Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 9
Rettet die Salter! Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch!
HJB®
Rettet die Salter! von UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 1 bis 6) CONRAD SHEPHERD (Kapitel 7 bis 11) JO ZYBELL (Kapitel 12 bis 16) ACHIM MEHNERT (Kapitel 17 bis 21) und HAJO F. BREUER (Expose)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31‐35 48 32 Fax:0 26 31‐35 61 02 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion © 2005 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐12‐X
Der Bitwar-Zyklus Langsam lüftet sich das größte Geheimnis des gnadenlosen Robotervolkes, das die Menschheit in den Untergang treiben will: In einer riesigen Anlage auf ihrem Zentralplaneten Eins halten die Maschinen tausende Salter gefangen, betäubt und künstlich am Leben erhalten – Salter, die ersten Menschen von der Erde, die bisher als ausgestorben galten! Und so kann es für Ren Dhark nur ein Ziel geben. Es heißt: Rettet die Salter! Uwe Helmut Grave, Achim Mehnert, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen spannungsgeladenen SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Eine Serie wie REN DHARK lebt von Überraschungen. Man muß die Erwartungshaltung der Leser immer wieder durchbrechen, wenn eine so komplexe Geschichte wie die über den Weg eines jungen Raumfahrers zu den Sternen auf Dauer spannend bleiben soll. Eine der großen Überraschungen der letzten Zeit war die Enthül‐ lung des Geheimnisses von Arc Doorn, auf die ich mich seit den Tagen gefreut hatte, als ich die Steuerung der Serie im Jahr 1999 übernahm. Wer mich kennt, weiß, daß ich mein Herz meist auf der Zunge trage und daß es mir mehr als nur schwerfällt, eine solche Überraschung für mich zu behalten. Es war, als sei eine Last von mir abgefallen, als ich Doorns Ge‐ heimnis nicht nur endlich in die Serie einbauen konnte, sondern gleich auch noch einen Sechsteiler über ihn konzipieren durfte, der unter dem Titel DER MYSTERIOUS mittlerweile komplett vorliegt. Ähnlich verhielt es sich mit den Saltern, jenem von den Worgun genetisch manipulierten Volk von der Erde, das von den auch als »Mysterious« bekannten Gestaltwandlern einst zu ihrem wichtigsten Hilfsvolk in der Galaxis gemacht worden war. Doch nach dem Rückzug der Mysterious begingen die Salter einen massiven Fehler. Mittels des pollyden Arso‐Verfahrens wollten sie sich gegen den ansteigenden Strahlungspegel in der Galaxis immu‐ nisieren – und verurteilten ihr Volk damit zum Tode. So jedenfalls berichtete Olan, der letzte Anführer der Salter, noch kurz vor seinem Tod – und Ren Dhark hatte bisher keinen Grund, an Olans Worten zu zweifeln. Mit der Entdeckung der Salter auf der Roboterwelt Eins allerdings scheint nun auch noch Olans letzte Lüge entlarvt: Mehrere tausend dieser Vorfahren der Menschen existieren noch. Sie sind zwar hilf‐ lose Gefangene des Volkes, aber sie leben! Was diese erneute Wen‐ dung für Ren Dhark und das Schicksal der Erde bedeutet, muß sich
allerdings erst noch zeigen. Ich würde an dieser Stelle ja wirklich gerne etwas verraten, aber manchmal ist Schweigen tatsächlich Gold… Und deshalb werde ich auch nichts über die Ergebnisse der Auto‐ renkonferenz berichten, von der ich soeben zurückgekommen bin. Die Überraschungen, die sich unser Team aus diesem Anlaß ausge‐ dacht hat, haben selbst mich verblüfft. Ich sage nur soviel: REN DHARK wird noch spannender – falls das überhaupt noch geht. Einen Bericht über die Autorenkonferenz finden Sie auf unserer Homepage unter www.ren‐dhark.de im Internet. Einen Besuch hier kann ich immer wieder nur empfehlen: Er lohnt sich! Lohnend ist garantiert auch die Lektüre des folgenden Romans, von der ich Sie nun nicht länger abhalten will. Begleiten Sie deshalb Ren Dhark auf seiner neusten Mission unter dem Motto: Rettet die Salter! Giesenkirchen, im Oktober 2005 Hajo F. Breuer
Prolog Ende des Jahres 2062 scheint das Ende der Menschheit – oder zumindest das Ende ihres Heimatplaneten Terra und des Sonnensystems – unaus‐ weichlich. Ein bisher unbekanntes Volk offenbar intelligenter Roboter hat terranische Kolonien angegriffen und unprovoziert einen Krieg mit Terra vom Zaun gebrochen. Stärkste Waffe der Roboter, die sich selbst »das Volk« nennen und alle Lebewesen abschätzig als »Biomüll« bezeichnen, sind modifizierte Ge‐ schütze der Worgun: Die Energie eines herkömmlichen Nadelstrahlers wird auf wenige Nanometer konzentriert und erreicht somit eine Kraft, die sogar in der Lage ist, Raumschiffshüllen aus Unitall einzudrücken! Doch diese »Kompri‐Nadel« genannte Waffe ist harmlos im Vergleich zu dem, was die Roboter sonst noch zustande bringen! Mit einer bislang völlig unbekannten Technik ist es ihnen gelungen, die Sonne zum Untergang zu verdammen! Von einer heimlich im Nachbar‐ system Proxima Centauri errichteten Station aus haben sie es offenbar ge‐ schafft, ein winziges Schwarzes Loch im Zentrum unserer Sonne zu pla‐ zieren. Gegenstück ist ein kleines Weißes Loch im Inneren von Proxima Centauri. Und so fließt immer mehr Masse aus unserer Sonne ab und läßt den einst trüben Nachbarstern regelrecht aufblühen, während Sol immer mehr an Kraft verliert. Der Winter, der im November 2062 anbricht, könnte der letzte sein, den die Erde erlebt – der ewige. Und als wäre das nicht schon genug, fliegen die Roboter einen Großangriff auf Terra. Der kann erst im letzten Augenblick abgewehrt werden, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung durch neuartige Kampfraum‐ schiffe des Planeten Eden, auf dem sich der Großindustrielle Terence Wallis selbständig gemacht hat. Eden verbündet sich mit der Erde, um die weitere Manipulation der Sonne zu verhindern und eingetretene Schäden möglichst rückgängig zu machen. Bei einem koordinierten Großangriff auf das System Proxima Centauri kann
die Station zur Sonnenmanipulation vernichtet werden. Doch es ist schon zu spät: Der Prozeß hat sich verselbständigt. Immer mehr Energie fließt aus der Sonne ab, die bald nur noch ein verlöschender Stern sein wird… Die Verantwortlichen der Erde wissen nach wie vor nicht, weshalb die Roboter Terra überhaupt den Krieg erklärt haben. Also wird ein Stoß‐ truppunternehmen aus Soldaten der Schwarzen Garde und einigen Cyborgs in Marsch gesetzt, um Eins, den Heimatplaneten des »Volkes«, zu erkun‐ den. Dabei stößt man auf das »Heiligtum« der Roboter, in dem man wider Erwarten nicht nur einige Grakos findet, sondern auch eine riesige Halle, in der mehrere tausend Salter in Tanks mit Nährflüssigkeit schlafen…
1. Kuan Singut schaute zu seinem Freund Jedai, der unablässig aus dem Fenster sah und nervös den Eingang des gegenüberliegenden Hauses beobachtete. Draußen regnete es. Hier, im derzeit leerstehenden Haus seiner Nachbarn, fühlte sich Jedai vor Muhsas Häschern einigermaßen sicher – insbesondere vor dem gefürchteten Meuchelmörder Thu‐Kem, der nur auf direkten Befehl von Achmed bin Muhsa aktiv wurde, wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Außer dem Anführer selbst wußte innerhalb der Organisation »Helden des Dschihad« niemand, wer sich hinter dem Decknamen Thu‐Kem verbarg. Gerüchten zufolge war der gedungene Mörder irgendein unauffälliges Mitglied der Organisation, das sich nach außen hin noch nie besonders hervorgetan hatte. Wenn man seine wahre Identität erfuhr, so hieß es, war es bereits zu spät… »Ich begreife nicht, wie mich Muhsa derart mißverstehen konnte«, sagte Jedai, und in seiner Stimme schwangen Furcht und Verzweif‐ lung mit. »Ich hatte niemals vor, mich gegen ihn zu stellen. Ganz im Gegenteil, mein Name stand ganz oben auf der Liste der Freiwilli‐ gen, die sich für die Kaperung der fünf Ovoid‐Ringraumer gemeldet hatten. Mehr noch: Ich hatte mich sogar bereiterklärt, bei der Ers‐ türmung der POINT OF mit dabei zu sein. Doch dann entzog mir unser Anführer das Vertrauen.« »Ich kann seine Handlungsweise gut verstehen«, entgegnete Kuan Singut und ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Du hast ihn schwer gekränkt. Ihm vorzuhalten, er würde die Heilige Schrift, den Koran, falsch interpretieren, war eine üble Beleidigung. Genau so gut hättest du ihm ins Gesicht spucken können.« »Ich habe ihn lediglich auf die Aussagen von islamischen Sprach‐ gelehrten hingewiesen, laut denen es grundverkehrt ist, den Begriff ›Dschihad‹ mit ›Heiliger Krieg‹ gleichzusetzen«, rechtfertigte sich
Jedai. »Es geht beim Dschihad nicht um das Führen weltlicher Kriege gegen Andersdenkende, sondern um die Anstrengung, die man im Kampf gegen die eigenen Fehler und schlechten Eigenschaften auf‐ wenden sollte. Krieg ist aus islamischer Sicht nie heilig.« »Du redest wirres Zeug, mein Freund«, meinte Singut, der jetzt dicht hinter ihm stand. »Bisher warst du ein treuer Gefolgsmann, stets bereit, für unsere Sache zu kämpfen. Wieso verhältst du dich jetzt wie ein Abtrünniger?« »Das tu ich doch gar nicht!« widersprach Jedai energisch, ohne sich umzudrehen. »Ich nehme mir lediglich das Recht heraus, frei meine Meinung zu äußern. Ob es Muhsa nun paßt oder nicht: Der Koran verlangt nicht von uns, den Dschihad als Mittel zur gewaltsamen Verbreitung des Islam und zur Bekehrung der Ungläubigen anzu‐ wenden. Unter dem Deckmantel des Dschihad geführte, angeblich religiöse Kriege sind nicht im Sinne unseres Glaubens. Es stand uns daher nicht zu, eine Massenpanik auf der Erde zu verursachen. Viele Tausende werden sterben; ihr Blut klebt an unseren Händen. Das hätte unser Prophet Mohammed niemals gewollt.« »Mein koranisches Verständnis ist ein anderes«, erwiderte Kuan Singut eisig. »Hast du überhaupt ein eigenes?« stellte Jedai ihm die Gewissens‐ frage. »Oder plapperst du nur wie ein Papagei alles nach, was dir Muhsa in seiner Verblendung vorbetet? Würden alle ›Helden des Dschihad‹ den Koran genauer lesen, hätte er mit seiner ständigen Hetze gegen…« Weiter kam er nicht. Als sich Singuts malaiischer Dolch von hinten durch sein Herz bohrte, schoß ein Schwall Blut aus Jedais Mund und klatschte gegen die regentropfenverhangene Fensterscheibe. Sein Übergang vom Leben in den Tod dauerte nicht einmal drei Sekunden. Kuan alias Thu‐Kem betätigte einen kleinen Hebel am Griff seiner Waffe. Daraufhin löste sich die gewellte zweischneidige Klinge und blieb im Herz des Opfers stecken. Bin Muhsa hatte ihm diesen Spe‐
zialdolch einst geschenkt – er selbst trug ebenfalls einen Kris unter seinem Gewand. Das Verbleiben der Klinge im Körper des Toten war für Kuan so etwas wie das Zurücklassen einer schaurigen Visi‐ tenkarte: »Thu‐Kem war hier! So ergeht es jedem, der sich gegen meinen Herrn stellt.« Als Kuan Singut aus dem Haus trat, ließ der Regen etwas nach. Es war ungewöhnlich kalt in dieser Region, was mit der allmählich verlöschenden Sonne zusammenhing. Die Sonne starb. Und mit ihr die Erde und der Rest des terranischen Sonnensystems. Achmed bin Muhsa und seine Gefolgsleute brauchten sich davor jedoch nicht zu fürchten. Ihre Flucht ins All war bereits in vollem Gange – auf dem Raumflughafen von Djakarta. Indonesien bestand aus 13.600 Inseln, die vor der Gründung der Weltregierung einen eigenen Staat gebildet hatten. Mittlerweile fühlten sich auch Malaysia und die Philippinen dieser Region zu‐ gehörig, sie war in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu‐ sammengewachsen. Sogar Chinesen und Inder hatten sich hier in‐ zwischen niedergelassen. Die verschiedenen Glaubensrichtungen stellten mitunter zwar ein Problem dar, doch im großen und ganzen kamen die Bewohner dieses riesigen Gebietes gut miteinander zu‐ recht. Leider schafften es Fanatiker wie Achmed bin Muhsa immer wie‐ der, alte Vorurteile wachzuhalten beziehungsweise beigelegte Konf‐ likte neu zu entfachen. Für ihn und seine verblendete Anhänger‐ schaft galt jeder Andersgläubige als ein Feind des Islam – und Feinde mußte man mit allen nur erdenklichen Mitteln bekämpfen. Kuan Singut sah das genauso. Jedai war sein Freund gewesen, doch Muhsas Befehl hatte einen höheren Stellenwert als Freund‐ schaft. Thu‐Kem befolgte die Anweisungen seines sechzigjährigen Herrn blind. Muhsa hatte ihn einst in die Organisation aufgenommen, als es ihm furchtbar dreckig gegangen war und ihm niemand anderer hatte helfen wollen. Dafür war er ihm auf ewig dankbar, bis in den
Tod. Gewissensbisse wegen des Mordes an seinem Freund plagten Singut nicht. Nur Schwächlinge hatten ein Gewissen – und er war keiner. * »Gewissensbisse?« Frank Koschmer grinste und streckte die Beine unter seinem Schreibtisch aus. »Nur Schwächlinge haben ein Ge‐ wissen. Sind Sie ein Schwächling, West?« »Selbstverständlich nicht, Herr Minister«, versicherte Jo West ihm eilfertig. »Gut so, West, gut so«, erwiderte Koschmer in dem für ihn typi‐ schen gönnerhaften Tonfall. »Ich ertrage nämlich keine Schwächlin‐ ge in meiner Nähe. Hätte ich nicht beizeiten gelernt, mich durchzu‐ setzen und von meinen Ellbogen Gebrauch zu machen, hätte ich nie diesen Posten bekommen. Dann würde jetzt Jacques Tristo auf mei‐ nen Stuhl sitzen.« Koschmer war Mitglied der in Alamo Gordo ansässigen Weltre‐ gierung, in der Funktion des Ministers für innere Angelegenheiten. Seit Achmed bin Muhsa über Intermedia den bevorstehenden Un‐ tergang der Erde verkündet hatte, hatte der Minister alle Hände voll zu tun. Das Militär war vollauf damit beschäftigt, die Raumflughäfen ge‐ gen den Ansturm der in Panik geratenen Bevölkerung zu sichern. Somit mußte die Polizei mit dem Chaos in den Städten allein fertig werden. Insbesondere die gewaltsamen Plünderungen machten den Beamten auf der Straße schwer zu schaffen. Die Hauptverantwor‐ tung für die Einsätze lag bei den jeweiligen Polizeipräsidenten. Sie postierten ihre Truppen dort, wo sie es für am effektivsten hielten. In der Umgebung von Alamo Gordo hatten sich viele größere Un‐ ternehmen angesiedelt, die über eigene Sicherheitskräfte verfügten oder ihre Anlagen von professionellen Sicherheitsdiensten bewachen
ließen. Aus diesem Grund wurden sie von der personell hoffnungs‐ los unterbesetzten Polizei vernachlässigt, was mehrere Firmeninha‐ ber zu Beschwerdeanrufen beim Minister veranlaßte. In einigen Fäl‐ len setzte sich Koschmer persönlich dafür ein, daß die Anrufer be‐ vorzugten Polizeischutz erhielten. West, ein schmächtiger Typ mit einer viel zu leisen Stimme, hatte ihn daraufhin gefragt, ob ihm das keine Gewissensbisse bereitete – doch er erntete nichts als Spott. Seinem hochgewachsenen, etwas zu kräftig gebauten Vorgesetzten hatte er nichts entgegenzusetzen, in keinerlei Hinsicht. »Ich bin Ihnen zwar keine Rechenschaft schuldig, West, doch da‐ mit Sie mich für keinen Unmenschen halten, will ich Ihnen erklären, warum ich so und nicht anders handeln kann«, sagte Frank Ko‐ schmer. Jo West zuckte jedesmal zusammen, wenn ihn der Minister herab‐ lassend bei seinem Nachnamen anredete, ohne wenigstens ein »Herr« oder »Mister« davorzusetzen. Schon oft hatte er sich vorge‐ nommen, ihn darauf anzusprechen, aber getraut hatte er sich das nie. »Es herrscht Aufruhr auf dem Planeten, vor allem hier, in der Hauptstadt, dem Sitz unserer Regierung«, fuhr Koschmer fort. »Die Sonnenkraft versiegt, und die aufgebrachte Bevölkerung befürchtet, daß sich die gesamte Regierung ins Weltall absetzen und diesen Staat sich selbst überlassen könnte. Der Zorn der einfachen Leute auf der Straße richtet sich aber nicht nur gegen Politiker, sondern auch gegen Großunternehmer und andere vermögende Bewohner, die theoretisch in der Lage wären, sich freie Plätze in den viel zu weni‐ gen Fluchtschiffen zu erkaufen. Deshalb braucht dieser Personen‐ kreis besonderen Schutz.« »Genauso wie die Besitzer kleinerer Geschäfte«, riskierte sein As‐ sistent einen leisen Einwand. »Sie leiden noch schlimmer unter den Plünderungen, weil sie sich kein Sicherheitspersonal leisten können und auf sich selbst gestellt sind.« »Wir können nun mal nicht vor jeder Ladentür eine Hundertschaft
postieren«, entgegnete der Minister für innere Sicherheit barsch. »Militär und Polizei haben weiß Gott Wichtigeres zu tun. Der Schutz von militärischen Anlagen, Fabriken und sonstigen Großobjekten hat äußerste Priorität, ebenso die Sicherung der Regierungsgebäude und des Luftraums über Alamo Gordo.« Damit betrachtete er das Gespräch als beendet. Jo West verließ das Büro des Ministers. Die Vorzimmerdame warf ihm nur einen geringschätzigen Blick zu und beachtete ihn nicht weiter. Das war Jos Hauptproblem: Keiner beachtete ihn sonderlich. Was habe ich mir mit dem saft‐ und kraftlosen Burschen bloß eingehan‐ delt? dachte Frank Koschmer und seufzte innerlich. Vor einem Jahr hatte ihm sein Stellvertreter Jacques Tristo West als neuen Mitarbeiter empfohlen – sein bisheriger persönlicher Assistent war in den Ruhestand gegangen. Viel zu spät hatte der Minister gemerkt, was für ein Weichling der Neue war. Solche Menschen machten ihn krank. Da West zumindest über ein gewisses Maß an fachlicher Begabung verfügte und als Junggeselle quasi unbegrenzt Zeit hatte, hatte Koschmer ihn behalten, ein Entschluß, den er schon viele Male bereut hatte. Inzwischen war Koschmer überzeugt, daß ihm der gebürtige Franzose Tristo mit seiner Empfehlung nur eins hatte auswischen wollen. Offenbar war es sein Stellvertreter leid, ständig nur die zweite Geige zu spielen. Daran würde er sich allerdings gewöhnen müssen. Frank dachte nämlich nicht im Traum daran, in nächster Zeit seinen Posten freizumachen, schon gar nicht für einen einge‐ bildeten Schönling wie Jacques: jung, drahtig, unverheiratet, der Frauenschwarm schlechthin. Frank Koschmer hatte keinen solchen Schlag beim anderen Ge‐ schlecht. Unwillkürlich dachte er an seine ständig nörgelnde Ehefrau daheim, und sein Zorn auf Tristo und West wuchs noch um ein Stückchen. Das Vipho schlug an. Der Commander der Planeten berief eine Krisensitzung ein. Das war zu erwarten gewesen, schließlich ver‐
schlimmerte sich die Lage von Stunde zu Stunde. Zusammen mit anderen hohen Beamten aus den verschiedensten Sparten traf der Minister für innere Angelegenheiten im abhörsi‐ cheren kleinen Konferenzsaal ein. Dort hatten bereits Bernd Eylers, Leiter der Galaktischen Sicherheitsorganisation, Flottenkommandant Marschall Ted Bulton und der Commander der Planeten, Henner Trawisheim, Platz genommen. * Als Dan Riker auf der Medostation der POINT OF wieder zu Be‐ wußtsein kam, brauchte er erst einmal ein paar Sekunden, um zu begreifen, was geschehen war. Die auf dem Mars geborene Amye Shivaa, ehemaliges Besat‐ zungsmitglied der POINT OF und jetzt Angehörige der Terrororga‐ nisation »Helden des Dschihad«, hatte das Schiff übernommen. Kämpfer der Organisation hatten die Besatzung überwältigt. Mit Gegenmaßnahmen hatte sich Riker zunächst zurückhalten müssen, da sich Ren Dhark und Amy Stewart in der Gewalt Achmed bin Muhsas befanden, an einem unbekannten Ort. Zusammen mit fünf weiteren gekaperten Raumschiffen war die POINT OF auf dem Flughafen von Djakarta gelandet, um dort Tau‐ sende von Moslems aufzunehmen, denen Muhsa versprochen hatte, sie vor der drohenden Katastrophe zu retten und in eine paradiesi‐ sche Welt mitzunehmen – wenn sie sich ihm und seinen Gefolg‐ sleuten anschlossen. Riker hatte dem Checkmaster einen Gedan‐ kenbefehl erteilt und war Sekundenbruchteile danach bewußtlos zusammengebrochen… Nun war er wieder wach! Ohne Rücksicht auf seine schmerzenden Knochen und das Pochen in seinem Kopf sprang Dan Riker von der schwebenden Krankenliege und landete mit den Füßen sicher auf dem Boden. Beim Sturz in der Zentrale hatte er sich eine dicke Beule zugezogen. Ein Medoroboter hatte sie inzwischen versorgt; somit
war es nicht nötig, noch länger hierzubleiben. An Bord gab es zahl‐ reiche weitere Patienten mit Sturzverletzungen, um die sich die Ro‐ boter kümmern mußten, darunter mehrere Besatzungsmitglieder mit Knochenbrüchen. Trotz der Verletzungen, die seine Männer, aber auch die Schiffs‐ besetzer erlitten hatten, war Riker überzeugt, das Richtige getan zu haben. Ren Dharks dreiunddreißigjähriger schwarzhaariger Stell‐ vertreter hatte schnell und entschlossen handeln müssen. Glückli‐ cherweise hielten sich seine eigenen Verletzungen in Grenzen; ein paar Prellungen und eine Beule setzten einen großen Kerl wie ihn noch lange nicht außer Gefecht. Auf dem Weg zum Kommandodeck stellte Riker fest, daß das Schiff wie leergefegt war. Hier und da patrouillierten ein paar ke‐ gelförmige Kampfroboter, die ihn aber ungehindert passieren ließen. Wäre er ein unerwünschter Eindringling gewesen, hätten sie ihn kurzerhand paralysiert. Dan stürmte in die menschenleere Zentrale und erfaßte die Situa‐ tion auf dem Raumflughafen mit einem Blick – besser gesagt: mit einer Bildkugel. Die Kugel zeigte Massen von Moslems, die mit ih‐ rem Handgepäck in die TSINGTAU und in die vier weiteren geka‐ perten Ovoid‐Ringraumer strömten. Riker bezweifelte, daß sich alle aus religiöser Überzeugung auf Achmed bin Muhsas Seite stellten. Die Aussicht auf ein Leben in einem »Paradies des Islam« und die Furcht vor dem Untergang der Erde stellten vermutlich die beiden größeren Triebfedern dar. Die Flüchtenden versuchten, auch in die POINT OF einzudringen. Keine Sorge, sämtliche Schleusen sind verschlossen, ließ der außerge‐ wöhnlichste Bordcomputer des Universums, der Checkmaster, den stellvertretenden Kommandanten wissen. Hier kommt nicht einmal ein Insekt herein, ohne daß ich es merke. Einstmals hatte die POINT OF zur Terranischen Flotte gehört, zu einer Zeit, als Ren Dhark noch Commander der Planeten gewesen war. Mittlerweile war er »nur noch« Commander der POINT OF.
Dank einer unabhängigen Stiftung, aus der auch die Besatzung ihren Sold erhielt, konnte er das Schiff als Eigner selbständig betreiben – zum Wohl der Menschheit, die von seinen Forschungsergebnissen und Kampfeinsätzen profitierte. Obwohl es inzwischen modernere Ringraumer gab, war dieser hier etwas ganz Besonderes, nicht zu‐ letzt wegen des Checkmasters, der Biokomponenten seiner wor‐ gunschen Erbauer Margun und Sola enthielt und manchmal auch ohne ausdrückliche Anweisung agierte. Bevor Dan Riker bewußtlos geworden war, hatte er dem Check‐ master den Befehl erteilt, die Gravitation im gesamten Schiff schla‐ gartig (!) auf 15 Gravo zu erhöhen. Das hatte bei allen Menschen an Bord zur sofortigen Bewußtlosigkeit geführt – und zu plötzlichen Zusammenbrüchen mit den entsprechenden Folgen. Wer ungünstig gefallen war, wurde auf die Medostation gebracht oder an Ort und Stelle versorgt. Nur wenige hatten das Glück, unverletzt davonzukommen, berichtete der Checkmaster. Die Eindringlinge wurden von den Robotern in die Messe gesperrt, ungeachtet ihrer Verletzungen. Eine medizinische Versor‐ gung konnte dort bislang noch nicht erfolgen. Die Besatzung geht vor. Dan Riker kam sich vor wie auf einem Lazarettschiff. Offenbar war er von den Offizieren der einzige, der noch einigermaßen »intakt« war – sprich: Er war auf sich allein gestellt. »Ren hätte jetzt sicherlich eine brillante Idee«, murmelte er und fügte fast trotzig hinzu: »Aber wozu besitze ich selbst ein Gehirn?« Per Gedankensteuerung leitete er einen Blitzstart ein… * Die Flüchtlinge auf dem Raumhafen von Djakarta hielten sich nicht lange damit auf, zu versuchen, in die POINT OF zu gelangen. Als allmählich allen klar wurde, daß die Schleusen des blauen Ring‐ raumers verschlossen bleiben würden, versuchte man, einen Platz in den fünf anderen geräumigen Schiffen zu ergattern.
Mitten unter den Moslems befand sich ein unauffälliger Mann, auswechselbare Kleidung, austauschbares Gesicht. Kuan Singut war zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Offensichtlich stießen die Anschauungen und Zukunftspläne seines Herrn auf ungeheuren Zuspruch. Die »Helden des Dschihad« bekamen heute auf einen Schlag mehr frische Gefolgsleute als in den vergangenen Jahren: Sunniten, Schiiten, Imamiten, Ismailiten, Zaiditen… Niemand konnte sie jetzt mehr aufhalten! Das wollte eigentlich auch keiner. Am liebsten hätte Dan Riker Achmed bin Muhsa mitsamt seiner mächtig großen Anhängerschaft ziehen lassen. Mehr noch: Er hätte sie nur zu gern selbst ins All ge‐ schossen, auf Nimmerwiedersehen – zur Erleichterung aller fried‐ liebenden Menschen, darunter auch zahlreicher Moslems, die keinen radikalen Gruppierungen angehörten und lieber sterben wollten, als sich einem Blender wie bin Muhsa anzuschließen. »Aber solange Ren Dhark in Muhsas Gewalt ist, geht ihr nirgend‐ wo hin«, knurrte Riker, während er die POINT OF in einem Blitz‐ manöver in die Luft brachte. »Und schon gar nicht mit unseren Raumschiffen!« Er wies den Checkmaster an, die Ovoid‐Ringraumer sowie das gesamte Landefeld mit Strich‐Punkt‐Strahlen zu beschießen. Mit entsetzter Miene beobachtete Kuan Singut alias Thu‐Kem, wie um ihn herum alle Moslems ohnmächtig wurden. Da die fünf geka‐ perten Schiffe gerade Flüchtende einluden, waren weder die Inter‐ vallfelder noch die Kompaktfeldschirme aktiviert. »Allah möge euch strafen!« stieß Singut zornig hervor – dann wurde es Nacht um ihn. Dan Riker war sich bewußt, daß er mit einer derart intensiven Be‐ strahlung auch Todesopfer in Kauf nahm. Doch er sah keinen anderen Weg, um den Massenansturm zu stoppen und seine Freunde zu retten. Wo auch immer sich Achmed bin Muhsa mit seinen beiden Gefangenen befand – jetzt mußte er reagieren.
* »Ja, Roboter! So viel, wie ich bekommen kann. Roboter und Solda‐ ten. Sie sollen die fünf Ringraumer räumen und… was? Wo Sie mit all den Bewußtlosen hin sollen? Ist doch nicht mein Problem. Sper‐ ren Sie die Rädelsführer ein und schicken Sie den Rest meinethalben nach Hause – natürlich erst nach Feststellung der Personalien. Ich kümmere mich derweil um den Anführer der HD. Wenn sich bin Muhsa erst in den Händen der GSO befindet, ist die Zerschlagung seiner Organisation nur noch reine Formsache. Wie bitte? Ja, ja, ich verstehe schon, alles klar! Zum Glück hält die Wirkung der Strich‐Punkt‐Strahlen noch ein paar Stunden an.« Dan Riker, der sich in der Zentrale der über dem Landefeld schwebenden POINT OF aufhielt, beendete sein Gespräch mit der Raumhafenkontrolle von Djakarta. Man hatte ihm höflich, aber unmißverständlich klargemacht, daß man ihm weder Roboter noch Soldaten zur Verfügung stellen wür‐ de. Nach Muhsas Hetzrede, die auf fast allen Nachrichtenkanälen laufend wiederholt wurde, kam es in der indonesischen Hauptstadt zu Ausschreitungen. Chaos brach aus – wie überall auf der Welt, insbesondere in den großen Städten. Polizei und Militär hatten alle Hände voll zu tun, die Panik und den Volkszorn unter Kontrolle zu halten. Auch in dieser Region machte der Abschaum der Menschheit den Sicherheitskräften schwer zu schaffen: Bewaffnete Plünderer waren überall in den Straßen unterwegs und drangen sogar in noch be‐ wohnte Häuser ein. Obwohl sie nicht wußten, ob sie morgen überhaupt noch leben würden, rafften sie alles zusammen, was sie in die Finger bekamen. Morde und Vergewaltigungen säumten ihren blutigen Weg – der allerdings auch mit ihren eigenen Leichen gepflastert war, denn
nicht jeder Bürger von Djakarta schaute hilflos zu, wie man ihn sei‐ nes Besitzes und seiner Würde beraubte. »Dreckspack!« fluchte Riker. »Man sollte dem feigen Gesindel ei‐ nen eigenen Freiflug ins Weltall spendieren – und zwar ohne Raumschiff!« Sein Armbandvipho schlug an. »Apropos feige«, bemerkte Dan, als er sah, daß der Anruf von Dharks Vipho kam. »Die Ratte der Ratten kriecht aus ihrem Loch.« * Mittlerweile waren ein paar führende Besatzungsmitglieder der POINT OF auf ihre Posten zurückgekehrt. Hen Falluta, der Erste Offizier, trug eine Armschiene. Auch die anderen hatten diverse leichte oder schwere Blessuren, die sie aber tapfer wegsteckten. Gespräch zurückverfolgen! wies Dan den Checkmaster an, bevor er die Verbindung zu Dharks Vipho herstellte. Achmed bin Muhsas Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm, wie Dan es erwartet hatte. Der Anführer und Aufrührer war ein dünner vollbärtiger Mann mit knochigen Unterarmen. Im Grunde genommen sah er zum Gotterbarmen aus – wäre da nicht sein ste‐ chender, furchteinflößender Blick gewesen. Muhsa wußte, wen er vor sich hatte – er kannte seine härtesten Gegner. »Wieso erhalte ich keine Nachricht von meinen Leuten, Riker?« fragte er unwirsch. »Und warum gehen Sie, ein Gefangener, ans Vipho?« »Ich bin niemandes Gefangener«, machte Riker ihm deutlich. »Of‐ fensichtlich hinken die Medien bei all dem Chaos, das Sie weltweit angerichtet haben, mit der Nachrichtenerstattung ziemlich hinterher – sonst wüßten Sie längst, daß sich der Raumhafen von Djakarta wieder in der Hand der Weltregierung befindet.« »Sie lügen, Riker!« beschimpfte ihn das Oberhaupt der Terroror‐
ganisation. »Holen Sie sofort Amye Shivaa ans Vipho, andernfalls kann ich nicht mehr für das Leben von Ren Dhark und seiner Ge‐ fährtin garantieren.« Demonstrativ zeigte er ihm in der Vipho‐Optik Ren und Amy, die reglos auf einem dicken Perserteppich lagen – in einem mit teuren Möbeln eingerichteten Wohnzimmer. Glanzstück der Wohnung war zweifelsohne ein funkelnder, mit elektrischen Glühbirnen ausges‐ tatteter Kronleuchter, der über einem Kristallglastisch hing (alles war aus Glas, sogar die Tischbeine), auf dem wiederum eine große wertvolle Porzellanvase stand, bestückt mit einem geschmacklos zusammengestellten Strauß aus künstlichen, schrillfarbenen Blumen. Dhark und Stewart hatte man wie Dekorationsgegenstände links und rechts neben dem Tisch drapiert. Wo befindet sich der Standort des Senders? fragte Dan den Check‐ master. Irgendwo im Südwesten Amerikas, vermutlich in Alamo Gordo, erhielt er zur Antwort. Näher komme ich nicht an ihn heran. Es wird ein Satellit als Relais benutzt, und die zuständigen Behörden, die die Leitung weiterver‐ folgen könnten, reagieren nicht. Wahrscheinlich sind sie hoffnungslos überlastet, erwiderte Dan in Ge‐ danken. Probiere es weiter. »Was bilden Sie sich ein, Muhsa?« sprach er laut ins Vipho. »Glauben Sie im Ernst, Sie könnten mich mit zwei Geiseln ein‐ schüchtern?« Er gewährte seinem Gesprächspartner einen Blick in die Bildkugel, die auf den mit Bewußtlosen übersäten Raumflughafen ausgerichtet war. »So sieht eine echte Geiselnahme aus, Sie Anfänger! Keine Sorge, die sind alle nur bewußtlos, schließlich sind wir keine Mörder. Dort unten liegt so ungefähr Ihre gesamte Anhängerschaft – abzüglich der paar Mann, die Sie derzeit zu Ihrem persönlichen Schutz um sich geschart haben.« »Ich warne Sie, Riker, reizen Sie mich nicht!« schrie ihn der Hagere
unbeherrscht an. »Wenn meinen mutigen Gefolgsleuten etwas zu‐ stößt, bringe ich Ihren Kommandanten um! Und seine Hure über‐ lasse ich meinen Gefolgsleuten als Spielzeug – nachdem ich mich selber mit ihr vergnügt habe.« Die »Hure« wird dir die Barthaare einzeln ausrupfen, wenn sie dich zu‐ fassen kriegt, dachte Riker. Offenbar wußte Muhsa nicht, daß Amy Stewart ein Cyborg war. Dan war überzeugt, daß sie ihre Bewußtlosigkeit nur vortäuschte und jedes Wort mit anhörte. In Muhsas Haut hätte er jetzt nicht ste‐ cken mögen… »Lassen Sie sämtliche Bewußtlosen auf die Schiffe bringen, und kümmern Sie sich um ihre medizinische Versorgung«, verlangte bin Muhsa. »Außerdem werden Sie meiner Organisation auf der Stelle die POINT OF übergeben!« Er war es gewohnt, Forderungen zu stellen, und ließ sich das Zep‐ ter nicht so leicht aus der Hand nehmen. Bei Dan Riker war er jedoch an den Falschen geraten. »Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihrer Bitte nicht nachkommen«, entgegnete er gelassen. »Das ist keine Bitte, sondern…!« brauste Muhsa auf. »Ich bekomme weder Roboter noch Soldaten, das habe ich bereits versucht«, fuhr Dan ihm mit ruhiger Stimme ins Wort. »Und das ist einzig und allein Ihre Schuld, Muhsa. Sie selbst haben schließlich dafür gesorgt, daß sich Polizei und Militär nicht über mangelnde Beschäftigung beklagen müssen. Nicht einmal über die Besatzung der POINT OF kann ich uneingeschränkt verfügen. Meinen Männern wurde derart zugesetzt, daß viele von ihnen über einen längeren Zeitraum hinweg behandelt werden müssen. Pech gehabt, Muhsa. Offenbar haben Sie die ganze Sache nicht mehr unter Kontrolle.« Riker ließ ihn spüren, wie wütend er war. »Mich täuschen Sie nicht!« erwiderte bin Muhsa. »Ich weiß, wieviel Ihrer Regierung Dhark wert ist. Und ich weiß, daß es Ihre Regierung niemals zulassen würde, daß Tausende von wehrlosen Menschen
umgebracht werden. Somit sind Ihre sogenannten Geiseln nichts wert – im Gegensatz zu meinen beiden Gefangenen, deren Leben am seidenen Faden hängt. Geben Sie Ihren Widerstand auf, Riker, Sie sind mir nicht gewachsen.« »Da Sie über so viel Wissen verfügen, dürfte Ihnen auch bekannt sein, daß die POINT OF nicht mehr der Regierung gehört. Sie ist Dharks Privatbesitz. Ich bezweifle stark, daß er Ihnen sein Schiff übergeben wird, wenn er aufwacht.« »Was nutzt ihm der Besitz eines Schiffs, wenn er es nicht mehr fliegen kann? Tote brauchen keinen Raumer.« »Stirbt er, geht die POINT OF in meinen Besitz über«, behauptete Dan Riker dreist. »Ich werde Sie damit so lange jagen, bis ich Sie zur Strecke gebracht habe, das schwöre ich Ihnen!« »Nur ein Dummkopf schwört, was er nicht halten kann«, entgeg‐ nete Achmed bin Muhsa herablassend. »Schluß mit der Debatte! Sie übergeben mir die POINT OF, darüber wird nicht verhandelt.« »Ich habe auch gar nicht die Absicht, mit Ihnen darüber zu ver‐ handeln«, konterte Riker. »Sie kriegen das Schiff nicht, aus und fer‐ tig!« »Ist das Ihr letztes Wort?« »Mein allerletztes. Entweder begnügen Sie sich mit den fünf Ovoid‐Ringraumern, oder Sie gehen zu Fuß in das ominöse Paradies, das Sie Ihren arglosen Anhängern großspurig versprochen haben.« »Dieses Paradies existiert!« regte sich der kleine dürre Mann auf, hielt aber sogleich inne. »Moment mal, habe ich Sie eben richtig ver‐ standen, Riker? Sie wollen mir die fünf anderen Schiffe überlassen?« »Die Ringraumer gehören mir nicht, ich müßte darüber zunächst mit der Regierung sprechen«, schränkte Dan sein Angebot ein. »Aber ich denke, der Commander der Planeten wird nichts dagegen haben, daß Sie die Erde verlassen und nach… wohin wollten Sie doch gleich fliegen?« Achmed bin Muhsa machte kein Geheimnis aus seinem Reiseziel. »Es handelt sich um einen erdähnlichen Planeten im System Medina,
ungefähr 1200 Lichtjahre von hier entfernt. Auf Ihren Sternenkarten ist er nur mit einer mehrstelligen Zahlen‐ und Buchstabenkombina‐ tion verzeichnet. Meine treue Gefolgschaft und ich nennen ihn Mina. Soweit ich informiert bin, wurde Mina als Evakuierungsplanet für einen größeren Teil der Erdbevölkerung in Erwägung gezogen, doch nach einem Erkundungsflug hat man ihn von der Liste gestrichen.« »Sie wollen sich auf einem Planeten niederlassen, der von der Re‐ gierung für unbewohnbar erklärt wurde?« staunte Riker. »Wieso?« »Mina ist nicht unbewohnbar, Riker, es gibt dort nur keine aus‐ reichenden Möglichkeiten zur Schaffung einer Infrastruktur. Ein ausschließlich auf geschäftliches Denken aufgebautes System wie eures funktioniert nun einmal nicht ohne Verkehrs‐ und Handels‐ wege oder Anlagen zur Energieversorgung. Auch für sonstige wirt‐ schaftliche Einrichtungen gibt es auf Mina viel zu wenige geeignete Plätze. Der Planet ist ein Paradies mit nahezu undurchdringlichen Wäldern und unbezwingbaren Gebirgsketten. Wir werden uns dort trotzdem wohlfühlen, denn unser Glaube lehrt uns Bescheidenheit und Naturverbundenheit.« »Woher haben Sie diese Information eigentlich?« hakte Dan nach. »Nicht einmal mir ist bekannt, daß es einen Forschungsflug nach Medina gegeben hat.« »Einen Forschungsflug, der lediglich eine neue Enttäuschung mit sich brachte«, ergänzte Muhsa. »Mit Mißerfolgen geht niemand gern hausieren. Und was meine Informanten betrifft: Es gibt immer je‐ manden, der bereit ist, für etwas Kleingeld seine eigene Großmutter zu verkaufen. Genug geplaudert, Riker. Reden Sie mit Ihrer Regie‐ rungsspitze und rufen Sie mich dann auf Dharks Vipho zurück. Ich denke inzwischen über Ihr Angebot nach. Sollte ich mich dagegen entscheiden, sind die beiden Gefangenen bei Ihrem Anruf vielleicht schon tot. Es wäre also besser, Sie beeilen sich!« Mit diesen Worten brach er die Verbindung abrupt ab. Dan Riker zögerte keine Sekunde. Er übertrug Falluta das Kom‐ mando und begab sich zum Flashhangar.
* Kuan Singut verfügte über eine weitaus bessere Kondition als der Durchschnittsmensch. In Extremsituationen vereinten sich sein Körper und sein Geist zu einer nahezu unschlagbaren Einheit. Als die Strich‐Punkt‐Strahlen alles um ihn herum niedergemäht hatten, war diese Einheit sofort in Abwehrstellung gegangen. Singut hatte sich mit allen Sinnen auf den unsichtbaren Angriff konzentriert. Er hatte sich vorgestellt, eine Art geistiger Schutz‐ schirm würde ihn umgeben… Genutzt hatte ihm das nur wenig; letztlich war auch er bewußtlos zusammengebrochen. Aber dank seiner besonders ausgeprägten psychischen und physischen Abwehrfähigkeiten war er der erste, der wieder erwachte, mehrere Stunden früher als erwartet. Thu‐Kem alias Kuan blieb ganz still liegen, zum einen, weil er eventuelle Beobachter nicht unnötig auf sich aufmerksam machen wollte, zum anderen, weil er erst einmal die schlimmsten Nachwir‐ kungen abklingen lassen mußte. Nach einer Paralyse sprang man nicht putzmunter wieder auf die Beine und flitzte wie ein Eichhörnchen davon. Manche Schmerzen verschwanden erst nach Tagen, das kam ganz auf die Dosis an, die man abbekommen hatte – und natürlich auf die eigene Kondition. Menschen mit schwachem Herzen starben mitunter bereits bei der niedrigsten Einstellung. Kuan hatte kein schwaches Herz. Sein Herz war so stark wie alles an ihm, und es schlug ausschließlich für die Helden des Dschihad und seinen Herrn Achmed bin Muhsa. Als er Stimmen hörte, verhielt er sich ganz ruhig, was ihm nicht sonderlich schwerfiel – er konnte sich sowieso kaum bewegen. Mehrere Männer bahnten sich einen Weg durch die Leiber der Bewußtlosen. Sie hatten Roboter bei sich. Der Trupp verschwand in einem der Ovoid‐Ringraumer und kam
nach kurzer Zeit zurück. Kuan konnte beobachten, daß ein paar Ohnmächtige aus dem Schiff getragen wurden. Die fünf Ringraumer waren nur mit jeweils sechs Personen Besat‐ zung bestückt. Hen Falluta hatte angeordnet, die insgesamt dreißig Besatzungsmitglieder auf die POINT OF zu holen. Singut wußte nichts von dieser Anordnung, aber er begriff allmählich, daß der Plan seines Herrn gescheitert war. Der Raumhafen von Djakarta stand wieder unter der Kontrolle der Ungläubigen. Kuan kannte Muhsas Geheimversteck in Alamo Gordo. Er be‐ schloß, ihn dort aufzusuchen. Dafür benötigte er einen Jett, ein Bei‐ boot oder wenigstens einen Schweber. Zu versuchen, auf dem Flughafen ein Gefährt zu kapern, erschien ihm zu gefährlich, doch irgendwo in Djakarta würde er sicherlich fündig werden. Nachdem der kleine Bergungstrupp seine Arbeit beendet hatte, erhob sich Kuan, schaute sich wachsam nach allen Seiten um und begab sich dann zur Flughafenhalle. Seine Schritte waren noch un‐ sicher, es fiel ihm schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dennoch hielt er eisern durch. Seine Aktivitäten blieben nicht unbeobachtet. Auf der POINT OF wurde er von der Ortung erfaßt. Falluta sah jedoch keinen Grund, den einzelnen, viel zu früh erwachten Mann niederzuschießen. »Eine zweite Strahlendosis tötet ihn möglicherweise«, sagte er zu den Männern an der Waffensteuerung. »Lassen wir ihn seiner Wege ziehen. Was kann einer allein schon groß anrichten?«
2. Die siebenundzwanzigjährige Amy Stewart war Terras erster weiblicher Cyborg – und die Lebensgefährtin von Ren Dhark, dem vierunddreißigjährigen weißblonden Commander der POINT OF. Vor allem seinetwegen stellte sie sich bewußtlos und verzichtete darauf, die bärtigen Männer, die sie und Dhark entführt hatten, an‐ zugreifen. Zwar konnte ihr verhältnismäßig wenig passieren, doch die Gefahr, daß Ren etwas zustieß, während sie mit Achmed bin Muhsas Schergen kämpfte, erschien ihr zu groß. Allmählich erwachte auch Dhark aus seiner Bewußtlosigkeit. Er gab ein leises Stöhnen von sich, was von Muhsa und seinen bärtigen Gefolgsleuten Gott sei Dank nicht gehört wurde, da sie sich im Zimmer nebenan laut stritten. Muhsas Männer wollten die beiden Gefangenen töten. »Wir sprengen uns gemeinsam mit den Geiseln in die Luft. Die Explosion wird die Bewohner des gesamten Wohnblocks mit ins Verderben reißen. Durch unseren Tod werden wir zu Märtyrern – und Märtyrer sind unsterblich!« Der Anführer der »Helden des Dschihad« war dagegen. »Wie sollen wir im Diesseits jemals etwas erreichen, Dummkopf, wenn wir uns allesamt ins Jenseits befördern? Wir werden auf Mina einen Gottesstaat errichten und den Planeten zu einer militärischen Kampfbasis ausbauen. Mit den fünf erbeuteten Ringraumern gehen wir auf die Suche nach Verbündeten. Wer sich uns anschließt und uns freiwillig unterstützt, den lassen wir am Leben. Völker, die sich uns widersetzen, werden hart bestraft. Natürlich fliegen wir nur Planeten an, deren Bewohner technisch unterentwickelter sind als die Terraner. Mit höherentwickelten Spezies lassen wir uns besser erst gar nicht ein, sonst könnte sich das Blatt leicht zu unseren Un‐ gunsten wenden.« »Und was ist mit der Erde? Sollen wir es zulassen, daß sich hier
überall die Gottlosigkeit ausbreitet?« »Selbstverständlich nicht. Unser Gottesstaat wird wachsen und gedeihen. Wir werden auf fremden Planeten Werften einrichten, die Schiffe nachbauen, die Bordwaffen weiterentwickeln… Generatio‐ nen später wird eine Flotte der Gottesfürchtigen über diese gottlose Welt herfallen und Rache nehmen für unsere Vertreibung! Das wird der Untergang der Menschheit, wie man sie bisher kannte – zu‐ gunsten einer besseren Menschheit, deren Weiterentwicklung einst auf Mina begann. Wir alle werden als Helden in die Geschichte ein‐ gehen, als die Gründungsväter einer neuen, besseren Welt.« Nicht, wenn ich es verhindern kann! dachte Dhark, der mittlerweile voll bei Bewußtsein war. Mir gefällt diese Welt nämlich so, wie sie ist. Obwohl er sich nicht rührte, spürte Amy, daß Ren aufgewacht war. Endlich, du Schlafmütze! dachte sie. Wir haben uns das lange genug bieten lassen – jetzt werden wir gemeinsam zurückschlagen! * Mit dem Flash dauerte der Flug von Djakarta nach Alamo Gordo nur wenige Minuten. Unterwegs versuchte Dan Riker laufend, Henner Trawisheim an‐ zufunken. Vergebens. Es kam keine Direktverbindung zustande. Schließlich schaffte es Dan, irgendeinen Sekretär im Regierungs‐ gebäude zu erreichen. Der Mann weigerte sich jedoch hartnäckig, den Anruf weiterzuleiten. »Der Commander der Planeten befindet sich in einer Sitzung im kleinen Konferenzsaal. Dort wird über das Schicksal der Erde bera‐ ten.« »Wenn Sie mich nicht zu ihm durchstellen, gibt es bald nichts mehr zu beraten«, erwiderte Riker. »Mein Anliegen hat höchste Priorität.« »Nicht für mich«, entgegnete der Sekretär. »Meine Prioritäten legt Commander Trawisheim höchstpersönlich fest.« »Jetzt langt es mir aber!« regte sich Dan auf. »Wissen Sie über‐
haupt, mit wem Sie reden?« »Ich kenne Sie, Mister Riker, aber auch für Sie darf ich keine Aus‐ nahme machen. Bedaure, ich tu hier nur meinen Job.« Respektlos brach der Sekretär die Verbindung ab. Dan wünschte ihm die Pest an den Hals und hielt weiter auf Alamo Gordo zu. Jetts der Polizei kreisten über der Stadt, die in Aufruhr war. Als sich Riker näherte, wurde er aufgefordert, umgehend den Luftraum über Alamo Gordo zu verlassen – andernfalls werde man ihn ab‐ schießen. »Abschießen?« Dan konnte es kaum fassen. »Mich? Sagt mal, geht es euch noch gut? Ich bin Dan Riker, und ich verlange, den Com‐ mander der Planeten zu sprechen. Zwingt mich nicht, mir den Weg freizukämpfen!« Natürlich war seine Drohung nicht ernstgemeint. Dennoch reichte sie aus, um einen der Piloten nervös zu machen. Er feuerte eine Strahlensalve auf den Flash ab – die allerdings vom Intervallfeld verschluckt wurde. Riker verzichtete darauf zurückzuschießen, schließlich war er nicht gekommen, um einen Kleinkrieg über der Welthauptstadt anzufan‐ gen. Unten in den Straßen gab es bereits genug Unruhe, die wollte er hoch in der Luft nicht noch vergrößern. Sein Flash drehte ab. Dan konnte das erleichterte Aufatmen der Jettpiloten regelrecht spüren. Aber sie freuten sich zu früh. Riker war kein Mann, der sich leicht einschüchtern ließ… * Niemand hielt Kuan Singut auf, als er das Raumhafengebäude verließ. Im Gegenteil… »Treten Sie gefälligst wieder hinter die Absperrung!« ranzte ihn ein Polizeibeamter barsch an. Kuan kam der Aufforderung mit einem Lächeln nach – und schon
war er auf der anderen Seite der bewaffneten Polizisten, die sich zahlreich vor den Eingängen und Umzäunungen postiert hatten, um den weiteren Ansturm auf den Hafen zu stoppen. Singut ließ seinen Blick über die Massen schweifen, die es zu den Raumschiffen drängte, und er kam zu dem Schluß, daß all diese Menschen nichts mit den Gläubigen gemein hatten, die derzeit be‐ wußtlos in den fünf Ringraumern und auf dem Landefeld lagen. Denjenigen, die zuerst aufs Flughafengelände geströmt waren, schien es wirklich ernst zu sein mit der Errichtung des Gottesstaates. Sie wollten gemeinsam mit Achmed bin Muhsa und den Helden des Dschihad eine bessere Welt errichten. Diejenigen, die jetzt noch mitfliegen wollten, hatten in Singuts Augen nur Angst um ihr erbärmliches Leben; ihnen war es egal, welches Raumschiff sie mitnahm, solange sie nur von der Erde wegkamen. Kuan stieß weiter in den Stadtteil vor, ebenfalls auf der Suche nach einer Möglichkeit, von hier wegzukommen; allerdings wollte er nicht so hoch hinaus wie all die anderen. Ihn zog es lediglich nach Alamo Gordo – zu seinem Herrn, der bestimmt schon Pläne zur Rückeroberung »seiner« Raumschiffe schmiedete. Chaos und Gewalt hatten Djakarta fest im Griff. Plünderer brachen in verlassene Wohnungen ein oder zertrümmerten die Schaufenster von Geschäften. Waren die Besitzer noch anwesend, kam es zu hef‐ tigen Schießereien. Die Polizei griff hart durch und schenkte dem Straßenabschaum nichts. »Mehr ist weniger!« lautete der interne Befehl der hiesigen Einsatzleitung – sprich: Man hatte die Energiestrahler auf die höch‐ ste Stufe gestellt (mehr), um die Plünderer gnadenlos zu dezimieren (weniger). Verbrechensbekämpfung machte in solch einer Extrem‐ situation wenig Sinn, wenn die Paralysierten nach gewisser Zeit wieder aufstanden und sofort dort weitermachten, wo sie zuvor aufgehört hatten. Genausogut hätte man sie für ein paar Stunden in den Schlaf singen können.
Besonders dreiste Plünderer entrissen denen, die auf dem Weg zum Raumhafen waren, ihr Hab und Gut auf offener Straße. Nur wer ausreichend bewaffnet war, konnte es riskieren, sich dagegen zu wehren – oder wer als Meuchelmörder im Dienst von Achmed bin Muhsa stand und eine Tötungsmaschine auf zwei Beinen war… Thu‐Kem hatte lediglich einen Schulterbeutel bei sich. Der Inhalt war von geringem Wert, aber Kuan lehnte es schon aus Prinzip ab, Banditen seinen Besitz zu überlassen – auch dann, wenn sie zu viert waren und Schußwaffen bei sich hatten. Noch steckten die Waffen in ihren Gürteln, doch ihre Besitzer tru‐ gen sie absichtlich offen, damit der Überfallene sie sehen konnte. »Dir passiert nichts, wenn du uns den Beutel gibst«, sagte einer der vier zu ihm, offenbar der Wortführer. Mit raschem Blick schätzte Kuan seine Lage ein. Er befand sich in einer ruhigen Seitenstraße. Weit und breit war kein Polizist zu sehen. Die vier Kerle wirkten heruntergekommen, schienen aber recht kräftig zu sein. Es gab nur eine einzige Zeugin des Überfalls: eine schlanke junge Frau mit schulterlangen Haaren, die etwas abseits stand und keinerlei Anstalten machte, Hilfe zu holen. Sehr wahr‐ scheinlich gehörte sie zu den vieren und stand Schmiere. »Bist du sicher, daß du den Beutel haben willst?« fragte Kuan den, der ihn angesprochen hatte. »Ganz sicher«, antwortete der Gefragte mit breitem Grinsen. Kuan warf ihm den Stoffbeutel zu, wobei er den Wurf absichtlich zu hoch ansetzte, so daß der Wegelagerer beide Arme danach aus‐ strecken mußte. Gierig packte der Mann zu, seine Finger krallten sich in den Stoff… In derselben Sekunde rammte ihm Thu‐Kem den Kris in den Un‐ terbauch und zog die Waffe mit einem Ruck nach oben. Die gewellte zweischneidige Klinge schlitzte den Plünderer auf bis zum Brust‐ korb. Kuan betätigte den winzigen Hebel am Griff und ließ seine »Visitenkarte« wie gewohnt stecken. Auch ohne seinen speziellen Dolch war er ein gefährlicher Nah‐
kämpfer. Noch bevor die drei verbliebenen Plünderer richtig begrif‐ fen, was geschah, zertrümmerte er dem, der ihm am nächsten stand, mit einem blitzschnell ausgeführten Faustschlag den Kehlkopf. Ei‐ nen weiteren Gegner setzte er mit einem knallharten Tritt unters Kinn außer Gefecht. Der Kopf des überraschten Mannes flog so wuchtig nach hinten, daß der sich augenblicklich das Genick brach. Silat nannte man diese uralte malaiische Kunst der Selbstverteidi‐ gung. Wer sie einübte, erlernte auch den Umgang mit dem Kris. Beides erforderte ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Geis‐ tesgegenwart, an Kraft und Konzentration. Der letzte der vier Wegelagerer schaffte es noch, seine Strahlen‐ waffe zu ziehen. Kuan Singut zerschmetterte ihm den Arm, so leicht, wie man einen morschen Ast über dem Knie zerbrach. Der Mann schrie auf, ließ den Strahler fallen, wollte fliehen… Kuan hob den Handstrahler auf, denn auch für solche Fälle hatte er seine Prinzipien: Grundsätzlich ließ er nie einen Feind entkommen. Und er hatte keine Probleme damit, einem Fliehenden in den Rücken zu schießen… Die Schußwaffen der vier Toten sammelte er ein und steckte sie in seinen Beutel. Dann ging er auf die junge Frau zu. Sie war höchstens fünfzehn, sechzehn, fast noch ein Kind, das ihn wie entgeistert ans‐ tarrte, unfähig, sich vom Fleck zu rühren. Kuan fiel auf, daß ihr Schuhwerk für einen Straßenräuber mehr als ungeeignet war. Die Absätze ihrer Stiefeletten waren viel zu hoch und würden sie auf der Flucht nur behindern. Zudem war der linke Absatz angeknackst und würde wohl nicht mehr lange halten. Der professionelle Mörder hatte keinen Grund, die verängstigte Frau zu töten. Sie hatte viel zuviel Furcht und würde nur eine schlechte Zeugin abgeben. Für die meisten Menschen sah er aller‐ weltsmäßig aus, ein Niemand ohne besondere Merkmale. Es gab nichts Auffälliges an ihm, das sie hätte beschreiben können. Kuan sagte kein Wort, als er langsamen Schrittes dicht an ihr vor‐ beiging. Er drehte ihr den Rücken zu, ein Verhalten, das auf den
ersten Blick leichtsinnig wirkte. Das schien jedoch nur so, denn in Wahrheit spannte Singut all seine Sinne an und beobachtete jede Bewegung des Mädchens, ohne es dabei direkt anzusehen. Thu‐Kem war ein mißtrauischer, stets wachsamer Mann, der sozusagen auch hinten Augen hatte. Zu Recht schätzte er die scheinbar harmlose Kindfrau als mögli‐ cherweise gefährlich ein. Unauffällig ließ sie ein fünfzehn Zentimeter langes Wurfmesser aus ihrem Jackenärmel in ihre Handfläche glei‐ ten. Was sie nicht ahnte: Auch Kuan verbarg ein Wurfgeschoß in seiner rechten Hand – einen Stein, den er beim Aufsammeln der Waffen unbemerkt mit aufgehoben hatte. Thu‐Kem war aufs Mor‐ den spezialisiert und durchaus fähig, jemandem auf kurze Distanz mit einem gezielten Steinwurf den Schädel zu zertrümmern. Als er merkte, daß die Frau ihren Arm hob, das Wurfmesser in der Hand, wirbelte er wie ein Derwischtänzer herum und schleuderte mit seiner ganzen Kraft den Stein auf sie. Der im Töten geübte Mann zielte auf ihre Stirn – und in seinem ganzen Leben hatte er noch nie ein Ziel verfehlt. * Der fünfunddreißigjährige, manchmal etwas ungelenk wirkende GSO‐Leiter Bernd Eylers war zwar nicht die wichtigste Persönlich‐ keit, die sich im kleinen Konferenzsaal des Regierungsgebäudes eingefunden hatte, wohl aber die mißtrauischste. Auf den Minister für innere Angelegenheiten hatte Eylers schon lange ein wachsames Auge geworfen. Zwar galt Frank Koschmer als absolut regierungs‐ treu, doch (bisher unbewiesenen) Gerüchten zufolge nahm er Spen‐ den von Großunternehmern an, die sich davon eine gewisse Bevor‐ zugung versprachen und obendrein Einfluß nehmen wollten auf politische Abstimmungen, von denen sie indirekt betroffen waren. Falls das der Wahrheit entsprach, war Koschmer der falsche Mann auf dem falschen Platz.
Das einundvierzigjährige, stets besonnen handelnde Regierungs‐ oberhaupt der Erde, Henner Trawisheim, saß jedenfalls auf dem richtigen Platz. Im Konferenzsaal belegte er immer denselben Stuhl, und niemand anderer hätte es je gewagt, sich dort hinzusetzen. Nicht einmal der massige Flottenkommandant Theodore Bulton, Marschall der irdischen Raumstreitkräfte, Vater von drei Töchtern und sogar schon Großvater, hätte sich das getraut. Insgesamt hielten sich zwölf höhergestellte Persönlichkeiten im Konferenzraum auf. Es war eine Runde der Ratlosen. Zwar gab es für weltweite Schicksalsschläge aller Art geeignete Katastrophenschutzpläne, doch die befaßten sich in erster Linie mit der Rettung verzweifelter Men‐ schen in Not und nicht mit der Niederschlagung eines weltweiten Aufstandes. Gegen einzelne Verbrecher oder organisierte Banden konnte man rigoros vorgehen. Aber gegen die gesamte Mensch‐ heit…? Eines war allen Anwesenden allerdings klar: Die Regierung mußte handeln, schnell und effektiv. »Jetzt sofort, und nicht erst, wenn es zu spät ist«, sagte Trawisheim mit Nachdruck. »In früheren Jahrzehnten neigten Regierungen in Krisensituationen oftmals dazu, erst einmal abzuwarten.« »Damit das Ganze nicht ausartet, müssen unsere Streitkräfte bereit sein, nötigenfalls mit aller Härte gegen das eigene Volk vorzuge‐ hen«, ergänzte der Innenminister. »Die militärischen und zivilen Sicherheitskräfte tun ihr Möglich‐ stes, um die Ausbreitung von Anarchie und Verbrechen zu verhin‐ dern«, erwiderte Bulton. »Doch es ist eine Sache, mit allen nur er‐ denklichen Mitteln Plünderer, Vergewaltiger und Mörder zu be‐ kämpfen, und eine andere, sich gegen unbescholtene Erdenbürger zu stellen, die Todesangst haben. Ich hetze meine Truppen nicht auf Unschuldige, Herr Minister, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen! So tief dürfen wir niemals sinken, andernfalls können wir uns gleich alle gegenseitig ausrotten – das geht um einiges schneller, als auf das
Sterben der Sonne zu warten.« In diesem Augenblick schob sich etwas durch die Wand: ein lang‐ gestrecktes, metallenes Dreimeteretwas. Als es über dem Konfe‐ renztisch schwebte, erkannten alle, daß es sich um einen Flash han‐ delte. Hatten Terroristen eines der Beiboote gekapert, um die Kon‐ ferenz zu verhindern? Erleichterung breitete sich aus, als der Pilot das Intervallfeld aus‐ schaltete und sich über den Außenlautsprecher als Dan Riker zu erkennen gab. »Was soll das, Mister Riker?« entrüstete sich Henner Trawisheim. »Für dieses respektlose Verhalten sollte ich Sie einsperren lassen!« »Man hat bereits versucht, mich abzuschießen«, entgegnete Dharks Stellvertreter gelassen. »Daran gemessen wäre Einsperren regelrecht human. Allerdings müßten Sie dazu erst einmal zu mir hereinkom‐ men – und ich lasse das Schott zu.« »Was wollen Sie?« fragte Bulton scharf. »Ich brauche Hilfe«, antwortete Riker. »Ren Dhark wurde von den ›Helden des Dschihad‹ entführt, von Achmed bin Muhsa, jenem Mann, dem wir es zu verdanken haben, daß wir weltweit knöcheltief in einem Sumpf voller Probleme stecken.« »Genau mit diesem Sumpf befassen wir uns gerade«, warf Frank Koschmer ein. »Wir müssen all unsere Kräfte bündeln, um ihn tro‐ ckenzulegen. Dafür benötigen wir auch die Unterstützung der POINT OF und ihrer Besatzung. Ich schlage vor, Sie unterstellen sich umgehend dem Befehl der Terranischen Flotte und…« »Wieso streckt eigentlich jeder die Hand nach unserem Schiff aus?« unterbrach Riker ihn ungehalten. »Bin Muhsa wollte es ebenfalls konfiszieren, doch er bekommt die POINT OF genausowenig wie Sie, Herr Minister, oder sonst wer.« In kurzen Worten schilderte er den Konferenzteilnehmern die ak‐ tuelle Situation in Djakarta und berichtete, in welcher prekären Lage sich der Commander der POINT OF augenblicklich befand. »Man hält ihn irgendwo in Alamo Gordo gefangen«, endete er.
»Die GSO ermittelt schon seit geraumer Zeit gegen Muhsas terroris‐ tische Organisation. Deshalb dachte ich, Sie könnten mir beim Aus‐ findigmachen des Unterschlupfes behilflich sein, Mister Eylers.« Trawisheim wartete die Antwort des GSO‐Chefs erst gar nicht ab. »Kommt nicht in Frage«, machte er Riker unmißverständlich klar. »Für irgendwelche Sonderwünsche ist jetzt der falsche Zeitpunkt. Seit dem Bekanntwerden der Weltuntergangsnachricht herrscht auf dem gesamten Planeten der Ausnahmezustand. Laufend treffen neue Meldung über Tote und Verletzte ein. Wir können uns daher nicht mit Einzelpersonen befassen; das gilt auch für einen verdienten Mann wie Ren Dhark, so leid mir das tut.« »Haben Sie denn schon eine Idee, wie Sie das weltweite Chaos eindämmen könnten?« fragte Dan ihn geradeheraus. »Wir beraten noch«, lautete die zögerliche Antwort. »Wir sind über jeden guten Einfall dankbar«, fügte Bernd Eylers hinzu. »Eine Ansprache ans Volk wirkt manchmal wahre Wunder«, sagte Dan Riker. »Damit meine ich keine beruhigenden, unglaubwürdigen Appelle, wie sie derzeit überall von den offiziellen Stellen ausgest‐ reut werden, sondern eine aufrüttelnde Rede, die sich von allen üb‐ rigen politischen Reden in einem sehr wichtigen Punkt unterschei‐ det.« »In welchem?« hakte der Commander der Planeten nach. »Ich meine, man sollte der Erdbevölkerung ausnahmsweise einmal die volle Wahrheit sagen«, antwortete Riker. »Auch wenn das den meisten Politikern sehr schwerfällt.« »Ich verwehre mich gegen die Anschuldigung, wir Politiker wür‐ den nur Unwahrheiten verbreiten«, entgegnete Finanzminister La‐ mont beleidigt. »Im übrigen kennt das Volk die Wahrheit inzwi‐ schen. Die Reaktion darauf ist erschreckend. Solange wir mit der Wahrheit hinterm Berg hielten, blieben die Menschen friedlich – jetzt sind sie bereit, sich gegenseitig für einen Platz in einem Raumschiff umzubringen. Rund um den Erdball versucht man, die Raumhäfen
zu stürmen.« »Soweit wäre es vielleicht erst gar nicht gekommen, hätten Sie von vornherein mit offenen Karten gespielt, anstatt es einem Scharlatan wie Achmed bin Muhsa zu überlassen, die Bevölkerung zu infor‐ mieren und zu schockieren«, hielt Dan den Anwesenden vor. »Was wir brauchen, ist ein Mann, dem die Menschen vertrauen, einen, der sie schonungslos über die bevorstehende Gefahr aufklärt – ohne irgend etwas zu beschönigen. Im Klartext: Wir benötigen dringend einen kompetenten Gegenpart zu Muhsas fortwährenden öffentli‐ chen Hetzreden. Noch klarer: Ren Dhark muß her! Nichts gegen Sie, Commander Trawisheim, aber wenn einer die Menschen wirklich beruhigen kann, dann er.« Nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. »Eine Ansprache ans Volk?« fragte Eylers schließlich. »Das ist schon Ihr ganzer Plan, Mister Riker? Habe ich Sie etwa überschätzt?« »Sie haben recht, ich bin noch nicht fertig«, räumte Riker ein. »Ich benötige noch eine zweite, ganz bestimmte Person zur Durchfüh‐ rung meines Vorhabens, einen Virtuosen auf dem Medienklavier. Außerdem habe ich mir bereits Gedanken über den weiteren Um‐ gang mit bin Muhsa und seinen Anhängern gemacht. Es ist an der Zeit, seine ›Heldentruppe‹ endgültig kaltzustellen. Wenn Sie es ge‐ statten, meine Herrschaften, setze ich mich zu Ihnen und erläutere Ihnen meine Vorschläge.« Ja, tu das! dachte Minister Koschmer. Komm raus aus deiner Unitall‐ büchse, dann lasse ich dich sofort festnehmen! Henner Trawisheim nahm Dans Gesprächsangebot an. Daraufhin wurde das Intervallum aktiviert, und der Flash schwebte wieder durch die Wand nach draußen. »Sobald er aussteigt, kriegt er Energiehandschellen angelegt«, sagte Koschmer und wollte sein Vipho betätigen. »Er wird es noch bereuen, ohne Legitimation ins Gebäude der Regierung eingedrun‐ gen zu sein und eine wichtige Krisensitzung unterbrochen zu ha‐ ben.«
»Lassen Sie das!« fuhr Trawisheim ihn an. »Ich habe ihn soeben zu unserem Gespräch eingeladen – das ist Legitimation genug!« Eylers schaute den Minister grinsend an. »Was glauben Sie eigent‐ lich, wie lange Sie Riker in Gewahrsam behalten würden? Sobald die Jungs von der POINT OF von seiner Festnahme Wind bekämen, hätten wir hier ein Problem mehr. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel und würden ihren stellvertretenden Kommandanten sogar aus der Hölle befreien, direkt aus den Klauen des Teufels.« * »Sieh mal nach den Gefangenen«, wies Achmed bin Muhsa einen seiner Männer an, einen großen Kahlköpfigen mit einem dichten Bart und breiten Schultern. »Dhark müßte eigentlich bald aufwachen. Hätte er eine bessere Kondition, wäre er längst wach.« »Von den Ungläubigen darf man halt nicht zuviel erwarten«, er‐ widerte der Kahle und begab sich nach nebenan. »Sie vernachlässi‐ gen ihren Körper, nehmen Drogen, stopfen sich fortwährend mit ungesunder Nahrung voll…« Er beugte sich über den scheinbar bewußtlosen Gefangenen, der weiterhin reglos neben dem Kristallglastisch auf dem Teppich lag. Zu seiner Verblüffung schlug Dhark plötzlich die Augen auf und funkelte ihn zornig an. »Dir stopfe ich auch gleich was – und zwar dein großes Maul!« zischte Ren. Eine Sekunde später ging der Bärtige zu Boden; er fiel der Länge nach um wie ein gefällter Baum. Dhark richtete sich auf und rieb sich die schmerzenden Knöchel seiner rechten Faust, die er dem großen Mann mit voller Wucht unters Kinn geknallt hatte. Auch ohne Pa‐ ralyse würde es Stunden dauern, bis der wieder aufwachte. Dhark war ein erfahrener Kampf Sportler, geschult in Angriff und Abwehr. Er konnte Schläge austeilen, aber auch welche einstecken. Seine Lehrer hatten ihm beigebracht, hinzufallen und wieder aufzu‐
stehen. Obendrein hatte man ihn gelehrt, strapazierte Muskeln und Seh‐ nen mit leichten Lockerungsübungen wieder in Form zu bringen – wobei es nicht unbedingt nötig war, sich zu recken und zu strecken. Einige dieser Übungen waren sogar in verrenkter Körperhaltung möglich. Bei entsprechender Konzentration entspannte sich der Körper bereits bei minimalen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen und schöpfte neue Energie durch die Kraft der Gedanken. Auch Amy hatte sich während ihrer »Bewußtlosigkeit« etwas entspannt, auf ihre eigene Weise, umgeschaltet ins Zweite System. Als sie Muhsas Befehl, nach den Gefangenen zu sehen, vernahm, phantete sie zusätzlich. Dieser Vorgang, der ihr äußerlich so gut wie gar nicht anzumerken war, führte zu einer Bindung sämtlicher Gase und Flüssigkeiten in ihrem menschlichen Organismus – und aus der vergleichsweise harmlosen Frau wurde ein Cyborg mit speziellen, nahezu übermenschlichen Fähigkeiten. Muhsas Leute stürmten in den Raum (der oberste »Held des Dschihad« zog es vor zu bleiben, wo er war) und griffen zu ihren Handfeuerwaffen. Keiner der Männer kam jedoch dazu, einen Schuß abzugeben. Das Kampfduo Stewart‐Dhark schickte einen nach dem anderen ins Reich der Träume – schnell, hart und kompromißlos. Zahlenmäßig lag der Cyborg vorn. Amy mähte ihre Angreifer mit einer derartigen Geschwindigkeit nieder, daß Dhark kaum noch nachkam. Dafür wirkte sein Kampfstil eleganter, was ihm bei einem sportlichen Wettbewerb sicherlich ein paar Sonderpunkte für Hal‐ tung eingebracht hätte. Hinterher sah das Zimmer aus, als hätte ein Tornado darin gewü‐ tet. Nur drei Personen standen noch: Amy, Ren und Achmed bin Muhsa, der sich am Türrahmen festhielt und so entsetzt dreinblickte, als habe ihn Allah gerade aus dem Paradies verbannt. Die verschiedengroßen Splitter des kristallgläsernen Tisches glit‐ zerten und funkelten im grellen Licht des Kronleuchters, der wun‐ dersamerweise völlig unversehrt war.
Ansonsten war kein einziges Möbelstück, kein einziger Einrich‐ tungsgegenstand verschont geblieben. Die große Porzellanvase, die auf dem Tisch gestanden hatte, be‐ stand nur noch aus Scherben. Muhsas Anhänger lagen zwischen den Überresten der Einrichtung auf dem Boden und rührten sich vorerst nicht mehr. Die künstlichen Blumen aus der Vase hatten sich wie Grabschmuck über ihre reglosen Körper verstreut. »Hexe!« schrie Muhsa Amy an – offensichtlich war er sehr be‐ eindruckt von ihren Fähigkeiten. »Dämonin!« Der Cyborg wandte sich ihm zu und packte ihn am Kragen. Ohne große Anstrengung hob Amy den zappelnden Haßprediger hoch und blickte ihm direkt in die Pupillen. »Hexe. Dämonin. Damit kann ich gut leben«, sagte sie mit dro‐ hendem Unterton. »Aber was die ›Hure‹ betrifft, sollten wir noch mal ein ernstes Wörtchen miteinander reden.« Obwohl sie in ihrem Zweiten System nur gedämpften, abgemil‐ derten Zorn verspürte, war es ihr ein Bedürfnis, Achmed bin Muhsa zu demütigen – so wie er sie mit Worten gedemütigt hatte, als er glaubte, sie sei ihm hilflos ausgeliefert. Amy machte einen großen Fehler: Sie fühlte sich zu sicher. Da‐ durch entging es ihr, daß Muhsa mit einer Hand unter seine Jacke fuhr. Bevor sie reagieren konnte, zog er einen Kris hervor und stach ihr damit mitten ins Herz. Dann löste er den Griff und ließ die Klinge in ihr stecken. Amy ließ ihren Widersacher erschrocken los. Er stürzte unsanft zu Boden. Gehässig grinste er sie von unten her an. »Ob Hure, Hexe oder Dämonin«, verhöhnte er sein Opfer, »gleich bist du nur noch eines: tot!« * »Über eines sind wir uns doch alle im klaren«, sagte Dan Riker im
kleinen Konferenzsaal zu Trawisheim, Eylers, Bulton und den übri‐ gen Anwesenden. »Es nutzt keinem, Achmed bin Muhsa und seine vielen tausend Anhänger auf der Erde zu behalten. Hier bereiten sie einem nichts als Ärger. Sie werden ständig versuchen, weitere fried‐ liebende Moslems auf ihre Seite zu ziehen, um ihre Gruppe mehr und mehr zu vergrößern.« »Das hätte mir gerade noch gefehlt!« stöhnte Bernd Eylers. »Schon jetzt ist es für die Galaktische Sicherheitsorganisation kaum noch überschaubar, wie viele Mitglieder seine verbotene Organisation hat.« »Dennoch bin ich dagegen, ihn und seine Gefolgsleute laufenzu‐ lassen«, äußerte sich der Minister für innere Sicherheit. »Bin Muhsa ist verantwortlich für den Tod vieler Menschen. Er und seine Mör‐ derbande müssen bestraft werden. Zwar können wir unmöglich alle einsperren, doch wenigstens die Drahtzieher sollten wir hinter Gitter bringen, wo sie keinen weiteren Schaden mehr anrichten können.« Henner Trawisheim war der gleichen Meinung. »Es widerstrebt mir, dem Kerl die Ausreise auf einen fremden Planeten zu ermögli‐ chen und ihn für seine Untaten auch noch zu belohnen – mit fünf Raumschiffen.« »Mit fünf teuren Raumschiffen«, warf Marschall Bulton knurrig ein. »Müssen es denn unbedingt Ovoid‐Ringraumer sein? Tun es nicht auch ein paar schrottreife Beuteraumer?« »Offenbar haben Sie mich ganz und gar mißverstanden«, entgeg‐ nete Riker schmunzelnd. »Glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen allen Ernstes vorschlagen, diesen Verbrechern fünf Raumschiffe zu schenken?« »Heißt das, Sie wollen Achmed bin Muhsa die Schiffe zum Kauf anbieten?« fragte ihn der Commander der Planeten und kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Geld genug hat er ja. Die GSO hat ermittelt, daß Muhsas Organisation über ein beträchtliches Vermögen verfügt, allerdings stammt es überwiegend aus Betrügereien, Erpressungen, Drogenhandel, Zuhälterei und sonstigen illegalen Geschäften. Wir
haben bereits mehrere seiner Konten ausfindig gemacht und ein‐ gefroren, doch unsere gesetzlichen Möglichkeiten…« »Sie verstehen mich noch immer nicht«, unterbrach ihn Dan. »Wenn Muhsa erst einmal auf Mina ist, können Sie sein auf verbre‐ cherische Weise erworbenes Vermögen komplett beschlagnahmen und dem Staatshaushalt zuführen; er kann ja nicht dagegen protes‐ tieren – und außerdem kann er in seinem selbstgewählten unwirtli‐ chen Domizil mit Geld sowieso nichts anfangen. Mein Plan ist fol‐ gender…« Über die Gestaltung der weltweiten Ansprache an die terranische Bevölkerung hatten die Konferenzteilnehmer bereits ausgiebig dis‐ kutiert. Nunmehr erläuterte Dan Riker den Anwesenden, was er mit den Aufrührern vorhatte. Einer der hohen Beamten hatte Bedenken. »Ist das nicht… unge‐ setzlich?« »Wir tun nichts Verbotenes«, versicherte ihm Riker. »Schließlich haben wir keinen Vertrag mit Achmed bin Muhsa, und wir werden ihm auch mündlich nichts Bestimmtes versprechen. Wir bleiben bei den Verhandlungen vage und reden am Thema vorbei – damit kennt ihr Politiker euch doch bestens aus.« * Während einer Konferenzpause zog sich Trawisheim mit Eylers unbemerkt in ein benachbartes Zimmer zurück, um sich ungestört mit ihm zu beraten. »Was halten Sie von Rikers Ideen?« fragte er den GSO‐Chef frei‐ heraus. »Das mit der Ansprache könnte klappen«, erwiderte Bernd Eylers. »Immerhin kümmert sich ein exzellenter Medienexperte um die Abwicklung. Allerdings würde ich mich an Ihrer Stelle nicht von Ren Dhark in den Hintergrund drängen lassen. Seiner aufrüttelnden
Rede muß unbedingt noch am selben Tag eine zweite folgen – eine, die Sie halten werden, Commander Trawisheim. Dhark wird den Menschen neue Hoffnung machen, und Sie zeigen ihnen anschlie‐ ßend einen realistischen Lösungsweg auf.« »Es gibt keine Lösung«, entgegnete Trawisheim. »Weder eine rea‐ listische noch eine unrealistische.« »Genau das sollten Sie besser für sich behalten«, meinte Eylers. »Andernfalls schüren Sie die Ängste der Leute nur aufs neue. Was wir brauchen, ist eine geschickte Hinhaltetaktik. Um es mit Rikers Worten zu sagen: Darauf versteht ihr Politiker euch doch bestens.« Der Commander der Planeten nickte. »Das trifft zu – doch wir fühlen uns dabei meist nicht sonderlich wohl in unserer Haut. Wo‐ rüber soll ich Ihrer Meinung nach sprechen?« »Über die Einleitung erster Evakuierungsmaßnahmen«, riet Eylers ihm. »Außerdem könnten Sie dem Volk gegenüber Entschlossenheit demonstrieren, indem Sie irgendeine unfähige Person aus Ihrem Kabinett verbannen.« »Irgendeine Person?« Trawisheim war der einzige Cyborg auf rein geistiger Basis und somit alles andere als ein Dummkopf. »Machen Sie mir nichts vor, Mister Eylers. Sie haben es auf jemand Bestimm‐ ten abgesehen, nicht wahr? Lassen Sie mich raten: Minister Ko‐ schmer ist Ihnen schon lange ein Dorn im Auge.« »Er steht im Verdacht, bestechlich zu sein. Zudem schneidet er bei öffentlichen Umfragen sehr schlecht ab. Frank Koschmer zählt in der Bevölkerung zu den unbeliebtesten Regierungsmitgliedern über‐ haupt.« »Ach, hören Sie mir doch auf mit Umfrageergebnissen! Die de‐ moskopischen Institute sind samt und sonders zu nichts nutze – bei Wahlen können sie nicht einmal annähernd das Wählerverhalten voraussagen. Derlei Veröffentlichungen haben bestenfalls Unter‐ haltungswert. Und was Ihren Bestechungsverdacht angeht: Liefern Sie mir Beweise!« In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Koschmers Assistent
Jo West trat ein, mit einer schwarzledernen Aktenmappe unter dem Arm. Er entschuldigte sich mehrfach für die Störung. Trawisheim mochte ihn nicht. West war in seinen Augen ein krie‐ chender Leisetreter. Daß es Jacques Tristo vorgezogen hatte, ihn an Frank Koschmer weiterzuempfehlen, konnte der oberste Regie‐ rungschef gut verstehen. Jetzt mußte sich der Minister für innere Angelegenheiten mit West herumplagen, während sein cleverer Stellvertreter Tristo eine ebenso bildschöne wie hochintelligente Assistentin eingestellt hatte. Einerseits hatte Trawisheim schon des öfteren darüber nachge‐ dacht, Jacques Tristo auf den Ministerposten zu befördern. Ande‐ rerseits gab es keinen konkreten Grund, Koschmer zu entlassen oder zu versetzen. Bisher machte er seine Arbeit gut, zumindest war Trawisheim nichts Gegenteiliges bekannt. »Bitte verzeihen Sie mein Eindringen«, wiederholte Jo West nun‐ mehr zum x‐ten Male. »Ich habe im Vorraum auf das Ende der Konferenz gewartet, um mit einem von Ihnen beiden zu reden. Zu‐ fällig bekam ich mit, wie Sie sich hierhin zurückzogen. Daraufhin habe ich…« Er stockte. »… habe ich an der Tür gelauscht.« »Wie bitte?« entrüstete sich Trawisheim. »Wissen Sie, daß das ein Entlassungsgrund ist?« »Wenn Sie hören, was ich Ihnen zu sagen habe, werden Sie mich ganz bestimmt nicht mehr entlassen wollen«, entgegnete West zu‐ versichtlich. »Im Gegenteil, wahrscheinlich liegt sogar eine Beför‐ derung für mich drin. Ich kann Ihnen nämlich hieb‐ und stichfeste Beweise dafür liefern, daß Frank Koschmer regelmäßig Beste‐ chungsgelder annimmt. In den vergangenen zwölf Monaten habe ich mehrere konspirative Treffen beobachtet, zwielichtige Viphogesp‐ räche abgehört und geheime Aufzeichnungen aus seinem Supra‐ sensor kopiert. Mittlerweile verfüge ich über ein ansehnliches Dos‐ sier, das seine üblen Machenschaften ausführlich dokumentiert. Dieser Mann hat den Ministerposten nicht verdient. Gerade jetzt, wo das Vertrauen der Erdbevölkerung in die Weltregierung…«
»Wann und wo kann ich das Dossier einsehen?« fuhr Eylers ihm ungeduldig ins Wort. »Hier und jetzt, wenn Sie wollen«, bot West ihm an. »Ich habe alles bei mir.«
3. Achmed bin Muhsas gehässiges Grinsen wirkte wie eingefroren, es schien ihm mitten in der Bewegung regelrecht erstarrt zu sein. Sein Gesicht ähnelte einer aus Stein gehauenen alptraumhaften Fratze. Sein Verstand war außerstande zu begreifen, was seine Augen sa‐ hen: Die gewellte zweischneidige Klinge, die er »der Hexe« ins Herz gestoßen hatte, trat langsam wieder aus ihrem Körper – ganz von selbst, so als ob sie von einer unsichtbaren Hand herausgezogen würde. Kein Tropfen Blut benetzte dabei Amys Oberbekleidung, die an der Einstichstelle aufgerissen war. Die Klinge fiel zu Boden. Durch den Riß in der Kleidung sah Muhsa, wie sich die Wunde der Frau wieder schloß, ohne daß sie blutete. Der Anführer einer der größten Terrororganisationen der Erde, dem Tausende von Menschen in blindem Gehorsam in den Tod folgen würden, stand kurz vor einer Ohnmacht. Seine Knie knickten leicht ein, aber noch hielt er sich im Türrahmen fest. Amy überlegte, ob sie ihn einfach umniesen sollte. Sie entschloß sich für einen simplen Handkantenschlag, den sie wie beiläufig ausführte. Kalkweiß brach Achmed bin Muhsa zusammen. Wahrscheinlich hätte es genügt, einmal laut und kräftig ›Buh!‹ zu rufen, dachte Amy Stewart amüsiert. Männer! Eigentlich hatte sie gar keinen Grund für Heiterkeit. Zwar hatte sich die Wunde über ihrem Herzen geschlossen, aber das Herz selbst ließ sich nicht so leicht heilen. Die Klinge hatte es schwer verletzt, das konnte sie deutlich spüren. Im Phant machte ihr das zwar nichts aus, doch sobald sie sich wieder in einen normalsterblichen Menschen »zurückverwandelte«, würde sie auf der Stelle sterben. *
Als Achmed bin Muhsa erwachte, spürte er jeden Muskel, jede Sehne in seinem Körper. Das konnte unmöglich nur eine Nachwir‐ kung des Handkantenschlags »der Hexe« sein. Offensichtlich hatte man ihn zusätzlich paralysiert und dann hierhergebracht. Aber wo war »hierher«? Er richtete sich langsam auf und schaute sich um. Offensichtlich befand er sich in der Zentrale eines Raumschiffs. Seine engsten Ver‐ trauten hielten sich ebenfalls hier auf. Auch sie erwachten nach und nach. Die Zentrale war ziemlich überfüllt. Wohin Muhsa auch schaute, er war von seinen teils wachen, teils noch bewußtlosen Anhängern umgeben. Theoretisch hätte ihn das freuen müssen, praktisch wäre ihm etwas mehr Platz lieber gewesen. Mehrere Kegelkampfroboter nahmen zusätzlichen Raum ein. Sie schwebten überall in der Zentrale und bewachten die technischen Einrichtungen. Ein zweibeiniger humanoider Großserienroboter, vom Volksmund »Blechmann« genannt, kümmerte sich um die me‐ dizinische Versorgung der Verletzten. Muhsa erblickte die Marsgeborene Amye Shivaa. Ihre linke Schul‐ ter war bandagiert, ihr Arm steckte in einer Schlinge. »Willkommen auf der TSINGTAU, Erhabener«, begrüßte sie den Anführer der Terrororganisation ehrerbietig. »Ich brauche Informationen«, erwiderte Achmed bin Muhsa kurz angebunden. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, deine gesamte treue Gefolgschaft ist bei dir«, entgegnete die Frau. »Das ganze Raumschiff ist voll von deinen Anhängern. Selbst in den leeren Flashhangars haben sie sich niedergelassen. Wir werden ständig von den Robotern überwacht, aber auch versorgt. Man hat uns noch vier weitere Ringraumer zur Verfügung gestellt; sie sind ebenfalls voll besetzt, wie mir Dan Riker versicherte. Wir alle erwarten jetzt voller Unge‐ duld den Start ins Paradies.«
Sieh an, Riker hat Wort gehalten und uns die fünf Schiffe überlassen, dachte Muhsa. Und das, obwohl sich Ren Dhark und seine Hexe selbst befreien konnten. Zuviel Großzügigkeit machte ihn mißtrauisch. Wo war der Haken an der Sache? »Befinden wir uns auf dem Raumhafen von Alamo Gordo?« fragte Muhsa seine Getreue. »Nein, auf dem von Djakarta«, erhielt er zur Antwort. »Man brachte dich in einem Flash hierher. Die Unruhen ebben allmählich ab, sagt Riker, so daß unserer Abreise nach Medina wohl nichts mehr im Weg stehen dürfte.« »Wo hält sich Riker derzeit auf?« »In der Zentrale der POINT OF. Kurz bevor du erwacht bist, mel‐ dete er sich über die Bildkugel und kündigte den bevorstehenden Start an. Allerdings ist bisher noch keine Besatzung an Bord der TSINGTAU gekommen.« »Vielleicht steuern ja die Roboter das Schiff«, vermutete bin Muh‐ sa. »Oder wir sollen es selbst fliegen.« Amye schüttelte den Kopf. »Die Roboter schützen die Kontrollen mit ihren Prallschirmen und lassen niemanden heran. Auch die Ge‐ dankensteuerung reagiert nicht.« In diesem Augenblick erschien Ren Dharks Gesicht in der Bildku‐ gel. Er machte einen gefaßten Eindruck und ließ sich die zurücklie‐ genden Strapazen nicht anmerken. »Ich verlange eine Erklärung!« sagte Achmed bin Muhsa unwirsch. »Was haben Sie mit uns vor?« »Wir erfüllen Ihnen Ihren sehnlichsten Wunsch – obwohl Sie es weiß Gott nicht verdient haben«, antwortete ihm der Commander der POINT OF. »Wie ich von meinem Freund Dan Riker erfuhr, möchten Sie mit all Ihren Anhängern in ein 1200 Lichtjahre entfern‐ tes System namens Medina ausreisen. Eure Zukunft wollt ihr alle auf einem Planeten verbringen, den ihr Mina nennt. Die exakten Koor‐ dinaten haben wir inzwischen von Amye Shivaa erhalten. Dan hat
den Commander der Planeten überzeugt, daß es für die Erde nur Vorteile hat, wenn die Regierung eurer Ausreise zustimmt. Fünf Schiffe und die POINT OF stehen dafür auf dem Raumhafen start‐ bereit. Falls nicht noch jemand im letzten Augenblick das Bedürfnis verspürt auszusteigen, geht es jetzt los.« »Warum lassen Sie uns die Schiffe nicht selbst fliegen?« fragte Muhsa. »Die Roboter verhindern mit ihren Prallschirmen, daß wir an die Kontrollen kommen.« »Wir wollen sichergehen, daß Sie und Ihre Gefolgschaft heil und gesund auf Mina eintreffen«, entgegnete Dhark mit einem seltsamen Unterton. »Deshalb wird der Bordrechner der POINT OF die fünf Ringraumer steuern. Am besten, Sie kümmern sich nicht um die Roboter. Wenn Sie denen nichts tun, tun die Ihnen auch nichts.« »Ich traue Ihnen nicht«, erwiderte der Anführer der HD. »Wer ga‐ rantiert uns, daß Sie die fünf vollbesetzten Schiffe nicht in die Sonne lenken? Auf diese Weise würden Sie uns ein für allemal loswerden.« »Ein verlockender Gedanke«, meinte Dhark. »Doch wir sind keine Massenmörder. Sie haben mein Wort, daß wir Sie unversehrt auf Ihrem Wunschplaneten abliefern – jeden einzelnen von Ihnen.« »Je eher, desto besser«, sagte Muhsa. »Die Erde ist nicht länger unsere Heimat. Wir werden sie nicht vermissen, vor allem jetzt nicht, bei all den Unruhen rund um den Planeten.« »Ohne Sie und Ihre von Fanatismus geprägten Hetzreden hätte es erst gar keine Unruhen gegeben«, hielt Dhark ihm vor. »Gott sei Dank bekommen wir das Chaos allmählich wieder in den Griff.« »Wie wollen Sie das schaffen?« höhnte sein Gesprächspartner. »Sie können unmöglich die gesamte Weltbevölkerung paralysieren, so wie man es hier auf dem Flugfeld meinen Brüdern und Schwestern angetan hat.« »Seit dem Handkantenschlag, den meine Begleiterin Ihnen ver‐ paßte, und unserer augenblicklichen Unterhaltung sind Stunden vergangen«, teilte Dhark ihm mit. »Stunden, in denen sich viel getan hat. Ich verspüre nicht die geringste Lust, Ihnen jede Einzelheit zu
schildern, das ist mir zu zeitraubend. Nur so viel: Es ist Ihnen nicht gelungen, der Menschheit zu schaden, zumindest nicht in dem Maße, wie Sie es sich wohl erhofft hatten.« »Die Helden des Dschihad haben der Menschheit niemals schaden wollen!« setzte Achmed bin Muhsa zu einer seiner berüchtigten Haßtiraden an – aber Dhark hörte ihm nicht mehr zu und brach die Verbindung kurzerhand ab. »Dieser arrogante Widerling!« zeterte Muhsa. Er beruhigte sich rasch wieder, schließlich konnte man ihn überall in der Zentrale hören. Ein Anführer, der zu schnell die Kontrolle über sich verlor, büßte leicht das Vertrauen seiner Gefolgschaft ein. Muhsa nahm Amye Shivaa beiseite – insofern das möglich war, denn auf dem ganzen Schiff war man nirgendwo wirklich unter sich. »Wir könnten auf Mina einige der Roboter gut gebrauchen«, sagte Muhsa. »Gibt es eine Möglichkeit, sie umzuprogrammieren?« »Wenn ich das könnte, wäre die TSINGTAU schon längst wieder in unserer Hand«, antwortete die Frau. »Die Roboter lassen niemanden an sich heran. Aber vielleicht schenken uns die Ungläubigen ein paar der nützlichen Maschinen. Immerhin haben sie uns auch die fünf Schiffe überlassen.« »Ich hasse es, von der Mildtätigkeit meiner Feinde abhängig zu sein.« Muhsa stieß einen leisen Fluch aus. »Eher würde ich sterben, als sie um etwas zu bitten. Du wirst das für mich tun!« Amye Shivaa senkte der Kopf, womit sie Gehorsam und Zustim‐ mung signalisierte. Widersprüche duldete »der Erhabene« nicht, schon gar nicht von Frauen. »Sobald wir auf Mina gelandet sind, setze ich mich mit Ren Dhark in Verbindung und trage ihm meine Bitte vor«, versicherte sie dem Anführer der Organisation. In diesem Augenblick hob die TSINGTAU vom Boden ab. Achmed bin Muhsa fragte sich, auf welchem Schiff Kuan Singut wohl untergekommen war. Der gefürchtete Mörder, den alle nur unter dem Decknamen Thu‐Kem kannten (ohne ihn wirklich zu
kennen, weil es außer seinem Herrn keinen lebenden Augenzeugen gab, der seine Existenz hätte bestätigen können), konnte überall sein, vielleicht sogar auf der TSINGTAU. Muhsa brauchte ihn momentan nicht, doch auf Mina würde ihm der Getreueste seiner Getreuen mit Sicherheit wieder gute Dienste leisten… * Einige Stunden zuvor… Wulf Bud stellte keine großen Ansprüche ans Leben. Er brauchte ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen und zu trinken, Frau und Kinder sowie einen Job, der ihn weder über‐ noch unterforderte. Das Schicksal hatte ihm all das gegeben – mehr benötigte er nicht. Somit war er ein durch und durch zufriedener Mensch. Und er war fest entschlossen, ein durch und durch zufriedener Mensch zu bleiben, allen Schicksalsschlägen zum Trotz. Seit die Medien fortwährend neue Schreckensmeldungen verbrei‐ teten, war sein geradliniges Leben arg ins Wanken geraten. Angeb‐ lich stand der Untergang des gesamten Planeten kurz bevor – wo‐ raufhin zahllose Menschen ihre Häuser verließen und in Scharen zu den Raumhäfen pilgerten. Gleichzeitig wurden die Nahrungsmittel knapp. Die Geschäfte wurden zum einen leergekauft, zum anderen leergeplündert. Als ob das Sterben der Sonne verhindert werden konnte, indem man daheim seinen Vorratskeller bis zum Bersten füllte… Wulfs Ehefrau und seine beiden jugendlichen Söhne hatten ihr Zuhause im Stich gelassen und sich den Flüchtenden angeschlossen. Er hatte nicht versucht, sie davon abzubringen, sich aber selbst dafür entschieden, zu bleiben, wo er war. Wulf Bud gehörte einfach hier‐ her, an den Stadtrand von Alamo Gordo, ins Erdgeschoß des sie‐ benstöckigen Mietshauses, dessen Hausmeister er war. Sein Hausmeisterjob war ihm wichtig. Aber hatte er ihn überhaupt
noch? Der Hauseigentümer meldete sich nicht mehr, und inzwischen standen alle Wohnungen leer. Alle? Nein, im siebten Stockwerk gab es noch eine große Woh‐ nung, in die erst kürzlich jemand eingezogen war. Der neue Mieter war laut Wulfs Informationen ein alleinstehender Mann, ein Vertre‐ ter oder so, jedenfalls war er ständig irgendwo unterwegs. Wulf hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen. »Mister Geheimnisvoll« war momentan zu Hause, und er hatte sogar Freunde zu sich eingeladen. Der Hausmeister hatte auf dem Flur viele undeutliche Stimmen gehört und erleichtert festgestellt, daß er nicht allein im Gebäude war. Außer ihm hatte offenbar noch jemand den Mut gefunden, mit seinem Zuhause unterzugehen wie ein Kapitän mit seinem sinkenden Schiff. Wulf fürchtete sich nicht vor dem prophezeiten Weltuntergang. Er war ein guter Christ, der täglich betete und felsenfest an ein körper‐ loses Dasein nach dem Tode glaubte. Auch der neue Mieter betete oft, meist im Kreis von Freunden, das hatte Wulf selbst gehört (als sein Ohr mal »rein zufällig« zu dicht an dessen Wohnungstür gera‐ ten war). Den Inhalt der Gebete hatte er allerdings nicht verstehen können, da sie in einer fremden, orientalisch klingenden Sprache gesprochen wurden. Wulf hatte ein Lieblingsgebet: O Herr, gib mir die Gelassenheit, das, was sich nicht ändern läßt, gleichmütig zu akzeptieren. Gib mir den Mut und die Kraft, das, was sich ändern läßt, zu ändern. Und gib mir die Weis‐ heit, beides voneinander zu unterscheiden. Wulf leierte dieses Gebet nicht einfach so Abend für Abend he‐ runter – er lebte danach. Schon oft hatte er überlegt, an der Wohnungstür des ihm unbe‐ kannten Mieters zu läuten und sich ihm als Hausmeister vorzustel‐ len. Aber irgend etwas – und er wußte absolut nicht, was, es war nur so eine Art Instinkt – hatte ihn bisher immer davon abgehalten. Und überhaupt: War es nicht ein Gebot der Höflichkeit, sich als neuer Mieter den anderen Mietern im Haus zu zeigen und ihnen »Guten
Tag« zu sagen? Während Wulf draußen die Vordertreppe kehrte, spielte er mit dem Gedanken, einfach nach oben zu gehen und den Neuen endlich kennenzulernen. Ihn – und seine Freunde. Aber war es angebracht, sie ausgerechnet jetzt zu stören? Vielleicht hatten sie ja etwas Wich‐ tiges zu besprechen… Nicht nur der Bürgersteig vor dem siebenstöckigen Mietshaus, auch das gesamte Wohnviertel wirkte wie leergefegt. Hier und da sah man angstvolle Gesichter hinter den Gardinen, von Leuten, die glaubten, der Katastrophe entgehen zu können, wenn sie ihre Wohnungstür und ihre Fenster nur fest genug verschlossen hielten. Die meisten Bewohner waren jedoch unterwegs, zu Fuß oder mit dem Schweber, auf der Flucht vor dem Unvermeidlichen. Es war still geworden im Viertel. Selbst hoch in der Luft herrschte eine gespenstische Ruhe, so als ob sogar die zwitschernden Vögel und summenden Insekten begriffen hätten, was ihnen bald bevors‐ tand. Wulf schaute zum Himmel – und ihn durchfuhr ein gehöriger Schreck. Über ihm, etwa auf Höhe des siebten Stockwerks, hatte sich lautlos ein Schwarm Hornissen versammelt. Riesenhornissen aus Metall! Abwechselnd schwebten sie durch die Hauswände nach drinnen, in die Wohnung des geheimnisvollen Mieters, und kamen kurz darauf wieder nach draußen. Flash! schoß es Wulf durch den Kopf. Er hatte schon viel von den phantastischen Beibooten der Ring‐ raumer gehört, aber noch nie zuvor hatte er eines von Nahem er‐ blickt. Und jetzt gleich so viele – mindestens ein Dutzend! Wieso konnte er sie eigentlich sehen? Hatte es in den Medien nicht immer geheißen, sie seien unsichtbar? Wahrscheinlich hatte er das mit dem eigenen Kontinuum nur falsch verstanden… Wenig später verschwanden die Flash am Himmel. Wulf Bud be‐ gab sich in den siebten Stock. In der obersten Wohnung war es ganz
still. Offensichtlich hatten die Flashpiloten hier Passagiere aufge‐ nommen – und befanden sich jetzt mit ihnen auf der Flucht ins All. »Feiglinge«, murmelte der Hausmeister. »Mich kriegt hier jeden‐ falls keiner weg!« * Der Flash, in den Ren Dhark eingestiegen war, wurde von keinem Geringeren als Dan Riker gesteuert. Dan war sofort aufgebrochen, kaum daß Ren ihn auf dem Vipho angerufen hatte. »Du glaubst nicht, wie erleichtert ich war, als ich hörte, daß du al‐ les unter Kontrolle hast, Ren. Die Krisensitzung der Regierung war zwar noch nicht beendet, aber man muß Prioritäten setzen. Ich habe den Konferenzraum sofort verlassen und elf Flash zu der von dir genannten Adresse beordert. Das Wohnviertel scheint ja ziemlich verlassen zu sein. Vor dem Haus, in dem man Amy und dich ge‐ fangenhielt, war nur ein einziger Bewohner zu sehen – der seelen‐ ruhig die Vordertreppe fegte, so als wäre heute ein Tag wie jeder andere.« »Leider habe ich nicht wirklich alles unter Kontrolle«, erwiderte Dhark bedrückt. »Amys Schicksal hängt am seidenen Faden. Sie wurde schwer verletzt und muß sofort auf die Medostation. Wie kommt es eigentlich, daß dich Trawisheim zur Krisensitzung einge‐ laden hat? Seit wir Zivilisten sind, zieht er uns nur noch dann zu Rate, wenn er nicht mehr weiterkommt und dringend die POINT OF braucht.« »Ich habe mich selbst eingeladen«, entgegnete Riker grinsend. »Das war gar nicht so leicht. Man schoß auf mich, wollte mich ver‐ haften, und der Innenminister streckte seine gierigen Finger nach der POINT OF aus…« Er schilderte dem Commander des einstigen TF‐Flaggschiffs kurz die aktuelle Lage in Djakarta und berichtete ihm, was er mit Achmed bin Muhsa und dessen immens großer Anhängerschaft vorhatte.
»Daß Muhsa für seine Greueltaten von unserer Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen wird, paßt mir überhaupt nicht«, äußerte sich Ren Dhark. »Zugegeben, wir können nicht sämtliche Gefängnisse mit seinen Gefolgsleuten überbelegen, aber sollten wir nicht we‐ nigstens ihn vor Gericht stellen?« Dan schüttelte den Kopf. »Wenn wir bin Muhsa nicht mit nach Medina nehmen, riskieren wir auf den fünf Schiffen einen Massen‐ aufstand. Ohne ihren ›Erhabenen‹ würden sich diese Fanatiker vermutlich weigern, auf Mina auszusteigen. Wir können nicht schon wieder alle paralysieren – die Menschen sind von der letzten Para‐ lyse noch zu sehr geschwächt, so daß viele von ihnen die zweite Strahlendosis nicht überleben würden. Im übrigen ist das, was wir Muhsa und seinen Anhängern zugedacht haben, Strafe genug, meinst du nicht? Ich möchte jedenfalls nicht in deren Haut stecken.« Ren seufzte. »Du hast ja recht. Die Sicherheit der Erde geht in je‐ dem Fall vor, dahinter muß jeder Gedanke an Rache und Gerech‐ tigkeit zwangsläufig verblassen. Wenn wir die selbsternannten ›Helden des Dschihad‹ erst einmal los sind, können wir uns besser auf die Rettung oder – wenn es gar nicht zu vermeiden ist – auf die Evakuierung unseres Planeten konzentrieren. Sag mal, wo fliegst du eigentlich hin?« Auf dem Bildschirm war kein Flash mehr zu sehen. Die Piloten flogen mit Amy, bin Muhsa und dessen Erfüllungsgehilfen zur POINT OF. Nur Riker schlug einen anderen Weg ein, hinauf in die bewaldeten Berge über Alamo Gordo. Rens Frage erübrigte sich, als Dan die »Hornisse« auf dem Flug‐ hafen einer kleinen, überaus außergewöhnlichen Stadt landete: Star City. Das ruck, zuck auf dem Reißbrett entstandene Städtchen war für die Schwarze Garde errichtet worden und militärisches Sperrgebiet für Nichtprivilegierte – zu denen Dhark und Riker, der sein Kom‐ men schon im Vorfeld der »Ren‐und‐Amy‐Abholaktion« angekün‐ digt hatte, nicht zählten. Star City verfügte über eine eigene Univer‐
sität und ausgedehnte Forschungslabors. Weil hier die klügsten Köpfe der Erde wohnten, nannte man diese Hochtalansiedlung auch humorvoll »Geniestädtchen«. Manche Zeitgenossen spöttelten über die überwiegend jungen Bewohner, bezeichneten sie als »Wunderkinder« und erzählten sich heitere Anekdoten über sie, beispielsweise diese: »Bei der Feuerwehr von Alamo Gordo fällt ein Teil der Kommunikationstechnik aus. Ausgerechnet jetzt geht ein aufgeregter Viphoanruf ein, ohne daß erkennbar ist, von woher er kommt. Man kann den Anrufer zwar hören, ihm aber nicht antworten. ›Hilfe! Hilfe!‹ ertönt es aus dem Gerät. ›Hier wird chemische Energie in Wärmeenergie umgesetzt, derart fortschreitend, daß bei zu stark beschleunigter Reaktion grö‐ ßere Lichterscheinungen auftreten könnten!‹ In dieser Sekunde bricht die Verbindung völlig zusammen. Umgehend alarmiert der wachhabende Feuerwehrmann seine Kameraden: ›Jungs, wir haben einen Einsatz – es brennt in Star City!‹« Die Gardisten waren nicht nur brillante Wissenschaftler, sondern auch Elitesoldaten des Raumkorps – eine schnelle, harte Eingreif‐ truppe, die überwiegend auf fremden Planeten eingesetzt wurde. Sie gehörten der Terranischen Flotte an, unterlagen allerdings besonde‐ ren Regeln. Beispielsweise konnte bei der Garde nur derjenige Offi‐ zier werden, der promoviert hatte. Ren Dhark war natürlich informiert über die Entdeckung des »Heiligtums« auf der Roboterwelt Eins. Er war schon mächtig ge‐ spannt, zu welchem Ergebnis die Untersuchungen in den Labors von Star City geführt hatten. Offenbar hatten die jungen Wissenschaftler etwas Wichtiges herausgefunden. Warum sonst würde sein Freund solche Geheimniskrämerei betreiben? Ren irrte sich. Zwar waren die Forscher tatsächlich auf einen »Knaller« gestoßen, die auf Eins konfiszierten Gewebeproben be‐ treffend, aber noch waren die abschließenden Analysen nicht been‐ det. Die Gardisten gaben sich nicht mit unzulänglichen Ermitt‐ lungsergebnissen zufrieden. Grundsätzlich forschten sie so lange, bis
sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatten. An diesem Punkt waren sie noch nicht angelangt. Und so traf Dhark an diesem Tag nicht mit Kurt Buck und seinem Team zusammen, sondern mit einem Mann, der ihm manchmal ziemlich lästig wurde… * Der zweiunddreißigjährige, kugelrunde, rothaarige Reporter Bert Stranger hatte von Natur aus einen unschuldigen Gesichtsausdruck. Damit konnte er seine Mitmenschen täuschen, allerdings nur solan‐ ge, bis sie ihn näher kennenlernten und allmählich anfingen, ihn zu durchschauen, denn in Wahrheit war Bert ein ganz Ausgebuffter. Als Mitarbeiter von Terra‐Press zählte er zu den bekanntesten Jour‐ nalisten der Erde. Unter anderem hatte er über den spektakulären Umzug des Stammwerks von Wallis Industries berichtet, und er hatte die Schwarze Garde und die Cyborgs bei ihrem Einsatz auf Eins begleiten dürfen. Im Gegensatz zum Medienkonglomerat Intermedia wären die Verantwortlichen bei Terra‐Press niemals auf den wahnwitzigen Gedanken gekommen, Achmed bin Muhsas Hetzkampagne in einem fort auszustrahlen und damit den gesamten Planeten in Angst und Schrecken zu versetzen. Ganz offensichtlich hatte der zwielichtige Intermedia‐Geschäftsführer Skittleman keine derartigen Skrupel. Stranger bekam jetzt die Gelegenheit, medienwirksam zurückzu‐ schlagen – vorausgesetzt, Ren Dhark machte mit (und danach sah es augenblicklich gar nicht aus). »Das kann unmöglich dein Ernst sein, Dan!« entrüstete sich der Commander, nachdem Riker ihn in das kleine, mit hochwertiger Technik ausgestattete Sendestudio von Star City geführt und ihm seinen Plan erläutert hatte. »Ich hasse Ansprachen, das weißt du doch! Trawisheim ist das Regierungsoberhaupt, nicht ich. Soll er doch zur Bevölkerung sprechen.«
»Das wird er auch«, mischte sich Stranger ein. »Der Commander der Planeten wird einige Zeit nach Ihnen auf Sendung gehen, Commander, und über vorsorgliche Evakuierungen und Edens Raumschiffneubauprogramm referieren. Er wird den terranischen Bürgern zusichern, daß im Notfall jeder von ihnen einen Platz auf einem Schiff bekommt.« »Trifft das tatsächlich zu?« hakte Dhark skeptisch nach. »Haben wir wirklich genügend Platz für alle Menschen?« »Spielt das eine Rolle?« stellte Bert Stranger ihm die Gegenfrage. »Mein Auftrag lautet, die Panik einzudämmen, und den werde ich erfüllen. Alles weitere ist nicht meine Sache. Ich habe nie behauptet, ich sei in der Lage, die Welt zu retten – aber ich kann dazu beitragen, daß sie nicht von ihren Bewohnern selbst zerstört wird.« Ren Dhark war nicht so leicht zu überzeugen. Doch die Zeit drängte, und eine bessere Idee hatte auch er nicht. Ob es ihm nun gefiel oder nicht: Er war auf Terra ein Volksheld, die Leute hörten auf ihn. Also erklärte er sich mit Dans Plan einverstanden, wenn auch mit einem tiefen Seufzer. In der nächsten Stunde stellte er sich a.) der Herausforderung und b.) Berts Aufzeichnungsgeräten. Ohne lange nachzudenken redete Ren einfach los, sich darauf verlassend, daß Stranger hinterher jedes unbedachte Wort, jeden Versprecher oder sprachlichen Holperer herausschneiden würde – schließlich war der Mann ein Medien‐ vollprofi. Dhark erzählte seinen bislang noch imaginären Zuhörern von dem Schock, der ihn durchfahren hatte, als für ihn feststand, daß die Sonne immer weniger Energie abgab und die Erde zum Eisplaneten zu gefrieren drohte. Den Worgun Dalon stellte er als einen wan‐ dernden Weisen aus der Galaxis Orn dar, was ja in gewisser Weise auch zutraf. Über Arc Doorns wahre Identität hingegen verlor er kein Wort, das stand ihm seiner Ansicht nach nicht zu und würde nur zu unnötigen Irrationen führen. Der Raumfahrer stilisierte Artus zum Helden hoch, der unter Ein‐
satz seines einzigartigen Roboterlebens im Auftrag der GSO auf Eins Spionage betrieben hatte. Seinen Ermittlungen als »Geheimagent« war es zu verdanken, daß der Angriff gegen Terra rechtzeitig er‐ kannt und erfolgreich abgewehrt werden konnte. Des weiteren be‐ richtete Dhark von der Zerstörung der Energiezapf anläge, die leider zu spät erfolgt war. Auch die Rolle der Schwarzen Garde, die im Beisein eines Medienvertreters weitere Nachforschungen auf dem Roboterplaneten angestellt hatte, hob er hervor (wobei er die Ent‐ deckung des »Heiligtums« unter den Tisch fallen ließ, schließlich wußte er darüber selbst noch nichts Genaueres), und er vergaß auch nicht, den ständigen Kampf der Galaktischen Sicherheitsorganisati‐ on gegen Muhsas Terrorgruppe zu erwähnen. »Der Commander der Planeten hat alle nur erdenklichen Kräfte zum Schutz der Erde mobilisiert«, beendete Ren Dhark seinen auf‐ rüttelnden Appell. »Junge Soldaten halten zur Abwehr des Robo‐ tervolkes für uns alle den Kopf hin. Derweil arbeiten die intelligen‐ testen Wissenschaftler der Menschheit an dem Problem, das uns die Sonne bereitet. Auch die Besatzung der POINT OF ist ständig im Dienst der Menschheit aktiv. Hätte die Erde keine reale Überlebenschance, wäre die Regierung dann noch hier? Sowohl der Commander der Planeten als auch ich, der Commander der POINT OF, könnten sich nach Eden zurück‐ ziehen und dort von einem sicheren Logenplatz aus zuschauen, wie Terra mit Mann und Maus untergeht. Viele von Ihnen würden das sofort tun, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten, nicht wahr? Warum also bleiben wir, wo wir sind? Weil wir an die Rettung der Erde glauben! Weil wir fieberhaft nach einer Möglichkeit suchen, den fortwährenden Energie Verlust der Sonne zu stoppen und ihr wieder neue Energien zu verschaffen. Weil wir niemals aufgeben! Helfen Sie uns bei unseren Bemühungen, indem Sie heimgehen und das Ergebnis unserer Maßnahmen abwarten – anstatt schon jetzt alles kaputtzumachen. Geben Sie uns und sich selbst eine Chance, sonst ist die Erde bereits tot, bevor die Sonne stirbt.«
Die Aufzeichnung war beendet. Ren Dhark schaute Stranger an und sagte nur ein Wort: »Zufrieden?« Bert Stranger nickte und antwortete ebenfalls mit nur einem Wort: »Zufrieden.« Ohne viel Federlesens machte er sich sofort an die Bearbeitung der Rede. »Wann sind Sie damit fertig?« wollte Dhark wissen. »Gestern«, antwortete Bert. »Noch während Sie Ihre Ansprache hielten, habe ich bereits mit der Fertigstellung des Berichts begonnen – von meiner perfekten Vorarbeit ganz zu schweigen. Ich gehe auf Sendung, noch bevor Riker und Sie die POINT OF erreicht haben, wetten?« »Das wird sich zeigen«, entgegnete Dhark und begab sich zum Flash. Er hatte es eilig, wollte zu Amy… * Bert Stranger hatte nicht übertrieben. Ren Dhark und Dan Riker waren noch im Flash zur POINT OF unterwegs, als die aufgezeich‐ nete Ansprache ans Volk zum erstenmal weltweit ausgestrahlt wurde – in Wort und Bild. Bert hatte den Bericht über die Ereignisse um die Sonne und seine eigenen Erlebnisse geschickt mit Dharks Rede zusammengeschnitten. »Ein Meisterwerk!« bemerkte Ren. »Ich wußte ja, wieviel der Bur‐ sche auf dem Kasten hat, dennoch erstaunen mich seine Leistungen immer wieder aufs neue. Dafür sollte man ihm einen Preis verlei‐ hen.« »Noch einen?« entgegnete Dan. »Stranger hat wahrscheinlich schon so viele Journalistenpreise eingeheimst, daß er dafür einen eigenen Lagerraum braucht.« Auch im Regierungsgebäude von Alamo Gordo verfolgte man die Ausstrahlung mit zufriedenen Gesichtern. Die Krisensitzung war
zwar offiziell beendet, aber alle Beteiligten hielten sich noch im Konferenzsaal auf. »Ich werde sofort eine Kopie anfordern«, entschied der Minister für innere Angelegenheiten. »Und dann lassen wir in allen Großs‐ tädten mit Holowerfern ausgestattete Gleiter ausschwärmen, insbe‐ sondere in Raumhafennähe.« Holowerfergleiter waren die technische Weiterentwicklung her‐ kömmlicher quäkender Lautsprecherwagen, mit denen man bereits zu Anfang des dritten Jahrtausends kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hatte vorlocken können. Damals waren diese Wagen fast nur noch zu Werbezwecken eingesetzt worden, beispielsweise auf Wahlveranstaltungen kleinerer Parteien, die auf diese nervige Weise verzweifelt versucht hatten, Aufmerksamkeit zu erregen. Die neuartigen Holowerfergleiter fanden bei der Bevölkerung mehr Zuspruch, sie waren echte »Hinhörer und Hingucker«. Aller‐ dings durften sie wegen der Unfallgefahr nicht in verkehrsreichen Gebieten eingesetzt werden; die Fahrer anderer Gleiter sollten nicht vom allgemeinen Verkehrsgeschehen abgelenkt werden. Angesichts der vorherrschenden weltweiten Unruhen spielten derlei Bedenken derzeit jedoch keine Rolle. »Eine ausgezeichnete Idee, Herr Minister«, meinte Trawisheim zu Koschmers Vorschlag. »Setzen Sie sie umgehend in die Tat um – als Ihre letzte Amtshandlung.« Frank Koschmer erblaßte. »Meine letzte… wie soll ich das verste‐ hen, Commander?« »So, wie ich es gesagt habe«, erwiderte Trawisheim, der inzwi‐ schen gemeinsam mit Bernd Eylers die Beweisunterlagen von Jo West gesichtet hatte. »Ich erwarte noch heute Ihr schriftliches Rück‐ trittsgesuch. Über die genaue Formulierung Ihrer Gründe sprechen wir später; wahrscheinlich läuft die offizielle Erklärung auf ge‐ sundheitliche Probleme hinaus. Am liebsten würde ich Ihnen den Prozeß machen oder Sie wenigstens den Medien zum Fraß vorwer‐ fen, wie Mister Eylers es mir vorgeschlagen hat… Aber das Ver‐
trauen der Bevölkerung in unsere Regierungsarbeit ist schon er‐ schüttert genug. Jacques Tristo wird den freigewordenen Posten ohne viel Aufhebens besetzen.« Das Regierungsoberhaupt hätte sich selbst ohrfeigen können. Erst hatte Trawisheim zugestimmt, Achmed bin Muhsa unbehelligt aus‐ reisen zu lassen – und jetzt verzichtete er auch noch darauf, ein be‐ stechliches Mitglied seiner Regierungsmannschaft anzuklagen. Sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn verursachte ihm schwere Gewis‐ sensbisse, obwohl er wußte, daß es keinen anderen Ausweg gab. Trawisheim hielt es für falsch, ausgerechnet jetzt den Innenminister vor Gericht stellen – ganz gleich, wie Bernd Eylers darüber dachte. Koschmer soll sich bloß nicht einbilden, daß ich ihm mit einer fetten Pen‐ sion den vorgezogenen Ruhestand versüße! dachte Henner. Keinen Cent kriegt er aus der Staatskasse! Soll er sich doch einen Job suchen – ehrliche Arbeit hat noch niemandem geschadet! Frank Koschmer stellte keine weiteren Fragen. Er wußte genau, wessen er sich schuldig gemacht hatte – und daß es wenig Sinn machte, zu leugnen. Die Schuld an seinem Schlamassel suchte er allerdings nicht bei sich selbst, sondern bei demjenigen, der ihn ver‐ raten hatte – dafür kam schließlich nur einer in Frage. In Gedanken stieß Koschmer zahllose Flüche gegen Jo West aus. Wie hatte er sich in diesem Leisetreter nur so täuschen können? * Amy Stewart war noch immer gephantet, als Ren mit ihr in der Zentrale der POINT OF zusammentraf. Auf der Medostation hatte man ihr nur bestätigt, was sie bereits befürchtet hatte: Sobald sie den Phant beendete, würde sie sterben. Um in den Phantmodus über‐ zuwechseln, mußte ein Virus aktiviert werden, das nach neun Tagen und sechs Stunden einen blitzartig wirkenden Krebs auslöste. »Mir bleibt demnach nur die Auswahl zwischen Tod und Sterben«, bemerkte Amy.
Ihre Worte klangen nicht furchtsam, sondern eher nüchtern und sachlich. Als Cyborg empfand sie verhältnismäßig wenig Angst. »Bleibe ich im Zweiten System, zerstört der Krebs meinen Orga‐ nismus. Verlasse ich den Phantmodus, zerreißt es mir das Herz – im wahrsten Sinne des Wortes.« »Vielleicht gibt es noch eine dritte Möglichkeit«, machte Dhark ihr (und sich selbst) Hoffnung. »Innerhalb des Modus heilen deine Wunden extrem schnell. Möglicherweise reichen die neun Tage aus, um dein Herz…« »Mach dir nichts vor«, unterbrach ihn Amy mit sanfter Stimme. »Der Kris hat mein wichtigstes Organ regelrecht zerfetzt. Eine derart schwere Verletzung läßt sich nicht so ohne weiteres beseitigen. Die Einstichwunde war dagegen nur ein Klacks.« »Echri Ezbal wird eine Lösung finden«, entgegnete Ren Dhark; es klang wenig überzeugend. Der über hundert Jahre alte weißbärtige Brahmane Ezbal war Ge‐ netiker, Biochemiker und Leiter der Cyborgstation im Brana‐Tal. Um die Jahrtausendwende hatte man den hochintelligenten Wissen‐ schaftler noch verlacht, heute galt er als der größte lebende Medizi‐ ner der Erde. Gemeinsam mit Manu Tschobe, dem schwarzafrikani‐ schen Leiter der Medostation an Bord der POINT OF, hatte er die Grundlagen für das Cyborgprogramm entwickelt. Amy verabschiedete sich von Ren und begab sich durch den Transmitter in der Galerie der Zentrale direkt ins Brana‐Tal. Dhark wäre gern mit ihr gegangen, aber zunächst mußte er sich um Ach‐ med bin Muhsa und dessen Gesinnungsgenossen kümmern. Dan Riker hatte bereits Kontakt mit der TSINGTAU aufgenommen und mit Amye Shivaa gesprochen. Ren Dhark stellte erneut eine Verbindung her, um Achmed bin Muhsa noch ein paar freundliche Worte mit auf den Weg zu geben. Danach leitete er den Start der fünf Ovoid‐Ringraumer ein, die vom Checkmaster gesteuert wurden…
4. Die POINT OF hatte die Erdatmosphäre noch nicht verlassen, als eine gute Nachricht aus dem Regierungsgebäude einging: Die Un‐ ruhen auf der Erde waren fast vollständig eingedämmt. »Dank Ihrer guten Vorarbeit, Dhark, fiel meine Ansprache auf fruchtbaren Boden«, teilte der Commander der Planeten dem Commander der POINT OF mit. »Die volle Wahrheit hat die Men‐ schen einerseits noch mehr in Schrecken versetzt. Andererseits hat unsere Offenheit die Bevölkerung beruhigt. Man weiß jetzt, daß die Regierung nicht untätig ist und zeigt sich bereit, erst einmal abzu‐ warten.« Er wünschte Ren Dhark viel Erfolg bei seiner Weltallmission und verabschiedete sich. »Dank Ihrer guten Vorarbeit…«, wiederholte Dan Riker amüsiert, nachdem das Gespräch beendet war. »Wie großzügig, daß er deine bescheidene Mitwirkung überhaupt erwähnt.« Ren Dhark wollte etwas erwidern, da ging noch ein zweiter Anruf ein. Bert Stranger ließ den Commander wissen, daß er gern wieder an Bord der POINT OF kommen würde, sobald man Achmed bin Muhsa dort abgeliefert hatte, wo er unbedingt hinwollte. »Beabsichtigen Sie jetzt etwa, als Dauergast bei uns mitzufliegen?« entgegnete Ren Dhark. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, Stranger, verstanden?« Auf eine Diskussion ließ er sich erst gar nicht ein. Kopfschüttelnd brach er die Verbindung ab. »Das war nicht sonderlich höflich«, tadelte ihn Dan Riker. »Stran‐ ger hat eine Menge für uns getan. Und man kann sich auf ihn ver‐ lassen – er veröffentlicht nichts, was der Erde oder Eden schadet. Besser, du überdenkst deine Entscheidung noch mal.« In der Kommandozentrale waren noch weitere Offiziere Rikers Meinung, aber nur Dan konnte es sich leisten, dem Commander
offen zu widersprechen, ohne dabei Gefahr zu laufen, von der Brü‐ cke gewiesen zu werden. »Ich denke drüber nach«, knurrte Ren. »Eins nach dem anderen.« * »Einer nach dem anderen«, schnarrte die Computerstimme des Kegelroboters, der für die vollständige Räumung der Zentrale der TSINGTAU zuständig war. »Niemand darf an Bord bleiben.« Auch auf den übrigen Decks wurden die Passagiere von den Ro‐ botern zum Verlassen des Raumschiffs aufgefordert. Die meisten von ihnen begaben sich zum Ausstiegsschott, einige blieben jedoch dickfellig sitzen; sie wollten erst die Anweisungen ihres Anführers abwarten. Achmed bin Muhsa bat den Kegelroboter in der Zentrale, eine Sprechverbindung zu allen Decks und zu den vier anderen Schiffen herzustellen. »Dafür sehe ich keine Notwendigkeit«, erwiderte die Maschine. »Laß mich mit meinen Gefolgsleuten reden«, ließ Muhsa nicht lo‐ cker. »Sonst trägst du die Schuld an den chaotischen Zuständen auf den Schiffen.« Menschen konnte man mit Worten beirren. Roboter nicht. »Es wird keine chaotischen Zustände geben, wenn alle Passagiere unsere Anweisungen befolgen«, sagte der Kegel und wiederholte: »Niemand darf an Bord bleiben.« »Das werden wir ja noch sehen!« schimpfte Muhsa. »Ich verlange, mit Ren Dhark zu sprechen!« Die Sonne Medina war der Sonne Sol sehr ähnlich. Außer Mina drehten sich in diesem System noch weitere Planeten um den Fixs‐ tern, die für die Ansiedlung von Menschen allerdings ungeeignet waren. Mina war in acht Kontinente aufgeteilt. Es gab hier reichlich Ur‐ wald, kleinere Wüstenlandschaften sowie viele Flüsse, Seen und
Meere. Intelligentes Leben existierte auf diesem Planeten nicht. Weitere Erkundungen waren bisher noch nicht erfolgt. Der Check‐ master hatte die fünf Ovoid‐Ringraumer in einer fruchtbaren Küs‐ tenebene in den gemäßigteren Breiten des größten Kontinents ge‐ landet. Die POINT OF blieb in der Umlaufbahn. Von dort aus verfolgten Ren Dhark und seine Offiziere die Geschehnisse auf Mina mit. Als ein Funkruf von der TSINGTAU einging, nahm Dhark ihn persön‐ lich entgegen. Er hatte bereits damit gerechnet. Muhsas verärgertes Gesicht erschien in der Bildkugel. »Wollen Sie sich von mir verabschieden?« fragte Ren ihn mit Un‐ schuldsmiene. »Machen wir es kurz: Leben Sie wohl – auf der Erde wird man Sie ganz bestimmt nicht vermissen. Die Menschen aller Religionen, auch die auf Terra verbliebenen Mohammedaner, kom‐ men ohne einen irrsinnigen Fanatiker wie Sie bestimmt besser zu‐ recht. Das gleiche gilt für Ihre gesamte verblendete Anhängerschaft.« »Mir sind fünfzehntausend gottesfürchtige Moslems freiwillig nach Mina gefolgt«, entgegnete Muhsa. »Es ist mehr als vermessen von Ihnen, alle pauschal als fanatisch abzustempeln.« »Ich habe bewußt den Begriff verblendet gewählt«, stellte der Commander richtig. »Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, was mit Ihnen passiert, wenn Ihre Gefolgsleute nach und nach aus der Gehirnwäsche, die Sie ihnen über Jahre hinweg verpaßt haben, erwachen? Wenn sie anfangen, eigenständig zu denken, und zu dem Schluß kommen, daß sie alles, was ihnen zu‐ gestoßen ist, nur Ihnen zu verdanken haben? Glauben Sie wirklich, Sie könnten dann nachts noch ruhig schlafen – umgeben von Men‐ schen, die Sie hassen und denen Sie selbst beigebracht haben, wie man hinterhältige Anschläge verübt?« »Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein«, antwortete Achmed bin Muhsa leicht verunsichert. »Ich bin der geborene Anführer und habe meine Anhänger fest im Griff.« »Na, dann dürfte es Ihnen ja kein Problem bereiten, für eine rei‐
bungslose Räumung der Schiffe zu sorgen.« »Das würde ich ja gern tun, doch Ihre Roboter hindern mich daran, eine Funkverbindung zu allen Schiffen herzustellen. Dabei will ich nur Unruhen vermeiden und die Passagiere auffordern, die Ring‐ raumer geordnet und gesittet zu verlassen und sich draußen zu versammeln – abgesehen von einer Wachmannschaft, die auf jedem Schiff an Bord verbleibt. Es gibt noch viel zu tun, wie Sie sich wohl ausmalen können. Unter anderem muß die Unterkunftsfrage gere‐ gelt werden. Hangars und Lagerhallen sind auf Dauer keine geeig‐ neten Schlafplätze.« »Niemand wird die nächste Nacht in einem Hangar oder Lager‐ raum verbringen«, versicherte ihm Ren Dhark. »Aber es gibt auf den Schiffen nicht genügend Kabinen«, wider‐ sprach Muhsa. »Selbst bei Mehrfachbelegung…« »Ihr werdet draußen schlafen«, unterbrach ihn Dhark. »Und zwar alle! Ich erwarte, daß die Raumschiffe umgehend komplett geräumt werden. Es bleiben keine Wachmannschaften zurück und auch sonst niemand. Die Roboter spüren jeden blinden Passagier auf, der ver‐ sucht, sich an Bord zu verstecken. Vor dem Start in Djakarta war die letzte Gelegenheit zur Umkehr, nun ist es zu spät.« Muhsas Verunsicherung verstärkte sich. Allmählich begriff er, worauf Ren Dhark hinauswollte. »Sie… Sie wollen die Schiffe wieder mitnehmen?« stammelte er. »Sobald sie vollständig geräumt sind«, bestätigte Dhark. »Beeilen Sie sich, ich habe nämlich noch einiges vor.« Amye Shivaa war bei dem Gespräch anwesend. Ihr war klar, daß es keinen Sinn mehr machte, den Commander um ein paar Roboter zu bitten. Sie probierte es trotzdem, schließlich hatte es ihr »der Er‐ habene« befohlen. Dhark beantwortete ihre Bitte wie erwartet abschlägig. »Ihr müßt lernen, in Zukunft ohne Maschinen aller Art auszukommen. Wir lassen euch lediglich einige primitive Gärtnergeräte und Hand‐ werkzeuge sowie etwas Baumaterial da, zur Unterstützung bei der
Errichtung eines provisorischen Lagers. Die Betonung liegt auf Handwerkzeuge – es ist garantiert nichts Batteriebetriebenes mit dabei. Aggregate zur Stromerzeugung erhaltet ihr ebenfalls nicht. Licht spenden euch Sonne und Mond, und falls es kalt wird, entfacht ihr halt ein Feuer. Die Lebensmittel, mit denen wir euch fürs erste aus‐ statten, reichen zwar für eine geraume Weile, jedoch nicht ewig. Daher würde ich euch anraten, rechtzeitig damit zu beginnen, Speere und Pfeile zu schnitzen und Bögen für die Jagd zu bauen. Eine der Transportkisten ist randvoll gefüllt mit Taschenmessern, die euch dabei sicherlich von Nutzen sein werden.« »Heißt das, Sie wollen uns keine Schußwaffen geben?« fragte bin Muhsa entsetzt. »Der Planet ist noch unerforscht. Vielleicht leben hier wilde Tiere.« »Um so besser, dann verfügt ihr wenigstens über genügend Jagd‐ wild. Ihr könnt euch natürlich auch ausschließlich von Früchten und Pflanzen oder Gemüseanbau ernähren. Strahlen‐ oder Projektilwaf‐ fen kriegt ihr jedenfalls nicht, damit habt ihr auf der Erde zuviel Leid angerichtet.« »So springen Sie nicht mit mir um, Dhark! Wir weigern uns, die Schiffe zu verlassen!« »In diesem Fall zwingen Sie mich, entsprechende Maßnahmen einzuleiten«, machte Ren Dhark ihm unmißverständlich klar. »Ich werde die fünf Schiffe von der POINT OF aus mit Betäubungsstrah‐ len auf schwächster Leistungsstufe unter Beschuß nehmen. Mit der TSINGTAU fange ich an. Anschließend tragen euch die Roboter nach draußen und legen euch irgendwo ab. Ach ja, das Werkzeug, das Baumaterial und die Messer bleiben natürlich an Bord; diese Sachen waren als Belohnung für eure Kooperationsbereitschaft gedacht. Lediglich Medikamente, Verbandszeug und Lebensmittel Vorräte lassen wir zurück. Hoffentlich erwacht ihr rechtzeitig, bevor sich wilde Tiere über das Essen und das Trinkwasser hergemacht haben – oder über euch.« Zur Demonstration ließ er eine Strich‐Punkt‐Strahlensalve auf die
TSINGTAU abfeuern. Auf verschiedenen Decks wurden Passagiere ohnmächtig, auch in der Zentrale. »Sie haben gewonnen, Commander!« gab bin Muhsa sofort nach. »Ich beuge mich Ihren erpresserischen Bedingungen. Doch freuen Sie sich nicht zu früh! Eines Tages kehren die Helden des Dschihad auf ihren ursprünglichen Heimatplaneten zurück, und dann, das schwöre ich, zahle ich es euch allen heim!« Dan Riker mischte sich ein. In Anspielung auf Muhsas herablassende Bemerkung am Vipho sagte er: »Nur ein Dummkopf schwört, was er nicht halten kann.« * Achmed bin Muhsa gehörte zu den ersten, die ausstiegen. Wie die übrigen Passagiere hatte er nur etwas Handgepäck bei sich. Er setzte sich auf eine kleine Anhöhe, legte seinen Umhangbeutel neben sich und sah zu, wie die Massen aus den Ringraumern strömten und sich verteilten. Roboter schleppten diverse Behälter aus den Schiffen und trugen die Bewußtlosen nach draußen. Muhsas Anhänger machten ratlose Gesichter. Sie kamen sich vor wie Meuterer, die man mitten im Ozean auf einer einsamen Insel aussetzte. Erster Unmut breitete sich aus… Muhsa stand auf und schaute sich nach allen Seiten um. Auf den ersten Blick machte die Umgebung einen idyllischen Eindruck – auf fremden Planeten hatte das allerdings nicht viel zu bedeuten. Es gab hier Flüsse und Bäche mit klarem Wasser, was auf nahegelegene Quellen schließen ließ. Und von irgendwoher drang das Rauschen des Meeres an sein Ohr. Oder bildete er sich das nur ein? Ein paar Steinwürfe entfernt erstreckte sich der Rand eines nahezu endlosen Urwalds mit mächtigen Bäumen. Ihn zu erforschen würde viel Anstrengung kosten – und Menschenleben. »Hoffentlich wimmelt es dort nicht von krankheitsübertragenden
Insekten«, murmelte bin Muhsa und schüttelte sich innerlich. Die Medikamente, die soeben ausgeladen und neben dem Bauma‐ terial abgestellt wurden, reichten nur für einen begrenzten Zeitraum. Man mußte sparsam mit ihnen umgehen. Daher war es wichtig, sich rechtzeitig mit den Heilkräutern in der Umgebung vertraut zu ma‐ chen. Glücklicherweise zählten auch Mediziner zu Muhsas Gefolg‐ schaft. Sie würden lernen müssen, ohne ihre gewohnte Technik auszukommen und sich mit einfachen Mitteln zu behelfen. Bald darauf war die Aktion beendet. Die fünf Ringraumer hoben ab und verschwanden auf Nimmerwiedersehen am Himmel. Ach‐ med bin Muhsa stieg von der Anhöhe herab wie von einer Show‐ treppe. Gemächlichen Schrittes und aufrechten Hauptes begab er sich zu »seinem Volk«. Da stand er nun, inmitten seiner fünfzehntausend Anhänger, von denen viele ihn nicht gerade freundlich anschauten. Man hatte sie mit nur wenigen Hilfsmitteln auf einem wildfremden, unzivilisierten Planeten zurückgelassen – so hatten sie sich ihre Zukunft im »Para‐ dies« wahrlich nicht vorgestellt… Bin Muhsa fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Peinliches Schweigen breitete sich aus, und er wußte, daß er jetzt etwas sagen mußte. Aber was? »Wir werden viel göttlichen Beistand brauchen, um uns hier ein neues Leben aufzubauen!« begann er seine erste »Regierungsrede« und dachte im stillen: Und ich brauche jetzt niemanden dringender als Thu‐Kem… Muhsa beabsichtigte, Kuan Singut, der sich vermutlich irgendwo inmitten der Menschenmasse aufhielt, zu seinem persön‐ lichen Leibwächter zu ernennen. Zwar war er fest überzeugt, daß Allah ständig seine Hände über ihn hielt, aber etwas zusätzlicher Schutz konnte sicherlich nichts schaden, insbesondere nachts, wenn alles schlief… *
Die knapp sechzehnjährige Manon Habbas war wohlbehütet in einer bürgerlichen, gutsituierten asiatischen Familie aufgewachsen. Ihre Eltern hatten sie sittenstreng erzogen. Die Liste der traditionel‐ len Tabus, mit denen man sie während ihrer Kindheit malträtiert hatte, war lang. Benimm dich natürlich, höflich und bescheiden. Bedächtiges Reden un‐ terstreicht die Bedeutung der Worte. Wer zuviel redet, hat »feuchte Lippen« – er kann kein Geheimnis für sich behalten. Bei Tisch sitzen Männer und Frauen getrennt. Zum Verzehr der Speisen wird nur die rechte Hand verwendet; die linke Hand gehört beim Essen unter den Tisch, sie ist unrein. Ist man bei einer fremden Familie zu Gast, sollten alle Speisen wenigstens probiert werden, um den Gastgeber nicht zu beleidigen. Als Frau schlägt man beim Sitzen die Beine seitwärts unter. Frauen soll‐ ten sich nicht zu leicht bekleiden, weil sie dadurch in Verruf kommen. Nackte Arme sind zu vermeiden. »Oben ohne« unter dem Kleid ist anstößig. Und so weiter und so fort… Zahlreiche solcher verstaubten Regeln hatten Manon aus dem Haus getrieben – und in die Arme von Rawa, der mit seiner Straßengang einen ganzen Stadtteil von Djakarta ter‐ rorisierte. Terrorisiert hatte. Rawa lebte nicht mehr. Der Fremde hatte ihn und drei Gangmitglieder eiskalt umgebracht. Als allerorts die Weltuntergangspanik ausbrach, hatten Rawa und seine Jungs die Gelegenheit für Plünderungen und Raubüberfälle genutzt, auch außerhalb ihres angestammten Reviers. Manon, die sich schon vor Wochen der Bande angeschlossen hatte, hatte man die Aufgabe zugeteilt, während der Überfälle nach Polizeipatrouillen Ausschau zu halten. Der Fremde, den sie in einer Seitenstraße bedrängt hatten, hatte keine Polizei gebraucht. Er hatte sich massiv gewehrt – mit tödlichen Folgen für seine vier Angreifer. Als er an ihr vorübergegangen war, hatte Manon das kleine Wurfmesser hervorgeholt, das ihr Rawa nach ihrem Eintritt in die
Straßengang überreicht hatte. Jedes Bandenmitglied hatte eines bei sich; es war mehr Erkennungszeichen denn Waffe. Manon konnte mit einem solchen Messer überhaupt nicht richtig umgehen. Sie hatte es einfach geworfen, weil sie der Meinung ge‐ wesen war, Rawas Tod rächen zu müssen. Mittlerweile wußte sie, wie töricht sie gehandelt hatte. Im umgekehrten Fall hätte sich Rawa vermutlich einen Dreck um ihren Tod geschert. Fast hätte sie ihre Einfältigkeit das Leben gekostet. Der Stein, den der Fremde auf sie geschleudert hatte, hatte sie nur knapp verfehlt. Statt ihren Kopf zu treffen, hatte das Wurfgeschoß ein Reklameschild durchschlagen. Der Stein war mitten durch das Blech gegangen und hatte ein ansehnliches Loch hinterlassen. Manon konnte sich ausmalen, wie es ihr ergangen wäre, wäre ihr linker Fuß nicht genau im richtigen Augenblick umgeknickt, auf‐ grund eines gebrochenen Absatzes am Schuh. Dadurch hatte ihr Körper seine Position verändert, nur unwesentlich, aber ausreichend genug, um den Steinwurf knapp danebengehen zu lassen. Sie hatte den Luftzug des Steins an der Schläfe gespürt… Mittlerweile hatte Manon den zweiten Absatz von Hand abge‐ brochen. Auf ihren leicht verschlissenen Stiefeletten eilte sie durch die Straßen und Gassen von Djakarta, in denen es allmählich ruhiger wurde. Sie wollte zurück nach Hause. Besser in einer gestrengen Familie aufzuwachsen, als weiterhin ohne ein Dach über dem Kopf leben zu müssen. Manon war sicher, daß man sie daheim wieder aufnehmen würde. Ein abtrünniges Familienmitglied für alle Zeiten zu verstoßen ent‐ sprach nicht der Tradition der Habbas. Natürlich würde man sie fragen, wo und wie sie in den vergange‐ nen Wochen gelebt hatte. Manon mußte sich eine gute Geschichte zurechtlegen, um keine Schande über ihre Familie zu bringen. Daß sie sich einer Straßengang angeschlossen hatte, durfte daheim nie‐ mand erfahren, der Schock wäre für ihre Eltern zu groß. Und daß sie keine Jungfrau mehr war, behielt sie wohl besser auch
für sich. Zumindest für den Anfang. Vielleicht würde sie ja früher oder später mit ihrer Mutter darüber reden, je nachdem, ob ihr Ver‐ hältnis mit Rawa Folgen hinterlassen hatte oder nicht – eine Schwangerschaft konnte man schlecht vertuschen. Nur über eines würde sie garantiert mit niemandem sprechen, heute nicht, morgen nicht und nicht in hundert Jahren: daß sie einen Menschen getötet hatte, mit eigener Hand. Damit mußte sie ganz allein fertigwerden. Ein kalter Schauer lief Manons Rücken herunter, als sie vor ihrem inneren Auge das ungläubige Gesicht des Fremden vor sich sah. Er preßte die rechte Hand an seine Kehle. Blut lief ihm durch die Fin‐ ger… Sie hatte das Messer blindlings in seine Richtung geschleudert. Durch den abgebrochenen Absatz hatte sich die Wurfrichtung ruck‐ artig verändert. Es war nur ein Zufallstreffer gewesen – mit tödli‐ chem Ausgang. Manon tat der bärtige Mann leid. Er hatte ihr nichts getan, war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sie wußte nicht, wie er geheißen und wohin er gewollt hatte. Die Vorstellung, daß sie wo‐ möglich einen verzweifelten Familienvater umgebracht hatte, auf der Suche nach seiner Frau und seinen Kindern, ließ ihre Magen‐ säure hochsteigen. Manon blieb stehen und erbrach sich in die Gosse. Nein, sie hatte den Mann nicht gekannt – doch sie war überzeugt, daß irgendwo irgendwer auf ihn wartete… * Während Frank Koschmer in seinem ehemaligen Büro im Regie‐ rungsgebäude seinen Schreibtisch räumte, stand er dabei unter Überwachung des Sicherheitspersonals. Die Wachleute paßten auf, daß er nur seine Privatsachen mitnahm und keine vertraulichen Akten. Sie begleiteten ihn bis zum Ausgang.
Als sich die letzte Tür hinter ihm schloß, war Koschmer für die Weltregierung nur noch Geschichte. Sein Nachfolger stand schon bereit. Jacques Tristo zog noch am selben Tag in das Büro des Ministers für innere Angelegenheiten ein. Eilfertig schraubte Jo West das alte Namensschild von der Bürotür ab. »Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mir diese lästige Arbeit ab‐ nehmen«, sprach ihn eine vollbusige Wasserstoffblondine an. »Gern geschehen«, entgegnete West leicht irritiert. »Das ist schließlich meine Aufgabe als Assistent des neuen Ministers.« Jetzt wiederum war die Blondine irritiert. »Assistent? Hier liegt bestimmt ein Irrtum vor – ich bin Minister Tristos Assistentin.« »So ist es«, bestätigte Jacques Tristo, der hinzukam, »und so wird es auch bleiben.« »Verstehe, Sie haben mich für wichtigere Aufgaben vorgesehen«, erwiderte Jo West ehrerbietig. Tristo schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie für gar nichts vorgesehen. In meiner Abteilung ist kein Platz mehr für Sie, Mister West.« Jo West machte ein verdutztes Gesicht. »Das kann unmöglich Ihr Ernst sein, nach allem, was ich für Sie getan habe.« »Darum hat Sie niemand gebeten. Sie haben meinen Vorgänger aus freien Stücken bespitzelt, um Ihres eigenen Vorteils willen. Tut mir leid, aber illoyale Mitarbeiter kann ich wirklich nicht gebrauchen. Schließlich müßte ich jederzeit damit rechnen, daß es mir genauso ergeht wie dem armen Frank.« Jacques und seine schöne, intelligente Assistentin schlossen die Tür hinter sich. Jo West stand draußen auf dem Büroflur und kam sich vor wie ein begossener Pudel. Er bekam keinen Ton heraus, so viel Undankbarkeit verschlug ihm glatt die Sprache. »Die Welt liebt den Verrat, aber nicht den Verräter«, sagte plötzlich jemand hinter ihm. Jo drehte sich um. Bernd Eylers stand ihm gegenüber. Er hatte die unschöne Szene auf dem Flur mitangesehen. West tat ihm kein biß‐
chen leid, im Gegenteil. Der GSO‐Chef empfand eine gewisse Scha‐ denfreude. »Sie haben mehr Glück als Verstand«, fuhr Eylers nach einer Weile fort. »Um es freiheraus zu sagen: Sie sind eine hinterhältige Ratte, ein ganz mieser Spitzel – doch es gibt hier im Haus eine Abteilung, die Ihr Talent durchaus zu schätzen weiß. Könnten Sie sich entschließen, für mich zu arbeiten?« »Als Spion?« entfuhr es West. »Ist das nicht verdammt gefährlich?« »Ihre Überlebenschance wäre größer als auf dem Arbeitsamt«, antwortete Bernd Eylers. »Im übrigen bevorzugen wir die Bezeich‐ nung Agent. Spion – das klingt so nach Spionage, und die betreiben wir selbstverständlich nicht. Niemand betreibt Spionage, da können Sie fragen, wen Sie wollen.« »Und Sie trauen mir das wirklich zu?« »Zumindest verfügen Sie über einen gewissen Grundstock, auf dem man etwas aufbauen könnte. Daß Koschmer Sie nicht erwischt hat, obwohl Sie über ein Jahr lang an ihm dran waren, spricht für Sie. Alles weitere bringen wir Ihnen bei. Ihre Ausbildung wird allerdings kein Zuckerschlecken. Sie fangen ganz unten an – im Aktenkeller.« »Wieviel Zeit habe ich, um über Ihr Angebot nachzudenken?« fragte Jo West. Eylers schaute auf seinen tragbaren, ins Armbandvipho integrier‐ ten Zeitmesser. »Dreiunddreißig Sekunden – und sie laufen bereits.« Zweiunddreißigeinhalb Sekunden später hatte er einen neuen Mi‐ tarbeiter.
5. Das in 3200 Metern Höhe gelegene Brana‐Tal wurde rund um die Uhr von Robotern und Menschen bewacht und von hochwertigen Alarmanlagen geschützt. Hier, im tibetanischen Teil des Himalaja, befand sich das wohl wichtigste Forschungs‐ und Medizinzentrum der Menschheit. Die Cyborgstation war Bestandteil des Zentrums. Echri Ezbal und seine Helfer hatten Amy Stewart bei ihrer Ankunft gleich in Empfang genommen und in den Operationssaal gebracht. Über die Halsschlagader führte man Amy einen Katheder ins Herz ein. Da sie weiterhin gephantet war, benötigte sie keine Betäubung. Auf einem Monitor konnte sie mit eigenen Augen sehen, wie schwer verletzt das wichtigste Organ des menschlichen Körpers war. Die Ärzte konnten ihr leider nur bestätigen, was sie seit ihrer Un‐ tersuchung auf der Medostation sowieso schon wußte: Nur im Phant konnte sie überleben – aber sie konnte nicht so lange gephantet bleiben, wie das Herz brauchen würde, um zu heilen. Echri Ezbal lud Amy in seinen Wohnbereich ein. »Sie haben möglicherweise Glück im Unglück, Miß Stewart«, sagte er bei einer Tasse Tee zu ihr. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Und wie könnte diese Hilfe aussehen?« fragte Amy. Ihre Stimme klang so sachlich, als hätte sie ihn lediglich gefragt, ob sie sich eins seiner Bücher ausleihen dürfe. Sie war froh, daß der Phantzustand ihre Angstgefühle unterdrückte, andernfalls wäre sie wohl längst in Panik geraten, statt hier mit einem weißbärtigen Greis herumzusitzen und gemütlich Tee zu trinken. Ezbals Hund Urran war eine Mischung aus den drei Rassen Dogge, Schäferhund und Nochirgendwas. Bei der getigerten, stämmigen Hauskatze Choldi war die Herkunft klarer – sie stammte zweifelsfrei von zwei anderen getigerten stämmigen Hauskatzen ab und durfte sich daher mit Fug und Recht als reinrassig bezeichnen. Meistens lag sie irgendwo in der Gegend herum und wartete darauf, daß sie ge‐
füttert wurde oder daß Urran sie ärgerte. Der Besuch machte sowohl Urran als auch Choldi neugierig. Wer war die fremde Person dort in der Sitzecke? Oder handelte es sich gar nicht um eine Fremde? Dieser Fall schrie regelrecht nach einer eingehenden Untersuchung. Beide Tiere pirschten sich von zwei Seiten an die Frau heran… »Ich möchte Ihnen keine falsche Hoffnung machen«, antwortete Ezbal auf Amys Frage. »Derzeit beschäftigen sich meine besten Wissenschaftler mit… Ach was, ich schlage vor, Sie machen sich im Labor selbst ein Bild davon und entscheiden sich danach, ob Sie das Risiko eingehen wollen.« Beide tranken ihren Tee aus und standen auf. Choldi erklomm gerade die gepolsterte Armlehne von Amys Sitz‐ teil. Als sich die Frau von ihrem Platz erhob, erschrak die Katze so sehr, daß sie flugs unter einem Kissen Schutz suchte. Das Tier drängte sich in die äußerste Ecke und rollte sich ein. Kopf und Schwanz waren kaum noch zu sehen. Amy fiel auf, daß sich das Kissen leicht bewegte. Vorsichtig hob sie es ein Stück an. »Und ich dachte, fellbesetzte Fußsäcke seien schon lange aus der Mode«, bemerkte sie leise und legte das Kissen wieder zurück. Urran sah, daß Choldi offenbar in Gefahr schwebte. In einer sol‐ chen Situation wußte ein tapferer Hund, was er zu tun hatte. Wie der Blitz verschwand er aus dem Zimmer, um sich in Sicherheit zu bringen. * Über einen Antigravschacht gelangten Echri Ezbal und Amy Ste‐ wart unter die Erde. »Liegen die Laborräume nicht weiter oben?« wunderte sich der Cyborg beim Verlassen des Schachts.
Der Inder nickte. »Hier unten befinden sich die Anlagen zur Ab‐ fall‐ und Kadaverentsorgung.« »Kadaverentsorgung?« wiederholte Amy. »Bedeutet das, Sie ma‐ chen Tierversuche? Ich war der Meinung, derartige Grausamkeiten gehören längst der Vergangenheit an.« »So ist es«, bestätigte ihr der Leiter der Forschungsstation. »Test‐ ergebnisse, die über künstliche Simulationen erzielt werden, sind nachgewiesenermaßen perfekter als die fragwürdigen Resultate von Tierversuchen. Schließlich gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Organismen von Tieren und dem menschlichen Organismus. Glücklicherweise haben das die meisten Forscher inzwischen er‐ kannt. – Dennoch halte ich es in manchen Ausnahmefällen für un‐ verzichtbar, bestimmte Präparate nicht nur am Simulator, sondern zusätzlich an einem lebendigen Wesen zu testen, bevor man es bei einem Menschen anwendet.« Amy und er durchquerten einen beleuchteten Tunnelgang, der zu einem großen unterirdischen Raum führte. Es roch darin ziemlich unangenehm. Mitten im Raum befand sich ein in den Boden einge‐ lassener runder Schacht von etwa zehn Metern Durchmesser. Zwei Roboter aus der Wallis‐Billigproduktion trugen den leblosen Körper eines Orang‐Utans zu der Bodenöffnung. »Wir kommen gerade noch rechtzeitig«, stellte Ezbal fest und blieb mit Amy in der Nähe des Schachts stehen. »Sehen Sie genau hin.« Die Roboter warfen den Orang‐Utan in die Bodenöffnung. Aus den Schachtwänden schossen Energiestrahlen, die den Affenkörper in seine Atome zerlegten. »Leb wohl, Charly«, murmelte Ezbal. »Und vergib uns, wenn du kannst.« Ohne nähere Erklärung wandte er sich zum Gehen. Amy folgte ihm. »Woran ist Charly gestorben?« fragte sie den Brahmanen im An‐ tigravschacht, wieder auf dem Weg nach oben. »An den Folgen eines Experiments«, erhielt sie zur Antwort.
»Hätte das nicht vermieden werden können?« hakte sie nach. Ezbal zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, das weiß niemand so genau. Ich hielt das Experiment am le‐ benden Objekt jedenfalls für unverzichtbar und bin somit voll ver‐ antwortlich für das, was Charly zugestoßen ist.« Er schaute Amy eindringlich an. »Wir betreiben hier ernsthafte medizinische For‐ schung. Bei unseren Versuchen geht es nicht darum, die Hautver‐ träglichkeit irgendeiner Luxusseife zu testen, die dann später von irgendwelchen Stars und Sternchen im Holowerbeprogramm ange‐ boten wird. Von der Genauigkeit unserer Ergebnisse hängen Men‐ schenleben ab.« Auf dem Weg zum Labor kamen beide an einem rundum ge‐ schlossenen kleinen Dschungelgehege vorbei, das naturgetreu ge‐ staltet worden war. Durch eine Glasscheibe konnte man einen zwei‐ ten Orang‐Utan sehen, der auf einem umgekippten Baumstamm saß und wie deprimiert vor sich hinstarrte. »Das ist Charlene«, erklärte Echri Ezbal seiner Begleiterin. »Sie ist… sie war die Gefährtin von Charly. Jetzt ist sie allein. Allein und traurig.« »Warum mußte Charly sterben?« wollte Amy wissen. »Die Ent‐ wicklung welchen Medikaments war so wichtig, daß es zusätzlich an einem Tier ausprobiert werden mußte?« »3‐U‐3‐H‐3‐U«, erwiderte Ezbal. »So lautet die offizielle Bezeich‐ nung eines völlig neuartigen biochemischem Organklebers. Wir verwenden meist die Kurzform: Dreimaldrei.« Obwohl der Austausch von Organen im Jahr 2062 keine große Sa‐ che mehr war, war es oftmals sinnvoller, bei inneren Verletzungen weniger drastische (und weniger kostspielige) medizinische Maß‐ nahmen anzuwenden. Mitunter genügte es, Risse an den Organen zu kleben. Bei den sogenannten Organklebern handelte es sich um Hilfsmittel, welche die natürlichen Körperheilungskräfte beschleu‐ nigten, damit sich die Verletzung schneller schloß. Nach Beendigung des mehrtägigen Heilprozesses wurde der Kle‐
ber vom Körper allmählich abgebaut und nach und nach ausge‐ schieden. Bei Herzoperationen wurden solche Hilfsmittel nicht angewandt, dafür war dieses lebensspendende Organ viel zu empfindlich. Hinzu kam, daß das Herz nie stillstand, der Kleber aber eine lange Ruhezeit brauchte, um auszuhärten. »Ein Problem, das sich auch bei der Entwicklung von Dreimaldrei nicht vollständig lösen ließ«, erklärte Ezbal Amy beim Betreten des Labors. »Allerdings härtet der neuartige Kleber schon innerhalb einer Stunde aus. Theoretisch könnten Sie einen sechzigminütigen Herzstillstand überleben…« Amy nickte. »Solange ich gephantet bleibe, stehe ich das noch viel länger durch.« »Wenn Sie im Phantzustand bleiben, kann der neue Organkleber seine Wirkung nicht voll entfalten«, erwiderte Ezbal mit ernster Miene. »Ihr Cyborgkörper würde Dreimaldrei sehr wahrscheinlich abstoßen.« »Heißt das, ich soll den Phant für eine Stunde verlassen?« »Genau das heißt es. Das Risiko ist sehr hoch, darüber sollten Sie sich im klaren sein, bevor Sie mir Ihre Zustimmung geben. Eben‐ deshalb habe ich Ihnen Charly gezeigt. Er hat bereits die Anfangs‐ phase des Experiments nicht überlebt.« »Fassen wir das Ganze noch mal zusammen: Sie möchten mir ein neuartiges Mittel ins Herz spritzen, das noch nie an einem Menschen ausprobiert wurde und das bereits einen Menschenaffen umgebracht hat?« »Vollkommen richtig«, antwortete Ezbal. »Es gibt allerdings auch Positives zu vermelden: Die simulierten Versuche verliefen zu neu‐ nundneunzig Prozent zufriedenstellend. Außerdem existiert zu‐ mindest ein Lebewesen, das die Behandlung mit Dreimaldrei über‐ standen hat: Charlene. Wir haben ihr Herz zerstört und wieder ge‐ heilt. Möglicherweise können wir auch Ihre schweren Verletzungen heilen, Amy. Eine Überlebensgarantie gibt es jedoch nicht.«
»Welche Alternativen habe ich?« fragte Amy. »Eine Herztransplantation wäre der letzte Ausweg«, sagte Echri Ezbal. »Auch das würde nicht ohne ein hohes Risiko verlaufen. Hinzu käme die Suche nach einem geeigneten Spenderorgan. Am besten wäre es, eines heranzuzüchten, doch so viel Zeit verbleibt Ihnen nicht mehr. Nach der Transplantation müßten Sie aus dem Cyborgteam ausscheiden, weil wir es nicht riskieren könnten, das Ersatzorgan zu stark zu belasten und…« »Ich tu’s!« unterbrach Amy ihn. »Wenden Sie Dreimaldrei bei mir an – ich habe volles Vertrauen zu Ihnen.« * Amy lag im Operationssaal, kam sich aber mehr wie ein Roboter vor, der in der Werkstatt einer kompletten Wartung unterzogen wurde. Ihr ganzer Körper war mit Sensoren gespickt, und ihre Bauchschlagader hatte man an eine Herzlungenmaschine ange‐ schlossen. Über einen Katheder wurde der Organkleber in ihr still‐ stehendes Herz eingeführt. Gleich danach entfernte man den Ka‐ theder wieder. Ein mehrköpfiges Ärzteteam kümmerte sich um den Cyborg, der sich noch im Wachzustand befand. Echri Ezbal war persönlich bei dem schwierigen Eingriff anwesend. »Bereit?« fragte er die Patientin, die bisher jeden Vorgang bei kla‐ rem Verstand mitverfolgt hatte. Amy Stewart wußte, daß sie jetzt am gefährlichsten Punkt der Operation angelangt war. Falls etwas schiefging, und sei es auch nur eine Kleinigkeit, war dies der Schlußpunkt ihres Lebens. »Bereit!« erwiderte sie tapfer. Die Sensoren waren mit einem Paralysator gekoppelt. Nur Amy selbst konnte ihn einschalten – indem sie den Phant verließ. Noch ein letztes Mal schaute sie in die Runde, die sich um ihre Liege herum versammelt hatte. Die Ärzte, die samt und sonders
weiße Atemfiltermasken trugen, wünschten ihr viel Glück. Ein jeder von ihnen war sich bewußt, welches Risiko die Patientin einging. »Ich erkenne euch nach dem Aufwachen alle wieder«, scherzte Amy. »Eure Masken nutzen euch also gar nichts.« Sekunden später war sie tot. * Die POINT OF war unterwegs zur Erde – mit fünf menschenleeren Ovoid‐Ringraumern im Schlepptau. Je näher er seinem Heimatsys‐ tem kam, um so nervöser wurde der Kommandant. Zum x‐ten Mal setzte er sich mit der Funkstation im Brana‐Tal in Verbindung, aber von dort erfuhr er auch diesmal nichts Neues. »Die verschweigen mir doch etwas!« schimpfte Ren Dhark in der Zentrale. »Wenn Amy etwas zugestoßen ist, dann… dann…!« »Na, was dann?« warf Dan Riker ein. »Nimmst du dann das ge‐ samte Tal unter Strahlenbeschuß? Ehrlich gesagt, ich habe Ver‐ ständnis dafür, daß dir die Ärzte vorerst keine Auskunft geben wollen. Sie tun bestimmt ihr Bestes. Mit deinen fortwährenden Funkrufen bringst du den Betrieb dort nur unnötig durcheinander. Und den Betrieb hier in der Zentrale auch.« »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Ren. »Es ist wohl besser, ich lege mich in meiner Kabine ein bißchen aufs Ohr. Weckt mich, wenn wir eintreffen.« Es war geplant, zunächst die fünf Schiffe auf Alamo Gordos Raumhafen Cent Field abzusetzen. Danach sollte es im Direktflug ins Brana‐Tal gehen. Weder Dhark noch Riker, der während der Abwe‐ senheit des Commanders das Kommando auf der Brücke übernahm, ahnten, daß es ganz anders kommen würde… * In Amys Körper funktionierte so gut wie gar nichts mehr. Kaum
hatte sie das Zweite System verlassen, wurde sie automatisch para‐ lysiert, so stark, daß Atmung und Herz komplett betäubt wurden. Da ihr Herz sich nicht bewegte, konnte Dreimaldrei ungehindert aushärten, ein Vorgang, der eine Stunde dauern würde… Amy wurde über die Bauchschlagader mit Blut und somit mit Sauerstoff versorgt. Sie lebte noch – war aber praktisch klinisch tot. Falls ihr Körper diese mörderische Prozedur überstand, würden die Ärzte versuchen, sie mit Elektroschocks wieder ins Diesseits zu‐ rückzuholen… »Halt durch, Amy«, sagte Ezbal kaum hörbar. »Charlene hat es auch geschafft.« Er verließ den OP, um für ein paar Minuten draußen etwas frische Luft zu schnappen. Als Echri Ezbal am Affengehege vorüberkam, machte er eine furchtbare Entdeckung: Das Orang‐Utan‐Weibchen Charlene lag reglos am Boden. * Eine kurze Untersuchung bestätigte Ezbals schlimmste Befürch‐ tung. Charlene war tot. Nicht »praktisch klinisch tot« wie Amy, sondern tatsächlich und wahrhaftig tot. Nicht das kleinste Fünkchen Leben war mehr in ihr. Der Leiter der Forschungsstation ordnete umgehend eine Obduk‐ tion an. Eile war angesagt. Es mußte unbedingt ermittelt werden, woran das Tier gestorben war. »Wir müssen damit fertig sein, noch bevor Amy aus ihrem Todes‐ schlaf geholt wird!« Obwohl die besten Mediziner der Station alles stehen‐ und liegen ließen und sich intensiv um die Obduktion kümmerten, konnte keine exakte Todesursache festgestellt werden. Und die Zeit drängte… Ezbal schaute auf die Uhr. Noch fünf Minuten, dann mußte Amys Körper mit Elektroschocks bearbeitet werden – andernfalls würde
ihr Herz nie mehr schlagen. Minute um Minute verrann. Ezbal beteiligte sich weiterhin an der Obduktion, während sich nebenan im OP die Ärzte auf die Wiede‐ rerweckung vorbereiteten. Amy sollte keine Sekunde länger als nötig zwischen Sein und Nichtsein bleiben. Holte man sie allerdings zu früh zurück ins Leben, war der Organkleber möglicherweise noch nicht vollständig ausgehärtet – und die ganze Aktion wäre für die Katz gewesen. Als Ezbal sich entschloß, hinüber in den Operationssaal zu gehen, herrschte dort helle Aufregung. Amy lag auf dem Operationstisch. Ihre Augen waren geschlossen. Mit jedem Elektroschock, den sie erhielt, bäumte sich ihr Körper wild auf – aber sie erwachte nicht. Der Brahmane überprüfte die Anzeigen der medizinischen Geräte. Die Werte waren katastrophal. »Wir verlieren sie«, sagte einer der Ärzte mutlos. Echri Ezbals Erwiderung war kaum zu verstehen. Mit trockener Kehle entgegnete er: »Wir haben sie schon verloren.«
6. Ren Dhark kämpfte mit den Tränen. Wie mechanisch griff seine Hand nach der Schaufel, die neben dem ausgehobenen Grab in ei‐ nem Erdwall steckte. Er nahm etwas Erde aufs Schaufelblatt und ließ sie in die Grube herabrieseln. Es war das letzte, das er Amy mit auf den Weg geben konnte… Dhark spürte, wie ihm schwindelig wurde. Seine Knie knickten ihm ein. Dan Riker legte einen Arm um seine Schultern, hielt ihn fest, damit er nicht ins Grab stürzte. »Nur Mut«, flüsterte Dan seinem Freund zu. »Wir haben schon so viel gemeinsam durchgestanden – wir werden auch diesen Schick‐ salsschlag überstehen.« »Wir?« entgegnete Dhark mit heiserer Stimme. »Du hast Anja ja noch.« »Gott sei Dank. Ich könnte mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Deshalb weiß ich, wie es in dir aussieht, und ich fühle mit dir.« Beide gingen ein paar Schritte zur Seite, um Platz zu machen für die weiteren Trauergäste. Die gesamte Führungsspitze der POINT OF war erschienen, um Amy Stewart das letzte Geleit zu geben. Sogar Artus war mit dabei. Er war der einzige, der keine Tränen zu unterdrücken brauchte, denn Weinen gehörte zu den wenigen Dingen, die der Allroundro‐ boter nicht konnte. Auch sonst war jeder gekommen, der Amy gemocht hatte: Chris Shanton, Bert Stranger, Marschall Bulton und der stets vielbeschäf‐ tigte Bernd Eylers. Selbst Henner Trawisheim hatte sich von seinen Regierungsverpflichtungen freigemacht. Echri Ezbal stand mit »seinen« Cyborgs etwas abseits. Er gab sich die Schuld daran, daß es ihm nicht gelungen war, Amy zu retten,
und er wünschte sich, an ihrer Stelle im Sarg zu liegen. Nicht nur über Ren Dharks Leben hingen dunkle Wolken – auch am Himmel ballten sie sich zusammen. Petrus öffnete sein Schleu‐ sentor und den Windkanal. Sturm und Regen peitschten den Trauernden ins Gesicht. Wer jetzt weinen wollte, konnte dies unge‐ niert tun, ohne daß es jemand merkte… In diesem Moment schreckte Ren Dhark aus seinem Alptraum hoch. * Als der Commander seine Kabine verließ, befand sich die POINT OF bereits im Landeanflug auf Cent Field. »Fühlst du dich jetzt besser, mein Freund?« erkundigte sich Dan Riker, der ebenfalls eine Mütze voll Schlaf hätte gebrauchen können. »Wie durch den Fleischwolf gedreht«, erhielt er zur Antwort. »Anfangs konnte ich kein Auge zutun, also habe ich ein leichtes Se‐ dativum eingenommen. Das machte alles nur noch schlimmer. Ich hatte einen furchtbaren Alptraum: Amy hatte den Eingriff an ihrem Herzen nicht überlebt, und wir mußten sie beerdigen. Die Fried‐ hofsszenerie war derart realistisch, daß ich nach dem Erwachen erst einmal eine Weile brauchte, um zu begreifen, daß alles nur ein böser Traum gewesen war. Ein Traum, der sich hoffentlich nicht bewahr‐ heitet. Sobald wir die Ringraumer auf dem Hafen abgesetzt haben, fliegen wir ohne Umwege ins Brana‐Tal. Ich muß wissen, wie es ihr geht!« »Daraus wird nichts«, erwiderte Dan Riker. »Es gibt eine kleine Programmänderung. Wir fliegen zuerst nach Star City und treffen dort mit Farnham, MacCormack und Buck zusammen. Auch Bernd Eylers wird anwesend sein. Er hat uns dorthin beordert, in einer dringenden staatspolitischen Angelegenheit.« »In einer staatspolitischen Angelegenheit!« wiederholte Ren Dhark ungehalten Rikers Worte. »Noch ungenauer geht es wohl nicht. Wir
fliegen zuerst ins Brana‐Tal, basta!« »Ich verstehe ja, daß du dich nach Amy sehnst«, entgegnete Dan. »Aber meinst du nicht, die Rettung der Welt geht vor?« Als sich die POINT OF bald darauf wieder in die Lüfte erhob und Cent Field weit unter sich ließ, ordnete Dhark an, Kurs auf Star City zu nehmen. Warum nur gebe ich immer der Vernunft nach? dachte er. Kann ich nicht wenigstens ein einziges Mal auf meine Gefühle hören? Er mußte selbst über seine Gedanken schmunzeln, wußte er doch am besten, daß sie nicht zutrafen. Schon so manches Mal hatte er sich – zu Recht! – vorwerfen lassen müssen, seine Mannschaft in Gefahr gebracht zu haben, weil er seinem Instinkt und nicht der Logik ge‐ folgt war – und meistens hatte er damit richtig gelegen. Diesmal siegte ausnahmsweise der einsichtige Teil seines Ichs. Die Gegenseite konnte schließlich nicht immer gewinnen. * Auf dem kleinen Raumflughafen von Star City war reichlich Platz zum Landen. Die ROBERT war inzwischen wieder fort. Der Pilot setzte die POINT OF sanft auf. Ren Dhark stieg allein aus. Generalmajor Farnham und Oberst MacCormack erwarteten ihn am Rande des Flugfeldes. Er begab sich zu Fuß zu ihnen, ein Fahrzeug benötigte er bei der Größe des Hafens nicht. Der einundfünfzigjährige Xenobiologe Christopher Farnham war groß, drahtig und trug einen kurzen braunen Bürstenhaarschnitt. Er hatte eisgraue Augen und eine lange Narbe auf der linken Ge‐ sichtshälfte. Der verheiratete Familienvater im Dienstgrad eines Generalmajors war der oberste Befehlshaber der Schwarzen Garde, die erst aufgrund seiner Denkschriften entstanden war. Der rothaarige, vierschrötige Ire Oberst Kenneth MacCormack war sieben Jahre jünger als sein Freund und Vorgesetzter. Auch er war
Familienvater – und Soldat mit Leib und Seele. Jeder einzelne seiner Männer lag ihm am Herzen, aber nach außen zeigte er das so gut wie nie. Dem studierten Historiker unterlag die Einsatzleitung der Schwarzen Garde, deren Bezeichnung einst in Anlehnung an die weltallschwarzen Uniformen der Elitesoldaten entstanden war. Nach einer kurzen Begrüßung kam der Commander gleich zur Sache. »Weshalb sollte ich hierherkommen? Was soll schon wieder die verdammte Geheimniskrämerei? Amy wurde gestern im Bra‐ na‐Tal operiert. Bisher konnte ich noch keine exakte Auskunft über ihren Gesundheitszustand einholen. Vielleicht verstehen Sie, daß ich so schnell wie möglich zu ihr möchte.« MacCormack blickte ihm in die Augen. »Sie wissen es noch nicht? Amy Stewart ist…« »Wir haben keine Zeit für Privatgeplänkel!« fuhr Farnham ihm über den Mund und warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Der Commander wird im Labor dringend gebraucht – und zwar bei klarem Verstand. Wir benötigen seinen Rat als Experten.« Oberst MacCormack machte ein schuldbewußtes Gesicht – wie jemand, der beinahe einen Fehler begangen hatte. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich hastig. »Ich dachte nur… ich wollte nur sagen, daß es von Miß Stewart noch keine Neuigkeiten gibt.« Was für ein schlechter Lügner! dachte Dhark und war drauf und dran, umzukehren und ins Brana‐Tal durchzustarten. Lediglich sei‐ ne Wißbegier hielt ihn davon ab. »Sie benötigen meinen Rat als Experten?« sagte er zum General‐ major. »Experte für was?« »Es geht um die Gewebeproben, die Leutnant Buck und sein Team analysieren«, verriet ihm Farnham. »Wir sind zu einem Ergebnis gekommen, das so unglaublich ist, daß wir unbedingt Ihre Meinung dazu hören möchten.« »Zu welchem Ergebnis?« hakte Dhark nach. »Am besten, Sie kommen mit ins Labor«, meinte der Oberst. »Sonst
glauben Sie uns sowieso nicht.« »Schon möglich«, räumte der Commander ein. »Insbesondere an Ihrer Glaubwürdigkeit habe ich so meine Zweifel. Also nochmal von vorn: Was wollten Sie mir eben über Amy sagen? Für was genau benötigen Sie meine Expertenmeinung? Und wo steckt eigentlich Mister Eylers? Mein Stellvertreter sagte, er würde mich hier zu‐ sammen mit Ihnen beiden erwarten, in einer staatspolitischen An‐ gelegenheit.« Bevor MacCormack wieder etwas Falsches sagte, übernahm es Farnham, für ihn zu antworten. »Eylers wird Ihnen die Sache mit Amy erklären, sobald er hier eintrifft. Wir erwarten ihn jeden Mo‐ ment. Und was Ihre zweite Frage angeht, kann ich meinem Freund Kenneth nur zustimmen: Kommen Sie mit ins Labor, und sehen Sie sich die Testergebnisse an.« Ren Dhark hatte jetzt die Nase endgültig voll. Er wollte keine wei‐ teren Geheimnisse, sondern Wahrheiten. Fakten! Selbst wenn sie nur schwer zu ertragen waren… Ren wählte auf seinem Armbandvipho den privaten Verbin‐ dungscode von Echri Ezbal. Der indische Mediziner sollte ihm ohne Wenn und Aber sagen, wie es um Amy stand. In diesem Augenblick trat Bernd Eylers aus der Raumhafenhalle. Nahezu zeitgleich meldete sich Ezbal am Vipho. Dhark nannte kurz seinen Namen. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Der greise Inder hatte mit dem Anruf gerechnet. Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, er hätte ihn niemals bekommen… »Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie«, sagte Echri Ezbal ohne lange Umschweife. »Fassen Sie sich – sie ist tot. Ich schwöre Ihnen, wir haben getan, was wir konnten…« * Minuten zuvor. Echri Ezbal saß in seinem Lieblingssessel. Choldi
lag auf seinem Schoß. Der Inder streichelte die Katze. Sie schnurrte. »Ich wünschte, auch wir Menschen wären so leicht zufriedenzus‐ tellen wie du«, bemerkte Ezbal. »Du hast es gern gemütlich und warm, viel mehr brauchst du nicht zum Glücklichsein. Na schön, vielleicht noch etwas Katzenfutter, das war’s dann aber.« Urran kam herein und blickte eifersüchtig zu den beiden. Sein Herrchen winkte ihn heran. Der Hund setzte sich neben den Sessel und genoß es, hinter den Ohren gekrault zu werden. Ezbals Gedanken beschäftigten sich mit den vergangenen Ge‐ schehnissen – mit Charly, dessen Körper man in den Entsorgungs‐ schacht geworfen hatte, mit Charlene, die nach stundenlanger er‐ gebnisloser Untersuchung denselben Weg gegangen war, mit Amy Stewart… In diesem Augenblick läutete sein tragbares Privatvipho, deren Verbindungscode nur wenige Personen kannten. Er gehörte mit dazu. »Ich hätte ihm die Nummer niemals geben dürfen«, murmelte der Inder und verscheuchte Choldi von ihrem urgemütlichen Sitzplatz. Urran protestierte mit einem ärgerlichen Kläffen gegen die abrupte Einstellung des Kraulens. Als das nichts nutzte, trottete er aus dem Zimmer. Choldi folgte ihm. Ezbal meldete sich. Der Anrufer nannte seinen Namen. »Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie«, bedauerte der Brahmane und teilte ihm mit, was passiert war. »Amy ist tot?« ertönte es aus dem Vipho. »Soll das ein schlechter Scherz sein?« »Amy?« wiederholte Ezbal, der erst jetzt die Stimme des Com‐ manders erkannte. »Aber nein, ich rede von Charlene. Amy geht es bestens.« »Das weiß ich«, erwiderte Dhark. »Sie kommt gerade zusammen mit Bernd Eylers aus der Flughafenhalle. Damit hat sich mein Anruf erledigt. Sie können mir ein andermal erklären, wer Charlene war. Bis bald.«
Die Verbindung brach ab. Ezbal lächelte verständnisvoll. Er konnte sich die stürmische Begrüßungsszene auf dem Raumhafen gut vor‐ stellen. Sein Vipho legte er beiseite. Ezbal nahm sich vor, beim nächsten Mal erst auf die Codeanzeige zu sehen, bevor er den Anruf entge‐ gennahm, damit es nicht erneut zu einer Verwechslung kam. Dhark – Lark, dachte der Greis. Man kann sich schließlich mal irren. John Lark war einer von Ezbals Mitarbeitern. Nahezu aufopfe‐ rungsvoll hatte er sich um die beiden Orang‐Utans gekümmert. Charlys Tod hatte ihm schwer zugesetzt, weshalb Ezbal ihn für ein paar Tage in Urlaub geschickt hatte. Weil Lark ihm leid tat, hatte er ihm den Code seines Privatviphos gegeben, mit den Worten: »Sie können mich jederzeit anrufen, wenn der Kummer Sie übermannt.« Von diesem großzügigen Angebot machte Lark laufend Gebrauch. Ständig rief er an, um sich nach Charlenes Zustand zu erkundigen. Als Ren Dharks Anruf kam und der Commander nur kurz seinen Nachnamen nannte, wie auch Lark es bei jedem seiner Anrufe zu tun pflegte, war die Verwechslung perfekt. Erneut schlug das Vipho an. Ezbal schaute auf die Bildschirman‐ zeige. Diesmal war zweifelsfrei John Lark der Anrufer. Der Inder holte tief Luft – da mußte er jetzt durch. Und Lark auch. Zwar hatte die genaue Todesursache nicht ermittelt werden können (Charlenes Herz, das jetzt in einer Alkohollösung schwamm, hatte keine sichtbare Schädigung aufgewiesen), aber es lag nahe, daß das Tier an seelischem Kummer eingegangen war. Das Orang‐Utan‐Weibchen hatte den Verlust seines Partners of‐ fenbar nicht verkraftet. Echri Ezbal stellte die Verbindung zu John Lark her. »Guten Tag, Mister Lark«, begrüßte er ihn. »Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie…« *
Auf dem Raumflughafen von Star City fielen sich Amy und Ren stürmisch in die Arme und küßten sich. Daß Dhark es dabei ver‐ säumte, Bernd Eylers zu begrüßen, nahm der GSO‐Chef gelassen hin. Man mußte im Leben halt Prioritäten setzen… Eylers begab sich zu Farnham und MacCormack. Der Generalma‐ jor machte dem Oberst gerade Vorwürfe. »Sorry«, entschuldigte sich Kenneth MacCormack. »Meine Zunge war offenbar schneller als mein Verstand. Ich hatte ganz vergessen, daß Amy uns gebeten hatte, dem Commander nicht zu verraten, daß sie mit Mister Eylers hierher unterwegs war.« »Beinahe hättest du ihr die ganze Überraschung verdorben«, hielt Christopher Farnham ihm vor. »Nur gut, daß ich rechtzeitig eingeg‐ riffen habe. Wieso muß ich eigentlich immer für dich mitdenken?« »Weil du Generalmajor bist und ich nur Oberst«, entgegnete der Ire mit einem Augenzwinkern. Bernd Eylers schmunzelte. Man merkte den beiden an, daß sie sich bereits eine halbe Ewigkeit kannten. »Warum hat das so lange gedauert?« fragte MacCormack den GSO‐Leiter, nachdem sich alle drei begrüßt hatten. »Hatte Ihr Gleiter unterwegs eine Panne?« Eylers seufzte. »Frauen! Nachdem Miß Stewart aus dem Trans‐ mitter gekommen war, zog sie sich erst einmal in mein Bad zurück, um sich ein bißchen nett zurechtzumachen, wie sie sagte. Na ja, das hat halt gedauert…« »Eigentlich wollte ich dich bereits bei der Landung am Flugfeld erwarten«, sagte derweil Amy zwischen zwei Küssen zu Ren. »Doch es dauerte etwas länger, bis ich mich für dich aufgebrezelt hatte. Zwar war ich schon kurz nach der Operation wieder einigermaßen auf dem Damm, und die Folgen der Paralyse habe ich größtenteils überwunden, doch ich fühlte mich so mitgenommen, als hätte ich auf der Müllkippe geschlafen. Noch immer bin ich etwas schwach auf den Beinen. Ich hoffe, man sieht es mir nicht allzusehr an.«
»Du und schwach?« erwiderte Dhark lächelnd. »Das wäre mal was ganz Neues. Normalerweise bist du es, die mich Schwächling vor den Gefahren dieser Welt schützen muß.« »Mach dich nicht kleiner, als du bist. Meine Stärke habe ich in ers‐ ter Linie dem Cyborgprogramm zu verdanken. Im übrigen hörst du mir nicht richtig zu – sonst hättest du gemerkt, daß ich gerade um ein Kompliment gebuhlt habe.« »Selbstverständlich sieht man dir deine zurückliegenden Strapazen nicht an«, versicherte Ren ihr rasch. »Du bist so wunderschön wie der strahlende Morgen.« »Na bitte, geht doch.« »Kannst du dich noch an Details der Operation erinnern?« »Nur bis zum Zeitpunkt der Paralyse. Als ich allmählich wieder zu mir kam, hörte ich als erstes Stimmen. Jemand sagte: ›Wir verlieren sie!‹, und ein anderer erwiderte: ›Wir haben sie schon verlorenen‹. Meine Lippen konnte ich noch nicht bewegen, aber in Gedanken antwortete ich: Das könnte euch so passen! Niemand verliert mich. Ich bin doch kein Portemonnaie. Tja, und dann wachte ich auf und nahm die ersten Umrisse meiner Umgebung wahr. Die Ärzte waren total aus dem Häuschen. Echri Ezbal versicherte mir nach einer eingehenden Untersuchung, mein Herz sei so gut wie neu.« * Auf dem Weg zum Labor der Gardeakademie wollte Dhark end‐ lich wissen, was es mit der Expertenfrage auf sich hatte. »Die Lage auf der Erde ist momentan ruhig, sie bleibt aber anges‐ pannt«, erklärte ihm Bernd Eylers. »Neue Gerüchte könnten zu weiteren chaotischen Ausbrüchen führen. Deshalb ist es wichtig, daß wir die Meinung eines Experten hören, bevor wir die Öffentlichkeit über die neueste Entdeckung unterrichten.« »Was für eine Entdeckung?« fragte Ren Dhark. »Hängt das mit der Untersuchung der Gewebeproben von Eins zusammen?«
Eylers nickte. »Inzwischen wurden alle Proben analysiert, so daß es eigentlich nicht mehr den geringsten Zweifel gibt.« Mehr war zunächst nicht aus ihm herauszubringen. Auch von Farnham und MacCormack wurde der Commander nur vertröstet. Und Amy wußte nichts, sie war mindestens ebenso gespannt wie Ren. Im Labortrakt wurden die Besucher von Kurt Buck begrüßt. Kurt Buck war Vollwaise. Er hatte blondes Haar und blaue Augen. Im staatlichen Internat Königstein/Sachsen hatte er es zum Schul‐ meister im Boxen gebracht. Später hatte er sein Wirtschaftsstudium abgebrochen, war zu den Raumstreitkräften gegangen und hatte sich zum Dienst in der Garde gemeldet, wo er seinen Ausbildern von Anfang an positiv aufgefallen war… Von da an war er die Karriereleiter nur so hinaufgefallen. Obwohl er noch verhältnismäßig jung war, bekleidete er mittlerweile den Rang eines Leutnants. Der stellte ihnen nun kurz sein Team vor. Dhark kannte die meis‐ ten der Anwesenden – vor allem ihn, den er hier ganz und gar nicht erwartet hatte. Der Mann war wie eine Klette. »Das ist wieder mal typisch«, bemerkte Ren, als er ihn begrüßte. »Mit mir betreibt man Geheimniskrämerei – und die Presse ist längst anwesend.« »Keine Sorge, ich veröffentliche nichts, das nicht von der Regie‐ rung freigegeben wurde«, entgegnete Bert Stranger mit breitem Grinsen. »Sie wissen doch, wie verschwiegen ich sein kann, Com‐ mander. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Und noch mehr freue ich mich auf unsere künftige Zusammenarbeit.« »Das können Sie knicken, Stranger«, erwiderte Dhark. »Ihre Be‐ suchszeit auf der POINT OF ist abgelaufen. In Zukunft fliegen wir wieder ohne Sie ins All.« Bernd Eylers nahm den Commander beiseite. »Ich soll Ihnen Grüße von Henner Trawisheim ausrichten«, sagte er leise zu ihm. »Er hat angeordnet… falsch, das ist keine Anord‐
nung, sondern eine Bitte! Unser Regierungsoberhaupt bittet Sie in‐ ständig, Stranger auf der POINT OF mitfliegen zu lassen – wenigs‐ tens so lange, bis die Evakuierung abgeschlossen ist, was im Höchstfall zwei Jahre dauern dürfte.« Dhark stöhnte leise auf. »Zwei Jahre Tür an Tür mit Stranger? Weiß Trawisheim eigentlich, was er mir damit antut? Der kugelrunde Bursche ist zwar ein netter Kerl, aber lästig wie eine Stubenfliege. Überall steckt er seinen neugierigen Rüssel hinein.« »Stranger hat was gut bei uns. Bei uns allen! Daß die auf der Erde ausgebrochene Panik gleich wieder eingedämmt werden konnte, verdanken wir in erster Linie seinen Berichten über seine Abenteuer mit der Garde und Ihnen. Und natürlich Ihrer Rede, Commander, die er an den richtigen Stellen geschickt eingefügt hat. Seine weitere Berichterstattung – sozusagen direkt aus erster Quelle – wird für die notwendige Ruhe in der Bevölkerung sorgen. Es gab zahlreiche Tote bei den weltweiten Aufständen. Können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, neue Unruhen zu riskieren?« Bernd Eylers war normalerweise kein großer Redner. Aber wenn er mal loslegte, dann richtig. Ren Dhark konnte gar nicht anders, als Trawisheims Bitte nachzugeben. »Na schön, Sie sind mit dabei«, sagte er kurz darauf zu dem Re‐ porter. »Doch ich warne Sie! Wenn Sie mir zu sehr auf die Nerven gehen, setze ich Sie auf einem Asteroiden aus!« »Sie werden mich kaum bemerken«, behauptete Stranger. Beide Männer wußten, daß dies nur ein leeres Versprechen war. Jetzt endlich kam Dhark dazu, sich über die Untersuchungsergeb‐ nisse zu informieren. Schon bald wurde ihm klar, warum man ihn als Experten hinzugezogen hatte. Niemand kannte die Salter besser als er… »Und ich dachte, sie seien alle tot«, sagte er fassungslos. »Offenbar halten die Roboter also auf Eins Überlebende des Volkes der Salter gefangen. Aber was wollen sie von ihnen? Und wieso lagern sie die Salter wie Stückgut in ihrem ›Heiligtum‹ ein?«
Um jeden Irrtum auszuschließen, setzte sich Ren Dhark mit der POINT OF in Verbindung und beorderte noch einige seiner engsten Vertrauten in die Akademie. Gemeinsam kam die »Expertenrunde« zu dem gleichen Ergebnis wie das Buck‐Team. »Wir müssen unbedingt zurück nach Eins«, machte Dhark den Gardisten klar. Farnham erteilte ihm eine Absage. »Eine erneute unbemerkte Landung auf dem Planeten der Roboter ist unmöglich, schließlich sind sie jetzt gewarnt und besser vorbereitet. Und für eine mit einer Raumschlacht erzwungene Landung fehlen uns die Kapazitäten. Im übrigen würde ein solcher Angriff nur unnötig Menschenleben kos‐ ten.« Das sah auch Ren Dhark ein. Dennoch war er nicht bereit, von seinem Vorschlag auch nur einen Deut abzuweichen. Die Lösung des Salter‐Rätsels lag nicht hier im Labor, sondern auf Eins – also mußte man sie genau dort suchen, und nirgendwo an‐ ders. Natürlich teilte er die Bedenken des Generalmajors, doch bestimmt gab es irgendeine Möglichkeit, auf dem Roboterplaneten zu landen. Ren Dharks Gehirn arbeitete fieberhaft. Und plötzlich hatte er eine Idee…
7. Der Himmel über den Sacramento Mountains hatte die Farbe von mattem Zinn. Die Sonne ließ sich nicht blicken. Von Süden her wehte ein scharfer Wind, unter seinem Druck ächzten die Bäume des Hanges; Schnee löste sich in langen Schleiern von den Ästen. Schnee in den Sacramento Mountains! Wann hat es das schon mal gegeben? dachte Roy Vegas und wich einem Felsen aus. Während sie auf den Skiern dahinglitten, ließ er den Blick in die Runde wandern; die Einsamkeit der Landschaft vermittelte ihm das Gefühl, als befände er sich in einer anderen Welt. Doch es war keine fremde Welt, sondern die Erde. Definitiv. Allerdings eine Erde, die sich seit kurzem unaufhaltsam veränderte und auf eine globale Eiszeit zusteuerte, verursacht vom schwindenden Energiehaushalt der Sonne, der das gesamte planetare Klima zur Katastrophe hin verschob. Sie hielten sich jetzt nach Norden, überquerten das kleine Plateau und folgten dem natürlichen Pfad hinauf auf den Kamm des Hügels; auf der anderen Seite des Abhanges lag, auf der Hälfte der Strecke zum Tal, ihr Ziel unter ihnen: Vegas’ Blockhaus. Auf dem Kamm angekommen, hob Roy Vegas plötzlich die Hand und stoppte Jenna Ferrari mit einem kurzen Zuruf. »Was ist?« Sie stützte sich, angestrengt atmend, auf die Stöcke; in der Kälte kondensierte ihr Atem, während sie ihm zulächelte. Sie hatte einen großen hübschen Mund mit weichen Lippen, die beim Lächeln eine Reihe kräftiger weißer Zähne zeigten. In ihren blauen Augen glänzten winzige Pünktchen. Das blonde Haar hatte sie straff in den Nacken zurückgebunden; gegen die Kälte trug sie eine bunte Wollmütze. Roy schien ihre Frage nicht gehört zu haben. Seine Haltung wirkte angespannt, als er das Terrain um das Haus mit seinen Blicken son‐ dierte; etwas schien ihn zu stören. Der heutige Tag war in gewisser Weise ein besonderer Tag: Es war
der 24. Dezember 2062. Heiligabend. Am Morgen waren sie nach dem Frühstück mit den Skiern zu einer Tour durch die Umgebung gestartet; normalerweise gab es hier keinen Schnee, aber es war keine normale Zeit mehr. Genaugenommen war nichts mehr normal; alles hatte sich verändert. Besonders das Klima. Hier in der Einsamkeit der Sacramento Mountains war zwar kaum etwas von der gewaltigen Aufbruchstimmung zu merken, die die gesamte Erdbevölkerung umtrieb, aber die Nachrichtenkanäle kannten kaum ein anderes Thema als den bevorstehenden Exodus der Menschheit. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen. Gegen Mittag hatte es zu schneien begonnen, der Schneefall hörte allerdings nach einer Stunde wieder auf, der Himmel war wieder heller und die Sicht besser geworden. Plötzlich sah Vegas etwas, das hier eigentlich nichts verloren hatte. »Siehst du das?« fragte er seine Begleiterin und wies mit dem Stock auf deutlich sichtbare Spuren rings um sein Haus. »Unsere von heute früh«, meinte sie, »was ist daran ungewöhn‐ lich?« Er schüttelte den Kopf. »Es sind nicht unsere«, gab er zu verstehen, »die hat der Schneefall längst wieder zugedeckt. Außerdem sind es mehr, als wir beide hätten verursachen können.« »Hmm. Jetzt, wo du es sagst, sehe ich es auch«, erwiderte sie. »Vielleicht ein paar Freunde, die Heiligabend mit uns feiern wol‐ len?« »Wenig wahrscheinlich«, widersprach er ihrer Vermutung. »Wir haben niemandem gesagt, wo wir über die Feiertage sind, keiner meiner Leute weiß etwas von unserem Aufenthaltsort, wir sind un‐ tergetaucht. Lediglich für die Administration bin ich über Vipho zu erreichen. Bislang ist das allerdings noch nicht versucht worden.« Jenna sah ihn forschend von der Seite an. Im Tonfall seines Nach‐ satzes hatte eine Spur Bedauern mitgeschwungen; innerlich nickte sie. Sie wußte seit einiger Zeit, daß Vegas nicht der Mann war, den es
lange auf einem Planeten festhielt. Er hatte öfter anklingen lassen, daß für seinen Geschmack die ANZIO nun schon zu lange ihre Parkposition auf dem Raumhafen Cent Field beanspruchte und auf einen neuen Einsatz wartete. Sie fürchtete sich ein wenig vor diesem Moment, aber ihr war klar, daß sie sich entweder damit abfinden oder Roy aufgeben mußte. Sie seufzte unhörbar. Es war schon ein Kreuz mit diesem Raumfahrer, der längst vergessen zu haben schien, wie das normale Leben war. Sein Lebenselixier war der kalte, lautlose Weltraum; als Komman‐ dant des modernsten Schulschiffs der Terranischen Flotte hatte er gelernt, mit der Gefahr zu leben, die ihn ständig begleitete. Nichts schien er als selbstverständlich hinzunehmen; überall lauerte der Tod, jederzeit – ob auf einem fremden Planeten oder in den dunklen Weiten des Weltalls. »Richtig«, antwortete sie jetzt laut auf seine Feststellung. »Aber wer könnte es dann sein?« »Finden wir es heraus«, erwiderte er knapp. Sie setzten sich in Bewegung und fuhren im großen Abstand um das Haus herum. Sie scheuchten einige Rehe auf, die in schneller Flucht das Weite such‐ ten. Nur wenig später kam die rückwärtige Front in Sicht. Ein Las‐ tenschweber parkte vor dem Hintereingang. Ein Mann schleppte gerade einen Einrichtungsgegenstand in das Fahrzeug, dessen Hecktür weit offen stand. Trotz der Kälte trug er keine Kopfbede‐ ckung; der Wind zerrte an seinem Haar. Jetzt drehte er sich um und sah zurück; zwei weitere Männer traten mit vollbepackten Armen aus dem Haus und luden ihre Last in den Laderaum. »Was zum Teufel…?« Roy Vegas traute seinen Augen nicht. Dann überkam ihn die Erkenntnis. »Diebe!« stieß er hervor. Seine Stimme transportierte Unglauben und erwachenden Zorn. »Es sind hunds‐ gemeine Diebe! Ist das zu fassen? Man bestiehlt mich!« Sie blieben unter den überhängenden Zweigen einer ausladenden Konifere stehen. Vegas schob die verspiegelte Schneebrille mit einem Ruck auf die Stirn, streifte mit einem Knurren den Ärmel seiner
Thermojacke zurück und aktivierte das Armbandvipho. »Was willst du tun, Roy?« »Was wohl?« gab er zurück. »Die Polizei alarmieren, was sonst? Na, kommt schon. Meldet euch!« ließ er seiner Ungeduld freien Lauf. Doch das winzige Karree des hochauflösenden Schirmes zeigte nur die lapidare Meldung, daß die Nummer besetzt war. »Vermutlich wird das auch so für Stunden bleiben«, gab er auf Jennas fragenden Blick zu verstehen. »Seit der Untergang der Erde bekannt ist, ist in den Städten die Hölle los. Die Polizei ist absolut überfordert, habe ich mir sagen lassen.« Er runzelte die Stirn. »Tja, es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als mich selbst darum zu kümmern.« Er hielt Jenna an, sich in dem verschneitem Gebüsch oberhalb des Hauses versteckt zu halten, und schärfte ihr ein, sich nicht eher zu zeigen, bis er die Lage geklärt hatte. Sie wollte erst protestieren, aber der Ton seiner Stimme war unmißverständlich. »Sei ja vorsichtig«, sagte sie überflüssigerweise; sie wußte, daß er kein unkalkulierbares Risiko einging, so gut kannte sie ihn schon. Er war nicht wie die anderen Männer, denen sie begegnet war, und sie wußte das. Roy war jemand, der gelernt hatte, auch das kleinste verräterische Anzeichen einer drohenden Gefahr richtig zu deuten. »Das bin ich«, meinte er beruhigend und nickte ihr aufmunternd zu. Jenna verschwand in ihrem Versteck. Vegas hatte sich bereits wieder dem Geschehen unten am Haus zugewandt. Er wartete, bis die Kerle erneut im Blockhaus ver‐ schwunden waren. Dann stemmte er die Stöcke in den Schnee und raste in nahezu lautloser Schußfahrt bis zur Garage neben dem Haus, in der sein Hispano Suiza Imperial untergebracht war. Er drückte sich unter das tief herabreichende Dach und wartete ein paar Sekunden mit angehaltenem Atem. Dann holte er wieder tief Luft; seine Ankunft war unbemerkt geblieben. Er hoffte, daß das auch so bleiben würde, bis er die Lage unter Kontrolle hatte. Er nahm den Rucksack von den Schultern und schnallte mit geräusch‐
losen Bewegungen die Skier von den Füßen; beides schob er in die Schneewehe, die sich an der Kante der Dachtraufe gebildet hatte, so daß sie nicht gleich entdeckt werden konnten, falls jemand doch um das Haus patrouillierte. Er brauchte unbedingt eine Waffe. Im Haus gab es welche, aber dieses Wissen half ihm im Moment nicht viel; die Diebe würden sicher nicht tatenlos zusehen, wenn er sich an seinem Waffenschrank zu schaffen machte. Doch es gab ja noch eine andere Option. Die schmale Tür, die den Zugang in die geräumige Garage er‐ laubte, ohne daß man das große Tor öffnen mußte, war vom Hinter‐ eingang des Blockhauses nicht einzusehen. Er legte die Hand gegen die Sensorplatte, das elektronische Schloß aktivierte sich. Geräusch‐ los drehte sich die Tür in ihren gut geschmierten Lagerzapfen. Rasch schlüpfte er ins Innere. Da das Garagentor nicht betätigt wurde, sprang auch nicht wie sonst üblich die Innenbeleuchtung an. Vegas wartete fünf Sekunden, dann hatten sich seine Augen an das herrschende Halbdunkel ge‐ wöhnt. Der schwere Hispano Suiza Imperial, der die Garage dominierte, stand auf seinen voluminösen Rädern; das Luxusfahrzeug war nicht nur flug‐ und schwimmfähig, sondern konnte auch per Knopfdruck zum Räderfahrzeug gemacht werden. Diese eigens für Roy Vegas erstellte Sonderanfertigung aus der italienischen Edelschmiede war weltweit das teuerste Jett‐Modell – und das einzige wirkliche Laster Vegas’. Seine schneeweiße, lumineszierende Lackierung verstärkte das Zwielicht in der unbeleuchteten Garage dermaßen, daß der Kommandant der ANZIO auch ohne aktivierte Innenbeleuchtung keine Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden. Vegas bewegte sich trotz seiner Größe mit der Geschmeidigkeit und der Geräuschlosigkeit einer Katze durch den Raum. Er ging zur Beifahrerseite und griff nach dem Öffner. Verdammt! Nichts rührte sich. Lautlos begann er zu fluchen, als er sich erinnerte. Natürlich, er hatte den elektronischen Impulsgeber für das Luxus‐
gefährt auf der Vitrine im Eingangsbereich liegen. Dort war er im Moment unerreichbar für ihn. Seine Gedanken beschäftigten sich in gewohnter Schnelligkeit und Präzision mit der Lösung dieses Problems; allerdings war dabei sein unübertroffenes Einfühlungsvermögen in die Arbeitsabläufe komp‐ lexer Rechner und in die Denkvorgänge künstlicher Intelligenzen weniger gefragt als vielmehr gesunder Menschenverstand. Vegas, im New York des Jahres 1985 geboren und in der Nachbarschaft der Bronx aufgewachsen, hatte viel aus dieser Zeit in sein späteres Leben mitgenommen. Darunter so lebensnotwendige Fähigkeiten wie bei‐ spielsweise das Knacken von Fahrzeugen mit einem einfachen, aber sehr probaten Hilfsmittel wie einem Schraubenzieher, den er sich jetzt von der Werkbank im hinteren Teil der Garage griff. »Hätte nie gedacht, daß ich mal meinen eigenen Jett knacken müßte«, murmelte er und machte sich mit einem schwachen Grinsen ans Werk. Binnen zehn Sekunden war die Tür offen. Als er den Paralysator aus dem Handschuhfach nahm, sah er das Glimmen einer Diode am Armaturenbrett und nickte. Er überprüfte die Waffe, stellte den Fokus auf breiteste Streuung und maximale Intensität. Die Waffe arbeitete geräuschlos; der nicht sichtbare Lähmstrahl wirkte auf das periphere Nervensysteme der meisten humanoiden Lebensformen, das Muskelkontrolle und ähn‐ liche Willensfunktionen steuerte. So gewappnet, machte er sich daran, sein Eigentum zu verteidigen. * Mit lautlosen Schritten nahm er die wenigen Stufen, die von der Garage hoch ins Haus führten. Ehe er die Tür öffnete, horchte er angespannt. Seine Vorsicht war unbegründet, der Lärm, den die Einbrecher in der Tiefe des Hauses verursachten, hätte sogar den Einsatz eines ganzen Sicherheitsteams übertönt. Die Kerle schienen
sich auf eine Art sicher zu fühlen, die Vegas in Rage versetzte. Wahrscheinlich hatten sie das Landhaus schon länger observiert und waren der Meinung, es sei unbewohnt: der Zweitwohnsitz eines reichen Schnösels aus der Zivilisation, der nur alle heilige Zeit mal auftauchte. Sie gingen ziemlich lautstark zur Sache, vermutlich würden sie auch nicht davor zurückschrecken, dem Eigentümer, sollte er überraschend doch auftauchen, eins überzuziehen – wenn nicht gar Schlimmeres mit ihm anzustellen. Vegas verzog das Gesicht; seine blauen Augen nahmen die Schwärze von Gewitterwolken an, als der Zorn in ihm aufstieg. Seine ungebetenen Gäste würden sich wundern. Er drehte den Knauf und öffnete die Tür einen Spalt. Dann wartete er. Wenn jemand die Tür im Auge hatte, würde jetzt etwas gesche‐ hen. Es passierte nichts. Er steckte den Kopf um die Ecke und blickte in die Diele. Es war schlimmer, als er gedacht hatte: Die Türen zu den angrenzenden Räumen waren brutal eingetreten worden, hin‐ gen schief in den Angeln. Die Hintertür stand halb offen; kalte Schneeluft zog durch die Diele. Aus dem Wohnbereich hörte er ein Fluchen, dann eine rasche, wenn auch unverständliche Diskussion. Den Paralysator schußbereit in der Hand, ging Vegas rasch auf die Tür zu, hinter der der Wohnraum lag. Auf seinem Weg kam er am Schlafzimmer vorbei. Er warf einen Blick durch die offenstehende Tür und unterdrückte gerade noch einen wütenden Fluch. Das Schlafzimmer sah aus, als sei es von einer Bombe getroffen worden. Die Schränke waren ausgeräumt, die Schubladen herausgezogen, und die Sachen lagen verstreut im Zimmer. Auf der Suche nach Wertvollem hatten die Diebe gehaust wie die Wandalen. Und sie waren noch immer dabei, ihr Zerstörungswerk ohne Rücksicht fortzusetzen – aus dem Wohnbereich hörte Vegas ein Klirren und Scheppern. Aus seiner Kehle stieg ein Knurren, kalte Wut staute sich in ihm an. Die Einbrecher waren dabei, die Vitrinen zu zerschlagen und sich
seine Sammlung kostbarer, zum Teil unersetzbarer Handfeuerwaf‐ fen anzueignen. Wandalismus und blindwütige Zerstörungswut wären eigentlich nicht vonnöten gewesen – die Vitrinen waren nicht abgesperrt, man hätte sie einfach nur öffnen müssen. Einen Teil seiner Vorsicht vergessend, lief er ins Wohnzimmer. Das Bild, das sich ihm bot, entsprach seinen Befürchtungen: Drei Typen waren gerade dabei, seine historische Waffensammlung aus den sinnlos zerschlagenen Vitrinen in mitgebrachte Taschen zu pa‐ cken. Bei den Ganoven handelte es sich um Männer um die Vierzig, der eine groß, der andere dick mit einem Pancho‐Villa‐Schnauzbart. Der dritte war ein hagerer Typ mit hängenden Schultern, einer Ha‐ kennase und buschigen schwarzen Augenbrauen. Er war der einzi‐ ge, der in Vegas’ Richtung sah, als dieser vor ihnen auftauchte. Er schrak sichtlich zusammen. »Hey!« stieß er hervor, ließ die Ta‐ sche fallen und griff in seine Jacke – nur, um im gleichen Moment zu taumeln und mit krampfartigen Zuckungen zu Boden zu gehen, als ihn Vegas’ Paralysatorstrahl voll erwischte. Ohne den Finger vom Abzug zu nehmen, schwenkte Roy Vegas die Waffe und schoß die beiden anderen nieder, noch ehe sie auf die Idee kommen konnten, zurückzuschießen. Sie krachten zu Boden, als hätte man ihnen sämtliche Sehnen durchtrennt. Der Paralysator war in seiner Wirkung vergleichbar mit einem starken Elektroschock: Alle Nerven wurden gleichzeitig mit Reizen überflutet, die Verbindungen brachen zusammen, der Körper ver‐ krampfte sich komplett und erstarrte dann. Die vegetativen Funk‐ tionen wie Herzschlag, Atmung und dergleichen blieben davon un‐ berührt. Das getroffene Opfer war nach einem Treffer gelähmt, par‐ tiell bei Streifschüssen, vollständig bei einem Körpertreffer. Bei Treffern mit voller Intensität verloren die Opfer für geraume Zeit das Bewußtsein. Ernsthafte Schäden für Leib und Leben waren nach einem Paralysatorschuß nicht zu befürchten, allerdings waren die Folgen – rasende Kopfschmerzen und Muskelkater für einen langen Zeitraum – äußerst unangenehm.
Die drei Ganoven würden stundenlang schlafen und wochenlang von Muskelschmerzen geplagt sein. Eine viel zu geringe Strafe für ihren Wandalismus. Vegas wartete ein paar Sekunden, aber von den drei Einbrechern drohte ihm keine Gefahr mehr. Kopfschüttelnd sah er sich im Wohnzimmer um. Das von den Kerlen angerichtete Tohuwabohu in Ordnung zu bringen, würde ihn Tage beschäftigen. Den geruhsamen Kurzurlaub über die Weihnachtstage konnte er jetzt vergessen. Während er noch überlegte, hörte er von draußen Getöse. Er ging ans Fenster und sah den Jett der privaten Sicherheitsfirma landen, die in seiner Abwesenheit auf seinem Grundstück hin und wieder nach dem Rechten sah. Vier bewaffnete Männer liefen durch den Schnee auf das Haus zu, sie trugen alle schwarze, uniformähnliche Kleidung und machten einen äußerst professionellen Eindruck. Es war das erste Mal, daß er die Leute in Aktion sah. Zwei von ihnen blieben auf der Schwelle stehen, die anderen beiden betraten das Haus. »Hallo! Ist da jemand?« rief einer. »Oberst Vegas, sind Sie da? Hier ist Ryerson vom Sicherheitsdienst!« »Guten Tag, meine Herren«, gab sich Vegas zu erkennen. »Ich habe Sie etwas früher erwartet.« Die Männer waren mittelgroß, breitschultrig und muskulös, und sie beobachteten Vegas aufmerksam. Sie hatten ihre Waffen schuß‐ bereit und hielten stets eine Distanz von zwei Metern zwischen sich, als fürchteten sie, jemand könne sie mit einem Schlag erledigen. Sie betraten vorsichtig den Wohnraum. Während der eine Vegas nicht aus den Augen ließ, sah sich der andere kurz um. Dann nickte er ein paarmal und wandte sich an den Raumschiffs‐ kommandanten . »Ryerson, Sir. Als wir über die satellitengestützte Alarmanlage Ihres Fahrzeugs davon in Kenntnis gesetzt wurden, daß der Hispano Suiza aufgebrochen worden war, sind wir so schnell gekommen, wie wir konnten, Sir«, gab er zu verstehen. »Aber wie ich sehe«, setzte er
hinzu und blickte Vegas mit kaum verhohlenem Erstaunen an, »ha‐ ben Sie die Lage bereits unter Kontrolle. Was ist vorgefallen?« Vegas sagte es ihm in knappen Worten. »Wo ist Ihre Begleiterin jetzt?« erkundigte sich der Angestellte der privaten Sicherheitsfirma, der sich als Ryerson zu erkennen gegeben hatte. »Sie wartet in sicherer Entfernung darauf, daß ich ihr zu verstehen gebe, daß die Gefahr vorüber ist«, versetzte Vegas. »Vernünftige Entscheidung, Sir«, nickte Ryerson und steckte die Waffe ins Holster zurück. »Ich denke, Sie können sie jetzt rufen. Ich…« Er verstummte. Was immer er hinzufügen wollte, er kam nicht mehr dazu, es auszusprechen. An der Tür entstand ein kleiner Tumult, dann kamen die beiden anderen Wachmänner ins Wohn‐ zimmer gestolpert. Ihre Gesichter waren verkniffen, ihre Haltung verkrampft, die Hände hielten sie vom Körper abgespreizt. »Was ist los mit euch?« fuhr Ryerson sie an. »Wieso verlaßt ihr euren Posten?« Die Erklärung folgte ihnen auf dem Fuß: Jenna Ferrari schob sich hinter ihnen in den Raum, im Griff eines Kerls, der sie als Schutz‐ schild benutzte und ihr eine Waffe an den Kopf hielt. Jetzt war klar, daß es sich um vier Ganoven handelte, die an dem Raubzug beteiligt waren. Der vierte Mann war ein vierschrötiger Typ mit krummer Nase und langem schwarzen Haar, das ihm das Aussehen eines Indianers verlieh. Vegas schätzte ihn als einen Typ ein, der anderen zum Spaß Fingernägel ausriß. Vermutlich hatte er sich draußen herumgetrie‐ ben, die Skispuren von Vegas und Jenna entdeckt, war ihnen gefolgt, dabei auf Jenna gestoßen und hatte sie in seine Gewalt gebracht. »Laßt die Finger von euren Waffen!« befahl er mit rauher, bellen‐ der Stimme und unterstrich seine Forderung, indem er die Mündung des Blasters brutal gegen Jennas Schläfe preßte. Sie stöhnte vor Schmerz auf und verzog das Gesicht, hielt sich ansonsten jedoch bemerkenswert tapfer angesichts der tödlichen Gefahr, in der sie sich
befand. Aber Vegas konnte nicht übersehen, daß sie Angst hatte. »Haben Sie sich das auch gut überlegt, Freundchen?« sagte Ryer‐ son und versuchte den harten Mann zu spielen; vermutlich brachte ihn Jenna dazu, so zu reagieren. »Wir sind zu fünft und…« »Lassen Sie das, Ryerson«, befahl Vegas. »Wir haben keine Chance. Sein Blaster hat einen Sensorfeldauslöser.« »Na und? Deswegen sind wir noch immer in der Überzahl.« »Verdammt noch mal! Ich sagte: Lassen Sie es!« schnappte Vegas ungehalten. »Sie sollten besser auf den Mann hören«, riet der Ganove höhnisch. »Er kennt sich aus, wie mir scheint. Was man von euch Heinis nicht behaupten kann, sonst würdet ihr euch ruhig verhalten. Also weg mit den Dingern und ein bißchen plötzlich, ehe ich die Geduld ver‐ liere. Sollte einer von euch auf dumme Gedanken kommen, ist die Lady tot. So einfach ist das.« Was er sagte, entsprach der Realität. Die Wachleute waren eben‐ sowenig in der Lage, ihre Paralysatoren gegen den Gangster einzu‐ setzen, wie Vegas selbst. Solange der Ganove den Finger am Sen‐ sorfeldauslöser hatte, reichte das geringste Zucken, und seine Geisel war tot. Die Krämpfe, die ein Paralysatorschuß zwangsweise verur‐ sachte, würden unweigerlich für dieses Zucken sorgen. Vegas’ Gesicht war ausdruckslos wie das eines Mannes, der ein Präparat unter dem Mikroskop untersucht, als er sich an den Gang‐ ster wandte. »Wie geht es weiter?« »Ihr bringt meine Kumpel in den Lastenschweber«, sagte der, an die Adresse der Wachmänner gerichtet. »Dann werden wir sehen.« »Hören Sie!« wandte sich Ryerson an den Ganoven. »Dafür rücken Sie aber die Beute wieder heraus.« Vegas’ Brauen zuckten leicht, der Wachmann schien die Lage total zu verkennen. Wenn er nicht achtgab, endete das Ganze noch in einem Fiasko, bei dem die einzig leidtragende Person Jenna war. Er mußte auf der Hut sein. Der Geiselnehmer schnaubte verächtlich.
»Ihr seid nicht in der Situation, Forderungen zu stellen, Freund‐ chen«, wurde er ätzend und ließ Ryerson und seine Leute nicht aus den Augen. Es war deutlich zu erkennen, daß er von den Unifor‐ mierten mehr Schwierigkeiten erwartete als vom Hausherrn. Offen‐ bar sah er in den vier Wachleuten die größere Bedrohung für sich, während er Vegas als das kleinere Übel betrachtete. Ein verständli‐ cher Trugschluß: Er wußte nicht, daß seine drei bewußtlosen Kum‐ pane nicht von den Sicherheitsleuten überwältigt worden waren, sondern ihre jetzige Lage dem Hauseigentümer zu verdanken hat‐ ten. »Ich verzichte auf mein Eigentum«, sagte jetzt Vegas und meinte es ernst; für den finanziellen Verlust würde die Versicherung gerades‐ tehen. Seine vordringlichste Sorge galt einzig und allein Jenna, ihr durfte nichts geschehen. »Dafür lassen Sie die Frau gehen, bitte!« »Wie großzügig«, sagte der Ganove halblaut, »aber das kann ich nicht.« Vegas sah seine Augen glitzern, sah das grinsende Gesicht und wußte jetzt, wen er vor sich hatte: nicht bloß einen miesen Dieb, sondern jemanden, der auch mordete, wenn er es für richtig hielt. »Warum nicht?« »Ich werde die Kleine hier nicht aus der Hand geben. Sie wird mich als Geisel begleiten. Merke ich, daß ich verfolgt werde, oder versucht einer von euch einen miesen Trick, ist sie tot. Mein Wort darauf.« Vegas’ Gesicht war ausdruckslos, obwohl er angestrengt nach‐ dachte. Er konnte bereits die ersten Anzeichen von panischer Angst in Jennas Augen erkennen. Lange hielt sie dieser Situation nicht mehr stand. Er mußte dem ein Ende setzten. Seit er Gefangener des Einsamen gewesen war, hatte er einen unbändigen Freiheitsdrang entwickelt. Geiselnehmer, die die persönliche Freiheit anderer brutal beschnitten und damit drohten, sie zu töten, waren für ihn unterster Abschaum. Er stand neben einer der zerstörten Vitrinen, an der sich die Diebe zu schaffen gemacht hatten, und war fast versucht zu lachen. Dem teuersten Stück seiner historischen Sammlung hatten sie offenbar in
Verkennung seines Wertes keine Bedeutung zugemessen: einem Trommelrevolver der Marke Smith & Wesson im Kaliber .44 Mag‐ num, zu ihrer Zeit die stärkste Handfeuerwaffe der Welt. Die Lösung nahm in seinem Kopf Gestalt an. »Und wenn ich Ihnen garantiere, daß Sie unbehelligt mit der Beute verschwinden können und keiner der Wachleute Sie verfolgen wird? Würden Sie sie dann freilassen?« Der Ganove runzelte die Brauen. »Nur zur Information: Welche Garantien wären das?« »Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Hä? Das ist alles?« »Sie können sich darauf verlassen.« »Besser nicht«, sagte der Geiselnehmer, und der Tonfall seiner Stimme machte deutlich, daß er keine Sekunde daran gedacht hatte, Vegas’ Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Was nützt mir der Spatz auf dem Dach, wenn ich die Taube in der Hand halte.« Er lachte kollernd und mit einem merkwürdigen Unterton. »Ich denke, wir beenden diese Vorstellung jetzt«, fügte er hinzu und preßte Jenna noch fester an sich. »Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Vegas; blitzschnell griff er sich den Smith & Wesson und richtete den stahlblau schimmernden Lauf auf den Ganoven. Während er mit dem Daumen den Hahn spannte – das klickende Geräusch klang ungewohnt laut in der Stille des Hauses –, forderte er mit eiskalter Stimme: »Lassen Sie auf der Stelle die Frau los!« Der Ganove grinste; mit Jenna Ferrari vor sich, wähnte er sich si‐ cher. »Mit diesem Museumsstück treffen Sie nicht mal einen Elefanten auf zehn Schritte…« begann er. »Einen Elefanten vielleicht nicht«, sagte Vegas, »dich aber be‐ stimmt!« Er drückte ab. Der Schuß machte einen Höllenlärm. Eine Flamme verließ die Mündung, gefolgt von einer blauen Rauchsäule, als Vegas dem Ganoven ins rechte Auge schoß. Der Hinterkopf des
Getroffenen explodierte förmlich. Der Gangster war schon tot, wäh‐ rend er noch von der Wucht des Einschlags drei Schritte zurückge‐ schleudert wurde und gegen die Wand krachte; der Blaster wirbelte durch die Luft, ohne daß die schlagartig kraftlos gewordenen Finger noch den Sensorfeldauslöser betätigen konnten. Für einen Moment herrschte Stille wie im Auge eines Wirbel‐ sturms. Dann sagte Ryerson: »Mann, was sind Sie für ein kalt‐ schnäuziger Hund!« Vegas hörte ihn nicht, er stand schon bei Jenna und nahm sie in die Arme. Sie war unverletzt, schien aber geschockt zu sein. Sie zitterte und klammerte sich schutzsuchend an ihn. Nach einer Weile spürte er, wie die Anspannung von ihr abfiel. »Geht es dir gut? Bist du in Ordnung?« erkundigte er sich. Sie antwortete erst nach ein paar Sekunden. »Ja, ja. Ich bin in Ordnung«, sagte sie leise. »Doch lange hätte ich das nicht mehr durchgehalten.« Er küßte sie. »Ich weiß«, sagte er. »Aber jetzt ist es ja vorbei.« Sie sah ihn an, mit eindringlichem und ziemlich dankbarem Blick. Dann wandte sie den Kopf zur Seite, schaute sich im Wohnraum um, wobei sie es tunlichst vermied, den Toten anzusehen. Schließlich seufzte sie. »Mit dem gemütlichen Weihnachten wird’s wohl nichts mehr werden, fürchte ich.« Er nickte. »Ich denke, wir brechen unsere Zelte hier ab und kehren in den Schoß der Zivilisation zurück.«
8. Bereits eine halbe Stunde, nachdem der Ganove sein unrühmliches und vor allem unerwartetes Ende gefunden hatte, bewegte sich Ve‐ gas’ Hispano Suiza unterhalb der Wolkendecke auf das ferne Alamo Gordo zu. Während des Fluges sprach Jenna kaum ein Wort; sie war wohl noch damit beschäftigt, die Erlebnisse im Landhaus zu verarbeiten. Vegas störte sie nicht dabei. Er kontrollierte die digitalen Anzeigen über Windrichtung und Geschwindigkeit und übergab dann den Jett an den Autopiloten. Alamo Gordo war dreihundert Kilometer Luft‐ linie entfernt, nicht ganz 20 Minuten Flugzeit mit dem schnellen Jett. Vegas lehnte sich in den Sitz zurück und überließ sich seinen Ge‐ danken. Die Sacramento Mountains blieben zurück, und mit ihnen das Landhaus. Die Sicherheitsfirma würde sich darum kümmern, daß es wieder aufgeräumt wurde, während Ryerson vermutlich gerade dabei war, die Formalitäten mit der Polizei zu erledigen. Vegas grinste kurz, als er daran dachte, wie Ryerson noch schnell versucht hatte, ihm eine aufwendige Alarmanlage für das entlegene Landhaus aufzuschwatzen. Aber er hatte abgewinkt; er hatte eine Alarmanlage für das Haus nie für nötig gehalten, und jetzt schon gar nicht mehr. Konnte gut sein, daß die Sacramento Mountains bei seinem nächsten Besuch auf der Erde, so es denn noch einen geben würde, bereits unter kilome‐ terdickem Eis und Schnee verborgen lagen und das Landhaus nur noch eine ferne Erinnerung war. Vor dem Jett öffnete sich das südlich der Sacramento Mountains liegende Otero‐Becken, dessen nördliche Begrenzung Alamo Gordo darstellte. Die Stadt lag an der Straße 54, die von El Paso nach Tula‐ rosa und dann in nordöstlicher Richtung weiter durch ganz Neu‐Mexiko bis hoch nach Santa Rosa führte, das Otero‐Becken und der Westabfall der Sacramento Mountains waren wiederum Teil der
riesigen White‐Sands‐Wüste, die lange Zeit als das amerikanische Zentrum für streng geheime militärische Forschungen bekannt ge‐ wesen war. Alamo Gordo war die jüngste und zugleich modernste Metropole der Erde. Ihre Nähe zu Cent Field, Terras größtem Raumhafen, hatte sie binnen kürzester Zeit an Bedeutung gewinnen lassen. Aber erst die von der Giant‐Invasion verursachte, nahezu komplette Zerstö‐ rung World Citys hatte die Stadt in der Wüste zum neuen Regie‐ rungssitz der Menschheit gemacht. Als die Silhouette Alamo Gordos mit ihren unverwechselbaren Hochbauten – riesige, kugelförmige Wohnmaschinen, die auf dicken Säulen teilweise mehr als einen Kilometer in den Himmel ragten – auftauchte, übernahm Vegas wieder die Steuerung des Imperial. Sie überflogen die Stadtgrenze und bewegten sich ins Innere. »Was ist denn hier los?« fragte Jenna, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten, da sie natürlich wußte, was in Alamo Gordo zur Zeit geschah – wie übrigens in allen Hauptstädten der Erde: der größte Exodus der Menschheit warf bereits seine Schatten. Alamo Gordo schien ein nahezu lückenloses Verkehrschaos in allen drei Dimen‐ sionen zu sein, das sich in Richtung Cent Field kanalisierte. »Seit ich hier lebe, habe ich nicht mehr so viele Militärjetts und Gleiter auf einem Haufen gesehen. Oder ist es wie immer, und wir sind einfach nicht mehr daran gewöhnt?« Vegas blieb ihr die Antwort schuldig. Aber er gab ihr insgeheim recht. Es sah aus, als bereite sich Terra auf eine Invasion vor – doch das Gegenteil war der Fall: Man machte sich daran, die angestammte Heimat zu verlassen, um dem drohenden Verhängnis einer Katast‐ rophe zu entkommen, die sich unaufhaltsam näherte. Als sie die Außenbezirke erreichten, begann es zu schneien. Unter ihnen erstrahlte Alamo Gordo in der zunehmenden Dunkelheit wie ein gigantischer Weihnachtsmarkt. »Wie lange noch?« fragte sie. »Was?«
»Bis hier die Lichter ausgehen.« Er hob die Schultern. »Ich glaube, ich will es gar nicht wissen – zumindest noch nicht«, meinte er. »Aber reden wir von etwas anderem. Schon vergessen? Wir haben Urlaub, den wir gefälligst genießen werden.« »Eigentlich hast du recht«, meinte sie und legte ihre Hand auf sei‐ nen Oberschenkel. Er bewegte sich unruhig. »Wenn ich jetzt im Regen stünde«, sagte er verhalten, »würde es zischen.« Sie lachte mit einer Stimme, die tief aus ihrer Kehle kam, und nahm die Hand weg, nicht ohne ihn vorher zu kneifen. Obwohl die Hauptstadt der Erde hoffnungslos überfüllt war, Mie‐ ten und Grundstückspreise astronomische Höhen angenommen hatten, besaß Jennas Apartment in der oberen Polkalotte der Wohnkugel den nahezu unbezahlbaren Vorteil, daß ein Stellplatz in dem auf demselben Stockwerk liegenden Hangar dazugehörte. »Hat schon was für sich, wenn man ein entsprechendes Jahresge‐ halt bezieht«, brummte Vegas und parkte den Imperial in der ent‐ sprechenden Bucht. Sie lachte spöttisch, während sie ausstiegen und auf den A‐Gravlift zugingen. »Ausgerechnet du mußt das sagen!« meinte sie und trat in das abwärtsgepolte Feld. Vegas erwiderte nichts darauf, sondern zeigte nur das zufriedene Lächeln des Mannes, für den Geld tatsächlich kaum noch eine Rolle spielte. Jenna hatte nicht ganz unrecht mit ihrer Bemerkung, war er doch mit Abstand der am höchsten bezahlte Raumschiffskomman‐ dant der Terranischen Flotte. Einzig und allein deshalb, weil er zu seinem nicht unerheblichen Sold als Oberst und Kommandant eines Flottenschulschiffes zusätzlich eine jährliche Abschlagszahlung von einer Million Dollar aus der mehrstelligen Millionensumme bekam, welche für die 47 Jahre an Sold aufgelaufen war, die er in Gefan‐
genschaft des Einsamen vom Mars verbracht hatte, ehe er ins »Le‐ ben« zurückkehrte. ∗ Das einzig Positive während dieser Zeit war zum einen, daß er durch den ständigen geistigen Kontakt mit dem Einsamen ein unü‐ bertroffenes Einfühlungsvermögen in die Arbeitsabläufe komplexer Rechner und in die Denkvorgänge künstlicher Intelligenzen entwi‐ ckelte, die ihn bei seinen heutigen Entscheidungen als Raumschiffs‐ kommandant in vielerlei Hinsicht zum Vorteil gereichten. Zum zweiten war er zu einem reichen Mann geworden, weil er Henner Trawisheim davon überzeugen konnte, daß er 47 Jahre lang für die Terranische Flotte im Einsatz auf einem fremden Planeten gewesen war und daher erwartete, seinen ausstehenden Sold aus‐ gezahlt zu bekommen. Angesichts von Vegas’ Bezügen aus dieser Zeit, den laufenden Solderhöhungen, den vertraglich geregelten Zulagen sowie von Zins und Zinseszins hatte sich dabei eine dreistellige Millionensumme ergeben, die auf einmal auszuzahlen sich die Finanzbehörde au‐ ßerstande sah, weshalb man sich auf eine jährliche Ratenzahlung geeinigt hatte. Vegas war erst einmal in Jenna Ferraris Wohnung gewesen, und das auch nur für eine kurze Nacht. Viel hatte er nicht mehr in Erin‐ nerung, aber es schien sich nichts geändert zu haben seit diesem Besuch. Vorsichtshalber sagte er dennoch: »Schön hast du es hier.« Jenna schaute erst ihn an, dann sah sie sich in der Wohnung um. »Ja, ja«, sagte sie mit einem ironischen Lächeln, »das ist eine sehr hübsche Mansardenwohnung.« Das war es auch, mit einer teuren Musikanlage und komfortablen Möbeln, die jede Menge Bewegungsfreiheiten auf dem weichen Teppichboden ließen. Überall standen Vasen, die von weißen Blu‐ men überquollen. Und es war vor allem keine Mansardenwohnung, ∗
Siehe Drakhon-Zyklus Band 9: »Das Sternenversteck«
auch wenn sie sich im oberen Viertel der kugelförmigen Wohnanlage befand. Mit Außenfenstern, die bei klarem Wetter einen weiten Blick über die Stadt bis hinüber zu den bewaldeten Hängen der Ausläufer der Sacramento Mountains boten. »Mach’s dir gemütlich«, forderte sie ihn auf. Er lümmelte sich auf die Couch. »Etwas zu trinken?« »Mhmm.« Er erinnerte sich, Jenna hatte eine wohlgefüllte Bar. »Cognac?« Er nickte. Sie ging zur Bar. »Magst du etwas Hintergrundmusik?« »Natürlich.« »Ich kann dir fast alles bieten außer Weihnachtsliedern. Ravel, Of‐ fenbach, Delius…« zählte sie auf. Er lachte. »Wenn wir schon Cognac trinken, würde ich die franzö‐ sische Atmosphäre gern für den restlichen Abend beibehalten.« »Also Delius«, sagte sie und hob ein wenig die Stimme, »nur Hin‐ tergrund!« Der Suprasensor erfüllte ihren Wunsch. Vegas wärmte das Glas in seinen Händen, während die »Som‐ mernacht am Fluß« durch den Raum plätscherte. Sie trank ihren Cognac mit zwei Schlucken aus. »Du mußt mich für ein paar Augenblicke entschuldigen«, sagte sie unvermittelt und verschwand. Diskret hinter einer spanischen Wand aus Leder war die Tür zum Bad. Als sie wieder herauskam, rosig und blond, hatte sie sich in etwas Bequemeres geworfen. Das zu einem Zopf gebunden gewesene Haar war geöffnet, es fiel ihr jetzt in Wellen über die Schultern, und sie wirkte wieder sehr selbstsicher. Sie hatte die Ereignisse im Landhaus ohne Schaden an Leib und Seele überstanden. »Und was machen wir mit dem Rest des Abends?« fragte sie un‐ ternehmungslustig und setzte sich neben ihn.
»Wir könnten etwas essen gehen«, schlug er ohne rechte Begeiste‐ rung vor. »Heute? Am 24. Dezember?« »Ein Tag wie jeder andere«, meinte er schwach. »Danach steht mir eigentlich nicht der Sinn«, ließ sie ihn wissen. »Wonach steht er dir dann?« fragte er unvorsichtigerweise. Die Antwort bekam er sofort. »Auch auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden«, sagte sie und rutschte auf der Couch an ihn heran, »danach ist mir!« Jenna schlang die Arme um ihn, küßte ihn fordernd und leiden‐ schaftlich. Er dachte an ihre gebräunte Haut, spürte ihren geschmei‐ digen Körper, und ein komisches Gefühl, gemischt aus Verlangen und etwas ganz anderem, überfiel ihn. »Wollen wir nicht ins Bett gehen?« fragte er, vor lauter Erregung einen dicken Kloß im Hals. »Wozu«, murmelte sie an seinem Hals. »Der Teppich tut’s auch…« Sie rissen sich fast die Kleider vom Leib, und als sie zusammen‐ kamen, war es, als kämen zwei Feinde zusammen, die verbissen darum kämpften, den anderen lebendig aufzufressen. Diesmal war es ganz anders als der zivilisierte Beischlaf, den er schon ein paarmal mit ihr genossen hatte. Es war etwas Elementares, eine atavistische, primitive Regung, die von beiden Seiten bis zur völligen Befriedi‐ gung getrieben wurde. Danach lagen sie ausgelaugt und wortlos nebeneinander auf dem Rücken; lange Zeit war nur ihr Atem zu hören. Dann setzte sie sich mit gekreuzten Beinen auf und sah ihn an. Ihr Gesicht spiegelte noch immer die Ungezügeltheit der vergangenen Minuten. »Roy«, sagte sie und zeichnete mit dem Fingernagel ihres Zeige‐ fingers Muster auf seine Brust. »Bin ich gut im Bett?« Er räusperte sich. Verkehrte Welt, dachte er und erwiderte: »Davon abgesehen, daß es sich um den Teppich handelt, sollte eigentlich ich das fragen. Oder existiert dieses Klischee nicht mehr im 21. Jahr‐
hundert?« »Sag schon«, drängte sie, ohne darauf zu antworten, und beugte sich vor. Ihre Brüste schimmerten im schwachen Licht, das im Zimmer herrschte. »Du warst hervorragend«, meinte er um des lieben Friedens willen. »Hast du einen Fernkurs dafür belegt?« »Schuft!« Sie knuffte ihn in die Rippen. »Unsensibler Klotz.« »Ein Klotz vielleicht, aber unsensibel? Na, ich weiß nicht…« Er lachte und stand auf. »Ich gehe duschen«, sagte er. Als er herauskam, nur mit einem Handtuch um die Lenden, war der Wohnraum leer, nur die Kleider lagen noch immer wahllos auf dem Teppich. Jenna fand er im Schlafzimmer, sie sah ihm entgegen. Was sie sah, schien ihr zu gefallen, zumindest konnte man aus ihrem Lächeln darauf schließen. Vegas war hochgewachsen, muskulös und hatte dichtes graues Haar. Das dunkle Blau seiner Augen war so intensiv, daß es bei be‐ stimmter Beleuchtung oder wenn er in Zorn geriet, fast schwarz wirkte. Obwohl 1985 geboren, bewegte er sich trotz seiner jetzt 77 Jahren schnell und elastisch wie ein Mann in der Blüte seines Lebens. Was bei ihm genaugenommen auch zutraf, denn bei einer durch‐ schnittlichen Lebenserwartung der Menschen von inzwischen hun‐ dertvierzig Jahren gehörte man mit Siebenundsiebzig noch lange nicht zum alten Eisen. Raumschiffskommandanten wie er waren in der Terranischen Flotte unverzichtbar. Er stieg ins Bett, streckte sich neben ihr aus und schob sich eines der Kissen unter den Kopf. »Woran denkst du, Roy?« Er hatte eine Zeitlang schweigend dagelegen. »An nichts Besonderes«, wich er aus und hatte ein dumpfes Gefühl in seinem Bauch. Er wußte nicht genau, was die nahe Zukunft für ihn bereithielt, aber er war sicher, daß er bald wieder im Raum sein
würde. Nur mit welcher Aufgabe, das war noch unsicher. Konnte gut sein, daß man die ANZIO in das allgemeine Evakuierungsprog‐ ramm integrierte und er mit Emigranten zu anderen Planeten schipperte. Denkbar war aber auch eine völlig andere Aufgabe. »Schade«, meinte sie, ergriff seine Hand und legte ihr Gesicht hi‐ nein. »Was ist schade?« »Das es fast vorbei ist.« Ihr Stimme klang leise. Vegas sah sie an. »Noch ist es nicht vorbei«, erwiderte er beruhi‐ gend. »Wir haben noch ein paar Tage Urlaub, wie du weißt.« Sie seufzte; es klang fast wie ein Schluchzen. »Das meinte ich nicht.« »Natürlich weiß ich, was du meinst«, gab er zu, »und ich bin nicht sonderlich erpicht darauf.« »Willst du damit sagen, daß du mich vermissen wirst?« »Eine Frau wie dich trifft man nicht so oft«, sagte er, »daß man sie gleich wieder verlieren will…« »Ich fühle mich geschmeichelt«, entgegnete sie. »Aber ich habe keine große Hoffnung in die Zukunft.« »Und warum nicht?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, mit welchem Schiff ich wann und wohin gebracht werde«, antwortete sie heftig. »Vermutlich ver‐ lieren wir uns vollkommen aus den Augen.« »Du siehst zu schwarz«, beruhigte er. »Sicher wird Babylon deine neue Heimat. Aber falls nicht, du kannst dich jederzeit und von je‐ dem Ort der Galaxis an das Flottenhauptquartier wenden. Ich werde immer mal nachfragen, ob eine Nachricht von einer gewissen Jenna Ferrari vorhanden ist.« »Versprochen?« Sie klang schon wieder beruhigt. »Versprochen.« Sie seufzte zufrieden und zog sich die Decke unters Kinn. Gleich darauf zeugten tiefe Atemzüge davon, daß sie eingeschlafen war.
Vegas konnte es ihr nicht verdenken, der Tag hatte einiges an Aufregung gebracht. Er starrte noch eine Weile in die Finsternis und ließ die Ereignisse des 24. Dezembers 2062 Revue passieren. Zum Glück dauerte es nicht lange, dann fiel auch er in die tiefe Dunkelheit des Schlafs. * Der Raum befand sich in einer der obersten Etagen des Regie‐ rungsgebäudes und war mit jener technischen Nüchternheit und funktionalen Sachlichkeit ausgestattet, die die meisten Anlagen des Zentralen Flottenkommandos auszeichnete. An sich also nichts Be‐ sonderes, wenn man einmal davon absah, daß es sich beim Besitzer des Raumes um Marschall Theodore »Ted« Bultons Büro handelte, den Oberbefehlshaber der irdischen Raumstreitkräfte. Mit gerunzelten Brauen studierte der massige Mann mit der un‐ tersetzten Figur und dem runden, großflächigen Gesicht die Texte im holographischen Schirm. Immer neue Zeilen bildeten sich: Informationen über den momen‐ tanen Zustand der Sonne. Dabei handelte es sich bei dieser Zusam‐ menfassung, die ihm der Wissenschaftsrat zur Verfügung gestellt hatte, um mehrfach bearbeitete Berichte, zusammengestellt und schon komprimiert aus einer Flut von Daten, die von einem Team hochqualifizierter Astronomen und Geophysiker ständig aktualisiert wurden. Bestimmte Zeilen und kurze Einschübe – Anmerkungen einzelner Wissenschaftler – waren in unterschiedlichen Farben her‐ vorgehoben und verlangten seine besondere Aufmerksamkeit. Seit zwei Stunden arbeitete Marschall Bulton schon an diesem Morgen des 25. Dezembers, den er eigentlich bei seiner Familie ver‐ bringen sollte, aber die gravierenden Umwälzungen, der sich Terra und die gesamte Erdbevölkerung gegenübersahen, erforderten sei‐ nen ganzen Einsatz. Je länger er las, desto tiefer gruben sich Falten in seine Stirn; die
Katastrophe schien nicht mehr aufzuhalten zu sein. Es war eine Katastrophe, deren erste Anzeichen sich bereits im Jahre 2060 angekündigt hatten, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand so recht die Hinweise zu deuten wußte, warum die Son‐ nenaktivität mit einem exponentiellen Steigerungsfaktor nachzulas‐ sen schien. Eine Forschungsgruppe des Institutes von Monty Bell, Professor der Astrophysik und Direktor der Raumfahrtakademie in Alamo Gordo, befaßte sich 2062 näher mit dem unerklärlichen Phänomen. Mitarbeiter in diesem Team war der Astronom und Geophysiker Ian Carus, der etwa im August des gleichen Jahres festgestellt hatte, daß sich die Sonnenmasse um fast zwei Prozent gegenüber ihrem urs‐ prünglichen Wert verringert hatte. Doch nicht genug: Die Tempera‐ tur der Sonnenkorona zeigte mit 46.000 Grad Celsius nun eine deut‐ lich erkennbare Abnahme, die der Sonnenoberfläche war auf 4700 Grad Celsius gefallen, und die Kurve fiel weiter. Selbst die Häufigkeit von Protuberanzen und Sonnenflecken war rückläufig. Infolge des Massenverlustes hatte sich bereits der Ab‐ stand der Planeten zu Sol im Mittel um einige Meter vergrößert; das Schwerefeld der Sonne konnte die Planeten nicht mehr halten. Ob‐ wohl man es zuerst vermutete, konnte die verlorene Masse nicht von der Sonne in Energie umgesetzt worden sein. Wäre das der Fall ge‐ wesen, hätte die Temperatur steigen, aber nicht fallen müssen. Eine Zeitlang konnte man sich keinen Reim darauf machen. Die Lösung des Rätsels offenbarte sich, als Astrophysiker ent‐ deckten, daß der nur 4,3 Lichtjahre von Sol entfernte ehemals schwache rote Stern Proxima Centauri um die gleiche Masse zu‐ nahm, die die Sonne verlor. Eine Hypothese Monty Beils war, daß in der Sonne ein kleines Schwarzes Loch existierte, das auf eine unbe‐ kannte Art mit einem »Weißen Loch« im Kern von Proxima Centauri korrespondierte und die verschwundene Sonnenmasse dorthin transportierte. An und für sich war Proxima Centauri ein für Terra bedeutungs‐
loses System mit vier lebensfeindlichen Wüsten‐ und Eisplaneten, dem man bis zum Spätsommer 2062 kaum Aufmerksamkeit ge‐ schenkt hatte, obwohl es das zu Sol nächstgelegene Sonnensystem war. Mit einem Mal rückte es durch die Ereignisse des unerklärli‐ chen Massetransfers in den Fokus ungeteilten Interesses. Eine in das System entsandte Flotteneinheit entdeckte, daß fast die gesamte Oberfläche des innersten Planeten, Proxima Centauri I, im Flottenjargon nur »der Klotz« genannt, aussah wie eine einzige Schrotthalde. Monströse Anlagen mit einer für Menschen systemlo‐ sen Anordnung erstreckten sich über den ganzen Planeten. Durch die Vorgänge um den Klotz sowie ausgedehnte Untersuchungen des Planeten durch Wissenschaftler und Techniker wurde deutlich, daß dort eine vom »Volk« installierte Anlage zur Steuerung des Masse‐ transfers von Sol nach Proxima Centauri durch einen sogenannten »Sonnenzapfer« existierte, die durch einen ultrastarken Karoschirm geschützt und gleichzeitig mit Energie versorgt wurde. Dieser planetenumspannende Schutzschirm war durch nichts zu zerstören. Selbst als man im September die Erste Schlachtdivision der Terranischen Flotte, bestehend aus 200 Ovoid‐Ringraumern, in Marsch setzte, um ihn durch massierten und koordinierten Beschuß zu knacken, blieb diese konzertierte Aktion ohne Ergebnis. Es gelang erst im Oktober, nachdem man fünf gigantische Plattformen mit Super‐Raptoren, einer Weiterentwicklung einer alten Waffe der Giants, gebaut hatte. Aber damit war das Problem nicht aus der Welt geschafft: Der Massetransfer konnte dennoch nicht gestoppt werden. Der Prozeß hatte sich längst verselbständigt, die irdische Sonne verlor mehr und mehr ihrer Masse und somit Energie… Marschall Bulton fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch das Haar. Das, was hier in der nüchternen Sprache der Wissenschaftler über den Tod der Sonne gesagt wurde, erfüllte ihn mit einer Mi‐ schung aus Ärger, tiefer Sorge und ohnmächtiger Wut. Plötzlich hielt es ihn nicht länger auf seinem Platz. Mit einer ge‐
murmelten Verwünschung stand er auf und lief wie ein gefangenes Tier im Raum auf und ab. Nach einer Weile blieb er mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der Panoramascheibe stehen und sah hinaus. So sehr sich der Marschall in den wenigen Phasen der Ruhe normalerweise vom Anblick der neuen Metropole fesseln ließ – heute konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Alamo Gordo lag im trüben Licht des Weihnachtsmorgens, wie stets erfüllt von einer hektischen Geschäftigkeit, daran änderte auch der 25. Dezember nichts. Der Wetterbericht hatte für den Nachmittag ausgedehnte Schneefälle angekündigt. Die Sonne war nur ein diffu‐ ser Fleck am Himmel; sie machte den Eindruck, als würde sie schon jetzt verlöschen. Zu früh, dachte er und war sich der Prognosen der Wissenschaftler bewußt, die das endgültige Aus der irdischen Sonne für das Jahr 2071 prognostizierten. Allerdings würde die Erde schon lange vorher durch die extremen Umweltbedingungen für Mensch‐ heit unbewohnbar werden. Schon vor Monaten hatten die Meteoro‐ logen einhellig vorausgesagt, daß es im Winter auf der Nordhalb‐ kugel zu einer neuen Eiszeit kommen und in spätestens zwei Jahren die Erde völlig unbewohnbar sein würde. »Immerhin eine Galgenfrist«, murmelte der Marschall. »Vielleicht gelingt uns in dieser Zeit eine vernünftige Evakuierung ohne allzu große Verluste.« Verluste… Es würde nicht ohne abgehen, dessen war sich Ted Bulton bewußt. Denn selbst bei Ausschöpfung aller erdenklichen Möglichkeiten, wie der Evakuierung der Menschheit auf die Kolonialwelten sowie über die Transmitterstraße nach Eden, den Bau von Energiekuppeln über den großen Städten sowie von Biosphären im Amazonasbecken und Zentralafrika und ‐asien, sagten alle Prognosen voraus, daß mit mindestens drei Milliarden Opfern gerechnet werden mußte. Es würde eine harte Zeit werden, die von allen Beteiligten das Äußerste abverlangen würde. Vor allem von den Raumschiffskapi‐
tänen, die die Menschheit zu neuen Ufern bringen mußten. Schiffsraum würde vermutlich genügend zur Verfügung stehen, nachdem Terence Wallis Trawisheim seine Bereitschaft signalisiert hatte, der Erdregierung in dieser Hinsicht massiv unter die Arme zu greifen. Was fehlte, war das qualifizierte Personal, das diese Schiffe flog und die Emigranten sicher ans Ziel brachte. Ted Bulton seufzte; er fühlte die schwere Bürde, die ihm die au‐ genblickliche Situation auferlegte, wie eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern, die ihn in die Knie zwingen wollte. Für einen Moment schloß er die Augen. Dann verließ er seinen Platz am Fenster, kehrte zum Schreibtisch zurück und drückte eine Taste seines Tischviphos. »Welchen Anschluß wünschen Sie, Sir?« Auf dem Schirm war Bultons Ordonnanz zu sehen. »Leutnant, stellen Sie mir eine Verbindung zu Oberst Roy Vegas her.« Die kühle, lässige Stimme Tessa Anats antwortete: »Sofort, Mar‐ schall.« * Langsam wurde Vegas wach. Er fühlte die Bettlaken auf seiner nackten Haut. Er tastete neben sich und merkte, daß Jenna nicht da war. Das Laken war kalt, also mußte sie schon länger auf sein. Gähnend versuchte er, die Zeitangabe des Viphos neben dem Bett zu entziffern: Es war zehn Uhr morgens. Immer noch gähnend stand er auf. Er suchte seine Kleider, fand sie nicht und schlang sich kurz entschlossen das Handtuch von gestern abend um die Lenden, das vor dem Bett auf dem Boden lag. So ge‐ wappnet ging er Jenna suchen. Er fand sie in der Küche. Sie saß in einem kurzen Hemdchen am Tisch vor ihrem transportablen Sup‐ rasensor und durchforstete die Dateien nach Post und Anrufen. Sie war ungeschminkt, ihr Haar hatte sie lose zusammengebunden,
damit es ihr nicht ins Gesicht fallen konnte, und sie sah wunderbar aus. Ihre Hände umklammerten eine dieser schüsselförmigen Tas‐ sen, aus denen die Franzosen Kaffee tranken. Kaffeeduft lag in der Luft. Sie sah hoch. »Guten Morgen!« sagte sie. »Hast du gut geschlafen?« »Sehr gut«, meinte er schläfrig. »Hast du einen für mich?« Sie nickte in Richtung des Automaten. »Nimm dir einen.« Er stellte sich mit der Tasse hinter sie. »Bist du nicht mehr in Urlaub?« »Will nur mal sehen, wie’s in der Kanzlei geht. Ich bin gleich fer‐ tig.« Er küßte sie in den Nacken. »Hmm«, sagte sie. »Mach ruhig weiter!« »Besser nicht«, meinte er. Sie kicherte. »Feigling.« »Ich gehe wohl besser duschen«, grunzte er ausweichend. »Mach das. Ich bin gleich fertig. Frühstück?« »Kein Frühstück. Kaffee hat gereicht. Muß auf meine Linie achten.« Er klatschte sich mit der flachen Hand auf den brettharten Bauch. »Tu das«, sagte sie bewundernd. Er ging ins Bad und stellte sich unter die heiße Dusche. Als er herauskam, suchte er nach seinen Sachen. Im Schlafzimmer waren sie nicht, aber im Wohnzimmer. »Alles gefunden?« rief Jenna. »Ja«, gab er zur Antwort. Er fühlte sich prächtig. So gut wie lange nicht mehr. Er befestigte die federnde Spange des Chronos an seinem Handgelenk und sah routinemäßig auf die Anzeige: elf Uhr. »Was hältst du davon«, rief er durch die Wohnung, »wenn wir heute abend ins Los Morenos gehen?« »Viel!« gab sie zur Antwort. »Soll ich reservieren?« In diesem Moment summte sein Dienstvipho. Vegas zog eine Grimasse, fischte das Gerät aus der Tasche und ak‐
tivierte die Phase. Ausgehend von seinem Magen breitete sich ein ungutes Gefühl in ihm aus. Es verstärkte sich, als er sah, wer ihn zu sprechen wünschte. »Frohe Weihnachten, Marschall«, sagte er dennoch. »Wie?« Bulton runzelte die Stirn. »Oh, frohe Weihnachten, Oberst.« Dann kam er zur Sache. »Ich erwarte Sie zu einer Dienstbesprechung im Flottenhauptquartier. Vierzehn Uhr.« Sprach’s und deaktivierte die Phase. »Von wem war der Anruf?« Jenna stand in der Tür. »Ein gewisser Marschall Bulton.« Sie zeigte Erschrecken. »Bedeutet das…?« »Das könnte es bedeuten«, meinte er lahm. »Der Urlaub ist also vorbei.« Jenna machte ein betrübliches Ge‐ sicht. »Mist!« schimpfte sie wenig damenhaft. Er lächelte beruhigend. »Ich bitte dich. Es war von Anfang an klar, daß es nur ein Urlaub auf Abruf sein würde. Offengestanden bin ich überrascht, daß er dennoch so lange gedauert hat. Angesichts der angespannten Lage war es sowieso ungewiß, überhaupt freizube‐ kommen. Aber vielleicht können wir trotzdem heute abend ausge‐ hen.« Sie zeigte sich einsichtig und ließ sich nicht anmerken, was sie von seinem Nachsatz hielt. Er war dankbar dafür; er hatte selbst keine große Hoffnung, daß er noch einmal zurückkommen würde. Und Abschiedsszenen waren nicht sein Ding. * Er ließ den Imperial in Jennas Hangar und nahm statt dessen ein Gleitertaxi, das ihn zu seinem Apartment brachte; Flottenoffiziere wohnten selten auf der Basis, wenn sie mal für einige Tage auf der Erde waren. Er brauchte seine Uniform; in Freizeitkleidung konnte er nicht vor seinen Oberbefehlshaber treten. Für den Weg zurück ins Regierungsviertel benutzte er die unterirdische Magnetschwebe‐
bahn. Zehn Minuten später stieg Vegas in der grellbeleuchteten Zielsta‐ tion aus; geschäftig surrende Rolltreppen brachten ihn nach oben. Er trat ins Freie; auf der anderen Straßenseite lag der schmucklose, vierzigstöckige Betonklotz. Das Wetter folgte genau den Vorhersa‐ gen der Meteorologen: Es schneite bereits wieder stark. Die obersten Etagen des Regierungsgebäudes waren kaum aus‐ zumachen. Ein rauher Wind trieb die Schneeflocken durch die Stadt. Mit schnellen Schritten überquerte der Oberst den Vorplatz und steuerte auf den Tempel der terranischen Macht zu. Aus dem Schneetreiben löste sich ein wuchtiger Schatten, der laut tutend seinen Weg kreuzte; erschrocken hielt Vegas an und sprang zwei, drei Schritte zurück. Der vollautomatische Schneeräumer zog an ihm vorbei, unbeirrbar wie ein Planet auf seiner Bahn, und hinterließ einen feuchten, schneefreien Belag. Das Arbeitsgeräusch der auffallend gelb und rot lackierten Maschine wurde leiser, und als sie in die nächste Straße einbog und Vegas’ Blicken entschwand, hörte er sie nicht mehr. Maschinen wie diese waren jetzt viele in der Stadt zu sehen, seit die Wetterkapriolen ihren Einsatz erforderlich machten. Vegas sah auf sein Chrono. Der Termin der Dienstbesprechung rückte in bedrohliche Nähe. Wenn er sich nicht sputete, würde er sich vom Marschall eine ausführliche Bemerkung über die man‐ gelnde Pünktlichkeit eines bestimmten Flottenoffiziers einhandeln, und danach stand ihm jetzt wirklich nicht der Sinn. Er schaffte es, sich Sekunden vor dem angesetzten Termin in Bul‐ tons Vorzimmer einzufinden. »Sie können reingehen, Oberst Vegas!« forderte ihn Leutnant Tessa Anat auf. »Der Marschall erwartet Sie bereits.« Vegas salutierte und sagte förmlich: »Melde mich wie befohlen zur Stelle, Marschall.« »Guten Tag, Oberst.« Bulton grüßte mit sachlicher Miene zurück. »Ziemlich mieses Wetter, das Sie da mitbringen. Nehmen Sie Platz.«
Roy Vegas setzte sich. Ohne tatsächlich interessiert zu wirken, fragte Bulton: »Wie war der Urlaub?« Vegas machte eine vage Geste. »Kurz. Könnte ich nicht…?« Ted Bulton runzelte die Stirn. »Nichts da. Keine Chance. Ab sofort gilt strikte Urlaubssperre. Ich brauche jeden meiner Kommandan‐ ten.« »War auch nur eine Frage«, murmelte Vegas. Bulton nickte. Er legte die Fingerspitzen zusammen, musterte über diese Pyramide hinweg seinen Besucher und eröffnete ihm in dürren Worten, daß die ANZIO am nächsten Morgen zu starten hätte. Vegas war nicht im mindesten überrascht, hatte er doch insgeheim schon länger damit gerechnet; sein Schiff lag seiner Meinung nach sowieso bereits viel zu lange untätig auf dem Raumhafen. »Mit welcher Order, Sir?« fragte er. »Evakuierungsmaßnahmen?« »Eine verständliche Frage, doch sie betrifft nur mittelbar den von Ihnen angesprochenen Aspekt.« Bulton lächelte kurz. »Nein, Sie machen das, wofür Sie das Kommando über das Flot‐ tenschulschiff erhalten haben, Oberst.« »Also eine neue Ausbildungsmission?« Vegas konnte seine Ent‐ täuschung nicht verheimlichen. »So ist es«, nickte der Marschall. »Wenn Sie morgen früh starten, werden sich 200 neue Kadetten und 250 Rekruten der Rauminfante‐ rie zur Ausbildung an Bord befinden.« »Wer ist ihr Vorgesetzter?« »Major McGraves natürlich. Weshalb fragen Sie?« Bulton sah ihn forschend an. »Haben Sie ein Problem damit?« Vegas machte ein zufriedenes Gesicht. »Mitnichten, Marschall«, meinte er aufgeräumt. »Ich begrüße Ihre Entscheidung sogar. So muß ich mich nicht auf ein neues Gesicht einstellen.« »So. Hmm. Na ja. Aber die Ausbildung der Kadetten wird nicht der einzige Aspekt Ihrer Reise sein, Mister Vegas.«
»Nein?« »Nein.« Bulton lehnte sich in seinen Sessel zurück und betrachtete seinen bestbezahlten Kommandanten mit einem undeutbaren Aus‐ druck in den Augen. »Ehe ich es vergesse: Ihrem Ersuchen auf Auf‐ nahme der Kadetten Stormond und Kana in die reguläre Besatzung wurde einhellig entsprochen.« Lee Kana und Derek Stormond waren ursprünglich Rekruten unter Major ehester McGraves’ Kommando gewesen und hatten das Aus‐ bildungsprogramm für Rauminfanteristen an Bord der ANZIO durchlaufen. Oberst Roy Vegas hatte sich die beiden jungen Männer nach deren Bad im »Jungbrunnen« auf Sahara von der Infanterie ausgeliehen, da er ihre militärische Zukunft nicht bei der kämpfenden Truppe, son‐ dern in einer umfassenden und fundierten Ausbildung zu Wissen‐ schaftsoffizieren gesehen und einen entsprechenden Antrag beim Flottenoberkommando auf Übernahme gestellt hatte. »Sehr gut«, sagte Vegas. »Doch warum keine Evakuierungsmaß‐ nahmen mit der ANZIO? Wird nicht jedes Schiff gebraucht?« »Hören Sie mir jetzt bitte gut zu, Roy«, erwiderte Bulton, und über seiner Nasenwurzel bildete sich die übliche Falte. »An Schiffsraum mangelt es nicht, denn Eden beziehungsweise Wallis ist bereit, uns mit einem Kontingent von tausend Schiffen zu unterstützen.« Vegas beugte sich vor. »Nein!« sagte er. »Doch.« »Ob er überhaupt so viele hat?« sagte Vegas, und seine Stimme klang eindeutig spöttisch. Bulton sah ihn scharf an. »Immerhin. Wallis hat angeboten, seine Raumschiffswerften auf volle Kapazität zu bringen und Schiffe für die Evakuierung zu bauen.« »Eine Ringraumerwerft haben wir selbst«, meinte Vegas. »Keine Ringraumer. Sein Angebot bezieht sich auf eine Sonderan‐ fertigung von 600 Meter großen Ikosaederraumern aus 20 cm dün‐ nem Carborit mit nur einem W‐Triebwerk und ohne Bewaffnung.«
»Hm.« Vegas wiegte den Kopf. »Ein solches Schiff könnte 100.000 Menschen aufnehmen«, schätzte er überschlägig. »Richtig. Mit tausend dieser Schiffe könnte man die gesamte Erde in 360 Flügen nach Babylon evakuieren.« »Sicher verspricht er sich das Geschäft seines Lebens«, sagte Vegas mit galliger Stimme, »wenn ich mir den Stückpreis seiner Iko‐Schiffe ins Gedächtnis rufe.« Bulton grinste kurz. »Sie werden’s nicht glauben, aber er will es vorerst ohne Bezahlung tun.« »Etwa aus humanistischen Erwägungen?« wunderte sich Roy Ve‐ gas gebührend. »Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Das dicke Ende kommt sicher noch nach. Oder?« »Ganz so uneigennützig, wie es scheint, ist die Hilfe tatsächlich nicht«, gestand Bulton, »aber das zu erläutern, ist jetzt nicht Ge‐ genstand dieser Besprechung. Sollen sich die Finanzgenies der Re‐ gierung darum kümmern, wenn es soweit ist. Fakt ist, daß wir die tausend Evakuierungsschiffe bekommen werden.« »Wann?« unterbrach Vegas seinen Oberbefehlshaber. »Die ersten Einheiten werden im Januar eintreffen. Sobald die auf dem Raumhafen stehen, beginnen wir unverzüglich mit den Eva‐ kuierungsmaßnahmen.« »Sie erwähnten vorhin Babylon«, begann Vegas und wählte seine Worte vorsichtig. »Warum nicht Eden?« »Wir haben Wallis wissen lassen, daß wir gerne einen Teil der Evakuierten nach Eden bringen würden, aber zu unserer Überra‐ schung lehnte er es ab, fast kategorisch, wenn ich es recht bedenke. Hat was mit seiner bevölkerungspolitischen Einstellung zu tun, denke ich. Und ihn zwingen, diese Haltung aufzugeben, können wir nicht, ohne einen Krieg vom Zaun zu brechen. Eine militärische Auseinandersetzung in unserer augenblicklichen Lage mit einem Gegner wie Eden verbietet sich jedoch von selbst. Wir haben schon so genug mit kaum vorstellbaren Schwierigkeiten zu kämpfen«, sagte Ted Bulton.
Er schwieg für einen Moment, um dann fortzufahren: »Das Prob‐ lem sind also nicht so sehr die Schiffe… wir müssen sie auch mit entsprechend qualifizierten Besatzungen ausstatten können. Was wir daher brauchen, und zwar schnell, sind ausgebildete Raumfahrer – und natürlich auch Infanterie für Überwachungs‐ und Ordnungs‐ aufgaben. Und das wird die vordringliche Aufgabe der ANZIO und ihrer Schwesterschiffe sein.« »Ausbildung zum Raumfahrer im Schnelldurchgang?« zweifelte Vegas. »Na, ich weiß nicht…« Bulton wartete einige Sekunden, ehe er antwortete. »Ich appelliere an Ihre Bereitschaft, das Ihre zum Gelingen beizutragen«, ließ er ungewöhnlich ernst verlauten. »Die Erde zu räumen wird mindes‐ tens zwei Jahre dauern und eine noch nie dagewesene Herausfor‐ derung für die Menschheit sein.« »Die sicher auch eine Menge Opfer kostet.« Bulton warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Opfer, die wir nur sehr ungern sehen. Opfer, die niemand will und die jeder von uns verhindert, soweit es in seiner Macht steht.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er ungewöhnlich heftig: »Es ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, daß Sie, wie auch die Kom‐ mandanten der anderen Flottenschulschiffe, so viele Kadetten wie nur möglich ausbilden – rascher als in den Richtlinien vorgesehen, aber dennoch gründlich.« »Wie gewöhnlich«, nickte Vegas. Es gab strenge Richtlinien für die Ausbildung der Kadetten. Sie konnten zwar durchbrochen werden, aber die langen Jahre seit der Gründung der Terranischen Flotte hatten gezeigt, daß ein exakt durchgearbeitetes Programm die beste Gewähr für den Erfolg war. Dennoch lag es im Ermessen eines jeden einzelnen Schiffskomman‐ danten, vorzugehen, wie es ihm richtig erschien. Bulton zeigte ein kleines, verstehendes Lächeln, ging aber nicht weiter auf diesen Faktor der stillschweigenden Übereinkunft zwi‐ schen Schiffsführung und Flottenadmiralität ein. Statt dessen sagte
er: »Ich frage Sie nicht, ob Sie sich das zutrauen, wie Sie wohl schon bemerkt haben dürften. Ich erwarte es einfach von Ihnen, Oberst. Ich setze voraus, daß Sie es zuwege bringen. Kann ich mich darauf ver‐ lassen?« »Danke für das Vertrauen, Sir. Selbstverständlich«, antwortete Roy Vegas. »Aber sprachen Sie nicht von einem weiteren Aspekt dieser Reise?« Bulton nickte bestätigend. »Sie werden«, sagte er, »diesen Ausbildungsflug neben dem übli‐ chen Programm dazu nutzen, eine ausgewählte Liste von erdähnli‐ chen Welten anzufliegen, deren Koordinaten bereits in den Hyper‐ kalkulator Ihres Schiffes überspielt sind.« »Sind denn Babylon und die bereits erschlossenen Kolonialwelten nicht in der Lage, uns aufzunehmen?« Ted Bulton schürzte die Lippen. »Schon. Auf Babylon könnten wir sogar alle Menschen auf einmal unterbringen, Wohnraum wäre ge‐ nügend vorhanden. Doch der Planet hat ein großes Handikap: Es existiert keine landwirtschaftliche Infrastruktur, um die Leute mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Die Ernährung wäre rein synthetisch. Ob wir das der Menschheit zumuten können? Offen‐ gestanden habe ich da meine Zweifel. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als weitere Welten zu besiedeln. Planeten, die Sie aufsuchen und auf ihre Tauglichkeit für eine Kolonisation hin überprüfen sol‐ len. Sie sollen herausfinden, ob auf diesen Welten Menschen leben und Raumhäfen sowie Flottenstützpunkte errichtet werden können. Außerdem«, er hielt einen Moment inne, »erscheint es uns von Vor‐ teil, wenn die Menschheit auf mehrere Orte im All verstreut weiter‐ existiert. So ist sie weniger angreifbar. Daß wir uns nicht ungescho‐ ren im Weltraum ausbreiten können, davon werden wir wohl aus‐ gehen müssen.« Er schwieg erneut, um dann abschließend zu sagen: »Die kommende Zeit wird uns einen gigantischen Aufwand an Kraft, Ideen und Material abverlangen, Oberst. Aber ich bin guter
Hoffnung, daß wir es schaffen werden.« »Zweifellos, Sir!« sagte Roy Vegas und stand auf. »Haben Sie sonst noch Anweisungen für mich?« »Der Start ist für morgen früh acht Uhr angesetzt. Glauben Sie, daß Sie es schaffen werden?« »Selbstverständlich, Sir«, versicherte der Oberst. »Sie können sich darauf verlassen, daß die ANZIO pünktlich auf die Sekunde start‐ bereit ist.«
9. Der Schneefall hatte an Stärke zugenommen, und die Welt draußen verschwand hinter den dichten Vorhängen wirbelnder Flocken. Wer konnte, blieb zu Hause oder erledigte seine Geschäfte über die Un‐ tergrundbahnen, die alle wichtigen Zentren der Stadt miteinander verknüpften. Vom Zentralen Flottenkommando gab es für Militärangehörige einen direkten Zugang zur Station der unterirdischen Magnet‐ schwebebahn, die Alamo Gordo mit dem Raumhafen verband. Über die nach unten führende Rolltreppe betrat Vegas die licht‐ durchflutete zentrale Verteilerstation. Die schlanken Geschosse der Röhrenbahnen schwebten auf ihren Magnetfeldern und vibrierten unter der Kraft ihrer leerlaufenden Aggregate. Alle paar Minuten setzte sich eine von ihnen in Bewe‐ gung und verschwand unter dem Fauchen verdrängter Luft in den Tunnels, die sie zu ihren Zielen brachten, gehalten von Magnetfel‐ dern und vorangetrieben von Druckstrahlen. Andere kamen an und spuckten ihre Passagiere aus. Alamo Gordo wurde meist als die größte Stadt mit dem kleinsten Grundriß apostrophiert, vor allem wohl auch deshalb, weil sie ei‐ gentlich aus zwei Städten bestand, einer oberirdischen und einer darunter, die sich viele hundert Meter in die Tiefe und zu allen Sei‐ ten erstreckte. Das wahre Ausmaß der kleinstadtgroßen Kellerge‐ schosse mit ihren technischen Anlagen, Instituten und Versor‐ gungseinrichtungen war keinem Außenstehenden wirklich bekannt. Vegas orientierte sich an den Leuchtsignalen für die einzelnen Verbindungen. Cent Field: 15 Uhr 15. Er sah auf sein Chrono. Ihm blieben noch zwei Minuten. Er stieg in sein Abteil und setzte sich. Eine kleine Gruppe Rekruten der Raum‐ infanterie drängte kurz vor der Abfahrt herein und erfüllte das Ab‐
teil mit hektischen Lärm; sie trugen vollgepackte Kleidersäcke und unterhielten sich ziemlich lautstark und aufgekratzt. Als sie den Offizier sahen, verstummten sie, machten Ehrenbezeigungen und zogen wesentlich weniger laut ins nächste Abteil; Vegas trug die Einsatzuniform des Kommandanten mit den Insignien eines Ober‐ sten der Terranischen Flotte und dem zusätzlichen Signum des Ausbildungskorps am Kragenspiegel. Ob sie wohl zu den neuen Rekruten von Major McGraves gehörten? Wenn ja, würde er ihnen wohl wieder begegnen. Der Zug setzte sich kaum merklich in Bewegung, beschleunigte dann stärker und fauchte schließlich in den blau beleuchteten Tun‐ nel. Die Stationen flogen vorbei; der Zug hielt ein paarmal, Passagiere stiegen ein und aus, darunter auch die Gruppe der jungen Männer. Offenbar hatten sie ein anderes Ziel. Dann ein Lichtsignal: Cent Field. Vegas verließ den Zug und ließ sich von den Gleitbändern und durch verschiedene Sicherheitsschleusen in die weitgespannte, lichte Halle der Raumkontrolle tragen. Bereits zehn Minuten später brachte ihn ein Gleiter der Fahrbe‐ reitschaft auf das riesige Feld hinaus und durch das Schneetreiben des späten Nachmittags des 25. Dezember zur Parkposition des modernsten Flottenschulschiffes der Terranischen Flotte. Trotz des Wetters herrschte eine Kakophonie aus Licht und Lärm; auf dem Flottenhafen war Tag und Nacht Betrieb. Cent Field schlief nie. Bat‐ terien von Scheinwerfern erleuchteten die frühe Dämmerung und die Reihen der Schiffe, die auf ihren Positionen auf ihren Einsatz warteten. Unübersehbare Scharen autarker Laderoboter und supra‐ sensorisch gesteuerter Lastpaletten glitten auf ihren A‐Gravpolstern zwischen den Schiffen hin und her. Der Gleiter schoß durch den Schnee, der von unaufhörlich arbei‐ tenden Räummaschinen beseitigt wurde; eine nicht endenwollende Sisyphusarbeit.
Sie brauchten nahezu eine Viertelstunde, bis sie vor der offenen Hauptschleuse der ANZIO zum Stehen kamen. Um ihn herum herrschte ein Tohuwabohu an Geschäftigkeit; die letzten Ausrüstungsgegenstände wurden an Bord gebracht. Die Roboter begannen damit, sich aus der näheren Umgebung des Schiffes zurückzuziehen. Vegas stieg aus und ging durch den Schnee schnell auf die ausge‐ fahrene Rampe zu. Während sich hinter ihm der Gleiter sofort wie‐ der auf den Rückweg machte, blickte der Kommandant an der Wandung des riesigen Raumschiffs empor, die sich über ihm hoch‐ wölbte wie eine undurchdringliche metallene Barriere. Aus dem Inneren des Rottenschulschiffes kam ein unterschwelliges Summen, gerade so an der Schwelle des Hörbaren; die unzähligen Aggregate der Schiffskontrollen waren Indiz dafür, daß sich das Schiff auf die neue Reise vorbereitete. Man erwartete ihn bereits; er hatte seine Ankunft von der Raum‐ kontrolle aus vorab signalisiert. Als er durch die Schleuse ging, salutierte der Offizier und nickte dem neben ihm stehenden Obermaat zu. Der setzte die Pfeife an die Lippen und blies, neben dem Mikrophon der Bordanlage stehend, das Signal: Kommandant an Bord. Vegas grüßte zurück. »Status, Nummer Eins?« Hauptmann Olin Monro, knapp über Einssiebzig groß, 80 Kilo schwer, 38 Jahre alt und schwarzhaarig, war Vegas’ Erster Offizier und Stellvertreter an Bord der ANZIO. Seine grauen Augen unter den buschigen Brauen blickten aufmerksam. »Die Mannschaft ist vollzählig an Bord, Sir!« »Auch die beiden neuen Mitglieder?« »Jawohl, Kapitän!« »Ausgezeichnet. Gehen wir.« Zwei Minuten später betrat Roy Vegas die Hauptzentrale der ANZIO. Olin Monro hob die Stimme und sagte für alle vernehmlich: »Achtung! Kommandant auf der Brücke!«
Für einen Augenblick schien die Stille mit Händen greifbar zu sein, so empfand es Roy Vegas wenigstens, dann verflog dieser Eindruck. Es war ungewohnt wenig Betrieb in der Steuerzentrale, die über zwei der insgesamt zehn Decks ging; genau erstreckte sie sich über Deck vier und fünf. Außer den Führungsoffizieren war niemand sonst anwesend; die Decksoffiziere, Ingenieure und Feuerleitoffi‐ ziere, die Wachoffiziere, Stabsbootsleute und Instruktoren, all jene wichtigen Männer eben, die für den reibungslosen Ablauf eines funktionierenden Schulungsbetriebes unerläßlich waren, hielten sich im Schiff auf den entsprechenden Stationen auf. »Willkommen an Bord, Kommandant.« Jay Godel salutierte und grinste. Godel, schwarzhaarig und braungebrannt, zeigte seine strahlend weißen Zähne. Der Zweite Offizier und Navigator der ANZIO schien sich ehrlich zu freuen, seinen Kapitän wiederzusehen. »Danke, Nummer Zwei«, erwiderte Vegas. »Schön, Sie wiederzusehen, Sir«, erklang die tiefe Stimme Haupt‐ mann Kerim Bekians, und das Gesicht des Dritten Offiziers zeigte diesmal nichts vom ansonsten allgegenwärtigen Pessimismus des Ortungsspezialisten. Auch Ron Nozomi, Astrogator und Nummer Vier an Bord, zeigte sein sympathisches Lächeln. Während des Landurlaubs mußte er einen Coiffeur aufgesucht haben; die schon immer recht kammspa‐ rende Igelfrisur des 181 Zentimeter großen Modellathleten war noch einen Spur kürzer als sonst. Vegas’ Blick fiel auf Dave Gjelstad. »Alles in Ordnung mit den Maschinen, Chief?« »Keine Beanstandungen, Kommandant«, erwiderte der drahtige, zäh wirkende Chefingenieur. »Mein Team und ich haben während der Liegezeit den Antrieb intensiv überprüft und getestet.« »Danke, meine Herren«, sagte Vegas mechanisch. Seine Blicke glitten über die im Ruhemodus flimmernden Konsolen der Steuer‐ zentrale, ein Kaleidoskop von Lichtern, Datensichtgeräten und Ne‐
benschirmen. Die zentrale Bildkugel, die beim Start des Ringraumers automa‐ tisch über der Hauptkonsole erschien, war noch inaktiv. An ihrer Stelle waren die fünf großen Holoschirme in Betrieb, die Ausblicke nach draußen vermittelten; es schneite noch immer, die Welt versank im weißen Chaos und kündigte von der beginnenden Eiszeit. »Meine Herren, Sie sorgen mir dafür, daß wir morgen früh pünk‐ tlich starten können, es eilt bemerkenswert. Wann erwarten wir die Kadetten?« »Sie werden spätestens bis Mitternacht an Bord sein, Kapitän«, sagte Olin Monro. »Auch die Rekruten der Rauminfanterie.« »Wer überwacht das?« »Mister Nozomi. Er wird die Jungfüchse in Empfang nehmen.« »Na, dann viel Erfolg«, wandte sich Roy Vegas an seine Nummer Vier. »Ich erwarte Ihren Bericht morgen früh, Mister Nozomi.« Er stand auf. »Ich bin in meiner Kabine, falls etwas sein sollte.« Er sagte das in einem Ton, der klarmachte, daß er wirklich nur im äußersten Notfall gestört zu werden wünschte. Von seiner Kabine aus wählte er eine bestimmte Nummer in Ala‐ mo Gordo. Da er sich an Bord eines militärischen Raumschiffes be‐ fand, konnte er nicht direkt durchwählen, sondern mußte darauf warten, bis ihn die Funkzentrale durchschaltete. Geduldig wartete er. Dann stand das Bild. »Wer ist…?« Jenna Ferrari hielt inne, als sie erkannte, wer am an‐ deren Ende war. Sie lächelte, wie es schien ein wenig traurig. »Hallo, Raumfahrer«, sagte sie mit ihrer vibrierenden Altstimme. »Wird wohl nun doch nichts mit unserem Abendessen im Los Morenos, wie?« Sie zeigte sich tapfer und hatte sich unter Kontrolle. »Hallo, Jenna. Tut mir leid. Nein, daraus wird nichts mehr.« »Du gehst auf eine Mission?« »Ja«, bestätigte er. »Morgen früh. Ich wollte dir nur auf Wiederse‐ hen sagen…« »Du meinst sicher Lebewohl.«
»Unsinn!« widersprach er heftig. »Wir werden uns auf alle Fälle wiedersehen.« Sie lächelte unbestimmt. »Das ist lieb von dir. Weißt du, ich fürchte mich ein wenig vor der anstehenden Evakuierung, sie wird mein bisheriges Leben mit einem Paukenschlag beenden. Gott weiß, wo‐ hin es mich verschlägt – wenn ich es überhaupt schaffe, rechtzeitig auf ein Schiff zu kommen.« »Das wirst du«, sagte er zuversichtlich und dachte an die Zusi‐ cherung Bultons, die er dem Marschall abgerungen hatte, ehe er sich auf den Weg zur ANZIO gemacht hatte. »Vertraue mir. Ich habe alles arrangiert, du wirst rechtzeitig genug evakuiert werden.« Sie freute sich und zeigte es auch. »Roy«, fragte sie, »wie hast du das geschafft?« Er zuckte mit den Schultern und machte eine unbestimmte Geste. »Das ist ganz einfach«, antwortete er mit einem vielsagenden Grin‐ sen. »Beziehungen, weiter nichts.« »Ich stehe in deiner Schuld«, sagte sie. »Unsinn!« widersprach er. Dann war der Gesprächsfaden plötzlich wie abgeschnitten. Sie sahen sich an. Jeder suchte nach Worten. Schließlich sagte sie ungewohnt heftig: »Ich würde am liebsten heulen, weißt du!« Sie schniefte. »Verdammt, ich habe noch nie wegen eines Mannes ge‐ weint, und dafür hasse ich dich, Roy Vegas.« Sie beugte sich vor, drückte die Abbruchtaste und verschwand von Vegas’ Bildschirm. Er hoffte nicht auch aus seinem Leben. * Die 200 Kadetten saßen in der Hauptmesse in 20 Reihen zu je zehn Stühlen und harrten der Dinge, die auf sie zukommen würden. Man hatte die Tische entfernt und die Bestuhlung dem Anlaß angepaßt. Vegas, der die Versammlung vom Nebenraum über einen Bild‐
schirm beobachtete, stellte den Becher mit Kaffee ab und wandte sich an Ron Nozomi. »Sie machen einen guten Eindruck. Wie weit sind sie vorbelastet?« »Sie haben die übliche Grundausbildung«, erwiderte Nozomi und knöpfte seine Uniform zu; Vegas’ Nummer Vier wirkte ein wenig unausgeschlafen. »Außerdem haben die meisten sich während eini‐ ger Schulungseinsätze im Asteroidengürtel bewährt. Viele besitzen also schon Raumerfahrung – in gewisser Weise«, schränkte er ein, als Vegas die Brauen hob. »Brauchen Sie mich noch, Sir?« »Nein. Ihre Schicht ist zu Ende. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« »Danke, Kapitän«, sagte Nozomi. Er nahm Haltung an und un‐ terdrückte gleichzeitig ein Gähnen. Vegas winkte ab. »Gehen Sie schon, Ron.« Der Kommandant zog seine Uniform straff. »Also«, sagte er ent‐ schlossen und sah Olin Monro an, »gehen wir hinein. Sie stellen mich vor, Nummer Eins, und ich halte den üblichen Vortrag. Danach starten wir.« »War der Start nicht für acht Uhr vorgesehen?« Olin Monro war erstaunt. »Ja, schon. Doch je schneller wir unsere Mission beginnen, desto besser. Wir haben nur hundertfünfzig Tage Zeit, aus diesen jungen Männern verantwortungsvolle Raumfahrer zu machen. Die Erde braucht jetzt jeden Mann, der sich mit einem Schiff auskennt.« »Jawohl«, stimmte Monro zu, öffnete die Tür und trat in die Messe, gefolgt von Roy Vegas. Es war sechs Uhr früh. Datum: 26. Dezember 2062. Draußen, außerhalb der Hülle des Ovoid‐Ringraumers, herrschte noch Dunkelheit. Die Kadetten wandten die Köpfe. Einer der anwesenden Oberbootsmänner tönte mit markiger Stimme: »Achtung! Offiziere anwesend!« Die Köpfe ruckten zurück.
»Meine Herren«, sagte Olin Monro und trat vor die Versammlung. »Kommandant Roy Vegas.« Er machte zwei Schritte zur Seite und überließ seinem Kapitän das Feld. »Als erstes«, sagte Vegas, »gehe ich davon aus, daß jeder von Ihnen über die prekäre Lage der Erde informiert ist. Wir stehen vor der gewaltigen Herausforderung, unser Überleben zu sichern, indem wir die in naher Zukunft unbewohnbar werdende Erde verlassen und uns im All neue Heimstätten suchen. Für den Exodus stehen Babylon und Blue Star ganz oben auf der Prioritätenliste. Doch Regierung und Sternenflotte sind sich einig, daß es gilt, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Erdähnliche Plane‐ ten sollen und müssen gefunden werden, die einen relativ problem‐ losen Aufenthalt für die Menschheit gewährleisten. An Schiffsraum für die Evakuierung wird es nicht fehlen, aber an Besatzungen für diese Schiffe. Der primäre Aspekt dieser Schulungsmission ist es, Sie auf diese zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Gleichzeitig aber haben wir die Verpflichtung, nach bewohnbaren Planeten Ausschau zu halten. Aus diesem Grund führt uns unser Auftrag in Systeme, von denen bislang nur die Koordinaten bekannt sind, sonst nichts weiter. Die Kartographen der TF selbst landeten niemals dort. Wir werden diese Welten dahingehend überprüfen, ob sie zur Kolonisation taugen.« Er schwieg einen Moment, und seine Blicke schweiften über die Ka‐ detten, die an seinen Lippen hingen. »Wir werden uns«, fuhr er dann fort, »weniger mit Problemen herumschlagen, sondern uns um die Lösung derselben kümmern. Man erwartet von uns, daß wir mit verwertbaren Ergebnissen zurückkommen. Ihr alle habt die Grundausbildung hinter euch, betrachtet sie als die minimalste Basis an Wissen, über die ihr verfügt. Denn falls ihr glaubt, darauf bauen zu können, habt ihr euch geirrt. Von nun an wird es ernst. Eure Ausbilder werden euch in Gruppen einteilen, die in einem rotieren‐ den Verfahren jede Station auf diesem Schiff durchlaufen. Wir haben wenig Zeit, jeder weiß warum. Also werden wir das Unmögliche von
euch verlangen, und ich erwarte, daß ihr dieses Unmögliche möglich macht. Meine Offiziere und ich sind dafür bekannt, daß wir kaum etwas zweimal sagen. Also merkt euch jedes Wort. Was wir vorhaben, ist kein Spazierflug und schon gar nicht ein Sonntagsnachmittagskaf‐ feekränzchen. Es ist die Gefahr schlechthin, sie wird allgegenwärtig sein, haltet euch das immer vor Augen. Ich hoffe nicht, daß einer von euch darin umkommt. Meine Besatzung und ich werden notfalls unser Leben einsetzen, um das zu verhindern. Sollte jemand eine Frage haben, die ihm sein Ausbilder nicht be‐ antworten kann, kann er sich jederzeit an einen Führungsoffizier wenden – oder an mich. Ich bin zwar kaum klüger«, kokettierte er mit einem schwachen Grinsen, das sich allerdings nur auf seinen Mund beschränkte, »aber ich bin älter und habe deshalb auch mehr Erfahrung. Hat jemand Fragen?« Keine Hand hob sich, keine Stimme wurde laut. Manche der Ka‐ detten waren etwas bleich geworden, aber das konnte auch am Licht liegen. »Wie ist Ihr Eindruck?« erkundigte sich Vegas, als er mit dem Ers‐ ten Offizier den Weg zur Steuerzentrale einschlug. »Wir müssen abwarten«, meinte Olin Monro. »Der erste Eindruck ist vielversprechend. Aber manches ändert sich im Lauf der Aus‐ bildung, wie wir wissen.« Vegas nickte schweigend. Dann sagte er: »Ich gehe mal davon aus, daß die Rekruten ebenfalls an Bord sind, oder?« »Natürlich, Sir. Sie kamen unmittelbar nach den Kadetten auf das Schiff. Ich hatte mit Major McGraves bereits Kontakt. Im Augenblick sind er und sein Stellvertreter Hauptmann Giordino mit der Ein‐ weisung der 250 Männer beschäftigt.« »Fehlt jemand?« »Nein, Sir. Alle sind an Bord.« »Ausgezeichnet«, meinte Vegas. Als sie in die Zentrale traten, erhob sich Jay Godel vom Sessel des
Kommandanten und nahm auf seinem eigenen Platz; der Navigator hatte den Kapitän vertreten. »Bericht, Mister Godel!« »Keine Vorkommnisse, Kapitän.« »Ausgezeichnet. Klar Schiff?« »Jawohl, Sir«, erwiderte die Nummer Zwei. »Gut. Können wir starten?« »Jederzeit.« Vegas nickte anerkennend und warf einen Blick auf das Bordchrono: es war kurz vor sieben Uhr. »Also – starten Sie, Mister Godel!« »Sir?« Godel blickte überrascht. Vegas lächelte flüchtig. Er lehnte sich in dem Gliedersessel zurück und stemmte einen Fuß auf die Raste; seine bevorzugte Haltung, sie signalisierte Entspannung und gab etwas von dem Vertrauen wider, das er in das Können seiner Offiziere setzte. Er sah in die Runde. »Gibt es einen Grund, weshalb wir noch län‐ ger warten sollten?« »Nein, Sir!« antwortete Olin Monro für die anderen. Vegas lächelte stärker. »Nummer Zwei, worauf warten Sie noch?« »Aye, Kapitän.« Der Navigator holte sich die Startfreigabe vom Turm der Rotten‐ kontrolle Cent Field. Fast unmittelbar danach hob die ANZIO vom Raumhafen ab und entschwand in den tiefhängenden Wolken. Sie hatten kaum den Boden verlassen, als anstelle der fünf Zent‐ ralbildschirme automatisch die große Bildkugel sowohl über der Hauptkonsole als auch etwas kleinere Ausgaben derselben in den wichtigen Nebenzentralen wie Triebwerksraum und Waffensteue‐ rungen erschienen. In den anderen Räumen des Schiffes entstanden weitere holographische Bildsphären, wenn auch mit wesentlich ge‐ ringerem Durchmesser. A‐Grav brachte das Ovoid‐Ringschiff durch die Lufthülle der Erde.
In einer Höhe von knapp fünfzig Kilometern befand sich das Flot‐ tenschulschiff über der Atmosphäre und im luftleeren Raum. Der die Erde umspannende Schutzschirm gab eine Öffnung für das Schiff frei. Jay Godel betätigte eine Reihe von Schaltungen. Das Intervallfeld legte sich um den Ringraumer; die Flächenpro‐ jektoren erzeugten den nötigen Schub für den Sternensogantrieb. In den Hecksegmenten der Bildkugeln schrumpften rasend schnell erst die Erde, dann der Mond zusammen, als die ANZIO mit zigfa‐ cher Überlichtgeschwindigkeit und ohne das Normalkontinuum zu verlassen in den tiefen Raum vorstieß. Wenig später war die irdische Sonne nur ein winziger Punkt unter unzähligen anderen auf dem schwarzen Hintergrund des Weltalls. »Welchen Kurs, Kommandant?« fragte Godel. Vegas nannte ihm die Koordinaten. Godels Brauen zuckten leicht, als er sie hörte; als Navigator konnte er die Angaben im Kopf interpretieren, ohne den Hyperkalkulator zu Rate ziehen zu müssen. »Sir?« fragte er dennoch vorsichtshalber nach. Vegas grinste versteckt. »Sie haben schon richtig gehört, Nummer Zwei«, bestätigte er Godels leise Zweifel. Vegas’ Angaben bezogen sich auf Raumkoordinaten, die einen Punkt an der Sternenarmen »Oberseite« der Milchstraße betrafen, fast schon im leeren Raum zwischen den Galaxien. »Das ist fast auf der anderen Seite der Milchstraße«, wagte die Nummer Zwei einen erneuten Einwurf. »Das haben Sie richtig erkannt. Mister Godel«, erwiderte Vegas leicht ungeduldig. »Und was gibt es da, Kapitän?« erkundigte sich Olin Monro und glättete mit seiner Frage die leichte Verstimmung, während der Na‐ vigator das Schiff auf Kurs brachte. »Wir haben von der Flottenleitung einen Raumabschnitt von 5000
Lichtjahren vor Babylon zugewiesen bekommen«, klärte der Kom‐ mandant seine Offiziere über das Mandat der ANZIO auf, »den wir während unserer Ausbildungsmission zu erkunden haben. Von der anzufliegenden Position werden wir uns nach ›unten‹ vorarbeiten. Das ist alles, meine Herren.« Vegas schaltete die Rundruf anläge ein. »An alle Stationen. Status?« »Systeme sind aktiviert und empfangsbereit«, meldete sich die Funk‐Z. »Alles im grünen Bereich, Kapitän«, kam die ruhige Stimme des Chefingenieurs aus dem Triebwerksraum. Flog ein Ovoid‐Ringschiff nur mit sechs Mann, hatte der Chief seinen Platz üblicherweise in der Zentrale vor einem eigenen Pult. Jetzt hielt er sich jedoch in seinem eigentlichen Reich auf. Die Klarmeldungen der Stationen kamen im schnellen Turnus he‐ rein. Zusätzlich wurden alle relevanten Daten aus den sensiblen Berei‐ chen des Schiffes vom Hyperkalkulator in die Holokugel eingespie‐ gelt, die direkt über der Kommandokonsole schwebte. Roy Vegas nickte zufrieden. Sein Schiff funktionierte mit der Perfektion, wie er sie erwartete. Der Kursvektor führte nach oben aus der Milchstraßenebene hinaus und in einer weiten Parabel auf die andere Seite. Die voraussichtliche Flugdauer bis zu den vorgegebenen Koordi‐ naten berechnete Jay Godel mit zwei Standardtagen. »Überbrücken wir die Entfernung doch durch Transitieren, Kapi‐ tän«, schlug der Erste Offizier vor. Vegas lehnte ab. Der Sprung durch den Hyperraum in Nullzeit schien zwar sehr verlockend, doch je nach Technik kam es dabei zu anmeßbaren Strukturerschütterungen im Raum‐Zeitgefüge, so daß zum einen das Auftauchen transitierender Schiffe unmittelbar vor ihrem Erschei‐ nen, zum anderen der Zielpunkt einer Transition angemessen wer‐
den konnte. Außerdem waren generell Transitionen im Vergleich zum Sternensogflug wesentlich energieaufwendiger. Bei großen Entfernungen war der Sternensogantrieb der Sprungtechnik sogar überlegen, da ein Schiff mit Sternensog um so stärker beschleunigte und folgerichtig schneller wurde, je länger der Flug dauerte. Aber das waren für Vegas nicht die ausschlaggebenden Argu‐ mente für seine Ablehnung des »Springens«. »Wir werden«, erklärte er seinen Männern, »während dieser zwei Tage die Ausbildungspläne für die Kadetten auf Vordermann brin‐ gen und ihnen die entsprechenden Instruktoren und Positionen in‐ nerhalb des Schiffes zuweisen. So wird es keine Verzögerungen ge‐ ben, wenn wir unsere Suche beginnen. Außerdem«, und jetzt lächelte er unvermittelt, »ist es schön, zur Abwechslung mal wieder unsere Milchstraße von einer etwas höheren Warte zu sehen!« Er schwieg einen Moment. Dann fragte er: »Was macht Major McGraves?« »Er befindet sich auf Deck Eins bei seinen Männern«, erklärte Olin Monro, der als Erster Offizier über jede Information verfügte, die das Schiff und dessen Besatzung betraf. »Er läßt ausrichten, daß er seinen Antrittsbesuch innerhalb der nächsten Stunde macht.« »Antrittsbesuch… hm. Hat er das wörtlich gesagt?« »Wortwörtlich, Kapitän.« »Na gut«, sagte Vegas mechanisch und erhob sich aus seinem Sitz. »Sie haben das Schiff, Nummer Eins. Ich bin in meinem Raum, falls etwas sein sollte.« »Aye, Kapitän.« * Am Ende des zweiten Tages ihrer Reise hatte die ANZIO die Koordinaten am äußeren Rand der Milchstraße erreicht und begann mit ihrer Suche nach kolonisierbaren Welten. »Was macht der Kurs, Mister Godel?« wandte sich Roy Vegas an seinen Zweiten Offizier.
»Keinerlei Abweichungen, Sir.« Vegas nickte. Bis hierher war die Reise ohne Störungen verlaufen; fast konnte man von Routine sprechen, auch wenn sie das Flotten‐ schulschiff in bislang unbekannte Regionen des Weltalls geführt hatte. »Irgendwelche Ortungen, Mister Bekian?« fragte er in die verhal‐ tene Unruhe der Steuerzentrale. Die Zentrale war bereits mehr als üblich besetzt: der Schulungsbe‐ trieb hatte begonnen. Die Bestuhlung an jedem Pult, an jeder Kon‐ sole war verdoppelt oder mitunter auch verdreifacht worden. Ka‐ detten belegten diese Plätze mit Beschlag, um von den Instruktoren und den erfahrenen Offizieren das Einmaleins der Raumfahrt zu lernen. In den übrigen Abteilungen und Stationen des gesamten Schiffes sah es nicht viel anders aus. »Negativ, Kommandant«, antwortete der Funk‐ und Ortungsoffi‐ zier. »Wir sind allein auf weiter Flur.« »Funksignale?« »Nichts, Sir«, erwiderte Leutnant Derek Barelli von seiner Konsole und schien zu grinsen. Der Eindruck täuschte. Der schmallippige Mund des jungen Mannes trug immer diesen Zug, genau wie sein widerspenstiges schwarzes Haar ständig den Eindruck machte, als wäre noch nie ein Kamm oder eine Bürste hindurchgefahren. Vegas schwieg für einen Moment, dann sagte er: »Mister Dem‐ baux!« »Kommandant?« meldete sich Kano Dembaux, der Funkobermaat und Tasterspezialist von seinem Pult neben dem des Dritten Offi‐ ziers. »Sind die Funksprüche zum Flottenhauptquartier unterwegs?« »Komprimiert und kodiert, wie von Ihnen befohlen, Sir«, bestätigte Dembaux. »Gut«, brachte der Oberst seine Genugtuung über die erfolgte Ak‐ tion zum Ausdruck. Cent Field und Marschall Bulton würden jetzt Bescheid darüber wissen, daß die ANZIO ihre Mission angetreten
hatte. Er lehnte sich etwas entspannter im Kommandantensessel zurück. In der Hauptbildkugel und auf den Nebenschirmen funkelten die Sterne auf dem schwarzen Samt des Raumes. Das Schiff drang tiefer und tiefer in den Raumbezirk ein, den es laut Order zu erforschen hatte. Und niemand der fünfhundert Mann starken Besatzung ahnte, was sie erwartete. * Drei Tage waren vergangen, dreimal vierundzwanzig Stunden Schiffszeit. Der vierte Tag war zur Hälfte vorbei. Die Langreichweitentaster der Ortung suchten beständig das Weltall in jede Richtung hin nach Echos ab. Ohne Ergebnis bislang. Bildkugeln und Schirme übertrugen nur die üblichen Werte. Der Hyperkalkulator hielt die ANZIO exakt auf dem berechneten Kurs. Gemessen an den Dimensionen des umgebenden Mediums schien sich der Ovoid‐Ringraumer scheinbar ohne Fahrt durch den Weltraum zu bewegen. Doch dieser Eindruck täuschte, denn in Wirklichkeit flog das tech‐ nische Wunderwerk der neuen Rom‐Klasse mit der vielfachen Ge‐ schwindigkeit des Lichtes entlang eines programmierten Kurses durch die Tiefen des Alls. Von der zentralen Hauptsphäre über der Kommandantenkonsole strahlten als tiefenräumliche Projektion die Sterne dieses Sektors. Tausende von Sonnen füllten den Raum um das Schiff. Ihre Kons‐ tellationen bildeten in Fahrtrichtung eine langgestreckte Spirale, deren Ausläufer schließlich mit der Unendlichkeit des schwarzen Hintergrundes verschmolzen. Backbord voraus löste sich ein bislang offener Sternhaufen in un‐ zählige Einzelsonnen auf. Überwiegend Hauptreihensterne des Spektraltyps F 5, die Größenklassen betrugen +4 absoluter visueller
Helligkeit, was bedeutete, daß die Oberflächentemperaturen über 6000 Grad liegen mußten – die Sonnen strahlten grell und schmer‐ zend weiß. Vegas bewegte den Kontursessel im Drehlager und stand auf. Seine Bewegungen kündeten von der Gelassenheit eines Mannes, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Oder wenigstens fast nichts. Er ging nach hinten, wo unter der umlaufenden Galerie, die die über zwei Decks reichende Steuerzentrale optisch in zwei Hälften trennte, der Getränkeautomat stand. Auf seinen verbalen Wunsch hin be‐ diente ihn die Maschine mit einem Becher heißen Kaffee. Er genoß das Gebräu in kleinen Schlucken, warf dann den Becher in den Ab‐ fallkonverter und kehrte zu seinem Platz zurück. Wieder konzent‐ rierte er sich auf die Statusanzeigen der Taster, die er von der Ortung auf seinen Konsolenschirm geliefert bekam. Alles, was er erkennen konnte, waren schwache Radiallinien sehr, sehr weit entfernter weißer Zwerge. Nichts in unmittelbarer Nähe, was zu gesteigerter Aufmerksamkeit Anlaß gegeben hätte. Einer der Massetaster erwachte zum Leben. Audiophasen wisper‐ ten schwach. Auf korrespondierenden Schirmen erschienen in ra‐ scher Folge Datenzeilen, flimmerten Zahlenkolonnen. Ein pulsie‐ render Cursor begann Diagramme zu generieren. Vegas’ alarmierter Blick flog zur Ortung. Kerim Bekian schüttelte den Kopf. »Es handelt sich nur um eine Sonne ohne Planeten«, klärte er sei‐ nen Kapitän auf. Ihre visuelle Projektion erschien in der Bildkugel, wuchs scheinbar dem Schiff entgegen, schien es verschlingen zu wollen – und ver‐ schwand auch schon wieder. Plötzlich geschah doch etwas. Erneut ertönte das Signal der Tiefraumortung durch die Steuer‐ zentrale der ANZIO, ausgelöst von einem Etwas weit voraus. Ver‐ haltene Erregung machte sich breit. Diese Signale waren zwar in‐
zwischen fast schon zur Routine geworden, doch diesmal schien es anders, denn die Ortung lokalisierte ein stark strahlendes Objekt von beachtlicher Größe, das eine unbekannte Energie emittierte. »Was haben wir da, Nummer Drei?« »Schwer zu sagen, Kapitän«, erklärte der Funk‐ und Ortungsspe‐ zialist. »Ein Planetensystem ist es auf keinen Fall, dafür ist es zu klein. Außerdem befindet es sich in einem Sternenarmen Bereich. Ich tippe eher auf einen sehr eng begrenzten Nebel mit hoher Energie‐ dichte im… Sekunde«, Bekian konsultierte noch einmal seine Kont‐ rollen, »im Infrarotbereich.« »Infrarot?« dehnte der Kommandant. »Hitze«, sagte Lee Kana, der im Augenblick Dienst in der Zentrale tat und seinen Platz an der radiometrischen Konsole hatte, etwas eifrig und ungefragt. Dann bemerkte er seinen Ausrutscher. »Ver‐ zeihung, Sir«, sagte er reuig, wirkte allerdings wenig zerknirscht; sein Selbstbewußtsein war seit seinem »Bad« im unterirdischen Jungbrunnen auf Sahara * nur sehr schwer zu erschüttern. Vegas räusperte sich, sah jedoch davon ab, eine Zurechtweisung auszusprechen, und wandte sich statt dessen Bekian zu. »Hat unser neues Besatzungsmitglied recht?« Kerim Bekian bestätigte Kanas Feststellung. »Und Ihre eigene Vermutung, Nummer Drei?« Der Offizier hob in einer unschlüssigen Geste die Schultern. »Vielleicht eine räumlich begrenzte Wasserstoffgasblase, Sir, in der thermische Reaktionen ablaufen. Vielleicht auch etwas anderes. Exakt läßt sich das aus dieser Entfernung nicht bestimmen. Das Phänomen ist noch viele Lichttage von unserer jetzigen Position entfernt.« »Na gut«, entschied Vegas. »Sehen wir uns Ihr Phänomen mal aus der Nähe an.« Er wandte sich an seine Nummer Zwei. »Mister Go‐ del, rechnen Sie einen Kurs aus und bringen Sie das Schiff in die *
Siehe Bitwar‐Zyklus Band 1: »Großangriff auf Grah«
Nähe dieser Infrarotquelle.« »Aye, Sir!« * Sternensog brachte die ANZIO mit vielfacher Lichtgeschwindig‐ keit in die Nähe des ungewöhnlichen Phänomens. Beim Anflug lieferten die Taster weiter Erstaunliches. »Da geht etwas Merkwürdiges vor«, meinte Bekian zögernd in Richtung des Kommandanten. »Ich höre.« Kerim Bekian konsultierte noch einmal seine Kontrollen, dann blickte er den Kapitän an. »Die Temperatur dieses… dieser Gasblase – oder was auch immer das ist – verändert sich«, antwortete er zö‐ gernd, und in seinen Augen lag ein undefinierbarer Ausdruck. Keine Furcht, nein, aber zögernde, langsam keimende Erkenntnis, auf et‐ was Ungewöhnliches und Unerklärliches gestoßen zu sein. »Wir konnten einen fortlaufenden Anstieg der Infrarotstrahlung feststel‐ len.« »Das bedeutet?« »Der thermische Prozeß ist nach wie vor im Gang.« »Die Erklärung?« fragte der Kommandant. »Da muß ich passen, Sir. Solange wir nicht die Natur dieses Objekts herausgefunden haben, ist alles nur Spekulation.« »Spekulieren Sie doch mal!« Bekian schüttelte den Kopf. »Ich werde mich hüten«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Will jemand anderer es versuchen?« fragte der Kommandant in die Runde. Hauptmann Nozomi zeigte Wagemut. »Wir werden nichts weiter finden, als die Überreste einer Sonne, die zur Nova wurde«, pro‐ phezeite er. »Unser Objekt ist nichts anderes als Wolken aus heißem Gas, freie Materie, die vermutlich noch lange nicht abgekühlt ist.«
Oberleutnant Darren Skerl, Kommandant des Flashgeschwaders, schloß sich Ron Nozomis Meinung an und verstieg sich zu der Fest‐ stellung: »Ein stellarer Trümmerhaufen, weiter nichts.« Mehr meldeten sich nicht. »Na gut«, meinte Vegas mit einem leichten Lächeln. »Warten wir auf die wahren Erkenntnisse, die uns zuteil werden, sobald wir nahe genug herangekommen sind.« Er wandte sich an seinen Zweiten Offizier auf dem Platz des Pilo‐ ten. »Wie lange noch, Mister Godel?« Vegas’ Nummer Zwei konsultierte seine Anzeigen. »Wenn wir unsere augenblickliche Geschwindigkeit beibehalten, müßten wir das Objekt in einer Stunde erreicht haben, Sir.«
10. Godels Vorhersage war die einzige, die wirklich zutraf. Nach sechzig Minuten rief Kerim Bekian von der Ortung: »Kom‐ mandant! Wir haben die Anomalie erreicht… sehen Sie, Sir!« Vegas fixierte mit zusammengekniffenen Augen die Holosphäre, die den Weltraum zeigte, in dem ein verschwommener Nebel vor der ANZIO zu schweben schien. Ohne konkrete Anhaltspunkte konnte man nichts über seine Ausdehnung oder über seine Entfer‐ nung vom Schiff aussagen. »Läßt sich eine räumliche Darstellung davon generieren?« fragte er scharf. »Kommt sofort, Sir!« Unter den Schaltungen der Ortung segmentierte sich die hologra‐ phische Bildkugel um und konzentrierte ihren Fokus auf das von den Tastern entdeckte Phänomen. Aufgrund der zu Beginn noch sporadisch eingehenden Daten konnte der Hyperkalkulator das, was von den Tastern eingefangen worden war, zunächst nur als ein grob strukturiertes Hologramm in der gekrümmten Fläche der Bildkugel aufbauen. Doch binnen Se‐ kundenbruchteilen änderte sich die visuelle Darstellung analog der ankommenden Informationen zu einem vollständigen, scharf ge‐ zeichneten Bild. Jemand in der Steuerzentrale stieß zischend die Luft aus. »Was haben wir denn da…?« sagte Vegas scharf akzentuiert, während seine Augen nicht von dem Bild wichen, das alle im Schiff sahen, die sich in der Nähe eines Bildgebers aufhielten. Ron Nozomi gab ein Geräusch von sich, das man nur als über‐ raschtes Grunzen identifizieren konnte, sagte aber sonst nichts. Vor dem Schiff stand eine diffus leuchtende Gaswolke, deren Ausdehnung weit geringer war, als man aufgrund ihrer starken Strahlung vermutet hatte, und die sich jetzt etwas deutlicher von der
Schwärze des umgebenden Raumes abhob. »Kein natürliches Phänomen«, stellte Olin Monro fest. »Natürlich nicht«, gab Godel mit verhaltener Beunruhigung zu verstehen. Vegas lehnte sich in seinem Kommandantensessel zurück, blickte angespannt auf die Bildkugel. »Mister Godel«, sagte er, »halten Sie gehörigen Abstand von dieser Gaswolke!« »Jawohl, Sir!« Ortungsoffizier Bekian meldete sich von seiner Konsole aus. »Kommandant, die Gaswolke hat eine Ausdehnung von etwa einer Lichtminute«, gab er bekannt. »Die Temperatur liegt inzwischen bei rund 12.000 Grad Celsius, weist allerdings bereits eine fallende Tendenz auf. Die thermische Reaktion scheint ihren Höhepunkt erreicht zu haben, sie kühlt sich schon wieder ab.« »Was ist sie?« hakte Vegas etwas ungeduldiger nach, als er es ei‐ gentlich beabsichtigt hatte. »Reste einer Nova?« »Nein, Sir. Von einer Sonne oder von Planeten sind keine Rück‐ stände vorhanden.« »Vielleicht wurden sie bei der Explosion vollständig atomisiert?« »Tut mir leid, Sir«, bedauerte Bekian, »daß ich Ihnen keine bessere Erklärung liefern kann.« »Und was ist dann für die Aufheizung der Gaswolke verantwort‐ lich gewesen?« »Das entzieht sich noch unserer Erkenntnis«, erwiderte Vegas’ Nummer Drei, und seine Miene wurde noch pessimistischer, als sie ohnehin schon war. »Das heißt, um nähere Erkenntnisse und genauere Meßergebnisse zu erzielen, werden wir nicht umhin kommen, in die Wolke einzuf‐ liegen. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« Kerim Bekian wurde einer Antwort enthoben, als sich Kano Dem‐ baux zu Wort meldete. »Kommandant! Sir! Wir haben in der Gaswolke etwas geortet!« Vegas merkte, wie sich sein Puls um einige Takte beschleunigte.
»Ich höre, Mister Dembaux!« »Es befinden sich mehrere Fragmente fester Materie in ihrem In‐ nern«, antwortete der Tasterspezialist aus dem Ortungsteam. Vegas fuhr sich mit einer beiläufigen Geste übers Kinn, während Kerim Bekian am Orterleitstand hektische Aktivitäten entfaltete. »Worum handelt es sich? Um Überreste von Planeten vielleicht?« »Negativ, Kommandant.« Spannung knisterte im Schiff, sprang von einer Person auf die an‐ dere über und entlud sich in halblaut geäußerten Vermutungen; der Geräuschpegel stieg so stark an, daß Vegas mit lauter Stimme Ruhe befahl. Dann wandte er sich wieder an den Funk‐ und Tasterspezia‐ listen. »Sie sind keine große Hilfe, Mister Dembaux«, meinte er är‐ gerlich. »Ich erwarte eine Antwort!« Kerim Bekian nickte seinem Mitarbeiter zu. Ich übernehme, hieß das. »Ich habe eine Antwort, Sir«, sagte er. »Ich kann’s kaum erwarten.« Vegas fixierte seine Nummer Drei, der den Blick ruhig zurückgab. »Bei den Fragmenten handelt es sich um metallische Bruchstücke.« »Sie irren sich nicht?« »Nein«, versicherte Bekian. »Wenn diese Fragmente die thermischen Verhältnisse innerhalb der Wolke unbeschadet überstanden haben, müssen sie von enormer Widerstandskraft sein«, sagte Vegas halblaut und nachdenklich; er zupfte mit den Zähnen an seiner Unterlippe. »Aus welchem Material bestehen die Bruchstücke?« »Sie haben metallische Eigenschaften, wie gesagt«, erwiderte Be‐ kian. »Allerdings wird die Substanz von der Ortungstechnik als weitgehend unbekannt eingestuft.« Vegas’ Kopf ruckte hoch. »Weitgehend? Das bedeutet…« »Einen bekannten Hinweis gibt es«, bestätigte Bekian. »In den Fragmenten ist Metall mit der Ordnungszahl 184 enthalten…« »Wolfram!« unterbrach der Kommandant. »Richtig, Sir. So ist es. Die Ortung hat Wolframatome registriert.
Ansonsten sind die metallischen Eigenschaften unbekannt.« »Worum könnte es sich gehandelt haben?« fragte Olin Monro. »Form und Beschaffenheit lassen die Vermutung zu, daß es sich dabei um die Überreste eines Raumschiffes handelt, das enorm groß gewesen sein muß«, erwiderte Bekian. »Kein Zweifel möglich?« Die Nummer Drei schüttelte den Kopf, seine dunkelbraunen Au‐ gen blickten unerschütterlich. »Das Schiff einer unbekannten Rasse also?« fragte Ron Nozomi und ließ die Fingerknöchel knacken. Monro meldete sich erneut zu Wort. »Was immer diese Fragmente auch sein mögen, Sir«, wandte er sich an den Kommandanten. »Aufschluß über ihre wahre Natur werden wir erst erhalten, wenn wir sie bergen.« »Hmm…« Vegas lehnte sich zurück. Eine angestrengt wirkende Falte bildete sich zwischen seinen Augen. Dann fragte er seinen Pi‐ loten: »Entfernung zu den Fragmenten, Nummer Zwei?« »460.000 Kilometer, Sir.« »Was ist Ihre Meinung, Nummer Eins?« wandte sich Vegas an Olin Monro. »Wir könnten einen Einflug in die Gaswolke wagen«, meinte der Erste Offizier. »Die Temperatur von 12.000 Grad Celsius ist für unser Schiff nicht problematisch.« »Dann also…« »Halt!« erhob sich plötzlich die Stimme Lee Kanas. »Ich würde in keinem Fall in die Wolke fliegen, Sir.« Vegas runzelte die Stirn. »So. Und weshalb nicht, Fähnrich?« grollte er, leicht ungehalten über den Einwurf des neuen »festen« Besatzungsmitgliedes. »Die Temperatur von 12.000 Grad, Sir«, sagte der junge Mann. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, was mich daran stört. Und jetzt weiß ich es, Kommandant.« »Aha. Und würden Sie die Güte haben, uns an Ihren Überlegungen
teilhaben zu lassen?« »Natürlich, Sir… sofort, Sir«, Kana räusperte sich, als er so plötz‐ lich im Brennpunkt ungeteilten Interesses stand. »Die thermische Reaktion der Wolke und der Wert von 12.000 Grad Celsius lassen nur einen Schluß zu: Vario!« Vegas’ Kopf ruckte hoch. »Was sagen Sie da?« »Es stimmt. Ich bin mir sicher«, beharrte Kana mit Nachdruck. »Hier war Ree im Einsatz.« Bei Ree handelte es sich um eine perfide Waffe der Tel, die von den Terranern die Bezeichnung »Vario« erhalten hatte. Es war tatsächlich ein Variogas, das sich anfänglich zu gelbem Schaum veränderte, welcher sich dann bräunlich verfärbte und dabei verfestigte. In dieser zweiten Phase war es noch möglich, das Ree zu neutrali‐ sieren. In seiner dritten und letzten Phase löste sich das Material auf und erhöhte dabei in den von ihm erfüllten Räumen in einer ther‐ mischen Reaktion die Temperatur bis auf einen Endwert von 12.000 Grad. Wegen des geringen Molekulardurchmessers war das Ree in der Lage, bis auf Unitall sämtliche bekannten Materialien zu durch‐ dringen; es existierte kein bekanntes Gegenmittel, bis es 2057 ge‐ lungen war, verseuchte Schiffe durch eine modifizierte Hy‐Kon‐Anwendung von dem Gas zu befreien. »Kapitän?« brachte sich Godel in Erinnerung. »Einfliegen oder nicht?« »Wir ziehen uns zurück«, kam dessen Entscheidung, »und bleiben vorerst in sicherem Abstand.« »Wozu?« »Wir schicken ein paar Meßsonden hinein. Nummer Drei, leiten Sie das in die Wege.« »Aye, Sir.« Wenig später verließen zwei Meßsonden die ANZIO, ausgestattet mit miniaturisierten Transitions‐ und SLE‐Triebwerken und voll‐ gestopft mit Aufklärungs‐ und Übertragungselektronik auf To‐Basis.
Mit einem Viertel Licht nahmen sie Kurs ins Innere der Wolke und begannen mit dem Sammeln von Daten. »Jetzt können wir nur noch abwarten«, kommentierte Vegas in gelassenem Ton. Er fuhr seinen Sessel etwas zurück und schlug die Beine übereinander. »Ihre Ruhe möchte ich haben, Kapitän«, murmelte Olin Monro von seinem Platz neben dem Kommandanten. »Die könnte ich Ihnen schenken«, erwiderte Vegas, »wenn Sie auch gleichzeitig meine Verantwortung übernehmen.« Olin grinste sachte. »Vielleicht einmal später, Kapitän. Im Augen‐ blick fühle ich mich jedoch in der Rolle Ihrer Nummer Eins aus‐ gesprochen wohl.« »Freut mich«, gab Roy Vegas ruhig zur Antwort. »Wenn es soweit ist, werden Sie in mir einen Fürsprecher haben, Olin.« »Danke, Kapitän.« »Nicht nötig«, wehrte der Kommandant ab. Zu mehr kam er nicht. Leutnant Barelli sagte laut und betont: »Achtung, die ersten Bilder kommen!« Vor der sternflimmernden Kulisse des fernen Hintergrundes er‐ schien die aufgeblähte Wolke aus leicht glühender Materie, dazwi‐ schen die Überreste eines ehemals großen Schiffes. Man konnte jetzt erkennen, daß es sich um Segmente einer vermutlich sphärisch ge‐ krümmten Hülle handelte. »Sehen Sie da, Kapitän!« Vegas fuhr seinen Gliedersessel in den Schienen etwas vor, als könne er dadurch der Ansicht auf der Bildkugel noch mehr Einzel‐ heiten abgewinnen. Er blickte auf die Stelle in der Holosphäre, auf die der junge Leutnant deutete. »Warten Sie, Sir, ich vergrößere den Ausschnitt, den die Sonde im Fokus hat.« Jetzt war es deutlich zu erkennen: gelbbräunliche Rückstände auf einem der Metallfragmente. »Vario!« sagte Lee Kana triumphierend.
Vegas nickte. »Sie hatten recht, Fähnrich. Mister Bekian, sprengen Sie die Sonden.« »Aye, Sir.« Innerhalb kurzer Zeit erblühten zwei kleine, rasch ver‐ löschende Farbkleckse im All. In der Zentrale stellte Vegas eine Verbindung zur Waffenstati‐ on‐Ost her. »Mister Denschikoff!« »Kapitän?« Das Gesicht des diensthabenden Waffenoffiziers blickte ihm vom Schirm entgegen; Oberleutnant Denschikoff und sein Team von Waffentechnikern hatten in der Bildkugel der WS‐Ost gespannt die Ereignisse verfolgt. »Nehmen Sie die Wolke unter Hy‐Kon‐Beschuß«, ordnete Vegas an. »Melden Sie Feuerbereitschaft, sobald die Konverter genügend Energie aufgebaut haben.« »Zu Befehl, Sir.« »Sie wollen Hy‐Kon einsetzen, Kapitän?« fragte Nozomi in der Steuerzentrale. Vegas sah ihn befremdet an. »Natürlich. Sie etwa nicht?« »Vario kann unsere Hülle nicht durchdringen, Sir. Wir sind si‐ cher.« »Möglicherweise. Trotzdem werde ich nicht das geringste Risiko eingehen, Nummer Vier«, bedeutete ihm Vegas. »Es ist mir einfach zu gefährlich. Die Unversehrtheit des Schiffes und der gesamten Mannschaft hat Vorrang vor allen anderen Erwägungen.« »Natürlich, Sir. Sie haben recht.« Wortlos sah ihn Vegas an. Schließlich sagte er ruhig, aber sehr be‐ stimmt: »Der Kapitän hat immer recht, das sollten Sie beherzigen, Nummer Vier.« Ron Nozomi schluckte und nickte stumm. Vegas hatte sich schon wieder Denschikoff zugewandt. »Sind Sie soweit, Oberleutnant?« »Feuerbereit, Sir.« Das von den Worgun entwickelte Hy‐Kon war in der Lage, Gegenstände jedweder Größe in ein energetisches Feld
zu hüllen und unwiederbringlich in den Hyperraum zu versetzen. Dabei veränderte das opalisierende Licht des Hy‐Kon optisch sich‐ tbar die Raumstruktur und erzeugte einen in sieben Segmente ge‐ teilten Ring. Die Berührung mit diesem Ring ließ die Farben überspringen, und nur Augenblicke später wurde das betreffende Raumschiff oder Objekt von einem undefinierbaren Nichts verschlungen. Bislang existierten keine Erkenntnisse darüber, ob die versetzten Objekte an anderer Stelle wieder materialisierten. »Feuern Sie!« Aus den Strahlantennen löste sich ein scharf abgegrenzter Ring aus Energie. Für einen kurzen Augenblick sah die Besatzung der ANZIO, wie sich der schimmernde Ring ausweitete, bis er die Perimeter der Gaswolke erreichte. Licht unbestimmbarer Farbe brach sich in einem kristallenen Muster, dann umschloß er das Objekt und schoß in ei‐ nem Aufblitzen davon. Binnen einer einzigen Sekunde war von dem Gasnebel nichts mehr vorhanden – und von den Fragmenten des fremden, unbekannten Schiffes ebenfalls nichts. »Phantastisch…!« murmelte der Navigator. »Und gefährlich. Möchte wissen, wohin das alles wirklich versetzt wurde.« »Besser, Sie machen sich keine Gedanken darüber«, riet ihm Olin Monro freundschaftlich. »Am Ende wären Sie womöglich enttäuscht und verlangten Ihr Eintrittsgeld zurück.« Vegas räusperte sich wie nebenher. Das Geplänkel zwischen den beiden Offizieren verstummte augenblicklich. * Die folgenden Stunden vergingen in mehr oder weniger eintöniger Routine. Die Ortungstaster liefen auf Hochtouren. Hier hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Kampf stattgefunden.
Zum Nachteil jenes Schiffes, dessen Fragmente man gefunden hatte. Und eine Tel‐Waffe war dabei zum Einsatz gekommen. Was die Tel, die Schwarzen Weißen, wohl in diesem Teil der Galaxis zu su‐ chen hatten? Ihr Machtbereich lag auf der entgegengesetzten Seite der Milchstraße. Kommandant Roy Vegas ließ die nähere Umgebung sorgfältig durchorten. Viele Sterne standen nicht zur Auswahl, die Region war arm an Sonnen. Deshalb konzentrierte sich die Ortung auf das nächstgele‐ gene Sonnensystem in etwas mehr als einem Parsek Entfernung. Man wurde fündig; die Tasterphalanx der ANZIO ortete in der Umgebung des Systems die Echos einer größeren Anzahl von Raumschiffen. »Setzen Sie einen Kurs, Mister Godel«, ordnete Vegas an. »Voller Tarnmodus.« Die Entfernung von rund vier Lichtjahren war schnell überbrückt. Das Flottenschulschiff stand, wie die Ortung und der Augenschein bewiesen, kurz vor einem ausgedehnten System mit dem mächtigen Zentralfeuer einer G‐Sonne und zehn Planeten. Eine dieser Welten, die Nummer drei, befand sich innerhalb der Lebenszone und war erdähnlich; sie war vorwiegend blau, überzogen von weißen Wol‐ ken. »Wurde das System schon einmal katalogisiert?« erkundigte sich Vegas beim Astrogator. Der Offizier verneinte. »Kommandant, es ist Ihr Vorrecht, das System zu benennen.« »Ja dann…« meinte Vegas ruhig. »Tragen Sie den Namen ›Jenna’s Star‹ in die Sternendatei ein, Mister Nozomi.« »Ist mir ein Vergnügen, Sir. Was ist mit den Planeten?« Der Oberst überlegte kurz. Dann schüttelte er den Kopf. »Belassen wir es vorläufig bei einer Numerierung.« »Das übliche Prozedere?« »Ja«, bekräftige der Schiffskommandant. Das Prozedere, von dem der Astrogator gesprochen hatte, bedeu‐
tete, daß die Planeten eines unbekannten Systems vom sonnennäch‐ sten aufsteigend durch fortlaufende Nummern gekennzeichnet wurden. Die ANZIO befand sich hoch über der Ekliptik des Systems, hoch über Jenna’s Star. Das Licht der Sonne brach über die Schirme herein und verdrängte das Glühen der Sterne. Die Ortung lieferte ununterbrochen Daten. Beim dritten Planeten hielten sich eine Reihe gigantischer Raum‐ schiffe in der Umlaufbahn auf. »Keinerlei energetische Aktivitäten«, beantwortete Kerim Bekian von seinem Orterleitstand die Frage des Kapitäns. »Weder Waffen noch Antrieb oder Ortung. Alles ist tot oder abgeschaltet.« Getarnt flog die ANZIO näher, verharrte in ausreichender Entfer‐ nung, um nicht mit den Raumschiffen im Orbit in Konflikt zu gera‐ ten. »Unglaublich…!« Olin Monro starrte auf die Teilvergrößerung, die jetzt auf den Konsolenschirmen und gleichzeitig in einem separaten Fenster der großen Bildkugel auftauchte. »Das sind ja Riesen!« »Phantastisch…!« brachte der Navigator hervor. »Und gefährlich.« »Das muß sich noch herausstellen«, murmelte Vegas wie nebenher und ließ den Anblick auf sich wirken. Es waren Kolosse aus Metall, die regungslos über dem Planeten hingen. Riesige Scheiben, deren Wandungen im Licht des Zentral‐ feuers schimmerten. »Sehen mehr aus wie runde Plattformen…« ließ sich eine Stimme vom Hauptschott her vernehmen; sie gehörte Major Chester McGraves, der die Steuerzentrale betrat. Er nickte dankend und verstieg sich zu einem ungewohnten Lä‐ cheln, als Olin Monro seinen Platz räumte und ihn mit einer Hand‐ bewegung bat, sich neben den Kommandanten zu setzen. Monro selbst setzte sich auf den zweiten Pilotensitz, den ein Kadett blitz‐ schnell räumte.
»Wie groß sind die Dinger?« fragte Vegas knapp in die momentane Stille der Steuerzentrale und nickte dem Major zu. »Eineinhalb Kilometer Durchmesser bei einer Dicke von 300 Me‐ tern an der stärksten Stelle im Zentrum, Sir.« »Die ausgeglühten Fragmente, die wir draußen im Raum in der Gaswolke gefunden haben, könnten von der Randsektion eines die‐ ser Giganten stammen«, meinte der Erste Offizier. Die Schiffe trieben auf einer Bahn weit außerhalb der Atmosphäre von »Nummer drei«, in einer Entfernung, die der des irdischen Mondes von der Erde entsprach. Es waren gewaltige Metallscheiben, mit gezahnten Seitenrändern: Erker, Vorsprünge, Waffenkuppeln. Die Oberflächen waren glatt und ohne Aufbauten, es gab weder Masten noch Antennenschalen. Vermutlich lag alles im Innern ver‐ borgen. Auch die Unterseiten waren glatt, sah man von den kaum sichtbaren Linien ab, die Schächte oder Einflugluken abdecken mochten. Einzig im mathematischen Mittelpunkt der Scheiben war die einzige Auffälligkeit zu sehen: eine Kuppel von etwa zehn Me‐ tern Durchmesser, die sich wie eine winzige Warze aus der ebenen Fläche erhob. »Was können Sie mir über deren Antrieb sagen, Mister Bekian?« »Ziemlich altertümlicher Reaktionsantrieb auf atomarer Basis, Ka‐ pitän«, beantwortete der Ortungsoffizier die Frage seines Kom‐ mandanten. »Es läßt sich eine leichte Reststrahlung abgeschalteter Reaktoren an Bord orten, Sir.« »Diese Dinger sind eindeutig nicht für Landungen auf Planeten‐ oberflächen geeignet«, stellte ehester McGraves fest, »sonst würden sie keine Raumfähren brauchen.« Vegas nickte zustimmend. Einige Schiffe wurden von großen Raumfähren umkreist, die für Atmosphärenflüge mit Tragflächen ausgerüstet waren. Auch sie waren offenbar abgeschaltet; es gab keine Anzeichen von energeti‐ schen Aktivitäten. »Was haben wir da vor uns?« murmelte McGraves. »Einen
Schiffsfriedhof?« »Schauen wir uns den Planeten näher an«, sagte Vegas und hob die Stimme. »Mister Godel, bringen Sie uns in einen Orbit über Nummer drei.« »Aye, Sir.« * Fünfzehn Minuten später, nach leichten Korrekturmanövern, schwebte die ANZIO über die Oberfläche der Zielwelt. Die Gefahr einer Entdeckung konnte als vernachlässigbar angese‐ hen werden; der Tarnmodus schützte den Ringraumer vor jeder Ortung; lediglich direkten Sichtkontakt konnte er nicht verhindern. Aber dazu müßte sich jemand in einer Entfernung aufhalten, die es erlaubte, das Schiff auch wirklich zu sehen. »Da haben Sie Ihren Planeten, Kapitän!« sagte Jay Godel und wies auf die Bildkugel. »Annähernd erdähnlich.« Die Bildkugel öffnete ein separates Fenster und hob es etwas her‐ vor, so daß der Eindruck entstand, es schwebte losgelöst im Raum. Eine Datensequenz begann zu laufen. Nummer drei hatte einen äquatorialen Umfang von 39.782 Kilo‐ metern und war im Gegensatz zum abgeplatteten Ellipsoid der Erde erstaunlich rund; von Pol zu Pol betrug die Streckenabweichung nur wenige Kilometer. Die Welt hatte eine Neigung zur Bahnebene von 96 Grad und 58 Sekunden nach Terra‐Norm; die Umlaufzeit um Jenna’s Star berechnete der Hyperkalkulator mit 371 Tagen, und die Verteilung von Landfläche zu Wasserfläche betrug eins zu zwei; aufgrund von Masse und Dichte des Planeten errechnete der Hy‐ perkalkulator eine Schwerkraft, die der terranischen entsprach. Es herrschte eine üppige Flora; über die Fauna konnte der Zentral‐ rechner vorerst keine Angaben machen. Die Pole waren eisbedeckt. Planet Nummer drei zeigte Spuren großräumiger Besiedelung und ausgedehnter Industrialisierung – doch keine Spur von hochentwi‐
ckeltem, existierendem Leben. Vegas fixierte die Bilder in der Holokugel. Schließlich bewegte er seinen Drehsessel etwas zur Seite in Richtung der Ortungskonsolen. »Und wirklich kein Leben dort unten?« »Nicht die Spur«, bedauerte Kerim Bekian. »Was mag da passiert sein?« murmelte ehester McGraves. Dann ändert sich die Ansicht in der Hauptbildkugel. Vegas beugte sich vor. »Was ist das dort unten?« fragte er. »Vergrößern!« Die Holosphäre überschüttete die Leitzentrale mit Helligkeit und zeigte nähere Einzelheiten dessen, was Vegas aufgefallen war. Der Ausschnitt zeigte am Stadtrand Spuren des Absturzes eines der Gigantschiffe. Vegas musterte die Ausschnittvergrößerungen eingehend, die ihm die Bildkugel präsentierte. Offenbar war eines der Scheibenschiffe abgedriftet und in die At‐ mosphäre geraten. Aufgrund seiner altertümlichen Technik nicht in der Lage, auf dem Planeten zu landen, konnte es nur abstürzen. Es war im flachen Winkel aufgeschlagen und hatte ein ganzes Stadt‐ viertel vor sich her geschoben, ehe es zum Stillstand gekommen war. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß an Bord auch nur eine einzige Person überlebt haben könnte«, meinte der Major. »Wenn die Besatzung nicht schon vorher tot war«, warf Olin Monro ein. Neue Vergrößerungen kamen und brachten mehr Einzelheiten ans Tageslicht. »Offenbar haben wir es hier mit Rückkehrern zu tun, die einst vor den Magnetstürmen in der Galaxis geflohen und wieder zurückge‐ kommen sind, als die Strahlung verschwunden war«, bemerkte Ve‐ gas mit nachdenklicher Stimme. »Und bei der Landung muß es zur Katastrophe gekommen sein.« Die Männer starrten ihren Kommandanten an. »Woher…?« fragte Olin Monro.
Vegas sagte: »Es genügt nicht, ein Bild nur zu betrachten. Man muß auch auf Details achten; gewisse Kombinationen lernt man in langen Jahren des Dienstes. Man hat versucht zu landen. Ja – hier ist es deutlich zu sehen, meine Herren!« Er nannte dem Hyperkalkulator die von ihm gewünschten Ausschnittvergrößerungen. »Sehen Sie hier, hier – und hier… insgesamt sieben Wracks von Landefähren. Können Sie sie erkennen?« Monro musterte die Details, blinzelte erst ungläubig, dann verste‐ hend und nickte. »In der Tat. Sie hatten die Landestützen schon ausgefahren, als es zur Katastrophe gekommen sein muß.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wieso?« fragte McGraves mit verkniffenem Gesicht. »Und weshalb wurde eines der Heimkehrerschiffe mit Vario angegriffen?« »Wichtiger scheint mir zu sein, das Rätsel zu lösen, was die Tel mit denen zu schaffen hatten«, bemerkte Jay Godel. »Was haben die Schwarzen Weißen hier verloren? Was suchen sie hier? Ihr Imperium befindet sich auf der anderen Seite der Milchstraße .« »Ziemlich weit weg von zu Hause«, nickte Olin Monro. »So gesehen befinden wir uns auch nicht gerade vor unserer Haustür«, warf Ron Nozomi in die Debatte. »Nein, das gerade auch nicht«, nickte Vegas. »Aber wir brechen keinen Krieg vom Zaun. Und das, was wir hier sehen, sieht ver‐ dammt nach kriegerischen Handlungen aus…« »Ob die Gefahr noch besteht?« »Wer weiß das mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen…«, sagte Vegas und runzelte überlegend die Stirn. Dann traf er eine schnelle Entscheidung. »Nummer Eins! Gelber Alarm für das Schiff!« »Aye, Sir!« Der Alarm summte durch das Schiff und verpflichtete jeden zur erhöhten Wachsamkeit. Während der Debatte hatte sich der Planet unter dem Schiff weiter bewegt; die ANZIO flog in dreihundert Kilometern Höhe weiter
über die Tageshemisphäre der Welt hinweg. Die Sonne stand im Zenit eines tief dunkelblauen Himmels. Die Stadt hatte einem weit‐ verzweigten Industrieareal Platz gemacht. Dann war nur noch Landschaft zu sehen. Eine weitere Stadt… Noch mehr Industrieareale. Und noch immer keine Anzeichen von Leben. »Ein offenbar komplett entvölkerter Planet«, murmelte McGraves neben dem Kommandanten. »Ein verlassener Planet – der von seiner Bevölkerung vermutlich erst wieder eingenommen werden sollte«, war Vegas’ Meinung zu dem Thema. »Kapitän!« Leutnant Barelli meldete sich vom Orterleitstand. »Was gibt es, Leutnant?« fragte Vegas knapp. »Die Taster haben einen Tel‐Raumer gesichtet.« Barellis Stimme überschlug sich fast. »Lassen Sie sehen!« Die Gefahr, von der sie eben noch gesprochen hatten, war da und zeigte sich in Gestalt eines Doppelkugelraumers der Schwarzen Weißen. »Stellen Sie die Maße fest!« ordnete Vegas an. »Augenblick, Sir!« Derek Barelli drückte ein paar Tasten auf sei‐ nem Pult. »Verdammt und zugenäht«, keuchte er perplex. Vegas’ Augenbrauen zuckten. »Leutnant Barelli!« sagte er scharf. »Würden Sie sich eines Tones befleißigen, der eines Offiziers meines Schiffes würdig ist? Also, ich höre!« Barelli blickte betreten. »Ja, Sir. Natürlich, Sir. Bei dem Tel‐Raumer handelt es sich um einen aus der neusten Baureihe. Ein Gigant mit zwei 800‐Meter‐Kugeln, Sir.« Vegas zeigte Überraschung. »Und weshalb wurde er von unseren Tastern nicht geortet?« »Weil er energetisch abgeschaltet sein muß, Sir, und ›Toter Mann‹
spielt«, nahm Kerim Bekian das Heft in die Hand und brachte damit seinen Leutnant ein wenig aus der Schußlinie. »Sonderbar«, wunderte sich Vegas. »Und es wird immer merk‐ würdiger. Was ist hier geschehen?« »Roter Alarm, Sir?« Olin Monros Hand schwebte bereits über dem entsprechenden Schalter. »Nein«, wehrte der Kommandant ab und wedelte mit der Hand. »Wir sind aufgrund unserer wirksamen Tarnung ebenfalls ›tot‹, Nummer Eins. Sonst befänden wir uns vermutlich bereits mitten in einer Kampfhandlung mit den Tel. Mister Godel! Bringen Sie uns vorsichtshalber auf die andere Seite des Planeten. Ich muß die Situa‐ tion überdenken.«
11. »Ich lasse 150 meiner Infanteristen in der Obhut meines Stellvert‐ reters, Hauptmann Giordino, an Bord«, sagte Chester McGraves, »und nehme nur jene 100 mit, die bereits über etwas Erfahrung im Einsatz auf Fremdwelten verfügen. Ich denke, zehn mal zehn eini‐ germaßen ausgebildete und gut bewaffnete Männer genügen für das, was ich vorhabe.« Die ANZIO hatte den Planeten zur Hälfte umrundet und war in einem breiten Tal gelandet, das sich zwischen zwei dichtbewaldeten Bergrücken erstreckte. Das Tal öffnete sich in westlicher Richtung zu einer Ebene. Ganz klar war Vegas nicht, ob es Westen war, aber die Sonne verließ in die Richtung ihren Zenit. Beim Anflug hatte der Hyperkalkulator eine genaue Karte des Terrains erstellt, nach denen sich McGraves richten konnte. In der Ebene lag, hinter niedrigen Hügeln verborgen, in einer Entfernung von nicht mehr als 80 Kilometern eine ausgedehnte Stadt. McGraves’ Ziel, wie er dem Kommandanten erklärt hatte. Auch von der Stadt hatte die ANZIO Aufnahmen gemacht. »In Ordnung, Chester«, sagte Vegas in Richtung des Bildschirms, auf dem der Major zu sehen war, und dachte einen winzigen Au‐ genblick an die Zeit zurück, die er mit McGraves als seinem dama‐ ligen Ersten Offizier und Navigator auf der SPECTRAL verbracht hatte, jenem 50‐Meter‐Kugelraumer der Panther‐Klasse, der vor vier Jahren auf Eldorado ein unrühmliches Ende gefunden hatte. »Es ist Zeit«, riß ihn die Stimme des Schotten und »Ritters von der traurigen Gestalt« aus seinen Gedanken. »Ich werde mich mit mei‐ nen Männern in Marsch setzen.« »Tun Sie das, Major. Wir bleiben über To‐Richtfunk in Verbindung. Sobald Sie draußen sind, werden wir uns absetzen. Vergessen Sie nicht, rechtzeitig um Hilfe zu rufen, wenn wir Sie retten sollen.«
Vegas grinste schwach. Dann fügte er hinzu: »Viel Glück, Chester!« »Wird schon schiefgehen, Skipper«, brummte der Major und un‐ terbrach die Phase. Auf einem Nebenschirm konnte Vegas sehen, wie sich die zehn gepanzerten Mannschaftsschweber der Rauminfanterie durch das offene Schott ins Freie katapultierten und sich mit hoher Fahrt in Richtung Waldrand entfernten. Wenige Augenblicke später waren sie bereits unter den Bäumen verschwunden. Für einen Moment hing der Kommandant seinen Gedanken nach, dann wandte er sich wieder der augenblicklichen Situation zu. Er fuhr seinen Sessel ein wenig zurück. »Nummer Eins! Wir wollen nicht länger Zeit vertrödeln. Bringen Sie uns weg von hier. Das Ziel kennen Sie.« »Zu Befehl, Skipper.« Außer von Major McGraves ließ sich Roy Vegas nur noch von Olin Monro als »Skipper« anreden. McGraves und seine Truppe waren noch keine zehn Kilometer weit gekommen, als die ANZIO bereits wieder die Lufthülle des dritten, noch immer namenlosen Planeten hinter sich gelassen hatte. Mit SLE glitt sie durch den Normalraum, umgeben vom Mikrokos‐ mos ihres Doppelintervallums und versteckt hinter ihrem Tarnfeld. Sie entfernte sich nicht sehr weit ins All hinaus, eigentlich nur bis zur Parkposition der energielosen Scheibenraumer. In einer Distanz von zehn Kilometern zu den Schiffen kam sie zum Stillstand. »Was tun wir hier, Sir?« fragte Jay Godel. »Nachsehen, weshalb diese Schiffe abgeschaltet wurden«, war Vegas’ Antwort. »Vielleicht bekommen wir ja auch einen intakten Datenspeicher in die Hand, der uns aufklärt, was mit den Schiffen geschehen ist.« »Sie wollen das wirklich riskieren, Kapitän?« »Das will ich.« »Dort kann alles mögliche auf uns warten«, warnte der Navigator, und seine tiefblauen Augen unter dem Schopf schwarzer Haare
blickten besorgt. »Gefahren, die wir nicht kennen«, fuhr er fort, »eine uns feindlich gesinnte Besatzung möglicherweise, Fremde… alles, was wir uns vorstellen können!« »Oder noch Schlimmeres!« pflichtete Kerim Bekian dem Navigator bei. »Das werden wir ja dann feststellen«, versicherte Vegas und stellte eine Verbindung zum Flashdeck her. »Mister Skerl, schicken Sie den Flash los. Wen haben Sie für die Mission ausgewählt?« Darren Skerl, Oberleutnant und Kommandant des Flashgeschwa‐ ders der ANZIO, antwortete: »Leutnant Ure und Fähnrich Stormond in der Null‐Null‐Sieben, Sir.« »Die Männer sind instruiert?« »Sie wissen Bescheid, Sir«, bestätigte der Oberleutnant. »Ausgezeichnet. Schicken Sie sie los.« Flash 007 verließ seinen Hangar auf Deck 4. Die Minuten vergingen. Vegas machte einen gelassenen Eindruck. Daß er nicht ganz so kühl war, wie er den Anschein erweckte, merkte man an seiner Stimme, als er erneut die Verbindung zu Darren Skerl herstellte. »Status der Null‐Null‐Sieben, Mister Skerl?« »Sie müssen jeden Moment das Ziel erreichen, Kapitän«, verkün‐ dete der Offizier. »Kann ich nur bestätigen«, drang in diesem Augenblick Robert Ures Stimme über die abgeschirmte To‐Richtfunkstrecke. Auf einem Nebenschirm der Kommandantenkonsole war das Gesicht des Leutnants zu sehen, der vom »Frontsitz« der 007 in die Aufnahme‐ optik blickte. »Lassen Sie die Phase stehen, Leutnant«, befahl Vegas. »Verstanden, Zentrale. Schalte um.« Der visuelle Ausschnitt, den die große Bildkugel in die Steuer‐ zentrale expandierte, machte sichtbar, wie der Flash mit den beiden Männern an Bord knapp über der Oberfläche des gigantischen
Scheibenschiffes schwebte – und dann eindrang, als bestünde die Hülle nur aus einem flüssigen Medium. Das Intervallfeld, über das auch sämtliche Flash verfügten, war ein künstlich erzeugtes Mikro‐Universum, das seine eigenen Naturge‐ setze besaß. Das Objekt, das sich in ihm bewegte, war einmal ge‐ schützt gegen alle zur Zeit bekannten Waffen, und zum zweiten war man damit in der Lage, jede sich im normalen Raum‐Zeitgefüge befindliche Materie zu durchdringen, als sei diese nicht vorhanden. Jedes sich in einem Intervallfeld befindliche Schiff, ob Ringraumer oder Beiboot, war fähig, Planeten zu durchfliegen – oder andere Raumschiffe. Für einen Augenblick wurde das Bild, das in die Steuerzentrale des Flottenschulschiffes übertragen wurde, unscharf. Dann war es wieder klar und zeigte alle Einzelheiten dessen, was auch die beiden Insassen des Beibootes zu Gesicht bekamen. * Mit deaktiviertem Brennkreis machte sich die 007 daran, das Innere des gigantischen Scheibenschiffes zu erkunden – und die beiden Insassen erlebten gleich ihre erste Überraschung: An Bord des fremden Schiffes herrschte eine Sauerstoffatmosphäre! »Halten Sie Ihre Raumanzüge trotzdem geschlossen«, kam die Anweisung von Vegas über Funk, als sie die ANZIO davon unter‐ richteten. Ure murrte zwar über diese Anordnung, was er aber wohlweislich nur über die Internkommunikation tat. Er fand jedoch in Stormond keinen Gleichgesinnten; der Fähnrich machte unmißverständlich klar, daß er, wäre er an der Stelle des Kommandanten, nicht anders handeln würde, da man nicht wissen könne, was diese Schiffe ent‐ völkert hatte. »Und unsere W‐Anzüge sind nun mal der beste Schutz gegen Unwägbarkeiten wie fremde und gefährliche Umwelteinflüsse«,
setzte Derek Stormond noch eins drauf. Sein amüsiert wirkendes Antlitz konnte Ure auf dem kleinen Schirm vor sich sehen. Er schnitt ihm eine freundschaftliche Grimasse und sagte halblaut: »Ist ja schon gut, Mister Schlaumeier. Du weißt ja immer alles bes‐ ser.« »Ich bin eben der klügere von uns beiden«, erwiderte Stormond ohne Überheblichkeit, »das habe ich schriftlich!« »Überaus aufschlußreich«, murrte Ure. »Ist es wichtig für unsere Mission?« »Nicht im geringsten, Bob«, ließ Stormond verlauten. »Du bist der Boß.« »Davon rede ich doch die ganze Zeit. Dein Problem ist, daß du ei‐ nem nie richtig zuhörst…« Die beiden waren sich nicht etwa nicht grün. Ganz im Gegenteil, sie waren zwar keine dicken Freunde, doch einander zumindest freundschaftlich zugetan. Was da gerade zwischen ihnen ablief, nannte Erinn Meichle, der Chefarzt der ANZIO, Streßbewältigung. Während ihres Geplänkels hatten die beiden ihren Auftrag nicht aus den Augen verloren; langsam dirigierte Ure die 007 durch das Innere des fremden Raumschiffes, durchdrang Wände und Schotts, passierte Kammern und hangargroße Hallen voller Maschinen, die in ihrer archaischen Massivität an die Aggregate und Konverter‐ bänke erinnerten, wie sie in den Anfängen der interstellaren Raum‐ fahrt auch in den irdischen Schiffen zu finden gewesen waren. Über die Außenlautsprecher drang kein Geräusch an die Ohren der beiden Männer; im Schiff herrschte Grabesstille. »Wie sieht’s aus?« kam die Stimme des Kommandanten durch den Funk. »Es ist Energie auf einem sehr niedrigen Niveau vorhanden«, be‐ antwortete Stormond Vegas’ Frage. »Es existiert so etwas wie eine Notbeleuchtung.« »Gut. Wie ist die Atemluft?« Derek Stormond kontrollierte die Indikatoren. Die Anzeigen wie‐
sen die Luft im Innern als eine normale Sauerstoffatmosphäre mit einer ungewöhnlich hohen Konzentration aromatischer Beimi‐ schungen aus. »Es herrscht Luftzirkulation; die Lebenserhaltungssysteme arbei‐ ten offensichtlich. Moment…« Er verstummte erschrocken. »Was ist?« drängte Vegas. »Los, berichten Sie schon!« »Sekunde, Sir. Da blinken zwei Indikatoren rot…« Stormond ließ die Luftzusammensetzung vom Hyperkalkulator überprüfen. Dann sagte er überrascht: »Es stinkt ganz furchtbar, Sir. Etwas dünstet hier gewaltig nach…« er konsultierte noch einmal die Anzeigen »… nach Verwesung, Sir!« »Verstanden. Macht vorsichtig weiter.« »In Ordnung, Sir.« Ein Deck höher bekamen die beiden Flashpiloten den Grund für den Verwesungsgestank zu Gesicht. Bei dem Scheibenschiff mußte es sich um ein ziviles Transport‐ schiff für Wesen gehandelt haben, die etwa menschengroß waren. Zwei Drittel des Schiffes bestanden aus riesigen Sälen, die wie Bie‐ nenwaben in einfache Schlafkabinen mit unzähligen Betten geglie‐ dert waren. Und in fast jedem dieser »Betten« lagen die vermoderten Leichen von nicht näher zu identifizierenden Humanoiden. Einige der Leichen waren verstümmelt und zerfetzt, so als hätten wilde Tiere sie angefressen. »O Gott!« Stormond begann zu würgen. »Wenn du kotzen mußt«, sagte Ure ungerührt – ihn schien der Anblick der Leichen kalt zu lassen –, »denk dran, daß dein W‐Anzug für derartige Fälle nur über eine begrenzte Aufnahmekapazität ver‐ fügt.« Ure wandte sich an die ferne ANZIO und fragte mit gesenkter Stimme – warum, wußte er auch nicht zu sagen: »Seht ihr, was wir sehen?« »Wir sehen es«, kam die Stimme Kano Dembaux’ am Funkleitstand über die Phase.
Vegas schaltete sich ein. »Ich hatte schon mit so was gerechnet. Kümmert euch nicht um die Toten; ihr kennt euren Auftrag. Ver‐ meidet jedes Risiko und haltet eure Anzüge geschlossen. Kapiert?« »Verstanden, Sir. Wir machen weiter.« Robert Ure und Stormond flogen mit dem Flash zur Zentrale, jener kleinen transparenten Kuppel, die auf der Oberseite des gewaltigen Scheibenschiffes deren Mittelpunkt markierte. »Sind angekommen«, meldete Ure an die ANZIO. »Steigen jetzt aus.« »Bestätigt«, antwortete die Funk‐Z. Der in Relation zur Größe des Scheibenraumers geradezu winzige Leitstand glich in Aufteilung und Anordnung von Instrumenten, Sitzgelegenheiten und Steuerkonsolen dem, was in vielen Schiffen mit humanoider Besatzung ebenfalls Standard war. Nur wirkte alles auf eine gewisse Art grobschlächtiger, primitiver. Der Verwesungsgestank schien auch hier allgegenwärtig zu sein; ein Blick auf die Indikatoren der Raumanzüge bestätigte es. »Die Technik hier ist relativ altmodisch«, gab Ure über Funk durch, während er sich den Konsolen näherte, »ähnlich der der Erde um das Jahr 2040. Man muß diese unbekannte Zivilisation bewundern, die Evakuierung ihrer Welt muß für sie eine unglaubliche Großtat ge‐ wesen sein. So primitiv diese Technik auch scheint, sie hat offen‐ sichtlich funktioniert. Es sind keine Schäden zu sehen. Oder, Derek?« »Keine«, bestätigte der Fähnrich. Seine Blicke glitten suchend durch den Raum, dann deutete er auf eine Konsole, die sich durch ihre Größe hervortat und entfernt an die Bedienungskonsole des Hauptrechners der ANZIO erinnerte. »Ich denke, es handelt sich um den Bordrechner des Schiffes.« Ure stimmte ihm zu. »Seid vorsichtig!« kam der Befehl von Vegas. »Sind wir, Sir. Hier drin gibt es keine Leichen, nur ein paar Kno‐ chen. Wir werden versuchen, die Kerndateien zu bergen.« Ures Finger in den sensorbestückten Handschuhen des foliendünnen
Raumanzuges berührten einige der Symbole auf den großen, flexib‐ len Tastaturen. Sie gaben dem Druck seiner Fingerspitzen nach, ohne daß jedoch eine sieht‐ oder hörbare Reaktion erfolgte. »Erwartest du wirklich, auf diese Weise etwas zu bewirken?« fragte Stormond von der anderen Seite der Zentrale und betrachtete die seltsam geformten Elemente, die in die Bedienoberfläche eines Pultes eingelassen waren. In diesem Moment stieß Ure einen überraschten Laut aus. »Vor‐ sicht! Gib acht!« rief er warnend. »He, was ist los mit dir?« Stormond drehte sich zu seinem Partner um und sah mit Erschrecken, wie sich hinter einer Konsole ein We‐ sen erhob, das wohl einmal menschenähnlich gewesen sein mußte. Jetzt machte es allerdings den Eindruck einer wandelnden Leiche. Die Kleidung war zerrissen, Haut hing in Fetzen von den Knochen. Das Gesicht war das eines Totenschädels mit triefenden Augenhöh‐ len. Aus der mit faulenden Zähnen bestückten Mundöffnung sab‐ berte es. Unartikulierte Laute drangen aus einer Kehle, die halb he‐ raushing. »Igitt!« Stormond schüttelte sich angeekelt. »Was hat dieser Zom‐ bie hier verloren?« Er wich einen Schritt zurück, als der lebende Leichnam auf ihn zuwankte und die Arme mit krallenartigen Fin‐ gern nach ihm ausstreckte. »Verschwinde!« rief er laut und mit an‐ gestrengt wirkender Miene. »Bleib mir bloß vom Leib!« Der Zombie reagierte auf keinerlei Signale. Urplötzlich und mit einer nicht erwarteten Kraftanstrengung sprang er auf den Fähnrich zu und schlug seine Zähne in dessen abwehrend vorgestreckten Arm. »Heiliges Kanonenrohr«, stieß Stormond hervor, griff mit der freien Hand nach dem Paralysator und badete den Zombie in einem satten Strahl. Eine Wirkung erzielte er nicht. »Hilf mir doch!« forderte er Ure auf, während er versuchte, den lebenden Leichnam abzuschütteln.
»Das haben wir gleich«, knurrte sein Partner, packte das Wesen an seinem halb verfaulten Arm, zog – und hielt ihn in der Hand. Er hatte sich mit einem widerlich schmatzenden Geräusch von dessen Körper gelöst. Mit einem angeekelten Laut schleuderte Ure den nutzlosen Arm auf den Boden. Stormond begann zu schreien; die Zähne des Zombies hielten noch immer seinen Arm gepackt, und er fürchtete um die Dichtigkeit seines Raumanzugs. Robert Ure riß am Kopf des Wesens. Die Zähne lösten sich von Stormonds Arm, und Ures Kraftanstrengung schien zuviel für den Zombie gewesen zu sein – der Flashpilot hielt den Knochenschädel plötzlich in den Händen, während der Körper zu einem raschelnden Haufen zusammensank. Ure stellten sich die Nackenhaare auf, als der Kopf in seinen Hän‐ den ständig versuchte, ihn zu beißen. Angewidert schleuderte er ihn zu Boden und beendete mit einem gezielten Blasterschuß den Spuk. »Puh!« stieß er hervor. »Eine vollkommen neue Erfahrung – der Kampf mit einem lebenden Toten. Sind wir hier in einem Horrorho‐ lo, oder was?« Stormond brummte nur mürrisch und untersuchte seinen Rau‐ manzug auf Schäden, doch der hatte die Attacken des lebenden Leichnams unbeschädigt überstanden. Allerdings waren jede Menge Spuren des Zombies daran. Die beiden untersuchten die Leiche mit ihren Analysegeräten und stellten eine hochgradige Verseuchung mit unbekannten Proteinen, vermutlich Viren, fest. Die Viren waren auch in der Raumluft des Schiffes zu finden, vor allem aber in hoher Konzentration an der Stelle des W‐Anzugs, an der Derek Stormond gebissen worden war. »Habt ihr das mitgekriegt?« funkte Ure die ANZIO an. »Natürlich haben wir euren Danse macabre verfolgt«, erwiderte Vegas. »Seid ihr in Ordnung?« »Vermutlich sind wir hochgradig verseucht«, vermutete Stormond, der sich wieder gefangen hatte. »Wir empfehlen deshalb eine voll‐
ständige Desinfektion des Flash und von uns beiden, Sir.« »Sie sollten auch Major McGraves und seine Infanteristen anwei‐ sen, ihre Kampfanzüge zu schließen und nur über den internen Sauerstoffkreislauf zu atmen«, schlug Ure vor. »Möglicherweise herrschen in den Städten die gleichen Zustände wie an Bord der Schiffe.« »Ist klar. Verstanden.« Der Flash 007 kehrte mit geöffneter Luke, um nicht die geringsten Luftmoleküle des Fremdraumers einzuschleppen, zur ANZIO zu‐ rück und flog durch ein offenes Tor in eine spezielle Desinfektions‐ schleuse, die für solche und ähnliche Dekontaminationsfälle an Bord existierte. Flash und Besatzung wurden speziellen desinfizierenden Strah‐ lenbädern ausgesetzt und abschließend auf 600 Grad erhitzt; der menschliche Körper wurde von den W‐Anzügen zuverlässig ge‐ schützt. Danach stellten empfindlichste Instrumente keinerlei Kon‐ tamination mehr fest. * Chester McGraves saß im Führerhaus neben dem Fahrer und hatte die Beine ausgestreckt. Das Sichtfunkgerät war eingeschaltet; die Phase zu den anderen Schwebefahrzeugen stand. Zehn gepanzerte und schwerbewaffnete Mannschaftsschweber, jeder einzelne ein schlagkräftiger Stoßtrupp mit enormer Feuerkraft. Der To‐Funk, die Nabelschnur zur ANZIO, war aktiviert und konnte jederzeit benutzt werden, sollte er die Un‐ terstützung des Flottenschulschiffes benötigen. Er hoffte, es würde nicht nötig werden. Der Major warf einen Blick auf den Schirm im Armaturenbrett, der einen Einblick in die Fahrgastzelle im hinteren Teil des Schwebers bot. Die Infanteristen saßen sich in zwei Fünferreihen gegenüber, zwischen ihnen der Gang, der von der Steuerkabine bis zur großen
Ausstiegsklappe im Heck verlief. Ein paar unterhielten sich, einige dösten vor sich hin, ein anderer überprüfte seine Ausrüstung. McGraves nickte zufrieden, dann hob er den Blick und sah durch die Frontscheibe auf die vorbeihuschende Landschaft. Planet Num‐ mer drei war eine Welt, wie er sie schon viele Male gesehen hatte. Abgesehen von wirklichen Extremwelten, glichen sich Sauerstoff‐ planeten meist wie ein Ei dem anderen. Höchstens mal ein wenig mehr Schwerkraft – oder auch weniger –, die Atmosphären diffe‐ rierten mitunter in der prozentualen Zusammensetzung der Edel‐ gase, aber sonst war nicht viel Unterschied. Na gut, die Bewohner konnten in der äußeren Erscheinung von der Terranorm abweichen, ebenso Fauna und Flora, aber im großen und ganzen unterschieden sie sich nicht sehr von anderen Sauerstoffwelten. Was würde seine Männer und ihn hier erwarten? Er war nicht sonderlich beunruhigt, eher neugierig. Neugierig auf das, was ihm dieser Planet zu bieten hatte. »Wie weit noch, Long?« »Zwanzig Kilometer, Sir«, sagte der Fahrer laut. Der Feldwebel steuerte den schweren Mannschaftsgleiter, als hätte er einen Sport‐ gleiter unter dem Hintern. Er folgte einer natürlichen Straße, einem ehemaligen Flußlauf, der im Augenblick kein Wasser führte und in gerader Linie auf die ferne Stadt zulief, deren Silhouette bereits den Horizont dominierte. »Gehen Sie ein paar Meter höher, Long.« Der Stabsfeldwebel reagierte ohne Nachfrage. Vielleicht wollte der Major ja möglichst viel von der Landschaft sehen. Er zog den Schweber rund zehn Meter höher. »Genügt das, Sir?« »Ja, ja«, murmelte McGraves und suchte den Himmel nach mög‐ lichen Luftfahrzeugen ab; er forschte vergebens. Nicht einmal ge‐ fiederte Vertreter der Fauna konnte er entdecken. Der Himmel war wie leergefegt. Das änderte sich auch nicht, als sie die Stadt erreichten und über
die Vororte ins Zentrum vorstießen. »Ich weiß nicht«, zeigte sich McGraves Fahrer enttäuscht, nachdem sie eine Weile den gut ausgebauten, wenn auch ungepflegten Stra‐ ßen gefolgt waren. »Die Stadt sieht aus wie jede x‐beliebige auf der Erde vor 2040, in der schon lange keine Stadtreinigung mehr an der Arbeit gewesen ist.« Der Major kam nicht umhin, seinem Untergebenen beizupflichten. Dennoch war es ein merkwürdiges Gefühl, über die Straßen einer Millionenstadt zu fahren, ohne auch nur einer Seele zu begegnen; nicht einmal Roboterfahrzeuge ließen sich sehen. Keine Geräusche störten die Stille des späten Nachmittags, außer dem Jammern und Seufzen des Windes, der um die hochaufragenden Pylone der Ge‐ bäude strich und in den Straßenschluchten Staub und Pflanzenreste vor sich hertrieb, zu Haufen sammelte und sie im nächsten Augen‐ blick wieder hochwirbelte und auseinanderriß. Auf einem großen Platz, in den sternförmig Straßen einmündeten, gab McGraves den Befehl zum Anhalten und Aussteigen. Die Teams verließen die Mannschaftsschweber und vertraten sich die Beine, während sie mit wachsamen Augen und schußbereiten Waffen die Häuserfronten absuchten. Es war Jeff Sey, McGraves’ Unteroffizier, der seine Nase in den Wind steckte und mit gerunzelter Stirn die Luft einsog. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte er mit seiner tiefen, schleppen‐ den Stimme, »aber hier stinkt es gewaltig. Riecht das außer mir denn niemand?« McGraves sah auf und begegnete dem Blick des Unteroffiziers mißtrauisch und gleichzeitig alarmiert. Sey breitete die Arme aus und sagte noch einmal mit allem Nachdruck: »Hier stinkt es wie in einer Leichenhalle, Sir!« In der Tat, genau das war es, was auch dem Major in die Nase stach: Über der ganzen Stadt hing ein süßlicher Leichengeruch. McGraves überlegte keine Sekunde, sondern reagierte auf die Si‐ tuation sofort. »Männer!« befahl er mit Stentorstimme, »Schließt
sofort die Helme und aktiviert die Filtermodule. Ich will keinen von euch ohne geschlossenes Visier sehen. Habt ihr das verstanden?« Die hundert Männer folgten der Aufforderung ihres Komman‐ deurs. »Haben die ihre Toten nicht begraben?« wunderte sich einer der Infanteristen. »Vielleicht«, murmelte ein anderer. »Man könnte es meinen«, mischte sich einer der anderen Zugfüh‐ rer ein. »Aber wir haben bislang noch keinen Toten entdeckt.« »Vielleicht haben wir nur nicht gründlich genug nachgesehen«, ließ sich Jeff Sey vernehmen. Er wandte sich an den Major. »Was meinen Sie, Sir?« »Ich meine, wir sollten das fruchtlose Gerede beenden. Die Stadt ist ausgestorben, davon können wir ausgehen. Was diesen Geruch be‐ trifft, kann er von allem möglichen stammen – nicht notwendiger‐ weise von Leichen, was ich offen gesagt völlig abwegig finde. Es gibt genügend Faulgase, die ähnlich oder gleich riechen. Vielleicht ist es die Kanalisation, die uns diesen Streich spielt.« Er hielt für einen Moment inne. »Aber um jeden Zweifel auszu‐ räumen machen wir folgendes: Wir bilden Zehnergruppen, die sich einzelne Komplexe in der Stadt vornehmen und diese nach Mög‐ lichkeit rasch, aber dennoch gründlich durchsuchen. Der Tel‐Raumer liegt auf der anderen Seite des Planeten, von daher soll‐ ten wir keine unliebsamen Überraschungen erleben. Außerdem wird uns die ANZIO rechtzeitig warnen, sollte sich dennoch etwas tun. Wir halten untereinander Kontakt und informieren uns gegenseitig über Entdeckungen, die von Interesse sind. Die Befehle der jeweili‐ gen Zugführer werden befolgt, als kämen sie von mir. Ist das ange‐ kommen, Männer?« »Verstanden, Sir!« drang es aus hundert Kehlen. »Und nun vorwärts!« Die zehn Gruppen schwärmten aus. Eine Weile waren sie noch zu sehen und zu hören, dann hatte sie die Stadt verschluckt; die jewei‐
ligen Mannschaftsschweber folgten langsam. Sie würden ihnen stets auf den Fersen bleiben, um einen schnellen Rückzug zu gewährleis‐ ten, falls der erforderlich sein sollte. McGraves nickte seinem Unteroffizier zu. »Vorwärts, Mister Sey«, sagte er und setzte sich an der Spitze seiner eigenen Gruppe in Be‐ wegung. * Hintereinander marschierten sie durch leere Straßen, überquerten Plätze, liefen über Brücken und Stege. Schauten in Häuser, die ihnen vielversprechend erschienen, und wurden jedesmal enttäuscht. Nichts und niemand hielt sich in den Etagen, den Zimmerfluchten und Hallen auf. Es gab keine Bilder, Skulpturen oder andere bildli‐ che Hinweise, die Rückschlüsse auf das Volk geben konnten, das diesen Planeten einst bevölkert hatte und dann von ihm geflohen sein mußte. Es war ein humanoides Volk gewesen, die Maße der Türen und Fenster, die Einrichtungsgegenstände und die Höhe der Stockwerke deuteten daraufhin, aber damit erschöpfte sich jede weitere Spekulation. Wieder waren sie auf der Straße. »Wie lange noch?« fragte Jeff Sey. McGraves warf einen Blick in die Runde und sah dann nach oben. Jenna’s Star befand sich auf dem absteigenden Ast seiner Bahn; sein schräg einfallendes Licht warf tiefe und lange Schatten durch die Straßenschluchten. »Nicht mehr lange«, antwortete der Major über die Helmfunkver‐ bindung. »Die Nacht werden wir auf keinen Fall innerhalb der Stadt verbringen.« »Tröstlicher Gedanke, Sir«, meinte der Unteroffizier und deutete auf die gewölbte Glashalle, an der sie gerade vorbeiliefen. »Sieht aus wie ein botanischer Garten, Sir«, brummte er. Das riesige Gebäude beherbergte einen künstlichen, lichten Re‐
genwalddschungel, in dem Blüten, Schmarotzerblumen in allen Größen und Farben und köpf große, orchideenähnliche Pflanzen an den Stämmen und sanft schaukelnden Lianen wucherten. Nur eines fehlte: das Geschrei und Gezeter gefiederter Bewohner. McGraves sah Sey von der Seite an. »Interessieren Sie sich für Bo‐ tanik?« »Wer?« »Sie!« »Ich? Nein«, Jeff Sey schüttelte den Kopf. »Na, sehen Sie«, meinte McGraves trocken. »Ich auch nicht.« Grinsend schulterte der Unteroffizier seine Waffe und paßte seine Schrittlänge der des Majors an. Der Funker des Teams kam von hinten angetrabt. »Sir!« rief er. »Die ANZIO hat uns gerade wissen lassen, daß wir unsere Helme geschlossen halten sollten. Sie haben eine Virenkon‐ tamination in einem der Scheibenraumer entdeckt und befürchten, daß diese auch in den Städten vorhanden sein könnte. Erkennbar sei die Luftverunreinigung an einem süßlichen Verwesungsgeruch.« »Informieren Sie die Führung des Schiffes, die Warnung käme zu spät. Wir hätten unsere Helme schon längst geschlossen, weil wir clevere Burschen sind.« »Im Wortlaut, Sir?« fragte der Funker und machte ein erwartungs‐ frohes Gesicht. »Genauso«, bedeutete ihm der Major und verstieg sich zu einem leichten Grinsen, das so gar nicht zu seiner sonstigen pessimistischen Miene paßte. »Jawohl, Sir.« Der Funker fiel wieder ins Glied zurück. Sie setzten ihren Marsch fort, gefolgt vom Mannschaftsschweber. Sie kreuzten einige Seitenstraßen, die nur von wild wachsenden Pflanzen bevölkert wurden. Wachsam beobachteten die Infanteristen die verwaiste Gegend. Nirgends ein Anzeichen für die Anwesenheit von wirklichem Leben
und Aktivität. Ihr Weg führte sie in einen großen Industriekomplex. Ein hoher Zaun aus durchbrochenen Metallelementen umgab das Areal. Ver‐ witterte Schilder mit unbekannten Schriftzeichen kündeten davon, daß der Eintritt wohl für Nichtbefugte untersagt wäre. Ein Tor war nicht mehr vorhanden, jeder der wollte, konnte ungehindert das Gelände betreten. Die Anordnung, die Form der Anlage, die Fertigungshallen und die Halden mit den Resten dessen, was hier verarbeitet worden war, ließ nur einen Schluß zu: Es mußte sich um ein stillgelegtes Stahl‐ werk handeln. »Das schauen wir uns noch an«, meinte McGraves. »Dann machen wir Schluß und ziehen uns zurück.« »Aye, Sir.« Nach allen Seiten sichernd drangen sie in den Komplex ein, liefen durch eine langgestreckte Halle, an deren Decke mehrere Gebilde hingen, die Ähnlichkeit mit Portalkränen hatten. An rostigen Ketten schaukelte ein Behälter, mit dem wohl einst flüssiges Metall trans‐ portiert worden war. »Ich glaube, auch das ist eine Sackgasse«, tat Jeff Sey seine Mei‐ nung kund. »Hier finden wir noch weniger Anhaltspunkte auf die ehemalige Bevölkerung.« Er blinzelte; für einen winzigen Moment glaubte er, eine hu‐ schende Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen zu haben. War da nicht ein Schatten gewesen? Er schien sich geirrt zu haben, denn als er sich ruckartig umdrehte, war nichts zu sehen. »Was ist mit Ihnen?« erreichte ihn die Stimme des Majors über Helmfunk, dem seine Reaktion aufgefallen war. »Nichts ist mit mir«, brummte der Unteroffizier mürrisch, »bis auf die Tatsache, daß ich schon Halluzinationen habe vor lauter Aus‐ schauhalten nach etwas, das definitiv nicht da ist.« Er entspannte sich etwas. »Wahrhaftig«, knurrte er, »ich hatte schon vor der Landung auf dieser Welt so meine Bedenken, daß
nicht alles nach Programm ablaufen würde.« Der Major warf ihm durch das Helmvisier einen skeptischen Blick zu, während sie sich wieder auf den Rückweg zum Ausgang mach‐ ten. »Bedenken? Welche Art von Bedenken?« »Eigentlich nur so eine Ahnung«, wiegelte Jeff Sey ab. »Wahr‐ scheinlich ein Erbteil meiner walisischen Großmutter. Sie soll dem Vernehmen nach das zweite Gesicht gehabt haben.« McGraves stieß einen undefinierbaren Laut aus. »Sie überraschen mich immer mehr, Mister Sey.« »Ich überrasche mich selbst wohl am meisten«, knurrte der Unte‐ roffizier und setzte zu einem Sprung über ein verbogenes Metall‐ stück an, das ihm im Weg lag. »Manchmal«, fuhr er fort, als er wie‐ der mit beiden Beinen auf den Boden stand, »glaube ich fast, ich habe selbst das zweite…« Er verstummte, als McGraves die Hand hob und »Still!« hervors‐ tieß. Der Major legte den Kopf schief, als lausche er auf etwas, das nur er über die Außenlautsprecher hören konnte. »Was ist?« Jeff Sey sah ihn fragend an. »Ich weiß nicht…« murmelte der Major zögernd. »Ich glaube, ich höre etwas…« Sey packte seine Waffe und zischte Befehle durch den Helmfunk. Das Team bildete einen Ring und sicherte nach allen Seiten. Dann hörten auch die anderen das Geräusch. Es war zunächst kaum lauter als eine schleifende Bewegung, mit der jemand seine Beine über den Boden zog. Dann wurde ein Grunzen und Schnalzen hörbar. Die Männer hoben die Paralysatoren. Augen blickten wachsam hinter den Visieren. Und dann standen sie sich gegenüber, und der Major und die In‐ fanteristen gewannen zum ersten Mal einen Eindruck von den Be‐ wohnern dieser Stadt.
Ungewöhnliche Bewohner. Eine Horde monströser Wesen quoll aus einem Seiteneingang hervor und stapfte, humpelte und hüpfte auf die Männer um Major McGraves zu. »Mein Gott!« tönte jemand überrascht im Helmfunk. »Das sind… das sind… Zombies!« Die Ursprungsform der Bewohner dieser Welt war nicht mehr feststellbar. Was immer sie einst dargestellt hatten, es war nichts mehr davon übrig. Etwas hatte sie verändert, grundlegend verändert. Und dieses Etwas hatte ganze Arbeit geleistet. Das Ergebnis waren Monstrositäten aus faulendem Fleisch, die si‐ cher diesen widerlich süßen Geruch verströmten, wenngleich die interne Luftversorgung der Kampfanzüge nichts davon in den ge‐ schlossenen Kreislauf dringen ließ. Sie hatten zwar noch humanoide Formen, gingen aufrecht auf zwei Beinen, hatten zwei Arme, doch die Hände waren zu Krallen verformt, auf den knochigen, von schwärenden Hautfetzen bedeckten Schultern saßen Totenköpfe mit verfilzten Resten von ehemaligem Haar oder ähnlichem Bewuchs. Augen rollten wild umher, aus verzerrten Mündern kamen unarti‐ kulierte Laute. Sie streckten die Arme aus und kamen torkelnd auf die Terraner zu, dabei waren sie sich im Weg, stürzten übereinander, rappelten sich wieder auf und hinkten und schlurften weiter. Immer mehr der Zombies tauchten auf, die wie seit Wochen ver‐ wesende Leichen aussahen. »Beim Himmel!« stöhnte jemand. »Wo kommen die denn alle so plötzlich her?« »Gibt sicher ein Nest von ihnen«, antwortete eine emotionslose Stimme, die Jeff Sey als die von Kellie Hobin identifizierte, einem vierschrötigen Burschen, dem man seinen exorbitanten Intelligenz‐ quotienten nicht ansah. Hobin fuhr fort: »Aber wenn die meinen, ich mache mir ihretwe‐
gen in die Hose, haben sie sich geschnitten.« Raumsoldaten waren von Hause aus nur schwer zu beeindrucken. »Wird Zeit, daß wir uns ein wenig Luft verschaffen«, verkündete Chekkers im Helmfunk und nickte seinen Partnern zu. Sie hoben die Paralysatoren. Feuerten – und fluchten voller Enttäuschung und wildem Grimm. Nichts war geschehen, die Zombies kamen unbeirrbar näher. Sie waren nicht übermäßig schnell, machten aber den Eindruck, sich durch nichts aufhalten zu lassen. Fluchend wichen die Männer zurück. Feuerten wieder. Erneut keine Reaktion bei den lebenden Toten. Paralysatoren waren so nutzlos wie nur irgend etwas. »Bockmist!« fluchte Kellie Hobin wie ein Dockarbeiter und starrte verärgert auf seinen Paralysator. »Das Mistding zeigt keine Wir‐ kung! Wie finde ich denn das?« Niemand von ihnen konnte wissen, daß weit entfernt von ihnen, draußen im Weltall, jemand die gleiche Erfahrung gemacht hatte. »Major!« brachte sich Unteroffizier Sey im Helmfunk zu Gehör. »Blastereinsatz?« »Wir ziehen uns zurück«, stellte der Major klar. »Kein Blasterein‐ satz.« Was Sey von dieser Entscheidung hielt, ließ er nicht nach außen dringen. Er setzte statt dessen den Befehl seines Kommandeurs in die Tat um. »Vorwärts, Männer«, trieb er die Leute an. »Ihr habt den Major gehört. Nehmt die Beine in die Hand. Hurtig, hurtig!« Sie rannten nach draußen, gefolgt von den Zombies, die aber lange nicht so schnell auf den Beinen waren wie die Infanteristen. Während sie rannten, gab der Major eine Warnung an alle seine Männer durch. Im Freien wartete die nächste Überraschung auf sie: Das ganze Areal bis zum Zaun war von Zombies besetzt, der Weg zum Schweber versperrt.
»Was jetzt?« fragte Jeff Sey, ganz Konzentration. Chester McGraves zögerte noch immer, tödliche Waffen einzuset‐ zen, solange er nicht wußte, was hier los war. Er tippte sich an den Helm und rief die Karte auf, die die kartog‐ raphische Station des Flottenschulschiffes über diese Stadt erstellte hatte. Der Nano‐Suprasensor spiegelte sie an die Innenseite seines Visiers. Durch die Nähe zu seinen Augen wirkte sie wie ein Fern‐ sehbild. Er brauchte nur Sekunden, dann hatte er einen Umweg gefunden, der seine Männer und ihn aus der Gefahrenzone bringen würde. »Ich hab’s!« rief er. »Folgt mir Männer!« Er lief los. Während des Laufens rief er den Piloten des Schwebers über Helmfunk. »Hören Sie zu, Long! Fliegen Sie nach Norden, bis Sie den großen sternförmigen Platz erreicht haben. Dort warten Sie auf uns. Informieren Sie die anderen Gruppen, sie sollen sich ebenfalls dort einfinden. McGraves Ende.« McGraves hatte nicht einmal im Laufen innegehalten. Sie kamen an Reihen von Fabriken und Fertigungshallen vorbei, ließen ein ehemaliges, jetzt inaktives Kraftwerk hinter sich und nä‐ herten sich wieder dem eigentlichen Stadtgebiet. Ihr Weg führte sie jetzt an einem Gelände entlang, das mit seinen durch halb verfallene Gitter gesicherten Gehegen stark an einen lee‐ ren Zoo erinnerte. Sie hetzten durch kniehohes Gras, das gegen ihre Beine schlug, vorbei an wucherndem Gebüsch und stark verfilztem Unterholz, als eine Buschgruppe etwa zehn Meter voraus aus unerfindlichen Gründen in wilde Bewegung geriet. Zweige peitschen, schlugen zur Seite und auf und ab und gebaren etwas Riesiges. McGraves, an der Spitze der Gruppe laufend, gefror das Blut in den Adern, als sich ihm ein löwenähnliches Wesen von Nashorn‐ größe auf sechs prankenartigen Beinen in den Weg stellte. Obwohl Teile von ihm schon halb in Verwesung übergangen
waren, strahlte es eine derartige Bedrohung aus, daß dem Major der Atem stockte. Mit weit aufgerissenem Rachen, in dem Zähne wie Dolche blitzten, stürzte sich der Tierzombie auf McGraves, der keine Ausweichbe‐ wegung zustande brachte und hilflos und entsetzt spürte, wie sich die riesigen Zähne durch den Kampfanzug in das Fleisch seines Armes bohrten… * Es war etwa um die gleiche Zeit, als Kommandant Roy Vegas in der Zentrale der ANZIO einen dunklen Reck an seinem Unterarm bemerkte, der einen leichten, aber seltsam drückenden Schmerz verursachte.
12. »Angenommen, Sie wären bereits auf Eins gelandet…« Ren Dhark drehte sich um und sah den beiden Leitwölfen der Schwarzen Garde in die Gesichter. »Angenommen, Ihren Männern wäre es auf irgen‐ deinem Weg gelungen, unbemerkt auf dem Roboterplaneten zu landen und unbemerkt von den Maschinen, sagen wir… drei oder vier Operationsbasen am Boden zu errichten…« Dhark breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern. »Sagen wir: vier Stütz‐ punkte á zehn bis zwanzig Mann, nur einmal angenommen…« Sein Zeigefinger stach nach Farnham und MacCormack. »Könnten Sie diese Stellungen halten?« MacCormack runzelte die breite Stirn und sah seinen Chef an. Farnham musterte Dhark erstaunt. »Diese Frage stellt sich nicht, Commander, denn wie gesagt: Ein zweites Mal lassen die Roboter uns nicht auf ihrem Planeten landen…« »Bitte, Generalmajor, vergessen Sie mal für ein paar Sekunden das Problem der Landung!« Ren Dhark trat vor den hageren Mann. Wie beschwörend hob er wieder beide Hände. »Ich sagte: Angenommen eine Landung wäre möglich, wäre sogar geglückt. Ich fragte: Könn‐ ten Einheiten der Schwarzen Garde in solch einem hypothetischen Fall ihre hypothetischen Stützpunkte halten? Ja oder nein?« »Hören Sie mal, Commander…« MacCormack schob seine Kinn‐ lade nach vorn. »Ich habe schon schmeichelhaftere Fragen gehört, ehrlich gesagt. Bringen Sie mir nur eine Kompanie auf die ver‐ dammte Maschinenwelt hinunter, und wir nehmen sie Ihnen ausei‐ nander.« Die Andeutung eines Lächelns flog über Dharks Miene. So unge‐ fähr hatte er sich die Antwort vorgestellt. Er zog die Brauen hoch und musterte Farnham aufs neue. »Sehen Sie das ähnlich wie der Oberst, Sir?« Der Chef der Schwarzen Garde strich sich über das graubraune
Stoppelhaar und überlegte zwei, drei Sekunden lang. »Ja, Com‐ mander. Das sehe ich ähnlich. Solange die Mordmaschinen uns nicht mit Nuklearbomben angreifen, halten wir jede Stellung. Sie kennen uns doch.« »Danke, meine Herren!« Dhark ballte die Rechte und schlug mit der Faust in die Handfläche. Er drehte sich nach den anderen um. »Wir werden auf Eins landen, wir werden uns die Salter im soge‐ nannten ›Heiligtum‹ sowie ihre Sarkophage genau ansehen! Und wenn irgend möglich, werden wir sie wecken und befreien.« Alle blickten ihn erwartungsvoll an – Amy, Eylers, Stranger, Buck und die Leute seiner Forschungsgruppe. Eylers sprach die Frage aus, die im Raum stand. »Wie wollen Sie das anstellen, Commander?« Zweifel stand dem Geheimdienstchef in die Miene geschrieben. »Sie wissen, wie kampfstark die Roboter sind – wollen Sie etwa eine Megaraumschlacht veranstalten, um ihre Feuerkraft zu binden?« »Nein, Bernd. Wir haben doch ganz andere Möglichkeiten. Wir müssen sie nur ausschöpfen.« Dhark wandte sich erneut an Farnham und MacCormack. »Bitte bereiten Sie alles für einen heißen Einsatz am Boden vor.« »Sie meinen am Boden von Eins, Sir, nehme ich an.« Christopher Farnham schien noch nicht hundertprozentig überzeugt. »So ist es, Generalmajor, am Boden von Eins. Um den Transport dort hinunter machen Sie sich keine Sorgen. Ich kümmere mich persönlich darum. Vertrauen Sie mir…« * Die Nacht war längst vorbei, doch es wollte nicht hell werden. Die Scheibenwischer und die Enteisungsanlage kämpften mit dem Frost und den Schneemassen. Kein Verkehrslärm wie sonst drang ins In‐ nere des Gleiters, keine Sirenen, kein Getöse von Ringraumertrieb‐ werken im Landeanflug oder beim Start.
Eine seltsame Stille lag über dem winterlichen Alamo Gordo. Dichtes Schneetreiben reflektierte die Lichtkegel der Frontschein‐ werfer. Alle zwei Minuten wechselte der Taxipilot den Beleuch‐ tungsmodus. Vergeblich. »Gottverdammtes Scheißwetter!« Der Mann schöpfte sein Repertoire an Flüchen voll aus. »Sollen sie in der Hölle braten, die unserer Sonne das antun!« Zwischendurch erin‐ nerte er sich wieder seiner Fahrgäste und blickte in den Rückspiegel. »Verzeihen Sie, Ma’am, aber ist doch wahr!« Amy wischte mit dem Mantelärmel über die beschlagene Scheibe. Auch die Klimaanlage geriet so langsam an ihre Grenzen. Das Schneetreiben außerhalb des Gleitertaxis war derart dicht, daß man kaum dreißig Meter weit sehen konnte. Der Blick reichte nicht ein‐ mal bis zu den Hochhausterrassen rechts und links des Taxigleiters und schon gar nicht hinunter bis zu den Straßen unter ihrem Fahr‐ zeug. Von Zeit zu Zeit glitten Lichtschimmer hinter dem Vorhang aus pflaumengroßen Schneeflocken vorbei. Vermutlich die Räumkom‐ mandos, von denen die Nachrichten seit dem frühen Morgen be‐ haupteten, sie wären auf einen Wintereinbruch wie diesen nicht vorbereitet, und sie seien schlicht überfordert. Die Schneemassen hatten Alamo Gordo gegen zwei Uhr morgens heimgesucht; die gesamte Südostküste hatten sie überfallen, ja, fast den gesamten Kontinent. Selbst jene Regierungsbezirke Nordame‐ rikas, für die Schneefall nichts Außergewöhnliches war, hatten den Ausnahmezustand verhängt. Amy blickte auf die Uhr. »Schon nach acht, wir sind spät dran.« »Wer ist nicht spät dran heute morgen?« Ren Dhark starrte in das Schneetreiben jenseits des Seitenfensters. »Wallis’ Container wird nicht ohne uns starten.« »Neun Grad unter Null«, meldete der Taxipilot. »Das muß man sich mal vorstellen, verdammich! Können Sie sich erinnern, daß wir in dieser Gegend je neun Grad unter Null hatten, Sir?« Das konnte Dhark nicht, und er schüttelte stumm den Kopf. Amy
griff nach seiner Hand. Sie haßte trübsinnige Morgen wie diesen und hätte gern etwas Witziges oder wenigstens Aufmunterndes zum Besten gegeben, doch ihr wollte nichts einfallen. »Dreimal so lang gebraucht, Mist, verdammter!« Der Taxipilot in der Steuersitzschale fluchte schon wieder. »Dreimal so lang wie sonst! Verdammter Mist! Aber jetzt sind wir da, endlich.« Er setzte den Gleiter in einer Haltebucht ab. Der große, milchige Fleck hinter dem Schneevorhang mußte wohl die Außenbeleuchtung des Transmitterbahnhofs sein. Der Taxipilot schaltete das Innenlicht ein und nannte den Fahrpreis. Dhark bezahlte mit Kreditkarte. »Und, Herrschaften?« Der Pilot drehte sich um und reichte Dhark den Beleg. »Wohin geht die Reise?« Er beäugte die eher schlichte Kleidung seiner Fahrgäste. »Lassen Sie mich raten: Andalusien?« Amy Stewart und Ren Dhark trugen beide die bei der Terranischen Flotte übliche helle Bordkombi; aller‐ dings unter für die Flotte untypischen Mänteln: Amy trug schwarzes Lammfell, Dhark einen schwarzen Wintertrenchcoat aus Goretex. »Oder nein, warten Sie – Saudi‐Arabien. Arbeitsessen auf dem Flot‐ tenstützpunkt am Roten Meer. Treffer?« Für Urlauber hielt er das Paar also nicht. »Nach Eden«, entfuhr es Amy. »Oha!« Der Mann machte große Augen. Vor allem den Comman‐ der beäugte er plötzlich mit unverhohlener Neugier. Bis jetzt hatte er ihn nicht erkannt; vermutlich wegen des tief in die Stirn gezogenen Pelzhutes. »Verdammt schwer, ein Visum zu bekommen, wie man hört, was?« »Das kann man so sagen.« Dhark betätigte die Türöffnung und stieg aus. »Leben Sie wohl, mein Freund.« »Hauen Sie endgültig ab?« rief der Taxipilot ihm nach, doch schon glitt die Luke wieder zu. Mit gesenkter Stimme wandte er sich an Amy. »Ich meine, für immer?« »Nein«, antwortete Amy. »Wir kommen wieder. Haben noch eine Menge zu tun hier. Viel Glück.«
»Noch eine Menge zu tun, ja?« Der Pilot schnitt eine gallige Miene. »Klar, haben ja auch noch eine Menge Zeit, was?« Er feixte und zwinkerte. »Wünsche Ihnen auch Glück, Ma’am. Kann man brauchen in diesen miesen Zeiten, verdammich noch einer!« Amy stieg aus, lief um den Gleiter herum und hakte sich bei Ren ein. Der Taxigleiter hob ab, nahm Fahrt auf und verschwand im Schneetreiben. Es war, als würde ein weißer, flirrender Sack ihn verschlucken. In kleinen Schritten balancierten sie über den erst kürzlich ge‐ räumten, aber glatten und längst wieder zugeschneiten Weg zur Eingangsfront der Station. Schnee knirschte unter ihren Sohlen, die eiskalte Luft schnitt in die Atemwege. Stimmengewirr drang aus dem Schneetreiben. Die Außenbe‐ leuchtung der Transmitterstation wurde mit jedem Schritt heller, nach und nach schälten sich die Umrisse vieler Rücken aus der wei‐ ßen Wand. »Mist«, zischte Amy. »Wo wollen all diese Menschen hin?« »Einfach nur weg, schätze ich.« Ren Dhark wischte sich den Schnee aus den Augen. Vor der Eingangsfront drängten sich Tausende von Menschen vor drei Dutzend Türen. Uniformierte versuchten, nur Leute mit gültigem Visum für Eden in die Transmitterhalle einzu‐ lassen. Doch die Sicherheitskräfte waren vollkommen überfordert: Immer wieder gelang es kleineren oder größeren Gruppen, durch die Absperrungen zu brechen und eine der Doppeltüren zu stürmen. Eine Zeitlang standen Amy und der Commander unschlüssig vor weißgeschneiten Rücken, Kapuzen und Hüten. Die Leute schimp‐ ften, fluchten jammerten oder weinten. Stimmengewirr lag in der Schneeluft, Satzfetzen flogen Amy und Dhark um die Ohren: »Wir kommen nicht mehr weg, o Gott, wir müssen hier erfrieren…!« »Die lassen nur durch, wer genügend Bares auf die Platte legt…« »Gott sei uns gnädig…!« »Wetten, nur Wissenschaftler und Politiker dürfen noch die
Transmitter benutzen?« und so weiter und so fort. Das Paar beobachtete einen Mann, der die Katastrophenstimmung nutzte, um Geschäfte zu machen. Er stand ein paar Schritte entfernt unter den Wartenden, fuchtelte mit Fotos und Papieren in einer Klarsichthülle und redete auf eine vierköpfige Familie ein. »Sie warten umsonst auf einen Transmitterplatz nach Eden, glauben Sie mir. Wallis, dieser Hai, hat die Visumpflicht eingeführt. Nach Eden kommen nur noch handverlesene Promis. Ich dagegen biete ihnen vier Plätze in einem meiner Schiffe an…« Eine Menschentraube bildete sich um den Mann. Einer bot dem angeblichen Reeder einen Wahnsinnspreis für einen Flug nach Eden, andere überboten ihn. »Meine Frachter fliegen zweimal täglich Terra – Eden und Eden – Babylon. Hier habe ich Fotos, wir können an Ort und Stelle einen Vertrag machen.« Wieder schwirrten Gebote durch die Schneeluft. Eine Frau wurde handgreiflich, weil sie nicht mi‐ thalten konnte. »Scheißkerl…« Amy versuchte noch ihren Gefährten festzuhalten, doch keine Chance: Ren Dhark riß sich los und stürmte auf den vorgeblichen Frachtreeder zu, schlug ihm die Papiere aus den Hän‐ den und packte ihn am Kragen. »Eine Schweinerei ist das, was Sie hier treiben!« Er schüttelte den Kerl. »Aus der Panik anderer Kapital schlagen, eine Schweinerei nenne ich das!« »Was fällt Ihnen ein!« brüllte der Angegriffene. »Wer sind denn Sie, daß Sie mir erzählen wollen, wen ich retten…?!« Er verstummte, seine Kinnlade fiel ihm herunter. »Das ist doch…!« Amy griff nach Dharks Ellenbogen. »Platz machen!« rief sie. »… ist das nicht der Commander der Planeten…?« »Platz für den Doktor!« Amy zog Ren Dhark hinter sich her. »Notfall in der Transmitterstation!« »Der ehemalige Commander der Planeten!« rief eine Frauenstim‐ me. »Machen Sie Platz für den Notarzt…!« Amy hatte ins Zweite Sys‐ tem geschaltet. Ohne ihren Gefährten lange um Erlaubnis zu bitten,
bahnte sie sich und ihm einen Weg durch die Menge. »Machen Sie Platz für den Notarzt…!« Die meisten Menschen wichen mit der gleichen stoischen Gelas‐ senheit zur Seite, mit der sie seit Stunden auf das Wunder des Ein‐ lasses warteten. Einige jedoch durchschauten Amys Trick und stell‐ ten sich ihr in den Weg. Doch nicht lange – wen Amys Handballen oder Ellenbogen traf, der taumelte erschrocken oder stöhnend vor Schmerz zur Seite. Innerhalb weniger Minuten erreichte das Paar die Absperrung vor einer der Türen. Dort fuchtelten durchgefrorene Reise willige mit den Fäusten, beschimpften die Regierung im allgemeinen und die Sicherheitsmänner im besonderen. Lautstark verlangten sie, die Tü‐ ren in die Transmitterhalle zu öffnen. »Machen Sie Platz für den Doktor!« rief Amy. »Platz da, machen Sie schon! Es geht um Leben und Tod!« »Und wir stehen hier nur so zum Spaß, oder wie?« Ein Mann in schwarzem Leder baute sich vor Amy auf. »Für uns geht es nur um einen Krümel Scheiße, was, Herzchen?« Der Bursche trug drei Goldkreolen in jedem Ohr, eine Art antiken Stahlhelm auf dem Quadratschädel, und er war zum Fürchten bullig und groß. »Bring mir nur eine Nase aus der Menge hier, der es nicht um Leben und Tod geht, Süße, eine einzige, und ich laß dich ans‐ tandslos vorbei.« Um ihn herum lachten Männer und Frauen in ähnlich exotischem Aufzug. »Nun mach schon, Herzchen, einen einzigen, und du darfst uns voran durch die Absperrung gehen, wenn du kannst!« »Au ja, Zuckerchen, sei unsere Jeanne d’Arc!« schrie ein anderer. Brüllendes Gelächter erhob sich. Der Commander wollte sich an Amy vorbeidrängen, um dem Burschen auf die Füße zu treten, doch sie hielt ihn fest. »Nehmen Sie es nicht persönlich, Mister«, fauchte sie den Ledermann an. »Aber der Doc und ich, wir müssen jetzt weiter, und wenn Sie uns nicht durchlassen, muß ich Ihnen wehtun.«
Der Ausspruch war wieder ein voller Lacherfolg. Mochten die Männer und Frauen um den Lederhünen auch ein wenig seltsam wirken, mochten sie auch durchgefroren, wütend, vielleicht sogar verzweifelt sein – ihren Humor hatten sie noch nicht eingebüßt. Ihr Rädelsführer fletschte die Zähne, schob den rostigen Stahlhelm in den Nacken, griente nach links und rechts und zog etwas aus dem Ledermantel, das sich, als er es auseinandergezogen hatte, als Te‐ leskopstahlrute entpuppte. »Na dann viel Glück, Herzchen.« Amy zögerte nicht lange. Sie ließ Dhark los und tat einen Schritt auf den Burschen zu. Der hob sein Schlaginstrument, doch ehe er einmal geblinzelt hatte, hielt Amy es in der Faust und schlug ihm damit auf die Hüfte. Nicht besonders heftig, aber doch so spürbar, daß er zusammenzuckte, einen Schritt zurückwich und der amü‐ sierte Zug aus seinem Gesicht fiel. Um ihn und seine Gang herum wurde es auf einmal ziemlich leise. Amy zerbrach die Stahlrute in vier Stücke und warf sie hinter sich. »Sie haben gelegentlich vom Cyborg‐Programm der Flotte gehört, Sir?« »Scheißdreck…« Der Mann schluckte und versuchte ein Lächeln. »War ein Mißverständnis irgendwie, Ma’am, nichts für ungut…« Er gab den Weg frei. »Nach Ihnen, wenn’s recht ist.« Amy und Ren Dhark gingen an ihm vorbei zur Absperrung. »Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, lade ich Sie nächste Woche in eine Strandbar auf Eden ein, Ma’am. Zur Wiedergutmachung…« Einer der Uniformierten erkannte den Commander sofort. Er öff‐ nete die Absperrung, griff nach Dharks Mantelärmel und zog den Commander zur Tür. »Endlich, Doc!« rief er. Er hatte den Disput mitgehört und begriff, was hier gespielt wurde. »Wahrscheinlich ein Herzinfarkt! Kommen Sie, ich bringe Sie zu dem Patienten…!« Ein kluger Mann, er machte seine Sache gut. Doch kaum hatte er das prominente Paar in die weitläufige Transmitterhalle gelotst und seinen Vorgesetzten über Vipho informiert, da durchbrachen drau‐ ßen zwei Dutzend Männer und Frauen die Absperrung. Angeführt
von dem bulligen Ledermann stürmten sie die Halle und rannten die Sicherheitskräfte nieder; auch den Uniformierten, der Amy und Dhark hereingelotst hatte. Von allen Seiten tauchten plötzlich Männer und Frauen des Si‐ cherheitsdienstes auf. Amy und Dhark flüchteten aus dem Ein‐ gangsbereich. Die Uniformierten setzten Paraschocker ein, und die erste Welle der hereindrängenden Menge ging mit Muskelkrämpfen und lahmen Gliedern zu Boden. Unter ihnen auch der Mann, dem Amy die Stahlrute verschrottet hatte. Sein alter Stahlhelm rollte ihr vor die Füße. Die Nachdrängenden gaben rasch auf. Nur wenigen gelang es, zwischen den vielen Menschen in der Transmitterhalle unterzutau‐ chen. Die meisten traten den Rückweg in den Schnee an, einige wurden in Handschellen abgeführt, andere auf Tragen zu den Liften transportiert. Amy hob den Stahlhelm auf. Sie beobachtete, wie Sanitäter den angriffslustigen Ledertypen kaum drei Schritte entfernt vorbeitru‐ gen. Er blutete aus der Nase, sein rechter Arm und sein rechtes Bein zuckten, seine Augen tränten. Sie ging zu ihm und legte das anti‐ quarische Stück auf seine breite Brust. »Tut mir echt leid, Junge.« Keine Spur von Angriffslust strahlte er noch aus, nichts Großmäuli‐ ges, nicht die Spur von Stärke. Ein Häuflein Elend war er jetzt, weiter nichts. Plötzlich packte Amy das Erbarmen mit all den verängstigten Menschen. Zurück hakte sie sich bei Dhark unter. Mit verhärteter Miene beo‐ bachtete der Commander das Treiben der Sicherheitskräfte. Kaum jemand sonst hatte Notiz von der Rangelei genommen. An zu vielen Stellen der gewaltigen Transmitterhalle war der Teufel los. Amy zog ihren Geliebten zur Mitte der Halle. Dort irgendwo wußte sie den Schalter für Sonderpassagiere. »Himmel, was soll aus uns werden?« murmelte Dhark hinter ihr. Sein Gesicht war bleich und kantig. Amy kannte und liebte den Commander lange genug, um die Ausdruckslosigkeit seiner Züge
deuten zu können: Er war geschockt. Sicher: Beide wußten, daß rund um den Globus der Ausnahmezu‐ stand herrschte. Beide hatten die Auswirkungen der zerbrechenden Ordnung ja schon am eigenen Leib zu spüren bekommen, und bei‐ den war vollkommen klar, daß ohne energisches und notfalls hartes Durchgreifen des Staates alle Dämme zugleich brechen würden. Dennoch: Die Verzweiflung der Menschen und ihre Angst noch einmal aus allernächster Nähe zu erleben, ging ihnen mächtig unter die Haut. Tausende von Reisewilligen strömten scheinbar orientierungslos durch den Transmitterbahnhof. Die einen kamen von der An‐ kunftshalle und drängten zum Ausgang, wo sich an zwei Türen schon große Menschentrauben gebildet hatten. Andere wanderten von den Wartebereichen zu den Sicherheitsabsperrungen vor den eigentlichen Einstiegszonen, wo ebenfalls unsagbares Gedränge herrschte. Wieder andere hetzten zu den Wartebereichen oder den Bistros und Restaurants. Es war offensichtlich, daß die Sicherheits‐ kräfte die Menschenmassen nicht mehr bewältigen konnten. »Der Herr kommt wie ein Dieb in der Nacht!« sprach plötzlich eine schwarzgewandete Lady Dhark und Amy an. »Nur noch eine kleine Zeit, und es wird geschieden werden zwischen Schafen und Böcken! Bist du denn bereit, dem Herrn zu begegnen, meine Tochter?« Die Frau streckte ihnen ein Traktat entgegen, auf dessen Umschlag eine Art Engel zu sehen war, eine verklärt lächelnde Gestalt mit Heili‐ genschein. »Bist du bereit, mein Sohn?« Amy schob sie zur Seite, über den Köpfen der Tausendschaften hatte sie ihr Ziel entdeckt. Seite an Seite arbeiteten sie sich durch die Menge. Ein kleingewachsener Mann stieß Dhark wie zufällig mit dem Ellenbogen an. »Haben Sie Interesse?« Er zog kurz seine Rechte aus der Manteltasche und ließ das Paar ein stramm zusammengerolltes Banknotenbündel sehen. »Das sind dreißig Tausender«, raunte er. »Für zwei Karten nach
Eden gehören sie Ihnen.« »Tut mir leid, wir haben keine Karten für Eden«, sagte Ren Dhark. »Davon abgesehen würden sie Ihnen nichts nützen, denn soviel wir gehört haben, braucht man seit neustem für einen Transmitter‐ durchgang nach Eden ein Visum.« »Das habe ich.« Der Mann ging auf die Zehenspitzen und beugte sich verschwörerisch an Dharks Ohr. »Zwei Visa für drei Monate Eden«, flüsterte er. »Zwölftausend Dollar pro Visum.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf einen Stand, hinter dem ein älteres Paar und ein Halbwüchsiger Sandwiches verkauften, dann huschte er weiter und verschwand in der Menge. Dhark und Amy drängten sich weiter durch die Menge zu den Schaltern. Dort hatten sich lange Warteschlangen gebildet. »Wieso Visum?« schrie eine junge Frau. »Seit wann braucht man als terrani‐ scher Bürger ein Visum für Eden?« »Hier«, rief ein Mann, »ich zahle den dreifachen Preis. Geben Sie mir eine Karte, ich flehe Sie an…!« »Endlich, Commander!« Ein Uniformierter sprach Dhark von der Seite an, ein Hauptmann der Sicherheitspolizei namens Peters, wie sein Namensschild und seine Schulterstücke verrieten. »Man hat mich zwar über Ihre Ankunft unterrichtet, aber ich konnte Sie nir‐ gends finden in dem Gedränge…« Er winkte das Paar hinter sich her. »Folgen Sie mir bitte.« Hinter Peters umgingen sie die Menschenschlangen. Einige Leute, die ohne Visum versucht hatten, eine Karte für den Sprung nach Eden zu kaufen, weigerten sich, den vorderen Platz am Schalter zu räumen. Sie wollten die Visumpflicht nicht akzeptieren. An einer Warteschlange kam es deswegen zu einem Handgemenge, Sicher‐ heitsmänner mußten eingreifen. Ein Mann schlug mit einem Regenschirm auf die Mitarbeiterin hinter dem Schalter ein. Eine Frau häufte weinend Dollarnote auf Dollarnote auf den Tresen, packte sogar noch ihren Schmuck auf das Geld – sie erntete weiter nichts als Kopfschütteln und Gesten des
Bedauerns. Ein Familienvater zog eine Schußwaffe und drückte den Lauf an seine Schläfe. Er drohte sich zu töten, wenn man ihn und seine große Familie nicht nach Eden lassen wollte. Es kam zu einem Tumult. Amys Lippen verwandelten sich in einen schmalen, blutleeren Strich. Dhark ballte die Fäuste, ein Kloß schwoll in seinem Hals. »Schnell, Commander«, drängte Peters. »Das geht hier noch höchstens zehn Minuten gut, dann müssen wir sämtliche Transmitter abschalten und die Halle räumen lassen.« »Hören Sie, Hauptmann«, sagte Ren Dhark. »Drüben an dem Sandwichstand werden Visa für Eden an flüssige Kunden ver‐ kauft…« »Ist das wahr?« Peters machte eine erschrockene Miene. »Gott im Himmel, wohin soll das alles noch führen? Ich kümmere mich darum, Commander.« Am Drehkreuz des Sicherheitsbereiches vor der Transmitterhalle zückte Peters eine Dienstmarke. Die Uniformierten dort nahmen Haltung an, Dhark, Stewart und der Hauptmann passierten. »Wenn es in einem derart großen und überfüllten Bahnhof zu einer Massenpanik kommt, dann gute Nacht.« Peters wirkte atemlos. »Die Vorkehrungen zur Räumung laufen auf Hochtouren, ich habe Truppen der Flotte zur Verstärkung angefordert…« Ren Dhark fragte lieber nicht, wie Peters es anstellen wollte, Zehntausende von Menschen vor dem Eingang nach Hause zu schicken, um anschließend Tausende von Menschen aus dem Bahnhof in den Schnee schicken zu können. Im Abflugbereich wartete Wallis’ persönlicher Transmittercontai‐ ner auf sie. Ein wahres Kleinod: Die äußerlich so schlichte Kabine wies in ihrem Inneren alle nur denkbaren Annehmlichkeiten auf, das wußte Dhark von früheren Reisen nach Eden. Sie betraten das Luxusgefährt. Eine ovale Tafel mit zwölf Sesseln
beherrschte den etwa dreißig Quadratmeter großen Raum, mahago‐ nigerahmtes, schwarzes Leder. An zwei Plätzen war für ein Frühs‐ tück eingedeckt – silberne Kerzenleuchter, Kaffeetassen und Teller aus Feinporzellan, Silberbesteck, kristallene Sektkelche, Wasserka‐ raffen und Obstschälchen, Eierbecher aus dunkelblauem, goldbe‐ maltem Kobalt, sowie ein silberner Champagnerkühler voller Eis und mit einer Rasche Dom Perignon. »Eine gute Reise, Miß Stewart.« Peters verabschiedete sich hastig. Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Eine gute und erfolgreiche Reise, Commander Dhark!« Er drehte sich um und eilte im Laufschritt aus dem Transmitter. Eine erfolgreiche Reise? Ren Dhark runzelte die Stirn. War Peters eingeweiht? Die Einstiegsluke schloß sich. Eine Stewardeß in dunkelrotem Ki‐ mono stieß die Flügel einer Schwungtür zum Servicebereich auf und eilte zu ihnen, eine schöne Frau mit asiatischen Zügen und Alabas‐ terhaut. »Herzlich willkommen an Bord des persönlichen Transmit‐ tercontainers von Mr. Wallis.« Sie entzündete die Kerzen auf dem Leuchter. »Nehmen Sie bitte Platz und fühlen Sie sich wie zu Hau‐ se.« Sie wies auf die beiden Sitze vor den Frühstücksgedecken. Amy und der Commander sanken in die Ledersessel. »Tee oder Kaffee?« Amy bestellte schwarzen Kaffee, Dhark Cafe au lait. Die Stewardeß eilte zurück in den Servicebereich. »Wir springen in siebzig Sekunden«, vermeldete eine unaufdring‐ liche Frauenstimme aus unsichtbaren Schallgeneratoren. Amy und Dhark betrachteten das prachtvolle Gedeck. Beide dachten an die Menschen draußen in der Transmitterhalle. Die schöne Stewardeß trug Kaffee, Obstsäfte, gebratene Eier, ge‐ räucherten Lachs, exotische Früchte und vieles mehr auf. Amy be‐ neidete sie um ihre reine Haut. Die Frau, eine Inkarnation der Freundlichkeit, öffnete schließlich den Champagner, schenkte ein, wünschte guten Appetit und eilte zurück in den Servicebereich. »Noch dreißig Sekunden bis zum ersten Sprung«, meldete die
unaufdringliche Stimme. Amy und Dhark hockten reglos in ihren Sesseln. Beide waren blaß, vor allem der Commander, beide plagte ein trockener Mund, und beide starrten auf die Platte mit den dampfenden Eiern. »Keinen Appetit?« Dhark schüttelte stumm den Kopf. Er stützte das Kinn auf die Faust und sah ganz aus wie ein Mann, der ins Grübeln geraten war. »Ich auch nicht.« Amy griff nach den Champagnerflöten. »Sehr verehrte Fluggäste«, tönte es aus verborgenen Schallfeldern. »Soeben haben wir den ers‐ ten Sprung vollzogen. Wir befinden uns nun auf der Reise zum pa‐ radiesischen Planeten Eden…« Ren Dhark runzelte die Brauen, nahm seiner Geliebten aber den‐ noch den Champagner ab. »Um die Zeit schon? Ich weiß nicht…« »Aber ich weiß. Wir beide brauchen das jetzt.« Sie hob das Glas. »Auf unsere gemeinsame Zukunft.« »Auf die Zukunft der Erde.« Sie stießen an. Amy trank, Ren Dhark nippte und stellte das Glas gleich wieder weg. Über die Obstschalen hinweg und durch die Kerzenleuchter hindurch starrte er in eine Ferne, in der es nichts Erheiterndes zu sehen geben konnte, denn seine Miene verfinsterte sich zusehends. Amy glaubte zu wissen, was er sah. Genau wie sie sah er einen Lederhünen mit verkrampften Gliedern und feuchten Augen auf der Trage liegen, sah weinende und schimpfende Menschen vor und in der Transmitterhalle, sah eine Frau ihr Vermögen und ihren Schmuck auf dem Schalter häufen, sah einen Familienvater sich die Waffe an die Schläfe drücken. Und genau wie sie fühlte er sich fehl am Platz in diesem Luxusgefährt. »Hör mir zu, Ren.« Sie griff nach seiner Hand. »Ohne dich gäbe es weder den Transmitterbahnhof von Alamo Gordo noch die armen Leute vor und in seiner Halle. Ohne dich gäbe es weder Eden noch diesen Schnickschnack hier.« Mit abfälliger Geste wies sie auf das Nobelfrühstück und das Edelmobiliar. »Ohne dich gäbe es keine Flotte und keine Cyborgs. Ohne dich hätte die Menschheit als auto‐
nomes Staatswesen längst aufgehört zu existieren.« Er zog die Brauen hoch und sah sie erstaunt an. »Und was tust du heute hier?« »Sag es mir, mein Herz.« »Einmal mehr bist du unterwegs, um das Überleben der Mensch‐ heit zu sichern. Also iß und trink. Laß dir diesen Luxus gefallen. Er steht dir zu, es sollte normal für dich sein, ihn zu genießen. Vielleicht wird es sich sogar als lebensnotwendig erweisen.« Sie griff nach der Platte mit Rührei und füllte ihm den Teller… * Auf den Uhren an Amys und Dharks Handgelenken waren acht‐ undfünfzig Minuten vergangen, als die unaufdringliche Frauen‐ stimme sich wieder meldete. »Letzter Transmitterdurchgang in neunzig Sekunden«, verkündete sie. Amy und Dhark leerten ihre Kaffeetassen und Champagnerflöten, Wallis’ schöne Stewardeß erkundigte sich nach etwaigen weiteren Wünschen, und da ihre Gäste wunschlos glücklich zu sein vorgaben, verabschiedete sie sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Dann öffnete sich auch schon die Tür des Edelcontainers. Amy und Ren Dhark verließen das Luxusgefährt, durchquerten die Sicherheitszone und traten in die Ankunftshalle von Eden. Ein wenig erschraken sie beide, denn es war erstaunlich ruhig in den weiten Innengefilden des mit reichlich Grün konzipierten Gebäudes. Sicher gab es auch hier viele Menschen, keine Tausende allerdings, sondern nur wenige Hundert. Und weder Panik noch Todesangst hetzte sie von Schalter zu Schalter, vielmehr bewegten sie sich wie Spazier‐ gänger zwischen den Palmen im Eingangsbereich, den Ziersträu‐ chern im Warteareal und den Blumenhainen und Springbrunnen vor den Schaltern der Reiseagenturen. »Träumst du denselben Traum wie ich?« fragte Ren Dhark. »Deiner entspannten Miene nach zu urteilen muß es zumindest ein ganz ähnlicher sein. Genau kann ich es aber erst wissen, wenn du
mir deinen Traum erzählt hast.« »Ich träume von Palmen, Blumen, Brunnen und zufriedenen Menschen.« Dhark legte den Kopf in den Nacken und sah zur transparenten Kuppeldecke hinauf, wo das große Zentralgestirn Edens aus einem wolkenlosen Zenit strahlte. »Und von blauem Himmel und Sonnenschein.« »Dann träumst du das gleiche wie ich.« Sie faßte seine Hand. »Laß uns den Traum genießen, okay?« Ein unscheinbarer Mann mit weißem Haar und in hellblauem Sommeranzug winkte und kam ihnen entgegen. Fortrose, der wich‐ tigste Jurist von Wallis Industries. »Kein schlechtes Zeichen, daß er ausgerechnet ihn geschickt hat«, murmelte Dhark. »Wenn es dir hilft, es so zu deuten?« Amy zweifelte. »Wenn du mich fragst, hätte er den Alten auch geschickt, wenn die Ablehnung deiner Bitte längst beschlossene Sache wäre. Das bist du ihm einfach wert.« »Warten wir’s ab.« Fortrose begrüßte sie mit Handschlag, Amy zuerst. »Willkommen auf Eden, Miß Stewart, willkommen, Commander.« Noch immer saß sein laues Lächeln perfekt, und noch immer sah man ihm seine dreiundsiebzig Jahre nicht an. »Kommen Sie, erfrischen wir uns zu‐ nächst ein wenig.« Sein Schlips war dunkelblau, und unzählige in den Stoff eingesprenkelte goldene Sternchen funkelten in ihm. Man konnte gar nicht anders als hinsehen. Der weißhaarige Advokat berührte Amy am Ellenbogen und zeigte auf die lange Cocktailbar im gläsernen Stationsfoyer. »Mr. Wallis läßt Sie herzlich grüßen. Leider kann er sich erst in zwei oder drei Stunden freimachen. In den Werken fällt zur Zeit eine Menge un‐ vorhersehbare Arbeit an. Ich hoffe doch, es ist ein angenehmer An‐ laß, der Sie nach Eden und in Mr. Wallis’ Haus führt?« Ren Dhark antwortete nicht, und Fortrose plauderte routiniert drauflos, während er seine Gäste zur Bar führte. Dort bestellte er sich ein alkoholfreies Bier. Amy nahm Gemüsesaft, Dhark einen Espresso
und Wasser. Der Anwalt erzählte von einem zwei Tonnen schweren Fisch, der den Tiefseefischern am Äquator von Eden in die Netze gegangen war. Gewisse Pferderennen im Londoner Umland, zu denen er Jahr für Jahr nach Terra reiste, schilderte er mit vielen Worten. Angeblich hatte ihm die Wette auf einen Außenseiter in diesem Jahr einen satten Gewinn gebracht. Auch über einen Phar‐ mazeuten, der von Hope aus den Markt auf Eden mit einem Präparat gegen Asthma aufmischte, wußte Fortrose allerhand zu berichten. Es handelte sich wohl um ein seit Jahrhunderten bekanntes und ver‐ gessenes Extrakt aus der Wurzel einer afrikanischen Geranie. Die sterbende Sonne Sol hingegen erwähnte er mit keinem Wort. Den Islamistenaufstand auf Terra ebenfalls nicht. »Sie können sich denken, daß Mr. Wallis sich sehr geehrt fühlt, ei‐ nen Mann Ihres Formats zu empfangen, Commander Dhark«, sagte er beiläufig, nachdem er die Rechnung beglichen hatte. »Vermutlich haben Sie einen konkreten Anlaß für Ihren Besuch?« Sein zweiter Anlauf. Er zog die buschigen weißen Brauen hoch, während er vom Barhocker rutschte. »Sicher doch.« Ren Dhark spürte die brennende Neugier hinter dem gleichmütigen Tonfall des Anwalts. Möglicherweise hatte Fortrose den Auftrag, ihn auszuhorchen und seinem Chef ein paar Hinweise zu übermitteln, damit der sich auf das Gespräch mit dem Raumfahrer vorbereiten konnte. Dhark aber beließ es bei seinem Sicher doch. Fortrose schien seine Frage vergessen zu haben und Dharks ver‐ weigerte Antwort zu überhören, jedenfalls wechselte er elegant das Thema. »Unsere neuen Carborit‐Raumer und die Multikarabiner haben Ihnen viel Freude gemacht, wie ich hörte?« An der Seite des Anwalts strebten sie der Ausgangsfront entgegen. »Wunderbare Geräte, Mr. Fortrose«, bestätigte Ren Dhark, und er meinte es ernst. »Noch hilfreicher jedoch scheint mir der neue Sprungpeiler zu sein, den die Gruppe Saam entwickelt hat. Ich den‐ ke, er wird uns unschätzbare Hilfe im Kampf gegen die Roboter
leisten.« »Davon bin ich überzeugt, Commander Dhark.« Durch eine Allee aus mannshohen Blumen und an einheimischen Palmen vorbei, die hinauf bis zu der an dieser Stelle zwanzig Meter hohen Kuppeldecke reichten, durchquerten sie den Eingangsbereich und verließen den Transmitterbahnhof von Eden. Die Luft war warm, es duftete nach Meer, die Palmenwipfel in den Grünanlagen rund um die Transmitterstation schaukelten in einer leichten Brise. Nahe des Haupteingangs, in einer für Wallis Industries reservierten Parkbucht, wartete ein metallicgrüner Gleiter. Er erinnerte Ren Dhark von weitem an einen in die Horizontale gekippten und zu einem Ellipsoiden geplätteten Kegel. »Ein Schweber der neuesten Baureihe«, sagte Fortrose nicht ohne Stolz. »Er bringt Sie per Autopilot an jeden gewünschten Punkt auf Eden, wenn sie dem Bordrechner die Koordinaten verraten oder wenigstens den Namen des Ortes nennen können.« »Und wohin fliegen wir?« wollte Dhark wissen. »Mr. Wallis will Sie auf seinem Landsitz treffen«, sagte Fortrose. »Ich werde Sie selbstverständlich dorthin begleiten.« Die rechte Bugtür hob sich aus der Karosserie, ein blonder Mann stieg aus, höchstens zwanzig Jahre alt. Er trug einen blütenweißen Anzug mit roten Tressen und Säumen sowie mit goldenen Knöpfen. »Wer ist das?« Amy runzelte die Stirn. »Unser Chauffeur.« Amy und Dhark warfen sich halb befremdete, halb amüsierte Bli‐ cke zu, sagten aber nichts. Der blonde Jüngling öffnete ihnen die Hecktür. Sie stiegen ein und versanken in schwarzen Lederpolstern. Der Gleiter roch, als wäre er direkt aus der Produktionshalle zur Transmitterstation eingeschwebt. Der Chauffeur stieg in den mittle‐ ren der drei Vordersessel, und der Gleiter hob ab. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, könnte die Maschine uns vollautomatisch zu Mr. Wallis’ Landhaus bringen«, sagte Amy. »Sie haben mich vollkommen richtig verstanden, Miß Stewart.«
»Aha. Wozu dann aber der Chauffeur?« Fortrose lächelte sein wohltemperiertes, weltmännisches Lächeln. »Nun, Miß Stewart, das ist ganz einfach: Wir haben diesen Schweber für eine exklusive Kundengruppe mit überdurchschnittlich viel Kleingeld entwickelt, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ein Zweitfahrzeug für die Gattin des Multimilliardärs, verstehe. Doch was hat das mit dem Chauffeur zu tun?« »An ein Zweitfahrzeug dachten wir eigentlich weniger, Miß Ste‐ wart.« Fortrose räusperte sich. Sein Lächeln kühlte ein wenig ab. »Allerdings gehen wir davon aus, daß die Käufer dieses Schweber‐ typs einen gewissen Luxus gewohnt sind, insofern haben Sie nicht ganz unrecht. Und zu diesem gewissen Luxus gehört nun einmal ein Chauffeur, der einem die Tür öffnet und dann auf einem exponierten Platz in der ersten Reihe sitzt, ganz so, als würde er das Fahrzeug persönlich steuern. Das bestärkt den Besitzer in der Überzeugung, nicht irgend jemand zu sein. Darüber hinaus flößt es Vertrauen ein, finden Sie nicht?« »Hm…« Amy musterte das Rückenteil des weißen Chauffeuran‐ zugs und die schmalen Schultern dessen, der darin steckte. »Sie meinen, eine hübsche Illusion gehört mit zum Konzept dieses Glei‐ tertypen?« »Wenn Sie es so nennen wollen, Miß Stewart. Aber einmal Hand aufs Herz – wer von uns kommt denn so ganz ohne Illusionen aus?« Amy wiegte nachdenklich den Kopf, sagte aber nichts. Ren Dhark stieß ein heiseres Lachen aus. Wie lange war es her, daß er Menschen gesehen hatte, die ihr gesamtes Vermögen für eine Transmitterpas‐ sage nach Eden geben wollten? Eine Stunde? Zwei Stunden? Das verzweifelte Gesicht des Familienvaters, der sich die Waffe an die Schläfe drückte, blitzte vor seinem inneren Auge auf. Würde die Welt sich denn nie ändern? Unterschied sich das Zeitalter des Tofi‐ rits und der intergalaktischen Raumfahrt denn nur durch seine Staatsordnung und sein technisches Know‐how vom Mittelalter oder vom Neandertal?
Luxus und Elend, Freude und Leid, der reiche Mann und der arme Lazarus – seit Geschichte aufgezeichnet wurde, lag das eine so nahe beim anderen, als wäre beides untrennbar miteinander verbunden. Am westlichen Horizont zeichnete sich der Küstenstreifen ab. Das Meer rückte näher, warme Luft flimmerte über einem herrlich tiefen Blau. Ein Anblick, der dem normalen Edentouristen augenblicklich das Herz geweitet und ihn in Urlaubsstimmung versetzt hätte. Nicht so Ren Dhark – schwere Gedanken hielten ihn am Boden der allzu dunklen Wirklichkeit fest. »Was geht Ihnen durch den Kopf, Commander Dhark?« Fortrose wies zum blauen Horizont und auf die sattgrünen Palmenwälder unter ihnen. »Angesichts dieses unvergleichlichen Panoramas bin ich ehrlich gesagt entspanntere Gesichter gewohnt.« »Eine herrliche Landschaft, alles was recht ist.« Ren Dhark zwang sich zu einem Lächeln. »Mir fiel nur gerade eine alte Geschichte ein. Sie handelt von einem reichen Mann, der sein Leben in Freude und Luxus verbrachte, und von einem armen Mann namens Lazarus, der auf der Straße vor dem Haus des Reichen und von seinen Küchen‐ abfällen lebte.« »Ein Gleichnis des Nazareners!« rief Fortrose. »Ich kenne es von General Jackson. Der zitiert ja dauernd aus der Heiligen Schrift. Wenn ich mich recht erinnere, sterben die beiden, und während La‐ zarus im Schoße Abrahams schwelgt, brät der Reiche in der Hölle, und sein sehnlichster Wunsch ist es, daß man ihm den guten Lazarus schicke, damit der ihm die trockenen Lippen mit ein bißchen Wasser kühle…« »Was ihm glatt verwehrt wird.« Jetzt erinnerte sich auch Amy. »Richtig.« Wallis’ Advokat verzog das Gesicht. »Reichlich erbar‐ mungslose Geschichte! Es sollten einem vergnüglichere Texte durch den Sinn gehen, wenn man über ein Paradies wie dieses fliegt. Wie kommen Sie nur auf solch trübe Gedanken, Commander?« Dhark zuckte mit den Schultern. »Fiel mir einfach so ein.« Entlang der Küste flog der Schweber ein Stück nach Süden und bog
dann ins Landesinnere ein. Wallis’ Landhaus lag weit vom Meer entfernt in den Bergen. Dhark hing seinen Gedanken nach. Ehe man es wahrhaben wollte, war das glorreiche Terra in die Rolle des armen Lazarus’ gerutscht. Und lag es denn, bildlich gesprochen, nicht fast buchstäblich vor der Tür – vor der Transmitterstation – eines unge‐ wöhnlich reichen Mannes? Ren Dhark wünschte sehnlichst, der Reiche des Zeitalters des Tofirits und der intergalaktischen Raum‐ fahrt würde sich klüger verhalten als jener in der uralten Geschichte. Der hatte sich zu spät an seine selbstverständliche Pflicht erinnert.
13. »Herzlich willkommen auf dem Landsitz von Terence Wallis, Mr. Dhark. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Ist es nicht ein wunder‐ voller Tag?« Zu viert traten sie an, zwei links der Hecktür, zwei rechts der Hecktür. Amy stieg aus, und ehe Ren Dhark überhaupt Gelegenheit bekam, auf die Begrüßung zu reagieren, war seine Gefährtin an der Reihe. »Herzlich willkommen auf dem Landsitz von Terence Wallis, Miß Stewart! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Ist es nicht ein wundervoller Tag, Ma’am?« Amy schnitt eine genervte Miene, Ren Dhark war entsetzt. Während die Roboter den Advokaten begrüßungstechnisch aufs Korn nahmen, fiel Dhark der silberhaarige Mann auf der Vortreppe der Villa auf. Er hatte ihn nie zuvor auf Wallis’ Anwesen gesehen. »Wie nett, Sie wieder einmal auf dem Landsitz von Mr. Wallis be‐ grüßen zu dürfen, Mr. Fortrose, ist es nicht ein wundervoller Tag…?« schnarrte der Wortführer der Roboter, und der Mann auf der obersten Stufe der Vortreppe stand reglos und wartete mit auf dem Rücken verschränkten Armen. »Ja, ein wundervoller Tag, es geht mir gut, die Reise war ange‐ nehm, und nun laßt uns in Ruhe, wenn ich bitten darf!« Fortrose machte eine abwehrende Handbewegung. »Wie Sie wünschen, Mr. Fortrose.« Die vier humanoiden Roboter drehten ab und marschierten vor ihnen her über den Quarzsandweg hinweg zur Vortreppe des großen Landhauses. Der Mann auf der Vortreppe rührte sich noch immer nicht. Den Kopf erhoben und das Kinn leicht nach vorn geschoben, wartete er. Er trug einen schwarzen Frack, eine schwarze Hose mit scharfen Bügelfalten, eine schwarze Weste über schneeweißem Rüschenhemd und dazu eine schwarze Fliege. »Ich bin nicht zum ersten Mal hier«, sagte Ren Dhark. Der Quarz‐
sand knirschte unter ihren Sohlen. »Ich erinnere mich an elegante Empfangsdamen und attraktive Privatsekretärinnen, an schöne Si‐ cherheitsamazonen und hübsche Hausmädchen, und ich erinnere mich gut und gern an sie. Was ist geschehen, daß sie diesen phanta‐ sielosen Robotern weichen mußten?« »Sie sprechen mir aus der Seele. Es ist ein Jammer.« Fortrose seufzte. »Ein wirklicher Stilbruch.« Amy und Dhark warfen sich verstohlene Blicke zu. So geradeheraus kannten sie den Anwalt gar nicht. »Aber warten Sie ab, es kommt noch schlimmer.« Nicht einmal mit dem Kopf, sondern nur mit einer blitzschnellen Bewegung der Augäpfel deutete Fortrose auf den reglos wartenden Mann über den Stufen der Vortreppe. »Ich fürchte, die Veränderungen gehen auf Miß Sheridans Konto.« »Sheridan?« Ren Dhark erinnerte sich an die neue Begleiterin des mächtigen Wallis, eine Fernsehjournalistin. Wo hatte er sie gleich gemeinsam gesehen? Auf Cent Field, anläßlich einer Präsentation der neusten Entwicklungen von Wallis Industries, richtig. »Heather Sheridan, die Journalistin dieses Holokanal‐Magazins? Wie heißt es gleich…?« »Dynamite. Miß Sheridan begann hier ein‐ und auszugehen, und all die netten Damen machten Robotern und Schlimmerem Platz.« Fortrose schob sich näher an den Commander und senkte die Stim‐ me. »Ich fürchte, er ist ihr verfallen.« Ren Dhark und Amy Stewart runzelten die Stirn. Das klang ein wenig dick aufgetragen, zu dick, als daß sie es einfach so schlucken wollten. Beide glaubten den Chef von Wallis Industries und unum‐ schränkten Herrn über Eden ein wenig zu kennen. Terence Wallis war kein Asket, wahrhaftig nicht, und schon deswegen schien ihnen die Vorstellung absurd, er könnte jemals einer einzelnen Frau »ver‐ fallen«. Sie erreichten die Vortreppe. Jetzt endlich kam Bewegung in den Frackträger – er stieg zu ihnen hinunter, deutete eine Verneigung an und sagte: »Miß Stewart, Mr. Dhark, nehme ich an?« Der schlanke,
braungebrannte Endfünfziger trug wahrhaftig weiße Handschuhe. »So ist es, Frederic. Miß Stewart und Commander Dhark bleiben über Nacht. Bitte sorge dafür, daß die Suite im Südflügel für sie hergerichtet wird.« Der Butler bestätigte mit einem knappen Nicken. Sein Silberhaar war akkurat gescheitelt und zu stabilen Wellen moduliert. Wie ein kunstvoller Helm saß ihm die Frisur auf dem schmalen Kopf. An einer roten Halskordel hing eine Lesebrille auf seiner Brust. »Und wo wünschen Sie den Aperitif zu nehmen, Sir?« Er sprach ein perfektes Oxford‐Englisch. »Auf der Gartenterrasse. Wir werden dort auf Mr. Wallis warten.« »Sehr wohl, Mr. Fortrose.« Keinerlei Mienenspiel begleitete die Worte des Butlers. Es war, als trüge der Mann eine Maske. »Bitte folgen Sie mir.« Frederic drehte sich um. In würdevoller Haltung und mit gemes‐ senen Schritten und Bewegungen seiner Arme stelzte er vor ihnen die Treppe hinauf und ins Haus hinein. Er zog eine intensive Duft‐ wolke hinter sich her – Meerwasser und frische Äpfel. Ren Dhark rümpfte die Nase, er schätze derartige Belästigungen nicht beson‐ ders. Amy hingegen fand den Geruch sehr angenehm und nahm sich vor, den Butler nach dem Namen des Parfüms zu fragen. Es war nicht ganz einfach, Geschenke für Dhark auszusuchen, und so war sie dankbar für jede Anregung. Wallis’ neuer Butler schritt dem schweren Portal entgegen. Es war aus gelblichem Edelholz, und die mit kunstvollen Schnitzereien ver‐ zierten Flügeltüren öffneten sich automatisch. Sie folgten Frederic in ein weitläufiges Foyer. Zwei hohe Spiegel an der gegenüberliegen‐ den Natursteinwand flankierten eine Flügeltür, eine Sitzgruppe aus rostfarbenem Wildleder säumte den Kamin. Die Garderobe, ein Sekretär, ein Klavier und die Geländer der sich zu beiden Seiten ins Obergeschoß schwingenden Treppen waren aus Mahagoni. Die ganz eigene Atmosphäre des Raumes umfing sie, während sie das Foyer durchschritten. Rechts und links hingen große Porträts
über den Treppenaufgängen, eine schöne Frau um die vierzig in einem roten Abendkleid und ein weißhaariger Mann in einer Gala‐ uniform der Flotte. »Mr. Wallis’ Eltern«, sagte Fortrose, der Amys neugierigen Blick bemerkte. Die Bilder machten den Eindruck, als hätten sie schon einige Jahr‐ zehnte auf dem Buckel. Dhark vermutete, daß Wallis’ Eltern schon lange verstorben waren. Jedenfalls hatte er nie etwas von der alten Mrs. Wallis und von Wallis senior gehört. Hatte Terence Wallis ihm gegenüber eigentlich je von ihnen gesprochen? Nein. Erst jetzt fiel es dem Commander auf. Die Flügeltür zwischen den Spiegeln öffnete Frederic per Hand. Er stellte sich mit dem Rücken an den rechten Flügel, mit einer knappen Kopfbewegung und einer äußerst sparsamen Geste bedeutete er den Gästen näherzutreten. An dem britischen Butler vorbei gingen sie in den Salon. Amy und Dhark sahen sich um, Amy erstaunt, Dhark gleichmütig. Der Commander hatte Wallis bereits in seinem neuen Landsitz auf Eden besucht. Das Haus war weit prachtvoller gestaltet als seine sogenannte »Blockhütte« auf Terra in den Rocky Mountains. Der Salon bot eine Art Vorgeschmack für das, was den Besucher in den Suiten und Zimmern des Südflügels oder gar in den Bädern erwar‐ tete: von Hartholzbalken durchzogene Natursteinmauern, ein schwerer, grauer Teppich auf Terrakotta, rostrote Wildlederpols‐ termöbel in Kirschholzrahmen, eine kleine Bühne, auf der eine Harfe und ein tiefroter Flügel standen, und eine lange Theke vor einer verspiegelten Barschrankwand. Alles in feinst gebeiztem Edelholz. Durch eine offene Tür zwischen zwei Bücherregalen sah man auf einen Billardtisch in einem kleineren, in Grün gehaltenen Raum. »Kein Mensch hält es mal wieder für nötig, mir die Uhrzeit für das Mittagessen bekanntzugeben«, knarzte eine rauchige Stimme aus dem Foyer. Sie fuhren herum. Eine wuchtige Frauengestalt stand vor dem linken Treppenaufgang: schwarze, glänzende Haut, eine weiße Schürze über buntem, wie durch einen Petticoat aufgebauschtem
Kleid, eine buschige Krone aus schwarzen Rastazöpfchen, die rechte Pranke auf dem Geländer, die linke hinter dem Rücken. »Und wenn ich dann nicht pünktlich servieren lasse, ist das Gemeckere groß!« Sie musterte Dhark und Amy aus schwarzen, hellwachen Augen und ließ sich zu einem Nicken herab. »Also wann?« »Sie werden zu gegebener Zeit über den exakten Termin in Kenn‐ tnis gesetzt werden, Mrs. Tomahawk.« Frederics Stimme klirrte vor Kälte. »Domarac! Wie oft soll ich dir das noch sagen, du arroganter Eng‐ länder?« Hinter dem breiten Rücken der schwarzen Lady stieg Rauch auf. »Ich will wissen, wann das Essen auf den Tisch kommt, und ich will es jetzt wissen, verdammt! Schließlich koche ich keinen lausigen Eintopf, den man in fünf Minuten aufwärmen kann…!« »Mäßigen Sie sich, Mrs. Domarac, bitte.« Fortrose schlug einen beschwichtigenden Ton an. »Mr. Wallis hat eine Menge Arbeit in den Werken, das wissen Sie doch. Sobald sein Fahrzeug von der Ortung erfaßt wird, läßt Frederic in der Küche Bescheid geben!« »Aber spätestens! Danach brauche ich nämlich noch vierzig Mi‐ nuten!« Sie rauschte die Treppe hinauf. Für einen Augenblick sahen Amy und Dhark die Zigarre in ihrer Linken. »Vierzig Minuten! So‐ lange müßt ihr dann auf euer Futter warten, und dafür könnt ihr euch bei der chaotischen Organisation dieses englischen Frack‐ schnösels bedanken!« Ohne Eile schritt Frederic zur Tür. »Wenn Sie mit den flexiblen Zeitstrukturen dieses Hauses überfordert sind, sollten Sie sich eine weniger anspruchsvolle Tätigkeit suchen, Mrs. Tomahawk!« rief er zur Treppe hinauf. Die zufallenden Türflügel dämpften die Flüche der dicken Köchin. »Verzeihen Sie.« Frederic wandte sich an Fortrose und das Paar von Terra. »Es ist schwer, heutzutage noch Personal zu finden, das wirklich allen Ansprüchen eines distinguierten Haushaltes genügt.« Sprach’s, schritt an ihnen vorbei zur Glasfront und schob die Türen zur Terrasse auseinander.
»Ist Wallis seit neuestem ein wenig masochistisch drauf?« grinste Amy. »Er ist ja nicht oft hier.« Fortrose lächelte tapfer. »Aber ihre ironi‐ sche Andeutung trifft durchaus den Nagel auf den Kopf. Nur kocht die neue Küchenchefin exzellent, leider. Französische und kreolische Küche.« Gemeinsam traten sie auf die Terrasse. Auch hier Naturstein. Vier Stufen führten in einen unübersichtli‐ chen Park, hinter dem sich die atemberaubende Kulisse der Berge emportürmte. Amys Augen wanderten über Büsche, Wasserspiele und Blumenbeete. »Sie suchen etwas, Miß Stewart?« »Ich dachte, Mr. Wallis’ kleiner Sohn, spielt vielleicht im Garten. Die ganze Zeit freue ich mich schon darauf, das Kind endlich ken‐ nenzulernen.« Dhark zuckte mit der linken Braue. Amys Interesse an Kindern überraschte ihn und beunruhigte ihn zugleich. »Nun, der Junge ist nicht hier.« Fortrose räusperte sich. »Wenn sein Vater arbeitet, verbringt er den Tag meistens in der Kinderbe‐ treuungsstätte des Stammwerkes.« »Wie schade…« * Amy trank Champagner mit Brombeerlikör, der Advokat alkohol‐ freies Bier und Ren Dhark Espresso und Wasser. Lange warteten sie nicht – vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch fünfzig Minuten. A. B. C. D. E. Fortrose erwies sich einmal mehr als kurzweiliger Er‐ zähler, und während er Anekdoten aus der Zusammenarbeit mit Wallis zum besten gab, verging die Zeit im Flug. Irgendwann meldete sich Frederic über Visaphon und kündigte die baldige Landung des Hausherrn an. »Die Ortungsstation meldet den Anflug von Mr. Wallis’ Privatgleiter«, sagte Fortrose, während er sein Armbandvipho deaktivierte.
Keine vier Minuten später ging ein großer, silberfarbener Gleiter auf dem Dach des Landhauses nieder. Und wiederum vier Minuten später trat Terence Wallis aus dem Salon auf die Terrasse heraus. »Willkommen, Ren! Schön, Sie mal wieder privat empfangen zu können.« Die Männer begrüßten einander mit Handschlag. »Freut mich, daß Sie mitgekommen sind, Amy.« Wallis beugte sich über ihre ausgestreckte Hand und hauchte einen Kuß auf ihren Handrü‐ cken. »Ich hoffe, Sie mußten nicht allzulange warten.« »Keineswegs«, lächelte Amy. »Außerdem hatten wir charmante Gesellschaft.« »Charmant?« Wallis musterte seinen weißhaarigen Advokaten amüsiert. »Dann gibt es für mich also noch Eigenschaften an Mr. Fortrose zu entdecken? Ich bin gespannt!« Sie lachten, Fortrose rang sich ein säuerliches Grinsen ab. Terence Wallis setzte sich zu ihnen. Er trug einen dunkelblauen Seidenanzug mit feinen Silbernadelstreifen, dazu ein orangefarbenes Hemd mit nachtblauer Fliege und eine gestreifte Weste, deren Far‐ ben zwischen rot, orange und gelb changierten. Sein nicht mehr ganz volles, seit neuestem aber wieder hundertprozentig dunkelblondes Haar hatte er mit einem roten Haargummi zu einem Zopf zusam‐ mengebunden. »Wo bleibt denn Ihr Sohn, Mr. Wallis?« Über seine Schulter hinweg blickte Amy wie suchend in den Salon. »Mein Sohn? Oh!« Wallis machte eine Geste des Bedauerns. »Er wollte unbedingt im werkseigenen Kinderhort übernachten.« »Wie schade, ich hätte ihn so gern einmal kennengelernt.« »Tja, ich wäre stolz gewesen, Ihnen den Racker endlich einmal vorstellen zu können, doch leider ist mein Junior ziemlich eigensin‐ nig – oder soll ich sagen glücklicherweise? Jedenfalls gibt es zwei Freunde im Kinderhort, die ebenfalls dort übernachten und die momentan unverzichtbar für ihn sind. Dazu kommt noch die her‐ vorragende Kinderpflegerin von Wallis Industries. Terence junior liebt sie, und gegen ihre Konkurrenz habe ich kaum eine Chance…«
Im Kinderhort also, aha, bei Freunden, bei der tollen Kinderpfle‐ gerin – Ren Dhark fand das alles ein wenig merkwürdig. War der Junge nicht erst drei oder vier Jahre alt? Ganz sicher war er nicht. Dafür wußte er genau, daß er den Wallis‐Sprößling noch nie zu Ge‐ sicht bekommen hatte. Manchmal kam es ihm vor, als redete man über ein Phantom. Aber gut, was ging es ihn an, wie andere Leute ihren Nachwuchs bei Laune hielten? Frederic servierte seinem Chef einen leichten schottischen Whisky, und nach ein paar Takten Konversation tat der Großindustrielle, was Fortrose seit zwei Stunden vermieden hatte: Er sprach die Lage auf Terra an. »Die POINT OF‐Stiftung hat mich informiert, daß es drunter und drüber geht auf der Erde. Die Aufstände der Islamisten haben an‐ geblich schon mehrere tausend Opfer gefordert.« Er schüttelte den Kopf. »Schrecklich. Sie haben Schiffe gekapert, wie man hört. Sogar Ihre POINT OF sollen sie für kurze Zeit in der Gewalt gehabt ha‐ ben.« »So wahr ich hier sitze.« Ren Dhark nickte. »Zum Glück gelang es uns in letzter Sekunde, das Problem in den Griff zu bekommen. Muhsa und seine Bande werden auf Terra jedenfalls keinen Schaden mehr anrichten.« »Nicht zu fassen…« Jetzt, in diesem Augenblick, begann die heiße Phase seiner Missi‐ on. »Und das ist erst der Anfang, Terence«, fuhr Dhark fort. »Es ist schwer, sich die Zustände bei uns vorzustellen, wenn man sie nicht selbst gesehen und erlebt hat. Was glauben Sie, was im Transmit‐ terbahnhof von Alamo Gordo los ist, seit Sie die Visumpflicht für Eden eingeführt haben?« Dhark schilderte ihm, was er und Amy am Morgen erlebt hatten. Alles, jede Einzelheit: den Schnee, die Kälte, die Belagerung der Eingänge, die kompromißlose Härte der Sicherheitsmänner, die Schwarzhändler, die Visumfälscher, die Verzweifelten an den Kar‐
tenschaltern. Es gehörte zu seiner Strategie, dem mächtigen und unfaßbar reichen Mann ein möglichst drastisches Bild von dem zu vermitteln, was auf Terra vor sich ging. Dazu mußte er nicht einmal übertreiben; leider nicht. Scheinbar entspannt saß Wallis in seinem Sessel, nippte an seinem Whisky und hörte zu. Sein Gesicht kam Amy kantiger und eine Spur bleicher vor als eben noch während der Begrüßung. »Ich neige weiß Gott nicht dazu, die Dinge durch eine schwarze Brille zu sehen, Terence«, schloß der Commander. »Wäre es anders, würde ich heute auf Deluge Lokalpolitik machen oder die Judo‐ amateure von Cattan trainieren, und keiner von uns würde mit dem Namen Eden einen Planeten in M53 verbinden. Die Lage auf Terra ist genauso aussichtslos, wie ich sie geschildert habe.« Eine Zeitlang schwiegen sie. Wallis betrachtete die hellgoldene Flüssigkeit in seinem Glas. Amy und Dhark ließen ihre Blicke über die Blumenbeete vor der Terrasse schweifen, Fortrose lockerte seinen Krawattenknoten und beobachtete seinen Mandanten. »Meine Informanten berichteten mir, die Lage hätte sich wieder entspannt«, sagte Wallis irgendwann. »Strangers geschickte Be‐ richterstattung über die Arbeit des Volkstribuns Ren Dhark, seiner POINT OF und der Schwarzen Garde hätten entscheidend dazu beigetragen.« Täuschte Dhark sich, oder hörte er da einen ironischen Unterton? »Stranger…« Der Commander stieß ein spöttisches Lachen aus. »Schon möglich, aber es ist die Ruhe vor dem Sturm, glauben Sie mir, Terence. Wir sitzen auf einem Pulverfaß, wie man früher sagte. Ein einziger noch so winziger Funke, und es explodiert.« »Mich wundert, daß Sie gar nichts von Ihrer Geiselhaft erzählen, Ren«, sagte Wallis. »Die Islamisten hatten Ihre Exekution angeblich schon beschlossen.« Er wandte sich an Amy. »Nach allem, was man hört und liest, müßten Sie beide tot sein. Ich kann kaum glauben, Sie hier sitzen zu sehen, Miß Stewart. Ihre Verletzungen sollen lebens‐ gefährlich gewesen sein.«
»Überlassen wir es den Medien, diesen kalten Kaffee zum hun‐ dertsten Mal aufzukochen«, murmelte Ren Dhark. »Es gibt Dinge, von denen man nicht gern spricht, Terence, gerade Sie sollten das wissen.« »Wenn Sie Wert darauf legen, erzähle ich Ihnen ein wenig davon«, sagte Amy. »Ich bitte darum, Miß Stewart.« Mit knappen Worten schilderte Amy ihre und ihres Gefährten Entführung und Gefangenschaft sowie den Kampf, bei dem der Is‐ lamistenführer ihr seinen Dolch ins Herz gestoßen hatte. Fortrose spitzte die Ohren. Er hatte noch nie einen Cyborg persön‐ lich über seine Kampferfahrungen im Phantmodus berichten hören. Sein halbgares Lächeln war ihm aus den Mundwinkeln gerutscht, etwas seltsam Starres lag in seinem Blick. Hatte er am Ende noch gar nicht gewußt, daß Ren Dharks attraktive Begleiterin ein Cyborg war? Vor der Schwelle zum Salon stand Frederic. Lautlos war er he‐ rausgekommen. In seiner Miene zeigte sich keine Spur von Ver‐ wunderung oder gar Erstaunen, doch sein ernster, würdevoller Blick hing an Amys Lippen, und Dhark war sicher, daß ihm keines ihrer Worte entging. »… verflucht dunkle Stunden waren das«, schloß Amy. »Das können Sie uns glauben, Mr. Wallis. Und daß ich lebe und gesund bin, muß ich erst noch begreifen. Schließlich schwimmt man nicht allzu oft über den Hades, und noch seltener macht man kurz vor dem jenseitigen Ufer kehrt, um zurückzukehren zu den Lebenden.« In die anschließende Stille hinein räusperte sich der englische But‐ ler. Wallis wandte sich nach ihm um. »Das Essen ist angerichtet, Sir.« Frederic deutete eine Verneigung an. »Wenn ich bitten darf.« »Sie dürfen, Frederic.« Wallis stand auf. »Danke.« Er schlug dem Butler gönnerhaft auf die Schulter, bevor er an ihm vorbei in den Salon trat. Frederics Kinnlade zuckte kaum merklich nach vorn, und seine rechte Braue wölbte sich ein wenig. Sonst ließ er mit keinem
Mienenspiel, keiner Geste, geschweige denn einem Laut erkennen, wie wenig derart kumpelhaftes Verhalten ihm behagte. Sie durchquerten den Salon und das Foyer. Das großzügige Eß‐ zimmer lag im Südflügel, die Tür stand offen, humanoide Roboter warteten an der Tafel. »Es ist angerichtet, verehrte Gäste«, schnarrte der Chef des maschinellen Services. »Bitte nehmen Sie Platz, wir wünschen einen vorzüglichen Appetit.« Es duftete köstlich in dem saalartigen Raum. Die Roboter wiesen jedem einen bestimmten Platz an und sonderten dabei aufs neue die Phrase ihrer Nummer eins ab: »Es ist angerichtet, verehrte Gäste, bitte nehmen Sie Platz«, und so weiter. Ren Dhark fand sich neben Fortrose und gegenüber von Wallis wieder. Zur Rechten des Milliardärs saß Amy. Frederic ging irgendwo hinter dem Commander in Wartestellung. Dhark spürte seinen Blick im Nacken und roch sein Parfüm. Während die Roboter auftrugen und nicht aufhören wollten oder konnten, »einen vorzüglichen Appetit« zu wünschen, blickte der Commander sich um. Im Speisezimmer hatte Wallis auf Naturstein und Fachwerkwände verzichtet. Alles war hier mit edlem Mahagoni getäfelt, sogar die Decke. Von ihr hing ein Kronleuchter auf die Tafel herab, Mittelsäule und Arme aus Bronze, Teller und Kerzenfassun‐ gen aus weißem Porzellan. Ein Roboter servierte ihm eine dampfende Suppe. Sie roch nach Fisch. Muschel‐ und Krebsfleisch schwamm zwischen Zwiebelringen in der sämigen Brühe. »Lassen Sie es sich schmecken!« Wallis lä‐ chelte und griff nach seinem Löffel. Die Suppe war feurig scharf, aber lecker. »Karibische Fischsuppe mit Meeresfrüchten aus unseren einheimischen Gewässern. Ich hoffe, sie schmeckt Ihnen.« Ren und Amy bestätigten, Fortrose jedoch schwieg. Schwer zu sagen, ob er mit der Vorspeise oder mit Amys Schilderung zu kämpfen hatte. »Es geht doch nichts über eine gute Suppe, was meinen Sie…?« Als hätte das Gespräch auf der Terrasse nie stattgefunden, war Wallis wieder in seinen Plauderton verfallen. Die bedrückenden Probleme
seiner Gäste schienen so weit von ihm entfernt zu sein wie Eden von Terra. »Josephine mag menschlich ein wenig gewöhnungsbedürftig sein, aber dafür ist sie die brillanteste Köchin, die ich je hatte.« Hinter sich hörte Dhark ein deutliches Räuspern. »Sie versteht sich vor al‐ lem auf kreolische und französische Kochkunst.« »Josephine?« Amy zog fragend die Brauen hoch. »Mrs. Domarac«, erklärte Fortrose. »Oh, Sie hatten schon das Vergnügen, wie ich merke.« Wallis grinste irgendwie schadenfroh. »Nun, lassen Sie sich von ihrem ruppigen Auftreten nicht beeindrucken – Josephine ist eine Künstle‐ rin. Erst Zunge und Gaumen enthüllen die wahren Fähigkeiten die‐ ser Frau.« »Wie poetisch!« Amy spielte mal wieder ihren Charme aus. »Und was genau versteht man unter kreolischer Küche?« Damit traf sie eines von Wallis’ Lieblingsthemen – nicht ganz unkalkuliert natür‐ lich –, und ihr Gastgeber verbreitete sich wortreich über pikant ge‐ würzte Früchte, scharfe Soßen, Fischgerichte, Maismehltaschen und Kombinationen aus Gewürzen, die Dhark zum großen Teil nicht einmal vom Hörensagen bekannt waren. Wallis zeigte sich in blendender Laune, und wenn der zigarrerau‐ chende Hausdrachen seine Sache gut gemacht hatte, würde das auch so bleiben, denn der Herrscher über Eden war als Gourmet bekannt. Ren Dhark nahm sich vor, zum Ende des zweiten Ganges die Katze aus dem Sack zu lassen. Roboter räumten die leeren Suppenschüsseln ab, Roboter schenk‐ ten einen weißen Spätburgunder aus, Roboter trugen Servierschüs‐ seln mit einem Eintopf aus Reis, Fisch und Fleisch auf. Nicht ganz so scharf, wie Dhark befürchtet hatte, entfaltete das Gericht eine exoti‐ sche Würze auf seinem Gaumen. »Schmeckt ja richtig gut«, sagte er überrascht. Voller Genugtuung registrierte Wallis die Zufriedenheit auf den Gesichtern seiner Gäste. »Chorizo«, lächelte Wallis. »Ich lasse es mir mindestens einmal in
der Woche kochen.« »Wunderbar«, schwärmte Amy, und sogar Fortrose behauptete, es würde ihm schmecken. »Josephine hat sich heute mit dem Cayennepfeffer etwas zurück‐ gehalten, vermutlich, um Sie nicht zu verstören. Die Sauce basiert übrigens auf Peperoni, Staudensellerie und Zwiebeln, die Dreiei‐ nigkeit kreolischer Kochkunst sozusagen. Doch es ist ein Kunststück, die Würze mit genau dieser Geschmacksnuance hinzukriegen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.« Er wandte sich an den Butler. »Seien Sie so freundlich und bitten Sie Josephine zu uns, Frederic.« Dhark drehte sich lieber nicht nach dem Engländer um, hörte aber, wie er abzog und die Tür etwas fester als unbedingt nötig hinter sich zuzog. Zwei Minuten später rauschte die schwarze Walküre herein. »Stimmt was nicht?« grunzte sie mißmutig. Es roch plötzlich nach kaltem Zigarrenrauch. »Ganz im Gegenteil, Josephine.« Wallis lehnte sich zurück, griff nach seinem Weinglas und strahlte seine Küchenchefin an. »Unsere Gäste sind entzückt von deiner Kochkunst. Dein Chorizo schmeckt heute wieder einmal himmlisch. Ich danke dir!« Auch Amy, Dhark und Fortrose lobten das Essen, der Anwalt sogar aus‐ gesprochen wortreich. »Das glaube ich nur, wenn die Schüsseln auch wirklich leer sind. Also beweisen Sie, daß das nicht nur leere Worte waren.« Sie wandte sich ab und verschwand polternd im Foyer. Durch den offenen Türflügel hörte Dhark den Butler etwas zischen, daß ein wenig wie Tomahawk klang. Daraufhin begann die rauchige Frauenstimme zu fluchen, dann fiel eine Tür ins Schloß, und als Ren Dhark sich umdrehte, sah er Frederic wieder neben der Tür stehen: kerzengerade, mit ausdrucksloser Miene, die weiß behandschuhten Hände an den Hosennähten und das Kinn ein wenig erhoben und nach vorn geschoben. Ein wahrer Aristokrat, dieser Brite.
»Menschen…« Wallis seufzte und zuckte mit den Schultern. »Freut mich sehr, daß es Ihnen schmeckt an meinem Tisch, Ren und Amy. Ich schätze mich glücklich, Sie hier in meinem Landhaus bewirten zu können, und das meine ich ernst. Ich würde Sie gern öfter hier be‐ grüßen, warum nicht auch ohne jeden Anlaß, einfach so? Doch ich fürchte, Sie reisen in solch bitteren Zeiten nicht ohne Anlaß nach Eden, Ren. Kommen wir also zum Punkt: Worum genau geht es?« Typisch für Wallis, so eine überfallartige Frage. Ren Dhark er‐ haschte Amys überraschten Blick, blieb selbst aber gelassen. »Um Sein oder Nichtsein, Terence. Wird die Menschheit, wird Terra überleben, oder werden wir in ein paar Jahrhunderten oder vielleicht schon Jahrzehnten nur noch eine Fußnote der galaktischen Ge‐ schichte sein? Darum geht es.« Jede Spur von Heiterkeit verschwand aus Wallis’ Miene. »Und weiter?« »Wenn die gute alte Erde überleben soll, braucht sie jede nur denkbare Hilfe. Sie braucht Ihre Hilfe, Terence.« Wallis sank gegen die Rückenlehne seines Sessels, tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und griff zum Glas. Er nippte zweimal an seinem Wein und musterte den Commander dann über den Glas‐ rand hinweg. »Ich weiß doch, Ren, und ich bin mir meiner Verant‐ wortung durchaus bewußt. Darum habe ich Trawisheim auch eine Flotte von Evakuierungsschiffen angeboten. Die Produktion ist längst angelaufen. Ich habe der Regierung von Terra dafür sogar einen Kredit eingeräumt, der vorläufig nicht zurückbezahlt werden muß. Und dazu stehe ich weiterhin.« »Das war und ist sehr großzügig, Terence, und tatsächlich werden die Ikosaedertransporter aus Ihren Werften unzählige Leben retten, nur…« »Meine ›Großzügigkeit‹, wie Sie das nennen, hat mich manche schlaflose Nacht gekostet, Ren. Das nur am Rande bemerkt: Be‐ triebswirtschaftlich bin ich mit dem Angebot nämlich bis an meine Grenzen gegangen. Jeder unbedeutende Firmenchef, jeder kleine
Konzernboß wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er davon erfährt…« »Eden ist mehr als nur ein Konzern, Terence, die Erde mehr als eine angeschlagene Firma.« Ren Dhark schob den halbleeren Teller bei‐ seite, faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich nach vorn. »Die Erde ist Ihre Heimat, Terence, dort liegen Ihre Wurzeln. Übri‐ gens auch die Wurzeln Ihres Erfolges und Ihres Reichtums. Haben Sie das vergessen? Terra sollte Ihnen mehr bedeuten als irgendein Verbündeter, viel mehr.« Dhark sprach plötzlich leise, sein Tonfall war weder besonders eindringlich noch irgendwie beschwörend. Vielleicht lag es an dem Lodern in seinen zu schmalen Schlitzen verengten Augen, daß plötzlich so eine gespannte Stille herrschte im Speisezimmer. »Eden ist ein Staat, ein junger zwar, aber ein Staat. Selbst wenn nur irgendein x‐beliebiger Verbündeter dieses Staates in seiner Existenz bedroht ist, wird Eden seine Bündnisverträge erfüllen und ihn un‐ terstützen. Wieviel mehr dann die Erde, die doch Edens Mutterpla‐ net ist? Und selbst wenn irgendeine zukünftige terranische Regie‐ rung nicht in der Lage sein sollte, den Kredit zurückzuzahlen, selbst wenn man Ihnen die Unkosten für Ihre Hilfeleistungen nie mehr erstatten könnte – selbst dann ist es Ihre verdammte Pflicht zu hel‐ fen, wo immer es möglich ist, Terence!« Wallis starrte in sein Weinglas. Seine Kaumuskulatur pulsierte, seine Lippen waren ein farbloser Strich. »Niemals würde man auf Terra einen solchen Beistand vergessen, Terence«, fuhr Dhark fort. »Die Historiker kommender Generationen würden Ihnen für immer einen Ehrenplatz in der Geschichtsschrei‐ bung zuweisen, aber was noch viel wichtiger ist – und darauf halte ich jede Wette: Irgendwann wird sich Ihr Beistand für Eden auszah‐ len, denn nichts ist wertvoller als ein echter Freund…« Wallis hob den Blick und sah zum Fenster. Drei, vier Atemzüge lang blickte er gedankenverloren in seinen Park. Neben sich hörte Dhark, wie Fortrose sich ununterbrochen räusperte. Sonst war es still
im Speisezimmer. »Große Worte, gewichtige Worte«, brach Wallis schließlich das Schweigen. »Und das von einem, der seinen galaktischen Ruf als Mann der Tat begründet hat.« Sollten Dharks Worte ihn berührt haben, so verstand er es meis‐ terhaft, seine Gefühle zu verbergen. Flackerte nicht sogar leiser Spott in seinem Lächeln? »Wenn einer wie Sie, Ren, sich zu einer derart langen Rede hinreißen läßt, dann will er meistens etwas. Also, die Karten auf den Tisch! Was wollen Sie von mir?« Der Commander sagte es ihm, und diesmal reichten ihm zwei knappe Sätze für die Antwort. Dafür verschlug es Wallis für einen Moment die Sprache. Er neigte den Kopf, runzelte die Stirn und machte ganz den Eindruck eines Mannes, der seinen Ohren nicht traute…
14. Terence Wallis steuerte sein Fahrzeug selbst. Er flog schnell und so tief, daß die wenige Meter unter ihnen schäumende Brandung ihre Gischtspritzer von Zeit zu Zeit zu ihnen herauf gegen die Front‐ scheibe schleuderte. Sie schwebten über einem Strand entlang der Wasserlinie. Rechts sah man eine hügelige, sattgrüne Graslandschaft, links dehnte das ungeheuerliche Blau des Ozeans sich aus. Wallis stierte mißmutig durch die Frontscheibe. »Zum Jahres‐ wechsel wollte ich das planeteninterne Transmitternetz einweihen, begreifen Sie?« Seine Stimmung war gekippt, der gutgelaunte Ge‐ nießer aus dem Speisezimmer zum genervten Hektiker mutiert. »Nein, begreife ich nicht.« Dhark saß hinter dem Fahrersitz neben Amy. »Was hat das geplante Transmitternetz von Eden mit meinem Plan zu tun?« Vor knapp zwei Stunden hatten sie sich von Fortrose verabschie‐ det. Der Anwalt war zu dem blonden Chauffeur in den Luxusgleiter gestiegen, um sich zum Transmitterbahnhof bringen zu lassen. Amy Stewart und Ren Dhark saßen nun mit Wallis in dessen großem Privatgleiter. Ihr Ziel: das Stammwerk von Wallis Industries. »Ganz einfach.« Der Gleiter kippte nach rechts, unter ihnen glitten zuerst Dünen, dann das Grasland dahin. Das Meer blieb zurück, sie nahmen wieder Kurs aufs Landesinnere. »Die Kalibrierungsmodu‐ latoren gehen uns aus. Ein typischer Planungsfehler, ich habe den zuständigen Manager entlassen. Die Herstellung dieser wichtigen Transmitterelemente dauert Monate.« »Das Transmitternetz von Eden wird nicht fertig?« Am Horizont sah Amy die gewaltigen Hallen des Stammwerkes von Wallis In‐ dustries auftauchen. Bis zu den Wolken ragten Dutzende von Ka‐ minen aus dem Gebäudekomplex. »Jedenfalls nicht zu meinem Neujahrsempfang. Dabei sind die Einladungen schon gedruckt. Nach der Matinee wollte ich mit mei‐
nen Gästen in den neuen Ringtransmitter meines Landhauses stei‐ gen, um pünktlich zu Beginn des zweiten Teiles des Neujahrskon‐ zerts aus dem neuen Ringtransmitter in der Empfangshalle meines Stammwerkes zu steigen.« Über die Schulter sah er zu ihnen nach hinten. »Sie beide hätten dabei sein sollen. Ich hoffe, Sie haben Ihre Einladung bereits erhal‐ ten?« »Ja«, bestätigte Dhark. »Vielen Dank.« »Ich hatte mir das so schön vorgestellt: Aus der idyllischen At‐ mosphäre meines Landhauses gelangt man mit einem einzigen Schritt in das funktionell gestylte Foyer des innovativsten Technolo‐ giezentrums der Milchstraße, verstehen Sie? Doch ohne eine ausrei‐ chende Anzahl Kalibrierungsmodulatoren wird daraus nichts.« Er seufzte tief, wandte sich um und bedachte den Commander mit ei‐ nem vorwurfsvollen Blick. »Und jetzt kommen Sie noch mit Ihrem wahnsinnigen Plan!« Dhark dachte an das in Eis und Schnee versinkende Alamo Gordo. Und plötzlich zogen sie wieder über seine innere Bühne, die Men‐ schen aus der Transmitterhalle, der rebellische Helmträger, die Vi‐ sumhändler, die Verzweifelten an Edens Kartenschalter. »Ihre Sor‐ gen möchte ich haben, Terence«, entfuhr es ihm. Wallis antwortete nicht, doch er ließ seine Gäste merken, wie we‐ nig ihm Dharks Bemerkung schmeckte. Den restlichen Flug über sprach er keine Wort mehr mit ihnen. Kurz bevor er zur Landung ansetzte, aktivierte er den Bordfunk. »Verbinden Sie mich mit Robert Saam«, verlangte er mit mürrischer Stimme. Er setzte den Gleiter auf dem werkseigenen Raumhafen in seiner persönlichen Landebucht ab. Das Summen der Triebwerke verebbte, aus dem Funk meldete sich die Stimme seines Entwicklungschefs. »Robert hier. Du bist gelandet, Terence?« »Ja. In drei Minuten sitze ich an meinem Schreibtisch. Hast du deine Mannschaft zusammengetrommelt?« »Alle sind da. Und alle sind auf die Ideen des Commanders ge‐
spannt.« »Rechnet mit dem Schlimmsten. Bis gleich.« Die Luken schoben sich auf, sie stiegen aus dem Gleiter und in den direkt neben der Landebucht liegenden Aufzug. Auch während sie zu seinem Büro hinauffuhren, schwieg Wallis. Weder Amy noch Dhark machten den Versuch, ihn mit Smalltalk aufzuheitern. Beide waren gewohnt, Spannungen auszuhalten. Seine Sekretärinnen im Vorzimmer begrüßte Wallis mit flüchtigem Kopfnicken. Erst in seinem Büro brach er das Schweigen. »Kaffee?« Dagegen hatten weder Amy noch Dhark etwas einzuwenden. Über Sprechanlage orderte Wallis also Kaffee. Sein Büro war ein großzügiger, lichtdurchfluteter Raum. Zwei der vier Wände bestanden von der Decke bis zum Boden aus Fenstern. Schreibtisch, Sitzmöbel, Konferenztisch und Regale waren in Schwarz, Weiß und Chrom gehalten. Eine Frauenstimme kündigte die Gruppe Saam an. Die Türflügel glitten auseinander, drei Männer und eine Frau in weißen Labor‐ mänteln traten ein – die versammelte Kreativkraft von Wallis In‐ dustries, das eigentlich Hirn der Werke. Dhark und Amy begrüßten die Wissenschaftler mit Handschlag. »Freut mich, Sie zu sehen, Commander«, sagte Robert Saam. Der dreißigjährige Skandinavier mit dem ewigen Jungengesicht strahlte. Wie immer glich sein Haarschopf einem überdimensionalen blonden Staubwedel. »Ich hoffe, Sie haben uns eine schöne harte Nuß mit‐ gebracht.« Händereibend wandte er sich an Dharks Gefährtin. »Nett, Sie zu sehen, Sarah.« »Ich heiße Amy, Doktor«, sagte die Angesprochene freundlich, aber bestimmt. »Oh, Hilfe!« Saam klatschte sich gegen die Stirn. »Wie komme ich nur auf Sarah…?« Regina Saam, eine körperlich höchst attraktive Biologin, deren Wiege einst in der Schweiz gestanden hatte, machte einen überar‐ beiteten Eindruck. Ebenso der Kanadier George Lautrec, mit seinen
fünfundsechzig Jahren der älteste der Gruppe Saam. Beide waren ziemlich bleich und hatten Ringe unter den Augen. Ramoya begrüßte den Commander flüchtig und mit laschem Händedruck, Amy dagegen mit ausgesuchter Höflichkeit. Wallis ging zu seinem Konferenztisch und wies auf die noch leeren Sessel um die runde Tafel. Sie nahmen Platz. »Ich weiß, daß Ihre Zeit unbezahlbar ist«, sagte Ren Dhark noch während er sich setzte. »Deswegen lassen Sie mich ohne lange Vorreden zum Punkt kom‐ men.« »So lieben wir es, Commander Dhark«, flötete Ramoya. Merkwür‐ dig – der Mann konnte lächeln wie er wollte, Dhark fand ihn immer arrogant. »Sie haben sicher von der fürchterlichen Entdeckung gehört, die wir im sogenannten Heiligtum der Roboter von Eins machen muß‐ ten…« Stichwortartig berichtete Ren Dhark von den gefangenen Saltern. »Die Roboter haben sie in künstlichen Tief schlaf versetzt und in Schreine voller Nährflüssigkeit eingesperrt. Wir wollen sie befreien, wir werden sie befreien, und dazu brauche ich Ihre Fähig‐ keiten: Bauen Sie mir zwanzig Transmitter‐Abwurfkapseln.« Saam neigte den Kopf und runzelte die Stirn, seine Frau blickte ungläubig von einem zum anderen, Lautrec hob die Brauen und setzte eine halb staunende, halb zweifelnde Miene auf, und der In‐ donesier lächelte, wie man über eine naive Kinderfrage lächelt. »Aha«, machte er. »Na, wenn es weiter nichts ist?« Eine von Wallis’ Sekretärinnen trat ein und servierte Kaffee und Gebäck. Dhark registrierte die junge Frau erleichtert. Wenigstens hier, im Vorzimmer seiner Schaltzentrale, hatte der Industriemagnat die Frauen noch nicht durch Roboter ersetzt. Saam schlug die Beine übereinander und stützte das Kinn in die Rechte. »Was genau meinen Sie mit ›Transmitter‐Abwurfkapseln‹, Commander?« Seine Neugier gewann also die Oberhand, immerhin. Ren Dhark hatte allerdings auch nichts anderes von ihm erwartet. »Während der jüngsten Raumschlachten im Sol‐System und bei
Proxima Centauri konnten wir uns von der Qualität einer Ihrer Neuentwicklungen überzeugen, Mr. Saam. Ich spreche von Carborit. Wie Sie wissen, war ich viel unterwegs in unserer Milchstraße und in fremden Sternennebeln. Ich habe einiges gesehen, glauben Sie mir, aber die Widerstandsfähigkeit Ihres neuen Werkstoffs unter Kampfbedingungen hat selbst mich beeindruckt. Kompliment…« »Sie wollten ohne lange Vorreden zum Punkt kommen, Com‐ mander.« Ramoyas Stimme klang unangenehm sanft, sein Mund lächelte. Ren Dhark fixierte ihn mit ausdrucksloser Miene. »Ein bißchen mehr Aufmerksamkeit und ein bißchen weniger Ungeduld, Saram, und Sie würden merken, daß der Commander längst beim Punkt ist«, sagte Regina Saam. Und dann an Dharks Adresse: »Danke, Mr. Dhark, freut uns, daß unsere Arbeit Sie über‐ zeugt hat. Carborit also. Und weiter?« »Ich brauche Kapseln oder kompakte Container aus Carborit. Sie sollten mit einem kleinen Prallfeldgenerator ausgestattet sein, damit sie nach dem Abwurf aus der Umlaufbahn halbwegs weich landen können. Sie brauchen außer mit diesem Generator, den Speicherzel‐ len für die Energieversorgung und einem Ringtransmitter mit keinen weiteren Geräten ausgestattet zu sein, höchstens noch mit einem automatischen Öffnungsmechanismus für eine ausreichend große Tür. Können Sie solche Behälter konstruieren und bauen?« »Transmitter?« Der Reihe nach blickte der kleine Indonesier erst seinen Chef, dann seine Kollegen und schließlich Wallis an. »Mo‐ ment mal – Sie wollen diese Kapseln aus dem Weltall über dem Ro‐ boterplaneten abwerfen und über die Transmitter Bodentruppen einschleusen? Das ist, als wollte man Milliarden mit Wuchtkanonen ins All schießen! Absolut verrückt!« »Es ist nur eine Idee, Mr. Ramoya, eine sehr schlichte dazu, Sie sollten sie eigentlich begreifen.« Ren Dhark blieb ungerührt. »Aller‐ dings ›verrücke‹ ich in meiner Idee in der Tat einen stationären Transmitter an ein Ziel meiner Wahl, und gewinne so in der Tat einen ›verrückten‹ und damit mobilen Transmitter, das ist schon
alles. Insofern liegen Sie mit Ihrer Wortwahl nicht ganz falsch.« Er schlug eine schärfere Tonlage an. »Es geht übrigens um die Rettung Hunderter von Salter, Mr. Ramoya, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Ich weiß nicht, welche Summen man bei Wallis Industries für ein Leben veranschlagt!« Ramoya wußte nichts zu antworten, Wallis spielte mit einem Füll‐ federhalter, Amy und Lautrec grinsten. »Mobile Transmitter für ein Landungsunternehmen also…« Saam wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »… hm, das hat etwas für sich, tatsächlich, das hat etwas für sich.« »Durch einen Transmitter dieser Größenordnung könnte man immerhin tausend Lichtjahre überbrücken.« Lautrec rieb sich das Kinn, während er den Blick auf einen imaginären Punkt rechts über sich richtete. »Tausend Lichtjahre von jedem beliebigen Punkt auf einer gedachten Kugel aus, deren gedachter Mittelpunkt mit dem Transmitter identisch ist…« Er schien bereits mit der Arbeit zu be‐ ginnen, Ren Dhark beglückwünschte sich. »Auf diese Weise könnten wir Einheiten der Schwarzen Garde an ihren Einsatzort bringen, ohne hohe Verluste an Menschen und Ma‐ terial in einer taktischen Raumschlacht zu riskieren.« Das Ziel rückte näher, Dhark spürte es intuitiv. »Eine Idee mit Potential, Commander.« Saam nickte anerkennend. »Jedenfalls vom militärischen Standpunkt aus.« »Ich habe da meine Zweifel, Robert.« Wallis ergriff jetzt das Wort. »Nehmen wir den anvisierten Planeten Eins. Gesetzt den Fall, ein Ringraumer gelangt so nahe an ihn heran, daß er die Kapseln abset‐ zen kann. Gesetzt noch den weiteren Fall, die Kapseln landen im Zielgebiet – spätestens dort jedoch ist die Mission am Ende. Noch während der Landung nämlich hat die gegnerische Ortung Ihre teuren Kapseln längst erfaßt. Und da sie nicht einmal mit Defensiv‐ waffen ausgerüstet sind, werden die Roboter sie mühelos am Boden vernichten.« »Falsch«, widersprach Dhark. »Die Transmitterkapseln werden in
einem Zielgebiet niedergehen, das die Roboter mit hundertprozen‐ tiger Sicherheit nicht aus schweren Schiffsgeschützen unter Feuer nehmen werden. Sie betrachten die schlafenden Salter ja als eine Art Schatz und den Gebäudekomplex, in dem sie ihre Schreine aufbe‐ wahren, als Heiligtum. Sicher werden sie Bodentruppen gegen un‐ sere Gardisten einsetzen, aber niemals Waffen, mit denen sie ihren Schatz und ihr Heiligtum gefährden könnten. Mit allen anderen Waffen aber wird die Garde fertig, das hat ihr Kommandeur, Gene‐ ralmajor Farnham, mir versichert.« »Nun ja…« Wallis zuckte mit den Schultern. »Farnham hat im‐ merhin den Ruf eines nüchternen Offiziers. Möglicherweise könnte Ihr Plan funktionieren…« »Er wird funktionieren, Terence!« »Die Kapseln sind nicht das Problem.« Lautrec suchte Saams Blick. Wallis’ Chefwissenschaftler nickte. »Das Problem sind die Trans‐ mitter. Es gibt da ein entscheidendes Bauteil…« »Kalibrierungsmodulatoren«, sagte Amy. »Richtig«, bestätigte Lautrec. »Wir verfügen nur noch über eine sehr begrenzte Zahl dieser hochkomplexen Teile, und die sind be‐ reits fest verplant.« Jetzt suchte sein Blick den des Milliardärs. »So ist es doch, oder, Terence?« Wallis senkte den Kopf und betrachtete seine Hände. Ein paar Se‐ kunden lang herrschte Schweigen in seinem Büro. Ren Dhark fixierte ihn, bis er endlich wieder den Blick hob. Die Männer sahen sich an – Dhark fordernd, Wallis leidend. Schließlich seufzte der Herr von Eden tief. »Okay, okay… ist ja gut. Dann muß ich eben noch ein Weilchen warten auf meinen Privattransmitter. Nehmt also die rest‐ lichen Kalibrierungsmodulatoren und baut sie in Dharks verdammte Abwurfkapseln ein…« * Bei einer zweiten Runde Kaffee begannen die Wissenschaftler be‐
reits über die Konstruktionspläne und den Materialbedarf für die Transmitter‐Abwurfkapseln zu diskutieren. Sie bombardierten Dhark mit Fragen zur Topographie des Landungsgebietes, über die Atmosphäre und Gravitationsverhältnisse auf Eins, zur Ausrüstung eines Gardeinfanteristen, über die genaue Lage des Heiligtums mit den gefangenen Tiefschläfern und über die Entfernung zwischen den Kuppelhallen und den Vorplätzen, die für die Abwurfziele in Frage kamen. Das akustische Signal von Wallis’ Armbandvipho ertönte. Wallis aktivierte es und sprach mit dem Anrufer. Amy und Dhark waren viel zu sehr in das Gespräch mit der Gruppe Saam vertieft, als daß sie den Wortwechsel verfolgen konnten oder wollten. Einen einzelnen Satz von Wallis jedoch hörten beide deutlich, denn er sprach ihn ziemlich laut: »Nein«, rief er, »schicken Sie mir drei!« Kurz darauf erhob er sich und trat zu ihnen und den Wissen‐ schaftlern. »Wir wollen euch nicht länger von der Arbeit abhalten, Robert. Vielen Dank, daß ihr euch für Commander Dharks Problem Zeit genommen habt.« Er schlug seinem Freund Saam auf die Schulter. »Ich schlage vor, ihr macht euch ans Werk.« »Wir sind schon mitten drin, Terence, du kennst uns doch.« Die Wissenschaftler verabschiedeten sich. Die Gruppe verließ Wallis’ Büro. Der Chef des Konzerns wandte sich an seine Gäste. »Haben Sie noch Zeit für einen kleinen Ausflug ins All?« Amy und Dhark sahen einander fragend an. »Ich möchte Ihnen etwas Interes‐ santes zeigen, wissen Sie? Es lohnt sich, glauben Sie mir, und es wird Ihnen neue Einblicke in die Probleme unseres Planeten verschaffen.« Der Commander und Amy erklärten sich einverstanden. Mit dem Lift fuhren sie hinunter zum kleinen Raumhafen des Werkes. Sie traten ins Freie, und fast zeitgleich landeten drei Flash; keine aus dem neuen Baustoff Carborit, sondern die altvertrauten Modelle aus Unitall. »Wir müssen uns leider für ein paar Minuten trennen«, sagte Wallis. »An Bord der THOMAS sehen wir uns gleich wieder.« Er wandte sich ab und ging auf einen der Zweisitzer zu.
»Erstaunliche Wendung, den unser Besuch im Stammwerk da nimmt«, sagte Amy. Ganz wohl war ihr nicht in ihrer Haut. »Wallis liebt die Abwechslung, und Wallis liebt die Überra‐ schung.« Ren Dhark blickte dem Herrn von Eden hinterher. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg der durch die offene Luke auf den Rücksitz des Flash. »Vertrauen wir ihm einfach.« Er hauchte Amy einen flüchtigen Kuß auf die Lippen und wandte sich dem zweiten Flash zu. Seiner Gefährtin blieb nichts anderes übrig, als in das dritte Beiboot einzusteigen. Ihre Piloten trugen Uniformen der Flotte von Eden. Kleine Abzei‐ chen verrieten, daß sie zur Besatzung der THOMAS gehörten, dem Flaggschiff des kleinen Sternenreiches. Sie starteten das Geschwader, flogen die Beiboote in die Umlaufbahn und von dort zu General Thomas J. Jacksons Schiff. Die THOMAS war ein Ringraumer aus Carborit, das erste Modell aus dem neuen Werkstoff, wenn Dhark richtig informiert war. Im Flashhangar trafen sie Wallis wieder. Gemeinsam gingen sie in die Kommandozentrale. Dort wurden sie bereits erwartet. Mit aus‐ gestreckten Armen kam ihnen General Jackson entgegen, eine rundherum imposante Erscheinung. »Willkommen an Bord! Welch eine Ehre, Sie auf meinem Schiff begrüßen zu dürfen!« Der bärtige General empfing sie mit ehrlicher Herzlichkeit. »Kommen Sie bitte mit zur Bildkugel. Es gibt interes‐ sante Dinge zu sehen.« Jackson ging zu dem zentralen Hologramm und winkte die drei Neuankömmlinge hinter sich her. »Schauen Sie nur – ungeladene Gäste sind mal wieder im Begriff, Eden heimzusuchen.« Er deutete in die Darstellung. »Sehen Sie die Ortungsreflexe?« Dhark und Amy erkannten grünlich gleißende Lichtpunkte zwischen den Sternen. Der General wandte sich zu seinem Ortungsoffizier um. »Vergrö‐ ßern, Nummer Zwei!« »Sofort!« Alain Sanet gab den entsprechenden Befehl über Tastatur ein, und ohne wahrnehmbaren Zeitverlust rechnete der Hyperkal‐
kulator den Reflex in eine visuelle Darstellung um. Dhark und Amy sahen jetzt ein torpedoförmiges Raumschiff im Hologramm schwe‐ ben. »Vor einer knappen Stunde aus dem Hyperraum gesprungen«, erklärte Jackson. »Kommt aus der Milchstraße. Neunzig Meter lang, noch 0,16 astronomische Einheiten entfernt.« »Sieht nach einer privaten Raumjacht aus«, sagte Amy. »Ist eine private Raumjacht, Ma’am.« Der General wandte sich an den Funk. »Wie steht es, Mister Lewald? Antworten die Herrschaf‐ ten endlich?« Grissom Lewald, der Funkoffizier, verneinte. »Sie hören es selbst, das Schiff reagiert auf kein Funksignal. Ganz anders das hier.« Und wieder an die Adresse der Ortung: »Vergrößern Sie den zweiten Ortungsreflex, Mister Sanet!« Keine Sekunde später sahen sie einen Kugelraumer im Hologramm schweben. »Der hier hat sogar von sich aus den Kontakt gesucht, und das will ich ihm auch geraten haben.« »Sieht ganz nach einem Vierhundertmeterraumer aus ehemaligen Giant‐Beständen aus.« Natürlich kannte Ren Dhark jeden Schiffstyp, den die Terranische Flotte benutzte. »Sieht nicht nur so aus, Commander«, bestätigte Jackson. »Ist vor siebzig Minuten im System aufgetaucht, ebenfalls aus Richtung Milchstraße. Ein Schiff der Terranischen Flotte: Die KALKUTTA unter Kapitänleutnant Dalem Sumar.« »Wer zum Teufel hat denn den nach Eden beordert?« Eine steile Falte grub sich zwischen Dharks Brauen ein. »Er sich selbst, Commander. Die ganze Besatzung, Sumar einge‐ schlossen, stammt vom indischen Subkontinent, die ganze Besat‐ zung hat ihre Familien an Bord genommen, und – jetzt halten Sie sich gut fest, Commander! – die ganze Besatzung ist geschlossen deser‐ tiert. Und nun beantragen sie politisches Asyl auf Eden.« »Wie bitte?« Amy konnte es nicht fassen. »Tja, Miß Stewart. Wie heißt es so schön und treffend beim Pro‐ pheten Jeremias? ›Das menschliche Herz ist ein trotziges und ver‐ zagtes Ding; wer kann es ergründen?‹« Zum ersten Mal wandte er
sich direkt an seinen Chef. »Ich schlage vor, das Gesuch abzulehnen, Mr. Wallis.« Wallis nickte. »Er bekommt die Antwort, die einem Deserteur zu‐ steht«, sagte er kühl. »Selbstverständlich, Sir, ganz meine Meinung.« Jackson drehte sich wieder zum Kommunikationsstand um. »Verbinden Sie mich mit der KALKUTTA, Mister Lewald!« Sie warteten eine Zeitlang. Schließlich verblaßten in der zentralen Bildkugel Sterne und Ortungsreflexe, und die Gestalt eines zierli‐ chen dunkelhäutigen Mannes nahm Konturen an. »Endlich, General Jackson! Die Menschen an Bord rennen mir schon die Tür zur Kommandozentrale ein! Jeder will wissen, wann wir endlich landen dürfen…« Dalem Sumar hatte volles blauschwarzes Haar und einen ebenso blauschwarzen und dichten Schnurrbart. Er trug die in der Terrani‐ schen Flotte übliche schlichte Bordkombination. Allein sein Na‐ mensschild wies ihn als Offizier und Schiffskommandant aus. Hinter ihm sah man die erwartungsvollen Gesichter Dutzender Menschen. »Meine Leute sind verzweifelt, Sir. Unsere Medostation ist über‐ belegt, ich habe vier Schwangere an Bord, dazu dreiundfünfzig Kinder, die Hälfte davon unter sechs Jahren.« Die Augen des Schiffskommandanten waren groß und glühten wie die eines Fie‐ bernden. Auf seiner dunklen Stirn glänzte Schweiß. »Ich hoffe sehr, Sie haben gute Nachrichten für uns.« »Schlechte Nachrichten habe ich, Sumar, und das sollte Sie nicht überraschen. Drehen Sie ab, Sie werden nicht auf Eden landen.« Die dunklen Augen des Inders begannen zu funkeln wie die einer angriffslustigen Wildkatze. »Das können Sie nicht machen, General!« Es sah aus, als wollte Sumar aus der Bildkugel springen. »Haben Sie mir nicht richtig zugehört?!« »O doch, Mr. Sumar, und die Zivilisten an Bord Ihres Schiffes tun mir auch von Herzen leid!« Jackson hob seine Stimme. »Und jetzt spreche ich zu Ihnen, meine Herrschaften, die Sie sich von Kapitän‐
leutnant Sumar zum Gesetzesbruch haben verführen lassen! Haben Sie denn nie gelesen, was der Apostel Paulus an die Römer schrieb? ›Seid der Obrigkeit Untertan, denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott!‹ Und haben Sie nie gelesen, was unser aller Herr, Jesus Chris‐ tus, sagte? ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!‹ Ihr aber habt die Regierung von Terra…!« »Hören Sie auf, Jackson!« Sumars Stimme überschlug sich. Seine Nerven schienen blankzuliegen. »Hören Sie auf, mir die Leute ver‐ rückt zu machen!« Wie ein Gehetzter blickte er nach links und rechts. Die Männer und Frauen hinter ihm machten finstere Gesichter. »Wir haben Schwangere und Kinder an Bord! Wir haben Kranke und Geschwächte an Bord! Sie müssen uns die Landeerlaubnis er‐ teilen! Sie müssen uns politisches Asyl gewähren! Sie müssen ein‐ fach! Verdammt, Jackson, kapieren Sie denn nicht?!« »Politisches Asyl? Sie reden Schwachsinn, Sumar!« Auch General Jackson wurde lauter, und der massige Mann verfügte über einen durch Mark und Bein gehenden Baß. An seiner Schläfe fiel Dhark eine geschwollene Ader auf. »Niemand an Bord der KALKUTTA hat die Regierung von Terra zu fürchten, Sumar! Niemand außer den Deserteuren! Und Deserteuren verweigern wir grundsätzlich die Landeerlaubnis! Erstens aus Prinzip, und zweitens aus Loyalität unserem engsten Verbündeten Terra gegenüber!« »Sie spinnen ja, Jackson! Lassen Sie uns landen, verdammt noch mal! Wer gibt Ihnen denn das Recht, Eden für sich zu beanspruchen? Und wer gibt Ihnen das Recht, im Namen Allahs Sprüche zu klopfen und über andere Menschen zu urteilen? Sie haben ja keine Ahnung, was auf Terra los ist!« »Drehen Sie ab, Sumar!« Wallis trat ans Hologramm. »Sie haben nichts verloren in meinem Sonnensystem! Verschwinden Sie! Ver‐ schwinden Sie jetzt gleich! Ich schicke Patrouillen los, die Sie aus M53 eskortieren werden. Ich will Sie nicht mehr sehen in dieser Ga‐ laxis! Haben Sie mich verstanden?« Der kleine Mann in der Bildkugel verschränkte die Arme vor der
Brust. Die Leute hinter ihm gestikulierten wild und redeten durch‐ einander. »Ich würde ja gern weiterfliegen, Mr. Wallis«, sagte Sumar. Er sprach jetzt zwei Nuancen leiser. Den Herrn von Eden persönlich in der Bildkugel zu sehen, schien ihn zu verunsichern. »Doch leider haben wir unseren Energievorrat aufgebraucht. Er reicht gerade noch für den Landeanflug.« »Das glaube ich Ihnen nicht!« »Es ist aber so, Mr. Wallis.« Die Männer und Frauen hinter Sumar hatten ihr Geschrei und wildes Gestikulieren aufgegeben. Gespannt lauschten sie; genauso gespannt wie Dhark und Amy und die Offi‐ ziere in der Kommandozentrale der THOMAS. »Wollen Sie uns jetzt manövrierunfähig im All treiben lassen, Mr. Wallis? Solange, bis auch der letzte Mann an Bord der KALKUTTA verhungert ist? In ein paar Tagen wissen es sämtliche Medien in der Galaxis, das verspreche ich Ihnen!« Sumar ballte die Fäuste. »Und die Bilder von Kindern mit Hungerbäuchen liefere ich gleich mit! Ihr glorreicher Name wird für immer mit dem Schicksal der KAL‐ KUTTA verbunden sein, das schwöre ich Ihnen…!« Wallis zögerte. Alle Augen in der Zentrale waren auf ihn gerichtet. Auch der kleine dunkle Mann im Hologramm fixierte ihn mit wil‐ dem, brennendem Blick. Wallis räusperte sich endlich. »Sie sind ein verdammter Hitzkopf, Sumar. In Ihrer Raserei merken Sie nicht einmal mehr, was für einen Blödsinn Sie absondern! Sie haben die Erde und Ihre Regierung ih‐ rem Schicksal überlassen. Ich aber werde die KALKUTTA keines‐ wegs ihrem Schicksal überlassen. Ich setze sofort zwei Ringraumer meiner Flotte in Marsch. Die werden Sie mit Medikamenten und Proviant versorgen und danach in Intervallschlepp nehmen, um Sie zurück nach Terra zu bringen. Schicken Sie General Jackson eine Bedarfsliste, Sumar. Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit.« Die zierliche schwarzhaarige Gestalt im Hologramm verblaßte, die Verbindung brach ab. Jackson und Wallis sahen einander an, Jackson erstaunt, Wallis ausdruckslos. »Dankbarkeit sieht anders aus«,
murmelte Amy. »Er blufft«, sagte Dhark. »Die KALKUTTA beschleunigt«, meldete Sanet Sekunden später. »Sie nimmt Kurs auf das äußere Sonnensystem.« Kurz darauf peilte er einen Transitionsimpuls an. Sumars Kugelraumer verschwand von allen Bildschirmen. »Für einen Sprung in den Hyperraum hat es also noch gereicht«, ließ sich Manuel Rayes vernehmen, Jacksons Erster Offizier. »Wir hätten Wetten abschließen sollen.« »Reden Sie nicht so respektlos daher, Nummer Eins«, fuhr Jackson ihn an. »Die Sache ist zu ernst für Scherze. Sorgen Sie lieber dafür, daß schleunigst eine Drohne ausgesetzt wird. Sie soll die KAL‐ KUTTA verfolgen, gut getarnt natürlich. Ich will sicher sein, daß Sumar M53 auch wirklich verläßt. Beeilen Sie sich!« »Verstanden, General!« »Sie sind ein harter Gegner, Terence.« Dhark machte eine zwei‐ felnde Miene. »Ich weiß nicht, ob ich so etwas gebracht hätte.« »Diese Männer wollten ihre Familien in Sicherheit bringen.« Amy dachte laut. »Ist das nicht irgendwie verständlich?« »Und wie hätte ich die Landeerlaubnis oder gar das politische Asyl Ihrer Regierung gegenüber rechtfertigen sollen, Miß Stewart? Es waren Deserteure.« Wallis starrte noch immer in die Bildkugel. »Davon abgesehen kommen mir nur Menschen nach Eden, die einen Beitrag zum Aufbau unserer neuen Welt leisten können und wollen. Glauben Sie im Ernst, Deserteure wären dafür geeignet, Miß Ste‐ wart?« Weder Amy noch Dhark antworteten. »Für meine Welt haben Sumar und seine Besatzung sich in dem Augenblick disqualifiziert, als sie Terra und die Terranische Flotte im Stich gelassen haben.« Er wandte sich ab. »Kümmern wir uns um die Privatjacht. Hat sie sich noch immer nicht identifiziert…?«
15. »… Geschwindigkeit 0,0004 Licht, sinkend, mittleres Energieni‐ veau, keine Reaktion auf unsere Funksignale.« Alain Sanet meldete die aktuellen Koordinaten und Werte des Neunzigmeterraumers. Die THOMAS war auf Parallelkurs zu dem fremden Schiff gegan‐ gen. Nur knapp sechshunderttausend Kilometer trennten die beiden Raumschiffe noch. »Wenn sie ihren Kurs nicht ändert und die Geschwindigkeit wei‐ terhin gleichmäßig sinkt, wird die Jacht in neunundvierzig Minuten die Atmosphäre von Eden erreichen«, sagte Rayes, der Erste Offizier. »Soweit wird es nicht kommen…« brummte Jackson. »Soll ich ihn noch einmal anfunken, General?« wollte der Funkof‐ fizier wissen. »Hundertmal ist genug, Mr. Lewald, das würden Sie doch auch sagen, oder?« »Warum schicken Sie nicht einfach einen Flash hinüber?« fragte Wallis. »Wenn der Pilot sich dann immer noch nicht meldet, könnte der Flash eindringen und nachsehen, was los ist an Bord dieses Kahns. Vielleicht hat sich ein Unfall ereignet, vielleicht gab es eine Epidemie oder eine Meuterei, vielleicht lebt ja längst keiner mehr an Bord dieser Jacht.« »Falls doch, könnten Sie sich eine Menge Ärger einhandeln«, sagte Dhark. »Ein Flash ist eine schlagkräftige Waffe, vergessen Sie das nicht, Terence. Kein Schiffskommandant wird gern davon anges‐ teuert.« »Gemäß der Intergalaktischen Verträge für den Raumverkehr darf ein Schiff nur mit Einverständnis seines Kapitäns vom Beiboot eines zweiten Schiffes angeflogen werden, Mr. Wallis. Daran würde ich mich gern halten.« Jackson kraulte sich nach‐ denklich den Bart. »Entweder hat sich an Bord dieser Jacht tatsäch‐
lich eine Tragödie abgespielt, oder ihr Kommandant ist ein übermü‐ tiger Spaßvogel. Ich denke, wir werden ihm drei Nadelstrahlsalven vor den Bug setzen, damit ihm der Übermut vergeht. Entweder dreht er dann ab, oder er identifiziert sich endlich.« »Gemach, gemach, General!« Wallis hob beschwörend beide Hän‐ de. »Nicht so schnell mit den Kanonen! Wir fangen doch keinen Krieg mit einer Privatjacht an! Und das angepeilte Energieniveau spricht auch nicht dafür, daß an Bord ein Lebensmüder seine Waf‐ fensysteme hochgeladen hat.« »So sind nun einmal die militärischen Regeln, Terence«, schaltete Ren Dhark sich wieder ein. »Ein Schiff, daß in fremdes Hoheitster‐ ritorium eindringt, ohne sich zu identifizieren und auf Funksignale zu reagieren, wird üblicherweise mit Warnschüssen zum Abdrehen oder Stoppen gezwungen.« Jackson nickte grimmig. »Dann machen wir eben mal eine Ausnahme von dieser Regel.« Wallis verdrehte die Augen. »Ich bitte Sie, meine Herren! Eine Pri‐ vatjacht! Möglicherweise ist sie nicht einmal bewaffnet.« »Möglicherweise transportiert sie aber auch Vernichtungswaffen und will die auf Eden aktivieren«, gab Amy zu bedenken. »Das klingt doch eher unwahrscheinlich…« »Seid nüchtern und wacht, warnt der Apostel Petrus!« Jackson hob drohend den Zeigefinger. »Denn der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge…« »Haben Sie irgendeine Art von Gebrüll empfangen?« rief Wallis in Richtung Funkstand. Er grinste. »Bitte, Sir? Wie meinen?« Grissom Lewald machte eine ungläubige Miene. »Über die Worte der Heiligen Schrift sollte man sich nicht lustig machen, Sir.« Jackson war beleidigt. »Nicht einmal Sie sollten das tun, Mr. Wallis!« »Schon gut, General.« Wallis klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Es war nicht so gemeint. Jedenfalls sparen wir uns die
Nadelstrahlsalven noch auf und schicken erst einmal einen Flash zu der Jacht hinüber. Einverstanden?« »Auf Ihre Verantwortung, Sir«, sagte Jackson finster. »Wenn schon, dann würde ich lieber gleich zwei Beiboote aus‐ schleusen«, schlug Ren Dhark vor. »Sollte wider Erwarten eines in Schwierigkeiten geraten, kann das andere ihm beistehen.« »So machen wir es, Commander.« Jackson wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Haben Sie mitgehört, Nummer Eins? Zwei Flash‐ piloten sollen sich fertigmachen. Ich will, daß sie hinüber zu dieser vorwitzigen Raumjacht fliegen. Machen Sie schon, geben Sie den Befehl weiter! Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.« »Verstanden, General.« Jackson wandte sich ab, stapfte zum Kommandostand und ließ sich in seinen Sessel fallen. Amy, Dhark und Wallis blieben allein an der Bildkugel zurück. »Das ist es, was ich Ihnen demonstrieren wollte, Ren«, sagte Wallis. »Seit einer Woche etwa sind derartige Zwi‐ schenfälle in unserem Sonnensystem an der Tagesordnung. Für meine Flotte gehört das fast schon zur Routine.« »Und wer kein Visum hat, muß umkehren?« »Korrekt, Miß Stewart.« Nacheinander gingen zwei Startmeldungen aus dem Flashhangar ein. Gleich darauf zeigte die Darstellung in der Bildkugel zwei Bei‐ boote, die Kurs auf das torpedoförmige Schiff nahmen. Sie be‐ schleunigten rasch und erreichten es innerhalb weniger Augenbli‐ cke. »Flash 013 an Zentrale – Zielobjekt erreicht und angefunkt. Keine Reaktion. Bitten um weitere Anweisungen.« »Jackson an Flash 013 und 015. Hat einer von Ihnen beiden noch das gute alte Morsealphabet drauf?« »Ja, Sir«, antwortete der Pilot von Flash 015. »Sehr gut. Setzen Sie sich vor das Fremdschiff und signalisieren Sie ihm mit den Außenscheinwerfern den Namen Ihres Mutterschiffes und die Aufforderung, sich endlich zu identifizieren.«
»Verstanden, General.« In der Bildkugel verfolgten Dhark, Amy und Wallis das Manöver der Flash. Beide schwenkten auf den Kurs der Jacht ein und setzten sich nur wenige Kilometer vor sie. Doch weder änderte das Fremd‐ schiff seinen Kurs, noch reduzierte es seine Geschwindigkeit. Lange Minuten verstrichen, bis die Flashpiloten sich wieder meldeten. »Flash 015 an Zentrale. Das Schiff hat reagiert, ebenfalls mit Lichtmorsezeichen. Es ist die BLONDIE unter Skittleman.« »BLONDIE?« Amy grinste und schüttelte den Kopf. »Ungewöhn‐ licher Name für ein Raumschiff.« »Ich würde eher sagen: ein sehr gewöhnlicher Name, Miß Ste‐ wart«, zischte Wallis. »So gewöhnlich wie sein Besitzer!« Er seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Skittleman, dieser Gau‐ ner… na warte!« Er drehte sich zum Kommandostand um. »Hören Sie, General: Die Flash sollen die Jacht nach Eden eskortieren, zum Raumhafen von Wallis Industries. Ich will mit dem Kerl sprechen…« * »… ein sorgfältig frisierter Hecht.« Ren Dhark erklärte Amy, wer Joseph Randolph Gordon Skittleman war. »Anfang fünfzig, glaube ich. Mehrheitseigner des schmierigsten Senders der Milchstraße.« Das Stichwort reichte, und Amy erinnerte sich. »Doch nicht etwa der Chef von Intermedia?« Kaum jemandem auf Terra und seinen Kolonialplaneten wäre bei dieser Beschreibung ein anderer Sender eingefallen. »Genau der, Miß Stewart. Leider.« Der Herr von Eden schien ge‐ laden. »Es ist noch nicht lange her, da hat dieser Typ mich über sei‐ nen Anwalt mit Enteignung bedroht. Ich bin gespannt, was er dies‐ mal von mir will.« »Vermutlich dasselbe, das alle wollen!« rief Jackson vom Kom‐ mandostand aus. »Ein sonniges Plätzchen auf Eden, um seine gott‐ lose Haut zu retten.«
»Meinen Sie wirklich, General?« Wallis zuckte mit den Schultern. »Einem Mann mit soviel Geld stehen doch tausend andere Mög‐ lichkeiten offen…« Und wieder blitzten die Szenen aus dem morgendlichen Trans‐ mitterbahnhof von Alamo Gordo in Dharks Hirn auf: die Menge vor den Absperrungen, der Familienvater mit der Waffe an der Schläfe, die junge Frau am Kartenschalter vor ihrem aufgehäuften Geld und ihrem Schmuck. Gab es wirklich noch »tausend andere Möglichkei‐ ten«? Sie verabschiedeten sich von General Jackson und verließen die Zentrale in Richtung Flashhangar. Dort warteten ihre Piloten. Wäh‐ rend Skittlemans Privatjacht eskortiert von den Beibooten der THOMAS zur Landung ansetzte, stieg jeder in seinen Flash und ließ sich zurück zum Raumhafen des Stammwerkes bringen. Erst als sie unmittelbar neben der BLONDIE gelandet und ausges‐ tiegen waren, gestattete Wallis’ Raumhafendirektor dem Medien‐ magnaten, sein Schiff zu verlassen. Ein Flügelschott öffnete sich an der Unterseite der Neunzigmeter‐ jacht. Ein Teleskopantigravschacht wurde ausgefahren, und kurz darauf erschien die dürre Gestalt Skittlemans in der Bodenluke des Schachtes. Er trat aufs Flugfeld und begann sofort zu winken. Vier wasserstoffblonde Frauen rahmten ihn ein, keine kleiner als er selbst. Die Frauen trugen knappe Glitzerkleidchen und unterschieden sich, abgesehen von den Kleiderfarben – rot, grün, gelb und blau –, nicht wesentlich voneinander. Ihre grellrot geschminkten Münder leuchteten von weitem wie Signallampen. Hüftschwingend näherten sie sich an der Seite ihres Sponsors, lächelten ihr Plastiklächeln und winkten, als würde eine Armada von Fotografen und Kameraleuten ihnen entgegenfiebern. Hinter dem Medienzar und seinem bunten Harem verließen jetzt zwei weitere Männer den Antigravschacht, beide unscheinbar, beide Ende Vierzig, Anfang Fünfzig. »Wer sind die?« wollte Dhark wissen. »Der linke in dem grauen Anzug ist Skittlemans Anwalt Anderson,
der andere Paley. Aber den kennen Sie, schätze ich mal.« Dhark nickte. »Dave Paley?« Amy legte die Hand an die Stirn, um ihre Augen vor dem Licht der Edensonne zu schützen, und betrachtete den Mann hinter Skittleman und seinen Blondinen. Er trug ein weißes Sommerjackett über einer schwarzen Lederhose und hatte schütteres rötliches Haar. »Der Generalsekretär der Fortschrittspartei?« »Korrekt, Miß Stewart.« Wallis verschränkte die Arme vor der Brust. Ein gutgelaunter Mann sah anders aus. »Eigentlich habe ich nur Skittleman gestattet, von Bord zu gehen.« Skittleman grinste so vergnügt, daß Dhark in Versuchung geriet sich umzudrehen, um nachzuschauen, ob hinter ihm womöglich ein guter Bekannter des Medienzars stand. Dabei winkte der Mann die ganze Zeit nach der Art gewisser Politiker, wenn sie von einem Balkon herunter oder aus einem offenen Gleiter heraus die Menge grüßten: die Hand in Augenhöhe, die Handfläche nach hinten ge‐ kehrt und mit steifen Ruderbewegungen, als würde er sich Luft ins Ohr fächeln. »Ich freue mich!« rief er, als er noch zehn Schritte von Wallis ent‐ fernt war. Er trug einen gelben Anzug mit roten Knöpfen und rotem Einstecktuch, darunter ein grünes, bis zum Brustbein offenes Hemd. Sein breites Viphoarmband und seine Schuhe waren knallblau. Sein brustlanges sandfarbenes Haar glänzte und lag wellig auf seinen Schultern und seinem Revers. »Ich freue mich ja so…!« Endlich hörte er auf zu winken und streckte Wallis beide Arme entgegen. Wallis rührte sich nicht, machte auch keine Anstalten, die Arme von der Brust zu nehmen und die ausgestreckte Hand des anderen zu ergreifen. Kühl musterte er zuerst den dünnen Mann in dem grellfarbenen Zwirn und dann die vier blonden Frauen. Denen klebte ihr Lächeln wie trockene, grellrote Knete im Rouge. Die bei‐ den Männer dahinter würdigte er keines Blickes. »Wenn ich behaupten wollte, die Freude würde auf Gegenseitig‐
keit beruhen, müßte ich lügen«, sagte er endlich. »Und an einem schönen Tag wie diesem fällt mir das nicht so leicht wie sonst.« »Bitte…?« Skittleman ließ Arme und Kinnlade sinken, sein Grinsen erstarb. »Oh, äh…« Hilfesuchend sah er sich nach Paley und seinem Anwalt um. Die bewegten nicht einmal ihre Brauen. »Das ist ja…« Die grellroten Lachmünder an seinen Seiten schlossen sich. »Das ist ja echt schade… aber…« Wieder blickte er nach links und rechts und hinter sich, das Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück, erneut hob er die Arme. »… aber ich bin da! Ich hab’s geschafft!« Er wies auf die Werkshallen, die den Raumhafen umgaben. »Sogar bis in Ihr Stammwerk habe ich’s geschafft! Ich habe gewonnen!« Er fuhr he‐ rum. »Eine Kiste Champagner, Dave!« Dhark und Amy warfen sich verstohlene Blicke zu. Die Szene war ihnen irgendwie peinlich. Der Commander trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück, denn eine warme Windböe blies ihm eine Duftwolke süßlichen Parfüms ins Gesicht. Er schätze derartige Be‐ lästigungen nicht, und die vier Blondinen – vielleicht auch Skittle‐ man selbst – schienen in solchem Zeug gebadet zu haben. »Wir haben gewettet, wissen Sie, Wallis?« Skittleman lachte me‐ ckernd, während Wallis keine Miene verzog. »Dave, sagte ich, Dave, noch heute steigen wir in Eden aus der BLONDIE! Ich setze eine Kiste Champagner, Dave! Der meinte, das würde mir nie gelingen, und hielt dagegen!« Er lachte meckernd und klatschte in die Hände. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie keine Landegenehmigung rausrücken würden, Sie Schlimmer!« Scherzhaft drohte er mit dem Zeigefinger. »Da habe ich einfach den Funk abgeschaltet, he, he… und jetzt schuldet Dave mir eine Kiste Champagner, he, he! Wie finden Sie das, Wallis, he?« Auch die »Damen« verzogen ihre fettglänzenden Lippen wieder zu ihrem maskenhaften Lächeln. Aber nicht lange, denn Wallis ließ keinerlei Reaktion erkennen. Vier, fünf Sekunden verstrichen quä‐ lend langsam. Die Frauen senkten die Köpfe, blonde Vorhänge fielen vor ihre Gesichter, sie begannen von einem Fuß auf den anderen zu
treten. Skittleman ließ die Schultern hängen, sein Rücken krümmte sich seltsam. Verblüffung und Unsicherheit spiegelten sich auf seinem Gesicht. Wie ein beim Ladendiebstahl ertappter Halbwüchsiger schaute er drein und suchte Dharks Blick. »Schön für Sie.« Endlich brach Wallis das peinliche Schweigen. »Dann können Sie ja jetzt wieder in Ihre Jacht steigen und starten.« »He, he… ein Witz, oder?« Skittleman versuchte zu grinsen, es ge‐ lang ihm nicht. Wallis nahm die Arme von der Brust und aktivierte sein Visaphon. Aus den Augenwinkeln erkannte Dhark das Konterfei seiner Chef‐ sekretärin auf dem Miniaturbildschirm. »Machen Sie bitte die Rechnung für Mr. Skittleman fertig: Flotteneinsatz, Eskorte, Lande‐ und Startgebühren, Arbeitszeit. Beeilen Sie sich bitte, Mr. Skittleman will Eden so schnell wie möglich wieder…« Der Rest ging in einem Wortschwall Skittlemans und seines An‐ hangs unter. »Ich bitte Sie, Mr. Wallis, das können Sie unmöglich machen…!« Die Blondinen schnatterten durcheinander, auch der Anwalt und Paley erhoben die Stimmen. »Das widerspricht allen intergalaktischen Gepflogenheiten, Wallis!« rief Paley. »Ich protes‐ tiere aufs Energischste…!« »Meines Wissens wurde nur Mr. Skittleman die Erlaubnis erteilt, von Bord seiner Jacht zu gehen.« Wallis machte eine Handbewe‐ gung, als wollte er eine Fliege von einem Dessertteller vertreiben. »Machen Sie also schleunigst kehrt, Paley.« »Erlauben Sie mal…!« Wieder aktivierte der Milliardär von Eden sein Vipho. Diesmal bekamen weder der Commander noch Amy mit, wen er anrief. »Warten Sie, warten Sie, Mr. Wallis!« Skittleman trat noch einen Schritt näher. »Sie wissen ja noch gar nicht, warum ich gekommen bin. Ich muß… ich will ein Geschäft mit Ihnen machen, ja doch, ein Geschäft! Es kann teuer… es ist wertvoll… also, es springt was raus dabei für Sie, nämlich zehn Prozent von Intermedia!« Er stemmte die
Fäuste in die Hüften und setzte ein triumphierendes Grinsen auf. »Zehn Prozent von Intermedia! Was sagen Sie jetzt?« »Zu welchen Bedingungen?« Wallis blieb kühl. »Nun ja, wieso Bedingungen? Also gut, Sie können mir ja die Staatsbürgerschaft von Eden dafür geben.« Er rieb sich die Hände und sah nach links und rechts. »Keine schlechte Idee eigentlich, was meint ihr, meine Süßen? Also, Mr. Wallis, wie wäre es? Ich dachte zehn Prozent als kleines Schmerzensgeld für Sie, wegen des Miß‐ verständnisses damals, Sie wissen schon. Und die Staatsbürger‐ schaft, die würd’ ich dann schon annehmen, damit’s in der Öffent‐ lichkeit nicht aussieht wie ein Geschenk, das wäre ja nicht gut für Ihr Image und so weiter…« »Genug, Skittleman!« Schneidend scharf fuhr Wallis ihm in die Parade. »Schicken Sie Ihre Statisten zurück an Bord und warten Sie hier auf die Rechnung. Sobald Sie bezahlt haben, lasse ich Ihnen die Starterlaubnis erteilen.« Und dann, an Dharks und Amys Adresse: »Würden Sie mich bitte in mein Büro begleiten, Miß Stewart und Commander Dhark?« Er drehte sich um und marschierte zum Aufzug, Dhark und Amy hinterher. »Moment noch, Wallis!« Skittleman und zwei seiner Blondinen liefen neben ihnen her. »Ich biete Ihnen zwanzig Prozent von Inter‐ media für die Staatsbürgerschaft, oder nein, warten Sie, sagen wir doch gleich fünfundzwanzig Prozent…« »Sie machen sich wirklich lächerlich, Skittleman, merken Sie das nicht?« Dreißig Schritte entfernt öffnete sich eine Lifttür, ein Be‐ waffneter des Werkschutzes trat ins Freie, sieben humanoide Robo‐ ter folgten ihm. Sie trugen Waffen in den Metallhänden. »Ver‐ schwinden Sie von Eden, Skittleman, das ist mein letztes Wort!« »Dreißig Prozent!« Skittleman und die beiden Frauen liefen an Wallis vorbei und stellten sich ihm in den Weg. »Dreißig Prozent für ein Dauervisum, Mr. Wallis. Das mit der Staatsbürgerschaft muß man ja nicht überstürzen. Ein Dauervisum, für den Anfang wäre das
doch auch schon mal was…!« Die Blondinen posierten links und rechts hinter ihm und mimten den Sterbenden Schwan. »Eden vergibt keine Dauervisa, und schon gar nicht kann man ein Visum für Eden kaufen. Wir nehmen nicht jeden.« Wallis baute sich vor dem schmächtigen Medienzaren auf. »Was glauben Sie eigent‐ lich, wer Sie sind, Skittleman?« »Bitte, Wallis, vierzig Prozent…!« Skittleman ging ein wenig in die Knie und rang die Hände; fast sah es aus, als wollte er sie zum Gebet falten. »Sie können ja Ihr Glück versuchen und ein Visum beantragen. Versprechen kann ich nichts. Und nun lassen Sie mich durch!« »Das haben wir doch bereits getan, Mr. Wallis!« Eine der Blondi‐ nen hob flehend beide Hände. »Schon vor drei Wochen in der Transmitterstation von Alamo Gordo!« An Skittleman vorbei machte sie einen Schritt auf Wallis zu. Tränen zogen Furchen durch ihr Rouge. Dhark hielt den Atem an, denn er fürchtete, sie könnte jeden Moment vor dem Milliardär auf die Knie fallen. »Man hat uns kein Visum für Eden geben wollen, verstehen Sie, Sir? Deswegen haben wir doch versucht…!« »Fünfundvierzig Prozent!« fiel Skittleman ihr ins Wort. Der Mann vom Werkschutz kam zu Wallis und überreichte ihm ein Kuvert, die Roboter stapften zu Anderson, Paley und den anderen beiden Frauen. Wallis öffnete das Kuvert, nahm die Rechnung heraus, prüfte sie und faltete sie wieder zusammen. »Also gut, Wallis, ich weiß doch, daß Sie ein Gentleman sind, also gut… sagen wir neunundvierzig Prozent…!« Und jetzt war er es, der vor dem Milliardär auf die Knie sank. »Neunundvierzig Prozent, Wallis, mein allerletztes Wort!« Dhark und Amy trauten ihren Au‐ gen nicht. »Mehr kann ich wirklich nicht bieten, sonst bin ich rui‐ niert! Neunundvierzig Prozent, Mr. Wallis, Sir! Ich bitte Sie instän‐ dig…!« »Wenn ich Intermedia haben wollte, brauchte ich mindestens ei‐ nundfünfzig Prozent, aber ich bin nun wirklich nicht an diesem
Körpersaftsender interessiert.« Er reichte Skittleman die Rechnung. »Davon abgesehen legen wir sehr strenge Auswahlkriterien zu‐ grunde, wenn jemand sich für ein Visum oder gar die Staatsbürger‐ schaft Edens bewirbt. Und Sie genügen diesen Kriterien in keiner Weise.« Wallis wandte sich ab. »Sie bezahlen bei dem Gentleman hier.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Sicherheitsmann. »Bar. Und jetzt entschuldigen Sie mich.« Er schob sich an der Elendsgestalt vorbei und ging zur Lifttür. Der Commander und Amy folgten. Beiden hatte es die Sprache verschlagen. Hastig entfaltete Skittleman den Briefbogen mit der Rechnung. »Waaas?!« Er sprang auf. »Elf Millionen Dollar?! Wie um alles in der Welt kommen Sie denn bloß auf diese Summe, Wallis!?« Wallis blieb stehen und drehte sich um. »Können Sie nicht lesen? Ich habe doch alles auflisten lassen: Einsatz des Flaggschiffs meines Flottenkommandeurs, Arbeitszeit meines Flottenkommandeurs, Eskorte durch zwei Flaggschiff‐Flash, Lande‐ und Startgebühren und meine Arbeitszeit. Mit elf Millionen sind Sie da noch günstig weggekommen, Skittleman.« »Wissen Sie, was Sie sind, Wallis?« Dave Paley war rot angelaufen. »Ein Raubritter sind Sie, ein gottverdammter Wegelagerer…!« Er schäumte vor Wut. Anderson trat zu seinem Mandanten, nahm ihm die Rechnung ab und überflog sie. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Mr. Skitt‐ leman: Zahlen Sie keinen Cent.« »Unglaublich…!« Skittleman knüllte die Rechnung zusammen und warf sie dem Herrn von Eden vor die Füße. »Einfach unglaublich!« Er strich sich das Haar aus dem Gesicht und fummelte an seinem grünen Hemdkragen herum. »Ich werde diesen ungastlichen Plane‐ ten auf der Stelle verlassen!« Er fuhr herum und stelzte in Richtung seiner Jacht davon. »Kommt, Freunde. Vergessen wir dieses raben‐ schwarze Kapitel…« »Beide Entschlüsse kann ich nur begrüßen, Mr. Skittleman«, rief Wallis ihm nach. »Allerdings sollten Sie darüber nicht vergessen,
zuvor Ihre Rechnung zu bezahlen.« »Ich denke ja gar nicht daran!« Auf eine Geste des Milliardärs hin sprach der Wachmann leise in sein kleines Mikrophon. Dhark schwante Böses. Und tatsächlich: Sofort versperrten die Roboter Skittleman und seinem Anhang den Weg zur Raumjacht. »Nach den bei uns auf Eden gültigen Gesetzen werden säumige Zahler größerer Summen in Beugehaft genom‐ men.« Schon klirrten Handschellen in den Greifarmen der Roboter. »Das ist Erpressung!« schrie Paley. Zwei der Blondinen begannen laut zu heulen. Anderson erbleichte. »Erpressung?« Er schob das Kinn nach vorn und legte den Kopf in den Nacken. »Ich nenne das sogar räuberische Erpressung und Freiheitsberaubung. Und jeder Richter der Milchstraße würde es genauso nennen.« »Nicht im Rechtsraum Eden«, entgegnete Wallis. »Also, was ist – zahlen Sie gleich, oder wollen Sie erst einmal den Strafvollzug mei‐ nes Planeten schätzen lernen?« Paley und Skittleman fluchten, Anderson sprach in sein Dikta‐ phon, die Weiber heulten oder tuschelten. »Er geht zu weit«, flüs‐ terte Amy. »Sollen wir nicht eingreifen?« »Wie kämen wir dazu?« Der Commander schüttelte den Kopf. »Hier ist er der Chef.« »Das werden Sie bereuen, Wallis!« Skittleman fummelte in den Innentaschen seines gelben Jacketts herum. »Das werden Sie bitter bereuen…!« Endlich zerrte er seine Brieftasche heraus. »Bis auf den letzten Cent werde ich mir das Geld zurückholen, verlassen Sie sich darauf…!« Seine Hände zitterten, während er eine Kreditkarte aus der Brieftasche zog. »Sie werden noch weinen…!« »Ihre Kreditkarten akzeptiere ich nicht, Skittleman!« sagte Wallis scharf. Amy zuckte zusammen, Dhark zog die Brauen hoch. »Was…? Ja, aber…!« Skittleman sah hilfesuchend zu seinem An‐ walt.
»Das werden Sie wohl müssen, wenn Sie nicht wegen Raubüber‐ falls in die Schlagzeilen kommen wollen!« Anderson lächelte feind‐ selig. »Wie ich Ihren Mandanten kenne, wird Raubüberfall noch das Ge‐ ringste sein, was gewisse Medien mir demnächst anhängen werden.« Und dann wieder an Skittlemans Adresse. »Sie zahlen bar, oder…!« »Schon mal was von Deeskalation gehört?« murmelte Dhark neben ihm. »Halten Sie sich raus, Ren«, zischte Wallis. »Diplomaten sind das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann…« »Bar? Ich verstehe nicht, Wallis. Wieso bar?« Die Karte in der Rechten, die Brieftasche in der Linken, blickte Skittleman von Wallis zu Anderson. Eine besonders kluge Miene machte er nicht in diesen Sekunden. »Ziemlich ungewöhnlich, daß Ihnen beim Stichwort ›bar‹ nichts mehr einfällt.« Wallis schien entschlossen, die Sache auf die Spitze zu treiben. Jedoch hatten weder Dhark noch Amy eine Idee, welcher Art diese Spitze sein würde und wie er dort hingelangen wollte. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Wallis!« rief Skittleman mit weinerlicher Stimme. »Ich schleppe doch nicht elf Millionen in bar mit mir herum!« »Das ist sehr unangenehm für Sie und für mich.« Wallis blieb un‐ gerührt. »Dann muß ich eben Ihre Raumjacht in Zahlung nehmen. Meine Kommandantur hat es mit meinen Chefingenieuren durch‐ leuchtet. Sie schätzen den momentanen Zeitwert auf etwa elf Mil‐ lionen. Und weil ich so ein großzügiger Mensch bin, spendiere ich Ihnen und Ihren Statisten einen Transmittersprung zurück nach Terra.« Zwei Atemzüge lang standen Skittleman und seine Truppe wie vom Donner gerührt. Fast gleichzeitig erhoben sie dann Gezeter und Geschrei. »Wir wollen nicht nach Terra!« »Sagte ich’s nicht? Ein Wegelagerer!« »Dafür werden Sie bezahlen, Wallis!« Und so weiter und so fort.
Der Milliardär ging ein paar Schritte zurück zu Skittleman, um sich trotz des Geschreis verständlichmachen zu können. »Sie können einen Prokuristen schicken, um das Schiff wieder zurückzukaufen!« Er deutete auf zwei der Blondinen. »Zwei Roboter werden die Da‐ men auf Ihr Schiff begleiten, damit sie die persönlichen Dinge der Gruppe abholen können. Die anderen haben schon mal die Ehre, von meinem werkseigenen Sicherheitsdienst zum Transmitter geleitet zu werden. Leben Sie wohl, meine Herrschaften.« Er berührte Amy und den Commander an den Ellenbogen. »Kommen Sie bitte.« Seite an Seite schritten sie zum nächstgelegenen Lift. Hinter ihnen zeterten und fluchten Skittleman und seine Be‐ gleiter. Während die Lifttüren sich vor ihnen schlossen, sahen Amy und Dhark zwei Roboter und zwei Blondinen in den Antigrav‐ schacht der BLONDIE steigen. Der bewaffnete Wachmann und seine restlichen fünf Roboter umringten Skittleman, Anderson, Paley und die anderen beiden Frauen und führten sie zu den Liften auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Raumhafens. Die Tür schloß sich endgültig, der Lift trug sie hinauf zu Wallis’ Bürosuite. »Wenn Skittleman Ihr Feind gewesen sein sollte, dann ist er jetzt Ihr Todfeind«, sagte Dhark. Wallis aktivierte sein Armbandvipho und orderte Kaffee und Wasser bei einer seiner Sekretärinnen. Der Lift hielt an, sie stiegen aus. Wallis feixte zufrieden. »Nur langweilige und unbedeutende Männer haben keine Todfeinde, Ren, das wissen Sie doch…« * Am frühen Abend flogen sie in Wallis’ Gleiter zurück zu seinem Landsitz. Amy und der Herr von Eden verstanden sich auffällig gut. Sie plauderten über dies und jenes. Den Konflikt mit Skittleman und seinen Leuten erwähnte Wallis mit keinem Wort, und Amy hütete sich, ihrerseits daran zu rühren. Der Commander sprach kaum etwas. Smalltalk war nicht sein
Ding. Schon gar nicht, wenn ihm Horrorbilder von verzweifelten Menschen und einer in Schnee und Eis versinkenden Erde durch den Kopf zogen. Er war heilfroh, Amy an seiner Seite zu haben – Him‐ mel, was versammelte diese Frau nicht alles an Talenten unter ihrer Schädeldecke! Sogar auf ein Dauerschwätzchen verstand sie sich, wenn es darauf ankam. Daß Wallis weder auf die Notlage der Erde noch auf ihr Gespräch beim Mittagessen zu sprechen kam, beunruhigte den Commander nicht besonders. Er war sicher, daß es hinter der scheinbar heiteren Fassade des Milliardärs arbeitete. Ihm die Transmitterkapseln abge‐ trotzt zu haben, war kein schlechter Coup gewesen, doch Dhark wollte mehr, und er war zuversichtlich, mehr zu bekommen. Ir‐ gendwann würde Wallis auf seinen dringenden Appell reagieren, da war Dhark sicher. Seine Intuition riet ihm jedoch, erst einmal abzu‐ warten. Nach der Landung deutete Wallis an, daß er zum Abendessen noch Besuch von der Erde erwartete. Amy und Dhark zogen sich für eine Stunde in ihre Gästesuite zurück, um sich auszuruhen und frisch‐ zumachen. »Was hältst du von dem Auftritt, den Wallis auf dem Raumhafen mit Skittleman und Co. abgezogen hat?« Endlich allein, begannen sie sich auszutauschen. »Starkes Stück, würde ich sagen.« Der Commander schüttelte seine Stiefel ab und schleuderte sie von sich. »Und ich würde sagen, es war ein Fehler, ein schwerer Fehler so‐ gar.« Amy schälte sich aus ihren Kleidern. »Demütige einen Mann, der sich im Grunde seines Herzens sowieso schon schwach und klein vorkommt, und du kannst dir seiner Rache sicher sein.« Sie stieg in die Duschkabine. »Schon möglich, mein Herz.« Ren Dhark streckte sich auf dem Bett aus. »Andererseits gibt es Menschen, mit denen kommt man nur klar, wenn man ihnen einmal das Glas bis zum Rand mit Essig füllt und sie dann zwingt, es bis zum letzten Schluck zu trinken.« Im Bad
begann das Wasser zu rauschen. »Außerdem ist es besser, Skittleman und Konsorten zu Feinden als zu Verbündeten oder gar Freunden zu haben. Nur so sind Halbweltler dieser Gewichtsklasse halbwegs berechenbar.« »Männerlogik!« schallte es aus dem Bad. * Eine Stunde später traten sie auf die Veranda in den noch ange‐ nehm warmen Abend hinaus. Die klare Edennacht dämmerte bereits herauf. Eine blonde Frau saß mit Wallis am Gartentisch. Das Paar trank Sekt und hatte sich allerhand zu erzählen, wie es schien. »Da sind ja meine Gäste!« rief Wallis. »Du kennst Miß Stewart und Commander Dhark bereits, Heather?« Die Frau stand auf. »Heather Sheridan«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Wir haben uns neulich auf dem Raumhafen von Alamo Gordo gesehen, während der Präsentation der neusten Produkte von Wallis Industries.« »Amy Stewart! Ich erinnere mich gut an Sie, wie geht’s?« »Oh, gut. Danke! Und Ihnen?« »Was soll ich antworten als höflicher Mensch und in der Gegen‐ wart unseres Gastgebers? Bestens geht es mir hier auf Eden!« »Ren«, sagte Dhark und: »Hallo.« Heather Sheridan hatte dunkel‐ blaue Augen und war auf jene Art schön, die einem halbwegs wa‐ chen Mann das Blut ins Zwerchfell jagte. Frederic kam heraus und erkundigte sich nach ihren Wünschen. Er trug inzwischen einen weißen Frack, ein schwarzes Hemd, eine goldfarbene Fliege und ein Haarband gleicher Farbe. Sein Gesicht jedoch war dasselbe wie am Vormittag und am Mittag: Würdevoll, ernst und ohne nennenswertes Mienenspiel. Der Commander wollte Wasser, Amy orderte trockenen Cham‐ pagner mit Johannisbeerlikör. »Stellen Sie sich vor, Heather hat Skittleman und seine Statisten
getroffen!« Wallis’ Stimmung hatte inzwischen einen Quanten‐ sprung in den grünen Bereich getan. Das war unübersehbar und unüberhörbar. An Amys Blicken las Dhark ab, daß sie daraus den gleichen Schluß zog wie er: Der Frau von Terra‐Press war es gelun‐ gen, den ersten Mann von Eden zu verzaubern. »In der Transmitterstation von Alamo Gordo«, bestätigte Heather. »Skittleman und Paley waren außer sich. Eine ihrer Begleiterinnen mußte vom Notarzt behandelt werden. Nervenzusammenbruch angeblich, aber zwei Kollegen erzählten mir unabhängig voneinan‐ der, daß die Frau drogenabhängig sei.« »Hatten Sie Gelegenheit, mit Skittleman persönlich zu sprechen?« erkundigte sich der Commander. »Das nicht, aber Paley proletete derart laut vor den versammelten Journalisten herum, daß ich mir schnell einen Reim auf die Ge‐ schichte machen konnte.« Frederic balancierte ein Tablett mit gefüllten Gläsern aus dem Sa‐ lon. Er ließ sich Zeit beim Servieren. Seine Aristokratenmiene konnte den Commander nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Butler aufmerksam lauschte. »Journalisten?« fragte Amy erstaunt. »Nun, Skittleman mag Hauptanteilseigner eines niveaulosen Ho‐ losenders sein, ein Profi ist er dennoch – er hat sofort eine Presse‐ konferenz organisiert. Seine Version: Eine mißglückte Transition spuckte seine Jacht zufällig in der Nähe von Eden aus dem Hyper‐ raum, ein Verband der Edenflotte zwang ihn zur Landung, und Edens Nummer eins persönlich raubte ihn aus, belästigte seine Freundinnen und beschlagnahmte seine Raumjacht.« »Das wird ihm kein Mensch glauben!« Amy winkte ab. »Was für ein Motiv sollte Mr. Wallis denn für ein solches Piratenstück haben? Geldsorgen vielleicht?« »Rache, behauptet Skittleman.« Heather sah zu ihrem Geliebten, der sich mit Kommentaren zurückhielt. »Rache für Paleys politi‐ schen Versuch, Terence zu enteignen.«
»Glaubwürdig oder nicht.« Dhark zog die Brauen hoch. »Ein ge‐ fährlicher Angriff ist das allemal, Terence, gefährlicher als ein Krieg, wenn die falschen Leute davon Wind bekommen.« Er musterte Wal‐ lis besorgt. »Sie sollten dringend Gegenmaßnahmen ergreifen. Ha‐ ben Sie Ihre PR‐Abteilung eingeschaltet?« Wallis winkte ab und grinste müde. »Sicher doch, aber was soll das, Ren? Je schlechter mein Image ist, desto weniger Menschen suchen Zuflucht auf Eden. Es ist mir eigentlich egal, was dieser halbseidene Schleimbeutel über mich verbreitet.« »Aber mir nicht.« Heather Sheridan gab sich kämpferisch. »Ich werde eine Story aus diesem Vorfall machen, morgen abend wird sie in Dynamite gesendet. Ich habe noch ein paar befreundete Kollegen von anderen Sendern heißgemacht. Die arbeiten ebenfalls an einem kritischen Beitrag über Skittleman und Paley.« »Wie finden Sie das, Ren?« Wallis beugte sich vor und faßte die Hand der Blonden. »Kann ich mich zu dieser Frau beglückwünschen oder nicht?« Auf diese Frage wußte Ren Dhark nichts zu antworten – dafür kannte er Heather Sheridan seiner Meinung nach viel zu wenig. Also hob er sein Glas, lächelte vieldeutig und trank Wasser. Sie wechselten das Thema, sprachen über Sternzeichen, gemein‐ same Bekannte und kreolische Küche. Irgendwann geleitete Frederic sie zum Essen in das Speisezimmer. Es gab mit Gemüse gefüllte Maismehltaschen und ein Ananasdessert, dazu einen trockenen Chablis. Die Roboter erkundigten sich nach dem Tagesbefinden der Gäste und wünschten vorzüglichen Appetit. Amy und Heather entdeckten nach und nach gemeinsame Inter‐ essen und ihre Sympathie füreinander. Den Commander wunderte das nicht: Beide waren ungefähr gleich alt, beide ähnlich attraktiv und gebildet, und beide schienen eine Schwäche für Männer an den Schalthebeln der Macht zu haben. Die Nacht wurde lang und feucht, und das Frühstück am nächsten Morgen fiel entsprechend kurz und wortkarg aus.
Heather Sheridan hatte es eilig. Sie verabschiedete sich, und Wallis begleitete sie vor das Haus, wo der Schönling im weißen Chauf‐ feursanzug neben dem metallicgrünen Gleiter wartete. Der sollte die Journalistin zur Transmitterstation bringen. Frederic trat ins Speisezimmer und erkundigte sich nach weiteren Wünschen der Gäste. »Wunschlos glücklich«, sagte Amy. »Nur um einen einzigen Gefallen bitte ich noch: Könnten Sie mich in die Kü‐ che zu Mrs. Domarac führen? Ich würde mir gern das Rezept für die Maistäschchen geben lassen?« »Mrs. Tomahawk wird ungern bei der Arbeit gestört«, erwiderte Frederic. »Außerdem unterliegen ihre Rezepte höchster Geheim‐ haltungsstufe.« »Oh! Mr. Wallis hält die Rezepte seiner Küchenchefin geheim?« »Doch nicht Mr. Wallis, Ma’am. Ich spreche von der höchsten Ge‐ heimhaltungsstufe auf Mrs. Tomahawks persönlicher Skala.« »Hm…« Amy musterte den Butler. Aus seinen Worten war ein leichter Tadel herauszuhören. »Ich würde es dennoch gern versu‐ chen, Frederic«, sagte sie höflich, aber bestimmt. Der Butler deutete eine Verneigung an. »Wie Sie wünschen, Ma’am«, entgegnete er ziemlich kühl. Ansonsten ließ er sich nicht weiter anmerken, wie wenig ihm Amys Bitte schmeckte. Gemeinsam verließen sie das Speisezimmer, und Ren Dhark blieb allein zurück. Nicht lange, denn bald kam Wallis zurück. »Können wir reden, Ren? Auf der Veranda sind wir ungestört.« Sie durchquerten Foyer und Salon und traten in die frische Morgenluft. »Unser Gespräch gestern am Mittagstisch hat mich sehr beschäftigt.« Tau glitzerte auf dem Gras und im Laub der Zierbüsche. Am Gartentisch nahmen sie Platz. Der Commander blieb äußerlich gelassen, innerlich jedoch ergriff ihn eine seltene Erregung. »Ich habe eine Botschaft an Trawisheim, würden Sie ihm die überbringen?« Ren Dhark nickte. »Brauchen Sie etwas zum Schrei‐ ben oder zum Mitschneiden?«
»Danke, aber ich habe ein gutes Gedächtnis.« »Also dann. Erstens: Eden und Wallis Industries werden auch in Zukunft sehr genau darauf achten, daß die Patentrechte an unseren Produkten nicht angetastet werden. Auch nicht von Terra.« »Sie sagen mir nichts Neues, Terence.« »Noch nicht. Richten Sie Trawisheim bitte zweitens aus, daß er mich ab sofort rund um die Uhr erreichen kann, und zwar über die To‐Richtfunkleitung unserer Botschaft auf Terra. Eine entsprechende Anweisung habe ich bereits erteilt.« Wallis lächelte nicht, keine Spur von Ironie funkelte in seinen Augen. »Ist das neu, oder ist das nicht neu, Ren?« Der Mann meinte jedes Wort ernst, das er sagte. »Das ist neu.« Der Commander war einerseits ganz Ohr, anderer‐ seits enttäuscht. »Allerdings wird der Commander der Planeten mich fragen, was er davon hat, wenn er Sie rund um die Uhr anrufen kann.« »Was er davon hat?« Wallis zog die Brauen hoch. »Nun, vielleicht muß er ja eines Nachts ganz schnell ein paar Einheiten meiner Flotte anfordern? Vielleicht macht der Krieg mit den Robotern von einer Sekunde zur anderen den Einsatz unbemannter Spezialaufklärer nötig, über die Terra gerade nicht verfügt? Oder vielleicht braucht er plötzlich fabrikneue Raumschiffe für den Dauereinsatz in der Terra‐ nischen Flotte? Oder zwanzig Transmitterabwurfkapseln aus Car‐ borit?« Wallis beugte sich vor und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. »Und damit bin ich beim dritten Punkt meiner Botschaft an Ihren Regierungschef, Ren: Eden wird Terra alles liefern, was die terranische Regierung zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise benötigt. Ohne Rechnung.« In Dharks Ohren rauschte es, er spürte seinen Herzschlag in der Kehle. In diesem Augenblick war er tatsächlich nicht ganz sicher, ob Wallis ihn auf den Arm nehmen wollte. »Sie wollen Ihre Schiffe und Ihre Spezialtechnologie verschenken?« »Von Geschenken war nicht die Rede, Ren. Ich habe gesagt, ich
werde kein von Terra benötigtes und von uns geliefertes Ausrüs‐ tungsmaterial in Rechnung stellen. Mehr nicht. Dieses Angebot gilt, solange das Sterben Ihrer Sonne anhält und solange die Roboter nicht besiegt sind.« »Und wenn wir überleben? Wenn wir die Krise sogar meistern?« »Danach sieht es momentan nicht aus, oder? Sollte die Erde aber doch noch gerettet oder sollte gar ein neues Imperium der Terraner auf einem anderen Planeten gegründet werden, soll Trawisheim – oder wer immer dann die Regierung führen wird – Kassensturz machen und nach eigenem Ermessen entscheiden, wieviel ihm un‐ sere Hilfe wert war und ob er überhaupt die Mittel hat, uns zu ent‐ schädigen. Doch warten wir erst einmal ab, bis einst wieder bessere Zeiten für Terra anbrechen.« Dhark schwieg. Wallis’ Angebot hatte ihm buchstäblich die Spra‐ che verschlagen. Kaum konnte er glauben, was er da eben gehört hatte. Die Männer sahen einander an. Irgendwann stand der Com‐ mander auf, ging zur Balustrade der Veranda und blickte in den Park hinaus. Der paradiesische Anblick von sattgrünem Rasen, far‐ benprächtigen Blumenbeeten und blühenden Bäumen und Büschen verstärkte noch sein Gefühl, aus der Wirklichkeit gestolpert und in einem Film gelandet zu sein. Irgendwann drehte er sich um und fragte: »Und wo ist der Haken?« Jetzt lächelte Wallis. »Sie hätten mich enttäuscht, wenn Sie diese Frage nicht gestellt hätten, Ren. Doch es gibt keinen Haken. Ich werde mein Angebot an die terranische Regierung schriftlich fixieren und Trawisheim in den nächsten Tagen zukommen lassen. Auch in diesem Dokument werden Sie und Trawisheim kein Hintertürchen finden, Ren.« »Keinen Haken? Kein Hintertürchen? Sie verblüffen mich, Teren‐ ce.« »Mein Angebot soll einen Bund zwischen Eden und Terra besie‐ geln, darum geht es mir.« »Schwer zu glauben, ehrlich gesagt.« Ren Dhark schlenderte zu‐
rück zum Tisch. »Bisher ging es Ihnen vor allem um Ihre Macht, Ihren Patentschutz und Ihren Profit.« Er setzte sich neben den Herrn von Eden. »Helfen Sie mir, Terence. Erklären Sie mir den plötzlichen Sinneswandel.« »Damit wir uns recht verstehen, Ren – der Patentschutz meiner Produkte bleibt unangetastet, egal was ich liefern werde. Macht bleibt mein persönliches Hobby, und auf Gewinn bleibe ich weiter‐ hin angewiesen, das ist doch klar. Allerdings…« Er senkte den Blick und rieb sich die Nasenspitze. »Allerdings gibt es höhere Werte.« »Was Sie nicht sagen.« »Sparen Sie sich Ihre Ironie für angemessenere Gelegenheiten, Ren, ich meine es ernst. Und Sie haben mir die Augen geöffnet, dafür bin ich dankbar.« Von fern hörten sie Stimmen und Schritte im Foyer. Wallis senkte die Stimme. »Wir auf Eden haben Glück gehabt. Doch vielleicht verläßt uns ja das Glück eines Tages, und wir stehen ähn‐ lich nahe am Abgrund wie zur Zeit die Erde. Dann wird es vorbei sein mit Macht und Gewinn, dann werden unsere Geschäftspartner sich nach lukrativeren Partnern umschauen, und allein unsere Freunde werden uns beistehen.« Die letzten Worte flüsterte er fast. »Verstehe.« Durch den Salon näherten sich Schritte. Dhark hörte Amys Stimme. Sie trat auf die Veranda heraus, in der Rechten schwenkte sie ein Notizbuch. »Stellt euch vor – Josephine hat mir sieben ihrer preis‐ gekrönten Rezepte aus der kreolischen Küche…« Sie unterbrach sich, weil sie die ernste und konzentrierte Stimmung zwischen den Män‐ nern spürte. »Gratuliere, Amy. Wer Mrs. Domarac zähmt, den kann man auch in eine Raubtiermenagerie schicken.« Wallis lächelte müde und stand auf. »Jetzt habe ich die Erde verlassen, um Steuern zu sparen, und nun wird Terra mehr von mir bekommen, als die Finanzbehörde mir je hätte abknöpfen können.« Er seufzte. »Daß Terra nach dieser Katastrophe je wieder zahlungsfähig sein wird, glauben Sie doch
selbst nicht, Ren.« Amy blickte verständnislos von einem zum an‐ deren. Wallis seufzte abermals und reckte die Arme wie flehend zum Himmel, als wollte er alle Götter von M53 anrufen. »Mein weiches Samariterherz wird mich eines Tages noch an den Bettelstab brin‐ gen…«
16. Sie beobachteten die Landung des Ikosaeders durch die transpa‐ rente Cockpitkuppel eines Regierungsgleiters hindurch. Scheiben‐ wischer, Gebläse und Enteisungsanlage arbeiteten auf Hochtouren und konnten die Schneemassen dennoch nicht bewältigen. Trawis‐ heims Chauffeur und seine beiden Leibwächter stiegen schon zum zweiten Mal aus, um den Schnee von Frontscheibe und Dach zu fegen. Minus elf Grad Celsius herrschten außerhalb des Gleiters, das je‐ denfalls behauptete die digitale Temperaturanzeige unter Uhrzeit und Datum. Im nordamerikanischen Westen war es später Vormit‐ tag, fast drei Wochen waren vergangen seit Ren Dharks erfolgreicher Eden‐Mission. Ein neues Jahr hatte begonnen. Doch die Probleme waren dieselben geblieben: Noch immer verlor die Sonne konti‐ nuierlich an Kraft, und noch immer war keine Lösung in Sicht, ihr vorzeitiges Erlöschen abzuwenden. »Da! Er kommt!« MacCormack deutete zur Frontscheibe. »Ich kann ihn erkennen!« Die symmetrischen Umrisse eines gewaltigen Schattens schälten sich nach und nach aus dem Schneetreiben, und dann sahen die Männer endlich mit bloßem Auge, was sie auf dem kleinen Radar‐ schirm des Gleiters schon seit knapp zwei Minuten beobachtet hat‐ ten: einen sechshundert Meter durchmessenden Ikosaederraumer. Der Gigant senkte sich langsam auf den Raumhafen von Star City herab. Der Chauffeur und die Leibwächter stiegen wieder in den Gleiter. Sie rieben sich die kalten Hände, auf ihren Mänteln und in ihrem Haar schmolz der Schnee, leise fluchten sie vor sich hin. »Fliegen Sie bitte so nahe wie möglich an den Landeplatz heran«, wies Trawisheim seinen Piloten an. Der Gleiter nahm Fahrt auf. »Was für ein Riese!« MacCormack schüttelte den Kopf. »Was für
ein Megaschiff! Wahnsinn!« »Tja, mein lieber Oberst, an den Anblick müssen wir uns hier in Star City jetzt gewöhnen.« Farnham beäugte das ungeheure Raum‐ schiff im Schneetreiben über dem Raumhafen nicht ganz so glücklich wie sein rothaariger Vize. »Was heißt hier ›müssen‹, Sir? Ich bin heilfroh, daß die Schwarze Garde nun endlich ein eigenes Raumschiff besitzt.« Sein breites Ge‐ sicht verdunkelte sich ein wenig. »Noch schöner wäre es allerdings, wenn wir es mit unseren eigenen Leuten besetzen könnten.« »Kommt schon noch, Oberst«, sagte Ren Dhark. »Ein Schritt nach dem anderen.« Obwohl der Regierungsgleiter noch über drei Kilometer vom an‐ visierten Landeplatz entfernt war, füllte der fabrikneue Ikosaeder aus Dharks Perspektive bereits den halben Winterhimmel aus. Auch der Commander konnte die Landung des Carborit‐Gi‐ganten nicht ohne Gefühlswallungen verfolgen: In einem seiner Material‐ hangars lagerten die angeforderten Transmitterkapseln. Das Schiff selbst war zwar vor seinem Besuch auf Eden in Auftrag gegeben worden, dennoch hatte es für Dhark die Bedeutung eines Symbols für das neue Bündnis zwischen Eden und Terra. Was da hinter dem Schleier des Schneefalls aus dem Himmel sank, war nichts weniger als der anschauliche Beweis für den durchschlagenden Erfolg seiner Eden‐Mission, und das bewegte ihn irgendwie. »Wallis hat tatsächlich keine Rechnung gestellt«, raunte Trawis‐ heim neben ihm. »Nicht einmal für den Ikosaeder, aber auch nicht für die letzte Karabinerlieferung, für die weiteren Sprungpeiler und für die Transmitterboxen. Noch nicht.« Die Blicke der Männer trafen sich. »Sie mißtrauen ihm noch immer?« Der Regierungschef zuckte mit den Schultern. »Sagen wir so: Seit ich seinen sogenannten Bündnisvertrag schriftlich habe, lerne ich es allmählich. Aber etwas in mir sucht immer noch nach dem Dreck‐ haar in der guten Suppe.«
»Es sucht vergeblich, glauben Sie mir, Henner.« Dhark hatte in Wallis’ Haus auf Eden Silvester gefeiert und noch einmal lange mit dem Milliardär gesprochen – mehr denn je war er seitdem von der Glaubwürdigkeit des mächtigen Mannes überzeugt. »Lassen wir uns überraschen.« Trawisheim lächelte müde. »Aber davon einmal abgesehen, Ren: Ich wollte Ihnen bei der Gelegenheit noch einmal danken. Gute Arbeit! Gratuliere.« »Danke. Ich bin selbst ein bißchen stolz auf mich.« Bis auf dreihundert Meter steuerte der Pilot den Gleiter an den Landeplatz heran. Bald erkannten die Männer sieben weitere Gleiter im Schneetreiben – Delegationen der Terranischen Flotte und der Schwarzen Garde, die zur feierlichen Übergabe des Schiffes an Farnhams Elitetruppe gekommen waren. Auch zwei Mannschafts‐ transporter der Schwarzen Garde hatte das Radar des Regierungs‐ gleiters erfaßt. Doch die waren noch fünf Kilometer entfernt. Den Ikosaeder selbst trennten noch knapp achtzig Meter vom Flugfeld. Deutlich konnten die Männer jetzt einige der zwanzig Dreiecksflächen erkennen, die den schwarzen Rumpfklotz des Raumers bildeten, auch einige der insgesamt zwölf Geschütztürme für die Wuchtkanonen waren deutlich zu sehen. Die Besatzung hatte die Triebwerke abgeschaltet, und so war der Brennkreis unterhalb des Giganten längst erloschen. Seifenblasen‐ gleich schwebte das mehrere Millionen Tonnen schwere Schiff auf einem aktivierten Prallfeld herab. Ren Dhark dachte an die bevors‐ tehende Mission. Nur drei Tage noch, und der neue Ikosaeder würde zu seinem ersten Einsatz im System des Roboterplaneten starten. Zusammen mit zwanzig neuen Ovoid‐Ringraumern der Terrani‐ schen Flotte würde Dharks POINT OF ihm Geleitschutz geben. Knapp acht Meter trennten das Flugfeld und die untere Dreiecks‐ fläche des Schiffsgiganten, als er endlich zum Stillstand kam. Un‐ beweglich schwebte er schließlich knapp über dem Boden; gerade hoch genug, damit die drei unteren Waffentürme der Wuchtkanonen nicht mit dem Flugfeld in Berührung kamen. Sie hätten den Schiffs‐
rumpf notfalls tragen können, doch üblicherweise setzte ein Ikosae‐ der auf seinem Prallfeld auf. Die zwei Kraftwerke an Bord produ‐ zierten genügend Energie für dessen Dauerbetrieb. Auf einem kleinen Bildschirm in der Armaturenleiste des Gleiters erschien das Konterfei eines Flottenoffiziers. »Major Elizondo an den Commander der Planeten und Generalmajor Farnham – Landung abgeschlossen, noch namenloser Raumer und Besatzung melden sich zum Dienstantritt!« »Willkommen zurück auf Terra, Major«, sagte Christopher Farn‐ ham. Auf Dhark wirkte er ein wenig überrascht und dabei bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen. »Und wieder willkommen im Dienst der Schwarzen Garde. Wir treffen uns zur Taufe an der Hauptschleuse.« »Verstanden, Sir. In fünf Minuten an der Schleuse. Wir haben üb‐ rigens nur eine, Sir.« Hector Elizondos Gestalt verblaßte. Farnham seufzte, und MacCormack begann zu schimpfen. »Warum ausgerechnet wieder Elizondo! Schlimm genug, daß wir keine eigene Besatzung stellen können, doch jetzt auch noch dieser Typ!« Der Schwarzen Garde gehörten momentan noch keine Raumfahrer an, und so war die ehemalige Besatzung der abgeschossenen HAMBURG auf das neue Schiff abkommandiert und Farnhams Be‐ fehl unterstellt worden. Nichts Neues eigentlich, und Dhark fand es auch nicht weiter aufregend, denn die Zusammenarbeit zwischen Garde und Flotte hatte sich bewährt. Immerhin hatte die HAMBURG samt Besatzung der Garde bereits als Transporteinheit gedient. Dhark verstand nicht ganz, was Farnham und MacCormack gegen Elizondo hatten. Möglicherweise gaben sie ihm die Schuld am Ver‐ lust der HAMBURG. Aber so genau wollte er das gar nicht wissen. Die vordere der an das Grundflächen‐Dreieck angrenzenden Flä‐ chen senkte sich langsam herab und gab den Blick in die riesige Außenschleuse und auf das Schott zur Innenschleuse frei. Die sieben Gleiter flogen näher an das Schiff heran.
Trawisheim wies seinen Piloten an, ebenfalls zur Schleuse zu fah‐ ren. Bald hörte das Schneetreiben auf. Jedenfalls schien es so, in Wahrheit aber hatte sich lediglich ein weiteres Prallfeld aufgebaut und umschloß die hallenartige Schleuse, den Commander‐Gleiter und dessen Begleitfahrzeuge. Die Schneemassen blieben nun auf der Oberseite des Prallfeldes liegen. Nacheinander setzten die Gleiter auf der inzwischen rampenartig ausgeklappten Dreiecksfläche auf. »Warum hat so ein Ikosaeder nur eine Schleuse?« wollte Farnham wissen, als die Männer aus dem Gleiter stiegen. »Wegen der Statik der Gesamtkonstruktion«, sagte Dhark. »Meh‐ rere kleine Schleusen hätten den Carboritpanzer geschwächt.« Aus den anderen sieben Gleitern kletterten Offiziere der Flotte, der Schwarzen Garde und der POINT OF, an die dreißig Männer und Frauen insgesamt. Auch einige geladene Medienvertreter waren erschienen. Dhark erkannte Heather Sheridan und den unvermeid‐ lichen Bert Stranger. Letzterer in Begleitung von Chris Shanton, Dan Riker und Arc Doorn. Die verschiedenen Delegationen sammelten sich rasch zu einer großen Gruppe und liefen gemeinsam die letzten zwanzig Meter der Rampe hinauf. Dort oben, am Rand der Außenschleuse, ließ Eli‐ zondo seine gesamte Besatzung antreten. Etwas abseits standen Jakob Jensby und vier der Offiziere seines Stabes. Die kleine Gruppe unter dem Generalmajor der Edenflotte hatte Elizondos Mannschaft während des tagelangen Fluges von Eden hierher nach Terra an den technischen Systemen des Ikosae‐ ders, die sich im Prinzip nicht sehr von denen eines Ringraumers unterschieden, geschult. Sie begrüßten Trawisheim, Farnham und MacCormack als erste. Danach schritten sie die in Reih und Glied angetretene Mannschaft von Hector Elizondo ab. Der Major stellte seine Männer und Frauen mit Namen, Rang und Funktion vor, der Regierungschef und die beiden Leitwölfe der Schwarzen Garde begrüßten jeden mit Hand‐ schlag. Ren Dhark beobachtete die Szene von der Gruppe um Jensby
aus. Anschließend traten Farnham, Trawisheim und MacCormack nahe an den Außenrand der Schleusenrampe. In zwei gleich starken Gruppen nahmen die Offiziere der Garde und der Terranischen Flotte links und rechts des Schleusenrahmens Aufstellung, die neue Schiffsmannschaft dazwischen. Alle präsentierten sie ihre nagel‐ neuen Multikarabiner von Garand, Enfield, Heckler & Koch, einem Tochterunternehmen von Wallis Industries. Jemand reichte Trawisheim eine Flasche Sekt, eine Zweiliterfla‐ sche. Eine lange Nylonkordel verband sie mit dem linken Schott‐ rahmen. »Ich taufe dich auf den Namen EMMA WALLIS!« rief der Commander der Planeten. Mit diesen Worten schleuderte er die Sektflasche nach links aus der Schleuse. Sie zerschellte am Schiffs‐ rumpf. Applaus erhob sich, Hurra‐Rufe wurden laut, und Dhark fragte sich, wer um alles in der Welt Emma Wallis gewesen sein mochte oder noch war. Wie auf ein Kommando fuhren plötzlich die Offiziere und die Mannschaftsmitglieder herum. Einige legten ihre Karabiner an und zielten auf ein sich öffnendes Schott zur Innenschleuse. Nach Dharks Informationen durfte sich eigentlich niemand mehr innerhalb des neuen Schiffes aufhalten, und damit ließ sich auch die Nervosität der Bewaffneten erklären. Ein einzelner Mann trat aus dem Schott in die Außenschleuse: langes, zum Zopf gebundenes Blondhaar, knöchellanger schwarzer Wildledermantel mit weißem Lammfellkragen, dunkelroter Roll‐ kragen eines Pullovers darunter. Mienen entspannten und Waffen‐ läufe senkten sich – Terence Wallis persönlich schritt durch die weiträumige Außenschleuse. »Ich bin gerührt, Henner!« Er umarmte den Regierungschef und drückte den Gardekommandeuren die Hände. »Welch eine Freude für mich, daß Sie das neue Schiff EMMA WALLIS getauft haben…!« »Wer war diese Frau?« wandte Dhark sich an Jensby. »Wallis’ Mutter. Sie ist sehr früh gestorben, Wallis war noch ein
Junge damals. Sehen Sie Elizondos Gesicht?« Der neue Kommandeur der EMMA WALLIS schnitt eine Miene, als hätte man ihm soeben den Sold für das erste Quartal 2063 ge‐ strichen. »Warum guckt er so grimmig?« wollte Dhark wissen. »Nun, er hat schriftlich beantragt, den Ikosaeder auf den Namen HAMBURG II zu taufen…« »Oh…« Gemeinsam gingen sie zu Wallis und begrüßten ihn. Wie sich herausstellte, war er per Transmitter nach Terra gereist und über einen kleinen Nebentransmitter der Station Alamo Gordo auf direk‐ tem Weg in den Bordtransmitter der EMMA WALLIS gesprungen. »Die Gruppe Saam hat blitzschnell gedacht, und meine Ingenieure haben fast genauso schnell gearbeitet.« Terence Wallis wies auf ein offenes Tor zu einem Nebenhangar der Schleusenhalle und lächelte voller Genugtuung. Die Blicke der Männer folgten der Richtung, in die sein Arm zeigte. Zunächst sah Dhark nur eine schwarze Fläche, doch als er sich mit den anderen dem Hangar näherte, erkannte er die Fugen in der vermeintlichen Räche, und begriff: Der neue Ikosaeder hatte die Transmitter‐Abwurfkapseln mitgebracht, die er dem Herrn von Eden abgetrotzt hatte! Auf der Schwelle zum Lagerhangar blieb Wallis stehen. »Da sind sie, Ihre zwanzig Transmitterkapseln, Ren.« Sein skeptischer Blick wanderte von Dhark über MacCormack zu Farnham. »Ich hoffe, diese schwarzen Würfel werden zu Toren in die Freiheit für die Sal‐ ter, die Sie befreien wollen, meine Herren, und nicht zu Gräbern für Ihre Gardisten.« »Unsinn!« MacCormack machte eine wegwerfende Handbewe‐ gung. »Himmel, Terence!« sagte Trawisheim. »Malen Sie doch den Teufel nicht an die Wand!« Sie gingen in den Lagerhangar und schritten die Reihen der carbo‐ ritschwarzen Würfel ab. Die hatten jeweils eine Kantenlänge von
zwölf Metern. MacCormack blieb vor einem der Container stehen und schlug mit der flachen Hand dagegen. »Wie stark ist die Wand?« wollte er wissen. »Ein Meter.« Wallis stemmte die Fäuste in die Hüften und be‐ trachtete die großen, aber ansonsten unscheinbaren schwarzen Würfel so stolz, als hätte er sie persönlich gebaut. »Ich will nicht behaupten, daß sie unzerstörbar sind, aber wer die knacken will, muß schon einen gewaltigen Feuersturm veranstalten.« »Das werden die Roboter im Bereich ihres Heiligtums nicht wa‐ gen.« Ren Dhark strich mit der flachen Hand über die Außenwände eines Carboritwürfels. »Wie kommt man hier raus?« »Und wie kommt man rein?« schob MacCormack gleich nach. »Das erste Mal kommt man über einen Transmitter hinein«, sagte Wallis. »Jeder dieser Würfel enthält einen Ringtransmitter von zehn Metern Durchmesser.« Ein Raunen ging durch die kleine Gruppe der Männer. »Jetzt können Sie sich in etwa ausrechnen, wie teuer so ein Gerät ist.« »Mehr als nur ein Vermögen, wir wissen es.« Dhark verkniff sich ein Grinsen – diese Bemerkung war typisch für Wallis. Aber gut – er hatte die Abwurfkapseln finanziert, und er wäre ein schlechter Ge‐ schäftsmann, wenn ihm die gewaltige Investition nicht wehtun würde. »Und jetzt verraten Sie uns bitte noch, wie man aus den Transmittern herauskommt.« »Nach der Landung wird eine der Seitenwände komplett herun‐ tergeklappt«, sagte Wallis. »Damit erübrigt sich auch die Frage, wie Ihre Gardisten mit den befreiten Saltern wieder in den Ringtrans‐ mitter gelangen.« »Schon, aber was ist, wenn der Container bei der Landung ausge‐ rechnet auf die Seitenwand fällt, die aufgeklappt werden kann?« Farnham machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. »Passiert nicht«, antwortete Wallis gelassen. »Die Gruppe Saam hat noch Platz gefunden, Stabilisatoren einzubauen. Die sorgen dafür, daß der Transmittercontainer in optimaler Position landet.«
Die Männer schnitten anerkennende Mienen, MacCormack pfiff sogar durch die Zähne. »Und wer bringt unseren Leuten bei, wie man so einen… äh… Transmittercontainer von innen öffnet?« »Das geschieht automatisch«, sagte Wallis. »Allerdings haben wir während der Reise nach Terra ein Dutzend Männer und Frauen aus Major Elizondos Mannschaft mit der Technologie vertraut gemacht. Diese Offiziere werden Ihren Leuten eine Einführung geben. Wir von Wallis Industries sprechen übrigens von mobilen Transmittern, Oberst MacCormack.« Er grinste in Richtung Dhark. »Die Inspiration verdanken wir dem Commander, er nannte sie mal ›verrückte Transmitter‹. Und ehe ich es vergesse: Selbstverständlich verfügt jedes Gerät über eine Selbstvernichtungsanlage. Schließlich darf die geheime Technologie bei Verlust nicht in feindliche Hände fallen.« »Ich muß trotzdem noch einmal nachfragen«, meldete Farnham sich wieder zu Wort. »Wenn nun doch ein dummer Zufall es will, daß der Container…« »… der mobile Transmitter, Generalmajor.« Wallis lächelte char‐ mant. »… daß der mobile Transmitter auf der Seitenfläche landet, die für den Ausstieg vorgesehen ist…« »Ich merke schon, Sie sorgen sich um Ihre Leute, General Farnham, und das verstehe ich gut.« Wallis wurde plötzlich sehr ernst. »Doch verlassen Sie sich darauf: Sollte irgendein unwahrscheinlicher Zufall den mobilen Transmitter veranlassen, auf der Öffnungswand zu landen, kann jede einzelne der anderen fünf Wände von innen ab‐ gesprengt werden.« Wallis drehte sich zu Dhark um und hob beide Hände, als wollte er sich entschuldigen. »Wie immer Commander Dharks Landungsun‐ ternehmen enden sollte, meine Herren – sollte es schiefgehen, wird es nicht an unseren mobilen Transmittern gelegen haben, das kann ich Ihnen schriftlich garantieren. Viel Glück…« *
Gegen Mittag verabschiedeten sich Trawisheim, Dhark und die Kommandeure der Schwarzen Garde von Wallis, Jensby und seinen Offizieren. Wie meist lag auch während des Abschieds jenes weltmännische Lächeln auf Wallis’ Zügen, daß für ihn so charakteristisch war. Dennoch entging es dem Commander nicht, daß der Herr von Eden seine Hand eine Sekunde länger festhielt, als es nötig gewesen wäre, und daß seine hellblauen Augen keineswegs lächelten. Das war der Moment, in dem es dem Commander bewußt wurde, wie gefährlich die Mission zur Rettung der Salter wirklich war, die er den Gardisten und sich selbst aufgebürdet hatte. So gut er konnte, schob er die überfallartige Einsicht beiseite. Wallis, Jensby und seine Männer nahmen den Ringtransmitter in der Kommandozentrale der EMMA WALLIS. Vom Transmitter‐ bahnhof in Alamo Gordo aus wollten sie weiter nach Eden reisen. Christopher Farnham befahl den leitenden Offizieren der Schwar‐ zen Garde, die Infanteristen an Bord zu führen, die für den Einsatz auf Eins ausgewählt worden waren. Die Mannschaftstransporter warteten am Fuß der Schleusenrampe. Drei Tage hatten die Männer Zeit, sich mit den mobilen Transmittern und den Gegebenheiten an Bord der EMMA WALLIS vertraut zu machen. Trotz energischen Protestes seines Stellvertreters MacCormack ließ Farnham sich nicht von seiner Entscheidung abbringen, die gefähr‐ liche Mission persönlich zu begleiten. Trawisheim und seine Leibwächter stiegen in den Regierungsglei‐ ter, das Prallfeld wurde deaktiviert, Schneemassen schlugen auf der Rampe und in der Außenschleuse auf, und der Gleiter mit dem Commander der Planeten schwebte in das Schneetreiben hinein. Roboter räumten den Schnee aus dem Ikosaeder und von seiner Rampe. Die Dreiecksfläche hob sich langsam und verschloß die Au‐ ßenschleusenhalle wieder gegen die Außenwelt. Die EMMA WAL‐ LIS startete, und Ren Dhark ging über den Ringtransmitter in der
Zentrale an Bord der POINT OF. Eine Menge Arbeit füllten die drei Tage bis zum Aufbruch nach Eins aus: Strategiekonferenzen, Einsatzbesprechungen, Ruhephasen und unzählige Trainingsstunden an den mobilen Transmittern und in einem virtuellen Raum, in dem der Hyperkalkulator das Heilig‐ tum der Roboter simulierte. Dhark nahm sich viel Zeit, um mit den für die Landungsoperation ausgewählten Gardisten zu sprechen. In kleinen Gruppen ließ er sie im Ladehangar der EMMA WALLIS antreten, studierte mit ihnen jedes technische Detail der mobilen Transmitter, ließ sich von ihnen das Heiligtum der Roboter und die Schreine mit den Saltern so gut wie möglich beschreiben und ging mit ihnen Schritt für Schritt den Einsatzplan durch. Siebzig Stunden nach Übergabe und Taufe der EMMA WALLIS brach die kleine Flotte aus zweiundzwanzig Schiffen nach Eins auf. Neun Tage brauchte sie, um die 68.000 Lichtjahre bis zur anderen Seite der Milchstraße zurückzulegen, wo der Roboterplanet Eins um eine solähnliche Sonne kreiste. Vier Lichtjahre entfernt davon ging der Verband Ende Januar 2063 in die Umlaufbahn um einen Nach‐ barstern. In dessen Korona waren die Schiffe zunächst einmal sicher vor den Aufklärungssystemen der Roboter. In einem Beiboothangar der EMMA WALLIS bestieg Oberst Ken‐ neth MacCormack gemeinsam mit Leutnant Kurt Buck einen Ab‐ setzer. Das Gardistenduo hatten den Auftrag, das Zielgebiet auf dem Planeten Eins auszuspähen. Farnham und Dhark wollten nichts dem Zufall überlassen. Dreiundzwanzig Stunden später kehrten die Späher zurück. Der Commander hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der Kommandozent‐ rale der EMMA WALLIS auf. Noch während der Absetzer sein Mutterschiff anflog, meldete MacCormack sich über Funk. »Schlechte Nachrichten«, sagte der Schotte. »Die verdammten Ro‐ boter sind vorbereitet. Sie haben das Gebirge, in dem ihr sogenanntes Heiligtum liegt, mit einem mächtigen Karoschirm überspannt…«
17. Alles, was Rang und Namen hatte, war in der Messe der POINT OF versammelt. Mit ihrem unerwarteten Schachzug hatten die Roboter Dharks Pläne zunichte gemacht und die Menschen unter Zugzwang gesetzt. Das Gebirge mit dem Heiligtum schien in unerreichbare Ferne gerückt und mit ihm die Bergung der Salter. Dabei, überlegte der ehemalige Commander der Planeten, hätte er anstelle der Ma‐ schinen nicht anders gehandelt. Sie hatten sich für den einzig logi‐ schen Schritt entschieden, weil sie sich ausrechnen konnten, daß die Menschen nach ihrer Flucht nicht aufgaben, sondern zurückkehren würden. »Einen schnellen Ausflug können wir abhaken«, brachte Dan Riker das Problem auf den Punkt. »Durch den Karoschirm kommen wir nicht, also nutzen uns die Abwurftransmitter nichts.« »Zumindest nicht, solange der Schirm aktiv ist«, widersprach Farnham. »Wir müssen einen Weg finden, ihn abzuschalten, um der Garde den Weg freizumachen.« »Wir wissen, daß wir die Karoschirme mit konzentriertem Beschuß knacken können.« »Zu gefährlich.« Dhark schüttelte entschieden den Kopf. Bei der geplanten Befreiung der Salter steckte der Teufel im Detail, da konnten sie nicht hingehen und das Hindernis mit den gewaltigen Energiemengen bombardieren, die für einen Erfolg nötig waren. »Die Nebenwirkungen beim Beschuß des Schirms lassen sich nicht kalkulieren. Wir können nicht ausschließen, daß die Salter dabei vernichtet werden. Dieses Risiko gehe ich nicht ein.« Am einhelligen Nicken erkannte er, daß die Versammelten seine Einschätzung teilten. Denn leider ließ sich keine exakte Dosierung berechnen, die zum Kollabieren eines Karoschirms führte. Mit etwas Pech zerpulverten die Geschütze der POINT OF und ihrer Begleit‐ schiffe den gesamten Berg, in dem die Anlage untergebracht war.
»Dann nenne mir mal eine andere Möglichkeit«, forderte Riker. Dhark entging das verräterische Zucken im Gesicht seines besten Freundes nicht. »Dieselbe, die auch dir gerade durch den Kopf ge‐ gangen ist. Wir gehen heimlich, still und leise vor. Mit einem Flash.« Riker zeigte eine Miene, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Ich brauche wohl nicht zu raten, wer den Flash steuert?« »Wenn du einen Zweifel hättest, würdest du dich nicht so winden. Ich übernehme das selbst.« »Also wie immer. Warum ausgerechnet du? Du überstrapazierst dein Glück, mein Lieber. Eines Tages verläßt es dich.« Dhark rollte mit den Augen. Schließlich führten sie diese Ausei‐ nandersetzung nicht zum erstenmal. Dan trug seine Vorbehalte regelmäßig vor, und er, Dhark, setzte sich als Kommandant der POINT OF ebenso regelmäßig darüber hinweg. Doch diesmal hatte er einen wirklich triftigen Grund. »Ich wollte mir Eins sowieso einmal ansehen. Wenn ich das jetzt mache, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.« »Du schlägst sogar drei, wenn ich dich begleite.« »Tut mir leid, aber mir schwebt MacCormack vor.« Dhark wandte sich an Generalmajor Farnham. »Habe ich Ihre Einwilligung, Chris?« Der Befehlshaber der Schwarzen Garde tauschte einen kurzen Blick mit Oberst MacCormack. »Eine logische Wahl«, bemerkte der Ire. »Schließlich war ich mit der Garde bereits dort unten. In meiner Begleitung braucht sich Dhark weder auf die Instrumente zu verlassen, noch besteht die Gefahr einer überflüssigen Suche. Ich lotse ihn auf dem kürzest‐ möglichen Weg.« Farnham nickte. »Dann ist das geklärt.« »Das sehe ich zwar anders«, beschwerte sich Riker und machte ei‐ ne wegwerfende Handbewegung, »aber auf mich hört hier ja so‐ wieso keiner.« Dhark spürte, daß sein Freund richtig sauer war, doch darauf
konnte er keine Rücksicht nehmen. Er hatte seine Entscheidung ge‐ troffen, die auch damit zu tun hatte, daß nicht beide führenden Männer der POINT OF in denselben Einsatz gingen. Natürlich war auch Riker das klar, doch in solchen Situationen war seinem Stell‐ vertreter in der Kommandantenfunktion nicht mit Argumenten zu kommen, mochten sie auch noch so zutreffend sein. »Seht euch bloß vor da unten«, knurrte Riker. »Und bringt den Flash in einem Stück zurück.« Nichts anderes hatte Dhark vor. * Ren Dhark ließ sich Zeit für die vier Lichtjahre bis Eins. In weiter Entfernung um das solähnliche Zentralgestirn des Robotervolkes patrouillierten zahlreiche Schiffe. Solange der Kommandant nicht den Fehler machte, sich einem davon auf optische Sichtweite zu nähern, drohte dem zylindrischen Beiboot keine Entdeckungsgefahr, da es im Tarnmodus unterwegs war. »Aus der Nähe betrachtet wirken diese Kästen ziemlich beeindru‐ ckend«, überlegte er. »Kaum zu glauben, daß es sich weniger um Raumschiffe nach unserem Verständnis handelt, sondern eher um die Körper von Großrechnern.« »In meinen Augen macht das keinen Unterschied.« MacCormack saß Rücken an Rücken zu Dhark und hielt die Anzeigen der Or‐ tungseinrichtungen im Auge. »Es ist das gleiche, ob eine einzelne Maschine autark und beweglich ist oder lediglich Bauteil einer grö‐ ßeren Maschine. Auf die eine wie auf die andere Art kann sie keine Selbstlegitimation daraus ableiten.« »Also würden Sie das Volk nicht als ein solches bezeichnen?« »Für mich sind unsere Bordrechner auch keine Verbündeten, son‐ dern elektronische Erfüllungsgehilfen.« »Aber bei den Robotern von Eins handelt es sich um keine Erfül‐ lungsgehilfen von biologischen Wesen. Sie stellen die eigentliche
Population dar.« Mißmutig betrachtete der Oberst den Monitor über seinem Kopf. »Das ändert nichts. Schon gar nicht, wenn sie in sämtlichen Lebe‐ wesen ›Biomüll‹ sehen. Roboter bleibt nun einmal Roboter, gleich‐ gültig, wie er sich selbst sieht.« Ein Lächeln huschte über Rens Gesicht. »Erzählen Sie das mal Ar‐ tus.« »Verzichte dankend. Mir sind die gelegentlichen diesbezüglichen Dispute zwischen Artus und Dan Riker zu Ohren gekommen. Aber wenn es Sie beruhigt, in Artus sehe ich durchaus einen Sonderfall. Niemand bestreitet, daß er durch besondere Umstände von einer simplen Maschine zu einer echten Künstlichen Intelligenz geworden ist.« »Und wie sieht es im Fall von Chris Shantons Roboterhund Jimmy aus? Es gibt Stimmen, die ihm ebenfalls einen Turing‐Sprung attes‐ tieren.« »Ich schlage eine Kurskorrektur vor«, wich MacCormack aus. »Sonst kommen wir diesem Raumer, der wie ein deformiertes Dia‐ bolo aussieht, ziemlich nah.« Dhark dirigierte den Flash so, daß er das Roboterschiff in einem Abstand von einer halben Million Kilometern passierte. Bei der ver‐ gleichsweisen Winzigkeit des Beiboots und der aktivierten Tarn‐ schutzvorrichtung fühlte er sich ziemlich sicher. Daß kein einziges der patrouillierenden Schiffe eine Reaktion zeigte, bestätigte ihn in seiner Annahme. »Die Roboter werden ihr Heiligtum zusätzlich schützen, nicht nur durch den Schirm. Wir müssen in der Gegend um den Berg mit starken Wacheinheiten rechnen.« »Deshalb nähern wir uns Eins von der anderen Seite her.« Zum wiederholten Mal versuchte Ren einen Sinn in die scheinbar zu‐ sammenhanglosen Teile dieses Verwirrspiels zu bringen. Woher stammten die Salter, die dort unten im »Heiligtum« ruhten? Die letzten 108 Vertreter dieses Volkes hatte man vor über fünf Jahren in
Drakhon bei den Shirs gefunden und nach Terra gebracht, wo sie von den Robonen umgebracht worden waren. Bis zuletzt hatte Ren sich eine gewisse Mitschuld an ihrem Tod gegeben. Hätte er sie bei den Shirs gelassen, wären sie womöglich heute noch am Leben. Of‐ fenbar gab es nun aber weitere überlebende Salter. Wie kamen sie auf den Planeten Eins? Und wieso ließen die Roboter ihnen an‐ scheinend eine solche Verehrung zuteil werden, daß sie deren Refu‐ gium als Heiligtum ansahen? Fragen, auf die er Antworten erhalten würde, sobald die Salter aufwachten. Oder war selbst diese Schlußfolgerung ein Trugschluß? Es gab keine Garantie dafür, daß die Nachkommen der von den Worgun genetisch veränderten Primaten Aufschluß über ihr eigenes Schick‐ sal geben konnten. »Sie werden es wissen«, murmelte er gedankenverloren. »Wer wird was wissen?« MacCormack versuchte den Kopf zu drehen, was in der engen Kabine gründlich mißlang. Diesmal war es Dhark, der einer Antwort auswich. »Ziemlich tris‐ ter Planet«, kommentierte er das Abbild der Zentral weit der Robo‐ ter. Der Flash war nahe genug an Eins herangekommen, um den Pla‐ neten deutlich erkennen zu lassen. Obwohl er unter dem Licht einer gelben Sonne lag und etwa die gleiche Entfernung zu seinem Zent‐ ralgestirn aufwies wie die Erde zu Sol, hatte er doch ein ganz anderes Erscheinungsbild. Ren brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, was er selbst bei der Dunkelheit vermißte. Gewässer und Vegetation. Beides gab es dort unten nicht. Zwar war er durch die Berichte dar‐ auf vorbereitet gewesen, doch keine noch so farbige Schilderung vermochte die visuelle Erfassung zu ersetzen. »Keine wirklich heimelige Umgebung für die Salter«, bestätigte MacCormack seine Gedanken. »Obwohl es denen in ihrem Zustand nichts ausmacht.« »Der wird sich hoffentlich bald ändern.« Dhark zog den Flash in
eine weite Schleife um den Planeten herum, während er gleichzeitig den Anflug fortsetzte. Myriaden in der Tiefe funkelnder Pünktchen bildeten ein beeindruckendes Lichternetz auf der Nachtseite von Eins. Der Oberst erklärte ihm, wo das Heiligtum lag. Aufgrund der ge‐ speicherten Daten gab es daran zwar ohnehin keinen Zweifel, doch Ren war dankbar für die zusätzliche Bestätigung. Er überflog den Terminator und erreichte die Tagseite des Planeten. Immer tiefer zog er den Flash. Nur wenige Roboterschiffe waren zu sehen. »Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn die uns zufällig entdecken.« Dhark schaltete den möglicherweise verräterischen Brennkreis aus, nur das Intervall ließ er aktiv. Er ignorierte die minimale Wahr‐ scheinlichkeit einer Entdeckung und steuerte den Flash durch die Stickstoffatmosphäre des Planeten, die dafür sorgte, daß er ebenso recht keim‐ wie rostfrei war. Zum erstenmal sah er die gewaltigen Gebäude mit eigenen Augen. Unwillkürlich erinnerten sie ihn an die planetenumspannenden Bauwerke auf Gisols Heimatwelt Epoy. Allerdings hatte dort trotz aller Wucht und Größe im Gegensatz zum bizarren Baustil der An‐ lagen auf Eins eine gewisse Symmetrie und Überschaubarkeit ge‐ herrscht. Der Flash näherte sich einem einzigen Durcheinander aus unter‐ schiedlichen Formen. Kleine und große Gebäude wechselten sich ab, klobige Klötze mit filigranen Türmen, teilweise zumindest ansatzweise zweckmäßige Einrichtungen mit völlig wirren Konstrukten. Eben noch abgestoßen von der Tristesse und Farblosigkeit des Planeten, begann die für Roboter zweifellos perfekte Welt Eindruck auf Ren zu machen. Er durfte nur nicht von den Menschen eigenen Empfindungen für op‐ tische Ästhetik ausgehen, sondern mußte in den nüchternen Para‐ metern der Maschinen denken – dann ergab plötzlich alles einen ganz anderen Sinn.
An deren Stelle würde ich womöglich genauso bauen, ging es ihm durch den Kopf. Dhark schob den Gedanken weit von sich. Er war nicht an Stelle der Roboter, glücklicherweise, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, machte er sich vielleicht etwas vor. Es war ihm unmöglich, sich in das Wesen von Robotern hineinzuversetzen. Artus konnte das, er selbst nicht. »Ich vermute zahlreiche Hohlräume unter der Planetenoberfläche, zumindest aber große Ansammlungen energetisch aktiver Systeme«, sagte MacCormack. »Jedenfalls wenn ich die Werte der Passivortung richtig deute. Ich schätze, daß es da unten nicht viel anders aussieht als hier oben.« »Das werden wir gleich feststellen.« Wie ein Stein fiel der Flash der Planetenoberfläche entgegen. Ren fand einen winzigen Gebirgsausschnitt, der frei war von Bebauung, und jagte darauf zu. »Da fliegen wir wenigstens keinem Roboter direkt durchs Wohn‐ zimmer«, kommentierte er die Kurskorrektur, die beim Schwung des Beiboots kein Problem war. Die Schwerkraft des Planeten tat ein übriges, damit er auch ohne Antrieb nicht an Geschwindigkeit ver‐ lor. Dann stürzte der Flash in totale Dunkelheit. * Die aber nur Sekunden währte, bis das Beiboot die oberste Ge‐ steinsschicht durchstoßen hatte. Es fiel durch einen künstlich be‐ leuchteten Hohlraum, der keine Rückschlüsse auf seinen Zweck gestattete. Kein einziger Aktionsroboter hielt sich dort auf. MacCormacks Vermutung erwies sich als richtig. Die Roboter hat‐ ten nicht nur den Berg mit ihrem Heiligtum wie die Maulwürfe ausgehöhlt, sondern wahrscheinlich gewaltige Areale unter dem ganzen Planeten erschaffen.
»Anscheinend ist ihnen an der Oberfläche der Platz zu knapp ge‐ worden.« Ren nickte. Dafür sprach die beinahe vollständige Bebauung von Eins. Nur in den Bergen gab es einige naturbelassene Enklaven, von denen aus man den freien Himmel sehen konnte. Zwischen den gewaltigen Gebäuden hingegen waren nur wenige freie Plätze aus‐ gespart worden, dazu die auf (für Menschen) unverständlich ange‐ legten Trassen verlaufenden Straßen und Gassen zwischen den Bauten und die Schneisen, die von den allgegenwärtigen Trans‐ portbändern geschnitten wurden. Auch unter der Erde wucherten die verschiedenen Bauabschnitte ineinander. Sie erweckten den Eindruck, von vornherein keinem Planungsschema gefolgt zu sein. »Die Roboter haben willkürlich angefangen zu bauen und sind dann nach Lust und Laune in alle Richtungen vorgestoßen«, über‐ legte der Oberst. »Besonders planvoll ist das nicht, besonders nicht für logisch und zweckmäßig denkende Maschinen.« »Dafür nicht weniger effektiv.« Was auch dem Bild an der Plane‐ tenoberfläche entsprach. Auch dort war das Volk bei der Bebauung offenbar jederzeit gerade so vorgegangen, wie es in dem Moment sinnvoll erschien, ohne sich darum zu kümmern, wie später einmal der nächste Bauabschnitt aussehen würde. Es war schwer zu ent‐ scheiden, ob eine am Reißbrett entworfene Stadt oder diese Art der Vorgehensweise für ein Maschinenwesen praktischer und zu‐ kunftsorientierter war. Eine interessante Frage für einen langwierigen Disput zwischen Dan und Artus, dachte Dhark. Der Flash stürzte durch zahlreiche Räume, Hallen und Kavernen. Manche waren leer, doch die meisten randvoll angefüllt mit gewal‐ tigen Maschinenkomplexen. Ren fühlte sich wie in einem ins Gigan‐ tische vergrößerten Elektronikbaukasten, aus dem ein unbedarftes Kind aufs Geratewohl sämtliche vorhandenen Bauteile irgendwie miteinander verbunden hatte. Dabei zweifelte er nicht daran, daß
hier die Funktionalität über allem anderen stand. Mit seinen men‐ schlichen Sinnen konnte er sie nur nicht nach vollziehen. »Immer noch keine Handlungsroboter.« Unablässig blickte Mac‐ Cormack zwischen Ortungsanzeigen und dem Monitor über seinem Kopf hin und her. »Jedenfalls sehe ich keine.« Allein anhand der Energiesignaturen war keine Erkennung mög‐ lich. Millionen von energetischen Impulsen prasselten auf die Pas‐ sivortung des Flash ein. Ohne die Aktivortung ließen sich keine Zu‐ ordnungen vornehmen. Sobald Dhark sie einschaltete, war die Tar‐ nung dahin, daher verzichtete er so lange wie möglich auf Wahr‐ nehmung dieser Option. Immer tiefer sank der Flash ins Innere von Eins hinab. In einer Tiefe von etwa einem Kilometer ließen die Aushöhlungen allmählich nach. Von dort an dominierten wieder die ursprünglichen Gesteins‐ schichten. »Von nun an sind wir vor optischer Entdeckung sicher.« Trotzdem wartete Dhark weiter ab. An der Planetenoberfläche gab es zahlreiche Ortungseinrichtungen, und die Männer hatten keinen Anhaltspunkt, wie groß deren Reichweite war. Erst bei einer Tiefe von zehn Kilometern machte er sich keine Sorgen mehr, noch erfaßt zu werden, und zündete den Brennkreis. Ein paar bange Sekunden vergingen, bis MacCormack Entwarnung gab. »Keine Ortungsstrahlen. So tief reichen sie also nicht.« »Dann lotsen Sie mich mal, Oberst«, forderte Ren, während er den Flash beschleunigte und durch den Kern des Planeten raste. Es war ein unglaublicher Anblick, durch das glutflüssige Innere zu fliegen. Zwar bestand beim Intervallflug in einem eigenen Zwischenkonti‐ nuum nicht die geringste Gefahr, dennoch bekamen die Insassen dank des Reizstrahls sämtliche Außenbilder haarklein geliefert. Dann war das Schauspiel auch schon wieder vorüber. »Kurskorrektur?« fragte Dhark. »Negativ. Wir sind genau richtig.« Auf der anderen Seite des Planeten gab es keine unterirdischen
Einrichtungen. Viele Kilometer über ihren Köpfen wußte Ren den Karoschirm, welcher der Grund ihres Hierseins war. Trotz allem blieb ein Rest von Zweifeln. Wenn er sich irrte und der Schirm nicht nur über dem Berg aktiv war, sondern sich darunter fortsetzte und eine geschlossene Kugelform aufwies, war der Vorstoß mit dem Flash für die Katz. »Keine zwanzig Kilometer mehr«, verkündete MacCormack. »Wenn nicht bald etwas geschieht, dann überhaupt nicht mehr.« »Immer noch keine auf uns gerichtete Ortung?« »Negativ. Die halten ihr Heiligtum für sicher. Zumindest gehen sie nicht davon aus, daß es jemand von unten entert.« Ren drosselte die Geschwindigkeit so weit, daß er die Sediment‐ schichten unterhalb des Berges unterscheiden konnte. Unaufhaltsam stieg der Flash weiter in die Höhe. »Nur noch ein paar hundert Meter. Alles klar.« Wenn hier noch keine energetische Sperre vorhanden war, gab es keine. Sie war ausschließlich oberirdisch aktiv. Die Männer hatten richtig kalkuliert, und Ren zögerte nicht länger, da er erwartete, früher oder später ohnehin in eine Ortungsfalle zu fliegen. »Aktivortung ein«, sagte er entschlossen. »Läuft… erfolgreich. Eine ziemlich starke Energiequelle wird an‐ gemessen, Dhark.« So stark, daß sie in dieser Umgebung nur einen Ursprung haben konnte. Die Männer hatten den Schirmgenerator für den bergüber‐ spannenden Karoschirm gefunden. Ren schaltete auf Antigrav um, um mit dem Brennkreis keine schlafenden Salter zu gefährden. Im Zustand künstlicher Schwere‐ losigkeit schwebte der Flash durch den Boden, drang zur Hälfte in einen leeren Gang ein und steckte zur anderen in einem bizarr ge‐ formten Maschinenblock, der vor hektischer Betriebsamkeit lebte. Aktive Kontrollampen waren sichtbarer Ausdruck der stetigen Emissionen. Obwohl es unmöglich war, glaubte Dhark das Summen der Aggregate zu vernehmen.
Anhand der Anzeigen gab MacCormack die Richtung vor. Der Schirmgenerator mit seiner starken Energieabgabe strahlte wie ein gewaltiges Leuchtfeuer. Er war nicht zu verfehlen. Nun bestätigten sich die Eindrücke, die Artus und die Gardisten von ihrem Vorstoß übermittelt hatten. Das Innere des Bergs war zu weiten Teilen aus‐ gehöhlt und mit technischen Gerätschaften gefüllt worden, deren Funktion sich durch bloße Beobachtung nicht ergründen ließ. Ren verschwendete keinen Gedanken daran, sondern widmete sich sei‐ nem primären Ziel. Der Flash flog durch einen wahren Maschinen‐ park und durchdrang eine Trennwand, die sich zwanzig Meter in die Höhe erstreckte. Im angrenzenden Raum herrschten ganz andere Bedingungen. Den beiden Männern stockte der Atem. * Der Oberst fand als erster seine Sprache wieder. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Trotz all seiner Erfahrung als Raumsoldat mußte er einen Kloß die Kehle hinunterwürgen. »Das ist… erschütternd.« Dhark nickte. Ihm ging es nicht anders als seinem Begleiter. Auch er fühlte sich vom Bild der – zweifellos gegen ihren Willen – in einen künstlichen Schlaf versetzten Humanoiden abgestoßen. Es gab keine Entschuldigung für diese Barbarei der Roboter. Dabei waren sie von den Berichten auf den Anblick, der sich ihnen nun bot, vorbereitet. Vor ihnen lag eine weiträumige Halle von zweihundert Metern Länge und fünfzig Metern Breite. Das schwache Licht, das von in die Hallendecke eingelassenen Leuchtplatten abgestrahlt wurde, ver‐ breitete eine unheimliche Atmosphäre. An den Wänden und in lan‐ gen Reihen waren Stellagen aufgebaut. Unwillkürlich drosselte Dhark die Geschwindigkeit des Flash auf Schrittempo, um die Eindrücke besser in sich aufnehmen zu können. Mannslange Quader, Sarkophagen gleich, reihten sich in den Rega‐
len aneinander. Noch bevor Dhark in das erste Gesicht eines der Schlafenden blickte, wußte er, was ihn erwartete. Sämtliche in einer Nährflüssigkeit aufbewahrten Salter waren alt. »Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten«, drängte MacCormack. »Es grenzt an ein Wunder, daß immer noch keine Handlungsroboter der Großrechner aufgetaucht sind. Auch wenn sie uns bisher nicht bemerkt haben, sollten wir unser Glück nicht über Gebühr strapa‐ zieren.« Ren dachte an die Befehlsinstanz – wie Artus sie genannt hatte –, die im Widerstreit mit einigen anderen Großrechnern gelegen hatte. Auch sie hatte den Flash noch nicht registriert, ansonsten wäre in der Halle längst der Teufel losgewesen. Alles in ihm drängte danach, zu landen und zu versuchen, die Salter mittels der Kontrollinstrumente an den Sarkophagen aufzuwecken. Es bereitete ihm Mühe, den Impuls zu unterdrücken, weil damit nichts gewonnen war. Selbst wenn er das geschafft hätte, was zu‐ mindest zweifelhaft war, hatte er damit nichts gewonnen, solange der Berg durch den Schirm geschützt war. Er gab sich einen Ruck und dirigierte den Flash oberhalb der Quader zum jenseitigen Ende der Halle. Aus dieser Richtung waren Artus und die Gardisten eingedrungen; durch das Schott an der Kopfseite der Halle war ihnen anschließend die Flucht gelungen. »Wir müssen uns links davon halten«, instruierte MacCormack den Piloten. Dhark nickte stumm und nahm die geringfügige Kurskorrektur vor. Weitere Maschinenräume schlossen sich an die Halle an. »Sieht so aus, als ob von hier die Versorgungsleitungen zu den Quadern führen.« MacCormack deutete zu wannenförmigen Tanks. Eine träge Flüssigkeit schwappte in den transparenten Behältern, die nahtlos in einen Maschinenblock eingepaßt waren. »Das ist ein wei‐ terer neuralgischer Punkt, mit dem wir die Roboter im Notfall unter Druck setzen können.« »Ich will sie nicht unter Druck setzen.« Zwar waren die Reaktionen
von Maschinen zumeist vorauszusehen, aber im vorliegenden Fall war sich Dhark nicht sicher. Artus’ Worten zufolge waren sie sogar in Panik verfallen und hatten untereinander gestritten. Womöglich würde schon ein kleiner Anlaß ausreichen, daß sie sich in ihrer Panik zu einer Kurzschlußreaktion mit unabsehbaren Folgen hinreißen ließen. Eine Bewegung vor dem Flash riß ihn aus seinen Gedanken. Zwi‐ schen den Maschinen sprangen mehrere Handlungsroboter hervor. Dhark zählte sieben von ihnen. Der Flash hatte sie aufgescheucht. Sie blieben einfach vor ihm stehen und eröffneten das Feuer, ohne sich um ihre eigene Existenz zu kümmern. »Nun haben wir den Salat!« entfuhr es Ren. Natürlich würden die kleinen Handlungsroboter die Anwesenheit der Eindringlinge sofort an die Großrechner oder sogar die Befehlsinstanz weiterleiten. Die Maschinen reagierten sogar schneller, als er erwartete. Binnen Sekundenfrist strömten weitere Roboter zwischen den bis eben noch scheinbar einsam daliegenden Aggregaten hervor. Auch sie schossen sofort. »Gegenfeuer?« fragte MacCormack. »Sie können uns nichts anhaben«, lehnte Ren ab. Die Strahlenbah‐ nen vergingen wirkungslos im Intervallfeld des Flash. Für einen aberwitzigen Moment hatte Dhark den Eindruck, die Handlungs‐ roboter befänden sich mit MacCormack und ihm innerhalb des Flash, als er geradewegs durch sie hindurchflog, dann blieben sie hinter dem Beiboot zurück, ohne Schaden anrichten zu können. Das änderte jedoch nichts an der Entdeckung. »Wie wir die Großrechner kennen, machen sie auf der Stelle mobil. Wir müssen damit rechnen, daß sie den Generator zusätzlich si‐ chern.« »Dazu lassen wir ihnen keine Zeit.« Ren preßte die Lippen zu‐ sammen und trieb den Flash durch mehrere zugebaute Räume, bis endlich Naturgestein folgte. Nur eine dünne Schicht, keine zehn Meter dick, bedeckte die künstlich geschaffene Unterwelt.
»Wir sind durch!« MacCormack richtete sich in seinem Sitz auf. »Dhark, ich hatte Recht. Sehen Sie sich das Gewimmel an.« Aus allen Richtungen strömten Handlungsroboter herbei und nä‐ herten sich dem Schirmgenerator. Ren erkannte das Gerät auf den ersten Blick. Es war einfach außen auf den Berg aufgesetzt. Durch den Karoschirm hatten die Großrechner ihr Heiligtum ebenso wie den Schirmgenerator für unangreifbar gehalten. Eine Fehleinschätzung, die sich bitter rächen sollte. »Brennkreis ein«, murmelte Dhark, als er umschaltete. »Ihr kommt ein bißchen zu spät, Freunde.« Ohnehin gab es nichts, was die bizarr geformten Handlungsrobo‐ ter ohne schweres Geschütz gegen den Flash ausrichten konnten. Verzweifelt feuerten sie mit Handstrahlern oder körpereigenen Waffen. Damit konnten sie gegen ein Intervallfeld keinen Blumen‐ topf gewinnen. Ren ignorierte sie. Mit verkniffenen Zügen steuerte er den Flash mit aktiviertem Brennkreis durch den hausgroßen Generator. Auf der anderen Seite jagte er in die Landschaft hinaus. »Der Generator schmort durch.« MacCormacks Stimme war be‐ herrscht, während er den Vorgang von den Instrumenten ablas. »Jeden Moment sollte… da, es ist soweit.« Seinen Namen hatte der starke Schutzschirm des Volkes, weil sich in seiner Struktur unter Belastung kreuzförmige Muster bildeten. Das geschah jetzt nicht. Statt dessen brach er übergangslos zusam‐ men, als der Generator den Dienst versagte. »Den Robotern darf keine Zeit bleiben, den Ausfall zu kompen‐ sieren. Oberst, Funkspruch absetzen!« MacCormack handelte gedankenschnell. Der vorbereitete To‐Richtfunkimpuls jagte mit nicht meßbarer Geschwindigkeit ins All hinaus. Dort wurde er bereits sehnsüchtig erwartet.
18. »Mir gefällt das nicht… mir gefällt das ganz und gar nicht.« Statt zu verrauchen, war Dan Rikers Verärgerung weiter gestiegen. Wie ein Tiger im Käfig marschierte er in der Kommandozentrale der POINT OF auf und ab und ging sämtlichen anderen Anwesenden auf die Nerven. Die gelegentlichen Blicke, die Hen Falluta, Leon Bebir oder die anderen Brückenoffiziere ihm zuwarfen, ignorierte er mit dem Selbstverständnis eines Mannes, der überzeugt war, im Recht zu sein. »Immer noch nichts?« wandte er sich zum wiederholten Mal an die Funk‐Z. »Negativ«, kam prompt die ebenso stereotype Antwort von Glenn Morris. »Ich hätte mich ansonsten schon gemeldet.« Riker hielt in seiner Wanderung inne und schaute zu dem Funk‐ spezialisten hinüber. Im letzten Moment bemerkte er, daß ihm eine giftige Bemerkung auf der Zunge lag. Er schluckte sie hinunter, be‐ vor er sie unbedacht von sich geben konnte. Er konnte Morris dessen unterschwellige Zurechtweisung nicht übelnehmen. An seiner Stelle hätte er wohl auch nicht anders reagiert. »Dhark weiß schon, was er tut«, warf Artus ein. »Bist du dir da sicher? Manchmal habe ich den Eindruck, daß er das ganz und gar nicht weiß. Er sollte auch mal die anderen vorlas‐ sen.« »Hast du da jemand Speziellen im Sinn? Dhark bringt lieber sich selbst in Gefahr als die, die ihm unterstehen. Ich halte das für ein Zeichen von Größe. Oder bist du der Meinung, es wäre legitimer, andere Menschen in Gefahr zu bringen, die noch nicht Commander der Planeten waren? Oder die nicht deine Freunde sind?« »Unsere Freundschaft hat damit nicht das geringste zu tun.« Wenn er ehrlich war, ging es aber genau darum. Riker fühlte sich in die Enge getrieben. Was erdreistete sich dieser Roboter, ihm derartige
Vorhaltungen zu machen? »Vermutlich fiele es dir leichter, mich vorzuschicken als deinen Freund«, setzte Artus noch einen drauf. »Oder sollte ich mich da irren?« Mehrere Köpfe hatten sich in seine und Artus’ Richtung gedreht. Sekundenlang nahm der kleine Disput etwas von der aufgestauten Spannung in der Zentrale, die nicht allein Riker erfaßt hatte. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, daß Artus genau diesen Effekt mit seinen Worten beabsichtigte. Cleverer Bursche, dachte Dan, unsicher, ob er dankbar oder zusätz‐ lich verärgert sein sollte. »Also gut«, murmelte er so leise, daß ihn niemand verstand. Er ging zu seinem Sessel und ließ sich mißmutig hineinfallen. Das än‐ derte jedoch nichts an seiner Einstellung. Ren trieb es mal wieder auf die Spitze. Manchmal schien er sich geradezu als Glücksritter des Universums zu fühlen. Nur weil er mit seinem Dickschädel bisher noch jede Wand geknackt hatte, bedeutete das noch lange nicht, daß ihn eine göttliche Macht bei seinem Kreuzzug durch das Universum protegierte. Beinahe teilnahmslos saß Amy Stewart auf ihrem Platz und beo‐ bachtete die Bildkugel, in der sich weitere zwanzig Ringraumer und die EMMA WALLIS abzeichneten. Der Faszination des gewaltigen Carborit‐Ikosaeders konnte sie sich nur schwer entziehen. Sie schien von ihm gefesselt und an nichts anderes zu denken. Mit keiner Geste und keiner Mimik verriet der weibliche Cyborg seine wahren Ge‐ fühle. Doch Riker konnte sich vorstellen, wie es wirklich in Amy aussah. Mehr noch als er selbst sorgte sie sich um ihren Partner. Zuweilen war es schwierig, die Cyborgs einzuschätzen. Selbst wenn man jahrelang mit ihnen zu tun hatte, gab es Momente, da sie einem normalen Menschen gegenüber endlos weit entfernt schienen. Besonders wenn sie in ihrem Zweiten System agierten, muteten sie zuweilen mehr wie Maschinen denn wie Lebewesen an. Natürlich waren die damit einhergehenden Fähigkeiten, ihre geistigen und
körperlichen Möglichkeiten genau Sinn und Zweck dieser Übung, trotzdem konnte Dan verstehen, daß manche Menschen ihnen ver‐ ständnislos oder gar ablehnend gegenüberstanden. Dabei hatten sie die gleichen Gefühle, hegten die gleichen Träume, Wünsche und Sehnsüchte wie andere auch. Riker schob den Gedanken von sich. Diese Grübelei machte ihn nur noch unruhiger. Er biß sich auf die Unterlippe, um Morris nicht abermals zu nerven. Über zehn Jahre Raumfahrt, in denen er mehr im All als auf der Erde unterwegs gewesen war, rief er sich in Erin‐ nerung, und doch war er längst nicht so abgeklärt und kaltblütig, wie es ein Außenstehender vielleicht erwartet hätte. Was auch gut so war, bewies es doch, daß er nach all den Jahren und den unzähligen Gefahren und für sie alle lebensbedrohlichen und häufig ausweglos erscheinenden Situationen nicht abgestumpft war, sondern sich sei‐ ne Menschlichkeit bewahrt hatte. Er registrierte, daß Amy ihn anlächelte. War sie so sensibel, daß sie spürte, was in ihm vorging? Möglicherweise aus dem Grund, daß es ihr ebenso ging. Unwillkürlich warf er einen Blick in die Runde. Plötzlich vermißte er schmerzlich seine Frau Anja. Er wünschte, sie wäre ebenfalls in der Zentrale gewesen, statt in der Ruhe ihrer gemeinsamen Kabine an einem Artikel über Grundlagen der Worgun‐Mathematik zu schreiben, um den Bert Stranger sie gebeten hatte. »Achtung, da kommt etwas herein!« gellte unvermittelt Glenn Morris’ Stimme. »To‐Spruch vom Flash.« Riker atmete erleichtert auf. Augenblicklich waren seine Grübe‐ leien vergessen, die nervenzehrende Untätigkeit beendet. »Blitzstart!« wandte er sich an das Bordgehirn. »Sprung nach Eins vorbereiten!« Bewegung kam in die Flotte. Die EMMA WALLIS und 21 Ring‐ raumer rasten aus dem Ortungsschutz der Sonne und beschleunig‐ ten mit maximalen Werten. An Bord sämtlicher Schiffe wurden die Vorbereitungen für die gemeinsame Transition schneller und ge‐
nauer durchgeführt, als irgendein lebendes Wesen das gekonnt hät‐ te. Denn der Checkmaster hatte die Koordination übernommen. Alle 22 Schiffe sprangen gleichzeitig. * Die Flotte kam mit der kurzen, präzisen Transition fast bis unmit‐ telbar an Eins heran. Das war eine extrem schwierige Übung, die nur mit einem Steuerrechner wie dem Checkmaster möglich war. Denn die Schwerkraft von Planeten und Sonnen verzerrte den Raum und machte Transitionen hier zu einem fast unkalkulierbaren Risiko – solange man keinen Checkmaster hatte. »Wir wurden geortet«, meldete Tino Grappa. »Mehrere Roboter‐ raumer nähern sich, weitere starten von der Planetenoberfläche. Die sind verdammt schnell.« Doch nicht schnell genug, denn da hatte der Checkmaster bereits reagiert. In einem konzertierten Schlag eröffneten alle 22 Angreifer das Feuer. Die ausgefahrenen Geschütztürme mit den Wuchtkano‐ nen jagten den nächstgelegenen Schiffen des Robotervolkes eine volle Breitseite entgegen. Gleichzeitig sirrten Nadelstrahlen durchs All und fraßen sich in die Karoschirme der bizarr geformten Raumer. »Zwei Volltreffer!« stieß Arc Doorn atemlos aus. In der Bildkugel blähten sich zwei Feuerbälle auf. Der rasche Erfolg der Angreifer sorgte für Verwirrung unter den Verteidigern. Zu schnell kam der Feuerüberfall, als daß ihnen Zeit blieb, sich zu sammeln. »Der Überraschungseffekt zieht«, bemerkte Bebir. »Sie scheinen unsicher, ob sie sich uns entgegenstellen oder ihr Heiligtum ab‐ schirmen sollen.« Falluta sparte sich die Frage, ob der Schirm über dem Berg noch existierte. Er war ausgeschaltet, andernfalls hätte Dhark nicht den verabredeten Spruch geschickt. Der Erste Offizier hätte am liebsten
persönlich in die Schlacht eingegriffen, doch bei dieser Konstellation war die Gefechtsführung durch den Checkmaster nicht zu übertref‐ fen. Ein weiteres Roboterschiff verging in einer Wolke aus Feuer. Nun zeichneten sich die besonders schweren Waffen der EMMA WALLIS aus. Sie flog inmitten des Pulks aus Ringraumern, die sie abschirmten. Mit ihren Wuchtgeschossen im neuen, größeren Kali‐ ber 5,5 cm sorgte sie für verheerende Verluste beim Gegner. Falluta atmete auf. Die Karoschirme waren stark, aber inzwischen kamen sie ihm nicht mehr ganz so mächtig vor wie bei den ersten Zusammentreffen mit den Robotern. Sie ließen sich knacken, wenn man erst einmal wußte, wie. »Sie versuchen uns von dem Planeten fernzuhalten.« Doch die Manöver, die darauf abzielten, die Angreifer abzudrän‐ gen, zeigten keine Wirkung. Trotz Alarmstarts waren immer noch zu wenig Roboterschiffe in der Luft. Grappas Stimme erklang. »Ein Flash kommt durch die Atmos‐ phäre!« Riker richtete sich in seinem Sessel auf. »Das sind Dhark und MacCormack. Checkmaster, Feuerschutz für den anfliegenden Flash, bis er eingeschleust ist.« Das Bordgehirn stellte sich in einem Sekundenbruchteil auf die veränderte Situation ein. Ein Dutzend rosarote Strahlenbahnen griff nach einem Roboterschiff, das den Flash trotz seiner Tarnung jagte. Jäh flammte der Karoschirm auf, das bekannte kreuzförmige Muster bildend. Sofort griffen die zusätzlichen Stützfelder, doch nur für Sekunden. Nur an den vernichtenden Folgen konnte Riker erkennen, daß eine Salve Wuchtgeschosse das Ziel gefunden hatte. Fieberhaft starrte er in die Bildkugel. Der Flash sprang seinem Mutterschiff förmlich entgegen. »Tino, weitere Verfolger?« »Negativ. Unsere Leute sind durch.« Inzwischen zeichnete sich Eins groß in der Darstellung ab. Ver‐ einzelte Schwaden zogen durch die Atmosphäre des Planeten, an‐
sonsten war die Sicht auf seine Oberfläche frei. »An alle Einheiten«, meldete sich Hector Elizondo von Bord des Ikosaeders. »Distanz für Abwurf erreicht. Aktion beginnt jetzt.« Riker reagierte sofort. »Checkmaster, Ausschnittvergrößerung auf die EMMA WALLIS.« Im nächsten Moment wurde der Sechshundertmetergigant in ei‐ nem besonderen Ausschnitt der Bildkugel vergrößert hervorgeho‐ ben. Schon öffnete sich seine Hülle, um die mitgeführte Fracht ab‐ zuwerfen. Es war beinahe gespenstisch, wie sich eine riesige Dreiecksplatte ausklappte, als öffne sich ein gewaltiges, düsteres Maul. »Sie werfen die Transmitter ab«, kommentierte Doorn den Vor‐ gang, der sich nur mit etwas Phantasie verfolgen ließ. Vor dem schwarzen Hintergrund und dem Iko waren die ebenfalls carborit‐ schwarzen Würfel kaum zu sehen. Den Robotern ging es zum Glück ebenso, und sie hegten keinen Verdacht, was sich da abspielte, also achteten sie auch nicht darauf. Zumal die gestaffelten Ringraumer der EMMA WALLIS einen zusätzlichen Sichtschutz boten. Noch, doch das würde sich gleich ändern. Schon stürzten die Würfel dem Planeten entgegen. »… achtzehn, neunzehn… zwanzig«, zählte der Sibirier, der als Worgun das Licht des Universums erblickt hatte, und nickte zufrie‐ den. »Die Transmitter sind draußen.« »Was macht Elizondo?« »Er wartet noch ab.« Gedanklich nickte Falluta. Er hätte nicht anders gehandelt. Auch bei der Ballerei dort draußen durfte er nicht vorschnell handeln. Der Erste Offizier las die rasch kleiner werdenden Entfernungsangaben zwischen den Würfeln und der Planetenoberfläche ab. »Was ist mit Dhark und MacCormack?« polterte Riker. »Sind wieder an Bord.« Amys Stimme war die Erleichterung an‐ zuhören. »Einschleusung geschah ohne Zwischenfälle.« »Zwei Roboter sind aufmerksam geworden und drehen ab!« rief
Grappa von seinen Ortungsanzeigen. »Keiner achtet mehr auf die EMMA. Eine bessere Gelegenheit bekommt sie nicht.« Der Meinung war Elizondo auch. Nur aufgrund der Tatsache, daß die Besatzung der POINT OF wußte, was als nächstes geschah, be‐ kam sie es überhaupt mit. Die Roboter hingegen hatten keine Ahnung. So entging ihnen der Start des Flash, der aus der Luke des Ikosaeders fiel. * »So weit, so gut.« Ian McDuff steuerte den ausgeschleusten Flash auf einem hals‐ brecherischen Kurs. Der kleine stämmige Ire hatte unter Hector Eli‐ zondo bereits auf der HAMBURG gedient und sich genau wie sein Begleiter freiwillig für diese Mission gemeldet. Es ging nicht darum, sich auf Feindkontakt einzulassen, sondern um reine Beobachtung. Ungefährlich war der Einsatz trotzdem nicht, denn ringsum tobte die Schlacht. Inzwischen waren zahlreiche Roboterschiffe von Eins aufgestiegen. »Nun müssen wir nur aufpassen, daß wir keinen Zufallstreffer kassieren, weil du der falschen Fährte folgst.« Tim Tucsah, der ebenfalls im Rang eines Leutnants stand, grinste unternehmungs‐ lustig. Die beiden Männer waren seit ihrer gemeinsamen Zeit auf der Raumfahrtakademie befreundet. Der Nachfahre nordamerikanischer Indianer hielt den Monitor über seinem Kopf im Auge. Zahlreiche Kompri‐Nadelstrahlen zeichneten sich vor dem Hintergrund des Alls ab. »Allmählich schießen diese Schrottheinis sich ein.« Vermutlich gingen die Roboter von falschen Voraussetzungen aus. Sie erwarteten, daß die angreifenden Menschen vorhatten, sich mit ihren Schiffen auf das Heiligtum zu stürzen. Lange würden sie die‐ sem Irrtum jedoch nicht aufsitzen. Die abgeworfenen Transmitter waren zwar klein und optisch unauffällig, aber leider nicht unsich‐ tbar.
»Bekommst du das Peilsignal herein?« »Es ist schwach, aber klar zu empfangen«, bestätigte Tucsah. Die Instrumente zeigten das von den Würfeln geschickte Signal, das dafür sorgte, daß die Insassen des Gleiters sie in dem Durcheinander nicht verloren. McDuff wich einem Roboterraumer weiträumig aus und steuerte den Flash der Stickstoffatmosphäre entgegen. Auf einen Kampf durften sie sich auf keinen Fall einlassen. Wurden sie entdeckt, blieb ihnen nichts anderes übrig als der sofortige Rückzug, wenn sie nicht vernichtet werden wollten. Zwar verfügte das Beiboot über eine besonders starke Tarnvorrichtung und einen extrem präzisen To‐Richtfunksender, dafür jedoch über keinerlei Bewaffnung. Flash waren derart kompakte Konstruktionen, daß man für den Einbau von Zusatzaggregaten auf andere Installationen verzichten mußte. Zudem konnte man selbst mit den besten Bordwaffen eines Flash gegen die Karoschirme des Volkes definitiv nichts ausrichten. »Stimmt die Richtung?« »Die Würfel fallen genau auf den Berg mit dem Heiligtum hinun‐ ter. Ohne Ren Dharks Vorbereitung wäre das nicht möglich. Der Mann hat es wirklich drauf.« »Er war nicht umsonst Commander der Planeten.« Der Pilot zeigte sich wenig beeindruckt. »Ganz davon abgesehen – wenn wir Dharks Einsatz übernommen hätten, wäre es uns auch gelungen, den Schutzschirmgenerator auszuschalten.« Das Kampfgeschehen blieb hinter dem Flash zurück. Wie erwartet, hatten die Roboter ihn nicht entdeckt. Die Tarnung funktionierte perfekt. McDuff beschleunigte und jagte hinter den Würfeln her. Mit jeder verstreichenden Sekunde kam die Atmosphäre näher. Hatten die Würfel sie erst einmal durchstoßen, waren sie viel besser zu se‐ hen als draußen im Raum. Damit wuchs auch die Entdeckungsge‐ fahr. Der Pilot hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Tucsah scharf die Luft ausstieß. »Das Spielchen geht los. Die
Schrottbots haben die Würfel entdeckt.« Das geschah just in dem Moment, als die abgeworfenen Objekte in die äußere Atmosphäre‐ schicht eindrangen. Mehrere Roboter näherten sich. Bereits von weitem eröffneten sie das Feuer. »Ich an deren Stelle würde die Würfel für Bomben halten.« »Wohl kaum. Schließlich haben wir nicht die Absicht, die Schla‐ fenden umzubringen, sondern sie zu befreien.« »Das wissen wir, aber die Roboter nicht.« Die verstärkten ihr Feuer, doch schnell zeigte sich, daß die dem Planeten entgegenfallenden Objekte zu klein waren. Die meisten Schüsse gingen ins Leere, ohne Schaden anzurichten. »Die Kerle brauchen Brillen. Mit ihren Optikrezeptoren scheint es nicht allzuweit her zu sein. Mit ihren Zielautomatiken auch nicht.« Der Kopilot registrierte eine Veränderung im Raum. »Unsere Schiffe ziehen sich zurück.« »Verfolger?« »Ein paar Großraumer versuchen an ihnen dranzubleiben. Keine Chance. Mit Sternensog können die nicht mithalten. Sieh doch selbst.« Stumm schüttelte McDuff den Kopf. Auch wenn die Würfel bisher keinen Strahlentreffer eingesteckt hatten, waren sie noch lange nicht sicher gelandet. Nun zeigte sich die zweite Gefahr, die ihnen drohte. Der ungebremste Sturz durch die Atmosphäre heizte die Carbori‐ thülle der Würfel auf. Eben noch schwarz, begannen sie innerhalb von Sekunden zu glühen. »O Mann, wie ein Schwarm Kometen.« McDuff erschauderte, als er mit eigenen Augen sah, was der Rei‐ bungswiderstand der Atmosphäre anrichtete. Wenn man selbst im Inneren eines Raumschiffs saß, bekam man von diesem Effekt nichts mit. Jedenfalls galt das für die modernen Schiffe der Gegenwart, aber er konnte sich gut vorstellen, wie es in früheren Zeiten ausgesehen hatte. Da waren jeder Start und jeder Anflug auf die Erde ein Him‐
melfahrtskommando gewesen, wie sich bei den ersten wiederver‐ wertbaren Raumschiffen gezeigt hatte. Damals hatte die NASA manchen Mann und manche Frau verloren, die ihren Traum von der Eroberung des Weltalls mit dem Leben bezahlt hatten. »Die Carboritpanzerung hält das mit Leichtigkeit aus«, holte er sich selbst in die Gegenwart zurück. Trotzdem war von der ursprünglichen Form der Würfel nichts mehr zu erkennen. Als flammende Lohen jagten sie der Planeten‐ oberfläche entgegen, einen weithin sichtbaren feurigen Schweif hin‐ ter sich herziehend. Das ionisierte Plasma tobte sich an der Hülle aus und schien sie geradezu zu verzehren. »Verdammt«, zischte Tucsah. »Sie haben einen erwischt.« McDuff sah, was sein Freund meinte. Ein Kompri‐Nadelstrahl hatte sich in einen der Feuerbälle gebohrt. Für bange Sekunden er‐ wartete der Ire die folgende Explosion, doch sie blieb aus. »Mit nur einem Treffer schaffen sie es nicht, die Panzerung zu durchbrechen«, folgerte er erleichtert. Die einen Meter starke Wan‐ dung hielt selbst Kompri‐Nadel stand, jedenfalls kurzzeitig. Aber‐ mals erwies sich die geringe Größe der Würfel als vorteilhaft, weil es den Robotern nämlich nicht gelang, einen Strahl lange genug im Ziel zu plazieren, um einen – im wahrsten Sinne des Wortes – durch‐ schlagenden Erfolg zu erzielen. Doch immerhin reichte der Treffer aus, um den Würfel aus seinem Kurs zu schleudern. »Nun haben sie endgültig begriffen, daß da etwas auf ihr Heilig‐ tum fällt.« Der Indianer verzog das Gesicht. »Leider sind sie nicht so dumm, mit ihren erfolglosen Versuchen fortzufahren. Sie ändern ihre Taktik. Die lernen schnell.« »Zu schnell für meinen Geschmack.« McDuff fühlte sich hilflos, weil er keine Möglichkeit hatte einzug‐ reifen. Da es den Robotern nicht gelang, die ihnen unbekannten Ob‐ jekte effektiv zu zerstören, versuchten sie es nun auf die Weise, die ihnen einen Zufallserfolg beschert hatte. Sie verlegten sich darauf, die Würfel aus ihrer Bahn zu schießen.
Und damit hatten sie Erfolg. Es kribbelte den Piloten in den Fingern, näher an das Geschehen heranzufliegen, doch er konnte sich beherrschen. Aus sicherer Ent‐ fernung verfolgte er, wie die Roboterschiffe mit ihrer neuen Taktik beängstigend viele Treffer landeten. »Die Würfel verstreuen sich weiträumig. Längst nicht alle werden im Zielgebiet landen.« »Das wird Farnham nicht freuen. Die Planspiele für die Evakuie‐ rung der Salter gehen von zwanzig bereitstehenden Transmittern für seine Gardisten aus. Jeder Ausfall kompliziert die Situation.« »Der Generalmajor wird nicht so blauäugig sein, mit einem voll‐ ständigen Kontingent zu rechnen«, erwiderte der Pilot. »Ich bin si‐ cher, bei seinen Überlegungen hat er den Ausfall einiger Transmitter einkalkuliert.« »Wenn es bei einigen bleibt. Was da vorn geschieht, gefällt mir je‐ denfalls überhaupt nicht.« McDuff sparte sich eine Antwort. Sein Freund hatte recht. Schon wieder gelang es den Robotern, einen Würfel aus seiner Bahn zu schießen. Statt in der Nähe des Eingangs zum Heiligtum zu landen, brach er aus seinem Kurs aus und verschwand auf der anderen Seite der Berge. »Wieder einer weniger. Da bleiben nicht allzu viele übrig.« Am Ende waren es acht Würfel, die innerhalb des abgesteckten Zielgebiets niedergingen. Der Rest verteilte sich in so weitem Ab‐ stand, daß es keinen Sinn machte, die darin enthaltenen Transmitter zu benutzen. Von ihnen aus war der Anmarschweg zu Fuß einfach zu groß. Selbst wenn es gelang, die Schlafenden aufzuwecken, würden sie äußerst schwach sein. Selbst einen nur kurzen Marsch konnten sie nicht leisten, auch nicht mit der Unterstützung durch die Gardisten. Außerdem würden die Roboter nicht tatenlos zusehen, wie sich die Insassen ihres Heiligtums aus dem Staub machten. Es war mit schweren Kämpfen zu rechnen. »Hast du die Ordnungsnummern der Würfel, die im Zielgebiet
gelandet sind?« »Hm«, machte Tucsah nachdenklich. Er aktivierte den Richtfunksender und übermittelte die Nummern an die EMMA WALLIS. Alles weitere lag in anderen Händen. * Als die Meldung von Leutnant Tucsah eintraf, saß Christopher Farnham regungslos in der Kommandozentrale der EMMA WALLIS und beobachtete das umliegende All. Die gesamte Flotte hatte sich in einen Raumsektor 300 Lichtjahre entfernt von Eins zurückgezogen. In der dichten Sternenballung waren die 22 Schiffe vor jeder Ortung sicher. Zwar hatten die Roboter eine Weile versucht, die vom Checkmaster im Verbund gesteuerte Flotte zu verfolgen, sie aber schon bald im Sternendschungel verloren. Da sie keinen Anhalt‐ spunkt hatten, wo sie suchen sollten, waren sie schließlich umge‐ kehrt und zu ihrer Maschinenwelt zurückgeflogen. Dennoch galt für sämtliche Waffensteuerungen erhöhte Alarmbereitschaft. »Acht Transmitter, die wir benutzen können«, wiederholte Ken‐ neth MacCormack den To‐Funkspruch und kniff die Augen zu‐ sammen. »Das wird verdammt eng. Wenn wir dreißig Züge hin‐ durchschicken, müssen die Kapazitäten bis an die Grenzen ausge‐ lastet werden.« »Dafür sorgt der Checkmaster.« Alles mußte wie am Schnürchen laufen. Den Robotern auf Eins durfte keine Zeit bleiben, ein neues Schirmaggregat zum Heiligtum zu schaffen. Wenn es ihnen gelang, vor dem Eingreifen der Garde einen neuen Karoschirm über dem Berg zu errichten, erwies sich Dharks Risikounternehmen im nachhinein als Makulatur. Farnham spielte mit dem Gedanken, entgegen seiner ursprüngli‐ chen Planung nicht sämtliche Züge nach Eins zu schicken, sondern eine Reserve zu halten. Er entschied sich dagegen. Die Roboter
würden den Gardisten einen Höllenempfang bereiten, bei dem jeder einzelne Mann wichtig war. Das komplette erste und zweite Batail‐ lon, jeweils aus fünfzehn Zügen bestehend, würden in den Einsatz gehen. Da ein Zug 41 Mann aufwies, kam man so auf eine Stärke von 615 Gardisten sowie 34 Offizieren pro Bataillon. Ein gewaltiger Aufmarsch der hochqualifizierten Elitesoldaten – so massiv waren sie bisher noch in keinen Einsatz gegangen. Andererseits ging es hier um Tausende von Lebewesen, die es zu befreien galt. Um Huma‐ noide zudem, deren Vorfahren von der Erde stammten und die so‐ mit direkt mit der Menschheit verwandt waren. Wir können und dürfen sie nicht im Stich lassen, machte sich der Ge‐ neralmajor klar. »Die Kampfroboter stehen bereit und warten auf ihren Einsatzbe‐ fehl.« Der Befehlshaber der Schwarzen Garde sah auf und nickte Kom‐ mandant Elizondo zu. »Wir setzen vierzig Maschinen in Bewegung, um das Zielgelände zu sichern. Fünf von ihnen zu jedem der mobi‐ len Transmitter.« Die als Vorhut gedachten Kegel sollten auskundschaften, ob es den Robotern von Eins gelungen war, einen der gelandeten Würfel zu entern. Da sie geschlossen und gesichert und in ihrer schweren Carboritpanzerung fast unangreifbar waren, tendierte die Gefahr zwar gegen null, aber Farnham ging lieber auf Nummer Sicher. Kein Gardist sollte in einen möglichen Hinterhalt laufen. Zudem waren die hochwertigen Kampfroboter mit ihren schützenden Prallfeldern eine schlagkräftige Unterstützung für die nachfolgenden Gardisten. Er beobachtete, wie die Kegel in Fünfergruppen in den Transmitter schwebten und abgestrahlt wurden. »Marschbefehl für die Truppe.« MacCormack gab die Anordnung an die einzelnen Züge weiter. Über den Transmitter hatten sie sich auf die 21 Ringraumer verteilt. Sobald es losging, kam es auf jede Sekunde an, daher konnten sie nicht schubweise von der EMMA WALLIS nach Eins transmittiert
werden. Von allen Ringraumern gleichzeitig ließen sich hingegen möglichst viele Transmitterdurchgänge in möglichst kurzer Zeit durchführen. Waren die Gardisten erst vor Ort, würden Farnham, MacCormack und ihr Stab folgen. Es war vorgesehen, daß sie pro Zug eine Schwebeplattform mit Pressorgeschütz mit sich führten. Die Geräte ließen sich nur von der EMMA WALLIS aus abschicken, da die Ringtransmitter der anderen Schiffe nicht groß genug waren, sie aufzunehmen. »Keine weiteren Funkmeldungen?« »Negativ, Sir«, meldete die Funk‐Z. Das bedeutete, daß es keine weiteren unvorhergesehenen Zwi‐ schenfälle gab. Andernfalls hätten McDuff und Tucsah sich gemel‐ det. Sie waren erfahren und clever genug, die Lage im Auge zu be‐ halten, ohne sich von den Robotern erwischen zu lassen. »Sir, eine Gruppe Roboter kommt durch den Transmitter zurück!« Farnham unterdrückte einen Fluch. Zu früh gefreut. Ohne einen triftigen Grund würden die Kampfmaschinen nicht kehrtmachen. Sekunden später erfuhr er ihn. Einer der acht Würfel im Zielgebiet war bei der Landung trotz elektronischer Lagesteuerung und Stabi‐ lisatoren umgestürzt und lag ausgerechnet auf der Seite, die zum Aussteigen aufgeklappt werden sollte. Natürlich bestand die Mög‐ lichkeit, eine andere Seite aufzusprengen, doch der Ringtransmitter war an der der Tür gegenüberliegenden Seite montiert. Beim Ver‐ lassen des Transmitterfeldes wären die Gardisten neun Meter in die Tiefe gestürzt. »Hatte Robert Saam nicht garantiert, daß die Würfel in einer opti‐ malen Position landen?« fragte MacCormack verärgert. »In diesem Fall hat der Bursche den Mund wohl etwas zu voll genommen.« »Keine Vorwürfe, Kenneth. Saam mag ein Genie sein, aber er kann auch keine Wunder bewirken.« Was beinahe etwas Tröstliches an sich hatte. »Die Garde ist dazu ausgebildet, mit der Logistik auszu‐ kommen, die zur Verfügung steht. Das wird auch in diesem Fall ausreichen.«
»Es wird ausreichen müssen.« Die beiden Männer warfen sich einen kurzen Blick zu, den sonst niemand hätte deuten können. Sie waren es gewesen, die die Schwarze Garde grundsätzlich erdacht und sie später mit Leben ausgefüllt hatten. Sie fühlten sich für jeden einzelnen der Männer verantwortlich, auch wenn sie diese beinahe persönliche Bindung einem Dritten gegenüber niemals eingestanden hätten. Doch nun, in diesem Augenblick, waren sie sich in einem einig. Keiner von beiden brauchte die Worte auszusprechen, die sie teilten. Bei dem bevors‐ tehenden Einsatz würde es nicht ohne Verluste abgehen. Nicht alle Gardisten, die in den Einsatz gingen, würden lebend wieder zu‐ rückkommen. Sie verdrängten das Wissen nicht, um sich nicht selbst anzulügen. Es gab nur einen Weg, damit umzugehen. Sie akzeptierten es, denn jeder Gardist wußte, worauf er sich bei jedem Einsatz einließ. Der Tod war ihr ständiger Begleiter. Er war ein kalkulierbares Risiko, wenn es darum ging, im Interesse der Menschheit aktiv zu werden. Wie hatte es doch bei den römischen Legionen geheißen? Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht! Beinahe hätte MacCormack laut aufgelacht. Statt dessen überprüfte er wie mechanisch ein letztes Mal seine Ausrüstung. * An Bord der POINT OF taten Kurt Buck und seine Kameraden dasselbe. Sie bereiteten sich darauf vor, durch den Ringtransmitter zu gehen, der sie ohne Zeitverlust auf den 300 Lichtjahre entfernten Planeten transportieren würde. Die Handgriffe waren den Männern in Fleisch und Blut übergegangen, so oft hatten sie sie während der Ausbildung, im Training und zahlreichen Einsätzen geübt. Der junge Leutnant schulterte seinen Multikarabiner. »Alles in Ordnung, Kurt?« Wladimir Jaschin war neben seinen Freund getreten und musterte ihn. »Du machst einen leicht abwe‐
senden Eindruck.« »Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen.« Buck winkte ab. In Wahrheit gingen ihm aber die Salter nicht aus dem Kopf, auf die Artus und die Cyborgs auf Eins gestoßen waren. Er kannte die Ge‐ schichte dieses Volkes, wußte, daß Ren Dhark in der Galaxis Drak‐ hon auf die letzten Salter gestoßen war und sie mit zur Erde gebracht hatte, wo sie von Robonen umgebracht worden waren. Nicht die letzten Salter, korrigierte er sich. Zumindest sah es nicht mehr so aus. Auf Eins warteten Tausende von ihnen darauf, von der Garde gerettet zu werden. Auch wenn sie es in ihrem Tief schlaf noch nicht einmal ahnten. »Irgend etwas beschäftigt dich doch. Woran denkst du?« »An die Salter.« Unauffällig ließ Buck seinen Blick über die Füh‐ rungsoffiziere des Ringraumers gleiten. Obwohl die Zentrale durch die Anwesenheit der Gardisten überfüllt war, ließen sie sich nicht irritieren. In aller Ruhe gingen sie ihren Routinetätigkeiten nach. An Disziplin standen sie den Angehörigen der Garde in nichts nach. Was hast du denn erwartet? fragte er sich. Allein die Frage war überflüssig, schließlich hatte er es nicht zum erstenmal mit diesen Leuten zu tun. Viele von ihnen waren schon seit Beginn der inter‐ stellaren Raumfahrt dabei. Es gab nur wenige andere terranische Raumfahrer, die wie sie drei Galaxien bereist hatten. »Männer, haben wir nicht etwas vergessen?« Die Stimme, die Buck aus seinen Gedanken riß, gehörte Jannis Kaunas, dem Feldwebel des 14. Zugs, der von seinen Angehörigen immer noch inoffiziell als Mescalero‐Zug bezeichnet wurde. »Nicht daß ich wüßte«, raunte Jaschin seinem Freund zu. »Oder bist du dir einer Schuld bewußt, Kurt?« Der junge Dresdener schüttelte den Kopf. »Das sollten Sie aber, Korporal. Und sei es nur, weil Sie immer noch nicht gelernt haben, unbemerkt zu flüstern.« Kaunas stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Mitte der Zentrale. »Was ist mit Ihnen, Buck? Ebenfalls keine Idee? Auch keiner der anderen?«
»Ich mische mich nur ungern ein.« Ren Dhark erhob sich aus sei‐ nem Sessel und gesellte sich zu Kaunas. »Dazu besteht auch kein Grund.« Der Anflug eines Lächelns huschte über das Gesicht des Feldwebels. »Ich lege nur Wert darauf, daß meine Leute wissen, wann einer ihrer Kameraden Geburtstag hat, bevorstehender Einsatz hin oder her.« Er trat vor und drückte Tadeusz Ribicki die Hand. »Schande über uns, Tad.« Buck verzog das Gesicht zu einer reu‐ mütigen Miene und gratulierte ebenfalls. Sofort folgten auch die restlichen Gardisten. »Aber echt«, gab der Elektronikexperte und Kryptologe mit ge‐ spielter Empörung von sich. »Ich habe schon überlegt, ob ich das Faß Bier, das in meinem Quartier eingelagert ist, nach unserer Rückkehr allein trinken soll.« »Bier?« Kaunas schnappte nach Luft. Augenblicklich erreichte seine Stimme die frostige Temperatur des absoluten Nullpunkts. »Ich hoffe in Ihrem eigenen Interesse, daß das nicht Ihr Ernst ist.« Buck konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, Jake Calhoun drehte sich geistesgegenwärtig um, Antoku Seiwa und Nick Gant‐ zier verbargen ihre Gesichter hinter den Händen, und Sam Uitveeren klappte gedankenschnell seinen Helm nach vorn. Die restlichen Gardisten schafften es mit einiger Anstrengung, ihre Erheiterung zu verbergen. Dabei wußten alle, daß der Feldwebel die aufgestaute Anspannung vor dem Einsatz ein wenig lockern wollte. »Hier gibt es Bier?« Buck konnte nicht länger an sich halten. Er brach in lautstarkes Lachen aus, als ein Mann die Zentrale betrat. Der Leutnant erkannte ihn sofort. Es war der Cyborg Jes Yello, der bereits beim ersten Ein‐ satz auf Eins dabeigewesen war. »Schluß jetzt mit dem Unsinn!« forderte Kaunas. »Sie hatten Ihren Spaß, doch nun reicht es. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Oberst MacCormack sich meldet und den Einsatzbefehl gibt.« Yello nickte. »Da komme ich wohl gerade noch rechtzeitig. Wir
Cyborgs haben davon gehört und möchten an dem Einsatz teilneh‐ men.« »Moment mal«, fiel Riker ihm ins Wort. »Darüber wurde bisher noch kein Wort verloren.« »Weil man uns nicht offiziell informiert hat. Dabei wäre es nur lo‐ gisch, daß wir die Garde begleiten. Wir waren bereits auf Eins und kennen uns dort aus. Außerdem besteht kein Zweifel, daß die Gar‐ disten uns gut brauchen können.« Riker blickte Dhark fragend an, doch Kurt Buck kam ihm zuvor. »Ich halte das Angebot für eine gute Idee. Jeder Mann wäre dumm, der freiwillig auf die Hilfe der Cyborgs verzichten würde.« Er wandte sich ebenfalls an den Kommandanten der POINT OF. »Ich bitte darum, Yellos Antrag zuzustimmen. Unsere Aussichten, die Salter zu befreien, steigen dadurch zusätzlich.« Nach kurzem Nachdenken nickte Ren Dhark. »Sie haben Recht, Buck. Jes, sammeln Sie Ihre Kameraden, und versorgen Sie sich mit den neuen Multikarabinern aus unseren Bordbeständen.« Der Cyborg nickte und lief aus der Zentrale. Buck entging nicht, daß das Thema für Dhark damit noch nicht beendet war. Dessen nächste Worte bestätigten seinen Verdacht. »Ich werde Sie ebenfalls begleiten«, erklärte er. »Das ist nicht dein Ernst!« Auf Dan Rikers vorstehendem Kinn zeichnete sich ein markanter roter Reck ab. »Du kannst es einfach nicht lassen, was, Ren? Kaum bist du zurück, schon willst du wieder an die vorderste Front.« »Ich will mich mit eigenen Augen vom Geschehen auf Eins über‐ zeugen.« »Das ist nicht deine Sache, diesmal wirklich nicht. Für einen sol‐ chen Kampfeinsatz bist du nicht ausgebildet. Dafür gibt es geschulte Spezialisten wie die Gardisten.« Dhark verzog säuerlich das Gesicht. »Es reicht, Dan. Du tust gera‐ de so, als ob das der erste Kampfeinsatz wäre, in den ich ginge.« »Konjunktiv, Kommandant«, mischte sich Buck ein. »Sehr passend,
denn Sie werden uns nicht begleiten. Hören Sie auf Ihren Freund Riker.« Dhark starrte den Leutnant an, als hätte der den Verstand verloren, doch Buck ließ sich davon nicht beeindrucken. Seine Miene drückte grimmige Entschlossenheit aus. »Es wird zu schweren Kämpfen kommen, bei denen wir Sie nicht brauchen können. Trotz all Ihrer Verdienste würden Sie uns nur behindern. Eins sollten Sie nicht vergessen: Sie sind Zivilist, und in einem Fall wie diesem wären wir für Sie verantwortlich.« Es war Dhark anzusehen, daß es selten jemand gewagt hatte, ihm mit solch harten Worten zu widersprechen. Buck scherte sich keinen Deut darum, bis er registrierte, daß die Offiziere in der Zentrale ihre Tätigkeiten vernachlässigten und die Auseinandersetzung verfolg‐ ten. Für einen Moment fragte er sich trotz besseren Wissens, ob er nicht doch einen Schritt zu weit gegangen war, als der weißblonde Mann sich an Jannis Kaunas wandte. »Feldwebel, was haben Sie dazu zu sagen?« »Daß ich sowohl die Analyse als auch die Entscheidung des Leut‐ nants unterstütze.« »Das gibt es doch nicht.« Dhark schüttelte ungläubig den Kopf. Dan Riker hingegen grinste übers ganze Gesicht. »Jetzt siehst du mal, wie das ist, wenn andere in den Einsatz gehen und man selbst an Bord bleiben muß«, konnte er sich einen amüsierten Kommentar nicht verkneifen. »Außerdem brauchen wir Sie, wenn unser Auftrag erfüllt und der Berg mit dem Heiligtum gesichert ist«, fügte Buck hinzu. »Dann, aber auch erst dann, werden Sie zu uns stoßen, Sir. Auf keinen Fall früher.« Dem Kommandanten der POINT OF blieb nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben und gute Miene zum bösen Spiel zu ma‐ chen. Daß es dennoch in ihm rumorte, war nicht zu übersehen. Er deutete ein Nicken an. In diesem Moment kamen die sechs Cyborgs zurück. Neben Yello
waren das Henk Brack, Rog Alsan und ihre jungen Kollegen Joe Siem, Tony George und Mick Grinnus. Wie Dhark sie angewiesen hatte, waren sie mit den neuen Multikarabinern GEH&K Mark 10/62 bewaffnet. Buck hieß sie herzlich willkommen. Sie alle kannten sich seit dem ersten Vorstoß ins Heiligtum der Roboter, wo sie hervor‐ ragend Hand in Hand gearbeitet hatten. Wenige Minuten später kam der Einsatzbefehl von MacCormack. »Also los, Männer!« trieb Kaunas die Angehörigen des Mescale‐ ro‐Zugs an. »Helme schließen! Und denkt daran, ich will keinen von euch auf dem Planeten verlieren.« Gemeinsam mit Buck, Jaschin, Ribicki und ihren restlichen Kame‐ raden sowie den Cyborgs lief er auf die Galerie, wo der Ringtrans‐ mitter installiert war. Der Transport erfolgte auf der Stelle. In der nächsten Sekunde waren die Männer verschwunden.
19. Die schwarzen Carboritwände wirkten erdrückend, woran nicht einmal das wiederholte Aufflackern des Transmitters etwas änderte. Dazu wirkte die bleierne Stille beinahe gespenstisch. Kein Laut drang von außen ins Innere des Würfels. Die Vorausabteilung der Kegelroboter hatte ihn nach ihrem Aus‐ stieg behelfsmäßig wieder verschlossen, damit das Innere nicht durch einen Querschläger bei den Gefechten zerstört wurde. Beiläufig sah Kurt Buck sich um. Robert Saams Techniker hatten hervorragende Arbeit bei der Unterbringung und Sicherung des Ringtransmitters geleistet. Er reichte präzise und paßgenau von ei‐ ner Wand zur anderen. »Keine Wurzeln schlagen, Männer!« dröhnte Feldwebel Kaunas’ Stimme übernatürlich laut in Bucks Helm. »Oder wollt ihr als letzter Zug in die Kämpfe eingreifen?« Seine Worte trieben die Gardisten voran. Auch wenn die Garde Hand in Hand arbeitete, gab es eine unausgesprochene Rivalität, was Entschlossenheit, Schnelligkeit und Effektivität anging. Seit ihrer Gründung hatten die Mescaleros häufig die Nase vorn gehabt, was nur ein Ansporn für die Kameraden der anderen Züge war. Mit ein paar raschen Handgriffen öffnete Buck die dem Transmit‐ ter gegenüberliegende Seitenwand. Tageslicht flutete das Innere des Würfels. An der Spitze seiner Freunde sprang er ins Freie. Übergangslos befanden die Männer sich mitten im Kampfgebiet. Fauchen von Strahlenwaffen drang über die Mikrofone an die Ohren der Gardisten. Die hin‐ und herjagenden Energielanzen zeigten so‐ fort, daß die terranischen Kampfroboter eine schwere Abwehr‐ schlacht gegen die attackierenden Handlungsroboter lieferten. Es waren keine Befehle nötig. Jeder Gardist wußte, was er zu tun hatte. Die Männer des 14. Zugs schwärmten aus und suchten sich günstige Stellungen, um gegen die Roboter von Eins vorzugehen. Zu
beiden Seiten waren zeitgleich die anderen Züge des Bataillons an‐ gekommen. Der Checkmaster hatte dafür gesorgt, daß es bei den Transmittersprüngen zu keinen Abweichungen kam. Kurt Buck verschaffte sich einen raschen Überblick, der nur einen Schluß zuließ. »Viel später hätten wir nicht kommen dürfen.« Von den Kegelrobotern existierten nur noch 14 Maschinen, der Rest war vernichtet worden. Dafür war ihre Effizienz gewaltig. Sie hielten Hunderte von gegnerischen Maschinen auf, die sich auf die verschiedensten Arten fortbewegten. Bisher war es denen nicht ge‐ lungen, an die Würfel mit den Transmittern heranzukommen, doch es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Kegel überrollten. Allerdings hatte sich durch das Auftauchen der Gardisten die Lage verändert. Der Vormarsch der Roboter von Eins kam zum Erliegen. »Zeigen wir denen doch mal, daß Unterstützung gekommen ist«, forderte Jaschin seine Kameraden auf. Er hatte seinen Multikarabiner im Anschlag und zog den Abzug durch. Eine grelle Stichflamme folgte seinem Treffer. Auch Tadeusz Ribicki und Andre Souaran hielten sich an Bucks Seite auf. Durch konzertiertes Feuer gelang es den vier Männern, wenige Meter Boden gutzumachen, doch zwischen ihnen und dem Eingang zum Berg wartete eine ganze Armee bizarr geformter Ma‐ schinenwesen. Wütendes Abwehrfeuer schlug ihnen entgegen. Dummerweise ließ es sich nicht umgehen. Die Garde mußte genau dort durch, um ans Ziel zu kommen. Nur beiläufig bekam der Leutnant mit, daß ringsum mit gleicher Vehemenz gekämpft wurde. »Dort links!« schrie Souaran auf. Er hatte eine Gruppe Roboter bemerkt, die sich am Rand einer Geröllaufschüttung genau in ihre Richtung bewegte. Sie hatten vergleichsweise gute Deckung. »Alle zusammen!« Buck fuhr herum und jagte einen Feuerstoß hinaus. Seine Kame‐ raden taten es ihm gleich. Daß nicht alle Schüsse fehlgingen, bewies
eine kleine Detonation, doch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Roboter ließen sich von ihrem Ausfall nicht beirren, son‐ dern rückten weiter vor. »Elende Konservendosen!« fluchte Ribicki. »Solange die ihre Blechschädel nicht heben, erwischen wir sie nicht.« Er begann das Gestein mit Duststrahlen unter Beschuß zu nehmen. Mehrere Fels‐ brocken lösten sich unter den olivgrünen Strahlen zu amorphem Staub auf. »Das dauert zu lange.« Mit einem raschen Griff schaltete Buck seinen Karabiner um und löste einen Schuß aus. Der Werfer unter dem Hauptlauf jagte eine Kleinstrakete in Richtung der Angreifer. Mit donnerndem Getöse wurde die Geröllhalde auseinandergerissen . »Köpfe runter!« Buck warf sich nach vorn, als Sand und Gestein durch die Gegend sirrten. Im nächsten Moment richtete er sich schon wieder auf die Knie auf und sah die torkelnden Schemen zwischen Staub und Feuer. Zwei Roboter hatten das Inferno überstanden, erhielten aber keine Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen. Mehrere Nadel‐ strahlen beendeten ihr elektronisches Dasein. Sofort waren die vier Männer auf den Beinen und liefen in ge‐ bückter Haltung zu den übriggebliebenen Trümmern hinüber. Vor ihnen erhob sich der Berg. Undeutlich konnte Buck das Eingangstor erkennen, durch das man ins Innere des Heiligtums gelangte. Hef‐ tiges Feuer aus westlicher Richtung zeigte ihm, daß dort drüben Gardisten eines anderen Zuges vorrückten. »Aktivität bei den Transmittern«, machte ihn Souaran aufmerk‐ sam. »Die Pressorgeschütze kommen.« »Das wurde auch langsam Zeit«, beschwerte sich Jaschin. »Damit können wir den Weg vor uns freimachen.« Buck nickte und warf einen nachdenklichen Blick zum Himmel. Bisher ließen sich keine Roboterraumer sehen. Das war ein Beweis für die aufgestellte These, daß die Roboter über dem Berg keine
schweren Geschütze einsetzen würden. Auch die acht abgeworfenen Würfelcontainer lagen so nah am Berg, daß sie nicht mit schweren Waffen vernichtet werden konnten. Die Roboter hätten damit in Kauf genommen, das Eingangsschott ebenfalls zu beschädigen, und das würden sie auf keinen Fall tun. Ein Lichtreflex erregte Bucks Aufmerksamkeit. »Was machen die da oben im Berg?« »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Ribicki hatte die Bewegungen am Hang ebenfalls gesehen. Plötzlich flammte es grell auf. Buck reagierte instinktiv, warf sich einfach nach vorn und riß seine Kameraden mit sich. Schon hatte er den Eindruck, sich mitten in einem rasenden Karussell zu befinden. Alles drehte sich um ihn. Licht und Feuer tobten in seiner Nähe, als die Reste der Felsbrocken, hinter denen sie Deckung gesucht hatten, vom Erdboden verschwanden. »Schweres Impulsfeuer! Weg von hier!« Mächtige Strahlenbahnen rissen den Boden auf und gruben tiefe Furchen. An manchen Stellen begann die Erde zu kochen. Stinken‐ der, beißender Rauch stieg auf, der den Männern in ihren Multi‐ funktionsanzügen aber nichts anhaben konnte. In Windeseile zogen sie sich zurück. »Da hast du dein Geburtstagsfeuerwerk, Tad!« »Verdammter Mist!« schimpfte Ribicki, eine Rakete dorthin jagend, woher die Impulsstrahlen kamen. »Ich will nicht undankbar sein, aber das ist echt zuviel des Guten.« Für Sekunden schwiegen die Geschütze, dann setzte das Impuls‐ feuer wieder ein. »Die erwischst du da oben nicht.« Buck versuchte Einzelheiten am Hang zu erkennen, doch die Schützen waren jetzt der Sicht entzogen. »Die haben sich hervorragend verschanzt. Ich frage mich nur, wo die Impulsgeschütze herkommen. Bei unserem ersten Besuch haben die Roboter so etwas nicht gegen uns eingesetzt.« »Wahrscheinlich waren sie damals noch nicht da. Vermutlich ha‐
ben die Schrottbots die Nester da oben erst nach unserer Flucht ein‐ gerichtet.« Buck sah nur eine Möglichkeit, die versteckten Impulsgeschütze effektiv auszuschalten. Mit Pressorstrahlen. * In Windeseile wurden die Pressorgeschütze an die einzelnen Züge verteilt. Währenddessen nahmen die Kämpfe noch an Heftigkeit zu, da die heimischen Roboter begriffen, daß ihnen weitere Gefahr durch die zusätzlichen Neuankömmlinge drohte. Buck befürchtete weiteres Ungemach. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Roboter ebenfalls Verstärkung erhalten.« Doch auch so besaßen die Maschinen zahlenmäßig weiterhin eine mehrfache Übermacht. Mit der stoischen Ruhe von Maschinen ver‐ suchten sie einen Vorstoß nach dem anderen, wurden aber bei jeder neuerlichen Attacke zurückgeschlagen. Einmal mehr machte sich die Anschaffung der durch nichts zu überbietenden Multikarabiner be‐ zahlt. Umgekehrt wurde die Gegenwehr der Roboter stärker, sobald die Gardisten Boden gutmachten. Es zeigte sich, daß in mehreren Stel‐ lungen im Berg weitere Impulsgeschütze versteckt waren, die nach und nach zum Leben erwachten. Damit machten die Roboter den Gardisten das Leben schwer, unter denen es zu ersten Opfern kam. Daß es noch keinen Angehörigen des Mescalero‐Zugs erwischt hatte, hatte hauptsächlich mit Glück zu tun. Außerdem hielten Kaunas und Buck ihre Männer unablässig auf Trab und scheuchten sie von einer Stellung in die nächste, um nur ja kein Ziel zu bieten. Rauno Aaltonen steuerte die Schwebeplattform des den Mescale‐ ros zugeteilten Geschützes im Zickzack vorwärts. Dabei nutzte er jede Erhebung und Bodenunregelmäßigkeit als Deckung. Phillipe Tourneau bediente das Pressorgeschütz, sobald er einen Roboter entdeckte, der seinen Kameraden zu nahe kam. Im Kielwasser der
mit einem schützenden Prallfeld versehenen Plattform bewegten sich mehrere Gardisten voran. Wo die Pressorstrahlen in Stoßrichtung trafen, wühlten sie den Untergrund auf. Gegnerische Roboter, die es versäumten, sich schnell genug in Sicherheit zu bringen, wurden von den enormen Druckeffekten zerstört oder davongewirbelt. »Wir kommen voran!« trieb Buck seine Begleiter an. »Ein Drittel der Strecke haben wir geschafft.« Im selben Moment mußte er den Kopf einziehen und sich seiner Haut erwehren. Mit antrainierter Schnelligkeit brachte er den Kara‐ biner in Anschlag, als er eine Bewegung registrierte, und ließ ihn einen Bogen beschreiben. Singend griff der rosarote Nadelstrahl nach drei Gegnern auf einmal und verwandelte Teile der metalli‐ schen Rümpfe in pure Energie. Scheppernd regneten die verbliebe‐ nen Trümmer auf den steinigen Untergrund. Ein Rad, das einem der Roboter zur Fortbewegung gedient hatte, stand auf einer Strebe in die Luft gereckt und drehte sich unablässig weiter. Nun zeigte sich die Wirkung der Pressorstrahlen. Buck beobachtete zwei Explosionen auf dem Berg. Die Impulsgeschütze, die eben noch gefeuert hatten, verstummten. Sekunden später war von ihren Stel‐ lungen nichts mehr übrig, als Teile des Hanges in Bewegung gerieten und in die Tiefe rutschten. Die Lawine erfaßte zahlreiche weitere Roboter auf ihrem Weg nach unten und riß sie mit sich. »Netter Nebeneffekt«, kommentierte Jaschin, unablässig feuernd. Nicht nur er landete mit seinem Multikarabiner einen Treffer nach dem anderen. Auch seine Kameraden veranstalteten mit den hoch‐ modernen Waffen ein wahres Scheibenschießen – was angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der gegnerischen Roboter aber auch nötig war. »Wir werden unsere Kampfroboter auch mit den Mark 10/62 aus‐ rüsten müssen«, forderte Buck. »Das muß MacCormack den Bürokraten aber schonend beibringen. Beim ersten Wort fangen die wieder an zu weinen, wenn sie an die
Kosten denken.« Buck unterdrückte eine harsche Entgegnung. Das Leben der Sol‐ daten vor Ort ließ sich nicht gegen Geld aufrechnen. Daher hatte er für solche Vorbehalte bei Politikern nicht das geringste Verständnis. »Farnham wird schon die richtigen Worte finden«, murmelte er. Seine Aufmerksamkeit wurde von hektischen Bewegungen in Stoßrichtung beansprucht. Er erkannte etwa ein Dutzend Maschinen, die eine natürliche Deckung ausnutzten, um sich ihnen zu nähern. Hinter der leichten Bodenerhebung waren nur die oberen Bereiche ihrer Körper zu sehen. »Phillipe!« »Schon gesehen!« Tourneau aktivierte das Pressorgeschütz. Die zerstörerischen Wellenfronten, die es aussandte, waren mit bloßem Auge nicht zu erkennen, die Wirkung dafür um so besser. Gesteins‐ brocken wurden vom Boden gerissen und gemeinsam mit Erd‐ schollen wie von einer unsichtbaren Titanenfaust gepackt davonge‐ schleudert. Eine breite Schneise der Verwüstung entstand, die frei von Verteidigern war. Die Männer erkannten den Vorteil gleichzeitig. »Vorwärts!« Jaschin lief los, während Aaltonen Schub gab. Die Plattform machte einen Satz und stieß in die sich ausbreitende Staubwolke vor. Buck hatte ein ungutes Gefühl, weil den Männern vorübergehend die Sicht vernebelt war, doch ein Zögern konnten sie sich nicht leis‐ ten. Vor ihnen bot sich die Chance, zwanzig Meter oder mehr Boden gutzumachen. »Sichtkontakt halten!« stieß er heiser aus. Was angesichts der Bedingungen rein normaloptisch nicht so ein‐ fach war. Er aktivierte die Infrarotanzeige seines MFA und bekam die Standorte seiner Kameraden samt Entfernungsanzeigen auf die Innenseite der Helmscheibe geliefert. Trotzdem konnte er quasi über einen gegnerischen Roboter stolpern. Ein paar Sekunden nur ver‐ gingen, bis sich die Sichtverhältnisse wieder normalisierten, doch sie
kamen ihm vor wie eine kleine Ewigkeit. Was heißt schon klein? dachte Kurt sarkastisch, in Zusammenhang mit einer Ewigkeit? Seltsam, wie einem selbst in einer solchen Lage de‐ rartige Nebensächlichkeiten durch den Kopf gingen. Erleichterung überkam ihn, als er endlich wieder freie Sicht auf seine Kameraden hatte. Sie hatten das ebene Feld, das Minuten zu‐ vor noch eine Erhebung gewesen war, beinahe überwunden. Nun war es gekennzeichnet durch Krater und tiefe Furchen im Boden, die den Männern Deckung boten. Mehrmals wich Aaltonen dem Feuer aus feindlichen Impulsgeschützen aus. Auf Dauer konnte das nicht gutgehen, und gegen einen massiven Volltreffer konnte auch das beste Prallfeld nichts ausrichten. Die Transmitterwürfel waren hinter ihnen zurückgeblieben, in re‐ lativer Sicherheit. Dem Carborit konnten auch die Impulsstrahlen nichts anhaben. Buck streckte den Kopf in die Höhe und sah das Eingangstor zum Berg. Sie waren ihm bereits viel näher gekommen, und doch schien es noch in unerreichbarer Ferne. In einem solchen Kampf bedeutete jeder Meter eine beachtliche Strecke. »Verdammt!« erklang Jaschins Stimme. »Anscheinend haben wir uns getäuscht!« Da entdeckte auch Buck das Roboterschiff, das sich bedrohlich über den Horizont schob. * Das mächtige Schiff war eingehüllt in seinen Karoschirm und flog dicht über den Berggipfeln. Daher war es erst so spät zu sehen. Es gab keinen Zweifel, was sein Ziel war. Der Berg mit dem Hei‐ ligtum. Buck preßte die Lippen aufeinander. Hatten sie sich etwas vorge‐ macht mit ihrer Annahme, die Roboter würden hier keine schweren Waffen einsetzen, um die Schlafenden nicht zu gefährden? Vielleicht sahen sich die Maschinen so sehr in der Klemme, daß sie das damit
verbundene Risiko eingingen und auf die schweren Schiffsgeschütze setzten. »Wenn die anfangen zu ballern, bleibt von uns kein Staubkörnchen übrig«, wählte Ribicki eine blumige Umschreibung der tödlichen Bedrohung. »Nur nicht die Nerven verlieren, Tad«, gab der Leutnant zurück. »Denk an dein Faß Bier. Soll das etwa verkommen? Zieht die Köpfe ein. Farnham wird schon die passende Antwort finden.« Dabei wußte Buck genau, daß auch der Alte machtlos war. Die Garde führte keine Waffe mit sich, die in der Lage war, den Karo‐ schirm des bizarr geformten Riesenraumers auch nur anzukratzen. Selbst wenn deren Befehlshaber einen Notruf abgab und ihnen ein Durchbruch gelang, kamen die Ringraumer viel zu spät, um noch in die Auseinandersetzung eingreifen zu können. »Wir müssen ins Innere des Bergs!« rief Jaschin über Funk. »Da sind wir einigermaßen sicher.« »Können vor Lachen«, giftete Souaran. »Oder willst du freundlich fragen, ob die Schrottbots uns mal eben durchlassen?« Leider mußte Kurt ihm zustimmen. Vor ihnen war der Weg immer noch versperrt, auch wenn das große Tor scheinbar zum Greifen nahe war. Von vorn schlug den Männern jetzt verstärktes Feuer entgegen, als würden die Handlungsroboter durch das Auftauchen des Schiffs in ihrem Kampfverhalten angestachelt. Dabei war der Eindruck falsch, denn bei diesen Gegnern handelte es sich um simple Maschinen, die mittels To‐Richtfunk von ihrem jeweiligen Besitzer, einem der intelligenten Großrechner in Raumschiffsgröße, fernge‐ steuert wurden. Buck und seinen Kameraden blieb keine andere Wahl, als an Ort und Stelle zu verharren und das Feuer zu erwidern. An ein weiteres Vordringen war gar nicht zu denken. Damit war auch Jaschins Forderung hinfällig. »Bedeutet das, wir ziehen uns zurück?« Die Frage kam von Rauno Aaltonen. Angesichts der Bedrohung zog er die Schwebeplattform
hinter einen Felsvorsprung, der aus einem welligen Gebirgsausläu‐ fer entsprang und von weiteren Felsen eingekeilt wurde. Aus der Luft war das Versteck nicht einzusehen, und auch vor Sicht aus den Geschützstellungen im Hang war es sicher. Andererseits hatte die Plattform damit aber ihre Schlagkraft verloren. Buck dachte kurz nach. Durch einen Rückzug war nichts gewon‐ nen. Im Gegenteil wurden damit ihre bisherigen Erfolge konterka‐ riert. Da er nicht glaubte, daß ihnen später ein zweiter Vorstoß ge‐ lingen würde, käme ein Rückzug einer Kapitulation gleich. »Wir warten!« entschied er. »Und worauf?« Darauf, daß Farnham neue Befehle gab. Es war nicht erstaunlich, daß das bisher noch nicht geschehen war, da die Garde letztlich planmäßig vorgerückt war und den Robotern Meter um Meter ab‐ gerungen hatte. Nun jedoch sah die Sache anders aus. Buck irrte sich nicht mit seiner Einschätzung. Denn wenig später meldete sich Kenneth MacCormack. * Der Oberst stieß einen derben Fluch aus. Das riesige Roboterschiff verdunkelte einen Teil des Himmels. Beinahe wirkte es mit dem Berg verschmolzen, so tief flog es. Da es aus Richtung der Sonne kam, warf es einen gigantischen bizarren Schatten, der dem dank des Fehlens jeglicher Vegetation ohnehin öd wirkenden Land zusätzliche Tristesse verlieh. »Es nähert sich mit aktiviertem Schirm.« Farnham fixierte den Roboterraumer. Der schwach leuchtende Karoschirm ließ keinen Zweifel daran, daß es unangreifbar war. »Die wagen nicht, hier schwere Waffen einzusetzen.« Davon war er nach wie vor überzeugt. Handelte es sich beim Auftauchen des Schiffs also lediglich um eine Drohgebärde? Nein, daran glaubte er nicht. Ein solches Vorgehen entsprach nicht dem Vorgehen der lo‐
gisch operierenden Maschinen. »Ich bin mir da nicht so sicher, Sir. Auch wenn die Garde den Eingang zum Heiligtum der Roboter noch nicht erreicht hat, haben wir die Großrechner unter Zugzwang gesetzt. Vielleicht handelt es sich um einen Verzweiflungsakt, bei dem gewisse Kollateralschäden einkalkuliert sind.« Farnham schüttelte den Kopf. Artus’ Bericht hatte an Aussagekraft nichts zu wünschen übrig gelassen. Auf keinen Fall riskierten die Roboter eine Gefährdung der Schlafenden, die sie aus einem unbe‐ kannten Grund verehrten. Und wenn Artus und die Cyborgs sich bei ihrer Interpretation geirrt hatten? Wie auch immer, er durfte keine weitere Zeit verlieren – sonst verlor er die Garde. »Vorschläge?« Als er sich unter den Angehörigen seines Stabs umschaute, blickte er ausnahmslos in ratlose Gesichter. »Unsere derzeit stärkste Waffe sind die Pressorgeschütze«, über‐ legte MacCormack. »Wenn es sein muß, können wir mit ihnen den halben Berg einebnen, aber gegen den Karoschirm sind sie nicht einmal Nadelstiche.« Farnham kniff die Augen zusammen. Er erinnerte sich daran, daß er eben noch an eine mögliche Drohgebärde der Roboter gedacht hatte, auch wenn diese Vermutung nicht haltbar war. Doch zusam‐ men mit MacCormacks Überlegung bekam die Vorstellung einer Drohgebärde einen ganz neuen Sinn. »Allerdings nur, wenn diese Drohgebärde von uns ausgeht«, murmelte er. Der Oberst sah ihn fragend an. »Sir?« »Order an die Garde«, befahl Farnham. »Sämtliche Pressorge‐ schütze auf den Eingang zum Berg ausrichten. Wir werden ein paar gezielte Warnschüsse darauf abgeben. Die Roboter sollen begreifen, daß wir ihr Heiligtum bedenkenlos zerstören, wenn dieser Pott nicht wieder abdreht.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Sir!«
»Die Roboter sollen das ruhig denken.« »Ein paar Warnschüssen könnten sich als verhängnisvoll erwei‐ sen«, gab MacCormack zu bedenken. »Die Intensität der Pressor‐ wucht läßt sich nicht exakt festlegen. Vielleicht zerstören wir mehr, als wir beabsichtigen.« Am Himmel war der Roboterraumer inzwischen deutlich zu sehen. Er hatte den Berg mit dem Heiligtum erreicht und schickte sich an, über die den Gardisten zugewandte Seite des Berges einzuschwen‐ ken. »Das Risiko gehen wir ein«, entschied Farnham. In dieser Sekunde erlosch der Karoschirm. »Was soll…?« MacCormacks Worte erstarben, als winzige Pünktchen am Himmel sichtbar wurden. Einzelne zunächst, dann Dutzende, schließlich Hunderte. Die Großrechner hatten nicht vor, mit schweren Ge‐ schützen gegen die Menschen vorzugehen. Sie hatten andere Mög‐ lichkeiten. »Sie setzen Roboter ab.« Damit änderte sich von einem Moment auf den anderen alles. Plötzlich waren die Pressorgeschütze genau die Waffe, die man brauchte. Farnham reagierte gedankenschnell. »Planänderung. Rundruf an alle Züge. Geschütze auf den Robo‐ terraumer ausrichten. Angriff nach eigenem Ermessen, bevor der Karoschirm wieder aktiviert wird.« Inzwischen waren viele hundert Handlungsroboter aus den Luken des Schiffs gefallen. Einem Heuschreckenschwarm gleich regneten sie der Planetenoberfläche entgegen. Über Funk wandte sich Kenneth MacCormack an die Garde. * »Ihr habt es gehört.« Buck hatte den gleichen Gedanken, als der Funkspruch kam. Sie
mußten den riesigen Raumer zum Abdrehen zwingen, damit keine unüberschaubare Flut von Robotern abgesetzt wurde. Auch so kribbelte es dem Leutnant beim Niederregnen des Nachschubs im Nacken. Rauno Aal tonen zögerte nicht, die Schwebeplattform aus ihrer Deckung zu steuern. Gleichzeitig justierte Tourneau das Pressorge‐ schütz. »Wir brauchen Feuerschutz!« schrie der Franzose. »Geht klar. Seht nur zu, daß ihr diese Riesenkiste kleinkriegt, so‐ lange sie ungeschützt ist.« Jaschin kauerte hinter einem Felsvor‐ sprung, der ihm leidlich Deckung bot gegen die Impulsstrahlen, die mit zuvor nicht gekannter Vehemenz vom Berg jagten. Allerdings kamen sie aus deutlich weniger Stellungen als zuvor. Er fluchte wü‐ tend vor sich hin. »Ich dachte, wir hätten die alle erwischt.« Buck, Ribicki und Souaran hatten sich am Felsen verteilt. Treffsicher schalteten sie die Handlungsroboter aus, so bald sich einer von ihnen sehen ließ. Doch nicht immer ließ sich ein Ziel er‐ kennen. In dem heißen Gefecht schienen viele Strahlen geradewegs aus dem Nichts zu kommen. Die winzigen Pünktchen, die vom Himmel fielen, wurden rasch größer. Buck fühlte sich in ein von einem kranken Geist ersonnenes Panoptikum versetzt. Keine zwei Roboter hatten die gleiche Form. Ausnahmslos unterschieden sie sich durch größere oder kleinere Abweichungen in ihrer Bauweise. »Sie gehen in weitem Umkreis nieder. Verdammt, Philippe, worauf wartest du?« Tourneau ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Zielsicher saßen seine Handgriffe. Dann stieß er einen schrillen Pfiff aus, der die tau‐ send Geräusche der Kämpfe übertönte. »Achtung, jetzt!« Beinahe gleichzeitig nahmen die Pressorgeschütze der Züge ring‐ sum die Arbeit auf. Gemeinsam stürzten sie sich auf das neue Ziel, auch wenn sie dafür kurzzeitig den Bodenkampf vernachlässigen mußten.
»Die Roboter vor unserer Nase nicht vergessen«, schärfte Buck seinen Kameraden ein. »Die lassen sich von diesem Schauspiel nicht ablenken.« Die Männer schossen gleichzeitig auf Ziele im Gelände, die sie nicht einmal richtig sahen, und warfen kurze Blicke zum Himmel. Sekundenlang gab es dort nichts zu sehen, dann lief ein bis zum Boden sichtbares Vibrieren durch die monströse Schiffszelle, die deutlich sichtbare Schäden erlitt. Der Raumer bremste ab, verharrte zitternd auf der Stelle. »Der Pott kracht runter!« entfuhr es Jaschin. Aus aufgerissenen Augen starrte Buck den Roboterraumer an, als wollte er ihn an Ort und Stelle bannen. Wenn er abstürzte, würde alles unter ihm zermalmt werden. Die Schockwelle würde den Un‐ tergrund noch in vielen Kilometern Entfernung umwälzen und alles, was sich darauf befand, vernichten. »Der Karoschirm baut sich wieder auf«, widersprach Ribicki. Am Himmel blitzten Schwärme von Sternschnuppen auf. Im fla‐ ckernden Schutzschirm des Raumers verglühten die ausgeschleusten Handlungsroboter, die noch nicht weit genug abgesunken waren. Hunderte von ihnen existierten nicht mehr, bevor sie noch den ersten Schuß getan hatten. Doch Buck schätzte, daß immer noch zweitau‐ send übrig waren, die zur Unterstützung ihrer eisernen Kameraden kamen. Tourneau deutete nach oben. »Die Kiste dreht ab.« Sich schüttelnd nahm das Schiff wieder Fahrt auf, diesmal zurück in die Richtung, aus der es gekommen war. An einigen Stellen prangten weithin sichtbare Schäden an der Außenhülle. Trümmer‐ stücke lösten sich und stürzten, sofern sie beim Durchdringen des Schutzschirms nicht ebenfalls verglühten, in die Tiefe, weitab der Elitekämpfer oberhalb des Berges, wo keine Gardisten Gefahr liefen, davon erschlagen zu werden. »Das hat denen ganz und gar nicht geschmeckt«, verkündete Tourneau mit triumphierend ausgestrecktem Arm. In seiner eigen‐
tümlich verwinkelten Pose sah er selbst aus wie ein bizarr geformter Roboter. »Schon gut, Phil. Gute Arbeit, aber keine Zeit zum Feiern. Wir be‐ kommen gleich Besuch. Säubere das umliegende Gelände.« Zwar ließen sich noch keine Roboter sehen, doch deren Strahlen‐ schüsse blitzten jetzt in immer kleiner werdendem Abstand auf. Der Franzose ließ sich nicht zweimal bitten. Schon hatte er die Vektorie‐ rung seines Geschützes wieder geändert und bestrich mit den ge‐ waltigen Kräften das zerklüftete Feld jenseits der Felsen. Wo die Pressorstrahlen griffen, blieb kein einziger Handlungsroboter ver‐ schont, gleich wie gut er sich beim Näherkommen zu tarnen ver‐ suchte. Diejenigen von ihnen, die nicht in heftigen Detonationen vergingen, wurden wie welke Blätter im Wind davongewirbelt. Zerknüllt, eingestampft, zerrissen, größtenteils bis zur Unkenn‐ tlichkeit deformiert, was bei den meisten aufgrund ihrer Bauweise ohnehin keinen großen Unterschied machte. »Jetzt geht der Spaß erst richtig los«, unkte Jaschin. Mit kurzen Feuerstößen zerstörte er mehrere Roboter, bevor sie den Boden erreichten. Weitere Maschinen endeten bei der Landung, weil sie zwischen Felsen schlugen und dabei beschädigt oder völlig zerstört wurden. Das änderte nichts daran, daß sich Jaschins Worte binnen weniger Minuten bewahrheiteten. Die Handlungsroboter bekamen Oberwasser und griffen die Garde von allen Seiten an. Mit brutaler Gewalt intensivierten sich die Kämpfe, und immer noch existierten im Berg zwei Stellungen mit Impulsstrahlern. Allmählich wurde es Tourneau zu bunt, weil er sich deswegen nicht gefahrlos um die feindlichen Bodentruppen kümmern konnte. Aaltonen handhabte die Schwebeplattform virtuos, doch bekam man über Funk eine Reihe von Verlustmeldungen mit. »Wir müssen etwas tun«, plädierte er und deutete zu einem be‐ stimmten Geländeabschnitt. »Von dort aus erwische ich beide Stel‐ lungen.« »Nur von dort?«
»Verdammt, Kurt, ja. Wir sollten es versuchen.« Obwohl sich die sechs Männer ständig gegen die Übermacht ver‐ teidigen mußten, schafften sie es, nicht getroffen zu werden. Sie handelten in stillem Einverständnis, ohne lange Worte zu ver‐ schwenden. Das Gelände vor sich umpflügend, brauste die Plattform in die von ihrem Piloten vorgegebene Richtung. Tourneau richtete voraus so viel Schaden wie möglich an, während Buck sich über Funk verge‐ wisserte, daß noch keine anderen Gardisten dorthin vorgedrungen waren. Plötzlich erhoben sich mehrere Roboter aus einem Graben, der erst beim Überfliegen sichtbar wurde. Sie waren in ein Gefecht mit einem der letzten verbliebenen irdischen Kegelroboter verstrickt. Aaltonen rammte sie kurzerhand mit der Plattform. Das Prallfeld ließ nur ein paar Haufen Schrott übrig. Als weitere auftauchten, riß er das Gefährt aus dem Kurs. Es voll‐ führte einen Bogen, bäumte sich auf und kam beinahe zum Still‐ stand. »Weiter geht es nicht, Phil! Das muß reichen!« »Wird es«, bestätigte der Franzose. Mehrere Schüsse fauchten über die Köpfe der Männer dahin. Buck handelte mechanisch, schoß und zerstörte einen Gegner und gleich darauf noch einen. Die Maschinen gaben nicht auf, natürlich nicht. Die Tatsache, daß ihre Waffen denen der Gardisten hoffnungslos unterlegen waren, hinderte sie nicht im geringsten. Auch sie lande‐ ten ihre Treffer, und wenn es nur einer gegen hundert zerstörte Kämpfer aus ihren Reihen war. Tourneau bestrich den Berg mit Pressorstrahlen. Die Geschütz‐ stellungen, auf die er es abgesehen hatte, lagen so weit vom Eingang entfernt, daß das Tor nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ver‐ mutlich hatten die Roboter sie in weiser Voraussicht entsprechend abgelegen eingerichtet. Wieder kam es zu Erdrutschen, als die unsichtbaren Kräfte zu‐
schlugen. Tourneau war in seinem Element und hatte dabei keine Gelegenheit, sich um etwas anderes zu kümmern. Er mußte sich darauf verlassen, daß seine Kameraden ihn gegen angreifende Ro‐ boter schützten. Von denen tauchten gerade welche von der rechten Flanke her auf, als Buck und Jaschin einen Schußwechsel mit ein paar Maschinen führten, die nicht größer waren als Handkarren und deshalb erst im letzten Moment sichtbar wurden. Ribicki bemerkte die von der Seite kommende Gefahr als erster. »Kurt, Vorsicht!« schrie er. Der Deutsche war den neuen Angrei‐ fern am nächsten und steckte genau zwischen den beiden Fronten. Eine Feuerlanze verfehlte ihn um Armeslänge, bevor er die neue Situation richtig mitbekam. Schon legten die Maschinen wieder an, und Ribicki sah das Ver‐ hängnis kommen. Er wirbelte herum, sprang aus dem Schutz der Plattform hervor, traf zwei Roboter mit einem langgezogenen Feuerstoß und warf sich gleichzeitig auf Buck. Der Leutnant wurde von der Wucht des Aufpralls überrascht und verlor den Boden unter den Füßen. Danke, Tad, schoß es ihm durch den Kopf. Da kam er bereits wieder auf die Beine… und hatte das Gefühl, daß sich die ganze Welt um ihn drehte. Nein! schrie ein Gedanke in ihm. Nein! Er zog den Abzug seines Mark 10 durch, schoß, traf, schoß, traf, registrierte es jedoch gar nicht richtig. Merkte nicht, daß Jaschin an seiner Seite war und ihn unterstützte. Auch nicht, daß Tourneau die beiden Stellungen zerstörte und die Impulsgeschütze vernichtete. Zwei Arme packten ihn und schüttelten ihn durch, ohne daß er hätte sagen können, wieviel Zeit verstrich. Sein Blick saugte sich an dem Mann fest, der zwei Meter entfernt von ihm am Boden lag und sich nicht bewegte. »Kurt! Komm zu dir!« Es war Jaschins Stimme. »Wir haben sie. Wir haben sie alle.«
Sie haben uns, wollte Buck erwidern, doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Außerdem stimmte das sowieso nicht. Die ver‐ fluchten Roboter hatten nicht sie alle erwischt, sondern nur Tadeusz Ribicki. An einer Stelle war sein Anzug verschmort, seine Augen hinter der Helmsichtscheibe starrten ins Leere. Der Blick in ihnen war gebrochen. Buck setzte einen Fuß vor den anderen. Er bückte sich, um seinem Kameraden in die Höhe zu helfen. Er mußte dessen Helm so schnell wie möglich luftdicht gegen den durchlöcherten Anzug abbinden. In seinem Helmempfänger knackte es trocken. Plötzlich empfand er seine eigenen Atemzüge wie Fanfarenstöße. »Er ist tot«, drang eine Stimme in seinen Verstand. »Du kannst nichts mehr tun, Kurt.« Buck richtete sich auf. Jasch hatte recht. Der Treffer hatte Tad auf der Stelle getötet. Die Stickstoffatmosphäre war nicht dafür verant‐ wortlich. Es war ihm klar, daß sein Verhalten irrational und der Lage nicht angemessen war. Auch wenn sie für ein paar Sekunden Ruhe hatten, waren die Feinde immer noch ringsum. Wenn er sich nicht beherrschte, blieb Tad nicht das einzige Opfer aus ihrer Gruppe. »Er hat…« … mich gerettet. Sich für mich geopfert. Kurt brauchte nicht auszusprechen, was ihm auf dem Herzen lag. Die anderen wußten es ebenfalls. Wir holen ihn später. Kein Mann bleibt zurück. Erst recht nicht, wenn er Geburtstag hat.
20. Heftig wogten die Kämpfe hin und her. Dank der Verstärkung beendeten die Roboter den Vormarsch der Gardisten. Sie eroberten sogar ein wenig von dem verlorenen Gelände zurück. Doch nur für eine Weile. Mit grimmiger Verbissenheit und dank den Dust‐ und Nadelstrahlen ihrer Multikarabiner gelang es den Elitesoldaten schließlich, ihren zahlenmäßigen Nachteil auszugleichen. Abermals wendete sich das Blatt. »Sie lassen sich zurückdrängen.« Erleichterung schwang in Mac‐ Cormacks Stimme mit. In weitem Umkreis hatten die Pressorge‐ schütze das Land mit ihren Strahlen umgepflügt. Hatte es schon vor den Kämpfen einen wenig einladenden Anblick geboten, stellte es mittlerweile die reinste Kraterlandschaft dar. Farnham gab keine Antwort, sondern beobachtete das Kampf ge‐ schehen. Überall lagen Trümmer von vernichteten Maschinen. Rauchwolken stiegen auf und schufen neblige Abschnitte. Aus allem stachen die Feuerlanzen hervor, die niemals zu enden schienen. Hin und wieder trafen Meldungen ein, daß ein weiterer Gardist gefallen war. Zuletzt hatte es Tadeusz Ribicki von Leutnant Bucks 14. Zug getroffen. Längst zählte Farnham die eigenen Verluste nicht mehr, weil er verläßliche Zahlen ohnehin erst nach Beendigung der Kämpfe erhalten würde. Eines jedoch stand für ihn fest. Jeder seiner gefallenen Männer war mehr wert als sämtliche Roboterbataillone, die Eins bevölkerten. Ihm war klar, daß die Bodentruppen keinen Gedanken daran ver‐ schwendeten. Ihr ganzes Trachten war auf das Eingangstor gerichtet, das sich groß unter einem Überhang abzeichnete. Das verwüstete Gelände hatte den Vorteil, daß die vorrückenden Gardisten zahlreiche De‐ ckungsmöglichkeiten vorfanden – dummerweise galt das auch für die Roboter.
Der Befehlshaber der Garde hatte eine ungute Vorahnung, seit der beschädigte Roboterraumer wieder verschwunden war. Zweifellos waren die logistischen Möglichkeiten der Großrechner enorm. Also war zu befürchten, daß früher oder später ein weiteres Schiff mit Handlungsrobotern auftauchen würde, um die ausgefallenen Ma‐ schinen zu ersetzen. Selbst wenn es ablief wie beim ersten Mal und sich das Schiff nach kurzer Zeit wieder zurückziehen mußte, blieb ihm genug Zeit, weitere kampfstarke Kontingente abzusetzen. Unablässig suchten Farnhams Augen den Himmel ab. Bis sich seine Befürchtung bestätigte. Über dem nächstgelegenen Berg wurde ein Schatten sichtbar, der rasch an Form gewann. Ihm folgten weitere, und Farnham mußte sich korrigieren. Dort kam keines der großen Schiffe. Es waren Glei‐ ter, die als Mannschaftstransporter dienten und Handlungsroboter herbeikarrten. »Sie haben die Taktik geändert«, kommentierte MacCormack. Doch das war noch nicht alles. Der ersten Gleiterflotte folgten weitere Fahrzeuge. Sie waren kleiner, dafür aber schneller und we‐ sentlich wendiger. »Sie greifen die Garde von oben an. Gegen eine Bombardierung aus der Luft haben unsere Jungs keine Chance.« Schon schwärmten die Gleiter aus und nahmen die Soldaten unter Beschuß. Schnell zeigte sich, daß sie nicht nur über Impulsgeschütze verfügten, sondern auch über Bomben und Raketen. Die größeren Modelle zogen tiefer und setzten ihre stählernen Passagiere ab. Auf der Stelle ließ Farnham neue Befehle durchgeben. »Nicht weiter vorrücken, sondern Deckung gegen die Luftangriffe suchen.« »Damit verlieren wir unseren Vorteil«, überlegte der Oberst. Dabei war ihm klar, daß dies die einzige Chance war, die Gardisten vor einem Massaker zu bewahren. »Den Robotern bleibt Zeit, sich neu zu formieren.« »Nicht, wenn wir schnell genug handeln.« Mit versteinerter Miene
aktivierte Farnham den To‐Richtfunk. In dieser Lage brauchten sie anderweitige Unterstützung. Er wies ein paar Mitglieder seines Sta‐ bes an, die drei nächsten Containerwürfel wieder zu öffnen. Nach‐ dem das erledigt war, zählte er, zur Untätigkeit verdammt, in Ge‐ danken die Sekunden. Er fühlte sich hilflos. Kein Befehl, den er den Gardisten gab, konnte sie in dieser Lage retten. Er stieß die Luft aus, als endlich der erste Flash aus einem der Würfel kam. Hector Elizondo an Bord der EMMA WALLIS hatte nach dem To‐Spruch sofort geschaltet und seine Piloten aufge‐ scheucht. Vierzehn Flash kamen durch die Ringtransmitter und stürzten sich ins Kampf geschehen. Die Piloten brauchten nur Se‐ kunden, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, dann gingen sie gegen die Kampfgleiter vor, um der Bodentruppe Luft zu verschaffen. »Unterstützung ist vor Ort«, gab Farnham an die Zugführer durch. »Weiteres Vorrücken nach eigenem Ermessen. Die Flash werden Ihnen den Rücken freihalten, soweit es geht.« Schnell zeigte sich, daß das leichter gesagt war als getan. Mit her‐ kömmlichen Waffen kamen die Kampfgleiter den Intervallfeldern der Flash zwar nicht bei, doch sie waren außerdem mit der gefürch‐ teten Kompri‐Nadel ausgerüstet. Gegen den Nadel ähnlichen Strahl, dessen Energieabgabe allerdings auf einen Durchmesser im Nano‐ meterbereich gebündelt war, hielten auch die Intervalle nicht lange stand. MacCormack stieß einen Fluch aus, als ein Flash auflodernd zu Boden trudelte. In der Stickstoffatmosphäre verlöschte der Brand allerdings fast wieder auf der Stelle. Auch die Kampfgleiter kamen nicht ungeschoren davon, zumal sie keine Schutzschirme hatten. Doch für sie galt das gleiche wie für die am Boden kämpfenden Handlungsroboter: Sie nahmen keine Rück‐ sicht auf ihre eigene Existenz, wenn es ihnen nur gelang, den einen oder anderen Feind zu vernichten. Eine Rotte von drei Gleitern jagte einen Flash und hielt ihn im Fo‐
kus der Kompri‐Strahlen. Jeden Moment würde das Intervall zu‐ sammenbrechen. Tollkühn ließ der Pilot seinen Flash nach vorn ab‐ kippen und jagte ihn in die Tiefe. Sofort brach das Feuer ab. »Sie schießen nicht mehr«, stieß der Oberst verblüfft aus. »Dabei hatten sie ihn schon fast.« Ein kaltes Lächeln huschte über Farnhams Gesicht. »Weil Komp‐ ri‐Nadel zu große Schäden anrichtet. Die Roboter achten darauf, nicht nach unten zu schießen. Das ist ihr Verhängnis. Die Flashpilo‐ ten müssen zusehen, daß sie immer unterhalb der Gleiter fliegen.« Sofort wurde diese Information an die Piloten der Beiboote durchgegeben. Für einen Flash kam die Durchsage zu spät. Er ver‐ ging in einer heftigen Explosion. Die anderen Piloten stellten sich um so schneller auf die neugewonnene Erkenntnis ein. Tatsächlich verhielten sich die Roboter in den Gleitern so, wie Farnham es erwartete. Da sie nun ihrerseits versuchten, unter die Flash zu gelangen, gab es ein ziemliches Chaos im Luftraum, das die Menschen für sich ausnutzten. Reihenweise schossen sie die Kampfgleiter ab, die mit ihren herkömmlichen Waffen nicht in der Lage waren, die Intervalle zu überwinden. »So weit, so gut«, resümierte der Generalmajor zufrieden. »Damit ist der Augenblick für unseren nächsten Schritt gekommen.« Wieder schickte er einen Spruch per To‐Richtfunk an die Flotte. * Wo kurz zuvor die Flash ins Freie geflogen waren, folgten nun humanoide terranische Roboter. Sie hatten an Bord der Ringraumer auf ihren Einsatzbefehl gewartet. Farnham hielt den richtigen Zeit‐ punkt für gekommen, sie in die entscheidende Schlacht zu werfen, nachdem das Feld von den kampfstarken Kegeln und den Gardisten bereitet worden war. Die Hauptaufgabe der einfachen Kampfma‐ schinen bestand darin, das Eingangstor zu sichern und den Gardis‐
ten den Rücken freizuhalten, sobald die in den Berg eingedrungen waren. Die Roboter benötigten keine Instruktionen. Sie hatten vorab ihre Einsatzbefehle erhalten und stürzten sich sofort ins Kampfgesche‐ hen. Zwar verfügten sie über keine Prallfelder wie die Kegel, waren dafür aber wie die Gardisten mit den neuen Multikarabinern be‐ waffnet. »Terence Wallis hat sich wirklich nicht lumpen lassen«, bemerkte MacCormack beim Anblick der Karabiner. »Mit den Mark 10/62 haben die Blechmänner eine enorme Kampfstärke.« »Wallis hat es doch«, konterte Farnham. »Seine Großzügigkeit tut ihm nicht wirklich weh. Außerdem hat er seine Milliarden auf der Erde verdient. Wenn er einen Teil davon nun zugunsten der Menschheit einsetzt, ist das nur konsequent.« Die terranischen Roboter drehten das Blatt endgültig zugunsten der Garde. In Gruppen unterstützten sie die Elitesoldaten und er‐ möglichten ihnen ein rascheres Vorankommen. Meter für Meter näherten sich die Gardisten dem Tor, während die Handlungsrobo‐ ter von Eins in die Berge zurückgetrieben wurden. Reihenweise fie‐ len sie. »Allmählich werden sie vernünftig.« MacCormack verfolgte den Rückzug der Handlungsroboter durch einen Feldstecher. »Nur weil sie erkennen, daß sie vollständig aufgerieben werden, wenn sie noch länger mit der Flucht zögern.« »Das bedeutet aber noch nicht, daß sie aufgeben. In den Hängen rotten sie sich schon wieder zu Gruppen zusammen. Unsere Jungs haben das Tor fast erreicht.« Woran auch die Flash einen Verdienst hatten. Es war ihnen nicht nur gelungen, die meisten Kampfgleiter zu zerstören, sie hatten den Gardisten mit Dust‐ und Nadelstrahlen Schneisen in Stoßrichtung geschlagen. Schon kamen die ersten Soldaten beim Tor an und drückten sich gegen die Wände des Überhangs, unter dem es verborgen lag. Sie
sicherten in alle Richtungen und ermöglichten es ihren Kameraden, zu ihnen aufzuschließen. MacCormack war nicht überrascht, Buck und Jaschin bei den vordersten Ankömmlingen zu entdecken. Sie instruierten die nachrückenden Roboter, einen breiten Streifen vor dem Eingang zu sichern. Trotz ihres Rückzugs dachten die Handlungsroboter von Eins nicht daran, endgültig aufzugeben. Vermutlich wurden sie von ihren leitenden Großrechnern ohne Rücksicht auf Verluste immer wieder nach vorn getrieben. Ebenso wurden sie nun immer wieder zurück‐ geschlagen, während sich die Gardisten nach und nach vor dem Tor versammelten. * »Noch keine weitere Nachricht von Eins?« »Negativ, Commander.« Glenn Morris schüttelte den Kopf. »Auch die EMMA WALLIS hüllt sich vornehm in Schweigen. Mir gefällt diese Ruhe ebenfalls nicht. Soll ich bei Major Elizondo nachfragen, wie die Aktien stehen?« »Sinnlos. Wenn er sich nicht von selbst meldet, gibt es nichts zu sagen.« Ren Dhark hatte den Kopf in beide Hände gestützt und stierte in die Bildkugel, wo nicht mehr als der umliegende Raum und der Rest der Flotte zu sehen war. »Es gefällt mir nur nicht, daß die Gardisten auf Eins Kopf und Kragen riskieren, während wir hier sitzen und Däumchen drehen.« Dan Riker verzog ungläubig das Gesicht. »Wenn es nach dir ginge, wärst du doch selbst dabei. Die Schwarze Garde ist für solche Ein‐ sätze ausgebildet, Ren. Du und ich sind es nicht. Wir beide waren in manchem Kampfeinsatz, aber was auf dieser elenden Roboterwelt vor sich geht…« Riker winkte ab. »Ich wage mir nicht einmal vor‐ zustellen, in welchem Schlamassel die Gardisten stecken. Aber eins laß dir gesagt sein: Wenn es jemand schafft, ein solches Unterneh‐ men erfolgreich abzuschließen, dann ist es die Garde.«
»Ich habe auch nicht vor, den Burschen im Weg herumzustehen.« »Auch wenn es dir nicht einmal bewußt wäre, tätest du es trotz‐ dem. Weil diese Elitekrieger ständig mit dem Gedanken belastet wären, sich um einen Zivilisten kümmern zu müssen.« Riker grinste. »Um einen – mit Verlaub – Klotz am Bein, den sie sich nicht leisten können.« »Hm«, machte Dhark abweisend. »Um einen Zivilisten. Um einen Klotz am Bein. Hast du noch mehr auf Lager?« Er kannte die Argu‐ mente, teilte sie sogar. Trotzdem fühlte er sich für die Salter ver‐ antwortlich. Es durfte kein zweites Mal passieren, daß sie ihm prak‐ tisch unter den Händen wegstarben, kaum daß er sie gefunden hatte. »Außerdem hast du Leutnant Bucks Worte gehört. Die Garde will dich nicht auf Eins – noch nicht. Erst wenn alles vorbei ist.« »Du schaffst es wirklich, einen aufzubauen.« Ren starrte ins Leere. Genau darum ging es. Wenn doch nur schon alles vorbei wäre, dann könnte er endlich durch den Transmitter gehen. Durch eben jenen Transmitter, durch den die Roboter abgestrahlt würden, sobald der nächste Funkspruch von Christopher Farnham kam. Dhark gönnte den entfernt menschenähnlichen Maschinen, die sich vor dem Ring‐ transmitter versammelt hatten und auf ihren Einsatz warteten, kei‐ nen Blick. Er ertappte sich bei dem Gedanken, ein paar seelenlose Maschinen zu beneiden. Natürlich stand es ihm frei, sich kurzerhand über Bucks Anwei‐ sungen hinwegzusetzen. Rein rechtlich hatte der Leutnant ihm schließlich nichts zu sagen, und militärisch schon gar nicht. Trotz‐ dem hielt ihn seine Vernunft zurück. Ganz davon abgesehen, daß er Rücksicht auf die Disziplin in der Truppe nehmen mußte. In einer strengen Hierarchie wie der des Militärs konnte nicht jeder tun, was ihm grade beliebte. In einem Elitehaufen wie der Schwarzen Garde schon gar nicht. Da konnte kein Zivilist – und etwas anderes war er genau genommen nie gewesen, wie er Dan zugestehen mußte – herkommen und sämtliche Regeln ignorieren. Ren schloß die Augen und seufzte. Trotzdem kribbelte es in jeder
Faser seines Körpers, etwas zu unternehmen. In der Vergangenheit war er ständig mit dem Kopf durch die Wand gegangen. Er konnte nun einmal nicht aus seiner Haut. »Ein Funkspruch kommt herein«, meldete Morris und riß den Kommandanten der POINT OF aus seinem Grübeln. »Die Roboter werden angefordert.« »Dann los mit ihnen!« bestimmte Riker. In sämtlichen Schiffen der Flotte geschah nun das gleiche. Zur Unterstützung der Schwarzen Garde machten sich die Roboter fertig für den Transmitterdurchgang. Bewegung kam in ihre Reihen, als sie sich dem Ringtransmitter zuwandten. Ren sah auf, und sein Blick fiel auf einen der Roboter, der sich nicht ganz so synchron bewegte wie die übrigen. Er trug ein grünes Stirnband mit einem vorn aufgestickten goldenen »A«. Als Dhark ihn inmitten der Roboterschar entdeckte, zog er es sich wie ein er‐ tappter Sünder vom Kopf. »Artus!« entfuhr es Dhark. »Für diesen Einsatz bist du ebenfalls nicht vorgesehen.« Schon stiegen die vorderen Maschinen in den Transmitter und wurden abgestrahlt. Mit einem Satz war Ren auf den Beinen, doch da war Artus bereits verschwunden. »Weg ist er«, kommentierte Riker süffisant. »Hast du ihm die Erlaubnis gegeben, an diesem Einsatz teilzu‐ nehmen, Dan?« »Habe ich nicht.« Der Vizekommandant der POINT OF kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus. »Aber es hätte auch nichts gebracht, es ihm zu verbieten. Er braucht aus Gründen der Disziplin keine solche Rücksicht zu nehmen wie du, und das weiß er ganz genau.« Ren Dhark verschränkte die Arme vor der Brust. Er konnte nur hoffen, daß die Garde die Situation auf Eins rasch unter Kontrolle bekam. Sonst würde er seinem Freund Dan zeigen, daß nicht nur Artus ungenehmigte Extratouren reiten konnte.
* Die von der Rotte angeforderten Roboter kamen und stürzten ihre von Eins stammenden »Kollegen« vorübergehend in heillose Ver‐ wirrung. Der Kampf der Maschinen trat in eine neue Phase, die die Garde geschickt ausnutzte. Alles lief so, wie Farnham geplant hatte. Seine Gardisten schwärmten aus und besetzten das weite Areal gleich unterhalb des Berges vollständig. Nach kurzen heftigen Kämpfen waren auch die letzten einheimischen Roboter in der Nähe des Tors zerstört. Farn‐ ham analysierte ihre Taktik. Im Moment verlegten sie sich zwar darauf, die Soldaten aus der Ferne zu beschießen, doch er erwartete, daß sie schon in Kürze einen neuerlichen Vorstoß unternehmen würden. Die Flash sorgten währenddessen dafür, daß der Luftraum gesichert blieb. Mit MacCormack, seinem Stab und den ebenfalls in Multifunkti‐ onsanzüge gekleideten Cyborgs drang er bis zum Tor vor. Er war fest entschlossen, an dem Vorstoß ins Heiligtum persönlich teilzu‐ nehmen. »Wir sind bereit, das Tor zu öffnen«, empfing ihn Leutnant Buck. Die unterstützenden humanoiden Roboter bezogen Stellung. Ihre Aufgabe war es, die Handlungsroboter der Großrechner aufzuhal‐ ten, sobald die sich dem Eingang wieder näherten. Außerdem muß‐ ten sie die freigekämpften Schneisen halten, die zu den Transmittern führten. Wenn die Befreiung der Salter gelang, lag dort der Flucht‐ weg. »Sir, was will der denn hier?« MacCormack machte Farnham auf einen einzelnen Roboter auf‐ merksam, der sich nicht diesem Ziel widmete. Es war eine der hu‐ manoiden Maschinen mit einem Multikarabiner in der stählernen Hand. Statt sich der Verteidigung anzuschließen, kam er auf die am Eingang konzentrierten Soldaten zugelaufen.
»Wenn ich mich nicht täusche, ist das…« begann Buck. Der Roboter zog sich ein grünes Stirnband auf. Das goldene »A« ließ keinen Zweifel daran, um wen es sich handelte. »Artus! Was willst du denn hier?« »Ich komme, um euch zu unterstützen, Buck.« »Ein Roboter, der macht, was er will?« schnitt Farnhams Stimme durch den Kampflärm. »Du solltest dir eine Stellung suchen und für unsere Sicherung sorgen.« »Ich denke, daß ich im Innern des Heiligtums an der Seite der Gardisten nützlicher sein kann.« »Du denkst?« Der Generalmajor war wenig begeistert von einem Roboter, der aus der Reihe tanzte. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Sir«, wandte sich Jes Yello an den Befehlshaber der Garde. »Bei unserem ersten Eindrin‐ gen in den Berg war Artus eine große Hilfe. Ohne ihn hätten wir unser Ziel nicht erreicht. Ich bin überzeugt, daß er uns mit seinen Fähigkeiten auch diesmal wieder helfen kann.« »Ihm allein war zu verdanken, daß wir die Pläne der Befehlsin‐ stanz mitbekamen«, schlug Henk Brack in die selbe Kerbe. »Ohne ihn hätten die Schrottbots uns erwischt. Vielleicht kann seine stum‐ me Verbindung uns auch diesmal wieder rechtzeitig warnen, wenn etwas im Busch ist.« »Wenn die Streustrahlung im Berg immer noch aktiv ist, gelingt es mir womöglich, die Funksprüche zwischen den Großrechnern und ihren Handlangern auch diesmal wieder abzuhören«, bestätigte Ar‐ tus. »Diese Möglichkeit darfst du dir auf keinen Fall entgehen lassen, Farnham.« Der Befehlshaber der Garde überging die Respektlosigkeit. Natür‐ lich hatte er schon von dem Wunderroboter aus dem Brana‐Tal ge‐ hört, der an Bord der POINT OF seinen Dienst versah. Ihm war be‐ kannt, daß Artus jedermann zu duzen und mit seinem Nachnamen anzusprechen pflegte. Er hatte weder Lust, auf Etikette zu achten, noch blieb die Zeit für eine lange Diskussion.
»Einverstanden«, erklärte er und wandte sich an MacCormack. »Es geht los. Lassen Sie das Tor öffnen.« »Da bin ich doch schon zur Stelle«, drängte sich Artus vor. »Ich schicke den gleichen Impuls wie schon einmal.« Auch diesmal reagierte die Öffnungsautomatik auf den Aktivie‐ rungsimpuls und löste die elektronische Verriegelung. Der einzige Unterschied war, daß Artus heute nicht nur die kleine Tür öffnete, sondern gleich das große Tor. Beim ersten Mal hatte er darauf ver‐ zichtet, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, doch diese Rück‐ sicht war nun nicht mehr nötig. Geräuschlos fuhr das Tor in die Höhe, bis der untere Abschluß eine Höhe von zweieinhalb Metern erreicht hatte, dann stoppte es wieder. Farnham ließ sich nicht an‐ merken, daß er beeindruckt war. Kurt Buck hatte seinen Zug um sich versammelt und setzte sich an die Spitze. Er war jetzt wieder der nüchterne Analytiker und komp‐ romißlose Kämpfer, dem es sogar gelang, für die notwendige Zeit jeglichen Gedanken an seinen gefallenen Kameraden Tadeusz Ribi‐ cki zu verdrängen. Die übrigen Gardisten sicherten weiterhin das rückwärtige Ge‐ lände. Es galt, die Strecke zwischen den Containern und dem Ein‐ gangstor freizuhalten, um den Nachschub zu sichern. Über die Transmitterverbindung kam ein ununterbrochener Strom an Muni‐ tion, auf den die Truppe angewiesen war. Auf keinen Fall durfte es den Handlungsrobotern gelingen, diese Versorgungs‐Lebensader zurückzuerobern. Unterstützt wurden die Soldaten von den eingetroffenen Kampf‐ robotern und den Flash. Obwohl die Beiboote immer noch mit ihren fliegenden Gegnern beschäftigt waren, gelang es ihnen zwischen‐ durch, in die Bodenkämpfe einzugreifen. So wie es die Lage gestat‐ tete, flogen sie von einem Brandherd zum nächsten, wo sich Gar‐ disten in einer besonders brenzligen Lage befanden, und hauten sie heraus. Als Artus das Außenschott wieder verschloß und das innere Ein‐
gangstor öffnete, warfen sich die Verteidiger draußen mit aller Macht nach vorn. In immer neuen Wellen rollten sie gegen die Menschen an, konnten aber auf Distanz gehalten werden. Die Ver‐ luste unter den Gardisten häuften sich, doch sie gaben keinen Meter Boden preis. Jedem Soldaten war klar, daß die beiden Züge im Berg nicht abgeschnitten werden durften. Mehrere Humanoidroboter waren dazu abgestellt, Tote und Ver‐ wundete zu bergen und zu retten. Bei Beschädigungen der Multifunktionsanzüge war höchste Eile geboten, wenn die Menschen in der Stickstoffatmosphäre nicht ers‐ ticken sollten. Löcher in der Leichtstoffpanzerung ließen sich nicht schnell genug abdichten, daher griffen die Maschinen auf die be‐ währte Taktik zurück, die Raumhelme luftdicht gegen den Rest des Anzugs abzudichten. Mehreren Soldaten retteten sie auf diese Weise das Leben, bevor die Roboter sie in aller Eile in die Transmitter ver‐ frachteten, um sie von dort zur EMMA WALLIS abzustrahlen, wo ein Haufen Mediziner in permanentem Einsatz war. Farnham gab das vereinbarte Zeichen. Entschlossen sprang Kurt Buck in die Halle. Ein unheimliches schwarzes Gerät stand in ihrer Mitte. * Mehrere Handlungsroboter arbeiteten an der Maschine, deren Funktion sich nicht auf den ersten Blick erkennen ließ. Sie ließen von ihrer Tätigkeit ab, kaum daß das Tor in die Höhe gefahren war und die Menschen eindrangen. Wie gewohnt unterschieden sie sich ausnahmslos voneinander. Wie Individualisten, ging es Buck beiläufig durch den Kopf. »Ausschwärmen!« Farnham übernahm das Kommando. Buck sprang feuernd nach links hinüber. Von seinem letzten Be‐ such hier war ihm die Halle noch deutlich vor Augen. Sämtliche Spuren des letzten Kampfes waren beseitigt. Auch die Trümmer des
zerstörten Gleiters waren abtransportiert worden. Die oberen Gale‐ rien waren verlassen. Von dort drohte keine Gefahr. Der Leutnant nahm die Eindrücke nebenbei in sich auf, während er einen Roboter frontal traf und ihn vernichtete. In Sekundenschnelle entwickelte sich ringsum ein wütendes Feuergefecht. Niemand hatte jetzt noch die Möglichkeit, auch nur einen Blick nach hinten zu werfen. Es war auch nicht nötig. Die Gardisten konnten sich voll und ganz auf ihre Kameraden verlassen, die außerhalb des Berges in Position waren und ihnen den Rücken freihielten. »Das Gerät nach Möglichkeit nicht beschädigen«, gab Farnham durch. Buck hatte den gleichen Gedanken. Unwillkürlich hatte er einen Verdacht, womit sie es bei der schwarzen Maschine zu tun hatten. Wenn sie unbeschädigt blieb, bot sich die Möglichkeit, sie genauer zu untersuchen. Wenn die verdammten Schrottbots uns die Zeit dazu lassen. Der Gedanke allein war aberwitzig in einem Kampf, in dem jede Sekunde zählte. Schon wieder mußte Buck sich seiner Haut erweh‐ ren. Ein Teil der Roboter verharrte vor dem Gerät, um es mit ihren Körpern zu schützen, der Rest warf sich den Eindringlingen gera‐ dezu panisch entgegen. Es war nicht zu übersehen, wieviel ihnen an dem Gerät lag. Mehrere von ihnen explodierten annähernd gleich‐ zeitig. Trümmerstücke rasten wie Geschosse durch die Gegend. Buck warf sich nach vorn, um nicht davon getroffen zu werden. Irgendwer stieß einen erstickten Schrei aus. Er konnte sich nicht darum kümmern, rollte sich ab und feuerte aufs Geratewohl. Eine Feuersäule spiegelte sich in seinem Helm, raubte ihm in Verbindung mit sich ausbreitendem Rauch für einen Moment die Sicht. Da hier drinnen im Berg eine Sauerstoffatmosphäre vorhanden war, fanden Brände reichlich Nahrung. Kurt Buck kam in eine kniende Lage, ohne getroffen zu werden. Binnen weniger Minuten vernichteten die Gardisten die Hälfte der
feindlichen Roboter. Doch damit war gar nichts gewonnen, denn plötzlich wurden Bewegungen auf den Galerien sichtbar. Aus den Durchgängen, die ins Innere des Heiligtums führten, quollen weitere Gegner. Wieder meldete sich Farnham. »Zurückdrängen, bevor es ihnen gelingt, ins Freie zu gelangen!« Nun erwies sich als Glücksfall, daß die Durchgänge nicht beson‐ ders breit waren. Die Handlungsroboter kamen nacheinander hin‐ durch. Sie liefen, rollten, staksten direkt ins Kreuzfeuer der Gardis‐ ten. Sie vergingen in kleinen Explosionen, wurden von Nadelstrah‐ len teilweise aufgelöst oder überschlugen sich zerstört. Die Trümmer behinderten die nachrückenden und hielten sie auf. Trotzdem gelang es einigen von ihnen, auf die Galerien zu gelangen und sich zu bei‐ den Seiten zu verteilen. Einmal hinter der Brüstung, hatten sie eine leidlich gute Deckung. »Raketenwerfer!« Und wenn sie die ganze Halle in Schutt und Asche legten. Sekunden später wurde die Brüstung an mehreren Stellen ausei‐ nandergerissen. In den expandierenden Wolken aus Gestein, Metall, Kunststoff und Rauch ließen sich keine Details erkennen. Buck schaltete zurück auf Nadelstrahl und jagte mehrere rosarote Strahlen in das unübersichtliche Chaos. Sekundenlang brach die Gegenwehr zusammen, dann war auch die Sicht auf die Durchgänge vernebelt. Ein Stück weiter entdeckte Buck drei Kameraden, die die Gunst der Stunde nutzten und in geduckter Haltung zur hinteren Wand der Halle liefen. Jaschin war unter ihnen, ebenso Artus. Der Leutnant sprang auf und schloß sich ihnen an. Von den Robotern am Boden war nur noch eine Handvoll übrig, die sich nun einer menschlichen Übermacht ausgesetzt sahen. Da sie keine Anstalten machten, sich in Sicherheit zu bringen, sondern stur vor ihrer Maschine blieben, wurden sie nacheinander abgeschossen. Als der letzte zerstört war, begannen die Gardisten mit einem Scheibenschießen auf die Galerie. Zwischen den Trümmern drangen
immer noch Roboter aus den Gängen und suchten nach günstigen Schußpositionen. Zwar hatten sie dort oben einen strategischen Vorteil, waren aber teilweise viel schwerfälliger als die Gardisten. Buck gewann außerdem den Eindruck, daß es ihnen an Koordination mangelte. Aufgrund ihrer Schnelligkeit und ihres perfektionierten Reakti‐ onsvermögens erwiesen sich die Cyborgs als der zusätzlich erwar‐ tete Trumpf. Schnell wie Schatten huschten sie hin und her. Sobald es den Robotern vermeintlich gelang, einen von ihnen ins Visier zu nehmen, hatte der bereits wieder die Stellung gewechselt. Jes Yello brachte sogar das Kunststück fertig, unbeschadet an einen Gegner heranzukommen und ihm mit bloßen Händen den Garaus zu ma‐ chen. Er knickte den grazilen Metallkörper kurzerhand in zwei Teile, die mit einem letzten Aufflackern der Optiken ihre Existenz been‐ deten. Jaschin erreichte den Absatz des Aufgangs zur ersten Galerie. Er drückte sich gegen die Wand und jagte mehrere Salven hinauf. »Frei!« rief er. Buck verstand, was er vorhatte. Die Galerien der Reihe nach ero‐ bern, während die Handlungsroboter von den Kameraden in der Halle abgelenkt wurden. Artus sprang die Stufen empor. Buck bewunderte seine Leichtfü‐ ßigkeit und Eleganz, verfluchte aber sein bedingungsloses Vorpre‐ schen, mit dem er sich in höchste Gefahr brachte. Gegen Strahl‐ schüsse war auch er nicht gefeit. »Hinterher!« trieb der Leutnant seine Kollegen an. Mit weiten Sät‐ zen folgte er Artus. Und traute seinen Augen nicht, als der den nächsten Absatz er‐ reichte. In aller Seelenruhe drehte Artus seinen stählernen Kopf, während er seinen Multikarabiner schußbereit vor der schmalen Brust hielt. Vor ihm lauerten keine Gegner mehr, nur noch zerstörte Trümmer und ein paar zusammengeschmolzene Fragmente ehema‐ liger Gegner, die nicht mehr funktionierten, waren zu sehen.
»Untere Galerie befreit und gesichert«, gab Buck durch. »Nachrü‐ cken!« Über ihm kam es zu einer heftigen Explosion. Ein Teil der mittleren Galerie wurde weggesprengt. Stücke der Brüstung stürzten in die Tiefe und rissen mehrere Roboter mit sich. Ein Loch mit gezackten schwarzen Rändern zeichnete sich zehn Meter vor ihm ab. Kurt wollte einen heftigen Fluch ausstoßen, dann ertönte eine erheitert klingende Stimme in seinem Helm. »Mittlere Galerie ebenfalls geräumt.« Sie gehörte Antoku Seiwa. »Mescaleros vor!« schob Nick Gantzier hinterher. »Für Tadeusz!« Buck nickte. Gemeinsam mit Jaschin und Artus machte er sich an den Aufstieg zur oberen Galerie. Wenige Minuten später existierte auch dort kein Gegner mehr. Da auch am Boden sämtliche Roboter zerstört waren und aus den Durchgängen keine weiteren kamen, war die Halle gesichert. Trotz der heftigen Kämpfe hatte es nur geringfügige Verluste unter den Gardisten gegeben. Nun bekommt Ren Dhark endlich seinen Willen, dachte Buck erleich‐ tert. Christopher Farnham strahlte das vereinbarte To‐Richtfunksignal ab.
21. Längst hielt es Ren Dhark nicht mehr im Kommandantensessel. Ruhelos wanderte er durch die Zentrale der POINT OF und kontrol‐ lierte im Vorbeigehen die verschiedenen Stationen. Dan Riker senkte den Blick zu Boden. »Es ist wirklich erstaunlich.« »Was ist erstaunlich?« »Daß du noch keine Laufrinne hinter dir läßt.« Trotz der Lage erntete Rens bester Freund verhaltenes Gelächter. Sämtliche Offiziere und Funktionsträger in der Kommandozentrale des Ringraumers waren bis zum Äußersten angespannt. Besonders Glenn Morris wäre am liebsten ins Innere der Funk‐Z gekrochen, wenn er ihr dadurch eine Reaktion hätte entreißen können. Doch der Funkspruch, auf den die Verantwortlichen händeringend warteten, kam nicht. Längst stand ein Flash für Dhark bereit. »Ich habe kein gutes Gefühl«, erklärte er, mehr zu sich selbst. »Die Garde sollte bereits ins Ziel vorgedrungen sein. Je länger die Kämpfe andauern, desto größer wird die Gefahr, daß die Gardisten erfolglos umkehren müssen.« Stumm beobachtete Amy Stewart ihren Gefährten. Wie er trug sie einen foliendünnen Raumanzug in Worgun‐Bauweise und war ein‐ satzbereit. Wozu sollten sie sich mit den vergleichsweise unbeque‐ men Multifunktionsanzügen der Garde belasten, wenn sie doch erst nach Beendigung der Kampfhandlungen ins Geschehen eingriffen? »Alles läuft nach Plan«, erklärte Riker. »Gäbe es unerwartete Schwierigkeiten, hätte Farnham uns längst informiert.« Ren verzog das Gesicht. Das gesamte Unternehmen war eine ein‐ zige unerwartete Schwierigkeit. Man konnte den Ablauf bis ins kleinste Detail minutiös planen, und trotzdem blieb jeder Schritt unabwägbar. Das wußte Dan so gut wie er selbst, doch sein Freund dachte nicht daran, das zuzugeben, um Dharks Unruhe nicht noch
weiter zu schüren. »Vermutlich hast du recht«, murrte Ren wieder besseres Wissen. Er malte sich aus, wie Farnhams Garde genau in diesem Augenblick in erbitterte Gefechte mit den Robotern verstrickt war. Den Gedanken an die eigenen Verluste unter der schlagkräftigsten Truppe der Menschheit verdrängte er. Auch wenn er die Tatsache verfluchte, waren menschliche Verluste Bestandteil jedes Krieges, die in einem Kampf gegen seelenlose Maschinen um so tragischer waren. Er stieß verbittert die Luft aus. Was für ein unsinniger Gedanke! Jedes verlorene Menschenleben war mehr als tragisch, gleichgültig ob in einem Krieg gegen Maschinen oder gegen andere Menschen. »Commander!« Wie von der Tarantel gestochen richtete sich Mor‐ ris vor der Funk‐Z auf. »Glenn?« »To‐Spruch von Generalmajor Farnham. Es ist soweit.« Sofort war Amy Stewart an Rens Seite. Schlagartig fiel sämtliche Anspannung von ihm ab. Endlich konnte er selbst etwas tun. * Fünf Minuten später jagte Flash 003 der POINT OF im Schutz sei‐ nes Intervallfeldes aus einem Transmitterwürfel ins Freie. Dort hiel‐ ten die Kämpfe unvermindert an. Dhark verschaffte sich einen ra‐ schen Überblick. Das Bild, das sich ihm bot, hatte er erwartet. Gar‐ disten und terranische Kampfroboter hatten einen Korridor geräumt, der bis zum Eingang in den Berg reichte. Er wurde von starken Ein‐ heiten gesichert, um die nach wie vor angreifenden Handlungsro‐ boter fernzuhalten. Schließlich mußten die Gardisten mit den be‐ freiten Saltern auf dem Rückweg hier durch. Ren beschleunigte und trieb das Beiboot voran. Daß er sich trotz der starken Präsenz der Garde und der Roboter nicht in Sicherheit wiegen durfte, erkannte er, als ein Robotergleiter auf den Flash he‐ rabstieß.
»Die schießen uns mit ihrer verdammten Kompri‐Nadel ab«, war‐ nte Amy. »Ich schlage vor, du tauchst ab und wir fliegen das Stück bis zum Berg unterirdisch.« Dhark winkte ab. »Nicht für die paar Meter. Außerdem werden wir gerade von einem der Zugführer angefunkt. Die Roboter schie‐ ßen nicht mit Kompri‐Nadel auf uns, solange wir uns dicht über dem Boden halten.« Ein paar Schüsse der Maschinen am Boden bohrten sich in das Intervall, ohne ihm gefährlich zu werden. Die vereinzelten Kampf‐ gleiter in der Luft hielten sich mit ihrer stärksten Waffe zurück. So‐ bald einer von ihnen zu nahe kam, waren zudem sofort zwei oder drei andere Flash in der Nähe, um Dhark den Weg freizumachen. Unbeschädigt flog das Beiboot durch das verschlossene Schott und setzte in der Halle auf. Die beiden Insassen wurden von Christopher Farnham empfangen. »Gute Arbeit«, lobte Ren. »Wie ich sehe, ist die Lage unter Kont‐ rolle. Meinen Glückwunsch an die Garde.« »Draußen sieht es nicht ganz so gut aus, wie Sie bemerkt haben. Wir halten das eroberte Gelände. Doch die Roboter geben nicht auf. Wir können nur Zeit gewinnen, aber früher oder später müssen wir uns zurückziehen.« »Dann sollten wir uns ranhalten, Chris.« Ren ging zu der schwar‐ zen Maschine, um die sich mehrere Gardisten versammelt hatten. Auch Artus und die Cyborgs hielten sich dort auf. Sie waren in eine intensive Diskussion verstrickt. »Was haben wir denn da?« Die Maschine weckte eine bestimme Assoziation in ihm. »Unsere Spezialisten halten das Ding für einen Transmitter in Grako‐Bauweise«, empfing ihn Buck. »Wir haben versucht, ihn in einem Stück zu erobern, aber bei dem heißen Tanz hier war das lei‐ der nicht möglich.« Dhark verstand, was der junge Deutsche meinte. Überall in der Halle zeugten Zerstörungen von den vorangegangenen Kämpfen.
Offenbar hatte es eine Reihe von Explosionen gegeben, bei denen auch die schwarze Konstruktion einiges abbekommen hatte. Sie war schwer beschädigt. »Ich stimme Ihnen zu, Leutnant.« Die Bauweise ließ wenig Raum für Spekulationen über die Herkunft des Geräts. Es war eindeutig ein Produkt der Grakos. »Eine Erklärung?« »Wir vermuten, daß die Roboter den Transmitter bauen wollten, um ihr Heiligtum besser schützen zu können. Einmal stationiert, wäre es ihnen möglich, in Sekundenschnelle hierher zu gelangen. Sie wären dann nicht mehr auf Gleiter oder ihre Transportbänder an‐ gewiesen. Wahrscheinlich verfügt das Volk über keine eigene Trans‐ mittertechnologie.« Dhark nickte nachdenklich. Bucks Worte boten eine plausible Er‐ klärung. Einen Zweifel wurde er dabei nicht los. »Wie kommen Grakos nach Eins? Was haben sie mit den Robotern zu schaffen?« »Ich wünschte, ich hätte eine Antwort auf diese Frage.« »Ich habe leider auch keine«, mischte sich Artus ein. »Dafür aber um so größere Zweifel. Auch wenn das Mithören von To‐Richtfunk im Berg gewisse Hinweise auf ein Halbraumfeld der Grakos gibt, habe ich keine entdeckt, sondern lediglich die seltsamen Roboter der Kontrollinstanz.« »Darüber haben wir ausführlich debattiert«, meldete sich Rog Al‐ san zu Wort. »Wir Cyborgs haben die Grakos deutlich gesehen.« »Was nichts an meinen Zweifeln ändert.« »Empfängst du denn jetzt auch noch etwas von der To‐Kommunikation der Roboter?« stellte Alsan die naheliegendste Frage. Artus schüttelte den Kopf. »Es existiert keine Streustrahlung mehr.« »Dann sind auch keine Grakos in der Nähe«, folgerte Hank Brack. »Eine Bedrohung weniger.« »Artus?« fragte Dhark. »Ich habe keine Anhaltspunkte für eine logische Argumentation,
was dieses Thema angeht. Was noch lange nicht heißt, daß ich mit den Cyborgs übereinstimme.« »Das bringt uns nicht weiter. Und Gewißheit erlangen wir nur, wenn wir uns endlich auf den Weg machen«, beendete Farnham die fruchtlose Diskussion. Er beorderte eine ausreichende Anzahl Kampfroboter herbei, die die Galerien sichern sollten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Lage draußen unverändert war, gab er den Befehl zum Aufbruch. Artus und die Cyborgs übernahmen die Führung. * »Keine Umwege diesmal, wenn es sich vermeiden läßt«, forderte Artus. Die Kletterei durch zahlreiche Nebengänge und Belüftungs‐ schächte auf der Flucht vor den Handlungsrobotern mußte sich nicht wiederholen. Mit der ganzen Truppe im Gepäck würde das einen viel zu großen Zeitverlust bedeuten. »Leider kommt das nicht nur auf uns an«, hielt ihm Tony George entgegen. »Ich fürchte, wir werden schneller auf Schrottbots treffen, als uns lieb ist. Wenn sie sich sammeln und uns den Weg versperren, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ihnen auszuweichen.« »Dafür sind wir diesmal schlagkräftiger.« Gemeinsam mit Chris‐ topher Farnham und Kenneth MacCormack folgte Ren Dhark gleich hinter Artus und den Cyborgs. Da die Gänge, durch die sie sich be‐ wegten, nicht allzu geräumig waren, zogen sich die beiden Züge Gardisten ganz schön in die Länge. »Du willst dich hier drin auf einen Kampf einlassen?« Artus war von der Idee alles andere als begeistert. »Wenn es sein muß. Wir wissen nicht, wie lange der Rest der Garde uns den Rücken freihalten kann.« Dieses unwägbare Risiko gefiel Ren gar nicht. Wenn den Handlungsrobotern, die draußen gegen die Menschen standen, der Durchbruch gelang, würde eine unüberschaubare Flut
von ihnen hinter den Eindringlingen herjagen. In den engen Korri‐ doren, da hatte Artus ganz recht, wurde jedes Feuergefecht zweier kampfstarker Gruppen zum reinsten Gemetzel. »Kannst du Funksignale auffangen?« erkundigte er sich. »Leider nicht«, mußte Artus ihn enttäuschen. »Ich komme mir vor wie taub.« »Also schweigt die von dir sogenannte Befehlsinstanz?« fragte Mick Grinnus, der wie die anderen Cyborgs ebenfalls beim ersten Vorstoß ins Heiligtum der Roboter dabeigewesen war. »Das wäre unlogisch. Ich bin sicher, sie steht wieder in regem Kontakt mit den Großrechnern. Daß ich sie nicht empfange, führe ich auf ein fehlendes Zerstreuungsfeld zurück. Vielleicht lotst die In‐ stanz jetzt gerade eine Hundertschaft ihrer Handlungsroboter auf unsere Spur.« Doch noch ließen sich keine Roboter sehen. So kamen die Männer zügig voran. Auch wenn sie nicht denselben Weg wie beim ersten Mal nahmen, bestand nicht die Gefahr, sich zu verirren. Die Cyborgs hatten einen detaillierten Plan in ihren Programmgehirnen gespei‐ chert. Artus hätte sich selbst blind zurechtgefunden. Kein Geräusch der im Freien stattfindenden schweren Kämpfe drang ins Innere des Berges. Es herrschte eine beinahe trügerische Friedfertigkeit. Keiner der Eindringlinge rechnete damit, daß das auf Dauer so blieb und sie ihr Ziel ungeschoren erreichten. »Ich verstehe das nicht«, überlegte MacCormack, als die Spitze der Truppe an einen kleinen Platz gelangte, der als Verteiler für mehrere abzweigende Gänge diente. Ausnahmslos lagen sie im Dunkel, doch die Scheinwerfer der Soldaten enthüllten, daß sie verlassen waren. »Die Handlungsroboter scheinen sich gar nicht um unser Eindringen zu kümmern.« »Uns haben gleich Hunderte einzukesseln versucht«, beschwerte sich Yello. »Ich schätze, daß nicht mehr so viele im Berg unterwegs sind. Die meisten von ihnen haben sich wohl schon vor unserem Eindringen zur Verteidigung des Außentores nach draußen begeben.
Und einen Teil der Verbliebenen haben wir im Eingangsbereich er‐ wischt.« Ren nickte. Die Vermutung hatte etwas für sich. Trotzdem fühlte er sich in diesem Labyrinth nicht sonderlich wohl. Das Gefühl ver‐ stärkte sich mit jedem zurückgelegten Meter, auf dem sich kein Zwischenfall ereignete. Vielleicht sah er zu schwarz, aber ihm lief die ganze Aktion zu glatt. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er sich umdrehte, um nach eventuellen Verfolgern Ausschau zu halten. Doch woher sollten sie kommen? Außerdem hatte er zwei komplette Züge Gardisten im Rücken. »Erwartest du jemanden?« raunte ihm Amy Stewart zu. »Wenn hier irgendwo noch Roboter durch die Gänge kriechen, werden sie uns nicht von hinten angreifen und uns ihrem Heiligtum damit erst recht zutreiben.« »Du meinst, sie erwarten uns vorn, um uns den Weg zu verstel‐ len?« »Ich an deren Stelle würde so vorgehen.« »Womit du zweifellos richtig liegst.« »Das sehe ich genauso«, verkündete Artus. »Und wir werden es gleich erfahren. Von dort sind wir gekommen, nachdem wir aus dem Heiligtum entkamen.« In Marschrichtung war im Licht der Scheinwerfer ein stählernes Schott zu erkennen. »Es liegt dahinter?« »Noch nicht ganz.« Brack nahm seinen Multikarabiner von der Schulter. »Es gibt eine kleinere Vorhalle, die wir durchqueren müs‐ sen. Leider haben wir diesmal keinen Sprengsatz, mit dessen an‐ gedrohter Zündung wir die Roboter bluffen können.« »Dafür die Garde.« MacCormack gab den nachrückenden Soldaten einen Wink, sich bereitzumachen, doch die Cyborgs gaben den Platz nicht frei. »Bei allem Respekt, Sir, aber unsere Reaktionsschnelligkeit über‐ trifft die Ihrer Männer um Längen.« Der Oberst wollte einen Einwand erheben, doch die Cyborgs igno‐
rierten ihn. Schon hatten sie in ihr Zweites System umgeschaltet und vor dem Schott Aufstellung bezogen. Brack nickte Artus zu, der einen kurzen Funkimpuls an die elektronische Verriegelung sandte. Sirrend zischte das Schott in die Höhe… … und mehrere Energiestrahlen aus dem angrenzenden Raum. Brack schleuderte einen Miniatursprengsatz, dessen Sprengkraft schwach genug bemessen war, keine Gefahr für das nächste Schott zur Halle mit den Saltern darzustellen. Sie reichte hingegen aus, um die versammelten Handlungsroboter durch die Gegend zu wirbeln und für sekundenlange Verwirrung zu sorgen. Dhark sah sechs Schemen, die sich nach vorn warfen und durch die Öffnung huschten. Bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, eröffneten die Cyborgs bereits das Feuer. Mit unfehlbarer Treffsi‐ cherheit zerstörten sie mit dem ersten Schlag mehrere der orientie‐ rungslos umherwuselnden Roboter und hatten einen Wimpern‐ schlag später die Stellung gewechselt. »Hinterher, Männer!« gellte MacCormacks Stimme, der nicht recht glauben konnte, was sich vor seinen Augen abspielte. Dhark hinge‐ gen hatte Cyborgs schon viel zu häufig in Aktion erlebt, um sich zu wundern. Als er sich in Bewegung setzen und ebenfalls in die Halle vor‐ dringen wollte, hielt ihn Amy am Arm zurück. Es war nicht nötig, denn schon kam MacCormack kopfschüttelnd zurück. »Die Lage ist bereinigt«, erklärte er ungläubig. »Und ich muß ge‐ stehen, daß das nicht der Verdienst der Garde ist.« Ren verkniff sich ein Grinsen. Das Ziel lag direkt vor ihm. Als Artus das nächste Schott öffnete, stellte sich den Männern kein Gegner mehr in den Weg. * Obwohl sie auf das Bild vorbereitet waren, das sich ihnen bot, herrschte Sprachlosigkeit. Beinahe andächtig taten die Gardisten die
nächsten Schritte. Keiner von ihnen sprach ein Wort, und ringsum herrschte gespenstische Stille. Nicht einmal Geräusche von Maschi‐ nen oder einer Umwälzanlage zur Belüftung waren zu hören. Die Blicke sämtlicher Männer waren auf die Sarkophage gerichtet, die in langen Reihen aufgebaut waren. Sie ruhten auf regalähnlichen Bau‐ teilen, mit denen sie fest verbunden waren. Jeder der Quader maß zweieinhalb Meter in der Länge und jeweils einen Meter in der Breite und der Höhe. Wie die Cyborgs berichtet hatten, waren sie unterei‐ nander verbunden. Regungslos schwammen humanoide Wesen in der Flüssigkeit, mit der die Quader gefüllt waren. Seit der Auswer‐ tung der erbeuteten Gewebeproben ging man davon aus, daß es sich bei den Gefangenen um Salter handelte. Lediglich Artus, die Cyborgs, Dhark und MacCormack, die die riesige Halle bereits zuvor mit eigenen Augen gesehen hatten, be‐ gaben sich schnurstracks zum nächsten durchsichtigen Behälter. Eine alte Frau mit geschlossenen Augen lag darin. »Der siebte Zug sichert den Zugang und die rückseitige Wand der Halle«, kommandierte Farnham und riß die Gardisten aus ihrer Un‐ tätigkeit. »Leutnant Buck, Ihre Männer befassen sich mit den Sar‐ kophagen.« »Ja, Sir.« »Nach Überwachungseinrichtungen suchen. Ich möchte bei der Arbeit unbeobachtet bleiben.« »Es gibt keine«, warf Artus ein. »Das haben wir bereits bei unserem früheren Besuch festgestellt.« »Eigenartig.« In Anbetracht der Wichtigkeit, die ihr Heiligtum für die Roboter zu haben schien, konnte Farnham sich diese Nachläs‐ sigkeit nicht erklären. »Ich nehme an, die Roboter würden das als Respektlosigkeit den Schlafenden gegenüber auffassen.« »Um so besser für uns.« MacCormack zuckte mit den Achseln. Der Grund war ihm gleichgültig. »Also los, Männer. Bewegt euch!« »Die Halle enthält für uns atembare Luft.«
»Die Helme bleiben trotzdem geschlossen. Ich will keine Überra‐ schungen.« Mit einer knappen Handbewegung sammelte Buck die Mitglieder seines Zuges um sich und erteilte ihnen präzise Informationen. Statt Rückfragen gab es ausnahmslos Klarmeldungen. Dhark war erstaunt über das zielgerichtete Vorgehen der Soldaten, die sich mit wenigen Bemerkungen verständigten. In kleinen Grup‐ pen verteilten sie sich und begaben sich an die Untersuchung. Er rief sich ins Bewußtsein, daß es sich bei der Garde nicht nur um eine kämpfende Truppe handelte. Er hatte es nicht mit befehlsempfan‐ genden Haudraufs zu tun. Vielmehr waren diese Elitekrieger hoch‐ gebildete Wissenschaftler in Uniform, die als Lehrkräfte an der Akademie oder jeder Universität der Erde mit ihrem Wissen und ihren Kenntnissen die meisten altgedienten Professoren locker aus‐ gestochen hätten. Er begleitete Buck zu einem der Quader. »Eine Vorstellung, was die Bedienungselemente zu bedeuten haben?« »Was Sie zu bedeuten haben schon.« Hinter Bucks Helmscheibe war ein schwaches Lächeln zu erkennen. »Zweifellos dienen sie zur Steuerung der Quader.« Eine logische Schlußfolgerung, mußte Ren zugeben. Natürlich ging er selbst auch davon aus. »Und Sie haben auch schon eine Idee, wie sie zu handhaben sind.« »Nur die Ruhe, Mister Dhark.« Ren fühlte sich durch die Anrede beinahe ein wenig brüskiert. Sie machte ihm seine Stellung als Zivilist, der zwar die POINT OF be‐ fehligte, sonst aber nichts mehr zu sagen hatte, einmal mehr deutlich. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte er über seine eigene neue Dünnhäutigkeit beinahe lachen können. Buck untersuchte die Schalttafel, die in Hüfthöhe in der Mitte des Sockels angebracht war. Weder enthielt sie Schriftzeichen noch Pik‐ togramme, die ihr Verständnis erleichtert hätten. Doch davon ließ sich der junge Leutnant nicht beirren.
»Bei einer solchen Instrumententafel folgen die Bedienungsele‐ mente bei jeder intelligenten Spezies einem bestimmten System. Man muß es nur erkennen, um den richtigen Schlüssel zur Handhabung zu finden.« »Kurt, komm doch mal rüber!« Dhark entdeckte einen Gardisten, der ein Stück weiter in einem der Gänge beschäftigt war und aufgeregt winkte. Sein Namensschild wies ihn als Rauno Aaltonen aus. Ren erinnerte sich dunkel, daß es sich bei dem Finnen um einen Kryptologen und Elektronikexperten handelte. Er stand im Dienstgrad deutlich unter dem Leutnant, doch das störte die beiden Männer offenbar nicht. Kein Wunder, schließ‐ lich hatten sie ihre Ausbildung wie so viele andere aus dem Mesca‐ lero‐Zug gemeinsam absolviert. Also gab es dieses trotz unter‐ schiedlicher Dienstränge lockere Verhältnis nicht bloß an Bord der POINT OF. »Was gibt es, Rauno?« »Sieh dir diese Zeichen an.« Tatsächlich enthielt die Schalttafel des Quaders, an dem Aaltonen hantierte, eine Reihe von Symbolen, die unterhalb der verschiedenen Bedienungselemente prangten. »Wofür hältst du das?« Zwei weitere Gardisten gesellten sich zu der Gruppe. Aufgrund ihrer Namenskennung waren sie als Jake Calhoun und Sam Uitveeren zu identifizieren. »Klare Frage – klare Antwort. Eindeutig für Schriftzeichen. Ich kann sie zwar nicht entziffern, aber gebt mir ein paar Minuten, dann komme ich schon klar. Sie geben mir einen gewissen Anhalt, was zu tun ist.« »Wieso ist dieser Quader beschriftet?« wunderte sich Dhark, »die anderen aber nicht?« »Es ist nicht der einzige«, antwortete der Holländer. »Deswegen kommen wir her. Jake und ich sind den Gang bis zum Ende gelaufen. Uns ist sofort aufgefallen, daß wir von einer falschen Voraussetzung ausgegangen sind. Nicht sämtliche Quader sind miteinander ver‐
bunden. Vielmehr sind sie in Blöcken zu jeweils 44 Tanks zusam‐ mengefaßt.« Buck nickte. »Kapiert. Jeweils 44 Sarkophage werden von einer Schalttafel geregelt.« »Soweit wir das beurteilen können ja. Wir sollten das trotzdem noch kontrollieren.« MacCormack gab die entsprechenden Anweisungen an die ande‐ ren Gruppen. Immer mehr erkannte Ren, wie sehr die Gardisten aufeinander eingespielt waren. Durch verschiedene Unterhaltungen, die er bruchstückhaft mitbekam, wunderte er sich zudem noch über etwas ganz anderes. Für ihr relativ junges Alter verfügten die Gardisten über ein enorm großes Wissen in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Dis‐ ziplinen, und sie waren ausnahmslos mit einer ungewöhnlich hohen Intelligenz gesegnet. Es war wirklich eine außerordentlich bemerkenswerte Truppe, die Farnham und MacCormack seit Beginn der Grako‐Krise auf die Be‐ ine gestellt hatten. Er sah auf, als sich Artus zu ihm gesellte. »Ich habe mich umgese‐ hen. Mit meinen früheren Schätzungen habe ich stark untertrieben. In dieser Halle ruhen mindestens zehntausend Salter.« »So viele? Bist du sicher?« »Was die Anzahl angeht, bin ich völlig sicher, aber…« »Aber du zweifelst daran, daß das wirklich alles Salter sind«, fiel ihm Buck ins Wort. »Ehrlich gesagt, nach allem, was ich in den his‐ torischen Unterlagen gefunden habe, zweifele ich ebenfalls daran.« Ren kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Diese Worte gefielen ihm ganz und gar nicht. Bei den Schlafenden mußte es sich einfach um Salter handeln. Wenn schon nicht bei allen, dann zumindest bei einigen. Nein, entschied er. All diese Wesen gehörten derselben Spezies an. Entweder waren sie alle Salter oder kein ein‐ ziger. Die Vorstellung, daß die zweite Möglichkeit zutreffen könnte,
schnürte ihm die Kehle zu. Er sah nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. »Wir müssen sie aufwecken.« * Doch noch war es nicht so weit, daß sich dieser Plan in die Tat umsetzen ließ. Zum Glück brauchte Aaltonen nicht lange, bis er den Symbolen aufgrund ihrer Darstellungsweise tatsächlich einen ge‐ wissen Sinn zuordnen konnte. Ihre Einspeicherung in einen mobilen Hyperkalkulator und dessen Analyse halfen ihm maßgeblich zu erkennen, daß es keine Schriftzeichen, sondern abstrakte Bildsym‐ bole waren. Mit ihrer Hilfe gelang es den Gardisten, sich einen un‐ gefähren Überblick über die Steuerung der Sarkophage zu verschaf‐ fen. Weitere Gardisten waren zu der Gruppe gestoßen, ebenso die Cy‐ borgs. Sie lieferten sich einen regen Informationsaustausch, bei dem sich schnell zeigte, daß sie weitgehend zu den gleichen Ergebnissen gekommen waren. Außerdem bestätigte sich, daß wirklich immer 44 Tanks zu einem Block gekoppelt waren. »Eine Garantie gibt es natürlich nicht«, erklärte Feldwebel Kaunas, als er Farnham über den aktuellen Stand der Untersuchungen in‐ formierte. Zum wiederholten Mal hatte der Generalmajor Verbin‐ dung mit der Truppe draußen aufgenommen. Im Berg und in der Halle war weiterhin alles ruhig, doch draußen wurden die Angriffe der Handlungsroboter immer heftiger. Es machte den Anschein, als ob sie von irgendwem aufgeputscht würden. »Bisher können sie aber zurückgeschlagen werden. Die Lage ist unter Kontrolle«, erklärte er, um kurz nachzudenken. Schließlich nickte er. »Ich sehe keine andere Möglichkeit, als es zu versuchen. Dhark, das ist Ihre Mission. Einwände, die Salter aufzuwecken?« Ren schüttelte den Kopf. Sie konnten nichts anderes tun, wenn sie endlich ein paar Antworten erhalten wollten. Und Farnhams Worten
zufolge war es womöglich nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ro‐ boter den Abwehrriegel knackten und ins Innere des Berges ein‐ drangen. »Also los, meine Herren.« Aaltonen beugte sich zu der Schalttafel hinunter. Ohne die Bedie‐ nungselemente zu berühren, ließ er eine Hand über die Verkleidung wandern. Seine Fingerspitzen wischten über zwei der Symbole, ohne daß etwas geschah. »Ich spüre einen leichten Andruck«, erklärte er. »Die Tasten rea‐ gieren tatsächlich.« »Und warum geschieht nichts?« »Weil ich sie in einer bestimmten Reihenfolge ansteuern muß. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit nicht durch eine zufällige Berüh‐ rung eine Reaktion ausgelöst wird.« »Spannen Sie uns nicht auf die Folter«, drängte Kaunas barsch. Abermals betätigte der Finne verschiedene Bedienungselemente, diesmal in einer anderen Reihenfolge, die für einen Zuschauer nicht den geringsten Sinn ergab. Sekundenlang geschah gar nichts, dann setzte ein kaum vernehmbares Summen ein. Mit einem Reflex zog Aaltonen seine Hand zurück, als ein sanftes Vibrieren durch den gesamten Aufbau lief. »Verflixt«, murmelte er. »Das Ding erwacht tatsächlich zum Le‐ ben.« »Du hast daran gezweifelt?« Jaschin sah seinen Kameraden schief von der Seite her an. »Du warst nicht sicher? Also konntest du auch nicht ausschließen, eine Selbstzerstörung auszulösen.« Aaltonen winkte gelassen ab. »Nur die Ruhe. War nur ein Scherz. Ich wußte genau, was passieren würde.« Ren fand, daß die Behauptung nicht besonders überzeugend klang. Ihm blieb keine Zeit, sich weiter mit der Frage zu beschäftigen. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer Reihe aufblinkender Lichter be‐ ansprucht, die in hektischem Rhythmus aufflackerten und die Qua‐ derreihe flankierten.
»Vierundvierzig Lichter«, erfaßte Joe Siem mit seinem blitzschnel‐ len Programmgehirn. Das entsprach genau den in einem Block zu‐ sammengefaßten Sarkophagen. Zumindest in dieser Hinsicht wur‐ den die Erkenntnisse der Gardisten also schon einmal bestätigt. Aufmerksam beobachtete Dhark den nackten alten Mann in dem Tank. Durch nichts war zu erkennen, daß er lebte. Die Lider der geschlossenen Augen flatterten nicht, am ganzen Körper zuckte kein Muskel. Nur die mit seinem Körper verbundenen Schläuche und Drähte verrieten, daß er medizinisch überwacht und versorgt wurde. Wie heißt du wohl? Werde ich es gleich erfahren? Das Aufflackern der Lichter gewann an Intensität und erhöhte gleichzeitig den Rhythmus. Fast wie ein Stroboskop wirkte es nun. Erst als Ren dem zuvor vernommenen Summen nachlauschte, stellte er fest, daß es verklungen war. Aus den Augenwinkeln registrierte er, daß sich keiner der Männer um ihn herum bewegte. Fast schien die Zeit stillzustehen. Dann erloschen die Lichter. Irgendwer stieß einen überraschten Schrei aus. »Die Schläuche werden gelöst!« * »Funksignale!« Artus’ Meldung kam im ungünstigsten Augenblick. »Kannst du dich etwas deutlicher ausdrücken?« polterte Mac‐ Cormack. »Sag nicht, daß du ausgerechnet jetzt wieder etwas emp‐ fängst.« »Wenn es nach mir ginge, hätte ich einen anderen Zeitpunkt aus‐ gewählt. Leider liegt es nicht an mir. Auf einmal empfange ich wie‐ der verwaschene Funksignale.« »Da haben wir den Salat.« Unwillkürlich warf Jes Yello einen Blick zum Eingang hinüber, doch dort gab es keine Veränderung. »Die Grakos sind wieder im Berg unterwegs.«
»Oder doch Roboter der Kontrollinstanz«, erwiderte Artus zö‐ gernd. »Völlig egal. Jedenfalls paßt uns das gar nicht in den Kram. Höch‐ ste Alarmstufe!« Mit knappen Befehlen ließ MacCormack einen Teil der Gardisten zur verstärkten Sicherung der Eingänge und der Halle ausschwärmen. »Wenn einer von denen den Kopf durch das Tor streckt, gilt uneingeschränkte Feuererlaubnis. Sie müssen unter allen Umständen daran gehindert werden, in die Halle vorzudringen.« Stumm verfolgte Dhark den Wortwechsel. Soweit durfte es erst gar nicht kommen. Wenn die Unbekannten, die Artus empfing – gleichgültig ob Grakos oder Roboter der Befehlsinstanz – das Schott zur Halle erreichten, war den Menschen der Rückweg abgeschlos‐ sen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Problem zu verdrängen, bis es akut wurde. Denn es gab ein anderes, das viel dringlicher war. »Chris, ich glaube, Ihre Männer werden hier gleich gebraucht.« Die Verbindung zwischen Saltern und Maschinen wurde unterb‐ rochen. Lautlos glitten die Versorgungsschläuche zurück und ver‐ schwanden im Sockel des Quaders. An der Haut des Mannes zeigte keine Spur, daß er eben noch mit dem lebenserhaltenden System verbunden gewesen war. Seine Körperfunktionen wurden nicht länger künstlich unterstützt. Dhark bebte innerlich. Was geschah nun? Die Manipulation der Schaltanlage funktionierte. Gleich würde sich zeigen, ob sie einen Erfolg oder eine Katastrophe nach sich zog. »Was geschieht bei den anderen Quadern?« fragte Farnham mit heiserer Stimme. Mehrere Gardisten, die sich entlang des Ganges verteilt hatten, antworteten. In sämtlichen 44 gekoppelten Tanks liefen die gleichen Vorgänge ab. Die Maschinen gaben die Schläfer frei. Doch damit ging eine andere Gefahr einher. »Wir müssen die Quader sprengen. Die Salter ersticken sonst in der Nährflüssigkeit.«
»Nadelstrahl auf feinste Bündelung stellen, Männer. Wir holen sie da raus!« gellte MacCormacks Stimme. »Noch nicht«, hielt Dhark die Gardisten zurück. »Die Arbeit wird uns abgenommen.« Plötzlich begann sich der Flüssigkeitspegel zu senken. Am Boden des Sarkophags hatten sich Ventile geöffnet, durch die die Flüssigkeit abfloß. »Er erwacht!« Die Augenlider des alten Mannes begannen heftig zu flattern. Er riß die Arme in die Höhe und versuchte nach etwas zu fassen. Dann schlug er die Augen auf. Tiefes Unverständnis zeichnete sich darin ab. Und noch etwas anderes, das Dhark einen Schauer über den Rücken jagte. Er hatte das Gefühl, von Eiskristallen durchbohrt zu werden. Da war… Angst. Todesangst. Und unendliches Leid. »Sie kommen zu sich. Sie erwachen… alle.« Dem Rufer versagte die Stimme. »Die Tanks öffnen sich.« In der gleichen Reihenfolge, in der die Lichter aufgeleuchtet waren, schwangen die Deckel der Quader in die Höhe. Unfähig, sich zu rühren, verfolgte Dhark, wie die Gardisten nach den Erwachenden griffen, um ihnen in die Höhe zu helfen. Nur ein Gedanke be‐ herrschte ihn. Sie hatten es geschafft. Sie hatten es wirklich geschafft. »Sie sind immer noch halb bewußtlos«, holte ihn Buck in die Wirklichkeit zurück. Er stützte den alten Mann und half ihm aus dem Tank. »Außerdem extrem schwach. Allein können sie sich noch nicht auf den Beinen halten.« Mit einem raschen Blick vergewisserte sich Ren, daß auch die In‐ sassen der anderen 43 Quader aus ihrer mißlichen Lage erlöst wur‐ den. Allen Befreiten schien es gleichermaßen schlecht zu gehen. Es lag an ihm, sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu brin‐ gen, wenn die Aufgabe der Garde erst beendet war. Wenn alle zehntausend Schlafenden in dieser Halle aufgeweckt und in die
Freiheit geführt waren. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem alten Mann zu, den Kurt Buck gestützt hielt. In diesem Moment öffnete der Alte seinen Mund. Seine Lippen zitterten, als er die Stimme erhob. Seine Worte kamen so leise, daß sie beinahe verwehten, doch Ren verstand das Flehen deutlich. »Gnade… bitte, Gnade… tötet mich.« * »Hier geschieht etwas!« »Hier ebenfalls! Die Salter erwachen!« Aber sie waren doch schon wach. Dhark brauchte einen Moment, um die Meldungen zu verarbeiten. Sie bezogen sich nicht auf die 44 Salter, die erwachen sollten, sondern auf andere. Sein Verdacht be‐ stätigte sich, als in der Halle das reinste Chaos ausbrach. Aus allen Richtungen riefen Gardisten durcheinander. Die Inhalte ihrer Mel‐ dungen deckten sich. Anscheinend kamen sämtliche zehntausend Schlafenden auf einen Schlag zu sich. »Was ist geschehen? Können wir das nicht aufhalten?« »Rauno!« rief Buck den Kryptologen. »Besteht eine Möglichkeit einzugreifen?« »Nichts zu machen«, kam die prompte Antwort. Verständnislos starrte der Finne die Schalttafel an, die er anfangs manipuliert hatte. Sie war wie tot. Dafür leuchteten an unzähligen Stellen die inzwi‐ schen bekannten Lichterketten auf. In der Halle summte es wie in einem Bienenstock. »Was immer auch geschieht, wir haben keinen Einfluß darauf.« Was Dhark eben noch erhofft hatte, erhielt mit einem Mal einen bitteren Beigeschmack. Der ganze Vorgang lief völlig unkontrolliert ab. Wenn alle Erwachenden so kraftlos waren, war es unmöglich, mit ihnen durch die Gänge nach draußen zu den Transmittern zu flie‐ hen.
»Wir haben eine Kettenreaktion ausgelöst.« Farnham schaute sich um. »Vorschläge, Dhark?« Ren schüttelte den Kopf. Mit weiten Sätzen lief er in den nächsten Gang. Es war kein Irrtum möglich. Überall öffneten sich die Ventile, waren die Versorgungsschläuche verschwunden. Aus sämtlichen Tanks floß die Nährflüssigkeit ab, die Quader öffneten sich. Der Vorgang erschütterte ihn, weil er keine Vorstellung hatte, wie er sämtlichen Saltern helfen sollte. Er hätte hier zehntausend Gar‐ disten zur Unterstützung gebraucht. Eine irrwitzige Vorstellung angesichts der feindlichen Roboterhorden, die nur darauf warteten, über die Menschen herzufallen. »Artus, kannst du die Signale lesen? Was haben die Roboter vor?« fragte er, nachdem er zu den anderen zurückgekehrt war. »Ich bekomme keine Informationen. Es ist anders als beim letzten Mal. Ich empfange zwar etwas, aber so verschwommen, daß ich nichts mit den Signalen anfangen kann.« Ein Röcheln ließ Dhark herumfahren. Kurt Buck hatte den alten Mann losgelassen und wich einen Schritt zurück. Hinter der Helm‐ scheibe war sein entsetzter Gesichtsausdruck zu erkennen. Als Ren den Grund sah, war er für einen Moment vor Erschütterung nicht fähig, sich zu rühren. Der Alte lag auf dem Rücken, das Gesicht zu einer gequälten Maske verzerrt. Seine Augen waren weit aufgerissen, der Mund formte stumme Worte. Auf seiner eben noch bleichen Haut zeichne‐ ten sich dunkle Flecken ab. »Mein Gott!« stieß MacCormack aus. »Wir müssen etwas tun.« »Wir könnten ihn zurück in den Tank legen.« »Sinnlos, ohne die Flüssigkeit. Aaltonen, kriegen wir die Tanks ir‐ gendwie wieder in ihren Ursprungszustand versetzt?« Hilflos schüttelte der Finne den Kopf. Alarmierte Schreie wurden laut, begleitet von Meldungen, die Dharks schlimmste Alpträume übertrafen. Artus und die Cyborgs rannten hin und her und bestätigten die Katastrophe. Das Drama,
das sich vor Rens Augen abspielte, war kein Einzelfall. Es betraf alle Salter, sowohl die, die man bereits aus den Tanks befreit hatte, als auch die überwiegende Mehrzahl derer, die noch darin lagen. »Sie sterben. Verdammt, verdammt!« Bucks Stimme drohte sich zu überschlagen. »Haben wir dafür den ganzen Aufwand betrieben?« Ren war zu keiner Antwort fähig. Die Brust des alten Mannes war eingefallen, seine Haut begann sich aufzulösen. Verzweifelt hob er einen Arm, der von den Fingern her begann, sich zu verflüssigen. Unter ihm breitete sich eine Lache aus. Brauner Schleim, der schmatzende Geräusche erzeugte, quoll träge hervor. Wir sind schuld, hämmerte es in Rens Verstand. Wir tragen die Ver‐ antwortung dafür. Trotz seines Ekels gelang es ihm nicht, den Blick von dem Ster‐ benden zu lösen. In seinen Ohren meinte er einen vieltausendfachen Todesschrei zu vernehmen, dessen Echo von den Hallenwänden zurückgeworfen wurde, widerhallte, dabei immer leiser wurde und zu Stöhnen aus unzähligen Kehlen verkümmerte. Immer weiter setzte sich der einmal in Gang gesetzte Prozeß fort. Immer weiter fiel der ausgemergelte Körper auf dem Boden vor ihm in sich zusammen, produzierte dicke Blasen, die aufplatzten. Statt Blut war eine dickflüssige Brühe zu sehen, wo sich die Organe, Muskeln und Sehnen des Toten auflösten. Der Vorgang ging unaufhaltsam weiter, erfaßte jedes Stück Gewebe, bis nichts mehr von dem ursprünglichen Körper übrig war. »Ich muß die Männer hier rausbringen«, vernahm er MacCormacks Stimme. Sie hatte alles Menschliche verloren, klang wie das schlechtmodulierte Schnarren einer Roboterstimme. Nur noch eine Lache aus grünlichbraunem Schleim schimmerte vor Dharks Füßen. Er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, daß es überall in der weiten Halle so aussah. Ein Anflug von Haß packte heiß nach seinem Verstand, wie er ihn nie zuvor verspürt hatte. Haß auf Eins. Haß auf die Großrechner. Haß auf ihre Hand‐ lungsroboter. Ein feuchter Schleier waberte vor seinen Augen, als er
Artus registrierte. »Alles in Ordnung, Dhark? Brauchst du Hilfe?« »Hilfe?« Seine eigene Stimme kam ihm hohl und unwirklich vor. Es gab keine Hilfe mehr, die dem hier gerecht wurde. Sie hatten alles ge‐ wagt und alles verloren. Nein, nicht alles! Unter Aufbietung all seiner Kraft gelang es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie mußten so schnell wie möglich raus hier, um nicht auch noch weitere Menschenleben sinnlos zu opfern. Er kam nicht dazu, Farnham zum Rückzug aufzufordern, denn Feldwebel Jannis Kaunas’ Stimme erklang über den allgemeinen Kanal. »Ich habe einen aktiven Fusionssprengsatz geortet, der jeden Au‐ genblick gezündet werden kann. Entfernung von unserem Standort 300 Meter.« Ren Dhark hatte das Gefühl, daß ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. ENDE Ein Universum Release