R. L. Stine
Risiko Es war doch nur ein Spiel...
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
Stine, Robert ...
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R. L. Stine
Risiko Es war doch nur ein Spiel...
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
Stine, Robert L,: Fear Street/ R.L. Stine. – Bindlach : Loewe Risiko: es war doch nur ein Spiel... / Aus dem Amerikan. Übers. Von Sabine Tandetzke – 1. Aufl. – 2001 ISBN 3-7855-3845-6
ISBN 3-7855-3845-6 – 1. Auflage 2001 Titel der Originalausgabe: Switched Copyright © 1985 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2001 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Gesamtherstellung: GGP Media , Pößneck
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Kapitel 1 Ich heiße Nicole Darwin und bin eine Versagerin. So fühle ich mich jedenfalls in letzter Zeit. Nicht mal das herrliche Frühlingswetter – die roten und gelben Tulpen, die sich in der sanften, warmen Brise wiegen oder der würzige Duft von frisch geschnittenem Gras – kann mich aufheitern. Mein Leben ist die reinste Katastrophe. Als ich mir heute Morgen beim Anziehen einen Fingernagel abgebrochen habe, bin ich gleich in Tränen ausgebrochen. So fertig bin ich mit den Nerven. Meine Fingernägel sind lang und perfekt geformt. Manchmal lackiere ich sie rosarot und manchmal in einem dunklen Lila. Einige Mädchen ziehen mich deswegen auf. Aber mir gefallen sie nun mal so. Vielleicht sind sie auch nur neidisch. Eigentlich finde ich, dass ich ziemlich gut aussehe. Ich bin vielleicht keine umwerfende Schönheit, aber soweit ganz okay. Meine Haare sind glatt und dunkelbraun. Ich trage sie lang und streiche sie meistens über die Schultern zurück. Und ich habe eine zarte, blasse Haut. Alle sagen, das Schönste an meinem Gesicht seien die Augen. Sie sind hellbraun und sehr ausdrucksvoll. David, mein Freund, findet sie geheimnisvoll. Er sagt immer, dass er mir stundenlang in die Augen schauen kann und trotzdem keinen blassen Schimmer hat, was ich denke. Das stimmt. Meistens hat er wirklich keine Ahnung, was in meinem Kopf vorgeht. Er ist ein echt netter Typ, aber meistens nur mit sich selber beschäftigt. Aber davon mal abgesehen, würde er sowieso nicht erraten, worüber ich so nachgrüble. Manchmal kommen mir nämlich ziemlich seltsame Gedanken. Ich frage mich, ob es anderen vielleicht auch so geht wie mir. Mum meint, ich könnte eine richtige Schönheit sein, wenn ich mehr lächeln würde. Sie findet, dass mein hübsches Gesicht gar nicht richtig zur Geltung kommt, weil ich immer so griesgrämig gucke. 9
Außerdem sollte ich mir ihrer Meinung nach die Haare abschneiden lassen. „Lange Haare sind doch unpraktisch", sagt sie und schüttelt dabei den Kopf. Ihre eigene Frisur sieht wie ein ultrakurzer Herrenhaarschnitt aus. „Denk doch bloß mal an die Stunden, die du mit Waschen und Föhnen vergeudest." Mum bombardiert einen ständig mit guten Ratschlägen. Manchmal kann sie echt anstrengend sein. Sie müsste doch merken, dass ich unglücklich bin und dass mir irgendwas im Magen liegt. Aber das hält sie nicht davon ab, mich weiter zu nerven. Glaubt sie etwa wirklich, ich möchte so sein wie sie? Mum und Dad sind sterbenslangweilig. Es ist Mitleid erregend, die beiden jeden Tag beim Abendessen zu beobachten, wie sie sich einen abkrampfen, um ein Thema zu finden, über das sie sich unterhalten können. Sollte ich jemals heiraten, hoffe ich, dass ich dann nicht wie sie herumsitze und darüber rede, wie heiß es draußen ist oder ob man ein Unkrautvernichtungsmittel kaufen sollte oder nicht. Das finde ich echt deprimierend! Meine Eltern kleben mir ständig an den Fersen. Meinen Freunden an der Highschool von Shadyside ist das auch schon aufgefallen. Denn die haben alle viel mehr Freiheiten als ich. Sie können sich einfach das Auto nehmen, abends in der Stadt herumfahren und Freunde besuchen. Sie müssen ihren Eltern nicht haarklein erzählen, wo sie hingehen und wann sie wiederkommen – so wie ich. Immerhin gehe ich in die Abschlussklasse. Ich bin schon fast erwachsen. Ich sehe einfach nicht ein, dass ich jedes Mal anrufen und meinen Eltern Bescheid sagen muss, wenn ich länger als ein paar Stunden von zu Hause weg bin oder wenn es später wird. Ich kann nämlich ganz gut auf mich selbst aufpassen. Sie müssen langsam mal lernen, mir ein bisschen mehr Freiraum zu lassen. Über Mum und Dad könnte ich noch stundenlang weiterschimpfen. Aber sie sind nicht der einzige Grund, warum ich in letzter Zeit so down bin. Ich hatte auch in der Schule ein paar Probleme. Muss wohl an der Frühjahrsmüdigkeit liegen. 10
Eigentlich hätte ich meine Hausarbeit in Bio längst fertig haben sollen, aber irgendwie hab ich's nicht geschafft. Mr Frost hat sich deswegen furchtbar aufgeregt. Ich kam mir vor wie eine Verbrecherin. Als ob ich jemanden umgebracht hätte oder so. Ich musste nach der Schule zu einem „kleinen Schwätzchen" zu ihm kommen. So nennt er es. Mr Frost und ich hatten schon mehrere dieser „Schwätzchen". Dabei haben diese Gespräche mit einem angenehmen Plauderstündchen nun wirklich nichts zu tun. „Deine Arbeit ist längst überfällig", fiel Mr Frost gleich mit der Tür ins Haus. Ich habe ihn übrigens Frosty getauft. Weil er so dick und rund ist wie ein Schneemann. „Hmmm", machte ich und versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu gähnen. Mit seiner pummeligen Hand scheuchte er eine Fliege weg, die ihn umschwirrte. „Die erste Fliege in diesem Frühling", ging es mir durch den Kopf. „Warum hast du sie noch nicht geschrieben?", fragte er. Mr Frost sprach mit einer sanften, gedämpften Stimme, die immer leiser wurde, je mehr er sich aufregte. Ich zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht." Das stimmte auch. Ich hatte wirklich vorgehabt, sie zu schreiben. Ich hatte sogar schon die Bücher dafür ausgeliehen, aber irgendwie konnte ich mich nicht zum Schreiben aufraffen. „Es muss doch irgendeinen Grund dafür geben, Nicole", sagte Frosty schon wesentlich leiser. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Die Tigers, unsere Baseballmannschaft, machten Aufwärmübungen auf dem Spielfeld. Die Wolken wanderten ein Stück weiter, und helles Sonnenlicht erfüllte das Zimmer. „Ich hab aber keine richtige Entschuldigung", gab ich zu. Wir führten unser „Schwätzchen" im Stehen. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Tafel hinter seinem Pult gelehnt, und ich stand mit verschränkten Armen davor. Passend zu meiner Stimmung trug ich ein schwarzes Shirt und schwarze Jeans.
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Gestern Abend hatte ich sogar überlegt, ob ich mir die Fingernägel schwarz lackieren sollte. Aber dann hatte ich über eine Stunde mit meiner besten Freundin Lucy Kramer telefoniert und war nicht mehr dazu gekommen. „Tja, was machen wir denn jetzt mit dir?", fragte Mr Frost gefährlich leise. „Ich würde dir nur ungerne eine Sechs geben, Nicole. Dann könntest du nämlich nicht an der Abschlussprüfung teilnehmen." Seine Worte rüttelten mich auf. Ich musste unbedingt zur Prüfung zugelassen werden! Schließlich zählte ich schon die Tage, bis ich endlich hier raus war. „Äh ... vielleicht könnte ich die Hausarbeit ein bisschen später abgeben", schlug ich vor. „Es dauert bestimmt nicht lange, sie zu schreiben, Mr Frost. Das meiste habe ich schon gelesen. Glauben Sie mir." Ich hatte die ganze Zeit nervös an einer Haarsträhne herumgezupft, die ich mir jetzt über die Schulter warf. Frosty presste die Lippen zusammen und schaute mich nachdenklich an. Dann strich er sich über sein gewaltiges Doppelkinn. „Ich habe schon alle Vorbereitungen erledigt", wiederholte ich. „Bitte lassen Sie mich die Arbeit noch schreiben. Ich bin mir sicher, dass sie ziemlich gut wird!" Mr Frost spannte mich noch ein paar Sekunden auf die Folter. Dann sagte er: „Wenn du sie Montag abgibst, nehme ich sie an." „Aber heute ist doch schon Donnerstag!", platzte ich heraus. „Ich weiß, Nicole. Immerhin bleibt dir noch das Wochenende. Es wäre den anderen gegenüber nicht fair, wenn ich dir mehr Zeit einräumen würde. Gib dir Mühe. Ich verlass mich auf dich!" Er griff nach einem Heft, das auf seinem Pult lag, und begann, darin herumzublättern. Das sollte wohl heißen, dass unser „Schwätzchen" beendet war. Ich murmelte leise „Danke" und stapfte aus der Klasse. Mann, war ich sauer! Aber eigentlich ärgerte ich mich mehr über mich selber als über Frosty. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass ich den Abgabetermin verpasst hatte. Ich fragte mich, warum ich es mir bloß selber immer so schwer machte. Aber mir fiel keine vernünftige Antwort ein.
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Wahrscheinlich würde ich das ganze Wochenende wie verrückt schuften müssen, um diese verdammte Arbeit zu schreiben. Das hieß, ich musste David beichten, dass ich am Samstag nicht mit ihm in die Disko gehen konnte. Das verbesserte meine Laune auch nicht gerade. David hatte sich in letzter Zeit ziemlich komisch verhalten. Er hatte ein paar Mal unsere Verabredungen abgesagt und wirkte irgendwie abwesend. Als ob er mit den Gedanken ganz woanders wäre. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist normalerweise ein richtiger Sunnyboy. Überhaupt kein zerstreuter Professor, sondern immer gelassen und gut drauf. Na ja, jedenfalls wollte ich Samstagabend unbedingt mit ihm weggehen. Gerade weil er die letzten Tage so komisch gewesen war. Ich hatte gehofft, ich würde herausfinden, was mit ihm los war. Aber in die Disko zu gehen und die Hausarbeit zu schreiben war einfach nicht drin. Zu meiner Überraschung stand David vor dem Bioraum. „Was machst du denn hier?", begrüßte ich ihn verwundert. „Auf dich warten", antwortete er. David macht nicht viele Worte und bringt selten einen ganzen Satz raus. Wahrscheinlich findet er das cool und glaubt, dass die Mädchen darauf stehen. So wie ich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben. David ist nämlich ziemlich groß – er überragt mich mindestens um einen Kopf. Aber er trat einen Schritt zurück. Erstaunt blickte ich zu ihm auf. Versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Er hat nämlich diese großen, braunen Dackelaugen, an denen man all seine Gefühle ablesen kann. Aber er wich meinem Blick aus. „Was zum Teufel ist mit ihm los?", fragte ich mich. Ich beschloss, ihm lieber gleich zu erzählen, dass unser Treffen geplatzt war. Doch er kam mir zuvor. „Ich ... ich kann Samstag nicht mit dir weggehen", stotterte er unbehaglich und blickte den leeren Flur entlang. „Was? Warum denn nicht?", fragte ich entgeistert. 13
David zögerte. Wir waren langsam nebeneinanderher auf meinen Spind zugegangen, aber jetzt blieb er plötzlich stehen. „Kann eben nicht", murmelte er und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Hey, was läuft hier eigentlich?" Ich versuchte, meine Stimme nicht schrill klingen zu lassen. „Was ist denn Samstagabend los?" Er zuckte mit den Achseln. „Hab was anderes vor", meinte er nur. Auf einmal sah er ganz verlegen aus. „Hör zu, Nicole ..." Ich wartete, dass er weitersprach. Aber es kam nichts mehr. Plötzlich bekam ich Angst. Eine eisige Kälte breitete sich in mir aus. „Soll das etwa heißen – du machst Schluss?" Die Worte klangen ganz merkwürdig. Sie schienen überhaupt nicht von mir zu kommen. Ich hatte mich auf David verlassen. Die letzte Zeit war hart für mich gewesen. Ziemlich hart. Ich brauchte David, damit ich nicht völlig den Boden unter den Füßen verlor. Mir war sowieso schon zum Heulen. Auf noch mehr schlechte Neuigkeiten konnte ich echt verzichten. „Also, was ist? Machst du Schluss?", hakte ich nach. Er nickte. Warf mir einen betretenen Blick aus seinen braunen Hundeaugen zu. „Ja. Denke schon." „Aber – warum denn?", schrie ich. Ich war so geschockt, dass ich nicht länger so tun konnte, als wäre ich völlig gelassen. „Es ist zu viel", sagte er. Diese Antwort war typisch für David. Was sollte das denn jetzt wieder heißen? Verzweifelt griff ich nach seinem Arm. „Ich versteh's nicht", rief ich. „Sag mir doch wenigstens warum." „Es ist einfach zu viel", wiederholte er. Ich merkte, dass sich meine Fingernägel in seine Haut gruben. Er riss seinen Arm weg und wich ein Stück zurück. „David!", wimmerte ich. „Hör mal, ich ruf dich später an oder so", meinte er verlegen und ging langsam rückwärts den Flur entlang. „Tut mir Leid. Tut mir echt Leid, Nicole." Dann drehte er sich um und entfernte sich mit langen Schritten. Er blickte sich nicht mal um.
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Wie vom Donner gerührt, blieb ich stehen und starrte ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwunden war. Kurz darauf hörte ich die schwere Eingangstür der Schule zuschlagen. Ich merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte. Wie in Zeitlupe ging ich zu meinem Spind und versuchte, das Zahlenschloss zu öffnen. Aber ich konnte meine Hand nicht ruhig halten, und meine Augen schwammen so in Tränen, dass ich die Ziffern kaum erkannte. „Warum hat er mir denn nicht mal 'ne Erklärung gegeben?", fragte ich mich. „Es ist einfach zu viel." Was sollte das heißen? Was wollte er mir damit sagen? Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es mir endlich, das Schloss zu entriegeln und die Tür zu öffnen. Mit einem tiefen Seufzer kniete ich mich hin und stopfte Bücher und Hefte in meinen Rucksack. Ich achtete gar nicht richtig auf das, was ich tat. „Ich muss hier raus!", ging es mir durch den Kopf. „Wenn ich nicht ganz schnell verschwinde, ersticke ich noch." Hastig knallte ich die Spindtür zu, warf mir den Rucksack über die Schulter und rannte den Flur entlang. Zwei Lehrer kamen um die Ecke und amüsierten sich über irgendetwas. Als sie mich sahen, blieb ihnen das Lachen im Halse stecken. Offenbar war ihnen mein unglückliches Gesicht aufgefallen. „Nicole – ist alles in Ordnung mit dir?", rief mir der eine hinterher. „Klar. Alles bestens!" Dann drückte ich die schwere Eingangstür auf und floh aus dem Schulgebäude. Die Luft duftete frisch und süß. Der Kirschbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite war über Nacht voll erblüht und über und über rosarot. Ich richtete meinen Blick auf die Straße. Ein Stadtbus fuhr gerade von der Ecke ab. Zwei Kids auf Inline-Skates rasten auf dem Bürgersteig vorbei. Es war niemand zu sehen, den ich kannte. Meine Freunde waren alle schon nach Hause gegangen oder unterwegs zu irgendwelchen Jobs, mit denen sie sich nach der Schule was dazuverdienten. „Mum fragt sich wahrscheinlich, wo ich bleibe", dachte ich bitter. Ich konnte sie jetzt schon hören: „Nicole, warum hast du mich denn nicht angerufen, wenn du wusstest, dass es später wird?" 15
Als ob ich nicht schon genug Ärger gehabt hätte! Als ich seufzend die Stufen hinuntertrottete, sah ich plötzlich Lucy auf mich zukommen, die mir freundlich winkte. Ich lief ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Wir beide sind schon seit der Vorschule die dicksten Freundinnen. Lucy hat glatte, blonde Haare, etwas kürzer als meine, und sie trägt meistens einen Pferdeschwanz. Sie hat smaragdgrüne Augen, eine kleine Stupsnase und ein süßes Lächeln. Eigentlich ist sie eher niedlich als hübsch. Ich stürzte auf sie zu und fiel ihr in die Arme. Plötzlich wurde ich von meinen Gefühlen überwältigt. „Lucy – ich hatte einen furchtbaren Tag!", platzte ich heraus. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen. Lucy war so verständnisvoll. So klug. Und sie kannte mich besser als jeder andere. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Überhaupt keine. Es war wunderbar, eine beste Freundin zu haben, auf die ich mich voll und ganz verlassen konnte. „Mein Leben ist die reinste Katastrophe", stöhnte ich. „Und heute ist es besonders schlimm. Ich ... ich fühl mich so hilflos und unglücklich." „Mir geht's genauso", flüsterte Lucy zurück. „Ich glaub, ich habe gerade eine Pechsträhne, Nicole." Ich ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Mit beiden Händen wischte ich mir die Tränen von den Wangen und sah sie erstaunt an. „Du auch?", stieß ich hervor. „Dir geht's genauso mies?" Sie nickte heftig. Dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf. „Aber ich habe eine Idee", flüsterte sie. „Ich weiß, was wir tun können." „Eine Idee?", wiederholte ich und starrte sie an. „Was meinst du damit, Lucy?" Ihre Augen leuchteten wie grünes Feuer, und ihr Gesicht glühte vor Aufregung. „Lass uns unsere Körper tauschen", sagte sie.
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Kapitel 2 Ich folgte Lucy zur Fear Street. Auf dem Weg dorthin war ich vor Ungeduld ganz kribbelig. Es kam mir vor, als würde ein elektrischer Strom durch mich hindurchfließen und mich aufladen. Hatte sie das ernst gemeint? Würden wir wirklich unsere Körper tauschen? Der Boden unter unseren Füßen wurde abwechselnd dunkel und wieder hell, wenn die Wolken, die über den Himmel jagten, sich vor die Sonne schoben und dann weiterwanderten. Das wechselnde Licht ließ alles um uns herum geheimnisvoll und unwirklich erscheinen. Ich erzählte Lucy, was ich heute Schlimmes erlebt hatte und warum ich so unglücklich war. Von David und Mr Frost und der Bio-Hausarbeit. Und von meinen Eltern, die mich mit ihrer Fürsorge erstickten. Sie nickte verständnisvoll. Es war gar nicht nötig, dass sie etwas dazu sagte. Lucy trug einen kurzen schwarzen Rock über einer von Silberfäden durchzogenen, schwarzen Strumpfhose. Ihr ärmelloses gelbes T-Shirt enthüllte ihre schlanken, winterblassen Arme. Unsere Schuhe raschelten durch die trockenen Blätter des letzten Winters. Die Sonne verschwand, und die alten Bäume, die die Fear Street säumten, lagen auf einmal in tiefem Schatten. Aber im nächsten Moment leuchteten sie wieder auf, als hätte jemand am Helligkeitsregler des Fernsehers herumgespielt. Als wir stehen blieben, um die alte Villa von Simon Fear zu betrachten, durchlief mich ein eisiger Schauder. Ich hatte schon so viele unheimliche Geschichten über dieses heruntergekommene, ausgebrannte Gebäude gehört. Und natürlich über diese Straße. „Warum reißen sie die Bruchbude nicht einfach ab? Das ist ja der reinste Schandfleck", murmelte Lucy, die gegen das grelle Sonnenlicht blinzelte. „Vielleicht haben sie Angst davor", antwortete ich mit gedämpfter Stimme. 17
Ich warf quer über die Straße einen Blick auf den Friedhof mit seinen uralten, schiefen Grabsteinen, die wie zerbrochene Zähne aus der Erde ragten. Hinter dem Friedhof erstreckte sich der Fear-Street-Wald. Alte Ahornbäume und Birken, die gerade ihre ersten grünen Blätter entrollten, streckten ihre Äste über die Straße, wo sie sich wie dutzende von Armen miteinander verflochten. Als ich Lucy in den Wald folgte, bildeten die mächtigen Bäume einen grünen Bogen über unseren Köpfen, der das Sonnenlicht fast völlig ausschloss. Der Wald war mit grauen und tiefblauen Schatten erfüllt und wirkte so dunkel, als wäre es schon Abend. „Wohin gehen wir denn?", fragte ich atemlos. Lucy schien den Weg zu kennen. Sie schob mit dem Fuß Dornenranken beiseite und wich geschickt herabhängenden Zweigen aus, als würde sie einem unsichtbaren Pfad folgen. „Lucy – nicht so schnell!", rief ich, während ich einer großen, matschigen Pfütze auswich. „Hey, Lucy! Warte!" Als sie neben einem umgestürzten, moosbedeckten Baumstamm stehen blieb, holte ich sie endlich ein. Sie starrte angewidert darauf, und ich folgte ihrem Blick. Tausende von winzigen, weißen Insekten schwärmten über das grüne Moos. „Iiih, wie eklig!", murmelte ich. Lucy nickte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Eigentlich war es kein besonders heißer Tag, aber wir schwitzten beide stark. „Wohin gehen wir also?", wiederholte ich meine Frage. Lucy zeigte auf den umgestürzten Baum. „Es muss hier ganz in der Nähe sein. Glaube ich jedenfalls." „Was denn?", fragte ich ungeduldig. „Warum tust du so geheimnisvoll?" Sie grinste mich viel sagend an. „Weil es ein geheimnisvoller Ort ist." Dann nahm sie meine kalte Hand. Ihre fühlte sich heiß und feucht an. „Hör auf, so viele Fragen zu stellen. Folge mir einfach." Ungeduldig zerrte sie mich über den Stamm hinweg hinter sich her. „Werden wir es wirklich tun?", flüsterte ich ihr zu. „Werden wir wirklich unsere Körper tauschen?"
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Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Mit ihrer niedlichen Stupsnase und den zarten Gesichtszügen wirkte sie eher wie zwölf und nicht wie siebzehn. „Du willst es doch, nicht wahr?", fragte sie mit sanfter Stimme. Ich dachte an meine Eltern, an die Hausarbeit, an David, an mein ganzes chaotisches Leben – und nickte. Ja. Ich wollte weg. Weg von mir. So weit wie möglich. Ja, ich wollte mit ihr tauschen. Wenigstens für eine Weile. Lucy hatte auch kein einfaches Leben. Ihre Eltern lagen sich ständig in den Haaren. Sie waren so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie sich kaum um ihre Tochter kümmerten. Aber mir würde das gefallen. Sehr sogar. Außerdem hatte sie Kent. Kent Borden war ein richtig toller Typ. So nett und witzig. Obwohl Lucy meine beste Freundin war, hatte ich mich oft gefragt, wie es wohl wäre, mit Kent zu gehen anstatt mit David. „Bald werde ich es wissen", dachte ich. Lucy und ich würden unsere Körper tauschen. Ich wäre sie, und sie wäre ich. Und ich würde herausfinden, wie es mit Kent war. Was für eine merkwürdige Vorstellung. Das Licht wurde schwächer und die Luft immer schwerer, je tiefer wir in den Wald vordrangen. Unsere Füße bewegten sich raschelnd durch die dichte Laubschicht, die den Boden bedeckte. „Es muss hier doch irgendwo sein", murmelte Lucy und blieb stehen, um sich eine Klette aus den Haaren zu zupfen. „Autsch! Das piekt!" Über unseren Köpfen stieß ein Vogel einen lauten, lang gezogenen Schrei aus. Er war ein so klagender Laut, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. „Das hat ja richtig menschlich geklungen", sagte ich zu Lucy. „Als ob jemand weinen würde." Lucys Gesicht wurde ernst. „Spring jetzt nicht ab", zischte sie. „Du willst es doch, Nicole. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher!" Überrascht von ihrer plötzlichen Ernsthaftigkeit, schaute ich sie an. „Ich komm ja mit", versicherte ich ihr. „Keine Angst, ich bin dabei." Als wir uns durch ein Gewirr von dicht stehenden Krüppelkiefern zwängten, stieß der Vogel noch einmal seinen unheimlichen Klageruf 19
aus. Direkt hinter dem verfilzten Buschwerk erstreckte sich eine lange Mauer. Aus glatten, grauen Steinen erbaut, ragte sie einen halben Meter über unseren Köpfen auf. „Mein Großvater hat mir diese Mauer beschrieben", sagte Lucy im Flüsterton. „Bevor er starb, hat er mir verraten, wo sie ist. Und er hat mir auch erzählt, was es mit ihr auf sich hat." Ich schluckte und starrte die Mauer an. Tiefe Risse zogen sich kreuz und quer über ihre Oberfläche wie Straßen auf einer Landkarte. Der Putz zwischen den Steinen war zum Teil abgeplatzt und herausgebrochen. „Die Mauer ist ganz schön alt, was?", meinte ich. Lucy nickte und betrachtete sie nachdenklich. „Niemand weiß, wie lange sie schon steht." „Und wer hat sie gebaut?", fragte ich und wischte mir eine Mücke vom Arm. „Das weiß keiner. Hat jedenfalls mein Großvater behauptet. Er hat mir erzählt, dass sie die Mauer der Verwandlung genannt wird. Angeblich kamen vor über hundert Jahren böse Menschen hierher. Sie benutzten die Mauer, um ihre Körper zu tauschen. Mit Leuten, die sie hierher verschleppt hatten." Ich schnappte nach Luft. „Du meinst, sie haben die Leute gezwungen, mit ihnen die Körper zu tauschen?" Lucy nickte. „Dadurch entgingen sie der Strafe für die Verbrechen, die sie begangen hatten." Fasziniert schaute ich die Mauer an. „Wow!" Dann drehte ich mich zu Lucy um. „Und wie hat dein Opa das alles herausgefunden?" „Der alte Verwalter des Fear-Street-Friedhofs hat es ihm anvertraut", antwortete Lucy. „Er lebte in einem Häuschen im Wald direkt hinter dem Friedhofsgelände. Er kannte all die gruseligen Geschichten und Legenden, die man sich über den Fear-Street-Wald erzählt. Aber er hat nie darüber gesprochen. Bis zu einem Tag vor vielen, vielen Jahren. An diesem Tag hat er meinem Großvater das Geheimnis der Mauer der Verwandlung verraten." Lucy fuhr mit der Hand behutsam über einen der glatten, grauen Steine. Als sie ihn berührte, schien der Himmel noch dunkler zu werden. Ein tiefes Grau breitete sich rings um uns aus. Es kam mir so vor, als hätte sich durch ihre Berührung der Mauer die Welt verdüstert. 20
Aber das lag bestimmt nur an meiner lebhaften Fantasie. Ich streckte meine Hand aus, um die Mauer ebenfalls anzufassen, zog sie dann aber langsam wieder zurück. Lucy kicherte. „Das sind nur Steine und Mörtel, Nicole. Die werden dich schon nicht beißen." „W-wie funktioniert das mit dem Tauschen überhaupt?", stotterte ich. Mein Herz flatterte plötzlich nervös. Vielleicht war mir die Sache ja doch zu riskant. „Es ist ganz einfach", sagte Lucy. „Wir klettern auf die Mauer und halten uns an den Händen. Dann springen wir zur anderen Seite runter. Und wenn wir auf dem Boden aufkommen ..." „Sind unsere Körper vertauscht?", unterbrach ich sie. Lucy nickte. „Meine Persönlichkeit steckt dann in deinem Körper. Und deine Persönlichkeit in meinem." Ich starrte sie an und ließ ihre Worte erst mal wirken. Dann schaute ich zu der dunklen, unheimlichen Mauer auf, die ihren düsteren Schatten über uns warf. „Und du willst es wirklich tun?", fragte ich Lucy. „Na, komm schon. Wir müssen es doch wenigstens versuchen", drängte sie und griff wieder nach meiner Hand. Jetzt fühlten sich unser beider Handflächen kalt und feucht an. Sie drückte aufmunternd meine Finger. „Es ist kinderleicht, Nicole. Nur ein einfacher Sprung. Wir müssen es probieren. Unbedingt." Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und umklammerte die obere Kante der Mauer. „Schieb mal", bat sie. Ich half ihr, sich hochzuziehen. Sie brauchte eine Weile, bis sie das Gleichgewicht wieder gefunden hatte. „Es ist ziemlich wackelig hier oben", warnte sie mich und ließ sich auf die Knie nieder. „Die Mauer ist schmal und brüchig. Du musst gut aufpassen." Sie streckte mir beide Hände entgegen, um mich nach oben zu ziehen. Ich zögerte. Hoch oben in den Baumwipfeln ertönte wieder der klagende Ruf des Vogels. War das eine Warnung? Wollte er mir sagen, ich sollte lieber verschwinden? Verwundert fragte ich mich, welcher Vogel wohl wie ein weinendes Mädchen klang. 21
„Na komm schon, Nicole!", drängte Lucy. „Beeil dich. Es ist schwer, hier oben das Gleichgewicht zu halten. Und die Steine scheuern mir die Knie auf." Ich ignorierte die traurigen Schreie des Vogels und griff nach Lucys Händen. Sie zog mich zu sich hinauf. Obwohl ich mir dabei das linke Knie aufschürfte, schaffte ich es, neben meine Freundin auf die Mauer zu klettern. Wir knieten uns hin und ruhten uns ein paar Minuten aus, bis wir wieder zu Atem gekommen waren. Dann richteten wir uns langsam und vorsichtig auf. Und warfen einen Blick auf die andere Seite der Mauer. Ich weiß auch nicht warum, aber ich hatte irgendwie erwartet, dort etwas völlig anderes zu sehen. Andere Bäume. Einen anderen Himmel. Vielleicht ein Haus oder irgendwas. Aber die Lichtung, die vor uns lag, war von dem gleichen dichten Unterholz umgeben wie auf unserer Seite. Als ich Lucys Hand nahm, begannen meine Knie zu zittern. „Soll ich es tun?", überlegte ich ängstlich. „Ist das wirklich alles so easy, oder gehe ich damit nicht ein ziemliches Risiko ein? Was ist, wenn etwas schief geht?" Dann wieder versuchte ich mir einzureden, dass es nur ein einfacher Sprung war. Mehr nicht. Ein kleiner Satz, und mein Leben würde sich total ändern. Lucy und ich sahen uns an. Meine Furcht schien sich in ihren dunkelgrünen Augen widerzuspiegeln. Und ich war sicher, dass sie ihre eigene Unsicherheit in meinen Augen sah. Es war, als hätten wir unsere Angst bereits getauscht, bevor wir von der Mauer gesprungen waren. Als hätte die Verwandlung bereits begonnen. Ich hatte so heftiges Herzklopfen, dass ich kaum noch Luft bekam. Kalter Schweiß lief mir die Wangen herab. Mit aller Kraft umklammerte ich Lucys Hand. Ich schaute zu Boden. Es war nicht sehr hoch. Und unten wuchs hohes, weiches Gras. „Fertig?", fragte Lucy mit heiserer Stimme. „Fertig", antwortete ich ohne Zögern. Ich drückte noch einmal ihre Hand. Atmete tief durch. 22
Und dann sprangen wir.
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Kapitel 3 Ich landete mit beiden Beinen hart auf dem Boden. Ein heftiger Schmerz schoss von meinen Knöcheln nach oben, und ich fiel auf die Knie. Der Schmerz raste durch meine Beine, meine Brust, meinen Kopf. Der Wald um mich herum war plötzlich in ein durchdringendes Rot getaucht. Nach einigen tiefen Atemzügen ging es mir besser, und ich rappelte mich auf. Hatte es funktioniert? Hatten wir durch den Sprung auf die andere Seite der Mauer tatsächlich unsere Körper getauscht? Neugierig drehte ich mich zu Lucy um – aber sie war verschwunden. „Lucy?" Mein Blick fiel auf mich! Lucys Mund – also mein Mund – klappte auf, als sie mich verblüfft anstarrte. Ungläubig schaute ich an mir herunter. Ich trug Lucys Sachen – das ärmellose gelbe T-Shirt und den kurzen schwarzen Rock. „Oh, wow!", murmelte ich und fuhr mit der Hand über mein Gesicht. Befühlte meine Wangen und meine Nase. Lucys niedliche Stupsnase. Strich über meinen Pferdeschwanz. Und berührte Lucys Haare. Nicht meine eigenen. „Ich bin Lucy", schoss es mir durch den Kopf. „Ich bin Nicole in Lucys Körper." Plötzlich mussten wir beide kichern. Wir starrten uns mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an und kicherten wie verrückt. Keine von uns sagte etwas. Wir legten den Kopf in den Nacken und begannen, lauthals zu lachen. Mir war schwindelig. Ich fühlte mich ganz komisch und hatte mich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Mit Lachtränen in den Augen starrte ich mich an. Genauer gesagt, Lucy in meinem Körper. Es war ganz anders, als in einen Spiegel zu schauen. So hatte ich mich noch nie gesehen.
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Mir war noch nie aufgefallen, dass ich ein Grübchen in der rechten Wange hatte, wenn ich lachte. Und ich hatte auch noch nie bemerkt, dass mein einer Mundwinkel weiter nach oben gezogen war als der andere. Ich sah zum ersten Mal, wie mein langes Haar glänzend über meinen Rücken fiel. Wie es bei jeder Kopfbewegung weich mitschwang. „Es ist verrückt, total verrückt! Ich habe meinen Körper verlassen und beobachte mich von außen", dachte ich. „Ich bin jetzt Lucy, die Nicole betrachtet." Fasziniert sah ich zu, wie sich Nicole die Hände auf die Wangen legte. Ihre leuchtend roten Fingernägel hoben sich von ihrem blassen Gesicht ab. Und plötzlich lagen wir uns in den Armen und hielten uns aneinander fest. Lachten und umarmten uns. Lachten und weinten gleichzeitig. Immer noch fest umschlungen, begannen wir, uns in einem wilden, ausgelassenen Tanz zu drehen. Schneller und immer schneller wirbelten wir herum. Nicole und Lucy. Lucy und Nicole. Mit vertauschten Körpern. Nicht die eine. Und nicht die andere. Eine ganze Weile drehten wir uns wie wild im Kreis und lachten ausgelassen. Doch dann endete es so plötzlich, wie es begonnen hatte. Schwer atmend ließen wir uns ins warme Gras fallen und sahen uns mit ernstem Gesicht an. Auf einmal war unsere Ausgelassenheit wie weggeblasen, und uns wurde klar, was wir hier eigentlich getan hatten. Wir waren weiter gesprungen als nur das Stück von der Mauer. Wir waren direkt in ein neues Leben gehüpft. In das Leben der anderen. Lucy fing an, leise vor sich hin zu summen. Ich erkannte die Titelmelodie von Twilight Zone. Ich musste doch wieder lachen. „Stimmt", prustete ich. „Wir sind tatsächlich in so 'ne Art Niemandsland geraten." „Wir dürfen keinem davon erzählen", flüsterte Lucy mit gedämpfter Stimme. „Keinem, hörst du, Nicole!" „Nenn mich Lucy", forderte ich sie auf. „Ich bin jetzt du. Also musst du mich auch mit deinem Namen ansprechen." 25
Sie zögerte. „Aber ich bin doch immer noch Lucy", wandte sie ein. „Auch wenn ich jetzt wie Nicole aussehe." „Du hast Recht", sagte ich. „Wir dürfen mit niemandem darüber sprechen. Das würde uns sowieso keiner glauben. Wir leben einfach eine Weile mit unseren vertauschten Körpern ..." „Und wenn wir keine Lust mehr haben", unterbrach mich Lucy, „dann kommen wir einfach wieder hierher und tauschen unsere Körper zurück." „Ja", stimmte ich ihr schnell zu. Doch dann durchfuhr mich ein heftiges Schuldgefühl. „Was ist los?", fragte Lucy. Sie hatte mir offenbar angesehen, dass irgendwas nicht stimmte. „Ich möchte gar nicht wieder tauschen", gestand ich ihr. „Mein Leben ist ein einziges Chaos. Ich ... ich glaube, du hast ein schlechtes Geschäft gemacht, Lucy." „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, winkte sie ab. „Ich denke ..." „Aber meine Eltern sind wirklich unmöglich!", rief ich. „Sie sind die reinsten Wachhunde. Ständig schnüffeln sie mir hinterher, bespitzeln mich und warten nur darauf, dass ich irgendwie in Schwierigkeiten gerate. Und ... und David ..." „Was ist mit ihm?", fragte Lucy sanft. „Ich hab dir doch erzählt, dass er mit mir Schluss gemacht hat", antwortete ich. „Du wirst also keinen Freund haben." Lucy lächelte und strich sich mit ihren knallroten Fingernägeln das lange braune Haar zurück. „Vielleicht versuche ich ja, ihn zurückzuerobern", flötete sie. „Und ich habe jetzt Kent", fuhr ich fort. Irgendwie hatte ich immer noch ein schlechtes Gewissen. „Er ist so ein toller Typ. Wie kommst du damit klar, Lucy? Macht es dir denn gar nichts aus, dass ich jetzt mit deinem Freund gehe?" Sie zuckte mit den Achseln. „Es war meine Idee, Nicole. Vergiss das nicht. Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse." Was sollte ich darauf noch sagen? Der Himmel über den Baumwipfeln wurde langsam dunkler. Die Nachmittagssonne sank tiefer. Die frischen, grünen Blätter glänzten und raschelten leise in der warmen Brise. „Wir gehen jetzt wohl besser nach Hause", meinte Lucy. 26
„Meine Mum wird bestimmt an der Tür auf dich warten. Du solltest dir lieber jetzt schon mal 'ne gute Entschuldigung überlegen", warnte ich sie. „Ich erzähl ihr einfach, dass ich zu spät gekommen bin, weil wir von einer Mauer gesprungen sind und unsere Körper getauscht haben", erwiderte Lucy grinsend. Sie warf meine dunkelbraunen Haare zurück und begann zu lachen. Mit meinem Grübchen in der Wange. Da musste ich auch wieder losprusten. Mir war immer noch ganz komisch zu Mute. Übermütig warf ich die Arme in die Luft und reckte mich. Dann ging ich in meinem neuen Körper ein paar Schritte durch das hohe Gras. Ich kam mir schrecklich unbeholfen vor. Lucys Beine bewegten sich ganz anders, und ihre Füße waren viel kleiner. Es war richtig anstrengend, aufrecht und mit erhobenem Kopf zu stehen. „Aber das gibt sich bestimmt bald", dachte ich. „Ich bin eben noch nicht an diesen Körper gewöhnt." Nachdem ich noch ein paar Schritte gelaufen war, warf ich einen Blick zurück auf die Mauer. In dem schwindenden Tageslicht wirkte sie wie ein verschwommener, grauer Fleck. Wie eine finstere Wolke, die über dem Gras schwebte. Sie war nur zu sehen, wenn ich die Augen zusammenkniff. Als würde sie gar nicht existieren. Lucy und ich redeten nicht viel, als wir durch den Wald zurückgingen. Wir waren beide viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Wir dachten über unser neues Leben nach und versuchten, uns an unsere neuen Körper zu gewöhnen. Nach einer Weile kamen wir auf der Fear Street wieder heraus. Die unheimliche alte Villa zeichnete sich wie ein dunkles Lebewesen vor dem bleigrauen Himmel ab. Ich sah zwei magere, räudige Katzen, die auf dem Friedhof an einer Reihe von Gräbern entlangflitzten. Schweigend liefen wir weiter. Einen Block von unserem Haus entfernt verabschiedete ich mich von Lucy. „Viel Glück!", rief ich ihr hinterher. „Dir auch!" Dann winkte sie mir zu, drehte sich um und rannte über die Straße.
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Ich stand einfach nur da und sah ihr nach, bis sie hinter den Bäumen verschwunden war. Es war ein ziemlich komisches Gefühl, mich selber davonlaufen zu sehen. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Haus der Kramers am Canyon Drive. Ob es mir wohl gelingen würde, Lucys Eltern zu täuschen? Konnte ich sie davon überzeugen, dass ich ihre Tochter war? Würde ich es schaffen, Lucys Freunde an der Nase herumzuführen? Und Kent? Und meine eigenen Freunde? Diese Fragen wirbelten mir durch den Kopf, als ich vor Lucys Einfahrt stehen blieb und zu ihrem weißen, schindelgedeckten kleinen Haus hinübersah. „Und denk dran, dir deine ironischen Bemerkungen zu verkneifen!", ermahnte ich mich. „Das ist überhaupt nicht Lucys Stil. Dazu ist sie viel zu lieb und zu ernsthaft." Ich atmete tief durch und ging auf das Haus zu. Die Eingangstür war nur angelehnt. Zögernd öffnete ich das Fliegengitter und trat in den schmalen Flur. „Hallo! Ich bin wieder da!", rief ich laut. „Tut mir Leid, dass ich so spät komme!" Keine Antwort. Der Wagen stand in der Auffahrt. Die Kramers mussten also zu Hause sein. „Wo seid ihr denn?", rief ich noch einmal. Ich beschloss, zuerst im Wohnzimmer nachzusehen. Und blieb mit einem entsetzten Keuchen in der Tür stehen. Ich blinzelte mehrmals, aber die grausige Szene wollte einfach nicht verschwinden. Mit beiden Händen klammerte ich mich am Türrahmen fest und starrte entsetzt auf das dunkle Blut. Die am Boden ausgestreckten Körper. Und dann stieß ich einen Schrei aus, der gar kein Ende nehmen wollte.
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Kapitel 4 Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel nach vorne. Landete auf allen vieren. Ich zitterte am ganzen Körper und versuchte, die Übelkeit zurückzudrängen, die mir die Kehle zuschnürte. Lucys Eltern lagen tot auf dem Fußboden des Wohnzimmers. Ihre Körper waren von mehreren Messerstichen durchbohrt, und ihre Kleidung war blutverschmiert. Auf dem Rücken liegend, stierten sie mit blicklosen Augen an die Decke. Um sie herum hatten sich große Blutlachen auf dem hellen Teppich ausgebreitet. Die Kramers. Lucys Eltern. Ermordet. „Lucy. Lucy. Lucy." In einem leisen Singsang murmelte ich immer wieder den Namen meiner Freundin vor mich hin. Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Boden kniete und am ganzen Körper schlotternd auf die entsetzliche Szene starrte. Es hätten ein oder zwei Minuten sein können oder auch eine Stunde. „Lucy. Lucy. Lucy." Auf einmal schien sich ein blutroter Vorhang vor meinen Augen herabzusenken. Für einen Moment war ich wie geblendet und bekam keine Luft mehr. „Lucy. Lucy. Lucy." Ich rieb mir die Augen und versuchte, das Grauen erregende Bild aus meinem Kopf zu vertreiben. Dann kämpfte ich mich mühsam auf die Beine und stolperte zur Haustür. „Muss es unbedingt Lucy sagen", murmelte ich vor mich hin. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Der Schock saß mir immer noch in den Knochen. „Muss es Lucy sagen." Auf wackeligen Beinen taumelte ich zur Tür hinaus. Mein neuer Körper fühlte sich immer noch ungewohnt an. Ich musste mich richtig darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
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Auf einmal fiel mir ein, dass Lucy und ich so schnell wie möglich zu der grauen Steinmauer zurückkehren und unsere Körper tauschen mussten. Arme Lucy. Sie hatte versucht, ihrem Leben zu entkommen. Und jetzt das ... Jedes Mal, wenn ich blinzelte, sah ich wieder die dunklen Blutlachen auf dem hellen Teppich vor mir. Die leeren Augen der Kramers. Ihre schrecklich zugerichteten Körper. Irgendwie schaffte ich es bis nach Hause. Mein Pferdeschwanz hatte sich aufgelöst, und die Haare hingen mir wirr ins Gesicht. Meine Strumpfhose war zerrissen. Obwohl die Sonne bereits hinter den Häusern versunken war und die Luft sich merklich abgekühlt hatte, war ich schweißgebadet. Ich musste den ganzen Weg gerannt sein. Mindestens sechs Blocks. Daran konnte ich mich gar nicht erinnern. Aber ich schnappte keuchend nach Luft, und meine Brust hob und senkte sich heftig, als ich quer über die Straße auf unser Haus zustolperte. Durch den Vorgarten. Über das frisch gemähte Gras, das an meinen Turnschuhen hängen blieb. Auf die vordere Veranda. „Lucy! Lucy!" Meine Stimme klang atemlos und schrill, als ich verzweifelt ihren Namen rief. Vor der Haustür blieb ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Und einen Moment zu überlegen. Wie sollte ich Lucy bloß beibringen, was ich in ihrem Wohnzimmer gesehen hatte? Wie?
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Kapitel 5 Ich beschloss, alleine mit ihr zu sprechen. Meine Eltern würden natürlich denken, ich sei Lucy, und sich fragen, warum ich mitten beim Abendessen hereinplatzte. Mit zerzausten Haaren und zerrissenen Klamotten. Völlig aufgelöst und außer Atem. Wahrscheinlich würden sie mir tausend Fragen stellen. Am besten, ich ging mit Lucy vor die Tür. Und dann ... dann würde ich ihr erzählen, dass es einen Unfall gegeben hatte. Ja, genau – einen Unfall. Ich musste es ihr schonend beibringen. Musste vorsichtig und rücksichtsvoll sein. Schließlich konnte ich nicht einfach sagen: „Hallo Lucy, deine Eltern liegen ermordet auf dem Wohnzimmerfußboden." Und natürlich würde ich nichts von all dem Blut erwähnen ... Ich schluckte und schlug mir die Hand vor den Mund, als mich die Übelkeit wieder überfiel. Jetzt konnte ich sie nicht länger zurückhalten. Was ich gesehen hatte, war einfach zu viel für mich. Hastig stürmte ich von der Veranda und krümmte mich neben der Auffahrt zusammen. Ich musste mich so heftig übergeben, dass mir die Seiten wehtaten. Wieder und wieder krampfte sich mein Magen zusammen. Es kam mir vor, als versuchte mein Körper, all das Schreckliche loszuwerden, was ich erlebt hatte. Mit zitternden Knien sog ich in tiefen Zügen die Luft ein und stöhnte leise vor mich hin, während ich darauf wartete, dass mein Magen sich beruhigte. Als ich mich endlich nicht mehr ganz so wackelig auf den Beinen fühlte, ging ich wieder zurück zur Haustür und drehte am Türknauf. Abgeschlossen. Ich konnte mich gerade noch bremsen, „Lucy!" zu rufen, weil mir rechtzeitig wieder einfiel, dass sie jetzt ja Nicole war. Also klingelte ich. Ich hörte, wie es im Inneren des Hauses läutete. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nichts rührte sich. 31
Ich stolperte die Verandastufen hinunter und ging zur Rückseite des Hauses. Aber auch die Küchentür war abgeschlossen. Obwohl es längst Zeit fürs Abendessen war, lag die Küche dunkel und verlassen da. Energisch klopfte ich an die Tür und rief: „Ist irgendjemand zu Hause?" Stille. Ich presste meine Stirn gegen die Scheibe und starrte hinein. Es war tatsächlich keiner da. Waren sie vielleicht essen gegangen? „Lucy, wo bist du?", flüsterte ich vor mich hin. „Du musst doch erfahren, was passiert ist. Ich muss es dir erzählen, Lucy. Ich muss es irgendwem erzählen!" Wenn ich dieses schreckliche Erlebnis noch länger für mich behielt, würde ich platzen. Oder total durchdrehen. Langsam trat ich von der Küchentür zurück, die Hände fest gegen mein Gesicht gepresst. Unbewusst erwartete ich, meine langen, roten Fingernägel auf der Haut zu spüren. Aber sie waren natürlich nicht mehr da. Dafür hatte ich jetzt Lucys kurze, abgeknabberte Nägel. Als plötzlich das Bild der toten Kramers wieder vor meinem inneren Auge auftauchte, überfiel mich eine neue Welle der Übelkeit. Aber diesmal schaffte ich es, mich zusammenzureißen. Die Gedanken wirbelten wie verrückt durch meinen Kopf. Wem sollte ich es erzählen? Der Polizei in Shadyside? Aber ich konnte doch nicht zur Polizei gehen, bevor ich mit Lucy gesprochen hatte. Und außerdem mussten wir vorher erst unsere Körper tauschen. Nein. Ich beschloss, auf keinen Fall die Polizei zu informieren, ehe ich nicht mit Lucy geredet hatte. Das wäre viel zu verwirrend und schmerzlich für alle Beteiligten gewesen. Und dann blitzte plötzlich Kents Bild in meinem Kopf auf. Kent. Er war so klug und freundlich. So hilfsbereit. So verständnisvoll. Er würde mir zuhören und mir bestimmt glauben. Ja, Kent würde mir helfen.
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Ich schluckte, atmete tief durch und versuchte, meine zitternden Beine endlich unter Kontrolle zu bekommen. Dann strich ich die feuchten, blonden Haarsträhnen zurück, die mir in die Stirn gefallen waren. Kent. Er wohnte nur zwei Blocks entfernt. Als ich die Auffahrt hinunterrannte, warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Unser Haus lag dunkel und verlassen da. Gerade als ich den Gehweg erreichte, rasten zwei Jungen auf Fahrrädern vorbei. Ich bemerkte sie nicht, bis sie mich fast über den Haufen gefahren hätten. „Pass doch auf!", schrie einer von ihnen und vollführte ein gewagtes Ausweichmanöver. „Was ist denn mit der los?", brüllte der andere. „Wenn ihr wüsstet", dachte ich traurig. Nach diesem Schreck konnte ich nicht mehr weiterrennen. Mein Herz hämmerte schnell und unregelmäßig gegen die Rippen. Und meine Beine fühlten sich an, als würden sie tausend Pfund wiegen. In meiner Verwirrung lief ich mitten durch ein Blumenbeet in irgendeinem Garten. Die feuchte Erde blieb an meinen Schuhen kleben. Und kurz darauf wäre ich beinahe über ein blaues Skateboard gestolpert, das jemand in einem Vorgarten liegen gelassen hatte. Die zwei Blocks bis zu Kent kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Doch dann stand ich endlich vor dem quadratischen, zweistöckigen Backsteinhaus mit dem steilen, roten Ziegeldach. Hinter mir auf der Straße fuhr langsam ein Auto vorbei. Als das Licht der Scheinwerfer über mich hinweghuschte, fiel mir ein, dass ich wahrscheinlich völlig abgerissen aussah. „Du hast jetzt keine Zeit, dir über so was Gedanken zu machen", wies ich mich zurecht. Für einen Moment wünschte ich mich sehnlichst in meinen alten Körper zurück. Aber hätte ich mich dadurch wirklich besser gefühlt? Wahrscheinlich nicht. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich über den sanft ansteigenden Rasen zu Kents Haustür gegangen war. Doch hier stand ich nun,
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hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür und schrie aus voller Kehle seinen Namen. „Sei zu Hause! Bitte, sei zu Hause!", flehte ich im Stillen. Irgendwer musste da sein. Irgendwer musste diesen Albtraum mit mir teilen. Die Verandabeleuchtung flammte auf und schnitt einen gelben Lichtkegel in die Dunkelheit. Während ich noch in der plötzlichen Helligkeit blinzelte, schwang auch schon die Haustür auf. Kent steckte den Kopf heraus. Sein Gesicht wirkte in diesem Licht sehr bleich, und seine blauen Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen. „Bitte ... hilf mir!", stammelte ich. Er betrachtete mich prüfend von oben bis unten und sah mir dann in die Augen. „Was ist denn los?", erkundigte er sich. Ich blickte an ihm vorbei ins Haus. „Sind deine Eltern da?" Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind in Waynesbridge. Warum? Was gibt's denn?" Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und die ersten Schluchzer aus meiner Kehle aufstiegen. „Reiß dich zusammen, Nicole!", befahl ich mir. Ich musste ganz ruhig bleiben und Kent die ganze Geschichte erzählen. Ich hatte noch jede Menge Zeit zu weinen, wenn Lucy erfahren hatte, was geschehen war, und ich wieder in meinem alten Körper steckte. „Was ist denn?", fragte Kent beunruhigt. „Du siehst ja furchtbar aus!" „Kann ich reinkommen?", bat ich mit zitternder Stimme. Eine einzelne Träne kullerte meine rechte Wange hinunter. Als er einen Schritt zurücktrat, schob ich mich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Halt suchend umklammerte ich die Rückenlehne des Sofas und krallte meine Hände in das weiche Leder. Kent war mir gefolgt. Er sah wirklich gut aus. Sein dichtes Haar hatte die Farbe von Stroh und fiel ihm in Wellen bis über den Kragen. Er hatte blaugraue, ernste Augen und war groß und sportlich. Ich hatte Kent immer dafür bewundert, dass er so ausgeglichen war. Noch nie hatte ich ihn nervös oder mit schlechter Laune erlebt. Jetzt blickte er mich fragend an und wartete auf eine Erklärung. 34
Weil ich nicht wusste, wie ich anfangen sollte, ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern. Auf dem Tisch im Esszimmer sah ich einen einzelnen Teller, und im ganzen Haus roch es nach Tomatensoße. „Setz dich doch erst mal und erzähl mir, was passiert ist. Ich habe gerade eine Pizza in den Ofen geschoben", sagte er. „Hast du schon gegessen?" Und dann brach alles wie eine Sturzflut aus mir heraus. Ich fing ganz von vorne an - wie ich Lucy nach der Schule getroffen hatte – und ließ nichts aus. „Lucy hat mich mit in den Fear-Street-Wald genommen", berichtete ich ihm. „Ihr Großvater hat ihr von den geheimnisvollen Kräften der Mauer der Verwandlung erzählt. Wir haben unsere Körper getauscht, Kent. Wir wollten es beide, und da haben wir es einfach getan." Ihm klappte der Unterkiefer herunter. Er hob die Hand, um mich zu bremsen. Aber ich konnte jetzt nicht aufhören. Nicht bevor ich ihm alles gesagt hatte. „Wir haben unsere Körper getauscht", wiederholte ich. „Ich weiß, das klingt merkwürdig. Aber du musst mir glauben. Du musst! Ich sehe zwar aus wie Lucy, aber in Wirklichkeit bin ich Nicole." „Hör zu, Nicole ...", begann er. Aber ich wollte ihn nicht ausreden lassen. „Dann ist Lucy zu mir nach Hause gegangen und ich zu ihr", fuhr ich hastig fort. Ich redete so schnell wie noch nie in meinem ganzen Leben. „Doch als ich dort ankam ... als ich in ihr Haus ging ..." „Ja, und?", fragte Kent ungeduldig. „Was dann?" „Oh, Kent!", rief ich und ließ meinen Tränen jetzt freien Lauf. „Es war so schrecklich! Ihre Eltern! Sie sind ermordet worden! Ich habe ihre Leichen auf dem Boden im Wohnzimmer gefunden. Und dann bin ich rausgerannt. Ich wollte es Lucy erzählen. Aber sie war nicht zu Hause. Ich meine, sie war nicht bei mir. Sie weiß es noch nicht, Kent. Sie weiß es noch gar nicht. Ich ... ich ..." Ein ersticktes Schluchzen drang aus meiner Kehle, und meine Schultern zuckten unkontrolliert, als ich zu weinen begann. Dann spürte ich plötzlich die sanfte Berührung von Kents Hand auf meiner Schulter. „Ganz ruhig, Nicole. Es wird alles wieder gut." Ich versuchte mich zusammenzureißen. 35
Er war so lieb zu mir, so freundlich. Ich hatte es gewusst. Kent war wirklich ein netter Kerl. „Nicole, ich werde dir helfen", sagte er mit sanfter Stimme. „Mach dir keine Sorgen. Ich helfe dir ganz bestimmt." Er führte mich um die Couch herum und drückte mich auf das Polster. Eine Hand auf meine Schulter gelegt, blieb er neben mir sitzen und redete beruhigend auf mich ein, bis ich aufgehört hatte zu weinen. „Danke, Kent", murmelte ich und wischte mir mit beiden Händen über meine feuchten Wangen. „Du bist so lieb." „Ich hole dir ein Glas Wasser", sagte er und stand auf. „Und du bleibst einfach hier sitzen, okay?" „Okay", antwortete ich und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. „Ich bin gleich wieder da", versprach Kent. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Esszimmer und verschwand in der Küche. Kurz darauf hörte ich seine gedämpfte Stimme. „Mit wem redet er denn da?", fragte ich mich verwundert. Ich rappelte mich hoch und schlich auf wackeligen Beinen durchs Esszimmer. Auf halbem Weg zur Küche konnte ich Kents Stimme bereits ganz deutlich verstehen. Offenbar telefonierte er mit jemandem. „In Ordnung", hörte ich ihn sagen. „Ich werde sie hier behalten. Aber Sie sollten sich besser beeilen. Sie könnte versuchen zu entkommen."
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Kapitel 6 Ich stieß ein unterdrücktes Keuchen aus. Der Boden des Zimmers schien zu schwanken und auf mich zuzukommen. Ich musste mich am Esstisch festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und hinzufallen. Ich fühlte mich so betrogen. So durcheinander und verraten. Warum hatte Kent die Polizei angerufen? Hatte er mir meine Geschichte denn nicht geglaubt? Dachte er etwa, ich hätte die Kramers umgebracht? Ich hörte, wie er den Hörer auflegte und zur Spüle ging. Dann ertönte lautes Plätschern. Jetzt holte er das Glas Wasser, das er mir versprochen hatte. Ich zögerte und umklammerte noch immer die Tischkante, weil der Raum einfach nicht aufhören wollte zu schwanken. Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte auf keinen Fall hier herumsitzen und auf die Polizei warten. Nicht mit Lucys Körper. Bevor ich meinen eigenen Körper nicht wiederhatte, würde mir sowieso niemand meine Geschichte abnehmen. Kent hatte nur so getan, als würde er mir glauben. Wahrscheinlich dachte er, ich sei Lucy. Er hatte mich nur Nicole genannt, um mich zu beruhigen und mich in Sicherheit zu wiegen. Damit er sich in die Küche schleichen und bei der erstbesten Gelegenheit die Polizei rufen konnte. Ich hörte, wie er den Wasserhahn abstellte. Hörte das Plopp der Eiswürfel, die ins Glas plumpsten. Vorsichtig wich ich einen Schritt zurück. Und noch einen. Bewegte mich langsam wieder in Richtung Wohnzimmer. „Ich muss hier weg!", wurde mir plötzlich klar. „Ich kann auf keinen Fall länger hier bleiben!" Kent hatte mich verraten. Und ich wusste nicht wieso. „Hey, Nicole. Wie fühlst du dich?", rief er aus der Küche. Seine freundliche Stimme verursachte mir eine Gänsehaut. Ich hatte immer gedacht, er sei ein netter Kerl. Verständnisvoll und 37
fürsorglich. Doch jetzt hasste ich ihn von ganzem Herzen. Hasste ihn, weil er mich angelogen und hereingelegt hatte. Hasste ihn, weil er nicht auf meiner Seite war. Ich drehte mich um und rannte los. Wieder schien mir der Fußboden entgegenzukommen, als ob er meine Flucht verhindern wollte. Aber ich zwang mich weiterzulaufen und stürmte in den Flur. „Nicole – warte! Hey – Nicole!", hörte ich Kents aufgeregte Stimme aus dem Esszimmer dringen. Ich stieß mit der Schulter die Zwischentür mit dem Fliegengitter auf und raste aus dem Haus. Dann nahm ich alle drei Stufen der Vorderveranda auf einmal und lief weiter. „Nicole – bleib stehen! Komm zurück!" Würde er mich verfolgen? Schnell flitzte ich über die Straße und in den nächstbesten Garten. Ich lief geduckt hinter einer hohen Hecke entlang und achtete nicht auf meinen hämmernden Herzschlag und die roten Blitze, die jedes Mal vor meinen Augen zuckten, wenn ich blinzelte. Erst als ich drei weitere Gärten durchquert hatte, wagte ich zurückzublicken. Keine Spur von Kent. Nein, er war mir nicht gefolgt. Warum hatte er mir das angetan? Hatte er vergessen, dass Lucy seine Freundin war? Warum hatte er die Polizei gerufen? Damit sie seine Freundin festnahm? Ich legte eine Hand an mein Ohr und lauschte auf das Geräusch von Polizeisirenen – nichts. Ein Stück weiter die Straße hinunter stritten sich lautstark zwei Kinder. „Hab ich nicht!" „Hast du doch!" „Hab ich nicht!" Als ich ihre unschuldigen Stimmen hörte, musste ich schlucken. Plötzlich wäre ich gerne wieder ein kleines Kind gewesen. Ich wollte nicht länger in Lucys Körper stecken. Wollte nicht mehr siebzehn sein. Wollte nicht wissen, dass im Haus der Kramers zwei Leichen lagen.
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Ich schlich weiter durch Vorgärten und überquerte vorsichtig mehrere Straßen – immer auf der Hut vor der Polizei. Ich achtete auf jeden möglichen Verfolger, auf jedes Geräusch, jede Bewegung. „Lucy, ich muss dich unbedingt finden", dachte ich verzweifelt. „Ich habe schreckliche Nachrichten für dich." Ohne es zu merken, war ich zu unserem Haus zurückgekehrt. Ich schlich über die Auffahrt und hinüber zu der alten Kastanie, die neben dem Weg stand. Dieser Baum war ein alter Freund von mir. Wie viele Stunden hatte ich lesend in seinem Schatten verbracht oder war mit den Kindern aus der Nachbarschaft um ihn herumgetobt. Während ich mich an seinen Stamm schmiegte, schaute ich zum Haus empor. Es war immer noch dunkel und still. „Lucy, wo bist du? Lucy, ich brauche dich!" Ich kratzte mich am Knie und stellte dabei fest, dass meine Strumpfhose nun völlig zerrissen war. Erschöpft strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Sie fühlten sich feucht und zerzaust an. Wahrscheinlich sah ich schrecklich aus. Plötzlich hörte ich Stimmen. Unsere Nachbarn waren vor die Haustür getreten. Ich drückte mich eng an den Baum, damit sie mich nicht sahen. „Hier kann ich nicht bleiben", durchfuhr es mich siedend heiß. „Es ist viel zu gefährlich, hier rumzulungern und zu einem leeren Haus hochzustarren." In meinem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander, als wären sie von einem Wirbelsturm erfasst worden. Ich presste beide Hände gegen die Schläfen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. „Am besten gehe ich zum Haus der Kramers zurück", überlegte ich. Als der Wagen unserer Nachbarn angelassen wurde, zuckte ich vor Schreck zusammen. Ich quetschte mich noch fester gegen den freundlichen, alten Baum und wartete darauf, dass sie wegfuhren. Das Licht der Scheinwerfer fegte über unseren Rasen und glitt am Stamm der Kastanie hinab. Ob sie mich wohl gesehen hatten? Ich stand stocksteif und hielt den Atem an. Aber sie hatten anscheinend nichts bemerkt. Erleichtert sah ich ihnen hinterher, als der Wagen die dunkle Straße entlangfuhr.
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Ich beschloss, zu Lucys Haus zurückzukehren. Ich musste frische Sachen anziehen. Meine Haare kämmen. Und dafür sorgen, dass ich nicht mehr so abgerissen aussah. Ich würde einfach ganz schnell am Wohnzimmer vorbeigehen. Und keinen Blick hineinwerfen. Nicht um alles in der Welt wollte ich die Leichen von Lucys Eltern noch einmal sehen. Ich hatte sie sowieso schon ständig vor Augen. Wenn ich erst mal geduscht hatte und umgezogen war, würde es mir bestimmt gleich besser gehen. Und hinterher würde ich bei uns zu Hause anrufen und es so lange probieren, bis ich Lucy erreicht hatte. Aber ich wollte ihr die schreckliche Nachricht nicht am Telefon mitteilen. Das konnte ich der armen Lucy nicht antun – es war einfach zu grausam. Ich würde sie bitten, sich mit mir im Fear-Street-Wald zu treffen, und ihr dort sagen, dass wir sofort in unsere eigenen Körper zurückkehren mussten. Nach dem Tausch würde ich ihr dann schonend beibringen, was passiert war. Und mich um sie kümmern. Schließlich war sie auch immer für mich da gewesen. Es beruhigte mich ein bisschen, einen Plan zu haben. Mein Herz hämmerte zwar noch wie wild, aber der Schwindel erregende Wirbelsturm meiner Gedanken kam langsam zur Ruhe. Und als ich mich auf den Weg machte, hörte endlich auch der Boden auf zu schwanken. Als ich in den Canyon Drive einbog, ertönte in einiger Entfernung das Heulen von Polizeisirenen. Ich blieb stehen und lauschte. Kamen sie in diese Richtung? Suchten sie nach mir? Das Geräusch der Sirenen wurde immer schwächer. Bald war nur noch das sanfte Flüstern der Bäume zu hören. Den Rest des Weges zu Lucys Haus rannte ich. Ich schlüpfte durch die Hintertür, damit ich nicht noch einmal am Wohnzimmer vorbeimusste. Kaum war ich in der Küche, knipste ich das Licht an und sah mich um. Alles war ordentlich und glänzte nur so vor Sauberkeit. Nichts deutete darauf hin, dass im Nebenraum zwei grässliche Morde begangen worden waren.
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Bei diesem Gedanken überlief mich ein kalter Schauder, und ich machte mich schnell auf den Weg zu Lucys Zimmer, das am Ende des kurzen Flurs im ersten Stock lag. In dem schmalen Korridor war es stockdunkel. Ich tastete mich vorsichtig an der Wand entlang, weil ich den Lichtschalter nicht finden konnte. Plötzlich krachte ich gegen etwas Hartes. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich kapierte, dass es eine Wäschetruhe aus Korbgeflecht war. Ich ging darum herum und rieb mir das schmerzende Knie, während ich die Tür zu Lucys Zimmer aufstieß. Dort wartete ich einen Moment, bis sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das durchs Fenster hereinfiel. Dann knipste ich die kleine Nachttischlampe an. Sie warf einen blassgelben Schimmer über das Bett. Mein Blick wanderte von der glatt gestrichenen Tagesdecke zum Schrank. „Du wolltest dich doch umziehen", fiel es mir plötzlich wieder ein. Also ging ich zum Kleiderschrank. Lucys Schrank. Lucys Kleider. Die Schiebetür ging nicht auf. Anscheinend hatte sie sich verhakt. Ich brauchte beide Hände, um sie zu öffnen. „Oh!" Ich stieß einen kurzen Schrei aus, als ich in den Schrank schaute. Leer. Keine Klamotten. Nur zwei große, leere Kartons auf dem Boden. Das konnte doch nicht sein! Wo waren Lucys Sachen? Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mich überlief ein eisiges Frösteln. Was ging hier vor? Ich wirbelte herum und taumelte zu der Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Wie eine Wilde zog ich die Schubladen auf. Leer. Alle leer. Warum hatte Lucy ihre ganzen Klamotten mitgenommen? Diese Frage drehte sich wie ein Karussell in meinem Kopf.
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Doch bevor ich sie beantworten konnte, fiel mein Blick auf das blutverschmierte Messer auf dem Schreibtisch. Und alle Fragen und Gedanken waren wie weggeblasen.
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Kapitel 7 Die Klinge des Messers glänzte matt im gelben Lampenschein. Dunkelrote Rinnsale waren die Schneide hinuntergelaufen und auf die Schreibtischplatte getropft. Ganze Ströme von getrocknetem Blut.
Ich starrte das Messer an, bis es vor meinen Augen verschwamm. „Das bilde ich mir nur ein", dachte ich. „Ich sehe doch nicht wirklich ein blutverkrustetes Messer auf Lucys Schreibtisch. Das kann einfach nicht sein!" Ich versuchte, es wegzublinzeln. Aber es wollte nicht verschwinden. Es war real. Ein echtes Messer. Ein Küchenmesser mit einem schwarzen Griff. Ich holte tief Luft. Dann ging ich dichter an den Schreibtisch heran. Das Messer steckte aufrecht in der Schreibtischplatte. Die Klinge musste mit großer Kraft hineingestoßen worden sein. Als ich näher kam, sah ich, dass auch der Griff des Messers voller Blut war. Was machte dieses blutverschmierte Küchenmesser hier? Warum ragte es aus Lucys Schreibtisch? Die Hände fest gegen die Wangen gepresst, trat ich noch einen Schritt näher. Die Klinge war durch ein Blatt Papier gestoßen worden. Es war ein liniertes Blatt aus einem Schulheft. Unten auf der Seite war ein verschmierter Daumenabdruck zu sehen. Er war dunkelrot. Blutrot! Ich bemerkte, dass auf dem Blatt etwas geschrieben stand. In krakeliger Schrift und mit dunkelblauer Tinte. Direkt über der Stelle, wo das Messer das Papier durchstochen hatte. In dem schwachen Licht blinzelnd, beugte ich mich über den Schreibtisch und las die hingekritzelten Worte: Ich musste sie töten Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten Lucy K Ich schluckte und musste mich zwingen weiterzuatmen. 43
„Nein!", schrie ich und taumelte zurück. „Nein! Bitte – nicht!" Entgeistert wich ich zurück, bis ich gegen das Bett stieß. Dann ließ ich mich auf die Tagesdecke sinken und verbarg mein Gesicht in den Händen. Obwohl ich die Augen fest zukniff, sah ich die krakeligen Worte deutlich vor mir. Lucys hastig hingeschmiertes Geständnis. Sie hatte ihre Eltern umgebracht. Hatte sie erstochen und die Mordwaffe anschließend in die Schreibtischplatte gestoßen. Und dann? Sie war doch bestimmt nicht mit all ihren Sachen geflüchtet. Nein. Das machte keinen Sinn. Ich öffnete die Augen und blickte auf. Dabei sah ich für einen kurzen Moment mein Bild im Spiegel über der Kommode. Mich überfiel panisches Entsetzen. Jetzt verstand ich alles! Lucy hatte zuerst ihre Eltern umgebracht. Danach hatte sie ein Geständnis geschrieben und die Mordwaffe in ihrem Zimmer zurückgelassen, sodass jeder sie sehen konnte. Und dann hatte sie ihren Körper mit mir getauscht! Jetzt saß ich hier und war – Lucy. Ich war die Mörderin! Und die echte Lucy war entkommen, indem sie sich in mich verwandelt hatte. „Was für ein teuflischer Plan!", dachte ich bitter. Wie konnte Lucy nur auf so etwas verfallen? Das perfekte Verbrechen. Und die perfekte Flucht. Auch wenn ich die Wahrheit sagte, würde mir niemand glauben. Weil alle denken würden, dass ich die Mörderin war. Kein Wunder, dass Lucy es gar nicht erwarten konnte, mit mir den Körper zu tauschen und in mein unglückliches, frustrierendes Leben zu schlüpfen. Sie hatte genau gewusst, was sie tat. Dass sie mir damit die Verantwortung für zwei grässliche Morde aufhalste. Es war der vollkommene Fluchtplan. Flucht. Das Wort hallte in meinem Kopf wieder. Flucht. Wie sollte ich jetzt entkommen?
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Mein erster Impuls war, das Geständnis zu zerreißen und die Mordwaffe zu verstecken. Doch dann kam mir ein anderer verzweifelter Gedanke: Ich würde das Messer mitnehmen und mich auf die Suche nach Lucy machen. Ich würde sie damit bedrohen und sie zwingen, mir mein altes Ich zurückzugeben. Und wenn sie sich weigerte, würde ich sie töten. Oh ja, ich würde sie erstechen! Nein. Es ging nicht. Ich wusste genau, dass ich niemanden umbringen konnte. Auch Lucy nicht, obwohl sie mir das angetan hatte. Aber was sollte ich tun? „Ich muss sie finden", überlegte ich. „Ich muss mit ihr reden und..." Meine chaotisch durcheinander wirbelnden, verzweifelten Gedanken wurden durch ein lautes Geräusch unterbrochen. Erschrocken sprang ich vom Bett auf. Ein Klopfen. Es wiederholte sich. Dreimal. War da jemand an der Haustür? Ich knipste die Nachttischlampe aus, und Dunkelheit senkte sich über das Zimmer. Auf Zehenspitzen ging ich am Schreibtisch vorbei. Vorbei an dem blutbespritzten Messer und dem Geständnis. Dann schlich ich leise ins Wohnzimmer und zog die Vorhänge ein winziges Stück zurück. Ich warf einen Blick auf die vordere Veranda. Und sah zwei Männer in grauen Anzügen und mit grimmigen Gesichtern.
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Kapitel 8 „Das könnte euch so passen!", wisperte ich. Ich würde auf keinen Fall hier bleiben und mich von ihnen erwischen lassen. Auch wenn die Männer keine Uniformen trugen, merkte man sofort, dass sie Polizisten waren. Ich wusste, sie waren hinter mir her. Der Anblick der beiden Detectives ließ mich meine Angst vergessen. Ein heißes Gefühl der Wut stieg in mir auf und fegte alle Furcht davon. Behutsam ließ ich den Vorhang wieder zurückgleiten und schlich mich vom Fenster weg. „Mich kriegt ihr nicht!", murmelte ich leise vor mich hin. Ich beschloss, als Erstes Lucy aufzuspüren. So leicht würde ich es ihr nicht machen! Jedenfalls würde ich mich nicht hier neben dem Messer und dem handgeschriebenen Geständnis schnappen lassen und sagen: „Hier bin ich, meine Herren. Nehmen Sie mich mit." Immer noch hämmerten die beiden beharrlich gegen die Tür. Ich drehte mich um und rannte den kurzen Flur entlang. Dem Wäschekorb wich ich diesmal aus. Mein Herz klopfte wie verrückt, und alle meine Sinne waren hellwach. Ich achtete auf jedes Geräusch und auf jeden Schatten. Als ich in die Küche kam, merkte ich, dass ich das Licht angelassen hatte. Ich duckte mich, damit man mich vom Fenster aus nicht sehen konnte, und schlich gebückt zur Hintertür. Das Fliegengitter klapperte, als ich die Zwischentür öffnete. Hatten die Polizisten es gehört? Kamen sie jetzt um das Haus herum? Ich schlüpfte ins Freie und schloss die Tür leise und vorsichtig hinter mir. Mit angehaltenem Atem warf ich einen Blick zur Auffahrt, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Angespannt lauschte ich auf Schritte oder Stimmen. Absolute Stille. 46
„Ich bin draußen!", dachte ich triumphierend. Dann atmete ich tief durch und lief über den Rasen hinter dem Haus. Ein dunstiger Mond schimmerte über den Bäumen. Die Nacht war sehr warm, und es regte sich kein Lüftchen. Meine Turnschuhe quietschten leise auf dem taufeuchten Gras, und ich wäre ein paar Mal beinahe ausgerutscht. Ich hatte den Garten bereits zur Hälfte durchquert – an dem kleinen Gemüsegarten vorbei und auf die alte verrostete Schaukel zu –, da hörte ich plötzlich einen lauten Ruf. „Hey – stehen bleiben!" Ich stieß einen unterdrückten Schrei aus und blickte zurück. Die beiden Polizeibeamten standen neben dem Haus. Der eine deutete auf mich, und der andere wedelte mit den Händen über seinem Kopf herum, als würde er jemandem Zeichen geben. „Halt! Keine Bewegung!" „Bleib sofort stehen!" Eigentlich klangen ihre Stimmen eher überrascht als drohend. Ich ignorierte ihre Rufe. Mit gesenktem Kopf und weit nach vorne gebeugt, rannte ich so schnell ich konnte davon. Vorbei an der Schaukel und an zwei riesigen Ahornbäumen, zwischen denen früher einmal eine Hängematte gespannt gewesen war. Und an einem niedrigen Stapel Kaminholz vorbei. „Stopp! Hey – stopp!" Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, dass sie mich verfolgten. Sie rannten verdammt schnell. „Halt!“ Ich keuchte erschrocken und lief noch schneller. Doch da ragte plötzlich der hohe Holzzaun vor mir auf, der das Grundstück begrenzte. Die Kramers hatten ihn selber gebaut, und Lucy und ich hatten dabei geholfen, ihn weiß zu streichen. Früher hatten wir viele Stunden damit zugebracht, einen Tennisball gegen den Zaun zu werfen und wieder aufzufangen. Aber jetzt ragte er vor mir auf wie eine Gefängnismauer. Und ich wusste, dass ich in der Falle saß.
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Kapitel 9 Ich streckte beide Arme weit über meinen Kopf, griff nach dem Zaun und sprang hoch. Irgendwie hatte ich die verrückte Idee, dass ich es schaffen könnte hinüberzuklettern. Aber der Zaun war über zwei Meter hoch, und die Oberkante lag außerhalb meiner Reichweite. Ich hörte, wie die grau gekleideten Detectives mir hinterherbrüllten. Und ich hörte das dumpfe Geräusch ihrer schnellen Schritte. Mit aller Kraft unternahm ich einen letzten, verzweifelten Versuch. Nein. Keine Chance. „Bleib stehen! Und keine Bewegung!", befahl die Stimme hinter mir. „Das ist ein Irrtum!", dachte ich. „Ich bin nicht Lucy. Ich sehe nur so aus." Der Zaun glänzte schwach im fahlen Licht des Halbmonds. Ich atmete schwer und stellte mich innerlich darauf ein, den Polizisten gegenüberzutreten und ihnen zu sagen, wer ich wirklich war. Doch da fiel mir plötzlich unsere Geheimpforte wieder ein. Der kleine Durchgang, den Lucys Vater für uns gebaut hatte. Wir fanden das als Kinder richtig spannend. An einer Stelle kippten nämlich die Latten des Zauns nach hinten, wenn man dagegen drückte, und wir waren damals wie kleine Hunde durch die schmale Öffnung geflitzt. Ob es unsere Geheimtür wohl immer noch gab? Lucy und ich hatten sie bestimmt nicht mehr benutzt, seit wir sechs oder sieben waren. „Bleib stehen! Wir werden dir nichts tun!" „Wir wollen dir doch bloß helfen!" Lügner! Die lauten Stimmen rissen mich aus meiner Erstarrung. Ich stürzte mich auf den Zaun. Aber welche Bretter waren es? Es war schon so viele Jahre her. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
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Mit gesenkter Schulter drückte ich gegen die Latten. Nein. Hier war es nicht. Ich stieß einen gequälten Laut aus. Wie ein Tier in der Falle. Dann versuchte ich es noch einmal und stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Bretter zu meiner Rechten. Plötzlich hörte ich ein quietschendes Geräusch. Und dann kippten zwei Latten langsam nach hinten. Ich zwängte mich durch die Lücke. Fand mein Gleichgewicht wieder und rannte. Durch eine dunkle Gasse. Vorbei an einer Reihe Mülltonnen. In irgendeinen Garten. Ich hörte die überraschten Rufe der beiden Männer und dann ihre dröhnenden Schritte in der schmalen Gasse. Offenbar hatten sie es irgendwie geschafft, sich ebenfalls durch die schmale Öffnung im Zaun zu quetschen. Sie waren mir immer noch dicht auf den Fersen. „Ich kann ihnen nicht entkommen", dachte ich mutlos. „Ich halte nicht mehr lange durch." Keuchend ließ ich meinen Blick durch den Garten wandern. „Ein Versteck", überlegte ich fieberhaft. „Irgendwo muss es hier doch ein Versteck geben!" Meine Augen blieben an einem kleinen Schuppen neben dem Haus hängen. Nein. Es war kein Schuppen. Eher ein kleines Haus mit einem schrägen Dach. Eine Hundehütte? Ein Spielhaus für Kinder? Immer wieder rutschte ich mit meinen Turnschuhen auf dem feuchten Gras aus, als ich auf das kleine Haus zuraste. Die beiden Männer waren bereits im hinteren Teil des Gartens. Mit einem letzten verzweifelten Sprung erreichte ich das Häuschen. Ich ließ mich auf alle viere fallen und krabbelte hinein. Dann rollte ich mich zusammen, verbarg den Kopf in den Armen und kniff die Augen ganz fest zu. Wie ein kleines Kind, das so tat, als wäre es unsichtbar. Wenn ich dich nicht sehen kann, dann kannst du mich auch nicht sehen. Mit angehaltenem Atem betete ich, dass meine Verfolger nicht gesehen hatten, dass ich hier hineingeschlüpft war. 49
Über das laute Hämmern meines Herzschlags hinweg lauschte ich angespannt. Auf ihre Schritte, ihre Stimmen. Ich hoffte, sie würden an mir vorbei in den nächsten Garten laufen und von dort aus immer weiter. Hoffte, sie würden denken, dass sie meine Spur verloren hatten und die Suche aufgeben. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich einen von ihnen rufen hörte: „Hierher!"
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Kapitel 10 Ich stieß ein unterdrücktes Keuchen aus. Aber ich bewegte mich nicht. Fest zusammengerollt blieb ich liegen. Den Kopf in den Armen vergraben und mit geschlossenen Augen. „Nein. Ihr seht mich nicht", flehte ich lautlos. „Ihr könnt mich gar nicht sehen. Ich bin doch unsichtbar." „Wo ist sie denn hingelaufen?" Die Stimme des Mannes klang angespannt und völlig außer Atem. Dann begann er zu husten. Es war ein lang gezogener, pfeifender Husten. „In den nächsten Garten", antwortete sein Partner. „Ich glaube, ich habe gesehen, wie sie um die Garage geflitzt ist." „Okay, du gehst vorne rum. Ich versuch's von hinten." Wieder das pfeifende Geräusch. Dann Stille. Ja! Ja! Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, wäre aus dem kleinen Haus gekrabbelt und hätte Freudentänze auf dem Rasen vollführt. Aber ich blieb zusammengekrümmt liegen und hielt meine Beine fest umklammert. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte. Es können ein paar Minuten gewesen sein oder auch eine Stunde. Jedenfalls blieb ich in der Hütte, bis mein Körper aufgehört hatte zu zittern. Bis das Hämmern in meinem Kopf nachgelassen hatte und die roten Blitze vor meinen Augen verschwunden waren. Ich lag da, bis die Stille kaum noch erträglich war. Und als ich schließlich aus dem Häuschen krabbelte, meine verkrampften Muskeln lockerte und beide Hände hoch über den Kopf streckte, hatte ich einen Plan. Mein kleiner, roter Honda stand noch auf dem Schülerparkplatz hinter der Highschool. Wahrscheinlich war er im Moment das einzige Auto auf der schmalen Asphaltfläche. Nach der Schule hatte ich überhaupt nicht mehr an ihn gedacht. In
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meiner Aufregung über den geplanten Körpertausch hatte ich total vergessen, dass ich mit dem Wagen zur Schule gekommen war. „Ist das wirklich erst heute Nachmittag gewesen?", dachte ich verwundert. Es kam mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Dies war der längste Tag meines Lebens. Und der schrecklichste. Mein Blick huschte über den leeren Parkplatz. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich wie eine Verbrecherin. Als würde ich mein eigenes Auto stehlen. Normalerweise hatte ich die Autoschlüssel immer in meiner Jackentasche. Aber jetzt trug ich ja Lucys Klamotten. Zum Glück hatte ich noch einen Ersatzschlüssel, der in einem dieser kleinen magnetischen Kästchen unter dem Kotflügel versteckt war. Ich öffnete die Tür und glitt hinter das Lenkrad. Nervös blickte ich den Rückspiegel. Fast erwartete ich, die beiden Polizisten hinter dem Schulgebäude hervorspringen zu sehen. Aber es war niemand da. Meine Hand zitterte, als ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Wagen anließ. Das Brummen des Motors klang beruhigend. Ich saß eine Weile einfach nur da, lauschte diesem Geräusch und strich mit den Händen über das kühle Lenkrad. „Na warte, Lucy!", sagte ich laut. „Ich werde dich finden! Du entkommst mir nicht!" Ich fühlte mich schon ein bisschen besser – zuversichtlicher –, als ich das Licht anmachte und losfuhr. Ein paar Sekunden später war ich bereits an der Rückfront der Schule vorbeigerast und scharf nach rechts auf den Park Drive eingebogen. Einer der hellen Scheinwerfer, die das Schulgelände beleuchteten, warf einen weißen Lichtkegel auf den nackten Fahnenmast vor dem Gebäude. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf ein braunweißes Transparent über der Eingangstür, das in großen Lettern verkündete: GO, TIGERS! GO! Ich schwor mir, so lange herumzukurven, bis ich Lucy gefunden hatte. Dazu würde ich alle Plätze abklappern, wo sie sich normalerweise rumtrieb. Und wenn es sein musste, die ganze Stadt. Ich würde nicht aufgeben. Ich würde sie finden und mir meinen Körper zurückholen! 52
Und ich würde sie zwingen, mir ins Gesicht zu sagen, warum sie mich so hereingelegt hatte. „Ich dachte, du wärst meine Freundin, Lucy", murmelte ich vor mich hin, während ich langsam an einem Stoppschild vorbeifuhr. „Warum hasst du mich auf einmal? Warum hasst du mich so sehr, dass du mir die Verantwortung für den Mord an deinen Eltern in die Schuhe schieben willst?" Auf dem Weg zu mir nach Hause versuchte ich mich zu erinnern, ob ich irgendwas gesagt oder getan hatte, das Lucy dazu bringen konnte, mir so etwas anzutun. Aber mir fiel nichts ein. Wir waren die dicksten Freundinnen gewesen und immer ehrlich zueinander. Wenn eine von uns sauer gewesen wäre, hätte sie es der anderen auch gesagt. So was hätten wir uns nicht verschwiegen. Die dunklen Häuser und Gärten flogen in einem Wirbel aus Grau und Schwarz vorbei. Ich umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Es fühlte sich so stabil, so tröstlich an. Ich hielt mich daran fest, als wäre es mein einziger Kontakt zur Realität. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich für immer in einer düsteren, unwirklichen Welt verschwinden würde, wenn ich es auch nur einen Moment loslassen würde. Als ich vor unserem Haus am Straßenrand anhielt, machte ich die Scheinwerfer aus. Falls Lucy da war, sollte sie mich nicht kommen sehen. Ich wollte sie nämlich überraschen. Aber es stand kein Wagen in der Einfahrt. Das Licht auf der Veranda war eingeschaltet, und ebenso der Scheinwerfer, der den Rasen vor dem Haus beleuchtete. Diese Lampen ließen meine Eltern immer an, wenn sie weg waren. „Wo seid ihr?", flüsterte ich vor mich hin und starrte zu den dunklen Fenstern hinauf. „Wo treibt ihr euch denn noch so spät am Abend rum? Lucy, ich will meinen Körper wiederhaben!" Plötzlich fragte ich mich, ob es Lucy gelungen war, meine Eltern zu täuschen. Hatten sie ihr abgenommen, dass sie Nicole war? Glaubten sie, ich sei mit ihnen zusammen? Dass alles so war wie sonst? Seufzend machte ich das Licht wieder an und fuhr langsam los.
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„Du solltest nicht hier rumsitzen und deine Zeit mit Fragen vergeuden, die du sowieso nicht beantworten kannst", sagte ich mir. „Suche lieber alles gründlich ab, um Lucy schnell zu finden." Das Lenkrad immer noch fest umklammert, gondelte ich durch die Stadt. Während der ganzen Fahrt schien Lucys Gesicht vor mir über die Windschutzscheibe zu ziehen. Ich krieg dich. Ich krieg dich. Ich krieg dich. Die Worte wiederholten sich wie ein monotoner Singsang in meinem Kopf. Bei ihren Freunden war sie nicht. Und als ich ein zweites und ein drittes Mal an unserem Haus vorbeifuhr, war immer noch kein Licht hinter den Fenstern zu sehen. Als Nächstes steuerte ich dass Alma's an, ein kleines Café, wo sie öfter hinging. Aber auch hier keine Spur von ihr. Mit jedem neuen Fehlschlag wurde ich ein bisschen wütender, und meine Entschlossenheit, sie zu finden, wuchs. Als ich Lucy dann endlich aufspürte, war ich bereit. Sie saß an einem der hinteren Tische von Pete's Pizza im großen Einkaufszentrum an der Division Street. Der Laden war einer der beliebtesten Treffpunkte der Kids von der Shadyside Highschool. Ich hatte Lucy durch die Glastüren sofort entdeckt. Reglos blieb ich stehen und sah sie an. Starrte auf meinen Körper, der dort mit zwei anderen Mädchen saß. Lucy in meinem Körper, die ausgelassen redete und lachte, als ob nichts passiert wäre. Ich erkannte Margie Bendell und Hannah Franks, die ihr gegenübersaßen. Alle drei zerrten an dem letzten Stück Pizza auf dem Teller. Lucy pulte den Käse ab und warf ihn nach Margie. „Das glaub ich einfach nicht!", dachte ich fassungslos, während ich mich gegen die gläserne Eingangstür lehnte. Eine lachende Lucy, die sich offenbar bestens amüsierte. Während ich in einem Albtraum gefangen war, den sie geschaffen hatte. Die Wut lief in Wellen durch meinen Körper, bis ich das Gefühl hatte, im nächsten Moment zu explodieren. Ich stieß die Tür auf und stürmte hinein. Eine Kellnerin warf mir einen genervten Blick zu, als ich sie von hinten anrempelte und einfach weiterging. „Entschuldige, dass ich dir im Weg war", rief sie mir ironisch hinterher. 54
Ich hörte sie kaum, denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf Lucy gerichtet, die zusammen mit Margie und Hannah kicherte, während sie sich ein Stück Pizza abriss und in den Mund stopfte. Mit großen Schritten ging ich an einem Tisch vorbei, an dem Leute saßen, die ich aus der Schule kannte. Einer von ihnen rief mir etwas zu, aber ich antwortete nicht. Margie und Hannah saßen sich gegenüber. Als ich an den Tisch trat, drehte sich Margie zu mir um. „Hi, Nicole!", rief sie überrascht. „Woher weiß sie, dass ich Nicole bin?", fragte ich mich verblüfft. Die Antwort lag auf der Hand. Lucy musste ihr erzählt haben, dass wir unsere Körper getauscht hatten. Margie und Hannah wussten es also. Schon wieder hatte Lucy ein Versprechen gebrochen. Schon wieder hatte sie mich angelogen. „Aber warum?", fragte ich mich. „Wieso hat sie es ihnen erzählt?" Lucy war eine Mörderin. Weshalb sollte sie den beiden anvertrauen, dass sie in Wirklichkeit gar nicht Nicole ist? Warum sollte sie ihnen verraten, dass sie sich in meinem Körper versteckte? „Was gibt's denn, Nicole?", erkundigte sich Hannah lächelnd und warf ihre weizenblonden Zöpfe über die Schulter. Doch als sie mein bedrücktes Gesicht sah, verschwand ihr Lächeln. „Nicole, bist du okay?", fragte Margie besorgt. „Nein, bin ich nicht", erwiderte ich scharf. „Ich ... ich muss mit Lucy sprechen." Die beiden schauten mich erstaunt an. „Aber die ist doch nicht hier!", erwiderte Margie. Ich drehte mich zu Lucys Platz um. Sie war verschwunden.
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Kapitel 11 „Wo ... wo ist sie denn hin?", stotterte ich. Hannah zwirbelte nervös die Papierhülle eines Strohhalms zwischen ihren Fingern und warf Margie einen merkwürdigen Blick zu. Dann kniff sie ihre haselnussbraunen Augen zusammen und sah mich forschend an. „Lucy war gar nicht hier, Nicole." „Aber ich hab sie doch gesehen!" Margie klopfte auf den Stuhl neben sich. „Setz dich erst mal. Geht's dir nicht gut?" „Natürlich war sie hier", knurrte ich und ignorierte Margies Geste. „Ich hab sie doch gesehen, als ich reingekommen bin. Ihr drei habt euch um das letzte Stück Pizza gestritten." Ich blickte auf den Teller. Er war leer - bis auf ein kleines Stück Kruste. „Nein", widersprach Margie sanft. „Hannah und ich sind zu zweit hier." „Ihr habt sie entkommen lassen!", rief ich mit schriller Stimme. „Nicole – bitte. Setz dich doch erst mal", wiederholte Margie. Sie und Hannah steckten bestimmt unter einer Decke. Lucy hatte ihnen erzählt, dass wir die Körper getauscht hatten, und jetzt nahmen sie diese Mörderin auch noch in Schutz. Die beiden hatten mich hinterhältig abgelenkt, damit Lucy sich unauffällig fortschleichen konnte. „Aber warum helfen sie ihr?", grübelte ich. „Sie sind doch auch meine Freundinnen." Ich verschränkte meine Arme fest vor der Brust, um nicht völlig auszurasten. „Ich weiß genau, dass ihr mit Lucy gesprochen habt!", schrie ich wütend. „Woher solltet ihr sonst wissen, dass ich Nicole bin?" Die beiden starrten mich erstaunt an. Hannah klappte vor lauter Verblüffung sogar der Unterkiefer herunter. Sie konnten meine Frage nicht beantworten. Ich hatte sie bei ihrer Lüge ertappt.
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„Nicole ...", setzte Margie an. Sie stand auf und versuchte, mich am Arm festzuhalten. Aber ich war zu schnell für sie. Ich wirbelte herum und rannte den Gang entlang auf die Tür zu. „Ich weiß, dass sie hier ist. Und ich werde sie finden!", rief ich über die Schulter zurück. Margie rief noch einmal meinen Namen. Aber ich wich einer Gruppe fieser Typen in Muskelshirts und schwarzen Jeans aus und stürzte aus der Tür. „Lucy treibt sich hier irgendwo rum, und sie kann noch nicht weit sein", sagte ich mir. Ich blieb auf dem breiten Mittelgang des Einkaufszentrums stehen und blickte nach links und rechts. Auf einmal merkte ich, dass es schon spät sein musste. Mehrere Läden machten gerade zu. Die Beleuchtung wurde heruntergedreht, und die Verkäufer schlössen die Türen ab. Das Einkaufszentrum wirkte wie ausgestorben. Nur noch wenige späte Besucher waren auf dem Weg zum Parkplatz. Ich drehte mich einmal um mich selbst und versuchte herauszufinden, in welche Richtung Lucy verschwunden war. „Wahrscheinlich ist sie mit dem Auto hier", überlegte ich. „Es sei denn, sie ist zusammen mit Hannah und Margie gefahren. Als sie mich gesehen hat, ist sie bestimmt zum Parkplatz gelaufen." Mit schnellen Schritten ging ich zum Ausgang. Dabei schaute ich in jedes Geschäft, an dem ich vorbeikam, und suchte die menschenleeren Gänge nach ihr ab. Einmal dachte ich, ich hätte Lucy entdeckt, und wollte schon auf sie zustürzen. Aber dann drehte sich das Mädchen mit dem Gesicht in meine Richtung, und ich sah, dass ich mich getäuscht hatte. Plötzlich wurde die Musik im Einkaufszentrum abgestellt. Eine unangenehme Stille breitete sich im ganzen Gebäude aus. Ein Stück den Gang hinunter hörte ich ein Baby schreien. Vereinzelte Stimmen. Das Klappern eines Einkaufswagens. Aber ohne die gewohnte Hintergrundmusik klangen diese Geräusche irgendwie unheimlich. Viel zu laut und ganz fremd. Ich nahm den ersten Ausgang, an dem ich vorbeikam. Der riesige Parkplatz war fast menschenleer. Nur eine Frau in einem hellblauen T-Shirt und blauen Shorts lud eine Einkaufstüte nach der anderen in 57
den Kofferraum ihres ramponierten Autos. Auf dem Rücksitz hüpften zwei kleine Kinder auf und ab. Mehrere Wagen fuhren langsam vom Parkplatz und bogen in die Division Street ein. Die grellen Lichtkegel der Scheinwerfer, die über mich hinwegglitten, zwangen mich, meine Augen abzuschirmen, als ich die Reihen der restlichen Autos nach Lucy absuchte. Pech gehabt. Ich war zu langsam gewesen. Lucy war mir entkommen. Wütend schubste ich einen Einkaufswagen aus dem Weg. Er rollte laut scheppernd über den Asphalt und rammte dann den Bordstein. Seufzend drehte ich mich um und blickte zu meinem Honda hinüber, der zwei Reihen weiter geparkt war. „Hey ...!", rief ich überrascht aus, als ich Lucy entdeckte, die neben dem Auto auf mich wartete.
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Kapitel 12 Meine Turnschuhe tapsten dumpf auf dem Asphalt, als ich auf sie zurannte. „Lucy – da bist du ja! Ich ... ich hab überall nach dir gesucht!" „Vielleicht können wir jetzt alles klären", dachte ich. „Vielleicht wird sie mir sagen, was hier eigentlich läuft." Sogar aus einiger Entfernung wirkte sie angespannt. Beide Arme hingen steif an den Seiten herab, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. „Nicole!", rief sie mir entgegen. Aber es war nicht Lucys Stimme. Schwer atmend blieb ich vor ihr stehen. „Nicole, wir müssen unbedingt miteinander reden." Es war nicht Lucys Stimme. Und auch nicht ihr Gesicht. Es war Margie! Sie griff nach mir und packte mich an den Schultern. Dann drehte sie sich um und rief zu einem Wagen, der ein Stück entfernt stand, hinüber: „Sie ist hier, Hannah! Ich hab sie!" Ich blinzelte mehrmals, als könnte ich Margie dadurch verschwinden lassen und an ihrer Stelle Lucy herbeizaubern. Aber vor mir stand immer noch Margie. Meine Augen hatten mir einen grausamen Streich gespielt. Einen grausamen, schrecklichen Streich. „Hier herüber, Hannah!", rief Margie. Ich sah, wie Hannah um den Wagen herumlief und auf uns zukam. „Nein!", kreischte ich. Was machten die beiden hier? Warum waren sie mir gefolgt? „Ich ... ich muss Lucy finden", stammelte ich. „Sie hat euch erzählt, dass wir unsere Körper getauscht haben. Ich weiß es genau." Margie ließ mich los und streichelte behutsam meinen Arm. „Beruhige dich, Nicole", sagte sie so sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen. „Wir wollen doch nur mit dir reden. Wir ..." „Nein!", kreischte ich. Die Wut schoss durch meinen Körper. „Nein!" 59
Die beiden versuchten mich aufzuhalten, damit Lucy entkommen konnte. Ich schubste Margie mit aller Kraft beiseite. Sie stieß einen überraschten Schrei aus, als sie rückwärts über den Bordstein stolperte und auf den harten Asphalt knallte. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Hannah schon ganz nah war. „Warte! Warte doch!", rief sie. Aber ich dachte gar nicht daran. Hastig riss ich die Wagentür auf und sprang hinein. Margie hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt. Sie griff genau in dem Moment nach der Tür, als ich sie zuknallte. „Nicole!" Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Scheibe. „Nicole – bleib hier!" Erleichtert stellte ich fest, dass der Schlüssel noch steckte. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Aber heute war ich froh darüber. Ich ließ den Wagen an. Margie klopfte immer noch gegen die Scheibe. Plötzlich streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus. Gerade noch rechtzeitig drückte ich den Knopf hinunter. Dann legte ich hastig den Rückwärtsgang ein. Als ich einen Blick in den Rückspiegel warf, sah ich, wie Hannah hinter den Wagen trat, um mir den Weg zu versperren. „Wow!", dachte ich. „Die wollen mich wirklich mit allen Mitteln aufhalten!" Hannah machte mir mit beiden Händen Zeichen, damit ich sie beim Zurücksetzen nicht umfuhr. Ich starrte sie im Rückspiegel an. Ihre blonden Zöpfe hatten sich aufgelöst, und ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Warum waren die beiden so verängstigt? Warum versuchten sie so verzweifelt, mich am Wegfahren zu hindern? Hatte Lucy ihnen vielleicht Angst gemacht? Hatte sie gedroht, die beiden umzubringen, wenn sie ihr nicht bei der Flucht halfen? Margie hämmerte gegen die Scheibe, und Hannah fuchtelte hinter dem Wagen wie eine Wilde mit den Armen herum und versperrte mir den Fluchtweg. 60
Ich stieß einen lauten Wutschrei aus, legte den ersten Gang ein und trat das Gaspedal voll durch. Mein kleiner Honda heulte laut auf, als er über den Bordstein holperte und sich auf den schmalen, erhöhten Betonstreifen quälte, der die einzelnen Parkplatzreihen voneinander trennte. Der Wagen holperte wieder auf den Asphalt hinunter und schoss vorwärts. Während ich davonbrauste, hörte ich, wie Hannah und Margie immer wieder meinen Namen riefen. Ich fuhr eine Weile in der Stadt herum. Versuchte, mich zu beruhigen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber meine Gedanken wirbelten ziellos durcheinander. So viele Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Plötzlich tauchte ein Gesicht mitten in dem Chaos auf. Kent. Vielleicht konnte er mir ja doch helfen! Sofort war alles andere wie weggefegt. Ich wendete auf der Straße, gab Gas und fuhr zu seinem Haus. Lucy hat ihre ganze Kleidung mitgenommen, fiel es mir auf einmal wieder ein. Das hieß, dass sie vorhatte zu verschwinden. Wahrscheinlich wollte sie weit weg von Shadyside. Aber sie würde die Stadt nicht verlassen, ohne Kent Bescheid zu sagen – da war ich mir hundertprozentig sicher. Lucy und Kent standen sich so nahe. Ich wusste, dass sie ihm alles anvertraute. Als ich ihn das erste Mal besucht hatte, war Kent nicht bereit gewesen, mit mir zu sprechen. Aber ich schwor mir, ihn diesmal zum Reden zu bringen. Ich würde ihn zwingen, mir alles zu erzählen. Vor allem, wohin Lucy sich abgesetzt hatte. Ich musste wieder an unser kurzes Treffen vor einigen Stunden denken. Obwohl ich wie Lucy aussah, hatte er mir geglaubt, als ich ihm sagte, ich sei in Wirklichkeit Nicole. Und wo ich jetzt genauer darüber nachdachte, war er nicht mal besonders überrascht gewesen. Also wusste auch er, dass wir unsere Körper getauscht hatten. Und das hieß, dass er heute Nachmittag mit Lucy gesprochen haben musste. Bevor sie ihre Eltern umgebracht hatte? Oder hinterher? 61
Ich hielt vor Kents Haus am Straßenrand und ließ meinen Blick über die gepflegte Rasenfläche und das vertraute rote Backsteinhaus wandern. Im Erdgeschoss brannte Licht, und auch die Verandabeleuchtung war eingeschaltet. Ich stieg aus und schloss vorsichtig die Wagentür, um keinen Lärm zu machen. Mein Plan war, Kent zu überraschen und ihn so einzuschüchtern, dass er mir die Wahrheit sagte. Langsam schlich ich die Auffahrt hinauf und hielt mich dabei die ganze Zeit im Schatten – möglichst weit entfernt von dem Lichtkegel, der von der Veranda auf den Rasen fiel. Als ich an der Eingangstür vorbei an der Seite des Hauses entlangging, setzte plötzlich das schrille Zirpen von Grillen ein. Als ob sie Kent vor meinem Kommen warnen wollten. Das Gezirpe wurde immer durchdringender und kam mir ohrenbetäubend laut vor. Ich hörte jedes Geräusch viel deutlicher als sonst. Das Scharren meiner Turnschuhe auf dem Weg. Das Rascheln des Windes in den Blättern der Bäume, die die Auffahrt säumten. Als ich mich auf die hintere Veranda schlich, hörten die Grillen genauso unvermittelt wieder auf, wie sie begonnen hatten. Ich warf einen Blick durch das Fenster in der Küchentür. Eine schwache Lampe über dem Herd spendete spärliches Licht. Ich drehte den Türknauf und muckte leicht dagegen. Die Küchentür glitt geräuschlos auf. Vorsichtig schlüpfte ich ins Haus. Der Linoleumboden knarrte leise unter meinem Gewicht. Ich blieb stehen. Lauschte. Aus dem Wohnzimmer im vorderen Teil des Hauses drang Rockmusik. „Gut", dachte ich. „Das heißt bestimmt, dass Kent alleine zu Hause ist. Wenn seine Eltern da wären, würde er garantiert nicht im Wohnzimmer Rockmusik hören dürfen." Mein Blick huschte durch die Küche. Und blieb an einem Messerhalter über dem weißen Tresen hängen. Ich ging quer durch den Raum darauf zu, betrachtete die einzelnen Exemplare und zog dann ein Küchenmesser mit einer langen Klinge 62
heraus. Damit würde ich Kent einen gehörigen Schrecken einjagen! Ich würde mit erhobenem Messer auf ihn zugehen und ihn in die Ecke drängen. Würde ihm so große Angst einjagen, dass er mir alles erzählte. Er sollte denken, dass ich das Messer benutzen würde, wenn er mir nicht die Wahrheit über Lucy sagte. Das Messer lag schwer und ungewohnt in meiner Hand. Ich musste es mehrmals zurechtrücken, bevor ich den Griff richtig umfassen konnte. Früher hatte ich Lucy immer wegen ihrer kleinen Hände aufgezogen. Ich hatte sie geneckt, dass sie für den Rest ihres Lebens Babyhände behalten würde. Im Moment wünschte ich mir sehnsüchtig, ich hätte meine eigenen großen Hände mit den langen Fingern wieder. Ich atmete tief durch und schlich mich zum Wohnzimmer. Dabei zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie mein Auftritt am glaubwürdigsten wirken würde. „Am besten tue ich so, als wäre ich verrückt geworden", beschloss ich. Ich würde mich verhalten wie eine rasende Irre. Mit erhobenem Messer auf Kent zustürmen und ihn anschreien. Dann würde er mir schon erzählen, wohin Lucy verschwunden war. Und nachdem er mir gesagt hatte, was ich wissen wollte, würde ich mich entschuldigen und ihn um Hilfe bitten, dachte ich. Ich würde ihm gestehen, wie sehr ich mich nach meinem eigenen Körper sehnte. Kent würde mich verstehen. Er würde mir helfen. Da war ich mir ganz sicher. Je weiter ich durch den Flur ging, desto lauter wurde die Musik. Mit erhobenem Messer betrat ich das Wohnzimmer. „Kent? Ich bin's. Nicole. Wir müssen miteinander reden ..." Suchend ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern. Plötzlich entdeckte ich Kent. Meine Hand mit dem Messer sank kraftlos herab. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen rücklings auf dem Boden. Eine große Lache von hellrotem Blut hatte sich um seinen Hals herum ausgebreitet. Sein Mund war zu einem stummen Entsetzensschrei aufgerissen. Und die blauen Augen starrten mich leblos an. 63
Kapitel 13 Der Raum begann, sich um mich herum zu drehen. Ich sank auf die Knie und schloss die Augen. Blinzelte mehrmals. Hoffte, dass der schreckliche Anblick verschwunden wäre, wenn ich wieder hinschaute. Dass wie durch ein Wunder Leben in Kents Körper zurückgekehrt wäre. Schluchzend rappelte ich mich auf. „Kent...", murmelte ich vor mich hin. Sein Körper lag immer noch reglos auf dem Boden ausgestreckt, als würde er ein Nickerchen machen. Doch seine Augen waren weit geöffnet und starrten mit leerem Blick auf mich. Zuerst die Kramers. Und jetzt Kent. Doch wer hatte ihn ermordet? Etwa Lucy? Das machte doch überhaupt keinen Sinn! Ohne es zu merken, war ich aufgestanden. Ich wandte mich von Kents geschundenem Körper ab und blickte aus dem Fenster. Entsetzt schrie ich auf, als ich die beiden Gesichter auf der anderen Seite der Scheibe bemerkte. Die grimmigen Gesichter der grau gekleideten Detectives. Sie starrten zu mir herein. Starrten auf den blutüberströmten Körper auf dem Boden. Und auf das Küchenmesser, das ich immer noch fest umklammert hielt.
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Kapitel 14 Die beiden Köpfe verschwanden mit einem Mal vom Fenster. Das Messer fiel mir aus der Hand und landete klappernd auf dem Boden – direkt neben Kents ausgestrecktem Arm. „Sie haben mich gesehen", schoss es mir durch den Kopf. „Sie haben beobachtet, wie ich mich mit dem Messer in der Hand über Kent gebeugt habe." Als ich – am ganzen Körper zitternd – aus dem Wohnzimmer taumelte, hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde. „Keine Bewegung!", rief einer der beiden Männer. „Nicole. Lauf nicht weg!" Sie kannten meinen Namen! Sie wussten, dass ich es war und nicht Lucy. „Aber Lucy hat sie doch alle ermordet!", hätte ich am liebsten geschrien. „Sie solltet ihr verfolgen. Nicht mich!" Aber vor Entsetzen konnte ich keinen Ton herausbringen. „Keine Bewegung!", wiederholte der Officer seinen Befehl. Ich wirbelte herum und raste auf den Hintereingang zu. Doch kaum hatte ich die Küchentür erreicht, versperrte mir der zweite Polizist den Weg. „Nicole, beruhige dich doch!", sagte er mit freundlicher Stimme. Auffällig langsam ließ er seine Hände zu beiden Seiten des Körpers herabsinken. Hatte er etwa eine Waffe, die er gleich auf mich richten würde? „Nicole – wo bist du?", ertönte die Stimme seines Partners von der Haustür her. „Nein!", wimmerte ich und rannte aus der Küche. Zurück in den schmalen Flur. Und dann immer zwei Stufen auf einmal nehmend die steile Kellertreppe hinunter. Ich kannte mich in diesem Haus sehr gut aus. Schließlich hatte ich hier schon viele glückliche Stunden auf Kents Partys verbracht. Ich wusste, dass ich ihnen entkommen konnte. Wenn ich schnell genug war. Die Männer polterten mit schweren Schritten die Holztreppe hinunter. 65
Aber ich hatte den Keller bereits halb durchquert und war jetzt in dem schmalen Durchgang, der zum Heizungsraum führte. Da hörte ich ein lautes Krachen hinter mir. Einer der beiden stieß einen Fluch aus. Wahrscheinlich hatte er sich das Knie gestoßen oder war irgendwo dagegen gerannt. Keuchend schlüpfte ich in den alten Kohlenkeller. Der Boden war immer noch schwarz und mit einer dicken Staubschicht bedeckt – wie zu der Zeit, als hier noch die Kohlen lagerten, mit denen der große Kessel beheizt wurde. Obwohl ich mit den glatten Sohlen meiner Turnschuhe kaum Halt fand, gelang es mir, irgendwie die alte Kohlenrutsche hinaufzuklettern. Ich wusste, dass die hölzerne Luke an ihrem oberen Ende nie verschlossen war. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung drückte ich die beiden Flügel auf. Kühle Nachtluft strömte mir entgegen. Erschöpft krabbelte ich ins Freie. Dabei blieb ich mit dem Knie am Rahmen hängen. Ich achtete nicht auf den heftigen Schmerz, der mein Bein durchfuhr, und blickte mich in dem dunklen Garten um. Würde ich es bis zu meinem Auto schaffen, das vor dem Haus geparkt war? Wahrscheinlich nicht. Sie würden mich bestimmt schnappen, bevor ich einsteigen und den Wagen starten konnte. Ich drehte mich um und begann zu rennen. Floh durch den Garten und kletterte über den Zaun. In gebückter Haltung flitzte ich durch eine Reihe dunkler Gärten und Hinterhöfe und versuchte, mich so gut wie möglich zu verstecken. Eine zitternde, verängstigte Gestalt auf der Flucht durch die Dunkelheit. Aber wo sollte ich jetzt hin? Wo sollte ich mich verkriechen? Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen eine Mauer und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Alles war still. Erst jetzt bemerkte ich, wohin ich geflohen war. Ich war den ganzen Weg bis zur Fear Street gerannt. War blindlings dahingestürmt und hatte alles um mich herum nur verschwommen
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wahrgenommen. Durch Gärten und schmale Gassen, über leere Straßen, vorbei an vertrauten Häusern, die nun fremd und kalt wirkten. Die ganze Welt kam mir plötzlich abweisend vor. Schlimmer noch. Bedrohlich. Und so zögerte ich nicht eine Sekunde, als ich den Fear-Street-Wald erreichte. Ich verschwendete keinen Gedanken an die Geschichten, die ich seit meiner Kindheit gehört hatte. An die gruseligen Gerüchte über die Fear Street und den Wald dahinter. Im Moment gab es für mich Schlimmeres. Was konnte Furcht erregender sein als meine eigenen Erlebnisse? Ich stürzte mich in das Gewirr aus Bäumen, Gebüsch und dichtem Unterholz. Lauschte auf die Geräusche meiner Verfolger, während ich davonrannte. Diese beiden Männer wollten mich einfangen und für ein Verbrechen verurteilen, das nur mein Körper begangen hatte. Mein Körper und meine Freundin Lucy. Meine beste Freundin. Irgendwie gelang es mir, die Mauer wieder zu finden. Die Mauer der Verwandlung. Das hässliche Steingebilde, wo dieser Horrortrip begonnen hatte. Als sie in der Dunkelheit vor mir aufragte, spürte ich, wie meine Kräfte plötzlich dahinschwanden. Ich konnte einfach nicht mehr. Japsend und keuchend ließ ich mich am Fuß der Mauer zu Boden fallen. Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen gegen die kühlen Steine und wartete darauf, dass mein Atem sich beruhigte und mein Herz aufhörte, wie wild zu hämmern. Ich wartete ... und dachte nach. Über Lucy. Versuchte zu verstehen, was passiert war. Ich stellte mir vor, wie sie nachts in ihrem Zimmer gesessen und sich überlegt hatte, wie sie ihre Eltern umbringen würde. Und Kent. Wie sie den Plan geschmiedet hatte, ohne Strafe für ihre schrecklichen Verbrechen davonzukommen. Warum, Lucy? Ich wusste, dass sie mit ihren Eltern Ärger gehabt hatte. Und ich wusste, dass die Kramers nicht gerade begeistert darüber waren, dass die Freundschaft ihrer Tochter mit Kent so eng geworden war. Sie
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hatten nichts gegen ihn, aber es ging ihnen einfach alles ein bisschen zu schnell. Deswegen hatte Lucy sich die ganze Zeit mit ihren Eltern in den Haaren gehabt. Aber wem ging das nicht so? Teenager und ihre Eltern stritten sich nun mal. Das war ein normaler Teil des Lebens. Vielleicht kein besonders angenehmer, aber es gehörte eben dazu. Also, warum? Weshalb hatte sie sich entschlossen, ihre Eltern umzubringen? Und warum hatte sie Kent getötet? Kent, der so sehr an ihr hing. Kent, der immer so lieb, so zärtlich, so verständnisvoll zu ihr gewesen war. Mit dem sie so viel Spaß gehabt hatte. Kent. Kent. Sein Name kreiste immer wieder in meinem Kopf, und ich sah ihn vor mir. Mit aller Kraft verdrängte ich das schreckliche Bild seines ausgestreckten Körpers, der in einer Blutlache auf dem Wohnzimmerboden lag. Ich wünschte mir, er wäre noch am Leben und könnte zu mir kommen, um mir zu helfen. Mit seinem energischen, sportlichen Gang, seinem freundlichen Lächeln und den blitzenden, blauen Augen. Ich wünschte mir, noch einmal zu erleben, wie der Wind durch sein blondes Haar fuhr, als wir drei während eines Picknicks im Shadyside-Park Frisbee spielten. Ich wollte seine Stimme hören. Sein tiefes, ansteckendes Lachen. „Nie wieder", sagte ich zu mir und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Dann sah ich Lucy vor mir. In ihrem eigenen Körper. Nicht in meinem, den sie mir gestohlen hatte, um ihre grausamen Verbrechen zu begehen. Warum nur, Lucy? Ich war ihr doch immer eine gute Freundin gewesen. Auch wenn sie manchmal gemein zu mir war. Und auch, als sie so tat, als sei sie etwas Besseres, weil sie schon einen Freund hatte und ich noch nicht. Ihre negativen Seiten hatte ich einfach ignoriert. Hatte darüber
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hinweggesehen, dass sie manchmal ganz schön eingebildet und abweisend sein konnte. Weil ich ihre Freundin war. Weil ich für sie da sein wollte, wenn sie mich brauchte. Nachdem Lucy den schweren Autounfall hatte, hatte ich sie regelmäßig im Krankenhaus besucht. Ich war die einzige von all ihren Freunden, die jeden Tag gekommen ist. Die einzige, die zu ihr gehalten und niemals die Hoffnung verloren hat. Sogar als die Ärzte sie aufgegeben hatten, bin ich bei ihr geblieben. Ich wusste, dass Lucy durchkommen würde. Nicht eine Sekunde habe ich daran gezweifelt. Und sie hat es tatsächlich überstanden. Ich war da, als man uns sagte, dass sie wieder gesund werden würde. „Ich war immer für dich da, Lucy. Und wo bist du jetzt? Wo bist du jetzt mit meinem Körper?" Versunken in meine trüben Gedanken, saß ich an die Mauer gelehnt und versuchte herauszufinden, was an diesem längsten und schrecklichsten Tag meines Lebens eigentlich geschehen war. Ich fühlte mich plötzlich furchtbar erschöpft und schloss die Augen. Seit heute Mittag hatte ich nichts mehr gegessen. Aber obwohl mein Magen knurrte, verspürte ich keinen Hunger. Ich warf einen Blick auf meine Kleidung. Lucys Sachen. Die Strumpfhose war zerrissen und dreckig. Der kurze Rock zerknittert. Meine Hand fuhr zu dem breiten Gürtel um meine Taille, in dem ein Fach für mein Portmonee war. Zum Glück hatte ich daran gedacht, mir von Lucy den Gürtel geben zu lassen, nachdem wir unsere Körper getauscht hatten. Ganz in Gedanken, holte ich das Portmonee heraus und betrachtete es in dem schmalen Streifen Mondlicht, der durch die dicht belaubten Bäume fiel. Dann machte ich es auf. Ich weiß auch nicht wieso. Was hoffte ich, darin zu finden? Ich schlug nach einer Mücke, die sich auf meinen Arm gesetzt hatte, und das Portmonee fiel zu Boden. Als ich mich danach bückte, kam mir plötzlich eine Idee. Eine verzweifelte, total verrückte Idee. Aber wenn es funktionierte ... 69
Fieberhaft kramte ich in meinem Portmonee herum. Ich konnte kaum etwas sehen. Und meine Finger zitterten vor Aufregung. Doch kurz darauf hatte ich gefunden, was ich suchte, und nahm es heraus. Ein altes Klassenfoto von Lucy. Alles andere stopfte ich zurück ins Portmonee, zog den Reißverschluss zu und schob es zurück in meinen Gürtel. Dann hob ich das kleine Bild dicht vor die Augen, um es zu betrachten. Es war eine witzige Aufnahme, die Lucy schon immer gehasst hatte. Ihr Haar war darauf streng nach hinten genommen, aber eine dicke Strähne hatte sich gelöst und stand wie eine Antenne von ihrer Stirn ab. Das Blitzlicht des Fotografen reflektierte in Lucys Augen und verlieh ihnen ein geheimnisvolles Glitzern. Aber ihr Lächeln war schief, und sie hatte einen kleinen Fleck auf dem Kinn, der aussah wie ein Pickel. Lucy hasste dieses Foto so sehr, dass es außer mir keiner sehen durfte. Weil es mir gefiel, hatte sie es mir geschenkt – unter der Bedingung, dass ich es gut wegsteckte und niemals jemandem zeigte. Nachdem ich den zerknitterten Abzug eine Weile angestarrt hatte, rappelte ich mich mühsam auf. Ohne auf meine schmerzenden Muskeln zu achten, zog ich mich auf die Mauer hoch. Oben angekommen, fiel es mir sehr schwer, das Gleichgewicht zu hatten. Die Mauerkrone war furchtbar schmal und holperig. „Es muss einfach gehen!", machte ich mir Mut. Mein verzweifelter Einfall. Meine verrückte Idee: mit Lucys Bild in der Hand auf die andere Seite der Mauer zu springen. Vielleicht – aber eben nur vielleicht – würde der Zauber ja auch bei einem Foto wirken. Dann würden unsere Körper zurückgetauscht, und ich wäre wieder Nicole. Kann sein ... oder auch nicht... „Bitte, lass es klappen!", betete ich. Ich umklammerte Lucys Foto mit der rechten Hand und streckte sie zur Seite aus – so, als würde ich meine Freundin wieder an der Hand halten. Und dann sprang ich von der Mauer.
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Kapitel 15 Ich landete mit beiden Beinen auf der weichen Erde. Mir war sofort klar, dass es nicht funktioniert hatte. Ich hielt noch immer Lucys Foto in der Hand. In Lucys molliger, kleiner Hand. Ein Blick reichte aus, um zu erkennen, dass mein Plan fehlgeschlagen war. Aber in der verzweifelten Hoffnung, dass ich mich vielleicht doch wie durch ein Wunder zurückverwandelt hatte, sah ich an mir herunter. Vergebens. Ich trug nach wie vor Lucys Turnschuhe mit den dicken Sohlen, ihre Strumpfhose, die jetzt schmutzverkrustet und zerrissen war, und ihren kurzen Rock. Ich fuhr mir durch die Haare. Es war eindeutig das kürzere und feinere Haar von Lucy. Lucy. Lucy. Immer wieder Lucy. Ich brauchte die echte Lucy, um meinen Körper zurückzubekommen! Aber wohin war sie geflüchtet? Ich musste gähnen und merkte plötzlich, wie erschöpft ich war. Mir tat alles weh. In meinem Kopf hämmerte es. Und es kostete mich große Anstrengung, die Augen offen zu halten. Immer noch gähnend, ließ ich mich wieder auf den feuchten Boden sinken. Ich lehnte mich wieder gegen die Mauer und schloss die Augen. Die kalten Steine drückten gegen meinen Rücken und meinen Hinterkopf. Mit einem Seufzer rollte ich mich auf der Erde zusammen. Und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich hob meinen Kopf und blinzelte in das helle Morgenlicht. Ein magerer, brauner Hase betrachtete mich aus einiger Entfernung mit misstrauischem Blick. Seine Nase zuckte, und er hatte die langen Ohren wachsam aufgestellt. Mit einem Stöhnen setzte ich mich auf. Der Hase hoppelte über die Lichtung und verschwand dann im hohen Gras. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder wusste, wo ich war. 71
Benommen wischte ich mir Schmutz und feuchte Blätter von den Armen. Mein Rücken schmerzte vom Schlafen auf der harten Erde, und meine Kehle war wie ausgetrocknet. Wie gerne hätte ich mir jetzt die Zähne geputzt, um den sauren Geschmack in meinem Mund loszuwerden. Als ich aufstand, stürmten dutzende von Gedanken gleichzeitig auf mich ein. Durch den Schlaf hatte ich wieder einen klaren Kopf bekommen, aber jetzt kehrten all die bedrückenden Fragen zurück. „Mum und Dad sind wahrscheinlich schon halb verrückt vor Sorge", dachte ich. „Sie fragen sich bestimmt verzweifelt, wo ich bin." Aber dann fiel mir wieder ein, dass ich jetzt ja Lucy war und nicht Nicole. Ob Lucy wohl zu mir nach Hause gegangen war? Wenn ja, machten meine Eltern sich natürlich keine Sorgen. Sie würden heute Morgen in dem Glauben zur Arbeit gehen, dass mit ihrer Tochter Nicole alles in bester Ordnung war. Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht. Offenbar war während der Nacht ein dicker schwarzer Käfer hineingekrabbelt. Als er auf meine Hand plumpste, schüttelte ich ihn schnell ab. „Das ist ja widerlich", dachte ich. „Ich brauche dringend eine Dusche und saubere Klamotten." Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass es kurz nach sieben war. Meine Eltern gingen immer pünktlich um halb acht zur Arbeit. Es würde kein Problem sein, ins Haus zu schleichen, mich zu waschen und mir frische Kleidung anzuziehen. Meine Sachen würden an Lucys Körper etwas zu groß sein. Aber Lucy und ich hatten auch früher schon mal unsere Klamotten getauscht. Ich reckte mich und versuchte, meine schmerzenden Muskeln in Gang zu bringen. Dann ging ich durch den Wald in Richtung Fear Street. Es war ein diesiger, warmer Morgen. Die Luft war schwer, und es ging kein Wind. Der Morgentau durchnässte meine Turnschuhe, als ich durch Gras und Unkraut dahinstapfte. Ich hielt mich von der Straße fern und huschte gebückt durch Vorgärten und Gassen. Eine aufgerollte Morgenzeitung in einer Auffahrt ließ mich anhalten. 72
Schnell warf ich einen Blick zum Haus. Dort rührte sich nichts. Ich griff mir die Zeitung und rollte sie auf. Würden Lucys Morde auf der Titelseite stehen? Und dass die Polizei dem Täter bereits auf der Spur war? Ich überflog die Überschriften. Kein Bericht auf der Titelseite. Ich schlug die Zeitung auf. Dabei fielen zwei bunte Werbebeilagen zu Boden. Hastig blätterte ich die Seiten durch. Nichts. Verwirrt faltete ich die Zeitung zusammen und legte sie wieder zurück. Noch immer schaute niemand aus dem Fenster. Während ich weiterging, dachte ich angestrengt nach. Warum wurde in der Zeitung nichts über die drei Morde berichtet? Wollte die Polizei die Geschichte etwa so lange geheim halten, bis sie mich gefasst hatte? Oder hatte bis jetzt noch niemand die Leichen der Kramers entdeckt? Das war durchaus möglich, überlegte ich. Aber die beiden Polizisten hatten doch Kents Leiche gesehen. Und wie ich mich mit dem Messer in der Hand über ihn gebeugt hatte. Warum also stand dann nichts darüber in der Zeitung? „Bestimmt hat die Polizei aus gutem Grund eine Nachrichtensperre verhängt", sagte ich mir dann. Das klang logisch. Jedenfalls auch nicht unlogischer als all das, was mir seit gestern zugestoßen war. Als ich um die Ecke bog, sah ich, wie der Wagen meiner Eltern rückwärts aus der Einfahrt setzte. Ich duckte mich hinter den mächtigen Stamm eines alten Ahornbaums und starrte ihnen nach, als sie davonfuhren. Mein Dad trug nicht seinen üblichen blauen Anzug und hatte ganz zerzauste Haare. Und Mum sah furchtbar besorgt aus. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Plötzlich überfiel mich der heftige Drang, ihnen hinterherzulaufen und zu rufen: „Mum und Dad, ich bin's. Wirklich. Ich weiß, ich sehe aus wie Lucy, aber ich bin Nicole!" Am liebsten hätte ich die beiden umarmt und gar nicht mehr losgelassen. Ich wollte ihnen erzählen, was passiert war. Was ich
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Schreckliches gesehen hatte. Wollte ihnen von den Morden berichten, die Lucy begangen hatte. Aber ich wusste, dass sie mir nicht glauben würden. Meine Eltern sind praktische und vernünftige Leute. Sie sind sehr intelligent, aber sie besitzen nicht besonders viel Fantasie. Sie würden mir nie im Leben abnehmen, dass ich ihre Tochter Nicole war. Als ich tatenlos zusehen musste, wie sie davonfuhren, fühlte ich mich noch verzweifelter und ängstlicher als zuvor. Ich schlich durch die Küchentür ins Haus. Zu meiner Überraschung war sie nicht abgeschlossen. Dann ging ich die Treppe hinauf. Ich duschte ausgiebig und wusch mir dreimal die Haare. Am liebsten wäre ich für immer unter dem heißen Wasserstrahl geblieben, der so angenehm und reinigend war. Als ich in mein Zimmer kam, wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen. Alles sah so hübsch und ordentlich aus. Das Bett war gemacht. Und irgendjemand hatte das Durcheinander auf meinem Schreibtisch aufgeräumt. „Hier ist mein Zuhause", dachte ich und schluchzte auf. „Hier gehöre ich hin." Aber würde ich jemals wieder hier leben können? Ich zog mir ein Paar ausgeblichene Jeans und ein weißes T-Shirt an. Dann bürstete ich mir die Haare – Lucys Haare – und machte mir einen Pferdeschwanz. Lange Zeit saß ich einfach nur vor dem Spiegel meines Frisiertischs und starrte Lucys Gesicht an. Warum hatte ich mich bloß darauf eingelassen, mit ihr den Körper zu tauschen? War ich wirklich so unglücklich gewesen? Während ich mein Spiegelbild betrachtete, tauchten plötzlich zwei andere Gesichter vor meinem inneren Auge auf. Margie und Hannah. Die beiden wussten, wohin Lucy verschwunden war. Sie mussten Bescheid wissen. Sonst hätten sie sich ja wohl kaum solche Mühe gegeben, mich daran zu hindern, sie zu verfolgen und aufzuspüren. Lucy hatte ihnen garantiert alles erzählt. Ich stand auf und drehte dem Spiegel den Rücken zu.
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„Ich werde zur Schule gehen", sagte ich laut. „Ich werde Hannah und Margie finden und sie dazu bringen auszupacken." Ein Blick auf den Wecker auf meinem Nachttisch zeigte mir, dass es jetzt kurz nach acht war. Der Unterricht fing in 15 Minuten an. Ich hatte also noch genug Zeit, um zur Highschool zu laufen und eine der beiden abzufangen. Am liebsten wäre ich hier zu Hause in meinem Zimmer geblieben. Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich nahm das ganze Geld, das ich in der obersten Schublade der Kommode aufbewahrte – ungefähr 40 Dollar in kleinen Scheinen –, und stopfte es in meine Hosentasche. Dann ging ich in die Küche, holte mir ein Stück Pastete aus dem Kühlschrank und aß sie kalt. Anschließend trank ich ein bisschen Orangensaft direkt aus der Pappbox. Nachdem ich mir noch ein Stück Pastete für den Weg mitgenommen hatte, verließ ich das Haus. Ich achtete darauf, die Küchentür fest hinter mir zuzumachen. Margie und Hannah. Hannah und Margie. Während ich zur Schule lief, hatte ich ständig ihre Gesichter vor Augen. Margie war in meiner Klasse, aber ich wusste nicht, wo Hannah jetzt Unterricht hatte. Ich vermutete, dass ihr Klassenraum irgendwo im zweiten Stock in der Nähe des Musikraums lag. Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich mit schnellen Schritten in den Park Drive einbog und die Backsteinfassade der Highschool in Sicht kam. Die meisten Schüler waren schon drinnen. Nur ein paar Nachzügler sprinteten noch durch die Tür. Ich ging den gepflasterten Weg zum Eingang hinauf. Ungefähr auf der Hälfte blieb ich wie angewurzelt stehen, als ich plötzlich zwei Männer in grauen Anzügen entdeckte, die sich zu beiden Seiten der Tür aufgebaut hatten. Die beiden Detectives! Sie blickten sich aufmerksam um. Warteten auf mich. Hatten sie mich gesehen?
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Kapitel 16 Hastig drehte ich mich um und lief wieder in Richtung Straße. Ich zwang mich, nicht zu rennen. Aber ich ging mit langen, schnellen Schritten davon. An der Bushaltestelle hielt gerade die Linie, die in den Norden von Shadyside fuhr. Ich lief zum Bus und wollte einsteigen. Aber in diesem Moment strömten Scharen von Schülern heraus, die auf dem Weg zur Highschool waren, und versperrten mir den Fluchtweg. Waren die beiden Polizisten schon hinter mir her? Ich wagte nicht, mich umzublicken. „Beeilt euch! Na, macht schon!", drängte ich im Stillen die Schüler, die nacheinander aus dem Bus hüpften. Zum Glück war keiner von meinen Freunden darunter. Endlich konnte ich einsteigen. Die Türen schlossen sich hinter mir. Der Fahrer kurbelte am Lenkrad, und der Bus setzte sich in Bewegung. Mit gesenktem Kopf drehte ich mich um und versuchte, durch die Glastür etwas zu erkennen. Die Polizisten hatten ihren Posten neben der Eingangstür nicht verlassen. Sie hatten mich also nicht bemerkt. Dann wandte ich mich dem Fahrer zu, einem alten Mann mit rotem Gesicht und stechenden, blauen Augen, der mich misstrauisch anglotzte. „Solltest du jetzt nicht in der Schule sein?", fragte er und hielt an einem Stoppschild. „Ich bin krank", schwindelte ich. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich gar kein Kleingeld hatte. Nur die Scheine, die ich mir in die Hosentasche gestopft hatte. „Fahren Sie rechts ran!", rief ich. „Bitte!" Der Alte runzelte die Stirn, lenkte den Bus aber widerspruchslos an den Straßenrand. „Ich ... ich steig wohl besser aus", stotterte ich. Er öffnete die Tür, und ich sprang auf die Straße. „Tut mir Leid!", rief ich zu ihm hinauf. Aber er hatte die Tür schon hinter mir zugemacht. 76
Ich blickte mich um. Wir waren genau einen Block gefahren. Weit genug, um den wachsamen Augen der Polizisten zu entkommen. Aber was jetzt? Ich musste immer noch mit Margie oder Hannah reden. Schließlich konnte ich nicht den Rest meines Lebens vor diesen Detectives wegrennen. Ich musste Lucy finden. Und zwar schnell! Während ich zurück zur Schule schlich, dachte ich angestrengt nach. Ich fragte mich, ob wohl auch am Hintereingang Polizeibeamte postiert waren. Im Schutz einer hohen Hecke rannte ich zur Rückfront der Highschool. „Hey – was machst du denn da?" Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus. Als ich herumwirbelte, sah ich eine Frau, die mitten auf dem Rasen stand und einen Gartenschlauch in der Hand hielt. „Mädchen, was hast du denn in meinem Garten zu suchen?" ,,'tschuldigung!", rief ich ihr zu. „Ich bin nur auf dem Weg in die Schule." „Das hier ist aber keine Abkürzung!", erwiderte sie in scharfem Ton. Schnell schlüpfte ich durch ein Loch in der Hecke auf den Gehweg. Wie ich feststellen musste, wurde auch der Hintereingang der Schule bewacht. Zwei weitere Polizeibeamte hatten sich links und rechts der Tür postiert, die auf den Schülerparkplatz führte. Ich flitzte über die Straße und presste mich eng an den hohen Zaun, der das Footballstadion umgab. Dort blieb ich erst mal stehen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. In diesem Moment klingelte es zur ersten Stunde. Inzwischen waren alle Schüler im Schulgebäude – bis auf einen Jungen, der noch wie ein Wilder zum Fahrradständer strampelte. Ich achtete darauf, mich ständig im Schatten des Zauns zu halten, und schlich ein paar Schritte auf den Hintereingang zu. Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf die Polizisten. Die beiden unterhielten sich mit gerunzelter Stirn und schüttelten immer wieder den Kopf. Es sah so aus, als überlegten sie aufzugeben. Anscheinend hatten sie gedacht, ich würde in der Schule auftauchen und dass sie mich dann schnappen könnten. Doch jetzt schienen sie einzusehen, dass sie sich geirrt hatten. 77
Und ich sollte Recht behalten! Kurz darauf verließen sie ihren Posten und verschwanden in Richtung Vordereingang, wo sie sich wahrscheinlich mit den beiden anderen Detectives besprechen wollten. Ich wartete noch ein paar Sekunden, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückkamen. Dann raste ich zum Gebäude. Inzwischen hatte ich einen Plan, wie ich Margie unauffällig treffen konnte. Vorsichtig zog ich die schwere Tür auf und schlüpfte hinein. Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das dämmrige Licht im Gebäude gewöhnt hatten. Der Flur lag verlassen da. Alle Schüler waren in ihren Klassen. Es klingelte zum zweiten Mal, als ich zur Sporthalle lief. Es war nicht weit. Nur um die Ecke und dann gleich rechts. Ich öffnete die Tür und huschte hinein. Es war niemand da. Obwohl es noch früh am Morgen war, herrschten in der Halle bereits Temperaturen wie in einem Backofen. Als ich zur Tribüne hinaufblickte, sah ich, dass sich das eine Ende eines Transparents mit der Aufschrift: GO, TIGERS! gelöst hatte und über einige Sitze in der obersten Reihe hing. Meine Turnschuhe quietschten auf dem gebohnerten Boden, als ich zum Umkleideraum der Mädchen trabte. Margie hatte in der vierten Stunde Sport. Genau wie ich. Mein Plan war, mich bis dahin dort zu verstecken. Dann würde ich Margie beiseite nehmen und sie zwingen, mir Lucys Aufenthaltsort zu verraten. Ich öffnete die Tür zur Mädchenumkleide und ging hinein. Hier war es kühler als in der Turnhalle. Aus dem Waschraum kam das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns. Wo sollte ich mich hier verkriechen? Ich lief an den Reihen der Holzbänke und den dunklen Spinden entlang. Dabei stolperte ich über einen schwarzen Turnschuh, den jemand auf dem Boden liegen gelassen hatte. An der Rückwand des Raums stand ein schmaler Schrank, in dem früher Turngeräte aufbewahrt wurden. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich warf einen Blick hinein.
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Der Schrank war leer. Als ich nach unten schaute, entdeckte ich eine tote Maus auf dem Boden. Ich schrie leise auf, doch als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass es nur ein Staubklumpen war. Plötzlich hörte ich Stimmen an der Tür zum Umkleideraum. Ohne zu zögern, schlüpfte ich in den Schrank und zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt hinter mir zu. Ich wich so weit wie möglich in die Dunkelheit zurück und presste mich mit dem Rücken gegen die Wand des Schranks. Die Luft hier drinnen roch schal und abgestanden. Jetzt hörte ich noch mehr Stimmen, von denen ich einige erkannte, Fußgetrappel und das metallische Klappern der Spinde, die aufgesperrt wurden. Offenbar zogen sich die Mädchen für die Sportstunde um. „Da kann ich mich auf eine lange Wartezeit einstellen", dachte ich mit einem stummen Seufzer. Aber das war mir die Sache wert, wenn ich dadurch Margie treffen konnte. Vorsichtig ließ ich mich in eine sitzende Position rutschen und kauerte mich auf dem Boden zusammen. Dabei streifte meine Hand das Staubknäuel. Schaudernd wischte ich es beiseite. Ich verließ mich darauf, dass niemand den Schrank öffnen und mich entdecken würde. Es gab schließlich keinen Grund, hier drin nach etwas zu suchen. Wieder knallten die Spindtüren. Als die ersten Mädchen in die Sporthalle stürmten, wurde es langsam ruhiger im Raum. Ich hörte den dumpfen Aufprall von Basketbällen und die Trillerpfeife von Miss Hawkins. Gegen die Seitenwand des Schranks gelehnt, schloss ich die Augen und ließ mich von der Dunkelheit verschlucken. Bereits jetzt wurde es hier drinnen heiß und stickig. Aber ich wagte es nicht hervorzukommen, denn sobald die Schule begonnen hatte, gingen ständig Mädchen im Umkleideraum aus und ein. „Du schaffst es bis zur vierten Stunde!", versuchte ich, mir selber Mut zu machen. Immerhin hatte ich während der Warterei Zeit, in Ruhe nachzudenken. Über Lucy und warum sie die drei Menschen ermordet hatte, die ihr am nächsten standen. Vielleicht konnte ich ja herausfinden, warum sie mich so sehr hasste, dass sie mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben wollte. 79
Die Stunden schlichen dahin. Immer neue Schülerinnen kamen in die Umkleide, spielten Basketball und zogen sich wieder an, um zu ihrer nächsten Stunde zu gehen. Aber ich fand keine Antworten auf meine Fragen. Es war, als ob die Lösung ein winziges Stück außerhalb meiner Reichweite schwebte, verborgen hinter einer dichten Nebelwand. Doch sosehr ich mich auch abmühte, ich konnte den Nebel einfach nicht durchdringen. Als es endlich zur vierten Stunde klingelte, schüttelte ich meine wirren Gedanken ab und rappelte mich auf. Angespannt lauschte ich auf die Stimmen der Mädchen, die nun in den Umkleideraum strömten. Es waren lauter Stimmen, die ich gut kannte. Ich hörte, wie Margie mit zwei Freundinnen herumalberte. Sie war so nah – ich hätte bloß die Schranktür aufstoßen und nach ihr greifen müssen. Aber ich wartete noch ab. Margie war immer eine der Letzten, die mit Umziehen fertig waren und den Raum verließen. Ich hoffte, dass sie auch heute wieder rumtrödeln würde. Es war mir lieber, alleine mit ihr zu sprechen, ohne dass uns dabei ein Dutzend anderer Mädchen in die Quere kam. Behutsam legte ich meine Handflächen innen gegen die Schranktür und wartete darauf, im richtigen Moment hervorzuspringen. Angestrengt lauschte ich auf jedes Geräusch. Ich musste Margie unbedingt erwischen, bevor sie in die Sporthalle verschwand. Mein Herz begann zu hämmern. Die Mädchenstimmen schienen miteinander zu verschmelzen. Ich versuchte, sie auszublenden und mich nur auf Margie zu konzentrieren. Als plötzlich ein schriller Schrei ertönte, blieb mir beinahe das Herz stehen. Dann hörte ich andere erschrockene Schreie. Schlurfende Geräusche. Laute Rufe. Das Getrappel rennender Füße. „Was ist passiert?", fragte ich mich beunruhigt. „Warum dieser ganze Aufruhr?" Ich riss die Tür auf und stürzte in den Umkleideraum. Mein Blick fiel auf eine Gruppe von Mädchen in Gymnastikhosen und T-Shirts. Mit ängstlichem Gesicht und offenem Mund starrten sie auf ein Mädchen hinab, das ausgestreckt auf dem Boden lag. „Margie?", rief ich. 80
Ja. Sie war es.
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Kapitel 17 Ich schob mich in den Kreis der anderen. Niemand bemerkte mich, weil alle nur auf Margie starrten. Die erhob sich jetzt ein kleines Stück und umklammerte mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr linkes Bein. „Aua! Diese Wadenkrämpfe sind echt die Hölle!", jammerte sie. „Du willst dich doch bestimmt nur um den Sportunterricht drücken", neckte sie eines der Mädchen. „Wetten, du hast keine Lust zu schwitzen, weil nachher das Klassenfoto gemacht wird?" Alle lachten. Aber es klang unecht. „Du hast mich ganz schön erschreckt, als du so losgebrüllt hast", sagte eine andere vorwurfsvoll. „Ich hab mich ja selber erschrocken", stöhnte Margie und rieb sich die Wade. „Aber jetzt geht's schon wieder." Unauffällig trat ich einen Schritt zurück – und dann noch einen. Bis jetzt hatte mich noch niemand bemerkt, weil sich alle über Margie beugten. Zwei Mädchen halfen ihr hoch und führten sie untergehakt zu einer der niedrigen Holzbänke. Rasch schlüpfte ich wieder in den Schrank. Draußen in der Sporthalle hörte ich die Trillerpfeife von Miss Hawkins. „Na, lauft schon vor", sagte Margie zu den anderen. „Ich bin wieder okay. Ich komme auch gleich nach." „Das ist meine große Chance!", dachte ich. „Wurde aber auch langsam mal Zeit." Ich wartete, bis die anderen verschwunden waren. Dann trat ich schnell aus dem Schrank. „Hallo, Margie." Bis eben hatte sie noch vornübergebeugt auf der Bank gesessen und sich die Wade gerieben. Jetzt fuhr sie erschrocken hoch. „Nicole!", rief sie überrascht. „Du bist hier?" Ich baute mich vor ihr auf, um ihr den Weg abzuschneiden, falls sie versuchen sollte wegzurennen. Beide Hände in die Hüften gestützt, fragte ich: „Wo ist Lucy?" Meine Stimme war nur ein gepresstes Flüstern. 82
„Wie bitte?" Margie tat so, als hätte sie mich nicht verstanden. „Ich muss sie finden", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das ist mein Ernst, Margie. Du weißt, wo sie ist, und du musst es mir sagen. Ich brauche sie, um mit ihr den Körper zu tauschen." Margie schnellte hoch und jaulte vor Schmerz auf. Wahrscheinlich waren ihre Muskeln immer noch verkrampft. „Nicole, setz dich doch hin", sagte sie sanft und zeigte auf die Bank. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Hatte sie Angst, oder dachte sie fieberhaft nach? Suchte sie etwa nach einer Ausrede, einer Lüge? „Ich möchte mich nicht setzen", sagte ich kalt. „Ich muss zu Lucy. Und zwar sofort! Ich will endlich ihren Körper wieder loswerden. Und du wirst mir dabei helfen." Margie knabberte auf ihrer Unterlippe herum und richtete ihre dunklen Augen auf mich. Sie betrachtete mich prüfend und versuchte offenbar zu entscheiden, wie ernst es mir war. Dabei brauchte ich so dringend ihre Hilfe. Ich fühlte mich gleichzeitig verzweifelt, wütend und verängstigt. Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. „Margie, sie hat mich mit in den Wald genommen", rief ich und drückte ihren nackten Arm. „Zur Mauer der Verwandlung. Und dann haben wir unsere Körper getauscht. Das hat sie dir doch alles erzählt, nicht wahr?" Margie antwortete nicht, sondern starrte mich weiter an. Ich merkte, dass sie angestrengt nachdachte. „Aber sie hat bestimmt nichts von den Morden gesagt", fuhr ich fort, ohne ihren Arm loszulassen. „Wetten, sie hat dir nicht erzählt, dass sie ihre Eltern und Kent umgebracht hat? Deswegen muss ich unbedingt meinen Körper wiederhaben. Verstehst du jetzt, warum ich deine Hilfe brauche?" Margie schluckte. Sanft zog sie ihren Arm aus meinem festen Griff. „Mauer der Verwandlung?", murmelte sie vor sich hin. „Ich bring dich hin", bot ich ihr an. „Ich zeig dir, wo das alles passiert ist. Aber dann ..." Margie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Nicole, wenn ich mitkomme, versprichst du mir dann etwas?" 83
„Was denn?", fragte ich unsicher. Ich traute ihr nicht über den Weg. Sie hatte Lucy schon einmal geholfen zu entkommen. Margie rieb sich die Wade. „Wenn ich mit dir zu dieser Mauer gehe, kommst du dann mit mir auch wieder hierher zurück? Wirst du ganz ruhig sitzen bleiben, bis ich deine Eltern geholt habe?" „Nein!", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. „Ich kann meine Eltern erst treffen, wenn ich meinen alten Körper zurückhabe. Und deshalb musst du mir sagen, wo Lucy ist. Du kannst mich nicht länger von ihr fern halten!" Ihr klappte der Unterkiefer herunter, aber sie antwortete nicht. „Weißt du, wo sie ist?", schrie ich jetzt völlig außer mir. „Weißt du es?" „J-j-ja", stotterte sie. „Nicole – sie ist..." In diesem Moment schwang die Tür des Umkleideraums auf. Ich hörte Stimmen und Schritte. Mit einem unterdrückten Schrei stürzte ich zurück in den Schrank. Eigentlich hatte ich die Tür einen Spalt weit offen lassen wollen. Aber ich zog zu kräftig, und sie fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Die Stimmen auf der anderen Seite der Tür klangen gedämpft. Ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Wahrscheinlich war eines der Mädchen hereingekommen, um zu schauen, wo Margie blieb. „Schlechtes Timing", dachte ich bitter und versuchte, meinen hämmernden Herzschlag zu beruhigen. Ausgerechnet jetzt musste uns jemand stören! Margie hatte gerade zugegeben, dass sie wusste, wo Lucy sich aufhielt. Bestimmt hätte sie mir gleich alles gesagt. Ich presste mein Ohr gegen die Tür und lauschte angestrengt. Erzählte Margie dem Eindringling gerade von mir? Bat sie das andere Mädchen, Miss Hawkins zu holen? Hatte sie etwa vor, mich in diesem Schrank eingesperrt zu lassen und meine Eltern anzurufen? „Oh nein! Bitte nicht!", flehte ich im Stillen. „Bitte, Margie. Verrat mich nicht genauso wie Lucy!" Ich drückte mich noch fester an die Tür und versuchte zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Doch jetzt war alles still. War das andere Mädchen schon gegangen? Ich drehte den Knauf, öffnete langsam die Tür und warf einen vorsichtigen Blick in den Raum. „Nein!" 84
Ich stieß einen heiseren Schrei aus, als ich Margie sah, die wieder rücklings auf dem Boden lag.
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Kapitel 18 Aber diesmal hatte sie keinen Wadenkrampf. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich langsam um sie herum aus. Offenbar hatte ihr jemand einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzt. Aus ihrer Schläfe sickerte unaufhörlich das Blut. Dann fiel mein Blick auf den Hockeyschläger, der neben ihr lag. Und ich wusste, dass Lucy wieder zugeschlagen hatte. Sie hatte sich in den Umkleideraum geschlichen und Margie ermordet. Hatte ihr mit einem Hockeyschläger den Schädel zertrümmert. Mein ganzer Körper wurde von einem heftigen Zittern erfasst. Ich zwang mich, die Augen von dem grässlichen Anblick abzuwenden. „Lucy, wie konntest du das nur tun?" Die Frage brannte wie Feuer in meinem Kopf. „Wie konntest du sie so kaltblütig umbringen?" Das durchdringende Geräusch von Miss Hawkins' Trillerpfeife, das durch die Tür des Umkleideraums drang, riss mich aus meinen verzweifelten Gedanken. „Bestimmt kommt gleich jemand rein", schoss es mir durch den Kopf, „und ertappt mich dabei, wie ich mich über Margies Leiche beuge." Ich wirbelte herum und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Der Umkleideraum hatte zwei Türen. Die eine führte in die Sporthalle. Und die andere in den Flur. Mir blieb keine andere Wahl. Ich stürmte auf den Korridor. Vor der Tür blieb ich stehen und blickte in beide Richtungen. Es war niemand zu sehen. Ich holte tief Luft und begann zu rennen. Irgendwie musste ich es schaffen, unbemerkt aus dem Gebäude zu kommen. Ich lief so schnell ich konnte. Flog beinahe die Flure entlang. Dabei betete ich die ganze Zeit, dass niemand um die Ecke biegen und mich erkennen würde. „Bitte, bitte – lass mich hier rauskommen!" 86
Wenige Sekunden später hastete ich durch den Hinterausgang und stürmte quer über den Schülerparkplatz. Ich rannte immer weiter, bis ich zwei Blocks von der Schule entfernt war. Dann ließ ich mich auf einem verlassenen Baugelände zu Boden fallen. Ich hatte Seitenstechen, und meine Schläfen pochten. Mit offenem Mund hockte ich im hohen Gras und hechelte wie ein Hund, während mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. „Lucy verfolgt mich. Sie folgt mir überall hin." Dieser Gedanke jagte mir plötzlich durch den Kopf. Ich spürte, wie mir ein kalter Schauder den Rücken herunterlief. Warum hatte ich das nicht schon vorher gemerkt? Ich hatte Kent besucht. Und danach hatte sie ihn getötet. Ich wollte mich mit Margie treffen. Und dann hatte Lucy auch sie umgebracht. Unbewusst war ich aufgesprungen. Ich formte mit den Händen einen Trichter um meinen Mund und rief: „Lucy – bist du hier?" Meine Stimme klang heiser und belegt. Aber ich bekam keine Antwort. „Lucy – kannst du mich sehen? Beobachtest du mich?", schrie ich. „Ich weiß, dass du hier bist. Wo versteckst du dich?" Stille. Ich ließ mich wieder ins Gras fallen. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich fühlte mich total verängstigt und verlassen. Und ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Den Rest des Tages lief ich ziellos herum. Ich hätte nicht sagen können, wo ich überall war, oder worüber ich nachgedacht hatte. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt etwas aß. Bei Einbruch der Dunkelheit fand ich mich plötzlich vor der grauen Steinmauer im Fear-Street-Wald wieder – nach Hause konnte ich ja nicht in Lucys Körper. Vielleicht hatte ich gehofft, dass sie hier auftauchen würde. Aber das passierte natürlich nicht. Wie schon in der Nacht zuvor rollte ich mich auf dem weichen Boden neben der Wand zusammen und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 87
Als ich im Morgengrauen erwachte, hatte ich plötzlich ein Gesicht vor Augen. Ein rundes, gütiges Gesicht mit blassem Teint. Umgeben von einer Fülle kurzer, grau melierter Löckchen. Das Gesicht von Lucys Großmutter. Ich setzte mich auf und streckte mich. Vom Schlafen auf dem harten Boden taten mir alle Knochen weh. Meine Sachen waren klamm. Langsam rappelte ich mich hoch. Die Sonne hing wie ein riesiger, feuerroter Ball tief über den Baumwipfeln, und die Luft war noch morgendlich kühl. Ich sah immer noch deutlich das freundliche Lächeln von Lucys Großmutter vor mir. Wenn Lucy mal wieder Zoff mit ihren Eltern hatte – was ziemlich häufig vorkam –, besuchte sie meistens Oma Carla. Lucy und ihre Großmutter verstanden sich sehr gut. Ich fragte mich, ob Lucy es inzwischen aufgegeben hatte, mich zu verfolgen. War sie nun auf der Flucht, nachdem sie vier Leute umgebracht hatte? Mir fiel wieder ein, dass sie all ihre Sachen aus dem Kleiderschrank geräumt hatte. Das konnte doch nur bedeuten, dass sie für längere Zeit verschwinden wollte. Und es war nahe liegend, dass Lucy versuchen würde, sich auf Oma Carlas Farm zu verstecken. Wenn sie dort auftauchte, würde ihre Großmutter natürlich denken, dass ich es sei. Aber es war nicht weiter ungewöhnlich, dass ich sie besuchte. Lucy und ich hatten nämlich mehrere Jahre hintereinander einen Teil unserer Sommerferien bei ihr verbracht. Oma Carla war für mich wie eine eigene Großmutter. Während ich durch den Wald ging, versuchte ich mich zu erinnern, wie das verschlafene Nest auf dem Land hieß, wo sie ihre Farm hatte. Conklin. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ja, genau. Conklin. Ich griff in die Tasche meiner Jeans und zog das Bündel Geldscheine hervor, das ich von zu Hause mitgenommen hatte. Mein ganzes Erspartes. Unterm Gehen zählte ich es durch. Es würde für ein Frühstück und eine Busfahrkarte nach Conklin reichen.
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Als ich in die Mill Road einbog, fiel mein Blick auf das Alma's. Ich beschloss, mich dort auf der Toilette ein bisschen frisch zu machen und dann eine Kleinigkeit zu essen. Anschließend würde ich zum Busbahnhof laufen. Mein Auto konnte ich ja nicht nehmen, denn das stand immer noch vor Kents Haus. Und dorthin wollte ich nie wieder zurückkehren. Als ich die Straße überquerte, spürte ich zum ersten Mal wieder einen kleinen Hoffnungsschimmer. Und plötzlich hatte ich eine Art Vorahnung. Ein ganz deutliches Gefühl. Ich war mit einem Mal ganz sicher, dass ich Lucy doch noch finden würde. Der Bus nach Conklin fuhr erst um zwei. Und dann musste der Fahrer ein paar Meilen nördlich von Waynesbridge auch noch anhalten, um einen platten Reifen zu wechseln. Während wir über die schmale Straße holperten, die die kleinen Farmstädtchen miteinander verband, wurde ich langsam immer nervöser. Was sollte ich Oma Carla bloß erzählen? Natürlich musste ich so tun, als sei ich Lucy. Sie würde die Sache mit den vertauschten Körpern sowieso nicht verstehen. Außerdem war Oma Carla inzwischen so gebrechlich, dass ich ihr keinen Schock versetzen wollte. Ich würde mich also als ihre Enkelin ausgeben. Und ich würde sie fragen, ob Nicole vielleicht zu Besuch sei. „Und was dann?", überlegte ich. Was würde Lucy tun, wenn sie merkte, dass ich sie eingeholt hatte? Würde sie wieder weglaufen - oder würde sie versuchen, auch mich zu töten? Während ich auf die endlosen grünen Felder starrte, ging es mir immer wieder durch den Kopf: beste Freundin. Beste Freundin. Beste Freundin. Die Worte wiederholten sich so lange, bis sie jede Bedeutung verloren hatten. Oma Carlas Farm war nur 500 Meter von der Bushaltestelle in Conklin entfernt. Ich sah dem davonrumpelnden Bus hinterher und 89
ging dann auf dem weichen, grasbewachsenen Seitenstreifen die schmale Straße entlang. Wildblumen blühten auf dem Feld zu meiner Linken, und das hohe Gras wiegte sich sanft im Wind. Ein Schwarm silberner Mücken flog vor mir in die Höhe. Es mussten tausende sein, die sich in einem wilden Tanz umkreisten – es sah aus wie ein metallisch glänzender Wirbelsturm im Kleinformat. Um den Mücken auszuweichen, lief ich auf der Straße weiter. Kurz darauf kam Oma Carlas Scheune in Sicht. Früher war sie blendend weiß gestrichen. Ich erinnerte mich noch, wie sie im Sonnenlicht geglänzt hatte, als Lucy und ich hineingerannt waren, um das große Gebäude zu erkunden und auf den Heuballen herumzuklettern. Aber jetzt hatte die Farbe Risse bekommen und war an vielen Stellen abgeplatzt, sodass die dunklen Bretter durchschienen. Hinter der Scheune stand das alte Farmhaus. Als Kinder war uns das zweistöckige, weiße Gebäude riesig vorgekommen. Doch nun war es nur noch ein kleines, altmodisches Haus – mit der offenen Veranda nach hinten und den hölzernen Fensterläden. „Lucy, bist du da drin?", murmelte ich vor mich hin, als ich langsam über den Lattenzaun stieg und durch das hohe Gras auf das Haus zuging. „Ich komme. Ich weiß, dass ich dich hier finden werde." Als ich auf die hintere Veranda trat, knarrten die alten Dielen unter meinen Füßen. Ich klopfte laut an die Küchentür.
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Kapitel 19 „Ach, du lieber Himmel. Hallo!" Oma Carla stieß einen überraschten Schrei aus. Ein warmes Lächeln zauberte tausend Fältchen auf ihr Gesicht, als sie hastig die Zwischentür mit dem Fliegengitter aufriss. „Oma Carla! Wie geht es dir?", rief ich erleichtert und nahm sie in den Arm. Ihr winziger Körper fühlte sich zart an, fast zerbrechlich. Ich ließ sie los und trat zurück, um sie anzusehen. Oma Carlas graublaue Augen waren noch genauso klar und strahlend wie immer, aber der Rest ihres Gesichts wirkte seltsam verblichen. Sie war noch kleiner geworden und erinnerte mich irgendwie an einen Vogel. Genauer gesagt, an einen der Flamingos, die ich im letzten Sommer in Florida gesehen hatte. Ja, sie sah aus wie ein Flamingo, dessen kräftige Farbe zu einem pudrigen Rosa verblichen war. „Schön, dich zu sehen", sagte sie und strahlte mich an. „Du ... du hast mich bloß so überrascht." Sie presste eine Hand direkt über dem Herzen auf ihr blassblaues Hauskleid. Dann führte sie mich zum Küchentisch, der an der Wand stand. Sie ging sehr langsam und machte nach jedem Schritt eine kleine Pause. Wahrscheinlich machte die Arthritis ihr wieder zu schaffen. In der Küche roch es nach Brathähnchen, und auf dem Herd stand ein großer Suppentopf. Mir fiel plötzlich ein, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf Oma Carla, die sich mit beiden Händen auf eine Stuhllehne stützte und mich eindringlich ansah. Nachdenklich fuhr sie sich durch ihr lockiges Haar. „Lass mich mal überlegen ... Wann warst du noch gleich das letzte Mal hier? Im vorletzten Sommer? Ja, so muss es gewesen sein." „Ich denke schon", antwortete ich ausweichend und blickte an ihr vorbei in den Flur. „Ist Nicole hier?", platzte ich dann heraus. „Wie bitte?" Sie schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ob Nicole hier ist?", wiederholte ich. „Sie hat mir erzählt, dass sie
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vielleicht rausfahren würde, um dich zu besuchen. Und da dachte ich..." Ich konnte Oma Carlas Gesichtsausdruck nicht deuten. Ihre Unterlippe zitterte. Sie sah mich prüfend an. „Ob Lucy wohl hier in meinem Körper aufgetaucht ist?", fragte ich mich und erwiderte den Blick der alten Frau. Hatte Lucy sie gebeten, nichts von ihrer Anwesenheit zu sagen? „Setz dich doch erst mal", sagte Oma Carla und zog einen Küchenstuhl für mich heran. „Wann bist du denn in Shadyside losgefahren? Heute Morgen?" „Kurz nach zwei", antwortete ich. Sie warf einen kurzen Blick auf die alte Küchenuhr über der Spüle. „Es ist gleich halb sechs. Du musst ja schrecklichen Hunger haben." „Ja, irgendwie schon", gab ich zu. „Glücklicherweise habe ich einen großen Topf Suppe aufgesetzt", sagte Lucys Oma. „Normalerweise koche ich nicht mehr so viel, seit ich alleine bin. Aber heute ..." „Hast du einen großen Topf gemacht, weil Lucy hier ist", vollendete ich im Stillen. „Bitte, setz dich doch", wiederholte sie beharrlich. Gehorsam nahm ich auf dem Holzstuhl mit der hohen Lehne Platz. Als ich sie aus der Küche schlurfen hörte, drehte ich mich um. „Oma Carla, du hast meine Frage noch nicht beantwortet", rief ich ihr hinterher. „Ist Nicole hier bei dir?" „Ich bin in einer Minute zurück", erwiderte sie über die Schulter. „Und dann werden wir ein nettes Schwätzchen halten." Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, machte mich misstrauisch. Ich spürte, wie sich in meinem Magen ein Knoten der Angst bildete. Leise stand ich auf. Ich schlich in den Flur und folgte ihr vorsichtig, indem ich mich mit dem Rücken eng an die Wand presste. Ich war nur noch ein kleines Stück vom Wohnzimmer entfernt, als ich hörte, dass Oma Carla telefonierte. Sie rief die Polizei.
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Kapitel 20 Ich wandte mich in Richtung Küche. Meine erster Gedanke war wegzulaufen. Aus dem Haus zu rennen und von der Farm zu verschwinden. Doch dann hielt ich inne und blieb wie erstarrt im Flur stehen. Jetzt war ich schon so weit gekommen. Und war schon so lange auf der Flucht. „Damit muss endlich Schluss sein", sagte ich mir. „Ich will meinen Körper zurückhaben. Und mein Leben." In dem Moment, als Oma Carla den Hörer auflegte, platzte ich ins Wohnzimmer. Erschrocken fuhr sie herum. „Oh ...!" Wütend und mit geballten Fäusten stürmte ich auf sie zu. „Warum?", fragte ich mit bebender Stimme. Sie starrte mich wortlos an, aber ich sah die Angst in ihren Augen aufflackern. „Warum?", wiederholte ich. Vor lauter Wut begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich spürte, dass ich total die Kontrolle über mich verlor. „Es kommt alles wieder in Ordnung. Ich habe Hilfe gerufen", sagte sie und wich langsam zurück. Aber ich folgte ihr. Sie erinnerte mich plötzlich noch mehr an ein zerbrechliches Vögelchen. „Ich ... ich habe dir vertraut!", schrie ich. „Wieso hast du die Polizei gerufen? Warum willst du mir nicht helfen?" Ihre blauen Augen blickten mich unverwandt an. „Setzen wir uns hin und reden darüber, Mädchen?", schlug sie mit sanfter Stimme vor. Ich sollte also ganz ruhig darauf warten, dass die Polizei kam und mich schnappte? Mich für vier Morde verhaftete, die ich gar nicht begangen hatte? Ihr Vorschlag machte mich noch zorniger. „Ich bin nur hergekommen, um mit Nicole zu sprechen", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sie ist hier, nicht wahr?" Oma Carla antwortete nicht. Ihre Lippen hatten alle Farbe verloren und waren jetzt genauso blass wie ihr Gesicht.
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Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Wohnzimmerfenster. Ich wusste, dass sie nach dem Polizeiauto Ausschau hielt. Ich packte sie an den Armen. „Sag mir doch einfach, wo Nicole ist", bat ich. „Dann verschwinde ich auch sofort. Und ich verspreche dir, dass ich nie wiederkomme." Wahrscheinlich hatte ich sie zu hart angefasst, denn die alte Frau zuckte vor Schmerz zusammen. Ich lockerte meinen Griff, hielt sie aber trotzdem weiter fest. Mein Gefühl sagte mir, dass sie versuchen würde zu entkommen, wenn ich sie losließ. Dass sie sich irgendwie in Luft auflösen würde und ich alleine der Polizei gegenübertreten musste. „Ich weiß nicht, wo sie ist", antwortete Oma Carla, den Blick immer noch auf das große Panoramafenster gerichtet. „Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?", schrie ich sie an. In diesem Moment hörte ich Autoreifen auf dem Kies knirschen. Ich ließ Oma Carlas zarte, spindeldürre Arme los und wirbelte herum. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste weglaufen. Lucys Großmutter würde mir nicht helfen. „Warte! Komm zurück!", rief sie, als ich durch den Flur rannte. „Bitte warte doch!" Ich achtete nicht auf ihre Rufe, sondern drückte die Küchentür auf und stürzte in den Garten. Eine sanfte Brise fuhr raschelnd durch die Kornähren auf dem Feld hinter dem Haus. Ich drehte mich erst in die eine, dann in die andere Richtung und suchte nach einem Versteck. Mir war klar, dass ich nicht mehr weit laufen konnte. Ich war völlig erschöpft. Und ich hatte es satt zu fliehen. Mein Blick fiel auf den alten Steinbrunnen neben der Scheune. Er war seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden, weil das Wasser verunreinigt war. Und wenn ich mich darin versteckte? Ich konnte mich an den Steinen der Brüstung festhalten und versuchen, mich in die enge Öffnung zu zwängen. „Nein", beschloss ich. Das war zu gefährlich. Was war, wenn ich abrutschte und in die dreckige Brühe fiel? Ich würde ertrinken, bevor mich jemand fand und herauszog. Konnte ich im Kornfeld Zuflucht finden? 94
Vielleicht für eine Weile. Aber das Korn hatte noch nicht meine Größe erreicht. Ich musste also auf allen vieren hindurchkrabbeln. Die Polizei würde dort leichtes Spiel haben. Auf offenem Feld konnte ich mich nicht lange versteckt halten. Ich hörte, wie eine Autotür neben dem Haus zugeschlagen wurde. Dieses Geräusch machte mir Beine. Quer durch das hohe Gras rannte ich zur Scheune. Mir blieb keine andere Wahl. Sie würden sie bestimmt durchsuchen, aber dort drinnen gab es einige gute Verstecke. Ich konnte mich zum Beispiel hinter einem Heuhaufen verbergen. Oder mich in den alten Werkzeugschrank quetschen, der hinter der Traktorenbox stand. Ich flitzte so schnell ich konnte über den Hof und flüchtete mich in die Scheune. Beinahe wäre ich auf dem Stroh, das den schmutzigen Boden bedeckte, ausgerutscht. Für einen Moment blieb ich stehen, damit meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Die Luft war kühl und roch süß. Ich atmete tief ein. Plötzlich durchströmte mich eine Flut von Erinnerungen, die von den vertrauten Gerüchen der Scheune ausgelöst wurden. So viele unbeschwerte Sommertage hatten wir hier verbracht, so viele glückliche Momente. Ich unterdrückte ein Schluchzen. Jetzt war keine Zeit für Nostalgie. Graues Licht drang durch das schmutzige Fenster auf dem Heuboden über mir. In dem dämmerigen Zwielicht sah ich einen hohen Stapel ordentlich verschnürter Heuballen, die an der Wand aufgeschichtet waren. „Dahinter könnte ich mich verstecken", schoss es mir durch den Kopf. Aber würden sie dort nicht als Erstes suchen? Ich ging ein paar Schritte weiter in die Scheune hinein. Als ich ein raschelndes Geräusch hörte, blieb ich stehen. Es klang wie Stroh, das über den Boden scharrte. Schritte? „Wahrscheinlich ist es nur eine Feldmaus", beruhigte ich mich. Mein Blick huschte suchend umher. Dabei fiel mir Oma Carlas verrosteter Traktor auf, der in der großen Box in der Ecke der Scheune stand. Vielleicht sollte ich mich hinter seinen großen Reifen zusammenkauern. 95
Nein, der Stapel mit den Heuballen war das beste Versteck. Wenigstens im Moment. Er würde mir für eine Weile Deckung bieten. Außerdem konnte ich dahinter hervorspähen und die Polizisten beobachten, während sie mich suchten. Das trockene Stroh auf dem Scheunenboden raschelte unter meinen Füßen, als ich zu dem Stapel hinüberging. Ich schlüpfte hinter den größten Ballen. Und stieß gegen eine andere Person, die sich offenbar auch hier versteckte. „Oh!" Ich schrie vor Schreck auf. Und dann erkannte ich sie. „Lucy!", rief ich. „Du bist also doch hier!"
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Kapitel 21 Sie sah mich geschockt und mit offenem Mund an. Wir packten uns gegenseitig an den Oberarmen. Ich war so böse, so wütend auf sie gewesen. Doch zu meiner großen Überraschung war ich jetzt froh, sie zu sehen. „Die Jagd ist vorbei", dachte ich erleichtert. Im Dämmerlicht starrte ich sie an. Starrte auf mein Gesicht. Meinen Körper. Lucy trug weiße Shorts und eine dunkelblaue, langärmlige Bluse von mir. Das braune Haar fiel ihr locker über die Schultern. Ich schlang meine Arme um ihre Taille und drückte sie an mich. Als ich merkte, dass sie überhaupt nicht reagierte, ließ ich sie wieder los. „Du bist hier", wiederholte ich. „Hab ich dich endlich gefunden." Sie kniff ihre Augen – nein, es waren ja meine Augen – zusammen. Bis jetzt hatte sie noch keinen Ton gesagt. Plötzlich brachen alle möglichen Gefühle über mich herein. Ich war zugleich wütend und erleichtert und glücklich und verwirrt. „Lucy – warum?", brachte ich schließlich heraus. „Warum hast du das getan? Warum hast du sie ... umgebracht? Und warum bist du vor mir weggerannt?" Sie senkte den Blick. „Ich kann es dir nicht erklären", flüsterte sie. „Das musst du aber!", schrie ich. Dann warf ich hinter dem Heuballen hervor einen Blick zur Scheunentür. Noch keine Polizisten zu sehen. Noch nicht. „Erzähl mir alles, Lucy!", bat ich mit zitternder Stimme. „Und dann tauschen wir unsere Körper zurück." Sie murmelte eine undeutliche Antwort, die ich nicht verstand. Immer noch wich sie meinem Blick aus. „Ich will meinen Körper wiederhaben!", beharrte ich. „Sofort! Hast du mich verstanden?" Endlich hob sie den Kopf und sah mich mit einem seltsam traurigen Blick an. „Das können wir nicht", sagte sie leise. „Ach? Und warum nicht?", fragte ich ärgerlich. 97
„Weil ich nicht Lucy bin", antwortete sie. „Lucy hat heute Nachmittag mit mir den Körper getauscht. Ich heiße Nancy."
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Kapitel 22 „Du lügst", stieß ich hervor und merkte, wie mein Zorn wuchs. „Du lügst doch, Lucy!" Sie schüttelte den Kopf. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. „Heul doch so viel du willst", knurrte ich. „Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Denkst du wirklich, dass ich dir das abnehme?" Ihr Kinn zitterte. Große Tränen rollten ihr langsam die Wange hinunter, aber sie wischte sie nicht weg. „Es ist die Wahrheit", flüsterte sie. „Und es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Ich kenne ja nicht mal deinen Namen." „Ich heiße Nicole", zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Aber ich stecke in Lucys Körper. Und du in meinem – Lucy!" Wieder und wieder sagte ich ihren Namen. Ich war vor Wut völlig außer mir und wünschte mir verzweifelt, sie möge Lucy sein und nicht irgendein fremdes Mädchen. „Hör auf!", rief sie flehentlich. „Hör doch endlich auf!" Sie hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen fest zusammen. Am liebsten hätte ich sie genommen und so lange geschüttelt, bis sie zugab, dass sie in Wirklichkeit doch Lucy war. „Ich bin Nancy!", behauptete sie. „Lucy hat mich gezwungen zu tauschen. Sie hat mich dazu gebracht, mit ihr in den Wald zu gehen. Und dann – dann hat sie sich meinen Körper genommen und ist weggerannt." Immer mehr Tränen strömten ihr über das Gesicht, und sie begann, heftig zu zittern. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete sie prüfend. Langsam fing ich an, ihr zu glauben. „Du ... du bist wirklich nicht Lucy?", stotterte ich. Sie schüttelte den Kopf. Tränen fielen auf das Stroh zu unseren Füßen. „Sie hat mir meinen Körper weggenommen. Was soll ich denn jetzt bloß machen?"
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Auf einmal hörte ich das Rascheln von Stroh und das Dröhnen schwerer Schritte. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie eine dunkle Gestalt in die Scheune trat. Die Polizei! „Wir müssen uns verstecken", flüsterte ich ihr zu. Zu meiner Verblüffung breitete sich plötzlich ein Lächeln auf Nancys Gesicht aus. Ihre dunklen Augen glitzerten. „Die Polizei ist hier", warnte ich sie in leisem Flüsterton. „Sie dürfen uns nicht finden." Ihr Grinsen wurde noch breiter. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nicole, du bist wirklich eine Idiotin!", sagte sie abfällig. „Du hast mir diese blöde Geschichte doch tatsächlich abgenommen! Wie hätte ich denn in Conklin tauschen sollen - ohne die Mauer?" „Lucy!", rief ich. Sie nickte und grinste triumphierend. Es gab gar keine Nancy. Sie hatte mich an der Nase herumgeführt. Sie war Lucy. Endlich hatte ich sie gefunden! Voller Wut griff ich nach ihr, aber sie wich mir geschickt aus. Dann wirbelte sie herum und stürzte hinter dem Heuballen hervor. „Hey!", rief ich mit einem gepressten Flüstern. Ohne an die Polizei zu denken, raste ich hinter Lucy her. Ich konnte sie doch nicht einfach entkommen lassen. In dem schwachen Licht sah ich sie gerade noch durch das Scheunentor flitzen. Ich rannte schneller. War nur noch zehn oder zwanzig Schritte hinter ihr. Lucy stürmte mit fliegenden Haaren auf den alten Brunnen zu. Um uns herum war das schrille Zirpen von Grillen zu hören. In der Ferne erklang das klagende Heulen eines Hundes. Es kam mir vor, als wäre die ganze Farm plötzlich zu neuem Leben erwacht. Als würden alle Pflanzen und Wesen um uns herum ihre Aufregung kundtun. Ich blinzelte im grellen Sonnenlicht und hielt meinen Blick fest auf Lucy gerichtet. Sie raste mit einem mörderischen Tempo dahin und war nur noch ein paar Meter von dem alten Brunnen entfernt. „Was hat sie vor?", fragte ich mich. „Will sie sich etwa darin verstecken?" Ich wollte schneller laufen, um sie einzuholen. 100
Doch da ertönte auf einmal das Poltern von Schritten hinter mir. Ich hörte ein Ächzen. Schweres Atmen. Und dann spürte ich, wie sich starke Arme um meine Beine schlossen. „Ahhh!" Ich stieß einen lang gezogenen Schrei aus, als mich jemand von hinten umklammerte und zu Boden riss. „Lassen Sie mich los!", kreischte ich. „Ich darf sie nicht entkommen lassen!" Aber zwei kräftige Hände hielten mich gepackt. Ich strampelte mit den Beinen und schlug verzweifelt um mich. Mit einem wütenden Aufschrei warf ich mich herum, um meinem Verfolger ins Gesicht zu sehen. Vor Entsetzen blieb mir die Luft weg. „Kent!", stieß ich hervor. „Kent – das kann nicht sein! Du bist doch tot!" Er warf mir aus zusammengekniffenen Augen einen kalten Blick zu. „Nein, Nicole, ich bin hier", sagte er.
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Kapitel 23 Er ließ mich los und stand auf. Dann nahm er meine Hände und zog mich hoch. Er atmete schwer. „Kent – ich dachte, du wärst tot", murmelte ich. „Ich habe dich gesehen. Auf dem Fußboden ..." Mir blieben die Worte im Halse stecken. „Mit mir ist alles in Ordnung", sagte er sanft. „Nein!", beharrte ich. „Ich war doch dort ... All das Blut... Ich war dort." Begütigend legte er eine Hand auf meine zitternde Schulter. „Schsch", wisperte er. „Tief durchatmen, Nicole. Ganz ruhig. Ich bin dir hierher gefolgt. Ich will dir helfen." Ich gehorchte ihm. Aber ich wusste, dass ein paar tiefe Atemzüge nicht ausreichen würden, um mich zu entspannen. Dazu war ich viel zu verwirrt, viel zu verängstigt und hatte viel zu viele Fragen. Wie hatte er mich gefunden? Warum war er gekommen? Wen hatte ich tot im Wohnzimmer liegen sehen? „Kent...", begann ich. Aber er presste mir einen Finger auf die Lippen. „Es ist alles in Ordnung", versicherte er mir mit sanfter Stimme. „Alles wird gut, Nicole." „Dann weißt du es also!", rief ich aus. „Du weißt, dass Lucy und ich unsere Körper getauscht haben." Kent nickte. „Ja, ich weiß Bescheid." Er legte den Arm um meine Schulter. Sein Arm fühlte sich schwer und fest an. Ganz real. „Er ist also kein Geist", dachte ich, während ich ihn anstarrte und sein ernstes Gesicht betrachtete. „Er ist wirklich hier. Er lebt." „Lass uns ins Haus gehen", drängte er und führte mich durch das hohe Gras. „Wir setzen uns erst mal einen Augenblick hin." „A-aber Lucy ...", stammelte ich.
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Über dem Schock, Kent wieder zu sehen, hatte ich sie beinahe vergessen. Als ich herumwirbelte, sah ich ihren Kopf aus der Brunnenöffnung auftauchen. Mit den Händen umklammerte sie die verwitterten grauen Steine der Brüstung. „Hilf mir!", flehte Lucy. „Beeil dich, Nicole! Ich stürze ab!" „Lucy!", rief ich entsetzt und wollte zu ihr rennen. Aber Kent packte mich um die Taille und hielt mich fest. „Mach schnell!", schrie Lucy. „Ich rutsche ab! Ich kann mich nicht mehr halten!" Ihr Kopf verschwand hinter der Brunnenwand. Fassungslos musste ich mit ansehen, wie eine ihrer bleichen Hände abrutschte. Ich musste zu ihr. Musste sie retten. Aber Kent verstärkte seinen Griff. „Hey – spinnst du?", schrie ich auf. „Lass mich los! Lass mich sofort los!" „Lass sie ertrinken", flüsterte er mir ins Ohr.
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Kapitel 24 „Bist du verrückt geworden?", brüllte ich ihn an. Ich wand mich, beugte mich nach vorn und versuchte, mich loszureißen. „Nicole – beeil dich doch!", rief Lucy. Das Echo ihrer schrillen, panischen Stimme wurde von den Wänden des alten Brunnens zurückgeworfen. „Bitte! Ich kann nicht mehr!" „Lass sie ertrinken", wiederholte Kent kalt. Er sagte es beiläufig und ohne jedes Gefühl. „Aber sie ist deine Freundin!", schrie ich. „Nur dass sie in meinem Körper steckt. Und der wird mit ihr ertrinken!" Mit einem heftigen Ruck gelang es mir, Kents Griff zu lockern. Dann riss ich beide Ellbogen nach hinten. Ich hörte ihn überrascht aufstöhnen, als sie ihn mit voller Wucht in den Magen trafen. Unvermittelt ließ er mich los. Ich stolperte vorwärts. Fiel auf die Knie. Und sprang sofort wieder auf. „Lucy – ich komme! Halt durch! Du schaffst es!", rief ich ihr zu. Mit ausgestreckten Armen rannte ich über die Wiese auf sie zu. „Halt dich fest!", schrie ich immer wieder. Mit klopfendem Herzen erreichte ich den Brunnen. Griff nach ihrer Hand. Ja. Ich hatte sie! Aber dann rutschte sie aus meinem Griff. Die langen, roten Fingernägel zerkratzten meine Haut, als ihre schweißfeuchte Hand mir entglitt. Und aus meinem Blickfeld verschwand. Ich umklammerte nur noch Luft. Während des ganzen Falls hörte ich Lucys Schrei. Ihren entsetzlichen Schrei, der von den Brunnenwänden widerhallte. Und dann ein lautes Platschen.
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Kapitel 25 „Lucy! Lucy!" Ich merkte überhaupt nicht, dass ich die ganze Zeit ihren Namen kreischte. Voller Entsetzen beugte ich mich über die Brüstung und starrte hinunter in die Schwärze. „Lucyyy ...!" Der Brunnen war so dunkel, so tief. Ich konnte sie nicht sehen. Aber ich konnte ihr panisches Herumplanschen und ihre abgehackten Angstschreie hören. Ich stellte mir vor, wie sie mit Armen und Beinen wild um sich schlug. Wie ihr Gesicht sich vor Entsetzen verzerrte, während sie darum kämpfte, den Kopf über Wasser zu halten. Wie sie gierig die Luft einsog. Das Wasser musste eiskalt sein und furchtbar schmutzig. Ich sah vor mir, wie sie die Hände ausstreckte und verzweifelt versuchte, an den feuchten Steinen der Mauer Halt zu finden. Und abrutschte. Immer wieder abrutschte. Noch immer drang das Echo ihres wilden Gezappels nach oben. Die Geräusche ihrer verzweifelten und vergeblichen Versuche, sich irgendwie über Wasser zu halten. „Hilf mir! Nicole!" Ihre Stimme hallte, als wäre sie in einer riesigen Höhle. Es klang, als wäre sie meilenweit entfernt. „Lucy – ich bin hier! Schwimm weiter! Gib nicht auf!" Ich lehnte mich weit über die Brüstung und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit, während ich zu ihr hinunterrief. Aber es kam keine Antwort. Kurz darauf verstummten auch die platschenden Geräusche. Während ich in die Tiefe sah, spürte ich, wie sich die kühlen Steine gegen meinen Bauch pressten. Ich beugte mich noch weiter vor und lauschte angestrengt. Lauschte der unheilvollen Stille. Hörte zu, wie sie ertrank. 105
Meine beste Freundin. Ertrunken auf dem Grund des alten Brunnens – in meinem Körper. Ich schluchzte laut auf, als starke Hände meine Schultern umfassten. Kent half mir hoch und drehte mich zu sich herum. „Sie... sie ...", stammelte ich. Er hielt mich sanft fest. Zog mich näher zu sich heran. „Ich weiß", flüsterte er. „Ich konnte ihr nicht helfen", stieß ich hervor, während ich anfing, am ganzen Körper zu zittern. „Ich konnte nichts für sie tun." „Aber das weiß ich doch, Nicole", wiederholte er besänftigend. Er legte den Arm um mich und führte mich zurück zum Haus. Wir hatten den Garten erst halb durchquert, als Lucy plötzlich hinter einem großen, immergrünen Strauch hervortrat. Das feuchte, schmutzverklebte Haar hing ihr wirr über die Schultern. Ihre Kleidung war durchnässt, und ihre weißen Shorts schlammverschmiert. Ich spürte, wie meine Knie zu schlottern anfingen und die Beine unter mir nachgaben. Doch bevor ich hinfallen konnte, fing Kent mich auf und stützte mich. Ich hatte das Gefühl, dass er sich dabei gleichzeitig an mir festhielt. Mit langsamen und bedächtigen Schritten ging Lucy auf uns zu. Sie strich sich das nasse, strähnige Haar mit beiden Händen aus dem Gesicht. Auf ihren blassen Lippen lag ein seltsames Lächeln. Ein zufriedenes Lächeln. Ein triumphierendes Lächeln. „Lucy ...!", krächzte ich. „Wie bist du denn da bloß rausgekommen?" Am liebsten wäre ich auf sie zugelaufen, hätte sie ganz fest umarmt und vor Freude geweint. Aber ihr kaltes Lächeln hielt mich davon ab. „Du ... du lebst! Du hast es geschafft!", rief ich. Sie starrte mich mit ihren smaragdgrünen Augen an und sagte keinen Ton. Ich ertappte mich dabei, wie mir durch den Kopf schoss: „Mein Körper ist okay." Ein beschämender Gedanke, ich weiß. Natürlich hätte ich erst mal nur an meine Freundin denken sollen. Aber als ich Lucy so ansah – ich 106
meine, sie in meinem Körper –, konnte ich mich nicht dagegen wehren. Ich konnte nicht verhindern, dass ich dachte: „Jetzt kann ich also doch mit ihr tauschen. Es gibt noch eine Chance, meinen Körper wiederzubekommen." Plötzlich machte sie eine schnelle Vorwärtsbewegung. Ich spürte, wie Kents Hand von meiner Schulter rutschte, als Lucy auf ihn zustürzte. Er stieß einen kurzen, überraschten Schrei aus, als er das Messer in ihrer Hand entdeckte. „Jetzt bist du dran, Kent!", sagte sie mit tonloser, gepresster Stimme. „Du kommst mir nicht davon!" Und bevor er ihr ausweichen konnte, stieß sie zu.
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Kapitel 26 Mit ungläubigem Gesicht starrte Kent auf das Messer, das aus seiner Brust ragte, und brach dann ohne einen Laut zusammen. Lucys Augen leuchteten auf. Ein breites Grinsen zog sich über ihr Gesicht, als sie triumphierend auf seinen leblosen Körper hinunterstarrte. Ich stieß einen lang gezogenen Entsetzensschrei aus und kniff die Augen zu. Das war zu viel! Ich konnte ihr hämisches Grinsen nicht eine Sekunde länger ertragen. Mein Verstand weigerte sich zu akzeptieren, was gerade geschehen war. „Lass uns tauschen!" Lucys schrille Stimme durchschnitt wie eine heulende Sirene die abendliche Stille. „Na, komm! Lass uns Körper tauschen!" Ich kniff die Augen noch fester zu. Am liebsten hätte ich sie nie mehr geöffnet. „Na los doch!", kreischte Lucy wieder. „Du tauschst mit Kent, und dann tausche ich mit dir!" Ihr irres Lachen jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Auf einmal hörte ich, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde. Ich öffnete meine Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei Männer aus einem schwarzen Auto stiegen und quer über die Wiese auf uns zurannten. Sie trugen graue Anzüge. Die Polizeibeamten aus Shadyside. Die beiden bauten sich neben mir auf, und jeder von ihnen packte einen meiner Arme. Ihr Griff war sanft, aber fest. Mein Herz klopfte in einem wilden, unnatürlichen Rhythmus. Mir stockte der Atem, und ich brachte keinen Ton heraus. Dabei hätte ich am liebsten meine Angst und mein Entsetzen herausgeschrien. Ich blickte mich nach Lucy und Kent um, aber sie waren verschwunden. Als ich einen weiteren Wagen hörte, der Oma Carlas Auffahrt entlangrumpelte, drehte ich mich um. Im Wagen saßen mehrere Personen. 108
Alle vier Türen wurden gleichzeitig geöffnet. Als Erste stiegen Mum und Dad aus und schauten in meine Richtung. Dann erkannte ich Lucys Eltern. Lucys Eltern? Wie konnte das sein? Die Kramers waren doch tot! Als Letzter kletterte Kent vom Rücksitz. Sie umringten mich und redeten alle gleichzeitig auf mich ein. Die beiden grau gekleideten Männer traten ein Stück beiseite, als meine Mutter ihre Arme um mich legte und mich ganz fest an sich drückte. Sie weinte so heftig, dass ihre Schultern unkontrolliert zuckten. Ich konnte ihre heißen Tränen auf meinem Gesicht spüren. „Nicole, Nicole", flüsterte sie immer wieder und presste ihre Wange gegen meine. Als sie mich endlich losließ, umarmte mich auch mein Vater. Die beiden Männer in den grauen Anzügen ließen mich nicht aus den Augen. Während ich versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen und mit meiner Verwirrung fertig zu werden, starrte ich die Kramers und Kent an. Sie waren nicht tot. Nicht ermordet. Sie waren alle am Leben. Und dann sah ich mitten in der Gruppe Oma Carla. „Es tut uns so Leid, dass Nicole hier aufgetaucht ist und Ihnen solchen Kummer gemacht hat", entschuldigte sich Mum bei ihr. „Wir haben geglaubt, sie wäre wieder ganz gesund. Wir haben wirklich gedacht, sie wäre inzwischen darüber hinweg." Darüber hinweg? Wovon redete Mum denn da? „Nicole ging es fast ein Jahr lang sehr gut", erzählte sie weiter. „Keine schlimmen Albträume. Keine Halluzinationen. Keine Identitätsprobleme." Ich versuchte, meine Benommenheit abzuschütteln. Bemühte mich verzweifelt, Mum zu verstehen. Aber es gelang mir nicht. Als ich mich abwandte, bemerkte ich, dass Dad mit Kent sprach. „Wir sind ja so froh, dass du uns gleich angerufen hast, als Nicole bei dir war", sagte er gerade zu ihm. „Und es war sehr anständig von dir, ihr hierher zu folgen. Die beiden Pfleger aus dem Krankenhaus waren 109
ihr zwar schon auf den Fersen." Dad zeigte auf die Männer in den grauen Anzügen. „Aber ohne deine Hilfe hätten wir Nicole nicht so schnell gefunden." Pfleger. Das waren gar keine Polizisten? Kent blickte zu Boden und murmelte irgendetwas vor sich hin. Ich konnte nicht hören, was er sagte. Alle redeten gleichzeitig. Es war kaum etwas zu verstehen. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Oma Carla traurig den Kopf schüttelte. „Die arme Lucy ist jetzt schon seit drei Jahren tot", sagte sie mit belegter Stimme. „Dieser schreckliche, schreckliche Autounfall ..." Sie brach ab und stieß einen langen Seufzer aus. „Nicoles Halluzinationen haben direkt nach Lucys Tod begonnen", erklärte Mom. „Sie hat auf einmal überall Leichen gesehen. Schrecklich zugerichtete Körper. Das hat sich natürlich nur in ihrem Kopf abgespielt, aber für sie war es ganz real." Oma Carla machte ts-ts und schaute Mum mitleidig an. Dann fuhr meine Mutter fort: „Nachdem Lucy gestorben war, fing Nicole an, mit ihr zu reden, und bildete sich ein, dass sie immer noch bei ihr war. Und manchmal ... manchmal ..." Mum versagte die Stimme, und sie musste schlucken. „Manchmal hat Nicole geglaubt, sie wäre Lucy", fuhr sie dann fort. „Anscheinend kann sie sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass ihre beste Freundin tot ist", fügte Dad mit leiser Stimme hinzu. „Sie beide werden bestimmt dafür sorgen, dass Nicole alle Hilfe bekommt, die sie braucht", sagte Oma Carla mit sanfter Stimme. „Das Mädchen wird schon wieder in Ordnung kommen. Da bin ich ganz sicher." Die Stimmen um mich herum vermischten sich immer mehr, bis ich sie nur noch als dumpfes Rauschen wahrnahm. Ich achtete nicht mehr darauf, worüber sie sich unterhielten. Ich fühlte mich plötzlich unaussprechlich glücklich. Ich war glücklich, meine Eltern zu sehen. Glücklich, dass ich nicht mehr länger weglaufen musste. Glücklich, dass alle am Leben waren. Ich war so erleichtert, dass ich mich nicht mal wehrte, als die beiden grau gekleideten Männer mich zu ihrem Auto führten.
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Kapitel 27 Das alles ist vor ungefähr sechs Monaten passiert. Jetzt geht es mir schon wieder richtig gut. Ich fühle mich viel besser. Meine Albträume haben aufgehört, und ich schlafe so tief wie ein Baby. Außerdem habe ich in letzter Zeit keine grauenvollen Morde mehr gesehen. Mir ist jetzt klar, dass sich all das nur in meinem Kopf abgespielt hat, dass es schreckliche Halluzinationen waren. Dabei kamen mir meine Erlebnisse so echt vor. Ich hatte wirklich geglaubt, sie wären real. Aber jetzt weiß ich es besser. Diese furchtbaren Halluzinationen sind ein für alle Mal vorbei. Und das soll auch so bleiben. Ich habe jetzt eine total positive Einstellung. Es geht mir vor allem deshalb so gut, weil Lucy mich regelmäßig besucht. Sie ist eine echte Freundin. Sie kommt jeden Tag. Das bedeutet mir viel. Ich bin bestimmt schneller gesund geworden, weil sie jeden Tag an meinem Bett gesessen hat. Ich glaube, dass die Ärzte mich bald entlassen werden. Wäre das nicht toll, Lucy? Vielleicht darf ich ja auch rechtzeitig zu den Abschlussprüfungen wieder zur Schule gehen. Das war doch super. Findest du nicht auch, Lucy?
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