zügel und ging zu Fuß nach Hause, während ich schon vorausritt. Auf dem Hof sah ich einen 67
Reisewagen; man sagte mir, in meinem Arbeitszimmer sitze ein Mann, der zwar seinen Namen nicht nennen wolle, doch gesagt habe, er komme zu mir in einer bestimmten Angelegenheit. Ich ging in dieses Zimmer und gewahrte in der Dunkelheit einen mit Staub bedeckten bärtigen Mann, er stand hier am Kamin. Ich trat auf ihn zu und versuchte, mich seiner Züge zu erinnern. ‚Du hast mich nicht erkannt, Graf?‘ fragte er mit bebender Stimme. ‚Silvio!‘ schrie ich, und – ich gebe es zu – ich fühlte, wie mir plötzlich die Haare zu Berge standen. ‚Ich bin es‘, fuhr er fort. ‚Einen Schuß habe ich gut, ich bin gekommen, um diesen Schuß abzugeben; bist du bereit?‘ Die Pistole sah ihm aus einer Seitentasche heraus. Ich maß zwölf Schritte ab, stellte mich dort in die Ecke und bat ihn, möglichst schnell zu schießen, ehe meine Frau zurückkäme. Er zögerte – und verlangte nach Licht. Man brachte Kerzen. Ich verschloß die Tür, ordnete an, niemanden hereinzulassen, und bat ihn aufs neue, zu schießen. Er zog die Pistole hervor und legte auf mich an … Ich zählte die Sekunden … Ich dachte an sie … Das war eine entsetzliche Minute! Silvio ließ die Hand sinken. ‚Ich bedaure‘, sagte er, ‚daß die Pistole nicht mit Kirschkernen geladen ist … Eine Kugel wiegt schwer. Es kommt mir so vor, als wäre dies kein Duell, sondern Mord: Ich bin es nicht gewohnt, auf einen Unbewaffneten zu zielen. Beginnen wir von neuem, losen wir aus, wer zuerst schießen soll.‘ Mir drehte sich der Kopf … Ich glaube, ich widersprach … Schließlich luden wir noch eine Pistole, falteten zwei Kärtchen zusammen und legten sie in die Mütze, die ich seinerzeit durchschossen hatte, und wieder zog ich die erste Nummer. ‚Du hast teuflisches Glück, Graf‘, sagte er mit einem Lächeln, das ich nie vergessen werde. Ich begreife nicht, was in mir vorging und wie es ihm gelang, mich dazu zu zwingen – doch ich drückte ab und traf dieses Bild.“ (Der Graf zeigte auf das durchschossene Bild; sein Gesicht brannte wie Feuer; die Gräfin war bleicher als ihr Taschentuch; ich konnte einen Ausruf nicht unterdrücken.) „Ich drückte ab“, fuhr der Graf fort, „und schoß Gott sei Dank – daneben; nun begann Silvio … – In dieser Minute war er wahrhaftig furchtbar – Silvio begann nun nach mir zu zielen. 68
Plötzlich öffnet sich die Tür, Mascha kommt hereingelaufen und wirft sich mir mit einem Aufschrei an den Hals. Ihre Anwesenheit gab mir mein Gleichgewicht wieder. ‚Aber Liebste‘, sagte ich, ‚siehst du denn nicht, daß wir scherzen? Wie konntest du dich so erschrecken! Geh, trink ein Glas Wasser und komme wieder; ich werde dir dann einen alten Freund und Kameraden vorstellen.‘ Mascha wollte es immer noch nicht glauben. ‚Sagen Sie, spricht mein Mann die Wahrheit?‘ fragte sie, an den furchterregenden Silvio gewendet. ‚Ist es wahr, daß Sie beide scherzen?‘ – ‚Er scherzt immer, Gräfin‘, antwortete ihr Silvio, ‚aus Scherz hat er mir einmal eine Ohrfeige gegeben, aus Scherz hat er mir diese Mütze hier durchschossen, aus Scherz hat er mich eben verfehlt, jetzt habe auch ich Lust bekommen, zu scherzen …‘ Mit diesen Worten wollte er auf mich anlegen … in ihrer Gegenwart! Mascha warf sich ihm zu Füßen. ‚Steh auf, Mascha, schämst du dich nicht!‘ schrie ich wie ein Rasender. ‚Und Sie, Herr, wollen Sie endlich aufhören, eine arme Frau zu verhöhnen? Werden Sie endlich schießen oder nicht?‘ – ‚Ich werde es nicht tun‘, sagte Silvio, ‚ich bin zufrieden: Ich habe deine Bestürzung, deine Furchtsamkeit gesehen; ich habe dich gezwungen, auf mich zu schießen, ich bin zufriedengestellt. Du wirst an mich denken. Ich überlasse dich deinem Gewissen.‘ Hier wollte er hinausgehen, doch blieb er in der Tür stehen, sah sich nach dem Bild um, das ich getroffen hatte, schoß nach ihm, fast ohne zu zielen, und verschwand. Meine Frau war in Ohnmacht gefallen, die Dienerschaft wagte nicht, ihn aufzuhalten, und betrachtete ihn voller Entsetzen, er trat auf die Vortreppe hinaus, rief den Kutscher und fuhr fort, ehe ich zu mir gekommen war.“ Der Graf verstummte. Auf diese Weise erfuhr ich das Ende der Geschichte, deren Anfang mich einst so erstaunt hatte. Ihren Helden habe ich nicht mehr gesehen. Es wird erzählt, daß Silvio während des Aufstandes Alexander Ypsilantis eine Abteilung Hetäristen angeführt habe und in der Schlacht bei Sculeni gefallen sei.
Der Schneesturm
Eilig geht der Pferde Lauf Durch die hohen Wehen … Seitwärts ist ein Gotteshaus Ganz allein zu sehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plötzlich Schneesturm überall. Mit den Flügeln pfeifend, Fliegt durch weißen Flockenfall, Fast den Schlitten streifend, Schwarzer Rabe. Leid’ger Ton! In die Ferne spähen Unruhvoll die Pferde schon. Ihre Mähnen wehen … Shukowskij
Gegen Ende des Jahres 1811, in einer für uns denkwürdigen Zeit, lebte auf seinem Gut Nenaradowo der gutherzige Gawrila Gawrilowitsch R. Er war im ganzen Kreis für seine Gastfreundlichkeit und sein Entgegenkommen bekannt; alle Augenblicke kamen Gäste angefahren, um zu essen, zu trinken und mit seiner Frau um fünf Kopeken Boston zu spielen; einige kamen auch, um sich die Tochter, Marja Gawrilowna, anzusehen, ein schlankes, blasses, siebzehnjähriges Mädchen. Sie galt für eine reiche Braut, und viele sahen sie schon in Gedanken als eigene Frau oder als die ihrer Söhne. Marja Gawrilowna verdankte ihre Erziehung französischen Romanen, und infolgedessen war sie verliebt. Der Gegenstand, den sie sich auserwählt hatte, war ein armer Fähnrich, der den Urlaub in seinem Dorf verbrachte. Es versteht sich von selbst, daß der junge Mann von der gleichen Leidenschaft ergriffen war und daß die Eltern seiner Angebeteten, sowie sie die gegenseitige 70
Zuneigung bemerkten, der Tochter verboten, auch nur an ihn zu denken, und ihn schlechter empfingen als einen Gerichtsbeisitzer in Ruhestand. Unsere Liebenden standen im Briefwechsel und trafen sich jeden Tag heimlich im Kiefernwäldchen oder bei der alten Kapelle. Dort schworen sie sich ewige Liebe, beklagten ihr Schicksal und schmiedeten die verschiedensten Pläne. Auf diese Weise schrieben und unterhielten sie sich und gelangten (was durchaus natürlich ist) zu folgender Überlegung: Wenn einer ohne den anderen nicht atmen kann und der Wille der grausamen Eltern unserem Glück im Wege steht, wäre es dann nicht möglich, ohne diesen Willen auszukommen? Es versteht sich, daß dieser glückliche Gedanke zuerst dem jungen Mann gekommen war und daß er der romanhaften Einbildungskraft Marja Gawrilownas überaus gefiel. Der Winter zog ein und bereitete ihren Zusammenkünften ein Ende; doch wurde der Briefwechsel dafür um so reger. Wladimir Nikolajewitsch flehte sie in jedem Brief an, die Seine zu werden, sich heimlich trauen zu lassen, sich für einige Zeit versteckt zu halten und danach den Eltern zu Füßen zu werfen, die, zu guter Letzt natürlich von der heroischen Standhaftigkeit und dem Unglück der Liebenden gerührt, unbedingt sagen werden: „Kinder, laßt euch umarmen!“ Marja Gawrilowna schwankte lange, und viele Fluchtpläne wurden verworfen. Schließlich war sie mit folgendem einverstanden: Am festgesetzten Tag sollte sie nicht zu Abend essen und sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen auf ihr Zimmer zurückziehen. Ihre Zofe war in die Verschwörung eingeweiht; beide sollten durch die Hintertür in den Garten hinausgehen, hinter dem Garten einen reisefertigen Schlitten vorfinden, sich hineinsetzen und in das fünf Werst von Nenaradowo entfernte Shadrino fahren, direkt vor die Kirche, wo sie Wladimir schon erwarten sollte. Am Vorabend des entscheidenden Tages schlief Marja Gawrilowna die ganze Nacht nicht; sie packte ihre Sachen, bündelte Wäsche und Kleider, schrieb einen langen Brief an ein empfind71
sames Fräulein, ihre Freundin, und einen anderen an ihre Eltern. Sie nahm von ihnen in den rührendsten Ausdrücken Abschied, entschuldigte ihren Schritt mit der unüberwindlichen Macht der Leidenschaft und schloß mit den Worten, daß die glücklichste Minute ihres Lebens jene sein werde, in der es ihr erlaubt werde, sich den teuren Eltern zu Füßen zu werfen. Sie verschloß beide Briefe mit einem Tulaer Siegel, auf dem zwei flammende Herzen mit entsprechender Inschrift dargestellt waren, warf sich kurz vor Morgengrauen auf das Bett und fiel in einen leichten Schlaf: Doch auch hier weckten sie alle Augenblicke entsetzliche Träume. Einmal schien es ihr, daß der Vater sie im Augenblick, da sie den Schlitten bestieg, um zur Trauung zu fahren, anhielt, mit beängstigender Schnelligkeit über den Schnee schleifte und sie in ein dunkles, abgrundtiefes unterirdisches Verlies warf … und sie flog mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Schreckens kopfüber in die Tiefe; ein anderes Mal sah sie Wladimir blaß und blutig auf dem Rasen liegen. Sterbend bat er sie mit durchdringender Stimme, sich schnell mit ihm trauen zu lassen … Andere abscheuliche und unsinnige Träume lösten einander ab. Schließlich erhob sie sich, bleicher denn je und mit wirklichen Kopfschmerzen. Der Vater und die Mutter bemerkten ihre Unruhe. Ihre zärtliche Besorgtheit und ihre ununterbrochenen Fragen: „Was fehlt dir, Mascha? Du bist doch nicht etwa krank, Mascha?“ schnitten ihr ins Herz. Sie suchte sie zu beruhigen, fröhlich zu scheinen – und konnte es nicht. Der Abend kam heran. Der Gedanke, daß dies der letzte Tag sei, den sie mit ihrer Familie verbringe, drückte ihr schier das Herz ab. Sie hielt sich kaum aufrecht, in Gedanken nahm sie Abschied von allen Personen und Gegenständen, die sie umgaben. Das Abendbrot wurde aufgetragen; ihr Herz begann heftig zu schlagen. Mit bebender Stimme erklärte sie, daß sie nicht zu Abend essen wolle, und verabschiedete sich von dem Vater und der Mutter. Sie küßten und segneten sie wie gewöhnlich – beinah wäre Mascha in Tränen ausgebrochen. In ihrem Zimmer angelangt, warf sie sich in einen Sessel und ließ den Tränen freien Lauf. Die Zofe redete ihr zu, sich zu beruhigen und Mut zu fassen. Alles war bereit. In einer halben Stunde sollte Mascha für 72
immer ihr Elternhaus, ihr Zimmer, ihr stilles Mädchenleben hinter sich lassen … Draußen tobte ein Schneesturm: Der Wind heulte, die Fensterläden klapperten und klopften laut; alles schien ihr voller Drohung und schlimmer Vorbedeutung. Bald wurde es im Hause still, und alle gingen zur Ruhe. Mascha wickelte sich einen Schal um, zog einen warmen Mantel über, nahm ihre Schatulle in die Hand und ging zum hinteren Ausgang. Das Dienstmädchen folgte ihr mit zwei Bündeln. Sie begaben sich in den Garten. Der Schneesturm hatte nicht nachgelassen; der Wind blies ihr entgegen, als wollte er die jugendliche Missetäterin aufhalten. Mit Mühe gelangten sie bis an das Ende des Gartens. Auf dem Weg wartete schon der Schlitten auf sie. Die frierenden Pferde hielten nicht still; Wladimirs Kutscher ging vor den Deichseln auf und ab und hielt die Ungeduldigen zurück. Er half dem Fräulein und ihrem Mädchen beim Einsteigen und beim Verstauen der Bündel und der Schatulle, nahm die Zügel, und die Pferde galoppierten davon. Überlassen wir das Fräulein dem Schutze des Schicksals und der Kunst des Kutschers Tereschka, und wenden wir uns unserem jungen Liebhaber zu. Den ganzen Tag war Wladimir unterwegs gewesen. Am Morgen hatte er den Geistlichen von Shadrino aufgesucht und war mit Müh und Not mit ihm einig geworden; dann machte er sich auf den Weg, um unter den Gutsbesitzern der Nachbarschaft Trauzeugen zu suchen. Der erste, bei dem er erschien, der verabschiedete vierzigjährige Kornett Drawin, war gern dazu bereit. Dieses Abenteuer, versicherte er, erinnere ihn an die frühere Zeit und die Husarenstreiche. Er überredete Wladimir, zum Mittagessen dazubleiben, und behauptete, daß es an den übrigen zwei Zeugen nicht fehlen werde. In der Tat erschienen gleich nach dem Essen der Feldmesser Schmitt mit Schnurrbart und Sporen und der Sohn des Kreishauptmanns, ein Knabe von sechzehn Jahren, der seit kurzer Zeit bei den Ulanen war. Sie nahmen nicht nur den Vorschlag Wladimirs an, sondern schworen ihm, daß sie bereit seien, für ihn ihr Leben hinzugeben. Wladimir umarmte sie voller Begeisterung und fuhr nach Hause, um seine Vorbereitungen zu treffen. 73
Die Dämmerung war schon lange hereingebrochen. Er schickte seinen zuverlässigen Tereschka mit der Troika und genauen und weitläufigen Anweisungen nach Nenaradowo, für sich selbst aber ließ er vor den kleinen Schlitten nur ein Pferd spannen und machte sich allein, ohne Kutscher, auf den Weg nach Shadrino, wohin in ungefähr zwei Stunden auch Marja Gawrilowna kommen sollte. Der Weg war ihm bekannt, und zu fahren hatte er ungefähr zwanzig Minuten. Doch kaum war Wladimir aus der Ortschaft auf das freie Feld hinausgefahren, als sich ein Wind aufmachte und ein solcher Schneesturm einsetzte, daß er nichts mehr erkennen konnte. Im Nu war der Weg zugeweht; die Umgebung verschwand hinter einem undurchsichtigen und gelblichen Schleier, durch den weiße Schneeflocken flogen; der Himmel verschmolz mit der Erde. Wladimir merkte, daß er sich auf den Feldern befand, und suchte vergebens, wieder auf den Weg zu gelangen; das Pferd lief aufs Geratewohl und fuhr alle Augenblicke in eine Schneewehe oder brach in eine Grube ein; der Schlitten schlug fortwährend um. – Wladimir bemühte sich, wenigstens die Richtung einzuhalten. Allein es schien ihm, daß schon mehr als eine halbe Stunde vergangen sei, und das Wäldchen von Shadrino hatte er noch nicht erreicht. Es vergingen ungefähr weitere zehn Minuten; das Wäldchen war immer noch nicht zu sehen. Wladimir fuhr über ein von tiefen Schluchten durchzogenes Feld. Der Schneesturm ließ nicht nach, und der Himmel wurde nicht klarer. Das Pferd begann müde zu werden, und von ihm selbst floß der Schweiß in Strömen, obwohl er jeden Augenblick bis zum Gürtel im Schnee saß. Schließlich sah er, daß er in die falsche Richtung fuhr. Wladimir hielt an: Er begann nachzudenken, sich zu erinnern, zu überlegen und kam zu dem Schluß, daß er sich nach rechts halten müsse. Er fuhr nach rechts. Sein Pferd lief kaum noch. Länger als eine Stunde war er schon unterwegs. Shadrino mußte nicht mehr weit sein. Doch er fuhr und fuhr, und das Feld nahm kein Ende. Nur Schneewehen und Schluchten; alle Augenblicke schlug der Schlitten um, alle Augenblicke richtete er ihn wieder auf. Die Zeit verging; Wladimir erfaßte eine große Unruhe. 74
Schließlich sah er seitwärts etwas Schwarzes. Wladimir lenkte dorthin. Als er näher kam, erkannte er das Wäldchen. Gott sei Dank, dachte er, jetzt ist es nicht mehr weit. Er fuhr am Rande des Wäldchens entlang, in der Hoffnung, jeden Augenblick auf den bekannten Weg zu stoßen oder um das Wäldchen herumfahren zu können: Shadrino lag gleich dahinter. Bald hatte er einen Weg gefunden und fuhr in das Dunkel der vom Winter entblößten Bäume hinein. Der Wind konnte hier nicht toben, der Weg war glatt, das Pferd wurde munterer, und Wladimir beruhigte sich. Doch er fuhr und fuhr, und von Shadrino war nichts zu sehen; das Wäldchen nahm kein Ende. Wladimir bemerkte voller Entsetzen, daß er in einen unbekannten Wald hineingefahren war. Verzweiflung überkam ihn. Er schlug auf das Pferd ein, das arme Tier begann im Trab zu laufen, doch bald hörte es auf, und nach einer Viertelstunde ging es wieder im Schritt, trotz aller Anstrengungen des unglücklichen Wladimir. Allmählich wurde der Wald lichter, und Wladimir fuhr aus ihm heraus; Shadrino war nicht zu sehen. Es mußte gegen Mitternacht sein. Tränen schossen ihm aus den Augen; auf gut Glück fuhr er weiter. Der Sturm legte sich, und die Wolken verzogen sich; vor ihm breitete sich eine weite, gleichsam mit einem weißen welligen Teppich bedeckte Ebene aus. Die Nacht war ziemlich klar. In der Nähe erblickte er ein kleines Dörfchen, das aus vier oder fünf Höfen bestand. Wladimir fuhr zu ihm hin. Bei der ersten Hütte sprang er aus dem Schlitten, lief zum Fenster und begann zu klopfen. Nach einigen Minuten wurde der Laden hochgehoben, und ein alter Mann steckte seinen grauen Bart hervor. „Was willst du?“ – „Ist es noch weit bis Shadrino?“ – „Ob’s bis Shadrino weit ist?“ – „Ja, ja! Ist es weit?“ – „Nicht weit, ungefähr ein Dutzend Werst.“ Bei dieser Antwort faßte sich Wladimir an den Kopf und stand, ohne sich zu rühren, wie ein zum Tode Verurteilter. „Wo kommst du denn her?“ fuhr der Alte fort. Wladimir hatte nicht den Mut, auf seine Fragen zu antworten. „Kannst du mir, Alter“, fragte er, „Pferde nach Shadrino beschaffen?“ – „Was 75
gibt’s schon für Pferde bei uns“, antwortete der Bauer. „Kann ich nicht wenigstens einen Führer haben? Ich bezahle, was er verlangt.“ – „Warte“, sagte der Alte und ließ wieder den Laden herunter, „ich schicke dir meinen Sohn, der führt dich.“ Wladimir begann zu warten. Keine Minute war vergangen, als er wieder zu klopfen anfing. Der Laden wurde hochgehoben, der Bart zeigte sich. „Was willst du?“ – „Wo bleibt denn dein Sohn?“ – „Er kommt gleich, er zieht sich nur die Stiefel an. Oder frierst du? Komm rein und wärm dich.“ – „Nein, danke, schicke nur schnell den Sohn.“ Das Tor quietschte in den Angeln; ein Bursche mit einem Knotenstock trat heraus und ging voran; bald zeigte er den von Schneewehen verdeckten Weg, bald suchte er ihn. „Wie spät ist es?“ fragte ihn Wladimir. „Bald wird’s hell“, antwortete der junge Bauer. Wladimir sagte kein Wort mehr. Die Hähne krähten, und es war schon hell, als sie Shadrino erreichten. Die Kirche war verschlossen. Wladimir entlohnte den Führer und fuhr zum Hof des Geistlichen. Auf dem Hof war seine Troika nicht zu sehen. Was für eine Nachricht erwartete ihn! Doch kehren wir zu den freundlichen Gutsherren nach Nenaradowo zurück, und sehen wir, was sich bei ihnen tut. Nichts tut sich bei ihnen. Die Alten waren aufgewacht und hatten sich in das Gastzimmer begeben, Gawrila Gawrilowitsch in Schlafmütze und weicher haariger Hausjacke, Praskowja Petrowna in wattiertem Schlafrock. Der Samowar wurde hereingebracht, und Gawrila Gawrilowitsch schickte das Mädchen zu Marja Gawrilowna, um zu erfahren, wie es um ihre Gesundheit stehe und wie sie geruht habe. Das Mädchen kehrte zurück und verkündete, daß das Fräulein schlecht geschlafen habe, doch daß es ihr jetzt besser ginge und sie gleich in das Gastzimmer käme. In der Tat öffnete sich die Tür, und Marja Gawrilowna trat herein, um Papa und Mama zu begrüßen. „Hast du noch Kopfschmerzen, Mascha?“ fragte Gawrila Gawrilowitsch. „Es geht mir besser, Väterchen“, antwortete Mascha. 76
„Du hast bestimmt gestern zuviel Kohlengas eingeatmet, Mascha“, sagte Praskowja Petrowna. „Kann sein, Mütterchen“, antwortete Mascha. Der Tag verlief ohne Zwischenfälle, doch zur Nacht wurde Mascha krank. Man schickte in die Stadt nach einem Arzt. Er kam gegen Abend und fand die Kranke phantasierend vor. Ein heftiges Fieber stellte sich ein, und die arme Kranke befand sich zwei Wochen am Rande des Grabes. Niemand im Hause wußte von der beabsichtigten Flucht. Die Briefe, die sie am Vorabend geschrieben hatte, waren verbrannt; ihre Zofe erzählte niemandem etwas aus Angst vor dem Zorn der Herrschaft. Der Geistliche, der verabschiedete Kornett, der schnurrbärtige Feldmesser und der kleine Ulan hielten sich zurück, und das mit Recht. Der Kutscher Tereschka sagte niemals etwas Überflüssiges, nicht einmal im Rausch. Auf diese Weise wurde das Geheimnis von mehr als einem halben Dutzend Verschwörern gehütet. Allein Marja Gawrilowna gab im pausenlosen Fieberwahn selbst ihr Geheimnis preis. Ihre Worte klangen jedoch derart unwahrscheinlich, daß die Mutter, die nicht von ihrem Bett wich, ihnen nur zu entnehmen vermochte, ihre Tochter sei sterblich in Wladimir Nikolajewitsch verliebt und diese Liebe vermutlich auch der Grund ihrer Krankheit. Sie beriet sich mit ihrem Mann, mit einigen Nachbarn, und hierauf beschlossen alle einstimmig, daß dies anscheinend Marja Gawrilownas Schicksal sei, daß man dem Manne, der einem vorbestimmt ist, nicht einmal zu Pferde entgehen könne, daß Armut keine Sünde sei, daß es nicht auf Reichtum, sondern auf den Menschen ankäme, und was dergleichen mehr ist. Sprichwörter moralischen Inhalts sind erstaunlich nützlich in jenen Fällen, in denen uns selbst wenig zu unserer Rechtfertigung einfällt. Unterdessen erholte sich das Fräulein nach und nach wieder. Wladimir hatte sich lange Zeit nicht im Hause Gawrila Gawrilowitschs sehen lassen. Er fürchtete den üblichen Empfang. Es wurde beschlossen, nach ihm zu schicken und ihm das unerwartete Glück mitzuteilen – die Einwilligung zur Ehe. Doch wie groß war das Erstaunen der Gutsherren von Nenaradowo, als 77
sie auf ihre Einladung hin einen halbverrückten Brief von ihm erhielten! Er erklärte ihnen, daß sein Fuß nie wieder die Schwelle ihres Hauses betreten werde, und bat, einen Unglücklichen zu vergessen, für den der Tod die einzige Hoffnung geblieben sei. Einige Tage später erfuhren sie, daß Wladimir zur Armee abgereist sei. Das war im Jahre 1812. Lange wagte niemand, dies der genesenden Mascha zu erzählen. Sie erwähnte Wladimir mit keinem Wort. Als sie dann nach einigen Monaten seinen Namen unter denjenigen fand, die sich bei Borodino ausgezeichnet hatten oder schwer verwundet wurden, fiel sie in Ohnmacht und man fürchtete einen Rückfall des Fiebers. Jedoch hatte der Ohnmachtsanfall Gott sei Dank keine Folgen. Ein neuer Kummer suchte sie heim: Gawrila Gawrilowitsch starb und hinterließ ihr als Erbin das ganze Gut. Doch das Erbe tröstete sie nicht: sie teilte aufrichtig den Schmerz der armen Praskowja Petrowna und schwor, sich niemals von ihr zu trennen; beide verließen Nenaradowo, den Ort trauriger Erinnerungen, und fuhren zum ***en Gut, um dort zu leben. Die Freier umschwärmten auch hier die anmutige und reiche Braut; doch sie machte keinem auch nur die geringste Hoffnung. Die Mutter versuchte sie manchmal zu überreden, sich einen Freund zu erwählen; Marja Gawrilowna wiegte jedoch den Kopf und versank in Nachdenken. Wladimir lebte schon nicht mehr; Er war in Moskau gestorben, am Vorabend der Einnahme durch die Franzosen. Sein Andenken schien Mascha heilig zu sein; jedenfalls hütete sie alles sorgsam, was an ihn erinnern konnte: Bücher, die er einstmals gelesen, seine Zeichnungen und die Noten und Gedichte, die er für sie abgeschrieben hatte. Die Nachbarn, die von allem erfuhren, wunderten sich über ihre Hartnäckigkeit und warteten voller Neugier auf den Helden, der schließlich über die bedauernswerte Treue der jungfräulichen Artemisia triumphieren mußte. Unterdessen war der Krieg ruhmvoll beendet worden. Unsere Regimenter kamen aus der Fremde zurück. Das Volk lief, um sie zu begrüßen. Die Kapellen spielten Lieder, die sie während des 78
Feldzuges erbeutet hatten: Vive Henri-Quatre, Tiroler Walzer und Arien aus der „Joconde“. Die Offiziere, die in den Krieg fast als Halbwüchsige gezogen waren, kehrten heim, im Kampf zu Männern herangereift und die Brust voller Orden. Die Soldaten unterhielten sich fröhlich und mengten alle Augenblicke deutsche und französische Wörter in ihre Rede. Unvergeßliche Zeit! Zeit des Ruhms und der Begeisterung! Wie heftig schlug jedes russische Herz bei dem Worte Vaterland! Wie süß waren die Tränen des Wiedersehens! Mit welcher Einmütigkeit floß das Gefühl des nationalen Stolzes mit dem der Liebe zum Herrscher zusammen! Und für ihn, was für ein Augenblick! Die Frauen, die russischen Frauen, waren damals unvergleichlich! Ihre gewöhnliche Kälte verschwand. Ihre Begeisterung war wahrhaft berauschend, als sie die Sieger begrüßten, hurra riefen Und in die Luft die Hauben warfen. Wer von den damaligen Offizieren gesteht nicht ein, daß er der russischen Frau die beste und wertvollste aller Belohnungen verdankt? … In dieser glanzvollen Zeit lebte Marja Gawrilowna mit ihrer Mutter im ***en Gouvernement und sah nicht, wie beide Hauptstädte die Heimkehr der Truppen feierten. Doch in den Kreisen und Dörfern war die allgemeine Begeisterung vielleicht noch größer. Wenn dort ein Offizier erschien, so war dies für ihn ein wahrer Triumph, und dem Verehrer im Frack erging es nicht gut in seiner Nähe. Wir sagten bereits, daß Marja Gawrilowna trotz ihrer Kälte auch weiterhin von Freiern umgeben war. Doch alle traten in den Hintergrund, als in ihrem Schloß der verwundete Husarenoberst Burmin erschien, mit dem Georgskreuz im Knopfloch und einer interessanten Blässe, wie es die dortigen Fräulein nannten. Er war ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt. Er war gekommen, um den Urlaub auf seinen Besitzungen zu verbringen, die nicht weit von dem Dorfe Marja Gawrilownas lagen. Marja Gawrilowna zeichnete ihn vor den anderen sehr aus. In seiner Gegenwart machte ihre gewöhnliche Nachdenklichkeit einer gewissen Lebhaftigkeit 79
Platz. Man konnte nicht behaupten, daß sie mit ihm kokettierte, doch der Dichter hätte zu ihrem Benehmen gesagt: Se amor non è che dunque? … Burmin war in der Tat ein sehr liebenswürdiger junger Mann. Er besaß gerade jene Fähigkeiten, die den Frauen gefallen: Anstand und Beobachtungsgabe, keinerlei Anmaßung und eine unbekümmerte Spottlust. Marja Gawrilowna gegenüber benahm er sich schlicht und zwanglos; doch was sie auch sagte oder tat, seine Augen, sein ganzes Wesen waren nur auf sie gerichtet. Er schien von stiller und bescheidener Art zu sein, allerdings wollte das Gerücht wissen, daß er seinerzeit ein entsetzlicher Tunichtgut gewesen war, doch schadete ihm das nicht in den Augen Marja Gawrilownas, die, übrigens wie alle jungen Damen, mit Vergnügen Streiche verzieh, welche Kühnheit und Feurigkeit des Charakters verrieten. Doch mehr als alles … (mehr als seine Zärtlichkeit, mehr als seine angenehme Unterhaltung, mehr als seine interessante Blässe, mehr als seine verbundene Hand) reizte sein Schweigen ihre Neugier und ihre Phantasie. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie ihm sehr gefiel; wahrscheinlich hatte auch er mit seinem Verstand und seiner Erfahrung schon bemerkt, daß sie ihn auszeichnete: Aber warum hatte er sich ihr bis jetzt noch nicht zu Füßen geworfen und seine Liebe gestanden? Was hielt ihn zurück? Schüchternheit, ohne die es keine wahre Liebe gibt, Stolz oder die Koketterie eines durchtriebenen Schürzenjägers? Dies war für sie ein Rätsel. Sie dachte ordentlich darüber nach und kam zu dem Schluß, daß Schüchternheit der einzige Grund dafür sei, und nahm sich vor, ihm durch noch größere Aufmerksamkeit Mut zu machen und, falls es die Umstände erlauben sollten, sogar durch Zärtlichkeit. Sie bereitete eine gänzlich unerwartete Lösung vor und erwartete voller Ungeduld den Augenblick einer romantischen Liebeserklärung. Ein Geheimnis, welcher Art es auch sei, ist für ein Frauenherz immer eine Last. Ihre Kriegslist hatte den gewünschten Erfolg; wenigstens verfiel Burmin in eine solche Nachdenklichkeit, und seine Augen ruhten mit solch einem 80
Feuer auf Marja Gawrilowna, daß der entscheidende Augenblick nicht mehr fern zu sein schien. Die Nachbarn sprachen von der Hochzeit wie von einer ausgemachten Sache, und die gute Praskowja Petrowna freute sich, daß ihre Tochter endlich einen würdigen Freier gefunden hatte. Die alte Frau saß eines Tages allein im Empfangszimmer und legte eine Grande-Patience, als Burmin in das Zimmer trat und sich sofort nach Marja Gawrilowna erkundigte. „Sie ist im Garten“, antwortete die Alte. „Gehen Sie zu ihr, ich werde hier auf euch warten.“ Burmin ging, und die Alte bekreuzigte sich und dachte: Vielleicht findet die Sache heute noch ihren Abschluß! Burmin traf Marja Gawrilowna am Teich unter einer Weide an, sie hielt ein Buch in der Hand, trug ein weißes Kleid und sah wie eine echte Romanheldin aus. Nach den ersten Fragen vermied es Marja Gawrilowna, das Gespräch fortzusetzen, um auf diese Weise die gegenseitige Verwirrung zu vergrößern, aus der man sich nur durch ein überraschendes und entschlossenes Liebesbekenntnis befreien konnte. Und so geschah es dann auch: Burmin, der die Schwierigkeit seiner Lage empfand, erklärte, er habe schon lange nach einer Möglichkeit gesucht, ihr sein Herz zu eröffnen, und bat für einen Augenblick um ihre Aufmerksamkeit. Marja Gawrilowna schloß ihr Buch und senkte die Augen zum Zeichen des Einverständnisses. „Ich liebe Sie“, sagte Burmin, „ich liebe Sie leidenschaftlich …“ Marja Gawrilowna errötete und ließ den Kopf noch tiefer sinken. „Es war eine Unvorsichtigkeit von mir, mich der liebgewordenen Gewohnheit zu überlassen, Sie tagtäglich zu sehen und zu hören …“ Marja Gawrilowna erinnerte sich an den ersten Brief des Saint-Preux. „Jetzt ist es schon zu spät, meinem Schicksal Widerstehen zu wollen, die Erinnerung an Sie, Ihr liebes unvergleichliches Bild wird von nun an zugleich Schmerz und Freude meines Lebens sein; doch es bleibt mir noch, einer schweren Pflicht nachzukommen: Ich muß Ihnen ein furchtbares Geheimnis mitteilen: Ein unüberwindliches Hindernis liegt zwischen uns …“ – „Es hat immer bestanden“, unterbrach ihn Marja Gawrilowna voller Lebhaftigkeit, „ich hätte nie Ihre Frau werden können …“ – 81
„Ich weiß“, antwortete er still. „Ich weiß, daß Sie einst liebten, doch der Tod und drei Jahre der Trauer … Liebe, gute Marja Gawrilowna, nehmen Sie mir nicht den letzten Trost – die Vorstellung, daß Sie einverstanden wären, mich glücklich zu machen, wenn nicht … schweigen Sie, um Himmels willen, schweigen Sie, Sie quälen mich. Ja, ich weiß es, ich fühle es, Sie würden die Meinige sein, doch – ich bin das unglücklichste Geschöpf … Ich bin verheiratet!“ Marja Gawrilowna sah ihn voller Befremden an. „Ich bin verheiratet“, fuhr Burmin fort. „Ich bin schon das vierte Jahr verheiratet, und ich weiß nicht, wer meine Frau ist. wo sie ist und ob ich sie je treffen werde!“ „Was sagen Sie da?“ rief Maria Gawrilowna aus. „Wie seltsam das ist! Fahren Sie fort, ich erzähle Ihnen nachher … doch fahren Sie fort, ich bitte Sie!“ „Zu Beginn des Jahres 1812“, sagte Burmin, „eilte ich nach Wilna, wo unser Regiment lag. Eines Tages kam ich spätabends zu einer Poststation; ich hatte schon befohlen, schnellstens die Pferde anzuspannen, als ein entsetzlicher Schneesturm losbrach, so daß der Postmeister und die Fuhrleute mir rieten, abzuwarten. Ich hörte auf sie, doch eine unbegreifliche Unruhe hatte mich erfaßt, es schien, als triebe mich jemand nur so voran. Der Schneesturm hatte unterdessen nicht nachgelassen; ich hielt es nicht mehr aus, wiederholte meinen Befehl und fuhr während des stärksten Sturmes ab. Meinem Kutscher fiel es ein, auf dem Fluß entlang zu fahren, was uns den Weg um drei Werst verkürzen sollte. Aber die Ufer waren verweht, und der Kutscher fuhr an der Ausfahrt zum Weg vorbei, und auf diese Weise befanden wir uns plötzlich in einer unbekannten Gegend. Der Sturm tobte nach wie vor. Ich erspähte ein Licht und befahl, dorthin zu fahren. Wir gelangten in ein Dorf. Das Licht kam aus einer Holzkirche. Ihre Tür stand offen, hinter dem Zaun hielten mehrere Schlitten, und auf dem Vorplatz bewegten sich Menschen. ‚Hierher! Hierher!‘ riefen mehrere Stimmen. Ich befahl dem Kutscher heranzufahren. ‚Ich bitte dich, wo bist du die ganze Zeit geblieben?‘ sagte jemand zu mir. ‚Die Braut ist ohnmächtig, der Pope weiß nicht, was 82
er machen soll; wir wollten schon wieder zurückfahren. Steig schnell aus.‘ Ohne ein Wort zu sagen, sprang ich aus dem Schlitten und trat in die Kirche, die schwach von zwei oder drei Kerzen erleuchtet war. Ein Mädchen saß auf einer Bank in einer dunklen Ecke; ein anderes Mädchen rieb ihr die Schläfen. ‚Gott sei Dank‘, sagte dieses, ‚endlich sind Sie gekommen. Sie haben das Fräulein beinahe zu Tode gequält.‘ Ein alter Geistlicher trat an mich heran und fragte: ‚Befehlen Sie zu beginnen?‘ – ‚Beginnen Sie, beginnen Sie, Väterchen‘, antwortete ich zerstreut. Sie stellten das Mädchen auf die Beine und stützten es. Sie schien nicht übel zu sein … Welch ein unverständlicher, unverzeihlicher Leichtsinn … Ich stellte mich neben sie vor den Altar; der Geistliche beeilte sich; drei Männer und die Zofe hielten die Braut und waren nur mit ihr beschäftigt. Wir wurden getraut. ‚Küßt euch‘, sagte man uns. Meine Frau wandte mir ihr bleiches Gesicht zu. Ich wollte sie gerade küssen … Da rief sie: ‚Ach, er ist es nicht! Er ist es nicht!‘ und fiel bewußtlos zu Boden. Die Zeugen richteten ihre erschrokkenen Blicke auf mich. Ich drehte mich um, ging aus der Kirche, ohne von jemandem daran gehindert zu werden, warf mich in den Schlitten und schrie: ‚Vorwärts!‘“ „Du lieber Gott!“ rief Marja Gawrilowna, „und Sie wissen nicht, was aus Ihrer armen Frau geworden ist?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Burmin. „Ich weiß nicht, wie das Dorf heißt, wo ich getraut wurde, ich erinnere mich nicht, von welcher Poststation ich abgefahren bin. Damals maß ich meinem verbrecherischen Streich sowenig Bedeutung bei, daß ich sogleich einschlief, als ich von der Kirche abgefahren war, und erst am Morgen des folgenden Tages, auf der dritten Station, aufwachte. Der Diener, der mich damals begleitete, ist während des Feldzuges gestorben, so daß ich nicht einmal die Hoffnung habe, jene zu finden, mit der ich solch grausamen Scherz getrieben und die nun so grausam gerächt ist,“ „Du lieber Gott, du lieber Gott!“ sagte Marja Gawrilowna und ergriff seine Hand. „Sie waren das also! Und Sie erkennen mich nicht wieder?“ Burmin erblaßte – und warf sich ihr zu Füßen … 83
Der Sargmacher
Sehn wir nicht Särge jeden Tag, Alternden Weltalls graue Haare? Dershawin
Die letzten Habseligkeiten des Sargmachers Adrian Prochorow wurden auf den Leichenwagen geladen, und das magere Pferdepaar schleppte sich zum vierten Male von der Basmannaja zur Nikitskaja, wohin der Sargmacher mit seiner ganzen Familie umgezogen war. Er verriegelte den Laden, schlug eine Bekanntmachung an das Tor, daß das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei, und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner neuen Wohnung. Als er sich dem gelben Häuschen näherte, das so lange seine Phantasie beschäftigt hatte und von ihm für eine stattliche Summe gekauft worden war, merkte der alte Sargmacher voller Verwunderung, daß er sich gar nicht freute. Als er die fremde Schwelle überschritten und in seiner neuen Wohnung nur Durcheinander vorgefunden hatte, seufzte er auf und dachte an seine armselige baufällige Hütte, in der achtzehn Jahre lang die allerstrengste Ordnung geherrscht hatte, schimpfte seine beiden Töchter und die Dienstmagd wegen ihrer Saumseligkeit aus und begann selbst Hand anzulegen. Bald darauf hatte alles seinen Platz gefunden; Heiligenschrein, Geschirrschrank, Tisch, Sofa und Bett standen in den für sie bestimmten Ecken des hinteren Zimmers, und in der Küche und im Wohnzimmer waren die Erzeugnisse des Hausherrn untergebracht worden: Särge in allen Farben und Größen sowie Schränke mit Trauerhüten, langen Umhängen und Fackeln. Über dem Tor ragte ein Schild, auf dem ein wohlgenährter Amor mit einer gesenkten Fackel in der Hand dargestellt war, und darunter stand: „Hier werden einfache und farbige Särge verkauft und ausgeschmückt sowie alte Särge verliehen und ausgebessert“. 84
Die Mädchen gingen in ihre Stube. Adrian besah seine Wohnung, setzte sich ans Fenster und ließ den Samowar fertigmachen. Der gebildete Leser weiß, daß sowohl Shakespeare als auch Walter Scott ihre Totengräber als fröhliche und lustige Menschen dargestellt haben, um durch diesen Gegensatz unsere Einbildungskraft stärker zu beeindrucken. Aus Achtung vor der Wahrheit können wir ihrem Beispiel nicht folgen und sehen uns gezwungen zuzugeben, daß die Gemütsart unseres Sargmachers vollkommen seinem düsteren Handwerk entsprach. Adrian Prochorow war gewöhnlich finster und nachdenklich. Sein Schweigen unterbrach er höchstens, um seine Töchter zurechtzuweisen, wenn er sie ohne Arbeit am Fenster ertappte, wie sie ihre Blicke nicht von den Vorübergehenden wenden konnten, oder um für seine Erzeugnisse einen erhöhten Preis von denen zu fordern, die das Unglück hatten (manchmal aber auch das Vergnügen), sie zu benötigen. Adrian also saß am Fenster, trank die siebente Tasse Tee und gab sich nach seiner Gewohnheit traurigen Überlegungen hin. Er dachte an den Platzregen, der ihn vor einer Woche beim Begräbnis des Brigadegenerals a. D. direkt am Stadttor überrascht hatte. Viele Umhänge waren davon eingelaufen, und viele Hüte hatten sich gewellt. Er sah unvermeidliche Ausgaben voraus, da sein alter Vorrat an Trauergewändern in einen bedauernswerten Zustand geraten war. Er hatte gehofft, den Verlust an der alten Kaufmannsfrau Trjuchina wettzumachen, die schon ungefähr ein Jahr lang todkrank war. Doch die Trjuchina siechte am Rasguljai dahin, und Prochorow fürchtete, daß die Erben, trotz ihres Versprechens, sich nicht auf den weiten Weg zu ihm bequemen und mit dem nächstgelegenen Unternehmer handelseinig werden könnten. Diese Überlegungen wurden unverhofft durch ein dreimaliges Klopfen in der Art der Freimaurer unterbrochen. „Wer da?“ fragte der Sargmacher. Die Tür öffnete sich, und ein Mann, dem man auf den ersten Blick den deutschen Handwerker ansah, trat in das Zimmer und näherte sich mit fröhlichem Gesicht dem Sargmacher. „Entschuldigen Sie, lieber Nachbar“, sagte er in jener 85
russischen Aussprache, die wir bis auf den heutigen Tag nicht ohne Lachen hören können, „entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe … Ich wollte möglichst schnell Ihre Bekanntschaft machen. Ich bin Schuster, mein Name ist Gottlieb Schulz, ich wohne auf der anderen Seite der Straße, in diesem Häuschen dort, gegenüber von Ihren Fenstern. Morgen feiere ich meine silberne Hochzeit, und ich bitte Sie und Ihre Töchter, nach Freundesart bei mir zu speisen.“ Die Einladung wurde wohlwollend angenommen. Der Sargmacher bat den Schuster, sich zu setzen und eine Tasse Tee zu trinken, und dank der Offenherzigkeit des Gottlieb Schulz entwickelte sich bald ein freundschaftliches Gespräch. „Wie geht das Geschäft des Herrn?“ fragte Adrian. „E-he-he“, antwortete Schulz, „mal so, mal so. Ich kann nicht klagen. Obwohl natürlich meine Ware Ihrer nicht gleichkommt: Ein Lebender kommt ohne Stiefel aus, doch ein Toter kann ohne Sarg nicht leben.“ – „Die reine Wahrheit“, bemerkte Adrian, „doch wenn der Lebende nichts hat, wovon er sich Stiefel kaufen könnte, so – nichts für ungut – geht er barfuß, aber eine arme Leiche nimmt sich ihren Sarg umsonst.“ In dieser Art ging das Gespräch noch eine Weile, schließlich stand der Schuster auf, verabschiedete sich von dem Sargmacher und wiederholte dabei seine Einladung. Am nächsten Tage, Punkt zwölf Uhr, traten der Sargmacher und seine Töchter aus der Pforte des neu erworbenen Hauses und gingen zu dem Nachbarn. Ich will weder den langschößigen russischen Rock Adrian Prochorows noch die europäische Aufmachung Akulinas und Darjas beschreiben und weiche in diesem Fall von der Gewohnheit ab, der unsere Romanciers von heute huldigen. Allerdings halte ich es nicht für überflüssig zu bemerken, daß sich beide Mädchen gelbe Hüte aufgesetzt und rote Schuhe angezogen hatten, was bei ihnen nur zu feierlichen Gelegenheiten geschah. Die enge Behausung des Schusters war voller Gäste, vorwiegend deutscher Handwerker mit ihren Frauen und Gesellen. Von den russischen Beamten war nur ein Polizeiwächter anwesend, der Finne Jurko, der es trotz seines geringen Standes verstanden 86
hatte, das besondere Wohlwollen des Hausherrn zu erringen. Etwa fünfundzwanzig Jahre diente er in diesem Beruf nach bestem Wissen und Gewissen wie Pogorelskijs Postillion. Der Brand vom Jahre 1812, der die alte Hauptstadt vernichtete, zerstörte auch sein gelbes Wächterhäuschen. Doch sowie der Feind verjagt war, erschien an der Stelle des alten ein neues Häuschen von grauer Farbe und mit weißen dorischen Säulchen, und Jurko spazierte wieder „mit Streitaxt und einer Rüstung aus grobem Tuch“ vor ihm auf und ab. Die meisten Deutschen, die am NikitskijTor wohnten, kannten ihn. Manche von ihnen hatten sogar vom Sonntag zum Montag bei Jurko übernachten müssen. Adrian machte sich sogleich bekannt mit ihm, weil der Wächter ein Mensch war, den man früher oder später brauchen konnte, und als die Gäste zu Tisch gingen, setzten sie sich nebeneinander. Herr und Frau Schulz und ihre Tochter, das siebzehnjährige Lottchen, aßen mit den Gästen, bewirteten sie vereint und halfen der Köchin beim Bedienen. Das Bier floß in Strömen. Jurko aß für vier; Adrian stand ihm nicht nach; seine Töchter zierten sich; die Unterhaltung in deutscher Sprache wurde von Stunde zu Stunde lebhafter. Plötzlich bat der Hausherr um Aufmerksamkeit, öffnete eine mit Pech versiegelte Flasche und sagte laut auf russisch: „Auf das Wohl meiner guten Luise!“ Der Halbchampagner schäumte. Der Hausherr küßte zärtlich das frische Gesicht seiner vierzigjährigen Lebensgefährtin, und lärmend tranken die Gäste auf das Wohl der guten Luise. „Auf das Wohl meiner liebenswürdigen Gäste!“ rief der Hausherr und entkorkte eine zweite Flasche – und die Gäste bedankten sich und leerten von neuem ihre Gläser. Nun folgte ein Trinkspruch dem anderen: Es wurde auf das Wohl jedes einzelnen Gastes getrunken, ein Hoch auf Moskau und ein ganzes Dutzend deutscher Städte ausgebracht, auf sämtliche Zünfte im allgemeinen und jede Zunft im besonderen, auf das Wohl der Meister und auf das der Gesellen ein Glas geleert. Adrian trank eifrig und wurde so lustig, daß er selbst irgendeinen spaßigen Trinkspruch ausbrachte. Plötzlich erhob einer der Gäste, ein dicker Bäcker, sein Glas und rief aus: „Auf das Wohl derjenigen, für die wir arbeiten, auf das Wohl unserer 87
Kundleute *!“ Dieser Vorschlag wurde, wie alle anderen, freudig und einstimmig angenommen. Die Gäste begannen sich voreinander zu verbeugen, der Schneider vor dem Schuster, der Schuster vor dem Schneider, der Bäcker vor beiden, alle vor dem Bäcker und so fort. Jurko wandte sich inmitten all dieser gegenseitigen Verbeugungen seinem Nachbarn zu und schrie: „Was denn? Trinke doch, mein Lieber, auf das Wohl deiner Leichen.“ Alle lachten, doch der Sargmacher fühlte sich beleidigt und machte ein finsteres Gesicht. Niemand bemerkte es, die Gäste tranken weiter, und es läutete schon zum Abendgottesdienst, als sie sich vom Tisch erhoben. Die Gäste gingen spät fort, die meisten von ihnen waren angeheitert. Der dicke Bäcker und ein Buchbinder, dessen Gesicht In rotes Saffianleder gebunden schien, griffen Jurko unter die Arme und führten ihn zu seinem Wächterhäuschen, in diesem Falle dem russischen Sprichwort folgend: „Ein Dienst ist des anderen wert“. Der Sargmacher kam betrunken und wütend nach Hause. „Wahrhaftig, was soll das heißen“, überlegte er laut, „warum soll mein Beruf weniger ehrenhaft sein als die anderen? Hat denn ein Sargmacher etwas mit dem Henker zu tun? Worüber lachen diese Heiden? Ist der Sargmacher etwa ein Hanswurst? Ich wollte sie einladen, um meinen Einzug zu feiern, und ihnen ein großes Festmahl geben – doch daraus wird nichts! Und einladen werde ich diejenigen, für die ich arbeite: die rechtgläubigen Toten.“ – „Was fällt dir ein, Väterchen?“ sagte die Dienstmagd, die ihm gerade die Schuhe auszog. „Was redest du da? Bekreuzige dich! Die Toten zur Einzugsfeier einzuladen! Ach, du lieber Schreck!“ – „Bei Gott, ich lade sie ein“, fuhr Adrian fort, „und schon für morgen. Herzlich willkommen, meine Wohltäter, morgen abend zum Festmahl, mit allem, was Gott uns beschert, werde ich euch bewirten.“ Mit diesen Worten ging der Sargmacher zu Bett, und bald hörte man ihn schnarchen. Auf dem Hof war es noch dunkel, als man Adrian weckte. Die * Bei Puschkin deutsch. (Der Übersetzer.) 88
Kaufmannsfrau Trjuchina war in dieser Nacht verschieden, und ein Eilbote von ihrem Verwalter war mit dieser Nachricht zu Adrian galoppiert. Der Sargmacher gab ihm zehn Kopeken Trinkgeld, zog sich schnell an, nahm eine Droschke und fuhr nach dem Rasguljai hinaus. Am Tor der Verstorbenen stand schon die Polizei, und Kaufleute gingen davor auf und ab wie Krähen, die einen Kadaver wittern. Die Tote lag auf dem Tisch, sie war gelb wie Wachs, aber noch nicht von der Verwesung entstellt. Rings um sie drängten sich die Verwandten, Nachbarn und das Gesinde. Alle Fenster waren geöffnet; die Kerzen brannten; die Geistlichen lasen ihre Gebete. Adrian trat an den Neffen der Trjuchina heran, einen jungen Kaufmann in modischem Rock, und teilte ihm mit, daß Sarg, Kerzen, Leichentuch und andere für das Begräbnis notwendige Dinge sofort in bestem Zustand geliefert würden. Der Erbe dankte zerstreut und sagte, um den Preis werde er nicht feilschen und sich in allem auf seine Ehrlichkeit verlassen. Der Sargmacher rief gewohnheitsmäßig Gott zum Zeugen an, daß er nicht mehr nähme, als ihm zustände, wechselte einen bedeutsamen Blick mit dem Verwalter und machte sich auf, um alles in die Wege zu leiten. Den ganzen Tag fuhr er zwischen dem Rasguljai und dem Nikitskij-Tor hin und her; gegen Abend hatte er alles erledigt, entließ den Kutscher und ging zu Fuß nach Hause. Es war eine mondhelle Nacht. Der Sargmacher kam wohlbehalten bis zum Nikitskij-Tor. Am Wosnessenje rief ihn Jurko, unser alter Bekannter, an, und als er den Sargmacher erkannte, wünschte er ihm eine gute Nacht. Es war spät. Der Sargmacher näherte sich bereits seinem Hause, da schien es ihm plötzlich, als sei jemand an seiner Gartenpforte angelangt, habe sie geöffnet und sei darin verschwunden. Was hat das zu bedeuten? dachte Adrian. Wer braucht mich schon wieder? Es wird doch nicht ein Dieb gewesen sein? Oder kommen vielleicht Liebhaber zu meinen dummen Gänsen? Das hätte noch gefehlt! Und der Sargmacher wollte schon seinen Freund Jurko zu Hilfe rufen. In diesem Augenblick nahte noch jemand und wollte hineingehen, als er aber den herbeieilenden Hausherrn sah, blieb er stehen und zog seinen Dreispitz. Sein Gesicht kam Adrian bekannt vor, in 89
der Eile jedoch konnte er es nicht ordentlich betrachten. „Sie wollen zu mir“, sagte der keuchende Adrian, „treten Sie ein, seien Sie so freundlich.“ – „Mach nicht soviel Umstände, mein Lieber“, sagte jener dumpf. „Geh schön voraus, weis den Gästen den Weg!“ Adrian hatte auch keine Zeit, viel Umstände zu machen. Die Pforte stand offen, er ging zur Treppe, und jener folgte ihm. Adrian wollte es scheinen, als ob in seinen Zimmern Leute umhergingen. Was ist das für ein Teufelsspuk, dachte er, trat eilig ein – und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Das Zimmer war voller Leichen. Der Mond schien durch das Fenster auf ihre gelben und blauen Gesichter, auf die eingefallenen Münder, auf die trüben, halbgeschlossenen Augen und hervorstehenden Nasen … Adrian erkannte zu seinem Schrecken in ihnen diejenigen Leute, die alle durch seine Bemühungen begraben worden waren, und in dem Gast, der zusammen mit ihm eingetreten war, den während des Platzregens beerdigten Brigadegeneral. Die Damen und die Männer umringten alle den Sargmacher unter Verbeugungen und Begrüßungen, nur ein armer Mann, den man vor kurzem umsonst begraben hatte und der sich genierte und seiner abgerissenen Kleidung schämte, näherte sich nicht und stand demütig in der Ecke. Die übrigen waren alle anständig gekleidet: Die toten Damen trugen Hauben und Bänder, die toten Herren von Rang ihre Uniform, nur ihre Bärte waren unrasiert, und die Kaufleute hatten ihre Feiertagsröcke an. „Siehst du, Prochorow“, sprach der Brigadegeneral im Namen der ganzen ehrbaren Gesellschaft, „wir alle sind auf deine Einladung hin aufgebrochen; zu Hause geblieben sind nur diejenigen, die dazu bereits nicht mehr in der Lage sind, die vollständig auseinandergefallen und von denen nur Knochen ohne Haut übriggeblieben sind; doch auch unter ihnen hat es einer nicht ausgehalten – er wollte dich so gern besuchen …“ In diesem Augenblick drängte sich ein kleines Skelett durch die Menge und trat an Adrian heran. Der Totenschädel lächelte den Sargmacher zärtlich an. Fetzen hellgrünen und roten Stoffes und brüchiger Leinwand hingen wie an einer Stange an ihm herunter, und die Beinknochen schlugen in großen Kanonenstiefeln hin und her wie Stößel in einem Mör90
ser. „Du hast mich nicht wiedererkannt, Prochorow“, sagte das Skelett. „Erinnerst du dich nicht mehr an den verabschiedeten Gardesergeanten Pjotr Petrowitsch Kurilkin, an genau denselben, dem du 1799 deinen ersten Sarg verkauft hast – und noch dazu Kiefer für Eiche?“ Mit diesen Worten wollte der Tote ihn in seine knöchernen Arme schließen, doch Adrian nahm alle Kraft zusammen, schrie auf und stieß ihn von sich. Pjotr Petrowitsch schwankte, stürzte und fiel in einzelne Stücke auseinander. Unter den Leichen erhob sich ein Gemurmel der Empörung; alle traten für die Ehre ihres Kameraden ein, näherten sich Adrian unter Schimpfen und Drohen; und der arme Hausherr, betäubt von ihrem Geschrei und fast erdrückt, verlor die Geistesgegenwart, fid selbst auf die Knochen des verabschiedeten Gardesergeanten und verlor das Bewußtsein. Die Sonne schien schon lange auf das Bett, in dem der Sargmacher lag. Schließlich öffnete er die Augen und sah die Dienstmagd vor sich, wie sie das Feuer im Samowar anblies. Mit Schrekken dachte Adrian an alles, was gestern vorgefallen war. Unklar sah er die Trjuchina, den Brigadegeneral und den Sergeanten Kurilkin vor sich. Schweigend wartete er darauf, daß die Dienstmagd ein Gespräch mit ihm beginne und ihm von den Folgen der nächtlichen Abenteuer erzähle. „Du hast aber lange geschlafen, Väterchen Adrian Prochorowitsch“, sagte Aksinja und reichte ihm den Schlafrock. „Unser Nachbar, der Schneider, war zu dir gekommen, und auch der hiesige Wächter war hier und hat gesagt, daß der Polizeioffizier seinen Namenstag feiert; doch du geruhtest zu schlafen, und wir wollten dich nicht wecken.“ „Ist jemand von der verstorbenen Trjuchina zu mir gekommen?“ „Wieso verstorbenen? Ist sie denn tot?“ „So eine Gans! Warst du es denn nicht, die mir gestern geholfen hat, ihr Begräbnis in die Wege zu leiten?“ „Was fällt dir ein, Väterchen? Hast du etwa den Verstand verloren, oder hast du deinen Rausch von gestern noch nicht ausgeschlafen? Was für ein Begräbnis soll gestern gewesen sein? 91
Den ganzen Tag hast du bei dem Deutschen gezecht, bist betrunken nach Hause gekommen, gleich ins Bett gefallen, und bis jetzt hast du geschlafen, sogar zum Hochamt hat es schon geläutet.“ „Oje!“ sagte der erfreute Sargmacher. „So und nicht anders war es“, entgegnete die Dienstmagd. „Nun, wenn es so steht, dann mach schnell Tee und rufe die Töchter.“
Der Postmeister
Kollegienregistrator, Der Poststation Diktator. Fürst Wjasemskij
Wer hat die Postmeister noch nicht verflucht, wer hat mit ihnen noch nicht herumgeschimpft? Wer hat im Augenblick des Zorns von ihnen nicht das verhängnisvolle Buch gefordert, um darin seine nutzlose Beschwerde über Unterdrückung, Grobheit und Nachlässigkeit einzutragen? Wer hält sie nicht für Ungeheuer in Menschengestalt, ähnlich den früheren Amtsschreibern oder zumindest den Muromsker Räubern? Doch seien wir gerecht, versuchen wir, uns in ihre Lage zu versetzen, und vielleicht werden wir über sie viel nachsichtiger urteilen. Was ist ein Postmeister? Ein wahrer Märtyrer der vierzehnten Klasse, den sein Dienstrang nur vor Schlägen schützt, und auch das nicht immer. (Ich appelliere an die Ehrlichkeit meiner Leser.) Worin besteht der Dienst dieses Diktators, wie ihn Fürst Wjasemskij scherzhaft nennt? Ist das nicht die reinste Sträflingsarbeit? Weder Tag noch Nacht Ruhe. Allen Ärger, der sich während der langweiligen Fahrt angesammelt hat, läßt der Reisende an dem Postmeister aus. Das Wetter ist unerträglich, der Weg abscheulich, der Kutscher starrköpfig, die Pferde kommen nicht voran – und schuld daran ist der Postmeister. Der Reisende, der in seine ärmliche Behausung tritt, betrachtet ihn als Feind; es ist noch gut, wenn es gelingt, den ungebetenen Gast bald loszuwerden, doch wenn keine Pferde da sind? … Du lieber Himmel! Was für Beschimpfungen, was für Drohungen hageln auf sein Haupt hernieder! In Regen und Schlamm muß er von einem Bauerngehöft zum anderen laufen, und bei Sturm und starkem Januarfrost geht er in die Diele, um sich nur für eine Minute von den Schreien und Knüffen des ge93
reizten Gastes zu erholen. Ein General kommt angefahren, der zitternde Postmeister gibt ihm die beiden letzten Dreigespanne, darunter auch das des Kuriers. Der General fährt ohne ein Wort des Dankes davon. Fünf. Minuten später – Glöckchengeklingell … Und der Kurier wirft ihm die Order für Postpferde auf den Tisch! … Wenn wir uns all das richtig vor Augen halten, so wird aufrichtiges Mitleid an Stelle der Empörung unser Herz erfüllen. Noch ein Wort: Im Laufe von zwanzig Jahren bin ich kreuz und quer, in allen Richtungen durch Rußland gefahren; fast alle Poststraßen sind mir bekannt; ich kenne mehrere Generationen von Kutschern, es wird kaum einen Postmeister geben, den ich nicht gesehen habe und mit dem ich nicht zu tun gehabt hätte; den höchst interessanten Vorrat meiner Reisebeobachtungen hoffe ich in nicht allzu ferner Zeit herauszugeben; vorläufig sage ich nur, daß die Allgemeinheit eine völlig falsche Vorstellung vom Stand der Postmeister hat. Diese so verleumdeten Postmeister sind im allgemeinen friedliche Menschen, von Natur aus hilfsbereit, verträglich, wenig ehrhungrig und nicht allzu geldgierig. Aus ihren Gesprächen (auf die die Herren Reisenden zu Unrecht keinen Wert legen) kann man eine Menge Interessantes und Belehrendes erfahren. Was mich anbelangt, so ziehe ich, offen gestanden, ihre Unterhaltung den Reden irgendeines Beamten der sechsten Klasse, der sich auf einer Dienstreise befindet, vor. Es ist leicht zu erraten, daß ich Freunde aus dem ehrbaren Stand der Postmeister habe. In der Tat ist mir die Erinnerung an einen von ihnen teuer. Die Umstände hatten uns einst zusammengeführt, und ich habe vor, mich über ihn mit den freundlichen Lesern zu unterhalten. Im Jahre 1816, im Monat Mai, geschah es, daß ich durch das Gouvernement *** fuhr, und zwar auf einer Strecke, die heute nicht mehr existiert. Ich hatte keinen hohen Rang, fuhr mit Postpferden, die auf jeder Station ausgewechselt wurden, und hatte das Fahrgeld für zwei Pferde bezahlt. Infolgedessen nahmen die Postmeister nicht viel Rücksicht auf mich, und oft erkämpfte ich, was mir – meiner Meinung nach – rechtmäßig zustand. Da ich 94
jung und ein Hitzkopf war, entrüstete ich mich über die Niedertracht und den Kleinmut des Postmeisters, wenn dieser das für mich bereitgestellte Gespann der Kutsche eines höheren Beamten überließ. Ebensolange konnte ich mich nicht daran gewöhnen, daß ich bei einem Mittagessen, das der Gouverneur gab, von dem wählerischen Diener übergangen wurde. Heute scheint mir sowohl das eine wie das andere völlig in Ordnung zu sein. In der Tat, wo kämen wir hin, wenn statt der praktischen Regel: Erweise dem Rang die Ehre eine andere eingeführt würde, zum Beispiel: Erweise dem Verstand die Ehre? Was für ein Streit würde entbrennen! Und wem würden die Diener zuerst auftragen? Doch ich wende mich meiner Erzählung zu. Der Tag war heiß. Drei Werst von der Poststation *** fielen auf einmal Regentropfen, und innerhalb einer Minute hatte mich pin Platzregen bis auf die Haut durchnäßt. Als ich auf der Station ankam, war meine erste Sorge, mich so schnell wie möglich umzuziehen, und die zweite, um Tee zu bitten. „He, Dunja!“ rief der Postmeister, „trag den Samowar auf und hol die Sahne!“ Während dieser Worte war ein Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren hinter der Zwischenwand hervorgekommen und lief in die Diele. Ihre Schönheit versetzte mich in Erstaunen. „Ist das deine Tochter?“ fragte ich den Postmeister. „Ja, Herr“, sagte er mit selbstzufriedener Miene, „und so klug ist sie, so flink, ganz wie die verstorbene Mutter.“ Darauf machte er sich an die Abschrift meiner Order, und ich betrachtete die Bilder, die seine bescheidene, doch saubere Wohnung schmückten. Sie stellten die Geschichte des verlorenen Sohnes dar: Auf dem ersten verabschiedet sich ein ehrwürdiger Alter in Hausrock und Kappe von einem unruhigen Jüngling, der eilig seinen Segen und ein Geldsäckel entgegennimmt. Auf dem anderen wird in eindrucksvoller Weise das lasterhafte Leben des jungen Mannes gezeigt: Er sitzt an einem Tisch, umringt von falschen Freunden und sittenlosen Frauen. Auf dem nächsten hütet der Jüngling, nachdem er sein ganzes Geld vergeudet hat, in abgerissener Kleidung und Dreispitz die Schweine und teilt mit ihnen ihre Nahrung; sein Gesicht drückt tiefe Trauer und Reue aus. Schließlich ist seine Heimkehr 95
zum Vater dargestellt; der gute Alte, in derselben Kappe und demselben Hausrock, läuft ihm entgegen: Der verlorene Sohn liegt auf den Knien; im Hintergrund schlachtet der Koch ein gemästetes Kalb, und der älteste Bruder fragt das Gesinde nach dem Grund solcher Freude. Unter jedem Bild las ich passende deutsche Verse. All das hat sich bis heute meinem Gedächtnis eingeprägt, ebenso wie die Töpfe mit den Balsaminen, das Bett mit dem bunten Vorhang und die übrigen Dinge, die mich damals umgaben. Als wäre es heute, sehe ich den Hausherrn selbst vor mir, einen Mann von ungefähr fünfzig Jahren, frisch und gesund, und seinen langen grünen Rock mit drei Medaillen an den verblichenen Bändern. Kaum hatte ich meinen alten Kutscher entlohnt, als Dunja mit dem Samowar zurückkam. Die kleine Kokette hatte bald gemerkt, was sie für einen Eindruck auf mich machte; sie schlug die großen blauen Augen nieder; ich fing mit ihr ein Gespräch an; sie antwortete mir ohne jegliche Schüchternheit, wie ein Mädchen, das die Welt gesehen hat. Ich bot ihrem Vater ein Glas Punsch an; Dunja erhielt von mir eine Tasse Tee, und wir begannen zu dritt eine Unterhaltung, als würden wir uns schon jahrelang kennen. Die Pferde standen schon lange bereit, doch ich wollte mich immer noch nicht von dem Postmeister und seiner Tochter trennen. Schließlich verabschiedete ich mich von ihnen; der Vater wünschte mir eine gute Fahrt, und die Tochter begleitete mich bis zum Wagen. In der Diele blieb ich stehen und bat um die Erlaubnis, sie zu küssen; Dunja war einverstanden … Viele Küsse könnte ich aufzählen, Seit ich mich damit abgegeben, doch keiner von ihnen hat solch eine nachhaltige, solch eine angenehme Erinnerung in mir hinterlassen. Einige Jahre vergingen, und die Umstände fügten es, daß ich dieselbe Poststraße und dieselbe Gegend bereiste. In meiner Erinnerung tauchte die Tochter des alten Postmeisters auf, und ich freute mich bei dem Gedanken, sie bald wiederzusehen. Doch 96
vielleicht ist der alte Postmeister schon abgelöst worden, überlegte ich, und Dunja ist wahrscheinlich schon verheiratet. Der Gedanke an den Tod des einen oder anderen fuhr mir plötzlich durch den Kopf, und ich näherte mich der Station *** mit einem traurigen Vorgefühl. Die Pferde hielten beim Stationshäuschen. Als ich in das Zimmer eintrat, erkannte ich sofort die Bilder wieder, auf denen die Geschichte des verlorenen Sohnes dargestellt war; Tisch und Bett standen an ihrem früheren Platz, doch in den Fenstern befanden sich keine Blumen mehr, ringsum sprach alles von Verfall und Nachlässigkeit. Der Postmeister hatte unter seinem Schafpelz geschlafen und war durch meine Ankunft geweckt worden; er richtete sich auf … Das war tatsächlich Samson Wyrin; doch wie sehr war er gealtert! Während er daranging, meine Order abzuschreiben, blickte ich auf sein graues Haar, auf die tiefen Falten in dem seit langem nicht mehr rasierten Gesicht, auf seinen gekrümmten Rücken – und konnte mich nicht genug darüber wundern, daß drei oder vier Jahre aus einem kräftigen Mann einen schwächlichen Alten gemacht hatten. „Erkennst du mich wieder?“ fragte ich ihn. „Wir sind alte Bekannte.“ – „Kann sein“, entgegnete er mürrisch, „die Straße hier ist groß; bei mir sind viele Reisende gewesen.“ – „Ist deine Tochter Dunja gesund?“ fuhr ich fort. Der Alte zog die Brauen zusammen. „Der liebe Gott allein weiß das“, antwortete er. „Sie ist also verheiratet?“ sagte ich. Der Alte tat, als hätte er meine Frage nicht gehört, und las im Flüsterton meine Anweisung weiter. Ich hörte auf zu fragen und verlangte Tee. Mich begann die Neugier zu plagen, und ich hoffte, der Punsch würde meinem alten Bekannten die Zunge lösen. Ich hatte mich nicht geirrt: Der Alte lehnte das angebotene Glas nicht ab. Mir fiel es auf, wie der Rum seine Unfreundlichkeit verscheuchte. Beim zweiten Glase wurde er gesprächig, er erinnerte sich meiner oder tat wenigstens so, und ich erfuhr von ihm eine Geschichte, die mich zu jener Zeit stark beschäftigte und ergriff. „Sie haben also meine Dunja gekannt?“ hob er an. „Wer hat nicht gekannt? Ach, Dunja, Dunja! Was war das für ein 97
Mädel! Wer auch immer hier vorüberfuhr, jeder hat sie gelobt, niemand getadelt. Vornehme Damen beschenkten sie, mal bekam sie ein Kopftuch, mal Ohrringe. Die Herren Reisenden unterbrachen mit Absicht ihre Fahrt, scheinbar, um zu Mittag oder zu Abend zu essen, in Wirklichkeit aber nur, um sie möglichst lange anzusehen. Es kam vor, daß ein Herr, wenn er auch noch so wütend war, still wurde, wenn er sie sah, und freundlich mit mir sprach. Glauben Sie mir, Herr: Die Eilboten und Kuriere haben sich mit ihr halbe Stunden lang unterhalten. Sie war die Stütze des Hauses: Was auch aufzuräumen, was auch zu kochen war, sie schaffte alles. Ich alter Dummkopf aber konnte mich nicht satt sehen an ihr, nicht genug freuen. Hab ich etwa meine Dunja nicht geliebt, hab ich mein Kind nicht gehegt, hat sie es schlecht gehabt? Aber nein, das Unglück kann man nicht abschwören, seinem Schicksal entgeht keiner.“ Und nun schilderte er mir ausführlich sein Leid. An einem Winterabend vor drei Jahren war es, der Postmeister zog mit dem Lineal Zeilen in ein neues Buch, und seine Tochter nähte hinter der Zwischenwand an einem Kleid für sich, als eine Troika vorfuhr, ein Reisender, in Tscherkessenmütze, Militärmantel und in einen Schal gehüllt, das Zimmer betrat und Pferde verlangte. Doch alle Pferde waren gerade unterwegs. Bei dieser Nachricht erhob der Reisende schon seine Stimme und die Nagaika, doch Dunja, die an solche Szenen gewöhnt war, kam hinter der Zwischenwand hervorgelaufen und wandte sich liebenswürdig an den Reisenden mit der Frage, ob er nicht etwas essen wolle. Dunjas Erscheinen hatte die gewohnte Wirkung. Der Zorn des Reisenden verflog; er war einverstanden, auf die Pferde zu warten, und bestellte sich ein Abendessen. Dann nahm er die feuchte Fellmütze ab, wickelte sich aus dem Schal, zog den Mantel aus, und zum Vorschein kam ein junger stattlicher Husar mit einem schwarzen Schnurrbärtchen. Er ließ sich bei dem Postmeister nieder und unterhielt sich fröhlich mit ihm und seiner Tochter. Das Abendessen wurde aufgetragen. Unterdessen waren Pferde eingetroffen, und der Postmeister befahl, sie sofort, ohne sie zu füttern, vor den Wagen des Reisenden zu spannen, doch als er zurückkam, lag der junge Mann fast ohnmächtig auf der 98
Bank, ihm war schlecht geworden, er hatte Kopfschmerzen, an eine Weiterfahrt war nicht zu denken … Was tun? Der Postmeister trat ihm sein Bett ab, und man beschloß, falls sich das Befinden des Kranken nicht bessern sollte, am nächsten Morgen nach dem Arzt in S. zu schicken. Am nächsten Tag ging es dem Husaren schlechter. Sein Diener ritt in die Stadt, um den Arzt zu holen. Dunja legte ihm ein mit Essig angefeuchtetes Tuch auf die Stirn und setzte sich mit ihrer Näharbeit neben sein Bett. In Gegenwart des Postmeisters stöhnte der Kranke und brachte kaum ein Wort heraus, doch trank er zwei Tassen Kaffee und bestellte stöhnend ein Mittagessen. Dunja wich nicht von seiner Seite. Alle Augenblicke wollte er trinken, und Dunja brachte ihm einen Becher mit Limonade, die sie selbst zubereitet hatte. Der Kranke netzte seine Lippen, und jedesmal, wenn er den Becher zurückgab, drückte er voller Dankbarkeit mit seiner schwachen Hand die Hand Dunjas. Gegen Mittag kam der Arzt. Er fühlte dem Kranken den Puls, unterhielt sich mit ihm in deutscher Sprache und erklärte auf russisch, daß der Kranke nur Ruhe brauche und in ungefähr zwei Tagen Weiterreisen könne. Der Husar gab ihm fünfundzwanzig Rubel für den Besuch und lud ihn zum Mittagessen ein; der Arzt war einverstanden, beide aßen mit großem Appetit, tranken eine Flasche Wein, und beim Abschied war jeder mit dem anderen sehr zufrieden. Ein weiterer Tag verging, und der Husar war wieder vollkommen gesund. Er war außerordentlich fröhlich und scherzte ohne Pause abwechselnd mit Dunja und dem Postmeister, pfiff Lieder vor sich hin, unterhielt sich mit den Durchreisenden, schrieb ihre Order in das Postbuch ein und gefiel dem braven Postmeister so sehr, daß dieser am dritten Morgen die Trennung von seinem freundlichen Gast bedauerte. Es war ein Sonntag, und Dunja wollte zum Hochamt gehen. Der Wagen des Husaren fuhr vor. Er verabschiedete sich von dem Postmeister und belohnte ihn reichlich für die Unterkunft und die Bewirtung, er verabschiedete sich auch von Dunja und erbot sich, sie bis zur Kirche mitzunehmen, die sich am Dorfrand befand. Dunja wußte nicht, 99
was sie tun sollte … „Wovor fürchtest du dich?“ sagte der Vater zu ihr. „Seine Hochwohlgeboren ist doch kein Wolf und frißt dich nicht – fahr nur bis zur Kirche mit.“ Dunja setzte sich neben den Husaren in den Wagen, der Diener sprang auf den Bock, der Kutscher pfiff, und die Pferde jagten davon. Der arme Postmeister begriff nicht, wie er selbst seiner Dunja die Erlaubnis geben konnte, mit dem Husaren zu fahren, warum er so verblendet gewesen war und wo er damals seinen Verstand gelassen hatte. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als sich ihm das Herz zusammenzog, die Unruhe ergriff ihn in einem solchen Maße, daß er es nicht aushielt und selbst zum Hochamt ging. Als er sich der Kirche näherte, sah er, daß die Menschen schon auseinandergingen, doch Dunja war weder hinter der Umfriedung noch auf dem Kirchenvorplatz. Eilig ging er in die Kirche, der Geistliche trat gerade aus dem Altarraum heraus, der Kirchendiener löschte die Kerzen aus, und in einer Ecke beteten noch zwei alte Frauen, doch Dunja war nicht in der Kirche. Der arme Vater konnte sich kaum zu der Frage an den Kirchendiener entschließen, ob sie dem Gottesdienst beigewohnt habe. Der Kirchendiener antwortete, sie sei nicht dagewesen. Mehr tot als lebendig ging der Postmeister nach Hause. Eine einzige Hoffnung war ihm geblieben: Dunja konnte es mit der jungen Jahren eigenen Leichtfertigkeit in den Sinn gekommen sein, bis zur nächsten Poststation, wo ihre Patin wohnte, mitzufahren. Voll quälender Unruhe wartete er auf die Rückkehr der Troika, mit der er sie hatte fahren lassen. Der Kutscher wollte nicht kommen. Endlich kam er gegen Abend angefahren, allein, betrunken und mit der vernichtenden Nachricht: „Dunja ist von dieser Station aus mit dem Husaren weitergefahren.“ Der Alte ertrug sein Unglück nicht, auf der Stelle legte er sich in dasselbe Bett, in dem am Vorabend der junge Betrüger gelegen hatte. Jetzt, wo er alle Umstände überblickte, erriet der Postmeister, daß der Husar sich nur krank gestellt hatte. Der Arme bekam hohes Fieber; man brachte ihn nach S., und seine Stelle übernahm vorübergehend ein anderer. Derselbe Arzt, der den 100
Husaren besucht hatte, behandelte auch ihn. Er versicherte dem Postmeister, daß der junge Mann vollkommen gesund gewesen sei und daß er schon damals die böse Absicht vorausgeahnt, doch aus Angst vor seiner Nagaika geschwiegen habe. Ob der Deutsche nun die Wahrheit sprach oder nur mit seinem Scharfsinn prahlen wollte – den armen Kranken tröstete er damit in keiner Weise. Kaum war der Postmeister von seiner Krankheit einigermaßen genesen, erbat er sich vom Verwalter des Postkontors in S. einen zweimonatigen Urlaub und machte sich, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen, zu Fuß auf die Suche nach seiner Tochter. Aus der Anweisung wußte er, daß der Rittmeister Minskij von Smolensk nach Petersburg reiste. Der Kutscher, der ihn gefahren hatte, erzählte, daß Dunja den ganzen Weg geweint habe, obwohl sie, so schien es, auf eigenen Wunsch mitfuhr. Vielleicht gelingt es, dachte der Postmeister, und ich führe mein verirrtes Schäfchen heim. Mit diesem Gedanken gelangte er nach Petersburg, quartierte sich im Viertel des Ismailowskij-Garderegiments bei einem verabschiedeten Unteroffizier und alten Regimentskameraden ein und begann seine Nachforschungen. Bald erfuhr er, daß der Rittmeister Minskij in Petersburg sei und in der Demutow-Herberge wohne. Der Postmeister beschloß, zu ihm zu gehen. Früh am Morgen erschien er in seinem Vorzimmer und bat, Seiner Hochwohlgeboren zu melden, ein alter Soldat bitte darum, ihn zu sprechen. Der Bursche, der einen auf einen Leisten gespannten Stiefel putzte, erklärte, daß der Herr ruhe und vor elf Uhr niemanden empfange. Der Postmeister ging fort und kam zur festgesetzten Zeit wieder. Minskij selber, in Morgenrock und rotem Käppchen, kam ihm entgegen. „Nun, Bruder, was willst du?“ fragte er ihn. Das Herz des Alten begann plötzlich heftig zu schlagen, Tränen traten ihm in die Augen, und mit zitternder Stimme sagte er nur: „Euer Hochwohlgeboren! Erweisen Sie mir eine große Gnade! …“ Minskij warf schnell einen Blick auf ihn, wurde rot, ergriff seine Hand, führte ihn in sein Arbeitszimmer und riegelte hinter sich die Tür ab. „Euer Hochwohlgeboren!“ fuhr der Alte fort, „was von einer Fuhre herunterfällt, ist ver101
loren; geben Sie mir wenigstens meine arme Dunja zurück. Sie haben sich an ihr genug erfreut, richten Sie sie nicht unnötig zugrunde.“ – „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagte der junge Mann in äußerster Verwirrung. „Ich bekenne mich schuldig vor dir und bitte dich gern um Vergebung, doch denke nicht, daß ich Dunja verlassen kann – sie wird glücklich sein, ich gebe dir mein Ehrenwort. Wozu willst du sie haben? Sie liebt mich, sie ist ihr früheres Leben nicht mehr gewohnt. Weder du noch sie werden vergessen können, was geschehen ist.“ Dann steckte er ihm etwas in den Ärmelaufschlag, riegelte die Tür auf, und der Postmeister, der nicht wußte, wie ihm geschah, fand sich auf der Straße wieder. Lange stand er unbeweglich da, schließlich bemerkte er ein Bündelchen mit Papieren in seinem Ärmelaufschlag; er nahm es heraus und wickelte einige zerdrückte Fünf- und Zehnrubelscheine auseinander. Wieder quollen ihm Tränen aus den Augen – Tränen der Empörung! Er knüllte die Scheine zusammen, warf sie auf den Boden, trat mehrere Male mit dem Stiefelabsatz darauf und ging davon … Nach einigen Schritten blieb er stehen, dachte nach … und kehrte um – doch die Scheine waren nicht mehr da. Ein gut gekleideter junger Mann eilte, als er ihn sah, zu einer Droschke, nahm hastig darin Platz und rief: „Vorwärts!“ Der Postmeister lief ihm nicht hinterher. Er beschloß, nach Hause, auf seine Poststation, zu fahren, doch vorher wollte er wenigstens noch ein einziges Mal seine arme Dunja sehen. Mit diesem Ziel ging er nach etwa zwei Tagen wieder zu Minskij, jedoch der Bursche sagte ihm in rauhem Ton, daß der Herr niemanden empfange, schob ihn mit der Brust aus dem Vorzimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Lange stand der Postmeister davor – doch schließlich ging er. Am Abend desselben Tages ging er, nachdem er einen Bittgottesdienst in der Kirche „Aller Leidtragenden“ hatte abhalten lassen, die Litejnaja entlang. Plötzlich fuhr eine elegante Kutsche an ihm vorüber, und der Postmeister erkannte Minskij darin. Der Wagen hielt vor einem zweistöckigen Haus, direkt vor der Auffahrt, und der Husar lief die Vortreppe hinauf. Dem Postmeister 102
schoß ein glücklicher Gedanke durch den Kopf. Er kehrte um, und als er neben dem Kutscher stand, fragte er: „Wem gehört das Pferd, Bruder? Gehört es nicht Minskij?“ – „So ist es“, antwortete der Kutscher. „Warum willst du das wissen?“ – „Darum: Dein Herr hat mir befohlen, seiner Dunja ein Briefchen zu bringen, aber ich hab vergessen, wo seine Dunja wohnt.“ – „Hier wohnt sie, im ersten Stock. Mit deinem Brief bist du zu spät gekommen, Bruder; jetzt ist er schon selber bei ihr.“ – „Das macht nichts“, entgegnete der Postmeister mit einem unbeschreiblichen Gefühl im Herzen, „vielen Dank für den Hinweis, ich tue schon, was nötig ist.“ Und mit diesen Worten begab er sich die Treppe hinauf. Die Tür war verschlossen; er klingelte, und es vergingen einige Sekunden qualvollen Wartens. Der Schlüssel drehte sich laut, und man öffnete ihm. „Wohnt hier Awdotja Samsonowna?“ fragte er. „Ja“, antwortete das junge Dienstmädchen, „was willst du von ihr?“ Ohne zu antworten, trat der Postmeister in den Vorsaal. „Das geht nicht, das geht nicht!“ rief ihm das Dienstmädchen hinterher, „Awdotja Samsonowna hat Besuch.“ Doch der Postmeister ging weiter, ohne auf sie zu hören. Die beiden ersten Zimmer waren dunkel, doch das dritte war erleuchtet. Er ging bis an die offene Tür und blieb stehen. In dem herrlich eingerichteten Zimmer saß nachdenklich Minskij. Dunja, prächtig nach der Mode gekleidet, saß auf der Armlehne seines Sessels wie eine Reiterin in ihrem englischen Sattel. Sie blickte Minskij zärtlich an und wickelte seine schwarzen Locken um ihre glänzenden Finger. Der arme Postmeister! Niemals war ihm seine Tochter so schön vorgekommen; unwillkürlich bewunderte er sie. „Wer ist da?“ fragte sie, ohne aufzusehen. Er schwieg. Da sie keine Antwort erhielt, hob Dunja den Kopf – und fiel mit einem Schrei auf den Teppich. Der erschrockene Minskij stürzte zu ihr hin, um ihr aufzuhelfen, sah plötzlich in der Tür den alten Postmeister, wandte sich von Dunja ab und ging zitternd vor Wut auf ihn zu. „Was willst du?“ sagte er zu ihm und biß die Zähne aufeinander. „Was schleichst du mir überall wie ein Räuber nach? Willst du mich vielleicht umbringen? Hinaus!“ Und mit starker 103
Hand packte er den Alten beim Kragen und stieß ihn bis auf den Flur hinaus. Der Alte kehrte in seine Unterkunft zurück. Sein Freund riet ihm, Klage zu führen, doch der Postmeister überlegte, machte eine wegwerfende Handbewegung und beschloß, darauf zu verzichten. Nach zwei Tagen ging er von Petersburg zurück zu seiner Poststation und verrichtete wieder seinen Dienst. „Das dritte Jahr ist es nun schon“, schloß er, „daß ich ohne Dunja lebe und von ihr nichts höre und sehe. Ob sie noch lebt oder nicht, das weiß Gott allein. Möglich ist alles. Sie ist nicht die erste und auch nicht die letzte, die ein Windbeutel auf der Durchreise mit sich fortlockt, dann hält er sie aus, und danach läßt er sie fallen. In Petersburg gibt es viele von diesen jungen Närrinnen, heute in Samt und Seide, und morgen siehst du sie zusammen mit den Bettlern aus den Spelunken die Straße kehren. Wenn ich manchmal daran denke, daß auch Dunja so zugrunde geht, dann kommen einem unwillkürlich sündhafte Gedanken, und man wünscht, sie wäre tot …“ Das war die Geschichte meines Bekannten, des alten Postmeisters, eine Geschichte, die oft von Tränen unterbrochen wurde, die er wie der eifrige Terentitsch in Dmitrijews herrlicher Ballade malerisch mit seinem Rockschoß wegwischte. Zum Teil waren die Tränen von dem Punsch hervorgerufen worden, von dem er im Verlauf seiner Erzählung fünf Gläser trank, doch wie es auch sei, sie gingen mir sehr zu Herzen. Wir schieden voneinander, und lange konnte ich den alten Postmeister nicht vergessen, lange dachte ich an die arme Dunja zurück … Als ich vor kurzer Zeit durch die Ortschaft *** kam, erinnerte ich mich meines Bekannten; ich erfuhr, daß die Poststation, der er vorstand, schon nicht mehr existierte. Auf meine Frage: „Lebt der alte Postmeister noch?“ konnte mir niemand eine befriedigende Antwort geben. Ich entschloß mich, die bekannte Gegend zu besuchen, mietete Pferde und machte mich auf den Weg ins Dorf N. Das geschah im Herbst. Graue Wolken bedeckten den Himmel, ein kalter Wind wehte von den kahlen Feldern und riß die 104
toten und gelben Blätter von den Bäumen, die sich ihm entgegenstellten. Ich traf im Dorf bei Sonnenuntergang ein und machte am Posthäuschen halt. In die Diele (in der mich einst die arme Dunja geküßt hatte) kam ein dickes Weib und gab auf meine Fragen zur Antwort, daß der alte Postmeister schon seit einem Jahr tot sei, daß sich in seinem Hause ein Bierbrauer niedergelassen habe und sie die Frau des Bierbrauers sei. Mir tat es um meine ergebnislose Fahrt leid und um die sieben Rubel, die ich umsonst ausgegeben hatte. „Woran ist er denn gestorben?“ fragte ich die Frau des Bierbrauers. „Er hat sich dem Trunk ergeben, Väterchen“, antwortete sie. „Und wo hat man ihn begraben?“ – „Hinter dem Dorf, neben seiner verstorbenen Frau.“ – „Könnte mich jemand zu seinem Grab führen?“ – „Warum denn nicht. He, Wanka! Du hast genug mit der Katze gespielt. Führ mal den Herrn zum Friedhof, und zeig ihm das Grab vom Postmeister.“ Bei diesen Worten lief ein Junge in abgerissener Kleidung, rothaarig und scheeläugig, zu mir hinaus und führte mich sofort hinter das Dorf. „Hast du den Verstorbenen gekannt?“ fragte ich ihn unterwegs. „Und ob! Er hat mir gezeigt, wie man eine Hirtenflöte zurechtschneidet. Wenn er (der Himmel sei ihm gnädig!) aus der Schenke kam, sind wir immer hinter ihm hergelaufen und haben gerufen: ‚Großväterchen, Großväterchen! Gib uns Nüsse!‘ – und er hat uns Nüsse geschenkt. Er ist immer mit uns zusammen gewesen.“ „Und die Durchreisenden, erinnern die sich an ihn?“ Jetzt gibt’s nur wenig Durchreisende; höchstens kommt mal ein Beisitzer zu uns, aber der will mit Toten nichts zu tun haben. Aber im Sommer ist eine Dame hier durchgereist, die hat nach dem alten Postmeister gefragt und ist zu seinem Grab gegangen.“ „Was für eine Dame?“ fragte ich voller Neugier. „Eine wunderschöne Dame“, antwortete der Junge, „sie ist in einer großen sechsspännigen Kutsche gefahren, drei kleine junge Herren, eine Amme und einen schwarzen Mops hat sie gehabt; und als man ihr gesagt hat, daß der alte Postmeister gestorben sei, da hat sie angefangen zu weinen, und zu den Kindern hat sie 105
gesagt: ‚Seid schön brav, ich gehe zum Friedhof.‘ Ich hatte mich angeboten, sie dorthin zu führen. Aber die Dame sagte: ‚Ich kenne selbst den Weg.‘ Und hat mir ein silbernes Fünfkopekenstück gegeben – so eine gute Dame!“ Wir kamen auf den Friedhof, einen kahlen Platz ohne jegliche Umzäunung und von Holzkreuzen übersät, die nicht ein einziger Baum beschattete. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so einen traurigen Friedhof gesehen. „Hier ist das Grab von dem alten Postmeister“, sagte der Junge zu mir und sprang auf einen Erdhügel, in den ein schwarzes Kreuz mit einem kupfernen Heiligenbild eingegraben war. „Und hierher ist die Dame gekommen?“ fragte ich. „Ja“, antwortete Wanka. „Ich habe sie von weitem beobachtet. Sie lag hier und ist lange nicht aufgestanden. Und dann ist die Dame ins Dorf gegangen, ließ sich den Popen kommen, gab ihm Geld und fuhr fort, aber mir hat sie ein silbernes Fünfkopekenstück gegeben – so eine feine Dame!“ Auch ich gab dem Jungen ein Fünfkopekenstück und bedauerte weder die Fahrt hierher noch die sieben Rubel, die ich ausgegeben hatte.
Das Adelsfräulein als Bäuerin
In allen Kleidern bist du, Duschenka, schön. Bogdanowitsch
In einem unserer abgelegenen Gouvernements befand sich das Gut Iwan Petrowitsch Berestows. In seiner Jugend hatte er in der Garde gedient, zu Beginn des Jahres 1797 seinen Abschied genommen, dann war er auf sein Gut gefahren und hatte es seitdem nicht mehr verlassen. Er war mit einer armen Adligen verheiratet, die bei der Niederkunft starb, während er auf der Jagd W. Die Beschäftigung mit der Wirtschaft tröstete ihn bald. Er baute sich ein Haus nach eigenem Plan, richtete eine Tuchfabrik ein, sicherte sich ein gutes Einkommen und hielt sich für den klügsten Menschen der Umgebung, worin ihm die Gäste, die mit ihren Jamilien und Hunden zu Besuch kamen, auch nicht widersprachen. Wochentags trug er eine baumwollene Samtjacke, zu Feiertagen zog er einen Rock aus selbstgefertigtem Tuch an; er führte selbst Buch und las nichts außer den „Senatsnachrichten“. Im allgemeinen wurde er geschätzt, wenn man ihn auch für stolz hielt. Nur Grigorij Iwanowitsch Muromskij, sein nächster Nachbar, kam mit ihm nicht aus. Das war ein echter russischer Gutsherr. In Moskau hatte er den größten Teil seiner Güter durchgebracht. und da er zu derselben Zeit Witwer wurde, war er auf sein letzte Dorf gefahren, wo er seine Streiche weiter verübte, wenn auch auf neue Weise. Er legte einen englischen Garten an und verbrauchte zu seiner Pflege fast alle übrigen Einkünfte. Die Pferdeknechte gingen als englische Jockeis gekleidet. Seine Tochter hatte eine englische Gouvernante. Seine Felder bestellte er nach englischer Methode: Doch auf fremde Art gedeiht kein russisches Getreide, 107
und trotz bedeutender Verringerung der Ausgaben stiegen die Einkünfte Grigorij Iwanowitschs nicht; denn er fand auch auf dem Dorf einen Weg, neue Schulden zu machen; und bei all dem galt er als ein Mensch, der nicht dumm ist, da er als erster Gutsbesitzer seines Gouvernements auf den Gedanken kam, sein Gut beim Vormundschaftsrat zu verpfänden – ein für die damalige Zeit außerordentlich kompliziertes und kühnes Unternehmen. Von allen, die ihn verurteilten, äußerte sich am schärfsten über ihn Berestow. Haß gegen Neuerungen war eine hervorstechende Eigenschaft seines Charakters. Er konnte nicht gleichgültig von der Anglomanie seines Nachbarn sprechen, alle Augenblicke fand er Gelegenheit, ihn zu kritisieren. Wenn er einem Gast seine Besitzungen zeigte, so pflegte er als Antwort auf das Lob für seine wirtschaftlichen Anordnungen mit einem schlauen Lächeln zu sagen: „Ja, Herr! Bei mir ist es anders als bei meinem Nachbarn Grigorij Iwanowitsch. Wir werden uns nicht auf englisch ruinieren! Wenn wir nur nach russischer Art satt werden.“ Diese und ähnliche Scherze wurden Grigorij Iwanowitsch dank den Bemühungen der Nachbarn mit Ergänzungen und Erklärungen hinterbracht. Der Anglomane vertrug Kritik ebensowenig wie unsere Journalisten. Er schäumte vor Wut und nannte seinen Zoilos einen Bären und Provinzler. So stand es um die Beziehungen zwischen diesen beiden Gutsbesitzern, als der Sohn Berestows zu seinem Vater auf das Dorf gefahren kam. Er war an der Universität zu *** erzogen worden und hatte vor, die militärische Laufbahn einzuschlagen, doch der Vater war damit nicht einverstanden. Für den Zivildienst fühlte sich der junge Mann überhaupt nicht geschaffen. Keiner gab dem anderen nach, und der junge Alexej führte einstweilen das Leben eines Herrn und ließ sich für alle Fälle einen Schnurrbart wachsen. Alexej war in der Tat ein Prachtbursche. Es wäre wirklich schade gewesen, wenn nie eine Militäruniform seine schlanke Figur umschlossen, wenn er, statt sich hoch zu Pferde bewundern zu lassen, seine Jugend über Kanzleipapiere gebeugt verbracht hätte. Die Nachbarn, die ihn auf der Jagd sahen, wie er, ohne auf den Weg zu achten, allen voran galoppierte, meinten ein108
stimmig, daß aus ihm niemals ein vernünftiger Abteilungsvorsteher werden würde. Die Fräulein guckten nach ihm, und manche verguckten sich auch in ihn, doch Alexej gab sich wenig mit ihnen ab, und sie vermuteten, daß der Grund für seine Unempfindlichkeit ein Liebesverhältnis sei. In der Tat ging eine Abschrift mit der Adresse eines seiner Briefe von Hand zu Hand: An Akulina Petrowna Kurotschkina, in Moskau, gegenüber dem Alexejewskij-Kloster, im Haus des Kupferschmiedes Saweljew, ich bitte Sie ergebenst, diesen Brief A. N. R. zu überbringen. Diejenigen meiner Leser, die nicht auf dem Dorf gelebt haben, machen sich keine Vorstellung, wie reizvoll diese Fräulein auf dem Lande sind! In frischer Luft, im Schatten ihrer Apfelbäume erzogen, schöpfen sie ihr Wissen über Welt und Leben aus Büchern. Einsamkeit, Freiheit und Lektüre entwickeln bei ihnen frühzeitig Gefühle und Leidenschaften, die unseren Zerstreuung gewohnten Schönheiten unbekannt sind. Für so ein Fräulein ist der Ton eines Glöckchens schon ein Abenteuer, eine Fahrt in die nächste Stadt gilt als Ereignis im Leben, und der Besuch eines Geistes hinterläßt eine lange, manchmal auch ewig währende Erinnerung. Natürlich steht es jedem frei, über manche ihrer Eigenheiten zu lachen, doch die Späße eines oberflächlichen Beobachters können ihre wesentlichen Vorzüge nicht zunichte machen, von denen der bedeutendste die Besonderheit des Charakters, die Originalität (individualité) ist, ohne die es, nach Meinung Jean Pauls, keine menschliche Größe gibt. In den Hauptstädten erhalten die Frauen vielleicht eine bessere Bildung, doch die Lebensweise der vornehmen Gesellschaft nimmt den Charakteren ihre Besonderheit und läßt sie so einförmig werden wie den Kopfputz. Dies sei nicht als Urteil gesagt und auch nicht als eine Verurteilung, allein nota nostra manet, wie ein alter Kommentator schreibt. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Eindruck Alexej unter unseren Fräulein hervorrufen mußte. Er war der erste, der vor ihnen mit düsterer und enttäuschter Miene erschien, als erster sprach er zu ihnen von verlorenen Freuden und seiner entschwundenen Jugend; zudem trug er noch einen schwarzen Ring, auf 109
dem ein Totenkopf abgebildet war. All das war außerordentlich neu in diesem Gouvernement. Die Fräulein verloren bei seinem Anblick den Verstand. Doch mehr als alle anderen beschäftigte sich Lisa (oder Betsy, wie sie gewöhnlich Grigorij Iwanowitsch nannte), die Tochter meines Anglomanen, mit ihm. Die Väter verkehrten nicht miteinander, sie hatte Alexej noch nicht gesehen, während doch alle jungen Nachbarinnen nur von ihm sprachen. Sie war siebzehn Jahre alt. Ihrem gebräunten und sehr angenehmen Gesicht verliehen ein Paar schwarze Augen Lebhaftigkeit. Sie war das einzige Kind und infolgedessen verwöhnt. Ihr Übermut und die Streiche, die sie alle Augenblicke verübte, entzückten ihren Vater und ließen ihre Gouvernante, Miss Jackson, verzweifeln, ein vierzigjähriges, steifes Fräulein, das sich weiß schminkte und die Brauen färbte, zweimal im Jahr die „Pamela“ las, dafür zweitausend Rubel bekam und vor Langeweile in diesem barbarischen Rußland umkam. Lisas Zofe hieß Nastja; sie war älter als sie, doch genauso leichtfertig wie ihre Herrin. Lisa hatte sie sehr gern, teilte ihr all ihre Geheimnisse mit und heckte mit ihr zusammen die Streiche aus; kurz, Nastja war im Dorf Prilutschino eine viel bedeutendere Person als irgendeine Vertraute in einer französischen Tragödie. „Gestatten Sie mir, daß ich heute zu Besuch gehe“, sagte Nastja eines Tages, als sie ihrer Herrin beim Ankleiden half. „Gut; doch wohin?“ „Nach Tugilowo, zu den Berestows. Die Frau vom Koch hat Namenstag, sie ist gestern gekommen und hat uns zum Mittagessen eingeladen.“ „Sieh einmal an!“ sagte Lisa. „Die Herrschaften sind verfeindet, aber die Dienerschaft bewirtet sich gegenseitig.“ „Was gehen uns die Herrschaften an!“ widersprach Nastja. „Außerdem gehöre ich Ihnen und nicht dem Papa. Sie haben sich doch noch nicht mit dem jungen Berestow gestritten; sollen sich die Alten ruhig zanken, wenn es ihnen Spaß macht.“ „Sieh zu, Nastja, daß du Alexej Berestow zu sehen bekommst, 110
und erzähl mir dann genau, wie er aussieht und was er für ein Mensch ist.“ Nastja versprach es, und Lisa wartete den ganzen Tag voller Ungeduld auf ihre Rückkehr. Am Abend erschien Nastja. „Also, Lisaweta Grigorjewna“, sagte sie, als sie in das Zimmer trat, „ich hab den jungen Berestow gesehen; mehr als genug hab ich ihn gesehen, den ganzen Tag waren wir zusammen.“ „Wie ist das möglich? Erzähle, erzähle der Reihe nach.“ „Bitte schön: Wir gingen, das heißt ich, Anisja Jegorowna, Nenila, Dunka …“ „Gut, ich weiß Bescheid. Und dann?“ „Erlauben Sie, ich erzähle alles der Reihe nach. Gerade zum Mittagessen sind wir gekommen. Das Zimmer war voller Leute. Die aus Kolbino waren da, die aus Sacharjewo, die Verwaltersfrau mit ihren Töchtern, die aus Chlupino …“ „Schön! Und Berestow?“ „Warten Sie. Wir haben uns an den Tisch gesetzt, an erster Stelle die Verwaltersfrau, ich neben ihr … und die Töchter haben sich aufgeblasen, aber ich pfeif auf sie …“ „Ach, Nastja, du langweilst mich mit deinen ewigen Einzelheiten!“ „Wie können Sie nur so ungeduldig sein! Nun, wir sind vom Tisch aufgestanden – gegessen hatten wir drei Stunden, das Essen war wunderbar gewesen; einen Kuchen hat es gegeben, Blancmanger, blau, rot und gestreift … Wir sind also vom Tisch aufgestanden und in den Garten gegangen, um Haschen zu spielen, und da ist auch sofort der junge Herr gekommen.“ „Nun und? Stimmt es, daß er so hübsch ist?“ „Erstaunlich hübsch, ein schöner Mann, das kann man sagen. Schlank, groß, blutrote Wangen …“ „Wirklich? Und ich habe mir gedacht, daß er im Gesicht blaß ist. Nun und? Wie ist er dir vorgekommen? Traurig, in Gedanken versunken?“ „Was fällt Ihnen ein? So einen tollen Menschen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Er wollte mit uns Haschen spielen.“ 111
„Mit euch Haschen spielen! Ausgeschlossen!“ „Gar nicht ausgeschlossen! Und auf was er noch gekommen ist! Sowie er sich eine fängt, küßt er sie ab!“ „Wie du willst, Nastja, aber du lügst.“ „Wie Sie wollen, aber ich lüge nicht. Mit Müh und Not bin ich ihn losgeworden. Den ganzen Tag hat er so mit uns zugebracht.“ „Aber man sagt doch, er ist verliebt und sieht kein Mädchen an?“ „Ich weiß es nicht, mich hat er aber recht oft angesehen, und auch die Tanja, die Tochter vom Verwalter; und auch die Pascha aus Kolbino, überhaupt, es ist eine Sünde, so etwas zu sagen, aber er hat keine benachteiligt, so ein mutwilliger Herr!“ „Das ist erstaunlich! Und was hört man im Hause über ihn?“ „Ein ausgezeichneter Herr, so wird erzählt: so gutherzig und fröhlich. Nur eines ist nicht gut – daß er den Mädchen so nachläuft. Aber ich meine, das ist noch kein Unglück: Mit der Zeit kommt er schon zur Vernunft.“ „Wie gerne möchte ich ihn sehen!“ sagte Lisa mit einem Seufzer. „Was ist denn schon Besonderes dabei? Tugilowo ist nicht weit von uns, alles in allem drei Werst: Gehen Sie in der Richtung spazieren oder reiten Sie dorthin, Sie werden ihn bestimmt treffen. Er geht ja jeden Tag frühmorgens mit der Flinte auf die Jagd.“ „Nein, nein, das ist nicht gut. Er denkt dann vielleicht, ich laufe ihm nach. Außerdem sind unsere Väter verfeindet, und da kann ich mich auch nicht mit ihm bekannt machen … Ach, Nastja! Weißt du was? Ich verkleide mich als Bäuerin!“ „Wahrhaftig, ziehen Sie ein dickes Hemd an und den Sarafan, und gehen Sie ruhig nach Tugilowo; ich bin überzeugt, daß Berestow sie nicht übersehen wird.“ „Und den hiesigen Dialekt kann ich ausgezeichnet sprechen. Ach, Nastja, liebste Nastja! Was für ein herrlicher Gedanke!“ Und Lisa legte sich mit dem Vorsatz schlafen, unbedingt ihre lustige Absicht auszuführen. 112
Am nächsten Tag machte sie sich an die Verwirklichung ihres Planes, sie ließ vom Markt dickes Leinen, blauen Nankingstoff Kupferknöpfe holen, mit Nastjas Hilfe schnitt sie sich ein Hemd und einen Sarafan zu, setzte die ganze Mädchenkammer die Näharbeit, und gegen Abend war alles fertig. Lisa probierte ihr neues Kleid an und mußte sich vor dem Spiegel eingestehen, daß sie sich noch nie so schön gefunden hatte. Sie wiederholte ihre Rolle, verbeugte sich tief im Gehen und wackelte dann einige Male mit dem Kopf, ähnlich wie die tönernen Kater, sprach wie eine Bäuerin, bedeckte ihr Gesicht mit dem Ärmel, wenn sie lachte, und fand die volle Zustimmung Nastjas. Nur eines machte ihr Schwierigkeiten: Sie hatte versucht, barfuß auf dem Hof umherzugehen, doch der Rasen zerstach ihr die zarten Füße, und der Sand und die Steinchen schienen ihr unerträglich. Nastja half ihr auch in diesem Fall: Sie nahm Maß von Lisas Fuß, lief auf das Feld zum Hirten Trofim und bestellte bei ihm nach diesem Maß ein Paar Bastschuhe. Am nächsten Tag wachte Lisa schon vor Sonnenaufgang auf. Alles im Hause schlief noch. Vor dem Tor wartete Nastja auf den Hirten. Das Hirtenhorn erschallte, und die Herde zog am Herrenhaus vorbei. Als Trofim an Nastja vorüberging, überreichte er ihr ein Paar kleine bunte Bastschuhe und erhielt dafür einen halben Rubel als Belohnung. Leise zog Lisa ihre Bauerntracht an, gab Nastja flüsternd Anweisungen wegen Miss Jackson, ging zum hinteren Ausgang und lief durch den Garten hinaus aufs Feld. Im Osten rötete sich der Himmel, die goldenen Wolkenreihen schienen auf die Sonne zu warten wie Höflinge auf den Herrscher; der klare Himmel, die morgendliche Frische, der Tau, ein leichter Wind und das Singen der Vögel erfüllten Lisas Herz mit kindlicher Heiterkeit; da sie fürchtete, jemand Bekanntes zu treffen, schien es, als ob sie nicht lief, sondern flöge. Als Lisa sich dem Wäldchen an der Grenze der väterlichen Besitzungen näherte, ging sie langsamer. Hier mußte sie auf Alexej warten. Ihr Herz schlug heftig, sie wußte selbst nicht, warum, doch die Furcht, die unsere Jugendstreiche begleitet, macht auch deren Hauptreiz aus Lisa trat in das Halbdunkel des Wäldchens. Sein dumpfes, 113
sich immer weiter fortpflanzendes Rauschen empfing das Mädchen. Ihre Heiterkeit legte sich. Allmählich gab sie sich einer süßen Verträumtheit hin. Sie dachte – doch kann man überhaupt mit Genauigkeit sagen, woran ein siebzehnjähriges Fräulein, allein, in einem Wäldchen, an einem Frühlingsmorgen gegen sechs Uhr denkt? Sie ging also in Gedanken versunken einen Weg entlang, der zu beiden Seiten von hohen Bäumen beschattet wurde, als sie plötzlich ein herrlicher Jagdhund anbellte. Lisa erschrak und schrie auf. Zur gleichen Zeit hörte man eine Stimme: „Tout beau, Sbogar, ici …“, und ein junger Jäger trat aus dem Gebüsch. „Hab keine Angst, Mädchen“, sagte er zu Lisa, „mein Hund beißt nicht.“ Lisa hatte sich schon von ihrem Schreck erholt und verstand es sofort, die Gelegenheit wahrzunehmen. „Nein, nein, Herr“, sagte sie und tat halb erschrocken und halb verschüchtert, „ich hab Angst, er ist so wild, er geht wieder auf mich los.“ Alexej (der Leser hat ihn schon erkannt) betrachtete unterdessen genau die junge Bäuerin. „Ich werde dich begleiten, wenn du Angst hast“, sagte er zu ihr. „Erlaubst du, daß ich neben dir gehe?“ – „Wer hindert dich denn daran?“ antwortete Lisa. „Der Freie kann überall gehen, und der Weg gehört der Gemeinde.“ – „Woher bist du?“ – „Aus Prilutschino; ich bin die Tochter von Wassilij dem Schmied, ich gehe Pilze suchen.“ (Lisa trug ein Körbchen an einer Schnur.) „Und du, Herr? Bist aus Tugilowo, nicht?“ – „So ist es“, antwortete Alexej, „ich bin der Kammerdiener vom jungen Herrn.“ Alexej wollte den Abstand zwischen ihnen verringern. Doch Lisa sah ihn an und lachte. „Da lügst du aber“, sagte sie. „Du bist an keine dumme Gans geraten. Ich seh doch, daß du selbst der Herr bist.“ – „Warum denkst du das?“ – „An allem seh ich’s.“ – „Aber wieso?“ – „Wie könnte man den Diener nicht vom Herrn unterscheiden? Du bist anders angezogen und redest anders und rufst auch den Hund anders als wir.“ Lisa gefiel Alexej von Minute zu Minute besser. Da er gewohnt war, mit hübschen Bauernmädchen nicht viel Umstände zu machen, wollte er sie umarmen; doch Lisa sprang zur Seite und hatte plötzlich einen derartig strengen und kühlen Gesichtsausdruck angenommen, daß Alexej, obwohl er darüber lachen mußte, weitere An114
schläge unterließ. „Wenn Sie wollen, daß wir auch in Zukunft Freunde bleiben“, sagte sie mit großem Ernst, „so haben Sie die Güte, sich nicht zu vergessen.“ – „Wer hat dir diese Weisheiten beigebracht?“ fragte Alexej unter Lachen. „Etwa Nastenka, meine Bekannte, das Mädchen von eurer Herrin? Auf solchen Wegen verbreitet sich also die Aufklärung!“ Lisa fühlte, daß sie im Begriff war, aus ihrer Rolle zu fallen, und machte sofort ihren Fehler wett. „Was denkst du denn?“ sagte sie. „Glaubst du, ich bin noch nie auf dem Herrenhof gewesen? Keine Angst: Ich habe schon viel gehört und gesehen. Doch“, fuhr sie fort, „wenn ich hier mit dir schwatze, finde ich keine Pilze. Geh du, Herr, nach deiner Seite, und ich geh nach der anderen. Bitte um Vergebung …“ Lisa wollte sich entfernen, doch Alexej hielt sie bei der Hand fest. „Wie heißt du, meine Liebe?“ – „Akulina“, antwortete Lisa und suchte ihre Finger aus Alexejs Hand zu befreien. „So laß mich doch los, Herr, ich muß auch nach Hause.“ – „Nun, meine liebe Akulina, ich werde unbedingt deinen Vater, Wassilij den Schmied, besuchen.“ – „Was fällt dir ein?“ widersprach Lisa lebhaft. „Um Christi willen, komm nicht. Wenn man zu Hause erfährt, daß ich mit dem Herrn allein im Wäldchen geschwatzt habe, dann geht’s mir schlecht; mein Vater, Wassilij der Schmied, prügelt mich zu Tode.“ – „Aber ich will dich unbedingt wieder sehen.“ – „Nun, irgendwann einmal werde ich wieder hierher zum Pilzesuchen kommen.“ – „Wann denn?“ – „Meinetwegen morgen.“ – „Liebste Akulina, ich würde dich gerne küssen, aber ich trau mich nicht. Also morgen, zur selben Zeit, nicht wahr?“ – „Ja, ja.“ – „Und du betrügst mich nicht?“ – „Nein.“ – „Schwöre.“ – „Also beim heiligen Freitag, ich werde kommen.“ Die jungen Leute trennten sich. Lisa trat aus dem Wald, überquerte das Feld, stahl sich in den Garten und rannte, so schnell sie konnte, zur Farm, wo Nastja auf sie wartete. Dort zog sie sich um, antwortete zerstreut auf die Fragen ihrer ungeduldigen Vertrauten und erschien dann im Empfangszimmer. Der Tisch war gedeckt, das Frühstück fertig, und Miss Jackson, schon geschminkt und so geschnürt, daß sie an ein Weinglas erinnerte, schnitt dünne 115
Brotscheibchen zurecht. Der Vater lobte sie für ihren frühen Spaziergang. „Nichts ist gesünder“, sagte er, „als bei Sonnenaufgang aufzustehen.“ Bei dieser Gelegenheit führte er aus englischen Journalen einige Beispiele menschlicher Langlebigkeit an und bemerkte, daß alle Menschen, die älter als hundert Jahre geworden sind, niemals Schnaps getrunken hätten und sommers und winters immer bei Sonnenaufgang aufgestanden seien. Lisa hörte nicht zu. In Gedanken wiederholte sie alle Umstände des morgendlichen Treffens, das ganze Gespräch der Akulina mit dem jungen Jäger, und sie machte sich Gewissensbisse. Ganz umsonst war es, daß sie sich selbst gegenüber einwandte, das Gespräch habe nicht die Grenzen des Anstandes verletzt, dieser Scherz könne keinerlei Folgen haben – ihr Gewissen wollte sich nicht von ihrem Verstand belehren lassen. Das Versprechen für den morgigen Tag beunruhigte sie am meisten, sie hatte schon beschlossen, ihren feierlichen Schwur zu brechen. Wenn jedoch Alexej vergeblich auf sie warten würde, könnte er im Dorf die Tochter von Wassilij dem Schmied, die echte Akulina, ausfindig machen, ein dickes pockennarbiges Mädchen, und auf diese Weise ihren leichtsinnigen Streich erraten. Dieser Gedanke entsetzte Lisa, und sie beschloß, am anderen Morgen wieder als Akulina im Wäldchen zu erscheinen. Alexej seinerseits war entzückt, den ganzen Tag dachte er an seine neue Bekannte; nachts beschäftigte das Bild der dunkelhäutigen Schönen auch im Schlaf seine Phantasie. Kaum, daß die Morgenröte aufleuchtete, war er schon angezogen. Ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Flinte zu laden, ging er mit seinem treuen Sbogar auf die Felder hinaus und lief zum verabredeten Stelldichein. Ungefähr eine halbe Stunde verging in unerträglichem Warten; schließlich sah er einen blauen Sarafan zwischen den Sträuchern leuchten, und er lief seiner lieben Akulina entgegen. Sie lächelte über seine enthusiastische Dankbarkeit; doch Alexej bemerkte sofort Spuren von Niedergeschlagenheit und Unruhe in ihrem Gesicht. Er wollte den Grund dafür wissen. Lisa gestand ihm, daß ihr Verhalten ihr leichtsinnig vorkomme, daß sie es bereue, daß sie dieses Mal das gegebene Wort nicht habe brechen 116
wollen, doch daß dieses Wiedersehen bereits das letzte sein werde, und bat ihn, die Bekanntschaft, die zu nichts Gutem führen könne, abzubrechen. All das war natürlich in bäuerlicher Ausdrucksweise vorgebracht worden; die für ein einfaches Mädchen ungewöhnlichen Gedanken und Gefühle versetzten Alexej jedoch in Erstaunen. Er wandte seine ganze Beredsamkeit auf, um Akulina von ihrem Vorsatz abzubringen; er versicherte ihr die Unschuld seiner Wünsche, versprach, ihr niemals Grund zur Reue zu geben, sich in allem ihr unterzuordnen, und beschwor sie, ihm nicht seine einzige Freude zu nehmen: sich allein mit ihr zu treffen, und sei es auch nur jeden zweiten Tag oder auch nur zweimal in der Woche. Er sprach die Sprache echter Leidenschaft und war in dieser Minute wirklich verliebt. Lisa hörte ihn schweigend an. „Gib mir dein Wort“, sagte sie schließlich, „daß du mich niemals im Dorf suchen oder nach mir Erkundigungen einziehen wirst. Gib mir dein Wort, daß du nicht versuchst, mit mir zusammenzutreffen, außer wenn ich es selbst bestimme.“ Alexej wollte es ihr beim heiligen Freitag schwören, doch hielt sie ihn mit einem Lächeln zurück. „Ich brauche keinen Schwur“, sagte Lisa. „Dein Versprechen genügt mir.“ Danach unterhielten sie sich freundschaftlich und gingen im Wald spazieren, bis Lisa sagte, es sei Zeit. Sie trennten sich, und der zurückgebliebene Alexej vermochte nicht zu begreifen, wie es einem einfachen Bauernmädchen gelingen konnte, nach zwei Zusammenkünften eine wirkliche Macht über ihn zu erlangen. Seine Beziehungen zu Akulina hatten für ihn den Reiz der Neuheit, und obgleich ihm die Vorschriften des seltsamen Bauernmädchens beschwerlich schienen, kam ihm der Gedanke, sein Versprechen zu brechen, nicht einmal in den Sinn. In Wirklichkeit war Alexej nämlich, trotz des verhängnisvollen Ringes, des geheimen Briefwechsels und der düsteren Enttäuschungen, ein guter und leicht erregbarer Jüngling mit einem reinen Herzen, das fähig war, den Zauber der Unschuld zu empfinden. Wollte ich nur meinem Wunsche folgen, so müßte ich unbedingt und in allen Einzelheiten die Zusammenkünfte der jungen Leute beschreiben, ihre wachsende Zuneigung, ihr Vertrauen zu117
einander, ihre Interessen und Gespräche; ich weiß jedoch, daß der größte Teil der Leser dieses Vergnügen mit mir nicht teilen würde. Diese Einzelheiten würden überhaupt süßlich wirken, ich lasse sie also aus und sage nur kurz, daß nach kaum zwei Monaten unser Alexej schon bis über beide Ohren verliebt und Lisa nicht gleichgültiger, wenn auch schweigsamer war als er. Beide fühlten sich glücklich in der Gegenwart und dachten wenig an die Zukunft. Der Gedanke an eine unlösbare Bindung kam ihnen recht oft, doch sie sprachen nie darüber. Der Grund war klar: Alexej, wie sehr er auch an seiner lieben Akulina hing, war sich immer des Abstandes bewußt, der zwischen ihm und dem armen Bauernmädchen herrschte; und Lisa kannte den Haß, den beide Väter gegeneinander hegten, und wagte nicht auf eine Versöhnung zu hoffen. Außerdem wurde ihre Eigenliebe insgeheim von der dunklen, romantischen Hoffnung genährt, schließlich den Gutsherrn von Tugilowo zu Füßen der Tochter des Schmiedes von Prilutschino zu sehen. Plötzlich änderte ein wichtiges Ereignis beinah ihr Verhältnis. An einem klaren, kühlen Morgen (an denen unser russischer Herbst so reich ist) unternahm Iwan Petrowitsch Berestow einen Spazierritt und nahm für alle Fälle drei Paar Windhunde, einen Reitknecht und einige mit Klappern ausgerüstete Jungen vom Gesinde mit. Zur gleichen Zeit befahl Grigorij Iwanowitsch Muromskij, verführt von dem schönen Wetter, seine kurzschwänzige Stute zu satteln, und erging sich im Trab in der Nähe seiner anglisierten Besitzungen. Als er an den Wald heranritt, sah er seinen Nachbarn in einem kurzen, mit Fuchsfell gefütterten Rock stolz zu Pferde sitzen und auf den Hasen warten, den die Jungen mit Geschrei und ihren Klappern aus dem Gebüsch zu scheuchen suchten. Wenn Grigorij Iwanowitsch dieses Zusammentreffen vorausgeahnt hätte, wäre er natürlich zur Seite abgebogen; aber er stieß ganz unerwartet auf Berestow und befand sich plötzlich in der Entfernung eines Pistolenschusses von ihm. Da war nichts zu machen. Als gebildeter Europäer ritt Muromskij an seinen Gegner heran und begrüßte ihn höflich. Berestow er118
widerte die Begrüßung mit dem gleichen Eifer, mit dem ein Bär an der Kette sich auf Befehl des Bärenführers vor den Herrschaften verbeugt. In diesem Augenblick sprang der Hase aus dem Wald und lief über das Feld. Berestow und der Reitknecht fingen aus vollem Halse zu schreien an, ließen die Hunde los und setzten mit aller Kraft hinterher. Das Pferd Muromskijs, das noch nie auf einer Jagd gewesen war, scheute und galoppierte auf und davon. Muromskij, der überall verkündet hatte, daß er ein ausgezeichneter Reiter sei, ließ es laufen und war innerlich froh über diesen Vorfall, der ihn von dem unangenehmen Gesprächspartner befreite. Doch als das Pferd bis zu einer Schlucht galoppiert war, die es vorher nicht bemerkt hatte, brach es plötzlich aus, und Muromskij gelang es nicht, sich im Sattel zu halten. Er fiel recht hart auf den gefrorenen Boden, lag da und verfluchte seine kurzgeschwänzte Stute, die, als wäre sie zu sich gekommen, sofort stehengeblieben war, sowie sie den Reiter vermißte. Iwan Petrowitsch ritt zu ihm hin und erkundigte sich, ob er sich verletzt habe. Unterdessen führte der Reitknecht das Pferd, das an allem schuld war, am Zaum herbei. Er half Muromskij in den Sattel, und Berestow lud ihn zu sich ein. Muromskij konnte nicht ablehnen, da er sich verpflichtet fühlte, und auf diese Weise kehrte Berestow ruhmbedeckt heim, einen erjagten Hasen und seinen verletzten Gegner beinahe als Kriegsgefangenen mit sich führend. Beim Frühstück entspann sich ein recht freundschaftliches Gespräch zwischen den Nachbarn. Muromskij erbat sich von Berestow einen Wagen, da er – wie er gestand – wegen des Sturzes nicht in der Lage war, selbst nach Hause zu reiten. Berestow begleitete ihn bis unter das Vordach, und Muromskij fuhr erst fort, als er von ihm das Ehrenwort erhalten hatte, am nächsten Tag zusammen mit Alexej Iwanowitsch nach Prilutschino zu kommen, um zu speisen, wie es unter Freunden üblich ist. Auf diese Weise schien eine alte und tief eingewurzelte Feindschaft wegen einer scheuen kurzschwänzigen Stute enden zu wollen. Lisa kam Grigorij Iwanowitsch entgegengelaufen. „Was bedeutet das, Papa?“ fragte sie voller Verwunderung. „Warum hin119
ken Sie? Wo ist Ihr Pferd? Wessen Wagen ist das?“ – „Das errätst du nicht so leicht, my dear“, entgegnete Grigorij Iwanowitsch und erzählte alles, was vorgefallen war. Lisa traute kaum ihren Ohren. Ohne ihr Zeit zum Nachdenken zu geben, verkündete Grigorij Iwanowitsch, daß beide Berestows morgen zum Mittagessen kämen. „Was sagen Sie da!“ sagte sie und erbleichte. „Die Berestows, Vater und Sohn! Morgen zum Mittagessen! Nein, Papa, ganz wie Sie wünschen, aber ich werde mich auf keinen Fall zeigen.“ – „Was fällt dir ein, hast du den Verstand verloren?“ entgegnete der Vater. „Seit wann bist du so schüchtern, oder nährst du ihnen gegenüber einen erblichen Haß wie eine Romanheldin? Genug, hör mit den Dummheiten auf …“ – „Nein, Papa, um nichts in der Welt, für keinen Schatz werde ich mich den Berestows zeigen.“ Grigorij Iwanowitsch zuckte mit den Schultern und hörte auf, mit ihr zu streiten, da er wußte, daß durch Widerspruch bei ihr nichts zu erreichen war, und ging, um von seinem denkwürdigen Spazierritt auszuruhen. Lisaweta Grigorjewna ging in ihr Zimmer und rief Nastja zu sich. Beide besprachen sich lange wegen des morgigen Besuchs. Was wird Alexej denken, wenn er in dem wohlerzogenen Fräulein seine Akulina wiedererkennt? Was für eine Meinung wird er von ihrem Benehmen und ihrer Lebensart, von ihrem Verstand haben? Andererseits hätte Lisa gerne gesehen, was für einen Eindruck so eine unerwartete Begegnung auf ihn machen würde Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sofort teilte sie ihn Nastja mit; beide freuten sich darüber wie über einen Fund und beschlossen, ihre Idee unbedingt auszuführen. Am nächsten Tag fragte Grigorij Iwanowitsch während des Frühstücks seine Tochter, ob sie immer noch vorhabe, sich vor den Berestows zu verstecken. „Papa“, antwortete Lisa, „ich werde sie empfangen, wenn es Ihnen recht ist, doch nur unter einer Bedingung: Wie ich mich auch zeigen werde, was immer ich auch tue, Sie dürfen mich nicht ausschimpfen und keinerlei Zeichen des Erstaunens oder der Unzufriedenheit von sich geben.“ – „Wieder irgendwelche Streiche!“ sagte Grigorij Iwanowitsch lachend. „Nun, gut, gut, ich bin einverstanden, mach, was du willst, 120
mein schwarzäugiges Närrchen.“ Mit diesen Worten küßte er sie auf die Stirn, und Lisa lief, um sich fertigzumachen. Pünktlich um zwei Uhr fuhr eine sechsspännige Kutsche eigener Arbeit in den Hof und rollte bei dem dunkelgrünen Rasenplatz aus. Mit Hilfe zweier livrierter Lakaien Muromskijs ging der alte Berestow die Eingangstreppe hinauf. Nach ihm kam sein Sohn angeritten und betrat zusammen mit ihm den Speisesaal, wo der Tisch schon gedeckt war. Muromskij strömte vor Liebenswürdigkeit über, als er seine Gäste empfing, schlug ihnen vor, sich vor dem Essen Garten und Zwinger anzusehen, und führte sie die sorgfältig gefegten und mit Sand bestreuten Wege entlang. Der alte Berestow bedauerte innerlich, daß solch nutzlose Schrullen Arbeit und Zeit gekostet hatten, doch aus Höflichkeit schwieg er. Der junge Berestow teilte weder die Unzufriedenheit des sparsamen Gutsherrn noch die Begeisterung des selbstzufriedenen Anglomanen; voller Ungeduld wartete er auf das Erscheinen der Tochter des Hauses, von der er viel gehört hatte, und das, obwohl sein Herz, wie bekannt, schon nicht mehr frei war, doch eine junge Schöne hatte immer ein Recht auf seine Phantasie. Sie kehrten ins Empfangszimmer zurück und nahmen alle drei Platz: Die Alten erinnerten sich der früheren Tage und erzählten sich Anekdoten aus ihrer Dienstzeit, und Alexej dachte darüber nach, was für eine Rolle er in Lisas Gegenwart spielen sollte. Er kam zu dem Schluß, daß kühle Zerstreutheit am passendsten wäre, und bereitete sich dementsprechend vor. Die Tür öffnete sich, und er wandte den Kopf mit solch einer Gleichgültigkeit, mit solch einer stolzen Nachlässigkeit, daß das Herz der abgefeimtesten Kokette hätte erzittern müssen. Unglücklicherweise trat statt Lisa die alte geschnürte und geschminkte Miss Jackson mit gesenktem Blick und kleinem Knicks ein, und Alexejs schöne Kriegslist fiel ins Wasser. Er hatte seine Kräfte noch nicht von neuem gesammelt, als sich wieder die Tür öffnete und dieses Mal Lisa hereintrat. Alle erhoben sich; der Vater begann die Gäste vorzustellen, doch plötzlich hielt er ein und biß sich eilig auf die Lippen … Lisa, seine braune Lisa, war weiß geschminkt bis an die Ohren, stärker gefärbt als selbst Miss Jackson; falsche Lok121
ken, viel heller als ihr eigenes Haar, türmten sich wie die Perücke Ludwigs XIV. auf ihrem Kopf; ihre Ärmel à l’imbécile standen ab wie der Reifrock der Madame Pompadour; die Taille war so zusammengeschnürt, daß sie dem Buchstaben X ähnelte, und sämtliche Brillanten ihrer Mutter, die noch nicht im Pfandhaus waren, glänzten an den Fingern, am Hals und an den Ohren. Alexej konnte in diesem lächerlichen und blitzenden Fräulein seine Akulina nicht erkennen. Sein Vater küßte ihr die Hand, und voller Ärger folgte er seinem Beispiel; als er ihre weißen Finger berührte, schien es ihm, als ob sie leicht erbebten. Unterdessen hatte er ihr kokett beschuhtes Füßchen bemerkt, das sie mit Absicht zur Schau stellte. Dies söhnte ihn etwas mit ihrer übrigen Aufmachung aus. Was die weiße Schminke und die gefärbten Augenbrauen anbelangte, so hatte er, ehrlich gesagt, beim ersten Anblick in seiner Herzenseinfalt nichts von ihnen gemerkt, und auch später kam er nicht auf diesen Gedanken. Grigorij Iwanowitsch erinnerte sich seines Versprechens und war bestrebt, nicht einmal den Anschein von Verwunderung zu erwecken; allein der Unfug seiner Tochter kam ihm so spaßig vor, daß er sich nur mit Mühe beherrschen konnte. Gar nicht zum Lachen zumute war der steifen Engländerin. Sie erriet, daß die schwarze und weiße Schminke aus ihrer Kommode entwendet worden war, und eine tiefe Röte des Ärgers durchdrang ihre künstliche weiße Gesichtsfarbe. Sie schleuderte der jungen Übeltäterin flammende Blicke zu, doch diese tat, als bemerke sie sie nicht, und behielt sich alle Erklärungen für später vor. Man setzte sich an den Tisch. Alexej spielte die Rolle des Zerstreuten und Nachdenklichen weiter. Lisa zierte sich, sprach in singendem Tonfall durch die Zähne und nur französisch. Der Vater betrachtete sie alle Augenblicke, ohne ihre Absicht zu begreifen, doch hatte er an all dem seinen Spaß. Die Engländerin kochte vor Wut und schwieg. Nur Iwan Petrowitsch fühlte sich wie zu Hause: Er aß für zwei, trank sein übliches Maß, lachte über seine eigenen Scherze, und seine Unterhaltung und sein Lachen wurden von Stunde zu Stunde freundlicher. Schließlich erhob man sich von der Tafel; die Gäste fuhren da122
von, und Grigorij Iwanowitsch ließ seinem Lachen und seinen Fragen freien Lauf. „Warum wolltest du sie zum Narren halten?“ fragte er Lisa. „Doch weißt du was? Die weiße Schminke steht dir wirklich; ich kenne mich zwar in den Geheimnissen der Toilette einer Dame nicht aus, doch an deiner Stelle würde ich mich schminken, selbstverständlich nicht zu sehr, aber ein bißchen.“ Lisa war entzückt von dem Erfolg ihres Einfalls. Sie umarmte ihren Vater, versprach, über seinen Rat nachzudenken, und lief, um die aufgebrachte Miss Jackson zu besänftigen, die kaum dazu zu bewegen war, ihr die Tür aufzuschließen und die Rechtfertigungen anzuhören. Lisa sei es peinlich gewesen, vor dem Unbekannten so dunkelhäutig zu erscheinen; sie habe nicht gewagt zu bitten … Sie habe nicht daran gezweifelt, daß die gute, liebe Miss Jackson ihr verzeihen werde … und so weiter und so fort. Als Miss Jackson sich vergewissert hatte, daß Lisa sich nicht über sie lustig machen wollte, beruhigte sie sich, küßte Lisa und gab ihr als Friedensunterpfand eine kleine Dose mit englischer Schminke, die Lisa auch voll ehrlicher Dankbarkeit entgegennahm. Der Leser errät, daß Lisa am nächsten Tag in aller Frühe im verabredeten Wäldchen nicht auf sich warten ließ. „Warst du, Herr, gestern bei unseren Herrschaften?“ fragte sie sofort Alexej. „Wie gefiel dir unser Fräulein?“ Alexej antwortete, daß er sie nicht bemerkt habe. „Schade“, entgegnete Lisa. „Warum denn?“ fragte Alexej. „Darum, weil ich dich fragen wollte, ob es wahr ist, was man bei uns sagt …“ – „Was sagt man denn?“ – „Ist es wahr, man sagt, ich sehe dem Fräulein sehr ähnlich?“ – „Was für ein Unsinn! Im Vergleich zu dir ist sie häßlich wie die Nacht.“ – „Ach, Herr, du versündigst dich, unser Fräulein ist so weiß, so aufgeputzt! Wie kann ich mich mit ihr vergleichen!“ Alexej rief Gott zum Zeugen an, daß sie besser als sämtliche weißen Fräulein sei, und um sie gänzlich zu beruhigen, fing er an, ihre Herrin so komisch zu beschreiben, daß Lisa von ganzem Herzen lachte. „Trotzdem“, sagte sie mit einem Seufzer, „wenn auch das Fräulein vielleicht komisch ist, so bin ich doch im Vergleich zu ihr eine dumme Gans, die weder lesen noch schreiben kann.“ – „Du lieber Gott!“ sagte Alexej. „Worüber du dir den Kopf zerbrichst! 123
Wenn du willst, bringe ich dir jetzt gleich Lesen und Schreiben bei.“ – „Wahrhaftig“, sagte Lisa, „warum sollten wir es nicht tatsächlich probieren?“ – „Bitte schön, meine Liebe, von mir aus können wir gleich anfangen.“ Sie setzten sich. Alexej holte aus seiner Tasche Bleistift und Notizbuch, und Akulina lernte das Alphabet in erstaunlich kurzer Zeit. Alexej konnte sich nicht genug über ihre schnelle Auffassungsgabe wundern. Am nächsten Morgen wollte sie auch das Schreiben probieren; zuerst gehorchte ihr der Bleistift nicht, doch nach einigen Minuten konnte sie auch schon recht ordentliche Buchstaben malen. „Ein Wunder!“ sagte Alexej. „Bei uns geht ja der Unterricht schneller als nach dem Lancastersystem.“ In der Tat, beim drittenmal entzifferte Akulina schon silbenweise „Natalja, die Bojarentochter“, und unterbrach ihr Lesen mit Bemerkungen, die Alexej ehrlich verwunderten, und kritzelte ein ganzes Blatt voll mit Aphorismen, die sie dieser Erzählung entnahm. Eine Woche verging, und sie standen bereits im Schriftwechsel miteinander. Als Postamt war ein alter hohler Eichenstamm eingerichtet worden. Nastja versah heimlich das Amt des Briefträgers. Dahin brachte Alexej seine mit großer Handschrift geschriebenen Briefe, und dort fand er auch auf einfachem blauem Papier das Gekritzel seiner Angebeteten vor. Akulina gewöhnte sich sichtlich an eine bessere Ausdrucksweise, und ihr Verstand entwickelte und bildete sich auffallend. Unterdessen hatte sich die kürzlich geschlossene Bekanntschaft zwischen Iwan Petrowitsch Berestow und Grigorij Iwanowitsch Muromskij immer weiter gefestigt und sich bald in eine Freundschaft verwandelt, und zwar durch folgende Umstände: Muromskij dachte nicht selten daran, daß nach Iwan Petrowitschs Tode der ganze Besitz auf Alexej Iwanowitsch übergehen, daß Alexej Iwanowitsch in diesem Fall einer der reichsten Gutsbesitzer des Gouvernements sein würde und daß es keinerlei Gründe gäbe, aus denen heraus er Lisa nicht heiraten sollte. Der alte Berestow seinerseits war sich zwar darüber im klaren, daß sein Nachbar von einer gewissen Tollheit besessen sei (oder, wie er es nannte, von der englischen Verrücktheit), jedoch gestand er ihm auch 124
viele ausgezeichnete Eigenschaften zu, zum Beispiel eine seltene Gewandtheit; Grigorij Iwanowitsch war ein naher Verwandter des Grafen Pronskij, eines angesehenen und einflußreichen Mannes; der Graf konnte Alexej sehr nützlich sein, und Muromskij (so dachte Iwan Petrowitsch) wird sich wahrscheinlich über die Gelegenheit freuen, seine Tochter so günstig verheiraten zu können. Die Alten hatten das bisher jeder für sich allein überlegt, schließlich sprachen sie darüber, umarmten sich, versprachen sich gegenseitig, die Sache gehörig voranzutreiben, und machten sich, jeder auf seine Weise, an die Ausführung. Muromskij stand eine schwere Aufgabe bevor: Er mußte seine Betsy dazu bewegen, möglichst schnell die nähere Bekanntschaft Alexejs zu machen, den sie nur von dem denkwürdigen Mittagessen her kannte. Wie es schien, hatten sie keinen allzu großen Gefallen aneinander gefunden; jedenfalls war Alexej nicht wieder nach Prilutschino gekommen, und Lisa ging jedesmal in ihr Zimmer, wenn Iwan Petrowitsch sie mit seinem Besuch beehrte. Aber, dachte Grigorij Iwanowitsch, wenn Alexej jeden Tag bei mir ist, dann wird sich Betsy schließlich in ihn verlieben. Das liegt in der Natur der Dinge. Die Zeit bringt alles in Ordnung. Iwan Petrowitsch machte sich weniger Sorgen über den Erfolg seiner Absichten. Noch am gleichen Abend ließ er den Sohn in sein Arbeitszimmer kommen, zündete sich die Pfeife an und sagte nach einer kleinen Pause: „Du hast in letzter Zeit, Aljoscha, gar nicht mehr vom Militärdienst gesprochen? Oder reizt dich die Husarenuniform nicht mehr!“ – „Nein, Vater“, antwortete Alexej ehrerbietig, „ich merke, daß es Ihnen nicht recht ist, wenn ich zu den Husaren gehe; meine Pflicht ist, Ihnen zu gehorchen.“ – „Gut“, anwortete Iwan Petrowitsch, „ich sehe, du bist ein gehorsamer Sohn; das freut mich; ich will dich auch nicht gegen deinen Willen zwingen, auf der Stelle in den Zivildienst zu treten, aber vorläufig habe ich vor, dich zu verheiraten.“ „Mit wem denn. Vater?“ fragte der erstaunte Alexej. „Mit Lisaweta Grigorjewna Muromskaja“, antwortete Iwan Petrowitsch. „Eine ausgezeichnete Braut, nicht wahr?“ „Vater, ich denke noch nicht ans Heiraten.“ 125
„Du denkst nicht daran, aber ich habe für dich gedacht und mehr als einmal.“ „Ganz wie Sie wünschen, aber Lisa Muromskaja gefällt mir überhaupt nicht.“ „Sie wird dir später schon gefallen. Wenn ihr nur miteinander auskommt, so werdet ihr euch auch lieben.“ „Ich fühle mich nicht in der Lage, sie glücklich zu machen.“ „Ihr Glück soll nicht deine Sache sein. Was? So achtest du den väterlichen Willen? Ausgezeichnet!“ „Wie Sie wünschen, aber ich will nicht heiraten, und ich werde nicht heiraten.“ „Du wirst heiraten, oder ich verfluche dich, und das Gut werde ich – so wahr Gott heilig ist – verkaufen und verschleudern, und dir werde ich keinen roten Heller übriglassen. Ich gebe dir drei Tage Bedenkzeit, doch vorläufig wage es nicht, mir unter die Augen zu treten.“ Alexej wußte, wenn sein Vater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde es kein Keil wieder heraustreiben, wie Taras Skotinin sagt; allein Alexej war nach dem Vater geraten, und ihn zu überzeugen war ebenso schwer. Er ging in sein Zimmer und begann über die Grenzen der väterlichen Macht nachzudenken, über Lisaweta Grigorjewna, über das feierliche Versprechen des Vaters, ihn zum Bettler zu machen, und schließlich über Akulina. Zum erstenmal wurde ihm klar, daß er leidenschaftlich in sie verliebt war; der romantische Gedanke, eine Bäuerin zu heiraten und von seiner Hände Arbeit zu leben, kam ihm in den Sinn, und je mehr er über diesen entscheidenden Schritt nachdachte, desto vernünftiger fand er ihn. Seit einiger Zeit hatten ihre Zusammenkünfte im Wäldchen wegen des Regenwetters aufgehört. Er schrieb mit deutlicher Schrift und in den verzweifeltesten Ausdrücken einen Brief an Akulina, in dem er sie von dem drohenden Verderben unterrichtete, und bat sie anschließend um ihre Hand. Sofort trug er den Brief zur Post, in den Eichenstamm, und legte sich danach, äußerst zufrieden mit sich, schlafen. Fest in seinem Entschluß, fuhr Alexej am nächsten Tag zu Muromskij, um offen mit ihm zu sprechen. Er hoffte, seine Groß126
mut zu wecken und ihn für sich zu gewinnen. „Ist Grigorij Iwanowitsch zu Hause?“ fragte er, als er sein Pferd vor der Auffahrt des Schlosses von Prilutschino zügelte. „Nein“, antwortete der Diener, „Grigorij Iwanowitsch beliebten heute früh auszufahren.“ – Wie ärgerlich! dachte Alexej. „Ist wenigstens Lisaweta Grigorjewna zu Hause?“ – „Jawohl.“ Und Alexej sprang vom Pferd, gab dem Lakaien die Zügel und trat unangemeldet ein. Jetzt wird sich alles entscheiden, dachte er, als er sich dem Empfangszimmer näherte. Ich werde mit ihr selbst sprechen. Er trat ein und – erstarrte! Lisa … nein, Akulina, die liebe braune Akulina, und nicht im Sarafan, sondern im weißen Morgenkleid, saß am Fenster und las seinen Brief; sie war so damit beschäftigt, daß sie nicht hörte, wie er eintrat. Alexej konnte einen freudigen Ausruf nicht unterdrücken. Lisa zuckte zusammen, hob den Kopf, schrie auf und wollte davonlaufen. Er stürzte zu ihr, um sie aufzuhalten. „Akulina, Akulina!“ Lisa versuchte, sich von ihm frei zu machen … „Mais laissez-moi donc, monsieur; mais êtes-vous fou?“ wiederholte sie und wandte sich von ihm ab. „Akulina! Liebste Akulina!“ wiederholte er immer wieder und küßte ihre Hände. Miss Jackson, die dieser Szene beiwohnte, wußte nicht, was sie denken sollte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und herein trat Grigorij Iwanowitsch. „Sieh da!“ sagte Muromskij. „Bei euch scheint ja schon alles in bester Ordnung zu sein …“ Die Leser werden mich von der überflüssigen Pflicht entbinden, den Ausgang zu beschreiben. Ende der Erzählungen J. P. Belkins
Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino
Falls Gott mir Leser bescheren sollte, so wird es vielleicht für sie interessant sein, zu erfahren, wie es kam, daß ich mich entschlossen habe, die Geschichte des Dorfes Gorjuchino zu schreiben. Zu diesem Zweck muß ich mich mit einigen einleitenden Einzelheiten befassen. Ich wurde als Sohn ehrlicher und adliger Eltern auf dem Gut Gorjuchino am 1. April 1801 geboren und erhielt meinen ersten Unterricht von unserem Küster. Diesem ehrwürdigen Manne verdanke ich die Lust am Lesen, die sich im folgenden bei mir entwickelte, und überhaupt die Liebe zu literarischen Beschäftigungen. Mit meinen Lernerfolgen ging es zwar langsam voran, doch war Verlaß auf sie, denn im zehnten Jahre meines Lebens wußte ich schon fast all das, was mir bis heute im Gedächtnis haftengeblieben ist – es war von Natur aus schwach, und da meine Gesundheit ebenso schwach war, erlaubte man mir nicht, es übermäßig zu belasten. Der Beruf eines Literaten schien mir immer der beneidenswerteste von allen zu sein. Meine Eltern, achtbare, doch einfache und nach alter Art erzogene Leute, lasen niemals etwas, und im ganzen Hause gab es außer einer Fibel, die für mich gekauft worden war, einigen Kalendern und dem „Neuesten Briefsteller“ keinerlei Bücher. Die Lektüre des Briefstellers war lange Zeit meine Lieblingsbeschäftigung. Ich kannte ihn auswendig, trotzdem fand ich jeden Tag neue, früher nicht bemerkte Schönheiten in ihm. Nach General Plemjannikow, dessen Adjutant mein Vater einst gewesen war, erschien mir Kurganow als einer der größten Menschen. Ich fragte alle über ihn aus, doch zu meinem Bedauern konnte niemand meine Neugier befriedigen, niemand kannte ihn 131
persönlich, auf alle meine Fragen erhielt ich nur die Antwort, daß Kurganow den „Neuesten Briefsteller“ verfaßt habe, was ich auch vorher genau gewußt hatte. Das Dunkel der Ungewißheit umgab ihn wie einen Halbgott des Altertums; manchmal zweifelte ich sogar an seiner Existenz. Sein Name schien mir erdacht und die Überlieferung an ihn ein leerer Mythos, den die Forschungen eines neuen Niebuhr erwarteten. Doch meine Phantasie beschäftigte sich laufend mit ihm, ich bemühte mich, dieser geheimnisvollen Persönlichkeit Gestalt zu verleihen, und kam schließlich zu dem Schluß, daß er dem Gerichtsbeisitzer Korjutschkin ähnlich sehen müsse, einem kleinen alten Männchen mit roter Nase und funkelnden Augen. Im Jahre 1812 wurde ich nach Moskau in das Internat von Karl Iwanowitsch Meier gebracht, wo ich nicht länger als drei Monate blieb, denn man entließ uns vor dem Einmarsch des Feindes, und ich kehrte auf das Dorf zurück. Als die zwölf Völkerschaften vertrieben worden waren, wollte man mich wieder nach Moskau schaffen, um zu sehen, ob Karl Iwanowitsch nicht in sein früheres Heim zurückgekehrt sei, oder, wenn dies nicht der Fall wäre, mich in einer anderen Lehranstalt unterbringen, doch durch Bitten ließ sich meine Mutter bewegen, mich auf dem Dorf zu lassen, da mir meine Gesundheit nicht erlaubte, um sieben Uhr aufzustehen, wie dies in allen Internaten so üblich ist. Auf diese Weise wurde ich sechzehn Jahre alt, kam nicht über meine anfängliche Bildung hinaus und spielte mit meinen Gefährten Ball, dies war die einzige Wissenschaft, in der ich während meines Aufenthaltes im Internat ausreichende Kenntnisse erworben hatte. Zu dieser Zeit trat ich als Fahnenjunker in das *** Infanterieregiment ein, in dem ich bis zum vorigen Jahr, bis 18‥, blieb. Mein Aufenthalt im Regiment hinterließ bei mir wenig angenehme Eindrücke, abgesehen von der Beförderung zum Offizier und einem Spielgewinn von zweihundertfünfundvierzig Rubel, als ich gerade nur noch einen Rubel und sechzig Kopeken in der Tasche hatte. Der Tod meiner teuren Eltern zwang mich, den Abschied zu nehmen und auf mein Stammgut zu fahren. 132
Dieser Lebensabschnitt ist von solcher Wichtigkeit für mich, daß ich mich näher über ihn auslassen werde und den geneigten Leser im voraus um Vergebung bitte, falls ich seine nachsichtige Aufmerksamkeit mißbrauche. Es war ein herbstlicher und trüber Tag. Als ich auf der Station eintraf, von der ich nach Gorjuchino abbiegen mußte, mietete ich Pferde und fuhr den Feldweg entlang. Obwohl ich von Natur ein stiller Mensch bin, packte mich die Ungeduld, von neuem die Stätten zu sehen, an denen ich meine schönsten Jahre verlebt hatte, so stark, daß ich alle Augenblicke meinen Kutscher antrieb, ihm bald ein Trinkgeld versprach, bald mit Schlägen drohte – und da es für mich bequemer war, ihn in den Rücken zu stoßen, als den Beutel hervorzuholen und aufzuknoten, so – ich gestehe es – schlug ich ihn ungefähr dreimal, was bei mir noch nie vorgekommen war, denn die Zunft der Kutscher ist mir, ich weiß selbst nicht warum, besonders lieb. Der Kutscher trieb sein Dreigespann an, doch mir schien, daß er nach Kutscherart, während er den Pferden zuredete und die Knute schwang, trotzdem die Zügel anzog. Schließlich erblickte ich von weitem das Wäldchen von Gorjuchino, und nach zehn Minuten fuhr ich auf den Hof des Herrenhauses. Mein Herz schlug heftig – ich blickte mit unbeschreiblicher Aufregung um mich. Acht Jahre hatte ich Gorjuchino nicht gesehen. Die kleinen Birken, zu meiner Zeit am Zaun gesetzt, waren gewachsen und jetzt zu hohen Bäumen mit vielen Ästen geworden. Der Hof, den einst drei regelmäßige Blumenbeete schmückten, zwischen denen ein mit Sand bestreuter breiter Weg lief, hatte sich jetzt in eine ungemähte Wiese verwandelt, auf der eine rotgescheckte Kuh graste. Meine Kutsche hielt beim Vordereingang. Mein Diener ging und wollte die Tür öffnen, doch sie war vernagelt, obwohl die Fensterläden geöffnet waren und das Haus einen bewohnten Eindruck machte. Eine Bauersfrau kam aus der Gesindehütte und fragte, zu wem ich wolle. Als sie erfuhr, daß der Herr angekommen war, lief sie von neuem in die Hütte, und bald darauf war ich vom Gesinde umgeben. Ich war in tiefster Seele gerührt, als ich die bekannten und unbekannten Gesichter sah – und mit allen freundschaftliche Küsse aus133
tauschte. Meine Gespielen waren schon Bauern, und die Mädchen, die einst auf dem Fußboden gesessen und auf Befehle gewartet hatten, waren verheiratete Frauen. Die Männer weinten. Den Frauen sagte ich ohne große Umstände: „Wie alt du geworden bist“ – und mir wurde mit Gefühl geantwortet: „Wie häßlich Sie geworden sind, Väterchen.“ Ich wurde zum hinteren Eingang geleitet, wo mir meine Amme entgegentrat und mich unter Schluchzen und Weinen umarmte wie den vielgeprüften Odysseus. Man lief, um das Bad anzuheizen. Der Koch, der sich jetzt, da er ohne Beschäftigung war, einen Bart hatte stehen lassen, erbot sich, mir ein Mittagessen zu bereiten oder besser ein Abendbrot, denn es dämmerte schon. Sofort wurden für mich die Zimmer frei gemacht, in denen die Amme mit den Dienstmädchen meiner seligen Mutter wohnte, und ich fand mich im schlichten Wohnsitz meiner Väter wieder und schlief in genau demselben Zimmer ein, in dem ich vor dreiundzwanzig Jahren geboren wurde. Etwa drei Wochen vergingen mit Scherereien jeglicher Art – ich schlug mich mit Beisitzern, Adelsmarschällen und allen möglichen Gouvernementsbeamten herum. Zu guter Letzt erhielt ich meine Erbschaft und wurde in den Besitz des Stammgutes eingeführt; ich beruhigte mich, doch bald begann mich die der Untätigkeit entspringende Langeweile zu plagen. Ich hatte die Bekanntschaft des guten und ehrbaren Nachbarn *** noch nicht gemacht. Die Beschäftigung mit der Wirtschaft war mir völlig fremd. Die Erzählungen meiner Amme, die ich zur Beschließerin und Verwalterin befördert hatte, bestanden aus genau fünfzehn Hausanekdoten, die mir alle recht interessant schienen, doch von ihr immer in der gleichen Weise dargeboten wurden, so daß sie sich für mich in einen zweiten Neuesten Briefsteller verwandelte, von dem ich wußte, auf welcher Seite jede Zeile stand. Den echten verdienstvollen Briefsteller fand ich in der Vorratskammer zwischen allerlei Gerumpel in einem traurigen Zustand. Ich holte ihn hervor und schickte mich an, ihn zu lesen, doch Kurganow hatte seinen früheren Reiz für mich verloren; ich las ihn noch einmal durch und schlug ihn dann nie wieder auf. 134
In dieser Not kam mir der Gedanke, ob ich nicht selbst einmal versuchen sollte, etwas zu dichten. Der geneigte Leser weiß schon, daß für meine Erziehung nicht viel Geld ausgegeben werden konnte und daß ich nicht die Möglichkeit hatte, mir anzueignen, was einmal versäumt war, da ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr Ball spielte und dann von einem Gouvernement in das andere, von einem Quartier zum nächsten zog, die Zeit mit Juden und Marketenderinnen verbrachte, an zerrissenen Tischen Billard spielte und im Dreck marschierte. Ein Dichter zu sein erschien mir zudem so schwierig, so unerreichbar für uns Uneingeweihte, daß mich der Gedanke, zur Feder zu greifen, zunächst erschreckte. Wie konnte ich hoffen, daß ich jemals zu den Schriftstellern zählen werde, wo doch schon mein heißer Wunsch, mit einem von ihnen zusammenzutreffen, niemals in Erfüllung gegangen war? Doch das erinnert mich an einen Vorfall, von dem ich zum Beweis meiner ständigen Begeisterung für die vaterländische Dichtkunst erzählen will. Im Jahre 1820, als ich noch Fahnenjunker war, begab es sich, daß ich im dienstlichen Auftrag in Petersburg weilte. Ich wohnte dort eine Woche, und obwohl ich keinen einzigen Bekannten in der Stadt hatte, verbrachte ich die Zeit außerordentlich angenehm: Jeden Tag ging ich still und leise ins Theater, auf die Galerie des vierten Ranges. Ich kannte alle Schauspieler beim Namen und verliebte mich leidenschaftlich in die ***, die mit großer Kunst an einem Sonntag die Rolle der Amalie in dem Drama „Menschenhaß und Reue“ spielte. Morgens, wenn ich aus dem Generalstabsgebäude zurückkam, ging ich gewöhnlich in eine kleine Konditorei und las bei einer Tasse Schokolade die literarischen Zeitschriften. Eines Tages saß ich dort und war in einen kritischen Artikel des „Wohlgesinnten“ vertieft; jemand in einem erbsfarbenen Mantel trat zu mir heran und zog unter meinem Heft vorsichtig ein Blatt der Hamburger Zeitung hervor. Ich war so beschäftigt, daß ich nicht einmal den Kopf hob. Der Unbekannte bestellte sich ein Beefsteak und setzte sich mir gegenüber; ich las ununterbrochen, ohne mich um ihn zu kümmern; unterdessen frühstückte er, schimpfte ärgerlich den Kellnerjungen we135
gen seiner Nachlässigkeit aus, trank eine halbe Flasche Wein und ging fort. Zwei junge Leute frühstückten ebenfalls hier. „Weißt du, wer das war?“ sagte der eine zum anderen. „Das war B., der Schriftsteller.“ – „Der Schriftsteller“, entfuhr es mir unwillkürlich – und ich lief, ohne die Zeitschrift fertigzulesen und die Tasse auszutrinken, um meine Rechnung zu bezahlen, wartete nicht auf das Restgeld und stürzte auf die Straße. Ich blickte nach allen Seiten, sah den erbsfarbenen Mantel von fern und ging ihm den Newskij Prospekt schnellen Schrittes hinterher, mich mit Mühe vom Laufen zurückhaltend. Nach einigen Schritten merke ich plötzlich, daß man mich anhält – ich schaue mich um, und ein Gardeoffizier macht mich darauf aufmerksam, daß es besser gewesen wäre, ihn nicht vom Trottoir zu stoßen, sondern anzuhalten und strammzustehen. Nach dieser Rüge wurde ich vorsichtiger; zu meinem Unglück traf ich alle Augenblicke auf Offiziere, andauernd blieb ich stehen, und der Schriftsteller entfernte sich immer mehr von mir. Noch niemals war mir der Soldatenmantel so beschwerlich gewesen – noch niemals waren mir die Epauletten als etwas so Beneidenswertes erschienen; schließlich holte ich den erbsfarbenen Mantel kurz vor der Anitschkin-Brücke ein. „Gestatten Sie die Frage“, sagte ich und legte die Hand ans Mützenschild. „Sie sind Herr B., dessen herrliche Aufsätze ich das Glück hatte im ‚Wetteiferer der Aufklärung‘ zu lesen?“ – „Keinesfalls, Herr“, antwortete er mir, „ich bin nicht der Schriftsteller, ich bin Advokat, doch *** kenne ich sehr gut, vor einer Viertelstunde habe ich ihn an der Polizejskij-Brücke getroffen.“ Auf diese Weise hatte mich meine Hochachtung vor der russischen Literatur dreißig Kopeken Restgeld, eine dienstliche Rüge und um ein Haar Arrest gekostet – und alles war umsonst gewesen. Obwohl sich mein Verstand dagegen wehrte, kam mir der kühne Gedanke, Schriftsteller zu werden, alle Augenblicke in den Kopf. Schließlich war ich nicht mehr in der Lage, meiner natürlichen Neigung zu widerstehen, und fertigte mir ein dickes Heft an mit der festen Absicht, es zu füllen, ganz gleich, womit Alle Arten der Poesie (denn an die schlichte Prosa dachte ich überhaupt noch nicht) hatte ich untersucht und einer Bewertung unter136
zogen, und ich entschloß mich unwiderruflich für ein episches Poem, dessen Stoff ich aus der vaterländischen Geschichte schöpfen wollte. Nicht lange suchte ich nach einem Helden. Ich wählte Rjurik – und ging an die Arbeit. In der Dichtkunst hatte ich eine gewisse Fertigkeit erworben, weil ich die Heftchen, die unter unseren Offizieren kursierten, wie „Der gefährliche Nachbar“, „Kritik am Moskauer Boulevard“ oder „Auf zu den Teichen der Presnja“ usw. abgeschrieben hatte. Trotzdem ging es mit meinem Poem langsam voran, und beim dritten Vers gab ich auf. Ich dachte, daß mir das epische Genre nicht läge, und begann mit einer Tragödie über Rjurik. Die Tragödie kam nicht vom Fleck. Ich versuchte, sie in eine Ballade umzuwandeln – doch auch die Ballade wollte mir nicht recht gelingen. Endlich überkam mich die Erleuchtung, ich begann und beendete glücklich eine Inschrift zu einem Porträt Rjuriks. Obwohl meine Inschrift nicht gänzlich unbeachtenswert war, besonders als das erste Werk eines jungen Dichters, fühlte ich doch, daß ich zum Poeten nicht geboren sei, und gab mich mit diesem ersten Versuch zufrieden. Doch meine schöpferischen Versuche hatten mich so für die literarische Tätigkeit eingenommen, daß ich mich schon nicht mehr von Heft und Tinte trennen konnte. lch wollte mich zur Prosa herablassen. Zuerst, da ich mich nicht mit einem vorausgehenden Studium, dem Entwurf eines Planes, der Verbindung einzelner Teile und so weiter zu befassen wünschte, entschloß ich mich, einzelne Gedanken, und zwar ohne Zusammenhang, ohne jede Reihenfolge, so, wie sie mir kommen würden, niederzuschreiben. Unglücklicherweise hatte ich keine Gedanken – und im Laufe von zwei vollen Tagen kam ich nur zu folgendem Urteil: Ein Mensch, der sich nicht den Gesetzen des Verstandes unterwirft und gewohnt ist, den Einflüsterungen der Leidenschaft zu folgen, irrt sich oft und setzt sich der Gefahr einer späten Reue aus. Natürlich ein berechtigter, wenn auch kein neuer Gedanke. Ich ließ die Gedanken sein und widmete mich den Erzählungen, doch da ich mangels Erfahrung nicht in der Lage war, erfundene Begebenheiten planvoll darzulegen, wählte ich bemerkenswerte 137
Anekdoten, die ich früher einmal von verschiedenen Leuten gehört hatte, und bemühte mich, die Wahrheit durch die Lebendigkeit der Erzählung und manchmal auch mit den Blumen der eigenen Phantasie auszuschmücken. Beim Zusammenstellen dieser Erzählungen bildete sich allmählich mein Stil heraus, und ich lernte, mich richtig, ansprechend und frei auszudrücken. Doch bald war mein Vorrat erschöpft, und ich suchte von neuem nach einem Thema für meine literarische Tätigkeit. Der Gedanke, die kleinlichen und zweifelhaften Anekdoten aufzugeben, um von wahrhaften und großen Begebenheiten zu berichten, reizte schon seit langem meine Phantasie. Richter, Beobachter und Prophet von Jahrhunderten und Völkern zu sein, schien mir die höchste Stufe, die ein Schriftsteller erreichen konnte. Doch was für eine Geschichte konnte ich mit meiner erbärmlichen Bildung schreiben, bei der mir nicht gelehrte und gewissenhafte Männer zuvorgekommen wären? Welche Gattung der Geschichtsschreibung hatten sie noch nicht erschöpfend behandelt? Sollte ich eine Weltgeschichte schreiben – wo doch bereits das unsterbliche Werk des Abbès Millot existierte? Sollte ich mich der vaterländischen Geschichte zuwenden? Doch was hatte ich nach einem Tatischtschew, einem Boltin und Golikow zu sagen? Und sollte ich in alten Chroniken wühlen und den geheimen Sinn einer veralteten Sprache zu ergründen suchen, wo ich die altslawischen Ziffern seinerzeit nicht begreifen konnte? Ich dachte an eine Geschichte geringeren Umfangs, zum Beispiel an die Geschichte unserer Gouvernementsstadt; doch wieviel unüberwindliche Hindernisse gab es auch da! Die Fahrt in die Stadt, Besuche beim Gouverneur und beim Erzbischof, die Bitte um Zulassung zu den Archiven und Klosterräumen und so fort. Die Geschichte unserer Kreisstadt wäre für mich geeigneter, doch war sie weder für einen Philosophen noch für einen Pragmatiker reizvoll und bot wenig Stoff für Beredsamkeit. *** wurde im Jahre 17‥ in eine Stadt umbenannt, und das einzige bemerkenswerte Ereignis, das in ihren Chroniken erwähnt wird, ist der furchtbare Brand, der vor zehn Jahren ausgebrochen war und den Markt und die Amtsgebäude vernichtet hatte. 138
Ein bloßer Zufall löste meine Zweifel. Ein Weib fand auf dem Boden beim Wäscheaufhängen einen alten Korb, der mit Spänen, Unrat und Büchern angefüllt war. Das ganze Haus kannte meine Vorliebe für das Lesen. Als ich gerade über meinem Heft saß, an der Feder kaute und über den Versuch von Dorfpredigten nachdachte, schleppte meine Beschließerin im Triumph den Korb in mein Zimmer und rief freudestrahlend: „Bücher! Bücher!“ – „Bücher!“ wiederholte ich voller Begeisterung und stürzte zu dem Korb. Wahrhaftig, ich erblickte einen ganzen Berg von Büchern in grünen und blauen Papiereinbänden – es war eine Sammlung alter Kalender. Diese Entdeckung kühlte meine Begeisterung ab, doch freute ich mich trotzdem über den unerwarteten Fund, es waren immerhin Bücher, und großzügig belohnte ich den Eifer der Wäscherin mit einem silbernen Fünfzigkopekenstück. Als ich wieder allein war, betrachtete ich meine Kalender, und sie erregten bald in starkem Maße meine Aufmerksamkeit. Sie bildeten eine ununterbrochene Reihe von Jahrgängen, von 1744 bis 1799, das heißt genau fünfundfünfzig Jahre. Die blauen Blätter, die gewöhnlich in Kalender geheftet werden, waren mit einer altertümlichen Schrift beschrieben. Ich warf einen kurzen Blick auf diese Zeilen und sah zu meinem Erstaunen, daß sie nicht nur Bemerkungen über das Wetter und Wirtschaftsberechnungen enthielten, sondern auch kurze Mitteilungen, die die Geschichte des Dorfes Gorjuchino betrafen. Auf der Stelle widmete ich mich der Untersuchung dieser wertvollen Aufzeichnungen und fand bald heraus, daß sie die vollständige Geschichte meines Stammgutes im Laufe fast eines ganzen Jahrhunderts in strengster chronologischer Reihenfolge darstellten. Darüber hinaus enthielten sie einen unerschöpflichen Vorrat an ökonomischen, statistischen, meteorologischen und anderen gelehrten Beobachtungen. Von diesem Augenblick an beschäftigte ich mich ausschließlich mit dem Studium dieser Aufzeichnungen, da ich die Möglichkeit sah, ihnen eine gut aufgebaute, interessante und belehrende Erzählung zu entnehmen. Als ich mich mit diesen wertvollen Schriftdenkmälern näher bekannt gemacht hatte, begann ich nach neuen Quellen zur Geschichte des Dorfes Gorjuchino zu suchen. 139
Die Vielzahl derselben überraschte mich bald. Dem vorbereitenden Studium widmete ich ganze sechs Monate, endlich begann ich mit der lang ersehnten Arbeit – und vollendete sie mit Gottes Hilfe am dritten November des Jahres 1827. Nun, da ich wie jener mir ähnelnde Geschichtsschreiber, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, meine schwierige Tat vollbracht habe, lege ich die Feder nieder und gehe voller Trauer in meinen Garten, um an das, was ich vollendet habe, zu denken. Auch mir scheint es, daß mich jetzt, da ich die Geschichte Gorjuchinos geschrieben habe, die Welt nicht mehr braucht, daß ich meine Schuldigkeit getan habe und es Zeit für mich ist, zur Ruhe zu gehen!
Ich führe hier ein Verzeichnis der Quellen an, die mir bei der Zusammenstellung der Geschichte des Dorfes Gorjuchino halfen: 1. Eine Sammlung alter Kalender. 54 Teile. Die ersten zwanzig Teile sind in altertümlicher Schrift mit diakritischen Zeichen geschrieben. Diese Chronik ist von meinem Urgroßvater Andrej Stepanowitsch Belkin verfaßt worden. Sie zeichnet sich durch einen klaren und knappen Stil aus, zum Beispiel: 4. Mai. Schnee. Trischka wegen Grobheit geprügelt. 6. Die rotgescheckte Kuh ist krepiert. Senka wegen Trunkenheit geprügelt. 8. Klares Wetter. 9. Regen und Schnee. Trischka wegen des Wettere geprügelt. 11. Klares Wetter. Neuschnee. Drei Hasen gejagt und dergleichen mehr, ohne jegliche Betrachtungen anzustellen … Die übrigen fünfunddreißig Teile sind in verschiedener Schrift geschrieben größtenteils in der sogenannten Handelsschrift, mit diakritischen Zeichen und ohne sie, im allgemeinen ergiebig, unzusammenhängend und ohne Beachtung der Rechtschreibung. An manchen Stellen treten weibliche Schriftzüge auf. Zu dieser Gruppe gehören auch die Aufzeichnungen meines Großvaters Iwan Andrejewitsch Belkin und meiner Großmutter, seiner Gemahlin, Jewpraksija Alexejewna, sowie die Aufzeichnungen des Verwalters Garbo140
2. Die Chronik des Küsters von Gorjuchino. Diese interessante Handschrift hatte ich bei meinem Popen ausfindig gemacht, der mit der Tochter des Chronisten verheiratet ist. Die ersten Seiten waren herausgerissen und von den Kindern des Geistlichen zu sogenannten Drachen verwendet worden. Einer von ihnen fiel mitten auf meinen Hof. Ich hob ihn auf und wollte ihn den Kindern zurückgeben, da merkte ich, daß er beschrieben war. Bei den ersten Zeilen sah ich, daß der Drachen aus einer Chronik gemacht worden war, und konnte zum Glück den Rest retten. Diese Chronik, die ich für ein Viertel Hafer erwarb, zeichnet sich durch Gedankentiefe und ungewöhnliche Weitschweifigkeit aus. 3. Mündliche Überlieferungen. Ich verschmähte keinerlei Mitteilungen. Doch besonders verpflichtet bin ich Agrafena Trifonowna, der Mutter des Dorfältesten Awdej, der ehemaligen (so heißt es) Geliebten des Verwalters Garbowizkij. 4. Die Revisionslisten, mit Anmerkungen früherer Dorfältester (Rechnungsbücher und solche über die Ausgaben) bezüglich Moral und Vermögen der Bauern. Das Land, nach seiner Hauptstadt Gorjuchino genannt, umfaßt mehr als zweihundertvierzig Deßjatinen unserer Erdkugel. Die Zahl der Einwohner geht bis zu dreiundsechzig Seelen. Gegen Norden grenzt es an die Dörfer Deriuchow und Perkuchowo, deren Bewohner arm, mager und klein von Wuchs sind, während die stolzen Besitzer der kriegerischen Beschäftigung der Hasenjagd nachgehen. Gegen Süden trennt es der Fluß Siwka von den Besitzungen der freien Ackerbauern von Karatschewo – unruhigen Nachbarn, die für ihre wilden und grausamen Sitten bekannt sind. Gegen Westen wird es von den blühenden Feldern Sacharjinos begrenzt, die unter der Herrschaft kluger und aufgeklärter Gutsbesitzer gedeihen. Gegen Osten berührt es eine wilde, unbewohnte Gegend, einen undurchdringlichen Sumpf, wo allein Moosbeeren wachsen und nur das eintönige Quaken der Frösche zu hören ist und wo der abergläubischen Überlieferung zufolge ein Teufel seinen Sitz hat. NB: Dieser Sumpf wird auch Teufelssumpf genannt. Man er141
zählt, daß eine etwas schwachsinnige Hirtin nicht weit von dieser einsamen Stelle eine Herde Schweine gehütet habe. Sie wurde schwanger und war einfach nicht in der Lage, diesen Vorfall befriedigend zu erklären. Die Stimme des Volkes gab dem Sumpfteufel die Schuld - doch dieses Märchen ist der Aufmerksamkeit eines Historikers nicht würdig, und nach Niebuhr wäre es unverzeihlich, so etwas zu glauben. Von jeher rühmte sich Gorjuchino seiner Fruchtbarkeit und seines gesunden Klimas. Roggen, Hafer, Gerste und Buchweizen gedeihen auf seinen fetten Fluren. Ein Birkenhain und ein Tannenwald versorgen die Bewohner mit Baumstämmen und Reisig für den Bau und für die Heizung ihrer Behausungen. An Nüssen, Moosbeeren, Preiselbeeren und Blaubeeren herrscht kein Mangel. Pilze wachsen in ungewöhnlichen Mengen; gebraten und mit saurer Sahne zubereitet, stellen sie eine schmackhafte, wenn auch ungesunde Speise dar. Der Teich ist voller Karauschen, und in der Siwka gibt es Hechte und Aalquappen. Die Bewohner von Gorjuchino sind größtenteils von mittlerem Wuchs und kräftigem männlichen Körperbau, ihre Augen sind grau, die Haare blond oder rotblond. Die Frauen zeichnen sich durch Nasen, die etwas nach oben ragen, durch hervorstehende Backenknochen und Stattlichkeit aus. NB: Ein kräftiges Weib, diesen Ausdruck findet man oft in den Anmerkungen des Dorfältesten zu den Revisionslisten. Die Männer sind sittsam, arbeitsliebend (besonders auf dem eigenen Acker), tapfer und kriegerisch: Viele von ihnen nehmen es allein mit einem Bären auf und sind in der ganzen Gegend als Faustkämpfer berühmt; im allgemeinen haben alle einen Hang zum sinnlichen Genuß des Trinkens. Die Frauen verrichten außer ihren häuslichen Arbeiten einen großen Teil der Männerarbeit, in Kühnheit stehen sie den Männern nicht nach, kaum eine von ihnen fürchtet den Dorfältesten. Sie stellen eine machtvolle, öffentliche Schutztruppe dar, halten unermüdlich auf dem Herrenhofe Wache und heißen Kopejschtschizy (nach dem altslawischen Wort für Speer – 142
kopjo). Die Hauptpflicht dieser Wächterinnen besteht darin, möglichst oft mit einem Stein an eine gußeiserne Tafel zu schlagen und dadurch verbrecherischen Absichten vorzubeugen. Sie sind ebenso keusch wie schön, und auf etwaige Versuche eines Verwegenen reagieren sie streng und eindeutig. Die Bewohner von Gorjuchino führen seit je einen ausgiebigen Handel mit Bast, Körben und Bastschuhen. Das verdanken sie der Siwka, die sie im Frühjahr gleich alten Skandinaviern auf Nachen überqueren, in der übrigen Jahreszeit aber durchwaten, wobei sie sich vorher die Hosen bis zu den Knien hochkrempeln. Die Sprache, die in Gorjuchino gesprochen wird, ist auf jeden Fall ein Zweig des Slawischen, doch unterscheidet sie sich ebenso von ihm wie das Russische. Sie hat eine Menge Zusammenziehungen und Abkürzungen – manche Buchstaben sind völlig verschwunden oder durch andere ersetzt worden. Dem Großrussen fällt es jedoch leicht, einen Bewohner von Gorjuchino zu verstehen, und umgekehrt. Die Männer heirateten gewöhnlich im Alter von dreizehn Jahren zwanzigjährige Frauen. Die Frauen prügelten ihre Männer im Laufe von vier oder fünf Jahren. Danach begannen die Männer schon ihre Frauen zu schlagen, auf diese Weise hatte jedes Geschlecht seine Herrschaftszeit, und das Gleichgewicht war genau beachtet. Die Begräbniszeremonie ging auf folgende Weise vor sich. Noch am selben Tag, an dem der Tote gestorben war, wurde er auf den Friedhof getragen – damit er in der Hütte nicht unnötig den Platz einnehme. Daher kam es vor, daß der Tote zur unbeschreiblichen Freude der Anverwandten in dem Moment nieste oder gähnte, da man ihn im Sarg aus dem Dorf hinaustrug. Die Frauen beweinten die Männer unter lautem Schluchzen und Jammern, wobei sie sprachen: „Mein ein und alles, mein Herzallerliebster! Warum hast du mich verlassen? Womit soll ich deiner gedenken?“ Nach der Rückkehr vom Friedhof begann der Leichenschmaus zu Ehren des Toten, und die Verwandten und Freunde Waren zwei, drei Tage betrunken oder sogar eine ganze Woche lang, dies hing vom Eifer und der Anhänglichkeit an den Ver143
storbenen ab. Diese alten Zeremonien haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Die Kleidung der Bewohner von Gorjuchino bestand aus einem Hemd, das über den Hosen getragen wurde, was ein hervorragendes Merkmal ihrer slawischen Abstammung ist. Im Winter trugen sie einen Schafpelz, doch mehr zum Schmuck als aus wirklicher Notwendigkeit, denn den Schafpelz hängten sie sich gewöhnlich über eine Schulter und warfen ihn bei der geringsten Arbeit, die Bewegung erforderte, ab. Wissenschaften, Künste und Poesie standen von je in Gorjuchino in recht hoher Blüte. Außer dem Geistlichen und den Kirchendienern gab es immer Leute, die lesen und schreiben konnten. Die Chronisten erwähnen den Dorfschreiber Terentij, der um das Jahr 1767 lebte und nicht nur mit der rechten, sondern auch mit der linken Hand zu schreiben verstand. Dieser ungewöhnliche Mensch gelangte durch das Verfassen von allen möglichen Briefen, Bittschriften, Privatpässen und dergleichen im ganzen Umkreis zu hohem Ruhm. Für seine Kunst, seine Dienstfertigkeit und sein Mitwirken in verschiedenen hervorragenden Affären wurde er des öfteren heimgesucht, er starb in hohem Alter, zu einer Zeit, als er lernte, mit dem rechten Fuß zu schreiben, denn die Schrift seiner beiden Hände war schon zu bekannt geworden. Er spielt, wie der Leser später sehen wird, eine wichtige Rolle in der Geschichte Gorjuchinos. Die Kunst der Musik war immer bei den gebildeten Bewohnern Gorjuchinos beliebt; die Töne der Balalaika und der Sackpfeife ertönen noch heute in ihren Behausungen und erquicken empfindsame Herzen, besonders in dem alten öffentlichen Gebäude, das mit einer Tanne und der Abbildung des doppelköpfigen Adlers geschmückt ist. Die Poesie stand einst im alten Gorjuchino in hoher Blüte. Die Gedichte Archips des Kahlen haben sich auf den heutigen Tag im Gedächtnis der Nachkommenschaft erhalten. In ihrer Zartheit stehen sie nicht den Eklogen des bekannten Vergil nach, in der Schönheit ihrer Phantasie übertreffen sie bei weitem die Idyllen des Herrn Sumarokow. Und wenn sie sich 144
auch in der stutzerhaften Eleganz des Stils mit den neuesten Erzeugnissen unserer Musen nicht messen können, so nehmen sie es doch mit ihnen auf, was Einfallsreichtum und Geist anbelangt. Als Beispiel bringen wir dieses satirische Gedicht: Geht der Älteste Anton Zum Bojarenhofe hin. In dem Hemd das Kerbholz drin. Legt es dem Bojaren hin. Der zwinkert mit den Augen, Will es gar nicht glauben. Ach du, Ältester Anton, Bestiehlst Bojaren lange schon. Unser Dorf kann betteln gehn, Frauchen will Geschenke sehn. Nachdem ich meinen Leser auf diese Weise mit den ethnographischen und statistischen Gegebenheiten Gorjuchinos und den Sitten und Gebräuchen seiner Bewohner bekannt gemacht habe, wenden wir uns nunmehr dem Bericht selbst zu.
Sagenhafte Zeiten
Der Dorfälteste Trifon Die Regierungsform änderte sich mehrere Male in Gorjuchino. Es befand sich abwechselnd unter der Herrschaft der Ältesten, die von der Gemeinde gewählt wurden, der Verwalter, die der Gutsbesitzer einsetzte, und schließlich unter der Befehlsgewalt der Gutsbesitzer selbst. Über die Vor- und Nachteile dieser verschiedenen Regierungsformen werde ich mich im Laufe meines Berichts auslassen. Wann Gorjuchino gegründet wurde und wer die ursprüngliche Bevölkerung desselben war, ist in Dunkel gehüllt. Den unklaren Überlieferungen nach war Gorjuchino einst ein reiches und großes Dorf, alle seine Bewohner waren wohlhabend, die Abgaben wurden nur einmal im Jahr eingesammelt und mit einigen Fuhren an jemand Unbekanntes abgeschickt. Zu dieser Zeit kaufte man alles billig ein und verkaufte alles teuer. Verwalter gab es nicht, die Dorfältesten taten keinem etwas zuleide, die Einwohner arbeiteten wenig, aber lebten herrlich und in Freuden, und die Hirten hüteten die Herde in Stiefeln. Wir sollten uns von diesem berückenden Bild nicht verlocken lassen. Der Gedanke an ein Goldenes Zeitalter ist allen Völkern eigen und beweist nur, daß die Leute, da sie mit dem Gegenwärtigen niemals zufrieden sind und erfahrungsgemäß von der Zukunft wenig erhoffen können, die unwiederbringliche Vergangenheit mit allen Blüten ihrer Phantasie schmücken. Folgendes steht fest: Das Dorf Gorjuchino gehörte seit je dem berühmten Geschlecht der Belkins. Doch meine Vorfahren besaßen viele Stammgüter und schenkten diesem entfernten Land keine Beachtung. Gorjuchino leistete eine geringe Abgabe und wurde von 146
den Ältesten regiert, die das Volk auf einer Zusammenkunft wählte, die man Gemeindeversammlung nannte. Doch im Laufe der Zeit zersplitterten sich die angestammten Besitztümer der Belkins und verfielen. Die verarmten Enkel eines reichen Großvaters konnten von ihren kostspieligen Angewohnheiten nicht lassen und forderten das frühere volle Einkommen von einem Besitz, der sich um das Zehnfache verringert hatte. Eine drohende schriftliche Anordnung folgte der anderen. Der Dorfälteste verlas sie auf der Versammlung, die Ältesten hielten kunstvolle Reden, die Gemeinde geriet in Erregung – und die Herren erhielten an Stelle einer doppelten Abgabe schlaue Entschuldigungen und demütige Klagen, die auf fettigem Papier geschrieben und mit einem Groschen versiegelt waren. Eine dunkle Wolke des Unheils hing über Gorjuchino, doch niemand dachte an sie. Im letzten Jahr der Herrschaft Trifons, des letzten vom Volk gewählten Dorfältesten, genau am Tage des Kirchweihfestes, an dem alle lärmend das Vergnügungsetablissement (in der einfachen Sprache Schenke genannt) umlagerten oder, festumschlungen, die Straßen entlangwanderten und laut die Lieder Archips des Kahlen sangen, fuhr eine geflochtene, geschlossene Kutsche in das Dorf, vor die ein Paar kaum noch lebender Mähren gespannt war; auf dem Bock saß ein zerlumpter Jude, und aus der Kutsche sah ein Kopf mit einer Schirmmütze heraus und betrachtete, so schien es, voller Neugier das sich vergnügende Volk. Die Bewohner empfingen das Gefährt mit Lachen und grobem Gespött. (NB: Die Wahnsinnigen machten sich über den jüdischen Fuhrmann lustig, rollten den Saum ihrer Kleidung zusammen und riefen, wobei sie die anderen zum Lachen brachten: „Jud, Jud, iß das Schweineohr!“ Chronik des Küsters von Gorjuchino.) Doch wie wunderten sie sich, als die Kutsche mitten im Dorf hielt, der Ankömmling heraussprang und in gebieterischem Ton den Dorfältesten Trifon verlangte. Dieser Würdenträger befand sich im Vergnügungsetablissement, aus dem ihn zwei Älteste ehrfurchtsvoll herausführten, wobei sie ihm unter die Arme griffen. Der Unbekannte sah ihn drohend an, gab ihm einen Brief und befahl, denselben sofort vorzulesen. 147
Die Dorfältesten von Gorjuchino hatten die Gewohnheit, niemals etwas selbst zu lesen. Der Dorfälteste war ein Analphabet. Es wurde nach dem Dorfschreiber Awdej geschickt. Man fand ihn ganz in der Nähe, auf einem Seitenweg, wo er unter dem Zaun schlief, und brachte ihn zu dem Unbekannten. Doch sei es wegen des gewaltsamen Herbeiführens, oder wegen des jähen Schrecks, oder einer schlimmen Vorahnung, er sah die deutlich geschriebenen Buchstaben wie durch einen Nebel und war nicht in der Lage, sie zu entziffern. Der Unbekannte schickte unter furchtbaren Flüchen den Dorfältesten Trifon und den Dorfschreiber Awdej schlafen, verschob das Verlesen des Briefes auf den morgigen Tag und ging in die Gerichtsstube, wohin der Jude ihm seinen kleinen Koffer nachtrug. Die Bewohner von Gorjuchino betrachteten in sprachloser Verwunderung diesen ungewöhnlichen Vorfall, doch bald waren Kutsche, Jude und der Unbekannte vergessen. Laut und fröhlich ging der Tag zu Ende – und Gorjuchino fiel in Schlaf, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand. Beim morgendlichen Sonnenaufgang wurden die Einwohner durch Klopfen an den Fenstern geweckt und durch die Aufforderung, zur Gemeindeversammlung zu kommen. Die Bürger erschienen einer nach dem anderen auf dem Hof der Gerichtsstube, der als Versammlungsplatz diente. Ihre Augen waren verschleiert und gerötet, die Gesichter geschwollen; gähnend und sich kratzend betrachteten sie den Mann in Schirmmütze und altem blauem Rock, der wichtig auf der Außentreppe der Gerichtsstube stand, und waren bemüht, sich zu erinnern, wo sie diese Züge schon einmal gesehen hatten. Der Dorfälteste Trifon und der Dorfschreiber Awdej standen barhäuptig, voll Unterwürfigkeit und tiefbekümmert neben ihm. „Sind alle hier?“ fragte der Unbekannte. „Sind alle hier?“ wiederholte der Dorfälteste. „Ja“, antworteten die Bürger. Daraufhin verkündete der Dorfälteste, daß ein Schreiben vom Herrn eingetroffen wäre, und befahl dem Dorfschreiber, es vorzulesen, damit die Gemeinde es höre. Awdej trat vor und verlas mit lauter Stimme folgendes. (NB: „Dieses unheilverkündende Schreiben habe ich bei Trifon dem Dorfälte148
sten abgeschrieben, es befand sich bei ihm im Heiligenschrein, zusammen mit anderen Zeugnissen seiner Herrschaft über Gorjuchino.“ Es ist mir nicht gelungen, diesen interessanten Brief selbst zu finden.) Trifon Iwanow! Der Überbringer dieses Briefes, mein Bevollmächtigter ***, fährt auf mein Stammgut, das Dorf Gorjuchino, um die Verwaltung desselben zu übernehmen. Sofort nach seiner Ankunft sind die Bauern zu versammeln, und ihnen ist mein herrschaftlicher Wille kundzutun, und zwar: Die Anordnungen meines Bevollmächtigten *** sind von ihnen, den Bauern, zu befolgen, als wären es meine eigenen. Und alles, was er auch fordern sollte, ist widerspruchslos auszuführen, andernfalls hat er, ***, das Recht, ihnen gegenüber mit aller erdenklichen Strenge zu verfahren. Dazu gezwungen hat mich ihr gewissenloser Ungehorsam und Deine, Trifon Iwanow, betrügerische Nachsicht. Unterschrieben: NN. Darauf spreizte *** seine Beine wie ein X, stemmte die Arme in die Seiten wie ein O und hielt folgende kurze und ausdrucksvolle Rede: „Paßt auf bei mir, bildet euch nicht zuviel auf euren Verstand ein – ich weiß, ihr seid ein verwöhntes Volk, aber ich werde euch den Unsinn aus den Schädeln treiben, und zwar schneller als den Rausch von gestern.“ Einen Rausch hatte schon keiner mehr. Die Bewohner von Gorjuchino ließen, wie vom Donner gerührt, die Köpfe hängen und gingen entsetzt nach Hause.
Die Regierung des Verwalters ***
*** hatte die Zügel der Regierung ergriffen und schritt zur Verwirklichung seines politischen Systems; es ist einer besonderen Untersuchung wert. Die Hauptgrundlage desselben war folgendes Axiom: Je reicher der Bauer ist, desto verwöhnter ist er, und je ärmer, desto 149
demütiger. Infolgedessen war *** um die Unterwürfigkeit auf dem Stammgut als eine der Haupttugenden des Bauern bemüht. Er verlangte eine Inventarliste der Bauern und teilte sie in Reiche und Arme ein. 1. Die Rückstände wurden auf die wohlhabenden Bauern aufgeteilt und von ihnen mit aller nur möglichen Strenge eingezogen. 2. Die Armen und die Nichtstuer kamen sofort in den Frondienst, wenn aber ihre Arbeit seinen Berechnungen nach unzureichend war, dann gab er sie als Knechte an andere Bauern, die ihm dafür freiwillige Abgaben leisteten, und diejenigen, die zu Knechten geworden waren, hatten das volle Recht, sich loszukaufen, zu welchem Zweck sie neben den Rückständen die doppelte Jahresabgabe zahlen mußten. Jegliche Gemeindeleistung hatten die wohlhabenden Bauern zu tragen. Die Rekrutierung war der Triumph des habsüchtigen Regenten; denn alle wohlhabenden Bauern kauften sich der Reihe nach vom Militärdienst los, bis die Wahl schließlich auf einen Spitzbuben fiel oder auf einen, der ruiniert war. * Die Gemeindeversammlungen wurden abgeschafft. Die Abgaben trieb er allmählich und das ganze Jahr über ein. Außerdem führte er unerwartete Eintreibungen durch. Die Bauern zahlten, so schien es, nicht sehr viel mehr als früher, doch sie waren einfach nicht in der Lage, sich genügend Geld zu erarbeiten und zu ersparen. Innerhalb von drei Jahren kam Gorjuchino an den Bettelstab. Gorjuchino ließ den Kopf hängen, der Basar vereinsamte, die Lieder Archips des Kahlen verstummten. Die Kinder gingen betteln. Die eine Hälfte der Bauern war im Frondienst, die anderen dienten als Knechte, und der Tag des Kirchweihfestes wurde, nach einem Ausdruck des Chronisten, nicht ein Tag der Freude und des Jubels, sondern der Jahrestag der Trauer und Erinnerung an Unglück. * Den Anton Timofejew hat der verfluchte Verwalter in Ketten gelegt – und der alte Timofej hat den Sohn für 100 Rubel losgekauft, den Petruschka Jeremejew hat der Verwalter in Eisen gelegt, und der Vater hat ihn für 68 Rubel losgekauft, und der Verfluchte wollte auch den Ljocha Tarassow in Eisen legen, doch der ist in den Wald gelaufen, und der Verwalter war sehr wütend und hat wie wahnsinnig geflucht, und in die Stadt gebracht und zum Rekruten gemacht hat man Wanka den Säufer. (Bericht von Bauern aus Gorjuchino.)
Roslawlew
Als ich den „Roslawlew“ las, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, daß der Ausgangspunkt der Handlung auf einer wahren, mir nur zu gut bekannten Begebenheit beruht. Ich war einst die Freundin der unglücklichen Frau gewesen, die sich Herr Sagoskin zur Heldin seiner Erzählung erkoren hatte. Er hat die Aufmerksamkeit der Leser erneut auf ein vergessenes Ereignis gelenkt, Gefühle der Entrüstung geweckt, die im Laufe der Zeit eingeschlummert waren, und die Ruhe des Grabes gestört. Ich werde die Verteidigerin der Dahingegangenen sein – und der Leser möge meine unzulängliche Feder entschuldigen und sich die Gründe meines Herzens vor Augen halten. Ich werde gezwungen sein, viel über mich selbst zu schreiben, da mein Schicksal lange Zeit mit dem meiner armen Freundin verknüpft war. Im Winter 1811 führte man mich in die große Welt ein. Ich werde nicht meine ersten Eindrücke beschreiben. Man kann sich leicht vorstellen, was ein sechzehnjähriges Mädchen empfinden mußte, das die niedrigen Zimmer und die Lehrer mit pausenlosen Hallen vertauscht hatte. Ich gab mich dem Rausch des Vergnügens mit der ganzen Lebhaftigkeit meiner Jahre hin und dachte noch nicht nach … Schade: Die damalige Zeit war es wert, aufmerksam betrachtet zu werden. Unter den Fräulein, die zusammen mit mir in die Gesellschaft eingeführt wurden, fiel besonders Prinzeß *** auf (Herr Sagoskin nannte sie Polina, ich lasse ihr diesen Namen). Wir freundeten uns aus folgendem Grunde bald an. Mein Bruder, ein zweiundzwanzigjähriger junger Mann, gehörte zur Zunft der damaligen Stutzer; er war im Auswärtigen Kollegium angestellt und lebte in Moskau, wo er tanzte und mut153
willige Streiche verübte. Er verliebte sich in Polina und bat mich inständig, unsere Häuser einander näher zu bringen. Mein Bruder war das Idol unserer ganzen Familie, und mit mir konnte er machen, was er wollte. Ihm zu Gefallen freundete ich mich mit Polina an, und bald hatte ich sie aufrichtig liebgewonnen. Sie hatte viel Seltsames an sich und noch viel mehr Anziehendes. Ich hatte sie noch nicht verstanden und liebte sie schon. Unmerklich begann ich, alles mit ihren Augen zu betrachten und so zu denken wie sie. Polinas Vater war ein verdienter Mann, das heißt, er fuhr sechsspännig und trug den Kammerherrnschlüssel und einen Ordensstern, im übrigen war er von leichtfertigem und einfältigem Wesen. Ihre Mutter war ganz im Gegenteil eine gesetzte Frau und zeichnete sich durch Würde und gesunden Menschenverstand aus. Polina erschien überall; sie war von Verehrern umringt, man war liebenswürdig zu ihr – doch sie langweilte sich, und die Langeweile verlieh ihr ein stolzes und kühles Aussehen. Das paßte außerordentlich zu ihrem griechischen Gesicht und ihren schwarzen Brauen. Ich triumphierte, wenn meine satirischen Bemerkungen auf diesem regelmäßigen und gelangweilten Gesicht ein Lächeln hervorriefen. Polina las außerordentlich viel und wahllos. Den Schlüssel zur väterlichen Bibliothek besaß sie. Die Bibliothek bestand zum größten Teil aus Werken der Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts. Die französische Literatur von Montesquieu bis zu den Romanen Crébillons war ihr bekannt. Rousseau kannte sie auswendig. In der Bibliothek gab es außer den Werken Sumarokows, die Polina niemals anrührte, kein einziges russisches Buch. Sie sagte mir, daß sie mit Mühe die russische Druckschrift entziffern könne, und las wahrscheinlich nichts auf russisch, nicht einmal die kleinen Gedichte, die ihr die Moskauer Reimschmiede darbrachten. Hier erlaube ich mir eine kleine Abschweifung. Jetzt sind es schon, gottlob, dreißig Jahre her, daß man uns Arme deswegen beschimpft, weil wir nichts Russisches lesen und es (angeblich) 154
nicht verstehen, uns in der Sprache unseres Vaterlandes auszudrücken. (NB: Der Autor des „Jurij Miloslawskij“ sollte sich schämen, diese niederträchtigen Anschuldigungen zu wiederholen. Wir alle haben ihn gelesen, und einer von uns, glaube ich, hat er auch die Übersetzung seines Romans in die französische Sprache zu verdanken.) Es geht vielmehr darum, daß wir froh wären, etwas Russisches zu lesen; doch unsere Literatur ist, so scheint es, nicht älter als Lomonossow und außerordentlich spärlich. Sie weist freilich einige ausgezeichnete Dichter auf, doch man kann nicht von allen Lesern verlangen, daß sie einzig und allein den Gedichten huldigen. In der Prosa besitzen wir nur die „Geschichte Karamsins“; die ersten zwei oder drei Romane sind vor drei oder vier Jahren erschienen, in Frankreich, England und Deutschland dagegen folgt ein Buch dem anderen, und eins ist besser als das andere. Wir bekommen nicht einmal Übersetzungen zu sehen; und wenn wir sie zu sehen bekommen, so ziehe ich ihnen, nehmen Sie es nicht übel, dennoch die Originale vor. Unsere Zeitschriften sind für unsere Literaten von Reiz. Wir sind gezwungen, alles, Nachrichten und Begriffe, aus ausländischen Büchern zu schöpfen; auf diese Weise denken wir auch in einer fremden Sprache (wenigstens alle diejenigen, die denken und die Gedanken der Menschheit verfolgen). Das gestanden mir unsere bekanntesten Autoren. Die ewigen Klagen unserer Schriftsteller über die Nichtachtung, mit der wir die russischen Bücher bedenken, ähneln den Klagen russischer Verkäuferinnen, die sich darüber entrüsten, daß wir unsere Hüte bei Sichler kaufen und uns nicht mit den Schöpfungen der Kostromer Modistinnen begnügen. Ich kehre zu meinem eigentlichen Thema zurück. Selbst während einer historischen Epoche sind die Erinnerungen an das gesellschaftliche Leben im allgemeinen blaß und geringfügig. Das Erscheinen einer Reisenden in Moskau jedoch hinterließ auf mich einen tiefen Eindruck. Diese Reisende war Madame de Staël. Sie kam im Sommer an, als der größte Teil der Bewohner Moskaus aufs Land gefahren war. Die russische Gastfreundschaft wußte sich vor Aufregung nicht zu lassen, man war sich nicht klar darüber, wie man die berühmte Ausländerin 155
bewirten sollte. Selbstverständlich gab man ihr zu Ehren Bankette. Männer und Frauen kamen gefahren, um sie zu sehen, und waren größtenteils mit ihr unzufrieden. Sie sahen ein fünfzigjähriges, dickes Frauenzimmer, das nicht den Jahren entsprechend gekleidet war. Ihre Art gefiel nicht, ihre Reden schienen zu lang und die Ärmel zu kurz. Polinas Vater, der Madame de Staël noch von Paris her kannte, gab ein Essen für sie und lud dazu all unsere Moskauer Geistesgrößen ein. Hier sah ich die Dichterin der „Corinne“. Sie saß auf dem Ehrenplatz, stützte ihre Arme auf den Tisch auf und drehte mit ihren schönen Fingern ein Stück Papier zu einem Röllchen zusammen und glättete es wieder. Sie schien mißgestimmt zu sein, mehrere Male versuchte sie zu reden, doch sie kam nie recht ins Gespräch. Unsere Geistesgrößen tranken und aßen hinlänglich und waren, wie es schien, weitaus zufriedener mit der Fischsuppe des Fürsten als mit der Unterhaltung der Madame de Staël. Die Damen waren unangebracht schüchtern. Die einen wie die anderen brachen nur selten das Schweigen, da sie von der Nichtigkeit ihrer Gedanken überzeugt waren und angesichts der europäischen Berühmtheit allen Mut verloren hatten. Das ganze Essen über saß Polina wie auf Nadeln. Die Aufmerksamkeit der Gäste war zwischen dem Stör und Madame de Staël geteilt. Jeden Augenblick erwartete man ein Bonmot von ihr; schließlich entrang sich ihr eine Zweideutigkeit, sogar eine recht gewagte. Alle griffen sie auf, lachten, und ein Raunen der Verwunderung erhob sich; der Fürst war außer sich vor Freude. Ich blickte Polina an. Ihr Gesicht glühte, und in ihren Augen zeigten sich Tränen. Gänzlich ausgesöhnt mit Madame de Staël, erhoben sich die Gäste von der Tafel: Sie hatte ein Wortspiel gebraucht, und man beeilte sich, es in der Stadt zu verbreiten. „Was hast du denn, ma chère?“ fragte ich Polina. „Konnte dich denn wirklich ein Scherz, der etwas gewagt war, so aufregen?“ – „Ach, meine Liebe“, antwortete Polina, „ich bin verzweifelt! Wie armselig mußte unsere vornehme Gesellschaft dieser ungewöhnlichen Frau vorkommen! Sie ist es gewohnt, von Leuten umgeben zu sein, die sie verstehen, für die eine glänzende Bemerkung, 156
eine starke Regung des Gefühls, ein begeisterndes Wort niemals verloren ist; sie ist an die reizvolle Unterhaltung mit Leuten von höchster Bildung gewöhnt. Und hier … Mein Gott! Kein einziger Gedanke, nicht ein einziges bemerkenswertes Wort im Verlauf von drei Stunden! Stumpfsinnige Gesichter, stumpfsinnige Würde – sonst nichts! Wie langweilig ihr zumute war! Wie ermüdet sie aussah! Sie begriff, was sie brauchten, was diese Affen der Aufklärung begreifen konnten, und warf ihnen ein Wortspiel hin. Und wie sie sich darauf gestürzt haben! Ich hätte vor Scham in den Erdboden versinken mögen, am liebsten hätte ich geweint … Doch laß nur“, fuhr Polina in ihrem Eifer fort, „mag sie getrost das Urteil von unserem vornehmen Pöbel mit nach Hause nehmen, das er verdient. Jedenfalls hat sie unser gutes einfaches Volk gesehen und versteht es. Hast du gehört, was sie diesem alten unausstehlichen Possenreißer gesagt hat, der sich aus Liebedienerei gegenüber der Ausländerin über die russischen Barte lustig machen wollte: ‚Ein Volk, das seit hundert Jahren seinen Bart verteidigt hat, wird in unserer Zeit auch seinen Kopf zu verteidigen wissen.‘ Wie reizend sie ist! Wie ich sie liebe! Wie ich ihren Verfolger hasse!“ Nicht nur ich hatte Polinas Verwirrung bemerkt. Ein Paar andere, durchdringende Augen richteten sich in diesem Moment auf sie: die schwarzen Augen von Madame de Staël. Ich weiß nicht, was sie dachte, doch nach dem Essen trat sie an meine Freundin heran und unterhielt sich mit ihr. Einige Tage darauf schrieb ihr Madame de Staël folgenden kurzen Brief: Ma chère enfant, je suis toute malade. Il serait bien aimable à vous de venir me ranimer. Tâchez de l’obtenir de madame votre mère et veuillez lui présenter les respects de votre amie de S. Diesen Brief bewahre ich auf. Polina hat mich niemals über ihre Beziehungen zu Madame de Staël aufgeklärt, trotz all meiner Neugierde. Sie war in diese herrliche Frau, die ebenso gutmütig wie genial war, vernarrt. Wohin böswillige Klatschsucht führen kann! Vor kurzem erzählte ich all das in einer sehr anständigen Gesellschaft. „Vielleicht“, wurde mir gegenüber bemerkt, „vielleicht war Madame de 157
Staël nichts weiter als eine Spionin Napoleons, und Prinzeß *** verschaffte ihr die notwendigen Unterlagen.“ – „Aber ich bitte Sie“, sagte ich, „Madame de Staël, die zehn Jahre lang von Napoleon verfolgt wurde, die edelmütige, gute Madame de Staël, die mit Mühe unter den Schutz des russischen Imperators geflüchtet ist, Madame de Staël, der Freund Chateaubriands und Byrons, Madame de Staël soll eine Spionin Napoleons sein! …“ – „Das kann sehr wohl sein“, entgegnete die spitznäsige Gräfin B. „Napoleon war solch eine Bestie, und Madame de Staël ist so ein durchtriebenes Wesen!“ Alle sprachen vom bevorstehenden Kriege, und zwar, soweit ich mich erinnern kann, in recht leichtfertiger Art. Es war Mode, den französischen Ton aus der Zeit Ludwigs XV. nachzuahmen. Liebe zum Vaterland galt als Pedanterie. Die damaligen Geistesgrößen hoben Napoleon in fanatischer Unterwürfigkeit in den Himmel und machten sich über unsere Mißerfolge lustig. Unglücklicherweise waren die Verteidiger des Vaterlandes ein bißchen naiv; sie wurden recht köstlich verlacht und besaßen keinerlei Einfluß. Ihr Patriotismus beschränkte sich darauf, den Gebrauch der französischen Sprache in der Gesellschaft und das Einführen neuer Fremdwörter streng zu mißbilligen und drohende Ausfälle gegen die Kusnezkij-Brücke zu richten und dergleichen mehr. Die jungen Leute sprachen von allem Russischen mit Verachtung oder Gleichgültigkeit und prophezeiten Rußland im Scherz das Schicksal des Rheinbundes. Kurz, die vornehme Gesellschaft war recht widerwärtig. Plötzlich überraschte uns die Nachricht vom Einfall der Franzosen und der Aufruf des Herrschers. Moskau geriet in Aufregung. Flugblätter des Grafen Rastoptschin an das einfache Volk erschienen; das Volk war erbittert. Die Witzbolde der höheren Gesellschaft verstummten und die Damen erschraken. Die Gegner der französischen Sprache und der Kusnezkij-Brücke bekamen in der Gesellschaft unwiderruflich die Oberhand, und die Empfangszimmer füllten sich mit Patrioten: Der eine schüttete den französischen Tabak aus seiner Tabakdose und begann russischen zu schnupfen, der andere verbrannte ein Dutzend fran158
zösischer Broschüren, der dritte verzichtete auf seinen Lafitte und zog ihm schäumenden Kwaß vor. Alle gelobten, nicht mehr französisch zu sprechen; alle redeten überlaut von Posharskij und Minin und verkündeten den Volkskrieg, während sie sich darauf vorbereiteten, mit eigenen Pferden in ihre Saratower Dörfer zu reisen. Polina konnte ihre Verachtung nicht verbergen, wie sie auch früher nicht ihre Entrüstung verhehlte. Solch ein behender Wechsel und solch eine Feigheit ließen sie die Geduld verlieren. Auf dem Boulevard und an den Presnja-Teichen sprach sie mit Absicht französisch; an der Tafel trat sie in Gegenwart der Diener willentlich gegen die patriotische Prahlsucht auf, sprach absichtlich über die große Zahl der napoleonischen Truppen und über Napoleons militärisches Genie. Die Anwesenden wurden aus Furcht vor einer Denunziation blaß und beeilten sich, ihr Ergebenheit dem Feinde des Vaterlandes gegenüber vorzuwerfen. Polina lächelte verächtlich: „Gott gebe es“, sagte sie, „daß alle Russen ihr Vaterland so lieben wie ich.“ Sie setzte mich in Erstaunen. Ich kannte Polina nur als bescheiden und schweigsam, und ich verstand nicht, woher sie ihre Kühnheit nahm. „Aber ich bitte dich“, sagte ich einmal zu ihr, „warum mischst du dich in Dinge ein, die uns nichts angehen. Sollen die Männer sich schlagen und laut über Politik reden; die Frauen ziehen nicht in den Krieg, sie haben mit Bonaparte nichts zu schaffen.“ Ihre Augen funkelten. „Schäm dich“, sagte sie, „haben die Frauen etwa kein Vaterland? Haben sie etwa keine Väter, Brüder und Männer? Ist etwa russisches Blut fremdes Blut für uns? Oder denkst du etwa, daß wir nur deshalb geboren sind, um uns auf dem Ball in der Ekossaise schwenken zu lassen und zu Hause auf dem Stickrahmen Hündchen auszusticken? Nein, ich weiß, welchen Einfluß eine Frau auf die öffentliche Meinung haben kann oder gar auf das Herz zumindest eines Menschen. Ich erkenne diese Herabwürdigung nicht an, zu der man uns verurteilt hat. Sieh dir Madame de Staël an: Napoleon hat mit ihr gekämpft wie mit einer Feindesmacht … Und der Onkel wagt es noch, sich über ihre Ängstlichkeit beim Heranrücken der französischen Armee lustig 159
zu machen! ‚Beruhigen Sie sich, Verehrteste, Napoleon führt gegen Rußland Krieg, nicht gegen Sie …‘ Ja! Wenn der Onkel den Franzosen in die Hände geriete, dann ließen sie ihn im Palais-Royal spazierengehn, doch Madame de Staël stürbe in so einem Fall in einem Staatsgefängnis. Und Charlotte Corday? Und unsere Marfa Possadniza? Und die Fürstin Daschkowa? Was fehlt mir denn, um so zu sein wie sie? Auf keinen Fall ihre Kühnheit und Entschlossenheit.“ Ich hörte Polina mit Erstaunen zu. Niemals hätte ich in ihr solch ein Feuer, solch einen Ehrgeiz vermutet. Oh! Wohin haben sie ihre ungewöhnlichen Charaktereigenschaften und die mannhafte Erhabenheit ihrer Gedanken geführt? Mein Lieblingsschriftsteller hat die Wahrheit gesagt: Il n’est de bonheur que dans les voies communes. Die Ankunft des Herrschers erhöhte noch die allgemeine Erregung. Die patriotische Begeisterung ergriff schließlich auch die höheren Gesellschaftsschichten. Die Empfangszimmer verwandelten sich in Parlamente. Überall wurde von patriotischen Spenden gesprochen. Man wiederholte die unsterbliche Rede des jungen Grafen Mamonow, der sein Gut gespendet hatte. Einige Mütter bemerkten danach, daß der Graf nun schon nicht mehr solch ein beneidenswerter Freier sei, doch wir alle waren von ihm begeistert. Polina schwärmte von ihm. „Was spenden Sie?“ fragte sie einmal meinen Bruder. „Mein Gut gehört mir noch nicht“, antwortete mein Tunichtgut. „Ich habe alles in allem nur Dreißigtausend Schulden, ich opfere sie auf dem Altar des Vaterlands.“ Polina wurde wütend. „Manchen Leuten“, sagte sie, „bedeutet sowohl Ehre als Vaterland nicht das geringste. Ihre Brüder fallen auf dem Schlachtfeld, aber sie treiben ihre Possen in den Empfangszimmern. Ich weiß nicht, ob sich je eine Frau findet, die so würdelos ist, daß sie solchen Spaßmachern erlaubte, Liebe vor ihr zu heucheln.“ Mein Bruder brauste auf: „Sie sind zu anspruchsvoll, Prinzeß“, entgegnete er. „Sie wollen, daß alle in Ihnen eine Madame de Staël sehen und in Tiraden aus der ‚Corinne‘ zu Ihnen reden. Merken Sie sich, daß derjenige, der mit einer Frau scherzt, dies nicht seinem Vaterland und dessen Feinden gegenüber zu tun braucht.“ Mit diesen Worten wandte er sich 160
ab. Ich dachte, sie seien für immer auseinandergegangen, doch ich irrte mich: Polina gefiel die Kühnheit meines Bruders, seine hochherzige Entrüstung ließ sie den unangebrachten Scherz verzeihen, und als sie nach einer Woche erfuhr, daß er in das MamonowRegiment eingetreten sei, bat sie mich, sie miteinander auszusöhnen. Mein Bruder war begeistert. Er bat sie auf der Stelle um ihre Hand. Sie gab ihr Jawort, doch verschob sie die Hochzeit auf die Zeit nach dem Krieg. Am darauffolgenden Tag reiste mein Bruder zur Armee ab. Napoleon marschierte auf Moskau; die Unsrigen gingen zurück; Moskau wurde von Unruhe ergriffen. Seine Bewohner verließen die Stadt einer nach dem anderen. Der Fürst und die Fürstin überredeten meine Mutter, mit ihnen zusammen in das ***sche Dorf zu fahren. Wir kamen in *** an, einem sehr großen Dorf, das zwanzig Werst von der Gouvernementsstadt entfernt war. Wir hatten viele Nachbarn, zum größten Teil waren sie aus Moskau hierhergekommen. Alle trafen sich täglich; unser Leben auf dem Lande ähnelte dem in der Stadt. Fast jeden Tag kamen Briefe von der Armee, die alten Frauen suchten den Ort Biwak auf der Karte und ärgerten sich, weil sie ihn nicht fanden. Polina beschäftigte sich nur mit Politik, sie las nichts außer den Zeitungen und den Anschlagzetteln Rastoptschins und rührte kein einziges Buch an. Da sie von Leuten mit beschränktem Verstand umgeben war und fortwährend unsinnige Urteile und unbegründete Neuigkeiten hörte, überkam sie eine tiefe Niedergeschlagenheit; Trauer erfüllte ihre Seele. Sie ließ die Hoffnung auf Rettung des Vaterlandes sinken, ihr schien, daß Rußland sich rasch seinem Untergang nähere, jede Meldung von den Kampfhandlungen vertiefte ihre Hoffnungslosigkeit, und die polizeilichen Bekanntmachungen des Grafen Rastoptschin brachten sie um den Rest ihrer Geduld. Der scherzhafte Ton, in dem sie abgefaßt waren, erschien ihr höchst unpassend, und die von ihm ergriffenen Maßnahmen hielt sie für unerträgliches Barbarentum. Sie verstand nicht die Gedanken der damaligen Zeit, die so groß in ihrer Furchtbarkeit Waren, jene Gedanken, deren kühne Verwirklichung Rußland 161
rettete und Europa befreite. Ganze Stunden verbrachte sie auf die Karte gestützt, rechnete die Werstzahl aus und verfolgte die schnellen Bewegungen der Truppen. Seltsame Gedanken kamen ihr in den Kopf. Eines Tages verkündete sie mir, daß sie die Absicht habe, das Dorf zu verlassen, ins französische Lager zu gehen, bis zu Napoleon vorzudringen und ihn dann eigenhändig umzubringen. Es fiel mir nicht schwer, sie von dem Wahnsinn eines solchen Unternehmens zu überzeugen – doch der Gedanke an Charlotte Corday beschäftigte sie noch längere Zeit. Ihr Vater war, wie Sie schon wissen, ein recht leichtsinniger Mann; er strebte nur danach, auf dem Lande möglichst so zu leben wie in Moskau. Er gab Bankette, er richtete ein théâtre de société ein, in dem französische proverbes inszeniert wurden, und bemühte sich nach Kräften um die Vielfalt unserer Vergnügungen. In der Stadt waren einige gefangene Offiziere angekommen. Der Fürst freute sich über die neuen Gesichter und bat den Gouverneur um die Erlaubnis, sie bei sich unterbringen zu dürfen. Es waren vier – drei von ihnen ziemlich unbedeutende Leute, die Napoleon fanatisch ergeben waren, unerträgliche Schreihälse, deren Prahlsucht sich allerdings durch ihre in Ehren erworbenen Verwundungen entschuldigte. Doch der vierte war ein außerordentlich bemerkenswerter Mann. Damals war er sechsundzwanzig Jahre alt. Er stammte aus gutem Hause. Sein Gesicht war angenehm, sein Umgangston vorzüglich. Wir zeichneten ihn sofort vor den anderen aus. Freundlichkeiten nahm er mit edler Bescheidenheit entgegen. Er sprach wenig, doch was er sagte, hatte Hand und Fuß. Polina gefiel er, weil er ihr als erster die militärischen Operationen und die Truppenbewegungen deutlich erklären konnte. Er beruhigte sie, indem er ihr nachwies, daß der Rückzug der russischen Truppen keineswegs eine sinnlose Flucht sei und dies die Franzosen in dem Maße beunruhige, wie es die Russen erbittere. „Aber Sie“, fragte ihn Polina, „sind Sie denn nicht von der Unbesiegbarkeit Ihres Imperators überzeugt?“ Sinêcourt (ich lasse ihm ebenfalls diesen Namen, den ihm Herr Sagoskin gegeben hat), Sinêcourt schwieg 162
eine Weile und antwortete dann, daß in seiner Lage Offenheit nicht ganz leicht sei. Polina forderte beharrlich eine Antwort. Sinêcourt gestand, daß die Bewegung der französischen Truppen auf das Herz Rußlands zu für sie zu einer Gefahr werden könne, daß der Feldzug von 1812, wie es schien, beendet sei, doch nichts Entscheidendes gezeigt habe. „Der Feldzug beendet!“ entgegnete Polina. „Und Napoleon rückt immer noch vor, und wir weichen immer noch zurück!“ – „Desto schlimmer für uns“, antwortete Sinêcourt und wechselte das Thema. Polina, der feigen Prophezeiungen und dummen Prahlereien der Nachbarn überdrüssig, hörte mit Begierde die Überlegungen an, die auf Sachkenntnis und Unvoreingenommenheit beruhten. Von meinem Bruder erhielt ich Briefe, aus denen überhaupt nichts zu ersehen war. Sie waren voller kluger und auch schlechter Späße, voller Fragen, wie es Polina ginge, voller platter Liebesbeteuerungen und dergleichen. Als Polina sie las, wurde sie ärgerlich und zuckte mit den Schultern. „Gib nur zu“, sagte sie, „daß dein Alexej ein nichtiger Mensch ist. Sogar unter den jetzigen Umständen, von den Schlachtfeldern, findet er eine Möglichkeit, völlig nichtssagende Briefe zu schreiben, wie wird erst seine Unterhaltung während unseres stillen Familienlebens sein?“ Sie irrte sich. Die Inhaltlosigkeit der brüderlichen Briefe entsprang nicht der eigenen Nichtigkeit, sondern einem Vorurteil, das übrigens außerordentlich beleidigend für uns ist: Er nahm an, daß man mit Frauen in einer Sprache reden müsse, die der Beschränktheit ihrer Begriffe entspräche, und daß Dinge von Wichtigkeit uns nichts angingen. Solch eine Ansicht wäre überall unhöflich, doch bei uns ist sie auch noch dumm. Es gibt gar keinen Zweifel daran, daß die russischen Frauen gebildeter sind als die Männer, mehr lesen und mehr nachdenken als jene, die mit Gott weiß was beschäftigt sind. Es verbreitete sich die Nachricht von der Schlacht bei Borodino. Alle sprachen von der Schlacht; jeder hatte seine eigenen, völlig zuverlässigen Nachrichten, jeder besaß eine Liste der Gefallenen und Verwundeten. Mein Bruder schrieb nicht. Wir waren außerordentlich beunruhigt. Schließlich kam einer von denen, 163
die alles mögliche verbreiten, zu uns, um uns von seiner Gefangennahme zu unterrichten, indessen verkündete er Polina flüsternd, daß er gefallen sei. Polina war tief betrübt. Sie war in meinen Bruder nicht verliebt und oft ungehalten über ihn gewesen, doch in diesem Moment sah sie in ihm einen Märtyrer, einen Helden und beweinte ihn heimlich, ohne es mir gegenüber merken zu lassen. Einige Male traf ich sie in Tränen an. Das wunderte mich nicht, ich wußte, was sie für einen schmerzlichen Anteil an dem Schicksal unseres leidenden Vaterlandes nahm. Ich ahnte nicht die Ursache ihres Schmerzes. Eines Morgens ging ich im Garten spazieren; neben mir ging Sinêcourt; wir sprachen über Polina. Ich merkte, daß er ihre ungewöhnlichen Eigenschaften zutiefst empfand und daß ihre Schönheit einen großen Eindruck auf ihn machte. Ich gab ihm unter Lachen zu verstehen, daß seine Lage sehr romantisch sei. Der vom Feinde gefangene, verwundete Ritter verliebe sich in die edle Schloßherrin, rühre ihr Herz und erhalte schließlich ihre Hand. „Nein“, sagte Sinêcourt zu mir, „die Fürstin sieht in mir einen Feind Rußlands und wird niemals einverstanden sein, ihr Vaterland zu verlassen.“ In diesem Augenblick erschien Polina am Ende der Allee, und wir gingen ihr entgegen. Sie näherte sich mit schnellen Schritten. Die Blässe ihres Gesichtes erstaunte mich. „Moskau ist eingenommen“, sagte sie zu mir, ohne die Verbeugung Sinêcourts zu erwidern. Mein Herz krampfte sich zusammen, die Tränen stürzten mir aus den Augen. Sinêcourt schwieg und sah vor sich hin. „Die edelmütigen, aufgeklärten Franzosen“, fuhr sie mit vor Entrüstung bebender Stimme fort, „feiern ihren Triumph auf würdige Weise. Sie haben Moskau angezündet. Moskau brennt schon seit zwei Tagen.“ – „Was sagen Sie da“, schrie Sinêcourt, „das kann nicht sein.“ – „Warten Sie, bis es Nacht wird“, antwortete sie streng. „Vielleicht sehen Sie den Widerschein am Himmel.“ – „Mein Gott! Er ist verloren“, sagte Sinêcourt. „Ist es möglich, begreifen Sie denn nicht, daß der Brand Moskaus den Untergang für alle französischen Truppen bedeutet, daß Napoleon sich jetzt nirgends und durch nichts halten kann, daß er gezwungen ist, so bald wie möglich den Rückzug 164
anzutreten, und zwar durch eine verwüstete, leere Gegend, beim Herannahen des Winters, mit einem zerrütteten und unzufriedenen Heer! Wie können Sie nur denken, daß die Franzosen selbst diese Hölle geschaffen hätten! Nein, nein, die Russen haben Moskau angezündet. Eine entsetzliche, eine barbarische Großmut! Jetzt ist alles entschieden: Ihr Vaterland ist der Gefahr entgangen, doch was wird aus uns, was wird aus dem Imperator?“ Er ließ uns allein. Polina und ich konnten uns gar nicht fassen. „Hat denn Sinêcourt wirklich recht“, fragte sie, „und ist der Brand wirklich das Werk unserer Hände? Wenn das so ist … Oh, dann kann ich stolz darauf sein, mich eine Russin zu nennen. Unser großes Opfer wird die Welt in Erstaunen versetzen! Jetzt fürchte ich mich auch nicht mehr vor unserem Untergang, unsere Ehre ist gerettet; niemals wird Europa es wagen, mit einem Volk zu kämpfen, das sich selbst die Hände abschlägt und die eigene Hauptstadt anzündet.“ Ihre Augen glänzten, ihre Stimme klang metallen. Ich umarmte sie, gemeinsam vergossen wir Tränen hochherziger Begeisterung und flehten inbrünstig für unser Vaterland. „Weißt du es noch nicht?“ sagte Polina begeisterten Angesichts. „Dein Bruder … er ist glücklich, er ist kein Gefangener – freue dich: Er ist für die Rettung Rußlands gefallen.“ Ich schrie auf und fiel ihr bewußtlos in die Arme …
Dubrowskij
Erster Band
Erstes Kapitel Vor einigen Jahren lebte auf einem seiner Güter der Gutsherr von altem Adel Kirila Petrowitsch Trojekurow. Sein Reichtum, sein vornehmes Geschlecht und seine Verbindungen verliehen ihm großes Ansehen in den Gouvernements, in denen sich sein Besitz befand. Die Nachbarn waren froh, ihm seine belanglosesten Launen erfüllen zu können; die Beamten der Gouvernements zitterten schon, wenn sein Name fiel; Kirila Petrowitsch nahm die Zeichen der Unterwürfigkeit wie einen ihm zukommenden Tribut entgegen; sein Haus war immer voller Gäste, die bereit waren, ihm sein herrschaftliches Nichtstun zu verkürzen und mit ihm seine lauten und manchmal auch wilden Vergnügungen zu teilen. Niemand hätte gewagt, seine Einladung abzulehnen oder an den üblichen Tagen nicht mit der nötigen Ehrerbietung auf dem Gut Pokrowskoje zu erscheinen. In seiner häuslichen Umgebung zeigte Kirila Petrowitsch alle Fehler eines ungebildeten Menschen. Verwöhnt von allem, was ihn nur umgab, war er gewohnt, allen Anwandlungen seines hitzigen Charakters und allen Hinfallen seines recht beschränkten Verstandes freien Lauf zu lassen. Trotz seiner ungewöhnlichen physischen Kräfte hatte er in der Woche ungefähr zweimal an den Folgen seiner Gefräßigkeit zu leiden und war jeden Abend angeheitert. In einem der Seitenflügel seines Hauses wohnten sechzehn Stubenmädchen und beschäftigten sich mit Handarbeiten, die diesem Geschlecht zukommen. Vor den Fenstern des Seitenflügels waren Holzgitter angebracht, und an den Türen hingen Schlösser, deren Schlüssel sich bei Kirila Petrowitsch befanden. Zu bestimmten Stunden kamen die jungen Einsiedlerinnen in den Garten und ergingen sich in ihm unter der Aufsicht zweier alter Frauen. Von Zeit zu Zeit verheiratete Kirila 169
Petrowitsch einige von ihnen, und neue nahmen ihren Platz ein. Die Bauern und das Gesinde behandelte er streng und eigenwillig; trotzdem waren sie ihm ergeben: Der Reichtum und der Ruhm ihres Herrn schmeichelten ihrer Eitelkeit, und sie nahmen sich ihrerseits vieles den Nachbarn gegenüber heraus, wobei sie auf seinen mächtigen Schutz hofften. Trojekurows alltägliche Beschäftigung bestand in Ausflügen durch seine ausgedehnten Besitzungen, in endlosen Trinkgelagen und in Streichen, die tagtäglich ausgeheckt wurden und denen meist ein neuer Bekannter zum Opfer fiel; allerdings waren auch die alten Freunde vor ihnen nicht sicher, mit Ausnahme Andrej Gawrilowitsch Dubrowskijs. Dieser Dubrowskij, ein verabschiedeter Gardeoberleutnant, war sein nächster Nachbar und besaß siebzig Seelen. Trojekurow, selbst im Umgang mit Leuten von allerhöchstem Rang hochmütig, achtete Dubrowskij trotz seines bescheidenen Vermögens. Sie waren einst Regimentskameraden gewesen, und Trojekurow kannte aus Erfahrung die Unduldsamkeit und Entschiedenheit seines Charakters. Die Umstände hatten sie auf lange Zeit getrennt. Dubrowskij mit seinem zerrütteten Vermögen sah sich gezwungen, den Abschied zu nehmen und sich in dem einzigen ihm noch verbliebenen Dorfe niederzulassen. Als Kirila Petrowitsch davon erfuhr, bot er ihm seine Hilfe an, doch Dubrowskij dankte und blieb arm und unabhängig. Einige Jahre darauf kam Trojekurow als General en chef a. D. auf sein Gut zurück; sie sahen sich wieder, und einer freute sich beim Anblick des anderen. Seit dieser Zeit kamen sie jeden Tag zusammen, und Kirila Petrowitsch, der sein Lebtag noch niemanden mit seinem Besuch beehrt hatte, kehrte ohne weiteres in dem Häuschen seines alten Kameraden ein. Da sie gleichaltrig und von gleicher Herkunft waren und die gleiche Erziehung genossen hatten, ähnelten sie sich zum Teil auch in ihren Charakteren und in ihren Neigungen. In mancher Beziehung war ihr Schicksal auch gleich gewesen: Beide heirateten aus Liebe, beide wurden bald zu Witwern, und beide behielten ein Kind zurück. Der Sohn Dubrowskijs wurde in Petersburg erzogen, die Tochter Kirila Petrowitschs wuchs unter den Augen des Vaters heran, und Trojekurow sagte 170
oft zu Dubrowskij: „Hör mal, Bruder Andrej Gawrilowitsch, wenn aus deinem Wolodka was Rechtes wird, dann bekommt er auch meine Mascha, obwohl er arm wie eine Kirchenmaus ist.“ Daraufhin wiegte Andrej Gawrilowitsch gewöhnlich den Kopf und entgegnete: „Mein Wolodka ist für Marja Kirilowna nicht der passende Bräutigam. Für einen armen Adligen wie ihn ist es besser, eine arme Adlige zu heiraten und der Herr im Haus zu sein, als der Verwalter eines verwöhnten Weibes.“ Man beneidete die Eintracht, die zwischen dem hochmütigen Trojekurow und seinem armen Nachbarn herrschte und bewunderte die Kühnheit des letzteren, wenn er an der Tafel Kirila Petrowitschs geradeheraus seine Meinung sagte, ohne sich darum zu kümmern, ob sie den Ansichten des Gastgebers widersprach. Einige hatten versucht, es ihm gleichzutun und die Grenzen des gebührenden Gehorsams überschritten, doch Kirila Petrowitsch hatte sie daraufhin so eingeschüchtert, daß ihnen auf immer die Lust an solchen Anschlägen verging und Dubrowskij der einzige blieb, der sich nicht nach dem allgemeinen Gesetz richtete. Ein Zufall zerstörte und änderte alles. Einmal traf Kirila Petrowitsch zu Herbstbeginn Vorbereitungen zur Jagd. Am Vorabend wurde an die Hundewärter und Reitknechte der Befehl ausgegeben, sich für fünf Uhr morgens bereitzuhalten. Ein Zelt und die Küche wurden im voraus an die Stelle geschickt, wo Kirila Petrowitsch zu Mittag essen wollte. Der Hausherr und die Gäste gingen zum Hundezwinger, wo mehr als fünfhundert Jagd- und Windhunde in Zufriedenheit und Wärme lebten und Kirila Petrowitschs Freigebigkeit in ihrer Hundesprache rühmten. Dort befand sich auch das Lazarett für kranke Hunde unter der Aufsicht des Stabsarztes Timoschka und eine Abteilung, in der die vornehmen Hündinnen ihre Jungen warfen und säugten. Kirila Petrowitsch war auf diese herrlichen Einrichungen stolz und ließ sich nie die Gelegenheit entgehen, mit ihnen vor seinen Gästen, von denen jeder sie mindestens schon zwanzigmal gesehen hatte, zu prahlen. Er schritt im Hundezwinger umher, umgeben von seinen Gästen und begleitet von Timoschka und den Oberwärtern, blieb vor einigen Hundehütten stehen, er171
kundigte sich hier nach der Gesundheit kranker Hunde, machte dort mehr oder weniger strenge und gerechtfertigte Bemerkungen oder rief Hunde, die er kannte, an und sprach zärtlich mit ihnen. Die Gäste hielten sich für verpflichtet, ihr Entzücken über den Hundezwinger Kirila Petrowitschs zum Ausdruck zu bringen. Nur Dubrowskij schwieg und machte ein finsteres Gesicht. Er war ein leidenschaftlicher Jäger. Seine Verhältnisse erlaubten es ihm nur, zwei Jagdhunde und eine Koppel Windhunde zu halten; er konnte einen gewissen Neid beim Anblick dieser großartigen Einrichtung nicht unterdrücken. „Was ziehst du für ein finsteres Gesicht, Bruder“, fragte ihn Kirila Petrowitsch, „oder gefällt dir mein Hundezwinger nicht?“ – „Nein“, entgegnete dieser hart, „der Zwinger ist wunderbar, Ihre Leute werden kaum so ein Leben haben wie Ihre Hunde.“ Einer der Hundewärter fühlte sich beleidigt. „Über unser Leben“, sagte er, „können wir dank Gott und unserem Herrn nicht klagen, aber was wahr ist, muß wahr bleiben, mancher Adlige würde nicht schlecht dabei fahren, wenn er sein Herrenhaus mit irgendeiner Hundehütte hier vertauschte. Er bekäme mehr zu essen und hätte es wärmer.“ Kirila Petrowitsch lachte laut über die freche Bemerkung seines Knechts, und daraufhin lachten auch die Gäste, obwohl sie fühlten, daß der Scherz des Hundewärters sich auch auf sie beziehen konnte. Dubrowskij erbleichte und sagte kein einziges Wort. In diesem Moment brachte man Kirila Petrowitsch ein Körbchen mit frischgeworfenen Welpen; er beschäftigte sich mit ihnen, suchte zwei heraus und befahl, die übrigen zu ersäufen. Unterdessen war Andrej Gawrilowitsch verschwunden, ohne daß es jemand bemerkt hätte. Vom Hundezwinger zurückgekehrt, setzte sich Kirila Petrowitsch mit den Gästen zu Tisch, und erst dort, als er Dubrowskij vermißte, erkundigte er sich nach ihm. Seine Leute antworteten. Andrej Gawrilowitsch sei nach Hause gefahren. Trojekurow befahl, ihm sofort nachzujagen und ihn auf jeden Fall zurückzuholen. Noch nie war er auf die Jagd ohne Dubrowskij, den erfahrenen und feinen Hundekenner, den sicheren Richter bei allen Jagdstreitigkeiten, gefahren. Der Diener, der hinter ihm hergesprengt war, kam zurück, als man noch bei Tische saß und mel172
dete seinem Herrn, daß Andrej Gawrilowitsch nicht gehorcht habe und nicht zurückkommen wolle. Kirila Petrowitsch, den die Fruchtschnäpse wie üblich in Erregung versetzt hatten, wurde wütend und schickte denselben Diener zum zweitenmal fort, um Andrej Gawrilowitsch ausrichten zu lassen, wenn er nicht sofort nach Pokrowskoje käme und dort übernachte, werde er, Trojekurow, sich auf ewig mit ihm verfeinden. Der Diener galoppierte von neuem davon, und Kirila Petrowitsch stand auf, entließ seine Gäste und ging schlafen. Am nächsten Tag war seine erste Frage, ob Andrej Gawrilowitsch da sei. An Stelle einer Antwort reichte man ihm einen dreieckig zusammengefalteten Brief; Kirila Petrowitsch befahl seinem Schreiber, ihn laut vorzulesen und vernahm folgendes: „Hochgeschätzter Herr, ich werde nicht eher nach Pokrowskoje fahren, bis Sie mir den Hundewärter Paramoschka mit seinem Schuldgeständnis geschickt haben; und es soll von mir abhängen, ihn zu bestrafen oder ihm zu vergeben, doch die Späße Ihrer Knechte habe ich nicht die Absicht zu ertragen, und auch von Ihnen werde ich sie nicht ertragen; denn ich bin kein Hofnarr, sondern ein alter Edelmann. – Damit verbleibe ich untertänigst und zu Diensten Andrej Dubrowskij“ Nach heutigen Anstandsbegriffen wäre dieser Brief sehr unschicklich, doch ärgerte sich Kirila Petrowitsch nicht über seinen seltsamen Stil und seinen Ton, sondern nur über seinen Inhalt. „Was“, schrie Trojekurow und sprang mit nackten Füßen aus dem Bett. „Ihm meine Leute mit einem Schuldgeständnis schikken, und es soll ihm freistehen, sie zu bestrafen oder zu begnadigen! Was hat er sich da einfallen lassen; weiß er überhaupt, mit wem er es zu tun hat? Dem werde ich’s zeigen … Weinen wird er, erfahren wird er, was es heißt, gegen Trojekurow anzugehen!“ Kirila Petrowitsch zog sich an und begab sich mit gewohntem Gepränge auf die Jagd, doch die Jagd mißlang. Während des gan173
zen Tages sahen sie nur einen einzigen Hasen, und auch den ließen sie sich entgehen. Das Essen im Freien unter dem Zeltdach mißlang ebenfalls, auf jeden Fall mißfiel es Kirila Petrowitsch, der den Koch verprügelte, heftig die Gäste ausschalt und absichtlich auf dem Rückweg mit seiner ganzen Jagdgesellschaft über die Felder Dubrowskijs ritt. Einige Tage vergingen, und die Feindschaft zwischen den beiden Nachbarn legte sich nicht. Andrej Gawrilowitsch kam nicht wieder nach Pokrowskoje, Kirila Petrowitsch langweilte sich ohne ihn, und sein Ärger schlug sich in den beleidigendsten Ausdrükken nieder, die dank dem Eifer der dortigen Adligen in verbesserter und ausgeschmückter Form zu Dubrowskij gelangten. Ein neuer Umstand zerstörte auch die letzte Hoffnung auf eine Aussöhnung. Dubrowskij fuhr eines Tages seinen kleinen Besitz ab; als er sich dem Birkenwäldchen näherte, hörte er Axtschläge und kurz darauf das Krachen eines stürzenden Baumes. Er eilte zu dem Wäldchen und stieß auf Bauern aus Pokrowskoje, die in aller Ruhe bei ihm Holz stahlen. Als sie ihn sahen, liefen sie davon. Dubrowskij fing zusammen mit seinem Kutscher zwei von ihnen ein und brachte sie gefesselt auf seinen Hof. Drei gegnerische Pferde wurden ebenfalls eine Beute des Siegers. Dubrowskij war sehr aufgebracht: Bisher hatten es Trojekurows Leute, bekannte Räuber, noch nie gewagt, innerhalb der Grenzen seiner Besitzungen etwas zu unternehmen, da sie von seinem freundschaftlichen Verhältnis zu ihrem Herrn wußten. Dubrowskij sah, daß sie den entstandenen Bruch jetzt für sich ausnutzten, und entschloß sich, entgegen allen Regeln des Kriegsrechtes den Gefangenen eine Lehre zu erteilen, und zwar mit denselben Ruten, mit denen sie sich in seinem Wäldchen versorgt hatten, und die Pferde als seine eigenen zu betrachten und auf dem Felde arbeiten zu lassen. Das Gerücht von diesem Vorfall kam noch am selben Tage Kirila Petrowitsch zu Ohren. Er geriet ganz außer sich, und im ersten Moment des Zorns wollte er mit seinem Gesinde einen Überfall auf Kistenjowka (so hieß das Dorf seines Nachbarn) 174
ausführen, es bis auf den Grund und Boden zerstören und den Gutsherrn selbst in seinem Haus belagern. Solche Heldentaten waren für ihn nichts Neues. Doch seine Gedanken nahmen bald eine andere Richtung. Als er schweren Schrittes im Saal auf und ab ging, sah er zufällig aus dem Fenster und erblickte am Tor eine Troika, die dort anhielt; ein kleiner Mann in Ledermütze und Friesmantel stieg aus dem Wagen und ging zu dem Flügel des Verwalters; Trojekurow erkannte den Assessor Schabaschkin und ließ ihn herbeirufen. Eine Minute darauf stand Schabaschkin schon vor Kirila Petrowitsch, verbeugte sich ohne Unterlaß und wartete ehrfurchtsvoll auf seine Befehle. „Tag, wie heißt du noch schnell?“ fragte ihn Trojekurow. „Warum bist du gekommen?“ „Ich war auf dem Wege in die Stadt, Euer Exzellenz“, antwortete Schabaschkin, „und wollte Iwan Demjanow aufsuchen, um zu erfahren, ob nicht ein Befehl von Euer Exzellenz vorliegt.“ „Bist zur rechten Zeit zu uns gekommen, wie heißt du noch schnell; ich brauche dich. Trink einen Schnaps und hör zu.“ Der Assessor war von solch einem liebenswürdigen Empfang angenehm überrascht. Er lehnte den Schnaps ab und begann Kirila Petrowitsch mit aller nur möglichen Aufmerksamkeit zuzuhören. „Ich habe einen Nachbarn“, sagte Trojekurow, „ein adliger Grobian mit wenig Land; ich will ihm sein Gut wegnehmen – Wie denkst du darüber?“ „Euer Exzellenz, falls irgendwelche Papiere oder …“ „Red nicht, Bruder, was denn für Papiere. Dafür gibt’s Erlasse. Der Sinn liegt doch gerade darin, daß man ihm ohne irgendein Recht das Gut abnimmt. Warte mal. Dies Gut hat früher uns gehört, ein gewisser Spizyn hat es gekauft und dann an den Vater von Dubrowskij verkauft. Kann man daraus nicht etwas machen?“ „Das wird schwer gehen, Euer Hochwohlgeboren; wahrscheinlich ist dieser Verkauf nach den Vorschriften des Gesetzes getätigt worden.“ „Denk nach, Bruder, gib dir ein bißchen Mühe.“ 175
„Wenn zum Beispiel Euer Exzellenz auf irgendeine Weise in den Besitz des Schriftstückes oder Kaufvertrages, kraft dessen ihm sein Gut gehört, gelangen könnten, dann natürlich …“ „Ich verstehe, aber das Unglück ist, daß seine ganzen Papiere bei einer Feuersbrunst verbrannt sind.“ „Wie, Euer Exzellenz, seine Papiere sind verbrannt! Was können Sie sich Besseres wünschen? In diesem Fall belieben Sie nach den Gesetzen vorzugehen, und ohne jeden Zweifel wird alles zu Ihrer vollen Zufriedenheit gelöst werden.“ „Meinst du? Nun, sieh zu. Ich verlasse mich auf deinen Eifer, und von meiner Dankbarkeit kannst du überzeugt sein.“ Schabaschkin verbeugte sich fast bis zur Erde, ging hinaus und begann von diesem Tage an die geplante Sache voranzutreiben, und dank seiner Geschicklichkeit erhielt Dubrowskij nach genau zwei Wochen eine Vorladung aus der Stadt mit der Aufforderung, unverzüglich die notwendigen Erklärungen über seine Rechte als Besitzer des Dorfes Kistenjowka abzugeben. Andrej Gawrilowitsch war über die unerwartete Anfrage sehr erstaunt und antwortete noch am selben Tag mit einem recht groben und offiziellen Brief, in dem er erklärte, daß das Dorf Kistenjowka nach dem Tode seines seligen Vaters auf ihn gekommen sei, daß er es nach dem Erbrecht besitze, daß es Trojekurow nichts angehe und daß jeder fremde Anspruch auf dieses sein Eigentum nichts als Verleumdung und Schurkerei sei. Dieser Brief machte auf den Assessor Schabaschkin einen höchst erfreulichen Eindruck. Er sah erstens, daß Dubrowskij nicht viel von diesen Angelegenheiten verstand, und zweitens, daß es nicht schwer sein würde, solch einen hitzigen und unvorsichtigen Menschen in eine außerordentlich unvorteilhafte Lage zu bringen. Als Andrej Gawrilowitsch noch einmal ruhigen Bluts die Anfragen des Assessors durchgegangen war, sah er die Notwendigkeit ein, genauer auf sie zu antworten. Er schrieb einen recht vernünftigen Brief, der sich jedoch im Laufe der Zeit als nicht ausreichend erwies. Die Angelegenheit zog sich in die Länge. Der von seinem 176
Recht überzeugte Andrej Gawrilowitsch kümmerte sich wenig um sie, hatte weder Lust noch Möglichkeit, mit Geld um sich zu werfen, und obwohl er sich immer als erster über die Käuflichkeit der Federfuchser lustig machte, kam ihm der Gedanke, er könnte das Opfer einer Verleumdung werden, nicht in den Kopf. Trojekurow kümmerte sich seinerseits ebensowenig um den Erfolg der von ihm angezettelten Sache – Schabaschkin handelte in seinem Namen, schüchterte die Richter ein, kaufte sie und legte alle möglichen Erlasse auf alle mögliche Weise aus. Wie dem auch sei, am 9. Februar 18‥ erhielt Dubrowskij durch die Stadtpolizei eine Aufforderung, vor dem Richter des Landgerichts zu erscheinen, um dessen Beschluß in Sachen des Streites um das Gut zwischen ihm, dem Oberleutnant Dubrowskij, und dem General en chef Trojekurow zu erfahren und um durch seine Unterschrift sein Einverständnis zu erklären oder Berufung einzulegen. Noch am selben Tag machte sich Dubrowskij auf den Weg in die Stadt, unterwegs überholte ihn Trojekurow. Stolz sahen sich beide an, und Dubrowskij bemerkte ein boshaftes Lächeln im Gesicht seines Feindes. Zweites Kapitel Als Andrej Gawrilowitsch in der Stadt angekommen war, stieg er bei einem ihm bekannten Kaufmann ab, übernachtete dort und erschien am Morgen des nächsten Tages im Amtsgebäude des Kreisgerichts. Niemand beachtete ihn. Nach ihm trat Kirila Petrowitsch ein. Die Schreiber erhoben sich und steckten ihre Federn hinter das Ohr. Die Mitglieder des Gerichts begrüßten ihn mit dem Ausdruck tiefster Unterwürfigkeit, rückten aus Achtung vor seinem Rang, seinen Jahren und seiner Beleibtheit einen Sessel heran; er setzte sich neben die offene Tür – Andrej Gawrilowitsch lehnte an der Wand –, eine tiefe Stille trat ein, und der Sekretär begann mit hellklingender Stimme den Beschluß des Gerichtes zu verlesen. Wir führen ihn hier in voller Länge an, da wir annehmen, daß es einem jeden angenehm sein wird, eines der Mittel kennen177
zulernen, auf Grund deren wir in Rußland das Gut verlieren können, auf dessen Besitz wir ein nicht zu bestreitendes Recht haben. „Am 27. Oktober 18‥ untersuchte das Kreisgericht zu *** den Fall des durch den Gardeoberleutnant Andrej Gawrilowitsch, Sohn des Dubrowskij, unrechtmäßig angeeigneten Gutes, welches dem General en chef Kirila Petrowitsch, Sohn des Trojekurow, gehört, sich im *** Gouvernement im Dorf Kistenjowka befindet und aus *** Seelen männlichen Geschlechts sowie *** Deßjatinen Ackerland und Weide samt den dazugehörigen Wäldern und Gewässern besteht. Aus der Akte ist ersichtlich: Der obengenannte General en chef Trojekurow wandte sich am 9. Juni 18‥ an selbiges Gericht mit einem Bittgesuch, in dem es heißt, daß sein verstorbener Vater, der Kollegienassessor und Ritter Pjotr, Sohn des Jefim Trojekurow, am 14. August 17‥, zu einer Zeit, da er in der Verwaltung des Generalgouverneurs als Provinzialsekretär gedient, von dem adligen Kanzlisten Fadej, Sohn des Jegor Spizyn, ein Gut gekauft habe, welches sich in dem erwähnten Dorf Kistenjowka (jene Ansiedlung sei nach der *** Revision damals Weiler Kistenjowka genannt worden) des *** Bezirks befunden, und nach der 4. Revision aus insgesamt *** Seelen männlichen Geschlechts samt ihrem bäuerlichen Eigentum, dem Hof, dem Acker- und Weideland, den Wäldern und Wiesen, den Fischgründen des Kistenjowka genannten Flusses sowie den zu diesem Gut gehörigen Grundstücken und dem aus Holz errichteten Herrenhaus bestanden habe, mit einem Wort, aus allem, was der Vater, der adlige Wachtmeister Jegor, Sohn des Terentij Spizyn, seinem Sohn vererbt und derselbe besessen habe, ohne daß eine einzige Seele oder ein Fußbreit Landes gefehlt, zu einem Preis von 2 500 Rubeln, was in dem Kaufvertrag vom selben Tage in der *** Gerichts- und Strafkammer festgelegt worden sei; sein Vater sei damals bereits am 26. August durch das Ordnungsgericht in seinen Besitz eingeführt worden. – Und schließlich sei am 6. September 17‥ sein Vater nach Gottes Ratschluß gestorben, währenddessen er, der Gesuchsteller General en chef 178
Trojekurow, sich vom Jahre 17‥ fast von Kindesbeinen an im Militärdienst befunden und zum großen Teil an ausländischen Feldzügen teilgenommen habe, weshalb er weder über den Tod seines Vaters noch über das von ihm hinterlassene Gut unterrichtet gewesen sein könne. Gegenwärtig, da er den Dienst quittiert und auf die Besitzungen seines Vaters zurückgekehrt sei, welche sich in den Gouvernements *** und ***, in den Kreisen ***, *** und *** und verschiedenen Ansiedlungen befänden und alles in allem 3 000 Seelen zählten, stellte er fest, daß aus der Zahl der Besitzungen eine, nämlich die obengenannte, bestehend aus *** Seelen (von denen in diesem Dorf nach der gegenwärtigen Revision nur *** verzeichnet seien) mit dem Land und allen dazugehörigen Wäldern und Gewässern sich ohne jegliche Berechtigung im Besitz des obenerwähnten Gardeoberleutnants Andrej Dubrowskij befände, weshalb er, Trojekurow, gleichzeitig mit dem Bittgesuch den Kaufvertrag, den sein Vater vom Verkäufer, Spizyn, erhalten habe, im Original beilege und bäte, das obengenannte, von Dubrowskij unrechtmäßig angeeignete Gut demselben abzunehmen und in seinen, Trojekurows, vollen Besitz zu überführen. Für die unrechtmäßige Aneignung des Gutes, von dessen Einkünften Dubrowskij Gebrauch gemacht habe, bäte er, Dubrowskij nach den Gesetzen zu einer Wiedergutmachung in Höhe der noch festzustellenden verbrauchten Einkünfte zu verurteilen und damit ihn, Trojekurow, zu entschädigen. Die durch das Gericht zu *** auf Grund des Bittgesuches vorgenommene Untersuchung zeigte, daß der erwähnte gegenwärtige Besitzer des strittigen Gutes, der Gardeoberleutnant Dubrowskij, dem adligen Beisitzer sofort eine Erklärung abgegeben hat, des Inhalts, daß er das gegenwärtig in seinem Besitz befindliche Gut im obengenannten Dorf Kistenjowka mit *** Seelen, dem Land und den dazugehörigen Wäldern und Gewässern von seinem Vater, dem Leutnant der Artillerie Gawrila, Sohn des Jewgraf Dubrowskij, nach dessen Tode geerbt habe, daß jener es vom Vater des Gesuchstellers, dem Provinzialsekretär und späteren Kollegienassessor Trojekurow, durch Kauf erworben habe, wie aus einer vom Kreisgericht beglaubigten Vollmacht hervorgeht, 179
die der Titularrat Grigorij, Sohn des Wassilij Sobolew, am 30. August 17‥ erhalten habe, nach welcher sein Vater einen Kaufvertrag bekommen haben müsse, weil in ihr nämlich gesagt sei, daß das Gut, welches er, Trojekurow, laut Vertrag samt *** Seelen und Ländereien vom Kanzlisten Spizyn erhalten habe, seinem, Dubrowskijs, Vater verkauft und er die vertragsmäßig festgelegte Summe, 3 200 Rubel, voll und ganz erhalten sowie den Bevollmächtigten Sobolew gebeten habe, seinem Vater die Rechtsurkunde zu übergeben. Währenddessen sollte laut dieser Vollmacht sein Vater, da er die volle Summe bezahlt habe, von dem erworbenen Gut Besitz ergreifen und als der eigentliche Besitzer über es verfügen, und er, der Verkäufer Trojekurow, sowie auch jeder andere habe keinerlei Rechte auf das Gut mehr. Doch wann und in welcher Behörde dieser Kaufvertrag vom Bevollmächtigten Sobolew seinem Vater übergeben worden sei – das sei ihm, Andrej Dubrowskij, nicht bekannt, da er zu jener Zeit noch ein kleines Kind gewesen sei; auch habe er nach dem Tode des Vaters solch einen Kaufvertrag nicht finden können und nehme an, daß er zusammen mit den anderen Papieren und sonstigem Hab und Gut während des im Jahre 17‥ im Gutshaus ausgebrochenen Feuers verbrannt sei, von welchem auch die Bewohner dieser Ansiedlung wüßten. Daß sie, die Dubrowskijs, vom Tage des Verkaufs durch Trojekurow oder der Übergabe der Vollmacht an Sobolew, das heißt vom Jahre 17‥ und nach dem Tode des Vaters vom Jahre 17‥ an und auch gegenwärtig dieses Gut unstreitig besessen hätten, würden die Bewohner dieser Gegend bezeugen, welche – alles in allem zweiundfünfzig Personen – bei einem Verhör unter Eid ausgesagt hätten, daß, wie sie sich erinnern könnten, tatsächlich die obenerwähnten Herren Dubrowskij vor ungefähr siebzig Jahren das genannte strittige Gut in Besitz genommen hätten, ohne daß von irgend jemand Einspruch dagegen erhoben worden sei, doch auf Grund welcher Urkunde oder welches Vertrages wüßten sie nicht zu sagen. Ob aber der in dieser Sache erwähnte frühere Käufer dieses Gutes, der ehemalige Provinzialsekretär Pjotr Trojekurow, dieses Gut besessen habe – daran könnten sie sich nicht erinnern. 180
Das Haus der Herren Dubrowskij aber sei vor etwa dreißig Jahren während einer in ihrer Ansiedlung ausgebrochenen Feuersbrunst zur Nachtzeit niedergebrannt; außerdem sei von unvoreingenommenen Leuten festgestellt worden, daß das genannte strittige Gut seit jener Zeit im Mittel nicht weniger als 2 000 Rubel jährlich an Einkünften habe bringen müssen. Dagegen reichte der General en chef Kirila, Sohn des Pjotr Trojekurow, am 3. Jänner dieses Jahres ein Bittgesuch an das hiesige Gericht ein, des Inhalts, daß zwar der erwähnte Gardeoberleutnant Andrej Dubrowskij bei der durchgeführten Untersuchung die Vollmacht über das an ihn verkaufte Gut, die dem Titularrat Sobolew von seinem Vater übergeben worden sei, vorgewiesen habe, doch habe er weder den dort genannten Originalkaufvertrag noch klare Beweise des Abschlusses eines solchen im Sinne des neunzehnten Kapitels der Generalvorschrift und des Erlasses vom 29. November des Jahres 1752 erbracht. Infolgedessen sei gegenwärtig die Vollmacht wegen des Todes ihres Ausstellers auf Grund des Erlasses vom ‥ Mai des Jahres 1818 als ungültig zu betrachten. – Überdies fordere das Gesetz, daß strittige Güter in Besitz genommen werden – entweder auf Grund von Rechtsurkunden oder, falls solche nicht vorhanden, auf Grund von Ermittlungen. Er dagegen habe zum Beweis den Kaufvertrag auf dieses seinem Vater gehörende Gut vorgelegt, woraus folge, daß auf Grund der obengenannten Verordnungen dasselbe dem erwähnten Dubrowskij wegen unrechtmäßigen Besitzes entzogen und ihm, Trojekurow, nach dem Erbrecht zugesprochen werden müsse. Und da die obengenannten Gutsherren von dem Gut Besitz ergriffen hätten, ohne ein Recht darauf zu haben und sich unrechtmäßigerweise seiner und seiner ihnen nicht gehörenden Einkünfte bedient hätten, solle nach Berechnung der Einkünfte dem Gutsherrn Dubrowskij diese Summe entzogen und mit derselben er, Trojekurow, entschädigt werden. – Nach Untersuchung selbiger Sache und Anfertigung von Auszügen aus der Akte und aus den Gesetzen hat das *** Kreisgericht beschlossen: Wie aus den Akten hervorgeht, hat der General en chef Kirila, 181
Sohn des Pjotr Trojekurow, den Originalkaufvertrag vorgelegt, nach welchem sein verstorbener Vater, Provinzialsekretär und später Kollegienassessor, das strittige Gut, das sich gegenwärtig im Besitz des Gardeoberleutnants Andrej, Sohn des Gawrila Dubrowskij, befindet, aus dem Dorf Kistenjowka, dem Land, den Wäldern und Gewässern besteht und nach der letzten … Revision *** Seelen männlichen Geschlechts zählt, im Jahre 17‥ vom Kanzlisten adliger Herkunft Fadej Spizyn erworben hat; überdies war jener Käufer, Trojekurow, wie aus dem Vermerk auf dem Kaufvertrag zu ersehen ist, im selben Jahr vom *** Gericht in seinen Besitz eingeführt worden, und obwohl demgegenüber seitens des Gardeoberleutnants Andrej Dubrowskij die Vollmacht vorgelegt wurde, die der verstorbene Käufer Trojekurow, dem Titularrat Sobolew zum Abschluß des Kaufvertrages auf den Namen seines, Dubrowskijs, Vaters übergeben, so wird doch darauf hingewiesen, daß auf Grund derartiger Abkommen keinerlei unbewegliches Eigentum einem anderen zugesprochen werden kann und selbst eine vorübergehende Besitznahme nach dem … Erlaß verboten ist; zudem hat die Vollmacht durch den Tod ihres Ausstellers jegliche Gültigkeit verloren. – Doch ob und wann und wo überdies auf Grund dieser Vollmacht tatsächlich ein Kaufvertrag auf das obengenannte strittige Gut ausgestellt worden ist, dafür sind seitens des Dubrowskij seit Beginn des Prozesses, das heißt seit dem Jahre 18‥, bis auf den heutigen Tag keine eindeutigen Beweise erbracht worden. Und deshalb beschließt das Gericht: Das obengenannte Gut mit *** Seelen, mit dem Land, den Wäldern und Gewässern in dem Zustand, in dem es sich gegenwärtig befindet, auf Grund des vorgelegten Kaufvertrages dem General en chef Trojekurow zuzusprechen; die Verfügungsgewalt über dasselbe dem Gardeoberleutnant Dubrowskij zu entziehen und den Herrn Trojekurow, wie es sich gehört, an seiner Stelle in den Besitz desselben einzuführen, und das dem Gericht zu *** aufzugeben, es auf Herrn Trojekurow als den eigentlichen Erben zu übertragen. – Überdies bittet der General en chef Trojekurow, den Gardeoberleutnant Dubrowskij eine Geldstrafe für den unrechtmäßigen Besitz seines Erbgutes, dessen Einkünfte 182
er sich bediente, zahlen zu lassen. – Da jedoch nach Aussage alteingesessener Leute das Gut einige Jahre unbestreitbar im Besitz der Herren Dubrowskij gewesen, und aus der Sache nicht ersichtlich ist, daß seitens des Herrn Trojekurow bisher irgendwelche Bittgesuche bezüglich des unrechtmäßigen Besitzes dieses Gutes durch die Dubrowskijs vorgebracht wurden, und zudem das Gesetz vorschreibt, daß wenn jemand fremdes Land bebaut und umzäunt und dieserhalb verklagt wird, und dieses sich als wahr erweist, so soll der, der im Recht ist, das Land mit dem angebauten Korn, mit der Umzäunung und dem Gebäude erhalten, so wird deshalb der Bitte des Generals en chef Trojekurow, den Gardeoberleutnant Dubrowskij eine Geldstrafe zahlen zu lassen, nicht stattgegeben, da das ihm gehörige Gut seinem Besitz wieder zugeführt wird, ohne jeglichen Verlust. Bei der Einführung in seinen Besitz hat nicht das geringste zu fehlen, es sei aber dem General en chef Trojekurow überlassen, falls er eindeutige und gesetzliche Beweise für seinen Anspruch vorbringen könne, an anderer Stelle gesondert zu klagen. – Selbiges Urteil ist sowohl dem Kläger als auch dem Angeklagten nach den Vorschriften des Gesetzes und mit dem Recht auf Berufung bekanntzugeben, dieselben sind durch die Polizei vor das Gericht zu laden, um das Urteil entgegenzunehmen und ihr Einverständnis oder ihren Einspruch durch ihre Unterschrift kundzutun. Selbiges Urteil ist von allen anwesenden Mitgliedern des Gerichts unterschrieben worden.“ Der Sekretär verstummte, der Assessor erhob sich, wandte sich mit einer tiefen Verbeugung an Trojekurow und forderte ihn auf, das ihm vorgelegte Aktenstück zu unterschreiben, und der triumphierende Trojekurow nahm von ihm die Feder entgegen und tat durch seine Unterschrift unter den Entscheid des Gerichts sein volles Einverständnis kund. Die Reihe war an Dubrowskij. Der Sekretär legte ihm das Schriftstück vor. Doch Dubrowskij stand unbeweglich, mit gesenktem Kopf, da. 183
Der Sekretär wiederholte seine Aufforderung, durch Unterschrift sein volles Einverständnis zu erklären, oder aber seinen eindeutigen Protest, falls sein Gewissen ihm wider Erwarten sage, daß er im Recht sei und vorhabe, in der vom Gesetz festgelegten Zeit gehörigen Orts Berufung einzulegen. Dubrowskij schwieg … Plötzlich hob er den Kopf, seine Augen funkelten, er stampfte mit dem Fuß auf, stieß den Sekretär mit solcher Kraft von sich, daß dieser zu Boden fiel, packte das Tintenfaß und schleuderte es nach dem Assessor. Alle waren entsetzt. „Wie! Gottes Kirche nicht zu achten! Hinaus, ihr Schurken!“ Dann fuhr er, zu Kirila Petrowitsch gewandt, fort: „Hat man je davon gehört, Euer Exzellenz, daß die Wärter Hunde in Gottes Kirche führen! Hunde laufen in der Kirche herum. Euch werde ich es schon zeigen …“ Auf den Lärm hin kamen die Gerichtsdiener herbeigelaufen und wurden nur mit Mühe seiner Herr. Man führte ihn hinaus und setzte ihn in den Schlitten. Trojekurow trat nach ihm heraus, das ganze Gericht begleitete ihn. Die plötzliche Geistesverwirrung Dubrowskijs hatte sein Gemüt stark beeindruckt und ihm seinen Triumph verdorben. Die Richter, die auf seine Dankbarkeit gehofft hatten, wurden nicht eines einzigen freundlichen Wortes für würdig befunden. Am selben Tag reiste er nach Pokrowskoje ab. Dubrowskij lag unterdessen im Bett; der Kreisarzt, zum Glück kein völliger Dummkopf, ließ ihn zur Ader und setzte ihm Blutegel und spanische Fliegen an. Gegen Abend ging es dem Kranken besser, er kam zu sich. Am nächsten Tag brachte man ihn nach Kistenjowka, das ihm fast schon nicht mehr gehörte. Drittes Kapitel Einige Zeit verging, doch um die Gesundheit des armen Dubrowskij war es immer noch schlecht bestellt; allerdings wiederholten sich die Anfälle von Geistesverwirrung nicht mehr, aber seine Kräfte ließen merklich nach. Er vergaß seine früheren Beschäftigungen, verließ selten sein Zimmer und versank in tage184
langes Nachdenken. Jegorowna, die gute Alte, die einst seinen Sohn aufgezogen hatte, wurde jetzt auch seine Kinderfrau. Sie paßte auf ihn wie auf ein Kind auf, sie erinnerte ihn ans Essen und ans Schlafengehen, fütterte ihn und brachte ihn zu Bett. Andrej Gawrilowitsch ordnete sich ihr still unter und verkehrte mit niemandem außer ihr. Er war außerstande, sich um seine Angelegenheiten und die Wirtschaft zu kümmern, und Jegorowna sah ein, daß es notwendig sei, den jungen Dubrowskij, der in einem der Gardeinfanterieregimenter diente und sich zu der Zeit in Petersburg befand, von allem zu unterrichten. So riß sie denn ein Blatt aus ihrem Wirtschaftsbuch und diktierte dem einzigen Schriftkundigen von Kistenjowka, dem Koch Chariton, einen Brief, den sie am gleichen Tag in die Stadt auf die Post bringen ließ. Doch es ist Zeit, den Leser mit dem eigentlichen Helden unserer Erzählung bekannt zu machen. Wladimir Dubrowskij erhielt seine Erziehung im Kadettenkorps und trat dann als Kornett in die Garde ein; sein Vater tat alles, damit sein Sohn ein anständiges Leben führen konnte, und der junge Mann erhielt von zu Hause mehr, als er eigentlich erwarten durfte. Da er verschwenderisch und ehrgeizig war, erlaubte er sich anspruchsvolle Liebhabereien; er spielte Karten und machte Schulden, ohne sich um die Zukunft zu sorgen, und sah sich schon früher oder später an der Seite einer reichen Braut, dem Traum einer armen Jugend. Eines Abends, als es sich einige Offiziere auf seinen Sofas bequem gemacht hatten und aus seinen Bernsteinmundstücken rauchten, reichte ihm Grischa, sein Kammerdiener, einen Brief, dessen Aufschrift und Siegel den jungen Mann sogleich verwunderten. Hastig öffnete er ihn und las folgendes: Du unser Herr, Wladimir Andrejewitsch, ich, Deine alte Kinderfrau, habe mich entschlossen, Dir von Papas Gesundheit zu berichten! Es geht ihm sehr schlecht, manchmal redet er Unsinn, und den ganzen Tag sitzt er wie ein dummes Kind da, doch Leben und Tod sind in Gottes Hand. Komm zu uns, mein Prachtjunge, wir schicken Dir auch Pferde nach Pessotschnoje entgegen. 185
Es heißt, das Landgericht soll zu uns kommen und uns unter die Herrschaft von Kirila Petrowitsch bringen, weil wir, so heißt es, die Seinigen wären, aber wir waren doch immer die Eurigen – unser Lebtag haben wir so etwas noch nicht gehört. Da Du doch in Petersburg wohnst, so könntest Du das dem Väterchen Zar erzählen, er würde es nicht zulassen, daß uns ein Leid geschieht. Hiermit verbleibe ich als Deine treue Magd und Kinderfrau Orina Jegorowna Busyrewa Ich schicke Grischa meinen mütterlichen Segen; dient er Dir auch gut? Bei uns regnet es schon die zweite Woche, und der Hirte Rodja ist am Nikolaitag gestorben. Wladimir Dubrowskij las diese ziemlich unverständlichen Zeilen mehrere Male hintereinander mit ungewöhnlicher Erregung. Er hatte die Mutter in früher Kindheit verloren und war, fast ohne seinen Vater zu kennen, mit acht Jahren nach Petersburg gebracht worden; nach all dem hing er mit einer romantischen Liebe an seinem Vater und liebte das Familienleben um so mehr, je weniger er Gelegenheit hatte, sich an seinen stillen Freuden zu ergötzen. Der Gedanke, seinen Vater zu verlieren, legte sich ihm schwer aufs Herz, und die Lage des armen Kranken, die er aus dem Brief seiner Kinderfrau erriet, entsetzte ihn. Er stellte sich den Vater vor, allein in einem abgelegenen Dorf, in der Obhut einer einfältigen Alten und des Gesindes, von einem Unglück bedroht und ohne Hilfe, unter körperlichen und seelischen Qualen verlöschend. Wladimir warf sich verbrecherische Nachlässigkeit vor. Lange hatte er von seinem Vater keine Briefe erhalten und auch nicht daran gedacht, sich nach ihm zu erkundigen, da er annahm, daß er auf Reisen oder mit der Wirtschaft beschäftigt sei. Er beschloß, zu ihm zu fahren und sogar den Dienst zu quittieren, falls der Zustand des Vaters seine Gegenwart erfordern sollte. Als die Freunde seine Unruhe bemerkten, verließen sie ihn. Allein geblieben, schrieb Wladimir ein Urlaubsgesuch, rauchte seine Pfeife an und versank in tiefes Nachdenken. 186
Noch am selben Tag begann er sich um seinen Urlaub zu bemühen, und drei Tage später befand er sich bereits unterwegs. Wladimir Andrejewitsch näherte sich der Station, von der er nach Kistenjowka abbiegen mußte. Sein Herz war von traurigen Vorahnungen erfüllt, er fürchtete, den Vater nicht mehr unter den Lebenden anzutreffen, und stellte sich das trostlose Leben vor, das ihn auf dem Dorf erwartete, Einsamkeit, wenige Menschen, Armut, Beschäftigung mit Dingen, von denen er nichts verstand. Als er die Station erreichte, ging er zum Postmeister und verlangte Pferde. Der Postmeister erkundigte sich nach seinem Reiseziel und teilte ihm mit, daß die aus Kistenjowka geschickten Pferde schon den vierten Tag warteten. Gleich darauf kam der alte Kutscher Anton, der Wladimir Andrejewitsch einst als Jungen im Pferdestall umhergeführt und sein kleines Pferdchen gepflegt hatte. Anton vergoß einige Tränen, als er ihn sah, verbeugte sich bis zur Erde, sagte ihm, daß der alte Herr noch lebe, und lief fort, um die Pferde anzuspannen. Wladimir Andrejewitsch lehnte das ihm angebotene Frühstück ab und beeilte sich, abzufahren. Anton fuhr ihn die Feldwege entlang, und zwischen ihnen entspann sich ein Gespräch. „Sag mir bitte, Anton, was ist das für eine Sache zwischen meinem Vater und Trojekurow?“ „Das weiß Gott, Väterchen Wladimir Andrejewitsch … Der Herr hat sich, scheint’s, mit Kirila Petrowitsch nicht vertragen, und der verklagte ihn vor Gericht, wenn er auch einesteils sein eigener Richter ist. Es steht uns Knechten nicht an, den Willen der Herren zu untersuchen, doch, bei Gott, es war nicht gut, daß euer Väterchen gegen Kirila Petrowitsch losgezogen ist, mit der Peitsche kommst du gegen den Beilrücken nicht an.“ „Dieser Kirila Petrowitsch tut also bei euch anscheinend, was er will?“ „Natürlich, Herr: Den Assessor achtet er nicht für einen Pfennig, und den Wachtmeister benutzt er für Botengänge. Die Herren fahren alle zu ihm und machen ihm ihre Aufwartung, da kann man nur sagen, wenn nur ein Trog da ist, die Schweine stellen sich von allein ein.“ 187
„Stimmt es, daß er uns das Gut wegnimmt?“ „Ach, Herr, davon haben wir auch gehört. Dieser Tage hat der Kirchendiener aus Pokrowskoje auf der Taufe bei unserm Dorfältesten gesagt: ‚Jetzt ist’s aus mit der Freude, jetzt wird euch Kirila Petrowitsch unter seine Fuchtel nehmen.‘ Und da hat ihm Nikita der Schmied gesagt: ‚Was stimmst du den Gevatter traurig, Sawelitsch, verdreh den Gästen nicht den Kopf. Kirila Petrowitsch lebt für sich, und Andrej Gawrilowitsch lebt für sich, und alle zusammen gehören wir Gott und dem Zaren.‘ Aber ein Fremder läßt sich eben nicht so leicht den Mund verbieten.“ „Ihr wollt also nicht in Trojekurows Besitz übergehen?“ „In Kirila Petrowitschs Besitz! Der Herr behüte und bewahre uns davor, sogar seinen eigenen Leuten geht es mitunter schlecht, aber wenn er fremde in die Hände bekommt, dann zieht er ihnen nicht nur das Fell ab, sondern auch das Fleisch. Nein, der Herr gebe Andrej Gawrilowitsch Gesundheit und langes Leben, und wenn Gott ihn zu sich rufen sollte, dann brauchen wir niemanden außer dir, unserem Ernährer. Laß uns nur nicht im Stich, wir werden schon für dich einstehn.“ – Mit diesen Worten schwang Anton die Peitsche, zog an den Zügeln, und die Pferde schlugen einen schnellen Trab an. Die Ergebenheit des alten Kutschers rührte Dubrowskij, er schwieg und überließ sich von neuem seinen Gedanken. Mehr als eine Stunde war vergangen, als Grischa ihn plötzlich durch den Ruf: „Da ist Pokrowskoje!“ aus seiner Nachdenklichkeit riß. Dubrowskij hob den Kopf. Er fuhr am Ufer eines großen Sees entlang, aus dem ein Flüßchen floß und sich in der Ferne zwischen den Hügeln dahinschlängelte; auf einem der Hügel erhob sich über dem dichten Grün eines Wäldchens das grüne Dach und der Zierturm eines riesigen Steinhauses, auf dem anderen eine fünfkuppelige Kirche und ein alter Glockenturm; daneben lagen verstreut die Bauernhütten mit ihren Gärten und Brunnen. Dubrowskij erkannte all diese Stätten wieder; er erinnerte sich, auf jenem Hügel dort mit der kleinen Mascha Trojekurowa gespielt zu haben, die zwei Jahre jünger war als er und schon damals versprach, eine Schönheit zu werden. Er wollte sich bei Anton nach 188
ihr erkundigen, aber eine seltsame Schüchternheit hielt ihn davon ab. Als sie sich dem Herrenhaus näherten, sah er zwischen den Bäumen des Parks ein weißes Kleid schimmern. In diesem Moment schlug Anton auf die Pferde ein, und mit einem den Kutschern auf dem Lande wie in der Stadt eigenen Ehrgeiz hetzte er so schnell er konnte über die Brücke und an dem Dorf vorbei. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, fuhren sie einen Berg hinauf, und Wladimir erblickte das Birkenwäldchen und links davon auf einem freien Platz das graue Häuschen mit dem roten Dach; sein Herz begann heftig zu schlagen; vor sich sah er Kistenjowka und das ärmliche Haus seines Vaters. Zehn Minuten später fuhr er auf den Gutshof. Mit unbeschreiblicher Erregung blickte er um sich. Zwölf Jahre hatte er seine Heimat nicht gesehen. Die Birken, die zu seiner Zeit gerade am Zaun gesetzt wurden, waren jetzt gewachsen und hohe dichte Bäume geworden. Der Hof, einst von drei regelmäßigen Blumenbeeten geschmückt, zwischen denen ein breiter sorgfältig gekehrter Weg lief, hatte sich in eine ungemähte Wiese verwandelt, auf der ein an den Vorderfüßen gefesseltes Pferd weidete. Die Hunde fingen an zu bellen, doch als sie Anton erkannten, beruhigten sie sich und wedelten mit ihren zottigen Schwänzen. Das Gesinde kam in hellen Scharen aus den Hütten hervor und umringte den jungen Herrn unter lauten Freudenrufen. Nur mit Mühe konnte er sich durch die aufgeregte Menge hindurchdrängen und lief die baufällige Freitreppe hinauf; in der Diele kam ihm Jegorowna entgegen und umarmte unter Tränen ihren Zögling. „Guten Tag, guten Tag, Kinderfrau“, wiederholte er immer wieder und drückte die gute Alte an sein Herz. „Was macht der Vater, wo ist er? Wie geht es ihm?“ In diesem Moment trat in den Empfangsraum, die Beine nur mit Mühe bewegend, ein hochgewachsener alter Mann, bleich und hager, in Schlafrock und Nachtmütze. „Guten Tag, Wolodka!“ sagte er mit schwacher Stimme, und Wladimir umarmte voller Leidenschaft seinen Vater. Die Freude hatte den Kranken zu sehr erregt, die Kräfte verließen ihn, die 189
Beine gaben nach, und er wäre umgefallen, wenn der Sohn ihn nicht gestützt hätte. „Warum bist du vom Bett aufgestanden?“ sagte Jegorowna zu ihm. „Du kannst kaum auf den Beinen stehen, aber du mußt unbedingt dahin, wohin die anderen gehen.“ Der Alte wurde in sein Schlafzimmer zurückgeführt. Er wollte sich mit dem Sohn unterhalten, doch konnte er keinen klaren Gedanken fassen, und seine Worte waren ohne jeden Zusammenhang. Er schwieg und fiel in Schlaf. Sein Zustand verwunderte Wladimir sehr. Er ließ sich in dem Schlafzimmer nieder und bat, ihn mit seinem Vater allein zu lassen. Das Hausgesinde gehorchte ihm, und darauf wandten sich alle Grischa zu und führten ihn in die Gesindestube, wo man ihn auf ländliche Art mit aller nur möglichen Herzlichkeit bewirtete und ihn mit Fragen und Begrüßungen quälte. Viertes Kapitel Wo der Tisch voll Speisen war, dort steht ein Sarg.
Einige Tage nach seiner Ankunft wollte der junge Dubrowskij sich mit seinen Angelegenheiten befassen, doch sein Vater war nicht in der Lage, ihm die nötigen Erklärungen zu geben, und einen Bevollmächtigten hatte Andrej Gawrilowitsch nicht. Als er seine Papiere durchsah, fand er nur den ersten Brief des Assessors und den Entwurf für die Antwort; daraus konnte er jedoch keine klare Vorstellung über den Prozeß gewinnen, und er beschloß im Vertrauen auf die gerechte Sache seines Vaters, die Folgen abzuwarten. Unterdessen verschlimmerte sich Andrej Gawrilowitschs Gesundheitszustand von Stunde zu Stunde. Wladimir sah sein baldiges Ende voraus und wich nicht von der Seite des Alten, der vollkommen kindisch geworden war. Mittlerweile war der festgelegte Termin verstrichen und eine Berufung nicht eingelegt worden. Kistenjowka gehörte Troje190
kurow. Schabaschkin erschien bei ihm unter Verbeugungen und Glückwünschen mit der Bitte, Seine Hochwohlgeboren möge bestimmen, wann er den Besitz des neuerworbenen Gutes anzutreten gedenke – und ob er es selbst übernehmen oder einen anderen damit bevollmächtigen wolle. Kirila Petrowitsch geriet in Verwirrung. Von Natur aus war er nicht habgierig, der Wunsch nach Rache hatte ihn zu weit gehen lassen, sein Gewissen regte sich. Er wußte, in was für einem Zustand sich sein Gegner, sein alter Jugendfreund, befand, und der Sieg erfreute nicht sein Herz. Er maß Schabaschkin mit einem drohenden Blick, suchte nach einem Vorwand, um ihn zu beschimpfen, doch da er keinen fand, sagte er wütend: „Verschwinde, ich habe jetzt anderes im Kopf.“ Als Schabaschkin sah, daß Trojekurow übler Laune war, verbeugte er sich und entfernte sich eilig. Allein geblieben, begann Kirila Petrowitsch auf und ab zu gehen und „Laut erschalle Siegesdonner“ zu pfeifen, was bei ihm immer ein Zeichen ungewöhnlicher innerer Erregung war. Schließlich ließ er seinen Jagdwagen anspannen, zog sich recht warm an (es war schon Ende September) und lenkte selbst den Wagen vom Hof. Bald darauf erblickte er von weitem das Häuschen von Andrej Gawrilowitsch, und einander widersprechende Gefühle bewegten seine Brust. Befriedigte Rachsucht und Herrschgelüste unterdrückten bis zu einem gewissen Grade die edleren Gefühle, doch die letzteren trugen schließlich den Sieg davon. Er beschloß, sich mit seinem alten Nachbarn auszusöhnen, jegliche Spur des Streits zu tilgen und ihm seinen Besitz zurückzugeben. Als Kirila Petrowitsch sich durch diese edle Absicht die Seele erleichtert hatte, ließ er seine Pferde im Trab bis zum Gut seines Nachbarn laufen und fuhr geradewegs auf dessen Hof. Zu dieser Zeit saß der Kranke im Schlafzimmer am Fenster. Er erkannte Kirila Petrowitsch, und eine furchterregende, panische Bestürzung malte sich auf seinem Gesicht: Die gewöhnliche Blässe wich einer tiefen Röte, die Augen funkelten, und er gab unartikulierte Laute von sich. Sein Sohn, der dort ebenfalls saß und mit den Wirtschaftsbüchern beschäftigt war, hob den Kopf 191
und war über sein Aussehen bestürzt. Der Kranke wies mit dem Ausdruck des Entsetzens und des Zorns mit dem Finger auf den Hof. Hastig nahm er seine Schlafrockschöße zusammen, wollte von seinem Sessel aufstehen, erhob sich … und fiel plötzlich zu Boden. Der Sohn stürzte zu ihm hin, der Alte lag bewußtlos und ohne Atem da, der Schlag hatte ihn getroffen. „Schnell, schnell, schickt in die Stadt nach einem Arzt!“ schrie Wladimir. „Kirila Petrowitsch möchte Sie sprechen“, sagte der eintretende Diener. Wladimir warf ihm einen furchtbaren Blick zu. „Sage Kirila Petrowitsch, er soll so schnell wie möglich machen, daß er fortkommt, ehe ich ihn vom Hof jagen lasse … geh!“ – Der Diener lief voller Freude davon, um den Befehl seines Herrn auszuführen; Jegorowna schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Du, unser Herr und Gebieter“, sagte sie mit hoher und dünner Stimme, „du bringst dich um deinen Kopf! Kirila Petrowitsch wird uns alle zugrunde richten.“ – „Sei ruhig, Kinderfrau“, gab ihr Wladimir zornig zur Antwort. „Schicke sofort den Anton in die Stadt nach einem Arzt.“ – Jegorowna ging hinaus. Im Vorraum war niemand, alle waren auf den Hof gelaufen, um Kirila Petrowitsch zu sehen. Jegorowna trat unter das Vordach und hörte, wie der Diener die Antwort des jungen Herrn überbrachte. Kirila Petrowitsch hörte sie sich in seinem Wagen sitzend an. Sein Gesicht wurde finsterer als die Nacht, er lächelte voller Verachtung, warf einen drohenden Blick auf das Gesinde und fuhr im Schritt vom Hof. Er sah auch in das Fenster, an dem noch vor einer Minute Andrej Gawrilowitsch gesessen hatte, doch jetzt war er nicht mehr da. Die Kinderfrau stand auf der Freitreppe und hatte den Befehl des Herrn vergessen. Das Gesinde besprach laut diesen Vorfall. Plötzlich erschien Wladimir unter den Leuten und stieß hervor: „Es ist kein Arzt mehr nötig, der Vater ist verschieden.“ Ein Durcheinander entstand. Die Leute stürzten in das Zimmer des alten Herrn. Er lag in dem Sessel, wohin ihn Wladimir getragen hatte; seine rechte Hand hing bis zum Boden herab, der Kopf ruhte auf der Brust, und es war kein Lebenszeichen an 192
diesem noch warmen und doch schon vom Tode verunstalteten Körper zu entdecken. Jegorowna schluchzte laut auf, die Diener umringten den ihrer Obhut überlassenen Leichnam, wuschen ihn, zogen ihm die Uniform an, die noch aus dem Jahre 1797 stammte, und legten ihn auf den gleichen Tisch, an dem sie so viele Jahre ihren Herrn bedient hatten. Fünftes Kapitel Das Begräbnis fand zwei Tage später statt. Auf dem Tisch lag der Leib des armen Alten, von dem weißen Leichentuch bedeckt und umgeben von Kerzen. Im Speisezimmer drängte sich das Gesinde. Man war dabei, ihn hinauszutragen. Wladimir und drei Diener nahmen den Sarg auf. Der Geistliche ging voran, der Kirchendiener begleitete ihn und sang die Beerdigungsgebete. Der Herr von Kistenjowka überschritt zum letzten Male die Schwelle seines Hauses. Der Sarg wurde durch den Wald getragen. Hinter dem Wald befand sich die Kirche. Der Tag war klar und kalt. Herbstblätter fielen von den Bäumen. Als sie aus dem Wald heraustraten, erblickten sie die Holzkirche von Kistenjowka und den Friedhof, über den sich die alten Linden wölbten. Dort ruhten die sterblichen Überreste von Wladimirs Mutter; dort war neben ihrem Grab am Vorabend eine frische Grube ausgehoben worden. Die Kirche füllten Bauern aus Kistenjowka, die gekommen waren, um ihrem Herrn die letzte Ehre zu erweisen. Der junge Dubrowskij stand in der Nähe des Altars beim Kirchenchor; er weinte nicht und betete nicht, doch sein Gesicht war schrecklich. Die Trauerzeremonie war zu Ende. Wladimir nahm als erster von dem Toten Abschied, ihm folgte das Gesinde. Danach wurde der Deckel gebracht und der Sarg zugenagelt. Die Weiber schluchzten laut, die Männer wischten verstohlen die Tränen mit der Faust aus den Augen. Wladimir und dieselben drei Diener trugen ihn zum Friedhof, und das ganze Dorf begleitete sie. Der Sarg wurde in die Grube hinabgelassen, alle Anwesenden war193
fen eine Handvoll Erde hinein, das Grab wurde zugeschüttet, man verbeugte sich davor und ging auseinander. Wladimir entfernte sich schnell, überholte alle und verschwand im Wald von Kistenjowka. Jegorowna lud in seinem Namen den Popen und sein Gefolge zum Leichenschmaus ein und verkündete, daß der junge Herr nicht vorhabe, daran teilzunehmen, und so machten sich der Vater Anton, die Popenfrau Fedotowna und der Kirchendiener zu Fuß auf den Weg nach dem Herrenhof und sprachen mit Jegorowna über die Tugenden des Verstorbenen und auch darüber, was allem Anschein nach den Erben erwartete. (Der Besuch Trojekurows und der Empfang, der ihm zuteil geworden, war schon der ganzen Nachbarschaft bekannt, und die dortigen Politiker prophezeiten, daß selbiger wichtige Folgen in sich trage.) „Wie es auch kommt“, sagte die Popenfrau, „schade wäre es aber doch, wenn nicht Wladimir Andrejewitsch unser Herr wird. Ein tüchtiger Mensch, kann man nur sagen.“ „Aber wer soll denn sonst unser Herr sein, wenn nicht er“, unterbrach sie Jegorowna. „Kirila Petrowitsch ereifert sich ganz umsonst. Er ist auf keinen Schüchternen gestoßen, mein Prachtjunge versteht sich schon seiner Haut zu wehren, und außerdem werden ihn, geb’s Gott, die Gönner auch nicht im Stich lassen. Ein bißchen zu hochmütig ist Kirila Petrowitsch! Er wird ganz schön seinen Schwanz eingezogen haben, als ihn mein Grischka angeschrien hat: ‚Fort, alter Hund! Runter vom Hof!‘“ „Ach, Jegorowna“, sagte der Kirchendiener, „wie konnte der Grigorij so etwas überhaupt über die Lippen bringen, eher könnte ich, glaub ich, einen Erzbischof anbrüllen, als Kirila Petrowitsch nur schief ansehen. Sowie man ihn nur sieht, fängt man schon vor Angst zu zittern an, der Schweiß bricht einem aus, und der Rükken krümmt sich von ganz allein immer tiefer …“ „Es ist alles ganz eitel“, sagte der Geistliche, „auch für Kirila Petrowitsch wird man eines Tages die Totenmesse singen, genau wie heute für Andrej Gawrilowitsch, sein Begräbnis wird höchstens prachtvoller sein, und man wird mehr Gäste einladen, aber Gott ist doch alles gleich!“ 194
„Ach Väterchen! Auch wir wollten alle Nachbarn im Umkreis einladen, aber Wladimir Andrejewitsch wollte es nicht. Wir haben bestimmt von allem genug da, wir könnten ein schönes Gastmahl geben, doch was soll man machen. Wenn schon keine Leute da sind, werde ich wenigstens euch, unsere lieben Gäste, reichlich bewirten.“ Dieses freundliche Versprechen und die Hoffnung auf eine leckere Pastete beschleunigten die Schritte der Gesellschaft, und sie kamen wohlbehalten im herrschaftlichen Haus an, wo der Tisch schon gedeckt war und der Schnaps bereitstand. Unterdessen ging Wladimir immer tiefer in das Dickicht des Waldes hinein, um durch Bewegung und Müdigkeit den Kummer zu betäuben. Er ging, ohne auf den Weg zu achten; die Zweige schlugen ihm fortwährend ins Gesicht und zerkratzten es, seine Füße blieben alle Augenblicke im Sumpfboden stecken – doch merkte er von alledem nichts. Schließlich gelangte er in ein kleines, rings von Wald umgebenes Tal; ein Bächlein schlängelte sich lautlos an den vom Herbst schon halb entlaubten Bäumen vorbei. Wladimir blieb stehen, ließ sich auf dem kalten Rasen nieder, und Gedanken, einer düsterer als der andere, bewegten seine Seele … Sehr stark empfand er seine Einsamkeit. Die Zukunft erschien ihm wie von drohenden Wolken verdeckt. Die Feindschaft mit Trojekurow kündete neues Unglück an. Sein geringer Besitz konnte in fremde Hände geraten, in diesem Fall erwartete ihn die Armut. Lange saß er unbeweglich auf ein und demselben Platz, blickte in den ruhig dahinfließenden Bach, der einige verwelkte Blätter mit sich davontrug und ihn lebhaft an das Leben erinnerte – ein Bild, das so gewöhnlich ist. Schließlich merkte er, daß es dämmerte; er stand auf und begann nach dem Weg zu suchen, doch lange irrte er noch in dem ihm unbekannten Wald umher, ehe er auf einen Pfad stieß, der ihn auch geradewegs zum Tor seines Hauses führte. Unterwegs kam Dubrowskij der Pope mit seinem ganzen Gefolge entgegen. Der Gedanke, daß dies eine schlechte Vorbedeutung sei, fuhr ihm durch den Kopf. Unwillkürlich trat er zur Seite und versteckte sich hinter einem Baum. Sie hatten ihn nicht be195
merkt und sprachen voller Eifer miteinander, als sie an ihm vorübergingen. „Meide das Böse und tue Gutes“, sagte der Pope zu seiner Frau. „Was sollen wir noch hierbleiben. Dich trifft es nicht, wie auch die Sache ausgeht.“ Die Popenfrau antwortete etwas, doch Wladimir konnte sie nicht mehr verstehen. Als er sich dem Haus näherte, sah er eine Menge Leute: Bauern und Gesinde drängten sich auf dem herrschaftlichen Hof. Von ferne hörte Wladimir ungewöhnlichen Lärm und Stimmengewirr. Beim Schuppen hielten zwei Troikas. Auf der Freitreppe standen mehrere unbekannte Männer in Uniformröcken und besprachen anscheinend etwas. „Was bedeutet das?“ fragte er ärgerlich Anton, der ihm entgegengelaufen kam. „Wer ist das, und was wollen sie?“ „Ach, Väterchen Wladimir Andrejewitsch“, antwortete der Alte und holte mit Mühe Atem, „das Gericht ist gekommen. Man übergibt uns Trojekurow, entzieht uns deiner Gnade! …“ Wladimir senkte den Kopf, das Gesinde umringte seinen unglücklichen Herrn. „Du unser Vater“, schrien sie und küßten ihm die Hände, „wir wollen keinen anderen Herrn außer dir, befiehl nur, Herr, mit dem Gericht werden wir fertig. Wir sterben eher, als daß wir dich im Stich lassen.“ Wladimir sah sie an, und seltsame Gedanken bewegten ihn. „Haltet euch ruhig“, sagte er zu ihnen. „Ich werde mit den Beamten verhandeln.“ – „Verhandle mit ihnen, Väterchen“, riefen sie ihm aus der Menge zu, „rede den Verfluchten ins Gewissen.“ Wladimir ging zu den Beamten. Schabaschkin, eine Schirmmütze auf dem Kopf, die Arme in die Seite gestemmt, blickte stolz um sich. Der Kreispolizeichef, ein großer dicker Mann von fünfzig Jahren mit einem roten Gesicht und einem Schnurrbart, räusperte sich krächzend, als er Dubrowskij kommen sah, und sprach mit heiserer Stimme: „Also, ich wiederhole, was ich gesagt habe: Auf Beschluß des Kreisgerichts gehört ihr von jetzt an Kirila Petrowitsch Trojekurow, der von Herrn Schabaschkin hier vertreten wird. Gehorcht ihm in allem, was er auch befiehlt, und ihr, Weiber, liebt und ehrt ihn, denn er ist ein großer Liebhaber 196
von euch.“ Bei diesem geistreichen Scherz begann der Kreispolizeichef laut zu lachen, und Schabaschkin und auch die übrigen Mitglieder des Gerichts folgten seinem Beispiel. In Wladimir kochte es vor Empörung. „Gestatten Sie mir, zu erfahren, was dies hier zu bedeuten hat?“ fragte er mit erzwungener Ruhe den fröhlichen Kreispolizeichef. „Das hat zu bedeuten“, antwortete der scharfsinnige Beamte, „daß wir gekommen sind, um Kirila Petrowitsch Trojekurow in diesen Besitz einzuführen, und alle übrigen bitten wir, sich davonzumachen, solange ihre Haut noch heil ist.“ – „Doch Sie hätten sich, scheint mir, an mich wenden können, und nicht zuerst an die Bauern, und hätten dem Gutsherrn den Entzug der Verfügungsgewalt bekanntgeben müssen …“ – „Wer bist du denn überhaupt?“ fragte Schabaschkin frechen Blicks. „Der ehemalige Gutsbesitzer Andrej, Sohn des Gawrila Dubrowskij, ist nach Gottes Ratschluß gestorben – von Ihnen wissen wir nichts und wollen wir auch nichts wissen.“ „Wladimir Andrejewitsch ist unser junger Herr“, sagte eine Stimme in der Menge. „Wer wagt es da, seinen Mund aufzusperren“, sagte drohend der Kreispolizeichef. „Was für ein Herr, was für ein Wladimir Andrejewitsch? Euer Herr ist Kirila Petrowitsch Trojekurow, hört ihr es, ihr Hohlköpfe.“ „Warum nicht gar“, sagte dieselbe Stimme. „Das ist ja Aufruhr!“ schrie der Kreispolizeichef. „He, Dorfältester, hierher!“ Der Dorfälteste trat vor. „Mach sofort denjenigen ausfindig, der es gewagt hat, mit mir zu sprechen, ich werd’s ihm zeigen!“ Der Dorfälteste wandte sich an die Menge und fragte, wer gesprochen hätte? Doch alle schwiegen; nach und nach wurde in den hinteren Reihen ein Gemurmel laut, schwoll an und verwandelte sich im Augenblick in ein entsetzliches Geschrei. Der Kreispolizeichef senkte die Stimme und wollte ihnen gut zureden. „Was gibt es da noch zu gucken“, schrien die Leute vom Gesinde, „Kinder! Nieder mit ihnen!“, und die Menge geriet in Bewegung. 197
Schabaschkin und die anderen Mitglieder stürzten schnell in die Diele und riegelten die Türen hinter sich zu. „Kinder, fesselt sie“, rief dieselbe Stimme, und die Menge drängte vorwärts … „Halt“, rief Dubrowskij, „Dummköpfe! Was tut ihr da! Ihr stürzt euch und auch mich ins Unglück. Geht auf eure Höfe, und laßt mich in Ruhe. Habt keine Angst, der Herrscher ist gnädig, ich richte eine Bittschrift an ihn. Er wird uns nicht benachteiligen. Wir alle sind seine Kinder. Doch wie kann er für euch eintreten, wenn ihr euch wie Aufrührer und Räuber gebärdet.“ Die Rede des jungen Dubrowskij, seine kräftige Stimme und sein eindrucksvolles Äußeres übten die beabsichtigte Wirkung aus. Die Leute verstummten, gingen auseinander, und der Hof leerte sich. Die Gerichtsbeamten saßen in der Diele. Schließlich schloß Schabaschkin leise die Tür auf, trat auf die Freitreppe hinaus und begann unter erniedrigenden Verbeugungen Dubrowskij für sein gnädiges Eintreten zu danken. Wladimir hörte ihn voller Verachtung an und antwortete nichts. „Wir haben beschlossen“, fuhr der Assessor fort, „mit Ihrer Erlaubnis, hier zu übernachten, denn es ist schon dunkel, und Ihre Bauern könnten uns unterwegs überfallen. Seien Sie so freundlich und ordnen Sie an, daß uns wenigstens Heu in das Gastzimmer gebracht wird; sowie es hell wird, machen wir uns auf den Heimweg.“ „Machen Sie, was Sie wollen“, sagte Dubrowskij kühl, „ich bin hier schon nicht mehr der Herr.“ Mit diesen Worten begab er sich in das Zimmer seines Vaters und schloß die Tür hinter sich ab. Sechstes Kapitel Also, alles ist aus, sagte er sich. Noch heute morgen hatte ich ein Dach über dem Kopf und ein Stück Brot. Morgen werde ich das Haus, in dem ich geboren bin und in dem mein Vater gestorben ist, demjenigen überlassen müssen, der schuld ist an seinem Tod und an meiner Armut. Und seine Augen blieben unbeweglich an dem Bildnis seiner Mutter haften. Der Maler hatte sie in einem 198
weißen Morgenkleid mit einer roten Rose im Haar dargestellt, wie sie sich auf ein Geländer stützte. Und auch dieses Porträt gelangt in die Hände des Feindes meiner Familie, überlegte Wladimir. Es wird zusammen mit zerbrochenen Stühlen in der Rumpelkammer landen, oder es wird im Vorzimmer aufgehängt, und die Hundewärter werden darüber lachen und ihre Bemerkungen machen, und in ihrem Schlafzimmer, in dem Sterbezimmer des Vaters, läßt sich sein Verwalter nieder oder wird sein Harem untergebracht. Nein! Nein! Auch er soll dieses traurige Haus nicht bekommen, aus dem er mich vertreibt! Wladimir biß die Zähne aufeinander, furchtbare Gedanken kamen ihm in den Kopf. Die Stimmen der Amtsschreiber drangen zu ihm, sie taten, was sie wollten, verlangten einmal dies und einmal das und lenkten ihn auf unangenehme Weise bei seinen traurigen Überlegungen ab. Schließlich wurde alles still. Wladimir schloß die Kommoden und Truhen auf und beschäftigte sich mit den Papieren des Verstorbenen. Sie bestanden zum größten Teil aus Wirtschaftsrechnungen und Briefen in verschiedenen Angelegenheiten. Wladimir zerriß sie, ohne sie zu lesen. Unter ihnen fiel ihm ein Päckchen in die Hand mit der Aufschrift Briefe meiner Frau. Mit einem Gefühl starker Erregung widmete er sich ihnen. Sie waren während des türkischen Feldzuges geschrieben worden und aus Kistenjowka an die Armee adressiert. Sie beschrieb ihm ihr einsames Leben, ihre häuslichen Arbeiten, voller Zärtlichkeit beklagte sie die Trennung und rief ihn zu sich, in die Arme der liebenden Gefährtin; in einem der Briefe teilte sie ihm ihre Besorgnis über die Gesundheit des kleinen Wladimir mit; in einem anderen freute sie sich über seine frühentwickelten Fähigkeiten und prophezeite ihm eine glückliche und glänzende Zukunft. Wladimir vergaß über dem Lesen alles auf der Welt, versenkte sich in das Reich des Familienglücks und bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Die Wanduhr schlug elf. Wladimir steckte die Briefe in die Tasche, nahm eine Kerze und verließ das Arbeitszimmer. Im Saal schliefen die Beamten auf dem Fußboden. Auf dem Tisch standen Gläser, aus denen sie getrunken hatten, und im ganzen Zimmer roch es stark nach Rum. Voller Ekel ging 199
Wladimir an ihnen vorüber in das Vorzimmer – die Tür war verschlossen. Da er den Schlüssel nicht fand, kehrte er in den Saal zurück, der Schlüssel lag auf dem Tisch. Wladimir schloß die Tür auf und stieß auf einen Menschen, der sich in eine Ecke drückte, eine Axt blitzte in seiner Hand, und als Wladimir sich mit der Kerze ihm zuwandte, erkannte er den Schmied Archip. „Was willst du hier?“ fragte er. „Ach, Wladimir Andrejewitsch, Sie sind das“, antwortete Archip flüsternd, „dem Herrn sei Lob und Dank! Gut, daß Sie eine Kerze hatten!“ Wladimir betrachtete ihn voller Erstaunen. „Warum hast du dich hier versteckt?“ fragte er den Schmied. „Ich wollte … ich bin gekommen … um zu sehen, ob alle zu Hause sind“, antwortete Archip leise und stockend. „Und was soll die Axt?“ „Die Axt? Wie kann man denn heutzutage ohne Axt weggehen. Diese Beamten sind solche Spitzbuben – ehe du dich’s versiehst …“ „Du bist betrunken, tu die Axt weg, geh und schlaf dich aus.“ „Ich und betrunken? Väterchen Wladimir Andrejewitsch, Gott ist mein Zeuge, keinen einzigen Tropfen habe ich in den Mund genommen … kann man denn jetzt an Wein denken, wo hat man so etwas gehört, die Schreiber wollen uns in ihren Besitz nehmen, die Schreiber jagen unsere Herren von ihren Höfen … Wie sie schnarchen, die Verfluchten; alle auf einmal müßte man sie umbringen, und kein Hahn kräht mehr danach.“ Dubrowskijs Gesicht verfinsterte sich. „Hör zu, Archip“, sagte er, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, „das ist nichts, was du da vorhast. Nicht die Beamten sind schuld. Zünde die Laterne an und komm mit.“ Archip nahm dem Herrn die Kerze aus der Hand, suchte hinter dem Ofen die Laterne hervor, steckte sie an, und beide stiegen leise die Treppe herunter und gingen über den Hof. Der Wächter begann an eine eiserne Tafel zu schlagen, die Hunde bellten. „Wer wacht?“ fragte Dubrowskij. „Wir, Väterchen“, antwortete eine dünne Stimme, „Wassilissa und Lukerja.“ – „Geht auf eure Höfe“, sagte Dubrowskij zu ihnen, „ihr werdet nicht gebraucht.“ 200
– „Feierabend“, ließ sich Archip vernehmen. „Danke dir, du unser Ernährer“, antworteten die Weiber und gingen sofort nach Hause. Dubrowskij ging weiter. Zwei Männer näherten sich ihm; sie riefen ihn an. Dubrowskij erkannte die Stimmen von Anton und Grischa. „Warum schlaft ihr nicht?“ fragte er sie. „Uns ist nicht zum Schlafen zumute“, antwortete Anton. „Soweit ist’s mit uns gekommen, wer hätte gedacht …“ „Still!“ unterbrach ihn Dubrowskij. „Wo ist Jegorowna?“ „Im Herrenhaus, in ihrem Zimmer“, antwortete Grischa. „Geh und hole sie her, und führe auch alle von unseren Leuten aus dem Haus heraus, so daß keine Seele mehr zurückbleibt außer den Beamten, und du, Anton, spann den Wagen an.“ Grischa ging fort und erschien in wenigen Minuten mit seiner Mutter. Die Alte hatte sich in dieser Nacht nicht ausgezogen; außer den Beamten hatte niemand im Hause ein Auge zugetan. „Sind alle hier?“ fragte Dubrowskij. „Ist niemand im Hause zurückgeblieben?“ „Niemand außer den Schreibern“, antwortete Grischa. „Schafft Heu oder Stroh her“, sagte Dubrowskij. Die Leute liefen in den Pferdestall und kamen mit Heu in den Armen zurück. „Legt es unter die Treppe. So ist’s recht. Nun, Kinder, Feuer her!“ Archip klappte die Laterne auf, Dubrowskij brannte einen Holzspan an. „Halt“, sagte er zu Archip, „ich glaube, ich habe in der Eile die Tür zum Vorzimmer zugeschlossen, geh und schließ sie auf.“ Archip lief in die Diele – die Tür war nicht verschlossen. Archip schloß sie mit dem Schlüssel ab und sagte dabei halblaut: „Schließ sie auf! Warum nicht gar!“ und kehrte zu Dubrowskij zurück. Dubrowskij hielt den Holzspan an das Heu, es faßte Feuer, eine Flamme schoß in die Höhe und beleuchtete den ganzen Hof. „Ach je“, rief Jegorowna kläglich, „Wladimir Andrejewitsch, was tust du da?“ 201
„Sei still“, erwiderte Dubrowskij. „Nun, Kinder, lebt wohl, ich gehe, wohin mich Gott führt; seid glücklich mit eurem neuen Herrn.“ „Du unser Vater und Wohltäter“, antworteten die Leute, „eher sterben wir, als daß wir dich im Stich lassen, wir gehen mit dir.“ Die Pferde waren angespannt; Dubrowskij setzte sich mit Grischa in den Wagen und nannte ihnen als Treffpunkt den Wald von Kistenjowka. Anton schlug auf die Pferde ein, und sie fuhren vom Hof. Wind kam auf. Im Nu war das ganze Haus in Flammen gehüllt. Roter Rauch wand sich über dem Dach empor. Fensterglas zersprang und fiel zu Boden, qualmende Balken stürzten herab, man hörte klägliches Schreien und Rufen: „Wir brennen, zu Hilfe, zu Hilfe.“ – „Warum nicht gar“, sagte Archip, der mit einem bösen Lächeln das Feuer betrachtete. „Lieber Archip“, wandte sich Jegorowna flehend an ihn, „rette sie, die Verfluchten, Gott wird es dir lohnen.“ „Warum nicht gar“, antwortete der Schmied. In diesem Moment erschienen die Beamten hinter dem Fenster und versuchten die Doppelrahmen herauszubrechen. Doch da stürzte unter Krachen das Dach ein, und die Schreie verstummten. Bald erschien das ganze Gesinde in hellen Scharen auf dem Hof. Die Weiber liefen unter Geschrei nach ihren Habseligkeiten, um sie zu retten, die Kinder sprangen umher und freuten sich über das Feuer. Die Funken flogen gleich einem feurigen Schneegestöber durch die Luft, und die Hütten fingen an zu brennen. „Jetzt ist alles in Ordnung“, sagte Archip. „Wie das brennt, was? Von Pokrowskoje, denk ich, muß das ein herrlicher Anblick sein.“ In diesem Augenblick zog eine neue Erscheinung seine Aufmerksamkeit auf sich; eine Katze lief über das lichterloh brennende Schuppendach und wußte nicht, wohin sie springen sollte; von allen Seiten umgaben sie Flammen. Das arme Tier flehte mit kläglichem Miauen um Hilfe. Die Jungen starben beinah vor Lachen, als sie ihre Verzweiflung bemerkten. „Worüber lacht ihr, 202
Teufelsrangen?“ sagte der Schmied zornig zu ihnen. „Ihr fürchtet Gott nicht; ein Gottesgeschöpf kommt um, aber ihr freut euch noch in eurer Dummheit.“ Und er stellte eine Leiter an das brennende Dach und kletterte zu der Katze hinauf. Sie verstand seine Absicht und klammerte sich mit dem Ausdruck hastiger Dankbarkeit an seinem Ärmel fest. Der halbversengte Schmied stieg mit seiner Beute hinab. „Nun, Kinder, lebt wohl“, sagte er zu dem bestürzten Gesinde. „Ich habe hier nichts mehr zu schaffen. Viel Glück, und behaltet mich in gutem Andenken.“ Der Schmied ging fort; der Brand wütete noch einige Zeit. Schließlich legte er sich, und die verkohlten Reste glühten hell und ohne Flamme in der Dunkelheit der Nacht, und neben ihnen bewegten sich die abgebrannten Bewohner von Kistenjowka. Siebentes Kapitel Am nächsten Tag verbreitete sich die Nachricht von dem Brand in der ganzen Umgebung. Alle sprachen von ihm unter den verschiedensten Vermutungen und Annahmen. Die einen versicherten, daß die Leute Dubrowskijs sich beim Leichenschmaus betrunken hätten und das Haus aus Unvorsichtigkeit in Brand geraten wäre, die anderen hielten die Beamten für die Schuldigen, die ihren Einzug auf dem Gut gefeiert hätten, viele behaupteten, daß er selbst zusammen mit den Beamten und dem ganzen Gesinde in den Flammen umgekommen sei. Einige errieten die Wahrheit und versicherten, daß der Urheber dieses entsetzlichen Unglücks der von Wut und Verzweiflung getriebene Dubrowskij gewesen wäre. Trojekurow kam schon am nächsten Tag zur Brandstätte gefahren und führte selbst die Untersuchung durch. Es erwies sich, daß der Kreispolizeichef, der Assessor des Landgerichts, der Sachwalter und der Schreiber sowie Wladimir Dubrowskij, die Kinderfrau Jegorowna, der dem Gesinde angehörende Grigorij, der Kutscher Anton und der Schmied Archip spurlos verschwunden waren. Das Gesinde sagte einmütig aus, daß die Beamten unter dem herabstürzenden Dach verbrannt seien; 203
ihre verkohlten Knochen wurden freigelegt. Die Weiber Wassilissa und Lukerja bezeugten, daß sie Dubrowskij und den Schmied Archip wenige Minuten vor dem Brand gesehen hätten. Nach den Aussagen aller lebte der Schmied Archip und war wahrscheinlich der Hauptverantwortliche, wenn nicht sogar der alleinige Schuldige an dem Brand. Auch Dubrowskij stand unter starkem Verdacht. Kirila Petrowitsch schickte dem Gouverneur eine genaue Beschreibung des Vorgefallenen, und eine neue Untersuchung nahm ihren Anfang. Bald darauf gaben andere Nachrichten der Neugier und dem Gerede neue Nahrung. In *** waren Räuber aufgetaucht und versetzten die ganze Umgebung in Schrecken. Die Maßnahmen, die von der Regierung gegen sie eingeleitet wurden, erwiesen sich als unzureichend. Die Raubüberfälle, von denen einer kühner als der andere war, nahmen kein Ende. Es gab keinerlei Sicherheit, weder auf den Wegen noch in den Dörfern. Einige Troikas voller Räuber fuhren tagsüber im ganzen Gouvernement umher, hielten die Reisenden und die Post an, kamen in die Dörfer, raubten die Gutshäuser aus und zündeten sie an. Der Anführer der Bande war weithin bekannt für seine Klugheit, seine Kühnheit und eine gewisse Großmut. Man erzählte sich Wunder von ihm; der Name Dubrowskijs war in aller Munde, alle waren überzeugt, daß er und kein anderer die verwegenen Verbrecher anführte. Nur eines erregte Verwunderung – die Güter Trojekurows blieben verschont; die Räuber plünderten keine seiner Scheunen, nicht ein einziges Fuhrwerk hielten sie an. In seinem üblichen Hochmut schrieb Trojekurow diese Ausnahme der Furcht zu, die er dem ganzen Gouvernement einzuflößen verstand, und auch der ausgezeichneten Gendarmerie, die er sich in seinen Dörfern zugelegt hatte. Zuerst lachten die Nachbarn untereinander über die Überheblichkeit Trojekurows und warteten täglich darauf, daß die ungebetenen Gäste Pokrowskoje, wo etwas für sie zu holen gewesen wäre, ihren Besuch abstatten würden, doch schließlich sahen sie sich genötigt, ihm beizupflichten und sich einzugestehen, daß auch die Räuber ihm eine unverständliche Achtung erwiesen … Trojekurow triumphierte, und bei jeder Nachricht von 204
einem neuen Raubzug Dubrowskijs machte er sich in spöttischen Scherzen über den Gouverneur, die Kreispolizeichefs und Kompanieführer lustig, denen Dubrowskij immer mit heiler Haut entschlüpfte. Unterdessen war der 1. Oktober herangekommen, der Tag des Kirchweihfestes auf dem Gut Trojekurows. Doch ehe wir mit der Beschreibung dieser Feierlichkeit und der weiteren Ereignisse beginnen, müssen wir den Leser mit Personen bekannt machen, die für ihn neu sind, oder die wir nur kurz zu Beginn unserer Erzählung erwähnten. Achtes Kapitel Der Leser hat wahrscheinlich schon erraten, daß die Tochter Kirila Petrowitschs, über die wir bisher nur wenige Worte verloren, die Heldin unserer Erzählung ist. Zu der geschilderten Zeit war sie siebzehn Jahre alt, und ihre Schönheit war voll erblüht. Der Vater liebte sie wahnsinnig, doch behandelte er sie mit der ihm eigenen Willkür, bald bemühte er sich, ihre kleinsten Launen zu befriedigen, bald schüchterte er sie durch eine strenge und manchmal auch grausame Behandlung ein. Obwohl er ihrer Anhänglichkeit sicher war, gelang es ihm niemals, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie war gewohnt, ihre Gefühle und Gedanken vor ihm zu verbergen, da sie nie mit Sicherheit wußte, wie sie aufgenommen würden. Sie hatte keine Freundinnen und war ganz allein aufgewachsen. Die Frauen und Töchter der Nachbarn besuchten selten Kirila Petrowitsch, dessen gewöhnliche Gespräche und Belustigungen die Gesellschaft von Männern erforderten und nicht die Gegenwart von Damen. Nur selten erschien unsere Schönheit unter den Gästen, die bei Kirila Petrowitsch zechten. Die riesige Bibliothek, die zum größten Teil aus den Werken französischer Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts bestand, war ihr überlassen. Ihr Vater, der niemals etwas anderes gelesen hatte außer der „Vollkommenen Köchin“, konnte sie bei der Auswahl der Bücher nicht anleiten, und Mascha entschloß sich, nachdem sie in allen möglichen Werken geblättert hatte, natürlich für die Ro205
mane. Auf diese Weise vollendete sie ihre Erziehung, die seinerzeit unter der Anleitung von Mademoiselle Mimi begonnen worden war; letzterer hatte Kirila Petrowitsch ein außerordentliches Vertrauen und großes Wohlwollen erwiesen, und er mußte sie schließlich heimlich auf ein anderes Gut schicken, als die Folgen dieser Freundschaft zu offensichtlich wurden. Mademoiselle Mimi hatte ein recht angenehmes Andenken zurückgelassen. Sie war ein gutes Mädchen gewesen und hatte niemals den Einfluß mißbraucht, den sie offenbar auf Kirila Petrowitsch ausübte, worin sie sich von anderen Geliebten, die er alle Augenblicke wechselte, unterschied. Kirila Petrowitsch hatte sie, so schien es, mehr als alle anderen geliebt, und der schwarzäugige Knabe, ein Wildfang von neun Jahren, dessen Gesicht an die südlichen Gesichtszüge von Mademoiselle Mimi gemahnte, wurde in seinem Hause erzogen und als sein Sohn anerkannt, obwohl eine Menge barfüßiger Jungen, die Kirila Petrowitsch ähnelten wie ein Tropfen Wasser dem anderen und vor seinen Fenstern umherliefen, zum Gesinde zählten. Kirila Petrowitsch ließ sich für seinen kleinen Sascha aus Moskau einen französischen Hauslehrer kommen, der während der von uns beschriebenen Ereignisse auch in Pokrowskoje eintraf. Dieser Hauslehrer gefiel Kirila Petrowitsch wegen seines angenehmen Äußeren und seiner einfachen Umgangsformen. Er wies Trojekurow seine Empfehlungsschreiben vor sowie einen Brief von einem der Verwandten Trojekurows, bei dem er vier Jahre als Erzieher zugebracht hatte. Kirila Petrowitsch sah all das durch und war nur mit der Jugend seines Franzosen unzufrieden – nicht etwa, weil er annahm, daß dieser liebenswerte Mangel unvereinbar mit der bei dem schwierigen Beruf des Lehrers so notwendigen Geduld und Erfahrung wäre, doch er hatte seine eigenen Zweifel, die er ihm auch sofort klarmachen wollte. Zu diesem Zweck befahl er, Mascha herbeizurufen. (Kirila Petrowitsch sprach nicht französisch, und sie diente ihm als Dolmetscher.) „Komm her, Mascha, sag diesem Musjö, daß ich einverstanden bin und ihn nehme, aber nur unter der Bedingung, daß er es sich 206
nicht einfallen läßt, mit meinen Mädchen anzubändeln, sonst werde ich ihn, den Hundesohn … übersetz ihm das, Mascha.“ Mascha errötete und sagte dem Lehrer auf französisch, daß ihr Vater hoffe, er werde sich bescheiden und anständig betragen. Der Franzose verbeugte sich vor ihr und antwortete, er hoffe, die Achtung aller zu gewinnen, selbst wenn man ihm kein Wohlwollen entgegenbringe. Mascha übersetzte wörtlich seine Antwort. „Gut, gut“, sagte Kirila Petrowitsch, „er braucht keinerlei Wohlwollen oder Achtung, seine Sache ist es, auf Sascha aufzupassen und ihm Grammatik und Geographie beizubringen, übersetz ihm das.“ Marja Kirilowna milderte in ihrer Übersetzung die groben Ausdrücke des Vaters, und Kirila Petrowitsch entließ seinen Franzosen in das für ihn bestimmte Zimmer im Seitenflügel. Mascha beachtete den Franzosen in keiner Weise; da sie in aristokratischen Vorurteilen erzogen worden war, stellte der Hauslehrer für sie eine Art Diener oder Handwerker dar, und Diener oder Handwerker schienen ihr keine Männer zu sein. Sie bemerkte weder den Eindruck, den sie auf Monsieur Deforges machte, noch seine Verlegenheit, seine Erregung und seine veränderte Stimme. Danach traf sie ihn einige Tage hintereinander recht oft, ohne ihn einer größeren Beachtung für würdig zu halten. Auf unerwartete Weise erhielt sie von ihm eine völlig neue Vorstellung. Auf dem Hof Kirila Petrowitschs wurden gewöhnlich einige junge Bären großgezogen, die eines der Hauptvergnügen des Gutsherrn von Pokrowskoje waren. In ihrer frühesten Jugend wurden die jungen Bären täglich in das Gastzimmer gebracht, wo Kirila Petrowitsch sich stundenlang mit ihnen abgab und Katzen und junge Hunde auf sie hetzte. Wenn sie groß geworden waren, kamen sie an die Kette und warteten darauf, richtig gehetzt zu werden. Manchmal führte man sie vor die Fenster des Herrenhauses und rollte ihnen ein mit Nägeln gespicktes leeres Weinfaß hin; der Bär beschnüffelte es, berührte es dann vorsichtig mit den Tatzen, stach sich, wurde wütend, stieß stärker zu, und auch 207
der Schmerz wurde stärker. Er geriet in rasende Wut, warf sich mit Gebrüll auf das Faß, bis man dem armen Tier endlich den Gegenstand seines vergeblichen Zorns wegnahm. Es kam vor, daß man ein Bärenpaar vor einen Wagen spannte, Gäste – ob sie wollten oder nicht – hineinsetzte und sie auf gut Glück losfahren ließ. Doch als bester Scherz galt bei Kirila Petrowitsch folgendes. Ein hungriger Bär wurde in ein leeres Zimmer gesperrt und mit einem Seil an einen Ring gebunden, der in die Wand geschraubt war. Das Seil war fast so lang wie das ganze Zimmer, so daß nur die gegenüberliegende Ecke vor einem Angriff des fürchterlichen Tieres Schutz bot. Gewöhnlich führte man einen Neuling an die Tür dieses Zimmers, stieß ihn unverhofft zu dem Bären hinein, schloß die Tür ab und ließ das unglückliche Opfer mit dem struppigen Einsiedler allein. Der arme Gast suchte bald, mit zerrissenem Rock und bis aufs Blut zerkratzt, die schützende Ecke auf, doch mußte er manchmal, an die Wand gedrückt, drei Stunden dort stehen und zusehen, wie das wütende Tier zwei Schritte vor ihm brüllend umhersprang, sich auf die Hinterbeine stellte, am Seil riß und aus allen Kräften versuchte, ihn zu erreichen. Solcherart waren die edlen Belustigungen des russischen Gutsherrn! Einige Tage nach der Ankunft des Hauslehrers erinnerte sich Trojekurow seiner und nahm sich vor, ihn mit dem Bärenzimmer zu beglücken. Zu diesem Zweck rief er ihn eines Morgens zu sich und führte ihn durch dunkle Korridore; plötzlich öffnete sich eine Seitentür, zwei Diener stießen den Franzosen hinein und schlossen sie mit dem Schlüssel zu. Als der Hauslehrer zu sich kam, sah er den angebundenen Bären vor sich, das Tier begann zu schnauben, beschnüffelte von fern seinen Gast, plötzlich erhob es sich auf die Hinterfüße und ging auf ihn los … Der Franzose blieb ruhig, lief nicht davon und erwartete den Angriff. Der Bär kam heran, Deforges zog eine kleine Pistole aus der Tasche, drückte sie dem hungrigen Tier ans Ohr und schoß. Der Bär stürzte zu Boden. Alles lief herbei, die Tür öffnete sich, und Kirila Petrowitsch trat herein, äußerst verwundert über den Ausgang seines Scherzes. Kirila Petrowitsch wollte unbedingt alles erklärt haben: wer ihn vor dem Scherz, den man mit ihm 208
vorhatte, gewarnt habe, oder weshalb er in seiner Tasche eine geladene Pistole mit sich führe. Er schickte nach Mascha. Mascha kam herbeigelaufen und übersetzte dem Franzosen die Fragen ihres Vaters. „Ich habe nichts von einem Bären gehört“, sagte Deforges, „doch ich habe immer Pistolen bei mir, weil ich nicht gewillt bin, Beleidigungen hinzunehmen, für die ich, meinem Stand nach, keine Genugtuung fordern kann.“ Mascha blickte ihn erstaunt an und übersetzte seine Worte Kirila Petrowitsch. Kirila Petrowitsch antwortete nichts, befahl, den Bären hinauszuschaffen und ihm das Fell abzuziehen; dann wandte er sich an seine Leute und sagte: „Was für ein Prachtkerl! Er hat keine Angst gehabt, bei Gott, keine Angst.“ Von diesem Augenblick an liebte er Deforges und dachte nicht mehr daran, ihn auf die Probe zu stellen. Doch dieser Vorfall machte noch einen viel größeren Eindruck auf Marja Kirilowna. Ihre Vorstellungskraft geriet in Erregung, sie hatte den toten Bären gesehen und über ihm Deforges, wie er ruhig dastand und ruhig mit ihr sprach. Sie erkannte, daß Tapferkeit und stolzes Selbstbewußtsein nicht ausschließlich an einen Stand gebunden sind; von dieser Zeit an begann sie den jungen Hauslehrer zu achten, und diese Achtung wuchs stündlich. Gemeinsame Interessen brachten sie einander nahe. Mascha hatte eine herrliche Stimme und war sehr musikalisch. Deforges machte sich erbötig, ihr Unterricht zu geben. Nach all dem wird der Leser leicht erraten, daß Mascha sich in ihn verliebte, freilich noch ohne es sich selbst einzugestehen.
Zweiter Band
Neuntes Kapitel Am Vorabend des Festes begannen die Gäste einzutreffen, die einen wurden im Herrenhaus und in den Seitenflügeln untergebracht, die anderen beim Verwalter, wieder andere beim Geistlichen oder bei wohlhabenden Bauern. Die Ställe waren voller Reisepferde, die Höfe und Schuppen mit den verschiedensten Equipagen vollgestellt. Um neun Uhr morgens läutete es zur Messe, und alles bewegte sich zu der neuen steinernen Kirche hin, die Kirila Petrowitsch hatte bauen lassen und die alljährlich mit seinen Opfergaben ausgeschmückt wurde. Es hatte sich solch eine Menge angesehener Kirchgänger versammelt, daß die einfachen Bauern in der Kirche keinen Platz fanden und am Eingang und innerhalb der Umfriedung standen. Die Messe hatte noch nicht begonnen, denn man wartete auf Kirila Petrowitsch. Er kam in einer sechsspännigen Kutsche vorgefahren und begab sich feierlich, von seiner Tochter begleitet, auf seinen Platz. Marja Kirilowna zog die Blicke der Männer und Frauen auf sich; die ersteren bewunderten ihre Schönheit, die letzteren betrachteten aufmerksam ihre Toilette. Die Messe begann, auf dem Kirchenchor sangen die Sänger vom Gutshaus, Kirila Petrowitsch fiel selbst mit ein, betete, ohne nach links oder rechts zu sehen, und verbeugte sich voll stolzer Demut bis zur Erde, als der Diakon mit donnernder Stimme den „Gründer dieses Tempels“ erwähnte. Die Messe ging zu Ende. Kirila Petrowitsch ging als erster zum Kreuz. Alle folgten ihm, danach traten die Nachbarn voller Ehrfurcht an ihn heran. Die Damen umringten Mascha. Als Kirila Petrowitsch die Kirche verließ, lud er alle zu sich zum Mittagessen ein, setzte sich in die Kutsche und fuhr nach Hause. Alle fuhren ihm hinterher. Die Zimmer füllten sich mit Gästen. Alle 210
Augenblicke kamen neue Menschen herein und konnten sich nur mit Mühe zum Hausherrn durchzwängen. Die Damen, mit Edelsteinen und Brillanten geschmückt, ließen sich wohlgesittet in einem Halbkreis nieder, sie waren altmodisch angezogen und hatten abgetragene, teure Kleider an, die Männer drängten sich um Kaviar und Schnaps und redeten laut durcheinander. Im Saal wurde der Tisch für achtzig Personen gedeckt. Die Diener eilten hin und her, stellten Flaschen und Karaffen auf und strichen die Tischtücher glatt. Schließlich verkündete der Haushofmeister: „Es ist aufgetragen“, und Kirila Petrowitsch setzte sich als erster an die Tafel, hinter ihm bewegten sich die Damen und nahmen würdevoll ihre Plätze ein, wobei sie eine gewisse Rangordnung beachteten, die Fräulein drängten sich zusammen wie eine schüchterne Herde Zicklein und setzten sich alle nebeneinander. Ihnen gegenüber ließen sich die Herren nieder. An dem Ende der Tafel setzte sich der Hauslehrer neben den kleinen Sascha. Die Diener servierten die Teller nach dem Rang, im Zweifelsfalle ließen sie sich von Lavaterschen Überlegungen leiten und irrten sich dabei fast nie. Das Klirren der Teller und Löffel floß mit dem lauten Gespräch der Gäste in eins zusammen, Kirila Petrowitsch betrachtete fröhlich seine Tafelrunde und genoß voll und ganz das Glück des Gastgebers. In diesem Augenblick fuhr eine sechsspännige Kutsche in den Hof. „Wer ist das?“ fragte der Hausherr. „Anton Pafnutitsch“, antworteten mehrere Stimmen. Die Tür öffnete sich, und Anton Pafnutitsch Spizyn, ein dicker Mann von ungefähr fünfzig Jahren mit einem runden und pokkennarbigen Gesicht, das ein dreifaches Kinn zierte, wälzte sich in den Speisesaal, wobei er sich andauernd verbeugte, lächelte und im Begriff war, sich zu entschuldigen … „Ein Gedeck her“, schrie Kirila Petrowitsch, „wir lassen bitten, Anton Pafnutitsch, setz dich, und sag uns, was das bedeuten soll: Du warst nicht bei der Messe und kommst auch zum Mittagessen zu spät. Das sieht dir gar nicht ähnlich – du bist doch fromm und ißt auch gerne.“ – „Verzeihung“, antwortete Anton Pafnutitsch und befestigte eine Serviette im Knopfloch seines erbsgrünen Rockes, „Verzeihung, Väterchen Kirila Petrowitsch, ich hatte mich früh auf den 211
Weg gemacht, doch ich war kaum ein Dutzend Werst gefahren, als plötzlich der Reifen am vorderen Rad zersprang – was tun? Zum Glück war ein Dorf in der Nähe, bis wir uns aber zu ihm hingeschleppt hatten, einen Schmied gefunden und alles einigermaßen in Ordnung gebracht hatten, waren genau drei Stunden vergangen, daran war nichts zu ändern. Den nächsten Weg durch den Wald von Kistenjowka wollte ich nicht fahren, sondern machte einen Umweg …“ „Hehe!“ unterbrach ihn Kirila Petrowitsch, „du scheinst nicht gerade zu den Mutigsten zu gehören; wovor hast du denn Angst?“ „Was heißt, wovor hast du Angst, Väterchen Kirila Petrowitsch, vor dem Dubrowskij habe ich Angst, eh du dich’s versiehst, gerätst du ihm in die Krallen. Das ist ein ganz geriebener Bursche, der läßt keinen ungeschoren, und mir wird er wahrscheinlich nicht nur einmal das Fell über die Ohren ziehen.“ „Wofür denn, Bruder, so eine Auszeichnung?“ „Was heißt wofür, Väterchen Kirila Petrowitsch? Doch für den Prozeß mit dem verstorbenen Andrej Gawrilowitsch. Ich war es doch, der Ihnen zu Gefallen, das heißt nach bestem Wissen und Gewissen, ausgesagt hat, daß die Dubrowskijs Kistenjowka besitzen ohne irgendein Recht darauf und nur auf Grund Ihrer Nachsichtigkeit. Und der Verstorbene (Gott hab ihn selig) hatte versprochen, mit mir auf seine Weise abzurechnen, und der Sohn hält wahrscheinlich das Versprechen seines Vaters. Bis jetzt war mir Gott gnädig. Nur eine einzige Scheune haben sie mir ausgeräumt, aber ehe du dich’s versiehst, nehmen sie sich das Herrenhaus vor.“ „Und im Herrenhaus brauchen sie nur zuzugreifen“, bemerkte Kirila Petrowitsch. „Die Geldschatulle ist doch übervoll …“ „Woher denn, Väterchen Kirila Petrowitsch. Sie war voll, aber jetzt ist sie ganz leer!“ „Hör mit dem Lügen auf, Anton Pafnutitsch, Euch kennen wir; wo soll denn das Geld hinkommen bei dir, lebst wie ein Schwein zu Hause, empfängst niemanden, schindest deine Bauern bis aufs Blut, häufst Geld an – und das ist alles.“ „Sie belieben immer zu spaßen, Väterchen Kirila Petrowitsch“, 212
murmelte Anton Pafnutitsch mit einem Lächeln. „Aber, bei Gott, wir sind ruiniert.“ Und Anton Pafnutitsch würgte seine Verlegenheit über den herrschaftlichen Scherz des Gastgebers zusammen mit einem fetten Stück Fleischpastete herunter. Kirila Petrowitsch ließ ihn in Frieden und wandte sich dem neuen Kreispolizeichef zu, der zum erstenmal sein Gast war und am anderen Ende der Tafel neben dem Lehrer saß. „Wie steht es, fangen wenigstens Sie Dubrowskij, Herr Kreispolizeichef?“ Der Kreispolizeichef bekam einen Schreck, verbeugte sich, lächelte, stotterte und sagte schließlich: „Wir geben uns Mühe, Euer Exzellenz.“ „Hm, wir geben uns Mühe. Schon die ganze Zeit gibt man sich Mühe, aber es kommt nichts heraus dabei. Wahrhaftig, warum ihn fangen. Dubrowskijs Raubzüge sind eine Wohltat für die Kreispolizeichefs: Dienstreisen, Ermittlungen, Reisepferde – und das Geld geht in die eigene Tasche. Wie kann man solch einen Wohltäter auch an den Galgen bringen? Habe ich nicht recht, Herr Kreispolizeichef?“ „Sie haben vollkommen recht, Euer Exzellenz“, antwortete der völlig verwirrte Kreispolizeichef. Die Gäste brachen in Gelächter aus. „Mir gefällt der Bursche wegen seiner Ehrlichkeit“, sagte Kirila Petrowitsch. „Aber um unseren verstorbenen Kreispolizeichef Taras Alexejewitsch ist es doch schade; wenn man ihn nicht verbrannt hätte, wäre es jetzt im Kreis ruhiger. Und was hört man von Dubrowskij? Wo ist er zum letztenmal gesehen worden?“ „Bei mir, Kirila Petrowitsch“, ließ sich eine hohe und dünne Stimme vernehmen, die einer dicken Dame angehörte. „Vergangenen Dienstag hat er bei mir zu Mittag gegessen …“ Alle Blicke richteten sich auf Anna Sawischna Globowa, eine recht einfache Witwe, die von allen wegen ihres gutmütigen und fröhlichen Wesens geliebt wurde. Voller Neugier warteten alle auf ihre Erzählung. „Sie müssen wissen, daß ich vor genau drei Wochen den Verwalter mit Geld für meinen Wanjuscha auf die Post geschickt 213
habe. Ich verwöhne meinen Sohn nicht, ich bin dazu auch gar nicht in der Lage, wenn ich es auch wollte; doch Sie wissen ja selbst: Ein Gardeoffizier muß ein anständiges Leben führen können, und ich teile, so weit es nur geht, mit Wanjuscha meine geringen Einkünfte. Und da habe ich ihm zweitausend Rubel geschickt, zwar kam mir der Gedanke an Dubrowskij ziemlich oft, aber ich denke: Bis zur Stadt ist es nicht weit, nur sieben Werst, Gott wird uns vielleicht beschützen. Ich gucke, da kommt abends mein Verwalter zurück, bleich, abgerissen und zu Fuß – ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ‚Was ist? Was ist mit dir passiert?‘ Er sagt mir: ‚Mütterchen Anna Sawischna, die Räuber haben mich bestohlen, fast hätten sie mich erschlagen, Dubrowskij selbst war da und wollte mich aufhängen, doch er hatte Mitleid und ließ mich laufen, dafür hat er mir alles abgenommen, auch das Pferd und den Wagen.‘ Ich war wie erschlagen; Gott im Himmel, was wird aus meinem Wanjuscha? Da war nichts zu machen, ich schrieb meinem Sohn einen Brief, in dem ich ihm alles erzählte, und sandte ihm meinen Segen ohne einen einzigen Heller. Eine Woche verging, die zweite – plötzlich kommt eine Kutsche zu mir auf den Hof gefahren. Ein General bittet, mich sprechen zu dürfen; bitte schön, herzlich willkommen; ein Mann von fünfunddreißig Jahren tritt bei mir ein, braunes Gesicht, schwarze Haare, Bart, das reinste Abbild Kulnjows, er stellt sich als Freund und Kriegskamerad meines verstorbenen Mannes Iwan Andrejewitsch vor; er sei hier vorbeigefahren und habe nicht versäumen wollen, bei seiner Witwe einzukehren, da er wußte, daß ich hier wohne. Ich bewirtete ihn so gut ich konnte, wir unterhielten uns über dies und das und schließlich auch über Dubrowskij. Ich erzählte ihm mein Unglück. Mein General zog die Brauen zusammen. ‚Das ist seltsam‘, sagte er, ‚ich habe gehört, Dubrowskij fällt nicht jeden an, sondern nur bekannte Reiche, und auch dann teilt er die Beute mit ihnen und nimmt ihnen nicht alles ab, wegen Mordes aber hat ihn noch niemand angeklagt; vielleicht ist hier eine Gaunerei im Spiel, lassen Sie doch Ihren Verwalter einmal herkommen.‘ Man lief nach dem 214
Verwalter, und er erschien; sowie er den General sah, erstarrte er vor Schreck. ‚Erzähle mir doch mal, Bruder, wie dich Dubrowskij ausgeraubt hat und wie er dich hängen wollte.‘ Mein Verwalter fing an zu zittern und fiel dem General zu Füßen. ‚Väterchen, verzeih mir, der Böse hat mich verführt, ich habe gelogen.‘ – ‚Wenn sich das so verhält‘, antwortete der General, ‚dann erzähle gefälligst der Herrin, wie alles gekommen ist, ich aber werde zuhören.‘ Der Verwalter konnte sich von dem Schreck nicht erholen. ‚Nun‘, fuhr der General fort, ‚erzähle: Wo hast du Dubrowskij getroffen?‘ – ‚Bei den zwei Kiefern, Väterchen, bei den zwei Kiefern.‘ – ‚Und was hat er zu dir gesagt?‘ – ‚Er hat mich gefragt, zu wem ich gehöre, wohin ich fahre und warum.‘ – ‚Nun, und dann?‘ – ‚Und dann hat er den Brief und das Geld verlangt.‘ – ‚Nun?‘ – ‚Ich hab ihm den Brief und das Geld gegeben.‘ – ‚Und er? Nun, und er?‘ – ‚Väterchen, Verzeihung.‘ – ‚Nun, was hat er getan?‘ – ‚Er hat mir das Geld und den Brief zurückgegeben und gesagt: ›Geh mit Gott und trag es auf die Post.‹‘ – ‚Nun, und du?‘ – ‚Väterchen, Verzeihung.‘ – ‚Mit dir, mein Lieber, werde ich abrechnen‘, sagte der General drohend, ‚und ordnen Sie an, Gnädigste, daß die Truhe dieses Spitzbuben durchsucht wird, und übergeben Sie ihn mir, ich werde ihm eine Lehre erteilen. Sie müssen wissen, daß Dubrowskij selbst Gardeoffizier gewesen ist, er wird einen Kameraden nicht kränken wollen.‘ Ich erriet, wer Seine Exzellenz war, was sollte ich groß mit ihm reden. Die Kutscher banden den Verwalter am Bock fest. Das Geld wurde gefunden; der General aß bei mir zu Mittag, dann fuhr er sofort weg und nahm den Verwalter mit. Mein Verwalter wurde am nächsten Tag im Wald gefunden, er war an eine Eiche gefesselt, und man hatte ihn bis aufs Hemd geplündert.“ Alle hatten der Erzählung Anna Sawischnas schweigend zugehört, besonders die Fräulein. Viele von ihnen wollten ihm heimlich wohl, sie sahen in ihm einen Romanhelden, besonders die leidenschaftliche Träumerin Marja Kirilowna, die von den geheimnisvollen Schauern der Radcliffe ganz durchdrungen war. „Und du nimmst an, Anna Sawischna, daß bei dir Dubrowskij in eigener Person gewesen ist“, fragte Kirila Petrowitsch. „Da 215
hast du dich aber sehr getäuscht. Ich weiß nicht, wer bei dir zu Besuch gewesen ist, aber Dubrowskij war es auf keinen Fall.“ „Wie, Väterchen, nicht Dubrowskij – wer denn sonst, wenn nicht er, fährt auf die Straße und hält die Vorübergehenden an und untersucht sie.“ „Ich weiß es nicht, aber Dubrowskij war es bestimmt nicht. Ich erinnere mich noch an ihn, als er ein kleines Kind war; ich weiß nicht, ob vielleicht seine Haare nachgedunkelt sind, aber damals war er ein blondlockiger Junge, doch ich weiß genau, daß Dubrowskij fünf Jahre älter ist als meine Mascha und daß er folglich nicht fünfunddreißig Jahre alt ist, sondern ungefähr dreiundzwanzig.“ „Genau so ist es, Euer Exzellenz“, rief der Kreispolizeichef, „ich habe Wladimir Dubrowskijs Steckbrief in der Tasche. Darin ist genau angegeben, daß er dreiundzwanzig Jahre alt ist.“ „Ah!“ sagte Kirila Petrowitsch, „übrigens, lies ihn uns mal vor, es wäre nicht schlecht, seine äußeren Merkmale zu kennen; wenn er uns unter die Augen kommen sollte, dann entwischt er uns nicht.“ Der Kreispolizeichef zog ein ziemlich schmieriges Blatt Papier aus seiner Tasche, faltete es voller Wichtigkeit auseinander und begann mit singender Stimme zu lesen. „Die Merkmale Wladimir Dubrowskijs, zusammengestellt auf Grund der Angaben ehemaliger Angehöriger seines Gesindes. Alter dreiundzwanzig Jahre, Wuchs mittelgroß, Gesicht glatt, Bart keiner, Augen braun, Haare hellbraun, Nase gerade. Besondere Kennzeichen: keine.“ „Und weiter nichts?“ fragte Kirila Petrowitsch. „Weiter nichts“, antwortete der Kreispolizeichef und faltete das Papier zusammen. „Ich gratuliere, Herr Kreispolizeichef. Das ist ein Papierchen! Auf Grund dieser Merkmale wird es Ihnen nicht schwerfallen, Dubrowskij zu finden. Wer ist denn nicht mittelgroß, wer hat denn keine hellbraunen Haare, keine gerade Nase und keine braunen Augen? Ich gehe jede Wette ein, daß du dich drei Stunden hintereinander mit Dubrowskij selbst unterhalten wirst und 216
nicht merkst, mit wem dich Gott zusammengeführt hat. Alles, was recht ist, die Beamten sind kluge Köpfe!“ Der Kreispolizeichef steckte demütig sein Papier in die Tasche und machte sich schweigend an die Gans mit Kraut. Unterdessen waren die Diener schon einige Male reihum gegangen und hatten jedem Gast eingeschenkt. Einige Flaschen Wein aus den Bergen und aus Zymljansk waren laut entkorkt und wohlwollend als Champagner hingenommen worden, die Gesichter begannen sich zu röten, die Gespräche wurden lauter, unzusammenhängender und fröhlicher. „Nein“, fuhr Kirila Petrowitsch fort, „so einen Kreispolizeichef wie den verstorbenen Taras Alexejewitsch finden wir nicht noch einmal! Der war kein Dummkopf, keine Schlafmütze. Schade, daß man den Prachtburschen verbrannt hat, sonst wäre ihm nicht ein einziger aus der ganzen Bande entgangen. Er hätte sie alle bis auf den letzten Mann gefangen, und auch Dubrowskij selbst wäre ihm nicht entkommen und hätte sich nicht losgekauft. Das Geld hätte Taras Alexejewitsch schon genommen, aber freigelassen hätte er ihn nicht: So pflegte es der Verstorbene zu halten. Da hilft alles nichts, anscheinend muß ich selbst eingreifen und gegen die Räuber mit meinen eigenen Leuten zu Felde ziehn. Fürs erste werde ich zwanzig Leute losschicken, die werden den Räuberwald säubern; die Leute sind nicht ängstlich, jeder nimmt es allein mit einem Bären auf, sie werden bei den Räubern kein Fersengeld geben.“ „Ist Ihr Bär denn gesund, Väterchen Kirila Petrowitsch?“ erkundigte sich Anton Pafnutitsch, der sich bei diesen Worten an seinen zottigen Bekannten erinnerte und an gewisse Scherze, denen er zum Opfer gefallen war. „Meister Petz weilt nicht mehr unter den Lebenden“, antwortete Kirila Petrowitsch. „Er ist eines ruhmvollen Todes von der Hand des Feindes gestorben. Dort ist sein Bezwinger“, Kirila Petrowitsch wies auf Deforges. „Nimm dir an meinem Franzosen ein Beispiel. Er hat deine … mit Verlaub zu sagen … gerächt. Erinnerst du dich?“ „Wie soll ich mich nicht erinnern“, erwiderte Anton Pafnutitsch 217
und kratze sich am Kopf. „Ich erinnere mich sehr gut daran. Also Petz ist tot. Es ist schade um Meister Petz, bei Gott, schade! Was für ein Spaßvogel war er! Was für ein kluges Tier! Solch einen Bären findet man nicht zum zweitenmal. Warum hat ihn denn der Musjö umgebracht?“ Kirila Petrowitsch begann mit großem Vergnügen von der Heldentat seines Franzosen zu berichten, da er die glückliche Eigenschaft besaß, mit allem, was ihn auch immer umgab, zu prahlen. Die Gäste lauschten aufmerksam dem Bericht über Meister Petz’ Tod und sahen voller Bewunderung auf Deforges, der, ohne zu ahnen, daß von seinem Mut die Rede war, ruhig auf seinem Platz saß und seinem munteren Zögling moralische Belehrungen erteilte. Das Mittagessen, das ungefähr drei Stunden gedauert hatte, ging zu Ende; der Hausherr legte die Serviette auf den Tisch, alle erhoben sich und gingen in das Gastzimmer, wo ihrer Kaffee, Karten und die Fortsetzung des so rühmlich im Speisesaal begonnenen Gelages harrten. Zehntes Kapitel Gegen sieben Uhr abends wollten einige Gäste nach Hause fahren, doch der Hausherr, durch den Punsch fröhlich geworden, befahl, das Tor zu schließen, und verkündete, daß er bis zum nächsten Morgen niemand vom Hof ließe. Bald darauf erschallte Musik, die Saaltür öffnete sich, und der Ball nahm seinen Anfang. Der Hausherr und seine nächsten Freunde saßen in einer Ecke, tranken Glas auf Glas und freuten sich über die Fröhlichkeit der Jugend. Die alten Damen spielten Karten. Kavaliere gab es, wie überall, wo nicht eine Ulanenbrigade einquartiert ist, weniger als Damen, alle Herren, die fähig waren zu tanzen, waren engagiert worden. Der Hauslehrer tat sich vor allen anderen hervor, er tanzte am meisten, alle Fräulein forderten ihn auf und fanden, daß es sich mit ihm sehr schön Walzer tanzen läßt. Mehrere Male drehte er sich auch mit Marja Kirilowna im Wal218
zer, und die anderen Fräulein beobachteten sie mit spöttischen Mienen. Schließlich hob der müde Hausherr den Ball um Mitternacht auf, befahl, das Abendessen aufzutragen, und ging selber schlafen. Die Abwesenheit Kirila Petrowitschs ließ die Gesellschaft ungezwungener und lebhafter werden. Die Kavaliere wagten es, sich neben die Damen zu setzen. Die Mädchen lachten und flüsterten mit ihren Nachbarn; die Damen sprachen laut über den Tisch hinweg. Die Männer tranken, stritten sich und lachten – kurz, das Abendessen war außerordentlich lustig und hinterließ viele angenehme Erinnerungen. Nur ein einziger Mensch nahm nicht an der allgemeinen Fröhlichkeit teil: Anton Pafnutitsch. Er saß finster und schweigend auf seinem Platz, aß zerstreut und schien außerordentlich beunruhigt zu sein. Die Gespräche über die Räuber hatten seine Einbildungskraft erregt. Wir werden gleich sehen, daß er genügend Grund hatte, sich vor Räubern zu fürchten. Als Anton Pafnutitsch Gott zum Zeugen angerufen hatte, daß seine Geldschatulle leer sei, hatte er nicht gelogen und somit nicht gesündigt: Das Geld, das sie einst enthielt, war in eine Ledertasche übergewechselt, die er auf der Brust unter dem Hemd trug. Nur durch diese Vorsichtsmaßnahme beschwichtigte er sein Mißtrauen gegenüber allen und seine ewige Angst. Da er sich genötigt sah, in einem fremden Haus zu übernachten, fürchtete er, irgendwo in einem einsamen Zimmer, in das leicht Diebe gelangen könnten, sein Nachtlager zu erhalten, er hielt nach einem verläßlichen Schlafgenossen Ausschau und entschied sich schließlich für Deforges. Sein Äußeres, das Kraft verriet, und vor allem die Tapferkeit, die er beim Zusammentreffen mit dem Bären – an den Anton Pafnutitsch nicht ohne Zittern denken konnte – bewiesen hatte, gaben bei dieser Wahl den Ausschlag. Als man sich von der Tafel erhob, drückte sich Anton Pafnutitsch in der Nähe des jungen Franzosen herum, räusperte sich und hustete und wandte sich schließlich an ihn mit einer Erklärung. „Hm, hm, wäre es nicht möglich, Musjö, in ihrer Kammer zu übernachten, denn, wie Sie sehen …“ 219
„Que désire monsieur?“ fragte ihn Deforges mit einer höflichen Verbeugung. „So ein Pech, du kannst noch nicht Russisch, Musjö. She wö, mua, sehe wu kuschee, verstehst du?“ „Monsieur, très volontiers“, antwortete Deforges, „veuillez donner des ordres en conséquence.“ Anton Pafnutitsch, sehr zufrieden mit seinen Kenntnissen der französischen Sprache, ging sofort daran und traf die entsprechenden Anordnungen. Die Gäste verabschiedeten sich voneinander, und jeder ging auf das ihm zugewiesene Zimmer. Anton Pafnutitsch folgte dem Hauslehrer in den Seitenflügel. Die Nacht war dunkel. Deforges beleuchtete den Weg mit einer Laterne, Anton Pafnutitsch ging recht munter hinter ihm her und drückte manchmal die verborgene Ledertasche an seine Brust, um sich zu überzeugen, daß das Geld noch bei ihm sei. Als sie in den Seitenflügel kamen, zündete der Lehrer eine Kerze an, und beide begannen sich auszuziehen; Anton Pafnutitsch ging dabei im Zimmer auf und ab, untersuchte Schlösser und Fenster und wiegte den Kopf bei dieser Besichtigung, die ihn gar nicht befriedigte. Die Tür konnte nur mit einem Riegel verschlossen werden, die Fenster hatten noch keine Doppelrahmen. Er versuchte sich darüber bei Deforges zu beklagen, doch seine Kenntnisse der französischen Sprache waren zu begrenzt für solch eine komplizierte Darlegung; der Franzose verstand ihn nicht, und Anton Pafnutitsch sah sich gezwungen, auf seine Klagen zu verzichten. Ihre Betten standen einander gegenüber, beide legten sich nieder, und der Lehrer löschte das Licht. „Purkua wu tuschee, purkua wu tuschee“, schrie Anton Pafnutitsch und konjugierte – wenn auch mit Mühe – das russische Verb für löschen auf französische Art. „Ich kann im Dunkeln nicht dormir.“ Deforges verstand seinen Ausruf nicht und wünschte ihm eine gute Nacht. „Dieser verfluchte Heide“, knurrte Spizyn und wickelte sich in die Bettdecke. „Warum mußte er unbedingt das Licht löschen. Um so schlimmer für ihn. Ich kann ohne Licht nicht schlafen. – 220
Musjö, Musjö“, fuhr er fort, „she wö awek wu parle.“ Doch der Franzose antwortete nicht und fing bald darauf an zu schnarchen. Da schnarcht diese Bestie von einem Franzosen, dachte Anton Pafnutitsch, und bei mir ist an Schlafen überhaupt nicht zu denken. Ehe du dich’s versiehst, kommen Diebe zur offenen Tür herein oder klettern durchs Fenster, und diese Bestie wacht nicht einmal von einem Kanonenschuß auf! – „Musjö! He, Musjö! Der Teufel soll dich holen.“ Anton Pafnutitsch schwieg, die Müdigkeit und der Wein siegten allmählich über seine Ängstlichkeit, er begann vor sich hin zu dämmern, und bald verfiel er in tiefen Schlaf. Ein seltsames Erwachen sollte ihm zuteil werden. Halb im Schlaf fühlte er, daß jemand vorsichtig an seinem Hemdkragen zog. Anton Pafnutitsch öffnete die Augen und sah im blassen Licht des Herbstmorgens Deforges vor sich: Der Franzose hielt in der einen Hand eine Taschenpistole und knüpfte mit der anderen die geheiligte Tasche ab. Anton Pafnutitsch erschrak zu Tode. „Kess kö se, musjö, kess kö se“, sagte er mit zitternder Stimme. „Still, keinen Ton“, antwortete der Hauslehrer im reinsten Russisch, „keinen Ton, oder Sie sind verloren. Ich bin Dubrowskij.“ Elftes Kapitel Jetzt ersuchen wir den Leser um die Erlaubnis, die letzten Ereignisse unserer Erzählung durch die vorangehenden Umstände zu erläutern, die zu berichten wir noch nicht die Zeit hatten. Auf der Poststation ***, im Haus des Postmeisters, den wir bereits erwähnten, saß ein Reisender mit demütiger und geduldiger Miene, die auf einen Rasnotschinzen oder einen Ausländer schließen ließ, das heißt auf einen Menschen, dessen Stimme auf der Poststraße kein Gewicht hat. Seine Kalesche stand auf dem Hof und wartete darauf, abgeschmiert zu werden. In ihr lag ein kleiner Koffer, der kümmerliche Beweis einer nicht übermäßigen Wohlhabenheit. Der Reisende verlangte weder Tee noch Kaffee, 221
sah zum Fenster hinaus und pfiff vor sich hin, zum größten Mißvergnügen der Postmeisterin, die hinter der Zwischenwand saß. „Da hat uns Gott einen Pfeifer hergeführt“, sagte sie halblaut. „Wie er pfeift, wenn er doch platzen würde, der verfluchte Heide.“ „Nun und?“ meinte der Postmeister. „Was für ein Unglück, soll er doch pfeifen.“ „Was für ein Unglück?“ entgegnete die wütende Gemahlin. „Weißt du nicht, was das bedeutet?“ „Was soll es bedeuten? Daß das Pfeifen das Geld aus dem Haus vertreibt? Ih! Pachomowna, ob bei uns gepfiffen wird oder nicht: Geld ist niemals da.“ „Laß ihn doch fahren, Sidorytsch. Wozu willst du ihn hierbehalten. Gib ihm Pferde, soll er sich zum Teufel scheren.“ „Er kann warten, Pachomowna; ich habe nur drei Gespanne im Stall, das vierte ruht sich aus. Eh du dich’s versiehst, kommen anständige Reisende; ich will nicht wegen des Franzosen meinen Rücken hinhalten. Horch, wahrhaftig! Da kommt jemand angefahren. He-he-he, und so schnell, sollte das etwa ein General sein?“ Die Kutsche hielt am Eingang. Der Diener sprang vom Bock, öffnete den Wagenschlag, und gleich darauf trat ein junger Mann in Militärmantel und weißer Uniformmütze beim Postmeister ein; hinter ihm trug der Diener eine Schatulle und stellte sie aufs Fensterbrett. „Pferde!“ sagte der Offizier in befehlendem Ton. „Sofort“, antwortete der Postmeister. „Zeigen Sie mir bitte die Anweisung auf Pferde.“ „Ich habe keine Anweisung. Ich fahre nicht die Straße … Erkennst du mich etwa nicht?“ Der Postmeister lief auf einmal hin und her und stürzte davon, um die Kutscher anzutreiben. Der junge Mann fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen, trat dann hinter die Zwischenwand und fragte leise die Postmeisterin, wer der Reisende sei. „Das weiß Gott allein“, antwortete die Postmeisterin. „Irgend so ein Franzose. Jetzt sind’s schon fünf Stunden, daß er auf 222
Pferde wartet und vor sich hin pfeift. Er hängt mir zum Hals heraus, der Verfluchte.“ Der junge Mann begann sich mit dem Reisenden auf französisch zu unterhalten. „Wohin wollen Sie fahren?“ unterbrach er ihn. „In die nächste Stadt“, antwortete der Franzose. „Von dort aus mache ich mich auf den Weg zu einem Gutsherrn, der mich, ohne mich zu kennen, als Hauslehrer angestellt hat. Ich hatte geglaubt, heute schon dort sein zu können, aber der Herr Postmeister scheint sich anders entschlossen zu haben. In diesem Land ist es schwer, Pferde zu bekommen, Herr Offizier.“ „Und wer von den hiesigen Gutsbesitzern hat Sie angestellt?“ fragte der Offizier. „Herr Trojekurow“, sagte der Franzose. „Trojekurow? Wer ist dieser Trojekurow?“ „Ma foi, mon officier … ich habe von ihm wenig Gutes gehört. Man erzählt, daß er ein stolzer und eigenwilliger Herr ist, grausam im Umgang mit seinen Hausangehörigen, daß niemand mit ihm auskommen kann, daß alle schon bei seinem Namen zittern, daß er mit den Hauslehrern (avec les outchitels) nicht viel Umstände macht und schon zwei zu Tode geprügelt hat.“ „Ich bitte Sie! Und Sie haben vor, bei solch einem Ungeheuer in den Dienst zu treten.“ „Was soll ich machen, Herr Offizier. Er bietet mir ein gutes Gehalt an, dreitausend Rubel im Jahr, bei freier Kost und Logis. Vielleicht habe ich mehr Glück als andere. Ich habe eine alte Mutter, die Hälfte des Gehalts werde ich ihr zum Leben schicken, von dem restlichen Geld spare ich mir innerhalb von fünf Jahren ein kleines Kapital zusammen, das mir meine Unabhängigkeit sichern wird, und dann bonsoir, ich werde nach Paris fahren und mich mit Handelsunternehmungen befassen.“ „Kennt Sie irgend jemand im Haus der Trojekurows?“ fragte er. „Nein, niemand“, antwortete der Hauslehrer. „Er hat mich durch einen seiner Bekannten aus Moskau kommen lassen, dessen Koch, ein Landsmann von mir, mich empfohlen hat. Sie müssen wissen, daß ich mich nicht darauf vorbereitet hatte, Hauslehrer 223
zu sein, sondern Konditor, doch man sagte mir, in Ihrem Land sei der Beruf eines Lehrers unvergleichlich vorteilhafter …“ Der Offizier dachte nach. „Hören Sie“, unterbrach ihn der Offizier, „was würden Sie sagen, wenn man Ihnen an Stelle dieser Zukunft zehntausend Rubel in bar anbieten würde, unter der Bedingung, daß Sie sofort zurück nach Paris fahren.“ Der Franzose guckte den Offizier verwundert an, lächelte und schüttelte den Kopf. „Die Pferde sind angespannt“, sagte der Postmeister, der hereingetreten war. Der Diener wiederholte dasselbe. „Sofort“, antwortete der Offizier. „Lassen Sie uns einen Augenblick allein.“ Der Postmeister und der Diener gingen hinaus. „Ich scherze nicht“, fuhr er auf französisch fort. „Die zehntausend kann ich Ihnen geben, ich brauche nur Ihre Abwesenheit und Ihre Papiere.“ Mit diesen Worten öffnete er die Schatulle und nahm aus ihr einige Bündel Geldscheine heraus. Der Franzose machte große Augen. Er wußte nicht, was er denken sollte. „Meine Abwesenheit … meine Papiere“, wiederholte er voller Verwunderung. „Hier sind meine Papiere … Doch Sie scherzen: Wozu brauchen Sie meine Papiere?“ „Das ist nicht Ihre Sache. Ich frage Sie, sind Sie einverstanden oder nicht?“ Der Franzose, der immer noch nicht seinen Ohren traute, reichte seine Papiere dem jungen Offizier hin, der sie schnell durchsah. „Ihr Paß … schön. Ein Empfehlungsbrief, wir werden sehen. Die Geburtsurkunde, ausgezeichnet. Hier haben Sie also Ihr Geld, fahren Sie zurück. Leben Sie wohl …“ Der Franzose rührte sich nicht vom Fleck. Der Offizier kam zurück. „Ich hatte das Wichtigste vergessen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß alles unter uns bleibt – Ihr Ehrenwort.“ „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“, antwortete der Franzose. „Doch meine Papiere, was soll ich ohne sie anfangen?“ 224
„Erklären Sie in der ersten Stadt, daß Sie Dubrowskij ausgeraubt hat. Man wird Ihnen glauben und Ihnen die nötigen Zeugnisse ausstellen. Leben Sie wohl, und Gott gebe es, daß Sie möglichst schnell nach Paris kommen und Ihre Mutter bei guter Gesundheit vorfinden.“ Dubrowskij ging aus dem Zimmer, setzte sich in den Wagen und fuhr davon. Der Postmeister sah aus dem Fenster, und als die Kutsche davongefahren war, wandte er sich mit dem Ausruf an seine Frau: „Pachomowna, weißt du was? Das war Dubrowskij!“ Die Postmeisterin stürzte Hals über Kopf zum Fenster, doch es war bereits zu spät: Dubrowskij war schon weit fort. Sie begann ihren Mann zu beschimpfen: „Du hast keine Gottesfurcht, Sidorytsch, warum hast du mir das nicht früher gesagt, ich hätte wenigstens einen Blick auf Dubrowskij geworfen, jetzt können wir warten, bis er wieder bei uns einkehrt. Du hast kein Gewissen, wirklich, du hast keins!“ Der Franzose rührte sich nicht vom Fleck. Die Abmachung mit dem Offizier, das Geld, all das kam ihm vor wie ein Traum. Doch die Bündel mit den Geldscheinen lagen hier in seiner Tasche und sprachen in eindrucksvoller Weise für die Wahrhaftigkeit des wunderbaren Vorgangs. Er entschloß sich, Pferde bis zur Stadt zu mieten. Der Kutscher fuhr ihn im Schritt, und erst nachts hatten sie sich bis zur Stadt geschleppt. Kurz vor der Stadteinfahrt, neben der statt des Wachsoldaten ein zerfallenes Schilderhäuschen stand, befahl der Franzose anzuhalten, kletterte aus der Kalesche, machte dem Kutscher durch Zeichen klar, daß er ihm diese und den Koffer als Trinkgeld überlasse, und ging zu Fuß weiter. Der Kutscher war über diese Freigebigkeit ebenso erstaunt wie der Franzose über den Vorschlag Dubrowskijs. Doch der Kutscher, der aus all dem schloß, daß der Ausländer den Verstand verloren habe, dankte mit einem eifrigen Bückling, und da er es nicht für gut hielt, in die Stadt hineinzufahren, machte er sich auf den Weg zu einem ihm bekannten Vergnügungsetablissement, dessen Besitzer er recht gut kannte. 225
Dort verbrachte er die ganze Nacht, und am Morgen des nächsten Tages kehrte er mit dem Gespann heim, aber ohne Kalesche und Koffer, mit geschwollenem Gesicht und roten Augen. Als Dubrowskij in den Besitz der Papiere des Franzosen gelangt war, erschien er, wie wir schon gesehen haben, ohne weiteres bei Trojekurow und ließ sich in seinem Hause nieder. Welcher Art auch seine geheimen Absichten waren (wir werden sie später erfahren), in seinem Benehmen war nichts Ungebührliches. Allerdings kümmerte er sich wenig um die Erziehung des kleinen Sascha, ließ ihm volle Freiheit für seine Streiche und bestrafte ihn nicht streng, wenn die Schularbeiten, die er ihm nur zum Schein aufgab, nicht gemacht waren, dafür verfolgte er aber mit großem Fleiß die musikalischen Fortschritte seiner Schülerin und saß oft stundenlang mit ihr am Klavier. Alle hatten den jungen Hauslehrer gern – Kirila Petrowitsch liebte ihn wegen seiner Tollkühnheit auf der Jagd, Marja Kirilowna verehrte ihn wegen seines grenzenlosen Eifers und seiner schüchternen Aufmerksamkeit, Sascha schwärmte für ihn wegen der Nachsichtigkeit seinen Streichen gegenüber, die übrigen im Hause schätzten ihn wegen seiner Güte und Freigebigkeit, die scheinbar nicht mit seinem Vermögen in Einklang zu bringen war. Er selbst, so schien es, hing sehr an der ganzen Familie und rechnete sich schon zu einem Mitglied derselben. Von dem Tag an, da er das Amt eines Hauslehrers angetreten hatte, bis zu dem denkwürdigen Fest war ungefähr ein Monat vergangen, und niemand kam auf den Gedanken, daß sich hinter dem bescheidenen jungen Franzosen der gefährliche Räuber verbarg, dessen Name unter allen Gutsbesitzern der Umgebung Schrecken hervorrief. Während dieser ganzen Zeit verließ Dubrowskij Pokrowskoje nicht, doch das Gerücht von seinen Raubzügen ließ, dank der erfinderischen Phantasie der Dorfbewohner, nicht nach, allein, es konnte auch sein, daß seine Bande ihre Tätigkeit auch während der Abwesenheit des Anführers fortsetzte. Als Dubrowskij im selben Zimmer mit einem Menschen schlief, den er für seinen persönlichen Feind und einen der Haupt226
schuldigen an seinem Unglück halten durfte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er wußte von der Existenz der Tasche und entschloß sich, sie in seinen Besitz zu bringen. Wir haben gesehen, wie er den armen Anton Pafnutitsch durch seine jähe Verwandlung von einem Lehrer in einen Räuber erstaunte. Morgens um neun Uhr versammelten sich die Gäste, die in Pokrowskoje übernachtet hatten, allmählich im Gastzimmer, wo schon der Samowar kochte, vor dem Marja Kirilowna im Morgenkleid saß, und wo Kirila Petrowitsch im baumwollenen Rock und Pantoffeln aus seiner breiten Tasse trank, die eher einer Spülschüssel glich. Als letzter erschien Anton Pafnutitsch; er war so blaß und schien so verwirrt, daß sein Anblick alle verblüffte und Kirila Petrowitsch sich nach seiner Gesundheit erkundigte. Spizyn antwortete ohne jeden Sinn und blickte voller Entsetzen auf den Hauslehrer, der dabeisaß, als wäre nichts geschehen. Nach einigen Minuten trat ein Diener herein und verkündete Spizyn, daß seine Kutsche bereitstände; Anton Pafnutitsch verabschiedete sich eilig, verließ trotz aller Ermahnungen des Hausherrn schnell das Zimmer und fuhr sofort davon. Man verstand nicht, was ihm zugestoßen sein konnte, und Kirila Petrowitsch kam zu dem Schluß, daß er sich den Magen überladen habe. Nach dem Tee und dem Abschiedsfrühstück fuhren die übrigen Gäste nacheinander heim, und bald darauf war Pokrowskoje leer und verlassen, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Zwölftes Kapitel Einige Tage vergingen, und nichts Bemerkenswertes geschah. Das Leben der Bewohner von Pokrowskoje verlief eintönig. Kirila Petrowitsch fuhr jeden Tag auf die Jagd; Lektüre, Spaziergänge und Musikstunden beschäftigten Marja Kirilowna, besonders die Musikstunden. Sie fing an, ihr eigenes Herz zu verstehen, und mußte sich mit unwillkürlichem Ärger gestehen, daß es den Vorzügen des jungen Franzosen gegenüber nicht gleichgültig war. Er seinerseits verletzte nie die Grenzen der Ehrerbie227
tung und die strengen Regeln des Anstandes und beschwichtigte damit ihren Stolz und ihre ängstlichen Zweifel. Mit immer größerer Zutraulichkeit überließ sie sich dieser reizvollen Gewohnheit. Ohne Deforges langweilte sie sich, in seiner Gegenwart widmete sie sich nur ihm, wollte über alles seine Meinung wissen und war immer mit ihm einverstanden. Vielleicht war sie noch nicht verliebt, doch beim ersten zufälligen Hindernis oder einer plötzlichen Verfolgung durch das Schicksal mußte die Flamme der Leidenschaft in ihrem Herzen emporschlagen. Eines Tages, als Marja Kirilowna in den Saal gekommen war, wo sie der Hauslehrer erwartete, bemerkte sie voller Erstaunen einen Ausdruck von Verlegenheit auf seinem blassen Gesicht. Sie öffnete das Klavier, sang einige Noten, doch Dubrowskij entschuldigte sich unter dem Vorwand, er habe Kopfschmerzen, unterbrach die Stunde, klappte die Noten zu und gab ihr heimlich einen Zettel. Marja Kirilowna nahm ihn an, ohne zu überlegen, und bereute es im selben Augenblick, doch Dubrowskij war schon nicht mehr im Saal. Marja Kirilowna ging in ihr Zimmer, faltete den Zettel auseinander und las folgendes: „Seien Sie heute um sieben Uhr in der Laube am Bach. Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen.“ Ihre Neugierde war außerordentlich groß. Schon lange wartete sie auf ein Geständnis, wünschte es herbei und hatte Angst vor ihm. Es wäre ihr sehr angenehm gewesen, eine Bestätigung dessen, was sie schon lange erriet, zu hören, doch sie fühlte, daß es unziemlich wäre, eine Liebeserklärung von einem Menschen hinzunehmen, der seiner Stellung nach nicht hoffen konnte, jemals ihre Hand zu erhalten. Sie nahm sich vor, zum Stelldichein hinzugehen, doch sie war sich in einem nicht sicher: auf welche Weise sie das Geständnis des Lehrers entgegennehmen sollte, voller aristokratischer Empörung, mit freundschaftlichen Ermahnungen, fröhlichen Späßen oder voll schweigsamen Mitgefühls. Währenddessen sah sie alle Augenblicke auf die Uhr. Es dämmerte, die Kerzen wurden angezündet, und Kirila Petrowitsch setzte sich mit den Nachbarn, die zu Besuch gekommen waren, zum Bostonspiel nieder. Die Uhr im Speisesaal schlug 228
drei Viertel sieben, und Marja Kirilowna trat leise auf die Freitreppe, blickte sich nach allen Seiten um und lief in den Garten. Die Nacht war dunkel, der Himmel von Wolken bedeckt, man konnte nicht zwei Schritt weit sehen, doch Marja Kirilowna ging im Dunkeln die bekannten Wege entlang und kam nach einer Minute zu der Laube; hier blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen und um vor Deforges gleichgültig und ruhig zu erscheinen. Doch Deforges stand schon vor ihr. „Ich danke Ihnen“, sagte er mit leiser und trauriger Stimme zu ihr, „daß Sie mir meine Bitte nicht abgeschlagen haben. Ich wäre verzweifelt gewesen, wenn Sie nicht gekommen wären.“ Marja Kirilowna antwortete mit dem vorbereiteten Satz: „Ich hoffe, daß Sie mich nicht zwingen werden, meine Nachsicht zu bereuen.“ Er schwieg und faßte, wie es schien, Mut. „Die Umstände verlangen … Ich muß Sie verlassen“, sagte er schließlich. „Sie werden vielleicht bald hören … Doch vor der Trennung muß ich mich Ihnen erklären …“ Marja Kirilowna antwortete nichts. In diesen Worten sah sie die Einleitung zu dem von ihr erwarteten Geständnis. „Ich bin nicht der, für den Sie mich halten“, fuhr er fort und senkte den Kopf. „Ich bin nicht der Franzose Deforges, ich bin Dubrowskij.“ Marja Kirilowna schrie auf. „Fürchten Sie sich nicht, um Gottes willen, Sie dürfen meinen Namen nicht fürchten. Ja, ich bin jener Unglückliche, dem Ihr Vater das letzte Stück Brot genommen hat, den er aus dem Vaterhaus vertrieb und als Räuber auf die Landstraße schickte. Doch Sie brauchen keine Angst zu haben – weder um sich noch um ihn. Alles ist zu Ende. Ich habe ihm vergeben. Hören Sie, Sie haben ihn gerettet. Meine erste Bluttat sollte ihm gelten. Ich schlich in der Nähe seines Hauses umher, bestimmte, wo das Feuer angelegt werden sollte, auf welche Weise man in das Schlafzimmer gelangen, wie man ihm alle Fluchtwege abschneiden konnte – in dieser Minute gingen Sie an mir vorüber gleich einer himmlischen Erscheinung, und mein Herz wurde ruhig. Ich 229
begriff, daß das Haus, in dem Sie wohnen, heilig ist, daß kein einziges Ihnen blutsverwandtes Wesen von meinem Fluch getroffen werden kann. Ich verzichtete auf die Rache wie auf etwas Wahnsinniges. Tagelang wanderte ich in der Nähe der Gärten von Pokrowskoje umher in der Hoffnung, Ihr weißes Kleid von ferne zu sehen. Während Ihrer unvorsichtigen Spaziergänge folgte ich Ihnen von Busch zu Busch, glücklich bei dem Gedanken, daß ich Sie bewache, daß es dort, wo ich heimlich gegenwärtig bin, für Sie keine Gefahr gibt. Schließlich bot sich eine Gelegenheit. Ich kam in Ihr Haus. Diese drei Wochen waren für mich Tage des Glücks. Die Erinnerung an sie wird die Freude meines traurigen Lebens sein … Heute erhielt ich eine Nachricht, wonach es mir unmöglich ist, länger hierzubleiben. Ich trenne mich von Ihnen heute … sofort … Doch zuvor mußte ich Ihnen eröffnen, wer ich bin, damit Sie mich nicht verdammen und mich nicht verachten. Denken Sie manchmal an Dubrowskij. Sie sollen wissen, daß er für etwas anderes geboren war, daß seine Seele Sie zu lieben verstand, daß niemals …“ Hier ertönte ein leiser Pfiff, und Dubrowskij verstummte. Er ergriff ihre Hand und drückte sie an seine glühenden Lippen. Der Pfiff wiederholte sich. „Verzeihen Sie“, sagte Dubrowskij, „ich werde gerufen, eine Minute des Zögerns kann mir zum Verhängnis werden.“ Er ging fort, Marja Kirilowna stand unbeweglich da, Dubrowskij kam zurück und nahm von neuem ihre Hand. „Wenn Ihnen irgendwann einmal“, sagte er mit zärtlicher und ergreifender Stimme, „wenn Ihnen irgendwann einmal ein Unglück widerfährt und Sie von niemandem Hilfe oder Schutz erwarten können, versprechen Sie mir, sich dann an mich zu wenden, alles von mir zu verlangen – um Ihrer Rettung willen? Versprechen Sie mir, meine Ergebenheit nicht von sich zu weisen?“ Marja Kirilowna weinte schweigend. Der Pfiff ertönte zum drittenmal. „Sie richten mich zugrunde!“ rief Dubrowskij. „Ich verlasse Sie nicht eher, bis Sie mir eine Antwort geben, versprechen Sie es oder nicht?“ 230
„Ich verspreche es“, flüsterte die arme Schöne. Durch die Zusammenkunft mit Dubrowskij erregt, kehrte Marja Kirilowna aus dem Garten zurück. Ihr schien, daß die Leute alle umherliefen, daß das ganze Haus in Bewegung sei – auf dem Hof war viel Volk, an der Freitreppe stand eine Troika, von ferne hörte sie die Stimme Kirila Petrowitschs, und sie beeilte sich, in ihre Zimmer zu gelangen, da sie befürchtete, ihre Abwesenheit könnte bemerkt worden sein. Im Salon kam ihr Kirila Petrowitsch entgegen, die Gäste umringten den Kreispolizeichef, unseren Bekannten, und überschütteten ihn mit Fragen. Der Kreispolizeichef im Reisekleid, von Kopf bis Fuß bewaffnet, antwortete ihnen mit geheimnisvoller und geschäftiger Miene. „Wo bist du gewesen, Mascha?“ fragte Kirila Petrowitsch. „Hast du nicht Monsieur Deforges getroffen?“ Mascha konnte nur mit Mühe die Frage verneinen. „Stell dir vor“, fuhr Kirila Petrowitsch fort, „der Kreispolizeichef ist gekommen, um ihn festzunehmen, und versichert mir, daß es Dubrowskij selbst ist.“ „Alle Merkmale, Euer Exzellenz“, sagte der Kreispolizeichef ehrerbietig. „Ach, Bruder“, unterbrach ihn Kirila Petrowitsch, „geh mir mit deinen Merkmalen zum Teufel. Ich rücke dir meinen Franzosen nicht eher raus, bis ich selbst die Sache untersucht habe. Wie kann man ohne weiteres Anton Pafnutitsch glauben, einem Feigling und Lügner; er hat geträumt, daß der Hauslehrer ihn bestehlen wollte. Weshalb hat er mir am selben Morgen kein Wort davon gesagt?“ „Der Franzose hat ihn eingeschüchtert, Euer Exzellenz“, antwortete der Kreispolizeichef, „und hat ihn schwören lassen, zu schweigen …“ „Schwindel“, entschied Kirila Petrowitsch, „gleich werde ich alles aufdecken. – Wo ist der Hauslehrer?“ fragte er den hereintretenden Diener. „Er ist nirgends zu finden, Herr“, antwortete der Diener. „So sucht ihn“, schrie Trojekurow, der zu zweifeln begann. 231
„Zeig mir deine vielgerühmten Kennzeichen“, sagte er zu dem Kreispolizeichef, der ihm auch sofort das Papier gab. „Hm, hm, dreiundzwanzig Jahre … Das stimmt, aber das beweist noch gar nichts. Was ist mit dem Hauslehrer?“ „Er ist nicht zu finden, Herr“, lautete wieder die Antwort. Kirila Petrowitsch begann unruhig zu werden, Marja Kirilowna war mehr tot als lebendig. „Du bist blaß, Mascha“, bemerkte der Vater zu ihr gewandt, „man hat dich erschreckt.“ „Nein, Papa“, antwortete Mascha, „ich habe Kopfschmerzen.“ „Geh in dein Zimmer, Mascha, und beunruhige dich nicht“ Mascha küßte ihm die Hand und ging so schnell wie möglich in ihr Zimmer, dort warf sie sich aufs Bett und brach in ein hysterisches Weinen aus. Die Dienerinnen kamen herbeigelaufen, entkleideten sie, und es gelang ihnen, sie unter vieler Mühe mit kaltem Wasser und allen möglichen Riechtropfen zu beruhigen, dann legten sie sie ins Bett, und sie verfiel in einen tiefen Schlaf. Den Franzosen hatte man unterdessen nicht gefunden. Kirila Petrowitsch ging im Salon auf und ab und pfiff drohend „Laut erschalle Siegesdonner“. Die Gäste flüsterten untereinander, der Kreispolizeichef schien der Dümmere gewesen zu sein, den Franzosen fand man nicht. Wahrscheinlich war es ihm gelungen, sich rechtzeitig zu verbergen, weil man ihn gewarnt hatte. Doch wie und durch wen das geschah – das blieb ein Geheimnis. Es schlug elf, und niemand dachte an Schlaf. Schließlich sagte Kirila Petrowitsch ärgerlich zum Kreispolizeichef: „Also was ist? Du willst doch nicht etwa bis zum Morgengrauen hierbleiben, mein Haus ist keine Schenke, mit deiner Geschicklichkeit, Bruder, wirst du Dubrowskij niemals fangen, wenn das wirklich Dubrowskij ist. Mach dich auf den Heimweg, und sei in Zukunft flinker. Und auch für euch ist’s Zeit, sich nach Hause zu begeben“, fuhr er, an die Gäste gewandt, fort. „Laßt anspannen, ich will schlafen.“ So ungnädig verabschiedete Trojekurow seine Gäste! 232
Dreizehntes Kapitel Einige Zeit verging, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre. Doch zu Beginn des folgenden Sommers gab es viele Veränderungen im Familienleben Kirila Petrowitschs. Ungefähr dreißig Werst von ihm entfernt befand sich das reiche Gut des Fürsten Werejskij. Der Fürst hatte lange Zeit in fremden Ländern zugebracht, seinen Besitz verwaltete ein verabschiedeter Major, und zwischen Pokrowskoje und Arbatowo gab es keinerlei Beziehungen. Doch Ende Mai kehrte der Fürst aus dem Ausland zurück und kam in sein Dorf, das er sein Lebtag noch nicht gesehen hatte. An Zerstreuungen gewöhnt, konnte er die Einsamkeit nicht ertragen und begab sich bereits am dritten Tag nach seiner Ankunft zum Mittagessen zu Trojekurow, den er noch von früher her kannte. Der Fürst war ungefähr fünfzig Jahre alt, wirkte aber viel älter. Ausschweifungen aller Art hatten seine Gesundheit untergraben und ihm ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Trotzdem war sein Äußeres angenehm und bemerkenswert, und die Gewohnheit, immer in Gesellschaft zu sein, verlieh ihm eine gewisse Liebenswürdigkeit, vor allem im Umgang mit Frauen. Er bedurfte fortwährend der Zerstreuung und langweilte sich ununterbrochen. Kirila Petrowitsch war mit seinem Besuch außerordentlich zufrieden und faßte dies als Zeichen der Hochachtung eines Menschen auf, der die Welt kannte; seiner Gewohnheit nach zeigte er dem Gast alle seine Einrichtungen und führte ihn auch in den Hundezwinger. Doch der Fürst kam in der Hundeatmosphäre beinah um und beeilte sich, hinauszugelangen, wobei er sich die Nase mit einem parfümierten Taschentuch zuhielt. Der alte Garten mit seinen beschnittenen Linden, dem viereckigen Teich und den geraden Alleen gefiel ihm nicht; er liebte die englischen Gärten und die sogenannte Natur, doch lobte er alles und schien begeistert; ein Diener kam und meldete, daß das Essen aufgetragen sei. Sie gingen zu Tisch. Der Fürst, den der Spaziergang ermüdet hatte, hinkte ein wenig und bereute schon seinen Besuch. 233
Doch im Salon begrüßte sie Marja Kirilowna, und der alte Schürzenjäger war von ihrer Schönheit tief beeindruckt. Trojekurow ließ den Gast neben ihr Platz nehmen. Der Fürst fühlte sich durch ihre Anwesenheit wie neu belebt, er war fröhlich, und es gelang ihm einige Male, durch seine interessanten Erzählungen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Nach dem Mittagessen schlug Kirila Petrowitsch einen Ritt vor, doch der Fürst entschuldigte sich, wies auf seine Samtstiefel hin und scherzte über sein Podagra; er zog eine Spazierfahrt im Kremser vor, um sich nicht von seiner lieblichen Nachbarin trennen zu müssen. Der Kremser wurde angespannt. Die beiden Alten und unsere Schöne setzten sich hinein und fuhren los. Die Unterhaltung kam kein einziges Mal ins Stocken. Marja Kirilowna hörte mit Vergnügen den schmeichelhaften und lustigen Bemerkungen des Weltmannes zu, als sich Werejskij plötzlich an Kirila Petrowitsch wandte und ihn fragte, was dieses abgebrannte Gebäude dort bedeute und ob es ihm gehöre … Kirila Petrowitsch runzelte die Brauen; die Erinnerungen, die der abgebrannte Gutshof hervorrief, waren ihm unangenehm. Er antwortete, daß dies jetzt sein Land sei und daß es früher Dubrowskij gehört habe. „Dubrowskij“, wiederholte Werejskij, „wie, diesem berühmten Räuber?“ „Seinem Vater“, antwortete Trojekurow, „aber auch der Vater war ein ganz schöner Räuber.“ „Wo ist denn unser Rinaldo geblieben? Lebt er, ist er gefangen?“ „Er lebt und ist in Freiheit, und solange bei uns die Kreispolizeichefs mit den Dieben unter einer Decke stecken, wird er auch nicht gefangen werden; übrigens, Fürst, Dubrowskij ist doch bei dir in Arbatowo gewesen?“ „Ja, voriges Jahr hat er, glaube ich, irgend etwas niedergebrannt oder ausgeraubt … Nicht wahr, Marja Kirilowna, es wäre doch interessant, die nähere Bekanntschaft dieses romantischen Helden zu machen?“ „Was heißt interessant!“ sagte Trojekurow. „Sie ist mit ihm bekannt: Er hat ihr ganze drei Wochen lang Musikunterricht erteilt, Gott sei Dank hat er nichts für seine Stunden genommen.“ 234
– Und Kirila Petrowitsch begann die Geschichte von seinem französischen Hauslehrer zu erzählen. Marja Kirilowna saß wie auf Nadeln, Werejskij hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, fand all das sehr sonderbar und wechselte das Gesprächsthema. Von der Spazierfahrt zurückgekommen, befahl er seinem Kutscher anzuspannen und fuhr, trotz der dringenden Bitten Kirila Petrowitschs, doch zur Nacht zu bleiben, sofort nach dem Tee davon. Aber zuvor hatte er Kirila Petrowitsch gebeten, ihn zusammen mit Marja Kirilowna zu besuchen, und der stolze Trojekurow versprach es, da er die Fürstenwürde, die zwei Ordenssterne und die dreitausend Seelen des Erbgutes berücksichtigte und den Fürsten Werejskij in gewissem Grade für ebenbürtig hielt. Zwei Tage nach diesem Besuch machte sich Kirila Petrowitsch mit seiner Tochter auf den Weg zu dem Fürsten Werejskij. Als er sich Arbatowo näherte, konnte er die Augen nicht von den sauberen und fröhlichen Bauernhütten und dem in der Art der englischen Schlösser erbauten steinernen Herrenhaus wenden. Vor dem Haus breitete sich eine dichte grüne Wiese aus, auf der Schweizer Kühe, mit ihren Glöckchen läutend, weideten. Ein ausgedehnter Park umgab das Haus von allen Seiten. Der Hausherr begrüßte seine Gäste auf der Freitreppe und bot der jungen Schönen den Arm. Sie traten in einen prächtigen Saal, in dem der Tisch für drei Personen gedeckt war. Der Fürst führte seine Gäste an das Fenster, und ihnen bot sich eine reizvolle Aussicht. Unter den Fenstern floß die Wolga dahin, auf ihr schwammen Lastkähne mit geblähten Segeln, und Fischerboote, die so ausdrucksvoll Seelenverkäufer genannt werden, huschten vorüber. Hinter dem Fluß zogen sich Hügel und Felder hin, einige Dörfer belebten die Landschaft. Dann betrachteten sie die Gemäldesammlung, die der Fürst in fremden Ländern gekauft hatte. Der Fürst erklärte Marja Kirilowna den Inhalt der einzelnen Bilder, erzählte die Lebensgeschichte der Maler, wies auf die Vorzüge und Mängel hin. Er sprach über die Bilder nicht in der konventionellen Sprache des pedantischen Kenners, sondern mit Gefühl und Phantasie. Marja Kirilowna hörte ihm mit Vergnügen zu. Dann ging man zu Tisch. Trojekurow ließ den Weinen seines Amphi235
tryons und der Kunst des Kochs volle Gerechtigkeit widerfahren, und Marja Kirilowna verspürte nicht die geringste Verlegenheit oder Gezwungenheit in der Unterhaltung mit einem Menschen, den sie erst zum zweitenmal in ihrem Leben sah. Nach dem Mittagessen schlug der Hausherr seinen Gästen vor, in den Park zu gehen. Sie tranken Kaffee in einer Laube am Ufer eines breiten Sees, der mit Inseln besät war. Plötzlich ertönte Blasmusik, und ein sechsrudriges Boot legte unmittelbar an der Laube an. Sie fuhren auf dem See in der Nähe der Inseln umher, besuchten einige von ihnen, auf der einen fanden sie eine Marmorstatue, auf der anderen eine einsame Höhle, auf der dritten ein Denkmal mit geheimnisvoller Inschrift, die MarjaKirilownas weibliche Neugier erregte, welche allerdings von den höflichen Andeutungen des Fürsten nicht ganz befriedigt wurde; die Zeit verfloß unbemerkt, es begann zu dämmern. Unter dem Vorwand der Kühle und des Taus beeilte sich der Fürst heimzukehren; dort erwartete sie schon der Samowar. Der Fürst bat Marja Kirilowna, im Hause eines alten Junggesellen die Rolle der Hausfrau zu übernehmen. Sie goß den Tee ein und hörte dabei den unerschöpflichen Erzählungen des liebenswürdigen Schwätzers zu; plötzlich ertönte ein Schuß, und eine Rakete erleuchtete den Himmel. Der Fürst reichte Marja Kirilowna den Schal und rief sie und Trojekurow auf den Balkon. Vor dem Hause flammten in der Dunkelheit verschiedenfarbige Lichter auf, schossen durcheinander, erhoben sich in der Form von Ähren, Palmen und Fontänen, gingen als Sternenregen hernieder, verloschen und erglühten von neuem. Marja Kirilowna freute sich wie ein Kind. Fürst Werejskij war über ihre Begeisterung entzückt, und Trojekurow war außerordentlich zufrieden mit ihm, da er tous les frais des Fürsten für ein Zeichen der Achtung und des Wunsches, ihm zu gefallen, hielt. Das Abendbrot stand in nichts dem Mittagessen nach. Die Gäste begaben sich in die Zimmer, die für sie bereitgehalten worden waren, und am Morgen des nächsten Tages trennten sie sich von dem liebenswürdigen Hausherrn, wobei sie sich gegenseitig das Versprechen gaben, sich bald wiederzusehen. 236
Vierzehntes Kapitel Marja Kirilowna saß in ihrem Zimmer am offenen Fenster vor dem Stickrahmen. Sie verwechselte nicht die Seide wie die Geliebte Konrads, die in ihrer verliebten Zerstreutheit die Rose mit grüner Seide ausstickte. Ihre Nadel folgte auf dem Kanevas dem Muster der Vorlage ohne jeden Fehler, ihre Gedanken waren jedoch nicht bei der Arbeit, sie waren in der Ferne. Plötzlich streckte sich leise eine Hand zum Fenster herein, jemand legte einen Brief auf den Stickrahmen und verschwand, ehe Marja Kirilowna zu sich gekommen war. In diesem Moment trat ein Diener herein und rief sie zu Kirila Petrowitsch. Zitternd versteckte sie den Brief unter ihrem Halstuch und eilte ins Kabinett zu ihrem Vater. Kirila Petrowitsch war nicht allein. Fürst Werejskij saß bei ihm. Beim Erscheinen Marja Kirilownas erhob sich der Fürst und verbeugte sich schweigend mit einer für ihn ungewöhnlichen Verlegenheit. „Komm her, Mascha“, sagte Kirila Petrowitsch, „ich habe eine Neuigkeit, die dich, hoffe ich, freuen wird. Hier ist ein Bräutigam für dich, der Fürst hält um dich an.“ Mascha erstarrte, eine tödliche Blässe überzog ihr Gesicht. Sie schwieg. Der Fürst trat an sie heran, ergriff ihre Hand und fragte mit gerührter Miene, ob sie einverstanden sei, sein Glück zu begründen. Mascha schwieg. „Sie ist einverstanden, natürlich ist sie einverstanden“, sagte Kirila Petrowitsch, „doch du weißt ja, Fürst: einem Mädchen fällt es schwer, dieses Wort auszusprechen. Nun, Kinder, küßt euch und werdet glücklich.“ Mascha stand unbeweglich da, der alte Fürst küßte ihr die Hand, plötzlich liefen Tränen über ihr blasses Gesicht. Der Fürst runzelte leicht die Brauen. „Geh, geh, geh“, sagte Kirila Petrowitsch, „trockne deine Tränen und komme fröhlich wieder. Sie weinen immer bei der Verlobung“, fuhr er, zu Werejskij gewandt, fort. „Das ist bei ihnen 237
schon so üblich … Jetzt wollen wir über das Geschäft sprechen, Fürst, das heißt über die Mitgift.“ Marja Kirilowna machte von der Erlaubnis, sich zu entfernen, nur allzugern Gebrauch. Sie lief in ihr Zimmer, schloß sich ein und ließ ihren Tränen freien Lauf, denn sie sah sich schon als Frau des alten Fürsten; er erschien ihr plötzlich abstoßend und hassenswert … die Ehe mit ihm schreckte sie wie ein Schafott, wie das Grab … „Nein, nein“, wiederholte sie in ihrer Verzweiflung, „lieber sterben, lieber ins Kloster gehen, lieber Dubrowskij heiraten.“ Hier erinnerte sie sich an den Brief und machte sich begierig daran, ihn zu lesen, denn sie fühlte, daß er von ihm stammen müsse. Er war tatsächlich von ihm geschrieben und enthielt nur die folgenden Worte: „Um zehn Uhr abends, an der vorigen Stelle.“ Fünfzehntes Kapitel Der Mond leuchtete, die Julinacht war still, manchmal erhob sich ein gelinder Wind, und ein leichtes Rauschen durchlief den Garten. Wie ein leichter Schatten näherte sich die junge Schöne dem Ort der Zusammenkunft. Noch war niemand zu sehen, doch plötzlich trat Dubrowskij hinter der Laube hervor. „Ich weiß alles“, sagte er mit leiser und trauriger Stimme. „Erinnern Sie sich Ihres Versprechens?“ „Sie bieten mir Ihren Schutz an“, antwortete Mascha, „doch seien Sie mir nicht böse, das flößt mir Schrecken ein. Auf welche Weise wollen Sie mir helfen?“ „Ich könnte Sie von dem verhaßten Menschen befreien.“ „Um Gottes willen, rühren Sie ihn nicht an, wagen Sie es nicht, ihn anzurühren, wenn Sie mich lieben – ich will nicht schuld haben an etwas Entsetzlichem …“ „Ich werde ihn nicht anrühren, Ihr Wille ist mir heilig. Ihnen verdankt er sein Leben. Niemals wird ein Frevel in Ihrem Namen begangen werden. Sie müssen auch bei meinen Verbrechen 238
rein bleiben. Doch wie soll ich Sie vor Ihrem grausamen Vater retten?“ „Es gibt noch eine Hoffnung. Ich glaube, daß ihn meine Tränen und meine Verzweiflung rühren werden. Er ist eigenwillig, doch er liebt mich so sehr.“ „Hoffen Sie nicht umsonst, in Ihren Tränen wird er nur die gewöhnliche Furchtsamkeit und den Widerwillen sehen, der allen Mädchen eigen ist, die nicht aus Leidenschaft, sondern aus kluger Berechnung heiraten; was geschieht, wenn er sich in den Kopf setzt, Sie entgegen Ihrem Willen glücklich zu machen, wenn man Sie mit Gewalt trauen läßt, um Ihr Schicksal für immer in die Hände eines alten Mannes zu legen …“ „Dann, dann ist nichts zu machen, kommen Sie und holen Sie mich – ich werde Ihre Frau werden.“ Dubrowskij erbebte, sein blasses Gesicht überzog eine tiefe Röte und wurde im gleichen Augenblick bleicher als zuvor. Lange schwieg er mit gesenktem Kopf. „Nehmen Sie alle Kraft, die sich in Ihrer Seele verbirgt, zusammen, flehen Sie den Vater an, werfen Sie sich ihm zu Füßen, malen Sie ihm den ganzen Schrecken Ihrer Zukunft aus, Ihre Jugend, die neben einem schwächlichen und lasterhaften Greis dahinwelken wird, entschließen Sie sich zu der grausamen Erklärung, sagen Sie ihm, daß Sie, wenn er unerbittlich bleibt, einen … einen entsetzlichen Schutz finden werden … sagen Sie, daß Reichtum Sie auch nicht für eine Minute glücklich macht, Luxus tröstet nur die Armen und auch nur für einen Augenblick, weil sie ihn nicht gewohnt sind; lassen Sie nicht von ihm ab, erschrecken Sie weder vor seinem Zorn noch vor seinen Drohungen, solange noch ein Funken Hoffnung vorhanden ist, um Himmels willen, lassen Sie nicht ab von ihm. Wenn es dennoch kein anderes Mittel gibt …“ Hier bedeckte Dubrowskij sein Gesicht mit den Händen, der Atem schien ihm auszugehen – Mascha weinte … „Mein armes, armes Los“, sagte er und seufzte bitter. „Für Sie gäbe ich mein Leben hin, Sie von fern zu sehen, Ihre Hand zu berühren war mir höchste Wonne. Und wenn sich mir die Möglichkeit bietet, Sie an mein entflammtes Herz zu drücken und zu 239
sagen: ‚Engel, stirb mit mir!‘, so muß ich Armer mich vor dieser Seligkeit hüten, muß sie mit aller Kraft von mir weisen … Ich wage es nicht, zu Ihren Füßen zu fallen und dem Himmel für den nicht zu fassenden, unverdienten Lohn zu danken. Oh, wie müßte ich jenen Mann hassen, doch ich fühle, in meinem Herzen ist jetzt kein Raum für Haß.“ Er umarmte sanft ihren schlanken Leib und zog sie sanft an sein Herz. Zutraulich legte sie ihren Kopf auf die Schulter des jungen Räubers. Beide schwiegen. Die Zeit verflog. „Es ist soweit“, sagte schließlich Mascha. Dubrowskij erwachte wie aus tiefem Schlaf. Er nahm ihre Hand und steckte ihr einen Ring an den Finger. „Wenn Sie zu meiner Hilfe Zuflucht nehmen wollen“, sagte er, „dann bringen Sie den Ring hierher, legen Sie ihn in diese hohle Eiche, und ich werde wissen, was ich zu tun habe.“ Dubrowskij küßte ihr die Hand und verschwand zwischen den Bäumen. Sechzehntes Kapitel Die Brautwerbung des Fürsten Werejskij war für die Nachbarschaft schon kein Geheimnis mehr. Kirila Petrowitsch nahm Glückwünsche entgegen, und die Hochzeit wurde vorbereitet. Mascha verschob die entscheidende Erklärung von einem Tag auf den anderen. Währenddessen war ihr Verhältnis zu dem greisen Freier kühl und gezwungen. Den Fürsten Werejskij beunruhigte das nicht. Er bemühte sich nicht um ihre Liebe, ihm genügte ihr stummes Einverständnis. Doch die Zeit verging. Zu guter Letzt entschloß sich Mascha zu handeln und schrieb an den Fürsten Werejskij einen Brief; sie bemühte sich, in seinem Herzen das Gefühl der Großmut zu erwecken, gestand ihm offen, daß sie ihm gegenüber nicht die geringste Zuneigung empfinde, flehte ihn an, auf ihre Hand zu verzichten und sie vor der väterlichen Gewalt zu schützen. Sie überreichte den Brief unbemerkt dem Fürsten, dieser las ihn für sich durch und war nicht im mindesten von der Aufrichtigkeit seiner 240
Braut gerührt. Im Gegenteil, er erkannte die Notwendigkeit, die Hochzeit zu beschleunigen und erachtete es deshalb für nötig, den Brief seinem zukünftigen Schwiegervater zu zeigen. Kirila Petrowitsch geriet in Wut; mit Mühe konnte der Fürst ihn überreden, sich Mascha gegenüber nicht einmal anmerken zu lassen, daß er von ihrem Brief wußte. Kirila Petrowitsch war einverstanden, ihr davon nichts zu sagen, doch er war entschlossen, keine Zeit zu verlieren, und legte die Hochzeit für den nächsten Tag fest. Der Fürst hielt dies für außerordentlich weise, ging zu seiner Braut und sagte ihr, daß ihn der Brief sehr traurig gestimmt habe, doch hoffe er, im Laufe der Zeit ihre Zuneigung zu gewinnen, und der Gedanke, sie zu verlieren, sei für ihn unerträglich, und er habe nicht die Kraft, seinem eigenen Todesurteil zuzustimmen. Damit küßte er ihr ehrerbietig die Hand und fuhr davon, ohne ihr ein Wort von dem Entschluß Kirila Petrowitschs zu verraten. Doch kaum war er aus dem Hof gefahren, als ihr Vater eintrat und ihr ohne Umschweife befahl, sich für den morgigen Tag bereit zu halten. Marja Kirilowna, durch die Erklärung des Fürsten Werejskij bereits erregt, brach in Tränen aus und warf sich dem Vater zu Füßen. „Papa“, schrie sie mit kläglicher Stimme, „richten Sie mich nicht zugrunde, ich liebe den Fürsten nicht, ich will nicht seine Frau werden …“ „Was soll das heißen“, sagte Kirila Petrowitsch drohend. „Die ganze Zeit hast du geschwiegen und warst einverstanden, und jetzt, wo alles schon beschlossen ist, wirst du plötzlich launisch und willst nichts wahrhaben. Sei gefälligst vernünftig; auf diese Weise ist bei mir nichts zu holen.“ „Richten Sie mich nicht zugrunde“, wiederholte die arme Mascha. „Warum jagen Sie mich von sich fort und verheiraten mich an einen Menschen, den ich nicht liebe? Sind Sie etwa meiner überdrüssig? Ich will bei Ihnen bleiben wie bisher. Papa, Sie werden traurig sein ohne mich und noch viel trauriger, wenn Sie daran denken, daß ich unglücklich bin, Papa, zwingen Sie mich nicht, ich will nicht heiraten …“ 241
Kirila Petrowitsch war gerührt, doch er verbarg seine Verlegenheit, stieß sie von sich und sagte rauh: „Das ist alles Unsinn, hörst du. Ich weiß besser als du, was du zu deinem Glück brauchst. Deine Tränen helfen dir nicht, übermorgen wird deine Hochzeit sein.“ „Übermorgen“, schrie Mascha, „mein Gott! Nein, nein, das ist unmöglich, das kann nicht sein. Papa, hören Sie, wenn Sie beschlossen haben, mich zugrunde zu richten, dann werde ich einen Beschützer finden, an den Sie nicht einmal denken, und Sie werden voller Entsetzen sehen, wohin Sie mich gebracht haben.“ „Was? Was?“ sagte Trojekurow. „Drohen! Mir drohen, unverschämtes Mädchen! Du weißt nicht, was ich mit dir machen werde, du kannst es dir nicht einmal vorstellen. Du wagst es, mich mit einem Beschützer zu schrecken. Wir wollen sehen, wer dieser Beschützer ist.“ „Wladimir Dubrowskij“, sagte Mascha in ihrer Verzweiflung. Kirila Petrowitsch dachte, daß sie den Verstand verloren habe, und sah sie erstaunt an. „Schön“, sagte er, als er eine Weile nachgedacht hatte, „warte auf welchen Befreier du willst, aber vorläufig bleibst du in diesem Zimmer, du wirst es bis zur Hochzeit nicht verlassen.“ Mit diesen Worten ging Kirila Petrowitsch hinaus und schloß hinter sich die Tür ab. Lange weinte das arme Mädchen bei dem Gedanken an all das, was sie erwartete, doch die stürmische Auseinandersetzung hatte ihr die Seele erleichtert, und sie konnte ruhiger über ihr Los und über das, was sie tun mußte, nachdenken. Das Wichtigste war für sie, der verhaßten Ehe zu entgehen; das Los der Gattin eines Räubers schien ihr wie ein Paradies im Vergleich mit dem Schicksal, das man ihr zugedacht hatte. Sie schaute auf den Ring, den ihr Dubrowskij zurückgelassen hatte. Sie wünschte heiß, sich mit ihm unter vier Augen zu treffen, um sich mit ihm noch einmal vor der entscheidenden Stunde gründlich zu beraten. Eine Ahnung sagte ihr, daß sie Dubrowskij abends im Garten in der 242
Nähe der Laube finden werde; sie beschloß, dorthin zu gehen, sobald es dunkelte, und ihn dort zu erwarten. Es dunkelte. Mascha machte sich fertig, doch die Tür war verschlossen. Das Stubenmädchen antwortete ihr hinter der Tür, daß Kirila Petrowitsch befohlen habe, sie nicht hinauszulassen. Sie befand sich unter Arrest. Zutiefst beleidigt setzte sie sich an das Fenster, saß dort, ohne sich auszukleiden, bis in die tiefe Nacht, und sah unbeweglich in den dunklen Himmel. Kurz vor Sonnenaufgang schlummerte sie ein, doch ihr leichter Schlaf wurde durch schwere Traumbilder beunruhigt, und die Strahlen der auf gehenden Sonne weckten sie schon wieder. Siebzehntes Kapitel Sie erwachte, und beim ersten Gedanken wurde ihr das Entsetzliche ihrer Lage klar. Sie klingelte, das Mädchen trat ein und antwortete auf ihre Fragen, daß Kirila Petrowitsch abends nach Arbatowo gefahren und erst spät zurückgekommen sei, daß er strengen Befehl gegeben habe, sie nicht aus dem Zimmer hinauszulassen und aufzupassen, daß niemand mit ihr spräche, daß übrigens keinerlei besondere Vorbereitungen für eine Hochzeit zu bemerken seien außer der einen, daß dem Popen befohlen worden wäre, sich auf keinen Fall aus dem Dorf zu entfernen. Nach dieser Mitteilung verließ das Mädchen Marja Kirilowna und schloß die Tür wieder zu. Diese Worte erbitterten die junge Gefangene, ihr Kopf glühte, und ihr Blut kochte, sie beschloß, Dubrowskij alles wissen zu lassen und sah sich nach einer Möglichkeit um, den Ring in die Höhlung der geheimen Eiche zu schaffen; in diesem Augenblick schlug ein Steinchen an das Fenster, das Glas klirrte – Marja Kirilowna sah in den Hof und erblickte den kleinen Sascha, der ihr geheimnisvolle Zeichen machte. Sie kannte seine Anhänglichkeit und freute sich über ihn. Sie öffnete das Fenster. „Guten Tag, Sascha“, sagte sie, „warum rufst du mich?“ „Ich bin gekommen, liebe Schwester, um zu sehen, ob Sie nicht etwas brauchen. Der Papa ist wütend und hat dem ganzen Haus 243
verboten, Ihnen zu gehorchen, doch befehlen Sie mir, was Sie wollen, ich werde für Sie alles tun.“ „Danke schön, mein lieber kleiner Sascha, hör zu: Kennst du die alte hohle Eiche, die bei der Laube steht?“ „Ja, liebe Schwester.“ „Also wenn du mich wirklich liebhast, dann lauf, so schnell du kannst, dorthin und leg diesen Ring hier in die Höhlung, aber paß auf, daß dich niemand sieht.“ Mit diesen Worten warf sie ihm den Ring zu und schloß das Fenster. Der Junge hob den Ring auf, rannte, so schnell er nur konnte, los und war nach drei Minuten an dem besagten Baum. Dort blieb er keuchend stehen, sah sich nach allen Seiten um und legte den Ring in die Höhlung. Da er den Auftrag glücklich erledigt hatte, wollte er Marja Kirilowna davon unterrichten, als plötzlich ein rothaariger, schielender und zerlumpter Junge hinter der Laube auftauchte, zur Eiche stürzte und die Hand in die Höhlung steckte. Sascha warf sich schneller als ein Eichhörnchen auf ihn und umklammerte ihn mit beiden Armen. „Was suchst du hier?“ fragte er drohend. „Was geht’s dich an“, antwortete der Junge und versuchte, sich von ihm zu befreien. „Laß den Ring liegen, du rotes Karnickel“, schrie Sascha, „sonst werde ich dir’s zeigen!“ Statt einer Antwort schlug ihn jener mit der Faust ins Gesicht, doch Sascha ließ ihn nicht fahren und schrie aus vollem Halse: „Diebe, Diebe – hierher, hierher …“ Der Junge bemühte sich nach Kräften, von ihm loszukommen. Allem Anschein nach war er zwei Jahre älter als Sascha und sehr viel stärker als er, doch Sascha war wendiger. Sie rangen einige Minuten miteinander, schließlich überwältigte der rothaarige Junge ihn. Er warf Sascha auf den Boden und packte ihn am Hals. Doch in diesem Augenblick fuhr eine starke Hand in seine roten und borstigen Haare, und der Gärtner Stepan hob ihn einen halben Arschin über den Erdboden hoch … 244
„Ach, du rothaarige Bestie“, sagte der Gärtner, „wie kannst du es wagen, den kleinen Herrn zu schlagen …“ Sascha war schon aufgesprungen und wieder zu sich gekommen. „Du hast mir unter die Achseln gegriffen“, sagte er, „sonst hättest du mich niemals untergekriegt. Gib sofort den Ring her und mach, daß du fortkommst.“ „Warum nicht gar“, antwortete der Rothaarige, drehte sich plötzlich auf derselben Stelle herum und befreite seine borstige Mähne aus der Hand Stepans. Im selben Augenblick wollte er davonlaufen, doch Sascha holte ihn ein, stieß ihn in den Rücken, und der Junge stürzte zu Boden. Der Gärtner packte ihn von neuem und fesselte ihn mit dem Gürtel. „Gib den Ring her!“ schrie Sascha. „Warte, Herr“, sagte Stepan, „wir bringen ihn dem Verwalter zur Bestrafung.“ Der Gärtner führte den Gefangenen zum Herrenhof, Sascha begleitete ihn und betrachtete dabei beunruhigt seine Hosen, die zerrissen und voller Grasflecke waren. Plötzlich standen alle drei vor Kirila Petrowitsch, der gerade seinen Pferdestall besichtigen wollte. „Was soll das?“ fragte er Stepan. Stepan beschrieb in wenigen Worten, was vorgefallen war. Kirila Petrowitsch hörte ihm aufmerksam zu. „Du, Galgenstrick“, sagte er und wandte sich Sascha zu, „warum hast du dich mit ihm eingelassen?“ „Er hat den Ring aus der Höhlung gestohlen, Papa, befehlen Sie, daß er den Ring hergeben soll.“ „Was für einen Ring, aus welcher Höhlung?“ „Mir hat Marja Kirilowna … dieser Ring …“ Sascha geriet in Verlegenheit und wußte nicht, was er sagen sollte. Kirila Petrowitsch zog die Brauen zusammen und sagte, den Kopf wiegend: „In die Sache ist Marja Kirilowna verwickelt. Gestehe alles, oder ich ziehe dir mit der Rute so ein paar über, daß du deine eigenen Anverwandten nicht mehr wiedererkennst.“ 245
„Bei Gott, Papa, ich, Papa … Mir hat Marja Kirilowna nichts befohlen, Papa.“ „Stepan, geh doch mal und schneide eine schöne, frische Birkenrute ab …“ „Warten Sie, Papa, ich erzähle Ihnen alles. Ich bin heute auf dem Hof umhergelaufen, und die liebe Schwester Marja Kirilowna hat das Fenster aufgemacht, und ich bin hingelaufen, und die Schwester hat nicht mit Absicht den Ring fallen lassen, und ich habe ihn in der hohlen Eiche versteckt, und … und … dieser rothaarige Junge wollte den Ring stehlen.“ „Hat ihn nicht mit Absicht fallen lassen, und du wolltest ihn verstecken … Stepan, geh und besorge Ruten.“ „Papa, warten Sie, ich erzähle alles. Die liebe Schwester Marja Kirilowna hat mir aufgetragen, ich soll zur Eiche laufen und den Ring in die Höhlung legen, ich bin hingelaufen und habe den Ring auch hingelegt, aber dieser garstige Junge …“ Kirila Petrowitsch wandte sich an den garstigen Jungen und fragte ihn mit drohender Stimme: „Wem gehörst du?“ „Ich gehöre zum Gesinde der Herren Dubrowskij“, antwortete der rothaarige Junge. Die Miene Kirila Petrowitschs verdüsterte sich. „Du erkennst mich anscheinend nicht als Herrn an. Na schön“, antwortete er. „Und was hast du in meinem Garten gemacht?“ „Himbeeren gestohlen“, antwortete der Junge äußerst gleichgültig. „Aha, das Gesinde gerät nach dem Herrn, wie der Herr, so ’s Gescherr, seit wann wachsen denn die Himbeeren bei mir auf den Eichen?“ Der Junge antwortete nicht. „Papa, befehlen Sie ihm, den Ring abzugeben“, sagte Sascha. „Sei still, Alexander“, antwortete Kirila Petrowitsch. „Vergiß nicht, daß ich noch mit dir abrechnen werde. Geh in dein Zimmer. Und du, Schielauge, scheinst mir kein übler Bursche zu sein. Gib den Ring her und geh nach Hause.“ Der Junge öffnete seine Faust und zeigte, daß er nichts in der Hand hatte. 246
„Wenn du mir alles gestehst, dann werde ich dich nicht auspeitschen und gebe dir noch einen Fünfer für Nüsse. Sonst aber geschieht mit dir, was du dir nicht vorstellen kannst. Nun!“ Der Junge sagte kein Wort, stand mit gesenktem Kopf da und hatte das Aussehen eines völligen Dummkopfs angenommen. „Schön“, sagte Kirila Petrowitsch, „sperrt ihn irgendwo ein, und paßt auf, daß er nicht wegläuft, sonst ziehe ich allen im Haus das Fell über die Ohren.“ Stepan führte den Jungen in den Taubenschlag, sperrte ihn dort ein und stellte die alte Geflügelwärterin Agafija als Wache auf. „Jemand soll sofort in die Stadt zum Kreispolizeichef fahren“, sagte Kirila Petrowitsch und sah hinter dem Jungen her. „Und zwar so schnell wie möglich.“ Hier gibt es gar keinen Zweifel. Sie unterhält Beziehungen zu dem verfluchten Dubrowskij. Doch sollte sie ihn wirklich zu Hilfe gerufen haben? dachte Kirila Petrowitsch, ging im Zimmer auf und ab und pfiff wütend „Laut erschalle …“. Vielleicht bin ich endlich auf seine frischen Spuren gestoßen, und er wird uns nicht mehr entwischen. Wir werden diese Gelegenheit nutzen. Horch! Schellengeläut, Gott sei Dank, das ist der Kreispolizeichef. „He, bringt den Jungen her, den wir gefangen haben.“ Unterdessen war der Wagen auf den Hof gefahren, und der uns schon bekannte Kreispolizeichef trat, völlig verstaubt, in das Zimmer ein. „Eine großartige Neuigkeit“, sagte Kirila Petrowitsch zu ihm. „Ich habe Dubrowskij gefangen.“ „Gott sei’s gedankt, Euer Exzellenz“, sagte der Kreispolizeichef mit erfreutem Gesichtsausdruck. „Wo ist er denn?“ „Das heißt, nicht Dubrowskij, sondern einen aus seiner Bande. Gleich wird man ihn bringen. Er wird uns helfen, den Anführer selbst zu fangen. Da ist er schon.“ Der Kreispolizeichef, der einen schreckenerregenden Räuber erwartet hatte, war erstaunt, als er einen schwächlichen dreizehnjährigen Jungen erblickte. Voller Befremden wandte er sich an Kirila Petrowitsch und wartete auf eine Erklärung. Kirila Pe247
trowitsch begann sofort den morgendlichen Vorfall zu erzählen, ohne allerdings Marja Kirilowna zu erwähnen. Der Kreispolizeichef hörte ihm aufmerksam zu und sah dabei alle Augenblicke auf den kleinen Übeltäter, der sich dumm stellte und, wie es schien, an allem, was um ihn herum geschah, keinerlei Anteil nahm. „Gestatten Sie, Euer Exzellenz, mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen“, sagte schließlich der Kreispolizeichef. Kirila Petrowitsch führte ihn in ein anderes Zimmer und schloß hinter sich die Tür ab. Nach einer halben Stunde kamen sie wieder in den Salon, wo der Gefangene auf sein Urteil wartete. „Der Herr wollte dich in das Stadtgefängnis sperren“, sagte der Kreispolizeichef zu ihm, „dich auspeitschen lassen und dann deportieren, doch ich bin für dich eingetreten und habe für dich um Gnade gebeten. Nehmt ihm die Fesseln ab.“ Der Junge wurde losgebunden. „Bedanke dich beim Herrn“, sagte der Kreispolizeichef. Der Junge ging zu Kirila Petrowitsch und küßte ihm die Hand. „Geh nach Haus“, sagte Kirila Petrowitsch zu ihm, „und stiehl künftig keine Himbeeren mehr in hohlen Bäumen.“ Der Junge ging hinaus, sprang heiter die Freitreppe herunter und lief, ohne sich umzusehen, über die Felder nach Kistenjowka. Als er bis zum Dorf gelaufen war, machte er an der ersten halbverfallenen Hütte halt und klopfte ans Fenster. Das Fenster wurde aufgestoßen, und eine alte Frau kam darin zum Vorschein. „Großmutter, gib mir Brot“, sagte der Junge. „Ich hab seit heute morgen nichts gegessen, ich komme um vor Hunger.“ „Ach, du bist das, Mitja, wo hast du denn gesteckt, du Teufelsjunge“, antwortete die Alte. „Später erzähl ich’s dir, Großmutter, gib mir um Gottes willen Brot.“ „So komm doch in die Stube.“ „Hab keine Zeit, Großmutter, ich muß noch woandershin laufen. Brot, um Christi willen, Brot,“ 248
„So ein unruhiger Geist“, brummte die Alte. „Hier, da hast du ein Scheibchen“, und sie reichte ihm eine Scheibe Schwarzbrot aus dem Fenster. Der Junge biß gierig hinein, und kauend rannte er sofort weiter. Es begann zu dämmern. An Korndarren und Gärten vorbei lief Mitja auf den Wald von Kistenjowka zu. Als er zu den zwei Kiefern gekommen war, die wie Wachtposten vor dem Wald standen, machte er halt, sah sich nach allen Seiten um, pfiff durchdringend und kurz und begann zu lauschen. Ein leiser und lang anhaltender Pfiff antwortete ihm, jemand trat aus dem Wald und kam auf ihn zu. Achtzehntes Kapitel Kirila Petrowitsch ging im Salon auf und ab und pfiff lauter als sonst sein Lied. Das ganze Haus war in Bewegung, die Diener liefen hin und her, die Dienstmädchen waren in Eile, die Kutscher spannten im Schuppen die Kutsche an, auf dem Hof drängte sich das Volk. Im Toilettenzimmer des jungen Fräuleins schmückte eine Dame, von Dienerinnen umgeben, vor dem Spiegel die bleiche und regungslose Marja Kirilowna, ihr Kopf neigte sich müde unter der Last der Brillanten, sie zuckte leicht zusammen, wenn sie eine unvorsichtige Hand mit der Nadel stach, doch schwieg sie und starrte mit ausdruckslosem Gesicht in den Spiegel. „Dauert’s noch lang?“ ertönte die Stimme Kirila Petrowitschs von der Tür her. „Sofort“, antwortete die Dame. „Marja Kirilowna, stehen Sie auf, betrachten Sie sich, ist es gut so?“ Marja Kirilowna erhob sich und antwortete nichts darauf. Man öffnete die Tür. „Die Braut ist soweit“, sagte die Dame zu Kirila Petrowitsch. „Lassen Sie die Kutsche vorfahren.“ „Mit Gott“, sagte Kirila Petrowitsch und nahm ein Heiligenbild vom Tisch. „Komm her zu mir, Mascha“, sprach er mit gerührter Stimme, „ich segne dich …“ Das arme Mädchen fiel ihm zu Füßen und brach in Weinen aus. 249
„Papa … Papa …“, sagte sie unter Tränen, und ihr versagte die Stimme. Kirila Petrowitsch beeilte sich mit dem Segen, sie wurde aufgehoben und beinahe in die Kutsche getragen. Mit ihr stieg die Brautmutter und eine der Dienerinnen ein. Sie fuhren zur Kirche. Dort erwartete sie schon der Bräutigam. Er ging der Braut entgegen und war von ihrer Blässe und ihrem seltsamen Aussehen erstaunt. Sie gingen gemeinsam in die kalte, leere Kirche hinein; hinter ihnen schloß man die Tür ab. Der Geistliche trat aus dem Altarraum hervor und fing sofort an. Marja Kirilowna sah nichts und hörte nichts, sie dachte nur an das eine, schon seit dem Morgen wartete sie auf Dubrowskij, keine Minute verlor sie die Hoffnung, doch als der Geistliche sich an sie mit den üblichen Fragen wandte, zuckte sie zusammen und erstarrte, aber sie zögerte noch, hoffte noch. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach der Geistliche die unwiderruflichen Worte. Die Zeremonie war beendet. Sie spürte den kalten Kuß des ungeliebten Gatten, sie hörte die fröhlichen Glückwünsche der Anwesenden und konnte immer noch nicht glauben, daß sie ihr Leben lang an diesen Menschen gefesselt sein sollte, daß Dubrowskij nicht zu ihrer Befreiung herbeigeeilt war. Der Fürst wandte sich mit zärtlichen Worten an sie, sie verstand sie nicht, sie traten aus der Kirche, am Eingang drängten sich die Bauern aus Pokrowskoje. Sie streifte sie mit einem schnellen Blick und nahm dann wieder die frühere Ausdruckslosigkeit an. Die Jungvermählten nahmen beide in der Kutsche Platz und fuhren nach Arbatowo; dorthin hatte sich schon Kirila Petrowitsch begeben, um das Paar zu empfangen. Als der Fürst mit der jungen Frau allein war, störte ihn ihr kühles Gesicht nicht im mindesten. Er langweilte sie nicht mit sentimentalen Liebeserklärungen und lächerlichen Begeisterungsausbrüchen, seine Worte waren einfach und erforderten keine Antwort. So fuhren sie ungefähr zehn Werst, die Pferde liefen schnell über den holprigen Feldweg, und die Kutsche mit ihrer englischen Federung schwankte kaum. Plötzlich ertönten Schreie einer Verfolgergruppe, die Kutsche hielt an, ein Haufe Bewaffneter umringte sie, und ein Mann in Halbmaske vor den Augen öffnete den Wagenschlag auf der Seite, wo die 250
junge Fürstin saß, und sagte zu ihr: „Sie sind frei, steigen Sie aus.“ – „Was soll das heißen“, schrie der Fürst. „Wer bist du eigentlich?“ – „Das ist Dubrowskij“, sagte die Fürstin. Geistesgegenwärtig zog der Fürst eine Reisepistole aus der Seitentasche und schoß sie auf den maskierten Räuber ab. Die Fürstin schrie auf und bedeckte entsetzt ihr Gesicht mit beiden Händen. Dubrowskij war an der Schulter verwundet worden, und es zeigte sich Blut. Ohne eine Minute zu verlieren, zog der Fürst eine zweite Pistole hervor, doch er kam nicht dazu, abzudrücken, der Wagenschlag ging auf, mehrere starke Arme zogen ihn aus der Kutsche heraus und rissen ihm die Pistole aus der Hand. Messer blitzten über ihm auf. „Rührt ihn nicht an!“ schrie Dubrowskij, und seine finsteren Helfer traten zurück. „Sie sind frei“, fuhr Dubrowskij fort und wandte sich an die bleiche Fürstin. „Nein“, antwortete sie, „es ist zu spät – ich bin getraut – ich bin die Frau des Fürsten Werejskij.“ „Was sagen Sie da“, schrie Dubrowskij verzweifelt. „Nein, Sie sind nicht seine Frau, Sie wurden gezwungen, Sie konnten niemals damit einverstanden sein …“ „Ich war einverstanden, ich habe es geschworen“, entgegnete sie bestimmt. „Der Fürst ist mein Mann, befehlen Sie, daß man ihn freiläßt, und lassen Sie mich bei ihm. Ich habe Sie nicht betrogen. Ich habe bis zur letzten Minute auf Sie gewartet … Doch jetzt, sage ich Ihnen, jetzt ist es zu spät. Lassen Sie uns gehen.“ Doch Dubrowskij hörte sie schon nicht mehr, die schmerzende Wunde und die starke seelische Aufregung hatten ihn seiner Kräfte beraubt. Er fiel an einem Rad der Kutsche nieder, und die Räuber umringten ihn. Er vermochte ihnen noch einige Worte zu sagen, sie hoben ihn auf den Sattel, zwei von ihnen stützten ihn von der Seite, ein dritter nahm das Pferd am Zaum und alle ritten davon. Sie ließen die Kutsche mitten auf dem Weg stehen, die Leute waren gefesselt, die Pferde ausgespannt, doch hatten sie nichts geraubt und keinen einzigen Tropfen Blut vergossen, um ihren Anführer zu rächen. 251
Neunzehntes Kapitel Mitten im dunklen Wald erhob sich auf einer schmalen Waldwiese eine kleine Befestigung, die aus einem Erdwall und einem Graben bestand, hinter dem sich einige Laub- und Erdhütten befanden. Eine größere Anzahl von Männern, die an der unterschiedlichen Kleidung und an den Waffen, die jeder trug, sofort als Räuber zu erkennen waren, saßen ohne Mützen auf dem freien Platz um den gemeinsamen Kessel und aßen zu Mittag. Auf dem Erdwall saß der Wachtposten mit gekreuzten Beinen neben einer kleinen Kanone; er setzte einen Flicken auf einen gewissen Teil seiner Kleidung, wobei er die Nadel mit einer Kunstfertigkeit führte, die auf einen Schneider schließen ließ, und hielt alle Augenblicke Ausschau. Obwohl der Becher mehrere Male von Hand zu Hand ging, herrschte ein seltsames Schweigen in der Menge. Die Räuber beendeten ihre Mahlzeit, einer nach dem anderen stand auf und betete zu Gott, einige von ihnen gingen in die Laubhütten, andere gingen in den Wald oder legten sich nach russischer Gewohnheit ein wenig hin. Der Wachtposten war mit seiner Arbeit fertig, schüttelte seine Lumpen, betrachtete zufrieden den Flicken, steckte die Nadel in den Ärmel, setzte sich im Reitsitz auf die Kanone und stimmte aus vollem Halse das melancholische alte Lied an: Rausche nicht, Väterchen, du grüner Eichenwald, Störe mich wackern Jüngling nicht in den Gedanken mein … In diesem Augenblick ging die Tür einer Laubhütte auf, und auf der Schwelle zeigte sich eine sauber und streng gekleidete Alte in einer weißen Haube. „Sei ruhig, Stjopka“, sagte sie ärgerlich. „Der Herr schläft, und du singst aus vollem Halse, ohne dich stören zu lassen, weder Gewissen noch Mitleid habt ihr.“ – „Verzeihung, Jegorowna“, antwortete Stjopka, „gut, ich werde es nicht mehr tun, soll unser Väterchen sich ausruhen und gesund werden.“ 252
Die Alte verschwand, und Stjopka begann auf dem Erdwall auf und ab zu gehen. In der Laubhütte, aus der die Alte herausgekommen war, lag der verwundete Dubrowskij hinter einer Zwischenwand auf einem Feldbett. Vor ihm lagen auf einem Tischchen seine Pistolen, und der Säbel hing ihm zu Häupten. Die Hütte war mit wertvollen Teppichen ausgelegt und behängt, in einer Ecke befanden sich ein silberner Toilettentisch und ein Trumeau. Dubrowskij hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, doch seine Augen waren geschlossen. Und die Alte, die hinter der Zwischenwand hervorsah, wußte nicht recht, ob er eingeschlafen war oder nur nachdachte. Plötzlich zuckte Dubrowskij zusammen. Innerhalb der Befestigung wurde Alarm geschlagen, und Stjopka steckte seinen Kopf zu ihm ins Fenster hinein. „Väterchen, Wladimir Andrejewitsch“, schrie er, „die Unsrigen geben das Zeichen, wir werden gesucht.“ Dubrowskij sprang vom Bett auf, ergriff die Waffen und trat aus der Hütte. Die Räuber drängten sich lärmend auf dem freien Platz, bei seinem Erscheinen trat tiefe Stille ein. „Sind alle da?“ fragte Dubrowskij. „Alle, außer den Spähern“, wurde ihm geantwortet. „An die Plätze!“ schrie Dubrowskij. Und jeder von den Räubern nahm den für ihn bestimmten Platz ein. In diesem Augenblick kamen drei Späher zu dem Tor gelaufen, Dubrowskij ging ihnen entgegen. „Was gibt’s?“ fragte er sie, „Im Wald sind Soldaten“, antworteten sie. „Wir werden umzingelt.“ Dubrowskij befahl, das Tor zu schließen, und ging, um die kleine Kanone zu überprüfen. Im Wald ertönten Stimmen und näherten sich; die Räuber warteten schweigend. Plötzlich traten drei oder vier Soldaten aus dem Wald, wichen sofort zurück und gaben Warnschüsse ab. „Fertigmachen zum Kampf“, sagte Dubrowskij, unter den Räubern kam Bewegung auf, und wieder war alles still. Dann hörten sie den Lärm der anrückenden Abteilung, Waffen blitzten zwischen den Bäumen auf, ungefähr hundertfünfzig Soldaten strömten aus dem Wald heraus und strebten mit Geschrei auf den Erdwall zu. Dubrowskij legte die Lunte an, der Schuß saß: Einem wurde der Kopf abgerissen, 253
zwei andere wurden verwundet. Unter den Soldaten brach Verwirrung aus, doch der Offizier stürzte vor, die Soldaten folgten ihm und liefen in den Graben, die Räuber schossen mit Gewehren und Pistolen auf sie und fingen an, mit der Axt in der Hand den Erdwall zu verteidigen, gegen den die Soldaten, rasend vor Wut, anrannten, im Graben ungefähr zwanzig verwundete Kameraden zurücklassend. Es kam zum Handgemenge, die Soldaten waren schon auf dem Erdwall, die Räuber wichen allmählich zurück, doch Dubrowskij trat an den Offizier heran, setzte ihm die Pistole auf die Brust und drückte ab, der Offizier fiel hintenüber auf den Rücken, ein paar Soldaten hoben ihn auf und trugen ihn eilig in den Wald, die übrigen, ihres Befehlshabers beraubt, blieben stehen. Die ermutigten Räuber nutzten diesen Augenblick des Zögerns, trieben sie auseinander, drängten sie in den Graben ab; die Belagerer flohen, und die Räuber liefen ihnen unter Geschrei hinterher. Der Sieg war entschieden. Da Dubrowskij die völlige Niederlage des Feindes sah, hielt er die Seinigen zurück und verschanzte sich in der Festung, wobei er befahl, die Verwundeten aufzulesen und die Wachen zu verdoppeln, und anordnete, daß sich niemand zu entfernen habe. Die letzten Ereignisse lenkten die Aufmerksamkeit der Regierung ernsthaft auf die verwegenen Raubzüge Dubrowskijs. Nachrichten über seinen Aufenthalt wurden gesammelt. Eine Kompanie Soldaten wurde abkommandiert, um ihn – tot oder lebendig – zu ergreifen. Einige Männer aus seiner Bande wurden gefangen, und durch sie erfuhr man, daß Dubrowskij schon nicht mehr unter ihnen weilte. Einige Tage nach dem Kampf hatte er seine Spießgesellen versammelt und ihnen mitgeteilt, daß er vorhabe, sie für immer zu verlassen. Er riet ihnen, ihre Lebensweise zu ändern. „Ihr seid unter meiner Führung reich geworden, jeder von euch hat einen Paß, mit dem er ohne Gefahr in ein entferntes Gouvernement gehen und dort den Rest seines Lebens bei ehrlicher Arbeit und in Überfluß verbringen kann. Doch ihr seid alle Spitzbuben und wollt wahrscheinlich euer Handwerk nicht aufgeben.“ Nach dieser Rede verließ er sie und nahm nur den *** mit. Niemand wußte, wohin er sich gewandt hatte. Zu254
erst zweifelte man an der Wahrhaftigkeit dieser Angaben, denn die Treue der Räuber ihrem Anführer gegenüber war bekannt. Man nahm an, sie bemühten sich, ihn zu retten. Doch die Folgen gaben ihnen recht, die schrecklichen Raubzüge, die Brandstiftungen und Überfälle hörten auf. Die Unsicherheit auf den Reisewegen verschwand. Anderen Nachrichten zufolge war Dubrowskij ins Ausland geflüchtet.
Pique Dame
Pique Dame bedeutet heimliches Übelwollen. Neuestes Traumbuch
I Waren die Tage trüb, Nahmen sie vorlieb Mit dem Spiel; Setzten – Gott sei’s geklagt! – Immer sehr gewagt Und sehr viel; Schrieben mit Kreide hin Den Verlust und Gewinn, Ohne zu warten. So, wenn die Tage trüb, War ihnen die Arbeit lieb Mit den Karten.
Bei dem Gardekavalleristen Narumow spielte man eines Abends Karten. Die lange Winternacht war unbemerkt vorübergegangen; zum Abendessen setzte man sich gegen fünf Uhr morgens. Die Gewinner aßen mit großem Appetit; die übrigen saßen zerstreut vor ihren leeren Gedecken. Doch als der Champagner gebracht wurde, lebte die Unterhaltung auf, und alle nahmen an ihr teil. „Wie ist es dir ergangen, Surin?“ fragte der Gastgeber. „Ich habe verloren, wie gewöhnlich. Ich muß gestehen, daß ich kein Glück habe: Ich spiele Mirandole, rege mich niemals auf, nichts bringt mich aus der Fassung, und doch verliere ich immer!“ „Und du hast dich kein einziges Mal hinreißen lassen? Kein einziges Mal auf Route gesetzt? Deine Standhaftigkeit wundert mich.“ „Was sagt ihr aber erst zu Hermann?“ meinte einer der Gäste und wies auf den jungen Genieoffizier. „Noch nie hat er eine 259
Karte in die Hand genommen, noch nie ein Paroli gebogen und sitzt bis fünf Uhr mit uns zusammen und sieht dem Spiel zu!“ „Das Spiel interessiert mich sehr“, sagte Hermann, „doch ich bin nicht in der Lage, Unentbehrliches zu opfern, in der Hoffnung, Überflüssiges zu erwerben.“ „Hermann ist ein Deutscher – er ist berechnend, das ist alles!“ bemerkte Tomskij. „Aber wenn ich jemanden nicht verstehe, so ist es meine Großmutter, die Gräfin Anna Fedotowna.“ „Wie? Was?“ riefen die Gäste. „Ich kann einfach nicht begreifen“, fuhr Tomskij fort, „warum meine Großmutter nicht pointiert!“ „Was ist denn Erstaunliches daran“, sagte Narumow, „wenn eine achtzigjährige Frau nicht pointiert?“ „Ihr wißt also nichts über sie?“ „Nein! Wir wissen wirklich nichts!“ „Oh, hört also zu. Ihr müßt wissen, daß meine Großmutter vor etwa sechzig Jahren nach Paris fuhr und dort in großer Mode war. Alle liefen ihr nach, um la Vénus moscovite zu sehen; Richelieu machte ihr den Hof, und die Großmutter versichert, daß er sich wegen ihrer Unnahbarkeit beinah erschossen hätte. Damals spielten die Damen Pharao. Bei Hof verlor sie einmal auf Ehrenwort sehr viel an den Herzog von Orléans. Als die Großmutter zu Hause angekommen war, löste sie die Schönheitspflästerchen vom Gesicht, schnürte den Reifrock los, teilte dabei dem Großvater ihre Spielschuld mit und befahl, sie zu begleichen. Der selige Großvater war, soweit ich mich erinnere, eine Art Haushofmeister bei der Großmutter. Er fürchtete sie wie das Feuer; als er jedoch von solch einer entsetzlich hohen Spielschuld hörte, geriet er außer sich, brachte die Rechnungen, bewies ihr, daß sie in einem halben Jahr eine halbe Million verbraucht hätten, daß sich bei Paris weder ihre Moskauer noch Saratower Dörfer befänden, und lehnte eine Zahlung rundweg ab. Die Großmutter gab ihm eine Ohrfeige und legte sich zum Zeichen ihrer Ungnade allein schlafen. 260
Am nächsten Tag ließ sie ihren Mann rufen, in der Hoffnung, daß die häusliche Strafe nicht ohne Wirkung geblieben sei, doch er war unerschütterlich. Zum erstenmal im Leben ließ sie sich mit ihm in Erörterungen und Erklärungen ein; sie wollte ihm ins Gewissen reden, bewies herablassend, daß Schuld nicht gleich Schuld sei und daß es einen Unterschied zwischen einem Prinzen und einem Stellmacher gäbe. – Vergeblich! Der Großvater rebellierte. Nein, und abermals nein! Die Großmutter wußte nicht, was sie tun sollte. Sie war flüchtig mit einem außergewöhnlichen Mann bekannt. Ihr habt alle vom Grafen Saint-Germain gehört, von dem man sich so viel Wunderbares erzählt. Ihr wißt, daß er sich für den Ewigen Juden ausgab, für den Erfinder des Lebenselixiers, des Steins der Weisen und dergleichen. Man lachte über ihn wie über einen Scharlatan, und Casanova sagt von ihm in seinen Memoiren, er sei ein Spion; trotz seines geheimnisvollen Wesens hatte Saint-Germain übrigens ein sehr würdiges Aussehen und war in Gesellschaft ein äußerst liebenswürdiger Mensch. Meine Großmutter ist noch heute von ihm begeistert und wird böse, wenn man von ihm abfällig spricht. Meine Großmutter wußte, daß Saint-Germain über große Summen verfügen konnte. Sie beschloß, sich an ihn zu wenden. Sie schrieb ihm ein Billett und bat ihn, sie sofort zu besuchen. Der alte Sonderling erschien unverzüglich und fand sie in tiefem Kummer vor. Sie schilderte ihm die barbarische Grausamkeit ihres Mannes in den schwärzesten Farben und sagte schließlich, daß sie ihre ganze Hoffnung auf seine Freundschaft und Liebenswürdigkeit setze. Saint-Germain dachte nach. ‚… Ich könnte Ihnen mit dieser Summe dienen‘, sagte er, ‚doch ich weiß, daß Sie keine Ruhe finden werden, bevor Sie mir das Geld zurückgegeben haben, ich möchte Ihnen aber neue Ungelegenheiten ersparen. Es gibt ein anderes Mittel: Sie können die Schuld im Spiel zurückgewinnen.‘ – ‚Aber, lieber Graf‘, antwortete die Großmutter, ‚ich sage Ihnen doch, wir haben keinerlei Geld.‘ – ‚Geld ist hierbei nicht nötig‘, entgegnete Saint-Ger261
main, ‚hören Sie mich bitte an.‘ Und er eröffnete ihr ein Geheimnis, für das jeder von uns viel geben würde …“ Die jungen Spieler verdoppelten ihre Aufmerksamkeit. Tomskij zündete sich eine Pfeife an, tat einen Zug und fuhr fort. „Am selben Abend erschien die Großmutter in Versailles au jeu de la Reine. Der Herzog von Orléans hielt die Bank; die Großmutter bat flüchtig um Entschuldigung, daß sie ihre Schuld nicht gleich mitgebracht habe, erfand zu ihrer Rechtfertigung eine kleine Geschichte und begann gegen ihn zu pointieren. Sie wählte drei Karten, setzte eine nach der anderen: Alle drei gewannen Sonika, und die Großmutter hatte alles wieder zurückgewonnen.“ „Zufall!“ sagte einer der Gäste. „Ein Märchen!“ bemerkte Hermann. „Vielleicht waren es gezinkte Karten?“ meinte ein Dritter. „Ich glaube nicht“, antwortete Tomskij ernst. „Wie!“ sagte Narumow, „du hast eine Großmutter, die drei Karten hintereinander trifft, und hast von ihr dieses Geheimnis noch nicht erfahren können?“ „Den Teufel auch!“ antwortete Tomskij. „Sie hatte vier Söhne, einer von ihnen war mein Vater: Alle vier waren leidenschaftliche Spieler, und keinem von ihnen hat sie ihr Geheimnis mitgeteilt, obwohl das für sie – und sogar auch für mich – nicht schlecht gewesen wäre. Doch folgendes hat mir mein Onkel, Graf Iwan Iljitsch, erzählt und bei seiner Ehre versichert, daß es wahr sei. Der verstorbene Tschaplizkij, derselbe, der Millionen durchgebracht hatte und als Bettler gestorben war, hatte in seiner Jugend einmal dreihunderttausend, ich glaube an Soritsch, im Spiel verloren. Er war verzweifelt. Der Großmutter, die sich Streichen junger Leute gegenüber immer streng verhielt, tat Tschaplizkij leid. Sie nannte ihm drei Karten, auf die er nacheinander setzen sollte, und ließ sich sein Ehrenwort geben, in Zukunft nie mehr zu spielen. Tschaplizkij erschien bei seinem Besieger, und sie begannen mit dem Spiel. Tschaplizkij setzte auf die erste Karte fünfzigtausend und gewann Sonika, er bog Paroli, Paroli-pé, gewann alles wieder und hatte noch einen Gewinn … 262
Doch es ist Zeit, schlafen zu gehen: Es ist schon drei Viertel sechs.“ Tatsächlich wurde es schon hell; die jungen Leute tranken ihre Gläser aus und fuhren nach Hause. II „Il parait que monsieur est décidément pour les suivantes.“ „Que voulez-vous, madame? Elles sont plus fraiches.“ Gespräch in der vornehmen Gesellschaft
Die alte Gräfin *** saß in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel. Drei Mädchen umringten sie. Die eine hielt ein Näpfchen mit Schminke in der Hand, die andere eine Schachtel mit Nadeln, die dritte eine hohe Haube mit feuerroten Bändern. Die Gräfin konnte nicht mehr den geringsten Anspruch auf Schönheit erheben, die längst vergangen war, doch behielt sie alle Gewohnheiten ihrer Jugend bei, kleidete sich genau nach der Mode der siebziger Jahre und machte ebenso lange und sorgfältig Toilette wie vor sechzig Jahren. Am Fenster saß an einem Stickrahmen ein junges Fräulein, ihre Pflegetochter. „Guten Tag, grand’maman“, sagte der junge Offizier, der eingetreten war. „Bonjour, mademoiselle Lise. Grand’maman, ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.“ „Was ist, Paul?“ „Gestatten Sie, daß ich Ihnen einen meiner Freunde vorstelle und ihn am Freitag zu Ihrem Ball mitbringe.“ „Bring ihn direkt zum Ball, und dort stellst du ihn mir auch vor. Bist du gestern bei *** gewesen?“ „Natürlich! Es war sehr lustig, bis fünf Uhr wurde getanzt. Wie schön die Jelezkaja war!“ „Ach, mein Lieber! Was ist an ihr schön? Was ist sie im Vergleich zu ihrer Großmutter, der Fürstin Darja Petrowna? Übri263
gens, ich nehme an, sie ist schon sehr gealtert, die Fürstin Darja Petrowna?“ „Wie, gealtert?“ antwortete Tomskij zerstreut. „Sie ist doch schon vor sieben Jahren gestorben.“ Das Fräulein hob den Kopf und machte dem jungen Mann ein Zeichen. Er erinnerte sich, daß man der alten Gräfin den Tod ihrer Altersgenossinnen verheimlichte, und biß sich auf die Lippen. Doch die Gräfin nahm die ihr neue Nachricht mit großem Gleichmut auf. „Sie ist gestorben!“ sagte sie. „Und ich habe es nicht einmal gewußt! Wir sind beide zusammen zu Hofdamen ernannt worden, und als wir uns vorstellten, da sagte die Kaiserin …“ Und die Gräfin erzählte dem Enkel zum hundertstenmal ihre Anekdote. „Nun, Paul“, sagte sie dann, „sei mir beim Aufstehen behilflich. Lisanka, wo ist meine Tabatiere?“ Und die Gräfin ging mit ihren Mädchen hinter den Wandschirm, um ihre Toilette zu beenden. Tomskij blieb mit dem Fräulein allein. „Wen wollen Sie vorstellen?“ fragte leise Lisaweta Iwanowna. „Narumow. Kennen Sie ihn?“ „Nein! Ist er Offizier oder Zivilist?“ „Offizier.“ „Genieoffizier?“ „Nein! Kavallerist. Aber warum haben Sie gedacht, daß er Genieoffizer ist?“ Das Fräulein lachte und gab keine Antwort. „Paul!“ rief die Gräfin hinter dem Wandschirm, „schicke mir irgendeinen neuen Roman, aber bitte keinen modernen.“ „Wie soll ich das verstehen, grand’maman?“ „Ich meine einen Roman, in dem der Held weder den Vater noch die Mutter erwürgt und in dem es keine Ertrunkenen gibt. Ich fürchte mich entsetzlich vor Wasserleichen!“ „Solche Romane gibt es heutzutage nicht. Oder wollen Sie etwa russische haben?“ 264
„Gibt es denn russische Romane? Schicke sie mir, mein Lieber, bitte schicke sie mir!“ „Leben Sie wohl, grand’maman, ich habe es eilig … Leben Sie wohl, Lisaweta Iwanowna! Warum haben Sie nur gedacht, daß Narumow Genieoffizier ist?“ Und Tomskij verließ das Ankleidezimmer. Lisaweta Iwanowna blieb allein zurück. Sie hörte mit ihrer Arbeit auf und sah zum Fenster hinaus. Bald darauf kam auf der anderen Straßenseite hinter einem Eckhaus ein junger Offizier hervor. Eine tiefe Röte überzog ihre Wangen, sie nahm ihre Arbeit wieder auf und beugte den Kopf über die Stickerei. In diesem Augenblick trat die Gräfin vollständig angekleidet ein. „Lisanka“, sagte sie, „laß anspannen, wir werden spazierenfahren.“ Lisanka erhob sich hinter ihrem Stickrahmen und räumte ihre Arbeit fort. „Was hast du, meine Beste! Bist du etwa taub?“ schrie die Gräfin. „Laß sofort anspannen.“ „Gleich!“ antwortete das Fräulein leise und lief in das Vorzimmer. Ein Diener trat herein und überreichte der Gräfin Bücher vom Fürsten Pawel Alexandrowitsch. „Gut! Ich lasse danken“, sagte die Gräfin. „Lisanka, Lisanka! Wo läufst du denn hin?“ „Mich anziehen.“ „Das eilt nicht, meine Beste. Setz dich her. Schlag den ersten Band auf, lies mir vor …“ Das Fräulein nahm das Buch und las einige Zeilen vor. „Lauter!“ sagte die Gräfin. „Was ist mit dir, meine Beste? Hast du deine Stimme verloren? Warte, rück mir den Schemel heran, näher … Nun!“ Lisaweta Iwanowna las noch zwei Seiten vor. Die Gräfin gähnte. „Hör mit diesem Buch auf“, sagte sie. „Was für ein Unsinn! Schick das an den Fürsten Pawel zurück und laß ihm danken … Wo bleibt denn die Kutsche?“ 265
„Die Kutsche steht bereit“, antwortete Lisaweta Iwanowna, nachdem sie auf die Straße geguckt hatte. „Warum bist du denn nicht angezogen?“ fragte die Gräfin. „Immer muß man auf dich warten! Das ist unerträglich, meine Beste.“ Lisa lief in ihr Zimmer. Keine zwei Minuten waren vergangen, als die Gräfin mit aller Kraft zu klingeln begann. Drei Mädchen kamen durch die eine Tür hereingelaufen und ein Kammerdiener durch die andere. „Hört ihr denn schlecht?“ sagte die Gräfin zu ihnen. „Sagt Lisaweta Iwanowna, daß ich auf sie warte.“ Lisaweta Iwanowna trat in Hut und Mantel herein. „Endlich, meine Beste!“ sagte die Gräfin. „Was für eine Aufmachung! Wozu das? Wen willst du bezaubern? Und wie ist das Wetter? Es scheint windig zu sein.“ „Durchaus nicht, Euer Erlaucht! Es ist vollkommen windstill!“ antwortete der Kammerdiener. „Ihr redet immer, was euch grade in den Kopf kommt! Macht mal die Fensterklappe auf. Wie ich es gesagt habe – Wind! Und noch dazu eisig kalter! Laßt ausspannen! Lisanka, wir fahren nicht: Du hast dich umsonst herausgeputzt.“ Und das ist nun mein Leben! dachte Lisaweta Iwanowna. Lisaweta war wirklich ein äußerst unglückliches Geschöpf. Fremdes Brot schmeckt bitter, sagt Dante, und schwer fällt es, die Treppe eines fremden Hauses hochzusteigen, und wer kannte die Bitternis der Abhängigkeit besser als die arme Pflegetochter der alten Aristokratin? Die Gräfin *** hatte natürlich kein schlechtes Herz; doch als eine von der Gesellschaft verwöhnte Frau war sie launisch, zudem geizig und von einem kalten Egoismus durchdrungen, wie alle alten Leute, die zu ihrer Zeit geliebt haben und der heutigen fremd gegenüberstehen. Sie nahm an allen Zerstreuungen der großen Welt teil, schleppte sich auf Bälle, wo sie, geschminkt und altmodisch gekleidet, wie eine häßliche und notwendige Verzierung des Ballsaales in der Ecke saß; unter tiefen Verbeugungen näherten sich ihr wie nach einem vorgeschriebenen Zeremoniell die eintreffenden Gäste, und dann 266
kümmerte sich keiner mehr um sie. Bei sich zu Hause empfing sie die ganze Stadt, beobachtete dabei die strengste Etikette und erkannte niemanden. Ihre zahlreiche Dienerschaft, die in ihrem Vorzimmer und in ihrer Mädchenstube dick und grau geworden war, tat, was ihr gefiel, und bestahl die sterbende Alte um die Wette. Lisaweta Iwanowna war die Märtyrerin des Hauses. Sie schenkte Tee ein und mußte sich wegen des allzu hohen Zuckerverbrauchs Vorwürfe anhören, sie las aus Romanen vor und war an allen Fehlern des Autors schuld; sie begleitete die Gräfin auf Spazierfahrten und war für Wetter und Straßenpflaster verantwortlich. Ihr war ein Gehalt bestimmt, das sie niemals voll ausgezahlt bekam, und dabei verlangte man von ihr, daß sie angezogen sei wie alle, das heißt wie sehr wenige. In der Gesellschaft spielte sie die bedauernswerteste Rolle. Alle kannten sie, doch niemand achtete sie; auf Bällen tanzte sie nur, wenn ein Visavis fehlte, und die Damen nahmen sie immer dann unter den Arm, wenn sie in die Garderobe mußten, um etwas an ihrer Toilette in Ordnung zu bringen. Sie besaß ein ausgeprägtes Ehrgefühl, empfand lebhaft ihre Lage und sah sich in ungeduldiger Erwartung nach einem Befreier um. Doch die jungen, in ihrer leichtsinnigen Eitelkeit berechnenden Männer schenkten ihr keine Aufmerksamkeit, obwohl Lisaweta Iwanowna hundertmal liebreicher war als die frechen und kühlen Bräute, die sie umwarben. Wie oft hatte sie den langweiligen und prunkvollen Saal unbemerkt verlassen und war, um zu weinen, auf ihr Zimmer gegangen, in dem ein mit Tapete beklebter Wandschirm, eine Kommode, ein Spiegel und ein angestrichenes Bett standen und wo ein Talglicht düster in einem kupfernen Leuchter brannte! Eines Tages – dies geschah zwei Tage nach dem Abend, den wir zu Beginn der Erzählung beschrieben, und eine Woche vor der Szene, bei der wir stehenblieben –, eines Tages, als Lisaweta Iwanowna am Fenster vor ihrem Stickrahmen saß, blickte sie zufällig auf die Straße hinaus und bemerkte einen jungen Offizier, der unbeweglich dastand und unverwandt zu ihrem Fenster hinaufblickte. Sie senkte den Kopf und beschäftigte sich wieder mit ihrer Arbeit; nach fünf Minuten sah sie von neuem hinaus – 267
der Offizier stand auf derselben Stelle. Da sie nicht die Gewohnheit hatte, mit vorübergehenden Offizieren zu kokettieren, blickte sie überhaupt nicht mehr auf die Straße und stickte ungefähr zwei Stunden, ohne aufzusehen. Das Mittagessen wurde aufgetragen. Sie erhob sich, räumte den Stickrahmen zur Seite, warf zufällig einen Blick auf die Straße und sah wieder den Offizier. Dies kam ihr höchst seltsam vor. Nach dem Essen trat sie mit dem Gefühl einer gewissen Unruhe an das Fenster, doch der Offizier war nicht mehr da – und sie vergaß ihn … Nach etwa zwei Tagen, als sie mit der Gräfin hinausging, um sich in die Kutsche zu setzen, sah sie ihn wieder. Er stand unmittelbar neben der Auffahrt, sein Gesicht war von einem Biberpelzkragen verdeckt, und seine schwarzen Augen funkelten unter dem Hut. Lisaweta Iwanowna erschrak – sie wußte selbst nicht wovor – und nahm in unbeschreiblicher Aufregung in der Kutsche Platz. Als sie zurückgekehrt war, lief sie sofort zum Fenster – der Offizier stand an der früheren Stelle und hielt seine Augen auf sie gerichtet; sie trat zurück, von Neugier gepeinigt und von einem Gefühl erregt, das ihr völlig neu war. Seitdem verging kein Tag, an dem der junge Mann nicht zu bestimmter Stunde unter den Fenstern ihres Hauses erschienen wäre. Zwischen ihm und ihr bildeten sich ohne jegliche Verabredung gewisse Beziehungen heraus. Wenn sie auf ihrem Platz bei der Arbeit saß, dann spürte sie sein Nahen – sie hob den Kopf und sah von Tag zu Tag länger hinunter. Der junge Mann war ihr, so schien es, dafür dankbar. Mit dem scharfen Auge der Jugend bemerkte sie, wie jedesmal eine schnelle Röte seine bleichen Wangen überzog, wenn sich ihre Blicke trafen. Nach einer Woche lächelte sie ihm zu … Als Tomskij um die Erlaubnis bat, der Gräfin seinen Freund vorstellen zu dürfen, schlug dem armen Mädchen das Herz bis zum Hals. Doch als sie erfuhr, daß Narumow kein Genieoffizier war, sondern Gardekavallerist, bedauerte sie, durch eine unbescheidene Frage dem leichtsinnigen Tomskij ihr Geheimnis verraten zu haben. 268
Hermann war der Sohn eines zum Russen gewordenen Deutschen, der ihm ein kleines Kapital hinterlassen hatte. Von der Notwendigkeit, seine Unabhängigkeit zu festigen, zutiefst überzeugt, rührte Hermann nicht einmal die Prozente an, lebte nur vom Gehalt und gestattete sich nicht den geringsten Luxus. Er war übrigens verschlossen und ehrgeizig, und seine Kameraden hatten selten Gelegenheit, sich über seine übertriebene Sparsamkeit lustig zu machen. Er war sehr leidenschaftlich und hatte eine glühende Phantasie, doch seine Festigkeit schützte ihn vor den üblichen Verirrungen der Jugend. So nahm er zum Beispiel, obwohl er innerlich ein Spieler war, niemals eine Karte in die Hand, da er sich ausgerechnet hatte, daß sein Vermögen ihm nicht erlaube (wie er zu sagen pflegte), Unentbehrliches zu opfern, in der Hoffnung, Überflüssiges zu erwerben – saß aber ganze Nächte an den Spieltischen und folgte in fieberhafter Erregung dem wechselhaften Verlauf des Spiels. Die Geschichte von den drei Karten beschäftigte seine Phantasie stark und ging ihm die ganze Nacht nicht aus dem Kopf. Was wäre, dachte er am Abend des nächsten Tages, als er in Petersburg umherschlenderte, wenn die alte Gräfin mir ihr Geheimnis entdeckte! Oder mir ihre drei sicheren Karten nennte! Warum soll ich mein Glück nicht versuchen? … Ich lasse mich vorstellen, erwerbe ihr Vertrauen – vielleicht werde ich ihr Liebhaber –, doch all das braucht seine Zeit, und sie ist siebenundachtzig Jahre alt, sie kann in einer Woche sterben – in zwei Tagen schon! … Und die Geschichte selbst? … Kann man ihr glauben? … Nein! Berechnung, Sparsamkeit und Fleiß: das sind meine drei sicheren Karten, das ist es, was mein Kapital verdreifachen, versiebenfachen wird und mir Ruhe und Unabhängigkeit gibt. Während er diese Überlegungen anstellte, war er auf eine der Hauptstraßen Petersburgs gekommen und stand plötzlich vor einem Haus alter Bauart. Die Straße war voller Equipagen, und eine Kutsche nach der anderen rollte an die erleuchtete Auffahrt vor. Aus den Kutschen streckte sich alle Augenblicke bald das schlanke Bein einer jungen Schönheit, bald ein knarrender Kanonenstiefel, bald ein gestreifter Strumpf und ein Diplomaten269
schuh. Pelze und Umhänge eilten an dem majestätischen Portier vorüber. Hermann blieb stehen. „Wem gehört dieses Haus?“ fragte er den Wächter an der Ecke. „Der Gräfin ***“, antwortete der Wächter. Hermann geriet in Erregung. Die wunderbare Geschichte erstand erneut in seiner Phantasie. Er ging vor dem Haus auf und ab, dachte an dessen Herrin und ihre wunderbare Fähigkeit. Erst spät kehrte er in sein bescheidenes Heim zurück; lange konnte er nicht einschlafen, und als der Schlaf ihn überwältigt hatte, träumte er von Karten, dem grünen Spieltisch, Geldscheinbündeln und Haufen von Goldmünzen. Er setzte eine Karte nach der anderen, bog entschlossen die Ecken, gewann unaufhörlich, scharrte das Gold an sich und steckte die Geldscheine in die Tasche. Er wachte spät auf, seufzte über den Verlust seines phantastischen Reichtums, schlenderte von neuem in der Stadt umher und befand sich wieder vor dem Haus der Gräfin ***. Eine unsichtbare Kraft zog ihn, so schien es, zu ihm hin. Er blieb stehen und sah zu den Fenstern hinauf. In einem von ihnen sah er ein schwarzhaariges Köpfchen, das wahrscheinlich über ein Buch oder eine Handarbeit gebeugt war. Der Kopf erhob sich. Hermann sah ein frisches Gesicht und schwarze Augen. Dieser Augenblick entschied über sein Schicksal. III Vous m’écrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire. Aus einem Briefwechsel
Kaum hatte Lisaweta Iwanowna Mantel und Hut abgelegt, als die Gräfin nach ihr schickte und von neuem anspannen ließ. Sie gingen hinunter, um einzusteigen. In dem Augenblick, als zwei Diener die Gräfin hochhoben und ihr durch den Wagenschlag halfen, erblickte Lisaweta Iwanowna unmittelbar am Rad ihren Genieoffizier; er ergriff ihre Hand, sie wußte nicht, was tun vor 270
Schreck; der junge Mann verschwand und ließ einen Brief in ihrer Hand zurück. Sie versteckte ihn in ihrem Handschuh und sah und hörte während des ganzen Weges nichts mehr. Die Gräfin hatte in der Kutsche die Gewohnheit, alle Augenblicke Fragen zu stellen: Wer ist uns da entgegengekommen? Wie heißt diese Brücke? Was steht dort auf dem Schild? Lisaweta Iwanowna antwortete dieses Mal falsch und was ihr gerade in den Kopf kam und verärgerte damit die Gräfin. „Was ist mit dir, meine Beste! Ist dein Verstand stehengeblieben oder was? Entweder hörst du mich nicht, oder du verstehst mich nicht … Gott sei Dank spreche ich deutlich und habe noch nicht den Verstand verloren!“ Lisaweta hörte nicht auf das, was sie sagte. Nach Hause zurückgekehrt, lief sie auf ihr Zimmer und holte den Brief aus dem Handschuh: Er war nicht versiegelt. Lisaweta Iwanowna las ihn. Der Brief enthielt eine Liebeserklärung. Sie war voller Zärtlichkeit und Ehrerbietung und Wort für Wort einem deutschen Roman entnommen. Aber Lisaweta Iwanowna verstand kein Deutsch und war mit ihr sehr zufrieden. Doch der Brief, den sie angenommen hatte, beunruhigte sie außerordentlich. Zum erstenmal trat sie in geheime, enge Beziehungen zu einem jungen Mann. Seine Kühnheit entsetzte sie. Sie warf sich ihr unvorsichtiges Benehmen vor und wußte nicht, was tun: Sollte sie aufhören, am Fenster zu sitzen, und durch Nichtbeachten dem jungen Offizier die Lust an weiteren Verfolgungen nehmen? Sollte sie den Brief zurückschicken? Sollte sie kühl entschlossen antworten? Sie hatte niemanden, mit dem sie sich beraten konnte, sie besaß weder eine Freundin noch eine Vertraute. Lisaweta Iwanowna beschloß zu antworten. Sie setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch, nahm Feder und Papier – und verfiel in Nachdenken. Sie begann den Brief mehrere Male – und zerriß ihn immer wieder: Bald erschienen ihr die Ausdrücke zu herablassend, bald zu hart. Schließlich gelangen ihr einige Zeilen, mit denen sie zufrieden war. „Ich bin überzeugt“, schrieb sie, „daß Sie ehrliche Absichten haben und mich durch Ihre unbedachte Tat nicht beleidigen wollten; doch un271
sere Bekanntschaft hätte nicht auf diese Weise beginnen dürfen. Ich sende Ihnen Ihren Brief zurück und hoffe, daß ich in Zukunft keinen Grund haben werde, mich über unverdienten Mangel an Achtung zu beklagen.“ Als Lisaweta Iwanowna am nächsten Tag Hermanns Nahen bemerkte, stand sie von ihrer Stickerei auf, ging in den Saal, öffnete das Fenster und warf den Brief auf die Straße, sich auf die Behendigkeit des jungen Offiziers verlassend. Hermann eilte herzu, hob ihn auf und trat in eine Konditorei ein. Als er das Siegel erbrochen hatte, fand er seinen Brief und die Antwort Lisaweta Iwanownas. Dies hatte er auch erwartet, und er kehrte, sehr beschäftigt mit seiner Intrige, nach Hause zurück. Drei Tage danach brachte eine junge flinkäugige Mamsell aus einem Modegeschäft Lisaweta Iwanowna ein Briefchen. Lisaweta Iwanowna öffnete es voller Unruhe, da sie Geldforderungen vermutete, und erkannte plötzlich die Handschrift Hermanns. „Sie haben sich geirrt, meine Liebe“, sagte sie, „dieser Brief ist nicht für mich.“ „Nein, er ist für Sie!“ antwortete das kecke Mädchen, ohne ein verschmitztes Lächeln zu verbergen. „Lesen Sie ihn bitte!“ Lisaweta Iwanowna überflog den Brief. Hermann forderte eine Zusammenkunft. „Das kann nicht sein!“ sagte Lisaweta Iwanowna, die die Hast der Forderung erschreckte und auch die Art und Weise, wie er sie vorbrachte. „Dieser Brief ist bestimmt nicht an mich gerichtet!“ Und sie zerriß ihn in kleine Stückchen. „Wenn der Brief nicht für Sie bestimmt ist, warum haben Sie ihn dann zerrissen?“ fragte die Mamsell. „Ich hätte ihn demjenigen, der ihn geschickt hat, wieder zurückgebracht.“ „Bitte, meine Liebe!“ sagte Lisaweta Iwanowna, die bei dieser Bemerkung rot geworden war. „Bringen Sie mir in Zukunft keine Briefe mehr. Und sagen Sie demjenigen, der Sie geschickt hat, daß er sich schämen sollte …“ Aber Hermann gab nicht auf. Lisaweta Iwanowna erhielt jeden Tag auf die eine oder andere Weise einen Brief von ihm. Sie 272
waren schon nicht mehr aus dem Deutschen übersetzt. Hermann schrieb sie, von Leidenschaft getrieben, und sprach die ihm eigene Sprache: In ihnen kam die Entschlossenheit seiner Wünsche und der Wirrwarr seiner ungezügelten Phantasie zum Ausdruck. Lisaweta Iwanowna dachte gar nicht mehr daran, sie wegzuschicken: Sie berauschte sich an ihnen; sie beantwortete sie – und ihre Briefe wurden stündlich länger und zärtlicher. Schließlich warf sie ihm folgenden Brief aus dem Fenster: Heute ist Ball bei dem ***ischen Gesandten. Die Gräfin wird dort sein. Wir werden bis gegen zwei Uhr bleiben. Das ist eine Gelegenheit für Sie, mich allein anzutreffen. Sowie die Gräfin fortgefahren ist, werden ihre Leute wahrscheinlich alle weggehen, im Vorraum bleibt zwar der Portier, doch auch er geht gewöhnlich in seine Loge. Kommen Sie um halb zwölf. Gehen Sie geradeaus die Treppe hinauf. Falls Ihnen im Vorzimmer jemand begegnen sollte, so fragen Sie ihn, ob die Gräfin zu Hause sei. Man wird es verneinen – und dann ist nichts zu machen. Sie müssen umkehren. Wahrscheinlich treffen Sie aber niemanden. Die Mädchen halten sich alle in ihrer Stube auf. Aus dem Vorzimmer gehen Sie nach links und dann immer geradeaus bis zum Schlafzimmer der Gräfin. Im Schlafzimmer sehen Sie hinter dem Wandschirm zwei kleine Türen: Die rechte führt ins Kabinett, das die Gräfin niemals aufsucht, die linke in den Korridor, und dort befindet sich auch die schmale Wendeltreppe – sie führt in mein Zimmer. Hermann zitterte wie ein Tiger, während er die festgesetzte Zeit erwartete. Des Abends, um zehn Uhr, stand er schon vor dem Haus der Gräfin. Das Wetter war abscheulich: Der Wind heulte, feuchter Schnee fiel in großen Flocken hernieder, trübe brannten die Laternen, und die Straßen waren leer. Dann und wann trabte, von einer dürren Mähre gezogen, eine Droschke vorbei, und der Kutscher schaute nach einem späten Fahrgast aus. Hermann hatte nur seinen Rock an und spürte weder Wind noch Schnee. Schließlich fuhr die Kutsche der Gräfin vor. Hermann 273
sah, wie zwei Diener die in einen Zobelpelz gehüllte, gebeugte Alte untergefaßt hinausführten und wie ihr die Pflegetochter in leichtem Mantel und mit frischen Blumen im Haar eilig folgte. Der Wagenschlag klappte zu. Schwerfällig rollte die Kutsche auf dem lockeren Schnee dahin. Der Portier schloß die Tür. Die Fenster wurden dunkel. Hermann spazierte vor dem verlassenen Haus auf und ab. Er ging zu einer Laterne und sah auf die Uhr – es war zwanzig Minuten nach elf. Er blieb unter der Laterne stehen, die Augen auf den Uhrzeiger gerichtet, und wartete die restlichen Minuten ab. Punkt halb zwölf schritt er die gräfliche Freitreppe empor und trat in den hell erleuchteten Vorraum ein. Der Portier war nicht da. Hermann lief die Treppe hinauf, öffnete die Tür zum Vorzimmer und erblickte unter der Lampe einen Diener, der in einem alten, fleckigen Sessel schlief. Mit leichtem und sicherem Schritt ging Hermann an ihm vorbei. Saal und Empfangszimmer waren dunkel. Sie wurden schwach von der Lampe aus dem Vorzimmer erhellt. Hermann trat in das Schlafzimmer. Vor einem mit alten Heiligenbildern angefüllten Schrein brannte ein goldenes Öllämpchen. Sessel und Sofas mit verschossenen Bezügen, Daunenkissen und abgeblätterter Vergoldung standen in trauriger Symmetrie an den Wänden, die chinesische Tapeten bedeckten. Zwei Porträts hingen an der Wand, die Madame Lebrun in Paris gemalt hatte. Auf einem war ein Mann von etwa vierzig Jahren, rotwangig und voll, in hellgrüner Uniform, mit einem Ordensstern auf der Brust, dargestellt, auf dem anderen eine junge Schönheit mit Adlernase, hochgekämmtem Schläfenhaar und einer Rose in der gepuderten Frisur. In allen Ecken standen Porzellanhirten, Standuhren des berühmten Leroy, Schächtelchen, Roulettescheiben, Fächer und allerlei Spielzeug für Damen, das Ende des vorigen Jahrhunderts zusammen mit dem Ballon der Brüder Montgolfier und dem Mesmerschen Magnetismus erfunden worden war. Hermann trat hinter den Wandschirm. Dort stand ein kleines eisernes Bett, rechts befand sich eine Tür, die in das Kabinett führte, links eine andere, die auf den Korridor ging. Hermann öffnete sie und erblickte die schmale Wendeltreppe, die zum Zimmer der armen Pflege274
tochter führte … Doch er kehrte um und ging in das dunkle Kabinett. Die Zeit verging langsam. Alles war still. Im Gastzimmer schlug es zwölf, in allen Zimmern schlugen die Uhren nacheinander zwölf Uhr – und alles war wieder still. Hermann stand an einen kalten Ofen gelehnt; sein Herz schlug gleichmäßig wie bei einem Menschen, der sich zu etwas Gefährlichem, aber Notwendigem entschlossen hat. Die Uhren schlugen die erste und dann die zweite Morgenstunde – und er hörte von fern das Rollen einer Kutsche. Eine unwillkürliche Aufregung überkam ihn. Die Kutsche fuhr vor und hielt. Er hörte das Fallen des Wagentritts. Im Haus wurde es lebendig. Menschen liefen umher, Stimmen ertönten, und das Haus wurde hell. In das Schlafzimmer kamen drei alte Zofen gelaufen, die Gräfin trat, mehr tot als lebendig, ein und sank in einen Voltairesessel. Hermann sah durch einen Spalt: Lisaweta Iwanowna ging an ihm vorüber. Hermann hörte ihre eiligen Schritte auf den Treppenstufen. In seinem Herzen empfand er etwas Ähnliches wie Gewissensbisse, diese Regung ging aber bald vorüber. Er stand, als wäre er von Stein. Die Gräfin begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Die mit Rosen verzierte Haube wurde losgesteckt, die gepuderte Perücke von ihrem grauen, kurzgeschorenen Kopf entfernt. Ein Regen von Nadeln ging auf den Boden nieder. Das gelbe, mit Silber bestickte Kleid sank zu ihren geschwollenen Füßen. Hermann war Zeuge der abstoßenden Geheimnisse ihrer Toilette; schließlich stand die Gräfin in Nachtjacke und Schlafmütze da – in diesem Aufzug, der ihrem Alter mehr entsprach, erschien sie weniger schrecklich und häßlich. Wie alle alten Leute litt die Gräfin an Schlaflosigkeit. Als sie ausgezogen war, setzte sie sich in den Lehnstuhl an das Fenster und schickte die Zofen fort. Die Kerzen wurden hinausgetragen, das Zimmer war wiederum nur von dem Öllämpchen erhellt. Ganz gelb saß die Gräfin da, bewegte die herabhängenden Lippen und schwankte nach rechts und links. In ihren trüben Augen drückte sich völlige Geistesabwesenheit aus; wenn man sie an275
sah, konnte man denken, daß das Schwanken der furchtbaren Alten nicht auf ihren Willen, sondern auf einen versteckten Galvanismus zurückzuführen sei. Plötzlich veränderte sich dieses tote Gesicht in unbeschreiblicher Weise. Die Lippen hörten auf, sich zu bewegen, die Augen belebten sich: Vor der Gräfin stand ein unbekannter Mann. „Erschrecken Sie nicht, um Himmels willen, erschrecken Sie nicht!“ sagte er mit eindringlicher und leiser Stimme. „Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen, ich bin gekommen, Sie um eine Gnade anzuflehen.“ Die Alte sah ihn schweigend an und schien ihn nicht zu hören. Hermann kam auf den Gedanken, daß sie taub sei, beugte sich unmittelbar an ihr Ohr und wiederholte dasselbe noch einmal. Die Alte schwieg weiterhin. „Sie können mich“, fuhr Hermann fort, „für mein ganzes Leben glücklich machen, und dies kostet Sie nichts: Ich weiß, daß Sie hintereinander drei Karten erraten können …“ Hermann verstummte. Die Gräfin, so schien es, hatte begriffen, was man von ihr wollte; sie schien nach Worten für ihre Antwort zu suchen. „Das war ein Scherz“, sagte sie schließlich. „Ich schwöre es Ihnen! Das war ein Scherz!“ „Damit scherzt man nicht“, entgegnete Hermann ärgerlich. „Erinnern Sie sich an Tschaplizkij, dem Sie geholfen haben zu gewinnen.“ Die Gräfin war sichtlich bestürzt. Ihre Züge drückten eine heftige innere Erregung aus, doch bald verfiel sie wieder in ihre vorherige Lethargie. „Können Sie mir“, fuhr Hermann fort, „diese drei sicheren Karten nennen?“ Die Gräfin schwieg; Hermann fuhr fort: „Für wen hüten Sie Ihr Geheimnis? Für die Enkel? Die sind auch ohnedies reich; zudem kennen sie den Wert des Geldes nicht. Einem Verschwender helfen Ihre drei Karten nicht. Wer das väterliche Erbe nicht zu hüten versteht, stirbt in Armut trotz aller noch so dämonischer Bemühungen. Ich bin kein Verschwender, ich kenne den 276
Wert des Geldes. Ihre drei Karten sind bei mir gut aufgehoben. Nun! …“ Er hielt inne und erwartete zitternd ihre Antwort. Die Gräfin schwieg; Hermann kniete nieder. „Wenn Ihr Herz jemals das Gefühl der Liebe empfunden hat“, sagte er, „wenn Sie sich dieser Wonnen erinnern, wenn Sie nur ein einziges Mal beim Weinen Ihres neugeborenen Sohnes gelächelt haben, wenn sich jemals etwas Menschliches in Ihrer Brust geregt hat, so beschwöre ich Sie bei den Gefühlen der Gattin, der Geliebten, der Mutter – bei allem, was heilig ist im Leben –, schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab! Entdecken Sie mir Ihr Geheimnis! Was liegt Ihnen daran? … Vielleicht ist es mit einer entsetzlichen Sünde verbunden, mit dem Verlust der ewigen Seligkeit, mit einem Teufelspakt … Überlegen Sie: Sie sind alt; Sie haben nicht mehr lange zu leben – ich bin bereit, Ihre Sünden auf mich zu nehmen. Entdecken Sie mir nur Ihr Geheimnis. Bedenken Sie, daß sich das Glück eines Menschen in Ihren Händen befindet, daß nicht nur ich, sondern auch meine Kinder, meine Enkel und Urenkel Ihr Andenken segnen und verehren werden wie ein Heiligtum …“ Die Alte antwortete mit keinem Wort Hermann erhob sich. „Alte Hexe!“ sagte er und biß die Zähne zusammen. „So werde ich dich zwingen zu antworten …“ Mit diesen Worten zog er eine Pistole aus der Tasche. Beim Anblick der Pistole geriet die Gräfin zum zweitenmal in heftige Erregung. Sie wackelte mit dem Kopfe und hob den Arm hoch, als wollte sie sich vor dem Schuß schützen … Dann rollte sie auf den Rücken … und blieb unbeweglich liegen. „Hören Sie mit der Kinderei auf“, sagte Hermann und ergriff ihre Hand. „Ich frage Sie zum letztenmal: Wollen Sie mir Ihre drei Karten nennen? Ja oder nein?“ Die Gräfin antwortete nicht. Hermann sah, daß sie tot war.
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IV 7. Mai 18‥ Homme sans mœurs et sans religion! Aus einem Briefwechsel
Lisaweta Iwanowna saß in ihrem Zimmer, sie hatte noch ihr Ballkleid an und war tief in Gedanken versunken. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie es eilig, das verschlafene Mädchen fortzuschicken, das ihr widerstrebend ihre Dienste anbot – sie sagte, daß sie sich selbst ausziehen werde, ging zitternd auf ihr Zimmer, hoffte dabei, Hermann anzutreffen, und wünschte es auch wieder nicht. Auf den ersten Blick sah sie, daß er nicht da war und dankte dem Schicksal, daß es eine Zusammenkunft verhindert hatte. Sie setzte sich, ohne sich auszuziehen, und rief sich die Umstände in Erinnerung zurück, die sie in so kurzer Zeit so weit geführt hatten. Nicht einmal drei Wochen waren vergangen seit jenem Tage, an dem sie den jungen Mann zum erstenmal von ihrem Fenster aus gesehen hatte, und schon stand sie im Briefwechsel mit ihm – und schon hatte er ihr Einverständnis zu einer nächtlichen Zusammenkunft erlangt! Sie kannte seinen Namen nur, weil einige Briefe von ihm unterschrieben waren; sie hatte nie mit ihm gesprochen, seine Stimme nicht vernommen, niemals etwas über ihn gehört … bis zu diesem Abend. Seltsam! Ausgerechnet an diesem Abend schmollte Tomskij auf dem Ball mit Prinzeß Polina ***, weil sie gegen ihre Gewohnheit nicht mit ihm kokettierte, und gab sich aus Rache gleichgültig: Er forderte Lisaweta Iwanowna auf und tanzte mit ihr eine endlose Masurka. Während der ganzen Zeit scherzte er über ihre Vorliebe für Genieoffiziere, beteuerte, daß er bedeutend mehr wüßte, als sie ahne, und einige seiner Scherze waren so geschickt angebracht, daß Lisaweta Iwanowna mehrere Male dachte, er wüßte von ihrem Geheimnis. „Von wem wissen Sie dies alles?“ fragte sie lachend. „Von dem Freund einer Ihnen bekannten Person“, gab ihr Tomskij zur Antwort. „Er ist ein außerordentlich bemerkenswerter Mensch!“ 278
„Und wer ist dieser bemerkenswerte Mensch?“ „Er heißt Hermann.“ Lisaweta Iwanowna antwortete nichts, doch ihre Hände und Füße erstarrten zu Eis … „Dieser Hermann“, fuhr Tomskij fort, „ist ein echter Romanheld: Er hat das Profil eines Napoleon und die Seele eines Mephistopheles. Ich schätze, daß er mindestens drei Verbrechen auf seinem Gewissen hat Wie blaß Sie geworden sind!“ „Ich habe Kopfschmerzen … Und was hat Ihnen Hermann, oder wie er hieß, gesagt?“ „Hermann ist sehr unzufrieden mit seinem Freund, er sagt, an seiner Stelle würde er ganz anders vorgehen … Ich nehme sogar an, daß er selbst einen Blick auf Sie geworfen hat, jedenfalls ist er durchaus nicht gleichgültig, wenn er die verliebten Reden seines Freundes hört.“ „Wo soll er mich denn gesehen haben?“ „In der Kirche vielleicht, oder beim Spazierengehen! … Weiß der Himmel! Vielleicht in Ihrem Zimmer, als Sie schliefen: Er bringt alles fertig …“ Drei Damen traten mit der Frage „oubli ou regret“ an sie heran und unterbrachen das Gespräch, das für Lisaweta Iwanowna von peinigendem Interesse zu werden begann. Die Dame, die sich Tomskij erwählt hatte, war Prinzeß *** selbst. Es gelang ihr, sich mit ihm auszusöhnen, indem sie mit ihm eine zusätzliche Tour tanzte und dazu noch vor ihrem Stuhl einen Kreis beschrieb. Als Tomskij auf seinen Platz zurückkehrte, dachte er weder an Hermann noch an Lisaweta Iwanowna. Sie wollte unbedingt das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmen; doch die Masurka ging zu Ende, und bald darauf fuhr die alte Gräfin fort. Die Worte Tomskijs waren nichts anderes als eine während einer Masurka übliche Unterhaltung, doch sie hatten bei der jungen Träumerin einen tiefen Eindruck hinterlassen. Das Porträt, das Tomskij entworfen hatte, ähnelte dem Bild, das sie sich selbst von ihm gemacht hatte, und dank den neuen Ro279
manen schreckte dieser beinahe schon banale Mensch ihre Einbildungskraft und nahm sie gleichzeitig gefangen. Sie saß da, die nackten Arme kreuzweise verschränkt, den noch mit Blumen geschmückten Kopf auf die entblößte Brust gesenkt … Plötzlich ging die Tür auf, und Hermann trat herein. Sie erbebte … „Wo waren Sie gewesen?“ fragte sie mit ängstlichem Flüstern. „Im Schlafzimmer bei der alten Gräfin“, antwortete Hermann. „Ich komme gerade von ihr. Die Gräfin ist tot.“ „Mein Gott! … Was sagen Sie da?“ „Und es scheint“, fuhr Hermann fort, „ich bin an ihrem Tod schuld.“ Lisaweta Iwanowna sah ihn an, und sie hörte wieder die Worte Tomskijs: Dieser Mensch hat mindestens drei Verbrechen auf seinem Gewissen! Hermann setzte sich neben sie auf das Fensterbrett und erzählte alles. Lisaweta Iwanowna hörte ihm voll Entsetzen zu. Diese leidenschaftlichen Briefe, diese glühenden Forderungen, diese kühne und hartnäckige Verfolgung, all das war also keine Liebe! Geld – das war es, wonach seine Seele lechzte! Sie konnte seine Wünsche nicht befriedigen und ihn glücklich machen! Die arme Pflegetochter war nichts anderes als das blinde Werkzeug eines Räubers, des Mörders ihrer alten Wohltäterin! Bittere Tränen weinte sie in später, qualvoller Reue. Hermann betrachtete sie schweigend. Auch er litt Qualen, doch weder die Tränen des armen Mädchens noch der erstaunliche Liebreiz ihres Schmerzes berührten sein kaltes Herz. Er empfand keine Gewissensbisse beim Gedanken an die tote Greisin. Eines entsetzte ihn: Der unwiederbringliche Verlust des Geheimnisses, von dem er Bereicherung erwartete. „Sie sind ein Ungeheuer!“ sagte schließlich Lisaweta Iwanowna. „Ich wollte nicht ihren Tod“, antwortete Hermann. „Meine Pistole ist nicht geladen,“ Beide schwiegen. 280
Der Morgen brach an. Lisaweta Iwanowna löschte die fast niedergebrannte Kerze aus; fahles Licht erleuchtete das Zimmer. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und hob den Blick zu Hermann: Er saß, die Arme gekreuzt und mit finsterem Blick, auf dem Fensterbrett. In dieser Haltung erinnerte er erstaunlich an das Porträt Napoleons. Diese Ähnlichkeit verblüffte sogar Lisaweta Iwanowna. „Wie kommen Sie nun aus dem Haus heraus?“ sagte endlich Lisaweta Iwanowna. „Ich hatte vor, Sie über die Geheimtreppe zu führen, doch da muß man an dem Schlafzimmer vorbei, und ich fürchte mich.“ „Sagen Sie mir, wie diese Geheimtreppe zu finden ist, und ich gehe.“ Lisaweta Iwanowna stand auf, nahm aus der Kommode einen Schlüssel, reichte ihn Hermann und gab ihm genaue Anweisungen. Hermann drückte ihre kalte, unbewegliche Hand, küßte sie auf den gesenkten Kopf und ging hinaus. Er ging die Wendeltreppe hinab und trat wieder in das Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Alte saß wie versteinert da, ihr Gesicht drückte tiefe Ruhe aus. Hermann blieb vor ihr stehen und sah sie lange an, als wollte er sich von der entsetzlichen Wahrheit überzeugen; schließlich ging er in das Kabinett, fand dort, an der Tapete tastend, eine Tür und ging eine finstere Treppe hinunter, wobei ihn seltsame Gefühle bewegten. Diese gleiche Treppe, so dachte er, ist vielleicht zu dieser Stunde vor sechzig Jahren ein junger Glückspilz in besticktem Rock, à l’oiseau royal frisiert und den Dreispitz an sein Herz gepreßt, in dieses gleiche Schlafzimmer hochgeschlichen; er ist schon lange in seinem Grab vermodert, und das Herz seiner hochbetagten Geliebten hat heute aufgehört zu schlagen … Unterhalb der Treppe fand Hermann eine Tür, die er mit dem gleichen Schlüssel öffnete, und gelangte in einen durchgehenden Korridor, der auf die Straße führte.
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V In dieser Nacht erschien mir die selige Baronesse von W***. Sie war ganz in Weiß und sagte zu mir: „Guten Tag, Herr Rat!“ Swedenborg
Drei Tage nach der verhängnisvollen Nacht, um neun Uhr morgens, machte sich Hermann auf den Weg zum Kloster ***, wo das Totenamt für die verstorbene Gräfin abgehalten werden sollte. Er empfand keine Reue, doch konnte er die Stimme seines Gewissens, die ihm ständig wiederholte: Du bist der Mörder der Alten! nicht vollkommen zum Schweigen bringen. Echten Glauben besaß er kaum, doch war er sehr abergläubisch. Er glaubte, daß die tote Gräfin einen schädlichen Einfluß auf sein Leben ausüben könne – und beschloß, bei ihrem Begräbnis zu erscheinen, um sie um Vergebung zu bitten. Die Kirche war überfüllt. Hermann drängte sich nur mit Mühe durch die Menschenmenge. Der Sarg stand auf einem kostbaren Katafalk unter einem Samtbaldachin. Die Verstorbene lag darin mit auf der Brust gekreuzten Händen, in einer Spitzenhaube und einem weißen Atlaskleid. Ringsherum stand das Hausgesinde: die Diener in schwarzen Röcken, mit Wappenbändern um die Schulter und Kerzen in der Hand, und die Verwandten – Kinder, Enkel und Urenkel – in tiefer Trauer. Niemand weinte; Tränen wären une affectation gewesen. Die Gräfin war so alt geworden, daß ihr Tod niemand mehr überraschen konnte und ihre Verwandten sie schon längst als eine Dahingegangene betrachtet hatten. Ein junger Bischof hielt die Grabrede. In einfachen und zu Herzen gehenden Worten schilderte er das friedliche Hinscheiden der Gerechten, für die so viele Jahre eine stille und ergreifende Vorbereitung auf ihr christliches Ende gewesen seien. „Der Todesengel fand sie“, sagte der Redner, „in guten Gedanken wachend und in Erwartung des mitternächtigen Bräutigams.“ Der Gottesdienst schloß mit trauriger Würde. Die Verwandten nahmen als erste von der Toten Abschied. Dann näherte sich die Vielzahl der Gäste, um sich vor derjenigen zu verneigen, die so 282
lange an ihren eitlen Vergnügungen teilgenommen hatte. Ihnen folgten alle, die zum Hause gehörten. Schließlich trat eine alte Beschließerin heran, eine Altersgenossin der Verstorbenen. Zwei junge Mädchen stützten sie. Sie war zu schwach, um sich bis zur Erde zu verneigen, und sie allein vergoß einige Tränen, als sie die kalte Hand ihrer Herrin küßte. Nach ihr entschloß sich Hermann an den Sarg zu treten. Er verbeugte sich bis zur Erde und lag einige Minuten auf dem kalten, mit Tannenzweigen bedeckten Boden. Schließlich erhob er sich, bleich wie die Tote, trat auf die Stufen des Katafalks und beugte sich vor … In diesem Augenblick schien es ihm, daß ihn die Tote belustigt ansah und dabei ein Auge zukniff. Hermann wich jäh zurück, trat fehl und fiel rücklings auf den Boden. Man hob ihn auf. Zur selben Zeit trug man die ohnmächtige Lisaweta Iwanowna aus der Kirche. Dieser Vorfall störte für einige Augenblicke die Feierlichkeit der düsteren Trauerzeremonie. Unter den Besuchern erhob sich ein dumpfes Gemurmel, und ein hagerer Kammerherr, ein naher Verwandter der Verstorbenen, flüsterte dem neben ihm stehenden Engländer ins Ohr, daß der junge Offizier ihr unehelicher Sohn sei, worauf der Engländer kühl erwiderte: „Oh?“ Den ganzen Tag über war Hermann außerordentlich verstimmt. Er aß in einem abgelegenen Gasthaus zu Mittag und trank gegen seine Gewohnheit sehr viel, in der Hoffnung, seine innere Erregung zu betäuben. Doch der Wein erhitzte seine Einbildungskraft noch mehr. Als er zu Hause angelangt war, warf er sich unausgezogen aufs Bett und schlief fest ein. Er wachte erst in der Nacht auf: Der Mond schien in sein Zimmer. Er sah auf die Uhr, es war drei Viertel drei. Seine Müdigkeit war verflogen, er setzte sich auf das Bett und dachte an das Begräbnis der alten Gräfin. In diesem Augenblick sah jemand von der Straße zu seinem Fenster herein – und trat sofort zurück. Hermann schenkte dem keinerlei Beachtung. Gleich darauf hörte er, wie die Tür im Vorzimmer geöffnet wurde. Hermann glaubte, es sei sein Bursche, der, wie gewöhnlich, betrunken von einem nächtlichen Bummel zurückkehrte. Doch er vernahm einen unbekannten Schritt: Je283
mand nahte, leise mit den Pantoffeln schlurfend. Die Tür öffnete sich, und eine Frau in einem weißen Kleid trat ein. Hermann hielt sie für seine alte Amme und wunderte sich, was sie um diese Stunde zu ihm geführt haben konnte. Doch die weiße Frau glitt näher heran, stand plötzlich vor ihm – und Hermann erkannte die Gräfin. „Ich bin wider meinen Willen zu dir gekommen“, sagte sie mit fester Stimme, „doch mir ist aufgetragen worden, deine Bitte zu erfüllen. Mit der Drei, der Sieben und dem As wirst du hintereinander gewinnen – doch unter der Bedingung, daß du nicht mehr als eine Karte in vierundzwanzig Stunden setzt und danach dein ganzes Leben nicht mehr spielst. Ich vergebe dir meinen Tod unter der Bedingung, daß du meine Pflegetochter Lisaweta Iwanowna heiratest …“ Mit diesen Worten drehte sie sich lautlos um, ging zur Tür und verschwand, mit ihren Pantoffeln schlurfend. Hermann hörte, wie die Tür in der Diele zuschlug, und sah, daß jemand erneut zum Fenster hereinguckte. Lange konnte Hermann nicht zur Besinnung kommen. Er ging in ein anderes Zimmer. Sein Bursche schlief auf dem Fußboden; Hermann konnte ihn nur mit Mühe wecken. Wie gewöhnlich, war der Bursche betrunken: Von ihm war nichts zu erfahren. Die Tür zur Diele war verriegelt. Hermann ging in sein Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und schrieb seine Vision auf. VI „Attendez!“ „Wie können Sie es wagen, zu mir attendez zu sagen?“ „Euer Hochwohlgeboren, ich sagte attendez, mein Herr!“
Zwei fixe Ideen können in der sittlichen Natur ebensowenig nebeneinander existieren, wie zwei Körper in der physischen Welt ein und denselben Platz einnehmen können. Die Drei, die Sieben 284
und das As verdrängten in Hermanns Phantasie bald das Bild der toten Alten. Die Drei, die Sieben und das As gingen ihm nicht aus dem Kopf, und seine Lippen flüsterten ständig diese Namen. Wenn er ein junges Mädchen sah, sagte er: „Wie schlank sie ist! Eine richtige Cœur-Drei.“ Wenn man ihn fragte: „Wie spät ist es?“, so antwortete er: „Fünf Minuten vor der Sieben.“ Jeder dicke Mann erinnerte ihn an ein As. Die Drei, die Sieben und das As verfolgten ihn im Schlaf, wobei sie alle möglichen Formen annahmen: Die Drei blühte üppig wie eine große Blume, die Sieben erschien ihm als ein gotisches Tor und das As als eine Riesenspinne. Alle seine Gedanken waren nur auf das eine gerichtet – das Geheimnis, das ihm so teuer zu stehen gekommen war, sich zunutze zu machen. Er dachte daran, seinen Abschied zu nehmen und zu reisen. Er wollte in den öffentlichen Spielhäusern von Paris der bezauberten Fortuna den Schatz entreißen. Allein der Zufall entledigte ihn aller Sorgen. In Moskau hatte sich eine Gesellschaft reicher Spieler unter dem Vorsitz des berühmten Tschekalinskij gebildet, der sein ganzes Leben beim Kartenspiel zugebracht und einst Millionen gewonnen hatte, wobei er Wechsel gewann und bares Geld verlor. Durch seine langjährige Erfahrung erwarb er sich das Vertrauen seiner Freunde, während sein gastfreundliches Haus, sein ausgezeichneter Koch, seine Liebenswürdigkeit und Fröhlichkeit ihm die Achtung des Publikums gewannen. Er kam nach Petersburg. Die Jugend strömte ihm zu, sie vergaß die Bälle über den Karten und zog die Reize des Pharao den Versuchungen einer Umwerbung vor. Narumow brachte Hermann zu ihm. Sie durchschritten eine Reihe prunkvoller Zimmer, in denen viele höfliche Diener herumstanden. Einige Generäle und Geheimräte spielten Whist; die jungen Leute saßen bequem auf den Samtsofas, aßen Halbgefrorenes und rauchten ihre Pfeifen. Im Gastzimmer saß der Hausherr an einem langen Tisch, um den Sich ungefähr zwanzig Spieler drängten, und hielt die Bank. Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren und sehr würdevollem Äußeren; sein Haupt bedeckte silbernes Haar; sein volles und 285
frisches Gesicht drückte Gutmütigkeit aus; seine Augen glänzten und wurden von einem immerwährenden Lächeln belebt. Narumow stellte ihm Hermann vor. Tschekalinskij drückte ihm freundschaftlich die Hand, bat, sich nicht zu genieren, und fuhr fort, die Bank zu halten. Die Taille dauerte lange. Auf dem Tisch lagen mehr als dreißig Karten. Tschekalinskij hielt nach jedem Wurf inne, um den Spielern Zeit zu geben, ihre Anordnungen zu treffen, schrieb die Verluste auf, hörte höflich auf ihre Forderungen und strich noch höflicher eine überflüssige Ecke glatt, die eine zerstreute Hand eingebogen hatte. Endlich war die Taille beendet. Tschekalinskij mischte die Karten und bereitete sich auf die nächste vor. „Gestatten Sie mir, eine Karte zu setzen“, sagte Hermann und streckte seine Hand hinter einem dicken Herrn hervor, der dort gerade pointierte. Tschekalinskij lächelte und verbeugte sich schweigend zum Zeichen seines ergebenen Einverständnisses. Narumow gratulierte Hermann lachend zur Beendigung seines langjährigen Fastens und wünschte ihm einen glücklichen Anfang. „Bitte!“ sagte Hermann und schrieb mit Kreide eine hohe Summe über seine Karte. „Wieviel?“ fragte der Bankhalter und kniff die Augen zusammen. „Entschuldigen Sie, ich kann es nicht erkennen.“ „Siebenundvierzigtausend“, antwortete Hermann. Bei diesen Worten fuhren alle Köpfe jäh herum, und die Augen aller richteten sich auf Hermann. Er ist wahnsinnig geworden! dachte Narumow. „Gestatten Sie mir zu bemerken“, sagte Tschekalinskij mit unveränderlichem Lächeln, „daß Ihr Spiel sehr hoch ist: Hier hat noch niemand mehr gesetzt als zweihundertfünfundsiebzig simple.“ „Nun und?“ entgegnete Hermann. „Nehmen Sie das Spiel an oder nicht?“ Tschekalinskij verbeugte sich mit derselben Miene ergebenen Einverständnisses. 286
„Ich wollte Sie nur darauf hinweisen“, sagte er, „daß ich, da mich meine Freunde ihres Vertrauens würdigen, nur gegen bares Geld spielen kann. Ich meinerseits bin natürlich überzeugt, daß Ihr Wort genügt, doch um der Ordnung beim Spiel und beim Rechnen willen bitte ich Sie, das Geld auf die Karte zu legen.“ Hermann nahm aus seiner Tasche eine Banknote und reichte sie Tschekalinskij, der sie flüchtig besah und auf die Karte Hermanns legte. Er begann zu spielen. Rechts fiel eine Neun, links eine Drei. „Gewonnen!“ sagte Hermann und zeigte seine Karte. Unter den Spielern erhob sich ein Flüstern. Tschekalinskij zog die Brauen zusammen, doch das Lächeln kehrte sofort auf sein Gesicht zurück. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen das Geld gebe?“ fragte er Hermann. „Seien Sie so freundlich.“ Tschekalinskij zog einige Banknoten aus der Tasche und rechnete mit ihm ab. Hermann nahm sein Geld in Empfang und ging vom Tisch fort. Narumow konnte sich immer noch nicht fassen. Hermann trank ein Glas Limonade und machte sich auf den Heimweg. Am Abend des nächsten Tages erschien er wieder bei Tschekalinskij. Der Hausherr hielt die Bank. Hermann trat an den Tisch heran; die Spieler machten ihm sofort Platz. Tschekalinskij verbeugte sich liebenswürdig vor ihm. Hermann wartete eine neue Taille ab, setzte eine Karte und legte seine Siebenundvierzigtausend und den gestrigen Gewinn darauf. Tschekalinskij begann zu spielen. Der Bube fiel nach rechts, die Sieben nach links. Hermann deckte die Sieben auf. Alle stießen einen Schrei aus. Tschekalinskij war sichtlich betroffen. Er zählte vierundneunzigtausend ab und gab sie Hermann. Hermann nahm sie kaltblütig entgegen und entfernte sich im selben Augenblick. Am folgenden Abend erschien Hermann wieder am Spieltisch. 287
Alle erwarteten ihn. Generäle und Geheimräte verließen ihren Whist, um dieses ungewöhnliche Spiel zu sehen. Die jungen Offiziere sprangen von den Sofas auf, sämtliche Diener versammelten sich in dem Gästezimmer. Alle umringten Hermann. Die übrigen Spieler setzten ihre Karten nicht und warteten voller Ungeduld auf den Ausgang des Spiels. Hermann stand am Tisch und bereitete sich darauf vor, allein gegen den bleichen, doch ständig lächelnden Tschekalinskij zu pointieren. Jeder öffnete ein Kartenspiel. Tschekalinskij mischte. Hermann hob ab, setzte seine Karte und bedeckte sie mit einem Bündel Banknoten. Es sah aus wie ein Zweikampf. Tiefes Schweigen herrschte ringsum. Tschekalinskij begann zu spielen, seine Hände zitterten. Rechts fiel eine Dame, links ein As. „As hat gewonnen!“ sagte Hermann und deckte seine Karte auf. „Ihre Dame ist geschlagen“, sagte Tschekalinskij liebenswürdig. Hermann fuhr auf: In der Tat, statt des Asses lag vor ihm die Pique Dame. Er traute seinen Augen nicht, er verstand nicht, wie er sich hatte irren können. In diesem Augenblick schien ihm, daß die Pique Dame ein Auge zukniff und höhnisch lächelte. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit verblüffte ihn … „Die Alte!“ schrie er voller Entsetzen. Tschekalinskij strich die verlorenen Banknoten ein. Hermann stand unbeweglich da. Als er vom Tisch fortging, erhob sich eine laute Unterhaltung. „Herrlich pointiert hat er!“ sagten die Spieler. Tschekalinskij mischte von neuem die Karten: Das Spiel nahm seinen Fortgang. Epilog Hermann ist wahnsinnig geworden. Er sitzt im Obuchow-Krankenhaus, Zimmer 17, antwortet auf keinerlei Fragen und murmelt ungewöhnlich schnell: Drei, Sieben, As! Drei, Sieben, Dame! … 288
Lisaweta Iwanowna hat einen sehr netten jungen Mann geheiratet; er dient irgendwo und hat ein ordentliches Vermögen: Er ist der Sohn des ehemaligen Verwalters der Gräfin. Bei Lisaweta Iwanowna wird eine arme Verwandte erzogen. Tomskij ist zum Rittmeister befördert worden und heiratete Prinzeß Polina.
Kirdshali Eine Erzählung
Kirdshali war von Geburt Bulgare. Kirdshali heißt in der türkischen Sprache Recke, Draufgänger. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Kirdshali hielt durch seine Raubzüge die ganze Moldau in Schrecken. Um von ihm eine gewisse Vorstellung zu geben, erzähle ich eine seiner Taten. Eines Nachts überfielen er und der Arnaut Michailaki zu zweit ein bulgarisches Dorf. Sie zündeten es von beiden Seiten an und gingen dann von Hütte zu Hütte. Kirdshali machte alles nieder, und Michailaki trug die Beute. Beide schrien: „Kirdshali! Kirdshali!“ Das ganze Dorf lief auseinander. Als Alexander Ypsilanti den Aufstand verkündete und anfing, ein Heer um sich zu sammeln, brachte ihm Kirdshali einige seiner alten Genossen mit. Das wirkliche Ziel der Hetärie war ihnen kaum bekannt, doch der Krieg bot die Möglichkeit, sich auf Kosten der Türken und vielleicht auch der Moldauer zu bereichern – das schien ihnen klar zu sein. Alexander Ypsilanti war persönlich sehr tapfer, doch die Eigenschaften, die jene so hitzig und unbedacht übernommene Rolle verlangte, fehlten ihm. Er verstand es nicht, mit den Leuten umzugehen, die zu befehligen er gezwungen war. Sie hatten weder Achtung vor ihm noch Vertrauen zu ihm. Nach der unglücklichen Schlacht, in der die Blüte der griechischen Jugend ihr Leben ließ, riet ihm Georgakis Olympios, sich zu entfernen und nahm selbst seinen Platz ein. Ypsilanti ritt zu den Grenzen Österreichs und sandte von dort den Leuten, die er ungehorsam, feige und spitzbübisch nannte, seinen Fluch. Diese Feiglinge und Spitzbuben kamen zum größten Teil in den Mauern des Klosters 293
Seku oder an den Ufern des Pruth um, wo sie sich verzweifelt gegen einen zehnmal stärkeren Gegner wehrten. Kirdshali Befand sich in der Abteilung des Georgios Kantakuzenos, von dem man dasselbe, was über Ypsilanti gesagt wurde, wiederholen könnte. Am Vorabend der Schlacht von Sculeni bat Kantakuzenos die russische Obrigkeit um die Erlaubnis, sich in unsere Quarantäne begeben zu dürfen. Die Abteilung blieb ohne Anführer, doch Kirdshali, Saphianos, Kantagonis und andere hielten keinerlei Anführer für notwendig. Die Schlacht bei Sculeni ist, so scheint es, noch von niemandem in ihrer herzergreifenden Wahrheit geschildert worden. Stellen Sie sich siebenhundert Mann, Arnauten, Albaner, Griechen, Bulgaren und allerlei zusammengelaufenes Volk vor, die keine Vorstellung von der Kriegskunst haben und sich vor der fünfzehntausend Mann starken Reiterei der Türken zurückziehen. Diese Abteilung drückte sich an das Ufer des Pruth und stellte vor sich zwei kleine Kanonen auf, die sie in Jassy auf dem Hof des Hospodars gefunden hatten und aus denen man bei Namenstagen während des Festmahles zu schießen pflegte. Die Türken hätten gerne mit Kartätschen geschossen, doch ohne die Erlaubnis der russischen Obrigkeit wagten sie es nicht: Die Kartätschen wären auf jeden Fall auf unser Ufer hinübergeflogen. Der Befehlshaber der Quarantäne (jetzt ist er schon tot) hatte vierzig Jahre beim Militär gedient, ohne jemals das Pfeifen von Kugeln vernommen zu haben, doch nun ließ es das Schicksal ihn hören. Einige von ihnen zischten an seinem Ohr vorbei. Der Alte wurde furchtbar ärgerlich und schimpfte deshalb den Major des Ochotskij-Infanterieregiments aus, der sich bei der Quarantäne befand. Der Major, der nicht wußte, was er tun sollte, lief zum Fluß, auf dessen anderem Ufer sich die berittenen Delibaschen tummelten, und drohte ihnen mit dem Finger. Als die Delibaschen das sahen, machten sie kehrt und sprengten davon und hinter ihnen die ganze türkische Abteilung. Der Major, der mit dem Finger gedroht hatte, hieß Chortschewskij. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Trotz allem attackierten die Türken am nächsten Tag die He294
täristen. Da sie weder Kartätschen noch Kugeln zu verwenden wagten, entschlossen sie sich, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, mit der blanken Waffe vorzugehen. Der Kampf war grausam. Man hieb mit Jataganen aufeinander ein. Auf der türkischen Seite gewahrte man Lanzen, die man bisher bei ihnen noch nicht gesehen hatte; es waren russische Lanzen: Nekrassa-Kosaken kämpften in ihren Reihen. Die Hetäristen durften mit der Erlaubnis unseres Herrschers den Pruth überqueren und sich in unserer Quarantäne verbergen. Sie begannen den Fluß zu überschreiten. Kantagonis und Saphianos waren die letzten auf dem türkischen Ufer. Kirdshali, der am Tag davor verletzt worden war, lag schon in der Quarantäne. Saphianos wurde erschlagen. Kantagonis, ein sehr dicker Mann, wurde von einer Lanze am Bauch verletzt. Mit der einen Hand hob er seinen Säbel, mit der anderen packte er die gegnerische Lanze, stieß sie sich tiefer in den Leib, konnte auf diese Weise mit dem Säbel seinen Mörder erreichen und fiel mit ihm zusammen zu Boden. Alles war zu Ende. Die Türken blieben Sieger. Das Moldaugebiet war gesäubert worden. Ungefähr sechshundert Arnauten zerstreuten sich über Bessarabien; obgleich sie nicht wußten, wie sie sich ernähren sollten, waren sie Rußland für den Schutz dankbar. Sie führten ein faules, doch kein liederliches Leben. Man konnte sie immer mit langen Pfeifen im Mund in den Kaffeestuben des halb türkischen Bessarabien sehen, wie sie Mokka aus kleinen Tassen schlürften. Ihre bestickten Jacken und ihre roten Schnabelschuhe waren schon nicht mehr die neuesten, doch die violetten Mützen mit der Troddel saßen nach wie vor schief auf ihren Köpfen, und die Jatagane und die Pistolen ragten aus den breiten Gürteln. Niemand beklagte sich über sie. Man konnte unmöglich auf den Gedanken kommen, daß diese friedlichen armen Menschen die berüchtigtsten Räuber der Moldau waren, die Genossen des gefürchteten Kirdshali, und daß er selbst unter ihnen weilte. Der Pascha, der in Jassy die Befehlsgewalt hatte, erfuhr davon und verlangte auf Grund der Friedensverträge von der russischen Obrigkeit, daß sie ihn ausliefere. 295
Die Polizei begann zu suchen. Sie stellte fest, daß sich Kirdshali tatsächlich in Kischinjow befand. Sie fingen ihn abends im Hause eines flüchtigen Mönchs, als er mit sieben Genossen im Dunkeln saß und sein Abendbrot verzehrte. Kirdshali wurde unter Bewachung gestellt. Er verbarg nicht die Wahrheit und gestand, daß er Kirdshali sei. „Doch“, so fügte er hinzu, „von der Zeit an, wo ich über den Pruth gegangen bin, habe ich fremdes Gut nicht einmal angerührt, niemandem, selbst dem letzten Zigeuner nicht, ein Leid zugefügt. Für die Türken, die Moldauer und die Walachen bin ich natürlich ein Räuber, doch für die Russen bin ich ein Gast. Als Saphianos alle seine Kugeln verschossen hatte, kam er zu uns in die Quarantäne und sammelte von den Verwundeten als letzte Munition Knöpfe, Nägel, Ketten und Steine von den Griffen der Jatagane ein, ich habe ihm zwanzig Beschlyks gegeben und hatte danach keinerlei Geld mehr. Gott weiß, daß ich, Kirdshali, von milden Gaben gelebt habe! Weshalb wollen mich jetzt die Russen meinen Feinden ausliefern?“ Darauf schwieg Kirdshali und erwartete ruhig sein Schicksal. Er mußte nicht lange warten. Die Obrigkeit, nicht verpflichtet, die Räuber von deren romantischen Seite zu sehen und von der Gerechtigkeit der Forderung überzeugt, ordnete an, Kirdshali nach Jassy zu schicken. Ein Mann von Herz und Verstand, damals noch ein unbekannter junger Beamter, der jetzt einen wichtigen Posten bekleidet, hat mir seine Abfahrt lebendig geschildert. Am Gefängnistor stand eine Postkaruza … (Vielleicht wissen Sie nicht, was eine Karuza ist. Das ist ein niedriger geflochtener Wagen, vor den bis vor kurzem noch gewöhnlich sechs oder acht Mähren gespannt wurden. Ein schnurrbärtiger Moldauer mit einer Schaffellmütze saß auf einer von ihnen, schrie andauernd, knallte mit der Peitsche, und seine Klepper liefen in recht schnellem Trab. Wenn einer von ihnen zurückzubleiben begann, so spannte er ihn unter den entsetzlichsten Verwünschungen aus und ließ ihn am Wege stehen, ohne sich um sein Schicksal zu kümmern. Er war sicher, ihn auf dem Rückweg an derselben 296
Stelle, ruhig in der grünen Steppe grasend, zu finden. Nicht selten kam es vor, daß der Reisende, der mit acht Pferden von einer Poststation losgefahren war, an der nächsten mit nur einem Paar ankam. So war es vor ungefähr fünfzehn Jahren. Heute hat man in dem russifizierten Bessarabien das russische Gespann und den russischen Wagen übernommen.) Solch eine Karuza stand 1821 an einem der letzten Septembertage vor dem Gefängnistor. Jüdinnen mit herabhängenden Ärmeln und schlurfenden Pantoffeln, Arnauten in ihrer zerlumpten und malerischen Tracht und stattliche Moldauerinnen mit schwarzäugigen Kindern auf den Armen umringten die Karuza. Die Männer schwiegen, die Frauen warteten voller Erregung auf etwas. Das Tor öffnete sich, und mehrere Polizeioffiziere traten auf die Straße; hinter ihnen führten zwei Soldaten den mit Ketten gefesselten Kirdshali. Er schien ungefähr dreißig Jahre alt zu sein. Die Züge seines braunen Gesichts waren regelmäßig und streng. Er war groß von Wuchs und breitschultrig, überhaupt sprach alles an ihm von einer ungewöhnlichen physischen Kraft. Der bunte Turban saß ihm schräg auf dem Kopf, und ein breiter Gürtel umspannte seine schlanken Hüften, ein Dolman aus dickem blauem Tuch, ein Hemd, das in breiten Falten bis zum Knie fiel, und schöne Pantoffeln stellten den Rest seiner Kleidung dar. Sein Aussehen war stolz und ruhig. Einer der Beamten, ein rotgesichtiges altes Männchen in verblaßter Uniform, an der drei Knöpfe hingen, klemmte sich eine in Blei gefaßte Brille auf den purpurnen Zapfen, den er an Stelle der Nase besaß, faltete ein Papier auseinander und begann näselnd in moldauischer Sprache etwas vorzulesen. Von Zeit zu Zeit warf er einen hochmütigen Blick auf Kirdshali, der in Ketten geschmiedet war, und auf den sich anscheinend das Papier bezog. Kirdshali hörte ihm aufmerksam zu. Der Beamte war zu Ende mit dem Vorlesen, faltete das Papier zusammen, schrie drohend das Volk an, befahl ihm, Platz zu machen – und ließ die Karuza vorfahren. Da wandte sich Kirdshali an ihn und sagte 297
ihm einige Worte in moldauischer Sprache; seine Stimme zitterte, das Gesicht veränderte sich; er brach in Tränen aus und warf sich, mit den Ketten klirrend, dem Polizeibeamten zu Füßen. Der Polizeibeamte erschrak und sprang zur Seite; die Soldaten wollten Kirdshali aufrichten, doch er stand selbst auf, nahm seine Ketten hoch, schritt zur Karuza und schrie: Gaida! Der Gendarm setzte sich neben ihn, der Moldauer knallte mit der Peitsche, und die Karuza fuhr los. „Was hat Ihnen Kirdshali da gesagt?“ fragte der junge Beamte den Polizisten. „Er, müssen Sie wissen, hat mich gebeten“, antwortete lachend der Polizist, „daß ich mich um seine Frau und sein Kind kümmern soll, die nicht weit von Kilija in einem bulgarischen Dorf leben. Er fürchtet, daß auch sie seinetwegen zu leiden hätten. Ein dummes Volk.“ Die Erzählung des jungen Beamten hat mich tief bewegt. Ich hatte mit dem armen Kidshali Mitleid. Lange wußte ich nichts von seinem Schicksal. Einige Jahre darauf traf ich wieder mit dem jungen Beamten zusammen. Wir sprachen von der Vergangenheit. „Und was macht Ihr Freund Kirdshali?“ fragte ich. „Wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist?“ „Wie soll ich das nicht wissen“, antwortete er und erzählte mir folgendes: Als Kirdshali in Jassy angekommen war, wurde er vor den Pascha gebracht, und der verurteilte ihn zum Pfählen. Die Hinrichtung wurde auf irgendeinen Feiertag verschoben. Vorläufig sperrten sie ihn in das Gefängnis ein. Den Gefangenen bewachten sieben Türken (einfache Menschen und im Innern ebensolche Räuber wie Kirdshali); sie achteten ihn und lauschten mit einer Begierde, die dem ganzen Osten eigen ist, seinen wunderbaren Erzählungen. Zwischen dem Häftling und den Wächtern entwickelten sich enge Beziehungen. Eines Tages sagte Kirdshali zu ihnen: „Brüder! Meine Stunde hat geschlagen. Niemand entgeht seinem Schicksal. Bald muß ich mich von euch trennen. Ich möchte euch gerne etwas zum Andenken hinterlassen.“ 298
Die Türken spitzten die Ohren. „Brüder“, fuhr Kirdshali fort, „vor drei Jahren, als ich zusammen mit dem seligen Michailaki Raubzüge unternahm, haben wir in der Steppe, nicht weit von Jassy, einen Topf mit Galbinen vergraben. Es scheint so, daß weder er noch ich diesen Schatz besitzen soll. So möge es denn sein: Nehmt ihn an euch und teilt ihn friedlich untereinander.“ Die Türken verloren fast den Verstand. Sie fingen an zu beraten, wie sie den geheimen Platz ausfindig machen könnten. Sie überlegten hin und her und beschlossen, daß Kirdshali selbst sie hinführen müsse. Es wurde Nacht. Die Türken nahmen dem Gefangenen die Ketten von den Füßen, fesselten ihm die Hände mit einem Strick und zogen mit ihm aus der Stadt hinaus in die Steppe. Kirdshali führte sie von einem Hünengrab zum anderen, wobei er ein und dieselbe Richtung beibehielt. Lange gingen sie so. Schließlich blieb Kirdshali neben einem breiten Stein stehen, maß zwanzig Schritte gegen Mittag ab, stieß mit dem Fuß auf und sagte: „Hier.“ Die Türken machten sich an die Arbeit. Vier zogen ihre Jatagane und begannen in der Erde zu graben. Drei verblieben als Wache. Kirdshali setzte sich auf den Stein und sah ihnen bei der Arbeit zu. „Nun, was ist? Seid ihr bald soweit?“ fragte er. „Habt ihr ihn gefunden?“ „Noch nicht“, antworteten die Türken und arbeiteten, daß der Schweiß in Strömen floß. Kirdshali wurde ungeduldig. „So ein Volk“, sagte er, „nicht einmal graben können sie, wie es sich gehört. Bei mir wäre die ganze Sache in zwei Minuten erledigt. Kinder! Macht mir die Hände frei, gebt mir einen Jatagan.“ Die Türken wurden nachdenklich und berieten miteinander. „Was ist schon dabei?“ so beschlossen sie. „Machen wir ihm die Hände frei, geben wir ihm einen Jatagan. Was kann schon passieren? Er ist allein, wir sind zu siebt.“ – Und die Türken 299
nahmen ihm die Fesseln von den Händen und gaben ihm einen Jatagan. Endlich war Kirdshali frei und bewaffnet. Was mußte in ihm vorgehen! … Er begann eifrig zu graben, die Wächter halfen ihm … Plötzlich stieß er in einen von ihnen seinen Jatagan, ließ den Dolch in der Brust stecken und zog ihm zwei Pistolen aus seinem Gürtel. Als die übrigen sechs Kirdshali mit zwei Pistolen bewaffnet sahen, liefen sie davon. Kirdshali treibt sein Unwesen jetzt in der Nähe von Jassy. Vor kurzem schrieb er dem Hospodar, verlangte von ihm fünftausend Lewa und drohte, falls die Zahlung nicht richtig erfolge, Jassy anzuzünden und sich den Hospodar selbst vorzunehmen. Die fünftausend Lewa wurden ihm zugesandt. Wie findet ihr Kirdshali?
Ägyptische Nächte
Erstes Kapitel
„Quel est cet homme?“ „Ha, c’est un bien grand talent, il fait de sa voix tout ce qu’il veut.“ „Il devrait bien, madame, s’en faire une culotte.“
Tscharskij war geborener Petersburger. Er war noch nicht dreißig Jahre alt und unverheiratet; er brauchte auch nicht die Last des Staatsdienstes zu tragen. Sein verstorbener Onkel, der zu einer günstigen Zeit Vizegouverneur gewesen war, hatte ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Sein Leben hätte sehr angenehm sein können, aber er schrieb unglücklicherweise Verse und ließ sie auch drucken. In den Journalen nannte man ihn einen Dichter und in den Lakaienstuben – einen Versemacher. Trotz aller großen Vorrechte, die die Dichter genießen (außer dem Rechte, nach gewissen Partikeln den Akkusativ statt des Genitivs zu setzen, und noch einigen anderen sogenannten poetischen Freiheiten sind uns, offen gestanden, keinerlei besondere Vorrechte, die die russischen Dichter genossen, bekannt); wie dem auch sei, trotz aller möglichen Vorrechte, sind diese Leute großen Nachteilen und Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Das bitterste und unerträglichste Unglück eines Dichters ist sein Name und Stand, mit dem er gestempelt ist, und den er niemals los wird. Das Publikum betrachtet ihn als sein Eigentum; es glaubt, daß er zum Nutzen und Vergnügen des Publikums geboren sei. Kehrt er vom Landaufenthalte zurück, so fragt ihn gleich der erste beste, der ihm begegnet: „Haben Sie uns nicht etwas Neues mitgebracht?“ Wird er über seine zerrütteten Vermögensumstände oder über die Krankheit eines ihm lieben Menschen nachdenklich, so begleitet sofort ein abgeschmacktes Lächeln den 303
abgeschmackten Ausruf: „Sie dichten wohl eben etwas?“ Ist er verliebt, so kauft sich seine Schöne im Englischen Magazin ein Album und erwartet eine Elegie. Kommt er zu einem Menschen, den er gar nicht kennt, um über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen, so ruft jener gleich sein Söhnchen herbei und veranlaßt es, die Verse des betreffenden Dichters zu rezitieren, und der Bengel traktiert den Dichter mit dessen eigenen verstümmelten Gedichten. Das sind aber noch die Freuden dieses Handwerks! Wie müssen erst seine Schattenseiten sein! Tscharskij sagte, daß alle die Begrüßungen, Anfragen, Albums und Bengel ihn auf die Dauer so langweilten, daß er sich jeden Augenblick zusammennehmen müsse, um nicht grob zu werden. Tscharskij wandte jede erdenkliche Mühe auf, um von sich die ihm unerträgliche Standesbezeichnung abzuschütteln. Er mied die Gesellschaft seiner Kollegen, der Literaten, und zog ihnen selbst die hohlsten Salonmenschen vor. Er sprach immer von den abgeschmacktesten Dingen und berührte niemals die Literatur. In seiner Kleidung beobachtete er immer die letzte Mode mit der abergläubischen Scheu eines jungen Moskauers, der zum erstenmal in seinem Leben nach Petersburg gekommen ist. In seinem Kabinett, das wie ein Damenschlafzimmer aufgeputzt war, erinnerte nichts an einen Dichter; die Bücher lagen nicht auf den Tischen und unter den Tischen herum; das Sofa war nicht mit Tinte bespritzt; es war nichts von jener Unordnung zu sehen, die von der Anwesenheit der Muse und von der Abwesenheit einer Bürste und eines Besens zeugt. Tscharskij geriet in Verzweiflung, sooft er von einem seiner Freunde aus der großen Welt mit der Feder in der Hand überrascht wurde. Es ist kaum zu glauben, was für Dummheiten dieser, im übrigen begabte und seelenvolle Mensch nicht alles trieb. Er gab sich bald als leidenschaftlicher Pferdeliebhaber, bald als enragierter Spieler, bald als raffinierter Gastronom, obwohl er niemals ein Gebirgspferd von einem Araber zu unterscheiden vermochte, sich niemals die Trümpfe merken konnte und im geheimen gebackene Kartoffeln allen Erfindungen der französischen Küche vorzog. Er führte ein höchst zerstreutes Leben, wohnte allen Bällen bei, überaß sich bei 304
allen diplomatischen Diners und war bei jeder Soiree ebenso unvermeidlich wie das Resanowsche Gefrorene. Er war aber dennoch Dichter, und seine Leidenschaft war unüberwindlich. Wenn dieses Übel (so nannte Tscharskij die Inspiration) über ihn kam, schloß er sich in seinem Kabinett ein und schrieb vom Morgen bis in die späte Nacht. Seinen aufrichtigen Freunden gestand er, daß er nur in solchen Stunden das wahre Glück genieße. Die übrige Zeit ging er mit hochmütiger Miene spazieren, jeden Augenblick gewärtig, die berühmte Frage zu hören: „Haben Sie nicht etwas Neues geschrieben?“ Eines Morgens fühlte sich Tscharskij in jener segensreichen Geistesverfassung, bei der die Visionen deutlicher vor uns treten und wir lebendige, unerwartete Worte für sie finden, wo die Verse sich unserer Feder fügen und die klangvollen Reime den wohlgebildeten Gedanken entgegeneilen. Tscharskij war mit ganzer Seele in ein wonniges Vergessen versunken – und die große Welt mit ihren Ansichten und seine eigenen Launen existierten für ihn nicht mehr. Er dichtete. Plötzlich knarrte die Tür des Kabinetts, und ein Unbekannter steckte seinen Kopf herein. Tscharskij fuhr zusammen und runzelte die Stirn. „Wer ist da?“ fragte er geärgert und innerlich die Diener verfluchend, die sich niemals im Vorzimmer befanden. Der Unbekannte trat ein. Er war hoch gewachsen, hager und schien an die dreißig Jahre alt. Die Züge seines dunkeln Gesichtes waren ausdrucksvoll: Die blasse, hohe, von schwarzen Locken beschattete Stirn, die schwarzen, funkelnden Augen, die Adlernase und der dichte Vollbart, der seine eingefallenen gelblich-dunkeln Wangen umrahmte, wiesen auf einen Ausländer hin. Er trug einen schwarzen, an den Nähten abgewetzten Frack und eine Sommerhose (obwohl es schon Spätherbst war); unter der abgeriebenen schwarzen Halsbinde funkelte auf dem gelblichen Vorhemde ein künstlicher Brillant; der rauhe Hut hatte wohl schon jedes gute und böse Wetter kennengelernt. Wenn man diesem Menschen in einem Walde begegnete, so würde man ihn für einen Räuber halten; 305
in der Gesellschaft – für einen politischen Verschwörer; in einem Vorzimmer – für einen Scharlatan, der mit Elixieren und Arsenik handelt. „Was wünschen Sie?“ fragte ihn Tscharskij auf französisch. „Signore“, antwortete der Fremde unter tiefen Verbeugungen. „Lei voglia perdonarmi se …“ Tscharskij bot ihm keinen Stuhl an und stand selbst auf; das Gespräch wurde auf italienisch fortgesetzt. „Ich bin ein Künstler aus Neapel“, sagte der Fremde. „Die Umstände zwangen mich, mein Vaterland zu verlassen; ich kam nach Rußland im Vertrauen auf mein Talent.“ Tscharskij glaubte, der Italiener wolle einige Cellokonzerte geben und vertreibe die Billette von Haus zu Haus. Er wollte ihm schon seine fünfundzwanzig Rubel einhändigen, um ihn so rasch wie möglich loszuwerden, aber der Fremde fuhr fort: „Ich hoffe, Signore, Sie werden einem Kollegen den Freundschaftsdienst erweisen und ihn in die Gesellschaft einführen, in die Sie selbst Zutritt haben.“ Es wäre unmöglich, dem Ehrgeiz Tscharskijs einen empfindlicheren Stich zu versetzen. Er blickte den Menschen, der sich sein Kollege nannte, hochmütig an. „Gestatten Sie die Frage: Wer sind Sie und für wen halten Sie mich?“ fragte er, seine Empörung nur mit Mühe zurückhaltend. Der Neapolitaner sah seinen Ärger. „Signore“, antwortete er stockend, „ho creduto … ho sentito … la Vostra Eccellenza mi perdonera …“ „Was wünschen Sie?” wiederholte Tscharskij trocken. „Ich habe viel von Ihrem wunderbaren Talent gehört; ich bin überzeugt, daß die hiesigen Herrschaften es sich als Ehre anrechnen, einem so ausgezeichneten Dichter jede mögliche Protektion zu erweisen”, antwortete der Italiener. „Und darum wagte ich, zu Ihnen zu kommen …“ „Sie irren, Signore“, unterbrach ihn Tscharskij. „Den Dichterberuf gibt es bei uns nicht. Unsere Dichter genießen keine Protektion von großen Herren; unsere Dichter sind selbst Herren, 306
und wenn es unsere Mäzene (hol sie der Teufel!) nicht wissen, so ist es um so schlimmer für sie. Es gibt bei uns keine zerlumpten Abbès, die sich der Musiker von der Straße holt, damit sie ihm ein Libretto verfassen. Unsere Dichter gehen nicht zu Fuß von Haus zu Haus, um um Unterstützung zu betteln. Übrigens hat man es Ihnen wohl nur zum Spaß gesagt, daß ich ein großer Dichter sei. Ich habe allerdings irgendwann einmal einige schlechte Epigramme geschrieben; aber mit den Herren Dichtern habe ich, Gott sei Dank, nichts gemein und will mit ihnen auch nichts zu tun haben. Der arme Italiener wurde verlegen. Er sah sich um. Die Bilder, Marmorstatuen, Bronzen und die teuren Bibelots auf den gotischen Etageren setzten ihn in Erstaunen. Er begriff, daß zwischen dem hochmütigen Dandy, der vor ihm in einem Käppchen aus Goldbrokat, einem goldgelben, mit einem türkischen Schal umgürteten chinesischen Schlafrock stand, und ihm, dem armen herumziehenden Künstler mit der abgeriebenen Halsbinde und dem abgetragenen Frack nichts gemein sein konnte. Er stammelte einige unverständliche Entschuldigungen, verbeugte sich und wollte gehen. Sein elendes Aussehen rührte Tscharskij, der bei allen kleinlichen Zügen seines Charakters ein gutes und edles Herz hatte. Er schämte sich der Empfindlichkeit seines Ehrgeizes. „Wo wollen Sie denn hin?“ sprach er zum Italiener. „Warten Sie … Ich mußte den unverdienten Titel zurückweisen und Ihnen erklären, daß ich kein Dichter bin. Jetzt wollen wir von Ihren Geschäften reden. Ich will Ihnen jeden Dienst erweisen, den ich nur kann. Sind Sie Musiker?“ „Nein, Eccellenza!“ antwortete der Italiener. „Ich bin ein armer Improvisator.“ „Ein Improvisator!“ rief Tscharskij, dem die ganze Härte seines Benehmens zum Bewußtsein kam. „Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, daß Sie ein Improvisator sind?“ Und Tscharskij drückte ihm mit aufrichtiger Reue die Hand. Seine freundliche Miene ermunterte den Italiener. Dieser erzählte nun zutraulich von seinen Absichten. Sein Aussehen war nicht trügerisch. Er brauchte Geld und hoffte seine Verhältnisse 307
in Rußland bessern zu können. Tscharskij hörte ihn aufmerksam an. „Ich hoffe“, sagte er dem armen Künstler, „daß Sie Erfolg haben werden: Die hiesige Gesellschaft hat noch nie einen Improvisator gehört. Die Neugier wird erregt sein. Die italienische Sprache ist bei uns allerdings nicht im Gebrauch: Man wird Sie nicht verstehen, aber das tut nichts. Die Hauptsache ist, daß Sie in Mode kommen.“ „Wenn bei Ihnen niemand Italienisch versteht“, erwiderte der Improvisator nachdenklich, „wer wird dann kommen, um mich zu hören?“ „Die Leute wenden schon kommen, haben Sie keine Sorge: die einen aus Neugier, die andern – um irgendwie den Abend totzuschlagen, die dritten – um zu zeigen, daß sie Italienisch verstehen; ich wiederhole: wichtig ist nur, daß Sie in Mode kommen; und ich gebe Ihnen meine Hand drauf, daß dies geschehen wird.“ Tscharskij verabschiedete sich freundlich vom Improvisator, ließ sich seine Adresse geben und fuhr noch am gleichen Abend aus, um sich für ihn zu verwenden.
Zweites Kapitel
Ich Zar, ich Knecht, ich Wurm, ich Gott. Dershawin
Am nächsten Tage fand Tscharskij im dunkeln und schmutzigen Wirtshauskorridor das Zimmer Nr. 35. Er blieb vor der Tür stehen und klopfte an. Der Italiener von gestern ließ ihn eintreten. „Sieg!“ sagte ihm Tscharskij: „Ihre Sache ist gemacht. Die Fürstin *** stellt Ihnen ihren Saal zur Verfügung; bei der gestrigen Soiree habe ich halb Petersburg gewonnen; lassen Sie die Billette und Anzeigen drucken. Ich garantiere Ihnen, wenn nicht einen Triumph, so doch mindestens eine große Einnahme …“ „Und das ist die Hauptsache!“ rief der Italiener, seine Freude durch lebhafte Gebärden, wie sie einem Südländer eigen sind, ausdrückend. „Ich wußte ja, daß Sie mir helfen würden. Corpo di Bacco! Sie sind Dichter wie ich; man kann sagen, was man will, aber die Dichter sind Prachtmenschen! Wie soll ich Ihnen danken? Warten Sie … wollen Sie eine Improvisation hören?“ „Eine Improvisation! … Können Sie denn ohne Publikum, ohne Musik, ohne brausenden Applaus improvisieren?“ „Unsinn, Unsinn! Wo finde ich ein besseres Publikum? Sie sind Dichter: Sie werden mich besser als alle verstehen, und Ihre unauffällige Aufmunterung ist mir wertvoller als ein ganzer Sturm von Applaus … Setzen Sie sich irgendwo hin und geben Sie mir ein Thema.“ Tscharskij setzte sich auf einen Koffer (von den beiden Stühlen, die sich in dem engen und niedrigen Stübchen befanden, war der eine zerbrochen und der andere mit einem Haufen von Papieren und Wäsche belegt). Der Improvisator nahm von der 309
Wand eine Gitarre, stellte sich vor Tscharskij hin und probte, in Erwartung seines Auftrages, mit den knochigen Fingern die Saiten. „Hier haben Sie ein Thema“, sagte ihm Tscharskij: „Der Dichter wählt sich selbst den Gegenstand für sein Gedicht; die Menge hat nicht das Recht, über seine Inspiration zu befehlen.“ Die Augen des Italieners funkelten; er nahm einige Akkorde, hob stolz den Kopf, und feurige Verse – der Ausdruck seiner augenblicklichen Gefühle – kamen in vollendeter Anmut von seine Lippen … Da sind sie, von einem unserer Freunde frei nach den Worten wiedergegeben, die Tscharskij im Gedächtnis behalten hat. Der Dichter geht, die Augen offen, Doch sieht er niemand um sich her; Da ist er plötzlich recht betroffen: Am Ärmel zupft ihn irgendwer … „Sag, wann hast du ein Ziel gefunden? Sobald die Höhe du erreichst, Senkst deinen Blick sogleich nach unten, Bestrebt, daß du herniedersteigst. Die edle Welt schaust du mit Bangen; Fruchtloses Fieber quält dich heiß; Das Nichtige nimmt dich gefangen, Beunruhigt dich minutenweis. Ein Genius muß zum Himmel streben, Der wahre Dichter hat die Pflicht, Erhabenem Gestalt zu geben Durch sein begeisterndes Gedicht.“ Warum tobt Sturm in engen Schluchten Und wirbelt Laub und Staub umher, Wenn Schiffe gierig Winde suchten Im unbewegten, starren Meer? Warum stürzt sich der wilde Adler Vom steilen Turm, vom Bergeslager Auf dürren Baumstumpf? Frage ihn! 310
Warum liebt Desdemona kühn Und ohne Schranken ihren Mohren, So wie der Mond das Dunkel liebt? Weil es für Herzen Zwang nicht gibt, Weil Sturm und Adler frei geboren. Der Dichter greift, dem Sturmwind gleich, Das Schwerste auf und trägt es leicht – Der Dichter fragt nicht andere Seelen, Er fliegt als Adler, frei und wild, Er kann wie Desdemona wählen Für sich sein eignes Götzenbild. Der Italiener verstummte … Tscharskij schwieg gerührt und erstaunt. „Nun?“ fragte der Improvisator. Tscharskij ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. „Wie war es?“ fragte der Improvisator. „Wunderbar!“ antwortete der Dichter: „Wie seltsam! Kaum schlug der fremde Gedanke an Ihr Ohr, so wurde er sofort zu Ihrem Eigentum, als hätten Sie ihn schon lange gehegt, herumgetragen und weitergeführt. Sie kennen also weder Mühe noch Abkühlung, noch die Unruhe, die der Begeisterung immer vorangeht? Wunderbar, wunderbar! …“ Der Improvisator antwortete: „Jedes Talent ist unerklärlich. Wie sieht der Bildhauer in einem Stück Carrara-Marmor den darin verborgenen Jupiter und bringt ihn mittels Hammer und Meißel, die harte Hülle sprengend, ans Licht? Warum verläßt der Gedanke den Kopf des Dichters, schon mit vier Reimen bewaffnet, in gleichmäßige, schlanke Versfüße geteilt? Niemand außer dem Improvisator selbst kann diese Schnelligkeit der Eindrücke begreifen, diesen innigen Zusammenhang zwischen der eigenen Inspiration und dem fremden, äußeren Willen; vergeblich wollte ich es selbst zu erklären versuchen. Aber … ich muß an mein erstes Auftreten denken. Was meinen Sie? Wieviel darf ich wohl für ein Billett verlangen, daß es dem Publikum nicht zu teuer sei, ich aber keinen Schaden habe? Man sagt, la signora 311
Catalani hätte fünfundzwanzig Rubel verlangt. Das ist ein schöner Preis …“ Tscharskij war es unangenehm, aus poetischen Höhen plötzlich unter die Bank eines Handelsangestellten zu stürzen, er begriff aber wohl die Nöte des Lebens und ließ sich mit dem Italiener in merkantile Berechnungen ein. Der Italiener zeigte dabei eine so wilde Habgier, eine so einfältige Gewinnsucht, daß er Tscharskij zuwider wurde, und dieser beeilte sich, ihn zu verlassen, um das Entzücken über die glänzende Improvisation nicht ganz einzubüßen. Der um den Profit besorgte Italiener merkte diese Veränderung nicht und begleitete Tscharskij durch den Korridor und die Treppe hinunter unter tiefen Bücklingen und Versicherungen seiner ewigen Dankbarkeit.
Drittes Kapitel
Eintritt 10 Rubel; Beginn um 7 Uhr abends. Konzertanzeige
Der Saal der Fürstin *** war dem Improvisator zur Verfügung gestellt worden; ein Podium war errichtet; die Stühle standen in zwölf Reihen. Am festgesetzten Tag war der Saal schon um 7 Uhr abends erleuchtet; vor dem Tischchen am Eingang, an dem die Billette verkauft und abgenommen wurden, saß eine alte Frau mit langer Nase, in einem grauen Hut mit zerbrochenen Federn und mit Ringen an allen Fingern. Vor der Einfahrt standen Gendarmen. Das Publikum versammelte sich allmählich. Tscharskij kam als einer der ersten. Er nahm großen Anteil am Erfolg der Vorstellung und wollte den Improvisator sehen, um zu erfahren, ob er mit allem zufrieden sei. Er fand den Italiener in einem Nebenzimmer, ungeduldig auf die Uhr sehend. Der Italiener hatte sich wie ein Schauspieler kostümiert. Er war vom Kopf bis zu den Füßen schwarz gekleidet; der Spitzenkragen seines Hemdes stand offen; der bloße Hals stach in seiner seltsamen Weiße grell vom dichten schwarzen Vollbart ab; die in Locken herabfallenden Haare beschatteten Stirn und Brauen. Dies alles mißfiel Tscharskij, dem es unangenehm war, einen Dichter in der Kleidung eines umherziehenden Gauklers zu sehen. Nach einem kurzen Gespräch kehrte er in den Saal zurück, der sich immer mehr füllte. Bald waren alle Stuhlreihen von Damen in glänzenden Toiletten besetzt; die Herren bildeten einen engen Rahmen um das Podium, längs der Wände und hinter der letzten Stuhlreihe; die Musiker hatten sich mit ihren Pulten zu beiden Seiten des Podiums gruppiert. 313
In der Mitte stand ein Tisch mit einer Porzellanvase; das Publikum war zahlreich. Alle warteten mit Ungeduld auf den Beginn; endlich um halb acht gerieten die Musiker in Bewegung, erhoben ihre Bögen und stimmten die Ouvertüre zum „Tankred“ an. Alle setzten sich und verstummten. Die letzten Töne der Ouvertüre verhallten … Der Improvisator näherte sich, von lautem Applaus aus allen Richtungen begrüßt, unter tiefen Verbeugungen dem Rande des Podiums. Tscharskij wartete voller Unruhe auf den Eindruck dieses ersten Augenblicks; aber er merkte, daß der Aufzug des Italieners, der ihm so unziemlich erschienen war, auf das Publikum diesen Eindruck nicht machte; auch Tscharskij selbst konnte am Italiener nichts Lächerliches finden, als er ihn mit seinem blassen, von den vielen Lampen und Kerzen grell beleuchteten Gesicht auf dem Podium erblickte. Der Applaus verhallte, alle Gespräche verstummten … Der Italiener ersuchte die verehrten Anwesenden in schlechtem Französisch, einige Themen zu bestimmen und diese auf gesonderte Zettel zu schreiben. Bei dieser unerwarteten Aufforderung wechselten alle erstaunte Blicke, aber niemand meldete sich. Der Italiener wartete eine Weile und wiederholte seine Bitte mit schüchterner, demütiger Miene. Tscharskij stand ganz dicht vor dem Podium; eine Unruhe bemächtigte sich seiner; er sah, daß die Sache ohne seine Beihilfe nicht vorwärtskommen würde und daß er selbst ein Thema angeben müsse. Und in der Tat: einige Damen wandten sich an ihn und riefen ihn erst leise, dann immer lauter. Als der Improvisator Tscharskijs Namen hörte, suchte er ihn mit einem Blick zu seinen Füßen auf und reichte ihm mit freundschaftlichem Lächeln einen Bleistift und ein Stück Papier. Es war Tscharskij sehr unangenehm, eine Rolle in dieser Komödie spielen zu müssen; es war aber nichts zu machen; er nahm Bleistift und Papier aus der Hand des Italieners und schrieb einige Worte auf; der Italiener nahm die Vase vom Tisch, stieg vom Podium und ging auf Tscharskij zu, der seinen Zettel in die Vase warf. Sein Beispiel wirkte auf die andern; zwei Journalisten hielten sich als Literaten für verpflichtet, je ein Thema aufzuschreiben; ein Sekretär 314
von der Neapolitanischen Gesandtschaft und ein junger Mann, der eben von einer Reise zurückgekehrt war und noch von Florenz träumte, legten ihre zusammengerollten Zettel in die Urne. Schließlich schrieb ein unschönes junges Mädchen auf Befehl ihrer Mutter, mit Tränen in den Augen einige Zeilen auf italienisch und reichte den Zettel, bis über die Ohren errötend, dem Improvisator, während die andern Damen sie schweigend, mit kaum merklichem Lächeln musterten. Auf das Podium zurückgekehrt, stellte der Improvisator die Urne auf den Tisch und begann die Zettel einen nach dem andern herauszunehmen und laut vorzulesen: „Die Familie der Cenci. (La famiglia dei Cenci.) L’ ultimo giorno di Pompei. Cleopatra e i suoi amanti. La primavera veduta da una prigione. Il trionfo di Tasso. Was befiehlt das verehrte Publikum?” fragte der Italiener bescheiden: „Will es mir eines der vorgeschlagenen Themen selbst bestimmen oder das Los entscheiden lassen? …” „Das Los!” rief eine Stimme aus der Menge. „Das Los, das Los!“ wiederholte das Publikum. Der Improvisator stieg wieder mit der Urne in der Hand vom Podium herunter und fragte: „Wer möchte die Güte haben, das Thema zu ziehen?“ Und er ließ seinen flehenden Blick längs der ersten Stuhlreihen schweifen. Aber keine der glänzenden Damen, die in den ersten Reihen saßen, rührte sich. Der Improvisator, der die nordische Gleichgültigkeit nicht gewohnt war, schien schmerzlich berührt … Plötzlich bemerkte er etwas abseits ein erhobenes Händchen im weißen Handschuh; behend wandte er sich um und ging auf die junge majestätische Schöne zu, die am Rande der zweiten Reihe saß. Sie erhob sich ohne jede Verlegenheit, steckte ihre aristokratische Hand mit der einfachsten Gebärde in die Urne und holte einen zusammengerollten Zettel heraus. 315
„Wollen Sie ihn entfalten und vorlesen“, sagte ihr der Improvisator. Die Schöne entrollte den Zettel und las: „Cleopatra e i suoi amanti.“ Diese Worte wurden mit leiser Stimme gesprochen; aber im Saale herrschte eine solche Stille, daß alle sie hörten. Der Improvisator verbeugte sich mit dem Ausdrucke tiefsten Dankes vor der schönen Dame und kehrte auf das Podium zurück. „Meine Herrschaften!“ wandte er sich an das Publikum: „Das Los bestimmt mir als Thema für meine Improvisation ‚Kleopatra und ihre Liebhaber‘. Ich bitte ergebenst die Person, die das Thema gewählt hat, mir ihren Gedanken zu erläutern: Von welchen Liebhabern ist hier die Rede, perché la grande regina aveva molto? …“ Bei diesen Worten fingen viele Männer laut zu lachen an. Der Improvisator wurde ein wenig verlegen. „Ich hätte gern gewußt“, fuhr er fort, „auf welche historische Besonderheit jene Person anspielte, die dieses Thema ausgewählt hat … Ich wäre zutiefst dankbar, wenn sie ihre Gedanken äußern wollte.“ Niemand beeilte sich mit der Antwort. Einige Damen richteten ihre Blicke auf das unschöne junge Mädchen, das ihr Thema auf Befehl der Mutter geschrieben hatte. Das arme Mädchen merkte diese übelwollende Aufmerksamkeit und wurde so verlegen, daß auf ihren Wimpern Tränen erglänzten … Tscharskij konnte dies nicht ertragen und wandte sich an den Improvisator auf italienisch: „Das Thema habe ich angegeben. Ich dachte dabei an das Zeugnis des Aurelius Victor, welcher berichtet, Kleopatra habe als Preis für ihre Liebe den Tod bestimmt und es hätten sich Verehrer gefunden, die vor einer solchen Bedingung nicht zurückgeschreckt und umgekehrt wären. Dieser Gegenstand erscheint mir jedoch ein wenig schwierig … Wollen Sie nicht einen andern wählen? …“ Aber schon fühlte der Improvisator das Nahen des Gottes … Er winkte den Musikern, mit dem Spiel zu beginnen. Sein Gesicht wurde furchtbar blaß; er zitterte wie im Fieber; seine Augen leuchteten in einem wunderbaren Feuer; er warf mit der 316
Hand seine schwarzen Haare zurück, wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißtropfen aus der hohen Stirn … machte plötzlich einen Schritt vorwärts, kreuzte die Arme auf der Brust … die Musik verstummte … die Improvisation begann. Die Hallen schimmerten. Zu Leier Und Flöte sang der Meisterchor. Die Königin verlieh der Feier Durch Blick und Stimme Schmelz und Flor. Die Herzen zog’s zu ihrem Throne; Da neigte tief – still ward’s im Saal – Das schöne Haupt in schmaler Krone Die Fürstin über den Pokal … Zu schlummern schien das Prunkgelage; Verstummt sind Gast und Sängerchor; Da hebt die Stirn sie, gleich dem Tage, Und spricht so heiter wie zuvor: „Es dünkt euch selig meine Liebe – Die Seligkeiten biet ich feil … Ihr seid euch gleich in diesem Triebe – Den Gleichen Gleiches werd zuteil. Wer will sich meine Gunst erwerben? Wer kauft mein Lieben, das ihm lacht? Beglückt soll er des Todes sterben, Das ist der Preis für meine Nacht.“ Entsetzen faßt die Gäste. Lüstern Erschauert jeglich Herz und Sinn. Und lauschend dem verlegnen Flüstern Mit hochmütig erhobnem Kinn, Senkt sie den Blick voll kaltem Hohne Auf die Verehrer. Aus dem Kreis Tritt einer jäh und naht dem Throne, Zwei andre folgen, lächelnd leis, Im Banne zauberischer Mächte: 317
Und wortlos beugen sie das Knie. Es ist geschehn: erkauft drei Nächte, Das Todesbett erwartet sie. Empfangend priesterlichen Segen, Entnehmen nun der Urne Schoß, Vor dem erstarrten Hof, verwegen Die Drei der Reihenfolge Los. Der erste – Flavius, ein Krieger, Ergraut im Heer der Weltbesieger; Er mochte nicht an einer Frau Solch ein verhöhnendes Verachten; Die Forderung zur Lust, ob grau, Er aufnahm, schlagbereit, genau Wie Ruf zum Kampf in frühern Schlachten. Dann – den in Epikuros’ Hain Die Musen schwesterlich berieten: Crito; er pries in Wort und Wein Cypria, Amor, die Chariten. Wie Frühlingsblüte, jüngst erwacht, Jedwedem Auge eine Labe, Der dritte war (die Zeitennacht Deckt seinen Namen) fast ein Knabe; Im Aug’ – Begeisterung und Traum, Um Kinn und Wange – erster Flaum; Im Herzen kochen die Gewalten Noch unerfahrner Leidenschaft … Und sie, gerührt, hat kaum die Kraft Den Blick aus seinem Blick zu schalten. „Ich fleh, oh, Mutter der Genüsse, Nicht sei mir deine Huld versagt, Ob ich der Leidenschaft Ergüsse Empfange als erteufte Magd! Ich schwör bei Anadyomenen Und bei dem Gott der Unterwelt, 318
Zu teilen des Gebieters Sehnen Und jeden Rausch, der ihm gefällt! Und lüstern, jedem Wunsch zu Willen, Will mit Geheimnissen der Lust Ich fiebernde Begierden stillen, Liebkosend, wissend-unbewußt. Doch wenn die ewige Aurore In Flammen taucht das Firmament, Das Haupt vom Rumpfe vor dem Tore Des Henkers Beil, ich schwör es, trennt.“
Die Hauptmannstochter
Hüte deine Ehre von Jugend auf. Sprichwort
Erstes Kapitel
Der Sergeant der Garde
„Als Hauptmann stell ich ihn gleich in die Garde ein.“ „Ach was! Bei der Armee soll er sich erst bewähren!“ „Sehr wahr! Da wird man ihn den richt’gen Dienst schon lehren …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Wer ist sein Vater gleich?“ Knjashnin
Mein Vater, Andrej Petrowitsch Grinjow, hatte in seiner Jugend unter dem Grafen Münnich gedient und 17‥ als Premiermajor seinen Abschied genommen. Seitdem lebte er auf seinem Gut im Simbirskischen, wo er auch die Jungfrau Awdotja Wassiljewna Ju., die Tochter eines dortigen armen Edelmannes, heiratete. Wir waren neun Kinder. Alle meine Brüder und Schwestern starben im Säuglingsalter. Meine Mutter ging noch mit mir schwanger, als ich dank der Güte des Gardemajors Fürst B., eines nahen Verwandten von uns, bereits beim Semjonowskij-Regiment als Sergeant eingeschrieben wurde. Hätte meine Mutter wider alles Erwarten eine Tochter geboren, so hätte mein Vater gehörigen Ortes den Tod des nicht erschienenen Sergeanten gemeldet und die Sache wäre damit erledigt gewesen. Ich galt als beurlaubt bis zum Abschluß meiner Studien. Dazumal wurden wir nicht so erzogen wie heutzutage. Von meinem fünften Jahre an ward ich der Obhut unseres Reitknechts Saweljitsch anvertraut, der für sein gutes Betragen – er trank nicht – zu meinem Erzieher ernannt worden war. Unter seiner Aufsicht lernte ich als Zwölfjähriger Russisch 323
lesen und schreiben und konnte sehr sachverständig über die Eigenschaften eines Windhundes reden. Um diese Zeit engagierte mein Vater einen Franzosen für mich, Monsieur Beauprès, den er mit dem Jahresvorrat an Wein und Olivenöl aus Moskau kommen ließ. Seine Ankunft war Saweljitsch höchst unerwünscht. „Gott sei Dank“, brummte er vor sich hin, „das Kind ist, scheint’s, doch gewaschen, gekämmt und satt. Wozu noch unnötig Geld hinauswerfen und einen Musjö halten, als hätte man nicht genug eigene Leute.“ Beauprès war in seiner Heimat Friseur gewesen, später in Preußen Soldat; endlich kam er nach Rußland pour être outchitel ohne sich über den Sinn dieses Wortes recht klar zu sein. Er war ein guter Kerl, aber leichtsinnig und liederlich bis zum äußersten. Seine Hauptschwäche war die Leidenschaft für das schöne Geschlecht; für seine Zärtlichkeiten erhielt er öfters Püffe, über die er tagelang stöhnte. Außerdem war er (wie er sich auszudrücken liebte) kein Feind der Flasche, das heißt (um es gut russisch zu sagen), er trank gern eins über den Durst. Da Wein bei uns aber nur zu Mittag serviert wurde und auch da nur ein kleines Gläschen für jeden, wobei man den Herrn Lehrer meist noch überging, so gewöhnte sich mein Beauprès sehr bald an den russischen Fruchtschnaps und zog ihn sogar den Weinen seines Vaterlandes vor, da er für den Magen ungleich bekömmlicher wäre. Wir wurden bald einig, und obgleich er laut Vertrag verpflichtet war, mich im Französischen, Deutschen und allen Wissenschaften zu unterrichten, zog er es vor, von mir in aller Eile etwas Russisch schwatzen zu lernen, und danach beschäftigte sich jeder von uns nur noch mit seinen eigenen Angelegenheiten. Wir waren ein Herz und eine Seele. Einen anderen Mentor wünschte ich mir gar nicht. Aber bald trennte uns das Geschick, und das kam so: Die Wäscherin Palaschka, ein dickes, pockennarbiges Mädchen, und die einäugige Kuhmagd Akulka waren eines Tages übereingekommen, gleichzeitig meiner Mutter zu Füßen zu fallen, sich selbst verbrecherischer Schwäche zu zeihen und sich mit Tränen über den Musjö zu beklagen, der ihre Unwissenheit verführt hätte. Meine Mutter verstand in diesen Dingen keinen 324
Spaß und beklagte sich beim Vater. Der machte kurzen Prozeß. Er ließ die Kanaille von einem Franzosen sofort holen. Ihm wurde gemeldet, Musjö erteile mir gerade Unterricht. Der Vater begab sich in mein Zimmer. Zu der Zeit schlief Beauprès auf seinem Bette den Schlaf der Unschuld. Ich aber war ernsthaft beschäftigt. Es muß gesagt werden, daß man für mich aus Moskau eine Landkarte verschrieben hatte. Sie hing völlig ungenützt an der Wand und lockte mich schon längst durch ihre Größe und die gute Qualität des Papieres. Ich beschloß, einen Drachen aus ihr anzufertigen, und machte mich, da Beauprès so schön schlief, an die Arbeit. Mein Vater kam gerade in dem Augenblick herein, als ich einen Bastschwanz an das Kap der Guten Hoffnung befestigte. Als er mich bei diesen geographischen Übungen überraschte, zupfte der Vater mich kräftig am Ohr, lief dann zu Beauprès, weckte ihn höchst unsanft und überschüttete ihn mit Vorwürfen. Beauprès, in größter Verlegenheit, wollte sich aufrichten und konnte es nicht: Der unglückselige Franzose war sternhagelvoll. Nun wurde mit allem Unglück auf einmal aufgeräumt. Vater packte ihn am Kragen, riß ihn vom Bett herunter, warf ihn zur Tür hinaus und jagte ihn noch am selben Tage aus dem Hause zur unbeschreiblichen Freude des guten Saweljitsch. Damit war meine Erziehung abgeschlossen. Ich lebte nun als junger Tunichtgut weiter, stellte den Tauben nach und übte mich mit den Hofjungen im Bockspringen. So wurde ich sechzehn Jahre alt. Da trat eine Wendung in meinem Schicksal ein. Einmal im Herbst kochte meine Mutter im Gästezimmer Honigsirup, ich guckte auf den wallenden Schaum und leckte die Lippen. Vater saß am Fenster und las im „Hofkalender“, den er sich alljährlich kommen ließ. Dieses Buch wirkte immer sehr stark auf ihn: Er las es nie ohne besondere seelische Anteilnahme, und die Lektüre brachte stets seine Galle in erstaunliche Erregung. Die Mutter, die alle seine Neigungen und Gewohnheiten genau kannte, suchte das unselige Buch immer möglichst weit zu verstecken, und so kam der „Hofkalender“ ihm oft monatelang nicht zu Gesicht. Wenn er ihn aber zufällig einmal fand, so ließ er 325
ihn dafür auch stundenlang nicht mehr aus den Händen. Also mein Vater las im „Hofkalender“, zuckte ab und zu die Achseln und brummte vor sich hin: „Generalleutnant! … Er war in meiner Kompanie Sergeant! – Ritter beider russischer Orden! … Und wie lang ist’s her, daß wir …“ Endlich warf Vater den Kalender auf das Sofa und versank in tiefes Sinnen, das nichts Gutes erwarten ließ. Plötzlich wandte er sich an die Mutter: „Awdotja Wassiljewna, wie alt ist eigentlich Petruscha?“ „Er ist im siebzehnten Jahre“, antwortete Mutter. „Er ist in dem Jahre geboren, wie Tante Nastasja Gerassimowna ihr Auge verlor und wie …“ „Schon recht“, unterbrach sie der Vater. „Es ist Zeit, daß er in den Dienst kommt. Er hat sich lange genug in den Mägdekammern herumgetrieben und ist in den Taubenschlag geklettert.“ Der Gedanke der baldigen Trennung von mir überraschte die Mutter so, daß sie den Löffel in den Kessel fallen ließ und Tränen über ihre Wangen flossen. Dagegen läßt sich mein Entzücken schwer beschreiben. Der Gedanke an den Dienst verschmolz mir mit dem Gedanken an vollkommene Freiheit, an die Vergnügungen des Petersburger Lebens. Ich sah mich als Gardeoffizier, was nach meiner Meinung den Höhepunkt menschlicher Seligkeit bedeutete. Vater mochte weder seine Absichten ändern noch ihre Ausführung hinausschieben. Der Tag meiner Abreise wurde festgesetzt. Am Abend vorher erklärte Vater, er werde mir einen Brief an meinen künftigen Vorgesetzten mitgeben, und verlangte Feder und Papier. „Vergiß nicht, Andrej Petrowitsch“, sagte Mutter, „den Fürsten B. auch von mir zu grüßen. Sag ihm, ich hoffe, daß er sich Petruschas freundlich annehmen wird.“ „Was für ein Unsinn!“ sagte mein Vater und runzelte die Stirn. „Weshalb sollte ich an den Fürsten B. schreiben?“ „Du hast doch gesagt, du wolltest an Petruschas Vorgesetzten schreiben.“ „Nun ja, und was weiter?“ 326
„Petruschas Vorgesetzter ist doch der Fürst B. Petruscha ist doch beim Semjonowskij-Regiment eingeschrieben.“ „Eingeschrieben! Was geht’s mich an, wo er eingeschrieben ist? Petruscha kommt nicht nach Petersburg. Was soll er in Petersburg im Dienst lernen? Geld ausgeben und Streiche verüben? Nein, in der Armee soll er dienen, von der Pike auf, und Pulver riechen und ein Soldat werden, kein Tagedieb. Bei der Garde eingeschrieben! Wo ist sein Paß! Zeig ihn her!“ Mutter holte meinen Paß, den sie in ihrer Schatulle mit meinem Taufhemdchen aufbewahrte, und reichte ihn mit zitternder Hand dem Vater. Der Vater las ihn aufmerksam durch, legte ihn vor sich auf den Tisch und fing an, seinen Brief zu schreiben. Die Neugierde plagte mich. Wohin sollte ich denn kommen, wenn nicht nach Petersburg? Ich wandte die Augen nicht von Vaters Feder, die sich recht langsam vorwärts bewegte. Endlich war er fertig, versiegelte den Brief, steckte ihn zusammen mit dem Paß in einen Umschlag, nahm die Brille ab, winkte mich zu sich heran und sagte: „Da hast du einen Brief an Andrej Karlowitsch R., meinen alten Regimentskameraden und Freund. Du gehst nach Orenburg, um unter ihm zu dienen.“ So waren alle meine glänzenden Hoffnungen zusammengebrochen! Statt des lustigen Petersburger Lebens harrte meiner öde Langeweile in einem abgelegenen, weltverlassenen Winkel. Der Dienst, an den ich eben noch mit solcher Begeisterung gedacht hatte, schien mir nun ein schweres Unglück. Aber an Widerspruch war nicht zu denken. Am nächsten Morgen stand die Reisekibitka schon vor der Tür; man bepackte sie mit einem Koffer, einer Schatulle mit dem Teeservice, Bündeln mit Weißbroten und Pasteten, den letzten Zeichen des häuslichen Wohllebens. Meine Eltern segneten mich. Der Vater sagte zu mir: „Leb wohl, Pjotr. Diene treu, wem du geschworen; gehorche deinen Vorgesetzten; lauf ihrer Güte nicht nach, dräng dich nicht zum Dienst, aber weise auch keinen Dienst zurück; und denk an das Sprichwort: Hüte dein Kleid, wenn es neu ist, und deine Ehre von Jugend auf.“ Die Mutter bat mich mit Tränen in den 327
Augen, an meine Gesundheit zu denken, und schärfte Saweljitsch ein, gut für das Kind zu sorgen. Man steckte mich in meinen Pelz aus Hasenfell und zog mir noch einen Fuchspelz drüber. Ich setzte mich mit Saweljitsch in die Kibitka, und bitterlich weinend trat ich meine Reise an. In der Nacht kamen wir in Simbirsk an, wo wir uns einen ganzen Tag aufhalten mußten, um verschiedene notwendige Dinge einzukaufen, womit Saweljitsch betraut wurde. Ich war in einem Gasthaus abgestiegen. Saweljitsch machte sich in aller Frühe nach den Kaufläden auf. Es wurde mir langweilig, aus dem Fenster auf die schmutzige Quergasse zu gucken, und ich begann eine Wanderung durch sämtliche Räume des Hauses. Als ich ins Billardzimmer trat, sah ich einen hochgewachsenen Herrn von etwa fünfunddreißig Jahren mit langem schwarzem Schnurrbart, im Schlafrock, einen Queue in der Hand und die Tabakspfeife zwischen den Zähnen. Er spielte mit dem Markör, der, wenn er gewann, ein Glas Branntwein leerte, wenn er aber verlor, auf allen vieren unter dem Billardtische durchkriechen mußte. Ich blieb stehen und sah dem Spiel zu. Je länger es dauerte, desto häufiger wurden die Spaziergänge auf allen vieren, bis der Markör endlich unter dem Tisch liegenblieb. Der Herr widmete ihm ein paar kräftige Worte als Leichenpredigt und schlug mir eine Partie vor. Ich lehnte ab, weil ich nicht zu spielen verstand. Das kam ihm anscheinend sonderbar vor. Er sah mich mit einem gewissen Mitleid an; aber wir kamen doch ins Gespräch. Ich erfuhr, daß er Iwan Iwanowitsch Surin hieß, Rittmeister des *** Husarenregiments war und zur Rekrutenmusterung nach Simbirsk gekommen war; er wohnte im selben Gasthause. Surin forderte mich auf, mit ihm zu Mittag zu essen, ganz einfach, nach Soldatenart. Ich willigte gern ein. Wir setzten uns zu Tisch. Surin trank viel und schenkte auch mir fortwährend ein, wobei er sagte, ich müsse mich an den Dienst gewöhnen; er erzählte mir Anekdoten aus der Armee, über die ich so lachte, daß ich fast vom Stuhl gefallen wäre; als wir vom Tisch aufstanden, waren wir die besten Freunde. Nun erbot er sich, mich das Billardspiel zu lehren. „Das ist für uns vom Militär unentbehrlich“, sagte er. 328
„Kommst du auf dem Feldzug in irgendein Nest – was fängst du da an? Man kann doch nicht immer nur die Juden hauen. Nolens volens gehst du ins Wirtshaus und spielst Billard. Aber dazu muß man spielen können.“ Ich war ganz überzeugt und machte mich mit großem Eifer ans Studium. Surin lobte mich laut, wunderte sich über meine raschen Fortschritte und bot mir nach ein paar Lektionen an, um Geld zu spielen – nur um einen Groschen, nicht des Gewinstes wegen, bloß so, damit man nicht ganz umsonst spiele, denn das wäre die allerschlimmste Gewohnheit. Ich willigte auch darin ein, Surin ließ Punsch bringen und überredete mich, davon zu versuchen: Er wiederholte, daß man sich an den Dienst gewöhnen müsse, ohne Punsch aber wäre der Dienst nichts wert! Ich gehorchte. Inzwischen ging das Spiel weiter. Je häufiger ich mein Glas an die Lippen führte, desto kühner wurde ich. Die Kugeln sausten bei mir jeden Augenblick über die Bande; ich ärgerte mich, schalt den Markör, der Gott weiß wie rechnete, erhöhte den Einsatz bei jedem Spiel – kurz, ich benahm mich wie ein dummer Junge, der zum erstenmal seine Freiheit genießen kann. Inzwischen ging die Zeit unmerklich hin. Surin sah auf die Uhr, legte das Queue fort und sagte mir, ich hätte hundert Rubel verloren. Das verwirrte mich etwas. Mein ganzes Geld hatte Saweljitsch. Ich stammelte Entschuldigungen. Surin fiel mir ins Wort: „Ich bitte dich! Du brauchst dich gar nicht zu beunruhigen. Ich kann noch warten. Und vorläufig fahren wir mal zur Arinuschka.“ Was soll ich noch sagen? Der Tag endete ebenso toll, wie er begonnen hatte. Wir soupierten bei der Arinuschka. Surin schenkte mir jeden Augenblick ein und wiederholte dabei immer von neuem, man müsse sich an den Dienst gewöhnen. Als ich mich vom Tisch erhob, konnte ich kaum auf den Füßen stehen; um Mitternacht brachte Surin mich ins Gasthaus zurück. Saweljitsch empfing uns vor der Tür. Er schrie auf, als er die trüglichen Beweise meines militärischen Diensteifers sah. „Was ist mit dir geschehen, Herr?“ fragte er mit kläglicher Stimme. „Wo hast du dich so vollgeladen? O Gott! Nie ist dir sonst so was vorgekommen!“ – „Halt ’s Maul, alter Knasterbart!“ erwi329
derte ich mit stockender Stimme. „Du bist wohl betrunken! Geh schlafen … und bring mich zu Bett,“ Am nächsten Morgen erwachte ich mit heftigem Kopfweh und konnte mich der gestrigen Ereignisse nur dunkel entsinnen. Meine Betrachtungen wurden durch Saweljitsch unterbrochen, der mit einer Tasse Tee bei mir eintrat. „Früh fängst du an, Pjotr Andrejitsch“, sagte er kopfschüttelnd, „früh fängst du zu bummeln an. Nach wem bist du bloß geraten? Weder der Vater noch der Großvater waren Trinker – von der Mutter gar nicht zu reden; die hat ihr Lebtag außer Kwaß nichts in den Mund genommen. Und wer ist an allem schuld? Der verdammte Musjö. Alle fingerlang kam er zur Antipjewna gerannt: ‚Madam, shö wu pri, wodkü!‘ Da haben wir nun das Shöwupri! Schöne Dinge hat er dich gelehrt, der Hundesohn! Sehr nötig war’s, den fremden Kerl ins Haus zu nehmen! Als ob der gnädige Herr nicht genug eigene Leute hatte!“ Ich schämte mich. Ich wandte mich ab und sagte: „Geh hinaus, Saweljitsch, ich mag keinen Tee.“ Aber Saweljitsch war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen, wenn er einmal ins Predigen geraten war. „Nun siehst du, Pjotr Andrejitsch, wohin das Bummeln führt. Der Kopf tut dir weh, und genießen magst du auch nichts. Ein Trinker ist zu nichts zu gebrauchen … Trink mal Gurkenlake mit Honig; das beste aber wäre, du nähmst ein halbes Gläschen Branntwein. Soll ich es bringen?“ In diesem Augenblick kam ein Junge herein und reichte mir einen Brief von I. I. Surin. Ich entfaltete ihn und las folgendes: Lieber Pjotr Andrejitsch, schicke mir bitte mit meinem Jungen die hundert Rubel, die Du gestern an mich verloren hast. Ich habe das Geld sehr nötig. Ergebenst Iwan Surin Es blieb mir nichts übrig. Ich machte ein gleichgültiges Gesicht und wandte mich an Saweljitsch, der für mein Wohl und Geld und Wäsche Sorge trug, mit dem Befehl, dem Jungen hundert Rubel einzuhändigen. „Wie? Wozu?“ fragte Saweljitsch erstaunt. 330
„Ich schulde sie ihm“, sagte ich möglichst kühl. „Schulden!“ erwiderte Saweljitsch, dessen Staunen immer größer wurde. „Wann hast du denn Zeit gehabt, bei ihm Schulden zu machen, Herr? Hier stimmt etwas nicht. Wie du willst, Herr, aber das Geld gebe ich nicht.“ Ich dachte, daß, wenn ich in diesem entscheidenden Augenblick den eigensinnigen Alten nicht unter meinen Willen zwinge, es mir später erst recht schwerfallen würde, mich von seiner Vormundschaft zu befreien; darum sah ich ihn stolz an und sagte: „Ich bin dein Herr, und du bist mein Diener. Das Geld gehört mir. Ich hab es verspielt, weil es mir so gefiel. Dir aber rat ich, deine weisen Reden zu lassen und das zu tun, was dir befohlen wird.“ Saweljitsch war von meinen Worten so überrascht, daß er die Hände über dem Kopf zusammenschlug und mich starr ansah. „Was stehst du da?“ schrie ich ihn wütend an. Saweljitsch fing an zu weinen. „Väterchen, Pjotr Andrejitsch“, sagte er mit bebender Stimme, „du bringst mich um. Mein Liebling, hör auf mich Alten: Schreib diesem Räuber, du hättest gescherzt, wir hätten gar nicht soviel Geld! Hundert Rubel! Gott steh mir bei! Sag ihm, deine Eltern hätten dir streng verboten zu spielen, es sei denn um Nüsse …“ – „Laß das Geschwätz“, unterbrach ich ihn streng, „gib das Geld her, oder ich schmeiße dich zur Tür hinaus!“ Saweljitsch sah mich tief betrübt an und ging das Geld holen. Der arme Alte tat mir leid; aber ich wollte mich frei machen und ihm beweisen, daß ich kein Kind mehr wäre. Das Geld wurde Surin geschickt. Saweljitsch beeilte sich, mit mir das verdammte Wirtshaus zu verlassen. Er kam und meldete, daß die Pferde bereitständen. Mit unruhigem Gewissen und stummer Reue fuhr ich aus Simbirsk fort, ohne von meinem Lehrmeister Abschied genommen zu haben und ohne zu glauben, daß wir uns jemals wiedersehen könnten.
Zweites Kapitel
Der Führer
O du Land, mein Land, O du fremdes Land! Nicht von selbst bin ich zu dir gekommen, Nicht mein wackres Rößlein trug mich her. Hergebracht hat mich, den kühnen Burschen, Wohl der jugendliche Übermut Und der Rausch, den ich beim Gastwirt mir geholt Altes Lied
Die Betrachtungen, denen ich mich unterwegs hingab, waren nicht sehr erfreulich. Mein Geldverlust war bei den damaligen Preisen keineswegs unbedeutend. Ich mußte mir selber eingestehen, daß mein Betragen im Simbirsker Gasthaus sehr dumm gewesen war, und ich fühlte mich Saweljitsch gegenüber schuldig. Alles das quälte mich. Der Alte saß finster auf dem Bock, hatte sich von mir abgewandt und schwieg; ab und zu nur räusperte er sich laut. Ich wollte durchaus mit ihm Frieden schließen, wußte aber nicht, wie ich anfangen sollte. Endlich sagte ich zu ihm: „Nun, nun, Saweljitsch, laß gut sein! Wollen wir uns wieder versöhnen! Ich habe nicht recht getan; ich seh es selber ein, daß es nicht recht war. Ich habe gestern dumme Streiche verübt und dich unnütz gekränkt. Ich verspreche dir, mich hinfort vernünftiger zu betragen und dir zu gehorchen. Nun, ärgere dich nicht, wir wollen Frieden machen.“ „Ach, Väterchen, Pjotr Andrejitsch“, erwiderte er mit einem tiefen Seufzer. „Ich ärgere mich über mich selbst – denn ich bin an allem schuld. Wie konnte ich dich allein im Wirtshaus lassen! Aber was hilft das jetzt? Der Böse hatte mich verlockt, ich mußte 332
die Diakonsfrau aufsuchen, meine alte Gevatterin wiedersehen. Und da ist es nun so gekommen: Kehrst du bei der Gevatterin ein, stellt der Satan dir ein Bein. Es ist ein Jammer! … Wie soll ich nun den Herrschaften vor die Augen treten? Was werden sie sagen, wenn sie hören, daß das Kind trinkt und spielt?“ Um den armen Saweljitsch zu trösten, gab ich ihm mein Wort, in Zukunft ohne seine Einwilligung keine Kopeke auszugeben. Er beruhigte sich nach und nach, obgleich er hin und wieder noch kopfschüttelnd vor sich hin brummte: „Hundert Rubel! Das ist keine Kleinigkeit!“ Ich näherte mich meinem Ziele. Rundherum dehnten sich traurige Wüsten, durchschnitten von Hügeln und Schluchten. Alles war mit Schnee bedeckt. Die Sonne sank. Die Kibitka fuhr einen schmalen Weg entlang – richtiger, sie folgte der von Bauernschlitten hinterlassenen Spur. Plötzlich begann der Kutscher nach den Seiten zu schauen; endlich nahm er die Mütze ab, drehte sich nach mir um und sagte: „Herr, sollen wir nicht umkehren?“ „Warum?“ „Das Wetter ist unzuverlässig; es erhebt sich ein leichter Wind; sieh mal, wie er den Neuschnee vor sich hertreibt!“ „Was macht denn das?“ „Und das da – siehst du?“ Der Kutscher wies mit der Peitsche nach Osten. „Ich sehe nichts als weiße Steppe und blauen Himmel.“ „Aber dort! Dort das Wölkchen!“ Tatsächlich sah ich nun am Himmelsrande ein weißes Wölkchen, das ich zuerst für einen fernen Hügel gehalten hatte. Der Kutscher erklärte mir, daß dieses Wölkchen einen Schneesturm ankündige. Ich hatte wohl von den dortigen Schneestürmen gehört und wußte, daß mitunter ganze Karawanen verweht wurden. Saweljitsch stimmte dem Kutscher bei und riet zur Umkehr. Aber der Wind schien mir nicht stark; ich hoffte, rechtzeitig die nächste Station erreichen zu können, und befahl, schneller zu fahren. Der Kutscher trieb die Pferde an, sah aber immer nach Osten. Die Pferde trabten munter vorwärts. Der Wind aber wurde von 333
Stunde zu Stunde stärker. Das Wölkchen wurde zu einer großen weißen Masse, die langsam emporstieg, wuchs und sich nach und nach über den ganzen Himmel ausbreitete. Es fing an zu schneien, erst ganz fein, dann plötzlich in mächtigen Flocken. Der Wind heulte; nun war der Schneesrurm da. In einem Augenblick floß der dunkle Himmel mit dem Schneemeere in eins zusammen. Alles verschwand. „Nun, Herr!“ schrie der Kutscher. „Es wird schlimm! Das Unwetter …“ Ich sah aus der Kibitka hinaus: Ringsum Finsternis und Schneewirbel. Der Wind heulte mit so ausdrucksvoller Wut, daß man ihn für ein beseeltes Wesen hätte halten können; der Schnee hüllte mich und Saweljitsch ganz ein; die Pferde bewegten sich nur noch im Schritt vorwärts und blieben bald ganz stehen. „Warum fährst du denn nicht weiter?“ fragte ich den Kutscher ungeduldig. „Wohin soll ich denn?“ antwortete er und stieg vom Bock. „Wir wissen ja gar nicht, wo wir hingeraten sind. Vom Weg ist nichts zu sehen und rundum ist’s finster.“ Ich fing an zu schelten. Saweljitsch trat für den Kutscher ein. „Warum hast du nicht auf ihn gehört?“ sagte er ärgerlich. „Du wärst in die Herberge zurückgekommen, hättest Tee getrunken, bis zum Morgen gut geschlafen, der Sturm hätte sich mittlerweile gelegt, und wir wären weitergefahren. Was haben wir für Eile? Führen wir noch zur Hochzeit!“ Saweljitsch hatte recht. Aber es war nichts mehr zu machen. Der Schnee fiel immer dichter. Neben der Kibitka türmte sich ein ganzer Berg auf. Die Pferde standen mit gesenkten Köpfen da, ab und zu zuckten sie leise zusammen. Der Kutscher ging um sie herum und brachte aus Langerweile das Geschirr in Ordnung. Saweljitsch brummte. Ich sah mich nach allen Seiten um, in der Hoffnung, auch nur irgendein Anzeichen eines Wohnhauses oder Weges zu erblicken, aber ich konnte nichts erkennen außer den trüben wirbelnden Schneemassen … Plötzlich bemerkte ich etwas Schwarzes. „He, Kutscher!“ schrie ich. „Sieh mal – was ist das Schwarze da?“ Der Kutscher blickte nach der angegebenen Richtung. „Gott weiß, was das ist, gnädiger Herr“, sagte er, sich auf seinen Platz setzend. „Ein Wagen scheint’s 334
nicht, ein Baum auch nicht, aber es sieht doch so aus, als ob sich’s bewegte. Es ist wohl ein Wolf oder ein Mensch.“ Ich befahl ihm, dem unbekannten Ding entgegenzufahren, das sich alsbald auf uns zu bewegte. Nach zwei Minuten hatten wir einen Menschen erreicht. „He, guter Mann!“ rief ihm der Kutscher zu, „sag mal, weißt du nicht, wo hier die Straße läuft?“ „Die Straße ist hier; ich stehe auf festem Boden“, antwortete der Wanderer. „Aber was nutzt es?“ „Höre, Freund“, fragte ich ihn, „kennst du diese Gegend? Kannst du mich zu einer Unterkunftsstelle bringen?“ „Die Gegend kenne ich wohl“, sagte der Wanderer. „Gott sei Dank, kreuz und quer haben wir sie durchwandert und durchritten. Aber sieh doch, was das für ein Unwetter ist: Eins, zwei, drei kommt man vom Wege ab. Lieber machen wir hier halt und warten ab; allmählich muß der Sturm nachlassen, und wenn der Himmel wieder klar ist, weisen uns die Sterne den Weg.“ Seine Kaltblütigkeit gab mir Mut. Ich war schon entschlossen, mich in den Willen Gottes zu fügen und in der Steppe zu übernachten, als der Wanderer plötzlich geschwind auf den Bock sprang und zum Kutscher sagte: „Na, Gott sei Dank, eine Siedlung ist ganz in der Nähe; biege nach rechts um und fahre zu.“ „Warum soll ich denn rechts fahren?“ fragte der Kutscher ärgerlich. „Wo siehst du einen Weg? Fremde Pferde, fremdes Gespann – fahr nur zu, was geht’s mich an?“ Der Kutscher schien mir recht zu haben. „Wirklich“, sagte ich, „warum glaubst du, daß eine Behausung in der Nähe ist?“ – „Der Wind kam eben von da“, sagte der Wanderer, „und es roch nach Rauch; also muß dort ein Dorf sein.“ Sein Scharfsinn und seine feine Witterung setzten mich in Erstaunen. Ich befahl dem Kutscher zu fahren. Die Pferde stampften schwerfällig durch den tiefen Schnee. Die Kibitka schob sich langsam vorwärts, fuhr bald eine Schneewehe hinauf, stürzte bald in eine Grube, legte sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Es war wie die Fahrt eines Schiffes auf sturmbewegter See. Saweljitsch ächzte, da wir jeden Augenblick gegeneinander geschleudert wurden. Ich ließ die Bastmatte her335
unter, wickelte mich in meinen Pelz und schlief ein, vom Gesang des Sturms und dem Schaukeln der langsamen Fahrt eingewiegt. Ich hatte einen Traum, den ich nie vergessen konnte und in dem ich heute noch etwas Prophetisches sehe, wenn ich meine sonderbaren Erlebnisse daneben halte. Der Leser wird mich entschuldigen, denn er weiß wohl aus Erfahrung, wie sehr es in der Natur des Menschen liegt, sich dem Aberglauben hinzugeben, trotz aller Verachtung, die man den Vorurteilen entgegenbringt. Ich befand mich in jenem Zustand der Sinne und der Seele, wo die Wirklichkeit, von der Phantasie zurückgedrängt, mit dieser zu den unklaren Bildern des ersten Traums zusammenfließt. Mir war es, als wüte der Sturm immer noch, und wir irrten noch weiter in der schneebedeckten Wüste … Plötzlich sah ich vor mir ein Tor und fuhr in den Hof unseres Gutshauses hinein. Mein erster Gedanke war die Befürchtung, mein Vater könnte über meine ungewollte Heimkehr unter das schützende Dach des Elternhauses in Zorn geraten und darin einen bewußten Ungehorsam sehen. Von innerer Unruhe erfüllt, sprang ich aus der Kibitka und erblickte meine Mutter, die mir mit tiefbetrübtem Gesicht entgegenkam. „Leise, leise“, sagt sie zu mir, „der Vater ist todkrank und will dir Lebewohl sagen.“ Von Entsetzen gepackt, folge ich ihr in das Schlafzimmer. Ich finde das Zimmer matt erleuchtet; vor dem Bette stehen Leute mit betrübten Gesichtern. Ich nähere mich sachte dem Bette; Mutter zieht den Vorhang zurück und sagt: „Andrej Petrowitsch, Petruscha ist da. Er kehrte um, da er von deiner Krankheit hörte; segne ihn.“ Ich kniete nieder und richtete meine Blicke auf den Kranken. Und – was sehe ich? An Stelle meines Vaters liegt in dem Bette ein schwarzbärtiger Bauer und sieht mich lachend an. Ich wende mich erstaunt an meine Mutter und frage: „Was bedeutet das? Das ist nicht der Vater. Und weshalb soll ich diesen Bauern um Segen bitten?“ – „Es ist gleich, Petruscha“, antwortete meine Mutter, „das ist dein Brautvater; küsse seine Hand und empfange von ihm den Segen …“ Ich weigerte mich. Da sprang der Bauer aus dem Bett, zog hinter seinem Rücken ein Beil hervor und schlug damit nach allen Seiten … Ich wollte entfliehen – und konnte nicht; das 336
Zimmer füllte sich mit Leichen; ich stolperte über Leiber und glitt in Blutlachen aus … Der schreckliche Bauer rief mich freundlich zu sich und sagte: „Fürchte dich nicht, nimm nur meinen Segen …“ Grauen und Zweifel packten mich … In diesem Augenblick erwachte ich. Die Pferde hielten, Saweljitsch zupfte mich am Arm und sagte: „Steig aus, Herr, wir sind da.“ „Wo sind wir?“ fragte ich, die Augen reibend. „Vor der Herberge. Gott hat uns geholfen, wir stießen geradewegs gegen den Zaun. Steige schnell aus, Herr, und wärme dich.“ Ich stieg aus der Kibitka. Der Sturm dauerte noch fort, wenn auch nicht mehr ganz so heftig. Es war so dunkel, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Der Wirt empfing uns vor dem Tore, die Laterne unter dem Rockschoß, und führte mich in die enge, aber recht saubere Gaststube; ein Kienspan beleuchtete sie. An der Wand hing ein Gewehr und eine hohe Kosakenmütze. Der Wirt, ein Jaïkkosak, schien ein Sechziger zu sein, aber noch frisch und kräftig. Saweljitsch brachte die Schatulle mit dem Teegeschirr herein, verlangte Feuer, um den Tee zu bereiten, der mir noch nie so erwünscht war. Der Wirt begab sich hinaus, um alles zu besorgen. „Wo ist unser Führer geblieben?“ fragte ich Saweljitsch. „Hier, Euer Wohlgeboren“, antwortete mir eine Stimme von oben. Ich sah nach dem Hängeboden hinauf und erblickte einen schwarzen Bart und zwei funkelnde Augen. „Tüchtig durchgefroren, Bruder?“ – „Wie soll man nicht frieren im dünnen Überrock allein! Einen Pelz hab ich gehabt, aber ich will’s schon gestehn – gestern hab ich ihn in der Branntweinschenke versetzt; der Frost kam mir gering vor.“ In diesem Augenblick trat der Wirt mit dem kochenden Samowar ein. Ich bot unserem Führer eine Tasse Tee an; er kam vom Hängeboden heruntergekrochen. Sein Äußeres schien mir bemerkenswert. Er mochte vierzig Jahre alt sein, war von mittlerem Wuchs, mager und breitschultrig. Im schwarzen Bart zeigten sich hie und da schon graue Haare; seine lebhaften großen Augen liefen nur so hin und her. Das Gesicht hatte einen recht angenehmen, aber listigen Ausdruck. Sein Haar war rings um den Kopf geschoren; auf dem Leib hatte er einen 337
zerlumpten Überrock und tatarische Pluderhosen. Ich reichte ihm eine Tasse Tee; er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. „Euer Wohlgeboren, erweisen Sie mir die Gnade, lassen Sie mir ein Glas Schnaps geben; Tee ist kein Getränk für uns Kosaken.“ Ich erfüllte seinen Wunsch gern. Der Wirt nahm eine Kanne und ein Glas aus dem Schrank, ging auf ihn zu, sah ihm ins Gesicht und sagte: „Aha! Wieder in unserm Land! Wo kommst du her?“ Mein Führer kniff die Augen bedeutungsvoll zusammen und antwortete mit einem Sprichwort: „Ich flog über die Gemüsebeete, ich pickte Hanfkörner; Großmutter warf einen Stein nach mir und traf mich nicht. Nun, und eure Leute?“ „Ach was!“ antwortete der Wirt in derselben Weise, „man wollte zur Vesper läuten, aber die Popenfrau duldete es nicht; der Pope ist zu Besuch gegangen, und im Kirchspiel sind die Teufel.“ „Sei still, Onkel“, entgegnete mein Landstreicher, „gibt es Regen, gibt’s auch Pilze; gibt’s Pilze, findet sich auch ein Korb; jetzt aber“, wieder kniff er die Augen zusammen, „steck das Beil hintern Rücken: Der Förster geht um. Euer Wohlgeboren! Auf Ihre Gesundheit!“ Bei diesen Worten nahm er das Glas, bekreuzigte sich, leerte es auf einen Zug, verbeugte sich vor mir und kroch wieder auf seinen Hängeboden. Ich konnte damals kein Wort von dem Rotwelsch verstehen und erriet erst viel später, daß von der Lage des Jaïk-Heeres gesprochen wurde, das damals eben erst nach dem Aufruhr von 1772 zur Ruhe gebracht worden war. Saweljitsch hörte mit sehr unzufriedener Miene zu. Er sah bald den Wirt, bald den Führer argwöhnisch an. Die Herberge, in jener Gegend hieß sie Umet, war sehr abgelegen, mitten in der Steppe, von jeder Siedlung weit entfernt, und erinnerte nur zu sehr an ein Räubernest. Aber es war nichts zu machen. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken. Saweljitschs Unruhe ergötzte mich sehr. Unterdessen machte ich mich zur Nachtruhe bereit und streckte mich auf die Bank. Saweljitsch beschloß, sich auf dem Ofen einzurichten, der Wirt legte sich auf den Fußboden. Bald schnarchte die ganze Hütte, und ich selber schlief wie ein Toter. 338
Als ich am nächsten Morgen ziemlich spät erwachte, sah ich, daß der Sturm sich gelegt hatte. Die Sonne schien hell. Der Schnee lag als blendendweiße Decke auf der endlosen Steppe. Die Pferde waren angespannt. Ich rechnete mit dem Wirt ab, der von uns eine so bescheidene Summe verlangte, daß sogar Saweljitsch ihm nicht widersprach und nicht mit ihm feilschte, wie das sonst seine Gewohnheit war; der gestrige Verdacht war völlig aus seinem Kopf verschwunden. Ich rief den Führer, dankte ihm für die erwiesene Hilfe und bat Saweljitsch, ihm eine Poltina Trinkgeld zu geben. Saweljitschs Gesicht verfinsterte sich. „Eine Poltina Trinkgeld!“ sagte er. „Wofür denn? Weil du so gut warst, ihn bis zum Wirtshaus mitfahren zu lassen? Wie du willst, Herr, aber wir haben keine überflüssigen Poltinen. Wenn man jedem ein Trinkgeld geben soll, kann man selber bald hungern.“ Ich konnte mit Saweljitsch nicht streiten. Das Verfügungsrecht über mein Geld besaß er – nach meinem feierlichen Versprechen. Ich ärgerte mich aber, daß ich dem Manne nicht danken konnte, der mich, wenn nicht aus der Not, so doch aus einer sehr unangenehmen Lage gerettet hatte. „Gut“, sagte ich kaltblütig, „wenn du ihm die Poltina nicht geben willst, so gib ihm etwas von meinen Kleidern. Er ist zu leicht gekleidet. Gib ihm meinen Hasenpelz.“ „Ich bitte dich, Väterchen, Pjotr Andrejitsch!“ sagte Saweljitsch. „Was soll er mit deinem Hasenpelz? Er versäuft ihn in der ersten Kneipe, der Hund.“ „Das braucht dich nicht zu kümmern, Alterchen“, sagte mein Landstreicher, „ob ich ihn versaufe oder nicht. Seine Wohlgeboren schenkt mir einen Pelz aus seinem Besitz, das ist sein herrschaftlicher Wille, und deine Pflicht als Knecht ist es, nicht zu streiten, sondern zu gehorchen.“ „Kennst du keine Scham, du Räuber!“ erwiderte Saweljitsch mit zorniger Stimme. „Du siehst, daß das Kind noch keine Vernunft hat, und da willst du’s berauben, weil es noch so einfältig ist! Was willst du mit dem herrschaftlichen Pelz anfangen? Du kriegst ihn ja gar nicht über deine vermaledeiten Schultern.“ „Laß das Klugschwätzen“, sagte ich zu Saweljitsch. „Bring den Pelz sofort her.“ 339
„Herrgott im Himmel!“ stöhnte mein Saweljitsch. „Der Hasenpelz ist noch so gut wie neu! Und wenn’s noch an einen ehrlichen Mann ginge, aber so ein abgelumpter Saufbruder!“ Der Pelz wurde dennoch gebracht. Er paßte ihn sofort an. In der Tat war ihm der Pelz, aus dem auch ich schon herausgewachsen war, etwas zu eng. Er brachte es aber doch fertig und zog ihn an, nachdem er ein paar Nähte aufgetrennt hatte – Saweljitsch heulte fast auf, als er hörte, wie die Fäden krachten. Der Vagabund war mit meinem Geschenk sehr zufrieden. Er begleitete mich bis zur Kibitka und sagte mit einer tiefen Verbeugung: „Danke, Euer Wohlgeboren! Gott lohne Ihnen Ihre Wohltat. Mein Lebtag vergesse ich Ihre Güte nicht.“ Er ging seines Weges, und ich fuhr weiter, ohne auf Saweljitsch zu achten; bald hatte ich den gestrigen Sturm, meinen Führer und den Hasenpelz vergessen. In Orenburg angelangt, begab ich mich geradewegs zum General. Ich fand einen Mann von hoher Gestalt, aber schon vom Alter gebeugt. Seine langen Haare waren ganz weiß. Die alte verblichene Uniform ließ den Kriegsmann aus der Zeit Anna Iwanownas erkennen, und seine Sprache verriet einen starken deutschen Akzent. Ich reichte ihm Vaters Brief. Bei seinem Namen sah er mich schnell an. „Mein Gott!“ sagte er, „wie lang ist’s her, da war Andrej Petrowitsch nicht älter als du, und nun hat er schon so einen Jungen! Ach, wie die Zeit vergeht!“ Er machte den Brief auf und las ihn halblaut, ab und zu seine Zwischenbemerkungen machend. „‚Hochgeehrter Herr Andrej Karlowitsch, ich hoffe, daß Eure Exzellenz …‘ Was sind das für Zeremonien? Pfui! schämt er sich gar nicht? Gewiß, die Disziplin ist die Hauptsache, aber schreibt man so an einen alten Kameraden? ‚Eure Exzellenz haben nicht vergessen …‘ Hm, hm! …, ‚und als … der verstorbene Feldmarschall Mün … im Feldzuge … und auch … Karolinchen …‘ Aha! Bruder! Er erinnert sich noch unserer alten Streiche! ‚Jetzt zur Sache … Schicke Ihnen meinen Schlingel …‘ Hm …, ‚mit Handschuhen aus Igelhaut anfassen …‘ Was heißt das – Handschuhe aus Igelhaut? Das ist wohl ein russisches Sprichwort? … Was heißt das: ‚mit Handschuhen aus Igelhaut anfassen?‘“ wiederholte er, zu mir gewandt. 340
„Das heißt“, erwiderte ich mit möglichst unschuldiger Miene, „jemand freundlich behandeln, nicht allzu streng, ihm recht viel Freiheit geben – mit einem Wort, mit Handschuhen aus Igelhaut anfassen.“ „Hm, ich verstehe …, ‚und ihm nicht zuviel Freiheit lassen …‘ Nein, die Handschuhe bedeuten doch wohl was anderes …, ‚anbei sein Paß …‘ Wo ist er denn? Ah, hier …, ‚Dem SemjonowskijRegiment melden …‘ Gut, gut, wird alles gemacht … ‚Und gestatte mir, Dich ohne Titel und alle Ehrenbezeigungen zu umarmen … als Dein alter Kamerad und Freund …‘ Ah! endlich kommt er drauf! … und so weiter … und so weiter … – Nun, Freund“, sagte er, nachdem er den Brief gelesen und meinen Paß beiseite gelegt hatte, „es wird alles gemacht: Du wirst als Offizier in das *** Regiment versetzt, und damit du keine Zeit verlierst, fährst du gleich morgen in die Festung Belogorskaja, wo du unter dem Kommando des Hauptmanns Mironow, eines guten und braven Mannes, stehen sollst. Dort wirst du richtigen Dienst zu leisten haben, wirst Disziplin lernen. In Orenburg hast du nichts zu suchen; Zerstreuung ist für einen jungen Menschen schädlich. Und heute bitte ich dich, mein Mittagsgast zu sein.“ Das wird immer besser, dachte ich für mich. Was hat es mir nun genützt, daß ich noch im Mutterleibe Gardesergeant war? Wohin bin ich geraten? Ins *** Regiment in eine gottverlassene Festung, am Rande der Kirgisensteppe! … Ich aß bei Andrej Karlowitsch Mittag, zu dritt mit seinem alten Adjutanten. Strenge deutsche Sparsamkeit herrschte bei Tische, und ich glaube, daß die Angst, öfter einen Gast mehr an seiner Junggesellentafel zu sehen, zum Teil die Ursache meiner so eiligen Abfertigung in die Garnison gewesen sein mag. Tags darauf verabschiedetete ich mich vom General und reiste nach meinem Bestimmungsort ab.
Drittes Kapitel
Die Festung
In der Festung wohnen wir, Brot nur gibt’s und Wasser hier; Aber will zu Wein und Kuchen Uns der grimme Feind besuchen, Soll er nicht zu sehr erstaunen: Zur Begrüßung gibt’s Kartaunen. Soldatenlied Leute vom alten Schlag, Väterchen. Der Landjunker
Die Festung Belogorskaja lag vierzig Werst von Orenburg entfernt. Der Weg ging am steilen Ufer des Jaïk entlang. Der Fluß war noch nicht zugefroren, und seine bleiernen Wellen schimmerten traurig-schwarz zwischen den einförmigen, mit weißem Schnee bedeckten Ufern. Hinter ihnen dehnten sich die kirgisischen Steppen. Ich versank in Gedanken, die zum größten Teil recht traurig waren. Das Leben in der Garnison hatte wenig Anziehendes für mich. Ich versuchte mir ein Bild meines künftigen Vorgesetzten, des Hauptmanns Mironow, zu machen und stellte ihn mir als strengen, zornigen alten Mann vor, der nur seinen Dienst im Kopfe hat und mich für jede Kleinigkeit bei Wasser und Brot einzusperren geneigt ist. Inzwischen begann es zu dämmern. Wir fuhren ziemlich schnell. „Ist es noch weit bis zur Festung?“ fragte ich den Kutscher. „O nein“, erwiderte er. „Da! Man sieht sie schon!“ Ich schaute mich nach allen Seiten um, in der Erwartung, drohende Bastionen, Türme und Wälle zu erblicken, sah aber nichts außer einem kleinen Dorf, das von einem Bretterzaun umgeben war. Auf der einen Seite standen drei oder 342
vier Heuschober, halb im Schnee versunken, auf der andern eine schiefe Windmühle mit träge herabhängenden Rindenbastflügeln. „Wo ist denn die Festung?“ fragte ich erstaunt. „Da ist sie doch“, antwortete der Kutscher und zeigte auf das Dorf; in diesem Augenblick fuhren wir auch schon hinein. Vor dem Tor erblickte ich eine alte gußeiserne Kanone; die Gassen waren eng und krumm; die Häuser niedrig und meist mit Stroh gedeckt. Ich befahl dem Kutscher, mich zum Kommandanten zu fahren, und nach einer Minute hielt die Kibitka vor einem Holzhäuschen, das auf einer Anhöhe unweit der ebenfalls hölzernen Kirche stand. Niemand kam mir entgegen. Ich trat in den Flur und öffnete die Tür zum Vorzimmer. Ein alter Invalide saß auf dem Tisch und nähte einen blauen Flicken auf den Ärmel eines grünen Waffenrockes. Ich befahl ihm, mich zu melden. „Geh nur hinein, Väterchen“, antwortete der Invalide, „unsere sind zu Hause.“ Ich trat in ein sauberes Zimmerchen, das in altväterischer Weise ausgestattet war. In der Ecke stand ein Glasschrank mit Geschirr; an der Wand hing ein Offiziersdiplom unter Glas und Rahmen; rundum war die Wand mit bunten Holzschnitten geschmückt, die die Einnahme von Küstrin und Otschakow sowie die Brautwahl und das Begräbnis des Katers darstellten. Am Fenster saß eine alte Frau in einer warmen Jacke und einem Tuch auf dem Kopf. Sie wickelte Garn auf, das ihr ein einäugiger alter Mann in Offiziersuniform auf seinen auseinandergespreizten Händen hielt. „Was steht zu Diensten, Väterchen?“ fragte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Ich antwortete, ich wäre dienstlich hierher kommandiert worden und wollte mich pflichtgemäß dem Herrn Hauptmann vorstellen; bei diesen Worten wandte ich mich an den Einäugigen, den ich für den Kommandanten hielt; aber die Hausfrau unterbrach meine wohleinstudierte Rede. „Iwan Kusmitsch ist nicht zu Hause“, sagte sie. „Er ist zum Vater Gerassim zu Besuch gegangen; aber das tut nichts, Väterchen – ich bin seine Frau. Seien Sie herzlichst willkommen. Setzen Sie sich, Väterchen.“ Sie rief das Dienstmädchen und befahl, den Urjadnik zu holen. Der Alte sah mich mit seinem einen Auge neugierig an. „Darf ich fragen“, sagte er, „in welchem Regiment 343
Sie früher zu dienen geruhten?“ Ich befriedigte seine Neugier. „Und darf ich Sie noch fragen“, fuhr er fort, „warum Sie sich aus der Garde in die Garnison versetzen zu lassen geruhten?“ Ich erwiderte, das wäre der Wunsch meiner Vorgesetzten gewesen. „Vermutlich für Handlungen, die sich für einen Gardeoffizier nicht schicken?“ fuhr der unermüdliche Frager fort. „Laß dein dummes Geschwätz“, sagte die Hauptmannsfrau, „du siehst, der junge Mann ist müde von der Reise; er kann sich jetzt nicht mit dir abgeben … (Halt doch die Hände gerade …) Und du, Väterchen“, fuhr sie, zu mir gewendet, fort, „sei nicht traurig, daß man dich in unsere Einöde gesteckt hat. Du bist nicht der erste und nicht der letzte. Es kommt alles auf die Gewohnheit an. Schwabrin, Alexej Iwanowitsch, ist schon vor fünf Jahren zu uns versetzt worden – für Mord und Totschlag. Der liebe Gott mag wissen, was über ihn gekommen war. Er ist, denk dir bloß, mit einem Leutnant aus der Stadt hinausgefahren, ihre Degen hatten sie gleich mitgenommen, und nun haben sie angefangen, sich gegenseitig zu spießen – da hat denn Alexej Iwanytsch den Leutnant totgestochen, und noch vor zwei Zeugen! Was soll man dazu sagen? Der beste Baum bringt wohl auch eine krüppelige Frucht.“ In diesem Augenblick trat der Urjadnik ein, ein junger, stattlicher Kosak. „Maximytsch“, sagte die Hauptmannsfrau zu ihm. „Weise mal dem Herrn Offizier ein Quartier an, aber sauber soll es sein.“ – „Zu Befehl, Wassilissa Jegorowna“, antwortete der Kosak. „Sollen wir Seine Wohlgeboren nicht bei Iwan Poleshajew einquartieren?“ – „Was du redest, Maximytsch!“ sagte die Hauptmannsfrau. „Bei Poleshajew ist es auch so schon eng; zudem ist er mein Gevatter und vergißt nie, daß wir seine Vorgesetzten sind. Bring den Herrn Offizier … Wie lautet Ihr Name und Ihr Vatersname, Väterchen? Pjotr Andrejitsch? … Bring Pjotr Andrejitsch zu Semjon Kusow. Der Halunke hat sein Pferd in meinen Gemüsegarten laufen lassen. Nun, Maximytsch, ist sonst alles in Ordnung?“ „Gott sei Dank, überall ist Ruhe“, erwiderte der Kosak. „Bloß der Korporal Prochorow hat sich im Dampfbade mit der Ustinja Negulina um eine Bütte heißen Wassers geprügelt.“ 344
„Iwan Ignatjitsch“, sagte die Hauptmannsfrau zum Einäugigen, „untersuche die Geschichte mit dem Prochorow und der Ustinja und stelle fest, wer recht und wer unrecht hat. Und dann bestraf sie alle beide. Nun, Maximytsch, du kannst jetzt gehen. Pjotr Andrejitsch, Maximytsch wird Ihnen Ihr Quartier anweisen.“ Ich verabschiedete mich. Der Urjadnik führte mich in ein Häuschen, das auf dem hohen Flußufer, am äußersten Rande der Festung stand. Die Hälfte des Hauses bewohnte die Familie des Semjon Kusow, die andere wurde mir eingeräumt. Sie bestand aus einem recht sauberen Zimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war. Saweljitsch begann sich sofort häuslich einzurichten; ich schaute aus dem schmalen Fensterchen. Vor mir dehnte sich die traurige Steppe. Schräg gegenüber standen ein paar Häuschen; auf der Straße liefen etliche Hühner umher. Ein altes Weib stand mit einem Trog vor der Tür und rief die Schweine, die mit freundlichem Grunzen antworteten. Und in dieser Gegend war ich verdammt, meine Jugend zu verbringen! Wehmut ergriff mich; ich trat vom Fenster zurück und legte mich schlafen, ohne Abendbrot gegessen zu haben, allen Ermahnungen Saweljitschs zum Trotz, der immer wieder jammerte: „O mein Gott und Herr! Nichts mag er essen! Was wird die gnädige Frau sagen, wenn das Kind mir krank wird!“ Am nächsten Morgen kleidete ich mich gerade an, als die Tür aufging und ein junger Offizier bei mir eintrat. Er war klein von Wuchs und hatte ein stark gebräuntes, sehr häßliches, aber ungemein bewegliches Gesicht. „Entschuldigen Sie“, sagte er französisch, „daß ich so ungeniert zu Ihnen komme, um Ihre Bekanntschaft zu machen. Gestern erfuhr ich von Ihrer Ankunft; der Wunsch, endlich einmal ein menschliches Gesicht zu sehen, bemächtigte sich meiner so sehr, daß ich nicht warten konnte, Sie werden das begreifen, wenn Sie eine Zeitlang hier gelebt haben.“ Ich erriet, daß das der Offizier war, der für einen Zweikampf von der Garde hierher versetzt worden war. Wir wurden gleich gut bekannt. Schwabrin war sehr gescheit. Seine Unterhaltung war witzig und amüsant. Er schilderte mir sehr lustig die 345
ganze Familie des Kommandanten, seinen Verkehr und die Gegend, in die das Schicksal mich verstoßen hatte. Ich lachte herzlich, als der Invalide eintrat, der den Waffenrock im Vorzimmer des Kommandanten geflickt hatte, und mich im Auftrage von Wassilissa Jegorowna zum Mittagessen einlud. Schwabrin erklärte darauf, er wolle mich begleiten. Als wir uns dem Hause des Kommandanten näherten, sahen wir auf dem Platze davor gegen zwanzig alte Invaliden mit langen Zöpfen und in dreieckigen Hüten. Sie standen in Reih und Glied. Vor ihnen stand der Kommandant, ein kräftiger, hochgewachsener Greis in Nachtmütze und Nankingschlafrock. Als er uns erblickte, ging er auf uns zu, sagte mir ein paar freundliche Worte und fing dann wieder an zu kommandieren. Wir blieben stehen, uns die Übungen anzusehen, doch er bat uns, gleich zu Wassilissa Jegorowna zu gehen, und versprach, sofort nachzukommen. „Hier“, sagte er, „gibt es für Sie doch nichts zu sehen.“ Wassilissa Jegorowna empfing uns ungezwungen und herzlich und behandelte mich, als wären wir seit Jahren bekannt. Der Invalide und Palaschka deckten den Tisch. „Was exerziert mein Iwan Kusmitsch denn heute so lange?“ sagte die Kommandantin. „Palaschka, ruf den Herrn zum Essen! Und wo steckt denn Mascha?“ Da trat ein junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren ein, mit rundem Gesicht und rosigen Wangen. Ihr hellblondes Haar war glatt hinter die Ohren gekämmt, die nur so glühten. Beim ersten Anblick gefiel sie mir nicht sonderlich. Ich betrachtete sie mit einem gewissen Vorurteil: Schwabrin hatte mir Mascha, die Hauptmannstochter, als ganz dummes Ding geschildert. Marja Iwanowna setzte sich in eine Ecke und nahm eine Näharbeit vor. Unterdessen wurde die Kohlsuppe gebracht. Wassilissa Jegorowna, die ihren Mann immer noch vermißte, schickte Palaschka zum zweitenmal hinaus. „Sag dem Herrn, die Gäste warteten und die Suppe würde kalt. Das Exerzieren läuft, gottlob, nicht davon, er hat noch Zeit genug, sich auszuschreien.“ Der Hauptmann erschien bald in Begleitung des Einäugigen. „Was soll denn das, Väterchen?“ sagte seine Frau zu ihm. „Das Essen ist längst und lange aufgetragen, und du läßt dich 346
zehnmal rufen.“ – „Siehst du wohl, Wassilissa Jegorowna“, antwortete Iwan Kusmitsch, „der Dienst hielt mich ab, ich mußte die Soldaten exerzieren lassen.“ – „Ach laß doch“, erwiderte die Hauptmannsfrau, „’s ist alles nur Gerede, daß du den Soldaten was beibringst – weder werden die Leute draus klug noch verstehst du was davon. Solltest lieber zu Hause sitzen und beten, das wäre vernünftiger. Nun, meine lieben Gäste, ich bitte zu Tisch.“ Wir setzten uns, Wassilissa Jegorowna schwieg keinen Augenblick und bestürmte mich mit Fragen: Wer meine Eltern seien, ob sie noch lebten, wo sie wohnten, wieviel Vermögen sie besäßen. Als sie hörte, daß mein Vater dreihundert leibeigene Bauern hätte, sagte sie: „Das soll sich nun einer vorstellen! Was es doch für reiche Leute auf der Welt gibt! Wir haben nur das eine Mädel, die Palaschka. Aber, gottlob, wir leben so schlecht und recht. Eins nur ist schlimm: Mascha ist im Alter, wo die Mädchen heiraten sollen, und was hat sie für eine Mitgift? Einen dichten Kamm und einen Birkenbesen und drei Kopeken bares Geld (Gott verzeih’s mir!), um ins Dampfbad gehn zu können. Gut, wenn sich ein braver Mann findet; sonst wird sie wohl ihr Leben lang Jungfer bleiben müssen.“ Ich sah Marja Iwanowna an; sie war ganz rot geworden, und sogar ein paar Tränen fielen in ihren Teller. Sie tat mir leid, und ich beeilte mich, dem Gespräch eine andre Wendung zu geben. „Ich habe gehört“, sagte ich ziemlich ungeschickt, „daß die Baschkiren einen Überfall auf Ihre Festung planen.“ – „Von wem hast du denn das gehört, mein Bester?“ fragte Iwan Kusmitsch. „In Orenburg sprach man mir davon“, antwortete ich. „Dummes Zeug“, sagte der Kommandant. „Bei uns hört man schon lange nichts mehr. Die Baschkiren sind verschüchtert, und auch die Kirgisen haben ihren Denkzettel gekriegt. Zu uns wagen sie sich nicht heran, und tun sie es doch, dann wasch ich ihnen die Köpfe so gründlich, daß sie zehn Jahre Ruhe halten.“ – „Und Sie fürchten sich gar nicht“, fuhr ich, zur Hauptmannsfrau gewendet, fort, „in einer Festung zu bleiben, die derartigen Gefahren ausgesetzt ist?“ – „Gewohnheit, Väterchen“, erwiderte sie. „Vor zwanzig Jahren, als man 347
uns aus dem Regiment hierher versetzte – da hab ich mich wohl sehr vor dem verdammten Heidenpack gefürchtet, Gott steh mir bei! Ich brauchte bloß die Luchsfellmützen zu sehen und ihr Geheul zu hören, da stand mir das Herz still, Väterchen, du magst mir’s glauben oder nicht! Jetzt hab ich mich so dran gewöhnt, daß ich mich nicht vom Platz rühre, wenn jemand mit der Meldung kommt, daß das Gesindel wieder um die Festung herumlungert.“ „Wassilissa Jegorowna ist eine sehr tapfere Dame“, sagte Schwabrin feierlich. „Iwan Kusmitsch kann es bezeugen.“ „Ja, siehst du wohl“, sagte Iwan Kusmitsch, „das Frauenzimmer hat Mut.“ „Nun, und Marja Iwanowna?“ fragte ich. „Ist sie ebenso tapfer wie Sie?“ „Ob Mascha tapfer ist?“ fragte die Mutter. „Nein, Mascha ist ein Hasenfuß. Bis heute kann sie keinen Gewehrschuß hören – gleich zittert sie am ganzen Leibe. Und als Iwan Kusmitsch vor zwei Jahren auf den Gedanken kam, zu meinem Namenstag die Kanone abzufeuern, da wäre mein Täubchen vor Schreck fast gestorben. Seitdem feuern wir aus der verdammten Kanone nicht mehr.“ Wir standen vom Tisch auf. Der Hauptmann und seine Frau gingen schlafen; ich begab mich zu Schwabrin und verbrachte den ganzen Abend bei ihm.
Viertes Kapitel
Der Zweikampf
Wenn du’s nicht anders willst, stell dich in Positur. Mein Degen soll dir schon durchbohren die Figur. Knjashnin
Einige Wochen waren vergangen, und das Leben in der Festung Belogorskaja kam mir nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm vor. Im Hause des Kommandanten ward ich aufgenommen wie ein Verwandter. Der Mann und die Frau waren höchst ehrenwerte Leute. Iwan Kusmitsch, ein Soldatenkind, das es bis zum Offizier gebracht hatte, war ein ungebildeter und einfacher, aber durch und durch ehrlicher und braver Mann. Seine Frau hatte ihn ganz in ihrer Gewalt, was vollkommen seinem sorglosen Charakter entsprach. Wassilissa Jegorowna machte keinen Unterschied zwischen den Angelegenheiten des Dienstes und denen ihrer Wirtschaft und regierte die Festung ebenso wie ihr Haus. Marja Iwanowna hatte ihre Schüchternheit mir gegenüber bald aufgegeben. Wir wurden gut bekannt. Ich lernte sie als vernünftiges und gefühlvolles Mädchen kennen. Ganz unmerklich gewann ich die biedere Familie sehr lieb, sogar den einäugigen Garnisonleutnant Iwan Ignatjitsch, von dem Schwabrin sich ausgedacht hatte, er stände in einem unerlaubten Verhältnis zu Wassilissa Jegorowna, was auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit hatte; aber danach fragte Schwabrin nicht. Ich wurde zum Offizier befördert. Der Dienst strengte mich nicht an. In der gottgeschützten Festung gab es weder Musterungen noch Übungen, noch Wachen. Der Kommandant ließ die Soldaten hin und wieder, wenn ihm der Sinn danach stand, exerzieren, hatte aber noch nicht erreichen können, daß sie alle wuß349
ten, welches die rechte und welches die linke Seite wäre, obgleich viele, um nicht zu fehlen, sich vor jeder Wendung mit dem Zeichen des Kreuzes segneten. Schwabrin hatte ein paar französische Bücher. Ich fing an zu lesen, und in mir erwachte die Neigung zur Literatur. Morgens las ich, übte mich im Übersetzen, mitunter auch im Verfassen von Versen; zu Mittag aß ich fast immer beim Kommandanten, wo ich gewöhnlich auch den Rest des Tages zubrachte; abends stellte sich zuweilen auch der Vater Gerassim mit seiner Frau Akulina Pamfilowna ein, der ersten Geschichtenmacherin im ganzen Bezirk. Alexej Iwanowitsch Schwabrin sah ich natürlich täglich; doch von Stunde zu Stunde wurde mir der Verkehr mit ihm unangenehmer. Seine beständigen Spötteleien über die Familie des Kommandanten gefielen mir gar nicht, am wenigsten die Sticheleien über Marja Iwanowna. Andere Gesellschaft gab es in der Festung nicht; ich wünschte mir aber auch keine andere. Trotz der Voraussage des Generals rührten die Baschkiren sich nicht. Rings um unsere Festung herrschte tiefe Ruhe. Aber der Friede wurde plötzlich durch ein Zerwürfnis gestört. Ich bemerkte schon, daß ich mich mit Literatur beschäftigte. Meine Versuche waren für die damalige Zeit nicht übel; einige Jahre später wurden sie von Alexander Petrowitsch Sumarokow sehr gelobt. Einmal gelang mir ein kleines Lied, mit dem ich sehr zufrieden war. Bekanntlich suchen die Autoren bisweilen unter dem Verwande, sie brauchten guten Rat, nach wohlwollenden Zuhörern. Und so brachte auch ich mein Liedchen, nachdem ich eine Reinschrift verfertigt hatte, zu Schwabrin, der allein in der ganzen Festung imstande war, ein Dichterwerk zu würdigen. Nach einer kurzen Vorrede zog ich mein Heft aus der Tasche und las ihm folgende Verse vor: Ach, verzehrt von Liebesleide, Lechz ich nach Vergessenheit; Wenn ich Maschas Anblick meide, Wähn ich, wird mein Herz befreit. 350
Aber ihre Zauberblicke Lächeln überall mir zu, Sie bestimmen mein Geschicke, Rauben meines Herzens Ruh. Mascha, Mascha, hör mich klagen Und erbarm dich meiner Pein! Ach, ich kann’s nicht länger tragen! O erbarm, erbarm dich mein! „Wie findest du das?“ fragte ich Schwabrin in Erwartung des mir als schuldigen Tribut zukommenden Lobes. Aber zu meinem großen Ärger erklärte der sonst sehr nachsichtige Schwabrin mein Lied für ganz schlecht. „Warum?“ fragte ich, meinen Ärger verbeißend. „Weil“, erwiderte er, „solche Verschen meines Lehrers Wassilij Kirilitsch Trediakowskij würdig sind. Sie erinnern mich lebhaft an seine Liebesliedchen.“ Mit diesen Worten griff er nach meinem Heft und begann jeden Vers und jedes Wort erbarmungslos zu analysieren, wobei er sich in der bissigsten Weise über mich lustig machte. Das wurde mir zuviel, ich riß ihm das Heft aus der Hand und sagte, daß ich ihm meine Dichtungen hinfort nie mehr zeigen würde. Schwabrin lachte auch über diese Drohung. „Wir wollen sehen“, sagte er, „ob du Wort hältst; der Versifex braucht einen Zuhörer wie Iwan Kusmitsch seine Karaffe Schnaps vor dem Essen. Wer ist denn diese Mascha, der du dein Liebeslied und deine Herzenspein gestehst? Wohl gar Marja Iwanowna?“ „Das geht dich nichts an“, antwortete ich finster. „Du brauchst nicht zu wissen, wer diese Mascha ist. Ich bedarf weder deines Urteils noch deiner Vermutungen.“ „Oho! Der selbstbewußte Dichter und bescheidene Liebhaber“, fuhr Schwabrin fort, mich immer mehr reizend. „Laß dir aber einen freundschaftlichen Rat geben: Wenn du Erfolg haben willst, so empfehle ich dir, nicht mit Liedern zu wirken.“ „Was soll das heißen, mein Herr? Drücke dich klarer aus.“ 351
„Sehr gern. Das soll heißen: Wenn du haben willst, daß Mascha Mironowa in der Dämmerung zu dir kommt, so schenk ihr statt eines zärtlichen Liedchens ein Paar Ohrringe.“ Mein Blut wallte auf. „Was berechtigt dich, so von ihr zu denken?“ fragte ich, meine Empörung mühsam dämpfend. „Was mich dazu berechtigt?“ sagte er mit teuflischem Lachen. „Ich kenne ihre Art und ihre Gewohnheiten aus Erfahrung.“ „Du lügst, Schuft“, schrie ich in rasender Wut. „Du lügst in der schamlosesten Weise!“ Schwabrin verzog das Gesicht. „Das soll dir nicht so durchgehen“, sagte er, meinen Arm zusammenpressend. „Sie werden mir Satisfaktion geben!“ „Sehr gern, wann du willst“, erwiderte ich erfreut. In diesem Augenblick hätte ich ihn zerreißen können. Ich begab mich sofort zu Iwan Ignatjitsch und fand ihn mit einer Stopfnadel bewaffnet; auf Befehl der Kommandantin reihte er Pilze auf einen Bindfaden, die für den Winter getrocknet werden sollten. „Ah! Pjotr Andrejitsch!“ sagte er, als er mich erblickte. „Willkommen! Was führt Sie her? In welcher Angelegenheit, wenn ich bitten darf?“ Ich teilte ihm in aller Kürze mit, daß ich mit Alexej Iwanytsch Streit gehabt hätte und ihn, Iwan Ignatjitsch, bitte, mein Sekundant zu sein. Iwan Ignatjitsch hörte mir aufmerksam zu und starrte mich dabei aus seinem weit aufgerissenen einzigen Auge erstaunt an. „Sie wollen sagen“, fing er endlich an, „daß Sie Alexej Iwanytsch totstechen möchten, und wünschen, ich solle Zeuge dabei sein? Ist es so, wenn ich fragen darf?“ „Allerdings.“ „Erbarmen Sie sich, Pjotr Andrejitsch! Was fällt Ihnen ein! Sie haben sich mit Alexej Iwanytsch gezankt? Großes Unglück! Schmähreden verweht der Wind. Er sagt Ihnen ein freches Wort, und Sie sagen ihm zwei dagegen; er gibt Ihnen eine Maulschelle, und Sie geben ihm eine Backpfeife, eine zweite, eine dritte, wenn’s sein muß! Dann geht jeder seines Wegs, und unsere Sache ist’s, Sie wieder zu versöhnen. Bedenken Sie doch – was 352
haben Sie davon, wenn ich fragen darf, Ihren Mitmenschen abzustechen? Und wenn’s noch sicher wäre, daß Sie ihn totstechen! Es ist nicht schade um Alexej Iwanytsch, ich selber mag ihn nicht. Wenn aber er Sie durchbohrt? Was soll dann werden? Wer ist dann der Genarrte, wenn ich fragen darf?“ Die Betrachtungen des vernünftigen Leutnants konnten mich nicht irremachen. Ich blieb bei meinem Entschluß. „Wie Sie wollen“, sagte Iwan Ignatjitsch, „tun Sie, was Sie für recht halten. Aber wozu soll ich dabei Zeuge sein? Aus welchem Grunde? Leute schlagen sich – was ist da Besonderes zu sehen, wenn ich fragen darf? Gott sei Dank, ich bin gegen den Schweden ins Feld gezogen und gegen den Türken, ich habe alles mögliche gesehen.“ Ich suchte ihn, so gut es ging, über die Pflichten eines Sekundanten aufzuklären, aber Iwan Ignatjitsch konnte mich ganz und gar nicht verstehen. „Wie Sie wollen“, sagte er endlich. „Aber wenn ich mich in diese Sache mischen soll, so kann ich nichts anderes tun, als zu Iwan Kusmitsch gehen und ihm pflichtgemäß melden, daß in der Festung ein Verbrechen geplant wird, das dem Interesse der Krone nicht zuträglich ist: Ob der Herr Kommandant die Güte haben wollen, entsprechende Maßnahmen zu treffen? …“ Ich erschrak und bat Iwan Ignatjitsch, dem Kommandanten nichts zu sagen; mit Mühe und Not brachte ich ihn dazu; er gab mir sein Wort, und ich beschloß, ihn in Ruhe zu lassen. Den Abend verbrachte ich nach meiner Gewohnheit beim Kommandanten. Ich suchte heiter und gleichmütig zu scheinen, um keinerlei Verdacht zu wecken und peinlichen Fragen aus dem Wege zu gehen; doch ich gestehe, daß ich nicht die Kaltblütigkeit besaß, deren sich fast alle rühmen, die in meiner Lage waren. An diesem Abend war ich zu Sanftmut und Rührung geneigt. Marja Iwanowna gefiel mir mehr denn je. Der Gedanke, daß ich sie vielleicht zum letztenmal sähe, verlieh ihr in meinen Augen etwas Rührendes. Schwabrin war auch da. Ich zog ihn beiseite und teilte ihm mein Gespräch mit Iwan Ignatjitsch mit. „Was brauchen wir Sekundanten?“ sagte er trocken. „Es geht auch ohne 353
sie,“ Wir beschlossen, uns hinter den Heuschobern zu schlagen, die sich in der Nähe der Festung befanden, und am nächsten Morgen gegen sieben Uhr dort zusammenzutreffen. Wir unterhielten uns anscheinend so freundschaftlich, daß Iwan Ignatjitsch sich vor Freude verplapperte. „So ist’s recht“, sagte er mir mit zufriedener Miene, „ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Streit; und bist du nicht ehrlich, so bist du doch gesund.“ „Was? Was? Iwan Ignatjitsch?“ fragte die Kommandantin, die in der Ecke saß und Karten legte. „Ich habe nicht recht gehört.“ Iwan Ignatjitsch sah, daß ich ihm durch Zeichen meine Unzufriedenheit ausdrückte, erinnerte sich seines Versprechens, wurde verlegen und wußte nicht, was er sagen sollte. Schwabrin kam ihm zu Hilfe. „Iwan Ignatjitsch“, sagte er, „billigt unsere Versöhnung.“ „Mit wem hast du denn Streit gehabt, Väterchen?“ „Pjotr Andrejitsch und ich haben uns tüchtig gezankt.“ „Weswegen?“ „Wegen einer Bagatelle: um ein Lied, Wassilissa Jegorowna.“ „Um so etwas zanken sie sich! … Um ein Lied! Wie kam denn das?“ „Das kam so: Pjotr Andrejitsch hat neulich ein Lied verfaßt und sang es gestern in meiner Gegenwart; da stimmte ich auch mein Lieblingsliedchen an: Hauptmannstochter, hab acht, Geh nicht allein um Mitternacht. Wir gerieten aneinander. Pjotr Andrejitsch war erst ganz böse geworden, nachher überlegte er aber, daß doch jeder singen könne, was er wolle. Damit war die Sache erledigt.“ Schwabrins Schamlosigkeit brachte mich fast von neuem in Wut; allein niemand außer mir hatte seine rohen Anspielungen verstanden; zum mindesten hatte niemand sie beachtet. Von den Liedern kam das Gespräch auf die Dichter, und der Kommandant bemerkte, sie wären alle liederliche Kerle und unverbesserliche Säufer, und gab mir den freundschaftlichen Rat, das 354
Versemachen zu lassen, da es dem Dienst nur hinderlich sei und zu nichts Gutem führen könne. Schwabrins Gegenwart war mir unerträglich. Ich verabschiedete mich bald vom Kommandanten und seiner Familie. Nach Hause gekommen, betrachtete ich meinen Degen, prüfte die Spitze und legte mich zu Bett, nachdem ich Saweljitsch befohlen hatte, mich gegen halb sieben zu wecken. Am nächsten Morgen stand ich zur bestimmten Stunde schon hinter den Heuschobern und wartete auf meinen Gegner. Er kam auch sehr bald. „Man kann uns überraschen“, sagte er. „Wir müssen uns beeilen.“ Wir nahmen die Röcke ab, behielten nur die Westen an und zogen die Degen, In diesem Augenblick kam hinter einem Heuschober plötzlich Iwan Ignatjitsch mit fünf Invaliden hervor. Er forderte uns zum Kommandanten; ärgerlich fügten wir uns; die Soldaten umringten uns, und wir folgten Iwan Ignatjitsch, der uns im Triumph fortführte und dabei ungemein feierlich einherschritt. Wir traten in das Haus des Kommandanten. Iwan Ignatjitsch riß die Tür auf und proklamierte feierlich: „Da hab ich sie!“ Wir wurden von Wassilissa Jegorowna empfangen. „Ach meine Besten! Was sind das für Geschichten? Wie? Was? In unserer Festung Mord und Totschlag! Iwan Kusmitsch, setze sie gleich in Arrest! Pjotr Andrejitsch, Alexej Iwanytsch! Geben Sie gleich Ihre Degen ab! Schnell! Her damit! Palaschka, trage die Degen in die Rumpelkammer! Pjotr Andrejitsch, das hätte ich von dir nicht erwartet! Schämst du dich gar nicht? Von Alexej Iwanytsch rede ich nicht – er ist für eine Mordtat aus der Garde hierher verschickt worden, er glaubt auch an Gott den Herrn nicht! Aber du? Mußt du es ihm nachmachen?“ Iwan Kusmitsch war mit seiner Gattin vollkommen einverstanden und sagte: „Siehst du wohl, Wassilissa Jegorowna sagt die Wahrheit. Zweikämpfe sind in den Kriegsartikeln nach aller Form Rechtens verboten.“ Unterdessen hatte Palaschka uns die Degen abgenommen und in die Kammer getragen. Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten. Schwabrin verharrte in feierlichem Ernste. „Bei all meiner Achtung vor Ihnen“, sagte er ihr 355
kaltblütig, „muß ich doch bemerken, daß Sie sich unnütz anstrengen, wenn Sie über uns Gericht halten wollen. Überlassen Sie das Iwan Kusmitsch – das ist seine Sache.“ – „Ach, Väterchen!“ erwiderte die Kommandantin, „sind denn Mann und Weib nicht ein Geist und ein Leib? Iwan Kusmitsch, was hältst du Maulaffen feil? Sperr sie beide getrennt ein, bei Wasser und Brot, daß sie von ihrer Dummheit kuriert werden, und mag Vater Gerassim ihnen eine Kirchenbuße auferlegen, daß sie Gott um Vergebung bitten und vor den Leuten Abbitte tun.“ Iwan Kusmitsch wußte nicht, wozu er sich entschließen sollte. Marja Iwanowna war sehr bleich. Nach und nach legte sich der Sturm; die Kommandantin beruhigte sich und zwang uns, einander zu küssen. Palaschka brachte uns die Degen zurück. Wir gingen scheinbar versöhnt vom Kommandanten fort. Iwan Ignatjitsch begleitete uns. „Schämen Sie sich gar nicht“, sagte ich ärgerlich zu ihm, „uns beim Kommandanten zu denunzieren, nachdem Sie mir Ihr Wort gegeben hatten, es nicht zu tun?“ – „Gott ist mein Zeuge, ich habe Iwan Kusmitsch nichts gesagt“, antwortete er. „Wassilissa Jegorowna hat alles aus mir herausgeholt. Sie hat auch alles Weitere angeordnet, ohne Wissen des Kommandanten. Aber Gott sei Lob und Dank, daß es so ausgegangen ist.“ Mit diesen Worten trennte er sich von uns, um nach Hause zu gehen; Schwabrin und ich blieben allein. „Unsere Sache kann damit noch nicht beendet sein“, sagte ich zu ihm. „Gewiß“, antwortete Schwabrin, „Sie werden Ihre Frechheit mit Blut bezahlen müssen. Aber man wird uns jetzt wahrscheinlich scharf beobachten. Ein paar Tage werden wir uns verstellen müssen. Auf Wiedersehen.“ Und wir trennten uns, als wäre nichts geschehen. Zum Kommandanten zurückgekehrt, setzte ich mich, wie gewöhnlich, neben Marja Iwanowna. Iwan Kusmitsch war nicht zu Hause; Wassilissa Jegorowna hatte in der Wirtschaft zu tun. Wir unterhielten uns halblaut. Marja Iwanowna machte mir zärtliche Vorwürfe wegen der Unruhe, in die mein Streit mit Schwabrin alle versetzt hatte. „Ich war starr“, sagte sie, „als man mir erzählte, Sie wollten mit Degen fechten. Wie sonderbar sind 356
die Männer! Wegen eines Wortes, das sie nach einer Woche gewiß vergessen hätten, sind sie bereit, sich gegenseitig abzuschlachten, und opfern nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Gewissen und das Glück jener, die … Aber ich bin überzeugt, daß nicht Sie den Streit hervorgerufen haben. Gewiß ist Alexej Iwanytsch schuld.“ „Warum denken Sie so, Marja Iwanowna?“ „Weil … Er ist ein solcher Spötter. Ich mag Alexej Iwanytsch nicht. Er ist mir sehr zuwider. Aber wie seltsam: Um nichts in der Welt wünschte ich, daß ich ihm auch mißfiele. Das würde mich furchtbar beunruhigen.“ „Was meinen Sie denn, Marja Iwanowna? Gefallen Sie ihm oder nicht?“ Marja Iwanowna stockte und errötete. „Mir scheint …“, sagte sie, „ich glaube, daß ich ihm gefalle.“ „Warum glauben Sie das denn?“ „Weil er um mich gefreit hat.“ „Gefreit! Er um Sie! Wann denn?“ „Im vorigen Jahr. Ungefähr zwei Monate vor Ihrer Ankunft.“ „Und Sie sagten nicht ja?“ „Wie Sie sehen. Alexej Iwanytsch ist gewiß ein gescheiter Mann aus guter Familie und hat Vermögen; aber wenn ich mir vorstellen soll, ich müßte ihn vor dem Traualtar in aller Gegenwart küssen – nie und nimmer! Um nichts in der Welt!“ Marja Iwanownas Worte öffneten mir die Augen und erklärten mir vieles. Nun begriff ich die üble Nachrede, mit der Schwabrin sie hartnäckig verfolgte. Er hatte wohl unsere gegenseitige Zuneigung bemerkt und wollte uns auseinander bringen. Die Worte, die die Veranlassung zu unserem Streit gegeben hatten, schienen mir nun erst recht abscheulich, da ich statt eines rohen und unpassenden Scherzes eine wohlüberlegte Verleumdung erkannte. Der Wunsch, den frechen Lügner zu strafen, wurde in mir noch stärker, und ich wartete mit Ungeduld auf eine passende Gelegenheit. Ich brauchte nicht lange zu warten. Schon am nächsten Tage, als ich über einer Elegie saß und in Erwartung eines Reims an 357
meiner Feder kaute, klopfte Schwabrin an mein Fenster. Ich ließ die Feder liegen, ergriff meinen Degen und ging zu ihm hinaus. „Warum verschieben?“ sagte Schwabrin zu mir. „Wir sind unbeobachtet. Gehen wir an den Fluß. Da kann uns niemand stören.“ Wir machten uns schweigend auf den Weg, stiegen den steilen Fußpfad hinab, blieben dicht am Wasser stehen und zogen die Degen. Schwabrin war gewandter als ich, aber ich war stärker und kühner, und Monsieur Beauprès, der früher Soldat gewesen war, hatte mir einige Fechtstunden gegeben, die mir jetzt zugute kamen. Schwabrin hatte nicht erwartet, in mir einen so gefährlichen Gegner zu finden. Lange konnten wir uns gegenseitig keinen Schaden antun; endlich, als ich bemerkte, daß Schwabrins Kraft erlahmte, drang ich lebhaft auf ihn ein und trieb ihn fast in den Fluß hinein. Da hörte ich laut meinen Namen rufen. Ich sah mich um und erblickte Saweljitsch, der auf dem Fußpfad mir entgegengelaufen kam … In diesem Augenblick fühlte ich einen Stich in der Brust unter der rechten Schulter, ich fiel hin und verlor die Besinnung.
Fünftes Kapitel
Die Liebe
Ach du schönes Mägdelein! Heirat’, Mägdlein, nicht zu früh! Frage Vater und Mutter erst, Vater und Mutter, dein ganzes Geschlecht. Sammle, Mägdlein, Sinn und Verstand, Sinn und Verstand und Mitgift auch. Volkslied Findst du ’ne Schönere – vergissest du mich, Findst du keine – gedenkst du meiner. Volkslied
Als ich erwachte, konnte ich mich eine Zeitlang auf nichts besinnen und begriff nicht, was mit mir geschehen war. Ich lag auf dem Bette in einem mir unbekannten Zimmer und fühlte mich sehr schwach. Vor mir stand Saweljitsch mit einer Kerze in der Hand. Jemand löste behutsam den Verband, der um meine Brust und Schulter geschlungen war. Nach und nach klärten sich meine Gedanken. Ich erinnerte mich wieder des Zweikampfes und erriet, daß ich verwundet war. In diesem Augenblick knarrte die Tür. „Nun, wie geht’s?“ flüsterte eine Stimme, die mich erbeben machte. „Immer noch derselbe Zustand“, erwiderte Saweljitsch seufzend, „immer bewußtlos; heute werden’s fünf Tage.“ Ich wollte mich umwenden, es ging aber nicht. „Wo bin ich? Wer ist da?“ brachte ich mühsam heraus. Marja Iwanowna trat an mein Bett und beugte sich über mich. „Nun? Wie fühlen Sie sich?“ fragte sie. „Gott sei Dank“, antwortete ich mit schwacher Stimme. „Sind Sie es, Marja Iwanowna? Sagen Sie mir …“ Ich war zu schwach, um weiterzureden, und verstummte. Sawe359
Ijitsch stieß einen Seufzer aus. Freude malte sich auf seinem Gesicht. „Er ist zu sich gekommen! Er ist zu sich gekommen!“ sagte er immer wieder. „Dem Herrn sei Lob und Dank! Nun, Väterchen Pjotr Andrejitsch, hast du mich in Schrecken versetzt! Ganz schön! Fünf Tage! …“ Marja Iwanowna fiel ihm ins Wort. „Sprich nicht soviel mit ihm, Saweljitsch“, sagte sie, „er ist noch schwach.“ Sie ging hinaus und schloß leise die Tür. Meine Gedanken wogten wild durcheinander. Ich war also im Hause des Kommandanten, Marja Iwanowna konnte zu mir kommen. Ich wollte einige Fragen an Saweljitsch stellen, aber der Alte schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Ich schloß ärgerlich die Augen und versank bald in Schlummer. Als ich erwachte, rief ich nach Saweljitsch, doch an seiner Statt sah ich Marja Iwanowna vor mir stehen; ihre Engelsstimme begrüßte mich. Ich kann das selige Gefühl nicht schildern, das sich in diesem Augenblick meiner bemächtigte. Ich ergriff ihre Hand und preßte sie an mein Gesicht; Tränen der Rührung strömten über sie hin. Mascha zog die Hand nicht fort … und plötzlich berührten ihre Lippen meine Wange, ich fühlte ihren heißen und frischen Kuß. Es lief mir wie Feuer durch die Adern. „Liebe, gute Marja Iwanowna“, sprach ich zu ihr, „du sollst meine Frau werden; mache mich glücklich.“ Sie kam zu sich. „Um Gottes willen, beruhigen Sie sich“, sagte sie, mir ihre Hand entziehend. „Sie sind noch in Lebensgefahr – die Wunde kann sich wieder öffnen. Schonen Sie sich, wenn auch nur mir zuliebe.“ Mit diesen Worten ging sie und ließ mich in seliger Begeisterung zurück. Das Glück hatte mich zum Leben erweckt! Sie wird mein sein! Sie liebt mich! Dieser Gedanke erfüllte mein ganzes Sein! Von da an fühlte ich mich stündlich besser. Behandelt wurde ich vom Regimentsbarbier, denn einen andern Arzt gab es in der Festung nicht, und dieser dünkte sich, gottlob, nicht klüger, als er war. Jugend und Natur beschleunigten meine Genesung. Die ganze Familie des Kommandanten pflegte mich. Marja Iwanowna ging nicht von mir. Selbstverständlich nahm ich bei der nächsten passenden Gelegenheit die unterbrochene Aussprache wieder auf, und Marja Iwanowna hörte mich mit mehr Geduld 360
an. Ohne jede Ziererei gestand sie mir ihre herzliche Zuneigung und sagte, ihre Eltern würden selbstverständlich über ihr Glück hocherfreut sein. „Aber überlege dir ordentlich“, fügte sie hinzu, „ob deine Verwandten nicht Schwierigkeiten machen könnten.“ Ich wurde nachdenklich. Die zärtliche Liebe meiner Mutter war für mich über allem Zweifel; aber den Charakter und die Denkart meines Vaters kannte ich genug, um zu ahnen, daß meine Liebe ihn nicht allzusehr rühren würde: Er würde in ihr nur die Torheit eines jungen Menschen sehen. Ich gestand das Marja Iwanowna ganz offen, beschloß jedoch, in einem Brief an den Vater meine ganze Beredsamkeit zu entfalten und ihn um seinen Segen zu bitten. Ich zeigte Marja Iwanowna den Brief, und sie fand ihn so überzeugend und rührend, daß sie an seinem Erfolg nicht zu zweifeln vermochte und sich nun den Empfindungen ihres zarten Herzens mit der ganzen Vertrauensseligkeit der Jugend und der Liebe hingab. Mit Schwabrin versöhnte ich mich in den ersten Tagen nach meiner Genesung. Iwan Kusmitsch erteilte mir wegen des Zweikampfes einen strengen Verweis und fügte hinzu: „Ach, Pjotr Andrejitsch! Von Rechts wegen müßte ich dich in Arrest setzen, aber du bist schon genug gestraft. Alexej Iwanytsch sitzt im Kornmagazin unter Bewachung, und seinen Degen hat Wassilissa Jegorowna eingeschlossen. Da mag er nun nachdenken und bereuen.“ Ich war zu glücklich, um irgendwelche feindseligen Gefühle in meinem Herzen zu hegen. Ich bat für Schwabrin, und der gute Kommandant beschloß mit Zustimmung seiner Gattin, ihm die Freiheit wiederzugeben. Schwabrin kam zu mir. Er sprach mir sein tiefes Bedauern über das Geschehene aus, erklärte sich für den allein Schuldigen und bat mich, das Gewesene zu vergessen. Da ich von Natur nicht nachtragend war, verzieh ich ihm aufrichtig sowohl unsern Streit als die Wunde, die er mir geschlagen hatte. Seine Verleumdung erklärte ich aus dem Ärger des gekränkten Selbstgefühls und der verschmähten Liebe und entschuldigte meinen unglücklichen Nebenbuhler großmütig. Bald war ich genesen und konnte in meine Wohnung zurückkehren. Mit Ungeduld erwartete ich die Antwort auf meinen 361
Brief; ich wagte kaum zu hoffen und suchte meine traurigen Ahnungen gewaltsam zu unterdrücken. Mit Wassilissa Jegorowna und ihrem Mann hatte ich mich noch nicht ausgesprochen; aber meine Werbung hätte sie kaum überrascht. Weder ich noch Marja Iwanowna suchten unsere Gefühle vor ihnen zu verbergen, und wir waren ihrer Zustimmung schon im voraus sicher. Endlich, an einem schönen Morgen trat Saweljitsch bei mir ein und hielt einen Brief in der Hand. Zitternd ergriff ich ihn. Die Adresse war von meines Vaters Hand geschrieben. Das verhieß wichtige Dinge, denn gewöhnlich war es die Mutter, die mir schrieb, und der Vater fügte nur ein paar Zeilen am Schluß hinzu. Lange zögerte ich, den Umschlag zu öffnen, und las immer wieder die feierliche Aufschrift: „Meinem Sohn Pjotr Andrejitsch Grinjow, ins Gouvernement Orenburg, in die Festung Belogorskaja.“ Ich suchte aus der Handschrift die Stimmung zu erraten, in der der Brief geschrieben war; endlich entschloß ich mich, ihn zu öffnen, und schon die ersten Zeilen bewiesen mir, daß alles zum Teufel war. Der Brief hatte folgenden Inhalt: Mein Sohn Pjotr! Deinen Brief, in welchem Du uns um unsern elterlichen Segen und unsere Zustimmung zur Ehe mit Marja Iwanowna Mironowa bittest, haben wir am 15. dieses Monats erhalten, und nicht nur habe ich keineswegs die Absicht, Dir meinen Segen oder meine Einwilligung zu geben, sondern ich hoffe, noch einmal an Dich heranzukommen, und Dir für Deine Narrenstückchen einen tüchtigen Denkzettel zu verabfolgen, ohne mich um Deinen Offiziersrang zu kümmern, wie man einen dummen Jungen abfertigt; denn Du hast gezeigt, daß Du noch nicht würdig bist, den Degen zu tragen, der Dir zur Verteidigung des Vaterlandes verliehen ward und nicht zu Zweikämpfen mit Taugenichtsen, wie Du selbst einer bist. Ich will sofort an Andrej Karlowitsch schreiben und ihn bitten, daß man Dich aus der Festung Belogorskaja in eine etwas entferntere Gegend versetzt, damit Du Dir die Dummheiten aus dem Kopf schlägst. Als Deine Mutter von Deinem Duell und Deiner Verwundung erfuhr, wurde sie vor Kummer krank und liegt noch jetzt zu 362
Bette. Was soll aus Dir werden? Ich bete zu Gott, daß er Dich bessern möge, obgleich ich auf seine große Gnade kaum zu hoffen wage. Dein Vater A. G. Die Lektüre dieses Briefes weckte in mir sehr verschiedenartige Empfindungen. Die harten Worte, die mein Vater nicht gespart hatte, kränkten mich tief. Die Herablassung, mit der er von Marja Iwanowna sprach, schien mir ebenso unpassend wie ungerecht. Der Gedanke, ich könnte aus der Festung Belogorskaja versetzt werden, erfüllte mich mit Schrecken; am meisten aber betrübte mich die Nachricht von der Erkrankung meiner Mutter. Ich zürnte Saweljitsch, weil ich nicht zweifelte, daß die Eltern durch ihn Kenntnis vom Zweikampf erhalten hatten. Ich ging in meinem engen Zimmer auf und ab, blieb plötzlich vor ihm stehen und sagte, indem ich ihn streng anblickte: „Dir war’s wohl noch nicht genug, daß ich durch deine Schuld verwundet wurde und einen Monat lang in Lebensgefahr schwebte; du willst auch meine Mutter ins Grab bringen!“ Saweljitsch war wie vom Donner gerührt. „Erbarme dich, Herr“, sagte er beinahe weinend, „was redest du da? Ich schuld an deiner Verwundung? Gott ist mein Zeuge, ich lief zu dir hin, um dich mit meiner Brust vor Alexej Iwanytschs Degen zu schützen! Das verfluchte Alter hat mir’s verwehrt. Und was hab ich denn deiner Frau Mutter getan?“ – „Was du getan hast?“ antwortete ich. „Wer hieß dich den Angeber machen? Bist du mir als Spion mitgegeben?“ – „Ich ein Angeber?“ antwortete Saweljitsch mit Tränen in den Augen. „Lieber Gott im Himmel! … Da lies einmal, was der gnädige Herr mir schreibt: Dann wirst du sehen, was ich für ein Angeber bin.“ Hier zog er einen Brief aus der Tasche und ich las folgendes: Schäm Dich, alter Hund, daß Du trotz meines strengen Befehls mir über meinen Sohn Pjotr Andrejitsch nichts berichtet hast und fremde Leute gezwungen waren, mich von seinen Streichen in Kenntnis zu setzen. So erfüllst Du Deine Pflicht und den Willen Deines Herrn? Du alter Hund sollst mir die Schweine hüten, weil Du mir die Wahrheit verbirgst und den Dumm363
Reiten des Jungen Vorschub leistest. Nach Empfang dieses Briefes befehle ich Dir, mir unverzüglich zu schreiben, wie es jetzt um seine Gesundheit steht – man schreibt mir, er erhole sich wieder – und wo er verwundet ist und ob man ihn gut ausgeheilt hat. Es war nicht zu bezweifeln, daß Saweljitsch mir gegenüber im Recht war und daß ich ihn durch meinen Vorwurf und Verdacht unnütz gekränkt hatte. Ich bat ihn um Verzeihung, allein der Alte war untröstlich. „Das muß ich erleben“, sagte er immer wieder. „Das ist die Gnade, die ich mir bei meiner Herrschaft verdient habe! Ein alter Hund bin ich, ein Sauhirt, und an deiner Wunde bin ich auch schuld! Nein, Väterchen Pjotr Andrejitsch, nicht ich, der verdammte Musjö ist an allem schuld: Er hat dich gelehrt, mit dem eisernen Bratspieß zu fuchteln und zu stampfen, als ob man mit Fuchteln und Stampfen sich vor bösen Menschen retten könnte! Sehr nötig war es, den Musjö anzustellen und das Geld für ihn wegzuwerfen!“ Wer aber hatte sich die Mühe gemacht, meinem Vater über mein Betragen Nachricht zu geben? Der General? Er schien sich um mich nicht allzuviel zu kümmern, und Iwan Kusmitsch hatte es nicht für nötig gehalten, über mein Duell zu rapportieren. Ich erging mich in den verschiedensten Vermutungen. Mein Verdacht fiel schließlich auf Schwabrin. Er allein hatte einen Vorteil von der Denunziation, deren Folge meine Entfernung aus der Festung und der Bruch mit der Familie des Kommandanten sein konnte. Ich ging, um Marja Iwanowna alles zu erzählen. Sie empfing mich vor der Haustür. „Was ist mit Ihnen geschehen?“ sagte sie, als sie mich sah. „Wie bleich Sie sind!“ – „Alles ist aus!“ antwortete ich und reichte ihr den Brief meines Vaters. Nun erbleichte auch sie. Sie las den Brief, gab ihn mir mit zitternder Hand zurück und sagte mit bebender Stimme: „Mein Schicksal hat es wohl so bestimmt … Ihre Verwandten wollen mich nicht in ihre Familie aufnehmen. So geschehe denn der Wille des Herrn! Gott weiß besser als wir, was uns not tut. Es geht nicht anders, Pjotr Andrejitsch, werden Sie wenigstens glücklich …“ – „Das darf nicht sein!“ rief ich, ihre Hand fassend, „du liebst mich; ich bin zu allem 364
bereit. Komm, fallen wir deinen Eltern zu Füßen, sie sind schlichte Leute, weder stolz noch hartherzig … Sie geben uns ihren Segen, wir lassen uns trauen … und dann, mit der Zeit gelingt es uns, meinen Vater umzustimmen; die Mutter wird für uns eintreten; er wird uns verzeihen! …“ – „Nein, Pjotr Andrejitsch“, erwiderte Mascha, „ich heirate dich nicht ohne den Segen deiner Eltern. Ohne ihren Segen kannst du nicht glücklich werden. Fügen wir uns in den Willen Gottes. Wenn du eine Braut findest, wenn du eine andere liebgewinnst – so möge Gott dir beistehen, Pjotr Andrejitsch; ich aber will für euch beide …“ Hier brach sie in Tränen aus und verließ mich; ich wollte ihr ins Zimmer nachgehen, aber ich fühlte, daß ich meiner selbst nicht Herr war, und kehrte in meine Wohnung zurück. Ich saß in tiefe Gedanken versunken, als Saweljitsch mich plötzlich aus meinen Betrachtungen riß. „Hier, Herr“, sagte er, mir ein engbeschriebenes Blatt Papier überreichend, „sieh her, ob ich ein Angeber bin und ob ich Vater und Sohn auseinanderbringen will!“ Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand: Es war Saweljitschs Antwort auf das Schreiben meines Vaters. Hier ist sie, Wort für Wort: Verehrter Herr Andrej Petrowitsch, Sie unser gnädigster Vater! Ihr gnädigstes Schreiben habe ich erhalten, in welchem Du mich, Deinen Sklaven, zu schelten geruhst, weil ich mich schämen sollte, die Befehle meiner Herrschaft nicht auszuführen; ich bin aber kein alter Hund, sondern Ihr getreuer Diener, den Befehlen der Herrschaft bin ich gehorsam und habe Ihnen stets eifrig gedient, und darüber ist mein Haar grau geworden. Über die Verwundung von Pjotr Andrejitsch habe ich Ihnen aber nichts geschrieben, um Sie nicht unnötig zu erschrecken, und ich habe gehört, daß die gnädige Frau, unsere Mutter Awdotja Wassiljewna, auch so schon vor Schreck sich hat zu Bett legen müssen, und ich will um ihre baldige Genesung zu Gott beten. Verwundet aber wurde Pjotr Andrejitsch unter der rechten Schulter, in die Brust, gleich unter dem Knochen, anderthalb Werschok tief, und gelegen hat er im Hause des Kommandanten, wohin wir ihn vom 365
Flußufer gebracht haben, und kuriert hat ihn der hiesige Barbier Stepan Paramonow, und jetzt ist Pjotr Andrejitsch, Gott sei Lob und Dank, ganz gesund, und außer Gutem läßt sich nichts über ihn sagen. Die Kommandeure sind, sagt man, mit ihm zufrieden, und Wassilissa Jegorowna behandelt ihn ganz wie ihren eigenen Sohn. Und daß ihm so eine Sache passiert ist, das ist für einen wackern Burschen keine Schande: Ein Roß hat vier Beine und stolpert dennoch. Und Sie geruhen mir noch zu schreiben, daß Sie mich wollen die Säue hüten lassen – das ist Ihr herrschaftliches Recht. Und somit grüße ich Sie untertänigst als Ihr getreuer Knecht Archip Saweljew. Ich konnte mich mehrmals des Lächelns nicht enthalten, als ich dieses Schreiben des guten Alten las. Meinem Vater zu antworten, war ich nicht imstande, und um die Mutter zu beruhigen, schien mir der Brief von Saweljitsch völlig ausreichend. Von dem Tage an änderte sich meine Lage. Marja Iwanowna sprach fast gar nicht mehr mit mir und suchte mir nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Das Haus des Kommandanten hatte keinen Reiz mehr für mich. Nach und nach gewöhnte ich mich daran, allein zu Hause zu sitzen. Wassilissa Jegorowna machte mir anfangs deswegen Vorwürfe, aber als sie meinen Starrsinn sah, ließ sie mich in Ruhe. Iwan Kusmitsch sah ich nur, wenn der Dienst es verlangte. Mit Schwabrin kam ich selten und ungern zusammen, um so mehr, als ich bei ihm eine verborgene Feindseligkeit gegen mich bemerkte, die mich in meinem Verdacht bestärkte. Das Leben wurde mir unerträglich. Ich versank in düstere Grübeleien, die durch die Einsamkeit und den Mangel an Beschäftigung genährt wurden. Meine Liebe wurde in der Einsamkeit nur immer heißer und bereitete mir von Stunde zu Stunde größere Qualen. Ich verlor die Lust am Lesen und Dichten. Ich war tief niedergeschlagen und fürchtete, den Verstand zu verlieren oder in ein Lasterleben zu versinken. Da brachte eine Reihe unerwarteter Begebenheiten, die einen großen Einfluß auf mein ganzes Leben haben sollten, meiner Seele plötzlich eine gewaltige und heilsame Erschütterung. 366
Sechstes Kapitel
Der Pugatschow-Aufstand
Ihr jungen Leute, hört mal zu. Was wir Alten euch erzählen. Volkslied
Ehe ich zur Darstellung der denkwürdigen Begebenheiten schreite, deren Zeuge ich wurde, muß ich ein paar Worte über die Lage vorausschicken, in der sich das Gouvernement Orenburg Ende 1773 befand. Dieses große und reiche Gouvernement war von einer Menge Halbwilder Völker bewohnt, die erst vor kurzem die Herrschaft der russischen Monarchen anerkannt hatten. Ihre wiederholten Aufstände, ihre Unfähigkeit, sich an die Gesetze und das bürgerliche Leben zu gewöhnen, ihr Leichtsinn und ihre Grausamkeit machten eine ständige Aufsicht seitens der Regierung notwendig, um sie in Gehorsam zu halten. An geeigneten Plätzen wurden Festungen angelegt und zum größten Teil mit Kosaken besiedelt, die seit langem im Besitz der Jaïkufer waren. Aber die Jaïkkosaken, die die Ruhe und Sicherheit des Landes hüten sollten, waren seit einiger Zeit selbst zu unruhigen und gefährlichen Untertanen der Regierung geworden. 1772 war in ihrer Hauptstadt ein Aufruhr ausgebrochen. Die Ursache waren die strengen Maßregeln, die der Generalmajor Traubenberg eingeführt hatte, um die Armee in schuldigem Gehorsam zu halten. Die Folge war die barbarische Ermordung Traubenbergs, eigenmächtige Änderung der Verwaltung und endlich die Niederschlagung des Aufruhrs durch Kartätschen und grausame Strafen. Das hatte sich kurz vor meinem Eintreffen in der Festung Belogorskaja begeben. Alles war schon ruhig oder schien so; die 367
Regierung hatte der scheinbaren Reue der hinterlistigen Aufrührer zu leicht Glauben geschenkt, denn insgeheim grollten sie weiter und warteten nur auf eine passende Gelegenheit, die Unruhen neu aufflammen zu lassen. Ich kehre zu meiner Erzählung zurück. Eines Abends (es war Anfang Oktober 1773) saß ich allein zu Hause, hörte dem Heulen des Herbstwindes zu und sah aus meinem Fenster nach den Wolken, die am Monde vorbeizogen. Da wurde ich zum Kommandanten gerufen. Ich ging sofort hin. Beim Kommandanten traf ich Schwabrin, Iwan Ignatjitsch und den Kosaken-Urjadnik. Weder Wassilissa Jegorowna noch Marja Iwanowna waren im Zimmer. Der Kommandant begrüßte mich mit sorgenvoller Miene. Er schloß die Tür, bat alle – mit Ausnahme des Urjadnik, der an der Tür stehen blieb –, sich zu setzen, zog ein Papier aus der Tasche und sagte zu uns: „Meine Herren Offiziere, eine wichtige Neuigkeit! Hören Sie, was der General schreibt.“ Darauf setzte er die Brille auf und las folgendes: „Dem Herrn Kommandanten der Festung Belogorskaja Hauptmann Mironow geheim Hierdurch setze ich Sie in Kenntnis, daß der aus dem Arrest entflohene Donkosak und Raskolnik Jemeljan Pugatschow, nachdem er sich in unverzeihlicher Frechheit den Namen des hochseligen Kaisers Peter III. zugelegt, eine Räuberbande gebildet, einen Aufruhr in den Jaïksiedlungen hervorgerufen und bereits einige Festungen eingenommen und zerstört hat. Mord und Raub waren überall seine Begleiter. Angesichts dessen haben Sie, Herr Hauptmann, nach Empfang dieses Schreibens unverzüglich die notwendigen Maßregeln zu ergreifen, um den genannten Bösewicht und Usurpator abzuwehren, möglichenfalls auch gänzlich zu vernichten, wenn er sich gegen die Ihrer Obhut anvertraute Festung wenden sollte.“ „Notwendige Maßregeln ergreifen!“ sagte der Kommandant, indem er die Brille abnahm und das Blatt zusammenfaltete. „Das 368
ist leicht gesagt. Der Bösewicht ist augenscheinlich stark; wir aber haben nur einhundertunddreißig Mann, die Kosaken nicht mitgezählt, auf die wenig Verlaß ist – fasse das nicht als Vorwurf auf, Maximytsch.“ (Der Urjadnik lächelte.) „Aber es ist nichts zu machen, meine Herren Offiziere! Seien Sie pünktlich, stellen Sie Wachtposten auf, machen Sie nächtliche Patrouillengänge, schließen Sie das Tor bei einem Überfall und führen Sie die Soldaten hinaus. Du, Maximytsch, hab gut auf deine Kosaken acht. Die Kanone muß untersucht und gründlich gereinigt werden. Vor allem aber haltet das alles geheim, daß niemand in der Festung vor der Zeit etwas erfahre.“ Nachdem er diese Befehle gegeben hatte, entließ Iwan Kusmitsch uns. Ich ging mit Schwabrin zusammen hinaus; wir sprachen über das soeben Gehörte. „Was meinst du, womit wird das enden?“ fragte ich ihn. „Gott weiß“, erwiderte er. „Wir wollen sehen. Wichtig erscheint mir die Sache vorderhand nicht. Wenn aber …“ Hier versank er in Gedanken und begann zerstreut eine französische Arie vor sich hin zu pfeifen. Trotz aller unserer Vorsichtsmaßregeln verbreitete sich die Kunde vom Erscheinen Pugatschows bald in der ganzen Festung. Iwan Kusmitsch empfand vor seiner Gattin zwar die größte Hochachtung, er hätte ihr aber um nichts in der Welt ein Geheimnis offenbart, das ihm dienstlich anvertraut war. Als er den Brief des Generals erhalten, hatte er Wassilissa Jegorowna recht geschickt aus dem Hause entfernt, indem er ihr mitgeteilt hatte, der Vater Gerassim hätte aus Orenburg irgendwelche wunderbare Nachrichten erhalten, die er sorgsam geheimhalte. Wassilissa Jegorowna wollte sich nun sofort zur Popenfrau begeben und nahm auf den Rat ihres Gatten auch Mascha mit, da sie sich allein zu Hause doch nur langweilen würde. Iwan Kusmitsch war nun Herr im Hause. Er schickte sofort nach uns, Palaschka aber sperrte er in der Rumpelkammer ein, damit sie nicht horchen könnte. Wassilissa Jegorowna kam heim, ohne etwas aus der Popenfrau herausbekommen zu haben, und erfuhr, daß in ihrer Abwesenheit bei Iwan Kusmitsch eine Besprechung stattgefunden 369
und daß Palaschka hinter Schloß und Riegel gesessen hätte. Nun erriet sie. daß sie von ihrem Mann betrogen worden war, und eröffnete sofort das Verhör. Aber Iwan Kusmitsch war auf den Angriff schon vorbereitet. Er zeigte sich nicht im geringsten verlegen und erwiderte seiner neugierigen Lebensgefährtin ganz ungeniert: „Ja, siehst du wohl, Mütterchen, unsere Weiber haben sich ausgedacht, ihre Öfen mit Stroh zu heizen; und weil dadurch leicht ein Unglück passieren kann, so habe ich strengen Befehl gegeben, daß die Weiber fortan die Öfen nicht mehr mit Stroh heizen, sondern nur noch mit Reisig und Knüppelholz.“ – „Wozu hast du denn aber die Palaschka eingesperrt?“ fragte die Kommandantin. „Warum mußte das arme Mädchen bis zu unserer Heimkehr in der Rumpelkammer sitzen?“ Iwan Kusmitsch war auf diese Frage nicht gefaßt; er geriet in Verwirrung und brummte etwas völlig Ungereimtes. Wassilissa Jegorowna erkannte die Hinterlist ihres Mannes, aber weil sie wußte, daß sie nichts aus ihm herauskriegen würde, stellte sie das Fragen ein und fing an von den Salzgurken zu reden, die Akulina Pamfilowna auf ganz besondere Weise zubereitete. Die ganze Nacht konnte Wassilissa Jegorowna nicht einschlafen und zerbrach sich vergeblich den Kopf, was ihr Mann im Sinne haben könnte, was sie nicht wissen durfte. Als sie tags darauf aus der Kirche kam, sah sie Iwan Ignatjitsch, wie er aus der Kanone Lappen, Steinchen, Holzspäne, Knochen und allerlei Abfälle herauszog, die die Kinder hineingestopft hatten. Was sollen diese Kriegsrüstungen bedeuten? dachte die Kommandantin. Erwartet man vielleicht einen Überfall der Kirgisen? Aber warum sollte Iwan Kusmitsch eine solche Kleinigkeit vor mir geheimhalten? Sie rief Iwan Ignatjitsch zu sich heran, in der festen Absicht, ihm das Geheimnis zu entlocken, das ihre weibliche Neugier so plagte. Wassilissa Jegorowna machte ihm ein paar Bemerkungen über die Wirtschaft – wie ein Richter, der das Verhör mit nebensächlichen Fragen eröffnet, um die Vorsicht des Delinquenten zuerst einzuschläfern. Dann schwieg sie einige Minuten, seufzte tief und sagte kopfschüttelnd: „Du 370
lieber Gott! Was sind das für Neuigkeiten! Wie soll das bloß werden?“ „Ach, Mütterchen“, antwortete Iwan Ignatjitsch, „Gott ist gnädig. Soldaten haben wir genug, Pulver auch, die Kanone habe ich gereinigt. Wir werden den Pugatschow schon zurückschlagen. Gott verläßt uns nicht, das Schwein frißt uns nicht.“ „Was ist dieser Pugatschow denn für ein Mann?“ fragte die Kommandantin. Nun merkte Iwan Ignatjitsch, daß er sich verplappert hatte, und biß die Zähne zusammen. Aber es war schon zu spät. Wassilissa Jegorowna zwang ihn, alles zu gestehen, nachdem sie ihm ihr Wort gegeben hatte, keinem etwas davon zu sagen. Wassilissa Jegorowna hielt ihr Versprechen und sagte keinem ein Wort außer der Popenfrau, und auch dieser nur, weil ihre Kuh noch in der Steppe weidete und von den Bösewichtern entführt werden konnte. Bald sprach alles von Pugatschow. Die Gerüchte waren sehr verschiedenartig. Der Kommandant schickte den Urjadnik mit dem Auftrage hinaus, in den benachbarten Siedlungen und Festungen genaue Nachforschungen anzustellen. Der Urjadnik kam nach zwei Tagen wieder und meldete, in der Steppe, etwa sechzig Werst von der Festung entfernt, hätte er zahlreiche Lichter gesehen und von den Baschkiren gehört, daß eine nie dagewesene Streitmacht im Anzüge sei. Übrigens konnte er nichts Positives mitteilen, weil er Furcht gehabt hatte, weiter ins Land hineinzureiten. In der Festung unter den Kosaken zeigte sich eine große Erregung; in allen Straßen standen sie gruppenweise zusammen, sprachen leise untereinander und zerstreuten sich, sobald sie einen Dragoner oder Garnisonsoldaten sahen. Man schickte Spione zu ihnen. Julai, ein getaufter Kalmücke, machte dem Kommandanten eine wichtige Meldung. Die Aussagen des Urjadnik seien falsch gewesen: Nach seiner Rückkehr habe der schlaue Kosak seinen Genossen mitgeteilt, er wäre bei den Rebellen gewesen, hätte sich ihrem Anführer selbst vorgestellt, der ihm gestattete, seine Hand zu küssen, und lange mit ihm geredet hätte. Der Korn371
mandant ließ den Urjadnik sofort festnehmen und setzte Julai auf seinen Posten. Diese neue Verordnung wurde von den Kosaken mit offenkundigem Mißbehagen aufgenommen. Sie murrten laut, und Iwan Ignatjitsch, der den Befehl des Kommandanten auszuführen hatte, hörte mit seinen eigenen Ohren, wie sie drohten: „Es geht dir noch an den Kragen, du Garnisonratte!“ Der Kommandant wollte seinen Arrestanten noch am selben Tage verhören, aber der Urjadnik entfloh aus der Haft, wahrscheinlich mit Hilfe seiner Gesinnungsgenossen. Ein neuer Umstand erhöhte die Unruhe des Kommandanten. Es wurde ein Baschkire mit aufrührerischen Proklamationen gefangengenommen. Aus diesem Anlaß wollte der Kommandant seine Offiziere wieder zusammenrufen und gedachte, Wassilissa Jegorowna abermals unter einem glaubhaften Vorwand zu entfernen. Aber da Iwan Kusmitsch ein sehr offenherziger und wahrheitsliebender Mensch war, so fand er dazu kein anderes Mittel, als das schon einmal angewandte. „Hör einmal, Wassilissa Jegorowna“, sagte er zu ihr und räusperte sich, „Vater Gerassim soll aus der Stadt Nachricht …“ „Laß doch das Flunkern, Iwan Kusmitsch“, fiel ihm die Kommandantin ins Wort, „du willst wohl wieder einen Rat abhalten und in meiner Abwesenheit über Jemeljan Pugatschow reden; aber diesmal führst du mich nicht an!“ Iwan Kusmitsch riß die Augen auf. „Nun, Mütterchen“, sagte er, „wenn du schon alles weißt, dann kannst du am Ende auch dableiben; wir wollen in deiner Gegenwart ratschlagen.“ – „So ist’s recht, Väterchen“, antwortete sie, „das Flausenmachen steht dir nicht zu Gesichte; laß mal die Offiziere holen.“ Wir versammelten uns wieder. Iwan Kusmitsch las uns im Beisein seiner Frau einen Aufruf Pugatschows vor, den irgendein (mit den Anfangsgründen) des Lesens und Schreibens halbwegs vertrauter Kosak verfaßt haben mußte. Der Rebell verkündete seine Absicht, unverzüglich gegen unsere Festung zu marschieren; er forderte die Kosaken und Soldaten auf, sich seiner Bande anzuschließen, und riet dem Kommandanten, sich nicht zu widersetzen, da er jeden Widerstand mit dem Tode bestrafen werde. 372
Der Aufruf war in groben, aber kräftigen Ausdrücken abgefaßt und mußte auf die Gemüter der einfachen Leute gefährlich wirken. „Ist das ein Schuft!“ rief die Kommandantin. „Was untersteht er sich da vorzuschlagen! Wir sollen ihm entgegengehen und die Fahnen zu seinen Füßen niederlegen! So ein Hundesohn! Weiß er denn nicht, daß wir schon vierzig Jahre im Dienst sind und, Gott sei Dank, alles mögliche erlebt haben. Haben sich denn Kommandeure gefunden, die dem Räuber gehorchten?“ „Es sollte eigentlich keine geben“, antwortete Iwan Kusmitsch. „Aber es heißt, der Bösewicht hätte schon viele Festungen besetzt.“ „Er muß also wirklich sehr stark sein“, bemerkte Schwabrin. „Gleich werden wir etwas über seine wirkliche Stärke erfahren“, sagte der Kommandant. „Wassilissa Jegorowna, gib mir den Schlüssel vom Speicher. Iwan Ignatjitsch, führ mal den Baschkiren herein und befiehl dem Julai, Peitschen zu bringen.“ „Warte, Iwan Kusmitsch“, sagte die Kommandantin und stand auf. „Ich will erst Mascha aus dem Hause schaffen; sie erschrickt zu Tode, wenn sie das Geschrei hört. Ich bin auch keine Freundin von solchen Untersuchungen, um die Wahrheit zu sagen. Lebt wohl!“ Die Folter war in alter Zeit so fest im Gerichtsverfahren eingewurzelt, daß der wohltätige Erlaß, der sie aufhob, lange ohne jede Wirkung blieb. Man nahm an, daß das eigene Geständnis des Verbrechers zur Schuldigsprechung unumgänglich notwendig sei – ein nicht nur unbegründeter, sondern dem gesunden juristischen Verstand auch völlig widersprechender Gedanke: Denn wenn das Leugnen des Angeklagten nicht als Beweis seiner Unschuld angesehen wird, so kann sein Geständnis erst recht nicht als Beweis seiner Schuld gelten. Selbst heute höre ich noch manchmal von alten Richtern Klagen über die Abschaffung dieser barbarischen Sitte. Zu unserer Zeit aber zweifelte niemand an der Notwendigkeit der Folter – weder die Richter noch die Angeklagten. So war denn auch keiner von uns über den Befehl des Kommandanten erstaunt oder erregt. Iwan Ignatjitsch ging nach dem 373
Baschkiren, den die Kommandantin im Speicher eingeschlossen hatte, und nach einigen Minuten wurde der Gefangene ins Vorzimmer geführt. Der Kommandant befahl, man solle ihm den Mann vorstellen. Der Baschkire schritt mühsam über die Schwelle (seine Füße steckten im Block), nahm seine hohe Mütze ab und blieb in der Tür stehen. Ich sah ihn an und erbebte. Nie vergesse ich diesen Menschen. Er schien ein Siebziger und hatte weder Nase noch Ohren. Sein Schädel war glatt rasiert, statt des Bartes hatte er nur ein paar struppige graue Kinnhaare; er war klein von Wuchs, mager und hielt sich krumm; aber in den schmalen Augen glimmte noch ein Feuer. „Aha!“ sagte der Kommandant, der ihn an diesen schauerlichen Merkmalen als einen im Jahre 1741 bestraften Aufrührer erkannte. „Du scheinst mir ein alter Wolf, der schon mal in unsern Fallen gesteckt hat. Du rebellierst nicht zum erstenmal, wenn sie dir den Kopf so glatt gehobelt haben. Komm mal näher! Sag, wer hat dich ausgesandt?“ Der alte Baschkire schwieg und sah den Kommandanten völlig stumpfsinnig an. „Was schweigst du denn?“ fuhr Iwan Kusmitsch fort. „Kannst wohl gar kein Russisch? Julai, frag ihn mal in eurer Sprache, wer ihn in unsere Festung geschickt hat?“ Julai wiederholte die Frage des Kommandanten in tatarischer Sprache. Aber der Baschkire sah ihn mit demselben stumpfsinnigen Ausdruck an und erwiderte kein Wort. „Jakschi!“ sagte Iwan Kusmitsch, „du sollst mir schon reden! Jungens! Nehmt ihm mal den gestreiften Narrenrock ab und bestreicht ihm den Rücken. Mach’s ordentlich, Julai!“ Zwei Invaliden entkleideten den Baschkiren. Das Gesicht des Unglücklichen drückte Unruhe aus. Er sah sich nach allen Seiten um wie ein kleines, von Kindern gefangenes Tier. Als aber einer der Invaliden seine Arme ergriff, sie sich um den Hals legte und den Alten auf seine Schultern hob, während Julai die Peitsche nahm und ausholte – da ächzte der Baschkire mit schwacher, flehender Stimme und öffnete kopfnickend den Mund, in dem statt einer Zunge sich nur ein kurzer Stummel bewegte. Wenn ich mir vorstelle, daß das zu meinen Lebzeiten geschehen 374
ist und daß ich jetzt unter der milden Herrschaft des Zaren Alexander lebe, so staune ich über die schnellen Fortschritte der Aufklärung und die Ausbreitung der Gesetze der Menschenliebe. Jugendlicher Leser! Wenn meine Aufzeichnungen in deine Hände gelangen, so gedenke, daß die besten und dauerhaftesten Veränderungen jene sind, die durch die Milderung der Sitten ohne alle gewaltsamen Erschütterungen kommen. Alle waren überrascht. „Nun“, sagte der Kommandant, „aus dem kriegen wir wohl nichts heraus. Julai, führ den Baschkiren in den Speicher zurück. Und wir wollen noch einiges besprechen, meine Herren.“ Wir redeten noch über unsere Lage, als Wassilissa Jegorowna plötzlich ins Zimmer trat, ganz außer Atem und in größter Aufregung. „Was ist mit dir geschehen?“ fragte der Kommandant verwundert. „Es steht schlimm, Väterchen!“ erwiderte Wassilissa Jegorowna. „Die Festung Nishneosjornaja ist heute besetzt worden. Ein Knecht des Vaters Gerassim ist eben von da gekommen. Er hat gesehen, wie sie eingenommen wurde. Der Kommandant und alle Offiziere sind gehenkt. Alle Soldaten sind gefangen. Nun können die Bösewichter jeden Augenblick auch hier sein.“ Die unerwartete Nachricht erschütterte mich tief. Der Kommandant von Nishneosjornaja, ein stiller und bescheidener junger Mann, war mir bekannt: Vor etwa zwei Monaten war er mit seiner jungen Frau aus Orenburg durch unsere Festung gekommen und hatte bei Iwan Kusmitsch logiert. Nishneosjornaja lag etwa fünfundzwanzig Werst von unserer Festung entfernt. So konnte man von Stunde zu Stunde den Angriff Pugatschows erwarten. Das Schicksal Marja Iwanownas stand mir lebhaft vor Augen, und mein Herz krampfte sich zusammen. „Hören Sie, Iwan Kusmitsch“, sagte ich zum Kommandanten, „unsere Pflicht ist es, die Festung bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen; darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber wir müssen an die Sicherheit der Frauen denken. Schicken Sie sie nach Orenburg, wenn der Weg noch frei ist, oder in eine entferntere, 375
weniger gefährdete Festung, die von den Bösewichtern nicht erreicht werden kann.“ Iwan Kusmitsch wandte sich an seine Frau und sagte zu ihr: „Hörst du, Mütterchen? War’s nicht wirklich geraten, euch etwas weiter fortzuschicken, bis wir mit den Rebellen fertig sind?“ „Ach, Unsinn!“ sagte die Kommandantin, „wo gibt es eine Festung, in die die Kugeln nicht hineinflögen? Ist die Belogorskaja nicht sicher genug? Gott sei Dank, zweiundzwanzig Jahre sitzen wir hier schon, haben Baschkiren und Kirgisen gesehen und werden auch wohl noch Pugatschows Belagerung aushalten.“ „Nun, Mütterchen“, erwiderte Iwan Kusmitsch, „hast du soviel Vertrauen zu unserer Festung, dann magst du nur bleiben. Aber was fangen wir mit Mascha an? Gut, wenn wir die Belagerung aushalten oder Sukkurs bekommen; wenn nun aber die Räuber die Festung einnehmen?“ „Ja, dann …“ Hier stockte Wassilissa Jegorowna und verstummte mit dem Ausdruck größter Erregung. „Nein, Wassilissa Jegorowna“, fuhr der Kommandant fort, da er bemerkte, daß seine Worte – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – Eindruck gemacht hatten, „Mascha darf nicht bleiben. Wir schicken sie nach Orenburg zu ihrer Patin, da ist Militär und Artillerie genug vorhanden, und die Mauer ist von Stein. Dir würde ich auch raten, mit ihr abzureisen; du bist zwar alt, aber paß mal auf, was mit dir geschieht, wenn sie die Festung im Sturm nehmen.“ „Schon gut“, sagte die Kommandantin, „wir schicken Mascha fort. Mir aber kommst du mit solchen Bitten nicht – ich bleibe da; was soll ich auf meine alten Tage mich von dir trennen und mir ein einsames Grab in fremdem Lande suchen. Haben wir zusammen gelebt, so wollen wir auch zusammen sterben.“ „Auch gut“, sagte der Kommandant. „Aber nun dürfen wir keine Zeit verlieren. Geh, bereite Maschas Abfahrt vor. Morgen in aller Frühe mag sie reisen; wir geben ihr auch Bedeckung mit, obgleich wir kaum jemand von unsern Leuten entbehren können. Wo ist sie denn?“ „Bei Akulina Pamfilowna“, antwortete die Kommandantin. 376
„Ihr wurde schlecht, als sie von der Einnahme der Festung Nishneosjornaja hörte. Ich fürchte, sie wird mir noch krank. Großer Gott, was müssen wir alles erleben!“ Wassilissa Jegorowna ging die Reisevorbereitungen für ihre Tochter treffen. Die Beratung beim Kommandanten wurde fortgesetzt; ich mischte mich aber nicht mehr hinein und hörte auch nicht zu. Zum Abendessen erschien Marja Iwanowna bleich und verweint. Wir aßen schweigend und standen früher vom Tisch auf, als wir es sonst zu tun pflegten. Nachdem wir uns von der Familie verabschiedet hatten, gingen wir in unsere Wohnungen. Aber ich hatte absichtlich meinen Degen stehenlassen und kam noch einmal zurück, ihn zu holen. Ich ahnte, daß ich Marja Iwanowna allein treffen würde. Und wirklich empfing sie mich schon an der Türe und reichte mir den Degen. „Leben Sie wohl, Pjotr Andrejitsch“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Man schickt mich nach Orenburg. Bleiben Sie am Leben und werden Sie glücklich; vielleicht fügt es der liebe Gott so, daß wir uns noch einmal sehen; wenn aber nicht …“ Hier brach sie in Schluchzen aus. Ich schloß sie in meine Arme. „Lebe wohl, mein Engel“, sagte ich, „lebe wohl, meine Liebste, meine Ersehnte! Was auch mit mir geschehen möge – glaube mir, mein letzter Gedanke und mein letztes Gebet gelten dir!“ Mascha schluchzte, an meine Brust geschmiegt. Ich küßte sie heiß und ging schnell aus dem Zimmer.
Siebentes Kapitel
Der Angriff
Du mein Haupt, ach, du mein armes Haupt, Du mein Haupt, o du folgsames, Hast gedienet, mein armes Haupt, Volle drei und dreißig Jahre lang; Und doch, mein Haupt, erdientest du Weder Schätze noch Freude dir, Noch erwarbst du dir ein freundlich Wort, Noch Ehr und hohen Ruhm. Erdienet hast du, mein armes Haupt, Dir nur zwei Pfähle hoch Mit einem ahornen Querbalken Und einer seidenen Schlinge dran. Volkslied
In dieser Nacht schlief ich nicht und kleidete mich nicht aus. Ich beabsichtigte, mich im Morgengrauen ans Festungstor zu begeben, aus dem Marja Iwanowna hinausfahren sollte, und dort zum letztenmal Abschied von ihr zu nehmen. Ich fühlte, daß eine große Änderung in mir vorgegangen war: Die seelische Erregung war mir weit weniger qualvoll als jene dumpfe Wehmut, in die ich noch vor kurzem versunken war. Mit dem Abschiedsschmerz verbanden sich in mir noch unklare, aber süße Hoffnungen, die ungeduldige Erwartung drohender Gefahren und das Gefühl eines edlen Ehrgeizes. Die Nacht verstrich unmerklich. Ich wollte eben das Haus verlassen, da ging meine Tür auf, und es erschien der Korporal mit der Meldung, unsere Kosaken hätten nachts die Festung verlassen und den Julai mit Gewalt fortgeschleppt; vor der Festung streiften unbekannte Reiter. Der Gedanke, daß Marja Iwanowna nun nicht mehr fort könnte, entsetzte mich; 378
ich gab dem Korporal hastig ein paar Anweisungen und stürzte sofort zum Kommandanten. Es wurde schon hell. Ich stürmte die Straße entlang, da hörte ich meinen Namen rufen. Ich blieb stehen. „Wo wollen Sie hin?“ rief Iwan Ignatjitsch, der hinter mir hergelaufen war. „Iwan Kusmitsch ist auf dem Wall und hat mich nach Ihnen geschickt. Der Pugatschow ist da.“ – „Ist Marja Iwanowna abgereist?“ fragte ich mit bebendem Herzen.“ – „Keine Zeit gehabt“, erwiderte Iwan Ignatjitsch. „Der Weg nach Orenburg ist abgeschnitten; die Festung ist umzingelt. Es steht schlimm, Pjotr Andrejitsch.“ Wir gingen auf den Wall – eine Erhöhung, die die Natur geschaffen hatte und die durch einen Palisadenzaun befestigt war. Dort drängten sich bereits alle Bewohner der Festung. Die Garnison stand Gewehr bei Fuß da. Die Kanone war schon tags vorher hinaufgeschleppt worden. Der Kommandant ging vor seiner kurzen Front auf und ab. Die nahe Gefahr erfüllte den alten Kriegsmann mit ungewöhnlichem Mut. In der Steppe, nicht allzuweit von der Festung, sprengten gegen zwanzig Reiter. Es schienen Kosaken zu sein, doch befanden sich unter ihnen auch Baschkiren, die man an ihren Luchsfellmützen und Köchern leicht erkennen konnte. Der Kommandant trat vor sein Heer und sprach zu den Soldaten: „Nun, Kinderchen, heute müssen wir einstehen für die Zarin, unser Mütterchen, und der ganzen Welt zeigen, daß wir tapfere Männer sind, die ihren Schwur halten!“ Die Soldaten sprachen ihre Bereitwilligkeit laut aus. Schwabrin stand neben mir und blickte scharf nach dem Feinde aus. Die Leute, die in der Steppe umherritten, hatten die Bewegung in der Festung bemerkt, scharten sich zusammen und begannen sich zu beraten. Der Kommandant befahl Iwan Ignatjitsch, die Kanone auf den Haufen zu richten, und legte selbst die Lunte an. Die Kugel flog summend über den Köpfen der Feinde hinweg, ohne ihnen den geringsten Schaden zuzufügen. Die Reiter zerstreuten sich, verschwanden alsbald aus unserer Gesichtsweite, und die Steppe war leer. Jetzt erschien Wassilissa Jegorowna auf dem Wall; Mascha, die sich nicht von ihr trennen wollte, folgte ihr. „Nun“, sagte 379
die Kommandantin, „wie verläuft die Bataille? Wo ist denn der Feind?“ – „Der Feind ist nicht weit“, antwortete Iwan Kusmitsch. „Mit Gottes Hilfe wird alles gut gehen. Hast du Angst, Mascha?“ – „Nein, Papachen“, erwiderte Marjalwanowna, „wenn ich allein zu Hause bin, fürchte ich mich viel mehr.“ Hier sah sie mich an und zwang sich zu einem Lächeln. Ich preßte unwillkürlich meinen Degengriff zusammen, im Gedanken, daß ich ihn tags zuvor aus ihrer Hand gleichsam zur Verteidigung meiner Geliebten erhalten hatte. Mein Herz glühte. Ich betrachtete mich als ihren Ritter. Ich lechzte danach, zeigen zu können, daß ich ihres Vertrauens wert sei, und mit Ungeduld harrte ich des entscheidenden Augenblicks. In diesem Augenblick tauchten hinter der Anhöhe, die ungefähr eine halbe Werst von der Festung entfernt liegt, neue Reiterscharen auf, und bald war die Steppe mit einer Unmenge von Menschen besät, die alle mit Lanzen und Saidaks bewaffnet waren. In ihrer Mitte ritt auf einem weißen Pferde ein Mann in rotem Leibrock, den bloßen Säbel in der Hand – das war Pugatschow selbst. Er hielt sein Pferd an; man scharte sich um ihn, und augenscheinlich auf seinen Befehl lösten sich vier Mann von der Menge und sprengten im Galopp dicht an die Festung heran. Wir erkannten in ihnen unsere Verräter. Einer hielt über der Mütze ein Blatt Papier, ein anderer hatte den Kopf des Julai auf seinen Speer gesteckt; jetzt schüttelte er ihn ab und warf ihn über den Zaun zu uns herüber. Der Kopf des armen Kalmücken fiel vor dem Kommandanten nieder. Die Verräter schrien: „Nicht schießen! Kommt heraus zum Kaiser! Der Kaiser ist hier!“ „Ich werd euch!“ schrie Iwan Kusmitsch. „Gebt Feuer, Jungens!“ Unsere Soldaten gaben eine Salve ab. Der Kosak, der das Schreiben in der Hand hielt, wankte und fiel vom Pferde, die andern sprengten zurück. Ich sah Marja Iwanowna an. Entsetzt über den Anblick des blutigen Kopfs des Julai, betäubt von der Salve, schien sie bewußtlos. Der Kommandant rief den Korporal heran und befahl ihm, das Blatt aus den Händen des toten Kosaken zu nehmen. Der Korporal ging ins Feld hinaus und kam, das Pferd des Gefallenen am Zügel, zurück. Er reichte dem Kom380
mandanten das Schriftstück. Iwan Kusmitsch las es schweigend durch und zerriß es in kleine Stücke. Indessen bereiteten die Rebellen sich augenscheinlich zum Angriff. Bald pfiffen die Kugeln um unsere Ohren, und mehrere Pfeile bohrten sich dicht vor uns in die Erde und in den Zaun. „Wassilissa Jegorowna“, sagte der Kommandant, „das hier ist nichts für Weiber, bring Mascha nach Hause; du siehst, das Mädchen ist schon halb tot.“ Wassilissa Jegorowna, die unter dem Kugelregen verstummt war, blickte in die Steppe hinaus, in der eine große Bewegung zu bemerken war; sie wandte sich zu ihrem Manne: „Iwan Kusmitsch, Gott allein ist Herr über Leben und Tod. Segne unsere Mascha. Mascha, komm zum Vater.“ Mascha ging bleich und zitternd auf Iwan Kusmitsch zu, kniete nieder und neigte sich vor ihm bis zur Erde. Der alte Kommandant segnete sie dreimal mit dem Zeichen des Kreuzes, dann hob er sie auf, küßte sie und sagte mit veränderter Stimme: „Nun, Mascha, sei glücklich. Bete zu Gott, er wird dich nicht verlassen. Wenn sich ein guter Mensch findet, so möge Gott eure Liebe segnen. Lebt so, wie ich mit meiner Wassilissa Jegorowna gelebt habe. Nun lebe wohl, Mascha. Wassilissa Jegorowna, führ sie doch schneller fort.“ Mascha fiel ihm schluchzend um den Hals. „Laß uns auch einander küssen“, sagte die Kommandantin weinend. „Leb wohl, mein lieber Iwan Kusmitsch. Vergib mir, wenn ich dich irgend gekränkt habe.“ – „Leb wohl, leb wohl, Mütterchen“, sagte der Kommandant und umarmte seine Alte. „Nun ist’s genug. Geht schnell nach Hause; und wenn du Zeit hast, zieh der Mascha den Sarafan an.“ Die Kommandantin und ihre Tochter gingen. Ich blickte Marja Iwanowna nach; sie sah sich noch einmal um und nickte mir zu. Jetzt wandte sich Iwan Kusmitsch zu uns, und seine ganze Aufmerksamkeit galt nur noch dem Feinde. Die Rebellen scharten sich um ihren Anführer und stiegen plötzlich von den Pferden. „Jetzt steht fest“, sagte der Kommandant, „es kommt ein Angriff …“ In diesem Augenblick ertönte lautes Geheul und Geschrei; die Rebellen näherten sich im Laufschritt der Festung. Unsere Kanone war mit einer Kartätsche geladen. Der Kommandant ließ die Angreifer ganz nahe 381
herankommen und dann plötzlich feuern. Die Kartätsche traf mitten in die Schar hinein. Die Rebellen liefen nach rechts und links auseinander und gingen dann zurück. Ihr Anführer blieb allein vorn stehen … Er schwenkte den Säbel und schien ihnen eifrig zuzureden … Das Geschrei und Geheul, das für einen Augenblick verstummt war, setzte wieder ein. „Nun, Jungens“, sagte der Kommandant, „jetzt macht das Tor auf und schlagt die Trommel. Jungens! Vorwärts marsch! Zum Ausfall! Mir nach!“ Der Kommandant, Iwan Ignatjitsch und ich befanden uns sofort jenseits des Festungswalls; aber die verzagte Garnison rührte sich nicht. „Was steht ihr denn, Kinder?“ schrie Iwan Kusmitsch. „Müssen wir sterben, so sterben wir; der Dienst verlangt’s.“ In diesem Augenblick stürzten die Rebellen auf uns los und drangen in die Festung ein. Die Trommel verstummte, die Garnison warf die Gewehre weg, ich wurde umgestoßen, erhob mich aber sofort wieder und ging mit den Rebellen in die Festung hinein. Der Kommandant hatte eine Kopfwunde bekommen, er stand von einer Schar Feinde umringt, die die Schlüssel von ihm verlangten. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen; ein paar kräftige Kosaken packten mich und fesselten mich mit ihren Gürteln; sie sagten dabei: „Nun sollt ihr euren Ungehorsam gegen den Zaren büßen!“ Man schleppte uns durch die Gassen; die Einwohner kamen mit Brot und Salz aus ihren Häusern. Die Kirchenglocken läuteten. Plötzlich erhob sich ein Geschrei in der Menge, der Zar erwarte auf dem Platze die Gefangenen und nehme den Eid ab. Das Volk drängte nach dem Platz; wir wurden ebenfalls dorthin getrieben. Pugatschow saß in einem Lehnstuhl vor dem Hause des Kommandanten. Er trug einen mit Goldborten besetzten roten Kosakenkaftan. Eine hohe Zobelmütze mit goldenen Troddeln war tief auf seine funkelnden Augen geschoben. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Die Kosakenführer umringten ihn. Vater Gerassim stand bleich und zitternd vor der Tür, das Kreuz in der Hand, und schien schweigend für die kommenden Opfer zu bitten. Auf dem Platz wurde in aller Eile ein Galgen errichtet. Als wir herangekommen waren, trieben die Baschkiren das Volk auseinander, 382
und man stellte uns vor Pugatschow hin. Das Glockengeläute verstummte; tiefe Stille trat ein. „Welcher ist der Kommandant?“ fragte der Usurpator. Unser Urjadnik trat aus der Menge vor und zeigte auf Iwan Kusmitsch. Pugatschow blickte den Alten zornig an und sagte zu ihm: „Wie hast du’s gewagt, mir, deinem Zaren, Widerstand zu leisten?“ Der Kommandant, durch seine Verwundung sehr ermattet, nahm seine letzte Kraft zusammen und antwortete mit fester Stimme: „Du bist nicht mein Zar; du bist ein Betrüger und Usurpator, merk dir das!“ Pugatschows Gesicht verfinsterte sich; er schwenkte ein weißes Tuch. Ein paar Kosaken ergriffen den alten Hauptmann und schleppten ihn zum Galgen. Auf dem Querbalken saß rittlings der verstümmelte Baschkire, den wir tags zuvor verhört hatten. Er hielt den Strick in der Hand, und eine Minute danach sah ich den armen Iwan Kusmitsch in der Luft baumeln. Nun führte man Iwan Ignatjitsch zu Pugatschow. „Schwöre den Eid“, sagte Pugatschow, „dem Zaren Pjotr Fjodorowitsch.“ – „Du bist unser Zar nicht“, wiederholte Iwan Ignatjitsch die Worte seines Kommandanten, „du bist ein Betrüger und Usurpator, Onkelchen.“ Pugatschow schwenkte abermals das Tuch, und der gute Leutnant hing alsbald neben seinem alten Vorgesetzten. Nun war die Reihe an mir. Ich sah Pugatschow kühn an und war bereit, die Worte meiner großherzigen Kameraden zu wiederholen. Da erblickte ich zu meiner unbeschreiblichen Verwunderung unter den Führern der Rebellen – Schwabrin mit rundgeschorenem Haar und im Kosakenkaftan. Er trat neben Pugatschow hin und sagte ihm ein paar Worte ins Ohr. „Hängt ihn“, sagte Pugatschow, ohne mich überhaupt anzusehen. Man legte mir die Schlinge um den Hals. Ich sprach ein Gebet vor mich hin, indem ich Gott aufrichtig um Vergebung aller meiner Sünden und um Rettung aller meinem Herzen Nahestehenden bat. Man schleppte mich zum Galgen. „Nur Mut, nur Mut“, wiederholten die Mörder, die mich vielleicht wirklich aufmuntern wollten. Plötzlich hörte ich jemand schreien: „Wartet, ihr Verdammten! Wartet doch …“ Die Henker stutzten. Ich sah mich um: Saweljitsch lag zu Füßen Pugatschows. „Teurer Vater“, jammerte 383
der arme Alte, „was hast du vom Tode des Herrenkindes? Gib es frei; du sollst Lösegeld bekommen. Und wenn du ein Exempel statuieren willst, dann laß lieber mich alten Mann aufknüpfen.“ Pugatschow gab ein Zeichen, und man band mich sofort los und ließ mich stehen. „Unser Väterchen begnadigt dich“, sagten die Leute zu mir. Ich kann nicht behaupten, daß ich in diesem Augenblick über meine Rettung erfreut gewesen wäre, ich kann aber auch nicht sagen, daß sie mich betrübt hätte. Meine Empfindungen waren zu verworren. Man führte mich nochmals vor den Usurpator und zwang mich, vor ihm niederzuknien. Pugatschow streckte mir seine sehnige Hand hin. „Küß die Hand! Küß die Hand!“ hörte ich sagen. Aber ich hätte die schlimmste Marter einer so gemeinen Demütigung vorgezogen. „Väterchen, Pjotr Andrejitsch“, flüsterte Saweljitsch, der hinter mir stand, und stieß mich in den Rücken. „Sei nicht eigensinnig! Was kostet’s dich? Spuck drauf und küsse dem Bösew… (pfui!), küß ihm das Händchen.“ Ich rührte mich nicht. Pugatschow ließ die Hand sinken und sagte spöttisch: „Seine Wohlgeboren sind wohl vor Freude närrisch geworden. Hebt ihn auf!“ Man hob mich auf und ließ mich frei. Ich sah der Fortsetzung der grausigen Komödie zu. Die Bevölkerung mußte nun den Untertaneneid schwören. Einer nach dem andern trat heran, küßte das Kruzifix und neigte sich dann vor dem Usurpator. Die Garnisonsoldaten standen auch da. Der Kompanieschneider, mit seiner stumpfen Schere bewaffnet, schnitt ihnen die Zöpfe ab. Sie schüttelten die Köpfe, traten vor Pugatschow hin, küßten ihm die Hand, und er erklärte, daß er ihnen vergebe und sie in seine Armee aufnehme. Alles das dauerte etwa drei Stunden. Endlich erhob sich Pugatschow von seinem Sessel und ging in Begleitung der Ältesten die Stufen hinab. Man führte ihm ein weißes, mit kostbarem Zaumzeug geschmücktes Pferd vor. Zwei Kosaken faßten ihn unter die Arme und setzten ihn in den Sattel. Er meldete dem Vater Gerassim, daß er bei ihm essen werde. In diesem Augenblick hörte man lautes Weibergeschrei. Einige Räuber hatten Wassilissa Jegorowna aus dem Hause gezerrt; sie war ganz nackt mit zerzaustem Haar. Einer von den Kerlen hatte bereits ihre warme Jacke 384
angezogen. Andere schleppten Federbetten, Kisten, Teegeschirr, Wäsche und sonstiges Gerumpel. „Liebe Leute“, schrie die arme Alte, „erbarmt euch meiner armen Seele! Liebe Leute, bringt mich zu meinem Iwan Kusmitsch.“ Plötzlich erblickte sie den Galgen und erkannte ihren Mann. „Ihr Bösewichter!“ schrie sie außer sich, „was habt ihr mit ihm gemacht? Du mein einziger Iwan Kusmitsch, du wackeres Soldatenherz! Nicht die preußischen Bajonette, nicht die türkischen Kugeln haben dir was antun können; nicht in ehrlicher Feldschlacht hast du dein Leben eingebüßt, sondern ein entlaufener Sträfling hat dich umgebracht!“ – „Fort mit der alten Hexe!“ sagte Pugatschow. Ein junger Kosak gab ihr einen Säbelhieb auf den Kopf, und sie fiel tot auf die Stufen nieder. Pugatschow ritt von dannen; das Volk rannte ihm nach.
Achtes Kapitel
Der ungebetene Gast
Ein ungebetener Gast ist schlimmer als ein Tatar. Sprichwort
Der Platz war leer. Ich stand immer noch auf derselben Stelle und konnte meine durch die entsetzlichen Eindrücke verwirrten Gedanken nicht in Ordnung bringen. Die Ungewißheit von Marja Iwanownas Schicksal quälte mich am meisten. Wo befand sie sich? Was war mit ihr geschehen? Hatte sie sich verstecken können? War ihr Versteck sicher? … Von unruhigen Gedanken erfüllt, betrat ich das Haus des Kommandanten … Alles leer; Stühle, Tische, Truhen zertrümmert; das Geschirr in Scherben; der ganze Hausrat fortgeschleppt. Ich lief die kleine Treppe hinauf, die in die Mansarde führte, und betrat zum erstenmal in meinem Leben das Zimmer von Marja Iwanowna. Ich sah ihr Bett, das die Räuber durchwühlt hatten; der Schrank war aufgebrochen und ausgeraubt; das Lämpchen glühte noch vor dem leeren Heiligenbilderschrein. Heil geblieben war auch der Spiegel, der zwischen den Fenstern hing … Wo war aber die Herrin dieser bescheidenen jungfräulichen Zelle? Ein furchtbarer Gedanke schoß mir durch den Kopf: Ich sah sie in der Gewalt der Räuber … Mein Herz krampfte sich zusammen … Ich fing bitterlich zu weinen an und sprach den Namen meiner Geliebten laut aus … In diesem Augenblick vernahm ich ein leichtes Rascheln, und hinter dem Schrank kam bleich und zitternd die arme Palaschka hervor. „Ach, Pjotr Andrejitsch“, sagte sie händeringend. „Was für ein Tag! Wie entsetzlich!“ 386
„Und Marja Iwanowna?“ fragte ich ungeduldig. „Was ist mit Marja Iwanowna?“ „Das Fräulein lebt“, erwiderte Palaschka. „Es ist bei Akulina Pamfilowna versteckt.“ „Bei der Popenfrau!“ schrie ich entsetzt auf. „O Gott! Da sitzt ja Pugatschow! …“ Ich stürzte aus dem Zimmer, war in einem Augenblick auf der Straße und rannte Hals über Kopf nach dem Hause des Geistlichen, ohne etwas zu sehen oder zu fühlen. Aus dem Hause kam Geschrei, Gelächter, Gesang … Pugatschow zechte mit seinen Genossen. Palaschka war mir gefolgt. Ich schickte sie heimlich zu Akulina Pamfilowna. Nach einer Minute kam die Popenfrau zu mir in den Flur hinaus, eine leere Branntweinflasche in der Hand. „Um Gottes willen, wo ist Marja Iwanowna?“ fragte ich in unbeschreiblicher Erregung. „Sie liegt bei mir auf dem Bett, das liebe Täubchen, dort hinter dem Verschlag“, erwiderte die Popenfrau. „Ach, Pjotr Andrejitsch, fast hätte es ein Unglück gegeben; aber, gottlob, es ist alles gut abgelaufen! Der Bösewicht hatte sich eben zu Tisch gesetzt, da kommt das arme Ding zu sich und stöhnt! … Ich war starr. Er hat’s gehört. ‚Wer stöhnt dahinten, Alte?‘ Ich falle dem Räuber zu Füßen: ‚Meine Nichte ist’s, mein Herrscher, sie liegt krank zu Bett, schon seit mehr als einer Woche.‘ – ‚Ist deine Nichte jung?‘ – ‚Ja, Herr.‘ – ‚Zeig mir mal deine Nichte, Alte.‘ – In meinem Herzen gab’s einen richtigen Ruck, aber was sollte ich machen? ‚Gut, Herr; aber das Mädchen kann nicht aufstehen und zu Deiner Gnaden kommen.‘ – ‚Tut nichts, Alte, ich gehe selber hin und schau sie mir an.‘ Und er ist hingegangen, der Verfluchte, hinter den Verschlag! Was meinst du wohl? Den Bettvorhang hat er zurückgezogen, hat sie mit seinen Habichtsaugen angeguckt – und weiter nichts … Gott hat uns geholfen! Und was meinst du – ich und mein Väterchen waren schon ganz bereit, den Märtyrertod zu empfangen. Zum Glück hat sie ihn nicht erkannt, das liebe Täubchen! Herrgott im Himmel, so weit sind wir nun gekommen! Was soll man dazu sagen? Der 387
arme Iwan Kusmitsch! Wer hätte das gedacht? … Und Wassilissa Jegorowna! Und Iwan Ignatjitsch? … Warum denn auch den? … Wie kommt’s denn, daß man Sie verschont hat? Und was sagen Sie zu Schwabrin, Alexej Iwanytsch? Hat sich die Haare rund geschoren und zecht jetzt bei uns mit ihnen! Ein gewandter Kerl, das muß man sagen! Aber als ich von meiner kranken Nichte sprach, da hat er mich – du kannst mir’s glauben – so angesehen, als wollte er mich mit einem Messer mitten durchschneiden, allein er hat mich nicht verraten, und dafür verdient er auch schon Dank.“ In diesem Augenblick hörte man die trunkenen Gäste laut schreien, dazwischen ertönte die Stimme des Vaters Gerassim. Die Gäste wollten noch Wein, der Hausherr rief seine Frau. Die Popenfrau wurde ganz aufgeregt. „Gehen Sie jetzt nach Hause, Pjotr Andrejitsch“, sagte sie, „ich habe keine Zeit für Sie; die Bösewichter sind mitten im Zechen. Wehe, wenn Sie einem dieser Betrunkenen unter die Finger geraten. Leben Sie wohl, Pjotr Andrejitsch. Wie es kommen muß, so kommt es; Gott wird uns nicht ganz verlassen.“ Die Popenfrau ging. Einigermaßen beruhigt, begab ich mich in meine Wohnung. Als ich über den Platz ging, sah ich einige Baschkiren, die sich um den Galgen drängten und den Erhängten die Stiefel abzogen; nur mit Mühe bezwang ich meine Empörung, denn ich sah ein, daß jedes Einschreiten nutzlos gewesen wäre. In der Festung trieben sich die Räuber herum und plünderten die Offizierswohnungen. Überall hörte man das Geschrei der betrunkenen Rebellen. Ich erreichte meine Wohnung. Saweljitsch empfing mich auf der Schwelle. „Gott sei Dank!“ rief er, als er mich sah. „Ich hatte schon gedacht, die Bösewichter hätten dich wieder ergriffen. Nun, Väterchen Pjotr Andrejitsch! Was glaubst du wohl? Alles haben sie uns weggeschleppt, die Halunken: Kleider, Wäsche, Hausrat, Geschirr – nichts haben sie dagelassen. Ach was! Gott sei Lob und Dank, daß sie dich am Leben gelassen haben! Hast du den Anführer erkannt, Herr?“ „Nein. Wer ist’s denn?“ „Wie, Väterchen, hast du den Saufbruder vergessen, der dir in der Herberge den Pelz abgeluchst hat? Der Hasenpelz war 388
nagelneu; er mußte ihn noch überall auftrennen beim Anziehen, die Bestie!“ Ich war verblüfft. In der Tat, die Ähnlichkeit zwischen Pugatschow und meinem Führer war auffallend. Ich erkannte, daß er und Pugatschow ein und dieselbe Person waren, und begriff nun, warum er mich verschont hatte. Ich mußte mich über die seltsame Verkettung der Umstände wundern: Ein Kinderpelz, den ich einem Landstreicher geschenkt hatte, rettete mich vor dem Galgen, und ein Säufer, der sich von Schenke zu Schenke herumtrieb, belagerte Festungen und erschütterte den Staat! „Willst du nicht etwas essen?“ fragte Saweljitsch, der von seinen Gewohnheiten nicht ließ. „Im Hause ist nichts; ich will auf die Suche gehen und etwas für dich zubereiten.“ Allein geblieben, versank ich in Gedanken. Was sollte ich tun? In der von dem Bösewicht eroberten Festung bleiben oder seiner Bande folgen ziemte mir als Offizier nicht. Die Pflicht verlangte, daß ich mich dorthin begäbe, wo mein Dienst dem Vaterlande unter den augenblicklichen schwierigen Verhältnissen noch von Nutzen sein konnte … Aber die Liebe drängte mich, bei Marja Iwanowna zu bleiben und ihr Schutz und Schirm zu sein. Obgleich ich eine baldige Änderung der Situation mit Gewißheit voraussah, mußte ich doch zittern, wenn ich mir ihre gefährliche Lage vorstellte. Meine Betrachtungen wurden durch das Erscheinen eines Kosaken unterbrochen, der mit der Meldung gelaufen kam: „Der mächtige Zar fordert dich zu sich.“ – „Wo ist er denn?“ fragte ich, bereit, zu gehorchen. „Im Hause des Kommandanten“, erwiderte der Kosak. „Nach dem Essen begab sich unser Väterchen ins Dampfbad, und jetzt ruht er aus. Nun, Euer Wohlgeboren, man sieht’s an allem, was für eine vornehme Person er ist: Zu Mittag geruhte er zwei gebratene Ferkel zu verspeisen, und das Dampfbad machte er sich so heiß, daß sogar Taras Kurotschkin es nicht aushalten konnte; er mußte dem Foma Bikbajew die Rute abgeben und ist mit Müh und Not zu sich gekommen, als er sich mit kaltem Wasser übergossen hat. Da ist nichts zu sagen – so vornehme Sitten … Und 389
im Bade, weißt du, da hat er seine kaiserlichen Male auf der Brust gezeigt: Auf der einen Seite hat er den Doppeladler – so groß wie ein Fünfkopekenstück, und auf der andern sein eigenes Bildnis.“ Ich hielt es für überflüssig, gegen die Anschauungen des Kosaken zu protestieren, und begab mich mit ihm in das Haus des Kommandanten. Ich suchte mir die Begegnung mit Pugatschow im voraus auszumalen und zu erraten, womit sie enden würde. Der Leser wird sich leicht denken können, daß ich nicht ganz kaltblütig war. Es fing an zu dämmern, als ich vor dem Hause des Kommandanten stand. Der Galgen mit seinen Opfern hob sich schauerlich schwarz vom Hintergrund ab. Der Leichnam der armen Kommandantenfrau lag noch immer vor dem Hause, dessen Eingang von zwei Kosaken bewacht wurde. Der Kosak, der mich begleitet hatte, ging hinein, mich anzumelden, kam sofort zurück und führte mich in das Zimmer, in dem ich tags zuvor so zärtlichen Abschied von Marja Iwanowna genommen hatte. Ein ungewöhnliches Bild zeigte sich mir: An dem Tisch, der mit einem Leintuch gedeckt und mit Kannen und Gläsern vollgestellt war, saß Pugatschow mit etwa zehn Kosakenanführern in Fellmützen und bunten Hemden. Alle waren vom Wein erhitzt, die Gesichter stark gerötet, die Augen unheimlich blitzend. Unter ihnen sah ich jedoch weder Schwabrin noch unsern Urjadnik, die beiden neugewonnenen Verräter. „Ah! Euer Wohlgeboren!“ sagte Pugatschow, als er mich erblickte. „Herzlich willkommen! Ehre, dem Ehre gebührt! Bitte Platz zu nehmen.“ Die Tischgenossen rückten zusammen. Ich setzte mich schweigend am äußersten Ende der Tafel nieder. Mein Nachbar, ein schlanker, hübscher, junger Kosak, schenkte mir ein Glas Branntwein ein, das ich nicht anrührte. Ich betrachtete die Versammlung mit lebhafter Neugier. Pugatschow saß oben, die Ellbogen auf den Tisch gelegt und den schwarzen Bart auf seine breite Faust stützend. Seine regelmäßigen und recht angenehmen Züge hatten nichts Wildes und Grausames an sich. Er wandte sich wiederholt an einen Mann von etwa fünfzig Jahren, den er bald Herr Graf, bald Timofejitsch nannte, mitunter auch Onkelchen 390
titulierte. Zwischen allen herrschte ein kameradschaftlicher Ton, und dem Anführer wurde keinerlei besondere Ehrerbietung bezeigt. Man unterhielt sich über den heutigen Angriff, den Fortschritt der Rebellion und die bevorstehenden Unternehmungen. Alle taten groß, legten ihre Meinungen dar und stritten ungeniert mit Pugatschow. Und auf diesem seltsamen Kriegsrat wurde beschlossen, auf Orenburg zu marschieren: Ein tollkühnes Unterfangen, das beinahe zu verhängnisvollem Erfolg geführt hätte! Der Ausmarsch wurde auf den morgigen Tag festgesetzt. „Nun, Brüder“, sagte Pugatschow, „singen wir mal vor dem Schlafengehen mein Lieblingslied! Tschumakow! Fang an!“ Mein Nachbar begann mit heller Stimme ein wehmütiges Burlakenlied, und alle fielen im Chor ein: Rausche nicht, Väterchen, du grüner Eichenwald, Störe mich wackern Jüngling nicht in den Gedanken mein; Morgen muß ich wackrer Jüngling zu dem Verhöre gehn, Vor den gestrengen Richter, vor den Zaren selbst. Wird der Herr und Zar wohl also befragen mich: Du sage mir, Kindchen, sage du Bauernsohn Mit wem doch hast du gestohlen, mit wem geraubt? Waren noch viel der Gefährten mit dir? Ich will Dir sagen, Du Hoffnung, rechtgläub’ger Zar, Alles bekenn ich getreu Dir, die Wahrheit ganz: Wohl der Gefährten hatt ich noch viere bei mir, Mein erster Gefährte, das war die finstre Nacht, Und mein zweiter Gefährte – das Messer von Stahl, Und mein dritter Gefährte – mein wackres Roß, Und mein vierter Gefährte – der Bogen straff, Meine Boten – das waren die Pfeile hart. Alsdann spricht die Hoffnung mein, der rechtgläub’ge Zar: Brav gemacht, Kindchen, brav du Bauernsohn! Wußtest stehlen zu gehn, wußtest Rede zu stehn; Dafür will ich dich, Kindchen, beschenken auch, Mitten im Feld mit hohem Holzgebäu – Mit zwei Pfählen und einem Querbalken dran. 391
Es läßt sich nicht wiedergeben, wie dieses einfache Volkslied vom Galgen aus dem Munde von Leuten, die selbst für den Galgen reif waren, auf mich wirkte. Ihre grimmigen Gesichter, ihre gut zusammenklingenden Stimmen, der wehmütige Ausdruck, den sie den an sich schon ausdrucksvollen Worten verliehen – alles das erfüllte mich mit einem gewissen poetischen Schauder. Die Gäste tranken noch ein Glas, standen auf und verabschiedeten sich von Pugatschow. Ich wollte ihnen folgen, aber Pugatschow sagte zu mir: „Bleib sitzen. Ich habe dir noch etwas zu sagen.“ Wir blieben allein. Einige Minuten lang schwiegen wir alle beide. Pugatschow sah mich scharf an, wobei er ab und zu das linke Auge mit einem erstaunlich schlauen und spöttischen Ausdruck zukniff. Endlich fing er an zu lachen, und zwar so ungeheuchelt lustig, daß ich bei seinem Anblick auch lachen mußte, ohne zu wissen warum. „Nun, Euer Wohlgeboren?“ sagte er. „Gesteh’s nur, dir wurde angst und bange, als meine Kerle dir den Strick um den Hals legten? Da schien dir wohl der Himmel nicht größer als ein Schaffell … Und du würdest am Querbalken baumeln, wenn dein Diener nicht gewesen wäre. Ich hab den alten Kerl sofort erkannt. Konntest du dir das wohl denken, Euer Wohlgeboren, daß der Mann, der dich zur Herberge führte, der große Zar selber war?“ (Hier steckte er eine feierliche und geheimnisvolle Miene auf.) „Du hast dich schwer an mir versündigt“, fuhr er fort, „aber ich habe dich für deine Güte begnadigt, weil du mir einen Dienst erwiesen hast, als ich mich vor meinen Feinden verbergen mußte. Du sollst noch ganz andere Dinge sehen! Ich will dich noch ganz anders belohnen, wenn ich mein Reich erhalten werde! Versprichst du mir, mit Eifer zu dienen?“ Die Frage des Gauners und seine Frechheit kamen mir so komisch vor, daß ich auflachen mußte. „Was lachst du?“ fragte er stirnrunzelnd. „Oder glaubst du etwa nicht, daß ich der große Zar bin? Antworte frei und offen!“ Ich geriet in Verlegenheit. Den Landstreicher als Zaren anerkennen konnte ich nicht; das schien mir eine unverzeihliche 392
Feigheit. Ihn ins Gesicht einen Betrüger nennen, hieß sich zugrunde richten, und wozu ich unter dem Galgen vor dem ganzen Volke in der ersten Empörung bereit gewesen, schien mir jetzt unnötige Prahlerei. Ich zögerte. Pugatschow wartete mit finsterm Gesicht auf meine Antwort. Endlich (und heute noch denke ich voller Stolz an diesen Augenblick) siegte das Pflichtgefühl über die menschliche Schwäche. Ich antwortete Pugatschow: „Hör mich an; ich will dir die ganze Wahrheit sagen. Überleg mal, kann ich dich als Zaren anerkennen? Du bist ein kluger Kopf, du würdest selber merken, daß ich dich hinters Licht führen will.“ „Wer bin ich denn nach deiner Meinung?“ „Das mag der liebe Gott wissen; aber wer du auch seist, du treibst einen gefährlichen Spaß.“ Pugatschow warf mir einen schnellen Blick zu. „Du glaubst also nicht“, sagte er, „daß ich der Zar Pjotr Fjodorowitsch bin? Nun, sei’s drum. Aber hat der Mutige kein Glück? Hat in alten Zeiten Grischka Otrepjew nicht regiert? Denk von mir, was du willst, aber bleibe bei mir. Was geht dich alles übrige an? Wenn einer Pope ist, nennt man ihn Väterchen. Diene mir ehrlich und treu, und ich mache dich zum Feldmarschall und zum Fürsten. Was meinst du?“ „Nein“, erwiderte ich fest. „Ich bin von altem Adel; ich habe der Zarin geschworen; ich kann dir nicht dienen. Wenn du mir wirklich wohlwillst, so entlasse mich nach Orenburg.“ Pugatschow überlegte. „Und wenn ich dich entlasse“, sagte er, „versprichst du mir wenigstens, nichts gegen mich zu unternehmen?“ „Wie kann ich das versprechen?“ entgegnete ich. „Du weißt selbst, ich kann über mich nicht verfügen: Wenn man mir befiehlt, gegen dich zu ziehen – so muß ich’s tun, da hilft nichts. Du bist jetzt selber Befehlshaber; du verlangst von deinen Leuten auch Gehorsam. Was wäre denn das, wenn ich den Dienst verweigerte, gerade wo man ihn braucht? Mein Kopf ist in deiner Gewalt; entläßt du mich, so will ich’s dir danken; läßt du mich töten, so mag Gott dein Richter sein; ich aber habe dir die Wahrheit gesagt.“ 393
Meine Aufrichtigkeit setzte Pugatschow in Erstaunen. „Sei’s drum“, sagte er und klopfte mir auf die Schulter, „wenn ich strafe, dann kenn ich kein Erbarmen; bin ich gnädig, dann bin ich’s auch ganz. Geh nach allen vier Winden und tu, was du willst. Morgen komm zu mir Abschied nehmen, und jetzt geh nach Hause und leg dich schlafen, ich bin auch schon müde.“ Ich verließ Pugatschow und trat auf die Straße hinaus. Die Nacht war still und kalt. Mond und Sterne glänzten hell und beleuchteten den Platz und den Galgen. In der Festung war alles ruhig und dunkel. Nur aus der Schenke kam noch Licht und das Geschrei verspäteter Zecher. Ich warf einen Blick auf das Haus des Geistlichen. Fensterläden und Tor waren geschlossen. Auch hier schien alles ruhig. Ich kam in meine Wohnung und fand Saweljitsch tief betrübt über mein langes Ausbleiben. Die Nachricht über meine Freilassung erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude. „Dank dir, Herrgott im Himmel!“ sagte er und bekreuzigte sich. „In aller Frühe verlassen wir morgen die Festung und ziehen, wohin die Augen sehen. Ich habe dir einiges zurechtgemacht, Väterchen, iß und schlaf bis zum lichten Morgen, wie in Abrahams Schoß.“ Ich folgte seinem Rat, und nachdem ich mit großem Appetit zu Abend gegessen, schlief ich auf dem nackten Fußboden, körperlich und geistig aufs äußerste ermattet, fest ein.
Neuntes Kapitel
Die Trennung
Ach, ein Kuß von deinem Munde War mir höchste Seligkeit, Doch es schlägt die Trennungsstunde, Und das Herz erbebt im Leid. Cheraskow
Frühmorgens weckte mich Trommelwirbel. Ich ging auf den Versammlungsplatz. Die Pugatschowschen Scharen nahmen schon Aufstellung vor dem Galgen, an dem immer noch die gestrigen Opfer hingen. Die Kosaken waren zu Pferde, die Soldaten standen mit geschultertem Gewehr. Fahnen flatterten über den Reihen. Ein paar Geschütze, unter denen ich auch das unsere bemerkte, waren auf Feldlafetten gestellt. Die ganze Bevölkerung war in Erwartung des Usurpators zusammengeströmt. Vor dem Hause des Kommandanten hielt ein Kosak ein prächtiges weißes Pferd kirgisischer Rasse am Zügel. Ich sah mich nach dem Leichnam der Kommandantin um. Er war etwas zur Seite getragen worden und mit einer Matte bedeckt. Endlich trat Pugatschow aus dem Hausflur. Die Leute nahmen die Mützen ab. Pugatschow blieb auf der Treppe stehen und grüßte alle. Einer der Führer reichte ihm einen Sack mit Kupfermünzen, und er fing an, sie handvollweise unter das Volk zu werfen. Das Volk stürzte sich schreiend darauf, und es ging nicht ohne Verletzungen ab. Um Pugatschow scharten sich die Hervorragendsten aus der Schar seiner Genossen. Unter ihnen befand sich auch Schwabrin. Unsere Blicke trafen sich; er mußte in meinem die Verachtung lesen und wandte sich mit dem Ausdruck aufrichtiger Wut und geheuchelten Spottes ab. Als Pugatschow mich in der 395
Menge bemerkte, nickte er mir zu und rief mich zu sich heran. „Höre“, sagte er zu mir, „begib dich sofort nach Orenburg und melde in meinem Namen dem Gouverneur und allen Generalen, daß sie mich nach einer Woche erwarten können. Gib ihnen den Rat, mich mit kindlicher Liebe und Ergebenheit zu empfangen; sonst entgehen sie dem bittern Tod nicht. Glückliche Reise, Euer Wohlgeboren!“ Dann wandte er sich an das Volk und sagte, auf Schwabrin zeigend: „Das ist euer neuer Kommandeur, Kinder. Gehorcht ihm in allem; er ist mir für euch und die Festung verantwortlich.“ Schaudernd vernahm ich diese Worte: Schwabrin wurde Kommandant der Festung, Marja Iwanowna blieb in seiner Gewalt! Gott, was würde mit ihr geschehen! Pugatschow stieg die Stufen herab; man führte ihm sein Pferd vor. Er schwang sich gewandt in den Sattel, ohne auf die Kosaken zu warten, die ihm hinaufhelfen wollten. In diesem Augenblick sehe ich meinen Saweljitsch aus der Volksmenge hervortreten, sich Pugatschow nähern und ihm ein Blatt Papier überreichen. Ich konnte mir gar nicht denken, wo das hinaus sollte. „Was ist das?“ fragte Pugatschow wichtig. „Lies, dann wirst du es erfahren“, antwortete Saweljitsch. Pugatschow nahm das Blatt und betrachtete es lange Zeit mit feierlich ernster Miene. „Was schreibst du so unleserlich?“ sagte er endlich. „Meine hellen Augen können hier nichts entziffern. Wo ist mein Obersekretär?“ Ein junger Bursche in Korporalsuniform kam flink zu Pugatschow gelaufen. „Lies laut!“ sagte der Usurpator und reichte ihm das Blatt. Ich war sehr begierig zu erfahren, was mein Wärter dem Pugatschow hatte schreiben können. Der Obersekretär las mit lauter Stimme Silbe für Silbe folgendes: „Zwei Schlafröcke, ein leinener und ein gestreifter seidener, für sechs Rubel.“ „Was soll das heißen?“ fragte Pugatschow stirnrunzelnd. „Befiehl ihm, weiterzulesen“, antwortete Saweljitsch ruhig. Der Obersekretär fuhr fort: „Ein Uniformrock aus feinem grünem Tuch für sieben Rubel. Eine weiße Tuchhose für fünf Rubel. 396
Zwölf Hemden aus holländischem Leinen mit Manschetten für zehn Rubel. Eine Schatulle mit einem Teeservice für zwei und einen halben Rubel.“ „Was soll das Geschwätz?“ unterbrach ihn Pugatschow. „Was geht mich die Schatulle und die Hose mit Manschetten an?“ Saweljitsch räusperte sich und begann zu erklären. „Siehst du wohl, Väterchen, das ist ein Verzeichnis des herrschaftlichen Gutes, das die Bösewichter …“ „Was für Bösewichter?“ fragte Pugatschow grimmig. „Verzeih, ich habe mich versprochen“, antwortete Saweljitsch. „Nicht gerade Bösewichter, aber deine Jungens haben in unsern Sachen gewühlt und allerlei mitgenommen. Sei nicht böse: Das Pferd hat vier Beine und stolpert dennoch. Laß ihn schon zu Ende lesen.“ „Lies weiter“, sagte Pugatschow. Der Sekretär fuhr fort: „Eine Kattundecke, eine zweite aus Taflet, wattiert, vier Rubel; ein Fuchspelz, mit rotem Tuch bezogen, vierzig Rubel. Ferner ein Hasenpelz, Deiner Gnaden in der Herberge überlassen, fünfzehn Rubel.“ „Was soll das heißen?“ schrie Pugatschow, und seine Augen blitzten feurig auf. Ich muß gestehen, daß mir um meinen armen Saweljitsch angst und bange wurde. Er wollte wieder lange Erklärungen abgeben, aber Pugatschow ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Wie wagst du’s, mich mit solch dummem Zeug zu belästigen!“ schrie er, riß das Papier dem Sekretär aus der Hand und warf es Saweljitsch ins Gesicht. „Alter Narr! Man hat sie beraubt! Großes Unglück! Du blöder Graukopf solltest dein Leben lang für mich und meine Jungens beten, weil wir dich und deinen Herrn nicht auch mit all den andern Rebellen hier aufgeknüpft haben … Ein Hasenpelz! Ich will dir einen Hasenpelz zeigen! Weißt du, daß ich dir die Haut vom Leibe schinden kann, um Pelze draus zu machen?“ „Wie du willst“, antwortete Saweljitsch, „ich bin ein höriger Mann und habe für das herrschaftliche Gut zu verantworten.“ 397
Pugatschow hatte anscheinend einen Anfall von Großmut. Er wandte sich ab und ritt fort, ohne ein Wort zu sagen. Schwabrin und die Führer folgten ihm. Die Bande verließ die Festung in voller Ordnung. Das Volk begleitete Pugatschow hinaus. Ich blieb mit Saweljitsch allein auf dem Platz. Mein Wärter hielt sein Verzeichnis in der Hand und betrachtete es mit tiefbetrübtem Gesichte. Als er mein gutes Einvernehmen mit Pugatschow sah, glaubte er, es ausnutzen zu können; aber seine weise Absicht schlug fehl. Ich wollte ihn für seinen unangebrachten Eifer schelten, aber ich konnte mich schließlich des Lachens nicht enthalten. „Lache nur, Herr“, antwortete Saweljitsch, „lache nur, aber wenn wir den ganzen Hausrat neu anschaffen müssen, dann wollen wir sehen, ob man da noch lachen kann.“ Ich eilte in das Haus des Geistlichen, um Marja Iwanowna zu sehen. Die Popenfrau empfing mich mit einer traurigen Nachricht. Nachts war Marja Iwanowna von einem heftigen Fieber befallen worden. Sie lag bewußtlos da und phantasierte. Die Popenfrau führte mich in ihr Zimmer. Ich trat leise an ihr Bett. Die Veränderung ihres Gesichtes verblüffte mich. Die Kranke erkannte mich nicht. Lange stand ich vor ihr, ohne auf den Vater Gerassim zu hören, noch auf seine gute Frau, die, glaube ich, mir Trostworte zusprachen. Finstre Gedanken bewegten mich. Der Zustand der armen, schutzlosen Waise, die inmitten der wilden Rebellen zurückgeblieben war, meine eigene Machtlosigkeit erfüllten mich mit Schrecken. Schwabrin, vor allem Schwabrin marterte meine Einbildungskraft. Der Usurpator hatte ihm alle Gewalt gegeben, er regierte in der Festung, in der das unglückliche Mädchen, der unschuldige Gegenstand seines Hasses, geblieben war – da war ihm alles zuzutrauen. Was sollte ich tun? Wie sollte ich ihr helfen? Wie sie aus den Händen des Bösewichtes befreien? Es blieb mir nur ein Mittel: Ich beschloß, mich sofort nach Orenburg zu begeben, um auf schleunigen Entsatz der Festung Belogorskaja zu dringen und mich nach Möglichkeit selbst daran zu beteiligen. Ich verabschiedete mich vom Geistlichen und Akulina Pamfilowna und bat sie mit leidenschaftlicher 398
Wärme, für die, welche ich schon als meine Gattin ansah, zu sorgen. Ich ergriff die Hand des armen Mädchens, küßte sie und benetzte sie zugleich mit meinen Tränen. „Leben Sie wohl“, sagte die Popenfrau, als sie mich hinausbegleitete. „Leben Sie wohl, Pjotr Andrejitsch. So Gott will, sehen wir uns in bessern Zeiten wieder. Vergessen Sie uns nicht, und schreiben Sie uns öfter. Die arme Marja Iwanowna hat außer Ihnen keinen Trost und Schutz mehr.“ Als ich auf den Platz hinaustrat, blieb ich eine Minute stehen, blickte nach dem Galgen, neigte mich grüßend vor ihm, verließ die Festung und ging den Orenburger Weg entlang, von Saweljitsch begleitet, der tapfer mit mir Schritt hielt. Ich ging in meine Gedanken vertieft, als ich plötzlich hinter mir Pferdegetrappel vernahm. Ich blickte mich um und sah: Aus der Festung kam ein Kosak geritten, der ein Baschkirenpferd am Zügel führte und mir von ferne ein Zeichen machte. Ich blieb stehen und erkannte bald unsern Urjadnik. Als er mich eingeholt hatte, stieg er von seinem Pferde und sagte, indem er mir die Zügel des andern reichte: „Euer Wohlgeboren! Unser Gebieter schenkt Ihnen dieses Pferd und einen Pelz von seinen eigenen Schultern“ (an den Sattel war ein Schafpelz gebunden). „Und dann“, fuhr der Urjadnik stockend fort, „schenkt er Ihnen noch … eine Poltina in barem Geld … ich hab’s aber unterwegs verloren: Wollen Sie’s mir gütigst verzeihen.“ Saweljitsch sah ihn von der Seite an und brummte: „Unterwegs verloren? Was klimpert denn da in deinem Hemde? Unverschämter!“ – „Was in meinem Hemde klimpert?“ erwiderte der Urjadnik, ohne im geringsten verlegen zu werden. „Rede kein dummes Zeug, Alter. Es ist der Zaum, der klirrt, aber nicht das Geld.“ – „Gut“, mischte ich mich in den Streit. „Danke in meinem Namen dem, der dich geschickt hat, und versuche das verlorene Geld auf dem Rückweg aufzulesen; du kannst es dann als Trinkgeld behalten.“ – „Schönen Dank, Euer Wohlgeboren“, sagte er, sein Pferd umwendend, „ich werde mein Leben lang für Sie beten.“ Mit diesen Worten ritt er zurück, die eine Hand an die Brust drückend, und war in einer Minute aus unserm Gesichtskreis verschwunden. 399
Ich zog den Pelz an und setzte mich aufs Pferd, Saweljitsch mußte hinter mir aufsitzen. „Siehst du, Herr“, sagte der Alte, „es war doch recht, daß ich dem Räuber die Klage überreichte; nun hat sich der Halunke geschämt. Wenn auch der langbeinige Baschkirenklepper und der Schafpelz nicht halb soviel wert sind wie das, was die Schufte uns gestohlen haben und was du selbst ihm geschenkt hast, so kommen sie uns doch zupaß; von einem bösen Hund ist einem auch ein Büschel Wolle recht.“
Zehntes Kapitel
Die Belagerung der Stadt
Nachdem er Feld und Berg mit seinem Heer besetzt, Sandt er, dem Adler gleich, hinab die Blicke jetzt. Jenseits des Lagers ließ er richten die Geschütze, Zu treffen nachts die Stadt mit ihrem Donnerblitze. Cheraskow
Als wir uns Orenburg näherten, sahen wir eine Schar Sträflinge mit rasierten Köpfen und Gesichtern, die von der Zange des Henkers verunstaltet waren. Sie arbeiteten an den Befestigungen unter Aufsicht von Garnisoninvaliden. Einige fuhren in Karren den Schutt fort, der den Graben füllte, andere gruben den Boden mit Spaten auf; auf dem Wall schleppten Maurer Ziegelsteine und besserten die Stadtmauer aus. Vor dem Tor hielten uns Wachtposten an und verlangten unsere Pässe. Kaum hatte der Sergeant vernommen, daß ich aus der Festung Belogorskaja käme, so führte er mich geradewegs nach dem Hause des Generals. Ich fand ihn im Garten. Er betrachtete die vom Hauch des Herbstes entblößten Apfelbäume und hüllte sie mit Hilfe des alten Gärtners sorgsam in warmes Stroh. Sein Gesicht zeigte Ruhe, Gesundheit und Gutmütigkeit. Er war über meinen Besuch sehr erfreut und fragte mich sofort nach den entsetzlichen Begebenheiten aus, deren Zeuge ich gewesen war. Ich erzählte ihm alles. Der Alte hörte mir aufmerksam zu und schnitt gleichzeitig die dürren Zweige ab. „Der arme Mironow“, sagte er, als ich meine traurige Geschichte beendet hatte. „Schade um ihn, es war ein guter Offizier; und Madame Mironow war eine gute Dame – wie prachtvoll verstand sie Pilze einzumachen! Und was macht 401
Mascha, die Hauptmannstochter?“ Ich erwiderte, sie sei in der Festung unter der Obhut der Popenfrau geblieben. „Ei, ei, ei!“ sagte der General. „Das ist schlimm, sehr schlimm. Auf die Disziplin der Räuber kann man sich ganz und gar nicht verlassen. Was soll aus dem armen Mädchen werden?“ Ich meinte, bis zur Festung Belogorskaja sei es nicht weit und Seine Exzellenz würden sicher keine Zeit verlieren und Truppen zur Befreiung der armen Bewohner entsenden. Der General schüttelte ungläubig den Kopf. „Wollen sehen, wollen sehen“, sagte er. „Darüber reden wir noch. Ich bitte dich zu einer Tasse Tee; wir halten heute Kriegsrat, Du kannst uns zuverlässige Nachrichten über den Halunken Pugatschow und sein Heer geben. Jetzt aber ruh dich erst aus.“ Ich begab mich in die mir angewiesene Wohnung, wo Saweljitsch sich bereits häuslich eingerichtet hatte, und sah mit Ungeduld der festgesetzten Stunde entgegen. Der Leser wird sich leicht vorstellen können, daß ich es nicht unterlassen konnte, zum Kriegsrat zu erscheinen, der einen so großen Einfluß auf mein Schicksal haben sollte. Zur angegebenen Stunde war ich schon beim General. Ich traf dort einen der städtischen Beamten, wenn ich nicht irre, war es der Direktor des Zollamtes, ein dicker, rotbackiger alter Herr in einem Brokatrock. Er fragte mich nach dem Schicksal Iwan Kusmitschs aus, den er seinen Gevatter nannte, und unterbrach meine Rede wiederholt durch ergänzende Fragen und belehrende Zwischenbemerkungen, die ihn zwar nicht als großen Kenner der Kriegskunst zeigten, aber doch viel Kombinationsgabe und natürlichen Verstand verrieten. Inzwischen versammelten sich auch die übrigen Teilnehmer an der Beratung. Unter ihnen gab es, mit Ausnahme des Generals, keinen einzigen Militär. Als alle Platz genommen hatten und jedem eine Tasse Tee gereicht worden war, legte der General sehr klar und ausführlich dar, wie die Dinge standen. „Jetzt, meine Herren“, fuhr er fort, „gilt es zu beschließen, wie wir gegen die Aufrührer vorgehen sollen: offensiv oder defensiv? Jede dieser Methoden hat ihre Vorteile und Nachteile. Ein offensives Vor402
gehen bietet mehr Aussicht schnellster Vernichtung des Feindes; die Defensive ist sicherer und gefahrloser. Schreiten wir nun zur Abstimmung in der gesetzlichen Ordnung, das heißt mit dem Dienstjüngsten beginnend. Herr Unterleutnant!“ fuhr er fort, sich an mich wendend, „haben Sie die Güte, uns Ihre Meinung darzulegen.“ Ich erhob mich, schilderte zuerst in kurzen Worten Pugatschow und seine Bande und erklärte bestimmt, der Usurpator wäre außerstande, sich gegen den Angriff regulärer Truppen zu behaupten. Meine Meinung wurde von den Beamten mit offenkundigem Mißfallen aufgenommen. Sie sahen darin nur Leichtsinn und Tollkühnheit eines jungen Mannes. Ein Murren erhob sich, und deutlich vernahm ich das Wort „Milchbart“, das jemand halblaut aussprach. Der General wandte sich zu mir und sagte lächelnd: „Herr Unterleutnant! Die ersten Stimmen werden bei Kriegsräten gewöhnlich zugunsten des offensiven Vorgehens abgegeben, das ist ganz in der Ordnung. Wollen wir nun die weiteren Stimmen einsammeln. Herr Kollegienrat, sagen Sie uns Ihre Meinung.“ Der alte Herr im Brokatrock leerte schnell seine dritte, stark mit Rum durchsetzte Tasse Tee und antwortete dem General: „Ich bin der Meinung, Exzellenz, daß man weder offensiv noch defensiv vorgehen soll.“ „Wie das, Herr Kollegienrat?“ erwiderte der General erstaunt. „Andere Methoden kennt die Taktik nicht: Man kann nur defensiv oder offensiv vorgehen …“ „Exzellenz, gehen Sie korruptiv vor.“ „Haha! Ihre Ansicht ist sehr vernünftig. Korruptives Vorgehen läßt die Taktik zu, und wir wollen Ihren Rat befolgen. Man kann für den Kopf des Halunken siebzig Rubel aussetzen … oder sogar hundert … aus dem Geheimfonds.“ „Und dann“, unterbrach ihn der Zolldirektor, „will ich ein kirgisischer Hammel sein und kein Kollegienrat, wenn diese Banditen uns ihren Hauptmann nicht an Händen und Füßen gefesselt ausliefern.“ 403
„Wir wollen uns das noch überlegen und besprechen“, entgegnete der General. „In jedem Fall aber muß man militärische Maßnahmen treffen. Meine Herren, wollen Sie Ihre Stimmen nach der gesetzlichen Ordnung abgeben.“ Sämtliche Meinungsäußerungen waren der meinigen entgegengesetzt. Alle Beamten redeten von der Unzuverlässigkeit der Truppen, der Ungewißheit des Erfolges, der Notwendigkeit, vorsichtig zu sein, und ähnlichem. Alle waren der Ansicht, es wäre vernünftiger, im Schutz der Kanonen hinter festen Steinmauern zu bleiben, statt das Waffenglück in offenem Felde zu erproben. Als der General endlich alle angehört hatte, klopfte er die Asche aus seiner Pfeife und hielt folgende Rede: „Meine Herren! Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich meinerseits mit der Ansicht des Herrn Unterleutnants vollkommen übereinstimme, denn diese Ansicht basiert auf allen Regeln einer gesunden Taktik, die fast immer das offensive Vorgehen der Defensive vorzieht.“ Hier stockte er und begann seine Pfeife zu stopfen. Mein Selbstgefühl triumphierte. Ich blickte stolz auf die Beamten, die mit unzufriedenen und unruhigen Mienen untereinander flüsterten. „Aber, meine Herren“, fuhr der General nun fort, indem er zugleich mit einem tiefen Seufzer eine dicke Wolke Tabaksrauch seinem Munde entströmen ließ, „ich wage es nicht, eine so große Verantwortung auf mich zu nehmen, wenn es sich um die Sicherheit der mir von Ihrer Kaiserlichen Majestät, meiner Allergnädigsten Monarchin, anvertrauten Provinzen handelt. Darum stimme ich der Mehrheit bei, die beschlossen hat, es sei vernünftiger und ungefährlicher, die Belagerung der Stadt abzuwarten und die Angriffe des Feindes durch unsere Artillerie und (sofern das möglich sein sollte) durch Ausfälle abzuwehren.“ Nun sahen die Beamten mich spöttisch an. Die Versammlung löste sich auf. Ich mußte die Schwäche des ehrenwerten Kriegsmannes bedauern, der gegen seine eigene Überzeugung sich entschlossen hatte, der Ansicht unwissender und unerfahrener Leute zu folgen. 404
Wenige Tage nach dieser bedeutsamen Sitzung erfuhren wir, daß Pugatschow, seinem Versprechen treu, sich Orenburg näherte. Ich sah das Heer der Rebellen von der Höhe der Stadtmauer. Ihre Zahl schien sich mir seit dem letzten Angriff, dessen Zeuge ich gewesen war, verzehnfacht zu haben. Sie hatten auch Artillerie, die Pugatschow aus den kleinen, bereits eroberten Festungen geholt hatte. Ich dachte an den Beschluß des Kriegsrats und sah eine lange Einschließung in den Mauern von Orenburg voraus. Ich hätte vor Zorn fast geweint. Ich verzichte auf eine Schilderung der Belagerung von Orenburg, die in ein Geschichtswerk, nicht aber in diese Familienblätter gehört. Ich will nur in Kürze sagen, daß diese Belagerung dank der Unvorsichtigkeit der örtlichen Behörden verderblich für die Einwohnerschaft wurde, die Hunger und sonstige bittere Nöte zu erleiden hatte. Man kann sich leicht vorstellen, daß das Leben in Orenburg ganz unerträglich war. Alle warteten trüben Sinnes auf die Entscheidung ihres Schicksals, alle jammerten über die Teuerung, die in der Tat entsetzlich war. Die Einwohner gewöhnten sich an die Kanonenkugeln, die in ihre Höfe flogen; sogar die Angriffe Pugatschows erregten das allgemeine Interesse nicht mehr. Ich starb vor Langeweile. Die Zeit verging. Briefe aus Belogorskaja erhielt ich nicht. Alle Wege waren abgeschnitten. Die Trennung von Marja Iwanowna wurde mir unerträglich. Die Ungewißheit ihres Schicksals quälte mich. Meine einzige Zerstreuung war das Ausschwärmen. Durch die Gnade Pugatschows war ich in den Besitz eines guten Pferdes gelangt, mit dem ich meine kärgliche Nahrung teilte und auf dem ich täglich aus der Stadt hinausritt, um mit den Reitern Pugatschows Schüsse zu wechseln. Bei diesen Gewehrkämpfen war das Übergewicht meist auf Seiten der satten, betrunkenen und gut berittenen Rebellen. Die ausgemergelte städtische Kavallerie konnte mit ihnen nicht fertig werden. Manchmal zog auch unsere hungrige Infanterie hinaus; doch der tiefe Schnee hinderte sie, erfolgreich gegen die weit ausschwärmenden Reiter vorzugehen. Vergeblich donnerte die Artillerie vom Wall herab; im Felde blieb 405
sie stecken und konnte mit ihren abgehetzten Pferden nicht vorwärts kommen. Das waren nun unsere militärischen Operationen! Und das nannten die Orenburger Beamten Vorsicht und Vernunft! Einmal, als es uns gelungen war, eine ziemlich dichte Schar zu zerstreuen und zu vertreiben, stieß ich auf einen Kosaken, der hinter seinen Kameraden zurückgeblieben war; ich wollte ihm schon einen Hieb mit meinem türkischen Säbel versetzen, als er plötzlich die Mütze abnahm und rief: „Guten Tag, Pjotr Andrejitsch! Wie geht’s?“ Ich sah ihn an und erkannte unsern Urjadnik. Ich war darüber unsagbar froh. „Guten Tag, Maximytsch“, sagte ich. „Bist du schon lange aus Belogorskaja fort?“ „O nein, Väterchen Pjotr Andrejitsch; ich bin erst gestern gekommen. Ich habe ein Brieflein für Sie.“ „Wo ist es?“ schrie ich in flammender Erregung. „Hier, bei mir“, sagte Maximytsch und steckte die Hand in die Brust. „Ich hab’s der Palaschka versprochen, es Ihnen irgendwie zukommen zu lassen.“ Damit überreichte er mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier und ritt alsbald davon. Ich faltete es auseinander und las zitternd folgende Zeilen: Gott hat es gefallen, mich plötzlich des Vaters und der Mutter zu berauben: Ich habe auf Erden keine Verwandten, keine Beschützer. Ich wende mich an Sie, weil ich weiß, daß Sie mir immer wohlwollten und daß Sie jedem Menschen zu helfen bereit sind. Ich bitte Gott, daß dieser Brief irgendwie in Ihre Hände gelangt! Maximytsch hat mir versprochen, ihn Ihnen auszuhändigen. Palaschka hat auch von Maximytsch gehört, daß er Sie öfters von fern bei Ausfällen sieht und daß Sie sich gar nicht schonen und nicht an jene denken, die mit Tränen für Sie zu Gott beten. Ich war lange krank; als ich genesen war, zwang Alexej Iwanowitsch, der hier an Stelle meines entschlafenen Vaters das Kommando hat, den Vater Gerassim, mich ihm auszuliefern, wobei er ihm mit dem Zorn Pugatschows drohte. Ich 406
wohne in unserm Hause unter strenger Bewachung. Alexej Iwanowitsch will mich zwingen, ihn zu heiraten. Er sagt, er habe mir das Leben gerettet, weil er den Betrug der Akulina Pamfilowna nicht aufgedeckt habe, die den Rebellen gesagt hat, ich wäre ihre Nichte. Mir wäre es aber leichter zu sterben, als die Frau eines Mannes wie Alexej Iwanowitsch zu werden. Er behandelt mich sehr grausam und droht, wenn ich mich nicht besinne und nicht einwillige, mich in das Lager der Rebellen zu schleppen, wo es mir ebenso gehen würde wie der Lisaweta Charlowa. Ich bat Alexej Iwanowitsch um Bedenkzeit. Er erklärte sich bereit, noch drei Tage zu warten; werde ich aber nach drei Tagen nicht die Seine, dann hat alle Schonung ein Ende. Liebster Pjotr Andrejitsch! Sie sind mein einziger Beschützer! Helfen Sie mir in meiner Not! Bitten Sie den General und alle Kommandeure, uns schnellstens Sukkurs zu senden, und kommen Sie selbst her, wenn Sie können. Ich verbleibe Ihnen ganz ergeben, als armes Waisenkind Marja Mironowa. Als ich diesen Brief gelesen hatte, verlor ich fast den Verstand. Ich jagte nach der Stadt zurück, mein armes Pferd erbarmungslos mit den Sporen bearbeitend. Unterwegs dachte ich mir alles mögliche aus, wie ich dem armen Mädchen helfen könnte, aber es taugte alles nichts. In der Stadt angelangt, begab ich mich sofort zum General und stürmte ohne weiteres in sein Zimmer. Der General ging auf und ab und rauchte seine Meerschaumpfeife. Als er mich sah, blieb er stehen. Mein Anblick mußte ihn anscheinend sehr überrascht haben; er erkundigte sich teilnahmsvoll nach der Ursache meines plötzlichen Erscheinens. „Eure Exzellenz“, sagte ich zu ihm, „ich wende mich an Sie wie an einen Vater; um Gottes willen, weisen Sie meine Bitte nicht zurück; es handelt sich um das Glück meines ganzen Lebens.“ „Was gibt es, Freund?“ fragte der Alte erstaunt. „Was kann ich für dich tun? Rede!“ 407
„Eure Exzellenz, geben Sie mir eine Kompanie Soldaten und fünfzig Kosaken und schicken Sie mich aus, die Festung Belogorskaja zu säubern.“ Der General sah mich scharf an, wohl weil er glaubte, ich wäre verrückt geworden (worin er beinahe recht hatte). „Wie meinst du? Die Festung Belogorskaja säubern?“ sagte er endlich. „Ich bürge Ihnen für den Erfolg“, antwortete ich leidenschaftlich, „Lassen Sie mich nur ziehen.“ „Nein, junger Mann“, sagte er kopfschüttelnd. „Auf einer so großen Entfernung wäre es dem Feind ein leichtes, euch von der Kommunikation mit dem strategischen Zentrum abzuschneiden und euch völlig zu schlagen. Die Unterbrechung der Kommunikation …“ Ich erschrak, als ich ihn in militärische Betrachtungen vertieft sah, und beeilte mich, ihn zu unterbrechen. „Die Tochter des Hauptmanns Mironow“, sagte ich, „hat mir einen Brief geschrieben; sie bittet um Hilfe; Schwabrin will sie zur Ehe zwingen.“ „Wirklich? Oh, dieser Schwabrin ist ein ganz arger Schelm, und wenn er mir in die Finger gerät, so lasse ich ihn binnen vierundzwanzig Stunden aburteilen, und wir füsilieren ihn auf dem Festungswall! Vorläufig aber muß man sich in Geduld fassen …“ „Geduld!“ rief ich außer mir. „Und inzwischen heiratet er Marja Iwanowna!“ „Oh!“ erwiderte der General. „Das ist noch nicht so schlimm. Mag sie doch inzwischen Schwabrins Frau werden: Er kann ihr jetzt Protektion erweisen, und wenn wir ihn füsiliert haben, werden sich mit Gottes Hilfe schon Freier finden. Eine hübsche Witwe bleibt nicht alte Jungfer; das heißt, ich wollte sagen, daß eine Witwe eher einen Mann findet als eine Jungfer.“ „Eher sterb ich“, sagte ich wütend, „als daß ich sie Schwabrin überlasse!“ „Bah, bah, bah, bah!“ sagte der Alte. „Jetzt verstehe ich. Du bist, scheint’s, verliebt in Marja Iwanowna. Ja, das ist was an408
deres! Armer Junge! Ich kann dir aber trotzdem keine Kompanie Soldaten nebst fünfzig Kosaken geben. Diese Expedition wäre unvernünftig; ich kann die Verantwortung dafür nicht übernehmen.“ Ich senkte den Kopf; Verzweiflung packte mich. Plötzlich fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf: Worin er bestand, soll der Leser aus dem folgenden Kapitel erfahren, wie es bei den alten Romanschreibern heißt.
Elftes Kapitel
Das Rebellendorf
Der sonst so grimmige Leu war an dem Tage satt. „Was ist es, das zu mir dich hergeführet hat?“ Sprach er voll Freundlichkeit. Sumarokow
Ich verließ den General und eilte in meine Wohnung. Saweljitsch empfing mich mit seinen üblichen Ermahnungen. „Was hast du davon, Herr, dich mit den betrunkenen Räubern abzugeben! Schickt sich das für vornehme Leute? Das Glück hat seine Launen; um nichts und wieder nichts kannst du ums Leben kommen. Ja, wenn’s noch gegen den Türken oder Schweden ginge, aber man versündigt sich, wenn man nur den Namen des Gegners nennt.“ Ich unterbrach seinen Sermon mit der Frage, wieviel Geld ich noch im ganzen besäße. „Es ist genug da“, antwortete er mit zufriedenem Gesicht. „Soviel die Schufte auch herumgewühlt haben, ich habe doch Zeit gehabt, es zu verstecken.“ Und mit diesen Worten zog er einen langen gestrickten Beutel aus der Tasche, der ganz mit Silbermünzen angefüllt war. „Nun, Saweljitsch“, sagte ich zu ihm, „gib mir jetzt die Hälfte; den Rest magst du für dich behalten. Ich will nach der Festung Belogorskaja.“ „Väterchen, Pjotr Andrejitsch!“ sagte der gute Wärter mit zitternder Stimme. „Du sollst Gott nicht versuchen! Wie kannst du zu dieser Zeit reisen, wo die Räuber alle Wege versperrt haben! Habe doch wenigstens Mitleid mit deinen Eltern, wenn du auch an dich selbst nicht denkst. Wo willst du hin? Wozu? Warte doch noch ein wenig; es muß doch bald Militär kommen und der Schufte habhaft werden; dann magst du reisen, wohin du willst.“ Aber mein Entschluß stand fest. 410
„Du kommst mit deinen weisen Lehren zu spät“, sagte ich dem Alten. „Ich muß hin, ich kann nicht anders. Sei nicht traurig, Saweljitsch: Gott ist gnädig, wir sehen uns schon wieder. Also geniere dich nicht und sei nicht geizig. Kaufe dir, was du brauchst, und wenn du dreifache Preise zu zahlen hättest. Ich schenke dir dieses Geld. Wenn ich nach drei Tagen nicht wieder da bin …“ „Was redest du, Herr?“ unterbrach mich Saweljitsch. „Ich soll dich allein lassen? Das darf dir auch im Traum nicht einfallen! Hast du wirklich beschlossen hinzufahren, so folge ich dir nach, wenn’s sein muß, auch zu Fuß; aber verlassen tu ich dich nicht. Ich soll hier ohne dich hinter steinernen Mauern sitzen! Hab ich denn den Verstand verloren? Mach, was du willst, Herr, aber ich weiche nicht von dir.“ Ich wußte, daß mit Saweljitsch nicht zu streiten war, und erlaubte ihm, die Reisevorbereitungen zu treffen. Nach einer halben Stunde saß ich schon auf meinem guten Pferde und Saweljitsch auf einem magern, lahmen Klepper, den ihm einer der Stadtbewohner kostenlos überlassen hatte, weil er ihn nicht mehr füttern konnte. Wir erreichten das Stadttor; die Wachen ließen uns passieren; wir verließen Orenburg. Der Abend dämmerte. Mein Weg führte an dem Dorf Berda vorbei, dem Lager Pugatschows. Die gerade Straße war vom Schnee verweht; aber die ganze Steppe bedeckten Pferdespuren, die sich täglich erneuerten. Ich ritt in scharfem Trab. Saweljitsch blieb weit hinter mir zurück und rief immer wieder: „Nicht so schnell, Herr, um Gottes willen, nicht so schnell! Mein verdammter Gaul kann mit deinem langbeinigen Teufel nicht Schritt halten. Wohin eilst du so? Wär’s noch zu einem Fest, aber so kommst du am Ende gar auf den Henkersblock … Pjotr Andrejitsch … Väterchen, Pjotr Andrejitsch! … Richte dich nicht zugrunde! … Herrgott im Himmel, das Kind der Herrschaft rennt in sein Verderben!“ Bald flammten die Lichter von Berda auf. Wir näherten uns den Schluchten, die den natürlichen Schutz des Dorfes bildeten. Saweljitsch ritt unentwegt hinter mir her, ohne seine kläglichen Bitten einzustellen. Ich hoffte, unbemerkt um das Dorf 411
herumzukommen, als in der Dämmerung plötzlich fünf mit Knüppeln bewaffnete Bauern dicht vor mir auftauchten – es waren die Vorposten des Pugatschowschen Lagers. Sie riefen uns an. Da ich die Parole nicht kannte, wollte ich schweigend an ihnen vorbeireiten, aber sie umringten mich sofort, und einer von ihnen packte mein Pferd am Zügel. Ich zog den Säbel und schlug den Mann auf den Kopf; die Mütze rettete ihn, aber er wankte und ließ den Zügel fahren. Die andern erschraken und liefen davon; ich benutzte diesen Augenblick, gab dem Pferd die Sporen und sprengte davon. Die Finsternis der anbrechenden Nacht hätte mich aus jeder Gefahr retten können, doch als ich mich umsah, bemerkte ich plötzlich, daß Saweljitsch mir nicht mehr folgte. Der arme Alte hatte auf seinem lahmen Gaul vor den Räubern nicht fliehen können. Was sollte ich machen? Nachdem ich einige Minuten auf ihn gewartet und mich überzeugt hatte, daß er festgehalten worden war, machte ich kehrt und ritt zurück, um ihn zu befreien. Als ich mich der Schlucht näherte, hörte ich Lärm, Geschrei und die Stimme meines Saweljitsch. Ich ritt schneller und fand mich bald unter den Wachen wieder, die mich vorhin angehalten hatten. Saweljitsch stand mitten unter ihnen. Sie hatten den Alten vom Pferde gerissen und wollten ihn eben binden. Mein Erscheinen erfreute sie sehr. Schreiend warfen sie sich auf mich und hatten mich im Nu vom Pferde gezogen. Einer von ihnen, wohl der Anführer, meldete uns, daß er uns sofort zum Zaren führen werde. „Unser Väterchen“, fügte er hinzu, „mag dann befehlen, ob ihr gleich gehenkt werden sollt, oder ob wir bis zum Aufgang von Gottes lieber Sonne warten sollen.“ Ich widersetzte mich nicht; Saweljitsch folgte meinem Beispiel, und die Wachen führten uns im Triumph fort. Wir kletterten durch die Schlucht und betraten das Dorf. In allen Häusern war Licht. Überall hörte man Lärm und Geschrei. Auf der Straße sah ich eine Menge Volkes; aber niemand bemerkte uns im Dunkeln, niemand erkannte in mir den Orenburger Offizier. Man führte uns geradewegs zu einem Hause, 412
das an einer Straßenkreuzung stand. Vor dem Tor standen mehrere Weinfässer und zwei Geschütze. „Da ist der Palast“, sagte einer von den Bauern, „wir werden euch gleich melden.“ Er ging hinein. Ich sah Saweljitsch an; der Alte murmelte ein Gebet vor sich hin und bekreuzigte sich. Ich mußte lange warten; endlich kam der Mann zurück und sagte zu mir: „Komm, unser Väterchen hat befohlen, den Offizier einzulassen.“ Ich trat in die Hütte oder den Palast, wie die Bauern sagten. Sie war von zwei Talglichtern beleuchtet, die Wände mit Goldpapier beklebt; die Bänke, der Tisch, das an einem Bindfaden hängende Waschgeschirr, das Handtuch am Nagel, die Ofengabel in der Ecke und die breite, mit Töpfen besetzte Fläche vor dem Ofenloch waren übrigens ganz so wie in jedem Bauernhaus. Pugatschow saß unter den Heiligenbildern, in rotem Kaftan und hoher Mütze, die Hände stolz in die Seiten gestemmt. Neben ihm standen einige seiner einflußreichsten Genossen, deren Gesichter tiefe Ergebenheit heuchelten. Augenscheinlich hatte die Nachricht von der Ankunft eines Offiziers aus Orenburg die Rebellen sehr neugierig gemacht, und sie waren bereit, mich möglichst feierlich zu empfangen. Pugatschow erkannte mich auf den ersten Blick. Seine gemachte Würde verschwand sofort. „Ah! Euer Wohlgeboren!“ sagte er lebhaft. „Wie geht’s? Was führt dich her?“ Ich erwiderte, ich wäre in eigenen Angelegenheiten unterwegs und von seinen Leuten festgehalten worden. „Was sind das für Angelegenheiten?“ fragte er. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Pugatschow nahm an, daß ich vor Zeugen nicht reden wollte, wandte sich an seine Genossen und befahl ihnen hinauszugehen. Alle gehorchten bis auf zwei, die sich nicht vom Platz rührten. „Vor ihnen kannst du ruhig sprechen“, sagte Pugatschow zu mir. „Ich habe vor den beiden keine Geheimnisse.“ Ich sah die Vertrauten des Usurpators von der Seite an. Einer, ein schwächlicher, zusammengekrümmter alter Mann mit grauem Bärtchen hatte nichts Bemerkenswertes an sich außer dem blauen Band, das er über seinen grauen Bauernkittel über die Schulter gelegt hatte. Nie aber werde ich seinen Genossen vergessen. Er war hoch von Wuchs, beleibt und breitschultrig 413
und schien mir etwa fünfundvierzig Jahre alt zu sein. Der dichte rote Bart, die grauen, blitzenden Augen, die Nase ohne Nasenlöcher und die roten Flecke auf Stirn und Backen verliehen seinem breiten, pockennarbigen Gesicht einen Ausdruck, der sich nicht beschreiben läßt. Er hatte ein rotes Hemd an, darüber einen kirgisischen Kaftan und breite Kosakenhosen. Der eine war (wie ich später erfuhr) der desertierte Korporal Beloborodow, der andere – Afanassij Sokolow (genannt Chlopuscha), ein deportierter Verbrecher, der dreimal aus den sibirischen Bergwerken geflohen war. Trotz der leidenschaftlichen Empfindung, die mich ganz gefangennahm, fesselte die Gesellschaft, in die ich so unvermutet geraten war, meine Einbildungskraft ungemein. Aber Pugatschow brachte mich durch seine Frage wieder zu sich: „Nun sag mal, weswegen bist du aus Orenburg weggegangen?“ Ein seltsamer Gedanke schoß mir durch den Kopf: Es war mir, als wolle die Vorsehung, die mich zum zweitenmal zu Pugatschow gebracht hatte, mir Gelegenheit geben, meine Absicht auszuführen. Ich beschloß, sie zu benutzen, und ohne noch recht überlegt zu haben, was dieser Entschluß bedeutete, antwortete ich Pugatschow auf seine Frage: „Ich wollte nach der Festung Belogorskaja, einer Waise helfen, die dort mißhandelt wird.“ Pugatschows Augen blitzten. „Wer von meinen Leuten wagt es, eine Waise zu kränken?“ schrie er. „Mag seine Stirn sieben Spannen breit sein, er entgeht meinem Gerichte nicht. Sag mir, wer ist der Schuldige?“ „Schwabrin ist es“, erwiderte ich. „Er hält jenes Mädchen gefangen, das du krank bei der Popenfrau gesehen hast, und will es mit Gewalt zu seiner Frau machen.“ „Ich will ihn lehren!“ sagte Pugatschow zornig. „Er soll sehen, was es heißt, eigenmächtig zu handeln und das Volk zu kränken. Ich laß ihn hängen!“ „Gestatte mir ein Wort!“ sagte Chlopuscha mit heiserer Stimme. „Du hattest dich übereilt, als du Schwabrin zum Kommandanten der Festung machtest, und nun willst du ihn ebenso übereilt hängen. Du hast schon die Kosaken gekränkt, als du ihnen einen Adligen zum Vorgesetzten machtest; verärgere jetzt 414
nicht auch die Edelleute, indem du sie auf die erste beste Anzeige hin töten läßt.“ „Sie verdienen weder Mitleid noch Gnade“, sagte der Alte mit dem blauen Bande. „Wenn Schwabrin gehenkt wird, ist’s kein Unglück; aber man sollte auch den Herrn Offizier gründlich ausfragen: Was hat den Herrn hierhergeführt? Wenn er dich nicht als Zaren anerkennt, so hat er dich auch nicht um Beistand zu bitten; erkennt er dich aber an – warum hat er dann bis heute in Orenburg bei deinen Widersachern gesessen? Sollen wir ihn nicht nach der Schreibstube führen und dort ein Feuerchen anzünden: Mich dünkt, Seine Gnaden sind als Spion von den Orenburger Kommandeuren hergeschickt worden.“ Die Logik des alten Bösewichts schien mir recht überzeugend. Es überlief mich kalt bei dem Gedanken, in wessen Händen ich mich befand. Pugatschow bemerkte meine Verwirrung. „He, Euer Wohlgeboren?“ sagte er und zwinkerte mit den Augen. „Mein Feldmarschall redet gar nicht so dumm. Was meinst du?“ Pugatschows Spott gab mir meine Fassung wieder. Ich antwortete ruhig, ich befände mich in seiner Gewalt und er könne mit mir machen, was er wolle. „Gut“, sagte Pugatschow, „nun erzähle mal, wie sieht’s in eurer Stadt aus?“ „Gott sei Dank“, erwiderte ich, „alles steht gut.“ „Gut?“ wiederholte Pugatschow. „Und die Leute sterben vor Hunger!“ Der Usurpator sprach die Wahrheit; aber ich behauptete, meinem Diensteid getreu, das wären alles bloß Gerüchte, und in Orenburg gäbe es Vorräte genug. „Du siehst“, fiel der Alte ein, „daß er dir ins Gesicht lügt. Alle Überläufer berichten einstimmig, in Orenburg herrsche Hungersnot und Pestilenz, man nähre sich dort von Aas und rechne sich das noch zur Ehre an. Seine Gnaden aber behaupten, sie hätten von allem genug. Willst du Schwabrin hängen, so hänge an denselben Galgen auch diesen Burschen, dann kann keiner neidisch sein.“ 415
Die Worte des verruchten Greises schienen Pugatschow schwankend zu machen. Glücklicherweise begann nun Chlopuscha seinem Genossen zu widersprechen. „Laß doch, Naumytsch“, sagte er zu ihm. „Du denkst nur immer ans Würgen und Schlachten. Was bist du für ein Recke? Wenn man dich ansieht, meint man, du machtest es keinen Tag mehr! Schielst selbst nach dem Grabe und willst andere Leute umbringen. Hast du nicht genug Blut auf dem Gewissen?“ „Was bist du denn für ein Heiliger?“ erwiderte Beloborodow. „Wo kommt bei dir auf einmal das Mitleid her?“ „Gewiß“, entgegnete Chlopuscha, „ich bin auch ein Sünder, und dieser Arm“ – hier ballte er die knochige Faust, schob den Ärmel zurück und zeigte den behaarten Arm –, „dieser Arm hat viel Christenblut vergossen. Aber ich tötete den Feind und nicht den Gast; auf freiem Kreuzweg und im dunkeln Wald, nicht daheim hinterm Ofen; mit Schlagkugel und Beilrücken, aber nicht mit Weibertratsch.“ Der Alte wandte sich ab und brummte: „Zerrissene Naslöcher! …“ „Was murmelst du da, alter Knacker?“ schrie Chlopuscha. „Ich will dir die ‚zerrißnen Naslöcher‘ schon heimzahlen; warte nur, deine Zeit kommt noch; so Gott will, riechst du auch mal die Zange … Vorläufig aber sieh zu, daß ich dir deinen Ziegenbart nicht ausraufe!“ „Meine Herren Jenerale!“ verkündete Pugatschow feierlich. „Laßt das Gezänk. Es wär kein Unglück, wenn alle Orenburger Hunde mit den Beinen unter demselben Querbalken zappelten; schlimm ist’s nur, wenn unsre Rüden sich gegenseitig beißen. Na, macht Frieden.“ Chlopuscha und Beloborodow sagten kein Wort und sahen sich finster an. Ich hielt es für gut, das Gespräch, das für mich sehr ungünstig enden konnte, auf einen anderen Gegenstand zu lenken; ich wandte mich daher zu Pugatschow und sagte in heiterm Tone: „Ach! Ich vergaß beinahe, dir für das Pferd und den Pelz zu danken. Ohne deine Gabe wäre ich kaum bis zur Stadt gelangt, sondern unterwegs erfroren.“ 416
Meine List gelang. Pugatschows Mienen heiterten sich auf. „Ein Dienst ist des andern wert“, sagte er, zwinkernd und die Augen zusammenkneifend. „Nun erzähl mir aber, was geht dich das Mädchen an, das der Schwabrin mißhandelt? Ist es vielleicht dein süßes Liebchen, he?“ „Sie ist meine Braut“, antwortete ich, da ich den günstigen Witterungsumschlag merkte und es nicht mehr für nötig hielt, die Wahrheit zu verheimlichen. „Deine Braut“, schrie Pugatschow. „Warum hast du mir’s nicht gleich gesagt? Da werden wir dich verheiraten und lustig Hochzeit feiern.“ Er wandte sich an Beloborodow: „Hör mal, Feldmarschall! Ich und Seine Wohlgeboren sind alte Freunde, setzen wir uns jetzt zum Abendbrot, über Nacht kommt guter Rat. Morgen wollen wir zusehen, was wir mit ihm anfangen.“ Ich hätte die angebotene Ehre gern zurückgewiesen, aber es war nichts zu machen. Zwei junge Kosakenmädchen, die Töchter des Besitzers der Hütte, deckten den Tisch mit einem weißen Leintuch, brachten Brot, Fischsuppe und einige Kannen mit Branntwein und Bier, und so saß ich nun zum zweitenmal an einem Tisch mit Pugatschow und seinen entsetzlichen Genossen. Die Orgie, deren unfreiwilliger Zeuge ich sein mußte, währte bis tief in die Nacht. Endlich bezwang der Rausch die Gäste. Pugatschow schlummerte auf seinem Stuhl ein; seine Genossen erhoben sich und gaben mir durch Zeichen zu verstehen, daß ich mich entfernen solle. Ich ging mit ihnen hinaus. Auf Befehl Chlopuschas führte mich der Posten in die Amtsstube, wo ich auch Saweljitsch fand und wo man uns beide einschloß. Der Alte war über alle Vorgänge so verblüfft, daß er keinerlei Fragen an mich stellte. Er legte sich im Dunkeln nieder, und ich hörte ihn lange seufzen und stöhnen; endlich schnarchte er, während ich mich in Betrachtungen vertiefte, die mich die ganze Nacht hindurch nicht einschlafen ließen. Am Morgen wurde ich zu Pugatschow gerufen. Ich ging zu ihm hin. Vor seiner Tür stand eine Kibitka mit drei tatarischen Pferden. Das Volk drängte sich auf der Straße. Im Vorhause traf ich Pugatschow, er war in Reisekleidung, Pelz und kirgisischer Mütze. 417
Seine gestrigen Genossen umringten ihn mit sklavisch ergebenen Gebärden, die zu allem, was ich tags zuvor gesehen hatte, in vollem Widerspruch standen. Pugatschow begrüßte mich heiter und befahl mir, mit ihm in die Kibitka zu steigen. Wir nahmen Platz. „Nach der Festung Belogorskaja“, sagte Pugatschow zu dem breitschultrigen Tataren, der das Dreigespann stehend lenkte. Mein Herz schlug heftig. Die Pferde zogen an, das Glöckchen tönte, die Kibitka sauste dahin … „Halt! Halt!“ rief da plötzlich eine mir nur zu gut bekannte Stimme, und ich erblickte Saweljitsch, der uns entgegengelaufen kam. Pugatschow ließ halten. „Väterchen, Pjotr Andrejitsch“, schrie mein Wärter, „laß mich auf meine alten Tage nicht allein unter diesen Gaun …“ – „Ah, alter Narr!“ sagte Pugatschow zu ihm. „Hat uns Gott noch einmal zusammengeführt. Na, setz dich auf den Bock.“ „Danke, Herr, danke, mein leiblicher Vater!“ sagte Saweljitsch Platz nehmend, „möge Gott der Herr dich hundert Jahre lang leben lassen, weil du mich alten Mann aufgenommen und beruhigt hast. Mein Lebtag will ich für dich beten, und vom Hasenpelz sag ich nie mehr ein Wort.“ Dieser Hasenpelz hätte Pugatschow ernstlich in Zorn bringen können. Glücklicherweise hatte der Usurpator die unpassende Anspielung entweder nicht gehört oder absichtlich nicht beachtet. Die Pferde liefen weiter; das Volk auf der Straße blieb stehen und neigte sich bis zur Erde. Pugatschow nickte grüßend nach beiden Seiten. Nach einer Minute hatten wir das Dorf verlassen und fuhren über die glatte Landstraße. Man wird sich leicht vorstellen können, was ich in diesem Augenblick empfand. Nach einigen Stunden sollte ich die wiedersehen, die ich schon für mich verloren geglaubt hatte. Ich malte mir den Augenblick der Vereinigung aus … Ich dachte auch an den Mann, in dessen Händen sich mein Schicksal befand und der dank einer seltsamen Verkettung der Ereignisse geheimnisvoll mit mir verbunden zu sein schien. Ich gedachte der leichtsinnigen Grausamkeit, der blutgierigen Gewohnheiten dessen, der sich bereit erklärt hatte, meine Geliebte zu erlösen. Pugatschow wußte 418
nicht, daß sie die Tochter des Hauptmanns Mironow war; der erbitterte Schwabrin konnte ihm alles verraten; Pugatschow konnte die Wahrheit auch auf anderm Wege erfahren … Was würde dann aus Marja Iwanowna werden? Es überlief mich eiskalt, und meine Haare sträubten sich. Plötzlich störte mich Pugatschow in meinen Betrachtungen, indem er mich fragte: „Was grübelst du, Euer Wohlgeboren?“ „Wie soll ich nicht grübeln?“ erwiderte ich, „ich bin Offizier und Edelmann; gestern noch habe ich gegen dich gekämpft, und heute sitze ich neben dir in der Kibitka, und das Glück meines ganzen Lebens hängt von dir ab.“ „Nun?“ fragte Pugatschow. „Dir ist wohl bange?“ Ich erwiderte, daß ich, da er mich schon einmal begnadigt habe, jetzt nicht nur Schonung, sondern auch Beistand von ihm erhoffe. „Und du hast recht, bei Gott, du hast recht“, sagte der Usurpator. „Du sahst ja, daß meine Jungens dich schief anguckten; der Alte bestand sogar noch heute darauf, du seist ein Spion und man müsse dich foltern und aufknüpfen, aber ich ging darauf nicht ein“, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, um von Saweljitsch und dem Tataren nicht gehört zu werden, „denn ich habe dein Glas Branntwein und den Hasenpelz nicht vergessen. Du siehst also, daß ich gar kein solcher Blutsauger bin, wie eure Leute von mir behaupten.“ Ich dachte an die Einnahme der Festung Belogorskaja, aber ich hielt es für überflüssig, ihm zu widersprechen, und sagte kein Wort. „Was sagt man von mir in Orenburg?“ fragte Pugatschow nach kurzem Schweigen. „Man sagt, es sei nicht so leicht, mit dir fertig zu werden. Es läßt sich nicht leugnen – du machst einem zu schaffen.“ Das Gesicht des Usurpators strahlte vor Selbstzufriedenheit. „Ja“, sagte er heiter, „ich bin ein tüchtiger Kriegsmann. Weiß man bei euch in Orenburg etwas von der Schlacht bei Jusejewa? Vierzig Jenerale sind gefallen, vier Armeen gefangen. Was meinst du: Könnte der König von Preußen sich mit mir messen?“ Die Prahlerei des Räubers amüsierte mich. 419
„Was denkst du denn selber?“ fragte ich ihn. „Könntest du mit Friedrich fertig werden?“ „Mit Fjodor Fjodorowitsch? Warum denn nicht? Mit euren Jeneralen werd ich doch fertig – und sie haben ihn geschlagen. Bisher war das Glück mit meinen Waffen. Laß mir nur Zeit! Wenn’s erst auf Moskau losgeht, dann sollt ihr was erleben!“ „Du gedenkst wirklich, gegen Moskau zu marschieren?“ Der Rebell sann einen Augenblick nach und sagte dann halblaut: „Gott weiß. Meine Straße ist eng; ich habe wenig Freiheit. Meine Jungens wollen immer die Klugen spielen. Sie sind Gauner. Ich muß auf der Hut sein: Beim ersten Mißgeschick kaufen sie ihre Hälse mit meinem Kopf frei.“ „Siehst du wohl“, sagte ich zu Pugatschow. „Wäre es da nicht besser, du gingst selber fort, solang es noch Zeit ist, und riefest die Gnade der Kaiserin an?“ Pugatschow lachte bitter. „Nein“, erwiderte er, „zum Bußetun ist es zu spät. Für mich gibt es keine Begnadigung. Ich muß weiterführen, was ich angefangen habe. Und wer kann’s wissen? Vielleicht gelingt mir’s! Grischka Otrepjew hat doch als Zar in Moskau geherrscht.“ „Weißt du aber, wie er geendet hat? Man warf ihn aus dem Fenster, erschlug ihn, verbrannte seinen Leichnam, lud eine Kanone mit der Asche und schoß sie in die Luft!“ „Höre“, sagte Pugatschow in einer seltsamen wilden Begeisterung. „Ich will dir ein Märchen erzählen, das ich als Kind von einem alten Kalmückenweib gehört habe. Einmal fragte der Adler den Raben: ‚Sage mir, Rabe, warum lebst du auf dieser Welt dreihundert Jahre und ich bring es nur auf dreiunddreißig?‘ – ‚Das kommt daher, Freund‘, erwiderte der Rabe, ‚daß du frisches Blut trinkst, während ich mich von Aas nähre.‘ Der Adler dachte: Ich will’s doch versuchen, mich auf dieselbe Art zu nähren. Schön. Der Adler und der Rabe flogen weiter. Da sahen sie ein gefallenes Pferd, ließen sich nieder und setzten sich drauf. Der Rabe fing an zu picken und war des Lobes voll. Der Adler hackte einmal hinein, und noch einmal, dann breitete er die Flügel aus und 420
sagte zum Raben: ‚Nein, Bruder Rabe; statt daß ich mich dreihundert Jahre lang von Aas nähre, trink ich mich lieber einmal an lebendigem Blute satt; und weiter mag es kommen, wie’s Gott gefällt.‘ Wie gefällt dir das Kalmückenmärchen?“ „Nicht übel“, erwiderte ich. „Aber von Mord und Raub leben, heißt meiner Ansicht nach, sich von Aas nähren.“ Pugatschow sah mich erstaunt an und gab keine Antwort. Wir schwiegen beide, jeder in seine Gedanken versunken. Der Tatar stimmte ein wehmütiges Lied an; Saweljitsch schwankte im Halbschlaf auf dem Bock hin und her. Die Kibitka sauste über die glatte Winterstraße dahin … Plötzlich erblickte ich am steilen Ufer des Jaïk ein Dorf mit einem Lattenzaun und einem Glokkenturm – und eine Viertelstunde später fuhren wir in die Festung Belogorskaja hinein.
Zwölftes Kapitel
Die Waise
Unser schöner Apfelbaum Hat keinen Wipfel, keine Zweigelein; Unser armes Fürstenkind Hat keinen Vater, kein Mütterlein. Wer soll ihm den Segen geben, Wer ihm nähen das Hochzeitskleid? Hochzeitslied
Die Kibitka hielt vor dem Hause des Kommandanten. Das Volk hatte das Glöckchen Pugatschows erkannt und lief in Scharen hinter uns her. Schwabrin empfing den Usurpator auf der Schwelle. Er war als Kosak gekleidet und hatte sich den Bart wachsen lassen. Der Verräter half Pugatschow aus dem Wagen und versicherte ihn in unterwürfigen Worten seiner Freude und seines Diensteifers. Als er mich erblickte, geriet er in Verlegenheit, fand sich aber bald, streckte mir die Hand entgegen und sagte: „Du gehörst nun auch zu uns? Das hättest du längst tun sollen.“ Ich kehrte ihm den Rücken und antwortete nicht. Das Herz tat mir weh, als wir in das wohlbekannte Zimmer traten, an dessen Wand noch das Diplom des verstorbenen Kommandanten hing – ein trauriges Epitaph der vergangenen Zeit. Pugatschow setzte sich auf das Sofa, auf dem sonst Iwan Kusmitsch, durch das Brummen seiner Gattin eingeschläfert, sanft vor sich hin gedöst hatte. Schwabrin kredenzte dem Usurpator selbst den Branntwein. Pugatschow leerte ein Glas und sagte, indem er auf mich zeigte: „Bewirte auch Seine Wohlgeboren.“ Schwabrin kam mit seinem Tablett auf mich zu, aber ich wandte 422
mich zum zweitenmal von ihm ab. Er schien sehr verstört. Mit dem ihm eigenen Scharfsinn erriet er natürlich, daß Pugatschow mit ihm unzufrieden war. Er hatte Angst vor ihm und sah mich mit Mißtrauen an. Pugatschow erkundigte sich nach dem Zustande der Festung, nach den Gerüchten über die feindlichen Truppen und ähnlichem; und dann fragte er plötzlich ganz unvermittelt: „Sag mal, Bruder, was für ein Mädchen hältst du eigentlich gefangen? Zeig sie mir doch mal.“ Schwabrin wurde totenbleich. „Herr“, sagte er mit zitternder Stimme, „Herr, sie ist nicht gefangen … sie ist krank … sie liegt oben in der Mansardenstube.“ „Führe mich zu ihr“, sagte der Usurpator und stand auf. Ausreden war unmöglich. Schwabrin führte Pugatschow in das Zimmer Marja Iwanownas. Ich folgte ihnen. Auf der Treppe blieb Schwabrin stehen. „Herr“, sagte er, „Sie haben die Macht, alles von mir zu verlangen, was Ihnen gut dünkt; aber gestatten Sie nicht, daß ein Fremder in das Schlafzimmer meiner Frau tritt.“ Ich fuhr zusammen. „So bist du vermählt!“ sagte ich zu Schwabrin, bereit, ihn in Stücke zu zerreißen. „Still!“ unterbrach mich Pugatschow. „Das ist meine Sache. Und du“, fuhr er, zu Schwabrin gewandt, fort, „mach mir nichts vor und widersetze dich nicht: Ob sie deine Frau ist oder nicht, ich führe zu ihr, wen ich will. Euer Wohlgeboren, du gehst mit mir.“ Vor der Tür des Zimmers blieb Schwabrin noch einmal stehen und sagte mit stockender Stimme: „Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß sie im Fieber liegt und seit drei Tagen ununterbrochen phantasiert.“ „Aufgemacht!“ sagte Pugatschow. Schwabrin suchte in seinen Taschen und erklärte endlich, er hätte den Schlüssel nicht mitgenommen. Pugatschow stieß mit dem Fuß kräftig gegen die Tür; das Schloß sprang ab, die Tür ging auf, und wir traten ein. 423
Ich warf einen Blick ins Zimmer und war starr. Auf dem Fußboden, in einem zerlumpten Bauernkleide, saß Marja Iwanowna, bleich, abgemagert, mit zerzaustem Haar. Vor ihr stand ein Krug mit Wasser, von einer Scheibe Brot zugedeckt. Als sie mich sah, zuckte sie zusammen und schrie auf. Was in dem Augenblick in meiner Seele vorging, weiß ich nicht mehr. Pugatschow sah Schwabrin an und sagte mit bitterm Lachen: „Ein schönes Lazarett!“ Dann ging er auf Marja Iwanowna zu. „Sag mir, Schätzchen, wofür straft dein Mann dich so? Was hast du ihm angetan?“ „Mein Mann!“ wiederholte sie. „Er ist nicht mein Mann! Nie werde ich seine Gattin. Ich bin entschlossen, eher zu sterben, und ich werde sterben, wenn man mich nicht befreit.“ Pugatschow sah Schwabrin finster an. „Und du wagst, mich zu betrügen?“ sagte er zu ihm. „Weißt du, was du verdienst, Taugenichts?“ Schwabrin fiel auf die Knie … In diesem Augenblick erstickte die Verachtung in mir alle Gefühle des Hasses und Zornes. Mit Ekel sah ich auf den Edelmann, der sich zu den Füßen des entlaufenen Kosaken wälzte. Pugatschow wurde milde. „Für diesmal begnadige ich dich“, sagte er zu Schwabrin. „Aber wisse, daß beim nächsten Vergehen dir auch dieses mit angerechnet werden soll.“ Dann wandte er sich zu Marja Iwanowna und sagte freundlich: „Komm heraus, schönes Mädchen; ich schenke dir die Freiheit. Ich bin der Zar.“ Marja Iwanowna warf einen schnellen Blick auf ihn und erriet, daß sie den Mörder ihrer Eltern vor sich hatte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und brach ohnmächtig zusammen. Ich stürzte zu ihr; aber im selben Augenblick hatte sich meine alte Bekannte Palaschka äußerst verwegen ins Zimmer geschlichen und nahm sich ihres Fräuleins an. Pugatschow ging hinaus, und wir begaben uns zu dritt ins Wohnzimmer. „Nun, Euer Wohlgeboren?“ sagte Pugatschow lachend, „das schöne Mädchen wäre befreit! Was meinst du, sollen wir jetzt nicht nach dem Popen schicken und ihm befehlen, daß er seine 424
Nichte traut? Ich mache den Brautvater, Schwabrin den Freiwerber, wir trinken und zechen in Ruh und schließen das Tor zu.“ Was ich befürchtet hatte, geschah nun. Pugatschows Vorschlag brachte Schwabrin außer sich. „Herr!“ sagte er in rasender Wut. „Ich bin schuldig, ich habe Sie belogen, aber Grinjow belügt Sie auch. Dieses Mädchen ist nicht die Nichte des hiesigen Popen; sie ist die Tochter des Iwan Mironow, der bei der Einnahme dieser Festung hingerichtet wurde.“ Pugatschow richtete seine Feueraugen auf mich. „Was ist denn das wieder?“ fragte er befremdet. „Schwabrin hat dir die Wahrheit gesagt“, erwiderte ich fest. „Du hattest mir das nicht gesagt“, bemerkte Pugatschow, dessen Gesicht sich verfinsterte. „Überlege doch selbst“, antwortete ich ihm, „konnte ich denn in Gegenwart deiner Leute sagen, daß die Tochter Mironows am Leben sei? Sie hätten sie in Stücke zerrissen. Nichts hätte sie retten können!“ „Auch wahr“, sagte Pugatschow lachend. „Meine Saufbrüder hätten das arme Mädchen nicht verschont. Die Gevatterin hat gut getan, sie zu betrügen.“ „Höre“, fuhr ich fort, da ich seine gute Laune sah. „Wie ich dich nennen soll, weiß ich nicht und will es auch nicht wissen … Aber Gott ist mein Zeuge, daß ich dir gern mit meinem Leben bezahlen würde, was du für mich getan hast. Verlange nur nichts von mir, was wider meine Ehre und mein christliches Gewissen geht. Du bist mein Wohltäter. So bring denn zu Ende, was du begonnen hast: Laß mich mit der armen Waise den Weg ziehen, den Gott uns zeigen wird. Wir aber – wo auch immer du dich befindest und was auch mit dir geschehen möge – werden jeden Tag zu Gott flehen um die Rettung deiner sündigen Seele …“ Pugatschows hartes Herz schien gerührt. „Mag es so sein, wie du’s haben willst“, sagte er. „Straf ich, so straf ich hart, bin ich gnädig, so bin ich’s ohne Vorbehalt – so ist’s bei mir Brauch. 426
Nimm deine Schöne, bring sie, wohin du willst, und Gott gebe euch alles Gute.“ Nun wandte er sich zu Schwabrin und befahl ihm, mir einen Passierschein für alle ihm unterstehenden Festungen und Grenzsperren auszustellen. Schwabrin war ganz gebrochen; er stand da, wie zu Eis erstarrt. Pugatschow ging die Festung besichtigen. Schwabrin begleitete ihn. Ich blieb zurück unter dem Vorwande, daß ich mich zur Abreise bereiten müßte. Ich lief ins Mansardenzimmer hinauf. Die Tür war verschlossen. Ich klopfte an. „Wer da?“ fragte Palaschka. Ich nannte meinen Namen. Die liebe Stimme Marja Iwanownas ertönte von innen. „Warten Sie etwas, Pjotr Andrejitsch. Ich kleide mich um. Gehen Sie zu Akulina Pamfilowna. Ich komme gleich dorthin.“ Ich gehorchte und ging in das Haus des Vaters Gerassim. Er und seine Frau kamen mir entgegengelaufen. Saweljitsch hatte sie schon vorbereitet. „Guten Tag, Pjotr Andrejitsch“, sagte die Popenfrau. „Also hat uns Gott doch noch einmal zusammengeführt. Wie geht es? Wir haben tagtäglich Ihrer gedacht. Und was hat Marja Iwanowna in Ihrer Abwesenheit ausstehen müssen, das arme Täubchen! … Sagen Sie doch, Väterchen, wie haben Sie sich mit dem Pugatschow so gut zu stellen gewußt? Wie hat er Sie nicht abgemurkst! Gott lohn’s dem Bösewicht.“ – „Hör auf, Alte“, fiel ihr Vater Gerassim ins Wort, „schwatz nicht alles aus, was du weißt. Vom vielen Reden ist noch keiner selig geworden. Väterchen, Pjotr Andrejitsch! Treten Sie ein, seien Sie herzlich willkommen! Lange, lange haben wir uns nicht gesehen.“ Die Popenfrau setzte mir vor, was sie hatte, und redete unterdessen in einem fort. Sie erzählte mir, wie Schwabrin sie gezwungen hätte, Marja Iwanowna ihm auszuliefern; wie Marja Iwanowna geweint und nicht von ihnen fortgewollt hätte; wie sie durch Palaschka (ein aufgewecktes Mädel, das auch den Urjadnik nach ihrer Pfeife tanzen läßt) in steter Verbindung mit ihr geblieben wären; wie sie Marja Iwanowna geraten hätte, mir zu schreiben usw. Ich berichtete dann auch in Kürze von meinen 426
Erlebnissen. Der Pope und seine Frau bekreuzigten sich, als sie hörten, daß ihr Betrug Pugatschow bekannt geworden wäre. „Gott sei uns gnädig!“ sagte Akulina Pamfilowna. „Möge er diese Wolke vorüberziehen lassen. Na, man muß sagen, Alexej Iwanowitsch, das ist ein sauberer Patron!“ In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Marja Iwanowna trat ein, ein Lächeln auf dem bleichen Antlitz. Sie hatte ihr Bauerngewand abgelegt und war gekleidet wie früher auch schon, schlicht und nett. Ich faßte ihre Hand und konnte lange kein Wort hervorbringen. Wir schwiegen beide aus der Überfülle unserer Herzen. Unsere Wirte merkten, daß wir jetzt nichts für sie übrig hätten, und verließen uns. Wir blieben allein. Alles war vergessen. Wir ringen an zu reden und konnten kein Ende finden. Marja Iwanowna erzählte mir alles, was sie seit der Einnahme der Festung erlebt hatte; sie schilderte mir das ganze Entsetzen ihrer Lage, alle Martern, mit denen sie der arge Schwabrin gepeinigt hatte. Wir gedachten auch der einstigen glücklichen Zeit … Wir weinten beide … Endlich legte ich ihr meine Absichten dar. In der Festung, die Pugatschow Untertan war und von Schwabrin befehligt wurde, durfte sie nicht bleiben. An Orenburg, das unter allen Nöten der Belagerung zu leiden hatte, war ebenfalls nicht zu denken. Sie hatte keinen einzigen Verwandten in der Welt. Ich schlug ihr vor, auf das Gut meiner Eltern zu fahren. Sie schwankte erst: Die ihr wohlbekannte Abneigung meines Vaters schreckte sie. Ich beruhigte sie. Ich wußte, daß es mein Vater für ein Glück ansehen und es für seine Pflicht halten würde, die Tochter eines verdienten, für das Vaterland gestorbenen Kriegsmannes bei sich aufzunehmen. „Liebe Marja Iwanowna“, sagte ich endlich. „Ich sehe dich als meine Gattin an. Wunderbare Ereignisse haben uns unlösbar aneinander gebunden; nichts auf der Welt kann uns trennen.“ Marja Iwanowna hörte mich ruhig an, ohne geheuchelte Verlegenheit, ohne gewundene Ausreden. Sie fühlte, daß ihr Schicksal von dem meinen nicht mehr zu trennen war. Aber sie wiederholte, sie könne nicht anders meine Frau werden, als mit Einwilligung meiner Eltern. Ich widersprach ihr nicht. Wir 427
küßten uns heiß und innig – und so war zwischen uns alles entschieden. Nach einer Stunde brachte der Urjadnik mir den Passierschein, unter den Pugatschow seine Krakelfüße gesetzt hatte, und teilte mir mit, daß er mich noch einmal sehen wolle. Ich fand ihn reisefertig. Ich vermag es nicht zu sagen, was ich empfand, als ich von diesem furchtbaren Menschen Abschied nahm, der sich allen gegenüber als Ungeheuer und Bösewicht gezeigt hatte, nur gegen mich nicht. Warum soll ich nicht die Wahrheit sagen? In diesem Augenblick zog mich ein starkes Sympathiegefühl zu ihm. Ich hatte den glühenden Wunsch, ihn aus der Gesellschaft von Bösewichtern, an deren Spitze er stand, zu entführen und sein Haupt zu retten, solange es noch Zeit war. Schwabrin und die Leute, die sich um uns drängten, verhinderten mich, alles auszusprechen, was mein Herz erfüllte. Wir schieden in guter Freundschaft. Als Pugatschow Akulina Pamfilowna in der Menge bemerkte, drohte er ihr mit dem Finger und zwinkerte bedeutsam; dann setzte er sich in die Kibitka, befahl, daß man ihn nach Berda fahre, und als die Pferde anzogen, steckte er den Kopf noch einmal aus dem Wagenfenster heraus und rief mir zu: „Leb wohl, Euer Wohlgeboren! Vielleicht sehen wir uns noch einmal!“ Wir sahen uns wirklich noch einmal – aber unter welchen Umständen! … Pugatschow war fort. Ich starrte noch lange in die weiße Steppe hinaus, durch die sein Dreigespann zog. Das Volk verlief sich. Schwabrin war verschwunden. Ich kehrte in das Haus des Geistlichen zurück. Alles war für unsere Abreise bereit; ich wollte nicht länger zögern. Unser Hab und Gut war auf das alte Fuhrwerk des Kommandanten geladen. Die Kutscher hatten im Nu die Pferde vorgespannt. Marja Iwanowna ging von den Gräbern ihrer Eltern Abschied nehmen, die sich hinter der Kirche befanden. Ich wollte sie begleiten, aber sie bat mich, sie allein zu lassen. Nach wenigen Minuten kam sie zurück, schweigend, das Gesicht von sanften Tränen genetzt. Der Wagen fuhr vor. Vater Gerassim und seine Frau traten vor das Haus. Wir nahmen zu dritt im Wagen Platz: Marja Iwanowna, Palaschka und ich; Sa428
weljitsch kletterte auf den Bock. „Leb wohl, Marja Iwanowna, mein Täubchen! Leben Sie wohl, Pjotr Andrejitsch, Sie unser lichter Falk“, sagte die gute Popenfrau. „Glückliche Reise und Gott gebe euch beiden recht viel Glück!“ Wir fuhren ab. Am Fenster des Kommandantenhauses sah ich Schwabrin stehen. Auf seinem Gesicht lag finstre Wut. Ich wollte nicht über den vernichteten Feind triumphieren und blickte nach der anderen Seite. Endlich passierten wir das Festungstor und verließen Belogorskaja für immer.
Dreizehntes Kapitel
Die Gefangennahme
„Verzeihen Sie, mein Herr, allein mir ward befohlen, Ich muß Sie augenblicks in das Gefängnis holen.“ „Wohlan, ich bin bereit. Doch kann man mir’s verwehren, Daß ich den stritt’gen Fall erst suche zu erklären?“ Knjashnin
Als ich mich so plötzlich wieder mit dem lieben Mädchen vereinigt sah, um das ich mich noch am Morgen so gequält hatte, glaubte ich meinen eigenen Augen nicht und meinte, alles, was ich erlebt hätte, wäre nur ein eitler Traum. Marja Iwanowna blickte in Gedanken bald auf mich, bald auf die Straße hinaus, auch sie schien immer noch nicht ganz zu sich gekommen zu sein. Wir schwiegen beide. Unsere Herzen waren zu angegriffen. Ohne daß wir’s recht gemerkt hätten, waren wir nach etwa zwei Stunden in der nächsten Festung angelangt, die ebenfalls in Pugatschows Gewalt war. Hier wurden die Pferde gewechselt. An der Schnelligkeit, mit der dies geschah, an dem hastigen Diensteifer des bärtigen Kosaken, den Pugatschow als Kommandanten eingesetzt hatte, sah ich, daß man mich dank der Geschwätzigkeit des Kutschers, der uns hierhergebracht hatte, für einen Günstling des Gewalthabers hielt. Wir fuhren weiter. Der Abend dämmerte. Wir näherten uns einem Städtchen, wo nach der Behauptung des bärtigen Kommandanten ein starker Truppenteil bereitstand, um dem Hauptheer des Usurpators entgegenzugehen. Wir wurden von Wacht430
posten angehalten. Auf die Frage „Wer da?“ erwiderte der Kutscher mit lauter Stimme: „Des Zaren Gevatter mit seiner Hausfrau.“ Plötzlich sahen wir uns von einer Schar grimmig fluchender Husaren umringt. „Komm heraus, Teufelsgevatter!“ sagte mir ein Wachtmeister mit langem Schnauzbart. „Das Dampfbad für dich und deine Hausfrau wird schon geheizt.“ Ich stieg aus der Kibitka und verlangte, daß die Leute mich zu ihrem Befehlshaber führten. Als sie einen Offizier vor sich sahen, hörten die Soldaten auf zu schimpfen. Der Wachtmeister führte mich zum Major. Saweljitsch wich nicht von mir und brummte vor sich hin: „Da haben wir nun des Zaren Gevatter! Aus dem Regen in die Traufe … Herrgott im Himmel! Wie soll das enden?“ Die Kibitka fuhr im Schritt hinter uns her. Nach fünf Minuten gelangten wir zu einem hell erleuchteten Häuschen. Der Wachtmeister ließ mich bei dem Posten stehen und ging hinein, um mich zu melden. Er kehrte sofort zurück und erklärte mir, Seine Hochwohlgeboren könnten mich jetzt nicht empfangen, sondern hätten befohlen, mich ins Arresthaus zu bringen und die Hausfrau zu ihm zu führen. „Was soll das heißen?“ schrie ich wütend. „Ist er toll?“ „Das kann ich nicht wissen, Euer Wohlgeboren“, erwiderte der Wachtmeister. „Aber Seine Hochwohlgeboren haben befohlen, Euer Wohlgeboren ins Arresthaus zu bringen und Ihre Wohlgeboren sollen zu Seiner Hochwohlgeboren geführt werden, Euer Wohlgeboren.“ Ich stürzte die Treppe hinauf. Die Posten dachten nicht daran, mich aufzuhalten, und ich lief geradewegs in das Zimmer hinein, in dem sechs Husarenoffiziere am Kartentische saßen. Der Major hielt die Bank. Wie groß war mein Erstaunen, als ich in ihm Iwan Iwanowitsch Surin erkannte, der mir einst im Simbirsker Gasthause hundert Rubel abgewonnen hatte! „Ist es möglich?“ rief ich. „Iwan Iwanowitsch! Du?“ „Bah, bah, bah! Pjotr Andrejitsch! Wie kommst du denn her? Woher des Wegs? Sei gegrüßt, Bruder! Willst du nicht auf eine Karte setzen?“ „Dankeschön. Laß mir lieber ein Quartier anweisen.“ 431
„Wozu brauchst du ein Quartier? Du wohnst bei mir.“ „Ich kann nicht. Ich bin nicht allein.“ „Nun, so zeig uns deinen Kameraden!“ „Es ist kein Kamerad, es ist … eine Dame.“ „Eine Dame? Wo hast du sie aufgegabelt? He, he, Brüderchen!“ (Bei diesen Worten pfiff Surin so ausdrucksvoll, daß alle in lautes Gelächter ausbrachen. Ich aber wurde ganz verlegen.) „Nun“, fuhr Surin fort, „mag es denn so sein. Du sollst Quartier bekommen. Aber es tut mir leid … Wir hätten nach alter Sitte zechen können … He! Bursche! Wo bleibt denn die Gevatterin des Pugatschow? Ist sie am Ende bockig? Sagt ihr, sie brauche sich nicht zu fürchten; der Herr wäre ein feiner Kerl, er würde ihr nichts zuleide tun – und gebt ihr einen ordentlichen Schubs in den Nacken!“ „Was redest du?“ sagte ich zu Surin. „Wo hast du eine Gevatterin Pugatschows? Es ist die Tochter des verstorbenen Kapitäns Mironow. Ich habe sie aus der Gefangenschaft befreit und bringe sie jetzt auf das Gut meines Vaters, wo sie bleiben soll.“ „Wie? Also du warst es, den man mir eben meldete? Ja, was bedeutet das denn?“ „Ich erzähle dir später alles. Aber ich bitte dich um Gottes willen, beruhige jetzt das arme Mädchen, das deine Husaren in Todesangst versetzt haben.“ Surin traf sofort seine Anordnungen. Er ging selbst auf die Straße hinaus, um sich bei Marja Iwanowna wegen des unfreiwilligen Mißverständnisses zu entschuldigen, und befahl dein Wachtmeister, ihr das beste Quartier in der Stadt anzuweisen. Ich übernachtete bei ihm. Wir aßen zu Abend, und als wir beide allein geblieben waren, erzählte ich ihm meine Erlebnisse. Surin hörte mir mit großer Aufmerksamkeit zu. Als ich geendet hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: „Sehr schön, Bruder. Nur eins gefällt mir nicht: Welcher Teufel heißt dich heiraten? Ich bin ein ehrlicher Offizier, ich will dich nicht betrügen: Du kannst mir glauben, heiraten ist Unsinn. Sag bloß, bist du der Mensch, dich mit einer Frau zu plagen und Kinder zu warten? Pfeif drauf! Nimm meinen Rat 432
an, schaff dir diese Hauptmannstochter vom Halse. Der Weg nach Simbirsk ist von mir gesäubert und ungefährdet. Schick sie morgen allein zu deinen Eltern und bleibe selbst in meiner Truppe. Nach Orenburg zurückkehren hat keinen Sinn. Fällst du noch einmal in die Hände der Rebellen, kommst du schwerlich wieder frei. So wird die Liebesnarrheit von selbst vergehen, und alles kann gut werden.“ Obgleich ich nicht ganz mit ihm einverstanden war, fühlte ich doch, daß die Pflicht der Ehre meine Anwesenheit im Heere der Kaiserin forderte. Ich beschloß, Surins Rat zu befolgen, Marja Iwanowna zu meinen Eltern zu schicken und bei seinem Detachement zu bleiben. Saweljitsch kam, mir beim Auskleiden behilflich zu sein. Ich sagte ihm, er müsse morgen bereit sein, mit Marja Iwanowna abzureisen. Er versuchte sich zu widersetzen. „Was fällt dir ein, Herr? Wie kann ich dich verlassen? Wer soll denn für dich sorgen? Was werden deine Eltern sagen?“ Da ich seine Hartnäckigkeit kannte, versuchte ich ihn durch Freundlichkeit und Offenheit zu überzeugen. „Mein lieber Freund Archip Saweljitsch“, sagte ich zu ihm. „Tu es, erweise mir die Wohltat: Ich komme ohne Bedienung aus, aber ich finde keine Ruhe, wenn Marja Iwanowna die Reise ohne dich macht. Wenn du ihr dienst, dienst du auch mir, denn ich bin fest entschlossen, sie zu heiraten, sobald die Verhältnisse es gestatten.“ Hier schlug Saweljitsch die Hände über dem Kopf zusammen; das Erstaunen, das sich auf seinem Gesicht malte, läßt sich nicht beschreiben. „Heiraten!“ wiederholte er. „Das Kind will heiraten! Was wird denn der Herr Vater sagen? Was soll die Frau Mutter denken?“ „Sie werden zustimmen, sie werden sicher zustimmen“, erwiderte ich, „wenn sie Marja Iwanowna kennenlernen. Ich hoffe auch auf dich. Vater und Mutter vertrauen dir; du wirst unser Sachwalter sein – nicht wahr?“ Der Alte war gerührt. „Ach, Väterchen, Pjotr Andrejitsch!“ er433
widerte er, „ein bißchen früh denkst du ans Heiraten, aber Marja Iwanowna ist dafür auch ein so gutes Fräulein, daß es sündhaft wäre, die Gelegenheit vorbeigehen zu lassen. Also mag es nach deinem Willen gehen! Ich will sie begleiten, den Gottesengel, und deinen Eltern untertänigst berichten, daß eine solche Braut keine Mitgift nötig hat.“ Ich dankte Saweljitsch und legte mich in Surins Zimmer schlafen. Erhitzt und erregt, wie ich war, kam ich ins Schwatzen. Surin unterhielt sich erst recht lebhaft mit mir, nach und nach aber wurden seine Antworten seltener und zusammenhangloser, und endlich hörte ich statt einer Erwiderung auf meine Frage nur ein Pfeifen und Schnarchen. Da verstummte auch ich und folgte bald seinem Beispiel. Am nächsten Morgen begab ich mich zu Marja Iwanowna. Ich teilte ihr meine Absichten mit. Sie erkannte ihre Zweckmäßigkeit und war sofort mit mir einverstanden. Surins Detachement sollte noch am selben Tage die Stadt verlassen. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich verabschiedete mich gleich von Marja Iwanowna, nachdem ich sie der Obhut Saweljitschs anvertraut und ihr einen Brief an meine Eltern mitgegeben hatte. Marja Iwanowna weinte, „Leben Sie wohl, Pjotr Andrejitsch“, sagte sie leise, „ob wir uns wiedersehen oder nicht, weiß Gott allein; aber ich vergesse Sie nie; bis zu meinem Tode wirst du allein in meinem Herzen wohnen.“ Ich konnte nichts erwidern. Unsere Leute umringten uns. Ich mochte mich in ihrer Gegenwart den Gefühlen nicht hingeben, die mich bewegten. Endlich fuhr sie ab. Ich kehrte traurig und schweigsam zu Surin zurück. Er wollte mich heiter stimmen, ich suchte mich zu zerstreuen; so verbrachten wir den Tag wild und laut; abends rückten wir ab. Es war Ende Februar. Der Winter, der die militärischen Operationen hemmte, ging zu Ende, und unsere Generäle bereiteten sich zu einmütigem Zusammenwirken vor. Pugatschow stand immer noch vor Orenburg. Inzwischen stießen rund um ihn die einzelnen Truppenteile zusammen und rückten von allen Seiten gegen das Raubnest vor. Die Rebellendörfer unterwarfen sich, wenn unsere Truppen sich näherten; die Räuberbanden ergriffen 434
überall die Flucht, und alles ließ eine baldige und glückliche Beendigung des Feldzugs erwarten. Bald darauf schlug der Fürst Golizyn den Pugatschow bei der Festung Tatischtschewa, zerstreute seine Scharen, befreite Orenburg und schien dem Aufruhr den letzten und entscheidenden Schlag versetzt zu haben. Surin war um die Zeit gegen eine Bande aufrührerischer Baschkiren abkommandiert, die auseinanderliefen, ehe wir sie zu sehen bekamen. Der Frühling setzte uns in einem Tatarendörfchen gefangen. Die Flüsse waren aus den Ufern getreten und die Straßen unpassierbar geworden. Wir trösteten uns in unserer Untätigkeit mit dem Gedanken an das baldige Ende dieses langweiligen Kleinkriegs mit Räubern und Wilden. Aber Pugatschow wurde nicht gefangen. Er erschien in den sibirischen Bergwerken, sammelte dort neue Banden und fing von neuem zu wüten an. Wieder verbreitete sich das Gerücht von seinen Erfolgen. Wir hörten von der Zerstörung sibirischer Festungen. Bald kam die Nachricht von der Einnahme Kasans und dem Vorrücken des Usurpators gegen Moskau und versetzte die Heerführer, die in der Hoffnung auf die Machtlosigkeit des verächtlichen Rebellen sorglos geschlummert hatten, in große Aufregung. Surin erhielt den Befehl, die Wolga zu überschreiten. * Ich verzichte auf eine Schilderung unseres Feldzugs und der Beendigung des Krieges. Ich möchte nur kurz mitteilen, daß die Not ein entsetzliches Ausmaß annahm. Wir zogen durch Ortschaften, die von Pugatschow verwüstet waren, und mußten gezwungenermaßen den armen Bewohnern auch noch das fortnehmen, was die Räuber ihnen übriggelassen hatten. Die Verwaltung war überall eingestellt. Die Gutsbesitzer hielten sich in den Wäldern verborgen. Überall wüteten Räuberbanden. Die Anführer der einzelnen Truppenteile straften und begnadigten nach eigenem Ermessen. Der Zustand des ganzen Landes, in dem der Brand loderte, war entsetzlich … Gott bewahre uns vor einem * Auf diese Stelle bezieht sich das „Ausgelassene Kapitel“, vgl. S. 450. (Anm. des Verlages.)
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russischen Aufruhr in seiner Sinnlosigkeit und Erbarmungslosigkeit! Pugatschow floh, von Iwan Iwanowitsch Michelson verfolgt. Bald erfuhren wir von seiner völligen Zerschlagung, und dann erhielt Surin endlich die Nachricht von der Gefangennahme des Usurpators und zugleich den Befehl, den Vormarsch einzustellen. Der Krieg war zu Ende. Endlich konnte ich zu meinen Eltern reisen! Der Gedanke, sie umarmen zu dürfen, Marja Iwanowna wiederzusehen, von der ich gar keine Nachricht hatte, erfüllte mich mit Begeisterung. Ich sprang umher wie ein Kind. Surin lachte und sagte achselzuckend: „Nein! Mit dir nimmt’s ein schlimmes Ende! Wenn du heiratest, bist du ganz verloren!“ Indessen trübte ein seltsames Gefühl meine Freude: Der Gedanke an den Bösewicht, der sich mit dem Blute so vieler unschuldiger Opfer befleckt hatte, und an die Hinrichtung, die ihm bevorstand, raubte mir gegen meinen Willen die Ruhe. Jemelja, Jemelja, dachte ich betrübt, warum hat dich kein Bajonett, keine Kugel durchbohrt? Etwas Besseres hätte es für dich nicht geben können. Was war da zu machen? Der Gedanke an ihn war in meinem Geiste unlösbar mit der Schonung verknüpft, die er mir in einem der furchtbarsten Augenblicke meines Lebens gewährt hatte, und mit der Befreiung meiner Braut aus der Gewalt des schändlichen Schwabrin. Surin gab mir Urlaub. Nach einigen Tagen sollte ich mich wieder im Kreise meiner Familie befinden, sollte ich meine Marja Iwanowna wiedersehen … Da traf mich ein unverhoffter Donnerschlag. An dem für die Abreise angesetzten Tage, in dem Augenblick, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte, trat plötzlich Surin mit sehr besorgtem Gesicht bei mir ein, ein Papier in der Hand. Mir ging ein Stich durchs Herz. Ich erschrak, ohne zu wissen wovor. Er schickte meinen Burschen hinaus und erklärte, er hätte dienstlich mit mir zu reden. „Was gibt’s?“ fragte ich unruhig. „Eine kleine Unannehmlichkeit“, sagte er und reichte mir das Blatt. „Lies mal, was ich da eben erhalten habe.“ Ich las: Es war ein Geheimbefehl an alle Befehlshaber, mich zu arretie436
ren, wo ich mich auch befinden möge, und mich unverzüglich unter Bewachung nach Kasan zu schaffen und vor die in Sachen Pugatschow eingesetzte Untersuchungskommission zu stellen. Ich hätte das Blatt beinahe fallen lassen. „Nichts zu machen“, sagte Surin. „Es ist meine Pflicht, dem Befehl Folge zu leisten. Gerüchte über deine freundschaftlichen Fahrten mit Pugatschow müssen irgendwie bis zur Regierung gedrungen sein. Ich hoffe, die Sache hat weiter keine Folgen, und es gelingt dir, dich vor der Kommission zu rechtfertigen. Verliere den Mut nicht, und mach dich auf den Weg.“ Mein Gewissen war rein; das Gericht fürchtete ich nicht; nur der Gedanke, daß das freudige Wiedersehen nun vielleicht um einige Monate hinausgeschoben werden könnte, erfüllte mich mit Schrecken. Der Wagen stand bereit. Surin nahm freundschaftlich von mir Abschied. Man setzte mich in den Wagen. Neben mir nahmen zwei Husaren mit gezogenem Säbel Platz, und dann ging es die Poststraße hinab.
Vierzehntes Kapitel
Das Gericht
Des Volkes Gerede ist wie des Meeres Welle.
Sprichwort Ich war überzeugt, daß an allem meine eigenmächtige Abreise aus Orenburg schuld war. Ich konnte mich mit Leichtigkeit rechtfertigen: Solche Partisanenritte waren nicht nur nicht verboten, sondern wurden sogar mit allen Mitteln unterstützt. Man konnte mir höchstens einen gewissen Übereifer, aber keinen Ungehorsam vorwerfen. Allein mein freundschaftlicher Verkehr mit Pugatschow konnte durch zahlreiche Zeugen bewiesen werden und mußte zum mindesten höchst verdächtig erscheinen. Auf meiner ganzen Reise dachte ich über das Verhör nach, das mir bevorstand, legte meine Antworten zurecht und beschloß, vor Gericht die volle Wahrheit zu bekennen, in der Überzeugung, diese Art sich zu rechtfertigen wäre nicht nur die einfachste, sondern auch die sicherste. Ich erreichte das ausgeplünderte und niedergebrannte Kasan. In den Straßen fand ich statt der einstigen Häuser Haufen von Schutt und Kohlen; dazwischen ragten rauchgeschwärzte Mauern ohne Dächer und Fenster empor. Das war die Spur, die Pugatschow hinterlassen hatte! Man brachte mich nach der Festung, die inmitten der niedergebrannten Stadt unversehrt geblieben war. Die Husaren lieferten mich dem wachhabenden Offizier aus. Er ließ einen Schmied holen. Man legte mir eine Kette um die Füße und schmiedete sie fest. Dann brachte man mich ins Gefängnis und ließ mich allein in einer engen und dunkeln Kammer mit nackten Wän438
den und einem winzigen, durch ein Eisengitter geschützten Fenster. Dieser Anfang verhieß mir nichts Gutes. Doch verlor ich meinen Mut nicht und gab die Hoffnung nicht auf. Ich suchte Trost, wo alle Leidtragenden ihn suchen, und zum erstenmal ward mir die Süße des Gebets bewußt, das aus einem reinen, aber zerrissenen Herzen kommt; dann schlief ich ruhig ein, ohne mir darüber Sorge zu machen, was weiter mit mir werden sollte. Am andern Tage weckte mich der Gefängniswärter mit der Meldung, die Kommission erwarte mich. Zwei Soldaten führten mich über den Hof in das Haus des Kommandanten; sie blieben im Vorzimmer stehen und ließen mich allein in die innern Räume treten. Ich kam in einen ziemlich geräumigen Saal. An einem mit Papieren bedeckten Tische saßen zwei Männer: ein streng und kalt dreinblickender ältlicher General und ein junger Gardehauptmann von etwa achtundzwanzig Jahren, sehr angenehmem Äußeren, gewandtem und ungezwungenem Benehmen. Am Fenster saß an einem besondern Tisch der Schriftführer, die Feder hinter dem Ohr, über seine Papiere gebeugt, bereit, meine Aussagen niederzuschreiben. Das Verhör begann. Man fragte mich nach Namen und Stand. Der General erkundigte sich, ob ich ein Sohn von Andrej Petrowitsch Grinjow wäre? Als ich bejahte, sagte er schroff: „Schade, daß ein so ehrenwerter Mann einen so unwürdigen Sohn hat.“ Ich entgegnete ruhig, daß, welcherart auch die gegen mich erhobenen Beschuldigungen sein mögen, ich mit Bestimmtheit hoffe, sie durch meine offene Darlegung des wahren Sachverhalts zu entkräften. Meine Selbstsicherheit gefiel ihm nicht. „Du bist gewandt, mein Lieber“, sagte er stirnrunzelnd, „aber wir haben auch noch ganz andere Leute gesehen!“ Nun fragte mich der jüngere Herr, aus welcher Veranlassung und zu welcher Zeit ich in den Dienst Pugatschows getreten sei und zu was für Aufträgen er mich verwendet habe. Ich erwiderte entrüstet, ich hätte als Edelmann und Offizier keinerlei Dienste bei Pugatschow nehmen und keinerlei Aufträge für ihn ausführen können. 439
„Wie kommt es denn“, wandte nun mein Befrager ein, „daß dieser eine Edelmann und Offizier vom Usurpator begnadigt wurde, während alle seine Kameraden schmählich gemordet wurden? Wie kann dieser nämliche Offizier und Edelmann als guter Freund mit den Rebellen zechen, von ihrem Anführer Geschenke entgegennehmen: einen Pelz, ein Pferd und eine Poltina in barem Gelde? Woher diese merkwürdige Freundschaft? Worauf ist sie begründet, wenn nicht auf Verrat oder doch zum mindesten auf niedriger und verbrecherischer Feigheit?“ Die Worte des Gardeoffiziers kränkten mich tief, und ich begann mich leidenschaftlich zu verteidigen. Ich erzählte, wie meine Bekanntschaft mit Pugatschow in der Steppe im Schneesturm eingeleitet worden war, wie er bei der Einnahme der Festung Belogorskaja mich erkannt und begnadigt hatte. Ich sagte, daß ich allerdings keine Bedenken gehabt hätte, den Pelz und das Pferd vom Usurpator anzunehmen, daß ich aber die Festung Belogorskaja gegen den Bösewicht bis zum Äußersten verteidigt hätte. Endlich berief ich mich auch auf meinen General, der meinen Eifer während der unglücklichen Belagerung Orenburgs bezeugen könnte. Der strenge Greis nahm einen offenen Brief vom Tisch und las laut vor: „Auf die Anfrage Eurer Exzellenz bezüglich des Unterleutnants Grinjow, der angeblich in die gegenwärtigen Unruhen verwickelt gewesen und in dienstlich verbotene und der Eidespflicht widersprechende Beziehungen zu dem Rebellen getreten sein soll, habe ich die Ehre zu erklären: Genannter Unterleutnant Grinjow befand sich im Dienst in Orenburg von Anfang Oktober des vergangenen Jahres 1773 bis zum 24. Februar dieses Jahres, an welchem Tage er sich aus der Stadt entfernte und seither zu meinem Kommando nicht wieder zurückgekehrt ist. Von Überläufern wurde berichtet, daß er bei Pugatschow in dem Dorf gewesen und mit ihm nach der Festung Belogorskaja gefahren sei, in der er früher Dienst gehabt hat; was sein Betragen anbelangt, so kann ich …“ 440
Hier brach er die Lektüre ab und sagte streng: „Was kannst du jetzt zu deiner Rechtfertigung sagen?“ Ich wollte fortfahren, wie ich angefangen hatte, und meine Beziehungen zu Marja Iwanowna ebenso offen darlegen wie alles übrige, aber ich empfand plötzlich einen unüberwindlichen Abscheu davor. Es fiel mir ein, daß, wenn ich sie nennen würde, die Kommission sie als Zeugin heranziehen könnte, und der Gedanke, ihren Namen mit den gemeinen Verleumdungen der Bösewichte zu verkoppeln und sie selbst mit diesen Leuten konfrontieren zu lassen – dieser abscheuliche Gedanke entsetzte mich so, daß ich in Verwirrung geriet und stockte. Meine Richter, die, wie es schien, meine Aussagen mit einer gewissen Teilnahme anzuhören begonnen hatten, wurden nun, da sie meine Verlegenheit sahen, wieder gegen mich gestimmt. Der Gardeoffizier verlangte, daß man mich dem Hauptdenunzianten gegenüberstelle. Der General ließ den „gestrigen Bösewicht“ rufen. Ich richtete in Erwartung meines Anklägers den Blick gespannt auf die Tür. Nach einigen Minuten hörte ich Ketten rasseln, die Tür ging auf, und herein trat – Schwabrin. Ich war erstaunt, wie verändert er war. Er war furchtbar mager und bleich. Seine vor kurzem noch pechschwarzen Haare waren ganz grau geworden, der lange Bart war zerzaust. Er wiederholte seine Anklagen mit schwacher, aber fester Stimme. Er behauptete, ich wäre von Pugatschow als Spion nach Orenburg entsandt worden; ich wäre täglich hinausgeritten, um schriftliche Nachrichten über alle Vorgänge in der Stadt weiterzugeben; ich hätte mich endlich offen dem Usurpator angeschlossen und wäre mit ihm von Festung zu Festung gefahren, überall bemüht, meine Kameraden, Verräter wie ich, zugrunde zu richten, um mich in ihre Stellungen zu drängen und die Belohnungen einzuheimsen, die der Usurpator verteilte. Ich hörte ihn schweigend an und freute mich nur über eines: Der gemeine Bösewicht nannte Marja Iwanownas Namen nicht, vielleicht weil seine Eigenliebe bei dem Gedanken an jene litt, die ihn verächtlich von sich gewiesen hatte, vielleicht auch, weil in seinem Herzen ebenfalls noch ein Funke jenes Gefühles glimmte, das mich schweigen hieß. Wie 441
dem auch sei, der Name der Tochter des Kommandanten von Belogorskaja wurde in Gegenwart der Kommission nicht ausgesprochen. Ich wurde in meiner Absicht noch gefestigt, und als die Richter mich fragten, ob und wie ich die Aussagen Schwabrins widerlegen könnte, erwiderte ich, ich bliebe bei meiner ersten Aussage und hätte nichts weiter zu meiner Rechtfertigung zu sagen. Der General ließ uns abführen. Wir gingen zusammen hinaus. Ich sah Schwabrin ruhig an, sagte ihm aber kein Wort. Er lachte boshaft auf, ging, seine Ketten hebend, an mir vorüber und beschleunigte seine Schritte. Man brachte mich ins Gefängnis zurück, und ich wurde danach zu keinem zweiten Verhör zitiert. Von den Ereignissen, die ich dem Leser nun noch zu berichten habe, bin ich selbst nicht Augenzeuge gewesen; aber ich habe so oft davon erzählen hören, daß die geringsten Einzelheiten sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt haben und es mir vorkommt, als wäre ich unsichtbar mit dabeigewesen. Marja Iwanowna war von meinen Eltern mit der aufrichtigen Herzlichkeit aufgenommen worden, die die Leute der alten Generation auszeichnete. Sie sahen einen Segen Gottes darin, daß ihnen die Gelegenheit geboten war, die arme Waise bei sich aufzunehmen und für sie zu sorgen. Bald gewannen sie sie aufrichtig lieb, denn es war unmöglich, sie kennenzulernen und nicht liebzugewinnen. Meine Liebe erschien meinem Vater schon nicht mehr als bloße Narrheit, die Mutter aber wünschte nichts inniger, als daß ihr Petruscha die liebe Hauptmannstochter zur Frau bekäme. Die Nachricht über meine Gefangennahme setzte meine ganze Familie in Erstaunen. Marja Iwanowna hatte meinen Eltern die Geschichte meiner seltsamen Bekanntschaft mit Pugatschow so schlicht erzählt, daß sie sich nicht nur nicht beunruhigt fühlten, sondern oft sogar herzlich darüber lachten. Mein Vater wollte nicht glauben, daß ich an der schändlichen Rebellion, deren Ziel der Sturz des Thrones und die Vernichtung des Adels war, beteiligt sein konnte. Er unterzog Saweljitsch einem strengen Verhör. Der Alte verschwieg nicht, daß sein junger Herr beim 442
Jemelka Pugatschow zu Besuch gewesen wäre und daß der Bösewicht ihn sehr gnädig behandelt habe; er schwor aber, daß er von keinem Verrat gehört hätte. Die Eltern beruhigten sich und warteten mit Ungeduld auf günstige Nachrichten. Marja Iwanowna war sehr erregt, schwieg aber, denn sie war von Natur äußerst bescheiden und vorsichtig. Es vergingen ein paar Wochen … Plötzlich erhielt mein Vater einen Brief aus Petersburg von unserm Verwandten, dem Fürsten B. Der Fürst schrieb ihm über mich. Nach der üblichen Einleitung teilte er ihm mit, daß der Verdacht bezüglich meiner Beteiligung an den Plänen der Aufrührer leider nur zu begründet gewesen wäre, daß mich eine exemplarische Strafe hätte treffen müssen, daß aber die Zarin, aus Achtung für die Verdienste und die hohen Jahre des Vaters, beschlossen hätte, dem verbrecherischen Sohn Gnade zu erweisen, ihm die entehrende Exekution zu erlassen und ihn bloß für ewige Zeiten in einen der entlegenen Bezirke Sibiriens zu deportieren. Dieser unerwartete Schlag hätte meinen Vater beinahe getötet. Er verlor seine gewohnte sichere Haltung, und sein sonst stummer Schmerz ergoß sich in bittere Klagen. „Wie?“ wiederholte er außer sich, „mein Sohn an dem Vorhaben Pugatschows beteiligt! Gerechter Gott, was muß ich erleben! Die Zarin erläßt ihm die Exekution! Wird mir dadurch leichter? Die Exekution schreckt mich nicht: Mein Urgroßvater starb auf dem Schafott, weil er für das eintrat, was er für das Heiligtum seines Gewissens hielt; mein Vater mußte mit Wolynskij und Chruschtschow leiden. Aber daß ein Edelmann seinem Eid untreu wird, sich Räubern anschließt, Mördern, entlaufenen Knechten! … Schmach und Schande für unser Geschlecht! …“ Erschrocken über seine Verzweiflung, wagte meine Mutter nicht, in seiner Gegenwart zu weinen; sie suchte ihm seinen Mut wiederzugeben, indem sie von der Ungewißheit der Gerüchte, der Unzuverlässigkeit der menschlichen Behauptungen sprach. Aber mein Vater blieb untröstlich. Marja Iwanowna litt am schwersten. Sie war überzeugt, daß ich mich hätte rechtfertigen können, wenn ich nur gewollt hätte; 443
sie ahnte die Wahrheit und hielt sich für schuldig an meinem Unglück. Sie verbarg ihre Tränen und Schmerzen vor allen, sann dabei aber unausgesetzt auf Mittel, wie sie mich retten könnte. Eines Abends saß mein Vater auf dem Sofa und blätterte im „Hofkalender“, aber seine Gedanken schweiften ab, und die Lektüre hatte nicht die übliche Wirkung auf ihn. Er pfiff einen alten Marsch vor sich hin. Mutter strickte schweigend an einer wollenen Unterjacke, und ab und zu fiel eine Träne auf ihre Arbeit. Plötzlich erklärte Marja Iwanowna, die mit ihrer Handarbeit im selben Zimmer saß, daß sie notwendig nach Petersburg reisen müsse und daß sie bitte, ihr das zu ermöglichen. Mutter war sehr betrübt. „Was willst du in Petersburg?“ fragte sie. „Willst du uns auch verlassen, Marja Iwanowna?“ Marja Iwanowna antwortete, daß ihre ganze Zukunft von dieser Reise abhänge, daß sie Unterstützung und Hilfe bei mächtigen Leuten suchen wolle, wozu sie als Tochter eines Mannes, der für seine Treue gelitten habe, berechtigt sei. Mein Vater senkte das Haupt; jedes Wort, das ihn an das vermeintliche Verbrechen seines Sohnes erinnerte, fiel ihm schwer aufs Herz und schien ihm ein stechender Vorwurf. „Fahre nur, meine Liebe“, sagte er mit einem Seufzer. „Wir wollen deinem Glück keine Hindernisse in den Weg legen. Gott gebe dir einen braven Mann zum Gatten, keinen ehrlosen Verräter.“ Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Als Marja Iwanowna mit meiner Mutter allein geblieben war, weihte sie sie teilweise in ihre Pläne ein. Mutter umarmte sie weinend und flehte zu Gott, er möge ihr Vorhaben zu gutem Ende führen. Marja Iwanowna wurde für die Reise ausgerüstet, und nach einigen Tagen fuhr sie mit der treuen Palaschka und dem treuen Saweljitsch ab, der, nun er gewaltsam von mir getrennt war, in dem Gedanken Trost suchte, daß er wenigstens meiner verlobten Braut diene. Marja Iwanowna kam wohlbehalten bis Sofija, und als sie erfuhr, daß der Hof sich damals gerade in Zarskoje Selo befand, beschloß sie, hier Quartier zu nehmen. Man räumte ihr einen 444
Winkel hinter dem Verschlag ein. Die Frau des Aufsehers kam gleich ins Gespräch mit ihr, erklärte, sie wäre die Nichte des Hofheizers, und weihte sie in alle Geheimnisse des Hoflebens ein. Sie erzählte, um wieviel Uhr die Kaiserin gewöhnlich erwache, wann sie Kaffee trinke, spazierengehe; was für Würdenträger sich um diese Zeit bei ihr befänden; was sie gestern bei Tisch zu sagen geruhte; wen sie am Abend empfangen habe. Mit einem Wort, die Unterhaltung der Anna Wlasjewna wog ein paar Seiten historischer Memoiren auf und wäre für die Nachwelt von großem Wert gewesen. Marja Iwanowna hörte ihr aufmerksam zu. Sie gingen in den Garten. Anna Wlasjewna erzählte die Geschichte einer jeden Allee und einer jeden Brücke, und nachdem man sich müde gelaufen hatte, kehrte man auf die Station zurück und war miteinander sehr zufrieden. Am nächsten Tag wachte Marja Iwanowna sehr früh auf, kleidete sich an und ging leise in den Garten. Der Morgen war herrlich, die Sonne spielte auf den Wipfeln der Linden, die sich unter dem frischen Hauch des Herbstes schon gelb färbten. Der breite See glänzte unbeweglich. Die erwachten Schwäne kamen feierlich aus den Büschen hervorgeschwommen, die das Ufer beschatteten. Marja Iwanowna ging die schöne Wiese entlang, wo vor kurzem das Denkmal zu Ehren der jüngsten Siege des Grafen Pjotr Alexandrowitsch Rumjanzew errichtet worden war. Plötzlich fing ein kleiner weißer Hund von englischer Rasse zu bellen an und lief ihr entgegen. Marja Iwanowna erschrak und blieb stehen. Im selben Augenblick hörte sie eine angenehme Frauenstimme: „Haben Sie keine Angst, er beißt nicht.“ Und Marja Iwanowna erblickte eine Dame, die auf einer Bank gegenüber dem Denkmale saß. Marja Iwanowna nahm auf dem entgegengesetzten Ende der Bank Platz. Die Dame sah sie scharf an; Marja Iwanowna hatte ihrerseits durch ein paar Seitenblicke ihre ganze Gestalt vom Kopf bis zum Fuß in sich aufnehmen können. Die Dame trug ein weißes Morgenkleid, eine Nachthaube und eine warme Überjacke ohne Ärmel. Sie mochte vierzig Jahre alt sein. Ihr volles, rosiges Gesicht drückte Vornehmheit und Ruhe aus, die blauen Augen und das leichte Lächeln 445
waren von unbeschreiblichem Reiz. Die Dame brach zuerst das Schweigen. „Sie sind wohl nicht von hier?“ fragte sie. „Allerdings; ich bin erst gestern aus der Provinz gekommen.“ „Sie sind mit Ihren Verwandten da?“ „Keineswegs. Ich bin allein.“ „Allein! Sie sind aber noch so jung.“ „Ich habe weder Vater noch Mutter.“ „Sie sind gewiß in Geschäften hier?“ „Allerdings. Ich will der Kaiserin ein Gesuch überreichen.“ „Sie sind eine Waise; Sie wollen sich wahrscheinlich über Unrecht und Beleidigung beklagen?“ „Nein. Ich will um Gnade bitten, nicht um Gerechtigkeit.“ „Darf ich fragen, wer Sie sind?“ „Ich bin die Tochter des Hauptmanns Mironow.“ „Des Hauptmanns Mironow! Der war doch Kommandant einer der Orenburger Festungen?“ „Allerdings.“ Die Dame schien gerührt. „Verzeihen Sie“, sagte sie mit noch freundlicherer Stimme, „wenn ich mich in Ihre Angelegenheiten mische; aber ich verkehre bei Hofe; sagen Sie mir, um was es sich in Ihrem Gesuch handelt, vielleicht werde ich Ihnen helfen können.“ Marja Iwanowna erhob sich und dankte ehrerbietig. Alles an der unbekannten Dame bezauberte ihr Herz und weckte Vertrauen. Marja Iwanowna zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und reichte es ihrer unbekannten Beschützerin, die es für sich zu lesen begann. Anfangs las sie mit aufmerksamer und gütiger Miene; plötzlich aber änderte ihr Gesicht seinen Ausdruck – und Marja Iwanowna, die alle ihre Bewegungen mit den Augen verfolgt hatte, erschrak vor der Strenge dieser Züge, die eben noch so ruhig und freundlich gewesen waren. „Sie bitten für Grinjow?“ sagte die Dame kalt. „Die Kaiserin kann ihm nicht vergeben. Er schloß sich dem Rebellen nicht aus 446
Unwissenheit und Leichtgläubigkeit an, sondern als unsittlicher und gefährlicher Schurke.“ „Das ist nicht wahr!“ rief Marja Iwanowna. „Wieso nicht wahr?“ erwiderte die Dame heftig auffahrend. „Es ist nicht wahr, bei Gott, es ist nicht wahr! Ich weiß alles, ich will Ihnen alles erzählen! Nur mir zuliebe hat er alles auf sich genommen, was ihm widerfahren ist. Und wenn er sich vor dem Gericht nicht hat rechtfertigen können, so nur, weil er mich nicht hineinverwickeln wollte!“ Hier erzählte sie mit großem Eifer alles, was meinen Lesern schon bekannt ist. Die Dame hörte ihr aufmerksam zu. „Wo sind Sie abgestiegen?“ fragte sie dann, und als sie den Namen Anna Wlasjewnas hörte, sagte sie lächelnd: „Ah! ich weiß. Leben Sie wohl, und sagen Sie keinem etwas von unserer Begegnung. Ich hoffe, die Antwort auf Ihr Schreiben wird nicht lange auf sich warten lassen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging in den Laubengang, Marja Iwanowna aber kehrte zu Anna Wlasjewna zurück, von freudiger Hoffnung erfüllt. Ihre Wirtin schalt sie für den frühen Herbstspaziergang, der, wie sie behauptete, der Gesundheit eines jungen Mädchens nicht zuträglich sei. Sie brachte den Samowar und wollte bei einer Tasse Tee eben mit ihren endlosen Hofgeschichten anfangen, als plötzlich eine Hofkutsche vor der Türe hielt und ein Kammerlakai eintrat mit der Meldung, die Kaiserin geruhe die Jungfrau Mironowa zu sich zu bitten. Anna Wlasjewna war erstaunt und geriet in größte Unruhe. „Ach Gott!“ rief sie. „Die Kaiserin hat nach Ihnen geschickt! Wie hat sie nur von Ihnen erfahren? Und wie wollen Sie sich der Kaiserin vorstellen, meine Beste? Sie wissen ja nicht einmal, wie man bei Hofe zu gehen hat … Soll ich Sie vielleicht begleiten? Ich möchte Ihnen aber doch ein paar Verhaltungsmaßregeln geben. Und wie sollen Sie in Ihrer Reisekleidung fahren? Soll ich nicht zur Hebamme nach ihrem gelben Reifrock schicken?“ Der Kammerlakai erklärte, die Kaiserin wünsche, daß Marja Iwanowna allein und in dem Kleide, in dem man sie antreffen würde, 447
kommen möge. Es war nichts zu machen: Marja Iwanowna stieg in die Kutsche und fuhr ins Palais, von den Ratschlägen und Segenswünschen Anna Wlasjewnas begleitet. Marja Iwanowna ahnte die Entscheidung unseres Schicksals; ihr Herz schlug bald heftig, bald setzte es ganz aus. Nach einigen Minuten hielt die Kutsche vor dem Palais. Marja Iwanowna stieg zitternd die Treppe empor. Man riß die Türen weit vor ihr auf. Sie durchschritt eine lange Reihe leerer Prunkzimmer, der Kammerlakai wies ihr den Weg. Als sie endlich vor einer geschlossenen Tür angelangt waren, sagte er, er werde sie gleich melden, und ließ sie allein. Der Gedanke, die Kaiserin von Angesicht zu Angesicht zu sehen, machte ihr solche Angst, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte. Nach einer Minute ging die Tür auf, und sie trat ins Ankleidezimmer der Kaiserin. Die Kaiserin saß bei der Toilette. Mehrere Hofleute standen um sie herum und machten Marja Iwanowna ehrerbietig Platz. Die Kaiserin wendete sich ihr freundlich zu, und Marja Iwanowna erkannte die Dame, mit der sie sich vor wenigen Minuten so offen ausgesprochen hatte. Die Kaiserin winkte sie heran und sagte lächelnd: „Es freut mich, daß ich mein Wort halten und Ihre Bitte erfüllen konnte. Ihre Sache ist erledigt. Ich bin von der Unschuld Ihres Bräutigams überzeugt. Hier ist ein Brief, den Sie bitte selbst Ihrem künftigen Schwiegervater bringen wollen.“ Marja Iwanowna nahm das Schreiben mit zitternder Hand entgegen und fiel weinend vor der Kaiserin nieder, die sie aufhob und küßte. Dann zog die Kaiserin sie noch einmal ins Gespräch. „Ich weiß, daß Sie nicht reich sind“, sagte sie, „aber ich stehe in der Schuld der Tochter des Hauptmanns Mironow. Sorgen Sie sich nicht um Ihre Zukunft. Ich übernehme es, Ihre Vermögensverhältnisse zu ordnen.“ Nach diesen freundlichen Worten entließ die Kaiserin die arme Waise. Marja Iwanowna fuhr in derselben Hofkutsche zurück. Anna Wlasjewna, die sie mit Ungeduld erwartet hatte, überschüttete sie mit Fragen, die Marja Iwanowna sehr zerstreut be448
antwortete. Anna Wlasjewna war über ihre Unaufmerksamkeit zwar etwas ungehalten, schrieb sie aber schließlich der Schüchternheit des Provinzfräuleins zugute und verzieh ihr großmütig. Am selben Tage noch reiste Marja Iwanowna, ohne den Wunsch zu äußern, sich Petersburg anzusehen, auf das Gut zurück … Hier brechen die Aufzeichnungen von Pjotr Andrejewitsch Grinjow ab. Aus Familienüberlieferungen ist bekannt, daß er Ende 1774 auf eine persönliche Order der Kaiserin aus der Haft entlassen wurde; er wohnte der Hinrichtung Pugatschows bei, der ihn in der Menge erkannte und ihm mit dem Kopfe zunickte, der eine Minute später, tot und blutüberströmt, dem Volke gezeigt wurde. Bald danach vermählte sich Pjotr Andrejewitsch mit Marja Iwanowna. Ihre Nachkommen leben heute noch im Gouvernement Simbirsk. Dreißig Werst von *** befindet sich ein Kirchdorf, in dessen Besitz sich zehn Gutsherren teilen. In einem Flügel des Herrenhauses kann man ein eigenhändiges Schreiben von Katharina II. unter Glas und Rahmen sehen. Es ist an den Vater von Pjotr Andrejewitsch gerichtet, enthält die Rechtfertigung seines Sohnes und lobt den Geist und das Herz der Tochter des Hauptmanns Mironow. Das Manuskript von Pjotr Andrejewitsch Grinjow wurde uns von einem seiner Enkel überlassen, der erfahren hatte, daß wir mit einem Geschichtswerk beschäftigt seien, das sich auf die von seinem Großvater geschilderte Zeit bezöge. Wir beschlossen, es mit Genehmigung der Verwandten gesondert zu veröffentlichen, nachdem wir jedem Kapitel ein passendes Motto vorangesetzt und uns erlaubt hatten, einige Personennamen zu ändern. Der Herausgeber
Das ausgelassene Kapitel *
Wir näherten uns dem Wolgaufer. Unser Regiment kam in das Dorf *** und übernachtete hier. Der Dorfälteste teilte mir mit, daß am jenseitigen Ufer alle Dörfer vom Aufruhr ergriffen wären; überall trieben sich Pugatschowsche Banden herum. Diese Nachricht erregte mich sehr. Am nächsten Morgen sollte der Fluß überschritten werden. Ungeduld quälte mich und ließ mir keine Ruhe. Das Dorf meines Vaters lag dreißig Werst vom jenseitigen Ufer entfernt. Ich fragte nach einem Fährmann. Alle Bauern waren auch Fischer, und an Booten war kein Mangel. Ich ging zu Grinjow und teilte ihm meine Absicht mit. „Hüte dich“, sagte er. „Allein hinüberfahren ist gefährlich. Warte bis morgen. Wir lassen uns ganz zuerst übersetzen und besuchen deine Eltern mit fünfzig Husaren – auf alle Fälle.“ Ich bestand auf meinem Stück. Das Boot war bereit. Ich stieg mit zwei Ruderern ein. Sie stießen ab und legten die Ruder aus. Der Himmel war klar. Der Mond schien. Kein Lüftchen regte sich. Die Wolga floß ruhig und gleichmäßig. Unser Boot glitt leise schaukelnd über die dunkeln Wellen. So verging ungefähr eine halbe Stunde. Ich versank in Träumereien. Wir hatten die Mitte des Flusses bereits erreicht …, da fingen die Ruderer plötzlich untereinander zu flüstern an. „Was gibt’s?“ fragte ich, aus meinen Träumen auffahrend. „Gott weiß, was das sein mag“, sagten die Ruderer, nach einer Seite blickend. Ich richtete meine Augen ebenfalls dahin und sah * Dieses Kapitel wurde nicht in die endgütige Fassung der „Hauptmannstochter“ einbezogen und ist als Entwurf erhalten. Grinjow heißt in diesem Kapitel Bulanin, Surin aber Grinjow. (Anm. des Verlages.)
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in der Dämmerung etwas den Strom herabschwimmen. Der unbekannte Gegenstand kam näher. Ich befahl den Ruderern haltzumachen und zu warten. Der Mond verbarg sich hinter einer Wolke. Das schwimmende Gespenst wurde noch unkenntlicher. Es war schon ganz nahe vor uns, aber ich konnte es immer noch nicht erkennen. „Was könnte das sein?“ sagten die Ruderer. „Ein Segel ist es nicht, Masten auch nicht …“ Plötzlich kam der Mond hinter der Wolke hervor und beleuchtete ein grausiges Bild. Uns entgegen schwamm ein Galgen, der auf einem Floß aufgerichtet war. Drei Leichname hingen am Querbalken. Eine krankhafte Neugier bemächtigte sich meiner. Ich wollte die Gesichter der Gehenkten sehen. Auf meinen Befehl packten die Ruderer das Floß mit dem Bootshaken, und mein Boot stieß gegen den schwimmenden Galgen. Ich sprang auf das Floß und stand zwischen den gräßlichen Pfosten. Der volle Mond beleuchtete die entstellten Gesichter der Unglücklichen. Einer war ein alter Tschuwasche, der andere ein russischer Bauer, ein kräftiger und gesunder Bursche von etwa zwanzig Jahren. Als ich den dritten ins Auge faßte, war ich höchst überrascht und konnte einen schmerzlichen Aufschrei nicht unterdrücken: Es war Wanka, mein armer Wanka, der sich aus Dummheit dem Pugatschow angeschlossen hatte. Über ihren Köpfen war eine schwarze Tafel angeschlagen, auf der mit weißen Buchstaben geschrieben stand: „Räuber und Rebellen“. Die Ruderer blickten gleichgültig drein und warteten auf mich, das Floß mit dem Haken festhaltend. Ich setzte mich wieder ins Boot. Das Floß trieb weiter stromabwärts. Lange noch war der Galgen als schwarze Masse im Dunkeln zu sehen. Endlich verschwand er, und mein Boot landete am hohen und steilen Ufer … Ich bezahlte die Ruderer gut. Einer führte mich zu dem Gemeindevertreter des Dorfes, das sich bei der Landungsstelle befand. Ich trat mit ihm in die Hütte ein. Als der Vertreter hörte, daß ich Pferde brauche, empfing er mich zuerst ziemlich unwirsch, aber mein Führer sagte ihm leise ein paar Worte, und seine Unfreundlichkeit schlug sofort in übertriebenen Diensteifer um. In 451
einer Minute stand das Dreigespann bereit. Ich stieg in den Wagen und befahl, den Weg nach unserm Gut einzuschlagen. Ich fuhr die große Landstraße entlang, an schlafenden Dörfern vorüber. Ich fürchtete nur eins: daß ich unterwegs aufgehalten werden könnte. Wenn die nächtliche Begegnung auf der Wolga das Vorhandensein von Rebellen bezeugte, so war sie zugleich doch auch ein Beweis energischer Gegenmaßnahmen der Regierung. Für alle Fälle hatte ich sowohl den Passierschein Pugatschows als einen Befehl des Obersten Grinjow in der Tasche. Aber niemand begegnete mir, und gegen Morgen erblickte ich den Fluß und den Tannenwald, hinter dem sich unser Dorf befand. Der Kutscher schlug auf die Pferde ein, und in einer Viertelstunde hatte ich *** erreicht. Das Herrenhaus befand sich am entgegengesetzten Ende des Dorfes. Die Pferde rannten, so schnell sie konnten. Aber plötzlich, mitten auf dem Wege, begann der Kutscher die Zügel anzuziehen. „Was gibt’s?“ fragte ich ungeduldig. „Die Straße ist gesperrt, Herr“, antwortete der Kutscher, die erhitzten Pferde mit Mühe zurückhaltend. In der Tat sah ich einen Schlagbaum und einen Posten mit einem Knüppel. Der Mann ging auf mich zu, nahm die Mütze ab und verlangte meinen Paß. „Was soll das heißen?“ fragte ich ihn. „Warum ist der Weg versperrt? Wen bewachst du?“ „Wir rebellieren, Väterchen“, sagte er und kratzte sich den Kopf. „Wo sind denn eure Herrschaften?“ fragte ich und fühlte meinen Herzschlag stocken … „Wo die Herrschaften sind?“ wiederholte der Bauer. „Unsere Herrschaften sind im Kornspeicher.“ „Was heißt das: im Speicher?“ „Andrjucha der Dorfschreiber hat sie in Fußblöcke geschlossen und will sie zu unserem Väterchen, dem Zaren, bringen.“ „Gott im Himmel! Laß mich durch, Esel! Was stehst du mit offenem Maul da!“ Der Posten zögerte. Ich sprang aus dem Wagen, verabfolgte ihm (pardon!) eine kräftige Backpfeife und schob selbst die Sperre 422
zurück. Mein Bauer sah mich mit blöder Verwunderung an. Ich setzte mich wieder in den Wagen und befahl, schleunigst nach dem Herrenhaus zu fahren. Der Kornspeicher befand sich auf dem Hofe. Vor dem verschlossenen Tor standen ebenfalls zwei Bauern mit Knüppeln. Der Wagen hielt unmittelbar vor ihnen. Ich sprang heraus und stürzte geradewegs auf sie zu. „Aufgemacht!“ sagte ich. Mein Anblick muß furchtbar gewesen sein, denn sie liefen beide davon, ihre Knüppel liegen lassend. Ich versuchte das Schloß abzuschlagen und das Tor aufzubrechen, aber das Tor war aus Eichenholz, und das mächtige Schloß gab nicht nach. In diesem Augenblick kam ein stattlicher junger Bauer aus dem Gesindehaus und fragte mich mit herausfordernder Miene, wie ich es wagen dürfe, hier zu lärmen. „Wo ist Andrjuschka?“ schrie ich ihn an. „Er soll sofort herkommen!“ „Ich selber bin Andrej Afanasjewitsch, aber nicht Andrjuschka!“ antwortete er stolz, die Arme in die Hüften gestemmt. „Was steht zu Diensten?“ Statt jeder Antwort packte ich ihn am Kragen, schleppte ihn zum Speicher und befahl ihm, das Tor aufzumachen. Zuerst widersetzte er sich, aber meine „väterliche“ Mahnung wirkte endlich auch auf ihn. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und machte auf. Ich stürzte über die Schwelle und erblickte in einem dunkeln Winkel, in den nur mattes Licht aus einer schmalen Öffnung im Dache drang, meinen Vater und meine Mutter. Ihre Hände waren gefesselt, die Füße in einen Block geschlossen. Ich eilte auf sie zu, sie zu umarmen, konnte aber kein Wort hervorbringen. Beide sahen mich verwundert an: Drei Jahre Kriegsdienst hatten mich so verändert, daß sie mich nicht erkannten. Meine Mutter gab einen Seufzer von sich und brach in Tränen aus. Plötzlich vernahm ich eine wohlbekannte liebe Stimme: „Pjotr Andrejitsch! Sind Sie’s?“ Ich erstarrte – wandte mich um und sah im entgegengesetzten Winkel Marja Iwanowna; auch sie war gefesselt. Mein Vater sah mich schweigend an; er wagte nicht, seinen Augen zu trauen. Freude strahlte aus seinem Gesicht. Ich beeilte mich, ihre Fesseln mit meinem Säbel zu zerschneiden. 453
„Guten Tag, guten Tag, Petruscha!“ sagte der Vater und drückte mich an sein Herz. „Gott sei Dank, nun bist du doch wiedergekommen! …“ „Petruscha, mein Lieber!“ sagte meine Mutter. „Wie hat Gott dich hergebracht? Bist du gesund?“ Ich beeilte mich, sie aus dem Speicher hinauszuführen; aber als ich vor der Tür stand, fand ich sie wieder verschlossen. „Andrjuschka!“ schrie ich, „mach auf!“ – „Warum nicht gar!“ ließ sich draußen der Dorfschreiber vernehmen. „Bleib nur hübsch drin! Wir wollen dich schon lehren, Unfug treiben und kaiserliche Beamte am Kragen zerren!“ Ich untersuchte den Speicher, ob sich nicht irgendwo eine Möglichkeit böte, hinauszugelangen. „Gib dir keine Mühe“, sagte mein Vater, „ich bin kein so schlechter Wirt, daß man in meine Speicher auf diebischen Schleichwegen hinein und hinaus könnte.“ Meine Mutter, die mein Erscheinen für einen Augenblick erfreut hatte, war verzweifelt, als sie sah, daß ich mit den Meinigen zusammen untergehen sollte. Aber ich war viel ruhiger geworden, seit ich mit ihnen und Marja Iwanowna vereint war. Ich hatte einen Säbel und zwei Pistolen; so konnte ich eine Belagerung wohl noch aushalten. Grinjow mußte am Abend da sein und uns befreien. Ich erzählte das alles den Eltern, und es gelang mir, meine Mutter zu beruhigen. Sie gaben sich völlig der Freude des Wiedersehens hin. „Nun, Pjotr“, sagte mein Vater, „du hast genug dumme Streiche verübt, und ich war recht böse auf dich. Aber wir wollen das Vergangene vergangen sein lassen. Ich hoffe, du hast dich jetzt gebessert und ausgetobt. Ich weiß, daß du gedient hast, wie es sich für einen braven Offizier ziemt. Ich danke dir, du hast mir altem Manne damit eine große Freude gemacht. Wenn ich dir noch meine Rettung verdanken soll, wird das Leben mir doppelt angenehm sein.“ Mit Tränen in den Augen küßte ich seine Hand und sah auf Marja Iwanowna, die über meine Gegenwart so erfreut war, daß sie ganz glücklich und ruhig schien. 454
Gegen Mittag vernahmen wir ungeheuren Lärm und Geschrei. „Was bedeutet das?“ sagte mein Vater, „sollte dein Oberst schon da sein?“ – „Unmöglich“, erwiderte ich. „Er kann vor Abend nicht eintreffen.“ Der Lärm wuchs. Man läutete Sturm. Reiter sprengten über den Hof. In diesem Augenblick schob sich durch den engen Spalt, der in die Wand gehauen war, der graue Kopf Saweljitschs, und mein armer Alter sagte mit kläglicher Stimme: „Andrej Petrowitsch, Awdotja Wassiljewna, du mein Väterchen, Pjotr Andrejitsch, liebe Marja Iwanowna! Es steht schlimm! Die Bösewichter sind ins Dorf eingedrungen. Und weißt du, Pjotr Andrejitsch, wer ihr Führer ist? Schwabrin, Alexej Iwanytsch, hol ihn dieser und jener.“ Als Marja Iwanowna den verhaßten Namen hörte, schlug sie die Hände zusammen und blieb wie erstarrt sitzen. „Höre“, sagte ich zu Saweljitsch, „schick einen Reiter zur *** Überfahrt, dem Husarenregiment entgegen, und laß dem Obersten melden, daß wir in größter Gefahr sind.“ „Wen soll ich denn schicken, Herr? Alle Jungen halten’s mit den Aufständischen, und alle Pferde sind in ihren Händen. Ach Gott! Da sind sie schon im Hofe! Nun geht’s grad auf den Speicher los.“ In diesem Augenblick ertönten Stimmen vor dem Tor. Ich gab meiner Mutter und Marja Iwanowna ein Zeichen, sich in die äußerste Ecke zurückzuziehen, zog den Säbel und lehnte mich dicht bei der Tür an die Wand. Mein Vater nahm beide Pistolen, spannte die Hähne und postierte sich mir zur Seite. Das Schloß klirrte, die Tür ging auf und der Dorfschreiber steckte seinen Kopf herein. Ich versetzte ihm einen Säbelhieb, und er fiel zu Boden, den Ausgang mit seinem Leibe versperrend. In demselben Augenblick gab mein Vater einen Pistolenschuß ab. Die Menge, die uns belagerte, lief fluchend zurück. Ich schleppte den Verwundeten über die Schwelle und hakte die Tür von innen fest. Der Hof war voll bewaffneter Leute. Unter ihnen erkannte ich Schwabrin. „Fürchtet euch nicht“, sagte ich zu den Frauen. „Noch ist Hoffnung vorhanden. Und Sie, Vater, schießen nicht mehr. Wir wollen unsere letzte Ladung sparen.“ 455
Mutter betete still; Marja Iwanowna stand neben ihr und sah mit himmlischer Ruhe der Entscheidung unseres Schicksals entgegen. Von draußen kamen Drohungen, Schimpfworte, Flüche. Ich stand auf meinem alten Platz, bereit, den ersten frechen Eindringling in Stücke zu hauen. Plötzlich verstummten die Angreifer. Ich vernahm Schwabrins Stimme, der meinen Namen nannte. „Ich bin hier. Was willst du?“ „Ergib dich, Bulanin. Widerstand nutzt nichts. Hab Mitleid mit deinen Eltern. Dein Eigensinn kann dich nicht retten. Ich kriege euch doch.“ „Versuch’s, Verräter!“ „Ich werde mich selbst nicht unnötig vordrängen, auch meine Leute schonen! Ich lasse einfach den Speicher in Brand stecken – und dann wollen wir sehen, was du machst, du Don Quichote von Belogorskaja. Jetzt ist’s Essenszeit. Sitz still und überleg dir die Sache. Auf Wiedersehen, Marja Iwanowna, ich bitte Sie nicht um Entschuldigung. Sie werden sich im Dunkeln mit Ihrem Ritter wohl nicht langweilen,“ Schwabrin entfernte sich, nachdem er einen Posten vor dem Speicher aufgestellt hatte. Wir schwiegen. Jeder dachte sein Teil und wagte es nicht, dem andern seine Gedanken mitzuteilen. Ich malte mir alles aus, was der erbitterte Schwabrin anstellen könnte. An mich selbst dachte ich kaum. Soll ich’s gestehen? Auch das Schicksal meiner Eltern ängstigte mich nicht so wie das Marja Iwanownas. Ich wußte, daß die Bauern und das Gesinde meine Mutter anbeteten. Mein Vater war trotz seiner Strenge ebenfalls beliebt, denn er war gerecht und kannte die wahren Nöte seiner Untergebenen. Ihr Aufruhr war eine Verirrung, ein momentaner Rausch, aber keine Äußerung ihres Unwillens. Hier konnte man sicher auf Schonung rechnen. Aber Marja Iwanowna? Was für ein Los bereitete ihr der gewissenlose und lasterhafte Mensch? Ich wagte nicht, diesen entsetzlichen Gedanken auszuspinnen, und war bereit, Gott verzeih mir’s, sie eher zu töten, als sie zum zweitenmal in der Gewalt meines grausamen Gegners zu sehen. 456
Es verging noch eine Stunde. Aus dem Dorf tönten die Lieder der Betrunkenen herüber. Unsere Wächter wurden neidisch, ärgerten sich über uns, schimpften und drohten mit Folter und Tod. Wir warteten auf die Folgen der Schwabrinschen Drohungen. Endlich entstand eine große Bewegung im Hofe, und wieder hörten wir die Stimme Schwabrins. „Nun, habt ihr’s euch überlegt? Ergebt ihr euch mir freiwillig?“ Niemand antwortete. Schwabrin wartete eine Zeitlang, dann ließ er Stroh bringen. Nach einigen Minuten zuckte eine Flamme auf und erhellte den dunkeln Speicher. Der Rauch drang durch den Spalt über der Schwelle hinein. Da trat Marja Iwanowna an mich heran, faßte meine Hand und sagte leise: „Lassen Sie’s gut sein, Pjotr Andrejitsch! Stürzen Sie meinetwegen sich selbst und die Eltern nicht ins Verderben. Schwabrin wird auf mich hören. Lassen Sie mich hinaus!“ „Nie und nimmer!“ rief ich leidenschaftlich. „Wissen Sie, was Ihrer harrt?“ „Die Schande überlebe ich nicht“, erwiderte sie ruhig. „Aber vielleicht rette ich meinen Befreier und die Familie, die sich so großmütig der armen Waise angenommen. Leben Sie wohl, Andrej Petrowitsch! Leben Sie wohl, Awdotja Wassiljewna! Sie waren mir mehr als Wohltäter. Segnen Sie mich. Leben auch Sie wohl, Pjotr Andrejitsch. Glauben Sie mir, daß … daß …“ Hier fing sie an zu weinen und legte die Hände vor das Gesicht. Ich war wie wahnsinnig. Mutter weinte. „Laß das Geschwätz, Marja Iwanowna“, sagte mein Vater. „Wer wird dich allein zu den Räubern lassen? Sitz hier und sei still. Sollen wir sterben, dann sterben wir alle zusammen. Horch! Was reden sie da noch?“ „Ergebt ihr euch?“ schrie Schwabrin. „Seht euch vor – in fünf Minuten seid ihr gebraten.“ „Wir ergeben uns nicht, Bösewicht!“ antwortete ihm mein Vater mit fester Stimme. Sein mit Runzeln bedecktes Gesicht belebte sich wunderbar. Die Augen funkelten unter den weißen Brauen. Zu mir gewandt, sagte er: „Nun wird es Zeit.“ 457
Er öffnete die Tür. Das Feuer drang ein und lief die Balken entlang, zwischen die trockenes Moos gestopft war. Mein Vater schoß, schritt über die brennende Schwelle und rief: „Alle mir nach!“ Ich faßte die Mutter und Marja Iwanowna an den Händen und führte sie schnell ins Freie. An der Schwelle lag Schwabrin mit einer Schußwunde, die des Vaters Greisenhand ihm geschlagen hatte. Die Schar von Räubern, die bei unserm plötzlichen Ausfall zurückgewichen war, faßte neuen Mut und drang wieder auf uns ein. Ich konnte noch ein paar Hiebe austeilen, aber ein geschickt geworfener Ziegelstein traf mich mitten vor die Brust. Ich stürzte und verlor für eine Minute das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, sah ich Schwabrin auf dem blutbesprengten Grase sitzen; vor ihm stand unsere ganze Familie. Man mußte mich stützen. Eine Schar von Bauern, Kosaken und Baschkiren umringte uns. Schwabrin war furchtbar bleich. Er preßte die eine Hand an die verwundete Hüfte. Aus seinem Gesicht sprachen Qual und Wut Er hob langsam den Kopf, sah mich an und sagte mit schwacher, kaum hörbarer Stimme: „Hängt ihn … und alle … nur sie nicht.“ Die Menge drängte sofort heran und schleppte uns zum Tor. Aber mit einem Male ließen sie uns los und rannten davon. Durch das Tor sprengte Grinjow und hinter ihm eine ganze Schwadron mit gezogenem Säbel. Die Rebellen flohen nach allen Seiten. Die Husaren verfolgten sie, schlugen sie nieder, nahmen sie gefangen. Grinjow sprang vom Pferde, verbeugte sich vor Vater und Mutter und drückte mir kräftig die Hand. „So bin ich noch zur rechten Zeit gekommen!“ sagte er zu uns. „Ah, da ist ja auch deine Braut.“ Marja Iwanowna wurde ganz rot. Mein Vater ging auf ihn zu und dankte ihm scheinbar ruhig, aber tief gerührt. Meine Mutter umarmte ihn und nannte ihn unsern rettenden Engel. „Seien Sie bei uns willkommen“, sagte mein Vater und führte ihn in unser Haus. Als wir an Schwabrin vorübergingen, blieb Grinjow stehen. „Wer ist denn das?“ fragte er, auf den Verwundeten blickend. 458
„Das ist der Anführer selbst, das Haupt der Bande“, antwortete mein Vater mit einem gewissen Stolz, der den alten Kriegsmann offenbarte. „Gott hat meinem altersschwachen Arm geholfen, den jungen Bösewicht zu strafen und das Blut meines Sohnes an ihm zu rächen.“ „Das ist Schwabrin“, sagte ich zu Grinjow. „Schwabrin! Das freut mich sehr. Husaren, nehmt ihn fest. Und sagt dem Arzt, er soll ihm die Wunde verbinden und ihn hüten wie seinen Augapfel. Schwabrin muß unbedingt vor die geheime Kommission in Kasan gestellt werden. Er ist einer der Hauptverbrecher, und seine Aussagen müssen sehr wichtig sein …“ Schwabrin sah ihn mit müdem Blick an. Sein Gesicht drückte nichts außer körperlichem Schmerz aus. Die Husaren trugen ihn auf einem Mantel fort. Wir traten in die Zimmer. Bebend blickte ich um mich und gedachte der Jahre meiner Kindheit. Im Hause hatte sich nichts geändert, alles stand auf dem alten Platz. Schwabrin hatte verboten, es auszuplündern: Auch nach seinem Fall hatte er einen unwillkürlichen Abscheu gegen unredliche Habgier bewahrt. Die Dienstboten kamen ins Vorzimmer. Sie hatten am Aufruhr nicht teilgenommen und freuten sich ehrlich über unsere Rettung. Saweljitsch triumphierte. Es muß gesagt werden, daß er während der Verwirrung, die durch den Überfall der Räuber entstanden, in den Stall gelaufen war, wo Schwabrins Pferd stand, es gesattelt und leise hinausgeführt hatte und dank dem allgemeinen Durcheinander unbemerkt entkommen und an die Landungsstelle geritten war. Er traf das Regiment schon diesseits der Wolga rastend. Als Grinjow von ihm erfuhr, in welcher Gefahr wir schwebten, ließ er aufsitzen, kommandierte: „Marsch, marsch, Galopp!“ und kam, gottlob, noch gerade zur rechten Zeit. Grinjow bestand darauf, daß der Kopf des Dorfschreibers für ein paar Stunden auf einem Pfahl vor der Schenke ausgestellt werde. Die Husaren kamen von der Verfolgung zurück und brachten noch ein paar Gefangene mit. Sie wurden in denselben Speicher 459
gesetzt, in dem wir die unvergeßliche Belagerung ausgehalten hatten. Jeder von uns begab sich dann in sein Zimmer. Die Alten bedurften der Ruhe. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, warf mich aufs Bett und schlief sofort ein. Grinjow ging seine Anordnungen treffen. Am Abend versammelten wir uns im Wohnzimmer um den Samowar und unterhielten uns fröhlich über die bestandene Gefahr. Marja Iwanowna schenkte den Tee ein. Ich saß neben ihr und beschäftigte mich ausschließlich mit ihr. Meine Eltern schienen die Zärtlichkeit unseres Verhältnisses mit freundlichen Augen anzusehen. Bis heute ist dieser Abend in meiner Erinnerung lebendig geblieben. Ich war glücklich, vollkommen glücklich; und wie viele solcher Augenblicke gibt es in dem armen Menschenleben? Am nächsten Tage wurde meinem Vater gemeldet, die Bauern wären auf den Gutshof gekommen, um Gnade zu bitten. Mein Vater ging zu ihnen hinaus. Bei seinem Erscheinen fielen die Bauern auf die Knie nieder. „Nun, ihr Dummköpfe“, sagte er zu ihnen, „was hattet ihr zu revoltieren?“ „Vergib uns, gnädigster Herr“, antworteten sie einstimmig. „Ja, jetzt heißt es: Vergib uns! Erst machen sie Dummheiten, und dann sind sie selbst nicht froh! Ich vergebe euch, weil Gott mir die Freude beschert hat, meinen Sohn Pjotr Andrejitsch wiederzusehen. Sei’s drum: Ein büßendes Haupt trifft das Schwert nicht.“ „Wir sind schuldig! Natürlich sind wir schuldig!“ „Gott hat uns schönes warmes Wetter gegeben, es ist Zeit, das Heu einzubringen – und was habt ihr dummes Pack drei Tage lang getrieben? Amtmann! Alle sollen zur Heumahd auf die Wiesen! Und sieh zu, du rothaarige Bestie, daß bis zum Eliastag das ganze Heu geschichtet ist! Und nun trollt euch!“ Die Bauern verneigten sich dankend und gingen zum Frondienst, als wäre nichts geschehen. Schwabrins Wunde war nicht tödlich. Er wurde unter Bedek460
kung nach Kasan gebracht. Ich sah aus dem Fenster, wie man ihn auf den Wagen legte. Unsere Blicke begegneten sich. Er senkte den Kopf, und ich ging schnell vom Fenster zurück; ich fürchtete, den Anschein zu erwecken, als triumphierte ich über die Erniedrigung und das Unglück meines Gegners. Grinjow mußte weiterziehen. Ich beschloß, ihm zu folgen, so gerne ich auch noch einige Tage im Kreise der Meinigen zugebracht hätte. Am Tage vor dem Abmarsch kam ich zu meinen Eltern und bat sie, wie es damals noch Brauch war, auf den Knien, mir ihren Segen zur Ehe mit Marja Iwanowna zu erteilen. Die Alten hoben mich auf und sprachen ihre Zustimmung unter Freudentränen aus. Ich führte ihnen die bleiche und zitternde Marja Iwanowna zu. Wir empfingen den Segen … Was in mir vorging, mag ich nicht schildern. Wer in meiner Lage gewesen ist, wird es ohne weiteres begreifen. Wer nichts Ähnliches erlebt hat, den kann ich nur bedauern und ihm raten, sich, solang es noch Zeit ist, zu verlieben und den Segen der Eltern zu empfangen. Am nächsten Tage war das Regiment zum Abmarsch bereit. Grinjow nahm von den Meinigen Abschied. Wir waren alle überzeugt, daß der Krieg bald zu Ende sein werde. Nach einem Monat hoffte ich, Ehemann sein zu können. Marja Iwanowna küßte mich zum Abschied in aller Gegenwart. Ich saß auf, Saweljitsch begleitete mich wieder, und das Regiment marschierte. Lange blickte ich auf das schlichte Gutshaus zurück, das ich erneut verlassen mußte. Trübe Ahnungen quälten mich. Eine innere Stimme raunte mir zu, daß noch nicht alles Unglück überstanden sei. Das Herz ahnte neue Stürme. Ich verzichte auf eine Schilderung unseres Feldzuges und der Beendigung des Krieges gegen Pugatschow. Wir zogen durch Ortschaften, die von Pugatschow verwüstet waren, und mußten gezwungenermaßen den armen Bewohnern auch noch das fortnehmen, was die Räuber ihnen übriggelassen hatten. Sie wußten nicht mehr, wem sie gehorchen sollten. Die Verwaltung war überall eingestellt. Die Gutsbesitzer hielten sich in 461
den Wäldern verborgen. Überall wüteten Räuberbanden. Die Kommandeure der einzelnen Truppenteile, die den schon auf der Flucht nach Astrachan befindlichen Pugatschow verfolgen sollten, straften Schuldige und Unschuldige nach eigenem Ermessen … Der Zustand des ganzen Landes, in dem der Brand loderte, war entsetzlich. Gott bewahre uns vor einem russischen Aufruhr, der sinnlos und erbarmungslos ist. Die bei uns unmögliche Staatsumwälzungen planen, sind entweder jung und kennen unser Volk nicht, oder es sind hartherzige Menschen, denen der fremde Kopf einen Pfifferling wert ist und der eigene Hals einen Heller. Pugatschow floh, von Iwan Iwanowitsch Michelson verfolgt. Bald erfuhren wir von seiner völligen Zerschlagung, und dann erhielt Grinjow endlich von seinem General die Nachricht von der Gefangennahme des Usurpators und zugleich den Befehl, den Vormarsch einzustellen. Endlich konnte ich nach Hause fahren. Ich war außer mir; aber ein seltsames Gefühl trübte meine Freude.
Anmerkungen
Der Mohr Peters des Grossen
Der unvollendet gebliebene historische Roman, an dem Puschkin zwischen 1827 und 1828 arbeitete, ist das erste künstlerische Prosawerk des Dichters. Bruchstücke erschienen 1829, 1830 und 1834; das ganze Manuskript wurde erst 1837 postum im sechsten Band der Zeitschrift „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse) veröffentlicht. Der Titel stammt von den Herausgebern der Zeitschrift. Der Prototyp des Haupthelden ist Puschkins Urgroßvater mütterlicherseits, der äthiopische Fürstensohn Abram Hannibal. Um 1690 geboren, fiel Hannibal als Kind in türkische Gefangenschaft. Durch Vermittlung des russischen Botschafters in Konstantinopel gelangte er 1707 in den Dienst Peters I., der ihn 1716 nach Frankreich schickte und eine Artillerieschule besuchen ließ. Über die Herkunft Hannibals und die näheren Umstände, die ihn nach Rußland führten, gibt es keine zuverlässigen Quellen. Puschkin stützte sich auf mündliche Familienüberlieferungen und eine in deutscher Sprache abgefaßte Lebensbeschreibung Hannibals. Im übrigen ließ er bewußt dichterische Freiheit walten. So heiratete Hannibal in Wirklichkeit erst sechs Jahre nach Peters Tod. Seine erste Frau entstammte nicht einem alten Bojarengeschlecht, sondern war die Tochter eines Griechen, der in russischen Diensten als Kapitän der Galeerenflotte tätig war. Über den geplanten weiteren Verlauf der Handlung liegt uns eine mündliche Äußerung des Dichters vor, die sein Freund A. N. Wulf überliefert hat: Ibrahims Frau verübt Ehebruch, bringt ein weißes Kind zur Welt und wird in ein Kloster gesperrt. Stark modifiziert sind hier einzelne Momente aus dem tragischen Schicksal der ersten Frau Hannibals verarbeitet. (Puschkin selbst stammte von Hannibals zweiter Frau ab.) In „Der Mohr Peters des Großen“ versuchte Puschkin eine geschichtsphilosophische Ausdeutung der Tätigkeit Peters I. Die Aufklärung im Sinne einer tiefgreifenden Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und
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Kultur findet in Rußland zu einer Zeit Eingang, da in Frankreich der Sittenverfall der herrschenden Feudalkreise den Staat unterhöhlt. Dies aber ist nur eine der Antithesen, auf denen die Komposition des Werks aufbaut. Eine weitere bilden die Kontrastgestalten Ibrahims und Korsakows. Ibrahim, den ein Gefühl der persönlichen Verantwortung vor den Verlockungen Frankreichs bewahrt, stellt den Typ des neuen, der Sache des gesellschaftlichen Fortschritts aufrichtig ergebenen Intellektuellen dar, Korsakow hingegen den Typ des karrieristischen Höflings, der sich nur die äußeren Formen der Aufklärung angeeignet hat. Beide von der petrinischen Epoche hervorgebrachten Typen des russischen Adligen waren für die weitere Entwicklung der russischen Gesellschaft charakteristisch; in den Dekabristen, den Adelsrevolutionären, die 1825 mit der Waffe in der Hand gegen den Absolutismus auftraten, sah Puschkin die rechtmäßigen Nachfahren des großen Reformwerks Peters I. Die erste deutsche Übersetzung veröffentlichte Wilhelm Lange 1882 in „Reclams Universal-Bibliothek“. Angeregt durch Puschkins Fragment, schrieb Richard Voß 1883 das Schauspiel „Der Mohr des Zaren“, ohne jedoch die realistische Aussagekraft seines großen Vorbildes bewahren zu können. 5
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Jasykow – Nikolai Michailowitsch Jasykow (1803–1846), russischer Dichter, dessen frühes Schaffen von Puschkin sehr geschätzt wurde. Das Motto ist seiner Verserzählung „Ala“ (1824) entnommen. Dmitrijew – Iwan Iwanowitsch Dmitrijew (1760–1837), russischer Dichter, Vertreter des Sentimentalismus. Das Motto stammt aus dem scherzhaften Gedicht „Die Reise des NN. nach Paris und London“ (1808). Pariser Militärschule – Ein Versehen Puschkins. Die Pariser Militärschule wurde erst 1751 gegründet. Hannibal studierte bis Ende 1722 an der Kriegsschule in La Fère. Spanischer Krieg – Gemeint sind die in den Jahren 1718 bis 1720 vor allem von Frankreich und England geführten Kriegshandlungen gegen Spanien. Herzog von Orléans – Philippe Orléans (1674–1723); führte von 1715 bis 1723 die Regentschaft für den unmündigen Ludwig XV. Palais-Royal – (franz.) Königlicher Palast; seit 1692 Palast der Herzöge von Orléans in Paris.
Law – John Law (1671–1729), schottischer Bankier und Ökonom; gab als Leiter der französischen Staatsbank ungedecktes Papiergeld heraus und versetzte Frankreich dadurch in einen Gründungsrausch, der in völligem Bankrott endete. Herzog Richelieu – Armand, Duc de Richelieu (1696–1788), Großneffe des Kardinals Richelieu; glänzender Hofmann, bekannt wegen seines Esprits und seiner Liebesabenteuer. Alkibiades des neuesten Athen – Der athenische Feldherr und Politiker Alkibiades (5. Jahrhundert v. u. Z.) galt als ein hochbegabter Staatsmann, zeichnete sich aber andererseits durch Ruhmsucht, Leichtsinn und Lasterhaftigkeit aus. – Als das „neueste Athen“ wird hier Paris bezeichnet. Temps fortuné, marqué par la licence … – (franz.) Glückliche Zeit, gekennzeichnet durch Sittenfreiheit, / wo die Tollheit, ihre Schelle läutend, / leichtfüßig durch ganz Frankreich läuft, / wo kein Sterblicher fromm zu sein geruht. / wo man alles tut, nur keine Buße. (Aus: Voltaire „Die Jungfrau von Orléans“, XIII. Gesang, Vision des Mönches Bonifoux.) le Nègre du czar – (franz.) der Neger des Zaren. – In Wirklichkeit war Puschkins Urgroßvater kein Neger, sondern ein Äthiopier. Arouet – So lautete Voltaires ursprünglicher Name, den er bis 1718 trug. Chaulieu – Abbè Guillaume de Chaulieu (1639–1720), französischer Lyriker; verherrlichte in seiner leichten, spielerischen Poesie den Lebensgenuß. Montesquieu – Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689 bis 1755), französischer Rechtsphilosoph und politischer Schriftsteller; Ideologe der konstitutionellen Monarchie. Fontenelle – Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757), französischer Schriftsteller; Vorläufer der Aufklärung. 9 Als sie mit siebzehn Jahren das Kloster verließ … – Die Töchter der französischen Aristokratie wurden gewöhnlich in einem Kloster erzogen. Merville – Michel Guyot de Merville (1696–1755), französischer Dramatiker. 14 Dershawin – Gawrila Romanowitsch Dershawin (1743–1816), bedeutendster russischer Lyriker vor Puschkin. Das Motto ist seiner Ode „Auf den Tod des Fürsten Meschtscherskij“ (1779) entnommen. 8
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Bonne nuit, messieurs – (franz.) Gute Nacht, meine Herren. Zarizyn Sad – Wörtlich: Garten der Zarin; der heutige Letnij Sad (Sommergarten). 18 Oranienbaum – Schloß bei Petersburg. Held von Poltawa – In der Schlacht bei Poltawa (1709) schlugen die russischen Truppen unter Führung Peters I. die schwedische Armee, an deren Spitze Karl XII. von Schweden stand. Die Schlacht brachte im Nordischen Krieg (1700–1721) die entscheidende Wende zugunsten Rußlands. Fürst Menschikow – Alexander Danilowitsch Menschikow (1673 bis 1729), russischer Staatsmann und Feldherr, Mitkämpfer und einflußreicher Vertrauter Peters I. Fürst Jakow Dolgorukij – Jakow Fjodorowitsch Dolgorukij (1659 bis 1720), einer der engsten Mitarbeiter Peters I.; seit 1717 Vorsitzender des Revisionskollegiums, das die Einnahmen und Ausgaben des Staates kontrollierte. Bruce – Jakow Wilimowitsch Bruce (1670–1735), Mitkämpfer Peters I., Diplomat, Feldherr und Gelehrter; er führte verschiedene Aufträge des Zaren auf dem Gebiete der Kultur und des Bildungswesens aus und popularisierte in Rußland die Lehre des Kopernikus. den jungen Ragusinskij – Sawwa Lukitsch Wladislawitsch-Ragusinskij (gest. 1738), russischer Diplomat; war in Wirklichkeit älter als Hannibal; soll diesen aus Konstantinopel nach Rußland gebracht haben. 20 Küchelbecker – Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker (1797–1846), russischer Schriftsteller, Dekabrist; Freund Puschkins aus der Lyzeumszeit in Zarskoje Selo. Das Motto ist seiner heroischen Tragödie „Die Argiver“ (1824) entnommen. Preobrashenskij-Regiment – Ein von Peter I. gebildetes Garderegiment. Scheremetew – Graf Boris Petrowitsch Scheremetew (1652–1719), Mitkämpfer Peters I.; Feldmarschall. Golowin – Iwan Michailowitsch Golowin (1672–1737), russischer Admiral. Senat – Von Peter I. geschaffene höchste administrative Institution in Rußland. Buturlin – Iwan Iwanowitsch Buturlin (1661–1738), Senator, Mitglied des Militärkollegiums. 15 17
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20 Feofan – Feofan Prokopowitsch (1681–1736), hoher kirchlicher Würdenträger, Schriftsteller, Publizist und Gelehrter; setzte sich für die Reformen Peters I. ein. Bushinskij – Gawriil Bushinskij (1680–1731), gelehrter Mönch; übersetzte im Auftrage Peters I. eine Reihe von Büchern aus dem Lateinischen ins Russische. Kopijewitsch – Ein offensichtlicher Anachronismus in der Darstellung Puschkins. Elias Kopijewitsch (Kopiewicz), auch Ilja Fjodorowitsch Kopijewskij genannt, war ein protestantischer Prediger, der im Auftrage Peters I. in Amsterdam eine russische Druckerei betrieb, eine Reihe von Werken übersetzte und einige Lehrbücher verfaßte, bevor er 1707 nach Rußland kam; er starb spätestens 1710. 22 Entre nous – (franz.) Unter uns gesagt. 24 die neue Art der Kleidung – Peter I. hatte in einem Erlaß das Tragen westeuropäischer Kleidung für die Oberschicht zur Pflicht gemacht. Zarin Natalja Kirilowna – Zweite Frau des 1676 verstorbenen Zaren Alexej Michailowitsch, Mutter Peters I. Sarafan – Ärmelloses und vom zuzuknöpfendes Gewand der russischen Bäuerinnen. Seelenwärmer – Warme Weste für Frauen. Que diable est-ce que tout cela? – (franz.) Was, zum Teufel, ist das alles? 28 bei Narwa – Narwa war im Nordischen Krieg zweimal Kriegsschauplatz; nachdem die russischen Truppen 1700 vor Narwa von den Schweden geschlagen worden waren, eroberten sie die Stadt im Jahre 1704. 29 Die Gäste kamen mit Frauen und Töchtern angefahren, die endlich … vom häuslichen Einsiedlerleben befreit worden waren – Peter I. zwang die Adligen, ihre Frauen und Töchter in der Öffentlichkeit erscheinen zu lassen, was bis dahin nicht üblich war. 30 die Bärte abrasiert – Peter I. verbot den Vertretern der Oberschicht das Tragen der traditionellen Bärte. Sie sollten dadurch auch äußerlich eine neue, moderne Lebensweise dokumentieren. Woiwode – In Rußland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Vorsitzender eines Verwaltungsbezirks. 31 Das Weib aber fürchte den Mann – Vgl. Brief des Paulus an die Epheser, Kapitel 5, Vers 33.
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32 Fürst Alexander Danilowitsch – Menschikow. 34 Feldzug von 1701 – Gemeint ist der Zug nach Kurland und Litauen, den die schwedischen Truppen 1701 im Anschluß an die Schlacht bei Narwa unternahmen. 35 Ablessimow – Alexander Onissimowitsch Ablessimow (1742 bis 1783), russischer Schriftsteller; sein bestes Werk ist die komische Oper „Der Müller, der Zauberer, der Betrüger und der Brautwerber“ (erstmalig aufgeführt 1779), in der er Motive der Folklore verarbeitete. 36 Pfannkuchenbäcker – Anspielung auf den Fürsten Menschikow, der nach Aussagen von Zeitgenossen in seiner Jugend auf den Straßen Moskaus Pasteten verkauft haben soll. 37 Bowa Korolewitsch und Jeruslan Lasarewitsch – Beliebte russische Märchengestalten, die auf die Übersetzungsliteratur des 17. Jahrhunderts zurückgehen. 38 Strelizensohn – Die Strelizen (Schützen) waren eine im 16. Jahrhundert geschaffene Infanterietruppe. Nach verschiedenen Rebellionen Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Truppe, die zur bewaffneten Kraft reaktionärer Verschwörungen der Bojaren geworden war, 1698 aufgelöst. 799 Strelizen wurden wegen ihrer Teilnahme am Aufruhr von 1698 hingerichtet. während des Aufstandes – Gemeint ist vermutlich die Erhebung der Strelizen vom Jahre 1682. 40 unter dem *** Breitengrad geboren – Hannibal wurde in Abessinien am Ufer des Mareb (fünfzehnter Breitengrad) geboren. 42 j’ aurais planté là den alten Lügner – (franz.) ich würde den alten Lügner sitzenlassen. une petite santé – (franz.) eine schwächliche Gesundheit. mijaurée – (franz.) Zierpuppe.
Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin
„Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin“ schrieb Puschkin im September und Oktober 1830 auf dem väterlichen Landgut Boldino. Im folgenden Jahr gab er sie – unter anderem auch in der Absicht, seine literarischen Gegner zu täuschen – anonym heraus und stellte dem Leserpublikum als fingierten Autor des Novellenzyklus in einem Vorwort die Gestalt eines biederen Landedelmannes Iwan Petrowitsch Belkin vor. Wahrheitsgetreu und nach Berichten verschiedener Personen soll dieser die Erzählungen aufgezeichnet haben. Durch diese Mystifikation – ein Kunstgriff, den Puschkin bei Walter Scott vorfand – wird eine besondere Wirkung erstrebt: Im betonten Gegensatz zur subjektiven Willkür der romantischen Methode erhalten die Erzählungen den Anschein streng objektiver Realität. Unter dem eigenen Namen ließ Puschkin „Die Erzählungen Belkins“ erst 1834 in einer Ausgabe seiner Prosaschriften erscheinen. Die bedeutendste der „Erzählungen Belkins“ ist „Der Postmeister“. In ihr hat Puschkin zum erstenmal in der russischen Literatur die Gestalt des „kleinen Mannes“ – hier eines Beamten niedrigster Rangstufe – zum Gegenstand einer realistischen Darstellung erhoben. An diese von Puschkin geschaffene Tradition konnten Gogol in der Erzählung „Der Mantel“ und Dostojewskij in den „Armen Leuten“ anschließen. „Die Erzählungen Belkins“ erschienen sehr früh in deutscher Übersetzung: „Der Schuß“ bereits 1831 im vierten Band des „Russischen Merkur“, „Der Schneesturm“ 1833 in der Anthologie „Das Nordlicht“, ins Deutsche übertragen von Karoline von Jaenisch. Eine weitere Übersetzung des „Schusses“ veröffentlichte Friedrich Tietz 1838 in seinem Buch „Historische und romantische Erzählungen“. Gottlob Tröbst und Stephan Sabinin gaben alle „Erzählungen Belkins“ mit Ausnahme des „Schusses“ 1840 in Jena heraus.
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49 Der Landjunker – Satirische Komödie, vollendet 1782, des russischen Dramatikers Denis Iwanowitsch Fonwisin (1745–1792). 52 Sekundmajor – In der russischen Armee des 18. Jahrhunderts der auf den Hauptmann folgende Offiziersdienstgrad.
Der Schuss 56 Baratynskij – Das Motto ist Jewgenij Abramowitsch Baratynskijs (1800–1844) Poem „Der Ball“ (1828) entnommen. Abend im Biwak – Erzählung des zu seiner Zeit sehr beliebten romantischen Schriftstellers Alexander Alexandrowitsch BestushewMarlinskij (1797–1837). 58 bog … eine Karte zuviel um – Der Spieler bog, wenn er den Gewinn auf einer Karte nicht einziehen wollte, zum Zeichen, daß er eine Forderung an die Bank hatte, eine Ecke der Karte um. 61 bonnet de police – (franz.) Militärmütze in Schiffchenform. Burzow, den Denis Dawydom besungen hat – A. P. Burzow, ein als Tollkopf und großer Zecher bekannter Husarenoffizier, dem 1804 sein damaliger Regimentskamerad, der Dichter Denis Dawydow (1784–1839), drei Gedichte widmete. 67 the honeymoon – (engl.) die Flitterwochen. 69 während des Aufstandes Alexander Ypsilantis – Alexander Ypsilanti (1792–1828), griechischer Freiheitskämpfer, leitete 1821 einen Aufstand in den Donau-Fürstentümern gegen die türkische Fremdherrschaft. Hetäristen – Mitglieder der griechischen nationalen revolutionären Organisation, der sogenannten Hetärie, die 1821 den Aufstand gegen die Türken in der Moldau und Walachei leitete. Schlacht bei Sculeni – Bei Sculeni, einer Ortschaft am Pruth, wurden die Hetäristen 1821 von türkischen Truppen geschlagen.
Der Schneesturm 70 Shukowskij – Wassilij Andrejewitsch Shukowskij (1783–1852), russischer Dichter, meisterhafter Übersetzer Schillers, Goethes, Bürgers und Uhlands. Das Motto ist seiner Ballade „Swetlana“ (1812) entnommen.
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70 Boston – Altes Kartenspiel. 72 Tulaer Siegel – Die Stadt Tula war berühmt wegen ihrer Metallerzeugnisse. 74 Troika – (russ.) Dreigespann. 78 Borodino – Bei Borodino fand am 7. September 1812 eine Schlacht zwischen dem russischen Heer unter Kutusow und der ins Land eingefallenen Armee Napoleons I. statt. Die russischen Truppen zogen sich ungeschlagen zurück. Artemisia – Königin von Karien (4. Jahrhundert v. u. Z.), untröstliche Witwe des Mausolos, dem sie ein prächtiges Grabmal (Mausoleum) errichtete, das als eines der sieben Weltwunder galt. 79 Vive Henri-Quatre – (franz.) „Es lebe Heinrich IV.“; Couplet aus der Komödie von Collé „Die Jagd Heinrichs IV.“ (1774). „Joconde“ – Oper des französischen Komponisten Nicolo Isourd, die 1814 mit großem Erfolg in dem von russischen Truppen besetzten Paris gegeben wurde. Und in die Luft die Hauben warfen – Vers aus Alexander Sergejewitsch Gribojedows (1795–1829) Komödie „Verstand schafft Leiden“ (1825). 80 Se amor non è, che dunque? … – (ital.) Wenn’s keine Liebe ist, was dann? Vers aus dem 88. Sonett des italienischen Dichters Francesco Petrarca (1304–1374). 81 Grande-Patience – (franz.) Eine Art der Patience, eines Kartenspiels, das meist von einer einzelnen Person gespielt wird. Saint-Preux – Held aus Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Roman in Briefen „Julie oder Die neue Heloïse“.
Der Sargmacher 84 Dershawin – Vgl. Anmerkung zu S. 14. Das Motto ist der 1794 vollendeten philosophischen Ode „Der Wasserfall“ entnommen. von der Basmannaja zur Nikitskaja – Die Basmannaja und die Nikitskaja, Straßen in Moskau, lagen Anfang des 19. Jahrhunderts an entgegengesetzten Enden der Stadt. Amor mit einer gesenkten Fackel in der Hand – Die gesenkte Fackel in der Hand Amors galt als Symbol des Todes. 85 daß sowohl Shakespeare als auch Walter Scott ihre Totengräber als fröhliche und lustige Menschen dargestellt haben – Von Shake-
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speare sind Totengräber im „Hamlet“ (5. Akt, 1. Szene), von Walter Scott in „Die Braut von Lammermoor“ dargestellt worden.
85 Brigadegeneral – Im alten Rußland niedrigster Generalsdienstgrad. Rasguljai – Platz in Moskau, nicht weit von der Basmannaja. 87 Pogorelskijs Postillion – Gemeint ist der Postillion Onufritsch aus A. A. Pogorelskijs (1787–1836) Erzählung „Die Mohnkuchenverkäuferin von Lafertowo“ (1825). „mit Streitaxt und einer Rüstung aus grobem Tuch“ – Zitat aus dem Versmärchen „Die dumme Pachomowna“ von A. Je. Ismailow (1779–1831). 88 In rotes Saffianleder gebunden schien – Ungenaues Zitat aus Jakow Borissowitsch Knjashnins (1742–1791) Komödie „Der Prahler“ (1786).
Der Postmeister 93 Kollegienregistrator – Beamter der vierzehnten, der niedrigsten Rangklasse im zaristischen Rußland. Fürst Wjasemskij – Pjotr Andrejewitsch Wjasemskij (1792–1878). russischer Dichter und Kritiker; Freund Puschkins. Die Verse sind dem Gedicht „Die Station“ (1825) entnommen. Muromsker Räuber – In den Wäldern bei Murom, einer Stadt an der Oka, suchten in alter Zeit Räuber Zuflucht. Um diese von den herrschenden Kreisen Verfemten bildeten sich Lieder und Sagen des Volkes. 101 Viertel des Ismailowskij-Garderegiments – Gemeint ist das Stadtviertel von Petersburg, in dem die Kasernen des IsmailowskijGarderegiments lagen. 104 Terentitsch in Dmitrijews herrlicher Ballade – Gestalt aus der parodierenden Ballade I. I. Dmitrijews (1760–1837) „Der Wachtmeister im Ruhestand“.
Das Adelsfräulein als Bäuerin 107 Bogdanowitsch – Ippolit Fjodorowitsch Bogdanowitsch (1743 bis 1803), Lyriker, Verfasser leichter Poesie. Das Motto ist seiner Versdichtung „Duschenka“ (Herzliebchen), die 1775 entstand, entnommen.
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107 zu Beginn des Jahres 1797 seinen Abschied genommen – D. h. zu Beginn der Regierungszeit Pauls I., dessen Despotismus viele Adlige veranlaßte, den Abschied zu nehmen. „Senatsnachrichten“ – Wochenblatt, in dem Regierungsverordnungen veröffentlicht wurden. Doch auf fremde Art gedeiht kein russisches Getreide – Vers aus einer Satire des russischen Schriftstellers A. A. Schachowskoi (1777 bis 1846). 108 Vormundschaftsrat – Behörde, die den Findel- und Waisenhäusern und den ihnen angeschlossenen Kreditinstituten vorstand. Zoilos – Hämischer Tadler; nach dem griechischen Rhetor Zoilos (4. Jahrhundert v. u. Z.). ließ sich für alle Fälle einen Schnurrbart wachsen – Die Militärs trugen im Gegensatz zu den Zivilbeamten ausnahmslos einen Schnurrbart. 109 Jean Paul – Eigentlich Johann Paul Friedrich Richter (1763–1825), deutscher Erzähler, zu seiner Zeit einer der meistgelesenen Autoren. Er sah nach antikem Vorbild sein Ideal im freien, für die Gesellschaft tätigen Menschen. nota nostra manet – (lat.) unsere Kennzeichnung bleibt bestehen. 110 „Pamela“ – Sentimentaler Briefroman des bürgerlichen englischen Schriftstellers Samuel Richardson (1689–1761). 111 Blancmanger – (franz.) Eine mit Mandelmilch oder Sahne zubereitete Süßspeise. 114 Tout beau, Sbogar, ici … – (franz.) Kusch, Sbogar, hierher … 122 Ärmel à l’ imbécile – (franz.) Ärmel im „Narrenstil“; enge Ärmel, die sich an den Schultern wie Puffärmel bauschen. 124 Lancastersystem – Nach dem Londoner Pädagogen Joseph Lancaster (1778–1838) benanntes Schulsystem, bei dem die älteren und fortgeschritteneren Schüler unter Anleitung des Lehrers die übrigen Schüler unterrichteten. „Natalja, die Bojarentochter“ – Historische Erzählung von Nikolai Michailowitsch Karamsin (1766–1826), dem Hauptvertreter des Sentimentalismus in der russischen Literatur. 126 Taras Skotinin – Gestalt aus Fonwisins Komödie „Der Landjunker“. Vgl. Anmerkung zu S. 49. 127 Mais laissez-moi, donc, monsieur; mais êtes-vous fou? – (franz.) Lassen Sie mich doch, mein Herr; sind Sie denn toll?
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Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino
In einem inneren Zusammenhang mit dem Rahmen der „Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin“ steht „Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino“, Auch hier tritt uns die Gestalt Belkins als fingierter Autor entgegen. Das Werk wurde im Herbst 1830 in Boldino verfaßt, blieb aber unvollendet und erschien erstmalig nach dem Tode Puschkins 1837 im siebenten Band der Zeitschrift „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse). Puschkin hinterließ einen Entwurf, aus dem sich Rückschlüsse auf den weiteren Fortgang der Schilderung ziehen lassen. Er endet mit folgenden Stichworten: Die Bauern sind ruiniert. Mein Vater. Der Dorfälteste Trifon. Der Aufruhr. Der Gutsverwalter … Frondienst Es war ein reiches, freies Dorf Durch Tyrannei wurde es arm Durch Strenge ging es in ihm wieder aufwärts Durch Nachlässigkeit geriet es in Verfall – Die gesellschaftskritische Satire der „Geschichte des Dorfes Gorjuchino“ ist in das scherzhafte Gewand einer Parodie auf die zeitgenössische Geschichtsschreibung gekleidet. 131 „Neuester Briefsteller“ – Eine von dem Professor N. G. Kurganow verfaßte Grammatik und Stilkunde. Sie vermittelte Elementarkenntnisse auf verschiedenen Wissensgebieten und erschien erstmalig 1769. 132 Niebuhr – Barthold Georg Niebuhr (1776–1831), Geschichtsforscher, wirkte durch die Begründung der historisch-kritischen Me-
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thode in seinem Hauptwerk, der „Römischen Geschichte“, bahnbrechend. 132 Als die zwölf Völkerschaften vertrieben worden waren – D. h. Ende 1812, nach Zerschlagung der Großen Armee Napoleons, die sich aus Angehörigen vieler Nationalitäten zusammensetzte. 134 Adelsmarschälle – Gewählte Vertreter des Adels in Kreis- und Gouvernementsverwaltungen. 135 „Menschenhaß und Reue“ – Rührstück des zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Bühnenschriftstellers August von Kotzebue (1761 bis 1819). „Der Wohlgesinnte“ – Die in den Jahren 1818 bis 1826 in Petersburg unregelmäßig erscheinende Zeitschrift „Blagonamerennyj“. Hamburger Zeitung – Gemeint ist die „Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheischen Correspondenten“. 136 B., der Schriftsteller – Gemeint ist der Schriftsteller und Journalist Faddej Wenediktowitsch Bulgarin (1789–1859). Puschkins Zeitgenossen ersahen aus einer Reihe von Details in der Darstellung des Schriftstellers B. unschwer, wen Puschkin im Auge hatte. Wenn B. zum Beispiel einen erbsfarbenen Mantel trägt, so wurde damit seine Verbindung zur politischen Polizei angedeutet; als „erbsfarbenen Mantel“ pflegte man zu jener Zeit einen Geheimpolizisten zu bezeichnen. Bulgarin, ein erklärter Feind alles Fortschrittlichen, denunzierte und verleumdete neben anderen Schriftstellern auch Puschkin. „Wetteiferer der Aufklärung“ – Die Zeitschrift „Sorewnowatel prosweschtschenija“ erschien zwischen 1818 und 1825 in Petersburg. 137 Rjurik – Warägerfürst im 9. Jahrhundert; die älteste russische Chronik verherrlicht ihn als Begründer des ersten russischen Staates. „Der gefährliche Nachbar“ – Scherzhaftes Poem von Wassilij Lwowitsch Puschkin (1767–1830), dem Onkel des Dichters. „Kritik am Moskauer Boulevard“, „Auf zu den Teichen der Presnja“ – Anonyme Couplets, deren Satire sich gegen die Vertreter des müßigen Moskauer Adels richtete. 138 das unsterbliche Werk des Abbés Millot – „Grundzüge der Geschichte Frankreichs, von Chlodwig bis Ludwig XV.“ (1767–1769), ein Werk, das in Rußland mehrere Auflagen erlebte, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts aber bereits völlig veraltet war. Tatischtschem, Boltin und Colikom – Russische Historiker des 18. Jahrhunderts.
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138 die altslawischen Ziffern – Im Altslawischen wurden Zahlwerte durch Buchstaben ausgedrückt, z. B. A = 1, T = 300. 140 wie jener mir ähnelnde Geschichtsschreiber, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere – Gemeint ist der englische Historiker Edward Gibbon (1737–1794). 141 Revisionsliste – Verzeichnis von Personen (hier der leibeigenen Bauern), die Kopfsteuer zu zahlen und Militärdienst zu leisten hatten. freie Ackerbauern – Einem Erlaß aus dem Jahre 1803 zufolge konnten die Gutsherren ihre Bauern, wenn diese eine hohe Ablösungssumme zahlten, aus der Leibeigenschaft entlassen. Die Zahl der auf diese Weise freigelassenen Bauern, der sogenannten „freien Ackerbauern“, war gering. 144 Privatpässe – Scherzhaft für: gefälschte, selbst ausgestellte Pässe. in dem alten öffentlichen Gebäude, das mit einer Tanne und der Abbildung des doppelköpfigen Adlers geschmückt ist – D. h. im Wirtshaus. Die Schenken wurden vom Staat verpachtet; deshalb war an ihnen das Staatswappen, der doppelköpfige Adler, angebracht. Vergil – Schöpfer des römischen Nationalepos „Äneis“, lebte von 70 bis 19 v. u. Z. Sumarokow – Alexander Petrowitsch Sumarokow (1718–1777), Schriftsteller, einer der bedeutendsten Vertreter des russischen Klassizismus.
Roslawlew
Puschkin schrieb das Fragment „Roslawlew“ 1831, kurz nachdem der gleichnamige historische Roman Michail Nikolajewitsch Sagoskins (1789 bis 1852) erschienen war. Einen Teil des Fragments veröffentlichte der Dichter 1836 im dritten Band des „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse), der vollständige Text erschien 1841 im elften Band der postumen Werkausgabe. Puschkin griff den von Sagoskin gestalteten Stoff aus dem Vaterländischen Krieg 1812 vor allem deshalb auf, um gegen die romantisierende und ihrer ideologischen Grundhaltung nach reaktionär-monarchistische Geschichtsauffassung Sagoskins zu polemisieren. Während Sagoskin die Gestalt der Polina wegen ihrer Liebe zu einem gefangenen napoleonischen Offizier in negativen Farben zeichnete, stellte Puschkin mit der psychologischen Meisterschaft eines Realisten seine Heldin als Verkörperung eines volksverbundenen Patriotismus dar. 153 „Roslawlew“ – Der vollständige Romantitel lautet: „Roslawlew oder Die Russen im Jahre 1812“. Auswärtiges Kollegium – Kollegien hießen seit Peter dem Großen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Ministerien in Rußland. 154 Crébillon – Claude-Prosper Jolyot de Crébillon (1707–1777), französischer Schriftsteller; seine schlüpfrigen Erzählungen spiegeln die moralische Verkommenheit der feudalen Gesellschaft wider. Als königlicher Zensor hatte Crébillon über die Sittenreinheit der Druckerzeugnisse zu wachen. Rousseau – Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), französischer Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph der Aufklärung. Sumarokow – Vgl. die 4. Anmerkung zu S. 144. 155 Der Autor des „Jurij Miloslawskij“ – Verfasser des 1829 erschienenen historischen Romans „Jurij Miloslawskij oder Die Russen im Jahre 1612“, war ebenfalls M. N. Sagoskin.
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155 Lomonossow – Michail Wassiljewitsch Lomonossow (1711–1765), universal gebildeter Denker und Forscher sowie „Vater der russischen Dichtung“; er verfaßte eine Reihe von Oden, Hymnen und Epigrammen sowie zwei Tragödien. Lomonossow trug entscheidend dazu bei, daß der von Trediakowskij eingeführte tonische Versbau weiter Fuß faßte. Die Gründung der Moskauer Universität (1755) geht auf seine Anregung zurück. „Geschichte Karamsins“ – Gemeint ist die zwölfbändige „Geschichte des russischen Staates“ von Nikolai Michailowitsch Karamsin, erschienen zwischen 1818 und 1829. Madame de Staël – Germaine de Staël-Holstein (1766–1817), französische romantische Schriftstellerin, Tochter des Finanzministers Necker; sie wurde von Napoleon I. aus Frankreich ausgewiesen und hielt sich im Jahre 1812 in Moskau und Petersburg auf. 156 „Corinne“ – Roman der Madame de Staël, war 1807 unter dem Titel „Corinne ou l’Italic“ (Corinne oder Italien) erschienen. 157 Ma chére enfant … – (franz.) Mein liebes Kind, ich bin ganz krank. Es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie kämen und mich zum Leben erweckten. Versuchen Sie. von Ihrer Frau Mutter die Erlaubnis zu erhalten, und haben Sie die Freundlichkeit, ihr die Ehrerbietung Ihrer Freundin de S. zu übermitteln. 158 Chateaubriand – François-René Vicomte de Chateaubriand (1768 bis 1848), französischer Dichter, übte seinerzeit großen Einfluß auf die Entwicklung der französischen Romantik aus. Byron – George Noël Gordon Lord Byron (1788–1824), englischer Dichter, hervorragender Vertreter der revolutionären Romantik. Kusnezkij-Brücke – Hauptgeschäftsstraße im damaligen Moskau. Hier befanden sich zahlreiche französische Läden. Schicksal des Rheinbundes – Unter dem Protektorat Napoleons I. wurde im Jahre 1806 der Bund deutscher Staaten (außer Preußen, Österreich, Braunschweig und Kurhessen) mit dem Ziel gebildet, Frankreichs Herrschaft über Deutschland und zusätzliche Truppen und Mittel für die napoleonischen Kriege zu sichern. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) löste sich der Rheinbund jedoch wieder auf. Flugblätter des Grafen Rastoptschin – Gemeint sind die Bekanntmachungen des Oberkommandierenden von Moskau, Graf Rastoptschin (1763–1826), in der zweiten Augusthälfte des Jahres 1812
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über den Verlauf der Kriegshandlungen. Sie waren in einem pseudovolkstümlichen Stil abgefaßt. 159 Lafitte – Erstklassiger Bordeauxwein. Posharskij – Fürst Dmitrij Michailowitsch Posharskij (1578 bis etwa 1642), Führer des russischen Landesheerbanns gegen die polnischen Interventen in den Jahren 1611 und 1612, organisierte zusammen mit Kusma Minitsch Minin (gest. 1616), einem Bürger aus Nowgorod, den Kampf für die Befreiung des russischen Staates von den ausländischen Eindringlingen. in ihre Saratower Dörfer zu reisen – D. h. an einen sicheren Ort. Ekossaise – (franz.) Ursprünglich ernster „schottischer“ Volkstanz im 3/2- oder 3/4-Takt; zwischen 1760 und 1830 war es die Bezeichnung für Reihen- und Kolonnentänze. Um 1800 eröffnete eine Ekossaise fast jeden Ball. 160 Palais-Royal – Vgl. die 1. Anmerkung zu S. 8. Hier; der Innenhof mit seinen Geschäften und den verschiedenartigen Vergnügungsstätten. Charlotte Corday – Marie-Anne-Charlotte Corday d’Armont (1768 bis 1793) ermordete am 13. 7. 1793 im Auftrage der Konterrevolution Jean-Paul Marat, den Führer der Jakobiner, und wurde vier Tage danach auf Beschluß des Revolutionstribunals guillotiniert. Viele Zeitgenossen Puschkins hielten Marat, der die Politik des revolutionären Terrors verkörperte, für einen „Henker der Freiheit“ und Tyrannen. (Vgl. auch Puschkins Gedicht: „Der Dolch“, Band 1 unserer Ausgabe.) Marfa Possadniza – Die Witwe des Nowgoroder Statthalters (Possadnik) J. A. Borezkij widersetzte sich Ende des 15. Jahrhunderts einer Vereinigung des alten Nowgorod mit Moskau; sie wurde nach der Angliederung Nowgorods an den russischen Staat nach Nishnij Nowgorod verbannt und danach ins Kloster geschickt. Für Polina, wie später auch für die Dekabristen, erscheint sie als heldenmütige Verteidigerin der Nowgoroder Freiheit. Fürstin Daschkowa – Fürstin Jekaterina Romanowna Daschkowa (1743–1801) beteiligte sich im Alter von neunzehn Jahren aktiv an der Palastrevolution von 1762 auf Seiten der späteren Zarin Katharina II. Il n’est de bonheur que dans les voies communes – (franz.) Das Glück läßt sich nur auf ausgetretenen Pfaden finden. Zitat aus Chateaubriands Erzählung „René“ (1802).
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160 Graf Mamonow – Der reiche Moskauer Graf M. A. DmitrijewMamonow stellte im Jahre 1812 auf eigene Kosten ein Kavallerieregiment zusammen. 162 théâtre de société – (franz.) Liebhabertheater. proverbes – (franz.) Kleine Theaterstücke, denen als Thema ein Sprichwort zugrunde liegt. 163 Schlacht bei Borodino – Vgl. die 1. Anmerkung zu S. 78.
Dubrowskij
Der Roman, den Puschkin nicht vollendete, entstand zwischen 1832 und 1833. Erstmalig erschien er 1841 im zehnten Band der postumen Werkausgabe. Es sind Entwürfe erhalten, die über den Plan des weiteren Handlungsverlaufs Auskunft geben. Der Held verläßt die Räuberbande und lebt mit seiner Frau, der Tochter seines Erzfeindes, unerkannt in Moskau, bis er schließlich durch Verrat in die Hände der Obrigkeit fällt. Die Anregung zu „Dubrowskij“ hatte Puschkin – wie uns sein Biograph P. I. Bartenew überlieferte – von seinem Freund P. W. Naschtschokin empfangen. Dieser wußte von einem armen weißrussischen Landedelmann namens Ostrowskij zu berichten, der in einem Prozeß mit einem wohlhabenden und einflußreichen Nachbarn um seinen Besitz gebracht worden war und sich daraufhin mit den ihm verbliebenen Leibeigenen zusammengetan hatte, um den Beamten und all seinen Beleidigern die Fehde anzusagen. Außerdem verwendete Puschkin im zweiten Kapitel die wörtliche Abschrift eines Urteils, mit dem 1832 im Provinzgericht von Koslow der Prozeß zwischen einem Oberstleutnant namens Krjukow und einem Leutnant namens Muratow zum Abschluß gebracht worden war (verändert sind nur die Namen der streitenden Parteien). Die meisterhafte realistische Sittenschilderung des Romans rühmten sowohl Belinskij als auch Tschernyschewskij. Zugleich aber erscheinen die romantischen Abenteuer des Helden im zweiten Band nicht hinreichend sozial motiviert, ein Umstand, der Puschkin bewogen haben mag, den Roman abzubrechen und sich in der „Hauptmannstochter“ einem Stoff zuzuwenden, der seinem Anliegen, das Verhältnis fortschrittlicher Adliger zu den revolutionären Aktionen der Bauernklasse zu gestalten, besser gerecht wurde. Die erste deutsche Übersetzung des Romans veröffentlichte Nathalie von Bessel 1893 in der Zeitschrift „Süd und Ost“.
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General en chef – Kommandierender General. Wolodka – Zärtlichkeitsform zu Wladimir. Nikolaitag – der 9. Mai (alten Stils). Wo der Tisch voll Speisen war, dort steht ein Sarg – Verszeile aus Dershawins Ode „Auf den Tod des Fürsten Meschtscherskij“ (1779). 191 „Laut erschalle Siegesdonner“ – Patriotisches Lied, dessen Text von Dershawin 1791 anläßlich der Einnahme der türkischen Festung Ismail verfaßt wurde. 194 „Es ist alles ganz eitel“ – Vgl. Der Prediger Salomo, Kapitel I, Vers 2. 196 „Meide das Böse und tue Gutes“ – Das entsprechende Bibelzitat (vgl. Psalm 34. Vers 15) lautet: „Laß vom Bösen und tue Gutes …“ 199 während des türkischen Feldzuges – Gemeint ist der Russisch-Türkische Krieg von 1787 bis 1791. 211 Lavatersche Überlegungen – Der schweizerische Theologe und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater (1741–1801) erklärte die Linien des menschlichen Profils für zuverlässige Merkmale des Charakters; sein Hauptwerk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ (1775–1778), in dem er sich in der Charakterdeutung versuchte, fand seinerzeit starke Beachtung. 214 Kulnjow – Der General Jakow Petrowitsch Kulnjow war im Vaterländischen Krieg 1812 gefallen. Ein nach seinem Tode ausgeführtes Porträt von ihm fand weite Verbreitung. 215 Radcliffe – Anne Radcliffe (1764–1823), englische Schriftstellerin, Verfasserin von Schauerromanen. 220 Que désire monsieur? – (franz.) Was wünscht der Herr? She wö, mua, sche wu kitschee – (gebrochenes Französisch) Ich will bei Ihnen schlafen. Monsieur, très volontiers … veuillez donner des ordres en conséquence – (franz.) Sehr gern, mein Herr … wollen Sie die entsprechenden Anordnungen treffen. Purkua wu tuschee, purkua wu tuschee? – (gebrochenes Französisch und französiertes Russisch) Weshalb löschen Sie das Licht, weshalb löschen Sie das Licht? dormir – (franz.) schlafen. 221 Musjö, musjö … she wo awek wu parle – (gebrochenes Französisch) Mein Herr, mein Herr … ich will mit Ihnen sprechen. 170 171 186 190
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221 Kess kö se, musjö, kess kö se? – (gebrochenes Französisch) Was soll das, mein Herr, was soll das? Rasnotschinez – (russ.) Rasnotschinzen nannte man im Rußland des 19. Jahrhunderts Intellektuelle aus den demokratischen Mittelschichten. 223 Ma foi, man officier – (franz.) Wahrhaftig, Herr Offizier. avec les outchitels – (franz. und französisches Russisch) mit den Lehrern. bonsoir – (franz.) guten Abend; hier ironisch: ade! 234 Rinaldo – Titelheld des von dem deutschen Schriftsteller Christian August Vulpius (1762–1827) verfaßten, zu seiner Zeit sehr populären Romans „Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann“ (1797). 235 Amphitryon – Sagenhafter griechischer König; nach der Darstellung, die er in dem gleichnamigen Lustspiel Molieres (1622–1673) erfuhr, galt er als der Inbegriff eines freundlichen Gastgebers. 236 tous les frais – (franz.) alle Unkosten. 237 die Geliebte Konrads – Der mit Puschkin befreundete polnische Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) läßt die Geliebte des Titelhelden in dem Poem „Konrad Wallenrod“ (1827) aus Zerstreutheit eine Rose mit grüner Blüte und roten Blättern sticken. 244 Arschin – Altes russisches Längenmaß, etwa 71,1 cm. 246 Alexander – Vollform zu Sascha. 252 Rausche nicht, Väterchen, du grüner Eichenwald … – Ein Räuberlied. Puschkin zitiert dieses Lied nach der Liedersammlung Tschulkows, die von Nowikow im Jahre 1780 neu herausgegeben wurde. 253 Trumeau – (franz.) Pfeilerspiegel.
Pique Dame
Die Erzählung entstand 1833 in Boldino und hatte, nachdem sie 1834 in der „Biblioteka dlja tschtenija“ (Lesebibliothek) sowie in der Ausgabe der Prosaschriften Puschkins erschienen war, großen Erfolg. P. I. Bartenew überlieferte uns, daß Puschkin P. W. Naschtschokin gegenüber Natalja Petrowna Golizyna, die Mutter des Moskauer Generalgouverneurs, als Prototyp der alten Gräfin angegeben habe. Ihr Enkel sei es gewesen, der Puschkin das Motiv der drei gewinnbringenden Karten als eigenes Erlebnis erzählt habe. Naschtschokin wies Puschkin darauf hin, daß eigentlich Natalja Kirillowna Sagrjashskaja, die Großtante von Puschkins Frau, der alten Gräfin mehr ähnle und fand die Zustimmung des Dichters. Mit „Pique Dame“ unternahm Puschkin den Versuch, die Schattenseiten jener Lebenseinstellung psychologisch zu entlarven, die für den in die Adelsgesellschaft einbrechenden und mit allen Mitteln nach Erfolg strebenden Bourgeois charakteristisch war: Dem mit Energie und Klugheit begabten, jedoch von brennendem Ehrgeiz gepackten Individualisten Hermann wird die bereits von Zersetzung befallene feudale Adelswelt gegenübergestellt. Die erste deutsche Übersetzung von „Pique Dame“ gaben Gottlob Tröbst und Stephan Sabinin 1840 in Jena zusammen mit den „Erzählungen Belkins“ heraus. 259 Mirandole spielen – spielen, ohne den ursprünglichen Einsatz zu erhöhen. auf Route setzen – seinen Einsatz fortschreitend verdoppeln. Genieoffizier – Ingenieuroffizier. 260 Paroli biegen – den ursprünglichen Einsatz auf eine Karte verdoppeln. pointieren – in einem Kartenglücksspiel gegen den Bankhalter spielen.
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260 la Vénus moscovite – (franz.) Die Moskauer Venus. Richelieu – Vgl. die 3. Anmerkung zu Seite 8. Pharao – Auch: Pharo, ein altes Kartenglücksspiel. Herzog von Orléans – Vgl. die 4. Anmerkung zu S. 7. Moskauer noch Saratower Dörfer – D. h. im Gouvernement Moskau und Saratow gelegene Güter. 261 Graf Saint-Germain – Abenteurer, der in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts in der vornehmen Pariser Gesellschaft auftauchte; er starb 1784. Casanova – Giovanni Jacopo Casanova de Seingalt (1725–1798). italienischer Abenteurer. 262 au jeu de la Reine – (franz.) zum Kartenspiel bei der Königin. Sonika – Karte, die auf Anhieb gewinnt. Soritsch – Semjon Gawrilowitsch Soritsch, einer der Favoriten Katharinas II., ein leidenschaftlicher Kartenspieler. ein Paroli-pé biegen – den ursprünglichen Einsatz auf eine Karte vervierfachen. 263 „Il parait que monsieur est décidément pour les suivantes.“ – „Que voulez-vous, madame? Elles sont plus fraiches.“ – (franz.) Der Herr haben anscheinend eine ausgesprochene Vorliebe für die Kammerzofen? – Was soll man machen, Madame? Die sind frischer. grand ’maman – (franz.) Großmutter. Bonjour, mademoiselle Lise – (franz.) Guten Tag, Fräulein Lisa. 266 Fremdes Brot schmeckt bitter, sagt Dante … – Anspielung auf eine Stelle in Dantes „Göttlicher Komödie“ (Das Paradies, 17. Gesang). 270 Vous m’écrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire – (franz.) Sie schreiben mir, mein Engel, vier Seiten lange Briefe schneller, als ich sie lesen kann. 274 Madame Lebrun – Elisabeth Louise Vigée-Lebrun (1755–1842), französische Porträtmalerin. Leroy – Julien Leroy (1686–1759), berühmter französischer Uhrmacher; nicht weniger bekannt als Meister des Uhrmacherhandwerks war sein Sohn Pierre Leroy (1717–1785). Roulette – Hier: ein Spielzeug, und zwar eine Scheibe, die sich an einer Schnur auf und ab bewegt. Ballon der Brüder Montgolfier – Ein von den Brüdern Montgolfier erfundener Heißluftballon, mit dem 1783 die ersten Aufstiege gelangen.
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274 Mesmerscher Magnetismus – Der Arzt Franz Anton Mesmer (1734 bis 1815) stellte eine „Theorie“ (Mesmerismus) auf von der heilenden Wirkung des tierischen Magnetismus, eines angeblich dem Menschen innewohnenden Fluidums. 278 Homme sans mœurs et sans religion! – (franz.) Ein Mensch ohne Moral und ohne Glauben! 279 oubli ou regret? – (franz.) Vergessen oder Bedauern? – Mit dieser Frage wandten sich die Damen an einen Kavalier, wobei sie vorher bestimmt hatten, welches Wort welcher Dame gehört; hatte sich der Kavalier für ein Wort entschieden, so mußte er mit derjenigen Dame tanzen, der das gewählte Wort gehörte. 281 à l’oiseau royal – (franz.) Wörtlich: in der Art des königlichen Vogels; eine Haartracht im 18. Jahrhundert. 282 Swedenborg – Emanuel Swedenborg (1688–1772), schwedischer Naturforscher und Philosoph; begründete eine phantastisch-rationale Geister- und Naturlehre; er war durch angebliche Visionen berühmt. Gegen ihn ist Kants Schrift „Träume eines Geistersehers“ (1766) gerichtet. une affectation – (franz.) Verstellung. mitternächtiger Bräutigam – Allegorische Bezeichnung für Jesus Christus, vgl. Evangelium des Matthäus. Kapitel 25, Vers 1–13. 284 Attendez! – (franz.) Warten sie! Hier: Aufforderung an die Spieler, keine weiteren Karten zu besetzen. 285 Whist – Ein Kartenspiel, das im Gegensatz zum Pharao nicht zu den Glücksspielen gehört. 286 Taille – Abschnitt beim Pharaospiel, innerhalb dessen der Bankhalter der Reihe nach alle Karten seines Spieles abwechselnd nach beiden Seiten aufdeckt, wobei Gewinn oder Verlust davon abhängt, ob die vom Pointierenden gesetzte Karte links oder rechts zu liegen kommt. simple – (franz.) einfach; hier: der einfache Einsatz auf eine Karte.
Kirdshali
Die Erzählung entstand aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst 1834 und wurde noch in demselben Jahr in der Dezembernummer der „Biblioteka dlja tschtenija“ (Lesebibliothek) veröffentlicht. Bereits 1821 und dann 1828 hatte Puschkin die historisch bezeugte Gestalt Kirdshalis in den Mittelpunkt von Versdichtungen stellen wollen, seine Absicht aber – von kurzen Fragmenten abgesehen – nicht verwirklicht. Als Grundlage diente Puschkin Material, das er 1821 in Kischinjow über den griechischen Freiheitskampf unter Führung Alexander Ypsilantis (1792–1828) gesammelt hatte. Teilnehmer des gescheiterten Aufstandes hielten sich als Flüchtlinge in Kischinjow auf. Aus jener Zeit ist uns auch der Entwurf Puschkins zu einem „Poem über die Hetäristen“ – so hießen die Mitglieder der griechischen revolutionären Organisation (Hetärie), die 1821 den Aufstand gegen die Türken leitete – erhalten. In der Erzählung „Kirdshali“ hat der Dichter Handlungselemente des nicht ausgeführten Poems wieder aufgegriffen und verwertet. Den äußeren Anstoß zur Abfassung der Erzählung, die stark dokumentarische Züge trägt und zur Skizze tendiert, mag 1834 das Wiedersehen Puschkins mit M. I. Lex gegeben haben, einem ehemaligen Beamten aus der bessarabischen Kanzlei des Generals Insow. von dem Puschkin bereits in Kischinjow Einzelheiten über das Schicksal des Bulgaren Georgi Kirdshali, eines aktiven Teilnehmers an der Hetäristenbewegung, gehört hatte. Zum Unterschied von den offiziellen Auslegungen, die Kirdshali als Räuber diffamierten, hebt Puschkin dessen Heldenmut und unerschütterlichen Freiheitsdrang hervor. In deutscher Übersetzung erschien „Kirdshali“ bereits 1835 im „Magazin für die Literatur des Auslandes“. 291 Kirdshali – Das türkische Wort geht auf den Namen einer historischen Persönlichkeit des 14. Jahrhunderts Kürdscha Ali zurück; im 18. Jahrhundert war es dann zum Appelativum geworden.
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293 Arnaut – Türkische Bezeichnung für Albaner. Georgakis Olympios – Griechischer Freiheitskämpfer; besetzte nach der Zerschlagung der Hetäristen mit dem Rest der Truppen das Kloster Seku in den Bergen des Moldaulandes und sprengte, als er sich von den Türken umgangen sah, sich und den kleinen Rest seiner Gefährten in die Luft. 294 Kantakuzenos – Fürst Georgios Kantakuzenos (gest. 1857), einer der Führer des griechischen Aufstandes. Puschkin kannte Kantakuzenos persönlich. Schlacht bei Sculeni – Vgl. die 3. Anmerkung zu S. 69. Quarantäne – An der Grenze der türkischen Moldau war wegen der häufigen Pestepidemien in der Türkei eine ständige Quarantäne eingerichtet. Saphianos und Kantagonis – Griechische Freiheitskämpfer, von denen jeder in dem Gefecht bei Sculeni eine Schar anführte. Hospodar – Titel der ehemaligen Fürsten in der Moldau und Walachei. Delibaschen – Angehörige der leichten türkischen Reiterei, die als besonders verwegen galten. Puschkin schrieb 1829 ein Gedicht mit dem Titel „Delibasch“. Chortschewskij – Der Major des Ochotskij-Infanterieregiments hieß in Wirklichkeit Kartschewskij, nicht Chortschewskij. 295 Nekrassa-Kosaken – Nachkommen russischer Kosaken, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nach der Niederwerfung eines großen Aufstandes, an dem sie sich unter Führung ihres Atamans, Ignat Nekrassa, beteiligt hatten, in die damals unter türkischer Oberhoheit stehende Dobrudscha emigriert waren. 296 Beschlyk – Türkische Silbermünze. Ein Mann von Herz und Verstand … – Gemeint ist M. I. Lex (1793–1856), ein Beamter aus der Kanzlei des Generals Insow. Er diente im Jahre 1834 in Petersburg und bekleidete den Posten eines Kanzleidirektors im Ministerium des Innern. 297 Dolman – Türkischer Rock mit Knöpfen auf der Brust und engen Ärmeln. 298 Gaida! – (russ. Lehnwort aus dem Tatarischen) Los! 299 Galbine – Moldauische Bezeichnung für die Goldmünze. 300 Lew – Bulgarische Währungseinheit.
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Ägyptische Nächte
Die unvollendete Erzählung „Ägyptische Nächte“ entstand aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst 1835 in Michailowskoje. Sie erschien 1837 postum im achten Band des „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse). Als Vorstudie muß das Fragment einer gleichfalls 1835 entworfenen und nach ihrem Anfangssatz benannten Erzählung „Wir verbrachten den Abend im Landhaus …“ angesehen werden. Im Manuskript des Dichters fehlen die Verseinlagen; sie wurden nachträglich redaktionell eingefügt. So stellt die Improvisation des Italieners im zweiten Kapitel die Bearbeitung einer Strophe aus dem Fragment des Poems „Jeserskij“ (1832 bis 1833) und die im dritten Kapitel eine Schöpfung Puschkins aus dem Jahre 1828 dar. Der Gestalt des Tscharskij hat Puschkin einige autobiographische Züge verliehen. Im Mittelpunkt der Erzählung sollte die Gestalt einer Dame aus der Petersburger höheren Gesellschaft stehen. Ohne daß Genaueres über den weiteren Handlungsverlauf bekannt wäre, kann u. a. auf Grund des Fragments „Wir verbrachten den Abend im Landhaus …“ vermutet werden, daß Puschkin das in der Improvisation im dritten Kapitel behandelte Kleopatramotiv in modifizierter Form als Hauptkonflikt seiner Erzählung aus dem zeitgenössischen Leben geplant hatte. So war denn als Heldin eine stolze und unabhängige Frau gedacht, die um ihrer leidenschaftlichen Gefühle willen mit den Vorurteilen der gesellschaftlichen Konvention bricht. In den ausgeführten ersten drei Kapiteln steht jedoch nicht diese Thematik im Vordergrund, sondern die Frage nach dem Wesen der künstlerischen Inspiration und nach der Berufung des Künstlers. Die erste deutsche Übersetzung der „Ägyptischen Nächte“ wurde 1855 von Friedrich Bodenstedt im dritten Band seiner Puschkin-Ausgabe herausgegeben. Die in der vorliegenden Ausgabe enthaltene Übersetzung W. E. Groegers fand die hohe Anerkennung Thomas Manns (Süddeutsche Monatshefte, Februar 1921).
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303 „Quel est cet homme?“ … – (franz.) „Was ist das für ein Mann?“ – „Oh, das ist ein großes Talent, er macht aus seiner Stimme, was er will.“ – „Er täte gut daran, Madame, sich eine Hose daraus zu machen.“ (Das Motto ist einem französischen Buch der Wortspiele aus dem 18. Jahrhundert entnommen.) 304 Englisches Magazin – Ein seinerzeit modernes Geschäft in Petersburg, das die verschiedensten Waren führte. raffinierter Gastronom – raffinierter Feinschmecker. 305 Resanowsches Gefrorenes – Im damaligen Petersburg war die Konditorei Resanow sehr bekannt. 306 Signore … Lei voglia perdonarmi se … – (ital.) Mein Herr … Verzeihen Sie mir bitte, wenn … Signore … ho creduto … ho sentito … la Vostra Eccellenza mi perdonera … – (ital.) Mein Herr … ich dachte … ich meinte … Exzellenz, verzeihen Sie mir … 309 Ich Zar, ich Knecht, ich Wurm, ich Gott – Verszeile aus G. R. Dershawins berühmter Ode „Gott“ (1784). Corpo di Bacco! – (ital.) Hol’s der Teufel! 311 Wie sieht der Bildhauer in einem Stück Carrara-Marmor den darin verborgenen Jupiter … – Diese Worte des Improvisators gründen sich auf ein Sonett von Michelangelo. – Die mittelitalienische Stadt Carrara ist durch ihre Marmorbrüche berühmt. la signora Catalani – (ital.) Frau Catalani. Gemeint ist Angelica Catalani (1780–1849), eine berühmte italienische Koloratursängerin, die 1820 in Petersburg gastierte. 314 „Tankred“ – Eine Oper von Gioacchino Rossini (1792–1868); sie entstand im Jahre 1813 und wurde 1834/35 in Petersburg gegeben. 315 Die Familie der Cenci – Eine reiche italienische Aristokratenfamilie im 16. Jahrhundert; ihr Oberhaupt, Francesco Cenci, wurde 1598 auf Betreiben seiner Tochter Beatrice, seines Sohnes und seiner Frau, der Stiefmutter der genannten Geschwister, ermordet. Obwohl sich bei dem Prozeß herausstellte, daß die Tat durch die Verbrechen des verderbten Francesco Cenci hervorgerufen war – er hatte seine Familienangehörigen mißhandelt und sich an seiner Tochter vergangen –, wurden Beatrice und ihre Stiefmutter gemäß einem Beschluß des päpstlichen Gerichts hingerichtet. Die Geschichte der Cencis bildete den Stoff für ein Drama Shelleys (1819) und für eine 1833 in Paris aufgeführte Tragödie von Custine.
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315 L’ ultimo giorno di Pompei – (ital.) Der letzte Tag Pompejis. Diesen Titel trug ein Gemälde des russischen Malers Karl Pawlowitsch Brüllow (1799–1852), das 1834 in Petersburg ausgestellt wurde und großen Beifall fand. Puschkin wurde durch dieses Bild zu einem Gedicht angeregt. Cleopatra e i suoi amanti – (ital.) Kleopatra und ihre Liebhaber. La primauera veduta da una prigione – (ital.) Der Frühling, aus dem Gefängnis gesehen. Zur Nennung dieses Themas bot das 1832 erschienene Buch „Meine Gefängnisse” des italienischen Schriftstellers Silvio Pellico (1789–1854) Anlaß, in dem dieser die Zeit beschreibt, die er als politischer Gefangener in österreichischer Haft verbrachte. Il trionfo di Tasso – (ital.) Der Triumph Tassos. Der italienische Dichter Torquato Tasso starb kurz vor dem ihm zugedachten Triumph, der Krönung mit dem Lorbeerkranz. In der russischen Literatur ist das tragische Schicksal Tassos 1817 in der Elegie „Der sterbende Tasso” von K. N. Batjuschkow dargestellt worden. Das Interesse, das dem Thema an dieser Stelle entgegengebracht wird, ist möglicherweise auf die Aufführung des Schauspiels „Torquato Tasso“ von N. W. Kukolnik 1833 in Petersburg zurückzuführen. 316 perche la grande regina aveva molto – (ital.) denn die große Königin hatte ihrer viele. Aurelius Victor – Römischer Geschichtsschreiber (4. Jh. u. Z.).
Die Hauptmannstochter
An seinem letzten großen Prosawerk, dem historischen Roman „Die Hauptmannstochter“, der 1836 im vierten Band des „Sowremennik“ (Der Zeitgenosse) erschien, schrieb Puschkin mehr als dreieinhalb Jahre. Der erste Entwurf entstand im Januar 1833, zu einer Zeit also, da die Arbeit am „Dubrowskij“ noch nicht abgeschlossen war. Eine Reihe weiterer Entwürfe zeugt von der komplizierten Entstehungsgeschichte des Romans. Im Zusammenhang mit seinen Studien über den Pugatschow-Aufstand (1773–1775) fesselte den Dichter die Person eines Adligen namens Schwanwitsch, der auf die Seite der Aufständischen übergetreten war und im Kriegskollegium Pugatschows als Übersetzer diente. Nach der Niederlage der Aufständischen wurde Schwanwitsch verhaftet und vor ein Gericht gestellt, das ihm die Adelsrechte sowie den Offiziersrang absprach und ihn nach Sibirien verbannte. Die Milde des Urteils erklärt sich durch das persönliche Eingreifen Katharinas II., an die sich der Vater des Schwanwitsch mit einem Bittgesuch gewandt hatte. Erst in der letzten Phase der Arbeit am Roman teilte sich der Held in zwei Gestalten, und zwar in eine positive (Grinjow) und eine negative (Schwabrin). Aus der Endfassung nahm Puschkin, vermutlich aus Zensurgründen, ein ganzes Kapitel heraus, in dem u. a. ein Bauernaufstand auf dem väterlichen Gut Grinjows geschildert wird. Dieses „Ausgelassene Kapitel“, wie Puschkin es selbst nannte, erschien erstmalig 1880 in der Zeitschrift „Russkij archiv“ (Russisches Archiv). Auch eine Überarbeitung des bereits fertiggestellten elften Kapitels dürfte unter dem Zwang der Zensurverhältnisse erfolgt sein: In der ursprünglichen Fassung – sie ist erhalten – begibt sich Grinjow freiwillig in das Hauptquartier Pugatschows, um dessen Hilfe zu erbitten. Neben schriftlichen Quellen waren es vor allem mündliche Überlieferungen, aus denen Puschkin seine bis ins Detail reichende Kenntnis des Pugatschow-Aufstandes schöpfte. Im Jahre 1833 unternahm er eine aus-
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gedehnte Reise nach Kasan und Orenburg – Gebiete, die seinerzeit vom Aufstand erfaßt waren. Als wissenschaftliche Frucht seiner Studien erschien 1834 „Die Geschichte Pugatschows“. Dieses historische Werk wurde 1840 von H. Brandeis in deutscher Übersetzung herausgegeben und regte Karl Gutzkow zu seinem Drama „Pugatscheff“ (1843) an. Die imponierende Gestalt des großen Bauernführers tritt uns als eigentlicher Held auch in der „Hauptmannstochter“ entgegen. Puschkin gelang es, in der „Hauptmannstochter“ die Gattung der Familienchronik (Grinjow-Handlung) mit der Gattung des historischen Romans (Pugatschow-Handlung) zu einer künstlerisch überzeugenden Einheit zu verschmelzen. Belinskij nannte die „Hauptmannstochter“ – auf Puschkins Hauptwerk anspielend – „einen ‚Onegin‘ in Prosa“. Viele Bilder seien der Treue und Wahrhaftigkeit des Inhalts sowie der Meisterschaft der Schilderung nach ein Wunder der Vollkommenheit. Dem deutschen Leser wurde der historische Roman Puschkins 1848 gleich in zwei Übersetzungen zugänglich. Die eine gab Gottlob Trobst in Jena heraus, die andere Wilhelm Wolfsohn in Leipzig (im ersten Teil seiner Sammlung „Rußlands Novellendichter“). 323 Knjashnin – Jakow Borissowitsch Knjashnin (1742–1791), russischer Dramatiker. Das Motto ist seiner Komödie „Der Prahler“ (1786) entnommen. Graf Münnich – Burkhard Christoph Münnich (1683–1767), Generalfeldmarschall in der russischen Armee, der Nationalität nach Deutscher; spielte in der Innen- und Außenpolitik Rußlands um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine aktive Rolle; war 1735 bis 1739 Oberkommandierender im Russisch-Türkischen Krieg; von 1742 bis 1762 lebte er in der Verbannung. Premiermajor – Offiziersdienstgrad in der russischen Armee des 18. Jahrhunderts; entsprach dem Rang eines Oberstleutnants. Semjonowskij-Regiment – Ein von Peter I. gegründetes Garderegiment. 324 pour être outchitel – (franz. u. russ.) um Lehrer zu werden. 325 „Hofkalender“ – Der jährlich (seit 1745) erscheinende „Hofkalender“ enthielt unter anderem ein Verzeichnis der Hofchargen und der Personen, die Auszeichnungen erhalten hatten. 326 Ritter beider russischer Orden – Bezeichnung für einen Träger der beiden höchsten Orden des damaligen Rußlands. 327 Orenburg – Stadt am Uralfluß.
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Queue – (franz.) Billardstock. Markör – Spielwärter beim Billard. Nolens volens – (lat.) wohl oder übel Kwaß – (russ.) Schwach alkoholisches Erfrischungsgetränk, in der Regel aus Roggenbrotbrei durch Gärung gewonnen. shö wu pri – (gebrochenes Französisch) ich bitte Sie. der für mein Wohl und Geld und Wäsche Sorge trug – Zitat aus dem Gedicht D. I. Fonwisins „Sendschreiben an meine Diener“ (1763–1766). 337 Jaïkkosak – Am Ufer des Flusses Jaïk ansässige Kosaken. Nach dem Pugatschow-Aufstand, an dem die Jaïkkosaken bedeutenden Anteil hatten, erhielt der Jaïk den Namen Ural und die Jaïkkosaken wurden entsprechend in Uralkosaken umbenannt. 338 Aufruhr von 1772 – Nachdem die Autonomie der Jaïkkosaken immer mehr eingeschränkt worden war, traten diese, insbesondere die ärmeren unter ihnen, 1772 in den offenen Aufstand. Die grausame Niederwerfung des Aufstands und die Repressalien, denen die Jaïkkosaken danach von Seiten der Regierung ausgesetzt waren, bereiteten den Boden für den Pugatschow-Aufstand, der seinen Ausgang vom Gebiet der Jaïkkosaken nahm. 339 Poltina – Halber Rubel, Fünfzigkopekenstück. 340 Anna Iwanowna – Anna Iwanowna (1693–1740), russische Zarin seit 1730. 341 Kirgisensteppe – Gemeint ist das von Kasachen besiedelte Gebiet östlich vom Uralfluß. Die Kasachen wurden zu jener Zeit fälschlich Kirgisen genannt. 342 Der Landjunker – Vgl. Anmerkung zu S. 49; das Motto ist der fünften Szene im dritten Akt entnommen. 343 Einnahme von Küstrin und Otschakow – Küstrin wurde während des Siebenjährigen Krieges von russischen Truppen erfolglos belagert. Die türkische Festung Otschakow fiel 1737 in russische Hände. Begräbnis des Katers – Ein sehr populärer, mit satirischem Text versehener Holzschnitt des 18. Jahrhunderts. Urjadnik – Kosakenunteroffizier. 349 Wenn du’s nicht anders willst … – Diese Mottoverse sind ein leicht verändertes Zitat aus Knjashnins Komödie „Die Sonderlinge“ (1793); 4. Akt, 12. Szene. 350 Alexander Petrowitsch Sumarokow – Vgl. die 4. Anmerkung zu S. 144. 328 329 330
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350 Ach, verzehrt von Liebesleide … – Leicht verändertes Zitat aus einer Romanze, die in einer beliebten russischen Liedersammlung des ausgehenden 18. Jahrhunderts enthalten ist. 351 Trediakowskij – Wassilij Kirillowitsch Trediakowskij (1703 bis 1769), russischer Gelehrter und klassizistischer Dichter; erwarb sich als Philologe Verdienste bei der Schaffung der ersten russischen Verstheorie; seine eigenen Dichtungen jedoch erregten wegen ihrer Schwerfälligkeit bei seinen Zeitgenossen Spott. 354 Hauptmannstochter, hab acht … – Ein russisches Volkslied. 365 Werschok – Altes russisches Längenmaß, 4,4 cm. 368 der aus dem Arrest entflohene Donkosak und Raskolnik Jemeljan Pugatschow – Pugatschow war 1770 aus dem Krieg gegen die Türkei krank an den Don heimgekehrt. Nach seiner Gesundung meldete er sich nicht wieder bei seiner Einheit; er wurde hierauf zweimal festgenommen, es gelang ihm aber beide Male zu fliehen. Nachdem er sich eine Zeitlang in einer Altgläubigensiedlung jenseits der polnischen Grenze aufgehalten hatte, kam er mit falschem Paß nach Rußland zurück. 1772 wurde er wegen aufrührerischer Reden vor den Jaïkkosaken abermals verhaftet; noch vor der Urteilssprechung brach er jedoch in Kasan erneut aus der Haft aus. Namen des hochseligen Kaisers Peter III. – Der russische Zar Peter III. war nach halbjähriger Herrschaft 1762 durch eine Palastrevolution gestürzt und kurz darauf ermordet worden. Im Volk aber gingen Gerüchte um, daß er noch am Leben sei und die Lage der Bauern erleichtern wolle. Indem sich Pugatschow für Peter III. ausgab, trug er dem naiven Glauben der bäuerlichen Massen an einen „guten“ Zaren Rechnung und sicherte sich ihre Gefolgschaft. 374 im Jahre 1741 bestrafte Aufrührer – Das Volk der Baschkiren hatte sich 1735 bis 1740 gegen die absolutistische Zentralgewalt erhoben; bei der Niederwerfung des Aufstandes gingen die zaristischen Truppen mit großer Grausamkeit vor; den Hauptbeteiligten wurden Nase und Ohren abgeschnitten. Jakschi! – (tat.) gut! 375 Unter der milden Herrschaft des Zaren Alexander – Alexander I. (1777–1825), russischer Zar seit 1801. Die erste Etappe der Herrschaft Alexanders I. war durch liberale Tendenzen gekennzeichnet. 376 Sukkurs – Hilfe, Verstärkung. 380 Bataille – Schlacht. Saidak – Bogen und Pfeile.
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383 Zar Pjotr Fjodorowitsch – Gemeint ist Peter III. (vgl. die 2. Anmerkung zu S. 368). 391 Tschumakow – Fjodor Tschumakow. Jaïkkosak, Befehlshaber der Artillerie Pugatschows. Er gehörte später zu denjenigen, die Pugatschow den Behörden auslieferten und dafür straffrei ausgingen. Rausche nicht, Väterchen, du grüner Eichenwald … – Vgl. Anmerkung zu S. 252. 393 Grischka Otrepjew – Grigorij Otrepjew, der falsche Demetrius I., ein Mönch, der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts für den bereits seit langem toten Zarewitsch Dimitrij (Demetrius) ausgab und mit Unterstützung der polnischen Interventen vorübergehend die Zarenmacht an sich reißen konnte. 395 Cheraskow – Michail Matwejewitsch Cheraskow (1733–1807), russischer Schriftsteller. Das Motto ist seinem Gedicht „Trennung“ entnommen. 396 Meine hellen Augen können hier nichts entziffern – Pugatschow konnte weder lesen noch schreiben. 401 Nachdem er Feld und Berg mit seinem Heer besetzt – Zitat aus Cheraskows klassizistischem Epos „Rossiade“ (1779). 407 Lisaweta Charlowa – Tochter des Kommandanten der Festung Tatischtschewa und Frau des Kommandanten der Festung Nishneosernaja. Nachdem beide Festungen in die Hand Pugatschows gefallen waren, wurden der Vater, die Mutter und der Mann der Charlowa hingerichtet; sie selbst wurde die Konkubine Pugatschows. Die Vertrauten Pugatschows fürchteten ihren Einfluß und setzten durch, daß auch sie getötet wurde. 410 Der sonst so grimmige Leu war an dem Tage satt. – Diese Mottoverse, die Puschkin Sumarokow zuschreibt, sind in Wirklichkeit von ihm selbst im Stile Sumarokows verfaßt. 414 Beloborodow – Iwan Naumowitsch Beloborodow, einer der engsten Mitkämpfer Pugatschows. Beloborodow hatte bei der Artillerie gedient, er leitete die Operationen der Aufständischen am mittleren Lauf des Ural; 1774 wurde er in Moskau hingerichtet. Afanassij Sokolow (genannt Chlopuscha) – Afanassij Sokolow, der sich 1773 als Häftling im Orenburger Gefängnis befunden hatte, war vom Orenburger Kommandanten zu den Aufständischen geschickt worden, um unter ihnen Aufrufe zu verteilen; er ging unverzüglich zu Pugatschow über und wurde einer seiner wichtigsten Helfer.
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419 Schlacht bei Jusejewa – Bei Jusejewa, einem Dorf, hundertzwanzig Werst von Orenburg entfernt, erlitten die Regierungstruppen, die Orenburg entsetzen sollten, am 9. November 1773 eine schwere Niederlage durch die Aufständischen. 420 Fjodor Fjodorowitsch – Gemeint ist Friedrich II., 1740 bis 1786 König von Preußen. 422 Epitaph – Grabschrift, Erinnerungsmal. 430 Verzeihen Sie, mein Herr … – Das Motto ist von Puschkin selbst im Stil der Komödien Knjashnins verfaßt. 433 Detachement – Truppenabteilung für besondere Aufgaben. 435 Bald darauf schlug der Fürst Golizyn den Pugatschow bei der Festung Tatischtschewa … – Diese Schlacht fand am 22. März 1774 statt. 436 Iwan Iwanowitsch Michelson – Oberst bei den gegen Pugatschow eingesetzten Regierungstruppen, hatte maßgeblichen Anteil an der Niederwerfung des Aufstandes. Jemelja – Pugatschows Vorname war Jemeljan. Jemelja ist Kosename, Jemelka dagegen drückt Verachtung aus. 443 Wolynskij – Artemij Petrowitsch Wolynskij (1689–1740), Minister in der Regierung der Zarin Anna Iwanowna; vereinte um sich einen bedeutenden Teil des russischen Adels, der in Opposition zur antinationalen Politik des Favoriten der Zarin, Biron, stand; er wurde zusammen mit seinem Freund A. F. Chruschtschow 1740 hingerichtet. 444 Sofija – Kleiner Ort und Poststation nicht weit von Zarskoje Selo (dem heutigen Puschkin). 445 Graf Pjotr Alexandrowitsch Rumjanzew – Pjotr Alexandrowitsch Rumjanzew-Sadunaiskij (1725–1796), Feldmarschall, einer der erfolgreichsten russischen Heerführer des 18. Jahrhunderts. 460 Eliastag – 20. Juli (alten Stils).
Inhalt
Der Mohr Peters des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin . . . . 49 Vom Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Der Schuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Der Schneesturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Der Sargmacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Der Postmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das Adelsfräulein als Bäuerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino . . . . . . . . . . . . . . . 129 Roslawlew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Dubrowskij . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Pique Dame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kirdshali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Ägyptische Nächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Die Hauptmannstochter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Der Sergeant der Garde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Der Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Die Festung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Der Zweikampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Der Pugatschow-Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Der Angriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Der ungebetene Gast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Die Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Die Belagerung der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Das Rebellendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Die Waise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Die Gefangennahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Das ausgelassene Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Der Mohr Peters des Großen Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino Roslawlew · Dubrowskij · Pique Dame · Kirdshali Deutsch von
Michael Pfeiffer Ägyptische Nächte Deutsch von
Wolfgang E. Groeger Die Hauptmannstochter Deutsch von
Arthur Luther
Alle Rechte vorbehalten Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 2. Auflage 1966 Printed in Germany · Lizenz-Nr. 301. 120/277/66 Einband und Schutzumschlag Heinz Hellmis Satz: VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig III/18/38 Druck: Druckhaus „Maxim Gorki“ Altenburg
Alexander Sergejewitsch Puschkin Gesammelte Werke in sechs Bänden Band 1 Gedichte Band 2 Poeme und Märchen Band 3 Eugen Onegin / Dramen Band 4 Romane und Novellen Band 5 Aufsätze
und Tagebücher
Band 6 Briefe