Berte Bratt
Regina schafft es doch
(Sei klug, Regina)
Regina ist jung und voller Illusionen. Von ihren Idealen möcht...
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Berte Bratt
Regina schafft es doch
(Sei klug, Regina)
Regina ist jung und voller Illusionen. Von ihren Idealen möchte sie nicht einen Fingerbreit abweichen. Erst als sie Gert trifft und ihn fast verliert, gerät sie in Zweifel über sich selbst. Was ist Regina wichti ger: der Partner oder ihre Ideale?
Ein Glückstag für Regina Als Regina an diesem glühend heißen Junitag das bunte Som merkleid über den Kopf zog, um in die Stadt zu gehen, war sie von zwei Wünschen beseelt. „Wenn doch immer Sommer wäre“, seufzte sie. Dieser Wunsch hatte seinen guten Grund. Wenn es Sommer war, konnte man ein hübsches, billiges Sommerkleid tragen, man konnte ohne Strümpfe gehen – jedenfalls wenn man erst zweiundzwanzig Jahre alt war und schöne, braungebrannte Beine hatte – , man konnte die Füße in ein paar lustige, billige Sommersandalen stecken, man konnte ohne Hut gehen, konnte Krem und Puder sparen, wenn das Gesicht frisch und von der Sonne gebräunt war. Kurzum: Man konn te mit wenig Geld schick und hübsch aussehen. Und für Regina war es eine zwingende Notwendigkeit, sich mit wenig Geld durchzu schlagen. Dies war der eine Wunsch. Der zweite war der Wirklichkeit näher, und er war auch dringen der. Es war ein Wunsch, der ihr Herz rasch und hart schlagen ließ, während sie durch die sonnenheißen Straßen zur Stadt lief. Straßen bahn? Kam nicht in Frage. Das fehlte noch! Nein, bei diesem schö nen, warmen Sommerwetter konnte sie das Geld wahrhaftig sparen. Als sie um die Ecke der Prinzenstraße bog, klopfte ihr das Herz so sehr, daß sie meinte, sie könne es selber hören. Vor Mortensens Kunst- und Antiquitätenhandlung blieb sie ste
hen. Sie schluckte, biß sich auf die Lippe, legte die Hand auf die Türklinke – und stockte. Durch die Glasscheibe in der Tür konnte sie den ganzen Laden überblicken. Dort drinnen stand Herr Mortensen gerade im Gespräch mit einem Kunden. Regina schnappte nach Luft. Ihre Augen waren auf einen be stimmten Punkt gerichtet. Nicht auf die aufrechte Gestalt des Kun den, nicht auf sein freundliches, interessiertes Gesicht, sondern auf seine Hände. Diese Hände hielten eine kleine Terrakottafigur. Jetzt drehten sie die Figur herum, hoben sie in Augenhöhe und jetzt – liebe Zeit, was sollte das wohl nun bedeuten? – , jetzt stellten sie die Figur auf den Ladentisch zurück. Ach, was taten die Hände sonst noch – griffen sie nach etwas anderem? – , nein, die eine Hand verschwand in der In nentasche des Rockes, dort, wo die Brieftasche steckte. Da atmete Regina auf, tief und befreit. Und nun mußte sie plötz lich einen Kloß in ihrem Hals herunterschlucken. Die Spannung war zu groß gewesen. Es war besser, sie wartete ein wenig, ehe sie zu Mortensen hi neinging. Sie konnte sich drüben an die Ecke stellen und aufpassen, wenn der Kunde ging. Sie ließ die Türklinke los, aber im selben Augenblick hatte Mortensen sie entdeckt und nickte ihr zu. So mußte sie hinein. Die altmodische Ladenglocke klimperte leise, als sie die Tür öff nete, und der Kunde wandte flüchtig den Kopf. Dann drehte er sich ganz zu ihr herum. Der Kunde sah eine schlanke, kleine Mädchengestalt mit einem ovalen Gesicht von zart goldbrauner Tönung. Die Nase war fein gebogen, der Mund voll und rot. Das dunkle Haar und der Typ ver rieten romanischen oder vielleicht slawischen Einschlag in der Fami lie, irgendwann vor langen Zeiten. Was ihn aber am meisten fesselte, das waren ihre Augen. Ein Paar große, ganz seltsam große, blaugrüne Augen unter dichten, schwarzen Brauen. Der Kunde konnte nur schwer den Blick von ihr wenden. Er war ein älterer Mann, hatte Erfahrungen und Menschenkenntnis. Und er spürte ganz spontan den Wunsch, etwas über das junge Geschöpf zu erfahren, das vor ihm stand – das Mädchen mit dem merkwürdigen, abgrundtiefen Blick. Ihre Augen waren auf einen Mann von etwa sechzig Jahren ge richtet. Einen aufrechten, gut aussehenden Mann mit der freundli
chen Sicherheit im Wesen, wie Erfahrungen und gute wirtschaftliche Verhältnisse sie einem Mann verleihen. Da klang Mortensens Stimme: „Das ist ein drolliger Zufall. Darf ich vorstellen: Direktor Eimer – der Herr Direktor ist Ihr bester Kun de, Fräulein Frank – , ja, Herr Eimer, dies ist also die Bildhauerin Regina Frank.“ Herr Eimer hielt einen Augenblick Reginas Hand fest. Er war so groß und breit, daß das Mädchen vor dieser männlichen Kraft noch kleiner und zarter wirkte. „Es ist wirklich nett, Sie einmal kennenzulernen, Fräulein Frank. Übrigens, lieber Mortensen, diesen Direktortitel, mit dem Sie mich so liebenswürdig ausstaffieren, den müssen Sie auf Ihre eigene Kap pe nehmen. Ich bin nichts als ein rechtschaffener Handwerker und sorge für das tägliche Brot…“ „Ach!“ sagte Regina. Ihr ging ein Licht auf. „Eimers Bäckerei und Konditorei?“ „Ganz recht. Aber wie Sie wissen, lebt der Mensch nicht vom Brot allein, man hat auch Bedürfnis nach geistigen Werten, und so habe ich meine Augen auf Ihre Terrakottafigur geworfen.“ „Ja“, ergänzte Mortensen, „gerade vor einem Augenblick hat Herr Direktor das ,Füllen’ gekauft. Entschuldigen Sie, Herr Eimer, aber immerhin sind Sie doch der Direktor einer großen Brotfabrik.“ „Jaja, meinetwegen, das spielt keine Rolle! Da ich nun aber das Glück habe, Sie hier zu treffen, Fräulein Frank, möchte ich Sie gern etwas fragen: Ich habe neulich Ihr ,Bärenjunges’ gekauft…“ „Ach, Sie waren das?“ unterbrach Regina. „Ich sagte schon: Der Herr Direktor ist Ihr bester Kunde, Fräulein Frank“, erklärte Mortensen. „Er hat, soviel ich mich erinnere, auch das ,Mädchen mit Korb’ – und das ,Reh’.“ „Ach nein!“ Die Röte schoß Regina in die Wangen. Eimer lächelte. „Ja, da sehen Sie, so sehr habe ich mich in Ihre Terrakottasachen verliebt. Leider habe ich das ,Bärenjunge’ verschenkt, und heute bin ich eigentlich hergekommen, um Herrn Mortensen zu fragen, ob er vielleicht einen Abguß davon hätte…“ Regina schüttelte den Kopf. Sie wurde einer Antwort enthoben, denn Mortensen antwortete für sie. „Fräulein Frank macht niemals Abgüsse, das ist es ja gerade! Sie macht ihre Figuren nur einmal und verkauft sie…“
„… oder versucht sie zu verkaufen“, sagte Regina lächelnd. „… und damit sind sie für immer aus der Welt“, ergänzte Mor tensen. „Was meinen Sie, wie oft ich versucht habe, dieses bockbei nige Mädchen zu überreden, daß sie die Abgüsse macht? Aber nein, sie steckt die kleine Nase in die Luft und bleibt dabei, eine Original arbeit ist nun einmal eine Originalarbeit, macht man zehn Abgüsse, so wird es Dutzendware.“ „Zur Dutzendware gehören aber zwölf, lachte Eimer.“ „Na ja, da ich nun das Bärchen nicht noch einmal bekommen konnte, kaufte ich also Ihr junges Füllen hier.“ Er nahm die Figur wieder vom Tisch hoch. „Es ist hinreißend, Fräulein Frank, so linkisch, so langbeinig, so scheu und ein wenig hilflos – und trotzdem – , trotzdem so edel, so – so rassig!“ Regina fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen schoß. Sie freute sich unbändig, weil dieser Mann mit wenigen Worten alles ausdrück te, was sie an dieser kleinen Terrakottafigur hatte herausholen wol len. Während Mortensen das Füllen sorgsam verpackte, unterhielten die beiden sich weiter. Regina erzählte, wie sie zufällig an einem Maitag das kleine Fohlen entdeckt hatte. Wie sie es tagelang studiert hatte, bis die Arbeit gelang, bis es dastand, jung und scheu und un beholfen und wunderhübsch. Endlich war der Ton so trocken gewor den, daß sie ihn brennen konnte. Vor drei Tagen hatte sie das Fohlen zu Mortensen getragen. Heute war sie vorbeigekommen, um sich zu erkundigen, ob es zufällig verkauft wäre. „Geht es immer so fix?“ fragte Herr Eimer lächelnd. „Nein, ganz und gar nicht. Oft bleiben meine Sachen monatelang stehen, manches Mal habe ich es aufgegeben und sie wieder zurück genommen. Aber – aber heute war solch schönes Wetter, und ich hatte plötzlich solche Lust, in die Stadt zu gehen, und…“ Regina blieb in ihrer Rede stecken und wieder flammte die Röte in ihren Wangen auf. Herr Eimer nickte. Er verstand nur zu gut, was nicht gesagt wur de: „…und ich brauchte Geld.“ Mortensen hatte das Paket fertiggemacht. „Nun, Fräulein Frank, wollen wir nicht jetzt gleich abrechnen, da Sie gerade hier sind?“ „Ja, tausend Dank, Herr Mortensen – ich komme mit in Ihr Bü ro.“
Es ging die Kunden ja nichts an, wieviel Prozent Mortensen ab bekam. Alle Abrechnungen wurden in dem kleinen Büro hinter dem Laden erledigt. Regina drehte sich zu Direktor Eimer um. „Ich habe mich furcht bar gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Eimer – und ich freue mich auch sehr, daß Sie das ,Füllen’ gekauft haben!“ Er lächelte und nahm die kleine Hand, die sie ihm entgegen streckte. „Die Freude ist auf meiner Seite, Fräulein Frank. Ich werde Ihr ,Füllen’ in Ehren halten. Und nun wünsche ich Ihnen alles Gute!“ Regina blieb stehen und sah ihm mit einem kleinen Lächeln nach. Sie gelobte sich selbst, daß sie noch heute Brot von Eimers Brotfa brik kaufen wolle. Und zwar wollte sie es von dem Geld kaufen, das sie jetzt für das „Füllen“ bekam. Der Rest sollte für die Stromrechnung verwendet werden und für einen Zeichenblock – und dann brauchte sie auch mehr Ton. Ach ja! Regina mußte sich niemals den Kopf zerbrechen, wie sie ihr Geld loswurde. Als sie auf die Straße hinauskam, war es ihr, als schiene die Son ne noch strahlender. Schnell und leichtfüßig ging sie heimwärts. Jetzt konnte sie einige Tage ohne Geldsorgen weiterarbeiten. Plötzlich wurden ihre Schritte langsamer. Sie blieb stehen und schaute in ein Ladenfenster, ein Fenster, in dem leckere Kuchen ausgestellt waren. Es war ein Zweiggeschäft von Eimers Bäckerei und Konditorei. Regina lachte mit einem Male. Ausnahmsweise wollte sie sich einen Luxus gestatten – einen winzig kleinen Luxus. Sie ging hinein und bestellte sich eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen – einen verlockenden Kuchen, mit Krokantcreme und mit Marzipan überzogen. Sie konnte sich nicht entsinnen, daß ein Stück Kuchen jemals so gut geschmeckt hätte! Regina zog den fleckigen Kittel aus. Es war schon spät. Drei ge schlagene Stunden hintereinander hatte sie am Modellierbock ge standen. Bevor sie die Statue mit Tüchern umwickelte, stellte sie sich da vor und betrachtete sie. Ja, jetzt bekam sie Form. Der schlanke Rücken, die gespannten Muskeln der Beine, der gestreckte Hals und der erhobene Arm, der
die Fackel trug. Ach! Könnte sie es sich doch bloß leisten, diese Arbeit in Bronze ausführen zu lassen! Und könnte sie sich doch bloß ein Modell lei sten! Sie war auf eine sportliche Veranstaltung gegangen und hatte ei nen Haufen Skizzen gemacht. Einen ganzen Block voll junger, sport lich durchtrainierter Körper. Sie hatte den „Fackelträger“ im Olym piadefilm gesehen. Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, und dennoch – dennoch –, wenn sie bloß ein Modell hätte! Was sie mit der fertigen Plastik machen sollte, das wußte sie nicht. Wer würde wohl einen „Fackelträger“ in Terrakotta oder Gips kaufen und ihn in seiner Wohnstube aufstellen? Nein. Nicht dran denken. Sie seufzte ein bißchen und wickelte den halbfertigen „Fackelträger“ behutsam in feuchte Lappen. Dann trat sie an ihr Regal und betrachtete mit kritischen Augen die drei Tonfiguren, die hier standen. „Mädchen mit Katze“ – „Frau mit Stock“ – und „Der Maurer“. Ja, die waren jetzt trocken. Fein, dann konnte sie sie heute abend mit in den Ofen geben. Sie hatte gestern morgen mit Katrin telefoniert. Katrin hatte gesagt, sie solle nur kommen, ein bißchen Platz wür de schon im Ofen frei sein. „Wenn du aber nicht kommst, dann brenne ich ohne dich“, hatte Katrin gesagt. „Ich packe morgen den Ofen, und übermorgen muß ich anfangen zu glasieren. Ich ersticke in Bestellungen, alle drängen und wollen mehr haben. Wenn es so weitergeht, lande ich noch im Irrenhaus.“ Regina packte die drei kleinen Figuren vorsichtig in einen Korb. Und dann fuhr sie mit der Vorortbahn zu Katrin hinaus. Die gute Katrin! Nie sagte sie nein, wenn Regina sie bat, ob sie ihre Sachen zusammen mit Katrins eigenen Dingen, die geglüht werden mußten, in den Ofen stellen durfte. Für Regina war dann die Arbeit erledigt, mehr tat sie nicht an ihren Figuren. Aber Katrin glasierte und stri chelte in allen Farben des Regenbogens an ihren Arbeiten herum und brannte noch einmal. Nach kurzer Zeit lagen dann die Broschen und Ohrclips und Halsketten und Armbänder in jeder Parfumerie und in jeder Bude mit Reiseandenken, sie hingen um deutsche und auslän dische Hälse und schmückten die Jackenaufschläge von Kindern und Erwachsenen. Und das Geld strömte Katrin zu und ermöglichte es ihr, sich noch mehr Hilfe zu nehmen und noch mehr Ohrclips und Halsketten und Broschen herzustellen.
„Hallo, Tag, Regina! Ich dachte tatsächlich, du hättest dir eine Schachtel Streichhölzer gekauft und selbst zu brennen angefangen! Zeig mal, wie sie geworden sind? Nein, alle Wetter, Regina, wie ist das Mädel mit dem Kätzchen hübsch geworden! Warte mal eben, ich schieb’ meinen Kram hier ein bißchen zusammen – ach was, natür lich geht es –, so, hier steht das Mädchen gut. Und da ist ja auch die Alte – wenn ich dich recht kenne, dann findest du, die Alte ist ein Kunstwerk, und das Mädchen mit der Katze Spielerei –, ach, doch nicht? Die Alte ist übrigens sehr gut. Nein, im Ernst -.“ Katrin änder te ganz plötzlich den Ton, stellte sich vor der „Frau mit Stock“ auf und betrachtete sie eingehend. „Meine Güte, Regina, wie bist du doch begabt! Menschenkind! Du kriegst es fertig, die Sorgen eines ganzen Lebens in das kleine Gesicht einzuarbeiten – in diesen kleinen Tonkloß –, und dann die Haltung! Zum Kuckuck! Ich spüre förmlich die Müdigkeit in mei nem eigenen Körper, so wie die Frau sich auf ihren Stock stützt. Nein, ich setze sie selber in den Ofen – um Himmels willen, die muß sicher stehen – so, ja –, ach Regina, wer doch nur die Hälfte von dem könnte, was du kannst!“ „Du könntest, wenn du wolltest, Katrin!“ „Du sagst es verkehrt herum, mein Kind. Ich wollte, wenn ich könnte!“ „Du kannst! Mach nur die Hälfte von dem, was du deinen Kitsch nennst.“ „Das geht nicht, mein Schatz. Draußen schreien sie nach Schmuck von der Katrin, verstehst du? Nein, ich muß artig weiter machen, wenn ich leben will.“ „Du meinst, wenn du auf dieselbe Weise leben willst wie jetzt!“ „Genau das, du Neunmalkluge! Setz dich doch endlich. Du fin dest irgendwo in der Umgegend etwas zu rauchen. Ja, da, halt, drü ben auf dem Hocker neben dem Gipspott – und nun sag mir mal, du bist ja Bildhauerin, wie macht man eigentlich einen Fisch?“ „Einen Fisch?“ „Ja, oder besser, zwei Fische. Und einen Krebs. Kannst du mir beschreiben, wie so ein Ungeheuer aussieht?“ „Aber Katrin, was…“ „Sei doch nicht so schwer von Begriff. Ich sitze doch augenblick lich und mache Sternenzeichen. Schau her – was bist du eigentlich? Du hast im August Geburtstag, ja richtig, du bist also Löwe. Schau her – wenn du nun ein Bewunderer meiner, unerhörten Kunst wärest,
würdest du dir dies Löwenjunge anstecken; ist es übrigens nicht niedlich?“ Regina nahm die kleine flache Plastik, die Katrin ihr hinhielt. Es war ein Löwenbaby, ein rundliches, weiches kleines Dingelchen mit Babytatzen und einem runden, treuherzigen Gesicht. Sie sah es lange an. „Katrin“, sagte sie langsam. „Wenn du nun diese Figur in einem annehmbaren Format gemacht hättest und ohne an den Verkauf zu denken? Du kannst, Mädchen! Du kannst wirklich! Und dann sitzt du hier und vergeudest dein Talent und machst lauter Mist…“ „… des Geldes wegen“, vollendete Katrin den Satz. „Es war aber mein Geld, das es Mami möglich machte, das Haus hier zu behalten. Ich habe den teuren Ofen für mein Geld gekauft, Regina! Für mein Geld, das ich mit dem Mist verdient habe. Wenn ich es nun gemacht hätte wie du! Wenn ich in aller Ruhe zugelassen hätte, daß wir dies kleine Haus verkauften, das Mami so liebt? Sie hat darin gewohnt, seit sie und Papi hier als jungverheiratetes Paar einzogen, Regina. Wenn ich zugelassen hätte, daß sie von der kleinen Pension leben sollte, die wahrhaftig nur gerade für das Notwendigste ausreicht! Wenn ich versucht hätte, mich damit durchzuschlagen, daß ich Kunst machte, soweit ich überhaupt Kunst machen kann – der Himmel mag wissen, ob ich es kann! Hätte ich das Recht gehabt, so zu handeln, Regina? Jetzt habe ich mein sicheres Auskommen, meiner Mutter geht es gut…“ „… und du verschleuderst die größte Gabe, die der liebe Gott dir verliehen hat – dein Talent! Glaubst du, du hast sie bekommen, um hier zu sitzen und kitschigen Ketamikschmuck zu machen? Du hast deiner Mutter gegenüber Verpflichtungen, das stimmt, aber sie wäre nicht verhungert, wenn du anders gehandelt hättest, als du getan hast. Hast du ein Recht, dein Talent so zu vertun, Katrin?“ „Talent! Talent! Du überschätzt mich, Regina! Ab und zu kann ich ganz anständige Sachen machen, das stimmt schon, aber zu mehr reicht das sogenannte Talent bestimmt nicht. Sieh mal dies hier übri gens, das ist nun wirklich nicht übel, nicht wahr?“ Wieder steckte Katrin Regina eine kleine Figur in die Hand. Re gina sah sie lange und aufmerksam an. „Du brauchst mir nicht zu erklären, was es ist“, sagte sie endlich langsam. „Es ist das Sternzeichen der Jungfrau’.“ „Stimmt genau.“ „Katrin…“, Reginas Stimme zitterte. „Du behauptest, du hättest
kein Talent. Ich wäre stolz, wenn ich diese Mädchengestalt hier gemacht hätte. Diese ganze Anmut und Jugend und Reinheit – und all das kannst du in so einer klitzekleinen Miniatur herausholen! Mädel, Katrin, wenn du die nun in einer vernünftigen Größe ausführ test – entweder als Plastik oder Relief, und sie nicht kaputt machtest, indem du sie zu einer flachen Brosche zusammendrückst – , die dann höchstwahrscheinlich knallblau oder himbeerrot angemalt werden soll…“ „Beides“, sagte Katrin trocken. „Außerdem wird sie in Rosa und Grün ausgeführt. Sie muß in allen Farben vorliegen, für alle Kleider und Kostüme.“ Sie nahm Regina die „Jungfrau“ aus der Hand. „Fein, daß du sie gut findest. Ja, siehst du, das ist vielleicht der Grund, daß ich diese ganze Arbeit überhaupt aushalte. Ab und zu mache ich etwas, was ich selber anständig und gelungen finde, wen de Mühe daran – und weiß so genau wie nur einer: alle, die sie kau fen, haben keinen, Schimmer davon, daß es fast ein kleines Kunst werk ist. Nun, Schluß damit, Regina. Wir kamen von diesen blöden Fischen ab. Und diesem verwünschten Krebs. Ich muß wohl eben mal ‘rauflaufen und das ,Tierleben’ holen – da muß doch ein Krebs drin abgebildet sein. Ach was, ich mach jetzt mal ‘ne kleine Pause – komm mit ‘rauf, dann bitten wir Mami um eine Tasse Tee!“ Katrin stand auf und ging in einen Nebenraum, wo ein junges Mädchen saß und Gipsformen mit Ton auslegte. „Nimm zuerst die Elefanten“, sagte Katrin zu ihr. „Mit den Mu scheln eilt es nicht so sehr. Wie steht es mit den Stiefmütterchen? Ich glaube tatsächlich, die sind jetzt trocken genug, ich kann sie wohl verglühen. Mal sehen, ob ich sie in den Ofen noch ‘reinquetschen kann, mit den anderen zusammen. Aber, Birgit, Elefanten sind die Hauptsache. Elefanten in ganzen Herden!“ Birgit war ein sechzehnjähriges junges Ding, das treu und brav Ton in Formen drückte, wenn es nicht gerade dasaß und Unterglasur auftrug. Sie brachte ihren Lohn auf die Sparkasse für eine spätere Ausbildung. Denn Birgit wollte auch Keramikerin werden. Katrins Werkstatt lag im Keller ihres Häuschens. „Arme Mami, sie hat jetzt keinen Abstellraum und keine Vorratskammer mehr“, lachte Katrin. „Aber das tägliche Brot geht ja allem vor! – Komm, wir begeben uns in die oberen Gemächer.“ Die Sonne strömte durch das Wohnzimmerfenster, das voller Blumen stand. Sie schien auf alte, ein wenig verblichene, aber ge
mütliche Möbel. Die Stube war von einem wundersamen Frieden erfüllt. „Sieh mal an, Regina! Wie nett, dich wiederzusehen. Wollt ihr Tee haben oder Kaffee?“ „Tee, Mami, bitte“, sagte Katrin. „Hast du noch etwas von deiner Sandtorte?“ „Nicht die, von der du redest“, lachte die Mutter. „Aber ich habe eine neue gebacken. Setzt euch und verschnauft euch ein bißchen, Mädels. Was ist das doch für eine Hitze! Jetzt kriegt ihr gleich euren Tee.“ „Du, Katrin – mein ,Füllen’ ist gestern verkauft worden“, sagte Regina. „Schon? Wie schön! Weißt du, wer es gekauft hat?“ „Ja. Ich habe den Käufer zufällig im Laden getroffen. Und denk dir, er hat auch noch einige andere Sachen gekauft – das ,Bärenjunge’ und das ,Reh’ und das ,Mädchen mit Korb’.“ „Das ist ja herrlich. Wer ist denn dieser intelligente und sympa thische Kunstkenner?“ „Er heißt Eimer. Du weißt, Eimers Bäckerei und Konditorei und Brotfabrik.“ „Ach nein, der? Der ist mir ein Begriff. Jung und sieht gut aus, und ist sehr charmant, nicht wahr?“ „Sieht gut aus und ist charmant, ja; aber jung ist er nicht gerade. Er ist mindestens sechzig.“ „Dann muß es der Papa sein. Ja natürlich, klar. Der Sohn kann es sich bestimmt noch nicht leisten, schon Kunst zu kaufen.“ „Von einem Sohn weiß ich nichts.“ „Ja, doch, es gibt einen, das weiß ich. Aber woher eigentlich… verflixt noch mal – halt, jetzt hab’ ich’s! Krüger!“ „Krüger?“ „Ja, Krüger. Der Eisenwarenhandel. Frau Krüger ist mit Mami im Sanitätsverein, ich sehe sie hin und wieder dort. Und sie erwähnte mal irgend etwas von Gert Eimer, der ist viel mit ihrer Tochter zu sammen, der Annette Krüger, weißt du.“ „Ach so. Nun, der Vater interessiert mich auf alle Fälle mehr, zum mindestens, so lange er meine Terrakottafiguren kauft.“ „Er soll nur so weitermachen! Das ist ja ein prächtiger Mensch. Du sollst mal sehen, das ,Mädchen mit der Katze’ landet eines Tages auch noch bei ihm.“ „Das sollte mir schon recht sein. Aber, Katrin, ich muß jetzt end
lich wieder nach Hause.“ „Nach Hause und Kunst hervorbringen?“ „Nein, nach Hause und den Fußboden scheuern und Staub wi schen, ich habe den ganzen Vormittag an dem ,Fackelträger’ gearbeitet und alles stehen- und liegenlassen. Und außerdem muß ich ein Kleid bügeln, und mein Haar sieht auch furchtbar aus.“ „Na gut. Und ich tauche in die Unterwelt hinab zu meiner persönlichen Form von Kunst. Tschüs, Regina, kommst du übermorgen mal eben vorbei und holst deine Sachen ab?“ „Ja, tausend Dank, Katrin – ich weiß nicht, was ich machen soll te, wenn ich dich nicht hätte!“ „Na eben, nicht wahr? Das sagt Mami auch immer. Du mußt zugeben, daß ich trotz allem eine Art Existenzberechtigung habe. Nun, mein Kind, mach, daß du nach Hause kommst und Staub wischst, und ich werde so lange auf deine Frau und das Mädchen und den Maurer achtgeben, als wären es meine eigenen, teuren Kin der. Wiedersehen!“
Ein unerwarteter Auftrag Die Morgensonne strömte durch das Dachfenster in Reginas Zim mer. Regina war in guter Stimmung. Es war heute so schön, sie freu te sich auf den neuen Tag. Was war eigentlich geschehen? Ach ja, richtig. Das „Füllen“ war verkauft, und Direktor Eimer hatte viel Nettes über ihre Arbeiten gesagt, er hatte sie so gut verstanden – ach, das tat wohl, dergleichen zu hören, wenn man hart arbeitete und wenn man so allein war. Hin und wieder ganz furchtbar allein. Aber heute war alles schön, und jetzt freute sie sich richtig dar auf, an den „Fackelträger“ zu gehen. Vor dem offenen Fenster dehnte und reckte sich das Mädchen und sog die Morgenluft ein. Das konnte man sich erlauben, wenn man ganz oben unterm Dache wohnte, wo von gegenüber niemand hereinschauen konnte. Ja, viel Staat war mit diesem Atelier im Hinterhaus nicht zu ma chen – aber es war billig, und die Lichtverhältnisse waren gut. Und geräumig war es auch. So geräumig, daß sie Ton und Modellierbock und Gips und Werkzeug in der einen Ecke des Raumes für sich ha ben und in dem anderen „wohnen“ konnte. Hier war eine Kochni sche und hier war eine gemütliche Ecke unter dem Schrägdach. Die sen Teil hatte sie mit Sachen aus ihrem Elternhaus möbliert. Mit den paar Dingen, die noch übrig waren. Die meisten waren schon längst in Bargeld umgesetzt worden. Denn es war nicht leicht, sich als Bildhauerin durchs Dasein zu schlagen. Noch dazu als Bildhauerin mit Idealen und „Bockbeinigkeit“ und mit hohen künstlerischen Zielen. Aber bis jetzt war es gegangen. Mit unendlicher Sparsamkeit und einer Fähigkeit, auf alles zu verzichten, was andere Mädchen ihres Alters für lebensnotwendig hielten, auf hübsche Kleider und gute und teure Kosmetik, regelmäßigen Friseurbesuch, viel Ins-KinoLaufen – und viele, viele andere Dinge. Reginas Ansprüche an das Dasein waren mehr als bescheiden. Sie war zufrieden, wenn sie so viel verdiente, daß sie die täglichen Ausgaben decken konnte, daß sie ganz in ihrer Kunst aufgehen durf te ohne störende Sorgen, wie sie das Geld für die Miete und den Strom und Gas und Steuern und Versicherungen zusammenkratzen sollte.
Und für etwas Essen hier und da. Aber mit dieser Frage nahm Regina es nicht allzu genau. Ja, Essen! Im Grunde hatte sie Hunger. Sie mußte doch mal ihre Vorratskammer in Augenschein nehmen. Die Kaffeebüchse war leer. Nun ja, dann trank sie eben Tee. Regina war es ziemlich einerlei. Sie aß, was sich zufällig fand, und im Laufe der Jahre hatte sie sich mit den sonderbarsten Zusammenstellungen abgefunden, wenn Ebbe im Geldbeutel war und sie ihren Essensschrank bis auf den Rest geleert hatte. „Schrankgekratze“ nannte sie es. Brot hatte sie gestern gekauft, ein Klacks Margarine war noch da. Aber die Marmelade war schimmelig – der Käsekanten schwitzte in der Sommerhitze und sah in keiner Weise appetitlich aus. Es war wirklich nicht das erste Mal in ihrem Atelierdasein, daß Regina sich mit Tee, Brot und Margarine zum Morgenfrühstück zufrieden geben mußte. Es war sogar so häufig der Fall, daß sie nicht einmal einen Gedanken daran verschwendete. Sie hatte gerade ihren Tee ausgetrunken, als es an > der Tür klopfte. Nanu? Wer mochte das sein, um neun Uhr morgens? Regina stand zögernd auf. Sie überlegte blitzschnell. Die Stromrechnung war bezahlt, die Steuern waren noch nicht wieder fällig – die Woh nungsmiete wurde nicht vor dem Ersten bezahlt –, nein, etwas Ge fährliches konnte es nicht sein. Regina machte die Tür auf. Draußen stand ein junger Mann und lächelte sie freundlich an. Das Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor. Wo hatte sie diese Au gen schon einmal gesehen – und dies Lächeln? „Fräulein Frank? Verzeihen Sie, daß ich Sie so früh schon störe. Mein Name ist Eimer – Gert Eimer!“ „Ach daher!“ entfuhr es Regina. Er starrte sie erstaunt an. „Was daher?“ Regina lachte. „Ach, die Ähnlichkeit. Ich überlegte nämlich gerade, wo ich Ihre Augen schon einmal gesehen hätte!“ „Ja, ich sehe meinem Vater ähnlich, das weiß ich. Und mein Va ter hat mich auch hergeschickt. Er hat mir das Auto überlassen und mir gesagt, ich sollte herfahren und Sie mit zurückbringen. Er muß Sie unbedingt sprechen!“ „Ihr Vater muß – mich – sprechen!“
„Unbedingt. Gestern nachmittag kam ihm eine Idee, und wenn meinem Vater eine Idee kommt, dann muß sie auch sofort durchge führt werden. Er läutete den Kunsthändler Mortensen an und ließ sich dort Ihre Adresse geben, ich wurde hergeschickt, aber ich kam vor verschlossene Türen…“ „Nein, gestern nachmittag war ich nicht zu Hause“, warf Regina ein. „Und nun wurde ich heute morgen kurzerhand von einem Ku chenteig weggeholt, ob ich wollte oder nicht, und soll Sie also mit bringen. Können Sie abkommen?“ „Ja, natürlich – selbstredend –, aber – was hatten Sie gesagt Kuchenteig?“ „Ganz recht. Der Kuchenteig meines Lebens. Selbst ausgedacht. Ich bin nämlich Konditor, wissen Sie, oder vielmehr, ich werde es. Kommen Sie jetzt – oder haben Sie noch nicht gefrühstückt? Das macht übrigens nichts, Sie können bei uns weiteressen, Sie werden nicht hungrig aus einer Bäckerei und Konditorei weggehen.“ „Ja – nein, nein –, doch, ich bin fertig – muß mir nur eine Jacke anziehen und das Haar ein wenig bürsten –, setzen Sie sich einen Augenblick bitte…“ Es war eine höchst verwirrte kleine Regina, die aus dem nur spär lich ausgestatteten Kleiderschrank schnell eine Jacke hervorholte und sich vor dem kleinen Spiegel das widerspenstige Haar bürstete. Gert Eimer sah sich im Raum um. Seine Augen wanderten zur Arbeitsecke hinüber, zum Gips, zu dem Bock, den Meißeln und Spateln – sie wanderten weiter und blieben an dem kärglichen Früh stückstisch hängen. Der kleine Klecks Margarine, die Teetasse, das winzige Stück Käse, das Brot – das Brot war das einzige, was ver lockend aussah. Er lächelte. Er kannte die Cellophanpackung mit dem Firmenstempel. „Sie dürfen sich nicht umgucken“, sagte Regina, wie um sich zu entschuldigen. „Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.“ „Na, das ist doch klar, wenn ich Sie zu so früher Stunde überfal le. Wir Bäcker sind gräßliche Leute, kann ich Ihnen sagen. Wir ste hen auf, noch lange bevor der allerfrüheste Hahn überhaupt ans Krä hen denkt. Alles nur, damit ihr verwöhnten Kunden eure Semmeln zum Frühstück bekommt! Was also für Sie früher Morgen ist, das ist für mich schon beinahe Mittag. So, nun können wir losfahren!“ Er stand lächelnd dabei und sah zu, wie Regina die Tür hinter ih nen abschloß, und er ließ sie vor sich die Treppe hinuntergehen.
Dann gingen sie nebeneinanderher über den Hof und durch den Tor weg, und da stand auch der Wagen. „Bitte einsteigen!“ lächelte Gert und hielt den Wagenschlag auf. „Haben Sie aber ein schönes Auto!“ sagte Regina. Sie genoß es, sich’s auf dem Sitz bequem zu machen – wie oft hatte sie schon Gelegenheit, Auto zu fahren? „Ich nicht, der Papa hat’s“, lächelte Gert. „Ich hab’ es heute aus nahmsweise leihen dürfen. Sonst muß ich mit dem Roller zufrieden sein. Sitzen Sie gut? Das ist schön.“ „Was in aller Welt will Ihr Vater nur von mir?“ „Tja, das kann er Ihnen wohl am besten selbst sagen. Ich sagte schon, er hat eine Idee und die ist so wichtig, daß er mich von der Arbeit weggeholt hat!“ „Ulkig“, sagte Regina. „Was ist ulkig?“ „Daß Sie davon leben, Kuchen zu backen. Sie backen also wirk lich selber? Wiegen Mehl und Zucker ab und schlagen die Eiweiß und so?“ „Klar tu ich das! Ich habe auch mein Gesellenstück gemacht, jetzt stehe ich kurz vor dem Meister, Sie können sich also vorstellen, daß ich allerhand zu tun habe!“ „Ach, ich dachte…“ Regina unterbrach sich selbst. „Was dachten Sie?“ „Nein – nein, nichts.“ „Doch, doch. Sie dachten, im Grunde bin ich ein ziemlich alter Bäckergeselle.“ Regina wurde rot. „Na, ja, so was Ähnliches dachte ich.“ Gert lenkte das Auto mit sicherer Hand durch den morgendlichen Verkehr. Er nahm nicht die Augen vom Fahrdamm, als er antwortete: „Das hat seinen Grund, sehen Sie. In unserer Familie ist es seit vielen Generationen so gewesen, daß der älteste Sohn als Bäcker und Kon ditor ausgebildet wurde, damit er das Fach von Grund auf kannte. Und weil er selbstverständlich Bäckermeister sein muß, wenn er einmal den Betrieb übernehmen soll. Der nächste Sohn pflegt den kaufmännischen Weg einzuschlagen – und wird ebenfalls gründlich ausgebildet, das können Sie mir glauben –, damit er den geschäftli chen Teil des Betriebes übernehmen kann. Mein Bruder wurde als Bäcker und Konditor ausgebildet. Ich machte Abitur und besuchte
die Handelshochschule, und als ich gerade damit fertig war, starb mein Bruder.“ „Ach, wie schrecklich…“, sagte Regina. „Ja, es war ein harter Schlag, besonders für meinen Vater.“ „Und für Ihre Mutter!“ „Ich habe keine Mutter. Sie starb bei meiner Geburt.“ „Ach…“ „Ja, dann mußte ich versuchen, die Stellung meines Bruders zu übernehmen. Ich machte mich ans Brotbacken und Tortenbacken, und das Komische war, daß mir das zusagte! Ehrlich gesagt, macht es viel mehr Spaß als die trockenen Handelsfächer! Mein Vater freu te sich sehr, daß ich umsattelte. Für die geschäftlichen Angelegenheiten kriegt man immer einen Außenstehenden, aber das Fach selbst ist seit fast zweihundert Jahren vom Vater auf den Sohn vererbt worden, und mein Vater wollte so gern, daß es dabei bliebe.“ „Das heißt also, daß Sie verpflichtet sind, selbst Söhne zu be kommen.“ „Unter allen Umständen! Kein Kronprinz eines regierenden Für stenhauses kann diese Verpflichtung schwerer auf sich lasten fühlen! So, da wären wir!“ Der Wagen hielt vor einem großen Gebäude, das Regina unge zählte Male gesehen hatte, ohne zu ahnen, daß sie selbst etwas damit zu tun bekommen würde. Quer über der Fassade stand in großen, schwungvollen Buchstaben „Eimers Brotfabrik“. „Ich darf wohl vorausgehen?“ Er führte sie die Treppe hinauf, durch einen Gang, nickte hier und da ein paar jungen Stenotypistinnen zu und stand nun vor einer Tür mit einem weißen Schild, auf dem „Büro der Direktion“ stand. „Bist du gerade frei, Papa? Famos! Bitte, hier bringe ich dir Fräu lein Frank! Und bedenken Sie eins, Fräulein Frank, wenn Sie auf meinen Vater einen guten Eindruck machen wollen, dann betiteln Sie ihn nicht Direktor, sondern Bäckermeister!“ Eimer senior erhob sich von seinem Schreibtischsessel. „Fein, daß Sie sich haben entführen lassen, Fräulein Frank. Set zen Sie sich bitte. Und du, du naseweiser Schlingel, du kannst wieder zu deinen Kuchen hinuntergehen.“ „Pfui, Papa, das ist nicht nett von dir. Da habe ich nun meine Ar beit unterbrochen und mich umgezogen und Fräulein Frank abgeholt, und nun kegelst du mich hinaus! Und dabei bin ich ein so braver Junge gewesen und habe kein Wort von deinen Plänen verraten…“
„Na ja, dann bleib nur da, Bengel. Letzten Endes geht es ja auch dich etwas an.“ Regina richtete ihren Blick auf Eimer senior und ließ ihn von da zum Sohne schweifen. Sie lächelte. In des Vaters Stimme lag so ein warmer Ton. Wie er den Sohn liebt! dachte sie. Und des Sohnes Stimme verriet ein großes Vertrauen. Ja, die beiden waren Kameraden. Das sah und hörte man sofort. „Also, Fräulein Frank, zu den Geschäften! Es handelt sich darum, daß wir im Begriff stehen, einen neuen Raum in unserer größten Konditorei einzurichten. Sie wissen sicher, daß wir mehrere Kondi toreien haben.“ Regina nickte lebhaft. „Und die größte davon liegt am Stadtpark. Dort richten wir einen Sonderraum für Nichtraucher ein. Der wird also am meisten von weiblicher Kundschaft aufgesucht, vielleicht hauptsächlich von Müt tern mit Kindern. Wir möchten den Raum so hell und freundlich und so – ja, so weiblich wie möglich einrichten, wenn ich es so ausdrük ken darf. Und so behaglich wie möglich. Unter anderem soll ein großer, offener Kamin hinein, verlockend an kalten Wintertagen, nicht wahr? Und nun kommt Ihre Rolle: Wir haben uns hin und her überlegt, was wir als Schmuck für die Wand über dem Kamin neh men könnten. Und da kam uns plötzlich die Idee, daß ein Fries, eine Reliefreihe aus Keramik gut aussehen würde. Ich saß vor Ihrem ,Fohlen’ und schaute es mir an, dann auch das ,Bärchen’ und das ,Mädchen mit Korb’. Da kam mir nun der Gedanke, daß jemand, der solche Sachen gemacht hat, auch den Fries machen könnte. Was meinen Sie dazu, Fräulein Frank?“ Regina schlug das Herz höher. Ihr wurde so froh zumute – so un endlich froh. Erstens, weil dies ein regelrechter, einträglicher Auftrag war, zweitens, weil er von einem Menschen kam, der ihre Kunst so gut verstand. „Ach ja, Herr Dir… Herr Eimer – dazu – dazu hätte ich riesig große Lust!“ „Sehen Sie, ich weiß, daß Sie Kinder und Tiere machen können. Und gerade auf Kinder und Tiere kommt es mir an. Zeigen Sie mir eine normale Frau, die nicht eine Schwäche für Kinder und Tiere hätte! Wenn Sie also Lust dazu haben, dann fahren wir jetzt gleich zum Stadtpark und sehen uns den Raum einmal an. Sie betrachten sich die Wand, messen sie aus – und dann müssen Sie ein Weilchen
darüber nachdenken, wie Sie das Ganze anlegen wollen. Haben Sie Erfahrung mit Keramik?“ Regina schüttelte den Kopf. „Nein. Aber für das reine Handwerksmäßige kann ich eine erst klassige Hilfe bekommen. Ich kann das Ganze in Ton ausführen, aber zur Unterglasierung und zum zweiten Brand und der äußeren Glasur muß ich Hilfe haben.“ Herr Eimer lächelte. „Was sind Sie für ein ehrliches Menschenkind“, sagte er. „Hätten Sie mir jetzt gesagt, Sie hätten massenhaft Erfahrungen, dann hätte ich das doch gar nicht nachprüfen können!“ Regina sah ihn erstaunt an. „Das wäre dann doch aber eine Lüge gewesen“, sagte sie. „Ganz recht, kleines Fräulein – und es tut einem wohl, daß ein mal jemand nicht lügt. Daß es ihm gar nicht in den Sinn kommt, zu lügen.“ „Denken Sie, Papa hätte ja sagen können, er wollte sich lieber ei nen Künstler suchen, der ein erfahrener Keramiker ist“, sagte Gert. Regina sank das Herz. „Jaja – das – das kann ich natürlich verstehen…“ „Hören Sie doch nicht auf diesen greulichen Spottvogel“, sagte der Ältere. „Wenn Sie Hilfe für das rein Handwerkliche brauchen, so ist das Ihre Sache. Modellieren können Sie, sonst hätte ich Sie nicht kommen lassen. Wollen wir jetzt in die Parkkonditorei fahren?“ „Ich kann euch ja fahren, Papa“, sagte Gert beflissen. „Du meinst wohl, ich hätte meinen Führerschein verloren, was? Aber meinetwegen, dann fahre nur, du hängst ja heute fest wie eine Klette!“ „Findest du das so sonderbar?“ Herrn Eimers Augen fielen auf Regina. Deren Gesicht glühte, um ihren Mund lag ein Lächeln, und die Augen glänzten. „Nein“, sagte Vater Eimer. „Im Grunde finde ich es nicht so son derbar.“
Ein Freund der Regina versteht Regina blinzelte mit den Augen. Es mußte doch noch furchtbar früh sein. Überall war es still. Noch kein Lärm auf der Straße. Sie streckte die Hand nach dem Wecker aus. Halb fünf. Weshalb in aller Welt wurde sie um halb fünf Uhr wach? Sie lag still da und lächelte. Halb fünf. Nun war Gert Eimer seit langem auf. Er stand sicherlich schon in der Backstube. In dem guten Duft von frischgebackenem Brot und warmen Semmeln. Es durchrann sie wohlig. Ach, wie sie heute arbeiten wollte! Sie wollte ja mit den Zeichnungen für die Reliefs zu dem Fries über dem Kamin anfangen! Wie sie sich freute! Der gestrige Tag stand ganz deutlich vor ihrem inneren Auge. Die Vormittagsstunde in der Parkkonditorei. Klar und sachlich hatten die beiden Männer, Vater und Sohn, ihr alles gezeigt und erklärt. Dies sei die Wandfläche. Bitte, hier ein Zollstock. Ob sie nicht selbst messen wolle – oder…? Gert schrieb die Maße für sie auf. Das Licht falle so – ein wenig seitlich. Und die Farben? Nicht zu grell, nicht zu schreiend. Vielleicht etwas matt olivgrün – und ob es wohl möglich wäre, ein tiefes, warmes Rot mit hineinzunehmen? „Das sehen wir uns genauer an, wenn das Ganze in Ton fertig ist“, hatte der Senior gesagt. „Darüber werden wir uns bestimmt einig werden.“ „Wollen Sie ein zusammenhängendes Motiv haben, Herr Ei mer?“ fragte Regina. „Ein Märchenmotiv vielleicht, oder derglei chen?“ „Nein, das hatte ich mir eigentlich nicht gedacht. Es darf ja auch nicht das reinste Kinderzimmer werden. Ich hatte mir eine Reliefrei he vorgestellt, in der jedes einzelne unabhängig für sich steht, inhalt lich meine ich – aber alle sollten sie Kinder und Tiere darstellen.“ Regina nickte lebhaft. „Etwas, das sowohl die Mütter wie die Kinder anspricht, nicht?“ „Ganz recht. Etwas Einfaches und Sauberes, so wie Ihre Sachen immer sind!“ Regina wurde rot vor Freude. „Hallo, da fällt mir was ein!“ sagte Gert. „Ich habe Fräulein
Frank ein Frühstück versprochen, Papa! Du hast mich ja so früh losgeschickt, daß ich das arme Kind mitten aus dem Morgenfrüh stück wegholte!“ „Ja, dann mußt du Fräulein Frank allerdings schadlos halten“, lachte der Vater. „Ich glaube aber, ich muß mich jetzt verabschieden, ich habe ja noch ein bißchen im Büro zu tun. Kannst du Fräulein Frank hinterher nach Hause fahren, Gert?“ „Ich kann doch aber die Straßenbahn nehmen“, sagte Regina. „Kommt nicht in Frage. Nimm du nur den Wagen, Papa, ich habe ja den Roller, ich werde Fräulein Frank schon nach Hause kriegen – wenn man es Ihnen zumuten kann, daß Sie sich hinten auf einen Motorroller setzen, heißt es?“ „Wenn einem niemals schlimmere Dinge zugemutet würden!“ lachte Regina. Dann ging der Altere, nachdem er Regina versichert hatte, daß er auf die Entwürfe sehr gespannt sei. Und Gert führte sie an einen Tisch in einer friedlichen Ecke des Cafés, das bis jetzt noch ziemlich leer war. „Der Betrieb geht erst in ungefähr einer Stunde los“, erklärte Gert, „wenn die Damen mit allen ihren Einkäufen fertig sind und dann Kaffeedurst bekommen. Aber jetzt sind wir kaffeedurstig, nicht wahr? Einen Augenblick, bitte, hier ist was zu lesen – der Ober kommt sofort!“ Es dauerte nicht lange, bis er wieder zurück war, ein großes Ta blett mit Kaffeekanne und einer Platte mit belegten Semmeln in den Händen tragend. „Ganz frisch von der kalten Mamsell!“ versicherte Gert. „Und frisch gebacken, dafür stehe ich ein! Es gehört sich vielleicht nicht, daß der Kellner mit einem hochgeehrten Gast zusammen Kaffee trinkt, aber ich habe nun zufällig mal Durst auf Kaffee!“ Und das hatte Regina auch. Dies zweite Frühstück schmeckte ihr unglaublich gut. „War das nun nicht eine famose Idee von Papa?“ Er lächelte sie an und begegnete ihren Augen über dem Rande der Tasse. „Doch. Ich finde sie natürlich famos.“ Sie biß in eine Semmel, dachte ein wenig nach und lächelte. „Was haben Sie für einen reizenden Vater! Er ist so – so – gü tig!“ „So, das haben Sie auch schon gemerkt? Ja, er ist gütig. Aber er ist auch ein tüchtiger Geschäftsmann. Und kann ein sehr strenger
Chef sein!“ „Das wird auch nötig sein.“ „Ach ja. Das ist es. Aber unsere Leute mögen ihn alle. Sie sind jahrelang bei uns, jahrzehntelang – sie bleiben, bis sie pensioniert werden. Und das ist ja eine gute Empfehlung für uns.“ „Mich freut es ganz, ganz furchtbar, daß er gerade mir den Auf trag gegeben hat, wo ich doch noch so rein gar nichts bin!“ „Meine Güte, seien Sie nun bloß nicht zu bescheiden. Ich bin sel ber begeistert von diesen Tonfiguren, mit denen…“ „… mit denen Ihr Vater das Haus anfüllt!“ „Ach, das ist noch längst nicht voll. Wir haben noch für viel mehr Platz! Machen Sie was recht Hübsches, dann kaufe ich auch von Ihnen. Vielleicht etwas für Papas Geburtstag!“ „Lassen Sie nun Ihr gutes Herz nicht durchgehen!“ Gert stellte die Tasse hin, und mit einem Male schaute er sie ernst und eindringlich an. „Sagen Sie doch nicht solchen Unsinn. Das hat doch nichts mit gutem Herzen zu tun. Ihre kleinen Figuren – sie sagen mir so viel!“ Er fuhr mit zwei Fingern über den Henkel der Kaffeetasse, zog die Stirne kraus und dachte nach, bevor er weitersprach. „Ich sitze da und versuche, etwas auszudrücken, was ich bisher im Grunde nie versucht habe, in Worten zu sagen. Etwas über Ihre Kunst. Ich weiß nicht, ob Sie begreifen, was ich meine, wenn ich sage, daß diese Kunst so – so ehrlich ist! Es ist etwas so Reines an ihr – so – so Of fenes – , so ganz aus einem Guß – es macht ganz den Eindruck, als gäben Sie sich immer selber, ohne jeglichen Kompromiß, ohne sich um den Geschmack der anderen zu kümmern. Sie gehen Ihre eigenen Wege und pfeifen darauf, was das Publikum eventuell sagt und mag und sich wünscht.“ „Stellen Sie Ihre Tasse weg!“ sagte Regina. „Tasse? Wieso?“ Er tat es und wandte sich zu Regina um. Ihre Augen waren wieder auf ihn gerichtet, und sie hatten einen unbeschreiblichen Ausdruck. „Aber liebes Fräulein Frank, habe ich etwas Verkehrtes gesagt? Habe ich Sie verletzt?“ Sie schüttelte den Kopf, schluckte, biß sich auf die Lippe und lä chelte. Dann nahm sie seine Hand. „Ich bat Sie, die Tasse wegzustellen, weil ich – ich mußte Ihre Hand drücken – , noch nie hat mir ein Mensch etwas gesagt, worüber ich mich so gefreut habe – , noch nie hat ein Mensch mich so gut
begriffen – und – und das tut einem so gut, wenn man so furchtbar zu kämpfen hat.“ Er hielt ihre beiden Hände in seinen. Seine Augen blickten auf das zitternde kleine Gesicht, in die blanken, grünlichgrauen Augen. „Wissen Sie, was ich glaube, Fräulein Frank? Ich glaube eigent lich, wir haben einander eine ganze Menge zu sagen. Hier ist nur jetzt nicht die Zeit und der Ort dazu. Wollen wir mal einen Tag aus machen, an dem wir zusammenkommen und uns ein Weilchen in Ruhe unterhalten? Wenn wir beide Zeit haben?“ Reginas Augen waren offen und ehrlich und voll unverhohlener Freude. „Ja, furchtbar gern!“ „Ich mache gewöhnlich um zwölf Uhr Feierabend, bin ja schon so früh auf. Wenn ich nun einen Tag mal ein paar besonders gute Semmeln in die Radtasche steckte und Sie kurz nach zwölf abholte, würden Sie dann mit mir ‘rausfahren? Wir könnten an den Strand fahren oder in den Wald und auf einem Baumstamm sitzen und Semmeln essen und uns vernünftig unterhalten und – und uns ken nenlernen?“ In Reginas Wangen stieg eine feine Röte, und ihr schlug das Herz. „Ja“, sagte sie. Dann lächelte sie glücklich über das ganze Ge sicht und sah ihm gerade in die Augen. „Du liebe Zeit, wie freue ich mich, daß ich gestern Ihren Vater im Geschäft kennengelernt habe!“ „Ich auch“, sagte Gert Eimer. „Kommen Sie, ich fahre Sie jetzt nach Hause!“ Sie ging mit ihm auf den Hof hinaus. Dort stand ein rotlackierter Motorroller. „Wie himmlisch!“ sagte Regina. „Halten Sie sich an meinen Schultern fest“, sagte Gert. Regina legte ihre Hände auf seine Schultern. Er drehte den Kopf und lächelte. „Fester!“ sagte er… Und am nächsten Morgen erwachte Regina also um halb fünf Uhr. Um sechs saß sie über den Zeichentisch gebeugt und zeichnete mit glühenden Wangen. Die Ideen sprudelten aus ihr heraus, der Stift fügte sich gehorsam ihren Wünschen. Klare, einfache Figuren ent standen auf dem Papier, weiche kleine Kindergestalten, anmutige
Tierleiber – noch nie hatte die Arbeit sie so erfüllt wie jetzt. „Ich glaube, wir haben uns eine ganze Menge zu sagen – würden Sie sich mal mit mir unterhalten“, diese Worte sangen in ihr, sie waren es, die sie anfeuerten, so daß sie arbeitete wie nie zuvor. Ja, mit ihr war gestern etwas vor sich gegangen. Etwas Großes und Schönes – etwas so Wunderbares… Regina sah auf die Uhr. Schon nach zehn! Vier Stunden hatte sie gearbeitet. Sie stand auf und reckte sich. Sie mußte mit Katrin über diese Sache reden. Mußte sich ihre Hilfe zum Brennen und Färben sichern. Mußte ihr soviel wie möglich von der Technik mit der Keramik abgucken. Aber jetzt – nein, jetzt nicht! Wenn sie jetzt zu Katrin ging, dann konnte sie bis zwölf nicht wieder daheim sein. Und dann wollte sie zu Hause sein. Unter allen Umständen. Denn es könnte sein… Aber sie könnte hinuntergehen und Milch und Kaffee besorgen, dann war das getan, und dann konnte sie heute nachmittag zu Katrin gehen. Vom Kirchturm hallten zwölf Schläge zum offenen Dachfenster herein. Regina lauschte. Dann lächelte sie und schüttelte über sich selbst den Kopf. In diesem Augenblick zog er den weißen Kittel aus – dann mußte er den Roller holen –, und bis hier heraus brauchte er sicher eine Viertelstunde, sie wohnte ja so weit draußen am Stadt rand. Ihre Augen wanderten zum Wecker. Der tickte und tickte, der große Zeiger rückte langsam weiter von Strich zu Strich. „Unfug, Regina“, sagte sie streng zu sich selbst. „Er hat gar nichts davon ‘gesagt, daß er heute kommen würde. Einen Tag mal, sagte er, an irgendeinem Tag. Vielleicht morgen oder übermorgen oder in der nächsten Woche.“ Das Herz hüpfte ihr bis in den Hals, als es an die Tür pochte. Und die Röte schoß ihr in die Wangen, als sie aufmachte und er draußen stand. „Mittagspause, Fräulein Frank! Kommen Sie mit in die Sonne?“ „Ja, furchtbar gern…“ „Ich bin hungrig wie ein Wolf. Seit heute morgen um vier habe ich gearbeitet!“ „Und ich bin seit halb fünf Uhr wach!“ „Halb fünf? Da habe ich gerade an Sie gedacht. Denn da nahm ich ein großes Blech mit unseren allerfeinsten Frühstückssemmeln
aus dem Ofen und schaffte gleich erst mal zehn Stück auf die Seite. Die liegen in meiner Tasche!“ „Oh, und ich freue mich! Jetzt komme ich!“ Gert trat ins Zimmer und blieb am Zeichentisch stehen. „Sieh mal einer an! Das sind sicher die Entwürfe für unsere Re liefs?“ „Ja, ganz recht. Werden Sie draus klug?“ „Ach ja, einigermaßen wohl. Das Kälbchen hier ist entzückend. Und das Kind mit den Blumen. O ja, so etwa hatte mein Vater es sich bestimmt vorgestellt.“ „Und Sie hoffentlich auch!“ „Unbedingt. Aber…“, er schaute verstohlen zu ihr hinüber, und plötzlich faßte er sie um beide Schultern. „Ich glaube wahrhaftig, ich wäre von allem begeistert gewesen, was Sie gemacht hätten, Regina. Denn wissen Sie, ich bin – ich bin ganz einfach…“, er lachte und verbesserte sich selbst: „Ich meine – ich habe Sie so ganz furchtbar gern!“ „Und ich Sie!“ sagte Regina. Ihre Stimme klang fast kindlich ver trauensvoll… Der rote Motorroller ließ die Stadt schnell hinter sich. Die Sonne glühte, und Regina war froh, daß ihr beim Fahren der Wind um das Gesicht wehte. Sonst wäre es unerträglich heiß gewesen. „So!“ sagte Gert und verlangsamte die Geschwindigkeit. Auf der einen Seite der Straße zog sich Wald hin. Und zweihun dert Meter etwa von der Straße entfernt lag eine Lichtung, wo Sonne und Schatten auf dem grünen Gras spielten und sich ablösten. Eimer breitete eine Decke auf dem Boden aus. „Kommen Sie!“ Sie setzte sich neben ihn. „Nun erzählen Sie mal: woher kommen Sie? Wo wurden Sie ausgebildet? Ich möchte alles von Ihnen wissen!“ „Ich stamme aus Hamburg. Mein Vater starb, als ich sechzehn war; meine Mutter verlor ich, als ich neunzehn wurde. Damals war ich auf der Kunstakademie in Kopenhagen. Danach studierte ich weiter, bis mein Geld alle war – oder wenigstens fast. Dann fuhr ich wieder heim und hatte unglaubliches Glück, denn ich bekam zwei Dinge, die ich nötig brauchte: Ein Atelier und eine Vertretung als Zeichenlehrerin in einer Schule – ja, und das ist alles. Damals be gann ich ernstlich zu arbeiten.“ „Und wie kamen Sie ausgerechnet nach Kopenhagen?“
„Eine Erbtante ist schuld daran, Tante Regina, von der ich auch den Namen habe. Sie lebt in Kopenhagen und starb gerade, als ich Geld für meine Ausbildung brauchte. Es war ihr Wunsch, daß ich in Kopenhagen studierte und diesen Wunsch habe ich auch nach ihrem Tod respektiert.“ „Es muß doch gar nicht einfach sein, sich als Bildhauerin durch zuschlagen.“ Sie richtete abermals den Blick auf ihn, die Augen waren uner gründlich. „Ja, das kann man wohl behaupten.“ „Gibt es denn manchmal irgendeinen größeren Auftrag, ich mei ne, so einen, wie den von meinem Vater?“ Sie schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht. Ich habe ein paar Porträtbüsten gemacht, sonst schlage ich mich mit den gelegentlichen Vertretungen als Zeichen lehrerin und meinen kleinen Figuren durch. Nächstes Jahr muß ich mich wieder nach einer Vertretung umgucken.“ „Und mit den Figuren sind Sie also bockbeinig, sagte mein Va ter!“ Regina richtete sich gerade. „Ja, ich bin bockbeinig! Störrisch wie ein Esel! Und ich habe auch nicht die Absicht, mich zu ändern! Ich habe keine Lust, billigen und leicht verkäuflichen Plunder zu machen! Ich will nicht Massen artikel fabrizieren! Ich will Kunst machen und nicht – nicht…“ „Kitsch, meinen Sie?“ „Ja, es ist genau das, was ich meine. Ich will nicht!“ „Auch wenn Sie sich dabei wirtschaftlich viel besser stünden?“ „Nichts wäre einfacher als das. Ich habe eine Freundin, die macht es so. Wir haben uns auf der Akademie kennengelernt. Sie wollte ursprünglich nur ein Semester in Kopenhagen studieren und blieb dann mir zuliebe die ganze Zeit dort. Sie ist ein prachtvoller Kame rad und hat das beste Herz von der Welt. Aber die Kunst hat sie an den Nagel gehängt, obwohl sie große Gaben hatte. Sie hat eine Ke ramikwerkstatt. Sie ist es übrigens, die mir bei dem Relief helfen muß.“ „Aber Fräulein Regina! Keramik kann in hohem Maße Kunst sein!“ „Das weiß ich wohl! Aber Katrin macht keine Kunst. Sie macht fürchterlichen, kitschigen Schmuck aus Keramik, langbeinige Katzen und kugelrunde Elefanten und grauenhafte Blumen, die sich die
Leute um den Hals hängen oder an die Ohren knipsen. Es ist kein Schmuck und es ist nicht Bildhauerei, es ist nichts weiter als ein furchtbares Zugeständnis an den schlechten Geschmack bei einer bestimmten Art von Menschen. Selbst etwas so Sinnloses wie Kera mikschmuck kann natürlich sehr hübsch gemacht werden, aber das tut Katrin nicht. Sie macht ihn so, daß er verkäuflich ist, und damit verdient sie Geld wie Heu. Ja, Sie finden es gewiß gemein, daß ich so häßlich von einer Freundin rede, aber ich sage ihr genau dasselbe ins Gesicht, was ich über sie sage, und sie gibt auch zu, daß ich recht habe. Nur – sie will Geld verdienen.“ „Und das wollen Sie nicht?“ „Sicher möchte ich das auch. Aber man verkauft seine Seele nicht um Geld. Man verkauft nicht seine Ideale um Geld. Ich tue es jedenfalls nicht. Ich lasse nicht mit mir handeln!“ „Um Ihr künstlerisches Gewissen, meinen Sie.“ „Ja, das meine ich.“ Er nickte vor sich hin. „Alle Achtung, Regina!“ Da lächelte sie, und es war ein befreites, ehrliches Lächeln. „Nun verstehe ich“, sagte Gert langsam. „Nun verstehe ich, war um Sie gestern meine Hand drücken wollten. Was ich über Ihre Kunst sagte, war ja ins Schwarze getroffen.“ „Es war so sehr ins Schwarze getroffen, daß es beinahe weh tat. So sehr, daß ich heulen mußte. Es ist so unglaublich, daß man plötz lich einem Menschen begegnet, der einen so bis auf den Grund be greift.“ Er legte den Arm um ihre Schultern. „Seltsames kleines Mädel.“ Sonnen- und Schattenflecke tanzten auf dem Grase und auf ihren Gesichtern, wenn der Sommerwind durch das Birkenlaub fuhr. Die Insekten summten, es war Sommer. „Wissen Sie, Regina“, sagte Gert langsam, „dieser Augenblick jetzt – der hat etwas an sich, was gut zu Ihnen paßt.“ „Was meinen Sie damit?“ „Hier sitzen wir, zwei Menschen, die eine unbegreifliche Sympa thie füreinander fühlen, nicht wahr, das stimmt doch? Von Ihrem Leben weiß ich wenig. Aber ich für meine Person, ich habe schon manches junge Mädchen geküßt, und kenne genau diese atemberau bende Spannung, Mondschein oder ein Abend mit Tanz und Alkohol oder eine Schummerstunde vorm Kamin. Immer etwas mit Abend
und Dunkelheit und einem Glas Wein. Aber Sie, Regina, Sie sitzen hier mit Ihren ehrlichen Augen und Ihrer ehrlichen Gesinnung, mit ten in der hellen, klaren Sonne – und die darf uns ruhig sehen, sie darf getrost auf uns niederscheinen, auf dich und mich, Regina.“ Sein Gesicht neigte sich über das ihre, und er küßte sie unter dem blauen Sommerhimmel.
Zwei Überraschungen an einem Tag „Ach, Regina! Wie mich das freut!“ Katrins Augen leuchteten, und sie preßte Reginas Hände. „Wie herrlich ist das alles! Klar, daß ich dir mit dem Brand und mit dem Färben helfe. Was glaubst du, wozu du mich hast? Du kannst auch hin und wieder ein Stündchen mit Birgit zusammen arbeiten, so kommst du wieder ein bißchen in die Technik ‘rein.“ „Ja, weißt du, ich habe das seit Kopenhagen nicht mehr gemacht. Man vergißt so schnell, wenn man nicht in Übung bleibt.“ „Wir werden deinem Gedächtnis schon nachhelfen, mein Lieb ling. Möchtest du was essen? Hast du heute mittag gegessen?“ „Hm, ja und nein.“ „Aha, Butterbrot und ein weiches Ei auf dem Zeichentisch. Ich kenne dich.“ „O nein, haufenweise Semmeln mit dicker Butter und mit Schin ken und Wurst und italienischem Salat und…“ „Hast du geerbt?“ „Gar nicht. Aber ich kenne doch eine Brotfabrik!“ „Aha, jetzt geht mir ein Licht auf. Du hast wirklich Dusel! Aber eine Tasse Tee trinkst du immerhin? Mami wurstelt schon in der Küche, sie kennt ihre Tochter; wenn es auf halb vier geht, dann ist der Teedurst nicht mehr zu bändigen. Warte mal, schau dir deine Kunstwerke an – der Brand ist besonders fein, sag selbst, ob ich deine Figuren nicht gut behandle?“ Katrin holte die drei kleinen Figuren von einem Wandbord herunter. Sie hatte recht. Der Brand war untadelig. „Du behandelst mich auch gut. Überhaupt alle – nur dich selbst nicht.“ „Fang jetzt bloß nicht wieder an, du Quengelliese. Komm, wir wollen die Figuren in den Korb packen, dann kannst du damit gleich von hier aus zu Mortensen fahren. Ist ja möglich, daß die auch bei Herrn Eimer landen. Hast du übrigens inzwischen auch seinen Sohn kennengelernt, der, von dem ich erzählte…?“ „Ja“, sagte Regina. Beim Ton ihrer Stimme blickte Katrin von den Figuren hoch. „Aha!“ sagte sie. „Mir schwant etwas! Erzähl mal! Mir war doch die ganze Zeit so, als liege so irgendwie ein – ja, wie nennt man das doch gleich – ein ,Schimmer der Verklärung’ über dir. Also, wie ist
er? Aufregend?“ Reginas Blick wurde ganz fern. „Nein“, sagte sie zögernd. „Nicht, was du aufregend nennen würdest. Aber er ist – er ist…“ „Na, was?“ „Er ist so ehrlich“, sagte Regina schließlich. Sie fand keinen bes seren Ausdruck für das, was sie meinte. „Das ist nun wirklich nicht die schlechteste Eigenschaft an einem Menschen. Erzähl noch ‘n bißchen!“ „Da ist gar nichts weiter zu erzählen – noch nicht…“, sagte Re gina. „Noch nicht, ist gut!“ „Katrin, ich kenne ihn doch erst seit gestern!“ „Ach ja, richtig! Nein, weißt du, dann frage ich nicht weiter. Dann bist du noch nicht in einem Stadium, daß du etwas zu erzählen hast. Aber warte nur! Wenn die Sache sich erst ein bißchen entwik kelt hat, dann mußt du beichten! Und heute warst du also mit ihm aus?“ „Ja…“ „Ich gönne es dir – ach, Regina, wem gönnte ich es mehr als dir! Ich bekam allmählich schon Angst, daß du bald Schimmel ansetzen würdest. Ich glaube wahrhaftig, du hast jetzt zwei volle Jahre in ungeküßtem Zustand zugebracht.“ Regina lächelte. „Ja, hatte ich auch.“ Katrin lachte hellauf und zeigte alle ihre weißen Zähne. „Ach Regina, wie bist du süß! ,Hatte’, sagtest du. Da ist ein klei ner Unterschied zwischen ,hatte’ und ,habe’! Wie freue ich mich für dich, Regina! Aber nun sei auch vernünftig, Mädchen. Du bist so ehrlich und so geradeaus und so kompromißlos, Regina. Gib dich jetzt nicht so offen ihm gegenüber, daß er dich auswendig kennt, ehe noch eine Woche vergangen ist. Mannsleute müssen ein bißchen in Spannung gehalten werden, höre auf Tante Katrin. Und mach dich ab und zu ein bißchen kostbar, er darf auf keinen Fall das Gefühl be kommen, daß du bei jeder Gelegenheit für ihn da bist. Sei klug, Re gina!“ Regina saß ein Weilchen stumm da. Dann sagte sie leise: „Das ist sicher richtig, Katrin. Nur nicht in diesem Fall. Bei Gert ist das an ders.“ „Ich hoffe, du hast recht“, sagte Katrin. „Aha, da kommt Mami
mit dem Tee! Du, Mami, hast du die Schneiderin erwischt?“ „Nein, sie war nicht zu Hause. Aber das nützt sowieso nichts. In dem Kleid ist ja kein Zentimeter zum Auslassen. Ich begreife nicht, wo du warst, als du das Kleid kauftest!“ „Bei Sörensen und Jensen, Damenkonfektion“, sagte Katrin trok ken. Sie wandte sich zu Regina um. „Du mußt wissen, ich habe die größte Dummheit meines Lebens begangen. Ich sah neulich ein Kleid, es war einfach ein Traum. Und nun stellt sich heraus, daß es ein Alptraum ist. Ich fand es mordsschick, als ich es anprobierte, doch als ich nach Hause kam und es anziehen wollte, da stellte sich heraus, daß ich vergessen hatte, meine Schönheit von hinten zu be wundern. Und so traurig es ist, aber es ist leider nicht zu leugnen, daß meine Rückseite diese Aalhaut nicht zuläßt. Meine Kurven wer den von meinem ewigen Stillsitzen immer runder. Wart mal, ich zeig’ dir den Fehlschuß!“ Katrin verschwand im Nebenzimmer. Sie kam mit einem koral lenroten, ärmellosen Kleid über dem Arm zurück. „Gerts Roller hat die gleiche Farbe!“ fuhr es Regina heraus. „Hat er einen Roller? Dann müßtest du ja, Regina – ach, was bin ich doch für ein riesenhafter Dummkopf! Laß das mit der Schneide rin, Mami, sie kann mit dem Fehlschuß doch nichts anfangen – hier, Regina, du kannst es haben, du hast nirgendwo eine Kurve – , zieh es über, du wirst darin aussehen wie ein Traumgebilde!“ Reginas schwache Proteste hatten keinen Zweck. Sie mußte es anprobieren, und Katrin hatte recht. Sie sah tatsächlich beinahe wie ein Traumgebilde darin aus. „Du hast noch nie so was Hübsches angehabt!“ jauchzte Katrin. „Nicht wahr, Mami?“ Die Mutter nickte erfreut. „Wunderhübsch, Regina. Herrlich, daß das Kleid jetzt noch sei nen Zweck erfüllt. Es wäre zu schade gewesen, wenn es nutzlos im Schrank gehangen hätte.“ Regina versuchte noch einmal zu widersprechen, ließ sich aber nur zu gern überreden. „Es ist doch viel besser, du trägst es, als daß es unbenutzt im Schrank hängt und mich jedesmal ärgert, wenn ich es sehe“, sagte Katrin. Diese Begründung war so schlagend, daß Regina sich fügte. Ihr war glücklich und leicht ums Herz, als sie mit dem säuberlich eingepackten Kleid in die Stadt zurückfuhr.
Zugegeben, Katrin trieb Raubbau mit ihrem Talent – zugegeben, sie machte jeden beliebigen Plunder und Kitsch – um des Geldes willen. Aber ihr Geld verwendete sie jedenfalls dazu, andere Men schen froh zu machen. Und das war wirklich nicht das Schlechteste! Mortensen warf einen Blick über die Brille. „Nun?“ lächelte er, als er sah, daß es Regina war, die vor ihm stand. „Wie geht’s? Bringen Sie mir heute wieder etwas Schönes?“ „Drei kleine Figuren, Herr Mortensen“, erwiderte Regina. Sie packte sie mit behutsamen Händen aus. Mortensen griff nach der „Frau mit Stock“. „Gar nicht übel, Fräulein Frank. Gar nicht übel! Genauer gesagt, ausgesprochen gut! Wann wollen Sie anfangen, Ihre Sachen in Bron ze gießen zu lassen?“ „Wenn ich das große Los gewonnen habe.“ „Soso. Ja, dann müssen wir uns für den Rest Ihres Lebens mit den Terrakotten begnügen.“ Er lächelte und blinzelte verschmitzt. „Nun, hat Direktor Eimer Sie erwischt?“ „Jaja!“ Reginas Augen glänzten. „Wissen Sie, was er von mir wollte?“ „Aber ja. Ich bin im Bilde. Haben Sie den Auftrag bekommen?“ „Na, und ob! Ich sitze schon und zeichne, daß der Bleistift heiß läuft.“ „Ja, Eimer ist wirklich ein großer Bewunderer Ihrer Kunst. Und der Sohn auch.“ „Der Sohn?“ Reginas Herz schlug zum Zerspringen. „Ja, wissen Sie das nicht? Er hat das schönste Stück gekauft, das Sie jemals gemacht haben. Wissen Sie noch, das ,Schlafende Kind’.“ „Und ob ich das noch weiß! Sie haben recht, es ist das Beste, was ich gemacht habe. Sie wollen doch aber nicht etwa behaupten, daß Gert Eimer das gekauft hat?“ „Aber ja, das will ich behaupten, darauf kann ich einen Eid able gen. Ich dachte, ich hätte Ihnen das erzählt…“ „Nein, Sie sagten nur, es wäre verkauft – ich weiß noch genau, an dem Tag waren hier Kunden, und wir konnten nicht viel miteinander reden.“ „Ach so, nun, das weiß ich nicht mehr. Aber er hat es gekauft, er schien geradezu begeistert zu sein. Sonst ist der Vater Ihr getreuer Kunde.“ Regina war nachdenklich geworden. Zerstreut und geistesabwe
send sagte sie Mortensen „Auf Wiedersehen“. Und nachdenklich wanderte sie durch die nachmittäglich stillen Straßen heimwärts in ihr Atelier. Weshalb in aller Welt hatte Gert ihr nicht erzählt, daß er das „Schlafende Kind“ besaß? Dann lächelte Regina über sich selbst. Es war ja das einfachste, ihn zu fragen. Und das wollte sie tun, sobald sich eine Gelegenheit bot. Die Gelegenheit kam am nächsten Tag. Da klopfte es gegen acht Uhr in der Frühe an ihre Tür, und Regi na rannte mit klopfendem Herzen hin und machte auf. Aber es war nicht Gert, der draußen stand. Es war ein Laufjunge mit einem Paket und einem Brief. „Fräulein Frank? Ich sollte das hier abgeben.“ Die Schritte des Jungen verhallten im Treppenhaus. Regina riß den Umschlag auf: „Liebe kleine Regina! Ich kann heute Mittag auf keinen Fall ab kommen, wir haben ein paar Riesenaufträge, die ich ganz allein erledigen muß, und Papa fährt morgen nach Hannover zu einer Sit zung. Ich schicke Dir hier einen kleinen Trost. Es ist natürlich poe sielos, seiner Angebeteten eine Torte zu schicken. Wäre ich Blu menhändler, dann hättest du Orchideen bekommen. Papa fragt, wie weit du mit den Entwürfen bist. Er ist sehr gespannt drauf. Wenn Du findest, Du könntest schon etwas vorzeigen, dann hole ich Dich heute abend gegen sieben Uhr ab. Bei uns beiden, Papa und mir, ist der Tag voll besetzt, aber abends haben wir Zeit. Willst Du bei uns essen? Wenn Papa die Entwürfe anerkennt, kannst Du ja schon mit dem Modellieren anfangen und brauchst nicht zu warten, bis er zu rückkommt. Er bleibt ungefähr eine Woche weg. Hinterher will er nämlich noch nach Düsseldorf und Frankfurt. Also um sieben heute abend – kleine Regina? Ich denke unausgesetzt an Dich. Unser Ausflug gestern war so schön, nicht wahr? Wir werden mit der Zeit noch viele solche schö nen Ausflüge machen… Dein Gert.“ Also heute abend! Regina war so unendlich glücklich. Und dann setzte sie sich wieder an ihren Zeichentisch.
Zwei Glückspilze auf einmal „Endlich!“ sagte Gert. „Endlich?“ „Ja, ich sagte endlich. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich dich gese hen habe – und seit ich…“, er legte die Arme um sie, er zog sie dicht an sich. „Regina, ich bin verliebt in dich, bis über beide Ohren ver liebt. Ich kann nichts dafür.“ Er küßte sie, zärtlich und behutsam. „Kleine Regina. Du bist so zart und klein und fein wie deine ei genen Terrakottafiguren.“ Regina lachte, und ihre Wangen glühten. „Gert! Du komischer Gert. Du bist so – so wunderbar aufrichtig.“ „Du auch. Nun, fahren wir los? Ich habe heute den Wagen. Papa weiß, was sich gehört, wenn eine große Künstlerin abgeholt werden muß.“ „Oder wenn eine Rolle Zeichnungen nicht gedrückt werden darf,“ sagte Regina trocken. Dann saßen sie im Auto – Regina in ihrem feinen, neuen roten Kleid. „Gert – tausend Dank für das große Paket heute morgen – für die wunderbare Torte!“ „Hast du dich darüber gefreut?“ Regina antwortete nicht sogleich. Sie richtete nur den Blick auf ihn und griff nach seiner Hand. Nach einer Pause sagte sie ganz leise: „Und ob ich mich gefreut habe! Über die Torte und noch mehr über deinen Brief.“ Ihre Stimme klang so jung und so zart und so kindlich glücklich. Gert lächelte. „Kleines, sonderbares Ding, du. In deiner Kunst bist du so er wachsen, so reif, und als Mensch so – so jung und treuherzig.“ „Treuherzig? Was meinst du damit?“ „Du bist so himmlisch, so unglaublich verblüffend offen, Regi na.“ „Das bist du aber auch.“ „Das bin ich wohl. Ist es nicht wunderbar, daß ausgerechnet wir zwei einander gefunden haben, Regina?“ Sie strich ihm über die Hand. „O ja, Gert, das ist wunderbar.“
Dann schwiegen sie. Gert mußte vor einer Verkehrsampel war ten, und er warf einen Blick auf Regina, auf den feinen Hals unter dem dunklen Haar, die schlanken, empfindsamen Hände. Er war wie verzaubert von diesem Mädchen. Die Mischung aus einer mutigen, zielbewußten Künstlerin und einem jungen, unerfah renen Menschenkind – die war etwas Neues für ihn, etwas wunder bar Neues. Hier mit Regina zusammenzusitzen, das war genauso, wie wenn man ausruhte und verschnaufte nach einem langen gefähr lichen Weg. „Du, Gert!“ „Ja, Kleines?“ „Weshalb hast du mir nichts davon erzählt, daß du das ,Schlafende Kind’ besitzt?“ Es gab einen kleinen Ruck im Auto, aber nur für einen Augen blick. Er antwortete nicht gleich. „Ja, du besitzt es doch? Ich freute mich so, als Mortensen mir er zählte, daß du es gekauft hättest. Es ist nämlich das Beste, was ich jemals gemacht habe. Weißt du, wenn man so – ja, wenn man gleichsam ein Teil von sich selbst weggibt, dann ist es so schön zu wissen, daß es zu einem Menschen gekommen ist, der Verständnis hat – und am allerschönsten, wenn es zu einem Menschen gekom men ist, den man selbst – eh, gern hat – oder mit dem man sympathi siert…“ Gert hatte sich gefaßt. Nun lächelte er und schaute von der Seite auf sie nieder. „Nun, Regina? Wie ist es mit der Ehrlichkeit? Was wolltest du eigentlich sagen?“ „Den man gern hat!“ flüsterte Regina und ihre Wangen glühten. Gert wartete noch einen Augenblick, bevor er antwortete. Aber schließlich kam es. „Ich fürchte, ich muß dir sehr weh tun, Regina. Es stimmt, daß ich das ,Schlafende Kind’ gekauft hatte. Aber leider – leider – schon am nächsten Tag ist es heruntergefallen – auf die Steinfliesen vorm Kamin und… und ist entzweigegangen. Leider!“ Regina schluckte. Dann lächelte sie tapfer. „Ja, das habe ich davon, daß ich nie über das Terrakottastadium hinauskomme. Wenn ich mal reich bin, Gert, dann mache ich ein neues ,Schlafendes Kind’ für dich – in Bronze!“ „Du bist mir also nicht böse?“ „Böse? Bist du bei Trost? Ich weiß ja, daß du es nicht mit Ab
sicht hingeworfen hast, du Brabbelkopf!“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann lächelte sie. „Weißt du, was? Ich möchte viel lieber daran denken, daß es bei dir entzweige gangen ist, als daß es vielleicht heil und ganz bei irgend jemandem herumsteht, der es nicht begreift und es nicht schätzen kann!“ „Du bist eine richtige Künstlerseele“, sagte Gert. „So, Regina, da wären wir – du, was ich noch sagen wollte – , sag Papa nichts von dem ,Schlafenden Kind’, ja – ich hatte es für ihn gekauft, weißt du, und ich schäme mich, daß ich so ungeschickt war und das Geschenk kaputtgeworfen habe, noch ehe er es bekommen hatte…“ „Kein Wort werde ich sagen!“ lächelte Regina. Sie nahm die Rol le mit den Zeichnungen vom Rücksitz, und Gert war ihr beim Aus steigen behilflich. Das Haus war nicht übermäßig groß, nicht übertrieben elegant. Aber es war behaglich und wohnlich und zeugte von solidem Wohlstand. Und zweifellos auch davon, daß es nur von Männern bewohnt wurde. Vor dem Kamin im Wohnzimmer lag ein wunderschöner Aireda leterrier. Der stand auf und wedelte glücklich mit dem Schwanz, als Gert hereinkam. „Ja, Bonnie ist die einzige Dame hier im Hause“, lächelte Gert und strich dem Hund über den Kopf. „Außer der Hausgehilfin natür lich. – Nimm Platz, Regina, ich sage Papa Bescheid.“ Regina setzte sich. Bonnie kam zu ihr hin, sah sie prüfend an und legte den Kopf auf ihre Knie. Regina streichelte sie. Was für ein wunderschönes Tier! Das würde sie gern mal modellieren… Sie sah sich um. Das Zimmer war groß und hell, sauber und auf geräumt. Und trotzdem – es fehlte irgend etwas. In dem großen Süd fenster müßten mehr Pflanzen stehen – viel, viel mehr! Und eine Vase mit Blumen auf dem Tisch, eine schöne Schale mit Früchten würden dem Raum mehr Leben verliehen haben – jene kleinen Zei chen, die von der Fürsorglichkeit und Umsicht und liebevollen Hand einer Frau erzählt hätten. Ja, hier fehlte die Atmosphäre einer Haus frau. Mit einem Male schoß Regina die Röte in die Wangen. Saß sie etwa da und nahm sich einen Vorschuß – auf einen Gedanken, einen Traum, einen Wunsch für die Zukunft? Da ging die Tür auf. „Guten Abend, guten Abend, Fräulein Frank. Wie nett, daß Sie gekommen sind! Aha, Sie haben also schon mit Bonnie Freundschaft
geschlossen. Das ist ja großartig. Bonnie ist nämlich eine wähleri sche Dame, sie freundet sich nicht so ohne weiteres mit jedem an! Gert sagte mir, Sie hätten die Entwürfe schon fertig? Ich glaube tatsächlich, Sie können hexen!“ Eimer hielt Reginas Hand fest. „Nein, hexen kann ich bestimmt nicht, Herr Eimer, aber diese Aufgabe fesselt mich, und dann kommen die Einfälle leicht – ich habe von morgens bis abends gezeichnet!“ „Das gefällt mir! Wir Eimers gehören selber zu den Leuten, die alles so schnell wie möglich von der Hand haben müssen, wir hassen es, etwas auf die lange Bank zu schieben.“ „Ja, das hat Regina gewiß auch schon entdeckt!“ lächelte Gert. „Junger Mann, mir scheint, du nimmst dir allerlei Freiheiten her aus – hat dir einer erlaubt, Fräulein Frank beim Vornamen zu nen nen?“ „Aber ja. Nicht wahr, Regina, das hast du doch getan?“ Eimer sah vom einen auf den anderen. Zwei Paar Augen glänz ten. Eine feine Röte breitete sich auf zwei jungen Gesichtern aus. Der Vater lächelte. Um seine Augen erschien ein ganzes Netz fröhlicher kleiner Lachfalten. „Soso, aha“, sagte er trocken. „Du scheinst wirklich meine her vorstechendsten Eigenschaften geerbt zu haben, mein Junge, und nie etwas auf die lange Bank zu schieben!“ „Fein, daß du mich verstehst, Papa“, lachte Gert. „So, Regina, würdest du jetzt deine Zeichnungen auspacken?“ Das Geschäftliche war geregelt und in Ordnung. Regina sollte mit dem Modellieren anfangen, sobald sie könnte. Das Honorar, das Eimer senior ihr angeboten hatte, ließ sie vor Freude erglühen. Dann hatten sie zu Abend gegessen, und jetzt saßen sie in dem gemütlichen Herrenzimmer und tranken Kaffee. „Wo haben Sie eigentlich studiert, Fräulein Frank?“ fragte der Vater. „In Kopenhagen, auf der Kunstakademie!“ „In Kopenhagen? Ist die Akademie dort besser als unsere deut schen Kunsthochschulen?“ „Das weiß ich nicht. Aber ich hatte etwas Geld von einer däni schen Tante geerbt – ja, ich hatte nämlich eine dänische Mutter – und da war es für mich ja sehr praktisch, das Geld drüben für die Ausbildung zu verwenden. Außerdem kann ich ganz gut dänisch sprechen.“
„Du Glückspilz!“ sagte Gert. „Kannst du mir dann nicht sagen, was ‚Kopenhagener Gebäck’ auf dänisch heißt – und Berliner Pfannkuchen und Mohnbrötchen und Semmeln?“ „Weshalb willst du das wissen?“ lächelte Regina. „Weil ich aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst nach Kopen hagen gehe.“ „Gert hat nämlich seine ,Wanderjahre’ noch nicht hinter sich“, warf der Vater ein. „Sie wissen wohl, daß er mit der Bäckerei etwas spät angefangen hat. Und wandern muß er – das heißt, nicht gerade wandern, aber in die Welt soll er hinaus, bevor er sich hier als Bäk kermeister niederläßt mit Haus und Frau und Kind!“ „Ich dachte, das mit den ,Wanderjahren’ wurde abgeschafft“, sagte Regina. „Nicht bei uns. In unserer Bäckerfamilie ist das seit vielen Gene rationen so gehalten worden, wissen Sie. Wenn der älteste Sohn seine Gesellenprüfung gemacht hat, mußte er in die Welt hinaus! Nach Kopenhagen und Kopenhagener Gebäck studieren, nach Pa ris…“ „… und Pariser Brot backen?“ lächelte Regina. „Ja, und in die Schweiz und ,Kräpfli’ backen lernen – und natür lich nach Österreich und Linzer Torte und Sachertorte backen.“ „Nach Österreich“, wiederholte Regina. „Jetzt muß ich ,Glückspilz’ sagen!“ „Möchtest du gern nach Österreich?“ „Ja, nach Wien! Dort wohnt nämlich der beste Lehrer der Welt, mein guter alter Professor aus Kopenhagen. Er war einige Jahre dort tätig, aber er ist Ur-Wiener, und jetzt ist er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt und gibt Privatunterricht. Mein lieber, guter, wunder barer Professor Tausing!“ „Vielleicht treffen wir uns dort, Regina! Du mit Tonfingern und ich mit Mehlfingern! Du modellierst Kunst und ich Torten!“ Regina seufzte. „Es ist so weit dorthin, Gert, und so teuer! Für uns an der Was serkante ist es viel leichter, über die Grenze nach Dänemark zu hüp fen, als quer durch halb Europa nach Wien zu fahren.“ „Darum fange ich auch hier oben an und hüpfe erst mal über die Grenze“, lächelte Gert. „Und wenn ich in Kopenhagener Gebäck und dänischem Jargon ausgelernt bin, komme ich zurück und sehe nach, ob du in der Zwischenzeit genügend Geld verdient hast, um nach Wien zu gehen!“
„Du Optimist!“ lächelte Regina. Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Du liebe Zeit, es ist schon spät. Sie wollen doch morgen früh verreisen, Herr Eimer – da ist es besser, ich fahre jetzt nach Hause. Und morgen früh fange ich mit den Reliefs an. Vielleicht sind sie zum Brennen fertig, bis Sie zurückkommen.“ „Und das Färben und so weiter – das überlassen Sie also einer Werkstatt?“ „Ja und nein – ich werde selbst mitmachen, aber meine beste Freundin, Katrin Rhode, muß den größten Teil der Arbeit tun.“ „Katrin Rhode – ach, ist das die mit ,Katrins Keramik’? Soso, das ist Ihre beste Freundin!“ „Ja“, nickte Regina strahlend. „Sie ist die beste Kameradin von der Welt. Immer hilfsbereit, immer fröhlich, immer voller Verständ nis! Ich war übrigens gestern bei ihr, und denken Sie nur, sie hat mir dies Kleid hier geschenkt, war das nicht süß von ihr?“ Regina war so voller Freude und ganz vertieft, daß sie die Blicke der beiden Männer nicht bemerkte. Der eine gerührt, lächelnd, väter lich verständnisvoll, der andere jung und froh und voller Zärtlichkeit. „Kleine aufrichtige Regina!“ „Nun kommst du schon wieder mit deiner Aufrichtigkeit. Was war denn jetzt eben so aufrichtig?“ Gert Eimer antwortete nicht. Warum sollte er? Warum sollte er ihr verraten, daß unter hundert Frauen kaum eine einem Manne sa gen würde: dieses Kleid, mit dem ich mich für dich geschmückt habe, das hat mir eine wohltätige Freundin geschenkt! „Es ist ein Glück, daß Sie für das Technische eine so gute Hilfe haben“, sagte Eimer senior. „Wissen Sie, was? Werden Sie mit dem Modellieren fertig, bevor ich wieder zurück bin, dann fangen Sie nur einfach mit dem Brennen an. Ich bin überzeugt, daß es meinen Wün schen entspricht. Und wenn Sie es gern zeigen wollen, bevor Sie brennen, dann besteht ja eine kleine Hoffnung, daß mein lieber Sohn sich bereit erklärt, einen Blick’ darauf zu werfen.“ „Natürlich, Papa. Alles fürs Geschäft. Und wenn es die größten Opfer sind!“ Gert fuhr Regina nach Hause. „Du, Gert! Weißt du, was? Ich bin fast in deinen Vater verliebt!“ „Ach, das möchte ich mir aber sehr verbeten haben!“ „Red doch nicht! Im Ernst, du hast einen wunderbaren Vater.“ Regina seufzte. „Es ist schrecklich, wenn man keine Eltern hat, Gert.“
„Ja, Mädel, ich verstehe das. Und ich hänge auch sehr an meinem Vater. Wir sind gute Freunde.“ Gert lächelte. „Regina, wer weiß – wir kennen uns ja erst seit wenigen Tagen – und ich bin mit meiner Ausbildung noch nicht fertig – und ich soll noch reisen, bevor ich an eine Frau und ein Heim denken darf –, aber dennoch: Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß mein Vater eines Tages auch dein Vater sein wird!“ Herr Eimer senior war in sein Schlafzimmer hinaufgegangen, um zu packen. Während er Schlafanzug und Hausschuhe, Toilettensachen und Unterwäsche sauber und ordentlich in seinen Koffer legte, während er ein paar Hemden und Schlipse heraussuchte, ging er hin und her und lächelte vor sich hin. Dann nahm er das Bild seiner Frau vom Nachttisches zeigte ein jugendliches Gesicht mit einer Haarfrisur aus den vierziger Jahren. Eimer senior betrachtete das Bild lange. Dann lächelte er und nickte – einmal und noch einmal.
Reginas Traum heißt Wien „Ist das nicht wunderbar für dich, Regina?“ fragte Katrin. Regina lächelte. „Doch, wirklich. Was meinst du übrigens damit?“ „Ja, erstens, daß Herr Eimer mit deinem Fries so sehr zufrieden ist!“ „Ach, das meintest du? Ja, das ist auch wunderbar!“ „Ach, du schreckliches Wesen. Jetzt denkst du natürlich an die Liebe, während ich die Kunst gemeint habe.“ „An die denke ich auch, Katrin. Übrigens ist es verkehrt, wenn du sagst, ,dein Fries’. ,Unser’, mußt du sagen. Wie hätte der ohne dich wohl ausgesehen? Ohne deine Erfahrung und dein Können und deine Hilfe überhaupt?“ „Es gibt noch andere Töpfer in der Welt außer meiner Wenig keit“, lachte Katrin. „Aber es gibt nur eine Regina. Niemand anderer hätte den Fries so machen können!“ Regina lächelte. Sie stand vor dem Bock und arbeitete an dem „Fackelträger“. Katrin saß neben ihr und rauchte eine Zigarette. Sie waren zusammen in der Parkkonditorei gewesen und hatten zugese hen, wie der Fries über dem Kamin angebracht wurde, sie hatten von Eimer senior wie junior Worte des Lobes und des Dankes zu hören bekommen, und sie hatten jede ihren Scheck erhalten, Regina aller dings einen ungleich höheren als Katrin. Aber Katrin war ganz über rascht gewesen, daß sie auch ein Honorar haben sollte. Sie war auf einen Riesenstreit mit Regina vorbereitet gewesen. Sie wollte diese Arbeit gern als einen Freundschaftsdienst be trachtet sehen und keine Bezahlung annehmen – und nun löste der gute, zartfühlende Bäckermeister Eimer das Problem für sie, indem er mit schönster Selbstverständlichkeit Katrin das Ihre zukommen ließ. Regina mußte an Gerts Gesicht denken, als er den Fries in ihrem Atelier fertig gesehen hatte. Seine Augen waren an dem Mittelfeld haftengeblieben. „Aber Regina – das ist ja…“ Regina nickte. „Ja, das ist es. Das ,Schlafende Kind’. Genau das gleiche wie das zerbrochene. Freust du dich nicht? Nun hast du es doch gewisserma ßen wiederbekommen!“
Er hatte ihren Kopf an seine Brust gelegt, sie hatte sein Gesicht nicht sehen können – aber seine Stimme war ganz seltsam heiser und bewegt gewesen. „Liebe, kleine Regina – liebe, kleine Regina…“ Mehr hatte er nicht gesagt. Aber Regina genügte es. Heute war nun der Fries an seinen Platz gekommen, und Regina hatte Katrin mit nach Hause genommen, damit die Freundin sich den „Fackelträger“ ansehen konnte – denn mit dem war auch etwas vor sich gegangen. „Dachtest du vielleicht an den ,Fackelträger’, als du von etwas Wunderbarem sprachst, Katrin?“ „Ja, der war es, offen gestanden. Ist es denn etwa nicht wunder bar?“ „Es ist für mich wie ein Märchen, Katrin.“ Regina trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen, drehte den Modellierbock herum und schabte mit dem Spatel ein klein bißchen Ton von der rechten Schulter des „Fackelträgers“ ab. Als sie weitersprach, klang es, als rede sie mehr zu sich selber. „Kannst du dir denken, was ich empfand, Katrin – als plötzlich drei würdige Herren hier erschienen und fragten, ob sie meinen ,Fackelträger’ sehen könnten? – Und sich dann zunickten und anfin gen, von Bronze und Aufstellen zu reden, und daß das Motiv genau das Richtige wäre – und als ich erfuhr, daß es sich um die Aus schmückung der neuen Schule handelte – und daß ich – ich vielleicht den Auftrag bekäme – daß mein ,Fackelträger’ über dem Eingangs portal angebracht werden sollte – , verstehst du, daß ich mich da selber in den Arm kneifen mußte?“ „Und alles das durch Gert!“ „Ja, weil der Vorsitzende ein Freund von seinem Vater ist, und er ihn auf die Existenz eines halbfertigen ,Fackelträgers’ bei einer un bekannten kleinen Bildhauerin aufmerksam gemacht hat. Und dann traf es sich so unwahrscheinlich günstig, daß die Stadtverwaltung und die Schulverwaltung und wie es nun alles miteinander heißt, gerade dabei waren, Pläne zu machen für die künstlerische Ausge staltung der Schule – na ja, und dann klappte es – , ach, Katrin, wenn du wüßtest, wie schön es ist, so draufloszuarbeiten und zu wissen, daß es eilt, daß die Sache in Bronze gegossen und an einem glänzen den Platz aufgestellt werden soll – daß ich die Arbeit nicht umsonst gemacht habe.“ „Wie sieht dir das ähnlich“, lachte Katrin. „Das Geld erwähnst du
natürlich gar nicht!“ „Aber du darfst mir schon glauben, daß ich mich darauf freue!“ lächelte Regina. „Was willst du damit anfangen?“ Regina ließ die Hand mit dem Spatel einen Augenblick sinken. „Ich weiß noch nicht“, sagte sie langsam. „Was ich am allerliebsten möchte, das kann ich ja nicht tun, alles stehen- und liegenlassen und nach Wien gehen. Es wird wohl so kommen, daß ich nur Wintersa chen kaufe, die brauche ich, Katrin, du ahnst nicht, wie kümmerlich meine Garderobe ist – und dann muß ich Geld für Miete und Strom und Versicherung für einige Monate im voraus beiseite legen, und den Rest zahle ich auf ein Sparkassenbuch ein, der soll den Grund stein legen für den Wiener Fonds.“ „Du willst also nach Wien?“ „Früher oder später auf jeden Fall. Aber gerade wenn – ja, es hängt erstens vom Geld ab, und dann kommt es noch darauf an… es kommt darauf an…“ Katrin lächelte. „Streng dich bloß nicht mit langen Erklärungen an, Herzchen, ich weiß genau, worauf es ankommt.“ Sie blickte die Freundin forschend an und fuhr fort: „Der gute Gert hat Wunder an dir vollbracht, Regi na. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen gesehen, der sich mit solch rasender Geschwindigkeit entwickelt hätte. Weißt du, daß du in ganz wenigen Wochen erwachsen gewor den bist?“ „Wirklich?“ „Ja. Dein Gesichtsausdruck ist fester geworden, du hast ein siche res Auftreten bekommen. Du bist ganz plötzlich als Künstlerin ge reift, Regina! Ich denke an deine wunderhübschen kleinen Terrakot ta-Arbeiten – ganz graziös und fein, aber es lag immer eine – eine gewisse Scheu in ihnen. Aber sieh dir dagegen den ,Fackelträger’ an! Seine Haltung und seine Sicherheit! Ja, Regina, du bist erwachsen geworden, und das hast du deinem Gert zu verdanken.“ „Ich bin ihm auch dankbar“, sagte Regina leise. Sie arbeitete eine Weile weiter. Sie schwiegen beide, bis es an die Tür klopfte. „Ah, das ist Erik. Ja, dann mußt du allerdings verschwinden, Ka trin. Jetzt fängt die ernsthafte Arbeit an.“ Sie öffnete die Tür, während sie das sagte. Draußen stand ein junger Mann von zwanzig Jahren. „Morgen,
Erik. Ich habe Sie schon schwer vermißt. Kommen Sie herein, wir schmeißen nur eben Katrin ‘raus, dann gehen wir gleich an die Ar beit.“ „Ist nicht nötig“, sagte Katrin. „Ich geh’ durchaus freiwillig. Ich hab’ auch gar keine Zeit, dazusitzen und noch weiter zu faulenzen. Ich muß heim und einen Riesenberg von Sternzeichen glasieren. Du solltest bloß mal sehen, wie niedlich der junge Löwe in Kremgelb geworden ist, Regina! Und mein Krebs ist einfach zum Fressen!“ Erik hatte im Nu seinen Platz aufgesucht. Er stellte sich auf die Erhöhung unter dem Dachfenster. Rechtes Bein vor, den Arm in die Luft gestreckt und etwas nach vorne geneigt – Regina berichtigte die Haltung ein wenig, blinzelte abermals, nickte und fing an. „Wenn man wenigstens lesen könnte“, seufzte Erik. „Und gleich ein bißchen arbeiten.“ „Gibt es nicht Vorlesungen auf Schallplatten?“ sagte lachend Re gina. „Dann könnten Sie juristische Vorträge hören, während Sie hier stehen und sich bei mir Ihr täglich Brot verdienen. Lassen Sie nicht gleich den Arm sinken! Ein paar Minuten müssen Sie doch aushalten können.“ „Sie Sklaventreiber“, murmelte Erik. „Ich bin müde wie ein Laufbursche, habe bis zwei Uhr nachts gebüffelt!“ „Armer Junge!“ „Armer Junge hin und armer Junge her. Sie sollten nur wissen, wie ich mich über dies Modellstehen freue! Da kann ich das Seme ster mit einem ganzen Haufen Moneten in der Tasche anfangen.“ „Ja, und wenn Sie schon für den Sommer als Werkstudent arbei ten müssen, dann ist dies immer noch leichter als Mehlsäcke abla den!“ „Och, das weiß ich nun doch nicht. Wenn Sie denken, es ist so leicht, mucksmäuschenstill zu stehen mit dem Arm in der Luft, dann irren Sie sich. Aber natürlich schwitzt man mehr bei den Säcken – das ist ja nun mal so. Kann ich einen Augenblick ausspannen, Sie Tierquäler?“ „Das werden Sie wohl dürfen!“ Regina lächelte. Sie dachte an den Tag, als sie Erik „entdeckt“ hatte. Gert hatte sie in der Fabrik herumgeführt und ihr alles gezeigt. Sie war überall gewesen. Sie hatten den ganzen Backvorgang ver folgt von dem Augenblick an, da das Mehl vom Lager kam, bis end lich die Brote dalagen – Tausende von Broten – , dunkle und helle, Vollkorn und Graubrot, Simonsbrot und Weißbrot, lange und kleine
Brote, alle säuberlich in Cellophan verpackt. Und sie war in der großen Konditorbackstube gewesen, wo junge, weißgekleidete Kon ditoren mit Marzipan und Schlagrahm, mit Obst und Nüssen, mit Gelees und Marmeladen hantierten – sie hatte ganz benommen dage standen und auf die flinken, fleißigen Hände gestarrt. Zuletzt hatte Gert ihr einen Klumpen Marzipanmasse in die Hand gesteckt und sie aufgefordert, eine Plastik anzufertigen, und sie hatte im Handumdre hen ein kleines Tier geformt mit zwei kleinen, krummen Hörnern. „Was in aller Welt – das ist ja ein Schafbock!“ rief Gert aus. „Stimmt! Für deinen Geburtstagskuchen! Du bist ja im Zeichen des Widders geboren!“ lachte Regina. „Donnerwetter!“ sagte Gert. „Du bringst mich auf einen Gedan ken! Hier, Müller, nehmen Sie dies zoologische Wunder und stellen Sie es gut weg, wir wollen nachher darüber reden, ich glaube, Fräu lein Frank hat uns auf einen Gedanken gebracht. Auf alle Fälle muß sie ein Honorar haben; kann ich einen von Ihren Apfelkuchen unter schlagen?“ „Auf Ihre Verantwortung, Herr Eimer!“ lachte der junge Kondi torgeselle und reichte ein ganzes Blech mit Apfelschnitten her, die er soeben mit gespritztem Schlagrahm kunstvoll verziert hatte. Regina bekam auf diesem Rundgang so viele Kostproben, daß sie nudelsatt war, als sie schließlich auf den Hof hinaustraten, wo gerade Säcke mit Mehl von einem großen Lastauto abgeladen wurden. Und hier fielen Reginas Augen auf einen jungen Mann, der oben stand und Säcke auf den Haken des Flaschenzuges hängte. Er war schmal und schlank und kräftig, er arbeitete mit nacktem Oberkörper und gerade eben hob er einen Arm und spannte alle Muskeln. Sie hatte Gerts Arm ergriffen. „Gert! Sieh dir den Jungen da an! Nein, den nicht – ich meine den blonden – ja, da neben dem Flaschenzug – , da steht ja der ,Fackelträger’ leibhaftig! Oh, wenn man doch bloß so ein Modell hätte!“ „Der da – den kenne ich –, der arbeitet bei uns den Sommer über als Werkstudent. Möchtest du, daß ich ihn frage?“ „Geht das denn?“ „Natürlich geht das. Man kann ja schließlich nichts weiter als ein Nein bekommen.“ Aber sie bekamen kein Nein. Erik war mehr als bereit, eine neue Arbeit zu übernehmen, dies war die letzte Woche, die er in der Brot
fabrik arbeitete. O ja, er würde Montag um zehn Uhr vormittags bei Regina erscheinen, Modellstehen war eine Arbeit wie jede andere. Und Erik kam. Jung und munter und sachlich. Nun ging Reginas Arbeit mit Riesenschritten voran. Der „Fackelträger“ hatte bald seine endgültige Form erhalten. Dann mußte er trocknen, dann mußte ein Gipsabdruck gemacht – und dann mußte er zum Bronzegießer gege ben werden. Regina genoß die Arbeit. Sie spürte, wie die Schaffensfreude sie belebte, und es war ihr eigenes, unsagbares Glück, das sie in das junge Gesicht des „Fackelträgers“ hineinlegte. Es war ihre eigene neugewonnene Sicherheit, die dem „Fackelträger“ Kraft und Haltung verlieh. Wie war sie glücklich! Gert hatte Vormittagspause. Er saß mit einer Tasse Kaffee und der Morgenzeitung in Vaters Büro. Diese Pause hatte er verdient, nachdem er so viele Stunden gearbeitet hatte. Noch nie hatte die Arbeit ihm so große Freude gemacht wie jetzt. Alles ging ihm schnell und leicht von der Hand. Er war so voller Munterkeit und Späße, daß seine Arbeitskameraden aus dem Lachen gar nicht herauskamen. „Möcht’ wirklich mal wissen, was augenblicklich in den Junior gefahren ist“, sagte der alte Meister lächelnd zu Eimer senior. „Er reißt alle in seinem brausenden Tempo mit, er verbreitet eine Ar beitsfreude um sie, wie ich ähnliches noch nie erlebt habe – und er macht seine eigene Arbeit gut! Ich glaube tatsächlich, der Bengel ist verliebt!“ Der alte treue Meister war schon bei der Firma gewesen, bevor Gert zur Welt gekommen war. Deshalb konnte er sich diesen reich lich familiären Ton leisten. Der Seniorchef lachte. „Möglich ist es immerhin, Hansen – mög lich ist es durchaus.“ „Ja, dann will ich nur hoffen, er hält an der Verliebtheit fest“, lä chelte Hansen. „Sie scheint eine Kraftquelle zu sein, wie man sie nur selten findet!“ Hansen hatte recht. Nie zuvor hatte Gert sich so glücklich ge fühlt, nie war ihm die Arbeit so leicht von der Hand gegangen. Und alles wegen eines kleinen, schwarzhaarigen Mädchens – mit Ton unter den Nägeln und zwei großen, grünlichgrauen Augen. Ein kleines, aufrichtiges Mädchen hatte ungekünstelt und ohne Falsch ihm sein ganzes Vertrauen, seine ganze reine Seele ge schenkt.
Nie zuvor hatte Gert etwas Ähnliches erlebt. Diese wunderbare Offenheit. Diese Sicherheit, daß sie immer voneinander wußten, wie sie fühlten. Geht mir bloß ab mit dem Gerede, daß in einer Liebesbe ziehung Spannung liegen muß, dachte Gert. Bewußte Schläue und Kniffe, damit der Partner nicht etwa der Sache überdrüssig wurde – nein, pfui Kuckuck! Gert zündete sich eine Zigarette an und nahm die Morgenzeitung zur Hand, überflog die Überschriften. Es war immer das gleiche: resultatlose Verhandlungen und Konferenzen in der Außenpolitik, Raketenstart, Unfälle. Er blätterte um, kam zu den Stadtnachrichten. Und dann sperrte er die Augen weit auf. „In Verbindung mit der geplanten Erweiterung des Stadtparkes im nächsten Jahr ladet die Stadtverwaltung unsere Bildhauer zu einem Wettbewerb für einen künstlerisch gestalteten Trinkbrunnen ein…“ Gert verschlang den Artikel. Ob Regina das gesehen hatte? Zu dumm, daß sie kein Telefon hatte – und wenn er sie recht kannte, so arbeitete sie jetzt an ihrem „Fackelträger“ und schenkte nur dem jungen Erik ab und zu einen Blick, aber nicht irgendwelchen Zeitun gen. Gert fühlte, wie ihm der Gedanke an Erik einen kleinen Stoß in die Herzgrube versetzte. Es mißfiel ihm außerordentlich, daß Regina täglich viele Stunden mit einem bildschönen Mann zubrachte. Dann mußte Gert über sich selbst lachen. Sollte eine Künstlerin nicht etwa ein Modell haben dürfen? Das fehlte gerade! Er schob die Kaffeetasse zurück und stand auf. Ein paar Minuten später brauste der rote Roller quer durch die Stadt. „Du kommst gerade im rechten Augenblick“, lächelte Regina. „Schwänzt du schon wieder die Arbeit, du Taugenichts?“ „Da hab’ ich dich wohl ordentlich überrascht, was? Soll ich mal in den Kleiderschrank gucken, ob du da nicht dein Modell versteckt hast?“ „Ach, das pflege ich in den Wäschekorb zu stecken“, lachte Re gina. „Guck jetzt mal, du. Was meinst du nun?“ Sie nahm die Tücher vom „Fackelträger“ ab. Gert drehte den Bock etwas herum, trat ein paar Schritte zurück, betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten. „Ist er fertig, Regina?“ „Eigentlich ja. Es fehlt noch so der letzte, feinste Schliff, Erik kommt noch morgen und übermorgen, dann brauche ich ihn nicht
mehr.“ „Der ist ganz prachtvoll, Regina. Weißt du, in dieser Arbeit liegt eine – eine Sicherheit…“ „Ein Beweis, daß ich erwachsen geworden bin – ich habe ihm ei ne Haltung zu geben vermocht, die…“ „Kannst du Gedanken lesen?“ „Nein, aber Katrin hat vor ein paar Stunden genau das gleiche gesagt. Wenn ihr beide derselben Meinung seid, dann muß ja was dran sein. Hast du im übrigen etwas auf dem Herzen, Gert? Da du hier so plötzlich mitten in deiner Arbeitszeit hereinschneist?“ „Buchstäblich auf dem Herzen, ja.“ Er zog die Zeitung aus der linken Brusttasche. „Sieh mal, was ich für dich gefunden habe. Ich wette zehn gegen eins, daß du heute noch keine Zeitung angeschaut hast.“ „Gestern und vorgestern auch nicht“, sagte Regina. Sie nahm die Zeitung und las – Gert hatte am Rand rote Striche eingezeichnet. Dann blickte sie zu ihm auf. „Ach Gert – wenn doch…“ „Willst du teilnehmen?“ „Und das fragst du noch?“ „Denk bloß, Regina, wenn du den ersten Preis bekommen wür dest!“ „Ja, stell dir bloß vor! Zehntausend Mark, Gert! Zehntausend Mark!“ „Was würdest du mit dem Geld machen?“ Regina antwortete langsam und zögernd: „Ich weiß es nicht – ich weiß es tatsächlich nicht. Du weißt, Wien ist immer mein Traum – vielleicht würde ich dann nach Wien gehen!“ „Zu deinem Professor?“ „Ja, und in die Museen und in die Oper und in den Stephans dom…“ „Und Schönbrunn! Vor allem Schönbrunn! In das Schloß und den Park mit der Gloriette.“ „Ist das dein Traum?“ „Ja, ich habe mal als Junge einen Film gesehen, der meist in Schönbrunn spielte. Seitdem möchte ich dieses Schloß sehen. Und später ist mir klargeworden, daß Schönbrunn sozusagen der Kern der neueren Geschichte ist. Dort fand der Wiener Kongreß statt, dort lebte Maria Theresia mit ihren sechzehn Kindern. Dort hielt Napole on seinen Einzug, als er auf dem Gipfel seiner Macht stand. Dort
lebte und starb der arme kleine König von Rom. Die bildhübsche Kaiserin Elisabeth hat dort gelebt. Mein Großvater hatte sie einmal zu Pferde gesehen, und er erzählte, wie ihre Ermordung die ganze Welt erschütterte. O ja, Schönbrunn ist wirklich mein Traum, und einmal muß ich dorthin – einmal müssen wir dorthin, Regina. Du und ich!“ Ihre Augen glänzten. „Meinst du das, Gert?“ „Ja, Regina, das meine ich. Einmal! Noch nicht! Du findest si cher, Regina, daß ich ein verschrobener Kerl bin – du weißt doch, wie lieb ich dich habe – , ich habe dich so lieb, so egoistisch lieb, daß ich mit Händen und Füßen diese Zeit festhalte, die wir jetzt erleben. Ich habe auch das Wort Verlobung oder Ehe dir gegenüber kaum einmal erwähnt, Regina. Aber wir wissen ja natürlich beide, daß es einmal dazu kommen wird. Und ich werde platzen vor Stolz, wenn ich dich meinen Freunden vorstelle. – Nur jetzt möchte ich dich so gern noch für mich behalten – noch eine Weile – , verstehst du mich, du lütte Deern?“ Sie legte ihre Arme um seinen Hals und sah ihm in sein Gesicht. „Und du fragst, ob ich dich verstehe, Gert? Das fragst du? Ge nauso empfinde ich es ja auch, aber, Gert – Katrin weiß davon, sie hat es mir angesehen, und du weißt…“ „Ja, Liebste, das hast du mir erzählt. Und Katrin darf es gern er fahren. Bald wird es die ganze Welt erfahren – aber erst wollen wir noch einige Wochen ganz, ganz für uns haben, nicht wahr?“ „Ach ja, Gert!“ „Aber wir sind von Wien abgekommen. – Wer weiß, Regina – wir sollten deinen und meinen Traum miteinander verbinden! Bild hauerkunst und Geschichte in Schönbrunn und Sachertorte in der inneren Stadt.“ „Und Grinzing. Gert! Grinzing möchte ich erleben – mit dir zu sammen!“ „Und den Prater! Karussells und das Riesenrad und die Schieß buden – du hast keine Ahnung, wie tüchtig ich im Scheibenschießen bin! Ich werde dir mächtig imponieren!“ „Und den Stadtpark mit den Pfauen – und das Straßenmonu ment…“ „Und all die Häuser, in denen Beethoven gewohnt hat…“ „Und die Hofburg, Gert! Und die Kaisergräber! Und Belvedere!“ „Du weißt gut in Wien Bescheid, Regina!“ Sie nickte.
„Ja, als ich in Kopenhagen bei Professor Tausing war, hat er im mer mal etwas erzählt. Das machte mich neugierig, und dann kaufte ich mir einen Reiseführer durch Wien. Daher all meine Weisheit.“ „Also, unsere erste Reise geht nach Wien. Das steht fest. Weißt du, Regina, ich habe einen Vorschlag: Ich werde ja demnächst in die weite Welt ziehen – und du wirst vielleicht auch Gelegenheit haben, eine Studienreise zu machen. Aber Regina – wollen wir uns Wien aufheben? Bis wir beide hinfahren können? Bis wir Wien zusammen erleben können?“ „Ja, Gert. Heben wir uns Wien vorläufig auf.“ „Wir sind ja noch jung, Regina! Wir haben noch Zeit! Und wir warten noch ein bißchen. Abgemacht?“ „Abgemacht, Gert!“ Auf dem Rückweg zur Brotfabrik hielt Gert vor der Parkkondito rei an und ging hinein. Der helle, weite Raum für Nichtraucher war fertig. Am Montag würde er für das Publikum eröffnet werden. Gert stellte sich vor den Fries über dem Kamin und betrachtete ihn. Sein Blick blieb auf dem „Schlafenden Kind“ hängen. Gert biß sich auf die Lippe. „Was bin ich bloß für ein Esel!“ murmelte er bei sich. „Ein vollendeter Esel! Nun kannst du sehen, wie du aus dieser Geschichte mit heiler Haut wieder ‘rauskommst, du blöder, tolpatschiger, hirnverbrannter Teigroller!“
Abschied von Gert „Nanu, Katrin! Heute schon wieder in der Stadt?“ „Allerdings. Mami schickt mich zu einem wohltätigen Zweck. Sie steckt mitten in der Einkocherei und ich soll fragen, ob du Himbeermarmelade magst! Bitte schön!“ Ein Zwei-Liter-Glas mit Himbeermarmelade wurde auf den Mo dellierbock gestellt, neben eine Miniaturstatue, die erst in den An fängen war. „Tausend Dank, Katrin. Deine Mami ist rührend.“ „Ja, und einen schönen Gruß soll ich bestellen. Ist der ,Fackelträger’ beim Gießer?“ „Ja. Der Gipsabguß ist wunderbar geworden, und nun ist er beim Bronzegießer.“ „Bist du nicht gespannt?“ „Das kann man wohl sagen!“ „Und was machst du jetzt, du emsige Biene?“ „Einen Wettbewerbsentwurf für die Fontäne im Stadtpark!“ „Na ja. Aus diesem Kloß da werde ich nicht schlau. Gib mir mal die Zeichnung.“ Regina holte eine Zeichenrolle herbei, Katrin rollte sie auseinan der und sah sich die Zeichnungen aufmerksam an. „Das wird was, Regina. Die Kindergestalt ist ganz entzückend. Aber…“ „Was aber?“ „Müßte sie nicht etwas mehr – ja, eine unmittelbare Verbindung mit ihrer Aufgabe haben?“ „Zum Beispiel, indem ich das Wasser aus ihrem Mund sprudeln ließe?“ lachte Regina. „Es muß ja nicht gerade aus dem Mund sein, du Spötter, aber aus den Händen – daß das Kind der durstenden Seele gleichsam mildtä tig anbietet, aus seinen Händen zu trinken…“ Regina schüttelte den Kopf. „Nein. Den Trinkbrunnen stelle ich mir unter der Figur vor, einen Wasserhahn im Sockel also – und die Figur obendrauf, als selbstän diges Kunstwerk. Du weißt, es ist mein Grundsatz…“ „Jaja, ich weiß. Kunst an sich – und nicht zweckgebunden, oder wie du immer sagst – , ein Kunstwerk hat seinen Eigenwert und darf nicht eine praktische Aufgabe erfüllen.“
„Ganz recht. Willst du nicht auch daran teilnehmen, Katrin?“ „Ich? Du bist wohl nicht ganz richtig im Oberstübchen! Sollte ich vielleicht einen Abguß des Sternenzeichens der ,Zwillinge’ einschik ken – in erdbeerfarbener Keramik? Nein. Aber du kannst mir glau ben, die ,Zwillinge’ machen sich nicht schlecht! Seite an Seite als Blusennadel, und als Ohrclips einzeln, ein Zwilling an jedem Ohr!“ „Katrin, du mußt doch selber zugeben, daß das ganze greulich ist.“ „Natürlich ist es greulich. Und nun gehe ich los und streue meine Greuel über die ganze Stadt aus.“ „Wie denn das?“ „Du hast natürlich keine Ahnung, was in der Stadt vorgeht, du bist unmöglich. Du kümmerst dich nur noch um Bildhauerwettbe werbe und frische Brötchen! Also muß ich dir vermutlich erzählen, daß der Sanitätsverein der Frauen Ende August eine Riesentombola abhalten wird. Zum Besten der… ach, du liebes bißchen, wozu war es doch noch?“ „Da kannst du sehen“, lachte Regina. „Du scheinst auch nicht hervorragend im Bilde zu sein.“ „Ach was, ist auch egal“, sagte Katrin. „Jedenfalls, Mami ist Se kretärin des Vereins, das weißt du sicher? Und da man die ganze Stadt gezwungen hat, milde Tombola-Gaben zu spenden, müssen die Mitglieder doch mit gutem Beispiel vorangehen. Also habe ich einen ganzen Korb Sternzeichen opfern müssen. Damit man das unsagbare Glück erleben kann, etwas so künstlerisch Wertvolles zu gewinnen wie ein Paar Ohrclips von ,Katrins Keramik’.“ „Aha, so hängt das zusammen.“ „Genau so! – Also, ich verziehe mich jetzt!“ „Warte noch einen Augenblick, Katrin. Nun hab’ ich doch end lich mal Gelegenheit, deinen ganzen Tierkreis zu sehen. Pack mal aus und gestatte mir, daß ich deine Kunstwerke in Grund und Boden verreiße.“ „Bitte. Aber auf deine Verantwortung! Schau her, hier hast du den ,Wassermann’…“ In Reginas Hand glitt eine kleine, dunkelblaue Figur. Sie sah sie an – und riß die Augen weit auf und sah sie noch ein mal an. „Aber Katrin! Die Idee ist ja wunderbar. Du verdientest wirklich Prügel, daß du dasitzt und dein Talent mit solchem Schund vergeu dest! Denk doch mal, wenn du diesen ,Wassermann’ nun anständig
ausführen würdest…“ „Magst du ihn? Das freut mich!“ „Wie bist du auf die Idee gekommen, ihn als Kuli darzustellen? Wie vorsichtig er seine Eimer trägt mit dem kostbaren frischen Was ser, wie mager er ist – so abgerackert. Und wie ist es dir gelungen, das winzig kleine Gesicht so zu machen, daß es wirklich ein Chine sengesicht geworden ist? Katrin, Katrin, was du alles machen könn test, wenn…“ „… wenn ich Zeit hätte, ich weiß es. Hier sind die ,Fische’, die sind weniger aufregend. Was haben wir da – ach, ist ja gleichgültig mit der Reihenfolge, hier ist der ,Stier’ – , wie gefällt dir der?“ Der „Stier“ war kein Stier, sondern ein harmloses Kälbchen, das nur eben einen Ansatz zu einem Paar Hörner hatte. Der „Steinbock“ war ein weiches und hübsches kleines Zicklein, und der „Löwe“, von dem Regina den Entwurf gesehen hatte, war auch ein Junges. Dann kamen der „Krebs“, die „Waage“ – die ist verflixt langwei lig, meinte Katrin nüchtern – , der „Schütze“ war ein rundlicher kleiner Kerl mit Pfeil und Bogen. – „Wenn er an einen Amor erin nert, verkauft er sich besser“, sagte Katrin mit ihrem ausgeprägten Sinn fürs Praktische. Schließlich hielt Regina die „Jungfrau“ in den Händen. „Katrin“, sagte sie langsam. „Wenn du diese Jungfrau’ hernähmst und eine richtige große Figur daraus machtest, dann… dann…“ „… dann, dann, ja – dann würden die Leute Krämpfe kriegen vor Lachen und zueinander sagen, nun hat die Keramik-Katrin den Grö ßenwahn gekriegt. Aber wie dem auch sei, alles in allem siehst du, sie sind nicht alle gleich schauderhaft. Addio, mein Engelskind, mach zu mit deinem Brunnenkind – ich spuck’ drauf – toi, toi, toi!“ Und Katrin spuckte so gründlich, daß Regina lachend die Figur abwischen mußte, und dann verschwand Katrin die Treppe hinab mit dem großen Korb für die Sanitätsdamen. „Nanu, ist was passiert?“ fragte Regina, kaum daß Gert nachmit tags zur Tür herein war. „Du mit deinen Luchsaugen! Hast du mir das sofort angesehen?“ „Ist doch klar, ‘raus mit der Sprache!“ „Ja, Regina, mit meinen ,Wanderjahren’ wird es jetzt ernst. Ein dänischer Kollege von Papa hält vom nächsten Montag an schon eine Stellung für mich frei.“ „Nächsten Mon… ach Gert, dann reist du ja schon in einer Wo che!“
„Ja, leider, Freitag muß ich fahren. Aber nun laß den Kopf nicht hängen, Regina. Wer hat mir erst kürzlich gesagt, nach Dänemark hinüber wäre nur ein Katzensprung?“ Regina lächelte tapfer. „Ja… ja…. aber dir werden durch deine Kuchen Hände und Füße so sehr gebunden sein, daß es noch die Frage ist, ob du zu diesem Katzensprung Zeit haben wirst. Wo ist übrigens diese Stellung? In Kopenhagen?“ „Ja, bei… bei…. das soll nun einer aussprechen können, diesen Namen hier, sieh mal, du kannst ja dänisch…“ Gert holte einen Brief aus seiner Brieftasche und zeigte ihn Regina. „Kennst du das Unter nehmen?“ „Und ob, Gert! Es ist eine der vornehmsten Konditoreien in Ko penhagen. Ich konnte es mir nie leisten, dorthin zu gehen. Aber ich habe oft vor den Schaufenstern gestanden und mir die Auslagen angesehen, da lief mir das Wasser im Munde zusammen. – Wenn du fortgehst, um dort zu lernen und um neue Ideen zu bekommen, dann ist dies sicher ganz das Richtige für dich.“ „Weißt du was, Regina! Wenn ich nicht Zeit genug habe, ab und zu zum Wochenende herzukommen, dann hast du vielleicht Zeit und Geld, um mal eben nach Kopenhagen zu kommen, ein- oder zwei mal! Und dann sollst du nicht vor dem Schaufenster stehen und die Auslagen betrachten müssen, dann kommst du herein und ißt dich durch mein ganzes Repertoire hindurch!“ Regina lächelte. „Wer weiß, Gert? Vielleicht! Vielleicht! Aber zuallererst einmal muß ich mit meiner Wettbewerbsarbeit fertig werden!“ „Ja, der Wettbewerb! Jetzt will ich mir aber dein Brunnenkind ansehen!“ Gert saß zu Hause an seinem Schreibtisch und machte sich Noti zen. Morgen mußte er noch in die Handelskammer – dann auf die Bank – , übermorgen… er blätterte im Kalender weiter. Übermor gen… was hatte er da aufgeschrieben? Donnerstag… Ein R – nichts weiter als ein großes R. Du lieber Himmel, wenn er das übersehen hätte! Donnerstag war ja Reginas Geburtstag! Welch ein Glück, daß er den Abreisetag nicht eher angesetzt hatte! Welch ein Glück, daß er gerade mit ihr verab redet hatte, am Donnerstag zusammen Abschied zu feiern. Und gerade an diesem Vormittag hatte er gesehen, was er ihr schenken wollte. Es lag beim Juwelier im Schaufenster, auf sahne gelbem Samt.
Eine Halskette aus Jade, von einer wunderbar grünen Farbe. Ein fach und hinreißend schön. Die sollte sie haben, die wollte er ihr um den Hals legen. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Und dann konzentrierte er sich weiter auf die Reisevorbereitungen. „Regina, Regina, mach doch auf! Ich bin es nur!“ Regina sprang aus dem Bett, warf sich im Vorbeigehen den Bademantel über und öffnete die Tür. Es war Katrin. „Gratuliere! Und, bitte schön, dies habe ich nur für dich gemacht, das wird nicht vervielfältigt und verkauft, es ist diesmal kein Kitsch, Regina, und bitte schön, hier sind Blumen aus dem Garten, und von Mami sollte ich dir diese Flaschen mit Saft bringen – es ist roter Johannisbeersaft, schwarzer, du ahnst nicht, wie gut der ist!“ Katrin war morgenfrisch, rosig und ein einziges Lächeln. Mit fröhlichen, geschäftigen Händen packte sie aus, was sie mitgebracht hatte. Regina hielt Katrins Geschenk in der Hand. Es war ein Kaffee service aus Keramik für zwei Personen. Zwei kleine Tassen, zwei Teller, eine kleine Kanne, eine kleine Zuckerschale und Sahnegießer, alles auf einem ganz kleinen Keramiktablett. „Oh, Katrin, wie ist das entzückend!“ „Nicht wahr! Siehst du, ich kann auch, wenn ich nur nicht versu che, zu große Aufgaben zu bewältigen!“ „Aber Katrin, daß du so früh in die Stadt gekommen bist – ich bin geradezu gerührt.“ „Ja, das hoffe ich allerdings auch. Ich war auf, bevor der Teufel die Schuhe anhatte – ja, bevor er sich überhaupt rasiert hatte, schlecht und recht! Du mußt nämlich wissen, ich habe heute nacht gebrannt, und nun hatte ich gerade den Strom abgeschaltet, und wäh rend der Ofen kalt wird, erledige ich diesen frühen Geburtstagsbe such bei dir. Ich muß auf der Stelle wieder loslaufen.“ „Kannst du nicht wenigstens mit mir Kaffee trinken?“ „Ach was, natürlich kann ich das, wenn du ihn im Handumdre hen fertig hast?“ „Du sollst mal sehen, wie schnell das geht! Ich hab’ jetzt einen Schnellkocher, weißt du – den hab’ ich von Gert.“ „Ja, was hast du nicht von ihm bekommen – und was meinst du, was du heute kriegst?“ Regina wurde plötzlich ernst. Sie schluckte und zwang sich dar auf zu einem kleinen Lächeln.
„Ich habe leider das Gefühl, er hat meinen Geburtstag vergessen, jedenfalls hat er ihn nicht erwähnt – aber du weißt ja, er fährt weg, dann ist es ja auch verständlich, daß…“ „Es klopft!“ sagte Katrin. „Ich mach’ eben auf.“ Eine Sekunde später stand Regina da, die Arme voller Rosen. Und ihr Gesicht leuchtete um die Wette mit den Blumen. Mit zitternden Händen öffnete sie den Briefumschlag und las die paar Worte auf der Karte. Und dann verbarg sie ihr strahlendes Ge sicht in dem Strauß. Katrin sah sie lächelnd an. „Sagtest du, ,vergessen’?“ fragte Katrin. „Hallo, Regina – das Kaffeewasser kocht!“ „Ich konnte wirklich nicht eher wegkommen“, sagte Gert, als er gegen Abend erschien. Er war schwer beladen und mußte erst einmal Schachteln und Pakete aus der Hand legen, ehe er Regina in seine Arme nehmen konnte. „Herzlichen Glückwunsch, meine Regina«^ und alles nur erdenklich Gute für das Jahr, das du heute beginnst!“ „Das hast du in der Hand, mein Herr“, lächelte Regina. „Es kommt auf dich allein an, wie glücklich ich sein werde.“ „Wohl nicht auf mich allein? Ein bißchen hängt es wohl auch von Fackelträgern und Trinkbrunnen und klingender Münze und Be rühmtheit ab?“ „Soll ich dir was verraten, Gert? Ich pfeife auf Fackelträger und Trinkbrunnen und Ruhm und Münze, wenn ich nur dich habe!“ Er blickte sie forschend an, sein Gesicht war ernst. „Du machst mir beinahe Angst, Regina. Du bürdest mir in gewis ser Weise eine riesige Verantwortung auf. Der liebe Gott sei mir gnädig, wenn ich dich je enttäusche.“ „Das wirst du nicht tun, Gert!“ „Ach, du kleines Mädchen – was hast du für eine gute Meinung von deinen Mitmenschen!“ „Aber Gert – du hast mich doch lieb!“ „Und ob, Regina! Und wie ich dich liebe…“ „Nun ja, dann gibt es kein Problem“, lachte Regina fröhlich. „So, jetzt will ich gucken, was du mitgebracht hast. Du – die Schachtel sieht spannend aus! Sind das Kuchen?“ „Ja, aber wart mal, du hast dein Geburtstagsgeschenk ja noch gar nicht bekommen…“ „Doch, Gert, die Rosen! Ich habe mich so herzlich gefreut, als sie kamen – tausend Dank!“
„Dreh dich um!“ befahl Gert. „Soll ich mir auch die Augen zuhalten?“ „Das kann nicht schaden. So, ja – nein, stille stehen, Geburts tagskind… zum Donnerwetter noch mal, was ist denn das für ein verzwicktes Schloß – so, jetzt hab’ ich’s. Jetzt kannst du gehen und dich im Spiegel begucken.“ Regina fühlte die kühlen Steine auf ihrer Haut, sie strich darüber, ohne sie sehen zu können. Dann trat sie vor den Spiegel. „Aber , Gert! Nein! Bist du verrückt?“ „Ja, das bin ich. Selbstredend. Aber gefällt sie dir?“ „Ob sie mir gefällt? Ich habe keine Worte…“ „Und nun zu dem Prosaischen!“ lachte Gerd und knipperte den Bindfaden von einer viereckigen Schachtel los, auf der in blauge druckten Buchstaben „Eimers Bäckerei und Konditorei“ stand. Mit tiefer Verbeugung überreichte er den Karton. „Gnädiges Fräulein, darf ich die Ehre haben, Ihnen das erste Ex emplar meiner neuesten Erfindung zu überreichen? Die Sternentorte, auf Bestellung für alle Geburtstage angefertigt – die Idee stammt übrigens ursprünglich von dir, weißt du noch, als du in der Kondito rei standest und einen kleinen , Widder’ aus Marzipan machtest? Bitte sehr, hier hast du einen ,Löwen’ – schau dir an, ob wir nicht ebenso tüchtig sind wie Katrin?“ Regina betrachtete beinahe andächtig die appetitliche Torte. Sie war wie ein siebenzackiger Stern geformt und mit Marzipan überzogen. Mitten auf der Torte ruhte ein goldbrauner Löwe aus gebranntem Zucker. „Nein, Gert – wie wunderhübsch!“ „Nicht wahr? Ich bin auch sehr stolz darauf. Ich habe sie Papa gezeigt, und wenn ich zurückkomme und mein Meisterstück ge macht habe, dann wollen wir die Idee auswerten und Bestellungen auf solche Geburtstagstorten annehmen. Sollten wir Schwierigkeiten haben, die Sternzeichen zu modellieren, dann mußt du uns helfen!“ „Nein, dafür ist Katrin zuständig“, lachte Regina. „Dies ist also erst das Probeexemplar? Dann muß ich mich wohl beeilen und Kaf fee kochen!“ Kurz darauf saßen sie einander gegenüber und tranken Kaffee aus Katrins neuen Keramiktassen und aßen Torte von Katrins Kuchentel lern. „Sie ist wirklich ein Traum, Gert!“ sagte Regina. „Ein richtige« Meisterstück! Verrate mir mal, was in der Torte alles drin ist!“
„Berufsgeheimnis, Regina!“ „Krokant ist drin – und Mokkakrem –, was denn aber sonst noch?“ „Das ist ein Geheimnis, hab’ ich doch gesagt!“ Regina lachte. Sie nahm sich noch ein Stück, dann lächelte sie Gert über den Tisch hinweg an. „Du…“, sagte sie zögernd. „Weißt du – ich – ich dachte fast, du hättest meinen Geburtstag vergessen!“ „Deinen Geburtstag vergessen – wie in aller Welt kamst du nur auf so einen Gedanken!“ „Du hast ihn vorher gar nicht erwähnt. Du hast von dem Ab schiedsabend heute gesprochen – ohne etwas davon zu sagen, daß er ja mit meinem Geburtstag zusammenfiel –, ich dachte also beina he…“ Gert sah lächelnd in ihr schuldbewußtes Gesicht. „Regina, ich werde es dir beichten. Ich hatte ihn vergessen. Hätte ich nicht vor zwei Tagen im Kalender geblättert und das große R gesehen, das ich auf den Donnerstag geschrieben hatte, dann – bist du jetzt enttäuscht von mir, Regina?“ Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Nein, Gert. Ich freue mich nur, daß du so ehrlich bist. Du hättest es mir ja nicht zu beichten brauchen. Aber ich bin froh, daß du es getan hast.“ „Hättest du mir verzeihen können, wenn ich den Tag vergessen hätte, glaubst du?“ „Ja, das hätte ich gekonnt. Ich wäre zwar enttäuscht gewesen, weißt du, und hätte mir selber ein bißchen leid getan – aber verzie hen hätte ich dir ohne weiteres!“ „Du kleine Regina! Gibt es überhaupt irgend etwas, was du mir nicht verzeihen könntest?“ Regina richtete sich auf, blieb grübelnd sitzen. Ihre Hand spielte mit dem Teelöffel. „Ja, es gibt wohl etwas. Ich könnte es dir nicht verzeihen, wenn du mich belügen würdest!“ Gert lehnte sich in die Rückenkissen der Couch zurück, so daß sein Gesicht im Schatten lag. „Das könntest du also nicht? Unter gar keinen Umständen? Nicht einmal eine Notlüge könntest du verzeihen? Eine kleine weiße Lü ge?“ „Es gibt keine weißen und schwarzen Lügen. Lüge ist Lüge!“
„Aber gesetzt den Fall – dies ist nur ein Beispiel, ganz aus der Luft gegriffen – es interessiert mich nur, wie du dich dazu stellst – , gesetzt den Fall, ich könnte dich mit Hilfe einer Lüge vor etwas bewahren, das dir sehr schmerzlich wäre. Würdest du das auch nicht als weiße Lüge ansehen?“ „Ich glaube es nicht. Ich möchte lieber alles mögliche Schmerzli che erleben, als daß du mich belügen würdest.“ Er biß sich auf die Lippe, schwieg und versuchte, in Worte zu kleiden, was er sagen wollte. Regina sah ihn forschend an. „Was ist, Gert? Woran denkst du? Du siehst aus, als wenn du – ja, als hättest du ein schlechtes Gewissen!“ Da lächelte er und schüttelte das Unbehagen ab. „Du kleine Psychologin! Ja, ein winzig kleines bißchen schlech tes Gewissen habe ich auch.“ „Heraus mit der Sprache, Gert, um Himmels willen! Was hast du gesagt, was nicht wahr gewesen ist?“ „So darfst du nicht fragen. Du mußt sagen: Was hast du zu sagen unterlassen?“ „Also, was hast du zu sagen unterlassen?“ Gert erhob sich, ging durch den Raum und in die Ecke, wo der Modellbock stand. Vorsichtig hob er die Tücher von dem „Brunnen kind“. „Schau her, Regina! Versuche nun einmal, Zuschauer zu sein und nicht schaffender Künstler. Sieh das Kind mit neutralen Augen an. Wie gefällt es dir?“ Regina sah ihn fragend an. „Du kannst dir doch denken, daß es mir gefällt, Gert. Ich kann es nicht mit anderen Augen betrachten. Aber du vielleicht? Und du sagtest doch, es gefiele dir.“ „Das tut es auch. Ich finde, es gehört zu dem Schönsten, was du gemacht hast. Aber…“ „Aber? Heraus mit der Sprache endlich, du weißt, daß mir nichts lieber ist, als gerade deine Meinung zu hören!“ „Nun gut. Also, es ist eine wunderhübsche kleine Plastik, so empfunden und so harmonisch, so – so beseelt, wenn du willst. Aber es ist eine Skulptur und keine Brunnenfigur. Das Kind ist ein selb ständiges Wesen ohne die geringste Verbindung mit seiner Aufgabe, Durst zu löschen…“ „Du sagst genau dasselbe wie Katrin!“ rief Regina aus.
„Da siehst du. Deine beiden besten Freunde haben also die glei che Meinung. Und du, mein kleiner Starrkopf?“ „Ja, da bin ich störrisch! Siehst du, Gert, fange ich erst an, die Kunst einem Zweck unterzuordnen, dann ist der Weg zu dem, was du Talmi nennst und Katrin Kitsch, gefährlich kurz. Ich habe zu viele Hunde gesehen, durch deren durchlöcherte Köpfe der Pfeffer rieselte, Katzen, denen der Tee aus den Vorderpfoten herausströmte – Nußknacker, die…“ „Halt, halt jetzt, Regina! Ich spreche nicht von Geschmacklosig keiten, ich spreche von angewandter, von sinnvoll und schön ange wandter Kunst.“ „Aber versteh doch, Gert, Kunst kann man nicht ,anwenden’. Bildende Kunst ist zum Ansehen, nicht für einen Zweck.“ Reginas Stimme klang so todernst, daß Gert ablenkte. Wenn man es recht besah, so durfte es zwischen ihnen nicht zu einem Zwist kommen, und am allerwenigsten an diesem letzten Abend. „Jaja. Da du nun von Ehrlichkeit sprachst – so war es nicht hun dertprozentig ehrlich von mir, als ich sagte, ich sei ganz begeistert von der Brunnenfigur. Es war nur diese – diese Unaufrichtigkeit, die ich aus der Welt schaffen wollte.“ Bei dem Worte „Unaufrichtigkeit“ war es beinahe, als kippe die Stimme leicht über. „Du bist mir schon ein Kauz. Ich möchte doch viel lieber alle Kritik hören, die es zu hören gibt, als daß du mir etwas verschweigen solltest.“ Nun lächelte Gert ebenfalls. „Ja, und außerdem hast du die zäheste Nilpferdhaut, die ein Künstler nur haben kann. Alle Kritik prallt an dir ab, du gehst deinen eigenen Weg, so störrisch wie ein alter Ziegenbock!“ Regina hob den Kopf, und das kleine Mädchen wuchs vor seinen Augen und wurde stark und sicher. „Ja, das tue ich, Gert.“ „Weißt du, im Grunde gefällt mir das an dir. Und als Künstler mußt du tun, was du willst – die Hauptsache ist, daß wir beide als Menschen das gleiche wollen!“ Regina lächelte ihn an, groß und warm und glücklich. „Das wollen wir doch immer, Gert!“ Dann war die Abschiedsstunde da, unwiderruflich. „Gert, du schreibst mir, nicht wahr?“ „Bestimmt, aber, Regina, ich bin ein schlechter Briefschreiber!
Wenn ich mich hinsetze und das Herz ist mir voll und ich möchte tausend Dinge auf dem Papier festhalten, dann streikt die Feder, dann komme ich mir vor wie ein unbeholfener Schuljunge! Ich bin mehr für das Mündliche!“ „Das habe ich gemerkt“, sagte Regina, als er sie im selben Atem zug küßte. „Aber ein paar Worte werde ich wohl immer zusammenkriegen, etwas wirst du also sicher von mir hören.“ Regina lehnte sich gegen seine Schulter, und sie schwiegen beide einen Augenblick. Dann redete Gert von neuem, und seine Stimme klang leise, ganz dicht an ihrem Ohr. „Kleine Regina – es stimmt schon, daß es nur ein Katzensprung nach Dänemark hinüber ist – , aber vielleicht werden wir monatelang voneinander getrennt sein, und darum möchte ich dir doch sagen – ich möchte versuchen, dir zu sagen – , daß – daß ich dich – daß diese Zeit mit dir so schön gewesen ist – und ich danke dir so viele tausend Mal dafür – , du Liebes!“ Regina blickte ängstlich zu ihm auf. „Es – es klingt so feierlich, Gert – , du machst mir Angst!“ „Um Gottes willen, das wollte ich doch nicht. Ich dachte nur dar an, daß wir… in einer unruhigen Welt leben – und man weiß nicht – , es kann immer etwas passieren… und darum wollte ich dir dies gern gesagt haben, bevor ich reise.“ Er drückte ihren Kopf gegen seine Brust, und Regina konnte sein Herz klopfen hören.
Weshalb hast du mich belogen? „Wie schön, daß du kommst! Du hast einen sechsten Sinn, Katrin“, sagte Regina. „Ich weiß. Und darum komme ich auch. Mein sechster Sinn sagte mir nämlich, daß du hier stehst und an deinem Brunnenkind herum fummelst und es mit deinen Tränen begießt. Stimmt’s?“ „Nur zum Teil. Ich habe ein paar Tränen geweint, aber das ist jetzt vorbei. Uff, daß man einen Menschen so sehr liebgewinnen kann, Katrin!“ „Ist das nicht wunderbar, was?“ Regina lächelte. Ihr Blick wurde dunkel und fern. „Doch, Katrin, es ist wunderbar – aber es tut so weh, wenn man sich trennen muß.“ „Ja, und deswegen bin ich gekommen. Du sollst mitkommen in die Stadt!“ „In die Stadt?“ „Ja. Mami hat mich aus dem Hause gejagt. Sie will mich nicht wiedersehen, bevor ich nicht mit einem neuen Kleid und einem Paar anständiger Schuhe ankomme. Ich habe ja nie Zeit, in die Stadt zu gehen, Regina! Aber jetzt hat Mami es verlangt, und ich sollte dich mitnehmen, sagte sie. Du sollst aufpassen, daß ich ein vernünftiges Kleid kaufe und nicht denselben Kohl mache wie mit dem roten.“ „Ich für meine Person preise diesen Kohl!“ lachte Regina. „Also gut, ich komme mit. Will mir bloß den Kohl eben anziehen. Schau mal her, möchtest du nicht meine Geburtstagstorte probieren?“ Sie holte den Rest von der Sternentorte aus dem Küchenschrank. Drei Zacken des Sterns waren noch unberührt, und der kleine golde ne Löwe war noch ganz heil. „Ich glaube wahrhaftig, ich habe Schule gemacht!“ lachte Katrin. „Weißt du, das ist eine köstliche Idee! Schmeckt die ebenso gut, wie sie aussieht?“ „Versuch sie doch mal!“ sagte Regina und stellte ihr einen Teller hin. „Respekt!“ sagte Katrin. „Backen kann er, dein Strolch! Wirst du ihn heiraten, Regina?“ „Ich hoffe. Ich glaube es. Aber bis dahin ist noch lange Zeit…“ „Jaja. Für jemanden, der was Gutes erwartet, ist das Warten im mer lang! Bist du fertig?“ Katrin kratzte die letzten Schlagrahmreste vom Teller herunter
und dann wanderten die Freundinnen in die Stadt – die eine schmal, dunkel und ernst, die andere rundlich, blondgelockt und voller Mun terkeit. Die nächsten Stunden waren mit Farben und Stoffen und Preis schildern und Kleidern angefüllt, bis sie endlich das richtige Kleid für Katrin gefunden hatten. Und nachdem sie auch mit viel Sorgfalt ein Paar Schuhe ausgesucht hatten, und nachdem Regina sich hatte anstecken lassen und ebenfalls ein Paar gekauft hatte, da waren sie am Rande ihrer Kräfte. „Und jetzt“, sagte Regina, „jetzt kann ich dich, dank dem ,Fackelträger’ und dem Keramikfries, zum Kaffee in die Parkkondi torei einladen!“ „Aha, ich weiß schon, was du willst! Du willst dich in die Nähe des Kamins setzen und in der schamlosesten Weise horchen, was die Leute über dein Meisterwerk äußern.“ „Klar will ich das. Willst du das nicht?“ „Natürlich!“ Sie hatten Glück. Dicht beim Kamin war gerade ein Tisch frei. Sie bestellten sich Kaffee und Semmeln, und Regina war schweig sam und weit weg mit ihren Gedanken. Jetzt rollte Gert gen Norden – oder war vielleicht gerade auf der Fähre – und heute abend gegen neunzehn Uhr sollte er in Kopenhagen sein. Lieber Gert – allein und vielleicht ein wenig hilflos in der großen Stadt, von deren Sprache er nicht mehr verstand, als was Regina ihm eingepaukt hatte – , „danke, bitte, ich verstehe kein Dänisch, wo finde ich ein Taxi, was kostet das?“ Mehr auf einmal zu behalten, war Gert nicht möglich gewesen. „Aber mein Chef versteht Deutsch, es wird also schon gehen!“ hatte Gert gesagt und zuversichtlich gelächelt. Katrin saß da und betrachtete abwechselnd die Freundin und den Fries. Ihr Blick blieb an dem „Schlafenden Kind“ im mittleren Feld hängen. Regina hatte ihr erzählt, was für ein Pech Gert mit der klei nen Figur gehabt hatte. Es war auch wirklich jammerschade, dachte Katrin. Sie hatte ja diese Figur für Regina gebrannt, sie wußte noch jede einzelne Linie darin, erinnerte sich, daß sie hatte denken müs sen: Diese Regina, wie kann die modellieren. Und dies ist das Hüb scheste, was sie gemacht hat. Der Kaffee kam. Zwei junge Damen setzten sich an den Neben tisch. Sie bestellten unter vielem Gelächter und vergnügten Reden Tee und Kuchen. „Hier ist es aber hübsch geworden!“ rief die eine. „Möchte doch
wirklich mal wissen, ob dieser Raum Gerts Idee war.“ „Das ist schon möglich. Diese Keramikgeschichte da über dem Kamin, die ist wirklich niedlich. Aber, sieh doch mal – Annette –, sieh mal da in der Mitte – , ist das nicht genau das gleiche Kind, wie du es zu Hause auf der Kommode stehen hast?“ „Welches? Ja, wahrhaftig! Genau das gleiche! ,Schlafendes Kind’ heißt die Figur. Das hab’ ich mal von Gert gekriegt, du weißt doch noch…“ Regina erstarrte. Sie saß regungslos da, horchte mit allen Sinnen, mit jedem Nerv. Katrin saß genauso reglos, mit halboffenem Mund. „Möchte doch wissen, wer das da gemacht hat?“ Die eine von den beiden jungen Damen, die Annette, stand auf und trat an den Fries heran, sie suchte nach der Signatur. „Tatsächlich! R. F. steht da, genau wie auf meinem Kind! Dieser Schurke, der Gert! Da bringt er mir ein Geschenk und sagt, es sei ein Original, und eins, zwei, drei, läßt er’s kopieren! Na, der kriegt das aber von mir zu hören! Wenn ich ihn wiedersehe, meine ich. Er ist gestern für längere Zeit nach Dänemark gegangen. Ich habe ihn gesprochen, kurz ehe er abreiste…“ Den Rest konnte Regina nicht mehr erfassen. Sie hörte Worte, viele Worte wie ein fernes Summen. Ihr Gesicht war totenblaß ge worden. Katrin winkte der Kellnerin und zahlte. Dann legte sie behutsam ihre Hand auf die von Regina. „Komm, Regina!“ Draußen auf der Straße hakte sie sich bei der Freundin unter. Re gina bewegte sich so seltsam marionettenhaft. Katrin warf einen schnellen Blick auf sie. Dann winkte sie ein Taxi heran. Regina ließ alles mit sich geschehen. Sie sprach kein Wort, bis sie oben im Ate lier waren. „Katrin. Er hat mich angelogen!“ „Setz dich mal erst, Regina. Hier hast du eine Zigarette. Versuche nun, dich zu beruhigen. Wir wollen die Dinge einmal durchdenken, bevor wir verdammen!“ „Er hat gelogen! Katrin! Er hat gesagt, die Figur wäre entzweige gangen.“ „Ja, Regina, aber du weißt nicht, weshalb er gelogen hat – viel leicht, weil…“ „Erinnerst du dich – erinnerst du dich, daß du mich fragtest, ob ich den jungen Eimer kennengelernt hätte? Der so viel mit Annette
Krüger zusammen wäre?“ „Ja, Regina – aber ich hatte geglaubt, das wäre seit langem zu Ende…“ „Das glaubte ich auch. Aber du hörtest doch: er hat erst gestern mit ihr gesprochen. Katrin, es ist nicht zu Ende – es ist nicht zu Ende – , und sie hat mein ,Schlafendes Kind’. Und Gert hat gelogen – gelogen!“ Katrin strich ihr sacht übers Haar. Sie kannte Regina. Sie wußte, was eine Lüge für sie bedeutete. Sie kannte Reginas unerbittlichen Anspruch auf Wahrheit. „Regina, hör mal zu! Ich möchte versuchen, etwas für dich zu tun. Ich kann leicht einen Vorwand finden, um Frau Krüger zu besu chen. Sie ist im Sanitätsverein, und ich kann irgendeine Bestellung bei ihr machen für Mami. Dann sperre ich meine Augen auf. Ja, ich werde mich hüten, nach dem ,Schlafenden Kind’ zu fragen, ich wer de schon irgend etwas finden, daß es nicht auffällig wirkt.“ „Was willst du mit all dem erreichen, Katrin?“ „Ich will ‘rauskriegen, ob Annette die Wahrheit gesagt hat. Ich will wissen, ob es vielleicht nicht ein anderes ,Schlafendes Kind’ ist. Ich will es mit meinen eigenen Augen sehen. Soll ich das tun, Regi na?“ Regina richtete den Blick auf die Freundin. Ihre Augen waren schwarz und abgrundtief, sie waren voller Leid. „Ja, danke, Katrin!“ Es war Abend. Regina saß zusammengekauert auf der Couch. Gert hatte gestern mit Annette gesprochen. Kein Wunder, daß er zu ihr, Regina, erst gegen halb acht Uhr kam. So viel zu tun – ja sicher hatte er das! Mit einem Male war es ihr, als hörte sie seine Stimme dicht an ihrem Ohr – hörte die Worte, die er ihr vor vierundzwanzig Stunden zugeflüstert hatte. „Diese Zeit mit dir ist so schön gewesen – und ich danke dir da für…“ Abschiedsworte. „Ich bin nicht tüchtig im Briefschreiben – aber ein paar Worte werde ich schon noch zusammenkriegen…“ O ja, es dürfte wohl auch schwierig sein, an zwei Frauen auf einmal liebevoll zu schreiben! Und sein Ausdruck gestern, als er von der Lüge sprach, von einer
kleinen, weißen Lüge! Weiße Lüge! Weiße Lüge! Diese Lüge war auf jeden Fall nicht weiß. Sie war so schwarz, wie eine Lüge nur sein konnte. Und die Gedanken kreisten und kreisten in Reginas Hirn. Die Stunden verrannen, und sie merkte nicht, daß es Nacht geworden war. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein, auf der Couch zu sammengerollt und voll angekleidet. Sie erwachte bei Sonnenauf gang, weil es sie fror. Am späten Vormittag kam Katrin. Ihr Gesicht war blaß und ernst. Regina schaute sie an, dann nickte sie, langsam. Sie verstand. „Ich sehe es dir an, Katrin. Du bist bei Krügers gewesen.“ „Ja, Regina!“ „Ja, und…“ „Du weißt es ja. Du begreifst es ja. Ich brauchte keine Detektiv künste anzuwenden. Die Hausangestellte führte mich ins Wohnzim mer und dort…“ „… dort stand auf der Kommode das ,Schlafende Kind’.“ „Ja, Regina. Ich war einige Minuten allein im Zimmer und warte te auf Frau Krüger. Und ich ging ganz dicht heran, und – und – ja, da ist kein Zweifel möglich.“ „Ich danke dir, daß du das getan hast, Katrin.“ „Du brauchst dich nicht zu bedanken, Regina. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte, mit Frau Krüger vernünftig zu reden und eine neue Ladung Sternbilder abzuliefern – die hatte ich als Vorwand gebraucht, verstehst du, die Verlosung fängt ja in ein paar Tagen an. Ja, und von da aus kam ich gleich hierher.“ „Du bist so gut, Katrin!“ „Wenn ich es nur sein könnte, Regina! Wenn ich dir doch nur helfen könnte! Gibt es irgend etwas auf der Welt, das ich für dich tun kann?“ „Nein, Katrin. Jetzt nicht. Niemand kann etwas für mich tun.“ „Doch! Einen Menschen gibt es, der das kann: Gert. Hör zu, Re gina. Jeder Angeklagte hat das Recht, sich zu verteidigen. Eine Er klärung abzugeben. Dazu mußt du Gert Gelegenheit geben, im Na men der Gerechtigkeit.“ „Da gibt es nichts zu erklären!“ „Das weißt du doch nicht! Mag sein, daß er dich angelogen hat, ein ganzes kleines bißchen…“ „Wer weiß denn, daß es nur dies eine Mal war? Konnte er das ei
ne Mal lügen, dann konnte er es öfter tun! Ich weiß gar nicht mehr aus noch ein…“ „Wenn es nun aber wirklich nur dies eine einzige Mal war? Liebe gute Regina, schreib ihm – und dann mußt du dir seine Erklärung anhören! Versprich mir das, Regina!“ „Gut, Katrin.“ Reginas Stimme klang müde. „Gut. Ich verspreche es dir. Ich schreibe, sobald ich seine Adres se habe!“ „Hast du die nicht?“ „Nein. Sein Chef hatte nur geschrieben, er würde für Unterkunft sorgen. Ich muß also warten…“ Regina wartete zwei Tage. Zwei Tage horchte sie nach dem Postboten, zwei Tage schlief sie kaum und aß fast nichts. Zwei Tage, an denen sie weiter an ihrem Brunnenkind arbeitete, müde und freudlos. Am dritten Tag kam mit der ersten Post eine Karte. „Meine liebste Regina! Ich bin gut angekommen, bin kopfüber in die Arbeit gesprungen, habe furchtbar viel zu tun. Der Chef ist ange nehm, er kennt Papa. Aber die Schwierigkeiten mit der Sprache sind greulich. Ich lerne abends Dänisch und arbeite den ganzen Tag. Zwei von den Gesellen sind krank, das war der Grund, weshalb ich sofort kommen sollte, und ich habe oft das Gefühl, daß ich für zwei arbeite. Aber ich denke an Dich, während ich knete und forme und Kuchen verziere. Später mehr. Schreib ein paar Worte, sobald Du kannst. Tausend liebe Grüße! Dein Gert.“ Und dann die Adresse, in großen deutlichen Blockbuchstaben. Regina setzte sich hin, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich einen Bogen Briefpapier. Die Gedanken wirbelten ihr im Kopf her um. Wie sollte sie anfangen? Wie sollte sie erklären – wie sollte sie all das ausdrücken, was sie in diesen beiden endlos langen Tagen so gequält hatte? Dann schob sie alle Fragen beiseite, nahm die Feder und schrieb: „Gert, weshalb hast Du mich angelogen? Weshalb sagtest Du, das ,Schlafende Kind’ sei entzweigegangen? Regina.“ Und diese beiden Zeilen auf der Mitte eines Briefbogens waren der erste und einzige Brief, den Regina an Gert nach Kopenhagen schrieb.
Wieder wartete sie zwei Tage. Wieder plumpste etwas in den Briefkasten. Ach, dieses dumme Geschreibe – wenn Gert hier wäre, so daß sie sich hätten aussprechen können! Nein! Nein! Nicht sprechen! Dann hätte er vielleicht wieder ge logen… Regina riß den Brief auf. „Liebe kleine Regina – wie gern würde ich Dich sprechen, anstatt Dir zu schreiben! Ja, Liebste, es ist wahr, ich habe Dir nicht ganz richtig erzählt, wie es war. Warum und wieso, das werde ich Dir mal mündlich erklären. Regina, kannst Du nicht zu einem der nächsten Wochenende kommen, damit wir uns über diese dumme Geschichte aussprechen und sie aus der Welt schaffen? Du solltest nur eines wissen – wenn ich Dir auch etwas verschwiegen habe, wofür ich Dir dann eine Erklärung geben werde, so ist eins wesentlich, und das ist wahr: Das ,Schlafende Kind’ ist leider hingefallen und entzweige gangen, daraufgebe ich Dir mein Ehrenwort! Das ist so wahr wie meine Liebe zu Dir! – Ich schreibe wieder, Regina, sobald ich ein paar Minuten Ruhe habe – dies schmiere ich schnell mal in der Früh stückspause herunter. Liebste! Dein Gert.“
Hat Gert ein Ehrenwort gebrochen? Erst als Regina in der Vorortbahn saß, wurde es ihr selber klar, daß sie auf dem Wege zu Katrin war. Sie erinnerte sich nicht, daß sie zur Station gegangen war, erinnerte sich nicht, daß sie eine Fahrkarte gelöst hatte. Sie hatte sich von einem unterbewußten Trieb leiten lassen, und der hatte sie auch daran gehindert, ins Atelier zurückzu gehen. Sie konnte – konnte jetzt nicht in dieser Umgebung sein. Sie stieg automatisch an der richtigen Station aus. Die Hände in den Taschen vergraben, schlug sie den bekannten Weg zu Katrins kleinem Haus ein. In der Werkstatt im Keller waren die Fenster er leuchtet. Regina ging gleich nach unten. „Aber um Gottes willen – bist du das, Regina?“ – Katrin schlug die Ofentür zu und ging der Freundin entgegen. „Was ist denn, Re gina – wie siehst du aus – , ist irgend etwas passiert?“ Regina wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus. „Um Gottes willen, Regina, was ist nur?“ Dann sagte Regina mühsam, als koste es sie übermenschliche Anstrengung, die Worte zu formen: „Laß mich bei dir bleiben.“ „Ja, selbstredend, Regina – komm, wir gehen nach oben, Mami ist schon im Bett, wir sind ganz für uns allein.“ Sie legte den Arm um Regina und führte sie mit sich durch die Werkstatt und die Treppe hinauf. „Regina – versuche zu sprechen. Versuche zu erzählen. Es ist doch wohl nicht nur das – was ich schon weiß?“ „Nein. Das ist es nicht!“ Es war ein fast unhörbares Flüstern. Katrin blieb hilflos stehen. Die fröhliche, muntere, gutherzige Katrin hatte keinerlei Erfahrung, wenn sie tiefunglückliche Men schen vor sich hatte. Und Regina war ganz unten angelangt, soviel war ihr klar. „Katrin, gib mir bitte eine Zigarette!“ Regina rauchte in langen Zügen, hastig. Die Hand, die die Ziga rette hielt, bebte. Mit einem Male drückte sie sie im Aschenbecher aus. Sie richtete die Augen auf Katrin, und die waren ein Meer von Qual. „Katrin“, die Stimme klang jetzt laut und klar, aber sie hatte ei nen fremden, schneidenden Ton. „Es ist alles vorbei. Schluß! Schluß
für immer!“ „Aber Regina – arme, arme, liebe kleine Regina!“ Katrin nahm Reginas Hand in ihre beiden. „So, Regina, erzähle! Erzähle mir alles. Du erstickst, wenn du dich jetzt nicht aussprichst!“ „Katrin – es war furchtbar, als ich entdeckte, daß Gert mich ange logen hatte. Aber es war nichts, hörst du, es war nichts, es war eine Lächerlichkeit gegen das andere – daß er sein Ehrenwort gebrochen hat! Ja, Katrin! Er hat geschrieben, daß das ,Schlafende Kind’ entz weigegangen sei – er hat mir sein Ehrenwort darauf gegeben und gesagt, das sei so wahr wie seine Liebe zu mir! Und du weißt ja doch, daß du bei Krügers mein ,Schlafendes Kind’ gesehen hast.“ „Ja, Regina.“ Katrins Stimme klang leise und belegt. „Ja, Regina, darauf kann ich dir mein Ehrenwort geben.“ „Und dein Ehrenwort hat etwas zu bedeuten. Auf dein Ehrenwort verlasse ich mich. Ach, Katrin, verstehst du denn, daß alles, all das Gute, was ich mit Gert zusammen erlebt habe – daß das jetzt wie eine einzige Lüge vor mir steht?“ Katrin wollte etwas antworten, aber Regina fuhr fort, fiebrig, mit trockenen Lippen. „Es geht ja nicht darum, daß es sich um eine meiner Arbeiten handelt. Das ist nicht wichtig. Aber daß ein Mann sein Ehrenwort brechen kann, Katrin! Und wenn es sich um ein Stück Papier gehan delt hätte, eine Stecknadel – oder ein Gemälde von Rembrandt – , das würde gar nichts ändern. Aber die Unwahrheit! Und daß der Mann, der mir alles bedeutete, unehrenhaft ist! Schlechthin unehren haft, Katrin!“ Regina feuchtete sich die Lippen an, dann sprach sie weiter, hei ser und überstürzt: „Warum sollte ich nicht erfahren, daß Annette diese Figur bekommen hatte? Das verstehe ich jetzt! Weil es zwi schen ihm und Annette keineswegs zu Ende war! Weil er mich als ein drolliges, kleines Spielzeug neben der schicken und schönen und reichen Annette haben wollte. Ach, alles war Lüge, Lüge, Lüge!“ Wieder wollte Katrin etwas sagen, besann sich aber. Regina hatte jetzt nur eins nötig: sie mußte schlafen! „Regina, mein Liebes. Ich kann dir darauf keine Antwort geben, ich bin ebenso hilflos wie du. Aber jetzt wirst du ins Bett gebracht. Du bleibst natürlich heute nacht hier. Du kannst in meinem Bett schlafen, ich lege mich aufs Sofa. Komm jetzt, Regina!“ Katrin besorgte alles, holte Handtücher heraus und ein Nacht
hemd für Regina. „Und guck bloß, was du für ‘n Glück hast, ich habe gerade eine funkelnagelneue Zahnbürste liegen!“ Als sie Regina ins Bett gesteckt hatte, kam sie mit einem Glas Wasser und einer weißen Tablette. „Schau her, Regina. Nimm dies.“ „Eine Schlaftablette?“ „Ja. Hab’ ich aus Mamis Vorrat. Eins, zwei, drei, ‘runter damit, Regina.“ Regina gehorchte. Dann legte sie sich auf das Kissen zurück. „Du bist so lieb, Katrin!“ „Solche muß es ja auch geben. Mach die Augen zu, Regina.“ Katrin hängte ein seidenes Tuch über die Nachttischlampe, setzte sich still hin und nahm Reginas Hand. Das kleine Gesicht auf dem Kissen war kreideweiß, versteinert und ohne Tränen. Katrin blieb reglos sitzen, bis gleichmäßige Atemzüge anzeigten, daß Regina eingeschlafen war. Sie erwachte von einem fernen Getöse. Ihr Körper war schwer wie Blei, und es kostete sie Mühe, sich selbst aus dem Schlaf herauf zuholen. Endlich konnte sie die Augen öffnen. Was war geschehen – und warum lag sie in Katrins Bett –, was war nur Schreckliches passiert – etwas so Schreckliches, daß sie sich sträubte, wach zu werden und zu denken… Die Tür ging. Es war Katrin, die das Tablett mit dem Frühstück brachte. Mit einem Male war Regina hellwach und wußte wieder alles. „Guten Morgen, Regina.“ Katrin setzte das Tablett aus der Hand und trat ans Bett. Sie strich der Freundin übers Haar. „Hast du schlafen können?“ „Ja, Katrin. Ich – ich wußte gar nicht, wo ich war, als ich auf wachte.“ „Na also! Es war gut, daß du die Tablette genommen hast. Jetzt sollst du Kaffee trinken, Regina!“ Regina nahm gehorsam die Tasse entgegen. „Bitte, iß auch was.“ „Ach Katrin – das kann ich nicht…“ „Versuch es trotzdem. Hör mal, Mami ist heute in der Stadt und zählt im Büro des Sanitätsvereins Fünfzigpfennigstücke zusammen und gibt neue Gewinnvorräte aus. Sie bleibt den ganzen Tag drinnen.
Und nun gondele ich auch in die Stadt, bin aber bald wieder zurück. Du kannst tun, was du willst. Bleib im Bett oder steh auf, dreh das Radio an oder geh in die Werkstatt hinunter und kritisiere meine letzten himbeerfarbenen Machwerke, bis kein Fetzen Gutes mehr an ihnen ist.“ „Mußt du in die Stadt, Katrin?“ „Leider ja. Aber ich bin so schnell wie möglich wieder hier. Also Regina, mach es dir gemütlich. Ich laufe jetzt los, dann kriege ich den Zug um neun Uhr dreißig noch.“ Regina trank ihren Kaffee und zwang sich, eine halbe Semmel hinunterzuwürgen. Sie badete, zog sich an und räumte das Zimmer auf. Dann ging sie nach unten und lief von der Küche ins Wohn zimmer, vom Wohnzimmer in die Küche, setzte sich hin und stand wieder auf. Ihre Gedanken drehten sich in ihrem Kopfe wie ein Mühlrad immer wieder rundherum. Sie ging in die Werkstatt hinunter. Die war leer. Regina setzte sich auf Katrins Arbeitsplatz. Fast unbewußt spiel ten ihre Hände mit einem Tonklumpen. Ihre Finger arbeiteten. Nach und nach wurden ihre Gedanken von der Arbeit in Anspruch ge nommen. Sie modellierte einen kleinen Bären. Einen winzig kleinen, rundlichen, jungen Bären, und sie preßte ihn flach, genauso, wie Katrin es mit ihrem Schmuck machte. Wieder ein Klumpen Ton. Ein neues Tier. Ein Fuchs. Ein langge streckter Fuchsleib mit buschiger Lunte. Ein Fuchs, der auf Raub ist. Ihre Finger arbeiteten schnell und geübt. Mehr Ton. Ach, wie war es herrlich, zu arbeiten! Herrlich, wenn man etwas zu tun hatte. Wenn man nur an den Ton dachte, an die Formen, an die Tiere; jetzt wollte sie eine kleine Figur machen, nicht diese hirnverbrannten, plattgedrückten Dinger – ein Tier mit richti gen Proportionen. Sie arbeitete so schnell, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie mit Plastilin spielen durfte. Ein Hund. Ein schlankes Windspiel, wie sie es gestern auf der Straße beobachtet hatte. Gestern? War es gestern gewesen oder war es hundert Jahre her? Sie machte ihn klein, winzig klein, machte die feinste, zarteste Miniatur. Da ging die Tür. „Hier sitzt du, Regina – pfuschst du mir etwa ins Handwerk?“ „Ich muß arbeiten, Katrin. Ich muß was tun. Ich muß mich be schäftigen, damit meine Gedanken zur Ruhe kommen.“ „Ich mach’ uns jetzt ein bißchen was zum Mittag, Regina.“
„Ich habe keinen Hunger.“ „Du mußt trotzdem was essen.“ „Ach, Katrin – du gutes Mädel.“ Plötzlich stand Regina auf, ging im Zimmer auf und ab, auf und ab. Dann blieb sie vor Katrin stehen. „Ist es nicht eine verteufelte Sache, daß man nicht weinen kann?“ Katrin zuckte zusammen. Sie hatte bei Regina noch nie solche Kraftausdrücke gehört. Und noch nie diese harte, kalte Stimme. „Höre mal, Regina. Gestern sagtest du, es sei für immer zu Ende. Das verstehe ich.“ Regina nickte. „Ja, gewiß, ich weiß, was du sagen willst – dann soll ich es auch von mir abschieben und nicht ‘rumlaufen und mich selber quälen! Ja, wenn ich das nur könnte! Es will mir ja nicht aus dem Kopf, Katrin. – Ich kann es nicht verstehen – hat er mich überhaupt gern gehabt? Vielleicht hat er sich aus Annette nichts gemacht? Vielleicht hat er nur mit uns beiden gespielt?“ „Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Regina“, sagte Katrin, und sie mußte sich selber zwingen, ruhig zu bleiben: „Vielleicht hat er euch beide gleich gern! Nein, widersprich mir nicht. Es gibt tat sächlich Männer, die zwei Frauen zugleich lieben können. Wirklich, ehrlich lieben können, zwei zugleich. Zwei Frauen, die untereinander so verschieden sind, daß er immer bei der einen das findet, was er bei der anderen entbehrt.“ „Das – das ist doch unmöglich, Katrin.“ „Für dich ist dieser Gedanke unmöglich, natürlich. Für mich auch. Aber ein Mann ist nun mal anders veranlagt. Ich glaube, Gert hat es ehrlich gemeint, wenn er dir sagte, er habe dich lieb. Und ich glaube auch, er hat es immer ehrlich gemeint, wenn er das gleiche zu Annette sagte. Es gibt viele Männer, die ihn verstehen würden, Re gina. Aber er kann nicht erwarten, daß eine Frau ihn verstehen soll.“ Regina blieb stehen, leichenblaß und mit großen, weit aufgeris senen Augen. „Weißt du, Katrin – wenn es wirklich so zusammenhängt – und wenn er mir das gesagt hätte – , wenn er mir gesagt hätte, daß er es so fühle – , dann würde ich versucht haben, ihn zu verstehen. Jeden falls wäre ich ihm für diese Aufrichtigkeit dankbar gewesen. Denn das Furchtbare ist ja das, Katrin – daß er gelogen hat, gelogen! Ach – jetzt verstehe ich…“, fügte sie plötzlich hinzu, und ihre Stimme schlug um und erhielt ihren natürlichen Klang zurück. „Was verstehst du, Regina?“
„An meinem Geburtstag, als er versuchte, mich davon zu über zeugen, daß es weiße Lügen gebe – barmherzige Lügen, und als ich dann sagte, eine Lüge sei eine Lüge – und hinterher – , als wir ausei nandergingen – , da war er so sonderbar; genauso, als nehme er für immer Abschied – ja, jetzt verstehe ich das. Und übrigens – was hat das alles jetzt zu bedeuten? Liebe oder nicht Liebe! Er hat sein Eh renwort gebrochen. Das ist für mich entscheidend!“ Sie schwiegen beide. Regina hatte sich auf einen Hocker gesetzt, vornübergeneigt und bleich. Es war lange still. Endlich sprach Regina wieder, sonderbar trok ken und tonlos. „Ja. So muß ich nun eben ein neues Dasein aufbauen. Das wird nicht leicht werden.“ „Willst du nicht ein paar Tage bei mir bleiben, Regina? Montag oder Dienstag fährt Mami zu Tante Sigrid, sozusagen auf verspätete Sommerferien. Du weißt ja, Mami bewegt sich nicht von der Stelle, ehe nicht alle Einmacherei und die Sanitätstombola erledigt sind. Willst du in der nächsten Zeit hierbleiben?“ Regina schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Katrin! Ich will nach Hause und arbeiten. Die Ar beit ist ja das einzige, was mir geblieben ist.“ „Du bist tüchtig, Regina. Und du bist tapfer!“ „Keineswegs. Es ist der reinste Selbsterhaltungstrieb und nichts weiter.“ „Regina – weißt du – , wenn man ein wirklicher Künstler werden will, dann muß man gelebt haben. Man muß Leiden und Freuden durchgemacht haben, man muß gelacht und geweint haben. Und wer weiß, wer weiß, vielleicht ist es gerade das, was du brauchst, um bis zum Gipfel zu gelangen.“ Da zeigte sich so etwas wie ein Lächeln auf Reginas Antlitz, ein garstiges, verkrampftes Lächeln. „Aha! Wenn der künstlerische Erfolg von Leid abhängig ist, dann sollst du sehen: ich werde ein neuer Michelangelo. Vielen Dank für alles, Katrin. Du bist die beste Kameradin der Welt. Und, bitte sehr, hier habe ich was für dich gemacht, während du in der Stadt warst. Einen Petz und einen Fuchs und einen Wauwau. Brenne sie und mach Schmuck draus – es sind die ersten Beweise meiner neuerwor benen Genialität als Bildhauerin. Auf Wiedersehen bis zum näch stenmal, Katrin. Du brauchst keine Angst um mich zu haben. Ich werde mich nicht vor den Zug werfen und auch nicht von einer
Brücke springen. Ich gehe jetzt nach Hause und nutze meine durch Leid gereifte Begabung aus, einen Brunnen zu machen.“ Katrin blieb lange sitzen, nachdem Regina gegangen war. Sie sah mit großen, unglücklichen Augen vor sich hin. Dann stand sie auf, ging an den Tisch, an dem Regina gesessen und gearbeitet hatte. Sie nahm die kleinen, schnell geformten Dinge in die Hand – den Bären, den Fuchs, den Hund. Sie betrachtete sie, hielt sie behutsam zwi schen ihren Fingern. Dann legte sie sie plötzlich hin, schlug die Hände vors Gesicht und weinte… Blaß und schmal stand Regina vor ihrem „Brunnenkind“. Ihre Hände bauten, formten, schufen. Und ihre Gedanken kreisten und kreisten nur um eins. Sie wiederholte Worte für sich, die gesprochen worden waren, versuchte, einen Zusammenhang herzustellen. Ein kleines Stück Erinnerung nach dem anderen tauchte wieder auf, fügte sich zu einem Muster zusammen, bildete ein trostloses Mosaik. „Ich möchte dich gern ein wenig für mich allein haben – wir wol len einige Wochen ganz, ganz für uns haben…“ Ja, das stimmte. Ganz klar, daß er nicht vor alle Welt hintreten und sagen konnte: „Seht, dies ist Regina, dies ist die Frau, die ich heiraten werde“, wenn er eine andere hatte, die genau dasselbe von ihm erwartete. „Gesetzt den Fall, ich könnte dich mit Hilfe einer Lüge vor etwas bewahren, das dir sehr schmerzlich wäre…“ Ja, jetzt verstand sie! So war Gerts Charakter im tiefsten Grunde. Reizend, amüsant, warm, liebevoll – und feige! Feige, feige! Lieber lügen, als eine unangenehme Wahrheit aussprechen, lieber ein fal sches Ehrenwort geben, als gründlich reinen Tisch machen und eine Sache klarlegen und aus der Welt schaffen! Ich habe mich geirrt, sagte Regina bei sich. Ich habe mich geirrt, ich bin blind gewesen, ich bin die schlechteste Menschenkennerin der Welt. Laß es hinter dir, Regina. Schieb es von dir! Denk in die Zukunft, denke nicht an das, was vergangen ist. In die Zukunft denken, ja! In eine Zukunft ohne Gert! Die Gedanken bohrten und bohrten in ihrem Kopfe, während ihre Hände formten und schufen. Dann hörte sie auf. Sie mußte etwas anderes tun, etwas, das die Gedanken beschäf tigte. Sie mußte schnell und konzentriert an irgend etwas arbeiten. Wie vormittags bei Katrin, nahm sie einen Klumpen Ton, mach
te, was ihr gerade in den Sinn kam – schnelle kleine Entwürfe, kleine Klumpen, die sich eins, zwei, drei unter ihren Händen in Tiere ver wandelten. Ein Kätzchen – einen kleinen Vogel – ein Eichhörnchen mit buschigem Schwanz – , ja, dies war genau das Richtige: Immer zu etwas Neues, nicht dastehen müssen und an der Kindergestalt schaben und schaben. Die war im Grunde fertig, die konnte nicht besser werden. Jetzt wollte sie versuchen, einen kleinen Esel zu machen, schnell, es mußte so schnell gehen wie damals, wenn sie auf der Akademie Krokie gezeichnet hatten – ach, das beanspruchte die Gedanken, jetzt liefen ihre Finger um die Wette mit sich selber – , ein lustiges neues Spiel. Skizzieren in Ton – und sie würde diese Sachen brennen lassen und sie Mortensen bringen – , ExpreßBildhauerkunst… Regina machte groteske kleine Figuren, bis sie vor Müdigkeit fast umfiel. Dann taumelte sie in ihr Bett und dachte nicht daran, daß sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Die Schlaftablette am vergange nen Abend wirkte nach, und sie glitt in einen tiefen, schweren Schlaf hinüber.
Regina ist ein Trotzkopf Vom Briefkasten an der Tür ertönte ein Bums, und Regina stand mit einer müden Bewegung auf. Sie wußte im voraus, was es war. Eine Karte von Gert. Eine schnell hingeworfene kleine Karte, in einem Restaurant auf dem Bürgersteig geschrieben oder in der Frühstückspause oder abends im Bett. Nicht einen einzigen Brief hatte sie bekommen, nur diese kurzen Karten. Ganz recht. Da lag eine Karte von Gert, und ein Brief lag auch da. Zunächst die Karte: Liebste Regina, ich warte sehr auf ein Wort von Dir, Du bist mir doch nicht böse wegen meiner kleinen weißen Lüge? Habe tausend Dinge, die ich Dir erzählen möchte, Dir sagen, Dir erklären – aber das muß warten. Ich bin ein schlechter Briefschreiber, ich sagte es im voraus. Ich lasse darum alles liegen, bis wir uns treffen, und be gnüge mich damit, Dir noch einmal zu sagen, daß i. D. l.!! Dein G. Reginas Gesicht verzog sich. Sie legte die Karte beiseite. Das war also seine einzige Reaktion – er hatte ihr tausend Dinge zu er zählen und zu erklären! Ach ja, eine Erklärung zusammenzuschu stern! Dazu brauchte er bestimmt Zeit! Sie griff nach dem Brief. Was war denn das? Eine völlig unbe kannte Handschrift, adressiert an Mortensens Kunsthandlung und von dort umadressiert. Was in aller Welt war das? Sie sah nach dem Poststempel. Kattenbüttel – sie kannte doch niemanden in Kattenbüttel? Die einzige Verbindung, die sie mit Kattenbüttel hatte, war, daß sie Porzellan von der Porzellanfabrik dort gesehen hatte, Mortensen hatte ab und zu kleine Porzellanfigu ren von dort. Dann öffnete sie den Brief. „Kattenbüttel, 26. August Liebe Regina Frank!
Ich weiß gar nicht, ob Du Dich von der Akademie in Kopenha gen noch an mich erinnerst – vielleicht aber doch? Du weißt, das rothaarige jütländische Mädchen, das Du immer so schwer Verste hen konntest, wenn es richtig Aalborgisch redete? Ja, ganz recht, Jytte Petersen, die jetzt Deutsche geworden ist und Jytte Boock heißt. Vor einem Jahr heiratete ich meine große deutsche Liebe. Er ist Funker und befindet sich augenblicklich auf der verkehrten Hälfte des Erdballs und kommt erst im Herbst zurück. Und ich sitze in der kleinen Werkstatt in der Porzellanfabrik von Kattenbüttel und mache Kunst! Hast Du unsere Aschbecher, mit Turteltauben drauf, gesehen, hast Du unsere kleine graue Miezekatze und unseren Bambi gese hen? Alles miteinander mein Werk. Mit anderen Worten, ich arbeite hier als festangestellte Modelliererin, und es macht riesigen Spaß. Ich kam vor anderthalb Jahren her, und hier lernte ich meinen Mann kennen – und dann war’s auch schon geschehen! Wir haben eine süße kleine Puppenwohnung von zwei Zimmern, wo ich zur Zeit allein sitze und die Ohren hängen lasse. Was aller dings nicht mehr allzu lange dauern wird, denn in sechs Wochen bekomme ich ein Kind. Du bist natürlich völlig platt und begreifst kein bißchen von dem, was ich Dir hier erzähle und warum ausgerechnet Dir. Einen Augen blick mal, Regina, es kommt gleich. Gestern sah ich in der Zeitung ein Bild von Deinem herrlichen ,Fackelträger’ – nein, ist der schön, ja, Du kannst lachen! Unsereins sitzt hier und macht anonyme Miezekatzen! Nun also, ich sah Dei nen ,Fackelträger’ und Deinen Namen, und plötzlich kam mir ein Gedanke: Ob Regina Frank mir nicht in meiner Not helfen kann? Es ist nämlich so: ich möchte so furchtbar gern zu meinen Eltern nach Hause fahren, dort mein Kind bekommen und bleiben, bis mein Mann nach Hause kommt. Ich bin sehr einsam hier im Dorf. Du weißt, wenn man seine feste Arbeit und außerdem einen Haushalt zu versorgen hat, bleibt nicht viel Zeit, Bekanntschaften zu machen und Geselligkeit zu pflegen. Aber Du magst es glauben oder nicht, hier in der Fabrik kann man meine Wenigkeit kaum entbehren! Ja, wie findest Du das? Nun, es ist ja nicht leicht, im Handumdrehen eine Modelliererin zu finden, um so weniger, als es sich nur um eine Vertretung von etwa drei Monaten handelt. Die Bildhauer, die etwas können, bedanken sich, und die anderen können wir nicht brauchen.
Du verstehst, Regina: sobald ich eine brauchbare Vertretung stel len kann, darf ich nach Hause fahren; und wenn ich es nicht kann, dann – ja, dann kann ich eben nicht nach Hause fahren, um es kurz und bündig zu sagen. Da wollte ich Dich nun fragen – es kostet ja nichts, zu fragen – , ob Du Dich für diese Sache erwärmen könntest? Wenn Du Dich dafür interessierst, so würde ich vorschlagen, daß Du ein paar Proben Deiner Kunst in einen Koffer packst und für einen Tag herkommst, die Fahrt ist ja nicht weit. Ich habe meinem Chef von Dir erzählt, und er war interessiert, durch Mortensen kennt er Deinen Namen. Das Gehalt ist gut, die Arbeitsverhältnisse sind angenehm, Du könntest außerdem in meiner Wohnung mietfrei wohnen. Liebe Regina, ich würde überglücklich sein, wenn Du kämst. Ich ahne nicht, wie Deine Adresse ist, schicke diesen Brief aber durch Mortensen, der ganz sicher weiß, wo Du zu finden bist. So viele Bildhauer gibt es ja wohl nicht in Eurer Stadt? Wohnt Katrin nicht auch in Deiner Gegend? Ich kenne Ihre schicken Keramiksachen sehr gut. Sie ist wirklich tüchtig, diese Person. Uh, wie muß sie mit ihrer Keramik verdienen! Grüß sie vielmals. Sie war immer so nett und lustig. Die besten Grüße von Deiner Jytte Boock.“ Diesen Brief bekam Katrin sofort zu lesen. Mit glänzenden Au gen reichte sie ihn der Freundin zurück. „Dies kommt wie vom Himmel gesandt, Regina. Gott segne Jytte Petersen, ich meine Boock – und auch ihre Nachkommenschaft. Steck die Zahnbürste in den Koffer und fahre morgen!“ „Findest du wirklich, Katrin?“ „Ich habe noch nie in meinem Leben etwas so richtig gefunden und aus aufrichtigstem Herzen dazu geraten. Es wird scheußlich öde sein ohne dich, aber ich wäre ein Biest und ein schlechter Kamerad, wenn ich dir nicht raten würde, zu reisen.“ Ein mattes kleines Lächeln erschien auf Reginas Gesicht. „Möglich, daß du ein Biest sein kannst, Katrin, das weiß ich nicht – aber ein schlechter Kamerad kannst du niemals werden!“ „Gib es mir schriftlich“, sagte Katrin trocken. „Nun höre her, du Dummerle. Du sitzt doch nicht etwa da und überlegst noch? Wenn du hierhergesaust kommst, um mir den Brief zu zeigen, so sollte das
doch wohl bedeuten, daß du meine Meinung hören wolltest? Höre zu, Regina: Erstens mußt du aus der Stadt weg! Es ist für dich ein fach viel zu schmerzlich, in deinem Atelier ‘rumzulaufen und in den vertrauten Straßen hier, wo alles prall von Erinnerungen ist.“ In Reginas Gesicht zuckte es, aber sie sagte nichts. „Und Regina – denk doch auch daran, was es für dich bedeutet, feste Arbeit zu haben und ein festes Gehalt! Gehalt, Regina!! Das hast du noch nie in deinem Leben gehabt, nicht mal bei deinen Leh rer-Vertretungen!“ „Nein – das ist wohl wahr…“ „Ja, worauf zum Kuckuck, lauerst du dann noch? Was hast du für Bedenken, möchte ich wissen, du Hühnchen?“ Regina mußte ein ganz klein wenig lächeln. „Erstens wegen meiner Wettbewerbsarbeit.“ „Das Kind ist doch fertig, hast du gesagt.“ „Die Figur muß aber noch gegossen werden, Katrin. Hast du nicht die Wettbewerbsbedingungen gelesen? Eine Miniatur in Gips – nicht unter dreißig Zentimeter hoch – , mein Kind ist nebenbei be merkt fünfunddreißig.“ „Könntest du dir nicht vorstellen, daß ich imstande wäre, fünf unddreißig Zentimeter Ton für dich zu gießen, du Affe?“ „Ja, Katrin, aber du sollst doch nicht…“ „Doch. Genau das soll ich nämlich. Bring mir das Kind her, und ich werde den Bengel so liebevoll behandeln, als wäre es mein ehe lich geborener. Schreib den berühmten, verschlossenen Namenszettel aus mit Kennwort und allem Drum und Dran, dann schicke ich den Jungen auch für dich ein. Wäre sonst noch was zu erledigen?“ „Katrin, du bist einmalig!“ „Jaja, das bin ich. Das sagt Mami auch. Ich fühle, wie mir die Flügel wachsen. Nun gut, hast du sonst noch Einwände zu machen?“ „Ja – Katrin – , aber wie soll ich dir das erklären… Du willst nur mein Bestes, das weiß ich. Aber du denkst die ganze Zeit nur an – ja an den Menschen in mir, und nicht…“ „… nicht an die Künstlerin, meinst du?“ Katrin wurde mit einem Male ernst. Sie stand auf, ging zu Regina hin und legte beide Hände auf deren Schultern. Katrins offenes, fröhliches, liebes Gesicht war voller Güte. „Regina, höre zu. Es ist der Mensch in dir, der jetzt Hilfe braucht. Die Künstlerin kommt allein durch. Aber du hast nicht das Recht, den Menschen Regina Frank verkommen zu lassen aus lauter Rück
sicht auf den Künstler gleichen Namens. Du hast einen furchtbaren seelischen Schock bekommen, Regina – und du hast das tapfer ge tragen. Ich bewundere dich mehr, als ich sagen kann. Aber du soll test dich mal selber im Spiegel ansehen. Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen und Augen. Du mußt hier weg, Regina, du mußt in eine neue Umgebung, du mußt eine feste Arbeitszeit Haben, die dich dazu zwingt, ein regelmäßiges Leben zu führen. Du mußt viel um die Ohren haben, und du mußt mal die Ruhe kennenlernen, die man bekommt, wenn einem an jedem Monatsersten eine bestimmte Summe ausgezahlt wird und man nicht schlaflose Nächte haben und überlegen muß, woher man am nächsten Ersten die Miete nehmen soll. Nun weiß ich, was du sagen möchtest: Du hast keine Lust, da zusitzen und niedliche Muschikätzchen auf Aschenbecherränder zu setzen oder dutzendweise Bambis. Zu diesen deinen Einwänden wäre einiges zu sagen, aber es hat keinen Zweck, da bist du so bock beinig, daß man sich die Zähne an dir ausbeißt. Laß sich die Künstle rin in dir dafür ruhig mal erniedrigen, indem sie Muschikätzchen und Bambis macht – im übrigen ist es keine Erniedrigung! Eine gute Porzellanplastik kann vollwertige Kunst sein, auch wenn die rein technischen Dinge fabrikmäßig gemacht werden. Merk dir das, du Trotzkopf! Aber, um auf die Sache zurückzukommen: Laß die Künstlerin drei Monate lang nur Gutes für den Menschen Regina Frank tun. Der hat es bitter nötig, wieder in die Reihe zu kommen, will ich dir mal sagen.“ Regina blickte in Katrins Gesicht, und ihre Stimme war leise und ganz rauh, als sie sagte: „Der Mensch in mir macht sich nicht das leiseste bißchen daraus, in die Reihe zu kommen, Katrin. Es ist nur die Künstlerin, die den Menschen einigermaßen lebendig erhält.“ „Da finde ich aber, die Künstlerin tut es ziemlich erbärmlich!“ brauste Katrin auf. „Nennst du das lebendig erhalten? Dein kleines schmales Gesicht, deine großen, übernächtigten Guckäugen! Jaja, ich weiß, was du willst. Du willst nur ,Fackelträger’ und andere großar tige Sachen machen – denke doch nicht etwa, daß ich dich nicht verstehe, Regina, aber – tu es nicht gerade jetzt! Du mußt warten, du mußt dich wieder auffangen, du mußt Abstand von dieser vertrackten Geschichte bekommen, ehe du anständig arbeiten kannst.“ „Vertrackte Geschichte“, wiederholte Regina, und in den Worten klang ein weher Unterton durch. „Ich weiß, was du meinst. Es ist keine vertrackte Geschichte, sondern dein Lebensglück ist zerstört. Und wenn ich mich recht
erinnere, habe ich dir gesagt, daß du hier vielleicht hindurch mußt, um wirklich auf die Höhe deiner Kunst zu gelangen. Ich stehe auch zu meinen Worten. Aber siehst du, du kannst dich noch nicht kopf über in deine großen Aufgaben stürzen. Was du an Freud und Leid durchmachst und an so schweren Kümmernissen und Enttäuschun gen, wie du sie eben erfahren hast – das muß sich erst setzen, es muß in deine seelische Retorte, muß sich mit anderen Zutaten mischen, und eines Tages wird das Brauchbare herausgelöst und erweist sich als – als – als reines Gold!“ – Ein kleines Lächeln erschien um Regi nas Mund. „Katrin, ich bin nicht sicher, daß ein Chemiker mit deinem Bild so ganz einverstanden wäre…“ „Na, und wenn schon, die Hauptsache ist, daß du mich verstehst. Und das tust du. Gönne dir selber diese Monate in Kattenbüttel, Regina. Übernimm diese Routinearbeit – wer weiß, vielleicht ist sie viel interessanter, als du denkst! Und sieh zu, daß du zur Ruhe kommst, versuch mal, ob du nicht zunehmen kannst, du knochendür res Gespenst! Und leg jeden Monat etwas von deinem Gehalt auf die hohe Kante. Du hast doch hoffentlich noch nicht allzuviel von dei nem Honorar für den ,Fackelträger’ verbraucht? Das ist gut. Spar dir was, Regina. Leg dir ein Sparbuch an oder kauf dir eine Sparbüchse. Und solltest du den Preis in dem Brunnenwettbewerb kriegen, dann…“ „Ja, dann“, sagte Regina. „Dann wüßte ich, was ich täte.“ „Das weiß ich auch. Dann würdest du nach Wien gehen zu dem guten alten Tausing. Gut – das setze dir doch als Ziel! Wenn du nun mal so blöde bist und es als eine Art Opfer empfindest, in der Porzel lanfabrik zu sitzen und Muschis zu machen, dann führe dir vor Au gen, daß du dies Opfer bringst, um zu Tausing zu kommen und wirk liche Kunst zu machen!“ „Katrin – weißt du –, im Grunde bist du doch der einzige Mensch, der mir nahesteht. Wenn ich mir alles so recht überlege, dann wäre ich das einsamste Geschöpf unter der Sonne – wenn ich dich nicht hätte. Du bist für mich eine Freundin und eine Schwester und ab und zu beinahe auch so was wie eine vernünftige alte Tante.“ „Hältst du mir eine Rede, Regina?“ Katrin lächelte, um ihre Mundwinkel zuckte es, und die Augen wurden blank. „Nein – ich wollte nur sagen, daß du der phantastischste. Freund bist, den ein Mensch haben kann! Und nie, nie werde ich dir für alles danken können, was du für mich tust!“
„Sieh mal einer an, du bist wohl nicht ganz beeinander?“ lachte Katrin. „Kommt es daher, weil ich hier sitze und mir den Mund fusselig rede, um dich loszuwerden, um dich zu den Porzellankatzen zu schicken? So, Regina, mach dich reisefertig. Fahr morgen schnell hin und rede mit Jytte und mit ihren Chefs. Und bring mir dein Brunnenkind her. Du ahnst gar nicht, wie wunderbar ich den Gips abdruck machen werde.“ „Doch, Katrin. Das ahne ich schon. Du bist eine viel, viel bessere Handwerkerin als ich.“ „Nicht wahr? Es muß eben auch Handwerker geben. Denk mal, wenn wir beide uns zusammentun könnten, du – du mit deiner Bild hauerei und ich mit dem Gießen deiner Meisterwerke. Jetzt mach, daß du nach Hause kommst, versorge dein Haus und pack dein Kind für mich ein.“ Regina wirtschaftete im Atelier herum. Sie besah sich kritisch al les, was sie an kleinen Terrakotten und Gipsfiguren stehen hatte. Terrakotta und Gips – immer Terrakotta und Gips. Sie hatte es sich niemals leisten können, ihre Figuren in Bronze gießen zu lassen, geschweige denn in Stein auszuhauen. Und Katrin hatte recht, es war das Handwerkliche, woran es bei ihr haperte. Wenn sie doch einmal lernen könnte, selber in Bronze zu gießen! Oder wenn sie mal einen Marmorblock mit Hammer und Meißel bearbeiten und aus dem toten Stein lebendige Kunst heraushauen könnte! Weit weg fahren – in eine neue Umgebung und zu neuen Men schen. Seit sie aus Kopenhagen zurückgekommen war, hatte sie ganz für sich gelebt. Verwandte hatte sie ja nicht – nur eine Tante und in Dänemark ein paar Kusinen, und mit denen hatte sie gar keine Ver bindung weiter – außer den nichtssagenden Weihnachtskarten. Und Freunde? Ja, sie hatte natürlich in der Schule ein paar Freundinnen gehabt – aber die waren verheiratet und hatten genug mit sich selber zu tun. Und die Jahre in Kopenhagen hatten sie ganz auseinanderge bracht. Außerdem, wenn man so spartanisch leben mußte, wie sie es in den letzten Jahren getan hatte, dann blieb nichts übrig für Gesel ligkeit. Regina hatte genug an ihrer Arbeit gehabt, an der Arbeit, die sie ausfüllte und alle ihre Gedanken beschäftigte. In einer Arbeit, in der sie ganz ihren eigenen Weg ging, taub für den Rat und die Meinung anderer. „Starrköpfig und konsequent“, sagte Katrin. Ja, da war was dran. Aber so war sie nun mal. Sie war ein Trotzkopf, aber ein ehrlicher Trotzkopf. Und wenn
sie sich für etwas einsetzte, dann tat sie es aus ganzer Kraft. Sie war als Freund wie aus einem Guß, das wußte sie. Sie hatte Katrin gern und war in ihrer Freundschaft treu. Und als die Liebe in ihr Dasein trat – ja, da war sie auch aus ei nem Guß und ohne alle Vorbehalte und „hundertprozentig“. Darum waren aber auch der Kummer und die Enttäuschung – hundertprozentig. Sie packte ihre kleinen Figuren sorgsam in einen Koffer. Und dann suchte sie ein Heft heraus, in dem die wichtigsten Zugverbin dungen standen. Morgen früh um zehn Uhr ging ein Zug nach Kattenbüttel. Den würde sie nehmen. „Keine Post für mich?“ Die Worte sagte in einem unbeholfenen Dänisch ein junger Mann. Er war eben in die Pension zurückgekommen. „Nein, Herr Eimer, leider nicht!“ Gert biß sich auf die Unterlippe. Weshalb in aller Welt schrieb sie nicht? Wenn sie doch nur irgend etwas von sich hören lassen wollte, und wenn es Vorwürfe wären – nur ein paar Worte, nur ein Lebenszeichen. War Regina denn so sehr beleidigt? Ihr Zusammen sein war ungetrübt und harmonisch gewesen, heiter und glücklich. Und diese erste Schwierigkeit – die war doch so geringfügig, so lächerlich klein. Daß er ein einziges Mal zu einer kleinen Notlüge seine Zuflucht genommen hatte – na schön. Regina war wahrheits liebend bis zur äußersten Konsequenz, aber deswegen könnte sie doch ein wenig Verständnis haben, ein wenig Nachsicht! Gert war in sein Zimmer gekommen. Er setzte sich, zündete sich eine Zigarette an, überlegte weiter. Dann nahm er Briefpapier zur Hand, setzte sich an den kleinen Schreibtisch, überlegte lange. Er haßte das Briefschreiben. Schon in der Schule war es so gewe sen. Seine Aufsätze waren trocken, kurz und phantasielos gewesen, gar oft hatte der Lehrer über sie den Kopf geschüttelt. Und jetzt lang und ausführlich schreiben zu müssen, an eine Frau schreiben zu müssen, die er gern hatte, ihr etwas erklären zu müssen, was im Grunde so schwierig zu erklären war – und wenn es sich noch so sehr um eine Belanglosigkeit handelte –, Gert schob mit einer müden Handbewegung den Briefblock zurück. Nein. War sie gekränkt, dann mußte sie Zeit haben. Mußte von selbst zur Vernunft kommen. Aber tief in Gerts Innerem saß eine brennende kleine Enttäu
schung. Daß Regina wirklich so war – daß sie so furchtbar wenig Nachsicht üben konnte, daß sie maulte wie ein kleines Kind! Ja, denn dies war wirklich nichts anderes als maulen. Wenn sie – wenn sie nun krank war? Nein, ausgeschlossen. Dann hätte sie Katrin gebeten, zu schreiben. Nein. Er wollte noch eine Woche warten. Wenn Regina dann noch immer nichts von sich hören ließ, wollte er an Katrin schreiben und fragen, was los sei. Gert war müde. Er war müde von der anstrengenden Arbeit und von der Mühe, eine neue, schwierige Sprache lernen zu müssen. Wäre er doch lieber nach Paris oder London gegangen! Englisch und Französisch hatte er doch in der Schule gelernt! Im Augenblick war sein Dasein nicht gerade erheiternd.
Wie heilsam eine neue Umgebung ist Regina hört, wie hinter ihr die Tür aufging. Sie drehte sich auf dem Hocker um, ohne’ die kleine halbfertige Figur loszulassen. „Ach, Morgen, Sewald! Was haben Sie denn da Interessantes?“ Sewald von der Brennerei lächelte geheimnisvoll. Er hielt etwas auf dem Rücken verborgen. Er ging zu dem Tisch unter dem Fenster, wo das beste Licht war. Und dort stellte er etwas hin. „Ja, nun können Sie sich Ihre Miez mal ansehen. Wie gefällt sie Ihnen?“ „Ach, Sewald! Wie hübsch!“ „Nicht wahr? Wir in der Brennerei sind gar nicht so ohne! Und Frau Turm hat sich ordentlich Mühe mit dem Bemalen gegeben. Wir haben aber auch auf den Ofen aufgepaßt, als wäre es der Bratofen von ‘nem Hofkoch – voller Wachteln, oder wie sie nun gleich hei ßen, diese feinen Vöglein. Na, sind Sie zufrieden?“ Regina lächelte. Sie sah sich die Katze an allen Ecken und Kanten an. Eine auf recht sitzende Siamkatze, kühl und unnahbar, selbstbewußt und wunderschön. „Ja“, sagte sie langsam. „Die ist gut. Und die wäre nichts gewe sen, wenn der Gießer und der Maler und der Brenner nicht eine fa belhafte Arbeit geleistet hätten.“ „Sehen Sie! Zusammenarbeit ist es, was nötig ist! Ja, dies war al so das Probestück. Und das ist ja immerhin so ausgefallen, daß wir anfangen können…“ „… mit Massenproduktion?“ „Na, von Masse wird wohl kaum die Rede sein. Das Katzenvieh von Ihnen wird ja teuer, wir werden also nicht allzu viele Exemplare losschlagen können. Aber Hamburg nimmt einige, Bremen und Han nover auch. Und vielleicht können wir um Weihnachten herum an die Touristen einen Teil absetzen. Morgen brennen wir übrigens die Weihnachtsleuchter. Sind Sie nicht gespannt?“ Regina lächelte. „Ooch – so sehr nicht. Ich war mehr auf die Katze gespannt.“ „Jaja, gewiß. Die Leuchter sind Dutzendware und die Katze ist Kunst, nicht wahr?“ „Wenn Sie es sagen…“ „Sehen Sie, wenn aber die Weihnachtsleuchter uns nicht das Geld einbrächten, dann könnten wir es uns nicht leisten, Kunst her
zustellen!“ „Mir fängt allmählich was zu dämmern an.“ „Das ist schön. Her mit der Katze, ich möchte sie dem Chef zei gen, aber ich fand, Sie hätten einen Anspruch drauf, sie als erste zu sehen!“ „Das war sehr nett von Ihnen, Sewald.“ Regina blieb sitzen und lächelte vor sich hin. Katrin hatte recht behalten. Es war für sie gut gewesen, von zu Hause wegzukommen. Gut, in neuer Umgebung zu sein. Sie fühlte sich in Jyttes kleiner Puppenwohnung wohl und sie fühlte sich auch in der Fabrik wohl. Alle waren freundlich, diese rhythmische Ge schäftstätigkeit gefiel ihr, die feste Arbeitszeit und die Zusammenar beit, in der alle voneinander abhängig waren. Sie dachte an die ver schiedenen Spezialarbeiter, die in Bewegung gesetzt werden mußten, bis die Katze fertiggestellt war. Zuerst sie selbst mit der Zeichnung und der Plastik. Dann der Gießer. Dann das junge Mädchen, das die Unterglasur auflegte. Dann der erste Brand. Dann kam Frau Turm mit ihren feinsten Pastellfarben und ihrer leichten, geübten Hand – sie hatte seit dreißig Jahren Porzellan bemalt. Und zu guter Letzt noch mal ein Brand. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte Regina die Zusammenar beit kennengelernt. Sie neigte sich wieder über ihre Miniatur. Ein kleines Eichhörn chen, das auf dem Rand eines Aschenbechers sitzen sollte. Die Leute müssen sehr tierliebend sein, dachte Regina. Denn die Tierfiguren gingen ohne Frage am besten. Sie war jetzt seit vierzehn Tagen in der Fabrik beschäftigt und freute sich bei dem Gedanken, bis November bleiben zu dürfen – ja, vielleicht sogar bis Weihnachten. Sie hatte sich Katrins Warnungen zu Herzen genommen, daß sie „gut zu dem Menschen Regina sein müsse und nicht nur zu dem Künstler“. Sie zwang sich, regelmäßig zu essen und genug zu ruhen. Das regelmäßige Essen ergab sich von selbst, denn die helle, große Kantine der Fabrik, in der viele Men schen zusammen aßen, wirkte unmittelbar anregend. Man konnte sein mitgebrachtes Butterbrot essen oder für einen mäßigen Preis ein warmes Gericht bekommen. Regina ließ sich immer das warme Es sen geben, so brauchte sie sich nichts zu kochen, wenn sie nachmit tags müde nach Hause kam. Ach, diese wunderbare Müdigkeit! Und das herrlich regelmäßige Leben! Es war die allerbeste Medizin für ihre arme, zerquälte Seele.
Es war nicht zu leugnen, der erste wilde Schmerz hatte sich ein wenig gelegt, er war nach wie vor da, er lebte Tag und Nacht in ihr, aber dennoch: er war ein klein wenig in ihrem Bewußtsein zurück gedrängt worden… Daheim in ihrer Werkstatt saß Katrin über einen kurzen Brief ge beugt. Sie las ihn mit gerunzelten Brauen. „Sehr geehrtes Fräulein Rhode! Ich weiß mir keinen anderen Rat, als Ihnen zu schreiben. Würden Sie so freundlich sein und mir mitteilen, ob Regina krank ist? Ich höre nichts von ihr. Entweder ist sie krank oder beleidigt, ich weiß fast nicht, was mir mehr weh tun würde. Ist sie aber krank, dann lasse ich ganz einfach für ein paar Tage meinen Arbeitgeber hier im Stich und fahre nach Hause, zu Regina. Seien Sie so gut und antwor ten sie mir schnellstens. Ihr Gert Eimer.“ Katrin legte den Brief aus der Hand, zündete sich eine Zigarette an und überlegte. Sollte sie Regina diesen Brief schicken? Nein! Gestern hatte sie einen Brief von ihr bekommen, einen munteren, vergnügten Brief. Es hatte den Anschein, als habe Regina ihren Kummer etwas überwunden. Und diese lächerliche Frage – oder diese lächerliche Vermutung, Regina könnte beleidigt sein! Man stelle sich vor, Regina und beleidigt! Regina konnte traurig sein, abweisend – aber niemals beleidigt, niemals maulig! Dieser Dummkopf! Ihr erst das Blaue vom Himmel herunterzu schwindeln und dann zu fragen, ob sie beleidigt sei! Katrin wurde immer wütender, je mehr sie nachdachte. Und nachdem sie sich in eine richtig gesunde und waschechte Wut hin eingesteigert hatte, nahm sie den Kugelschreiber und schrieb: „Sehr geehrter Herr Eimer! Regina ist nicht krank, aber sie ist aus der Stadt verzogen. Ihr geht es gut, sie arbeitet fleißig und möchte nicht gestört werden. Besten Gruß Katrin Rhode.“ Gert war wütend, und er war unglücklich. So etwas von Brief! Zwei lächerliche Zeilen, daß Regina aus der Stadt verzogen sei! Der Kuckuck hole diese beiden Mädels, die hin gen wie die Kletten zusammen, und Katrin hetzte Regina natürlich auf! Nein, diese Künstler! Nur weil seine winzig kleine Flunkerei
einer Arbeit von Regina galt, nur deshalb hatte sie zusammen mit Katrin eine Riesengeschichte daraus gemacht! Ja, daß Regina als Künstlerin ehrgeizig und sensibel war, das wußte er. Und er war fest davon überzeugt, wenn diese kleine, unbedeutende Lüge etwas ande rem gegolten hätte, dann hätte Regina über ihn gelächelt und den Kopf geschüttelt; Schluß damit. Nein, alles hatte seine Grenzen, auch der Stolz eines Künstlers auf seine Werke. Aber wo war Regina? Wo um Himmels willen war sie? Plötzlich kam Gert ein Gedanke. Sie sollte doch wohl nicht… sie hatte ja gut an ihrem „Fackelträ ger“ verdient, ob sie nun… wie hieß doch ihr Professor in Wien? Tausing, ja richtig, Tausing, Wien. Es war eine ziemlich unvollstän dige Adresse – aber Bildhauer Professor Tausing, das war schon besser – , halt mal, ein Telefonbuch von Wien – , das mußte es doch im Österreichischen Konsulat geben, dort mußte er doch Hilfe be kommen können? Am nächsten Abend hatte Gert Professor Tausings Adresse. Und er fragte an, ob der Herr Professor ihm vielleicht behilflich sein könnte, eine frühere Schülerin ausfindig zu machen, Fräulein Regina Frank – ob sie vielleicht bei ihm in Wien studiere? Nach wenigen Tagen schon kam eine kurze, höfliche Antwort vom Professor. Nein, Fräulein Frank sei nicht in Wien. Soviel der Professor wußte, sei sie in ihre Geburtsstadt in Norddeutschland zurückgekehrt, die Adresse sei… Und dann kam die Adresse, säuberlich und ordentlich aufge schrieben, die Adresse von Reginas Atelier, wo Gert Regina das letzte Mal gesehen, sie zum letzten Male geküßt hatte… Regina war also verschwunden. Vielleicht war es am besten so. Sollte er seinen Vater um Hilfe bitten, seinen gütigen, verständ nisvollen Vater? Nein – das ging nicht. Die Sache mußte er allein ins reine bringen. Er machte noch einen weiteren Versuch. Er schrieb an das Ein wohnermeldeamt zu Hause. Und er erhielt eine trockene Antwort auf Behördenbriefbogen. Regina Frank hat sich nicht abgemeldet. Sei sie von der Stadt abwe send, so könne es sich nur um eine kürzere Reise handeln. Und Gert wiederholte bei sich, daß es so vielleicht am besten sei…
Reginas Hände kneteten an einem kleinen Klumpen Ton herum. Sie saß eifrig über ihre Arbeit gebeugt, warf hin und wieder einen Blick auf die Zeichnung vor sich, arbeitete weiter, hielt die halbferti ge Arbeit in Armeslänge von sich weg, betrachtete sie kritisch. Ein kleines Bärchen. Ein kleiner, kugelrunder, tolpatschiger Petz. Sie lächelte. Eine ulkige Aufgabe, die sie da bekommen hatte. Ein reicher Mann in Hamburg hatte ein Eßservice bestellt, das be sonders für ihn angefertigt werden sollte. Ein Service mit Jagdmoti ven, ein Geschenk zu einem fünfzigsten Geburtstag. Und da saß Regina nun und modellierte kleine, rundliche Tiere, die als Griffe für Terrinen und Schüsseln mit Deckel geeignet waren. „Wie Sie diese Aufgabe lösen wollen, überlasse ich ganz Ihnen!“ hatte der Direktor gesagt, als er ihr diesen Teil der Arbeit übergab. „Fräulein Turm malt Hochwild auf die Teller, aber als Griffe und Knäufe an Schüsseln und Deckeln kann man ja keine dünnbeinigen Rehe und Hirsche mit Geweihen gebrauchen! Nun dürfen Sie also Ihrer Phantasie freien Lauf lassen, Fräulein Frank!“ Die Aufgabe machte Regina Spaß. Acht verschiedene Griffe hat te sie zu machen, nicht zwei Geschirrteile sollten das gleiche Muster haben. Bär – Fuchs – ein Hase – was gab es sonst noch – , ja, natür lich einen Marder – einen Luchs – halt, einen Hamster natürlich auch – und einen Dachs – , nun fehlte noch ein Tier. Wo sollte sie eins herbekommen? Regina schaute auf die Uhr. Gleich zwölf. Der Direktor hatte sie gebeten, gegen zwölf mit einem Entwurf zu einem Salzfaß zu ihm ins Büro zu kommen. Regina seufzte. Wie ein Löwe hatte sie gegen diese Salzstreuer gekämpft, bei denen das Salz durch den Kopf des armen Tieres hin ausrieselte. Sie hatte den Direktor angefleht, ein richtiges kleines Salzfaß machen und dann lieber an dessen Rand ein Tier anbringen zu dürfen. „Na gut, versuchen wir es“, hatte der Direktor gesagt. „Im Grund bin ich ganz Ihrer Meinung, es ist nur die Frage, ob wir unseren Kunden überzeugen können!“ Regina hatte ein Salzfaß zur Probe gemacht mit einer drolligen Feldmaus auf dem Rande. Die machte Männchen und lugte spitzbü bisch in das Salzfaß. „Ich persönlich finde die Idee reizend, Fräulein Frank“, sagte der Direktor. Die Maus war gebrannt, glasiert, bemalt und hatte jetzt auch noch den letzten Brand erhalten. „Wir wollen nur hoffen, daß
der Kunde derselben Ansicht ist. Und wenn nicht, dann müssen wir also lieber hohle Häslein für ihn machen mit Löchern im Kopf. Und diese hier – ja, die können Sie dann ja als Weihnachtsgeschenk von der Fabrik bekommen!“ Regina lächelte. „Sie finden sicherlich bin ein Bock, Herr Direktor?“ „Ja, ein kleiner Bock sind Sie vielleicht.“ „Ich kann nämlich diese sogenannte angewandte’ Plastik nicht ausstehen. Ich bin dafür schon so oft ausgezankt worden, sowohl von Freundinnen als auch…“ „… von Freunden vielleicht?“ lächelte der Direktor. „Ich wollte sagen, von Mortensen“, sagte Regina und wurde rot. „Sie sehen mir auch ganz so aus, als dächten Sie an den alten Mortensen, Sie kleine Heuchlerin“, lachte der Direktor. „Nun ja, wir schicken die Maus heute aus dem Haus, und Sie kehren zu Ihren Deckelknöpfen für die Schüsseln zurück.“ Regina ging zurück. So was Dummes, daß sie immer rot werden mußte! Nur weil sie daran denken mußte, was Gert über ihr Brun nenkind gesagt hatte. Daß es keine Verbindung mit seiner Aufgabe habe. Oh, Gert sollte mal sehen! Er sollte mal sehen. Die Jury wußte sicherlich mehr über Bildhauerkunst als Gert und1 Katrin zusammen! Und in diesen Tagen fiel die Entscheidung. Vielleicht lag jetzt schon ein Brief für sie zu Hause. Und wenn sie den Preis bekam – ja, dann würde sie postwendend an Tausing schreiben. Dann konnte sie reisen und alles hinter sich werfen – alles, was so weh tat und brannte und so fürchterlich schmerzte.
Der erste Preis geht an Katrin
Regina wusch sich die Hände, zog die Ärmelschürze aus und brachte das Haar in Ordnung. Dann nahm sie ihre Tasche, dazu die Zeitung vom Morgen und ging in die Kantine hinüber. „Tag, Fräulein Schwand! Haben Sie heute was Gutes?“ „Gebratene Leber in Sahnesauce, Fräulein Frank. Und Blumen kohl.“ „Ah , wie herrlich! Her damit, ich muß rasch essen.“ „Ach was, jetzt gönnen Sie sich mal ein bißchen Ruhe. Ihre Tiere rennen Ihnen nicht davon, während Sie essen.“ „Nein, die Tiere nicht. Aber die Zeit. Ich habe so schrecklich viel zu tun.“ „Freuen Sie sich doch. Bitte – nein, halt mal, Sie sollen ein biß chen mehr Blumenkohl haben, Sie essen doch Gemüse so gern, Kaf fee hinterher?“ „Einen Liter, Fräulein Schwand!“ „Das möchten Sie wohl! Eine Tasse kriegen Sie, mehr tut Ihnen gar nicht gut.“ Regina lächelte. Das dicke, freundliche Fräulein Schwand war für die Fabrik wie eine Mutter. Regina setzte sich in ihre gewohnte Ecke und begann zu essen. Ach, wieviel besser schmeckte doch das Essen, wenn man nicht selber zu kochen brauchte. Dann faltete sie die Zeitung auseinander, überflog die erste Seite; blätterte weiter zu den Stadtnachrichten. Sie kaufte die Zeitung von zu Hause zweimal wöchentlich. Mit einem Male gab es ihr förmlich einen Schlag: „Die Ent scheidung im Wettbewerb für einen Trinkbrunnen im Stadtpark ist gefallen. Den ersten Preis erhielt eine Künstlerin unserer Stadt, die Bild hauerin Katrin Rhode. Das Urteil der Jury war einstimmig.“ Katrin! Katrin! Katrin hatte den ersten Preis bekommen. Katrin hatte sie überflü gelt. Katrin mit ihren Sternzeichen und kunterbunten Blumen, Katrin mit dem vergnügten Lächeln und ihrer nüchternen Selbsterkenntnis, Katrin mit ihrem „Kitsch“. Regina las und las und merkte gar nicht, wie eine Kaffeetasse vor sie auf den Tisch gestellt wurde.
Der zweite und dritte Preis war an auswärtige Teilnehmer gegan gen. Und nun – da sah sie ihren eigenen Namen in gesperrter Schrift. „Außerdem verdient Regina Franks ‚Bübchen’ rühmend hervor gehoben zu werden. Fräulein Frank dürfte durch ihren sehr gelunge nen ,Fackelträger’ über dem Eingangsportal der neuen Volksschule bekannt sein. Wenn sie nicht in die Reihe der Preisträger aufgerückt ist, so liegt es daran, daß ihre an und für sich gute Arbeit die Schwie rigkeit außer acht ließ, die Katrin Rhode zur Vollkommenheit gelöst hat: Eine natürliche Verbindung zwischen der Plastik und deren Aufgabe als Trinkbrunnen herzustellen. Katrin Rhodes ‚Jungfrau’, die oben im Bild wiedergegeben ist, bezeichnen die Mitglieder der Jury als ein feines, gediegenes und empfundenes Kunstwerk, das von großer technischer Sicherheit und einer erstaunlichen Reife zeugt. Die Statue stellt ein zartes junges Mädchen dar, fast noch ein Kind, das mildtätig seine Hände dem Durstenden darreicht. Die Brunnenanlage wird so eingebaut, daß das Wasser in die hohlen Hände des Mädchens sprudelt. Es ist der Künstlerin gelungen, der Figur die junge, scheue Anmut zu verlei hen, die noch nicht ganz die Unbeholfenheit des Kindes überwunden hat. Die vorgestreckten Hände verraten zärtliche Milde…“ Regina ließ die Zeitung sinken. Katrin. Die liebe, gute Katrin. Die tüchtige, tapfere Katrin, die ih re ganze Kunst geopfert hatte, damit „Mami“ es gut haben sollte. Wie hatte Katrin dies verdient! Dennoch war Regina enttäuscht. Am allermeisten brannten die Worte des Berichterstatters in ihr, daß ihre an und für sich sehr hüb sche Arbeit die Schwierigkeit außer acht ließ, die Katrin Rhode zur Vollkommenheit löste. Gab es denn niemanden, der verstand, was sie mit ihrer Kunst wollte? Waren denn die Menschen alle so blind, daß sie meinten, die Kunst müsse unbedingt eine Aufgabe erfüllen? Glaubten die denn, die Venus von Milo habe Salz und Pfeffer in ihren Händen gehabt, ehe sie ihre Arme verlor? Meinten sie, man könne eine Miniatur aus der Laokoongruppe machen und sie als Briefbeschwerer verwenden? Mußte man Rodins „Penseur“ und Sindings „Sklave“ Rücken gegen Rücken als Buchstützen aufstellen? Hatte die Gegenwart denn keinen Raum für reine Kunst, sondern nur für „Bauplastiken“? Und nun sprach die Jury sogar von einem Versagen bei ihrer Arbeit, weil die Verbindung zwischen Kunstwerk und Zweck fehlte.
Regina fühlte sich so seltsam zwiespältig, auf der einen Seite tief enttäuscht und brennend verletzt in ihrem künstlerischen Ehrgeiz. Und auf der anderen Seite war sie von Herzen froh wegen Katrin. Sie nahm von neuem die Zeitung zur Hand. Dort stand ein kurzes Interview mit Katrin. „‚Natürlich freue ich mich sehr’, sagte Katrin Rhode lächelnd, als wir sie in ihrer Keramikwerkstatt aufsuchen. ,Ich selbst fand es frech, daß ich überhaupt teilnahm, und wenn ich es trotzdem tat, dann geschah es nur, weil meine gute Freundin Regina Frank mir den Glauben an diese kleine Jungfrau beibrachte. Ich hatte diese Figur ursprünglich in Keramik gemacht, als Sternzeichen der Jung frau, Sie wissen – und Regina schalt mich aus, weil ich nie etwas anderes machte als diese Kleinigkeiten in Keramik. Ich hoffte ganz, ganz von ferne, daß ich vielleicht den dritten Preis bekäme, aber nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich den ersten kriegen wür de…’“ Die anständige Katrin! Wie sah es ihr ähnlich, schnellstens aller Welt zu erzählen, daß sie ihren Erfolg jemand anderem zu verdanken habe. Regina wurde es warm ums Herz und ihre eigene Enttäuschung tat nicht mehr weh. Vielleicht – vielleicht war es ein hartes Lehrgeld für sie, vielleicht war sie wirklich zu halsstarrig in ihrer Kunstauffas sung? Natürlich gönnte sie Katrin den Preis. Aus ganzem Herzen gönn te sie ihn ihr. Jetzt konnte Katrin doch endlich merken, daß auch ordentliche Kunst sich lohnte. Und wie schön, daß Katrin nun auch Geld bekam. Diesen phanta stischen Preis! Als aber Regina in ihren Gedanken bis hierher gelangt war, muß te sie krampfhaft schlucken. Sie selbst hätte das Geld so dringend nötig gehabt. Nun wurde nichts aus ihrer Reise. Und erst jetzt, da sie wußte, daß es unmöglich war – erst jetzt merkte sie selbst, wie glü hend sie den Preis erhofft und wie sicher sie im Grunde damit ge rechnet hatte. Ja, nun mußte sie also in Kattenbüttel bleiben, bis Jytte zurück kam. Und dann blieb ihr nichts weiteres übrig, als wieder nach Hau se zu fahren. Und Gefahr zu laufen, daß Gert und Annette ihren Weg kreuzten, Gefahr zu laufen, daß sie im Vorübergehen ein freundli ches Kopfnicken von dem Mann erhielt, der… dem Mann, der… Regina biß sich auf die Lippe. Zum ersten Male, seit sie diesen
schweren Schlag erhalten hatte, schnürten Tränen ihr die Kehle zu sammen. Aber um sie herum saßen Menschen, sie mußte sich beherrschen – natürlich konnte sie sich beherrschen. Hatte sie nicht über sechs Wochen lang ununterbrochen Selbstbeherrschung geübt? Blaß und ruhig erhob sich Regina, nickte im Vorbeigehen ein paar Kollegen zu und ging aufrecht und sicher aus der Kantine. Es war Samstagnachmittag. Regina saß mit Papier und Kugel schreiber an Jyttes kleinem Schreibtisch. Sie wollte an Katrin schrei ben. Ihr ganz lang und herzlich schreiben und zum Preis gratulieren. Übrigens sonderbar, daß Katrin ihr nicht sofort geschrieben hatte? Regina stützte den Kopf in die Hände. Merkwürdig, daß es so schwer war, einen Anfang zu finden. Sie setzte zögernd den Kugel schreiber an. „Liebste Katrin…“ Da läutete es an der Wohnungstür, und Regina stand auf. Da würde gewiß irgend jemand nach Jytte Boock fragen. Sie öffnete – und streckte beide Arme aus. „Katrin – liebe, gute Katrin! Nein, du bist wirklich großartig – komm ‘rein, komm ‘rein! Ach, wie herrlich, daß du gekommen bist, Katrin!“ Katrin kam herein, halb lächelnd, halb schuldbewußt. Regina nahm ihr einen kleinen Koffer aus der Hand. „Regina – bist du mir auch nicht böse?“ „Böse? Auch? Du bist wohl nicht bei Trost? Ich freue mich so schrecklich deinetwegen – und ich muß dich schnell mal an mich drücken – ganz fest…“ Und das tat sie auch. Kurz darauf saßen sie in der Wohnecke in Jyttes Zimmer beim Kaffee, den Regina schleunigst gekocht hatte, und dem Kuchen, den Katrin von „Mami“ mitbrachte. „Du, Katrin – antworte mir ganz ehrlich: Kommst du hier ange stiegen, nur um zu sehen, ob ich in Tränen aufgelöst bin?“ Katrin lächelte. „Nein, das will ich nun nicht gerade behaupten. Aber ich muß gestehen, ich war ein bißchen bange…“ „Schäfchen!“ „Ja, weißt du, Regina, in gewisser Weise habe ich ja hinter dei nem Rücken gehandelt – aber siehst du, ich dachte, wenn ich ausge lacht würde, dann sollten so wenig Menschen wie möglich davon wissen. Ich wollte doch gar nicht teilnehmen, Regina. Und erst als du
das von der Jungfrau’ sagtest, bekam ich Lust dazu. Plötzlich sah ich sie vor mir stehen, mit den vorgestreckten Händen – und da kam mit einem Male solche Sehnsucht über mich – nur ein einziges Mal – , zu zeigen, daß ich etwas konnte! Denn siehst du, Regina“, Katrins Stimme klang mit einem Male heiser, ein wenig unsicher, „ich bin im allgemeinen übermütig und munter, nicht wahr? Und ich finde es schön, daß mein Kitsch mir so guten Verdienst einbringt. Aber – dir kann ich es ja sagen, Regina – , aber auch nur dir: Oft genug habe ich daraufgebrannt, wieder mal was Anständiges zu arbeiten. Es hat in meinen Fingern gekribbelt, anzufangen. Ich hatte eben nur nie mals Zeit. Und du weißt, ich habe Verpflichtungen. Ich konnte mich nicht an eine Arbeit machen, die mir höchstwahrscheinlich keinen Heller eingebracht hätte!“ „Aber jetzt“, Katrin lächelte, und eine feine Röte stieg ihr in die Wangen, „war die Verlockung doch zu groß für mich. Und Birgit kam gerade aus dem Urlaub zurück, das Mädel ist ein Segen für mich. Sie übernahm alle Routinearbeit, sie hat jetzt auch brennen gelernt – und ich habe Tag und Nacht an meiner Jungfrau’ gearbei tet. Birgit hat zwischendurch auch mal Modell gestanden. Du ahnst nicht, wie schnell ich diese Statue gemacht habe! So schnell, daß ich es nicht einmal zu gestehen wage. Und als ich den Abguß machte, da war ich so müde, daß ich fast nicht mehr die Augen aufhalten konn te. Ach, Regina – es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man erfährt, daß man etwas kann!“ Regina nickte. Ihr Blick leuchtete. „Ich bin so unglaublich froh, daß du es getan hast, Katrin.“ „Ich auch. Und Mami platzt vor Stolz. Aber über etwas anderes freue ich mich auch noch, und das will ich dir jetzt erzählen. Denn jetzt erscheinst du auf der Bildfläche, mußt du wissen.“ „Ich?“ „Allerdings. Du – Fräulein Regina Frank. Ich habe nämlich eine Einladung für dich, und dreimal wehe, wenn du die nicht annimmst.“ „Warum sollte ich sie denn nicht annehmen?“ „Gut, also – halte dich fest. Ich lade dich hiermit ein, mit mir nach Wien zu fahren. Die Einladung erstreckt sich auf die Fahrt hin und zurück und einen Monat Aufenthalt. Du kannst dann länger bleiben, wenn du magst, mit Hilfe deines 'Fackelträger’-Geldes und des Inhalts deiner Sparbüchse, die du dir hoffentlich angeschafft hast. Einverstanden?“ „Ach Katrin – ich kann doch nicht…“
„Und ob du kannst! Verstehst du nicht, Regina, wenn wir unseren Kram zusammenwerfen, können wir beide fahren – und ich kann dir nur sagen, ich habe auch ein mächtiges Verlangen nach Tausing.“ „Aber Katrin – nur einen Monat?“ „Wer hat denn das behauptet? Ich habe nur gesagt, ich spendiere dir einen Monat Aufenthalt – mehr kann ich mir nicht leisten, denn ich selbst möchte ein halbes Jahr bleiben, und da hoffte ich, du könn test es einrichten, daß du die übrigen fünf Monate ebenfalls da unten leben könntest. Ich meine also, daß wir uns zusammen ein halbes Jahr durchbringen können. Denn du weißt ja, zwei Menschen leben billiger zusammen als jeder für sich. Wenn wir uns dann ein Zimmer mieten – billig und bescheiden, uns selber verköstigen, und dann bei Tausing Unterricht nehmen – und – und uns umsehen, Regina! Mu seen und Ausstellungen und Schlösser und – und kirchliche Kunst. Sag ja, Regina! Dann setzen wir uns morgen hin – ich habe nämlich die Absicht, bis morgen zu bleiben – und schreiben an Tausing. Sobald ich die Jungfrau’ in der richtigen Größe fertig habe und wenn du mit deiner Vertretung hier zu Ende bist, brechen wir auf. Wann ist das übrigens?“ „Mitte Dezember.“ . „Großartig, Regina. Ich werde arbeiten wie ein Kuli und ich wer de schon noch fertig werden und vorher noch das Mädelchen zum Bronzegießen gebracht haben. Und dann reisen wir los, Regina, und feiern zusammen Weihnachten in Wien – ja, wenn das nicht das großen Erlebnis unseres Lebens sein wird…“ Regina richtete ihre Augen auf Katrin. Sie waren dunkel und un ergründlich, und es zuckte um ihren Mund. „Katrin – du bist einzigartig! Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“ Da lachte Katrin wie befreit. „Na, siehst du – das ist wohl auch der Grund, weshalb der liebe Gott dafür gesorgt hat, daß wir uns begegnet sind. Jetzt bin ich aber hungrig, Regina. Wenn du nur Butter und Brot und Tee im Hause hast, ich habe alles übrige im Koffer. Mit einem Gruß von Mami.“ Regina war am nächsten Morgen zeitig wach. Sie schlich sich ganz leise in die Küche, um das Frühstückstablett für Katrin fertig zu machen. Katrin lächelte vor sich hin. Sie war wach, aber sie gab keinen Ton von sich. Sie wußte ganz genau, was Regina vorhatte, und woll te ihr die Freude nicht zerstören. Sie blieb im Halbdunkel liegen und
überlegte. Sollte sie Regina erzählen, daß Gert angefragt hatte, ob sie krank sei? War es nicht besser, ihn gar nicht zu erwähnen? Regina hatte ja kein Wort über ihn gesagt. Nein. Sie sollte lieber in Ruhe über die Geschichte hinwegkom men. Es war ein entsetzlicher Schlag für sie gewesen. Ausgerechnet dieses ehrliche Menschenkind hatte erleben müssen, daß ihre erste wirkliche Liebe durch eine Lüge enden sollte. Da klappte die Tür, Katrin setzte sich im Bett hoch und zeigte sich gerührt und völlig überrascht, daß ihr Kaffee ans Bett gebracht wurde! Und Regina setzte sich auf den Bettrand mit ihrer eigenen Kaf feetasse, und sie schwatzten in einem fort – von den Reisevorberei tungen, von Tausing, von all dem Wunderbaren, das vor ihnen lag. Plötzlich hielt Regina inne, als sie gerade die Tasse an den Mund führen wollte, und ein verklärter Schimmer ging über ihr Gesicht. „Murmeltier“, rief sie. „Was bitte?“ Katrin blieb der Mund offen stehen. „Murmeltier, selbstverständlich! Das achte!“ „Höre mal, Regina, falls du mich meinst…“ „Ach wo! Den Griff meine ich!“ Jetzt stellte Katrin ihre Tasse auf das Tablett und langte nach Re ginas Hand. „Gib mal her. Ich muß deinen Puls messen. Du sprichst bestimmt im Fieber!“ „Ach was, Katrin, sei doch nicht so schwer von Begriff! Ich rede doch nur von dem achten Tier, das ich in einer Serie modellieren muß, und das kann ein Murmeltier sein. Ein niedliches kleines Mur meltier, das auf seinem Hinterteil sitzt.“ „Ach so, na ja“, sagte Katrin beruhigt. Aber dann schaute sie Re gina mißtrauisch an: „Sag mal, war es mein Anblick in dieser taufri schen Verfassung, der dich auf das Murmeltier gebracht hat?“ „Schon möglich!“ lachte Regina. „Hüte dich“, murmelte Katrin. „Bist du nicht lieb, dann mache ich die Einladung wieder rückgängig und fahre allein zu Tausing!“ „Ich bin lieb, Katrin!“ Regina lachte, stand auf und trug das Tablett hinaus. Katrin sah ihr lächelnd nach. Jetzt kannte sie Regina wieder. Jetzt konnte man doch wieder einen Jux mit ihr machen!
Die Traumreise wird Wirklichkeit „Oh, Katrin! Was für eine Stadt ist das! Was für eine Stadt!“ Regina hatte Schnee auf den Schultern und auf dem Hut, und sie brachte einen kalten, frischen Luftzug mit, als sie in die niedrige, gebogene Tür trat. Katrin zog den Steckkontakt aus der Wand und drehte sich lä chelnd zu Regina um. „Du kommst wie gerufen, das Teewasser kocht, und Frau Reisin ger ist eben dagewesen mit Proben von ihrem Weihnachtsgebäck. Bist du hungrig?“ „Wie ein Wolf! Komm jetzt bloß nicht mit Kuchen, ich muß erst einen ordentlichen Happen Brot haben – guck her, ich habe Leberkäs und Roquefort gekauft und ein halbes Pfund Butter, nein, fünfund zwanzig Deka heißt es in Wien. Finger weg von dem Paket da! Das geht dich nichts an, du neugierige Hummel. – Denk nur, an der Ecke werden Weihnachtsbäume verkauft, ich kaufe morgen einen. – Dies Paket kannst du gerne aufmachen, weißt du, was das ist? Es ist Weihrauch, richtiger Weihrauch, hast du gemerkt, wie die ganze Stadt heute nach Weihrauch duftet?“ Kopfschüttelnd sah Katrin zur Freundin. „Ich und gemerkt? Ich hab’ nicht das leiseste bißchen gemerkt, mein Liebling, ich habe den ganzen Tag dagesessen und gezeichnet. Zieh endlich deinen Mantel aus und guck dir’s an – erkennst du sie wieder?“ Eine Zeichnung wurde Regina in die Hand geschoben. Sie hatte immer noch den Mantel an, und der getaute Schnee tropfte von ihr herab. „Das ist doch die Bettlerin, die wir vor dem Stephansdom gese hen haben?“ „Ganz recht. Du – denk mal, wenn – ich sage also, wenn ich es schaffte, die zu machen! In Bronze…“ Regina schüttelte den Kopf. Sie betrachtete von neuem aufmerk sam die Zeichnung. „Nein, Katrin. In Holz. Die müßte in Holz ge schnitzt werden.“ „Aber, ich habe seit zwei Jahren kein Stück Holz in der Hand ge habt.“ „Dafür aber bist du jetzt in Wien, um zu lernen und um aufzufri schen, was du bisher vernachlässigt hast. Die Bettlerin ist glänzend,
Katrin. Zeig sie Tausing.“ „Natürlich tu ich das! Her mit deinem Mantel, du stehst da und denkst nicht an meinen sauber gewischten Fußboden. Und nun lege das weg, was ich nicht sehen soll, denn ich will den Tisch abräumen, damit wir decken können.“ Gleich darauf saßen sie einander an dem kleinen Tisch gegen über. Und Katrin freute sich heimlich an Reginas Appetit. Welch ein Glück! Die Freundin konnte wieder lächeln und schwatzen wie frü her – nur ab und zu wurde ihr Blick dunkel und fern, und um den Mund hatte sie einen Zug bekommen, der von Enttäuschung und Sehnsucht erzählte. „Wir sind zwei glückliche Weihnachtskinder“, stellte Katrin zum zehnten Male fest. „Ich bin überzeugt, wir sind in das gemütlichste Haus von ganz Wien geplumpst.“ Regina nickte und sah sich in dem kleinen Raum um, der seit ei ner Woche ihr Zuhause war. Er war niedrig und weißgetüncht und mit einfachen, altmodi schen Möbeln eingerichtet. Unter dem Fenster hatten sie einen ge räumigen Arbeitstisch, in einer Ecke eine Kommode, mit Linoleum auf der Platte. Hier kochten sie ihren Morgenkaffee und Abendtee – zu Mittag aßen sie auswärts. An der einen Wand stand eine doppelte Schlafcouch mit einem kleinen runden Tisch und ein paar Stühlen davor. Und dann gab es noch einen Kleiderschrank und an der Wand ein Heiligenbild. Im Fensterrahmen kletterten grüne Pflanzen über die kleinen, gewölbten Scheiben. Durch das Fenster sahen sie auf den Hof hinunter, einen engen Platz, von weißgetünchten Hausmauern umgeben. Aber die Haus mauern waren durch lang überdeckte Laubengänge unterbrochen, und auf deren Brüstungen standen Blumenkästen. „Warten Sie bis zum Frühling“, hatte Frau Reisinger gesagt. „Da haben wir hier eine Blumenpracht, die Sie sich kaum vorstellen können!“ Der Fußboden ihres Zimmers war, wie alle Fußböden im ganzen Haus, uneben und blank vom Alter. Die steinerne Treppe im Haus hatte abgewetzte Stufen, und die Haustür, die Frau Reisinger all abendlich sorgfältig abschloß, war aus schwerem Schmiedeeisen in einem kunstvollen Barockmuster. Das Haus war über dreihundert Jahre alt. Und es lag in einer stil len Nebenstraße, in einer Gasse, die wie vergessen wirkte, so als habe sie es nicht vermocht, mit der Zeit Schritt zu halten. Über den kleinen Häusern mit den tiefen, engen Fluren und den weißgetünch
ten Räumen mit den gebogenen Fenstern lag ein Hauch des sieb zehnten, achtzehnten Jahrhunderts. „Das Zimmer ist ziemlich klein für zwei“, hatte Frau Reisinger gesagt, als sie kamen, um es sich anzusehen. „Bisher habe ich es immer nur an eine vermietet – die letzte war auch aus Norddeutsch land“, sagte sie lächelnd. „Eine junge Kielerin. Doch, doch, die bei den letzten Jahre hatte ich immer an Professor Tausings Schüler vermietet, ich kenne mit der Zeit das junge Künstlervölkchen – aber ich wollte eigentlich nur einen Untermieter in diesem kleinen Zim mer haben. Das große ist besetzt…“ Regina und Katrin sahen einander an. Sie hatten sich auf den er sten Blick in das Haus und das einfache kleine Zimmer verliebt. Sie stotterten und erklärten und fragten, und Frau Reisingers sanftes Wiener Gemüt wurde weich, so weich. Ach, wie waren sie reizend, die beiden jungen Mädchen. Wie würde es ihnen bloß in der fremden Großstadt ergehen, wenn sie niemanden hatten, der ihnen half und sich um sie kümmerte? Nein, Frau Reisinger würde diese beiden fremden Vögelchen nicht wieder hinausschicken, noch dazu eben vor Weihnachten… „Jaja“, sagte Frau Reisinger, „meinetwegen, dann können sie es bekommen. Ich werde eine doppelte Schlafcouch hineinstellen – aber wenn Sie nun zwei sind, dann muß ich schon etwas auf die Miete draufschlagen; wollen wir sagen, hundertundfünfzig Schilling mehr im Monat?“ Katrin und Regina rechneten blitzschnell. Hundertundfünfzig Schillinge – geteilt durch sieben so ungefähr –, das mußte – ja, auf jeden Fall konnten es nicht mehr als fünfundzwanzig Mark werden! Die Freude, die sie nur schwer in Worten auszudrücken vermoch ten, die las Frau Reisinger deutlich genug in zwei blanken Augen paaren, sie fühlte sie in dem Händedruck der Mädel. „Übrigens habe ich einen Brief von Mami“, sagte Katrin, als sie mit dem Essen beinahe fertig waren. „Tausend Grüße und elfhundert Ermahnungen, tüchtig zu essen und früh zu Bett zu gehen und nicht zu antworten, wenn böse Männer uns auf der Straße anreden.“ „Fühlt sie sich wohl bei deiner Tante?“ „Ja, es hat den Anschein, gottlob! Ich war so froh, daß sie sich überreden ließ, den ganzen Winter dort zu bleiben.“ „Ganz komisch ist es, wenn man daran denkt, daß deine Werk statt verrammelt und verriegelt ist.“ „Das kann man wohl sagen. Aber im Grunde auch eine Riesener
leichterung. Ach, Regina, wie bin ich auf Tausing gespannt. Was er wohl über meinen Krimskrams sagen wird?“ Sie hatten bis jetzt dem Professor nur einen Antrittsbesuch ge macht, einen Tag, nachdem sie angekommen waren, und waren übereingekommen, daß sie am zehnten Januar bei ihm anfangen wollten. Sie brauchten die Zeit bis dahin, um sich in Wien einzule ben und die Stadt einigermaßen kennenzulernen. „Deinen Krimskrams nennst du das?“ sagte Regina. Sie folgte der Richtung von Katrins Blicken. Oben auf dem Kleiderschrank standen die Arbeiten, die sie dem Professor zeigen wollten. Arbeiten, von denen sie selber meinten, daß sie gut seien, und über die der Professor seine Meinung sagen sollte. Da stand Reginas zurückge wiesenes „Brunnenkind“, und als eine Art Gegenstück dazu hatte Katrin ihren „Schützen“ aufgestellt – es war der kleine Amor von der Sternzeichenserie, den sie als Miniaturplastik ausgeführt hatte. Und hier standen Tierfiguren Katrins und Reginas in schönster Eintracht, und auch das Gipsmodell der „Jungfrau“ war eingereiht. O ja, der gute Tausing sollte sehen, daß er sie in Kopenhagen nicht vergebens unterrichtet hatte. Die Glocken vom Stephansdom hallten und sangen über die Stadt hinaus und mischten sich mit dem Klang anderer Kirchenglocken. Es leuchtete hinter Fensterscheiben, Weihrauch duftete in allen Kirchen, auf den Straßen und in großen und kleinen Häusern. In die Fenster stellten die Kinder ihre Krippen. Wachslichter brannten, überall wurde gesungen; die ganze schöne, alte Stadt war mit einem Male ein Märchen voll Musik und Weihrauch geworden. Aber in allen Küchen standen Hausfrauen und kochten Karpfen blau, Karpfen mit Pflaumensauce und Karpfen in saurer Sauce, Karpfen, die ein paar trübselige Tage in Badewannen oder in Waschzubern zugebracht hatten, bevor sie aus der Badewanne in den Kochtopf wandern mußten und von dort auf die Festtafel für den Christabend. Frau Reisinger hatte ihre beiden „Pflegekinder“ zum Weih nachtsessen eingeladen. „Ihr sollt einen richtigen österreichischen Christabend erleben, wenn ihr nun mal in einem Wiener Haus seid!“ hatte Frau Reisinger gesagt. Regina und Katrin hatten sich bedankt und in ihren Koffern nach passenden kleinen Weihnachtsgeschenken gesucht. Katrin fand ein neues Friesentuch und Regina eine kleine Trachtenbrosche aus Filigran. Sie zogen sich um und klopften an Frau Reisingers Tür. Und
dann traten sie in ein Zimmer mit Kerzen und Krippe und Blumen und noch mehr Kerzen zu beiden Seiten des Kruzifixes an der Wand, Kerzen vor der Madonna in der Nische – und Kerzen auf dem ge deckten Tisch, wo alles für den Karpfen mit Pflaumensauce festlich angerichtet stand. Als sie hereinkamen, erhob sich ein alter Mann aus einem Lehn sessel. „Mein alljährlicher Weihnachtsgast“, stellte Frau Reisinger ihn glücklich und aufgeregt vor. „Mein Schwager, Balthasar Reisinger. Der Bruder meines seligen Mannes. Balthasar, rede langsam und nicht zu wienerisch mit den Mädchen vom Norden, sonst verstehen sie dich nicht. Mein Schwager war in seiner Jugend auch Bildhauer, Mädel, ihr werdet euch also sicher gut verstehen.“ „ War?“ sagte Regina. „Wenn man erst Bildhauer ist, dann ist man es doch wohl fürs Leben?“ „Nicht immer“, lächelte der alte Balthasar, und Regina zuckte zu sammen, als sie seine Stimme hörte. Die war so schön, so tief, so ruhig – es war Musik in ihr. „Es kommt vor, daß man merkt, man hat seine Berufung verfehlt, und dann findet man die richtige ein wenig später.“ „Aber sind Sie denn nicht mehr Bildhauer?“ fragte Katrin. „Nein. Ich war ein mittelmäßiger Bildhauer in meiner Jugend. Jetzt bin ich nicht mehr mittelmäßig, jetzt bin ich ein unbedingt erstklassiger – Handwerker!“ „Oh“, beide Mädchen sahen ihn fragend an. „Mein Schwager ist der beste Bronzegießer von ‘Wien!“ sagte Frau Reisinger stolz. „Oh!“ fuhr es Regina heraus. „Herr Reisinger – nehmen sie Schü ler an?“ Balthasar Reisinger lächelte. „Eigentlich nicht. Aber vielleicht… Möchten Sie so gern lernen, in Bronze zu gießen?“ „Und ob! Ich bin nicht mal sehr tüchtig im Gipsgießen!“ „Wir wollen sehen. Ja, mit dem Gips müssen Sie erst ganz ver traut sein, ehe Sie an Bronze denken können. Nun, da kommt aber die gute Hermi mit dem Karpfen – ich darf mir erlauben, beide Da men zu Tisch zu führen?“ Er war unwiderstehlich charmant, der alte Reisinger. Ein richti ger Kavalier von der alten Schule. Er schenkte Weißwein in die alten, feinen Gläser, die nur bei feierlichen Anlässen herausgeholt
wurden, und er hielt die festliche Platte mit dem Karpfen in all seiner schimmernden Pracht. Man trank sich zu und wünschte sich fröhliche Weihnachten, und dann wurde der Karpfen verspeist. Plötzlich ließ Regina die Gabel sinken. „Ach nein, Frau Reisinger – was haben Sie denn da? Daß ich das nicht sofort gesehen habe! Wie entzückend! Ist es eine von Ihren Arbeiten, Herr Reisinger?“ Sie streckte die Hand nach einer schlanken kleinen Bronzeplastik aus, die hinter der Blumenvase mitten auf dem Tisch halb versteckt stand. „Es ist mit das Schönste, was ich gesehen habe – guck doch mal, Katrin – , sie erinnert mich sehr an deinen ,Wassermann’.“ „Oder an deinen ‚Fackelträger’“, lächelte Katrin. Die Figur war in schwarzer Bronze ausgeführt. Es war ein mage rer Jüngling mit einem Lendenschurz um die schlanken Hüften. Sein Gesicht war ausgesprochen mongolisch. „Das ist ja ein Kuli wie dein ,Wassermann’!“ sagte Regina. Er stand ein wenig nach hinten geneigt und trug eine lange Stange, an der zwei Laternen hingen. „Siehst du, es ist eine ostasiatische Ausgabe vom Fackelträger’“, lachte Katrin. „Ja, der ist wunderbar schön!“ Balthasar Reisinger nickte. „Nicht wahr? Den hat ein junger Wiener Künstler gemacht, und ich habe ihn gegossen, das ist schon richtig. Eine hübsche Art, Salz und Pfeffer zu servieren, nicht wahr?“ Er hob die eine von den beiden Laternen von der Stange und streute Salz auf den Karpfen. „Salz und Pfeffer? Ist es ein – ein Behälter für Salz und Pfeffer?“ fragte Regina ganz überrascht. „Natürlich. Was dachten Sie?“ „Ich dachte, es sei nur ein Schmuckgegenstand…“ „Nun, das ist es auch. Glauben Sie, die Leute würden so viel Kunst kaufen, wenn die Kunst nicht angewandt werden könnte?“ „Ja, aber, aber…“ Der alte Balthasar lächelte. „Kommen Sie eines Tages zu mir in die Werkstatt“, sagte er. „Ich habe eine ganze Menge von diesen Bronzeminiaturen gegossen. Sie sind meisterhaft gemacht, andere Sachen übernehme ich gar nicht zum Gießen, ich kann es mir zum Glück leisten, wählerisch zu sein!
Und denken Sie doch mal, was dieser junge Bildhauer für eine Mis sion hat. Er regt die Leute dazu an, feine Kunst zu kaufen, ohne daß sie es selber ahnen. Sie brauchen einen Leuchter oder eine Pfefferdo se oder einen Aschenbecher, und weil diese Dinge in erster Linie gute Kunst sind, in zweiter aber einem Zweck dienen – so meinen sie, sie können es sich erlauben, sie zu kaufen. Und dann sehen sie diese Dinge tagtäglich vor sich auf ihrem Tisch. Ihre Augen gewöh nen sich daran, gute Kunst zu sehen, die Kunst hält Einzug in die Wohnungen und wird lebendig, sie ist nicht nur etwas Fernes, das in Museen oder zu reichen Leuten gehört. Verstehen Sie, was ich mei ne?“ „Hm, ja…“, sagte Regina zögernd. „Aber ich wende mich gegen diese Zweckkunst, weil ich so viele Geschmacklosigkeiten gesehen habe…“ „Aber meine Liebe, darum dürfen Sie doch nicht kurzerhand al les verdammen, was angewandte Kunst heißt. Natürlich gibt es Ge schmacklosigkeiten, das weiß der liebe Himmel. Aber – nein, kom men Sie lieber in meine Werkstatt, dann werde ich Ihnen Sachen zeigen, die viel besser als Worte ausdrücken können, was ich mei ne.“ Da lächelte Regina. „Tausend Dank, das möchte ich furchtbar gern!“ Am späten Abend, als Regina und Katrin in ihr Stübchen ge kommen waren, zündeten sie ihren kleinen Weihnachtsbaum an und überreichten sich gegenseitig ihre Geschenke. Regina war in sich gekehrt. Sie saß da und starrte in die Kerzen. Katrin ließ sie gewähren. Sie holte den Weihnachtsbrief von Mami hervor und las ihn zum vierten Male. Regina fühlte sich so sonderbar ratlos, und dennoch – heute abend war ihr etwas Gutes widerfahren. Was der feine alte Künstler gesagt hatte – ja, denn Künstler war er, der alte Balthasar, auch wenn er sich noch so bescheiden Handwerker nannte –, das hatte etwas in ihr aufgetaut. Ihre Halsstarrigkeit hatte angefangen, sich zu lockern. Aber was Regina selber nicht merkte, war, daß auch der Mensch in ihr in einen neuen Entwicklungsabschnitt eingetreten war. Nicht daß ihre Ehrlichkeit erschüttert worden wäre, aber – ein kleiner, neuer Keim war gelegt worden. Ein Keim, der sich weiter entwickeln würde zu Nachsicht, zu Nachgiebigkeit und zu einer Fähigkeit, sich in die Gedankengänge und die Handlungsweise anderer Menschen hineinzuversetzen.
Ihre Augen waren halb geschlossen. Und mit einem Male war ihr, als versinke die Umgebung um sie her. Sie fühlte, wie ihr die Gedanken eines anderen Menschen entgegenströmten über eine weite Entfernung hinweg und ihrem festen Schweigen zum Trotz. Sie glaubte, wieder eine Stimme zu hören. „Und sollte etwas geschehen, irgend etwas, dann sollst du wis sen, daß ich dich liebe – diese Zeit war so schön…“ Sollte etwas geschehen… Was sollte geschehen? Die neue, weiche Regina, die nach der Wahrheit tastete, die sich plötzlich ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr sicher war, sie sann einem anderen, einem neuen und erstaunlichen Gedanken nach. „Sollte etwas geschehen“ – war es so merkwürdig, daß ein Mann diese Worte aussprach, wenn er in ein fremdes Land reiste? Wenn er wußte, daß er monatelang wegbleiben würde? War es das, was er gemeint hatte? Regina schlug die Augen ganz auf und begegnete Katrins Blick. Der war hell und offen und voll zärtlichen Verstehens. „Katrin – ich muß gerade an etwas denken.“ „Ja? An was denn?“ „Ich sitze da und denke darüber nach, ob ich mich vielleicht ge irrt habe. Ob ich mich nicht von Anfang an ganz gewaltig geirrt habe.“ „Du – die selbstsichere Regina – , wie kann das zugehen, daß du plötzlich so unsicher bist?“ „Vielleicht ist die Unsicherheit der Beginn einer neuen Sicher heit, Katrin. Vielleicht – vielleicht muß ich von vorn anfangen. Vielleicht habe ich mich in verkehrte Vorstellungen verrannt.“ Katrin sah sie fragend an. Redete Regina von ihrer Kunst, oder rede te sie von etwas anderem? Als Regina wieder sprach, war ihre Stimme ganz leise, beinahe flüsternd, als spräche sie zu sich selber: „Vielleicht hat meine schreckliche Halsstarrigkeit mich dazu verleitet, ein großes Unrecht zu begehen…“ Daheim, hoch im Norden, wo ein feuchtkalter Wind von der See hereinwehte, lag „Katrins Keramik“ fest verrammelt da. Aber gerade in diesem Augenblick klingelte das Telefon in dem dunklen, verlas senen Haus. Es klingelte und klingelte… Dann verstummte es. Und am anderen Ende der Stadt legte ein junger Mann mit einem
kaum hörbaren Seufzer den Hörer wieder auf. Vielleicht war es gut so. Es sollte so sein. Es hatte wohl seinen bestimmten Sinn. Es war vielleicht besser für ihn, wenn ihm endlich jeder Gedanke an Regina verschwand. Er hätte nur so gern gewußt, wie es ihr ging. Hatte Katrin nur bit ten wollen, ihr einen Gruß zu bestellen. Aber das Schicksal hatte wohl eine Absicht damit.
Katrins Liebe gilt nicht nur der Kunst „Sehen Sie mal an, Fräulein Frank! Das nenne ich eine gute Arbeit. Aber fertig ist sie ja nicht.“ „Nein, das weiß ich, Herr Reisinger. Jetzt kommt erst noch die Retusche.“ „Ja, ganz recht. Und wenn die besorgt ist, wenn Sie sie ohne Fehl und Tadel schaffen, dann möchte ich behaupten, daß Sie in der Gips technik ganz schön weit vorangekommen sind. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wir mit Bronze anfangen können.“ Regina stellte die Gipsfigur auf den Tisch, strich mit den Fingern an ihr entlang – ja, sieh mal an, dort am Rücken war eine Unebenheit – nicht viel, aber sie mußte beseitigt werden. Sie suchte unter den Werkzeugen, fand, was sie brauchte, und begann, vorsichtig an der Figur zu schaben und zu glätten. Dann lächelte sie. „Sie sind furchtbar streng, Herr Reisinger!“ „Na klar bin ich das. Sonst würden Sie ja nichts lernen. Und ebenso streng wie gegen andere bin ich auch immer gegen mich selbst gewesen.“ Er hatte eine kleine Bronzefigur vor sich, die er gerade patinierte. Zwischendurch sah er sie mit gerunzelten Brauen an, berichtigte hier etwas, wischte dort etwas fort und arbeitete dann weiter, langsam und sorgfältig, billigte sich die Zeit zu, die er nötig hatte. „Ich kann nur nicht begreifen“, sagte Regina langsam, „daß Sie selber das Modellieren aufgegeben haben.“ „Es war auch nicht leicht, kleines Fräulein Regina. Ich war so überzeugt von meinem eigenen Talent, so sicher – und gerade dann, wenn man sich absolut sicher fühlt, kommt einen der Zweifel dop pelt schwer an. Ist er aber erst in einem drinnen, dann breitet er sich aus, nistet sich ein, und dann geht es einem jämmerlich, bis man zu dem erhabenen Gefühl vorgedrungen ist, das Resignation heißt.“ „Ist das ein erhabenes Gefühl?“ „Ja, denn es ist ein Sieg, wenn man bis dorthin gelangt. Viele bleiben in der Bitterkeit stecken und kommen nicht weiter. Man muß sich quer durch die Bitterkeit hindurcharbeiten wie durch einen Ur wald voll stechender Dornen. Eines Tages merkt man dann, daß man den Urwald hinter sich gelassen hat. Es wird wieder hell, und es gibt keine Dornen mehr, die einen stechen. Man ist zu einem friedlichen
und durchsonnten Fleck hinausgelangt. In das stille Land der Resi gnation. Und dort bleibt man. Denn dort ist gut sein.“ „Und dann?“ fragte Regina ganz leise. „Ja, dann ist man gewissermaßen reingewaschen – man hat alles, was einen gehindert und gehemmt hat,- abgeschält – , und dann kann man wieder von neuem beginnen.“ „Und da machten Sie sich an das, was Sie Handwerk nennen?“ „Da machte ich mich an das Handwerk. Da konnte ich meine ganze Liebe zur Kunst anwenden und meine Ehrerbietung vor der Kunst. Weil ich endlich eingesehen hatte, daß ich selbst nicht die schöpferische Kraft besaß, da lernte ich, mich darüber zu freuen, daß andere sie hatten. Zuletzt war ich so weit gelangt, daß ich glücklich war, sobald ich gute Kunst entstehen sah. Das war ja im Grunde die Hauptsache – nicht, wer sie machte.“ „Wissen Sie, Herr Reisinger…“, Reginas Stimme klang gedämpft und bewegt, „wissen Sie… wenn man es sich recht überlegt, dann glaube ich doch, Sie sind ein größerer Künstler als alle die Bildhau er, deren Werke Sie gießen.“ Reisinger lächelte. „Wenn Sie gesagt hätten, Lebenskünstler, dann würde ich mich so einigermaßen mit Ihnen einverstanden erklären können.“ „Ja, als Mensch sind Sie weit gekommen.“ „Liebes Fräulein Regina, es hat keinen Sinn, Künstler und Mensch trennen zu wollen! Ein schlechter Mensch wird niemals ein guter Künstler – denn zu guter Kunst gehört Seele, gehört Herz und – Menschenliebe!“ „Mir hat mal jemand erzählt, um gute Kunst zu machen, muß man auch gelitten und Kummer gehabt haben.“ „Da ist was dran, Mädel. Es kommt ganz darauf an, ob man es versteht, das Leid richtig zu verarbeiten. Man darf es nicht in Bitter keit verwandeln. Bitterkeit macht unfruchtbar, denken Sie immer daran. – So, nun lassen Sie mich mal Ihre Figur sehen. Schauen Sie, hier sieht man den Streifen von der Fuge, quer über den Kopf hin weg, das darf nicht sein. Hier muß nachgeholfen werden, ich will es Ihnen zeigen.“ Und Reisingers Hände umfaßten die Figur mit jener zarten und großen Behutsamkeit, mit der sie immer ein Kunstwerk behandelten. „Sie können, Regina. Sie haben etwas zu geben. Sie können schaffen. Alles, was Sie machen, ist so rein, so richtig. Aber…“ „Aber?“ wiederholte Regina.
„Sie müssen mehr Leben hineinlegen. Wenn Sie eine Gestalt modellieren, dann machen Sie nicht nur das Strenge und Reine und – ja, was soll ich sagen, das Symbolische. Das rein Symbolische. Ma chen Sie unter allen Umständen auch mal eine Gestalt, die von Leid, von Sünde erzählt und von…“ „… von Vergebung vielleicht?“ „Ganz recht! Denn besteht das Leben nicht zum größten Teil aus Sünde und Vergebung?“ Katrin hatte kaum Zeit, ihren Mantel auszuziehen, da fing sie auch schon an: „Nein, Regina, jetzt hör bloß mal. Jetzt mußt du zu hören! Also, stell dir bloß vor! Ich stehe heute bei Tausing, von oben bis unten mit Ton beschmiert, du weißt ja, wie ich mich immer ein ferkele, wenn ich modelliere. Da geht die Tür auf, und herein kommt ein Mann mit den interessantesten silbernen Schläfen der Welt. Nicht zu glauben, wie der Mann aussah. Und dann sagt er auch noch: ,Hallo, Onkel Franzi’, und entpuppt sich schließlich als ein Neffe von Tausing. Und nun fing er an, im Atelier herumzuwandern und sich von oben bis unten alles zu begucken, und kannst du erraten, bei welchen Sachen er ganz aus dem Häuschen geriet vor Begeiste rung?“ „Oh, du hattest ihm wohl einen erdbeerfarbenen Keramik schmuck gezeigt?“ sagte Regina und lachte leise auf. „Ich werd’ dir gleich helfen, sonst werd’ ich dafür sorgen, daß du hier und da erdbeerrot anläufst. Nein, mein Engel, dieser kluge und einsichtige und intelligente und kunstverständige Mann blieb mit deinem ,Bübchen’ in der einen Faust und meinem ,Schützen’ in der anderen stehen und rief quer durch das Atelier: ,Du Onkel, hör mal, weißt du zufällig, wer diese beiden hier gemacht hat?’ Und das wuß te der Onkel zufällig, er zeigte auf mich mit einem Daumen, der voller Ton war, und nun machte sich der Doktor an mich heran…“ „Welcher Doktor?“ „Na ja, der mit den silbernen Schläfen ist Zahnarzt, wie findest du das? Höchstens fünfunddreißig Jahre alt – ja, allerhöchstem viel leicht siebenunddreißig, achtunddreißig, und er ist Dr. med. dent, oder wie es nun heißt – hört sich das nicht toll an? Er heißt übrigens Leo Bielec, na ja, also, er hielt die beiden Figuren vor sich hirt und kam zu mir und fragte, ob ich eine Lampe für ihn entwerfen wollte.“ „Katrin, mach doch mal freundlichst eine Pause, laß mich wie derholen. Also: ein Neffe von Tausing, ein Zahnarzt, mit Namen Bielec…“
„… mit silbernen Schläfen…“ ergänzte Katrin mit bedeutungs vollem Blick. „Bielec, mit viel zu früh versilberten Schläfen – du, vielleicht hat er auch sein eigenes Gebiß gemacht?“ „Regina, ich werde gleich handgreiflich! Er hat Zähne wie Perlen und er kann doch schließlich nichts dafür, daß er ein wenig Silber an den Schläfen hat; ich hatte einen Onkel, der war weiß, als er dreißig war…“ „Misch nun nicht deinen weißen Onkel in die Geschichte, das macht die Sache nur schwieriger. Also, dieser Wunderneffe, in den du dich nebenbei bemerkt vom ersten Augenblick an unsterblich verliebt hast, der will sich von dir eine Lampe machen lassen…“ „Ja, seine Mutter wünscht sich eine hübsche kleine Lampe für ih re gemütliche Ecke. Ausgerechnet mich fragte er, ob ich jemals mit Keramik gearbeitet hätte. Ich fragte zurück, ob er jemals mit Amal gam gearbeitet hätte; da lachte er furchtbar, und ich lachte mit. In zwei Tagen kommt er wieder ins Atelier, dann soll ich einen Entwurf für ihn fertig haben und ihm ein paar von meinen Keramiksachen zeigen…“ „Katrin, zeig ihm bloß nicht die himbeerroten Elefanten, dann zieht er seinen Auftrag zurück!“ „Er will nur sehen, ob ich die Technik beherrsche, du Schafs kopf.“ „Ach so, ja. Aber entschuldige eine ganz nüchterne Frage, liebe Katrin. Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn er seinen Onkel Tau sing danach gefragt hätte?“ „Ach, Regina, bist du schwer von Begriff! Verstehst du nicht, daß er dann keinen Vorwand gehabt hätte, mich morgen wiederzuse hen?“ „Ach, kommt er schon morgen? Dann ist es wohl besser, ich bleibe weg, damit du die interessanten silbernen Schläfen für dich allein hast!“ „Das schwör’ ich dir, das möchte ich auch. Du darfst ihn auch nicht nur ein bißchen anlächeln, ohne mich vorher zu fragen! Aber weißt du, er guckte sich ja auch dein Bübchen so verliebt an, wer weiß, vielleicht hat er es – sich anders überlegt, vielleicht bestellt er letzten Endes zwei Lämpchen, eins von dir und eins von mir. Regina, das wäre was, du… oh, Regina, das wäre was!“ Katrin arbeitete jeden Tag bei Professor Tausing. Regina teilte ihre Arbeit auf. Dreimal in der Woche war sie bei Tausing, drei Tage
bei Reisinger. Sie wußte selber nicht zu sagen, was sie am meisten genoß und bei wem sie am meisten lernte. Sie fühlte nur, wie jeder Tag ihr neue Kenntnisse brachte und wie ihre Augen und Ohren immer empfänglicher und offener wurden in dieser Stadt mit all ihrer Schönheit und ihren wunderbaren Kunstwerken. Sie liebte es, in den Stadtpark zu gehen. Dann konnte sie lange dastehen und sich das Straußdenkmal anschauen, das Schubertdenkmal und den reizenden Brunnen mit den Donauweibchen. Sie liebte es, durch den Belvederepark mit seinen vielen Skulptu ren zu gehen. Sie schritt quer über den Burgplatz und kam sich klein vor unter den Reiterstandbildern von Prinz Eugen und Erzherzog Karl. Sie betrachtete Beethoven, Haydn und die Mozart-Skulpturen, das Kaiserin-Elisabeth-Denkmal und den wunderschönen PallasAthene-Brunnen. Ach, wie war sie froh, daß Tausing ausgerechnet in Wien daheim war! Sonst hätte sie nicht all diese Schönheit erleben können! Nur einen Ort gab es, den anzusehen sie noch nicht die Kraft hat te – den schönsten von allen: Schönbrunn. „Hast du etwa den gleichen Traum wie ich, Schönbrunn zu erle ben? Dort fand der Wiener Kongreß statt – dort hielt Napoleon sei nen Einzug – , dort lebte die bildschöne Kaiserin Elisabeth…“ Nein, sie hatte nicht die Kraft. Noch nicht. Sie wollte Wien nicht verlassen, ohne in Schönbrunn gewesen zu sein, aber sie wollte war ten, so lange wie möglich warten. Statt dessen konnte sie Reisinger beim Arbeiten zuschauen und ihn aus seiner Jugend erzählen hören, aus dem Wien der Kaiserzeit. „Freilich habe ich den Kaiser gesehen, und was ich mein Lebtag nicht vergesse, das war sein Wagen mit dem Kutscher in Livree, der jeden Morgen um sechs Uhr durch die Stadt fuhr – mit zwei Pferden davor…. ach wo, der Kaiser saß nicht drin, nein, es war nur sein Wagen, der fuhr von der Hofburg zum Hofbäcker, um zwei Wecken zu holen – ja, zwei Wecken, die der Kaiser zum Frühstück aß, ohne Butter, nur mit einem Glas Milch dazu! Das wußte natürlich ganz Wien. Ach ja, und die bildschöne Kaiserin, mein Vater hatte sie gesehen, in der Galakutsche…“ Reisinger erzählte von den Galavorstellungen in der Oper, von Glanz und Licht und Flitter, erzählte so schlicht und ruhig und den noch so lebendig, daß Regina völlig miterlebte und die Weltge schichte ihr lebendig wurde. Sie bekam Lust, über diese Menschen zu lesen, deren Namen bisher nur Buchstaben im Schulgeschichts
buch gewesen waren. Nun ging sie in die Bibliothek und lieh sich Bücher, las und las, erweiterte ihr Interessengebiet über Schönbrunn, über Österreichs Grenzen hinaus, über die ganze Europalandkarte. Sie war von Lesehunger getrieben und merkte nach und nach, wie einseitig ihre Interessen bisher gewesen waren. Sie war mit Scheu klappen durch das Leben gegangen. Und als sie nun über das Leben und die Leiden und Freuden an derer Menschen las, da sah sie ihr eigenes Schicksal in einem ande ren Licht. Jeder Mensch hatte sein Teil an Kummer durchzumachen, warum sollte ausgerechnet sie verschont bleiben? Ja, die kleine Regina war im Begriff, ein erwachsener Mensch zu werden. Katrin zwitscherte und schwabbelte und war glücklich. Samstag vormittag war sie ganz zappelig. Sie konnte sich durchaus nicht auf die Arbeit konzentrieren, und als die Mittagszeit herannahte, gab sie es ganz auf, warf die Schürze in die Ecke und wanderte zur Stadt, um sich ein neues Kleid zu kaufen. „Medizin für eine nervöse Frau“, lachte Tausing, als sie aus der Tür war. „Ein Kleid ist für eine Frau zweifellos immer noch das beste Mittel gegen schlechte Nerven. Was hat sie eigentlich vor?“ „Ich habe den wohlbegründeten Verdacht, daß sie mit Ihrem Nef fen ausgehen will“, lachte Regina. Tausing lächelte. „Jaja, das ist der Welten Lauf. Mein Neffe ist übrigens ein präch tiger junger Mann. Er hat eine gutgehende Praxis und ist seiner Mut ter ein guter Sohn – meiner Schwester also. Sie ist gelähmt, die Ärm ste, sitzt das ganze Jahr über im Rollstuhl, und Leo tut wirklich alles, was er kann, um ihr das Dasein so freundlich wie möglich zu gestal ten.“ Regina lächelte. Ihr gefiel es, wie Tausing von seinem Neffen sprach. Und sie freute sich, daß es ein tüchtiger und wertvoller jun ger Mann war, an den Katrin ihr Herz verloren hatte. Denn für Katrin war das Beste gerade gut genug – nur das Aller beste. Tatsächlich: Zu Hause auf ihrer Bude stand Katrin vor dem Spie gel und zupfte mit einem verzückten Lächeln an einem neuen Kleid rum. Regina mußte lachen. „Du lieber Himmel, bist du das wirklich, Katrin? Ich habe nie gewußt, daß du so eitel bist!“ „Ja aber, Regina, du weißt doch, was heute für ein Tag ist! Ich
bin zum Tee eingeladen, zu der alten Frau Bielec, und ich soll mir die Ecke ansehen, wo das Lämpchen stehen wird. Sie will mit mir die Zeichnungen besprechen. Ich habe ein Lampenfieber, als ob ich heute abend in der Oper die Titelrolle in Aida singen müßte – ohne Probe!“ „Wann mußt du gehen?“ „Um halb vier. Doktor Bielec kommt und holt mich ab.“ „Aha!“ sagte Regina und lächelte. „Was machst du heute nachmittag?“ „Arbeite ein bißchen an einem Abguß.“ „Mit Reisinger?“ „Nein, allein. Reisinger ist gestern ins Wochenende gefahren, ich habe ihn gesprochen, kurz ehe er abfuhr…“ Regina verstummte jäh. Was hatte sie da eben gesagt? Die Worte lagen noch in der Luft… „Ich habe mit ihm gesprochen, kurz ehe er abfuhr.“ Es waren die selben Worte, die Annette von Gert gesagt hatte: „Er ist gestern nach Dänemark gefahren. Ich habe noch mit ihm gesprochen, kurz ehe er abfuhr.“ „Reisinger ist ins Wochenende gefahren. Ich habe ihn gespro chen, kurz ehe er abfuhr“ – so wenig konnten diese Worte bedeuten, ganz unwichtig konnten sie sein… Regina beschäftigte sich in ihren Gedanken wieder mit der Ver gangenheit. Sie dachte zurück an jenen Abschiedsabend, an andere Abende, wunderbare Stunden mit Gert und wunderbare Fahrten mit ihm in die Sonne hinaus. In ihr bohrte etwas, sie mußte die ganze Sache noch einmal durchdenken. Jetzt hatte sie Abstand bekommen, und jetzt hatte sie sich selbst gewandelt. Hatte sie in ihrem unerbittlichen Anspruch auf Wahrheit Gert Unrecht zugefügt? War im tiefsten Grunde alles ganz anders…? Dr. Bielec kam und holte Katrin ab. Regina mußte ihr recht ge ben. Er war ein sympathischer junger Mann. Nicht nur sympathisch, er hatte auch viel von jener leichten, selbstverständlichen eleganten Höflichkeit, die der echte Wiener ebenso natürlich trägt wie einen bequemen Mantel. Munter und gleichzeitig ehrerbietig, unbefangen, ohne dreist zu sein, höflich, ohne die geringste Übertreibung. Und jenen Schimmer von Humor und Intelligenz in den dunklen Augen. Liebe, gute Katrin, dachte Regina, als die beiden gegangen wa ren. In ihr stieg plötzlich ein fast mütterliches Gefühl für die Freun
din auf. Hoffentlich würde sie niemals enttäuscht. Regina holte eine Miniatur aus ihrer Tasche. Es war ihre erste selbständige Bronzearbeit. Jetzt wollte sie sie retuschieren, und dann würde sie ja hören, was Reisinger dazu sagte. Wie still es heute abend im Haus war. Und auf der Straße, wie still! Auf der kleinen, schmalen Gasse mit Kopfsteinpflaster, deren weißgetünchte alte Häuser sich gleichsam vorneigten und in ihrem guten alten Wiener Dialekt miteinander flüsterten – von jungen Paa ren flüsterten mit Halskrausen und Krinolinen, von anderen mit Reifröcken und Schnurrbärten – und von denen, die noch später kamen, aber sich gerade so im Schutz der alten weißen Häuser mit den tiefen, getünchten Torbögen gefunden hatten, die lächeln und lachen und lieben gelernt hatten… wie in dieser schönen Stadt zu allen Zeiten gelächelt und gelacht und geliebt worden war. Regina blieb an ihrem Arbeitstisch sitzen und starrte durch das kleine Fenster. Noch war es ganz hell, es lag ein Lenzschimmer in der Luft – kein Wunder, es war ja schon März… Wie es wohl daheim aussehen mochte? Ob die Krokusse wohl schon blühten im Stadtpark vor der Parkkonditorei? Und im Garten von Eimers Haus? Nein, was fiel ihr denn heute abend nur ein? Sie mußte sich auf diese Retusche konzentrieren. Wie spät es sein mochte? Sieh da, die Uhr war stehengeblieben. Katrin hatte den Wecker gestern aufziehen sollen. War ja sonnenklar, daß sie es vergessen hatte, sie schwebte zur Zeit auf rosaroten Wolken! Regina machte die Küchentür einen Spalt weit auf. „Frau Reisinger, können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ „Viertel nach fünf, Fräulein Frank!“ Regina bedankte sich und stellte die Weckeruhr. Schon Viertel nach fünf, was sollte das bloß heißen, so dazusitzen und die Zeit zu verträumen! Sie machte sich von neuem an ihre kleine Statue und zwang sich, die Gedanken darauf einzustellen. Und so saß sie noch immer und arbeitete, als Katrin nach Hause kam. „Regina, nein, du solltest nur wissen, wie reizend sie ist! Strah lend sanft und heiter, obwohl sie gelähmt ist! Sie war sehr von den Entwürfen begeistert, und rate bloß mal, Regina – rate mal – , stell dir vor: sie will zwei Lampen haben, ganz kleine, auf jeder Seite des Bücherbords – und weißt du, was sie haben möchte, Regina? Dein ,Bübchen’ und meinen ,Schützen’! Ich hätte mir die ganze Zeichne
rei sparen können, denn unsere beiden Kinder gefielen ihr am aller besten. Und nun lache mich nicht aus, ich muß dich ganz artig um etwas bitten: Wenn ich meine Miniatur vom ,Schützen’ gemacht habe, würdest du dann wohl so lieb und nett und gut sein, ihn für mich zu gießen, Regina? In Bronze?“ „Katrin, jetzt setz dich erst mal hin und hole Luft, bitte. Ja, ich werde für dich gießen, was du willst, und wenn du einen Schützen machst so groß wie die Freiheitsstatue in New York. Und die bezau bernde Dame ist natürlich die alte Frau Bielec, vermute ich?“ „Na ja, klar, wer sollte es denn sonst sein? Und ich kriegte einen phantastischen Tee und Kuchen…! Sie hat ein Wunder von einer Hausgehilfin, die das Kindermädchen vom Doktor gewesen ist und ihn Herr Leo anredet…“ „Jaja, das ist ja großartig, aber kehre jetzt zu dem Nächstliegen den zurück. Was war es, was du von meinem ,Bübchen’ sagtest?“ „Daß du eine Miniatur davon machen sollst als Lampenfuß, er soll ein Gegenstück zu meinem ,Schützen’ sein…“ „Hast du auch nur im allergeringsten darüber nachgedacht, wie die Lampe auf den armen Jungen aufmontiert werden soll? Soll er sie auf dem Kopf tragen?“ „Aber nein, in der Hand, so ,à la Fackelträger’ – du mußt doch anfangen, ein wenig nachzugeben. Schau her, ich werde dir zeigen, wie ich es meine…“ Katrin riß sich den Hut vom Kopf und schmiß ihn aufs Bett, der Mantel landete auf der Kommode, und sie schob eine Teetasse, eine Figur und eine Schachtel mit Nähsachen beiseite, um ihren rechten Arm auf den Tisch legen zu können, wo sie auf der Rückseite von Mamis letztem Brief etwas aufzeichnete. „Schau her…. du kannst den Jungen ganz lassen, wie er ist, läßt ihn nur die rechte Hand hochheben, so. Du, ich hab’ wahrhaftig Hunger, obgleich ich so ‘nen Haufen Kuchen gegessen habe. Ich muß mir einfach sofort ein richtiges Stück Schwarzbrot mit Wurst machen!“ Regina lachte. Mit Katrin im Zusammenhang zu reden, gab sie als aussichtslos auf. „Kein Wunder, daß du Hunger hast, wenn du dich den ganzen Nachmittag herumtreibst und so spät nach Hause kommst…“ „Spät? Es ist doch nicht spät!“ „Es war genau halb acht, als du nach Hause kamst!“ „Unmöglich!“ „Nein, gar nicht unmöglich. Ehrenwort! Sieh mal! Jetzt ist es
acht!“ Katrin schüttelte den Kopf. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Es ist sieben, Regina!“ „Denk nicht dran! Ich habe doch die Uhr heute nachmittag ge stellt, ich geb’ dir mein Ehrenwort, es ist acht!“ Im selben Augenblick begann die Kirchenglocke in der Nähe zu läuten. Das tat sie allabendlich um sieben Uhr. Regina sah Katrin erschrocken an. „Ja, du meine Güte! Dann muß Frau Reisinger sich geirrt haben, denn sie sagte mir, die Uhr wäre…“ „Jaja, jetzt sitzt du da mit deinem Ehrenwort!“ lachte Katrin und stellte den Wecker. „So, ich lauf ‘raus und hol’ mir eine zolldicke Schnitte Schwarzbrot. Willst du auch eine haben?“ Regina schüttelte den Kopf, stumm, mit großen Augen. Die Tür klappte hinter Katrin zu. Frau Reisinger hatte „ihren bei den Mädeln“ eine kleine Ecke in der Küche überlassen. So brauchten sie ihr Essen nicht im Zimmer zu richten. Frau Reisinger hatte es gern, wenn die muntere Katrin zu ihr in die Küche kam und ihr aller lei erzählte, bald von Tausings Atelier, bald von ihrem Zuhause und der Töpferwerkstatt in ihrer Heimatstadt. Heute abend war Katrin ganz besonders gesprächig. Sie saß auf dem Rand des Küchentisches und aß. Dann mußte sie unbedingt Frau Reisingers Leberkäs kosten, und es dauerte eine halbe Ewig keit, bis sie wieder zu Regina hineinging. Regina aber saß steif wie ein Stock am Tisch, weiß im Gesicht und mit schwarzen, weit aufgerissenen Augen. „Jetzt sitzt du da mit deinem Ehrenwort!“ hatte Katrin gesagt. Ja, so leicht konnte ein solches Ehrenwort einem über die Lippen rutschen. Hatte Gert am Ende diese Wendung gar nicht so richtig gemeint, als er ihr schrieb? Oder… oder… Plötzlich durchfuhr sie ein Schreck. Oder Gert war guten Glaubens gewesen! Annette war es, die ge logen hatte! Mit einem Male verstand Regina alles – die neue Regi na, die Weichheit gelernt hatte und Nachgiebigkeit, die gelernt hatte, mit den Augen anderer zu sehen. Sie verstand plötzlich, sie begriff, wie das Ganze gewesen war. Gerts einzige Lüge war gewesen, daß er erzählt hatte, das „Schla fende Kind“ sei entzweigegangen. Und die hatte er ausgesprochen, bevor sie sich richtig gekannt hatten, bevor er irgendwelche Ver pflichtungen ihr gegenüber hatte. Die war ihm einfach so herausge
fahren, ohne daß er richtig darüber nachgedacht hatte. Dann hatten sie sich kennengelernt und – liebengelernt. Dann hatte es Gert ge quält, daß er dies eine Mal gelogen hatte, und es hatte ihn gequält, daß ausgerechnet Annette das „Schlafende Kind“ hatte. Sie selbst, Regina, hatte es ihm ja noch schwerer gemacht, als sie sagte: „Bes ser, daß die Figur bei dir entzweiging, als daß sie bei jemandem steht, der sie nicht begreift.“ Armer Gert. Armer, lieber Gert! Sie hatte selbst Schuld – sie hat te ihn zum Sklaven ihrer verflixten, verstockten, verbohrten Ehrlich keit gemacht. Widerwärtig, rechthaberisch war sie gewesen! Und nun hatte Gert… ach ja, natürlich, klar, so hing es zusam men: Er hatte Annette angeläutet und versucht, die Figur zurückzu bekommen; vielleicht hatte er ihr ein anderes und viel größeres Ge schenk angeboten. Da war der Teufel in diese Annette gefahren, und sie hatte gesagt, die Figur wäre ‘runtergefallen und zerbrochen. Und er hatte ihr geglaubt. Geglaubt und an Regina geschrieben, die Figur wäre entzweigegangen, auf Ehrenwort. Genauso wie sie selbst vor fünf Minuten in gutem Glauben ihr Ehrenwort gegeben hatte… Und sie hatte geschmollt und war beleidigt gewesen wie ein klei nes Kind, hatte nicht ein Wort an Gert nach Kopenhagen geschrie ben, hatte ihn vergeblich um Post bitten und betteln lassen… Was mußte Gert nur von ihr denken – wenn er überhaupt noch an sie dachte? „Du, Regina! Ich habe ganz vergessen… ja aber, was ist denn mit dir los, Regina? Du sitzt da, wie wenn du zu Stein erstarrt wärest. Ist was los?“ Regina wandte Katrin ihr blasses Gesicht zu. „Es ist nichts weiter los, Katrin, als daß ich mich schäme, wie ich mich noch nie in meinem Leben geschämt habe…“
Eine Geburtstagstorte bringt neue Überra schungen „Schön, Regina… sehr schön! Sehen Sie, jetzt liegt etwas Gelöstes über Ihrem kleinen Jungen. Und wissen Sie, es steht ihm tatsächlich, daß er einen Auftrag hat, daß er nicht nur einfach da auf einem Sok kel steht und sich zeigen soll. Nein, er muß hübsch artig eine Lampe halten und einer lieben, alten Dame leuchten. Das steht ihm sogar sehr gut.“ Regina lächelte matt. Sie stand bei Tausing im Atelier und mach te das „Brunnenkind“ in neuer Ausgabe: als Lampe für Frau Bielec. Eine Miniatur vom „Brunnenkind“, kaum fünfundzwanzig Zentime ter hoch; einfach und rein in den Linien wie das Original, und trotz dem lebendiger, wärmer, weicher als vorher. Der Professor blickte von der Figur auf Regina, von Regina auf die Figur. Er lächelte, und dann wanderte sein Blick zu Katrin hin über, die an dem Gegenstück arbeitete – einer genauso großen Aus gabe ihres kleinen Amors. „Das geht ja prächtig voran, und welchen Spaß macht es, zwei Konkurrentinnen dastehen und Seite an Seite in Frieden und Ein tracht arbeiten zu sehen! Können sie für ein Stündchen ohne mich fertig werden? Ohne daß Sie sich gegenseitig die Zähne ausschla gen?“ „Das würde doch auch nichts machen“, lachte Katrin. „Für Dok tor Bielec würde es ein Pappenstiel sein, sie wieder an ihren Platz zurückzusetzen!“ „Aber kein Pappenstiel für Sie, das Honorar zu bezahlen, kleines Fräulein Naseweis“, lachte der Professor. „Na schön, auf Wiederse hen ihr beiden, fahren Sie fort, wie Sie angefangen haben, dann kommen die Tonkinder in ein paar Tagen in den Ofen!“ Tausing ging, und Regina und Katrin arbeiteten weiter. Es war eine Weile still. Dann sagte Regina mit mühsamer Stimme: „Du, Katrin!“ „Würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Wann würde ich das nicht tun? Wenn du bloß nicht von mir ver langst, daß ich dir den Leo mit den silbernen Schläfen überlasse!“ „Sei jetzt mal ernst, Katrin. Würdest du wohl nach Hause schrei ben – an irgend jemanden, du kennst ja die halbe Stadt – und zu
erfahren versuchen, ob Gert vielleicht geheiratet hat?“ Katrin ließ die Hand mit dem Tonklumpen sinken und richtete ih re Augen auf die Freundin. „Ja, Regina, wenn du mich drum bittest – natürlich. Aber wes halb… weshalb willst du es dir selber so schwermachen, Mädchen?“ „Ich habe es in dieser ganzen Zeit so schwer gehabt, Katrin, daß ich diesen letzten Gnadenstoß noch hinnehmen kann. Aber ich kann es dir nicht erklären… noch nicht. Siehst du, ich habe so schreckli che Zweifel bekommen. Wenn ich erführe, daß Gert und Annette geheiratet haben, dann brauchte ich keine Zweifel mehr zu haben.“ „Und wenn sie es nicht getan haben?“ „Dann – dann muß ich alles von neuem durchdenken – , dann bin ich vielleicht allein die Schuldige – ach, Katrin…“ „Wie lange Zeit brauchen Briefe nach Hause, Katrin? Wie lange pflegt Post von deiner Mutter unterwegs zu sein?“ „Etwa zwei Tage. Ab und zu auch mal drei. Manchmal geht es schneller, manchmal dauert es auch länger.“ „Aha.“ Regina arbeitete weiter. Ihr „Kleiner Junge“ stand da und hob siegesbewußt den rechten Arm. „Ich hab’ vor einer Woche geschrieben, Regina.“ „Ich weiß, Katrin.“ „Regina – darf ich dich mal etwas fragen?“ „Selbstredend – soviel du willst.“ „Was wirst du tun, wenn du erfährst, daß Gert nicht verheiratet ist?“ „Ihm schreiben. Das ist es ja, Katrin…“, Regina wandte sich ganz zu ihr um. Ihr Gesicht war weiß und zerquält. „Das ist ja das Schreckliche, was ich verbrochen habe, Katrin. Ich bin einfach von der Voraussetzung, daß Gert mich betrogen hat, ausgegangen, wie von einer Tatsache. Keine Sekunde habe ich an die Erklärung ge dacht, die doch so klar, so einleuchtend ist: Gert würde nie sein Eh renwort brechen. Wenn er sein Ehrenwort gibt, ist er im guten Glau ben! Dann hat ein anderer gelogen oder sich geirrt – so wie Frau Reisinger mit der Uhr neulich! Und ich hätte ihm schreiben müssen. Katrin, ich hätte ihm sagen müssen, daß ich zufällig erfahren hätte, daß Annette das Schlafende Kind’ hat. Ich hätte ihn um eine Erklä rung bitten sollen, ja, notfalls hätte ich nach Kopenhagen fahren sollen, um mit ihm zu sprechen. Aber was habe ich getan? Ge schwiegen, geschwiegen, ein halbes Jahr lang geschwiegen! Ich, die
ich so laut von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit rede, ich habe die Beleidigte gespielt und ihm keinerlei Gelegenheit gegeben, die Din ge aufzuklären. So habe ich mich gegen den Mann benommen, den ich – den ich…“ „… geliebt habe“, vollendete Katrin gedämpft. „… liebe“, flüsterte Regina. Sie verstummte wieder, fing die Arbeit von neuem an, gab es aber nach zwei Minuten wieder auf. „Katrin! Ich kann ihn ja nicht vergessen! Ich habe in dieser gan zen Zeit wütend und enttäuscht sein können, aber ich habe doch nie aufgehört, ihn zu lieben! Und Katrin – wenn ich ihm unrecht getan habe!“ „Aber Regina! Du kannst ja nicht abstreiten, was du mit eigenen Augen siehst und mit eigenen Ohren hörst.“ „Doch!“ schrie Regina plötzlich auf. „Liebt man einen Men schen, dann vertraut man ihm, man vertraut ihm mit allen Fasern seines Herzens, man vertraut ihm mehr, als man seinen eigenen Au gen und Ohren traut! So hat Gert mir vertraut, Katrin. Und so hätte ich ihm vertrauen müssen.“ Katrin arbeitete schweigend weiter. Sie dachte an den Brief, den sie an eine ihrer alten Schulfreundinnen geschrieben hatte, an die vergnügte und geschwätzige Anke, die immer alles über alle wußte und immer gern die letzten Neuigkeiten erzählte. Katrin hatte ge schrieben, sie sei nun jetzt so lange von zu Hause fortgewesen und ahne im Grunde nicht, was in der letzten Zeit geschehen sei. „Schreib und erzähle mir, was du weißt, Anke – wer hat sich verlobt und wer hat geheiratet, wer hat ein Kind bekommen und wer ist gestorben?“ Anke würde eine solche Frage nicht im geringsten auf fällig finden, sie würde sich hinsetzen und drauflosschreiben, alles, was sie an Stadtklatsch wußte, und das wäre ja nur gut. Wie kam Regina nur auf den Gedanken, Gert könnte geheiratet haben? Vielleicht wollte sie nur sichergehen, bevor sie schrieb; denn daß sie durch die Gegend lief und an einem Brief herumgrübelte, das stand für Katrin fest. Selbstverständlich, bevor Regina diesen Brief schrieb, mußte sie wissen, ob Gert an eine andere gebunden war… In einem halben Jahr konnte so vieles geschehen… Katrin sah gleich den Brief, als sie durch die Tür kam. Frau Rei singer pflegte die Post immer auf den kleinen Tisch im Korridor zu legen. Sie riß ihn auf, und Reginas Augen hingen an ihrem Gesicht,
während sie las. Katrin überflog ungeduldig die erste Seite – auch die zweite und dritte – , dann mit einem Male lächelte sie und reichte Regina den Brief. „Hier, Regina, du brauchst dich nicht durch drei dichtbeschriebe ne Seiten Stadtklatsch durchzufressen, lies hier auf der vierten Sei te…“ Und Regina las: „Ja, und dann hat Annette Krüger sich verlobt, mit einem schwer reichen Kaufmann aus Hamburg. Du solltest nur den Straßenkreuzer mal sehen, mit dem er hier zu jedem Wochenende erscheint. Annette ist damit schon gegen einen Torpfosten gesaust, als sie ihn fahren wollte. Ich dachte seinerzeit, Gert Eimer und sie würden ein Paar werden, du weißt, der hübsche Bäcker. Aber ein Bäcker ist wohl doch nicht gut genug für sie. Die Götter mögen wissen, was eigent lich aus dem geworden ist. Ich habe ihn seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er in einem seiner eigenen Mehlsäcke erstickt. Ach, das ist wahr, entsinnst du dich noch an die Elsa aus unserer Klasse? Die hat doch im vorigen Jahr geheiratet. Stell dir vor, die hat Zwillinge gekriegt…“ Regina hatte keinerlei Interesse für Elsas Zwillinge. Sie schaute vom Brief hoch. „Dann kann ich ja an Gert schreiben, Katrin.“ „Tu das, Regina.“ Regina reichte ihr den Brief zurück. Ihre Stimme klang so selt sam eingerostet. „Ich danke dir, Katrin. Tausend Dank!“ Dann schwiegen sie beide. Und als sie gegessen hatten, ging Ka trin in die Küche und unterhielt sich mit Frau Reisinger. Aber drin in dem kleinen Zimmer saß Regina am Tisch und stütz te ihren Kopf in die linke Hand. Die rechte führte den Füller, und sie schrieb und schrieb – sie schrieb den Brief, den sie in Gedanken mindestens zwanzigmal geschrieben hatte. Kein Wort zuviel, kein Wort zuwenig sollte er enthalten. Alles, alles wollte sie auseinandersetzen, ihren Verdacht, und wie sie dazu gekommen war, ihre Selbstbezichtigungen, wie sie allmählich ge lernt hatte, mit anderen Augen zu sehen, wie sie ihre eigene Starr köpfigkeit einsah… In der Küche aber ging die Kaffeemühle, denn Frau Reisinger gehörte zu jener Sorte Frauen, die immer eine gemütliche Unterhal tung mit einer guten Tasse Kaffee unterstreichen mußten. Und Katrin dachte derweil an Regina – sie hatte es vielleicht auch nötig, sich ein
wenig zu stärken, denn sie würde die halbe Nacht aufsitzen und schreiben, wenn Katrin sich nicht sehr täuschte. Und Katrin täuschte sich nicht. „Ah, du bist’s, Leo! Hast du Zeit, deinen alten Onkel mitten am Tag zu besuchen?“ „Nein, keineswegs. Ich hatte in der Stadt zu tun und will eine Kleinigkeit essen gehen, und da wollte ich eben mal ‘reinschauen. Guten Morgen, Fräulein Katrin! Na, Sie sind heute allein?“ „Allein dürfte etwas übertrieben sein“, lächelte Katrin und ließ die Augen in dem großen Atelier umherwandern. Es waren außer ihr noch fünf andere Schüler da. „Ich meine natürlich ohne Ihre Freundin.“ „Ja, Regina ist heute bei ihrem geliebten Gießer.“ „Sagen Sie mal, sind Sie nicht zufällig hungrig?“ „Hungrig? Allerdings bin ich das. Ich stehe da und habe das al lergrößte Verlangen nach meinem Butterbrotpaket – ich will mich nur eben waschen und dann…“ „Ausgezeichnet. Waschen Sie sich und nehmen Sie Ihr Butter brotpaket mit. Die Schwäne im Park freuen sich immer sehr darüber. Und Sie kommen und essen mit mir zusammen.“ Katrin strahlte Doktor Bielec an. „Oh, schrecklich gern, Herr Doktor!“ „Wie bezaubernd!“ sagte Katrin. Sie blickte sich in der alten Gastwirtschaft mit den Bauernmöbeln und kleinkarierten Tischtü chern um. Die Gaststube, in der sie saßen, war niedrig und bis zur Decke mit altem Zinn und Messing geschmückt. „Wie nett, daß Ihnen mein Stammlokal gefällt! Und dann das Es sen hier – es ist in all seiner Einfachheit sehr gut. Was möchten Sie trinken?“ „Zitronenlimonade bitte!“ „Keinen Alkohol?“ „Nein danke. Nicht mitten am Tage.“ „Aber Sie müssen. Sie können hinterher so viel Zitronenlimonade bekommen, wie Sie wollen, aber ein Gläschen müssen Sie wenig stens trinken.“ Dr. Bielec sah lächelnd auf sie nieder, tuschelte mit dem Kellner, und dann kam eine winzig kleine Flasche Sekt auf den Tisch. „Sehen Sie, so viel vertragen wir beide schon.“ Er hob das Glas. „Also, kleine Katrin – meinen herzlichsten Glückwunsch und al les Gute für Ihr neues Lebensjahr!“
„Wie – wie in aller Welt wissen Sie das?“ stotterte Katrin. „Ein sechster Sinn, Katrinchen!“ „Haben Sie es etwa an meinen Zähnen gesehen?“ „Nein. Aus Ihrem Paß!“ „Paß – den habe ich Ihnen doch aber nie gezeigt…“ „Nein. Aber wenn Sie in Mutters Hausflur Ihre Handtasche offen stehenlassen und der Paß guckt ‘raus und ich möchte gern Ihren Geburtstag erfahren, dann bin ich ein so großer Schurke, daß ich mir den Paß aus der Tasche hole und nachsehe!“ „Sie sollten sich schämen, Doktor!“ „Das tue ich auch. Und ich freue mich schon drauf, daß Sie mir vergeben. Es wird Ihnen sicherlich besonders gut stehen, wenn Sie einem reuigen Mann vergeben!“ Dr. Bielec winkte wieder dem Ober, und dieser kam mit einem breiten Lächeln und stellte einen großen Rosenstrauß vor Katrin. Sie schnappte nach Luft. „Oh, wie ist der schön! Nein, Doktor, ich muß schon sagen, Sie haben wirklich Talent, so was zu arrangieren – all dies haben Sie im voraus geregelt?“ „Ja klar! Den Sekt auf Eis und die Blumen bei der Hand, es kommt auch noch mehr. Ich dachte, wir müßten das Feiern heute vormittag gründlich erledigen, denn heute nachmittag werden Sie doch sicher mit Regina feiern?“ „Ja, das tue ich – und abends gehen wir in die Oper! Heute mor gen habe ich übrigens Kaffee im Bett getrunken, den hat Regina mir gebracht, und ich habe einen Brief von Mami bekommen und Ge schenke und…“ Jetzt wurde das Wiener Schnitzel aufgetragen und Katrin be schäftigte sich ausgiebig damit. „Sie bekommen nirgendwo anders in Wien ein so gutes Schnit zel“, erklärte Dr. Bielec. „Aber, Katrin, Sie müssen noch ein bißchen Platz lassen, Sie bekommen auch einen Nachtisch.“ Katrin aß mit größtem Genuß. Sie gehörte nicht zu jenen jungen Mädchen, die den Appetit verlieren, wenn sie verliebt sind. Im Ge genteil, wenn Katrin glücklich war, schmeckte es ihr doppelt gut, und glücklich war sie gerade – unsagbar glücklich! „So“, sagte Dr. Bielec und lächelte dem väterlichen alten Kellner zu. „Und nun die Geburtstagstorte!“ Der Ober hatte geradezu etwas Feierliches an sich, als er eine sil berne Platte brachte, die er vor Katrin hinstellte.
Katrins Augen wurden groß, ihre Wangen brannten – und mit ei nem Mal wurde sie leichenblaß. Die Torte vor ihr war wie ein siebenzackiger Stern geformt. Sie war mit Marzipan überzogen und in der Mitte saß ein kleiner Widder mit goldenem, gebranntem Zucker überzogen. Katrin wußte nicht, daß sie Dr. Bielecs Hand ergriffen hatte und sie preßte. „Doktor Bielec“, ihre Stimme zitterte, „wer hat diese Torte da gebacken?“ Bielec sah sie erstaunt an. „Gebacken? Welch komische Frage! Ein erstklassiger Konditor, Katrinchen, die Torte ist nicht vergiftet!“ „Ach, Doktor, seien Sie jetzt bitte, bitte ganz ernst – ich werde Ihnen sofort alles erklären…. sagen Sie mir, wer sie gebacken hat!“ „Unser Untermieter, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Ein junger Bäcker und Konditor aus Norddeutschland. Ach so – jetzt begreife ich…“ „Nein, Sie begreifen gar nichts! Ihr Untermieter? Haben Sie ei nen Untermieter?“ „Ja, meine Mutter und ich können doch mit der großen alten Wohnung nicht allein dasitzen, wir vermieten die beiden Zimmer mit eigenem Eingang vom Treppenhaus – aber jetzt erklären Sie mir mal alles, Katrin!“ „Dieser Untermieter – wohnt er schon längere Zeit bei Ihnen?“ „Eine Woche etwa oder zwei. Es war ein reiner Zufall, daß ich mit ihm ins Gespräch kam. Er hatte Zahnschmerzen, der Arme, und ich habe ihm schnellstens helfen müssen, und – nun ja, als er bezah len wollte, sagte ich, er könnte mir eine Geburtstagstorte backen für eine junge Dame, die…“ Jetzt hatte Katrin sich wieder gefaßt. Sie richtete den Blick voll und ernst auf Dr. Bielec. „Doktor – dieser Bäcker, der heißt Gert Eimer, nicht wahr?“ „Ja. Was ist mit ihm, Katrin? Bedeutet dieser Mann Ihnen et was?“ „Mir persönlich nicht. Aber für Regina bedeutet er die ganze Welt! Lieber, guter Herr Doktor, jetzt müssen Sie mir helfen…. Sie müssen Regina helfen…. welch Glück, daß Sie mich heute zum Essen eingeladen haben…. daß wir allein sind…. denn jetzt muß ich Ihnen was erzählen .’… ich habe Ihnen ganz furchtbar viel zu erzäh len!“
„Du siehst heute so strahlend aus, Katrin! Man sieht es dir gera dezu an, daß du Geburtstag hast!“ Regina hatte allen Grund, das zu sagen. Katrins Augen leuchte ten, über ihrem ganzen Wesen lag ein neuer, weicher, leuchtender Glanz. „Ach, Regina, wenn du wüßtest!“ Plötzlich schlang sie die Arme um den Hals der Freundin. „Katrin – Mädel – was ist denn?“ „Ach, Regina, ich – ich bin so glücklich! Ich bin so glücklich, daß ich heulen könnte.“ „Katrin – da ist irgendwas mit deinem Zahnarzt?“ „Wenn du wüßtest, wie nahe du der Wahrheit bist, Regina! Mein Zahnarzt – ja, Regina…. nicht mein ‚Zahnarzt’, sondern mein – zukünftiger Mann!“ „Katrin – ich – ich gratuliere dir von ganzem, ganzem Herzen, liebe, tüchtige, gute Katrin. Oh, wie ich dir das gönne! Aber sag – wann denn?“ „Heute! Heute, Regina – vor genau drei Stunden!“ „Der erwachsene, zuverlässige, erfahrene Doktor – der stürzt sich kopfüber in eine Verlobung mit so einem zugereisten Mädchen, das er kaum kennt!“ Jetzt wurde Katrin rot, und es stand ihr gut. „Do…o...ch, er kennt mich doch ein bißchen, Regina. Er ist – hm – , er ist oft im Atelier oben gewesen, wenn du bei Reisinger warst. Und einmal haben wir eine Autofahrt zusammen gemacht – und – und – und außerdem, Regina, weißt du nicht, daß es so was wie ,Liebe auf den ersten Blick’ gibt?“ Da schaute Regina Katrin groß an und ihre Augen waren dunkel und blank und unergründlich. „Ja, Katrin“, sagte sie leise. „Wenn ich irgend etwas weiß, dann ist es das!“ Es entstand eine kleine Pause. Dann lächelte Regina und streckte die Arme aus. „Komm, Katrin. Gib mir deinen Mantel. Und dann darfst du nicht vergessen, daß du Geburtstag hast und daß du auch dafür noch allerlei Glückwünsche erwarten darfst.“ Jetzt erst bemerkte Katrin den Geburtstagstisch, der in der Ecke aufgebaut war, mit Frühlingsblumen und Paketen und Post von zu Hause und mit brennenden Kerzen. „Ach, Regina, wie entzückend! Was ist denn das? Ach, eine neue Schürze von Mami, der guten – und Hausschuhe. Was ist das da –
von dir, Regina? Du bist – nein, du bist ja ein leichtsinniges Mäd chen! Eine so schöne Bluse! Denkst du, ich sehe nicht, daß das Handarbeit ist?“ Katrin packte Pakete aus und freute sich wie ein kleines Kind. Ih re Wangen glühten vor Aufregung, und die Augen waren blank. „Und du, Regina, weißt du was? An einem der nächsten Tage ge hen wir zu Leo und seiner Mutter – ja, zuerst gehe ich allein hin. Aber dann feiern wir Verlobung – mit dir und Tausing und – und… ja, ich weiß nicht, wen Leo sonst noch einlädt. Doch du verstehst wohl, du vertrittst meine ganze Familie und meine Verwandtschaft und alle meine Freunde.“ „Welche Ehre!“ lächelte Regina.
Ein unvermutetes Wiedersehen „Wo gehst du hin, Katrin?“ „Ich muß nur eben telefonieren!“ Regina lächelte. Katrin hatte eine Vorliebe für Telefonzellen bekommen. Allmor gendlich mußte Regina vor einer warten, während Katrin einen klei nen Morgenschwatz machte – mit wem, ja, das war nicht sehr schwer zu erraten. Sie lächelte vor sich hin, während sie dastand und wartete, und dann wurde sie wieder ernst. Jetzt war es eine Woche her, seit sie den langen Brief an Gert ge schrieben hatte. Jetzt müßte sie bald Antwort erwarten können – falls er überhaupt antworten würde. Aber dieses Wort hatte sie gebrochen. Stand sie denn nicht hier, mitten in einer verkehrsreichen Hauptstraße von Wien – und nie, nicht ein einziges Mal bis zu dieser Sekunde hatte sie Gewissensbis se gehabt, weil sie das Versprechen ganz und gar vergessen hatte. Aber sie entsann sich auch noch anderer Worte – ganz deutlich. Es war, als sei Gert in der Nähe, als höre sie ihn sprechen. „Viel leicht treffen wir uns in Wien, du mit Ton und ich mit Mehl an den Händen…“ Katrin stand in ihrer Telefonzelle und lauschte gespannt. „Ja, Kätchen, heute morgen! Ich habe ihn unterschlagen, ich habe ihn in der Brusttasche, du elende kleine Intrigantin!“ Katrin unterbrach ihn, sprach atemlos, gab Anweisungen. „Wird gemacht, gnädiges Fräulein, alles, wie du befiehlst. Es ist ganz unheimlich, wie du alles anordnen kannst!“ „Ja, Leo, aber hör her. Wir beide sind doch so glücklich, sollten wir es Regina nicht gönnen, daß sie es auch wird?“ „Doch, Katrin, das gönnen wir ihr.“ „Und ich hab’ dir doch gesagt, die müssen überrumpelt werden! Also, ist alles klar?“ „Sonnenklar, du Ränke-Spinnerin!“ „Na?“ Regina lächelte, als Katrin aus der Telefonzelle trat. „Brauchst du wirklich neun und eine halbe Minute, um ihn davon zu überzeugen, daß du ihn noch immer liebst?“ „Nein, dazu genügte die halbe Minute. Die neun brauchten wir
für andere Dinge.“ „Soso.“ „Ja. Um eine kleine Einladung für heute abend zu regeln.“ „Willst du heute abend wieder bummeln gehen?“ „ Wir gehen heute abend bummeln. Wir sollen zu Leo und seiner Mutter kommen. Meine nette Schwiegermama will unbedingt meine Freundin kennenlernen – dies Unikum, das es tatsächlich jahraus, jahrein mit mir aushält.“ „Katrin, wann sollen wir denn aber…?“ Katrin warf Regina einen schnellen Blick zu. Sie verstand. „Nicht eher, als bis die Nachmittagspost dagewesen ist, Regina. Kommt heute ein Brief mit der Post, dann kriegst du ihn, bevor wir gehen, ist das so recht?“ „Wie gut du mich immer verstehst, Katrin! Du, dann können wir doch unsere Bronzekinder mitnehmen, ich werde heute vormittag einen letzten kritischen Blick auf sie werfen. Ist es nicht komisch, Katrin, daß es jetzt umgekehrt ist: Ich gieße für dich und nicht du für mich?“ Du solltest nur wissen, was ich für dich zusammengegossen ha be! dachte Katrin, aber sie sagte es nicht laut. Den ganzen Vormittag saß Regina in der Werkstatt, blaß und schmal und mit großen, dunklen, angestrengten Augen, rieb und retuschierte sie an den Bronzefiguren. Eine Woche war vergangen und noch keine Antwort. Aber er war vielleicht verreist. In Kopen hagen konnte er auf keinen Fall mehr sein, er sollte dort nur bis Weihnachten bleiben – und jetzt war März – , ja, fast schon April. Vielleicht steckte Gert mitten in seiner Meisterprüfung. Vielleicht – Reginas Gesicht verzog sich – , vielleicht machte er gerade jetzt eine Sterntorte mit einem kleinen goldenen Widder drauf. Jetzt waren sie ja im Zeichen des Widders. In einer Woche hatte Gert Geburtstag – und sie hatte damals im Scherz einen Widder für ihn geformt, an jenem glücklichen, heiteren, strahlenden Tag in der Backstube. Ach, wie ewig lange war das schon her! Regina ließ die Hand sinken. Sie vergaß weiterzuarbeiten. Ganz still saß sie und starrte vor sich hin. Es war eine große, lee re Müdigkeit über sie gekommen. Eine müde Hoffnungslosigkeit. Wer wußte denn, ob Gert überhaupt antworten würde? Er hatte sie vielleicht ganz aus seinem Herzen gestrichen, aus seinem Leben – kein Wunder, so wie sie sich benommen hatte! Alles, alles hatte sie nur sich selbst zu verdanken. Ihrer eigenen
selbstgefälligen Bockigkeit. Es geschah ihr recht. Ja – so bitter es auch war – , es geschah ihr recht. Leo Bielec kam mit seinem Wagen, um sie abzuholen. Und un terwegs schwatzte und fuhrwerkte Katrin herum und war so aufge regt, wie Regina sie noch nie erlebt hatte. Sie mußte lächeln. Ausge rechnet Katrin. Sie hatte einmal so vernünftig darüber geredet, daß man zurückhaltend sein müsse und nicht zu offen und geradezu! Das Haus, in dem Leo mit seiner Mutter wohnte, war ein großes, altmodisches Mietshaus vom Ende des vorigen Jahrhunderts, mit viel überflüssigem Krimskrams und mit wunderbar viel Platz. Sie besa ßen eine „hochherrschaftliche“ Siebenzimmerwohnung, von der sie zwei Zimmer vermieteten. Für sich hatten sie ein großes, behagliches Wohnzimmer, Frau Bielecs kleinen Ecksalon, jeder sein Schlafzim mer und ein Zimmer für die treue Resi, die Haushälterin. Resi empfing sie an der Wohnungstür, war sanft, mütterlich und rührend. Im Wohnzimmer blieben sie einen Augenblick allein. Ka trins Augen glänzten und funkelten, sie war die ganze Zeit ganz ungewohnt zapplig, saß keinen Augenblick still, sprang auf, um sich ein Bild an der Wand zu betrachten, dann wieder an einer Fenster pflanze ein welkes Blatt abzurupfen. Was hatte sie nur? Dann hörte man Schritte auf dem Korridor und Leos Stimme, er sprach wohl mit einem neuen Gast. „Ja, ist es nicht lustig, daß Sie heute Landsleute hier treffen – bit te sehr – nein, nach Ihnen!“ Im selben Augenblick wurde eine andere Tür leise geöffnet und wieder geschlossen. Es war Katrin, die mit einem Male wie ein Geist durch die Wand verschwunden war. Regina war aufgestanden. Sie sah nach dem Herrn, der ins Zim mer trat. Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen. Fassungslos tastete sie nach einem Halt. Und er – er blieb gleich an der Tür stehen, merkte gar nicht, daß hinter ihm die Klinke einschnappte. War das – sah er – , träumte er? Er sah Regina überall – auf der Straße, in jeder Straßenbahn, in jedem Zug – , immer sah er Regina. Aber dann durchzuckte ihn eine Erinnerung: Regina und Wien. Regina und ihr Wunschtraum. War es trotzdem… Sie kam näher. Ein blasses Gesichtchen, zwei dunkle, übergroße Augen. Da blieb sie stehen. „Nein…“, flüsterte sie heiser. „Nein, nein! So etwas kommt nicht vor! So etwas kommt in dieser Welt nicht vor!“
Und dann stürzte sie auf ihn zu. Sie saßen noch immer allein im Zimmer. Niemand störte sie. Gert saß in einem Sessel und vor ihm auf einem Kissen auf dem Fußboden Regina. Jetzt endlich konnte Regina weinen. Ein halbes Jahr voll Leid, Ungewißheit, Enttäuschungen und Selbstvorwürfen spülten die Trä nen weg und legten den Boden frei für ein neues Glück. Wo sollten sie anfangen? Es gab soviel zu fragen, zu erzählen… „Wann bist du denn nach Wien gekommen, Gert?“ „Vor drei Wochen – ich war in der Zwischenzeit noch in Paris, aber ich hatte das Gefühl, daß alles weggeworfene Zeit wäre. Ich habe nicht ordentlich arbeiten können, habe mich auf nichts so rich tig einstellen können…“ „Oh, Gert – das ist alles meine Schuld!“ „Deine Schuld, Regina? Meine Schuld war es, ich mit dieser dämlichen Lüge habe…“ „Ach Gert! Du verstehst ja nicht, ach, du weißt ja nicht… ich ha be dir so wahnsinnig unrecht getan.“ Regina setzte sich ihm gegenüber in den anderen Sessel. Ihre Tränen hatten aufgehört, aber immer noch zeigte ihr Gesicht den inneren Aufruhr. Da hörten sie leichte Schritte im Flur. Und da stand Katrin mit einem übervollen Tablett in der Tür. „Bitte, hier ist der Tee! – Guten Tag, Gert, ja, ich darf doch wohl Gert sagen? Wie nett, Sie zu sehen! Na, ich will jetzt nicht stören. Wir kommen ausgezeichnet ohne euch aus. Ich wollte euch nur den Tee bringen, und dann ist auch ein Brief für Gert gekommen, bitte.“ Und schon war sie wieder weg. Lächelnd und strahlend. Regina stand mechanisch auf und goß Tee ein. Der Brief lag ne ben der Teekanne. Sie warf einen Blick darauf – und mit einem Male erkannte sie den Brief und lächelte. „Gert, hier kommt die richtige Hilfe für mich. Bitte – diesen Brief habe ich dir vor einer Woche geschrieben. Er ist in der Zwi schenzeit in Norddeutschland gewesen. Lies ihn, sei so lieb. Ich störe dich nicht.“ Wohl streckte Gert die Hand nach dem Brief aus, aber er legte die andere auf Reginas Arm und sagte: „Ich werde ihn sicher lesen, Regina. Aber – wenn ich dich hier sehe und mir klarmache, daß es kein Traum ist, dann – dann wird alles andere so unwesentlich, Er klärungen und Berichte und Fragen. Die Hauptsache ist, daß du und
ich beisammen sind, in derselben Stadt, im selben Raum – daß ich dich liebe, Regina, und du mich, du lütte Deern…“ Ach, der alte Kosename kam ihm so leicht und natürlich über die Lippen und verriet mehr als alles andere, daß die Liebe von damals auch heute noch genauso lebendig war. Er küßte sie, und Regina fühlte: Bei ihm war sie geborgen und glücklich, hier gehörte sie hin und hier würde sie bleiben. Dann setzte sich Gert im Sessel zurecht, öffnete den Brief, reich te Regina die Hand – und fing an zu lesen. War eine Stunde vergangen oder mehr? Sie hatten sich endlich ausgesprochen. Nun saßen sie still und glücklich beieinander. Gert strich ihr behutsam über die Wange. „Meine kleine Regina. Nur eine kleine, winzige Lüge, eine dumme und unnötige kleine Lüge hätte uns beinahe unser ganzes Glück gekostet!“ „Ach Gert – ich schäme mich – , ich schäme mich so sehr…“ „Aber Regina, was sollte ich denken, was sollte ich glauben? Ich hatte Annette angeläutet und sie gebeten, ob ich das Schlafende Kind’ wieder bekommen könnte – ich wollte ihr statt dessen etwas anderes schenken. Hätte sie mich um einen Brillanten gebeten, ich glaube, sie hätte ihn bekommen. Und dann wollte ich dich zu mir nach Hause einladen und vor dem ,Schlafenden Kind’ wollte ich meine dumme kleine Lüge eingestehen. Ich weiß bis heute noch nicht, Regina, wie die mir rausrutschen konnte – es war wohl des halb, weil ich dir nicht weh tun wollte und sagen, daß ich das Schön ste verschenkt hätte, was du gemacht hattest, und es noch dazu einer anderen Frau geschenkt hätte. Als ich mit Annette sprach, erzählte sie tiefunglücklich, das ,Schlafende Kind’ wäre entzweigegangen. Ich habe es geglaubt, Regina – weshalb sollte ich es nicht glauben? – Und dann schrieb ich dir, daß eins auf alle Fälle wahr sei, die Figur wäre entzweigegangen – und daraufgab ich mein Ehrenwort.“ „Ja, Gert, ich habe den Zusammenhang längst erkannt, lieber, lieber Gert…“ „Siehst du, Regina, ich war gewiß leichtsinnig und unbedacht, und du bist viel zu gut für mich, aber eins steht fest, und das sollst du ein für allemal wissen: Was ich auch sonst noch für Sünden begehen mag, mein Ehrenwort werde ich niemals brechen und habe es nie gebrochen!“ Es klopfte schüchtern an die Tür zu Frau Bielecs kleinem Salon. „Nein, wahrhaftig, da sind sie ja!“ rief Leo. „Katrin hatte mir gesagt,
ich brauchte Sie nicht vorzustellen, Sie kennen sich von früher. Da hatten Sie also sicher einiges allein miteinander zu bereden.“ Die alte Frau Bielec streckte Regina und Gert beide Hände ent gegen. „Hören Sie nicht auf all den Unsinn, den mein Sohn da auf tischt“, lachte sie. „Herzlich willkommen bei uns, Fräulein Frank, ich kenne Sie schon so gut durch Katrin. Und unseren erstaunlichen Untermieter kenne ich ja auch und freue mich darauf, ihn von jetzt ab näher kennenzulernen – und – und…“, zwei lebhafte dunkle Au gen sahen zuerst Regina, dann Gert fragend an. Gert lachte. Er beugte sich über die Hand der alten Dame. „Sie wollten gewiß noch etwas fragen, gnädige Frau“, sagte er lächelnd. „Ja, Sie können uns gratulieren. Denn während Sie hier mit Ihrem Sohn und Ihrer Schwiegertochter Tee tranken, haben Regina und ich uns verlobt!“ Es war spät am Abend. Die alte Frau Bielec hatte sich zurückge zogen. Jetzt saßen die vier jungen Leute im Wohnzimmer. Leo Bielec hob sein Glas. „Meine lieben Gäste… Prosit und meine wärmsten Glückwün sche! Und da wir ja nun doch beinahe so ein bißchen verwandt wer den, auch auf du und du. Ich bin so froh und so dankbar, daß das Geschick mich dazu ausersehen hat, für euch beide den Gott Amor zu spielen…“ „Das Geschick?“ unterbrach Katrin ihn entrüstet. „Es war durch aus nicht das Geschick! Ich bin es gewesen! Ich und die Sternentor te!“ „Liebe Zukünftige, es geziemt sich nicht, seinen Herrn und Ge bieter beim Reden zu unterbrechen…“ „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, mein Herr und Gebie ter“, sagte Katrin. „Wißt ihr, was Mami immer gesagt hat? ,Wenn du mal heiratest, Katrin, dann mußt du einen Mann haben, der viel älter ist als du, einer, der streng gegen dich ist und dich bändigen kann und dich versteht…’ und es scheint wirklich, als hätte ich den Rich tigen gefunden!“ Gert und Regina sahen lächelnd auf die muntere Katrin und den hübschen, lächelnden Doktor mit den klugen Augen. „Sagt übrigens mal“, sagte Leo, „was habt ihr jetzt für Pläne? Wollt ihr in Wien bleiben oder…“ „Was für Pläne wir haben?“ sagte Gert. „Heiraten natürlich. Je eher desto besser. Ich lasse dies Mädel nicht mehr aus den Augen,
ehe ich nicht die Heiratsurkunde in der Tasche habe. Und hinterher allerdings dann schon gar nicht mehr.“ „Heiraten? Hier?“ fragte Regina verwundert. „Ist das denn nicht ziemlich mühselig mit allen Papieren und Zeugen und…“ „Wozu glaubst du, daß ein deutscher Konsul da ist?“ fragte Gert. Und dann setzte er ein langes Telegramm an seinen Vater auf. „Nun wird er wirklich auch mein Vater“, sagte Regina leise, „wie du gesagt hast.“
Ein gemeinsamer Traum geht in Erfüllung Der Frühlingshimmel wölbte sich hoch und funkelnd blau über Wien. Die Sonne glänzte auf Kirchtürmen und strömte über die Parks, über Denkmäler und schöne alte Bauten hin, sie beschien junge Mädchen in neuen Frühjahrskostümen, das Leben und Treiben in den großen Geschäftsstraßen – und sie flimmerte und glitzerte in den glucksenden Wellen der Donau. Ein offener Landauer, ein richtiger Wiener Fiaker mit zwei Schimmeln davor rollte auf Gummirädern den breiten, sonnigen Parkring entlang, an Reginas geliebtem Stadtpark vorüber, wo sie manche stille, einsame Stunden verbracht hatte – auf dem Schubert ring und dem verkehrsreichen Kärntnerring dahin. Dann kamen sie auf den stattlichen Opernring, und hier bogen sie ab, aus der Innen stadt hinaus. Jetzt ging es geradeaus, eine lange, lange Straße hinun ter, und Reginas Herz klopfte immer stärker. Mit der einen Hand hielt sie den Strauß weißer Rosen umklam mert. Die andere Hand schob sie in Gerts Rechte und sagte: „Gert – halt mich fest. Drück mich so, daß ich schreie. Entweder wache ich dann auf, oder ich merke, dies ist doch kein Traum.“ „Wenn ich es nur selber fassen kann, Regina. Du und Schön brunn an ein und demselben Tag – das will mir noch nicht in den Kopf.“ „Und nun sag noch, der liebe Gott sei nicht gut zu uns. Hast du in deinem ganzen Leben schon mal einen solchen Frühling gesehen?“ „Deshalb mußt du deine Augen jetzt extra aufmachen, Regina. Was siehst Du dort hinten?“ Ein hohes, gebogenes eisernes Gitter erhob sich vor ihnen. In dem Gitter ein riesiges Tor. Und dahinter – da leuchtete gelbes Mau erwerk durch das zarte junge Frühlingslaub… Der Kutscher drehte sich zu ihnen um. Er zeigte mit der Peitsche. „Dort ist der Haupteingang – dort, ganz geradeaus, gnädige Frau!“ Regina zuckte zusammen. Gnädige Frau! Sie hatte immer lächeln müssen, wenn man sie in Geschäften hin und wieder so angeredet hatte – aber jetzt – heute – , von heute ab hatte es ja seine Richtig keit! Gert strahlte von einem Ohr zum anderen. Als sie aus dem Wagen stiegen und bezahlten, gab er dem Kut scher ein fürstliches Trinkgeld. „Hier, das mag Ihr Handgeld sein“, lachte Gert, „weil Sie der er
ste waren, der meine Frau mit ,gnädige Frau’ anredete!“ „Vielen Dank – ergebensten Dank, Herr Baron“, sagte der Kut scher. Lange, kilometerlange Alleen mit vielen meterhohen, gestutzten Hecken, Springbrunnen, Plastiken, gutgehaltenen Büschen und Bäumen. Das Treibhaus – das Palmenhaus – mit tropischen Gewächsen, mit Bäumen und Blumen, von deren Vorhandensein Regina noch nie gehört hatte. Die Wagenburg mit den Staatskarossen… Der Neptunbrunnen – die Gloriette – , alles, worüber sie gelesen, wovon sie Bilder gesehen hatten – ach, aber wieviel schöner war es, als sie es sich vorgestellt hatten! „Gert – hier könnte ich tagelang herumlaufen!“ „Wir können hier eine ganze Woche lang herfahren, wenn du willst.“ Regina lachte. „Ach nein, es gibt doch sicher noch eine Menge anderer Dinge, die wir uns zusammen ansehen wollen! Gert, da kommt wohl gerade eine Gruppe aus dem Schloß, dann fängt eine neue Besichtigung an – wollen wir mitgehen?“ Es wurde eine unvergeßliche Stunde, die sie in den vierundvier zig Prachträumen des Schlosses zubrachten. Das Millionenzimmer mit seinen feinen Miniaturgemälden und Dekorationen aus echtem Gold – die lange Galerie – , das Napoleon-Zimmer – und der kleine runde Salon mit chinesischem Porzellan. Hier verweilte Regina lan ge. Der Salon der Kaiserin Elisabeth, der armen Elisabeth. „Man stelle sich bloß vor, daß man in so steifen, kalten Räumen wohnen müßte!“ seufzte Regina. Und das Schlafzimmer des alten Kaisers, das Schlafzimmer mit der einfachen, schmalen eisernen Bettstelle, die auf so rührende Art und Weise seine unglaubliche Genügsamkeit verriet. „Ich glaube jetzt fast, wir müssen eine Pause machen“, sagte Gert. „Wie spät ist es? Bald halb zwei? Vater wollte um zwei Uhr hier sein. Und er wird ungeduldig, wenn er seine neugebackene Schwiegertochter zu lange entbehren muß.“ „Neugebacken!“ lachte Regina. „Wie es sich für die Großbäcke rei Eimer gehört.“ „Was meinst du wohl, wie glücklich er ist“, sagte Gert. „Wäre er
sonst wohl aus aller Arbeit heraus für zwei Tage hergeflogen? Du hattest es ihm ja gleich angetan.“ „Und er mir“, antwortete Regina. „Deshalb wollen wir ihn auch nicht warten lassen.“ „Jedenfalls haben wir noch eine halbe Stunde für uns. Wart mal, du – da haben wir gerade Zeit genug, uns den ,schönen Brunnen’ anzusehen, den wunderbaren Brunnen, von dem das ganze Schloß seinen Namen hat.“ Sie wanderten abermals durch den Park. Gert mußte sich auf die se Erfüllung seines Lebenstraumes gut vorbereitet haben. Denn er kannte den Weg und führte seine Frau mit sicherer Hand auf den Pfaden zwischen Standbildern und Vogelkäfigen mit gurrenden Tauben durch. Vor einem kleinen Bauwerk blieben sie stehen. Es war eigentlich nur eine gewölbte Nische. Und hier drinnen war der „schöne Brunnen“. Regina blieb stumm davor stehen. Die Künstlerin in ihr fühlte sich klein und demütig und unbeschreiblich dankbar, weil es ihr zuteil geworden war, dies zu erleben. Da lag aus schneeweißem Marmor eine Frauengestalt auf den ei nen Arm gestützt. Jede Linie ihres Körpers war Rhythmus und Har monie, die Biegung des Halses so edel, der Kopf und das Antlitz vollkommen. „Wie ist das schön!“ flüsterte Regina. Die Frau hielt einen großen Marmorkrug, und aus diesem rieselte das Wasser, das kristallklare Wasser aus dem schönen Brunnen. Regina sah Gert an und Gert sah Regina an. Er lächelte ganz fein. Und Regina fühlte, wie die Röte ihr in die Wangen stieg, sie wurden heißer und heißer und zuletzt glühte ihr ganzes Gesicht. „Sag nichts mehr, Gert“, bat Regina ganz kleinlaut. „Nie, nie wieder werde ich mich aufs hohe Pferd setzen und geringschätzig von angewandter Kunst’ reden! Ach Gert – in diesem Augenblick habe ich das Gefühl, daß ich sehr viel falsch gemacht habe.“ „Das ist jetzt verjährt“, lächelte Gert. „Gert, wenn wir nach Hause kommen, da möchte ich etwas schaffen – und ich freue mich jetzt schon darauf, es dir zu zeigen. Ein Beispiel für – angewandte Kunst. Denn jetzt hab ich etwas ge lernt. Ich habe von Reisinger gelernt, und am allermeisten habe ich in dieser Stunde hier, vor diesem Brunnen, gelernt.“ „Und was willst du machen?“
„Das wirst du sehen! Es wird auf alle Fälle in Bronze werden. Und jetzt kann ich selber gießen!“ „Selber gießen“, wiederholte Gert und er blickte lächelnd in das Gesicht seiner Frau. „Das ist gut, Regina. Denn du stehst jetzt vor der Aufgabe, unsere ganze Zukunft und unser ganzes Glück zu gie ßen.“ Regina richtete den Blick auf ihren Mann, und in ihren Augen schimmerte es. „Das Glück, Gert, das müssen wir zusammen gießen. Und das gießen wir in Gold!“