Franz Breuer unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau Reflexive Grounded Theory
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Franz Breuer unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau Reflexive Grounded Theory
Franz Breuer unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau
Reflexive Grounded Theory Eine Einführung für die Forschungspraxis 2. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 2. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Kea Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17766-3
Inhalt
Vorbemerkung 1 1.1
Methodologische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Ethnographie Das Verhältnis von Menschenbild und Forschungsmethodik Begriffsklärung: Objekt - Modell - Re-/Präsentation 1.1.1 Der Behaviorismus als Beispielfall nomothetischer Wissenschaft und seine Implikationen für ein Objektmodell 1.1.2 Die Suche nach Alternativen Hintergrund: Das Konzept der Norm-Versuchsperson und ihr organismischer Charakter 1.2 Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung 1.3 Sozialwissenschaftliehe Ethnographie Hintergrund: Präkonzepte - apriorische Strukturen (in) der Erkenntnis Begriffsklärung: Reflektierte Offenheit 1.4 Der Forschende und sein Feld 1.4.1 Rollen und Relationen im Forschungsfeld 1.4.2 Der Eintritt ins Forschungsfeld 1.4.3 Der Wandel der Forscherrolle im Laufe der Zeit Illustration: Das Bemühen um Störungs-Vermeidung in "Kitchen Stories" Weiterführende Information: "Partizipative Sozialforschung" Der Forschungsstil der Grounded Theory Einführung Hintergrund: Grounded Theory-Essentials 2.2 Sozialwissenschaftliehe Methodologien: "Erklären" und "Verstehen" 2.2.1 Wissenschaftliches Erklären 2.2.2 Wissenschaftliches und alltagsweltliches Verstehen und Deutensozialwissenschaftliche Hermeneutik Begriffsklärung: Hermeneutik als Haltung
2 2.1
9 11
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6
Inhalt
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory Begriffsklärung: Deduktion - Induktion - Abduktion 2.3.1 Fokussierung und Fort-jEntwicklung der Forschungsfrage 2.3.2 Umgang mit Literatur 2.3.3 Theoretical Sampling 2.3.4 Theoretische Sensibilität 2.3.5 Der Datenbegriff 2.3.5.1 Im Untersuchungsfeld: "Nosing Around" 2.3.5.2 Gespräche, Interviews 2.3.6 Dokumentieren und Transkribieren 2.4 Kodieren im Grounded Theory-Modus 2.4.1 Was heißt "Kodieren"? 2.4.2 Das Konzept-Indikator-Modell 2.4.3 Die Logik des Kodierens Begriffsklärung: Konzepte, Kodes, Kategorien, Dimensionen 2.4.4 Der Ablauf des Kodierprozesses 2.4.5 Verfahren und Regeln des Kodierens 2.4.5.1 Offenes Kodieren 2.4.5.2 Axiales Kodieren 2.4.5.3 Selektives Kodieren 2.4.6 Sukzession und Iteration 2.4.7 Eine Illustration: Kodieren, Themenfokussierung und Modellierung 2.5 Kodieren und Computer Weiterführende Information: QDA-Software-Übersichten im Internet 2.6 Schreiben des Forschungsberichts 2.7 Bereichsbezogene und Formale Theorien 2.8 Gütekriterien der Grounded Theory-Methodik 2.9 Zur Entwicklungsgeschichte der Grounded Theory-Methodik
51 53 54 56 57 58 60 62 63 65 69 69 71 73 74 77 79 80 84 92 93 93 101 102 103 108 109 111
3 Subjektivität, Perspektivität und Selbst-lReflexivität 3.1 Einführung 3.2 Forschen als Tätigkeit und Handlung 3.2.1 Selbst-/Reflexivität, Konstruktivismus 3.2.2 Subjektivität - Perspektivität 3.3 Perspektiven, Perspektivenvergleich, Dezentrierung Begriffsklärung: Dezentrierung
115 115 115 117 120 121 122
Inhalt
3.4 "Störungen" im Untersuchungsfeld und am Forscher als Erkenntnisfenster Begriffsklärung: Störungen des Feldes Begriffsklärung: Störungen am Beobachter 3.5 Verfahren und Praktiken der Selbst-/Reflexion 3.5.1 Forschungstagebuch 3.5.2 Reflexion von Forschungsinteraktionen 3.5.3 Austausch unter Koforschenden: Kolloquium - Forschungswerkstatt Forschungssupervision 3.6 Selbst-/Reflexion im Ablauf des Forschungsprozesses 3.7 Resümee
Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils und ihre Erkenntnisresultate 4.1 Einführung 4.2 Mein Vertrautwerden mit der Grounded Theory-MethodikAntje Lettau 4.2.1 Meine Forschungsarbeit Die Studie 4.2.2 Die ersten Erfahrungen mit universitären Fachkulturen und einem qualitativen Forschungsstil- die Herausbildung einer Neigung und Motivation 4.2.3 Die Wahl eines Forschungsthemas 4.2.4 Der Feldzugang und die Datenerhebung "vor Ort" 4.2.5 Die Datenanalyse und die Theorieentwicklung 4.2.6 Ich und mein Forschungsfeld und meine Untersuchungspartner: Gedanken zur Selbstreflexivität 4.2.7 Die persönlichen Folgen: Gedanken zu Auswirkungen der Forschungsarbeit 4.3 Meine Geschichte der Passung von Person, Forschungsstil und Forschungsthema - Barbara Dieris 4.3.1 Meine Forschungsarbeit Die zwei Studien 4.3.2 Ich und die Methode 4.3.3 Ich und das Thema 4.4 Resümee
7
123 123 126 128 129 131 134 136 140
4
Literatur
143 143 144 144 144
146 148 151 153 156 158 159 159 159 163 166 169 171
Vorbemerkung
In diesem Buch wird eine Einführung in einen sozialwissenschaftlichen Forschungsstil gegeben, die in Hochschulseminaren entwickelt wurde und sich dort bewährt hat und die bei der Anleitung eigenständiger studentischer Forschungsprojekte Anwendung findet. Sie ist durch folgende methodologische Bestandteile gekennzeichnet: • Ethnographischer Zugang: Ins-Untersuchungsfeld-Gehen, soziale Nähe zu den Mitgliedern des Feldes suchen, Besuche von und Gespräche mit Untersuchungspartnerinnen und -partnern in deren Lebenswelt unternehmen, teilnehmende Beobachtung und beobachtende Teilnahme dort durchführen; • Grounded Theory-Methodik: Eine Forschungslogik, bei der es um das Erfinden und Ausarbeiten gegenstandsangemessener Begriffe, von Modellierungen und Theorien auf der Basis empirischer Erfahrung, im Austausch zwischen Daten (-erhebung) und Theorie (-entwicklung) geht; • Selbst-lReflexivität der Forscher/innen-Person und ihres Forschungshandelns: Die Subjekt/ivitäts-Charakteristik der/des Forschenden zählt und findet Beachtung - sowohl hinsichtlich ihrer lebensweltlichen Einbettung als ("private") Person wie hinsichtlich der Bedeutung für die Forschungsinteraktion. Sie gilt nicht als Fehler und Makel im Forschungsprozess, vielmehr wird sie in Bezug auf ihre positiven Erkenntnismäglichkeiten umgewertet und genutzt. Der Autor und die Mitautorinnen stammen aus dem fachlichen Kontext der Psychologie. Die Mainstream-Psychologie ist dabei, in thematischer und methodologischer Hinsicht den Blick für alltagsweltliche Lebenserfahrung sowie den Anschluss an benachbarte Sozialwissenschaften zu verlieren. Thre Vertreter ziehen es derzeit vor, auf die Karte der Neurowissenschaften zu setzen und dort einem engen nomothetisch-naturwissenschaftlichen ErkenntnismodelI und einem biologistischen Menschenbild nachzustreben. Dem setzen wir hier ein qualitativ-methodisches, sozial- und kulturwissenschaftlich orientiertes Forschungskonzept entgegen, das auch der Person, Sozialität und Subjektivität des/der Forschenden sowie seiner/ihrer lebensweltlichen Konstituiertheit und Erfahrung einen epistemologischen und methodologischen Platz einräumt.
Vorbemerkung
10
Unserer Argumentation ist (hinsichtlich gewählter Beispiele und Kontraste) mitunter ihre Herk1.U1ft aus der disziplinären Umgebung der akademischen Psychologie anzumerken. Der Ansatz ist jedoch multi- und interdisziplinär ausgerichtet. Er greift über eine Methodologie (einer Methodenlehre) für psychologische Untersuchungen hinaus auf ein breites Spektrum sozial-, kultur- und kommunikationswissenschaftlicher Forschungsbereiche. Die Intention unseres Ansatzes trifft sich mit der Ausrichtung der Suche nach einer "sozialwissenschaftlichen Heimat", wie sie Susan Leigh Star im biographischen Rückblick (2007, S. 76) schildert: "As a graduate student, I searched for years for teachers who would not try to divorce me from my life experience, feelings, and feminist commitments. At the same time, I didn't want just a ,touchyfeely' sort of graduate educationi I also needed to satisfy the love for stringent analysis I had developed as an undergraduate. I wouldn't have known how to say it, exactly, then, but I was looking for a way simultaneously to incorporate formal and informal understandings of the world."
Die vorgestellte Methodik eignet sich speziell für sozialwissenschaftliche Untersuchungsanliegen, die in ihrer Bedeutung für Forscherinnen und Forscher über die schlichte Absolvierung formaler Qualifikations-Abschlüsse hinaus gehen, bei denen sie ein gewisses Maß an identifikatorischem "Herzblut" mitbringen, die auch Züge"persönlicher Projekte" besitzen.
Danksagung
Die Entwicklung und Ausarbeitung der Forschungsmethodik in ihrer hier vorliegenden Darstellung verdanke ich auch langjähriger Erfahrung mit der Begleitung von Aneignungs- und Forschungsprozessen vieler Studierender. Diese Zusammenhänge waren durch einen gemeinsamen Lem- und Entwicklungsprozess gekennzeichnet. Über die Zeit haben mich eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützt, die ich hier nicht sämtlich aufführen kann. Die Hilfen und Ratschläge, die ich bei der Arbeit an der Endfassung dieses Textes von Björn Modlich und Kea Sarah Brahms vom VS Verlag erhalten habe, möchte ich dankbar hervorheben. Franz Breuer
1 Methodologische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Ethnographie
1.1
Das Verhältnis von Menschenbild und Forschungsmethodik
Ein Forschungsansatz enthält notwendig ein Bild seines Gegenstandes - ein Ob-
jektmodell, in unserem Gebiet ein Menschenbild. Das Menschenbild und die Forschungsmethodik stehen in einem engen Zusammenhang. Die Reflexion dieses Verhältnisses erachten wir als bedeutsam. Wenn ein Humanwissenschaftler oder eine Humanwissenschaftlerin sich mit dem Gegenstand Mensch unter einer bestimmten Forschungsperspektive beschäftigt, liegen dabei bestimmte Modellvorstellungen des Objekts zugrunde - noch bevor er/sie seine/ihre ersten Beobachtungen gemacht bzw. Daten gesammelt hat: Wie ist der "Mensch meiner Forschung" gebaut und beschaffen? Worin besteht mein Forschungsgegenstand? Welche Merkmale besitzt er, welche halte ich für wichtig bzw. welche interessieren mich als Forscher/in? Welche Merkmale interessieren mich als Forscher/in nicht? Wofür bin ich - bzw. wofür ist meine Methodikempfänglich und wofür bin ich blind und taub? Wo schaue ich genau hin und wo schaue ich weg? Am Ausgangspunkt eines wissenschaftlichen Zugangs steht der Entwurf des Forschungsobjekts, seiner Struktur, seiner möglichen Eigenschaften und Dynamiken. Das Festlegen solcher Grundannahmen bzw. von Voreinstellungen unseres Wahrnehmungsapparats ist unvermeidlich. Es ist konstitutiv mit Modellen des Gegenstands im Rahmen einer wissenschaftlichen Disziplin, eines disziplinären Paradigmas, einer Forschungstradition und einer Methodik verbunden. Solche Annahmen sind verknüpft mit der Ausrichtung der wissenschaftlichen Sichtweise - eines "psychologischen", eines "klinischen", eines "medizinischen", eines "soziologischen", eines "pädagogischen Blicks". Wir setzen uns bei der Betrachtung eines Gegenstandes eine ganz bestimmte Brille auf die Nase. Registriere ich - beispielsweise - kognitive Leistungsmerkmale, emotionale Aspekte, physiologische Parameter, Normabweichungen, Pathologien, soziales Verhalten, sprachliche Charakteristika, Selbstreflexion - oder was sonst? Derartige Aufmerksamkeitsfokussierungen sind mit Verfahren und Instrumentarien der Sondierung des Gegenstandes
12
1 Methodologische Grundlagen
gekoppelt. Die so zustande kommenden Objektmodellierungen werden - im Rahmen bestimmter Forschungsprogramme - häufig für so selbstverständlich erachtet, dass man die Tatsache ihres Vorhandenseins aus den Augen verliert, dass man die "Brille" vergisst. Bestimmte Annahmen, Sichtweisen und Schlussfolgerungen erscheinen dann "ganz zwangsläufig". Als Mitglied einer entsprechenden Wissenschaftsgemeinschaft - eines "Denkkollektivs", wie der Wissenschaftshistorlker Ludwik Fleck das genannt hat, eines "Paradigmas" in der Terminologie von Thomas Kuhn - kommt man gar nicht auf die Idee, diese Voraussetzungen zu problematisieren oder in Zweifel zu ziehen (Fleck 1935/1980; Kulm 1962/1973). Auch beim Vorliegen unvereinbarer Befunde lassen sich häufig "gute Gründe" finden, an alt vertrauten Überzeugungen festzuhalten (vgl. Breuer 1991, S. 176ff.). In den Humanwissenschaften gibt es unterschiedliche Weisen der Modellierung ihres Gegenstandes - des "Anderen". Dieser forscherseitige Konstruktionsprozess des Objekts der Aufmerksamkeit wird mitunter auch mit dem sinnfälligen Ausdruck "Othering" gekennzeichnet (vgl. Geertz 1990; Breuer 2005). 1
Begriffsklärung: Objekt - Modell - Re-/Präsentation "Jede Beschreibung von personalen Subjekten/Objekten und deren Handeln operiert auf der Grundlage eines Vokabulars von vorgängigen, vertrauten Kategorien bzw. Begriffen. Kein re-/präsentiertes Objekt und keine Handlung ist uns fraglos, naturgemäß, epistemologisch ,einfach gegeben'. Bei symbolischem Darstellungshandeln findet (in erkenntnistheoretisch ,realistischer Haltung' und vereinfacht gesprochen) ein Transfer einer ,Welt l' (Objektwelt) in eine ,Welt 2' (Symbolwelt) statt. Dabei stellt sich das Problem der sprachlichen bzw. symbolischen Fassung, der Beschreibung von Objekten - und hier gibt es prinzipiell keine Eins-zu-einsVerhältnisse. Repräsentationen, Symbolisierungen beinhalten zwangsläufig Selektion, Fokussierung und Kategorisierung von Objekt-Eigenschaften und -Dimensionen: Welche Charakteristika sind für eine Beschreibung wesentlich, interessant? Was muss eingeschlossen, was kann vernachlässigt, ausgeschlossen werden? Welches Vokabular wird für die sprachliche Darstellung gewählt? - In diesem Sinn kann eine symbolische/sprachliche Re-/Präsentation niemals die Totalität eines Objekts erfassen. In unserem Gegenstandsfeld sind prinzipiell unendlich viele Beschreibungen möglich (und potentiell interessant). Es ist sinnvoll, von einer Modellierung des Objekts zu sprechen, auf die die Re-/präsentation bzw. Beschreibung referiert; sie bezieht sich demgegenüber (nur) indirekt, über das Modell vermittelt, auf das Objekt selbst ..." (Breuer 2005, S. 58f.). 1
-------'
1.1 Menschenbild und Forschungsmethodik
1.1.1
13
Der Behaviorismus als Beispielfall nomothetischer Wissenschaft und seine Implikationen für ein Objektmodell
Eine typische und seit dem 20. Jahrhundert verbreitete humanwissenschaftliche Modellvorstellung vom menschlichen Verhalten ist in der Theorie des Behaviorismus enthalten. Dies ist eine Konzeption, die in weiten Bereichen der Psychologie geteilt wird und die auch in gewissen Spielarten anderer Disziplinen - in Erziehungswissenschaft, Medizin, Anthropologie, auch Soziologie - Anhängerschaft besitzt. Es gibt eine Reihe behavioristischer Varianten, Ausweitungen und Verfeinerungen - auf die es hier aber nicht ankommt, um das Prinzip zu verdeutlichen. Wir gehen bei unseren Überlegungen von einem weiten Begriff von Behaviorismus aus, der sich über einen Kern von Grundannahmen definieren lässt. Der wesentliche Gedanke hierbei ist der, dass der Mensch hinsichtlich seines Verhaltens zum Forschungsgegenstand gemacht wird - daher der Name dieser Richtung: "Behaviorismus" (oder "Verhaltenstheorie"). Das geschieht in einem Gefüge aus folgenden Komponenten: • Der "Stimulus", der Reiz - eine äußere (im Prinzip physikalische) Einwirkung; • der "Organismus" - eine biologische Struktur. Genau genommen muss das kein menschlicher Organismus sein, es kann sich auch um eine Ratte, einen Raben oder einen Frosch handeln; • die "Reaktion" - eine sichtbare bzw. sichtbar zu machende motorische, biochemische o. Ä. "Antwort" des Organismus, die zeitlich auf den Reiz folgt und mit diesem - auf der Grundlage von Ergebnissen experimenteller Untersuchung - kausal in Zusammenhang gebracht wird (die Rede ist dann von: "Die Reaktion ,r' wird durch den Reiz ,s' ausgelöst."); • die "Konsequenz" auf diese Reaktion aus der physikalischen oder sozialen Umwelt; diese kann die Auftretenshäufigkeit der Reaktion auf den Stimulus in zukünftigen Fällen modifizieren - fördern im Fall positiver Konsequenzen ("Belohnung", "Verstärkung"), hemmen im Fall negativer Konsequenzen ("Bestrafung"). Der Organismus wird dabei als ein Gefüge, ein Mechanismus, ein System o. Ä. betrachtet, durch dessen interne Strukturen und Funktionen der Stimulus-Input zu einem Reaktions-Output verwandelt wird. Hinsichtlich der Feststellbarkeit von Ereignissen, die als "Reiz", als "Reaktion" und als "Konsequenz" bezeichnet werden, herrschen zwei strikte methodologische Postulate, die die Möglichkeit wissenschaftlich-objektiver Erkenntnis gewährleisten sollen:
14 •
•
1 Methodologische Grundlagen
Sie müssen von einem Standpunkt externer Beobachter aus registrierbar bzw. messbar sein (bei unterschiedlichen Auffassungen und Modalitäten von "Messung"). Sie müssen von mehreren Beobachtern festgestellt werden können. Deren Übereinstimmung/Konsens gilt als positives Gütekriterium für eine Beobachtung bzw. deren Beschreibung ("Objektivität" ist durch intersubjektive Nachprüfbarkeit zu gewährleisten).
Selbst-/Beschreibungen des "Organismus" sind (hinsichtlich ihres inhaltlichreferentiellen Charakters, ihres semantischen Gehalts) für wissenschaftliche Zwecke streng genommen unbrauchbar. Dafür werden methodologische Begründungen in Anschlag gebracht: Sie sind nicht intersubjektiv kontrollierbar, da ja stets nur von einer Auskunftsstelle - eben dem "Organismus" - geschildert. Der Plural bei den Beobachtern ist insofern wesentlich, als nur solchen Feststellungen wissenschaftliche Dignität zugeschrieben wird, die von mehreren Forschern oder (geschulten) Hilfspersonen unabhängig voneinander getroffen werden (Breuer 1991). Selbstauskünfte werden ferner aus theoretischen Gründen als unzuverlässig angesehen: Die sogenannte Introspektion ist hochgradig irrtumsanfällig (vgl. die einschlägige Kontroverse zwischen Nisbett & Wilson 1977 einerseits, Ericsson & Simon 1984 andererseits; s. auch Breuer 1991a, S. 159ff.; 1995). Sprachliche Hervorbringungen des "Organismus" sind in der behavioristischen Konzeption darüber hinaus als selbstbezügliche Aussagen theoretisch insofern irrelevant, da solche Phänomene gar keinen modelltheoretischen Platz haben - sie sind gewissennaßen systemwidrig: Ein "Organismus" ist im Rahmen dieses Menschenbildes (per definitionem) nicht zu selbstreflexiver Auskunft begabt, er "reagiert" lediglich auf "Reize". In den Frühfassungen der behavioristischen Lehre wurde der Organismus als eine sogenannte Black Box gekennzeichnet: Man kann in ihr Dunkel nicht hineingucken, man muss oder will das auch gar nicht unbedingt. Das Forschungsinteresse bezieht sich vielmehr allein auf die Zusammenhänge und Relationierungen zwischen messbarem Reiz-Input einerseits und feststellbarem Reaktions-Output und kontingenten Konsequenzen andererseits. Diese Modellvorstellung steht in einem idealen Passungsverhältnis zu den Prinzipien des bedingungskontrollierten Experimentierens und der neopositivistischen Wissenschaftslehre zur nomothetischen Theoriencharakteristik (dem Logischen Empirismus, dem Kritischen Rationalismus und ihren Spielarten; vgl. Breuer 1991, S.38ff.). In der nomothetischen Auffassung, die sich vor allem in den klassischen Naturwissenschaften herausgebildet hat, geht man davon aus, dass erklärungstaugliche
1.1 Menschenbild und Forschungsmethodik
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Theorien wesentlich aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bestehen, die von räumlichen und zeitlichen Umständen unabhängig sind, gewissermaßen immer und überall gelten. Das Experiment wird in diesem Zusammenhang insofern für den Königsweg der Erkenntnis gehalten, als durch die dabei zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der systematischen Herstellung von Szenarien - Bedingungsvariation und -kontrolle - Geschehnisse auf kausale Verursachungsbedingungen hin ausgetestet werden können. Man studiert (im einfachen Fall) manipulierbare Input-Reize ("unabhängige Variablen"), die sich nach irgendeiner Systematik variieren lassen, und misst die Verhaltens-Reaktionen, die auf solche Reize bzw. ReizSerien beim Organismus herauskommen ("abhängige Variablen"). Das Ganze geschieht häufig in einem (Labor-) Setting, in dem vermeintlich alle übrigen potentiellen Einfluss-Faktoren ausgeschaltet bzw. kontrolliert werden können. In diesem operativen Rahmen bestätigen und bekräftigen sich die behavioristische, die experimentelle und die nomothetische Denkweise wechselseitig. Der legitimatorische Rückbezug dieser Methodologie auf ihre Bewährung in den Naturwissenschaften rekurriert allerdings auf die Epistemologie der Newtonschen Physik, die seit Einstein und Heisenberg (Stichworte: Relativitätstheorie, Unschärferelation) dortselbst nicht mehr die Grundlage des Wissenschaftsverständnisses darstellt. Spätere, diversifizierende und liberalisierte Versionen der behavioristischen Theoriebildung haben sich Mühe gegeben, in die Black Box "hineinzuleuchten". Das geschah und geschieht so, dass hypothetische Vorstellungen über deren Funktionsweise entwickelt werden. Diese Grundidee wird häufig auch als "kognitive Wende" bezeichnet, und sie wurde seinerzeit für einen Forschritt in der Entwicklung der Psychologie erklärt. Es wird angenommen, das Innere der Black Box sei wie ein Computer gebaut und funktioniere dementsprechend, so dass die Architektur des Zentral-/Nervensystems den Schaltkreisen und Programmstrukturen eines "Elektronengehirns" analog sei. Kognitive Funktionen lassen sich unter dieser Voraussetzung beispielsweise als sogenannte "Produktionssysteme" (als Wenn-dann-Ketten von Bedingungsabfragen und Aktionen) auf dem Computer darstellen bzw. implementieren (Anderson 1988; 1993). Die unterstellte Strukturgleichheit versucht man u. a. durch Simulation bzw. Parallelisierung von Organismus- und Maschinen-Verhalten zu belegen: Gelingt es im Experiment, auf beiden Seiten gleiche bzw. analoge Input-Output-Relationen herzustellen? Neuerdings wird die skizzierte Computermetapher durch eine neurowissenschaftlichphysiologische Modellvorstellung überlagert. Dabei werden sogenannte bildgebende Verfahren der Computertomographie (CT) oder der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) dazu benutzt, das Innere der Black Box sichtbar zu machen. Man meint, der Reizverarbeitung des Gehirns und seiner Verhaltenssteu-
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1 Methodologische Grundlagen
enmg durch Einfärben biochemischer Prozesse in bildlichen Darstellungen von Himarealen auf die Spur zu kommen (vgl. etwa Jäncke 2005). An diesen beiden Beispielen (Computermetapher und MRT-Darstellung), die für die jüngere Entwicklung der Psychologie bzw. der Humanwissenschaften kennzeichnend und von großer Bedeutung sind, wird sichtbar, dass die theoretischen Modellvorstellungen in starkem Maße durch die Verfügbarkeit technischer Verfahren und Instrumentarien geprägt sind. Diese werden - gewissermaßen "von außen" kommend - in disziplinäre Forschungsansätze importiert und methodisch inkorporiert. Aufgrund vielfältiger (Rahmen-) Bedingungen erhalten die Verfahren und Instrumente eine Bedeutung, die die Wissenschaftsdynamik über geraume Zeitdauer prägen können - bis wieder eine neue technologische Apparatur am Horizont auftaucht und damit neue Daten (-arten) hervorgebracht werden, die größeren Appeal besitzt, die teuer ist, die man sich nur in exklusiven Labors leisten kann, die in diversen Öffentlichkeiten ein Plus an Prestige mit sich bringt. Hinsichtlich solcher Art der Steuenmg wissenschaftlicher Konzeptionalisienmgen und Fokussienmgen kann man ins Grübeln kommen. Allerdings ist die Bestimmung der Forschungsmethodik durch die "geilste Technologie" weder spezifisch für den Behaviorismus noch für die Humanwissenschaften. Die Geschichte der Erkenntnisproduktion in naturwissenschaftlichen Disziplinen lässt sich gleichfalls unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung technologischer Werkzeuge beschreiben - und dieser Trend besitzt dort eine ausgebaute historische Tradition. Eine der berühmtesten Veranschaulichungen aus der Geschichte der Naturwissenschaft ist die Erfindung des Teleskops und seine Verwendung für die Himmelsbeobachtung in der Astronomie durch Galilei (vgl. Breuer 1991, S. 76ff.).
1.1.2 Die Suche nach Alternativen Seit vielen Jahren gibt es gegenstandstheoretisch fundierte Auseinandersetzungen mit dem "organismischen" Objektverständnis und Forschungskonzept in den Humanwissenschaften. In der deutschsprachigen Psychologie ist beispielsweise Klaus Holzkamp als ein exponierter Kritiker dieser Denkweise hervorgetreten. Seit den 1960er Jahren hat er sich sehr intensiv und entschieden mit der skizzierten Problematik beschäftigt und die Implikationen bedingungskontrollierter Experimentalmethodik in der Psychologie für die anthropologische Modellienmg analysiert. Diese Überlegungen besitzen auch heute noch Aktualität und bringen bestimmte Sachverhalte auf den Punkt (vgl. Holzkamp 1972).
1.1 Menschenbild und Forschungsmethodik
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1
Hintergrund: Das Konzept der Norm-Versuchsperson und ihr organismischer Charakter Die folgenden Zitate stammen aus dem Aufsatz "Verborgene anthropologische Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie" von Klaus Holzkamp (1972a; einige Passagen sind im Original kursiv): Die funktionalistische, nomothetisch ausgerichtete Experimentalpsychologie ,,[...] erforscht die Menschen nicht unter den verschiedenartigen und uneinheitlichen Bedingungen, unter denen sie tatsächlich im Alltag leben, sondern sie schafft im Experiment künstlich einheitliche Bedingungen, in die die Menschen als ,Versuchspersonen' gestellt sind." (5. 50) Sie ,,[...] geht von der Idee einer Art von ,Norm-Versuchsperson' aus [...], die sich im Experiment absolut ,verabredungsgemäß' verhält. [...] Der Zweck der experimentellen Planung und der Datenauswertung ist [...] in dem Maße als erfüllt zu betrachten, als man all das, was eine jeweils reale Vp. von der gedachten, idealen Norm-Vp. unterscheidet, ausgeschaltet oder bedingungsanalytisch isoliert hat" (5.50). Im ,,[...] Konzept der Norm-Vp. [sind] restriktive Bedingungen enthalten [...], durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich - der Möglichkeit nach - wie ,Menschen' verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden, sich wie ,Organismen' zu verhalten" (S4f.). "Das Bild vom ,organismischen Menschen' wie es - vermittelt durch das Konzept der Norm-Vp. - der funktionalistisch-experimentellen Psychologie zugrunde liegt, ist ein nach nomothetisch-methodologischen Gesichtspunkten ,gereinigtes' Gedankengebilde, wobei dieser ,Reinigung' der wirkliche, sinnliche, geschichtliche Mensch [...] zum Opfer fällt" (5. 58).
I
--------J
Humanpsychologische Untersuchungen, jedenfalls insoweit sie auf freiwilliger Teilnahme ihrer "Versuchspersonen" beruhen, zeichnen sich dadurch aus, dass das Sich-Zurücknehmen eines Probanden auf ein "organismisches Niveau", die anthropologische Regression des Reagierens-auf-diesen-einen-Reiz, Bestandteil einer sozialen Verabredung ist, die Forscher und Untersuchungspartner im Vorfeld (der Aushandlung der Teilnahme an einem Experiment) treffen. Die erzielten Ergebnisse sind mithin (zunächst) nur für Situationen gültig, die sich durch eine gleich strukturierte Bedingungscharakteristik auszeichnen - jedenfalls nicht für unreduziert-komplexe Alltagswirklichkeiten. Eine gewisse Zeit lang (etwa in den 1980er Jahren) waren viele Sozialwissenschaftler der Überzeugung, die schlichte behavioristische Gegenstandsmodellie-
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1 Methodologische Grundlagen
nmg sei an ihr konzeptuelles und historisches Ende gelangt - sie sei abgelebt und werde durch komplexere und gegenstandsadäquatere Modelle vom Menschen und seinen Lebensvollzügen ersetzt. In einer Reihe sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wurden seinerzeit beispielsweise "Handlungstheorien" und "Tätigkeitstheorien" als Alternativmodelle ausgearbeitet, in denen historische, soziale und gegenständliche Umstände und Faktoren stärker einbezogen wurden (vgl. etwa Straub & Werbik 1999). Diese waren zum Teil (auch) von Theorien und Theoretikern aus den Ländern des seinerzeit "Real Existierenden Sozialismus" geprägt und hatten mitunter eine marxistische Philosophie im Hintergrund (etwa die Konzeption der sogenannten Kulturhistorischen Schule nach Leontjew 1973; 1982; Vygotski 2002; zum Überblick vgl. KölbI2006). Nach dem Untergang und der Abwicklung des realsozialistischen Gesellschaftsmodells erfolgte auch ein disziplinärer Kehraus in den damit assoziierten Theorienwelten, der ihre Anhängerschaft stark dezimierte. Die Repräsentanten des humanwissenschaftlichen Mainstreams in der Psychologie Gedenfalls in Deutschland - aber nicht nur dort) haben die behaviorismuskritischen und alternativen Konzeptionen im wissenschaftlichen Normalbetrieb weitgehend wieder zu den Akten gelegt (vgl. Lettau & Breuer 2007). Diese sind jenseits der mehr oder weniger vitalen Pflege im "kleinen Kreis" in Deutschland (vgl. Mattes 1998; Markard 2000; Mattes & Dege 2008; http://de.wikipedia.org/ wiki/Kritische_Psychologie), in Europa (etwa Helsinki: Engeström 1987; vgl. http:// www.edu.helsinki.fi/activity/pages/chatanddwrf) oder in Nordamerika (z. B. Cole 1996; http://communication.ucsd.edu/MCA/index.html) - weithin dem Nebel des Vergessens anheim gestellt. Mitunter wurden auch gezielt und systematisch das universitäre Personal und die entsprechenden Lehr-Curricula "gesäubert". Einschlägige Traditionsbildungen auf studentischer Seite waren von ihren Zerfallszeiten zu kurzlebig, als dass sie diesen Trend hätten aufhalten können. Über die alte und nun wieder verjüngt und technologisch modernisiert aufgelebte Gegenstandsmodellierung nach behavioristischen Prinzipien wurde und wird in der Psychologie eine Brücke geschlagen zu Entwicklungen in den Neurowissenschaften, zur Biologie und Medizin. Die Wunschpartnerschaft der Psychologie mit naturwissenschaftlich-experimentellen Disziplinen und Wissenschaftsgemeinschaften wird auf diesem Weg bekräftigt und befördert. In Humanwissenschaften wie Soziologie, Ethnologie und Pädagogik hat demgegenüber stärker eine Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Perspektiven ("Cultural Turn/s") stattgefunden (vgl. zur Übersicht Bachmann-Medick 2006). Diese Ausrichtung ist mit einem Methodenverständnis verknüpft, das sich an einem hermeneutisch-interpretativen Denken orientiert. Damit sind Forschungsverfahren assoziiert, die häufig unter dem Sammelbegriff der "qualitativen Methodik"
1.2 Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung
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gefasst werden. Die universitäre Mainstream-Psychologie hat sich - aufgrund ihrer skizzierten Orientierung anderwärts - von dieser Entwicklung gegenwärtig entschieden abgekoppelt. Der Hase läuft dort in eine ganz andere Richtung.
1.2
Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung
Der humanwissenschaftliche Forschungsansatz, der hier ausführlicher präsentiert wird, unterscheidet sich in seinem Menschenbild und seiner Methodologie grundlegend von der skizzierten organismischen Vorstellung vom Gegenstand sowie der laborexperimentellen Methodik, wie sie im behavioristischen Umfeld idealerweise praktiziert wird, und ihrer Ausrichtung auf allgemeingültig-nomothetische Aussagensysteme. Wir vertreten ein kultur- und sozialwissenschaftliches Verständnis von Humanwissenschaft. Dabei wird das zentrale Forschungsobjekt - die menschliche Person in ihrer alltäglichen Lebenswelt - als ein Wesen betrachtet und modelliert, das grundsätzlich in der Lage ist, über sich selbst, über seine Verbindungen mit der gegenständlichen, sozialen und geistig-kulturellen Umwelt, über seine Weltwahrnehmungen und -deutungen, seine Lebensgeschichte, seine sozialhistorische Einbindung zu reflektieren und Auskunft zu geben - sowie diese auch mit zu gestalten. Es wird unterstellt, dass seine Welt- und Selbstwahrnehmungen für sein Handeln bedeutsam und entsprechende Selbstauskünfte (hinsichtlich ihres semantischen Gehalts) für die wissenschaftliche Erkenntnis- und Theoriebildung interessant sind. Damit ist kein finales Urteil zur Veridikalitätsproblematik von Introspektion, Selbstbeobachtung und -beschreibung bzw. "verbalen Daten" gefällt also bezüglich der Frage, ob alles stimmt, was Personen von ihrem Handeln, dessen Zustandekommen und seinen Beweggründen wahrnehmen, denken und darüber behaupten. Die subjektiven Perzeptionen und Deutungen werden jedoch nicht als irrelevante Begleitphänomene, sondern als grundsätzlich bedeutsam für ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Menschen, dessen Handeln und Erleben erachtet. Das Forschungsobjekt heißt terminologisch nicht länger "Versuchsperson", vielmehr ist nun von "Untersuchungspartnern" und "Gesprächspartnern" die Rede. Es unterscheidet sich in seiner anthropologischen Charakteristik - so die grundlegende Annahme hier - nicht prinzipiell vom Forschungssubjekt, dem Forscher bzw. der Forscherin: Auf beiden Seiten handelt es sich um leibhaftige, gefühls- und vernunftbegabte, sozialhistorisch geprägte reflexive Personen-in-ihrer-Lebenswelt - sie sind diesbezüglich strukturgleiche Wesen. Ihre Positionen als "Objekte" und "Subjekte" im humanwissenschaftlichen Erkenntnisprozess sind prinzipiell vertauschbar. Norbert Groeben und Brigitte Scheele haben diese Menschenbildan-
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1 Methodologische Grundlagen
nahme für die Psychologie - in dezidierter Kontrastierung zur oben skizzierten behavioristischen Vorstellung - mit dem Begriff des "reflexiven Subjekts" gekennzeichnet, in einem sozialwissenschaftlichen Rahmen beschrieben und dafür ein kreatives methodologisches Forschungsprogramm entwickelt (Groeben & Scheele 1977; Groeben 1986; Groeben u. a. 1988). Sie verbinden die Objektmodellierung im ersten Schritt mit einer hermeneutisch-qualitativen Methodik. Anschließend, als zweiten Schritt, schlagen sie eine Hypothesen testende Prozedur im methodologischen Standardrahmen vor. Ein weiteres Kennzeichen der hier vorgestellten Forschungskonzeption ist, dass Sachverhalte, Geschehnisse und Verläufe aus der Lebenswelt des Alltags in bestimmten "natürlichen" sozial-kulturell-historischen Kontexten im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stehen. Es geht um Themen und Probleme, die jede/n von uns betreffen oder betreffen können, in einer sozialen Welt, in die der Forscher oder die Forscherin in seiner/ihrer Eigenschaft als Person selbst beteiligt und verwickelt ist oder verwickelt sein könnte. Das impliziert auch: Nicht nur die Wissenschaftlerin kann sich Gedanken über das Thema machen, sondern dies tun auch die Mitglieder lebensweltlicher Sub-/ Kulturen, die in mehr oder weniger enger Weise mit dieser Thematik befasst, von ihr betroffen sind. Jedes sozialwissenschaftliche Untersuchungsthema besitzt vor und jenseits einer wissenschaftlichen Darstellung (mehr oder weniger ex-/implizit) auch eine Konzeptualisierung in alltagsweltlichen Vorstellungen und Denkweisen. Für Sozialwissenschaftler/innen bedeutet das: Jenseits der Mitgliedschaft in ihrer disziplinären Gemeinschaft (die durch Ansprüche strenger wissenschaftlicher Postulate und Reglemente gekennzeichnet ist) sind sie Mitglieder einer alltagsweltlichen Kultur, in der spezifische Anschauungs- und Denkweisen herrschen, in der sie bestimmte persönliche Erfahrungen gemacht haben. Sie bringen als Personen individuelle, lebensgeschichtlich geprägte Vorstellungen und Haltungen mit, bevor sie in die wissenschaftliche Thematisierung eines Problems einsteigen. Man könnte sagen: Sie sind sowohl "subjektive" als auch"wissenschaftliche" Theoretiker/innen. Zwischen der Charakteristik als Privatperson und als Wissenschaftler besteht keine seinsmäßig-kategoriale Differenz ("Wissenschaftler/innen sind auch Menschen!"). Wir können uns das eher als fließenden und unscharfen Übergang mit Überschneidungsbereichen oder im Modus von (aus der Wahmehmungspsychologie bekannten) Kippfiguren vorstellen. Humanwissenschaftliches Forschungshandeln ist nach diesem Verständnis auch Bestandteil unserer gemeinsam geteilten Lebenswelt. Der Kontakt zwischen Forscher/in und Untersuchungspartner/in findet in dieser Welt statt, ist eine Form von Interaktion in einem bestimmten sozialen Rahmen, der eine wesentliche Einflussgröße für den interpersonalen Kontakt und dessen Inszenierung darstellt - und
1.2 Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung
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damit für das, was bei wissenschaftlichen Untersuchungen an Erkenntnis zu Tage gefördert wird. Die Tatsache des interaktiven und kontextualisierten Charakters empirischer Sozialforschung wird hier nicht - wie es bei der Gestaltung experimentalpsychologischer Untersuchungssettings üblich ist - wegzublenden, zu minimieren, zu standardisieren oder auch zu ignorieren versucht. Vielmehr wird ein konträrer Blick eingenommen: Sie wird als dezidierter und programmatischer Bestandteil einer Vorgehensmethodik aufgefasst, die einerseits qualitativ und andererseits selbst-/reflexiv ist (vgl. Breuer 2003). Forschen in diesem Sinne bedeutet dann auch Thernatisierung der eigenen (Forscher-) Person, eigener themenbezüglicher Vorstellungen und Handlungsweisen, eigener Bedeutungswelten, Werthaltungen, Emotionen, Problernlagen etc. Dies bedingt, ermöglicht und erfordert spezifische Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, besondere methodische Vorkehrungen, Maßnahmen und Kompetenzen. Das wird (in Kapitel 3) noch ausführlicher zur Sprache kommen. Die "natürlichen" Lebensäußerungen von Menschen in ihren alltagsweltlichen Kontexten und Handlungszusammenhängen, auf die im Rahmen dieses Forschungsansatzes das Interesse gerichtet ist, sind soziale Handlungen, Interaktionen, Gespräche, Arbeitsvollzüge, Lebensgeschichten oder auch deren Manifestationen in hinterlassenen "Spuren" (Dokumenten, Produkten etc.). Wissenschaftliche Daten in diesem Sinne sind also nicht Hebel- oder Tastenbetätigungen an (experimentellen) Registrier-Apparaturen in einem Labor, ebenso wenig wie Ankreuzungen von Skalenpunkten in Fragebögen, Tests o. Ä. Unsere Aufmerksamkeit ist vielmehr auf lebensweltliche Hervorbringungen ausgerichtet, die für die jeweiligen Akteure, Beteiligten und Beobachter eine Bedeutung, einen Sinn besitzen. Von daher bestehen die Daten typischerweise aus Registrierungen und Sammlungen solcher Lebensäußerungen etwa im Rahmen teilnehmender Beobachtungen (meist technischer) Aufzeichnungen von Interaktionen, Gesprächen, Interviews, Arbeitshandlungen (vgl. etwa Aster 1989; Kawulich 2005) oder auch vom Forschungszweck unabhängig hervorgebrachter Produkte eigener soziokultureller Aktivität (Akten und Archive, Leserbriefe, Aushänge am schwarzen Brett, Internet-Blogs, Fotoalben, Festansprachen, Ritualvollzüge, künstlerische oder architektonische Werke bis hin zur physikalischen Abnutzung von Gegenständen, feststellbaren Gebrauchsspuren; vgl. Webb u. a. 1981). Solche Daten werden in spezifischer Weise gehandhabt - z. B. konserviert, dokumentiert, transkribiert und mit Hilfe von Regelsystemen kodiert. Von der Datencharakteristik her sowie aufgrund der interpretativen Auswertungsformen und dem Akzent auf Theoriengenerierung wird dem Forschungsansatz häufig die Bezeichnung qualitative Forschungsmethodik gegeben. Dies wird in Gegensatz zur quantitativen Methodik gestellt, womit die angesprochene naturwissenschaftlich-
1 Methodologische Grundlagen
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nomothetische Orientierung auf Experiment, Messung, Fixierung von Verhalten und physiologischen Indikatoren in metrischen Kennzahlen etc. gemeint ist. Diese Dichotomie ist wissenschaftstheoretisch allerdings schief und ungenau: Die präferierte Art der Daten und die dominante Schlussfolgerungslogik lassen sich im Prinzip unabhängig voneinander festlegen bzw. variieren. Im legeren Sprachgebrauch unter Sozialwissenschaftlem hat sich die Dichotomisierung qualitativ vs. quantitativ jedoch verbreitet und weitgehend durchgesetzt. Ein weiteres Charakteristikum dieses Denk- und Forschungsansatzes ist die Vielfalt und potentielle Verschiedenartigkeit von Sinnverleihungen und Be-/Deutungen solcher Daten (Hervorbringungen, Spuren). Die registrierten Lebensäußerungen können durchaus in unterschiedlicher Weise gedeutet und verstanden werden - und dies sowohl von den Beteiligten im jeweiligen alltagsweltlichen Kontext wie vorn analysierenden Wissenschaftler. Inkongruente Interpretationen sind mitunter für den Erkenntnisprozess produktiv: Aus dem Vergleich unterschiedlicher Verständnisse ("Lesarten") desselben Sachverhalts oder Ereignisses lässt sich häufig Gewinn ziehen. Das Prinzip des Kontrastierens von Auffassungen und Perspektiven wird in vielen Ansätzen der sozialwissenschaftlich-qualitativen Methodik zu einern heuristischen Prinzip erhoben und systematisch genutzt. Damit verbunden ist häufig die Vorstellung, dass es bei wissenschaftlicher Erkenntnis nicht auf die eine Wahrheit hinausläuft, dass vielmehr unterschiedliche Wahrheiten oder unterschiedliche Versionen von Wahrheit durchaus von Bedeutung und Interesse sein können - bzw. dass die übliche Vorstellung von Wahrheit in diesem Zusammenhang fragwürdig oder obsolet wird. Hierzu existieren jedoch innerhalb des breiten Spektrums epistemologischer Vorstellungen in der qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methodologie durchaus Meinungsverschiedenheiten und kontroverse Positionen.
1.3
Sozialwissenschaftliehe Ethnographie
Was kann ich als Sozialforscherin oder Sozialforscher tun, um Informationen über ein alltagsweltliches Handlungsfeld, eine Subkultur, einen Berufsarbeits- oder Freizeit-Kontext, Ausprägungsformen bestimmter lebensweltlicher Probleme sowie praktizierte Umgehensweisen damit, zu sammeln und zu registrieren? Das ist eine Situation und Fragestellung, mit der sozialwissenschaftlich Forschende häufig konfrontiert sind. Eine verbreitete Standardantwort darauf ist: Es wird ein Befragungsinstrurnent (Fragebogen, Interview) entworfen, durch den die Parameter und die anscheinend interessanten und wichtigen Aspekte der Thematik erfasst werden. Von einem
1.3 Sozialwissenschaftliche Ethnographie
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Hintergrund aus Forschungsliteratur, Untersuchungsvorbildern, methodischen Regelwerken und Alltagswissen ausgehend werden "Iterns" fonnuliert, die von Auskunftspersonen durch Ankreuzen zu beantworten sind. Vorgegebene Aussagen sind auf Skalen hinsichtlich Zutreffen/Zustimmung und Nicht-Zutreffen/Ablehnung einzustufen. Die Forscherin muss dabei die potentiell relevanten Aspekte und Dimensionen der Problernsituation im Vorhinein kennen, andernfalls lassen sich einschlägige Iterns nicht formulieren. Das Ganze wird per Post - oder auch per Email- an eine (möglichst repräsentative) Stichprobe von Personen verschickt, die um Bearbeitung bzw. Beantwortung gebeten werden. Oder es werden Interviewer/innen als Hilfspersonal des Forschungsprojekts beauftragt, Auskunftspersonen an bestimmten Orten anzusprechen, von Tür zu Tür zu gehen und den Fragenkatalog in stets gleicher Weise abzuarbeiten (vgl. Mayer 2008). Ein leibhaftiger und sinnlicher Kontakt der Forscherin mit dem Untersuchungsfeld, mit seinen Mitgliedern, dem Milieu und dem Geschehen dort kommt auf diese Weise nicht, nur rudimentär oder indirekt zustande. Eine derartige Methodik gilt unter Sozialwissenschaftlern dennoch als kunstgerecht; zudem wird sie für kostengünstig und effizient gehalten. Langfristiger Schaden, der in der Wahrnehmung von Befragten bezüglich ihrer "Behandlung" im Untersuchungskontakt auf diese Weise angerichtet wird, interessiert die Protagonisten einer solchen Vorgehenspraxis nicht sonderlich. Eine Forschungspraxis, die auf das Kennenlernen- und Verstehen-Wollen eines Untersuchungsfeldes sowie auf ein Ernst- und Wichtignehmen seiner Mitglieder ausgerichtet ist, sieht nach unseren Vorstellungen anders aus. Sie ist von der Idee getragen, dass der Forscher bzw. die Forscherin mit einer offenen, interessierten, rezeptiven und respektvoll-akzeptierenden Haltung nah an den Gegenstand herangeht, einen direkten interaktiven Kontakt mit den Mitgliedern des Forschungsfeldes sowie mit dem fokussierten Problemthema herstellt; unter Umständen wird er/sie über einen gewissen Zeitraum selbst Teil (-nehmer) des Untersuchungsfeldes - indern er/sie sich gewissermaßen auf das Problemthema und dessen Protagonisten als Personen "einlässt". Diese Idee und Orientierung knüpft an Forschungspraktiken der Ethnologie an, kulturell unbekannte und fremde Sozialsysteme bzw. "Stämme" aufzusuchen und sich eine Zeit lang bei ihnen aufzuhalten, mit ihnen mehr oder weniger eng zusammenzuleben - wenn es darum geht, die dort herrschenden sozial-kulturell bestimmten Denk-, Seh- und Handlungsweisen aufzuspüren, zu beschreiben und zu verstehen (vgl. Fischer 1985; Kohl 1993; Schütze 1994; Hirschauer & Amann 1997; Lüders 2000a; Hitzler 2003). Zwei grundlegend wichtige Aspekte gilt es allerdings im Rahmen dieser Unterstellung von Älmlichkeit der Forschungssituationen zu berücksichtigen:
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1 Methodologische Grundlagen
Reflexiver Umgang mit (Ego-) Zentrismus: Bei der kritischen Sichtung der Geschichte der Ethnologie (oder der Völkerkunde, wie es vormals hieß) als sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Disziplin wurde aufgedeckt, dass die Beschreibung fremder Kulturen in der Frühzeit des Fachs von einem Standpunkt aus betrieben wurde, der durch die eigenen kulturellen Vorstellungen und Normen ("eurozentrisch") geprägt war. Die Kategorien und Praxen der Zivilisation aus der Heimat des Forschers wurden als Maßstab und (Entwicklungs-) Ziel für die besuchten/beobachteten ("unzivilisierten") Gemeinwesen und ihre Mitglieder betrachtet. Dieser Sachverhalt kommt deutlich in den Blick, wenn man sich vorstellt, dass frühe völkerkundliche Berichte häufig von Missionaren stammten, die den "Wilden" bzw. den "Heiden" - ob diese wollten oder nicht - den christlichen Glauben zu bringen suchten; oder von Militärs der Kolonialmächte, die an der Eroberung und Ausbeutung von Ländern, Naturressourcen und Arbeitskraft interessiert waren. Die Sehweisen und Haltungen solcher "Ethnologen" waren naturgemäß wenig bereit für die aufmerksame und offene Wahrnehmung der angetroffenen kulturellen Formen und nicht von Wertschätzung und Respekt für "die Fremden" getragen. Die Beobachtungsperspektiven und die Beschreibungskategorien dieser Art von Sozialwissenschaft standen von vornherein fest. Die Wahrnehmungsweisen, Denksysteme und Wertrnaßstäbe der untersuchten Kultur hatten kaum Chancen, demgegenüber zur Anerkennung und Geltung zu kommen. Das Grundurteil über die dortige Kultur als "primitiv" und "minderwertig" war trnkorrigierbar - und lieferte eine Legitimationsbasis für die kolonialen Praktiken der Eroberer. Auf unseren Zusammenhang übertragen bedeutet das: Es gilt, einen derartigen apriorischen und unreflektierten (disziplinären, professionellen, soziokulturellen, norm- bzw. normalitätsbezogenen) Zentrismus zu vermeiden. Stattdessen sollen möglichst große Aufmerksamkeit, Sensibilität und Offenheit für Wahmehmungs-, Denk-, Handlungskategorien und Haltungen der Angehörigen der untersuchten Lebenswelt gewährleistet werden. Wir sind angehalten, die soziale und kulturelle Logik des Feldes gewissermaßen "von innen heraus" zu studieren und zu analysieren. Man kann sich bemühen, die dortigen sozialen Gegebenheiten mit den Augen ihrer Bewohner, der "Eingeborenen", zu sehen - etwa indem man sich die Verhältnisse und Geschehnisse von ihnen erklären lässt, wobei man sie als "vernünftig" unterstellt, indern man in einer verfügbaren und passenden Mitgliedschaftsrolle am Leben dort teilnimmt, sich einer (partiellen) Nachsozialisation unterzieht und versucht, mit ihrer WeItsicht vertraut zu werden. Dies ist allerdings eine ideale, in der Praxis schwer realisierbare Forderung, und man gerät beim Versuch ihrer Einlösung bald an die Grenzen eigener Handlungsmöglichkeiten. Die Forscherin hat eigene soziale Verpflichtungen in ihrer persönli(1)
1.3 Sozialwissenschaftliche Ethnographie
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chen Lebenswelt: Die Familie wartet zu Hause, ihr Stipendium besitzt eine eng begrenzte Laufzeit etc. Zum anderen können ethische Probleme auftreten: Was "darf man" als Forscher/in beim alltagsweltlichen Mittun in einem Forschungsfeld und was verbietet sich? Schließlich geraten die epistemologischen Grundlagen von Wissenschaft in Gefahr: Die Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit, die verwendeten Begriffe und Konzepte werden auf diese Weise mitunter fragwürdig und relativ, abhängig von Standpunkt, Wahrnehmungshintergrund, Vokabular bzw. Sprachsystem des jeweiligen Erkenntnissubjekts. In der Debatte der ethnologischen Methodologie und Methoden, die in den 1990er Jahren zu dieser Problematik geführt wurde, kam es zu einer produktiven Verunsicherung: Die Anerkenntnis der Sprachgebundenheit jeder Erkenntnis provozierte einen sogenannten Linguistic bzw. Textual Turn, die Beschäftigung mit der Subjektgeprägtheit einen sogenannten Reflexive Turn der Kulturwissenschaften und trug zum kollektiven Bewusstsein einer Krise der Repräsentation bei (vgl. Geertz 1990; Fuchs & Berg 1993; Bachmann-Medick 2006, S. 33ft.; Linska 2006). Die kulturellen Phänomene begegnen uns in der Wissenschaft stets in zeichengebundensymbolischer Form und in Darstellungen aus einer sozial-historisch geprägten Perspektive. Diese existieren in einer sich wandelnden und nicht abschließbaren Vielfalt. Und es gibt keine zwingenden epistemologischen Gründe, einen bestimmten Repräsentationsmodus gegenüber anderen zu privilegieren - unterschiedliche Sehweisen und Beschreibungen sind möglich und potentiell bedeutsam.
(2) Methodische Befremdung der "Welt von nebenan"; Als Sozialwissenschaftler/innen, die wir uns beruflich nicht mit Themen und Problemen in fernen und exotischen Kulturen, sondern mit Alltagswelten des eigenen soziokulturellen Raums - mit dem Leben "gleich um die Ecke" - beschäftigen, sind wir in der Regel nicht mit (für uns) derart unvertraut-diskrepanten Phänomenen befasst, wie es beim "klassischen" Ethnologen, seinen abgelegenen Weltgegenden und exotischen Völkern, der Fall ist. Dieser ist häufig mit einem handfesten, nicht zu übersehenden Anderssein der Menschen und Verhältnisse im Forschungsfeld konfrontiert. Für ihn stellen sich oftmals Fragen, die seine Person und sein Leben in existenzieller Weise betreffen und berühren: Persönliche und moralische Integrität, Gesundheit, Leib und Leben können durch einen Feldaufenthalt in Gefahr geraten. In dieser Hinsicht hat es der Forscher des hier fokussierten Forschungstyps bequemer: Das Feld ist nicht so fremdartig und nicht derart weit weg - die Speisen und Getränke sind für seinen Magen überwiegend bekömmlich, die Leute im Feld reden in einer einigermaßen vertrauten Sprache, man kann nachts zumeist im eigenen Bett schlafen. Andererseits verleitet uns diese vermeintliche Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft dazu, vorschnell die Gleichheit von Denk- und Wahr-
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1 Methodologische Grundlagen
nehmungsschemata, Konzepten, Werthaltungen, Relevanzsystemen auf Seiten des Subjekts und des Objekts zu unterstellen und für mögliche Differenzen und Abweichungsnuancen nicht ausreichend sensibel und aufmerksam zu sein. Erschwerend kann hinzu kommen, dass wir die uns (anscheinend) vertrauten Dinge für so selbstverständlich halten, dass uns ihr (sozialer, kultureller, kognitiver) Voraussetzungsgehalt, ihre spezifische kontextuelle Gemachtheit, gar nicht auffällt und nicht zum Bewusstsein kommt (vgl. Honer 1989). Wenn wir uns als Sozialwissenschaftlerinnen bestimmten sozialen Feldern bzw. spezifischen alltagsweltlichen Problemthemen unserer eigenen Sozialkultur zuwenden, so können und müssen wir davon ausgehen, dass wir selbst - als mit Lebenserfahrung ausgestatte Mitglieder der gleichen (Groß-) Kultur - mit einem bestimmtem Vorwissen an dieses Thema herangehen: Wir hatten schon vorher selbst damit zu tun, wir haben darüber von anderen etwas gehört, wir haben dazu eine Meinung und Haltung, wir haben (Vor-) Urteile. Als Grenzgänger zwischen den Positionen, als "Person der Alltagswelt" und als "Person der Forschungswelt", ist es notwendig, uns dieses Vorwissens - wir nennen das verallgemeinernd Präkonzept - im Zusammenhang mit dem Forschungsvorgehen möglichst intensiv und genau zu vergewissern: Ich beschäftige mich selbst-/reflexiv mit meinen Voreinstellungen, Erwartungen, Perspektiven etc., um ihnen im Forschungszusammenhang nicht blind aufzusitzen, um mit ihnen in meinem Handeln einigermaßen souverän umgehen zu können. Meine Präkonzepte enthalten möglicherweise aber auch theoretische Komponenten und Bausteine, die sich im Laufe des Erkenntnisprozesses als hilfreiche und nützliche Ideen für die Theoriebildung erweisen können.
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Hintergrund: Präkonzepte - apriorische Strukturen (in) der Erkenntnis In den erkenntnistheoretischen Debatten der Moderne ist man ziemlich einhellig der Ansicht, dass wir ohne sogenannte apriorische (d. h. zeitlich vor einer spezifischen Erfahrung angesiedelte) Konzepte und Vorstellungen gar nicht und gar nichts erkennen und denken können. Analoges sagt uns auch die Wahrnehmungspsychologie: Ohne vorgängige kognitive Strukturen (Selektionsverfahren, Ordnungsgesichtspunkte etc.) lässt sich aus dem chaotischen Angebot unserer neuronalen Erregungen keine gestaltete und bedeutungshaltige Wahrnehmung herausfiltern und konfigurieren. Eine Tabula rasa-Theorie der Erkenntnis (die Idee, wir seien bzw. unsere epistemische Struktur sei beim Wahrnehmen vollkommen voraussetzungsfrei, gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt) erscheint unplausibel. Wir müssen immer schon irgendetwas "wissen" bzw. über gewisse Wahrneh-
1.3 Sozialwissenschaftliche Ethnographie
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mungsstrukturen verfügen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Stets sind vorgängige Kategorien und Vorverständnisse wirksam, wenn wir uns wahrnehmend, denkend, handelnd einern bestimmten Weltausschnitt zuwenden. Bezogen auf wissenschaftliches Erkennen bedeutet das: Präkonzeptfreie Erkenntnis ist prinzipiell nicht möglich. In der hermeneutischen Epistemologie (Genaueres dazu in Kapitel 2) spielt die Idee des unabdingbaren Vorverständnisses jeder unserer Erkenntnisakte eine grundlegende Rolle - sie sind prinzipiell vorurteilsbehaftet. Angelica Tratter (1993, S. 101) spricht - unter Bezug auf einen Gedankengang Gadamers - von einer Rehabilitation des Vorurteilsbegriffs im Rahmen der hermeneutischen Verstehensauffassung: "Vorurteile als solche behindern noch nicht das Verstehen, sie bilden, im Gegenteil, als revidierbare Vorverständnisse die positive Voraussetzung jedes Verstehens. [...] Die Aufgabe des elaborierten hermeneutischen Verstehens besteht [...] darin, nicht nur den avisierten ,Gegenstand', sondern auch das jeweilige Vorverständnis in den Auslegungsprozess hineinzunehmen." Präkonzepte spielen nicht nur im Bereich unseres Verstehens, Wissens und unserer kognitiven Strukturen eine Rolle. Vielmehr sind solche Muster auch in Emotionen und Werthaltungen eingeschrieben, in denselben Teig geknetet. Phänomene (Dinge, Sachverhalte, Ereignisse) lösen nicht nur gedankliche Assoziationen, sondern auch bestimmte Gefühlsreaktionen und Haltungen aus. Sie werden hinsichtlich gewisser Maßstäbe beurteilt. Diese sind häufig noch schwerer reflexiv zu bemerken, zu explizieren und zu relativieren, als das bei kognitiven Konzepten der Fall ist.
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Unsere Forschungsmethodologie geht nun davon aus, dass es aufgrund der Überlagerung und Verquickung alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Gegenstandskonstruktionen grundsätzlich notwendig und sinnvoll ist, sich mit den forschereigenen Vorverständnissen, Haltungen, Affekten in Bezug auf ein Thema zu beschäftigen, sie als eigene Erkenntnisvoraussetzungen so gut es geht zu explizieren und zu reflektieren (dazu Genaueres in Kapitel 3). Eine solche Offenlegung und Reflexion eigener Präkonzepte erfüllt zwei wichtige Funktionen: • Eine mentalhygienische Funktion: Als Forschende/r versuche ich, mir so gut es geht Klarheit darüber zu verschaffen, in welcher Weise meine wissenschaftlichen Denkweisen und Haltungen von gesellschaftlichen, sozialen, sub-/kulturellen, persönlichen, lebensgeschichtlich gefärbten Vorstellungen und Annahmen geprägt sind. Ich fokussiere meine Präkonzepte - die sich zuvor häufig in großen Teilen nur implizit und verdeckt in meinem Denkhintergrund auf-
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1 Methodologische Grundlagen
gehalten haben. Ich kann nun für meine wissenschaftliche Arbeit einige Teile davon reflektiert übernehmen, andere vorübergehend "einklammern", andere verwerfen etc. Solange diese Präkonzepte dagegen implizit-hintergründig und mir nicht bewusst sind, kann ich mich ihnen gegenüber nicht rational und souverän verhalten. Damit sie in diesem Sinn verfügbar sind, muss ich sie aufgedeckt, (mir) offengelegt und zugänglich haben. Eine gegenstandsbezogen-heuristische Funktion: Alltagsweltliche Konzeptualisierungen besitzen Potenzen und Potentialitäten für wissenschaftliche Theoriebildung. Als Angehörige und Akteure einer Lebenswelt gewinnen wir Erfahrungen und bilden Annahmen über diese Welt, ihre Regelhaftigkeiten und Funktionsweisen. Diese Vorstellung verbindet sich mit der Idee des Expertentums von Akteuren und Betroffenen in Bezug auf ihr Feld: "Experten in eigener Sache" (vgl. Rappaport u. a. 1984; Rappaport 1995; Stark 1996). Die Explikation und Systematisierung dieser subjektiven Sichtweisen kann bei wissenschaftlichen Untersuchungen u. U. nützliche Funktionen erfüllen. Man kann sie als Heuristik, als Quelle der Ideenproduktion, als Inspiration für die wissenschaftliche Theoriebildung ausnutzen. So enthalten die explizierten Präkonzepte der Wissenschaftlerin, die aus ihren eigenen alltagsweltlichen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit dem Thema/problem stammen, möglicherweise interessante Elemente, Hinweise und Strukturen, die für die Entwicklung und Ausarbeitung von Theorien nützlich sein können.
Es bedarf einer möglichst guten Kenntnis und freien Verfügbarkeit eigener Perspektiven und Konzepte, die Bedeutung für die Gegenstandserforschung besitzen, um sie als die eigene Wahrnehmung beeinflussend registrieren und betrachten zu können. Es geht darum, mit ihnen (möglichst) bewusst und flexibel umzugehen. Ein gewisses Maß an "Entselbstverständlichung", an Verfremdung und Anzweifelung des Gewohnten, der vertrauten Schemata, des üblicherweise als selbstverständlich Erscheinenden ist in diesem Zusammenhang nötig. Eine Betrachtung des (vermeintlich) Normalen mit "fremden Augen" kann es ermöglichen, für die Entdeckung konstitutiver Bedeutungsaspekte sozialer Welten offen und empfänglich zu sein. Man kann das als reflektierte Offenheit bezeichnen. Mitunter ist in der Literatur auch von einer "phänomenologischen Einstellung", von "freischwebender Aufmerksamkeit" des Feldbeobachters/-teilnehmers oder auch von"verfremdender naturalistischer Betrachtungsweise" (Schütze 1994, S. 232) die Rede, wenn diese Erkenntnishaltung gemeint ist.
1.4 Der Forschende und sein Feld
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Begriffsklärung: Reflektierte Offenheit Qualitativ-sozialwissenschaftliche Forschung operiert häufig mit dem Postulat der Offenheit (vgl. etwa Kleining 2001): Es soll ohne vorfixierte Konzeptualisierungen bzw. Hypothesen an die Untersuchung eines Gegenstandes herangegangen werden. "Absolute Offenheit" im Sinne einer Tabula rasa-Voraussetzung kann allerdings vemünftigerweise dabei nicht gemeint sein, da gewisse Vorverständnisse prinzipiell unhintergehbar sind. Es kann also (lediglich) um so etwas wie "relative" und "reflektierte Offenheit" gehen. Wir können uns als Handelnde, Erkennende, Forschende darum bemühen, unsere Präkonzepte möglichst bewusst, reflexiv, selbst-/kritisch und flexibel zu handhaben, wir können sie in unsere Forschungsmethodologie und -praxis einbeziehen. Das Offenheitspostulat bezieht sich in diesem Sinn auf ein aufmerksames und überlegtes Umgehen mit den eigenen Erkenntnisvoraussetzungen, auf ein achtsames Registrieren ihrer Auswirkungen auf die eigenen Erlebnisse und Anschauungen sowie auf den eigenen "Reizwert" und dessen Auslösungen im Untersuchungskontakt (vgl. Punkt 3.4 unten). Ideen und Praktiken des vorübergehenden "Einklammerns" und "Suspendierens" von Vorwissen, Haltungen, Wertmaßstäben etc. im Untersuchungsprozess können unter Umständen daraufhin zur Anwendung kommen. Auf diese Weise schaffen wir Voraussetzungen dafür, konzeptuell-theoretisch offener und sensibler an unseren Forschungsgegenstand und die damit gemachten empirischen Erfahrungen heranzugehen. Wir haben es hier jedoch stets mit Grenzgängen am Rande der eigenen Selbstreflexion und Selbsteinsichtsfähigkeit zu tun. Als Forschender ist man in dieselben Interaktionen verflochten, die man untersucht ("ethnographische Unschärferelation"; Schütze 1994, S. 233). In diesem Zusammenhang kann die Unterstützung und Rückmeldung durch Andere hilfreich sein - etwa durch Mitforscher oder im Rahmen einer Forschungssupervision (vgl. Punkt 3.5.3 unten).
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1.4
Der Forschende und sein Feld
Die methodologische Orientierung, die wir hier vorstellen, wird häufig mit den Begriffen der sozialwissenschajtlichen Ethnographie oder der Lebensweltanalyse bezeichnet (vgl. Agar 1980; Werner & Schoepfle 1987; Schütze 1994; Honer 2000; Lüders 2000). Dabei stehen einerseits Verfahren und Techniken des "Eintauchens", der Teilnahme des Forschers am Geschehen in seinem Untersuchungsfeld im Mit-
1 Methodologische Grundlagen
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telpunkt - Anwesenheit, Erleben, partielles Mittun, Interagieren und Kommunizieren dort. Andererseits geht es um wissenschaftliches Beobachten, Aufzeichnen, Reflektieren und Verstehen. Es handelt sich mithin um zweierlei Operationen, wobei die eine empathische und engagierte Nähe zum Feldgeschehen, die andere eine reflektierende Distanznahme beinhaltet bzw. verlangt. Das Grundprinzip - und auch das Grundproblem - bei einem solchen Vorgehen ist deren Verhältnis: Die Balancierung, der Umgang mit dem Doppelgängertum - dem Eintauchen ins Feld, der einfühlenden Verbindung zu seinen Mitgliedern und deren Perspektiven einerseits sowie dem Heraustreten, dem Sich-Distanzieren davon, dem analytischen Blick darauf andererseits (vgl. Sutterlüty & Imbusch 2008). Gerade die Oszillation, das Hin und Her sowie die Relationierung zwischen diesen beiden Positionen und Haltungen sind das Lebenselixier - und die Kunst - ethnographischer Erkenntnisproduktion.
1.4.1
Rollen und Relationen im Forschungsfeld
Der Feldaufenthalt einer Forscherin oder eines Forschers kann in vielgestaltigen Formen und Rollenkonstellationen abgewickelt werden. Es können unterschiedliche Autoritäts- und Patronageverhältnisse herrschen, der Forscher kann sich mehr oder weniger intensiv auf die Feldverhältnisse und Feldmitglieder einlassen (vgl. Casse1l1980; Nadig 1998), die Forscherin kann sich als Person (mit ihren Haltungen, Neigungen etc.) mehr oder weniger zu erkennen geben (vgl. etwa Schmitt 2008). Der Forschungsaufenthalt kann insgeheim bzw. verdeckt stattfinden; die Forschende möchte dann in ihrer Rolle und Intention unerkannt bleiben, sie agiert gewissermaßen als Spionin und in "Tarnkleidung". Die einschlägigen Handlungsmöglichkeiten sind dabei von Zwängen des (Sich-) Verbergens und VersteIlens geprägt. Wir wenden uns hier jedoch ausschließlich solchen Varianten der Teilnahme zu, bei denen den Feldmitgliedern gegenüber die Forscherrolle eines "interessierten Beobachters" offen gelegt und transparent gemacht wird. Wenn ich mich als Forschender für eine gewisse Zeit in einem Untersuchungsfeld aufhalten möchte, muss ich dort eine passende, für dessen Mitglieder akzeptable sowie für Informationsgewinnungszwecke geeignete soziale Position finden z. B. als Gast-auf-Besuch, als Praktikant, als Neuling/Novize, als Mitglied einer Evaluationsagentur. Als Forschender positioniere ich mich und ich werde positioniert; ich beobachte und werde beobachtet. Die Feldmitglieder nehmen mir gegenüber eine komplementäre oder symmetrische Rolle ein: Sie stellen mich z. B. anderen Mitgliedern als harmlos und lernwillig vor, unterziehen mich einem Unterweisungs- oder Sozialisationsprozess, verhalten sich mir gegenüber zurückhaltend,
1.4 Der Forschende und sein Feld
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misstrauisch, konkurrierend oder Grenzen austestend. Je nach dem kann ich dort herumhängen, meiner Neugierde nachgehen und kann meine Nase in alle möglichen Dinge und Vorgänge stecken, mich einlassen, heraushalten oder abgrenzen, mich mehr oder weniger frei bewegen. Ich kann Aufzeichnungen über meine Erlebnisse machen, meine Eindrücke in Beobachtungsprotokollen festhalten. Ich kann eventuell mit Tonband oder Videokamera herumstreifen und technische Dokumente über das Geschehen bzw. bestimmte Ereignisse im Feld herstellen. Ich kann mich mit den Mitgliedern des Feldes über ihre Lebenserfahrungen und Sichtweisen unterhalten - beiläufig im Zusammenhang mit alltagsweltlichen Kontakten und Verrichtungen, bei gemeinsamen Aktivitäten. Ich kann mich mit ausgewählten Feldmitgliedern zu einem geplanten und vorbereiteten Gespräch (einem "Interview") verabreden (vgl. Kapitel 2.3.5.2). Ich kann Dokumente sammeln, die das Feld von sich aus hervorgebracht hat (Akten, Korrespondenzen, Selbstdarstellungen, Internetseiten etc.). Daten dieser Art kann ich als Feldforscher erheben, dokumentieren, analysieren bzw. auswerten. Entscheidungen darüber, welche Varianten in einem spezifischen Forschungsrahmen geeignet sind und welche gewählt werden sollen, hängen von mannigfachen Bedingungen und Möglichkeiten auf Seiten des Untersuchungsfeldes sowie auf Seiten der Forschenden ab. Meine Untersuchungspartner/innen können mir in diesem Zusammenhang mehr oder weniger "offen" begegnen. Sie reagieren auf meine Person und Anwesenheit sowie auf meine Interessenfokussierung und Aufzeichnungsaktivitäten. Sie können Dinge zeigen oder verstecken, mich auf etwas hinlenken oder auch gerade daran vorbei. Sie können mir beibringen, wie die Dinge in ihrer Welt beschaffen sind, wie sie kategorisiert und bezeichnet werden, was dort wichtig und unwichtig, "in" oder "out", "cool" oder "peinlich" ist, was in ihrem Kontext gutes und schlechtes Benehmen heißt, was erwartbar, regulär und was unwahrscheinlich oder irregulär ist. Und ich kann versuchen zu lernen, die Dinge durch ihre Brille zu sehen und mich in ihrer Welt einigermaßen sicher und kompetent zu bewegen. Ich kann versuchen herauszufinden, wer mir gegenüber offen oder zugeknöpft, freundlich oder feindselig agiert und was an Bedingungen, Gründen oder Motiven dahinter steckt. Unter Umständen entwickeln sich Freundschaften und Abneigungen. Alle diese Reaktionen und Interaktionen können zu meinem Wissen über die Charakteristika des untersuchten Gegenstands und des Untersuchungsfelds sowie zu meinen diesbezüglichen Affekten und Haltungen beitragen. In den Lehrbüchern wird das Problem des sogenannten Going Native (mitunter auch als "Verkafferung" bezeichnet) besprochen. Ganz überwiegend wird dort vor dieser Tendenz gewarnt. Der Forscher soll nicht dicht und nah mit den Mitgliedern seines Untersuchungsfeldes fraternisieren, sich nicht so intensiv-empathisch auf deren Perspektiven einlassen, so dass er seine "kritische Distanz", seinen "objekti-
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1 Methodologische Grundlagen
ven" Standpunkt und Überblick als wissenschaftlicher Beobachter verliert - dass er sich beispielsweise von bestimmten Beteiligtenfraktionen für deren Zwecke vereinnahmen und einsparmen lässt, oder dass er - wenn es ihm im Feld gut gefällt und er gar nicht mehr heraus möchte - seine Wissenschaftlerrolle an den Nagel hängt. Diese beschworene Gefahr scheint mir allerdings geringer zu sein als jene, dass es einem Forscher gar nicht erst gelingt, tiefer ins Feld "einzutauchen" und dort dichte Beziehungen aufzubauen und zu gestalten. Feldmitglieder behalten in der Regel sehr wohl im Bewusstsein, dass sie es bei dem Forschenden nicht mit einem der Ihren zu tun haben, der ihnen auf Dauer erhalten bleibt, dem sie vorbehaltlos vertrauen können - vielmehr mit einem Angehörigen einer anderen sozialen Welt, dem gegenüber Vorsicht am Platze ist und der sich nach gewisser Zeit wieder aus dem Kontakt und der Szenerie zurückziehen wird.
1.4.2 Der Eintritt ins ForschungsfeZd Der Eintritt einer Beobachterin ins Feld ist ein bedeutsamer und informativer Schritt im Forschungsprozess (vgl. Schatzman & Strauss 1973, S. 18ff.; Burgess 1984, S. 31ff.; Lau & Wolff 1983; Wolff 2000): Auf welchem Wege und auf welche Weise gelangt sie dorthin? Wie, über wessen Vermittlung und Empfehlung und in welcher Rolle kommt sie mit den Mitgliedern in Kontakt? Jedes Forschungsfeld hat eigene Voraussetzungen und Regelwerke, ob bzw. wie ein neugieriger Nicht-Dazugehöriger eingelassen wird und welche Bedingungen dabei erfüllt werden müssen. Entsprechende Umstände und Abläufe stellen nicht allein Voraussetzungen zur Datenerhebung dar, vielmehr liefern sie selbst schon bedeutsame Erkenntnisse, beispielsweise über die im Feld herrschenden Zutritts- und VertraulichkeitsReglemente, Öffentlichkeits-Vorbehalte, das Ziehen und die Un-/Durchlässigkeit von Grenzen zwischen Insidern und Outsidern. Möchte ich beispielsweise eine Subkultur alter Menschen studieren, werden diese einen deutlich jüngeren Forscher naturgemäß nicht als einen der Ihren ansehen. Konkrete Umgangserfahrungen mit der Forscherperson haben sie nicht, und so reagieren sie entsprechend ihrer sozialen Stereotype. Sie werden sich vielleicht freuen, dass "die Jugend" Interesse an ihnen, ihren Problemen und Sichtweisen zeigt. Möglicherweise reagieren sie jedoch auch misstrauisch, was denn da auf sie zukommt, was "die Leute von der Universität" von ihnen wollen. Sie könnten den Forscher der Generation ihrer Kinder oder Enkel zuordnen, ein groß-/väterliches oder -mütterliches Verhältnis zu ihm entwickeln und ihn in ihr Vertrauen ziehen. Eventuell sind sie dankbar für Hilfestellungen, soziale Zuwendung, die Bereitschaft zum Zuhören. Sie können es aber auch als ungebührliche Grenzüberschrei-
1.4 Der Forschende und sein Feld
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tung empfinden, dass sich jemand, der ihnen sozial gar nicht nahe steht, in ihre persönlich-familiären Belange einmischen will - und so können sie abweisend reagieren (zur Entwicklung einer Forschungsbeziehung mit alten Menschen vgl. Rowles 1983). Wenn ich eine teilnehmende Beobachtung in einer Institution - z. B. einer staatlichen Schule - machen möchte, brauche ich in der Regel die Zutrittsgenehmigung des "übergeordneten Kontextes" und der Beteiligtengruppen - z. B. der Schulbehörde und/oder des Direktors, des Lehrerkollegiums, eventuell der Eltern der Schulkinder. Im Repertoire solcher Einrichtungen gibt es einschlägige bürokratische Reglemente und etablierte Rollen für legitime Besucher bzw. Interessenten. Bei teilnehmenden Beobachtungen in pädagogischen Kontexten ergeben sich häufig kontextuell bedingte "erzieherische" Verpflichtungen (z. B. im Verhältnis von Erwachsenen gegenüber Kindern oder Jugendlichen), zu denen Beobachter eine Position einnehmen müssen (vgl. Schoneville u. a. 2006). Wenn ich eine Feldstudie bei der Polizei vorhabe und auf dem Weg "von oben" (über die Direktion, die Vorgesetzten) ins Feld - z. B. in das Team eines Kommissariats - hineingekommen bin, werden mir die dortigen Akteure eventuell ihre informellen Dienstpraktiken nicht vorbehaltlos aufdecken; bzw. sie werden mir diese allenfalls dann zeigen, wenn ich mich in bestimmten"Testsituationen" als in ihrem Bezugssystem zuverlässig und vertrauenswürdig erwiesen habe (vgl. Reichertz 1992; Ricken 1992; Behr 2002). Wenn ich eine arbeitspsychologische Studie in einern Unternehmen durchführen möchte, wird es für meine Untersuchungsmöglichkeiten einen Unterschied machen, ob meine Einführung ins Feld über die Mitarbeitervertretung oder über die Unternehmensleitung verläuft. Es macht für den Forschenden einen Unterschied, ob er es mit einern hierarchiehohen oder mit einern hierarchieniederen Gesprächspartner zu tun hat (pointiert: Handelt es sich bei einern Kontakt mit einem ranghohen Feldmitglied um ein "Interview" oder um eine "Audienz"? Vgl. Warneken & Wittel 1997). Die Feldmitglieder präsentieren sich dabei stets von einer bestimmten Seite, die durch die komplementären Positionen in diesem Rollenverhältnis sowie diesbezüglichen Statusaushandlungen beeinflusst ist. Wenn die Unterbringung von Menschen in Lagern für Migranten und Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt in der BRD untersucht wird, verdeutlichen die Un-/Möglichkeiten und Wege des Feldzugangs eines Sozialforschers bereits Wesentliches über die Situation der dort Eingeschlossenen (vgl. Pieper 2008). In der Fachliteratur wird die interessante Figur des Gatekeepers (Türhüters) besprochen. Das ist eine Sch1üsselperson aus dem Untersuchungsfeld, die dem Forscher den Zutritt dort ermöglicht, bahnt und gestaltet, die ihn "an die Hand nimmt" und ihn einführt bzw. mit bestimmten Akteuren bekannt macht, die ihm unverständliche Dinge erklärt, ihm eine bestimmte Sicht-der-Dinge vermittelt. Dies
1 Methodologische Grundlagen
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sind häufig Personen, die in der Lage, bereit und interessiert sind, sich in unterschiedlichen Kommunikationssystemen, Sprach- und Denkwelten zu bewegen. Sie besitzen ihre eigenen Standpunkte und Motive, die die Zugangs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Forschenden sowie dessen im Feld einnehmbaren Rollen beeinflussen. Sie zeichnen sich durch eigene "sozialen Gerüche" aus, die Kontaktaufnahmen mit unterschiedlichen Feldmitgliedern erleichtern oder erschweren.
1.4.3
Der Wandel der Forscherrolle im Laufe der Zeit
Zu Anfang des Forschungsaufenthaltes im Feld hilft es einer jungen Forscherin häufig, wenn sie sich unwissend und harmlos, aber höflich, interessiert und lernbereit präsentiert ("inkompetent, aber akzeptabel"; vgl. Lofland 1979). Sie gibt sich in die Position der Aufzuklärenden und Auszubildenden - und häufig finden sich im Feld Personen, die die (komplementäre) Rolle eines Erfahrenen und Unterweisenden gern übernehmen. Im Laufe der Zeit muss eine Forscherin jedoch auch bestimmte Lernerfolge vorweisen, eine eigene Meinung entwickeln, u. U. einen Standpunkt einnehmen, um glaubwürdig zu bleiben. Die Position des teilnehmenden Forschers wandelt sich mit der Dauer des Feldaufenthalts (Heeg 1996). Er gerät in sozial differenzierten oder konflikthaften Kontexten mitunter in die Verlegenheit, zur Parteinahme für die einen und gegen die anderen aufgefordert zu werden. In einer solchen Situation kann er einerseits Informationen über die dortigen sozialen Verhältnisse und Fraktionierungen gewinnen - andererseits bekommt er möglicherweise Probleme der angemessenen Balancierung zwischen eigenen Werthaltungen, persönlicher Offenheit und Wahrung der Kommunikationsmöglichkeiten mit unterschiedlichen (auch interessendivergenten) Akteuren im Feld. Die Handlungsweisen der Akteure sind grundsätzlich informativ - als Forscher/in muss ich sie allerdings lesen, verstehen, interpretieren können. "Fehler" sind häufig unvermeidlich; für den Forscher stellen die sozialen Reaktionsweisen der Feldmitglieder aber grundsätzlich Lerngelegenheiten dar: Er kann die Fehler unter Umständen reparieren, er kann es beim nächsten Mal besser machen - er kann jedoch auch seinen sozialen Kredit im Feld verlieren und von Informationszugängen abgeschnitten werden. Feldforschung kann zu einem komplizierten und quasi politischen Austarierungsspiel aus "Checks and Balances" von Interessen und Einflussmöglichkeiten werden. Das Verlassen des Feldes nach Beendigung einer Untersuchung ist ebenfalls ein interessanter Schritt des Forschungsprozesses - wird in der Methodenliteratur aber seltener behandelt. Die Abschluss- und Verabschiedungsphase ist informativ bezüglich der Feldmitglieder (Reaktionsmuster wie Kontaktwahrungsambition, Be-
1.4 Der Forschende und sein Feld
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dauern, Erleichterung, Enttäuschung etc.} und bezüglich der Forschenden (Un-/ Dankbarkeit, Einhaltung von Verpflichtungen und Versprechen, kommunikative Rückvermittlung von Forschungsergebnissen o. Ä.). Hier ist ein breites und vielschichtiges Spektrum zwischen abrupter Kontaktbeendigung und Sich-nie-wiederblicken-lassen bis zur überdauernden Verbundenheit, Anteilnahme, Unterstützung o. Ä. möglich (vgl. etwa Maines u. a. 1980; Whyte 1984, S. 193ff.).
I Illustration: Das Bemühen um Störungs-Vermeidung in "Kitchen Stories" Die Person des Forschers als Bedingungs- und Einflussfaktor im Forschungskontext wird in den Sozial- und Humanwissenschaften überwiegend als zu eliminierende Stör- und Fehlerquelle betrachtet. Daher wird versucht, die Rolle des Forschers (der Forscherin; des Versuchsleiters, der Versuchsleiterin) a-personal zu gestalten, ihm/ihr gewissermaßen eine Tarnkappe aufzusetzen, die ihn/sie (als Mitakteur und/oder als Person) unsichtbar macht. Dass ein solches Vorgehen nicht wie gewünscht funktioniert, wird uns auf amüsante Weise in dem norwegischen Spielfilm "Kitchen Stories" (2003; Regie: Bent Harner; s. http://www.arsenalfilm.de/kitchen/) vorgeführt: "In den 50er Jahren hält in Schweden der Fortschritt Einzug: ausgiebige Untersuchungen des nationalen Forschungsinstituts für Heim und Haushalt haben die durchschnittlichen Wegstrecken evaluiert, die eine Hausfrau tagtäglich für ihre Küchenarbeiten zurücklegen muss, welche sich in einem Jahr auf die Entfernung von Schweden bis zum Kongo addieren. Durch die Optimierung der Küchenstruktur konnte diese Gesarntwegstrecke bereits auf die Distanz bis nach Norditalien verkürzt werden, und angeheizt von solch phänomenalen Forschungserfolgen hat man jetzt eine in der Küche wesentlich unbedarftere Zielgruppe im Auge: Den männlichen Junggesellen. Und so macht sich ein Beobachtungskommando mit Wohnwagen und Hochsitz auf in einen kleinen Ort in Norwegen, wo sich einige Probanden gefunden haben, die sich für einige Wochen bei ihren Küchenarbeiten über die Schulter schauen lassen wollen. Die Regeln sind hart: Auf dem eigens entworfenen Hochsitz in der Küche zeichnet der staatliche Beobachter jeden Schritt seines Probanden akribisch nach, doch Interaktion ist strengstens untersagt. Keine Hilfestellung, kein Gespräch, kein persönlicher Kontakt. Da hat man in der Praxis manchmal seine liebe Not, vor allem wenn man wie der pedantische Folke als Beobachtungssubjekt den sturen alten Isaak zugewiesen bekommt. Der hat nämlich gar keinen Bock mehr auf die Untersuchung, macht zuerst noch nicht mal die Tür auf und sabotiert die Aufzeichnungen anschließend, wo er nur kann. Da wird das
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1 Methodologische Grundlagen
Essen darm eben auf dem Gaskocher im Schlafzimmer zubereitet, und durch ein Loch in der Decke macht er den Beobachter kurzerhand zum Beobachteten. [...]" Das Eis zwischen Isaak und Folke beginnt dann langsam zu schmelzen, ,,[...] und zwischen den beiden entwickelt sich eine besondere Freundschaft, die gleichzeitig auch die Absurdität der ursprünglichen Beobachtungsaufgabe unterstreicht und sogar ein kleines bisschen Rebellion gegen das System darstellt - das sich allerdings ohnehin schon von innen selbst sabotiert und nie wirklich funktioniert hat, wie die Nebenhandlung um Folkes Kollegen und Vorgesetzte zeigt" (http: //www.filmszene.de/kino/k/kitchen.html).
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Weiterführende Information: "Partizipative Sozialjorschung" In der sozialwissenschaftlichen Methodologie gibt es eine Familie von Varianten des Engagements des Forschenden in seinem Feld, die auf zielorientierte Veränderungen abheben und als Aletionsforschung, Handlungsforschung, Praxisforschung oder in jüngerer Zeit auch mit den Begriffen der partizipativen Methodik oder des kogenerativen Dialogs gekennzeichnet werden. Dabei werden die Problemperspektiven der Feldmitglieder, die aktionalen und interaktiven Anteile und Effekte der Forscheranwesenheit im Untersuchungsfeld in eine dialogische Strategie von Wissensproduktion mit gleichzeitiger praktischer Intervention eingebaut. Dies geschieht unter der programmatischen Voraussetzung, dass Zielsetzungen und Strategien mit den Mitgliedern des Feldes (typischerweise den von einer untersuchungsthematischen Problem1age Betroffenen) gemeinschaftlich-kooperativ entwickelt, festgelegt, realisiert und reflektiert werden. Von Seiten der Sozialwissenschaft wird dabei der Intention nachgegangen, über die Produktion wissenschaftlicher Theorien und Texte hinaus sozial-gesellschaftliche Praxiswirkung zu entfalten. Die Grundidee ist es, durch eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Betroffenen und Praktikern Kenntnisse über ein soziales System zu entwickeln und es durch gemeinsames bzw. abgestimmtes Handeln gleichzeitig zu beeinflussen (zu "verbessern"). Diese Beeinflussung und deren Nachhaltigkeit werden wesentlich durch einen Kompetenzzuwachs der Feldmitglieder aus der Kooperation mit den Wissenschaftlern erreicht ("Empowerment"). Die Entstehung dieser Forschungskonzeption ist mit dem Namen Kurt Lewin verbunden - einem deutsch-jüdischen Sozialpsychologen, der auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigriert war. Er kombinierte in einer gruppendynamischen Rahmenkonzeption die Erforschung sozialer Systeme mit deren reformerischer Veränderung (vgl. Lewin 1948).
1.4 Der Forschende und sein Feld
37
Derartige Projekte sind zumeist von gesellschaftstheoretisch-politischen Werthaltungen und Ansprüchen begleitet oder getragen. In Deutschland gab es in den 1970er Jahren eine starke (politisch linksorientierte) Bewegung von Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die die Aktions- bzw. Handlungsforschung mit gesellschaftskritischer Attitüde und unter der Zielidee verfolgte, die Kontrolle über die Verwendung und Verwertung ihrer Erkenntnisse nicht aus der Hand zu geben, deren interessenbezogenem und politischem Missbauch zu begegnen und auf diese Weise Forschung sowohl praktischer wie gesellschaftlich-emanzipatorischer Relevanz zustande zu bringen. Dabei wurde allerdings eine Vielzahl von Schwierigkeiten des Ansatzes offenbar. Sein Universalitätsanspruch erwies sich als überzogen, die Idee wurde mit großen Erwartungen überfrachtet - und es kam zwangsläufig zu Enttäuschungen bezüglich ihrer begrenzen Anwendbarkeit. Die sozialen Differenzen von Wissenschaftlern und Feldmitgliedern und die Aushandlung ihrer jeweiligen Haltungen, Interessen und Intentionen stellten sich als schwierig heraus: Wer hat das Sagen in dieser Konstellation? Wessen Ziele dominieren? Wie ist ein gleichberechtigter Diskurs zwischen den Beteiligen möglich? Die Anhängerschaft der Aktionsforschung ist in der deutschsprachigen Sozialforschung seit den 1990er Jahren - auch mit dem Niedergang linksorientierter politischer Bewegungen in der Wissenschaft - stark dezimiert. Sie ist aus dem sozialwissenschaftlichen Methodenkanon in den Lehrbüchern weitgehend verschwunden. Im internationalen Rahmen - etwa im angloamerikanischen Sprachraum, wo das Vorgehen zumeist weniger politisch-ideologisch aufgeladen und stärker pragmatisch ausgerichtet ist - spielt der Ansatz dagegen immer noch eine wichtige Rolle (vgl. Kemmis & McTaggart 2000; Reason & Bradbury 2002; Stringer 2007) und wird auch hinsichtlich der Anschlussfähigkeit bzw. Integrierbarkeit mit der Grounded Theory-Methodik hoffnungsvoll diskutiert (Dick 2007). Zudem erscheint der Grundgedanke der ausgehandelten Beteiligung von Forschern und Feldmitgliedern (Partizipation, Dialog, Empowerment) in bestimmten sozialwissenschaftlichen Feldern gegenstandsangemessen und ausbaufähig - hinsichtlich der Berücksichtigung von Menschenbildannalunen (der hier besprochenen Vorstellung von "reflexiven Subjekten" als Untersuchungsobjekten), hinsichtlich einer Konzeptualisierung der Forschungssituation in ihrer interaktiven Charakteristik sowie bezüglich der Möglichkeit, die "lebensweltliche Expertise", die Feldmitglieder in ihren Problemsituationen entwickelt haben, zu nutzen, (veränderungs-) praktisch an diese anzuknüpfen sowie auch die selbstbezügliche Reflexionskompetenz von Feldmitgliedern kooperativ zu entwickeln (vgl. Doggaz 1996). Beispiele produktiver Verknüpfungen mit diesem Methodenansatz zeigen sich in Projekten im Bildungs- und Sozialbereich (vgl. Moser 1995; 2003; Tobin & Roth 2006; Roth 2006), in der Gemeindepsychologie (vgl. Bergold 2000; Bergold & Se-
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1 Methodologische Grundlagen
ckinger 2007), in der Public Health-Forschung (vgl. von Unger u. a. 2007) oder in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Blackburn & Holland 1998; Brendel 2002).
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Die Voreinstellungen, Wahrnehrnungen und Interaktionserfahrungen der Feldmitglieder prägen ihr Bild von der Forscherin - und sie bestimmen, ob und in welcher Weise sie mit ihr Kontakt aufnehmen und halten (wollen), wie sie sich ihr gegenüber präsentieren, was sie ihr von sich (nicht) zeigen mögen, was sie sich von diesem Kontakt versprechen etc. Man muss davon ausgehen, dass die Anwesenheit einer Beobachterin das Feld nicht unberührt lässt, sondern verändert: Die dortigen Akteure präsentieren oder verstecken, sie inszenieren sich, sie verfolgen ihre Strategien, spannen die Forscherin für ihre Belange ein und lassen sich für deren Interessen einspannen. Dem Beobachter wird sich ein Feld niemals so darbieten, wie es ohne seine Anwesenheit ausgesehen hätte. Sein Dazukommen stellt grundsätzlich eine Intervention, eine "Störung" der dortigen Verhältnisse und Verläufe, der Handlungs- und Erlebensweisen dar. Anstatt sich der Illusion der Unsichtbarkeit und Nichtbeeinflussung hinzugeben, scheint es uns sinnvoller herauszufinden, wie und auf welche Art sich das Feld durch das Dortsein des Forschenden verändert. Es bedarf eines entwickelten interpersonalen Einfühlungsvermögens, einer Wahrnehmungsfähigkeit für subtile kommunikative Prozesse sowie einer auf die eigene Person bezogenen Aufmerksamkeit, um die Resonanzen des Forschers in seinem Untersuchungsfeld sowie die Resonanzen des Forschungskontakts am Körper des Forschers registrieren und - mit aller gebotenen Vorsicht - interpretieren und nutzen zu können. Einen konstruktiven und erkenntnisproduktiven Umgang mit dem hier vorgeschlagenen untersuchungsmethodischen Vorgehen zu lehren und zu lernen, ist per Lehrbuch und Hochschulseminar kaum möglich (vgl. Breuer & Schreier 2007; Hesse-Biber 2007). In vieler Hinsicht hängt eine kompetente Forschungspraxis mit alltagsweltlichen sozialen Fähigkeiten zusammen, deren Grundlagen eine Person lebensgeschichtlich bereits entwickelt hat, bevor sie die Wissenschaftierlaufbahn einschlägt - beispielsweise hinsichtlich sozialer Sensibilität, Offenheit des Wahrnehmungshorizonts, Flexibilität des interaktiven Handlungsrepertoires, Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit, Kenntnis der eigenen Grenzen etc. Man kann naturgemäß auch an diesen Fähigkeiten und Fertigkeiten arbeiten, sie fortentwickeln und entfalten. Wie man das im Rahmen des hier präsentierten sozialwissenschaftlichen Forschungsstils tun und wie dieser Grundgedanke forschungspraktisch umgesetzt werden kann, wird im Kapitel 3 ausführlicher besprochen.
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
2.1
Einführung
Die Grounded Theory-Methodik (im Folgenden abgekürzt: GTM) ist ein Verfahren sozialwissenschaftlicher Hermeneutik - der Lehre vom Verstehen, Deuten, Auslegen von Texten und anderen sozialweltlichen Artefakten und Symbolisierungen. Auf der Basis von Erfahrungsdaten aus alltagsweltlichen Kontexten werden - von einer vorläufigen Problematisierungsperspektive ausgehend - theoretische Konzepte und Modellierungen entwickelt und dabei fortwährend rekursiv an die Erfahrungsebene zurückgebunden. Die entsprechende Theorie eines sozialen Weltausschnitts bzw. eines Problemthemas wird "gegenstandsgegründet" herausgearbeitet ("grounded"). Die Methodik ist für eine Rahmung und Anleitung von Untersuchungen subkultureller Felder, "kleiner sozialer Welten" und der Probleme und Sichtweisen ihrer Mitglieder mithilfe interaktiver Teilnahme der Forschenden - so wie wir sie im Kapitell skizziert haben - gut geeignet (vgl. Breuer 1996). Bei den Daten, mit denen dieser methodische Ansatz operiert, handelt es sich um vorgefundene oder im Forschungskontakt gemeinsam-interaktiv hervorgebrachte Produkte aus konkreten Handlungsfeldern und spezifischen Sub-/Kulturen (Felddokumente, teilnehmende Beobachtungen, Gespräche/Interviews). Die Datenerhebungsinteraktion zwischen Forscher und Untersuchungspartner findet in der Regel (geographisch und sozial) nicht im Territorium des Forschers (seinem Experimentalraum, Laboratorium o. Ä.) sondern in der Umgebung bzw. im Milieu des Untersuchungspartners statt. Man kann von einer "Geh-Charakteristik" des Forschungskontakts sprechen - im Unterschied zu einer "Komm-Charakteristik" der Laborwissenschaft. Im Rahmen der GTM wird auf Wahrnehmungssensibilitäten, Deutungskompetenzen und sprachlichen Fähigkeiten des Wissenschaftlers aufgebaut, die er in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen erworben hat. Diese sozialen und kognitiven Praktiken werden in bestimmter Weise expliziert, systematisiert, elaboriert sowie einer selbst-/kritischen Hinterfragung bzw. Absicherung unterzogen. Dies geschieht sinnvoller Weise in Austausch und Kooperation mit Koforschenden oder "gleichgesinnten" Forschungskollegen. Darüber hinaus kann dies auch in der re-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
flexiven Interaktion mit den Forschungspartnerinnen und -partnern erfolgen, so dass ein wechselseitig stimulierter und stimulierender Lern- und Entwicklungsprozess möglich wird, der sich an Konzepte von Praxis- und partizipativer Forschung anschließen lässt (s. Kapitel 1.4.3). In den Sozialwissenschaften unterschiedlicher Fachdisziplinen hat die GTM in den letzten Jahren zunehmend Prominenz, Anhängerschaft und Popularität gewonnen. Die Psychologie steht hier allerdings merkwürdig beiseite. Begründet wurde die Methodik in der Zusammenarbeit der beiden Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss in den 1960er Jahren (vgl. Glaser & Strauss 1967; deutsch 1998) im Rahmen der Untersuchung von Interaktionsprozessen in medizinischen und psychiatrischen Kliniken, im Umgang mit Schmerz, chronischer Krankheit, Sterben und deren Verlaufsdynamiken. Von da aus hat sie sich zu einem flexiblen Repertoire sozialwissenschaftlicher Forschungsverfahren entwickelt (Glaser 1978; Strauss 1987/1991; Strauss & Corbin 1990/1996; vgl. die kritische Übersicht bei Mey & Mruck 2007). Viele Forschende berufen sich - auch bei recht unterschiedlichen Vorgehensweisen sowie bei nur rudimentärer Befolgung des Regelwerks - auf diesen Ansatz. Unter den Begründern der Methode hat es seit den 1990er Jahren Auseinandersetzungen um den "richtigen Weg" gegeben (vgl. Glaser 1992). In der Debatte wurden methodologische Differenzen fokussiert, die in der Frühzeit der Entwicklung des GTM-Ansatzes (im Zusammenhang mit den Vorgeschichten der wissenschaftlichen Sozialisation der beiden Gründungsväter) rückblickend bereits angelegt erscheinen, zunächst aber im Hintergrund blieben und keine offensichtliche Rolle spielten (vgl. Kapitel 2.9 unten). Wir selbst vertreten dieser Konzeption gegenüber eine methodologisch flexible Haltung und glauben uns dabei im Rahmen der "großzügigen" Auffassung des späten Anselm Strauss zu bewegen (vgl. Strauss in Legewie & Schervier-Legewie 2004). Unser Forschungskonzept zeichnet sich durch gewisse Akzentuierungen und Erweiterungen aus, die den selbstbezüglichen Charakter des Erkenntnisprozesses hervorheben - wie wir sie im Kapitell für die interaktive Charakteristik der Forschungssituation bereits beschrieben haben und im Fortgang dieses Textes speziell in Kapitel 3 - noch vertiefen. Wir benutzen in diesem Zusammenhang den Ausdruck Forschungsstil, um die subjekt- bzw. autorseitig geprägte Arbeitsweise zu betonen. Sozialwissenschaftliches Forschen zeichnet sich nicht durch eine universale monolithische Methodologie, sondern durch eine Vielfalt von Erkenntnisvarianten aus, die mit Wissenschaftlerpersonen und -gruppierungen, kulturellen und instrumentellen Denkund Handlungsweisen verbunden sind. Solche Forschungsstile nehmen jeweils unterschiedliche Eigenschaften des Forschungsgegenstands ins Visier, beleuchten
2.1 Einführung
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verschiedene seiner Charakteristika. In dieser Hinsicht unterscheidet sich wissenschaftliches Herangehen nicht grundsätzlich vom künstlerischen: Fotografie, Malerei und Literatur, Realismus, Expressionismus und Impressionismus verweisen uns auf je besondere Merkmals-, Wahrnehmungs- und Deutungsebenen. 1
Hintergrund: Grounded Theory-Essentials Auf die Frage, was er als "Essentials" der GTM ansehe, antwortete Anselm Strauss in einem Gespräch mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie (2004) folgendermaßen: "Zunächst einmal meine ich, Grounded Theory ist weniger eine Methode oder ein Set von Methoden, sondern eine Methodologie und ein Stil, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken. [...] [58] Wenn ich nun sagen sollte, was zentral ist, würde ich drei Punkte hervorheben: Erstens die Art des Kodierens. Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen. Das Zweite ist das theoretische Sampling. Ich habe immer wieder diese Leute in Chicago und sonst wo getroffen, die Berge von Interviews und Felddaten erhoben hatten und erst hinterher darüber nachdachten, was man mit den Daten machen sollte. Ich habe sehr früh begriffen, dass es darauf ankommt, schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviewpartner nahe legen. Und das Dritte sind die Vergleiche, die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen. Wenn diese Elemente zusammenkommen, hat man die Methodologie. [59]
Wie die Leute allerdings damit umgehen, hängt natürlich von ihren Bedürfnissen ab. [...] [60] Ich halte den Stil der Grounded Theory für sehr variabel. [...] Man muss die Methodologie an die Fragestellungen und die Randbedingungen anpassen. [ ] [62] [ ] Wenn die genannten drei Essentials beachtet werden, ist es Grounded Theory, wenn nicht, ist es etwas anderes. Aber wenn jemand sich trotzdem auf die Grounded Theory beruft, kann ich es auch nicht verhindern [64].
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In der sozialwissenschaftlichen Literatur gibt es eine Reihe von Darstellungen des Grounded Theory-Ansatzes - auf den Ebenen zwischen Wissenschaftstheorie, Me-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
thodologie und konkreter Vorgehensmethodik. Wenn man sich den Forschungsstil als Novize oder Novizin für ein eigenes Projekt aneignen möchte, wird man um das Einführungsbuch von Strauss und Corbin (deutsch 1996) nicht herum kommen. Das Methodenbuch von Strauss (deutsch 1991) ist in vielerlei Hinsicht anschaulicher und interessanter - aber auch weniger gut sortiert und durchgliedert. An deutschsprachigen Sekundärdarstellungen für Einsteiger, die neben dem vorliegenden Text mit Gewinn ergänzend und erweiternd gelesen werden können, halte ich für empfehlenswert: Mey & Mruck (2007) sowie Mey & Mruck (2009). Als englischsprachiger Überblick zu Entwicklung, Vorgehensweisen und Problematiken der GTM ist das umfangreiche und umfassende Sammelwerk von Bryant & Charmaz (2007) herauszuheben.
2.2
Sozialwissenschaftliehe Methodologien: "Erklären" und "Verstehen"
Unter den zentralen Zielsetzungen von Wissenschaft werden in den Lehrbüchern der Wissenschaftstheorie und Forschungsmethodik Erklären und Verstehen genannt und unterschieden. Die beiden Begriffe spielen in Bezug auf Differenzen zwischen verschiedenen Konzeptionen von Wissenschaft bzw. in wissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle - so bei der oben angesprochenen Unterscheidung der Methodiken von Natur- und Geistes-/Kulturwissenschaften. Bei der Darstellung dieser Problematik findet sich häufig der Philosoph und Psychologe Wilhelm Dilthey (1833 bis 1911) zitiert, der am Ende des 19. Jahrhunderts den unsterblichen Satz formulierte: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" (1894/1957, S. 143) - und damit für ein geisteswissenschaftliches Verständnis der Psychologie plädierte. Unter dieser Orientierung wurden im Laufe der Psychologiegeschichte eine Vielzahl von Theorieansätzen und Forschungstraditionen entwickelt (vgl. etwa Holzkamp 1972a; Graumann 1977; Lück 1996). Heutzutage dominieren - wie bereits erläutert - die naturwissenschaftlichen und die somatologischen Auffassungen in Verbindung mit einer nomothetischen Methodologie die Disziplin: Wie die Naturwissenschaften soll nach dieser Vorstellung auch die Psychologie mit Theorien operieren, die (idealer Weise) aus allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten bestehen und (labor-) experimenteller Prüfung zugänglich sind. Auf deren Grundlage können dann - so die Idee und der Anspruch Aussagensysteme zur Erklärung und Vorhersage empirischer Ereignisse und Sachverhalte gebaut werden. Dabei spielt die logische Figur der Deduktion eine zentrale Rolle. Allerdings ist der dieser Weltentrennung zugrunde liegende sogenannte Methodendualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften umstritten. Die
2.2 "Erklären" und "Verstehen"
43
Angemessenheit dieser Annahme wird in der wissenschaftstheoretischen Diskussion bezweifelt - speziell, wenn sie in einer konfrontativen Gegenüberstellung von sogenannten "quantitativen" und "qualitativen" Methoden daherkommt. So wird, diese Dichotomie umdeutend, mitunter von "rekonstruktiven" und "hypothesenprüfenden" Methodiken gesprochen, und es werden Modelle ihrer Integration entwickelt (vgl. etwa Schreier & Fielding 2001; Kelle 2007).
2.2.1 Wissenschaftliches Erklären Das verbreitet akzeptierte Modell der (natur-) wissenschaftlichen (Ereignis-) Erklärung ist in der Wissenschaftslehre des Kritischen Rationalismus ausgearbeitet worden (Popper 2005; vgl. Böhm u. a. 2002; zur Transponierung in die Sozialwissenschaften: Prim & Tilmann 2000). Ein Ereignis oder einen Sachverhalt zu erklären, heißt danach: Einen Satz, der das Ereignis bzw. den Sachverhalt beschreibt (das Explanandum), logisch abzuleiten, zu deduzieren - und zwar aus (mindestens) einem allgemeinen (deterministischen) Gesetz und (mindestens) einer formulierten Antezedens-/Ausgangs-/Randbedingung (die zusammengenommen als Explanans bezeichnet werden). Ein leitender Gesichtspunkt ist dabei die Erlangung von Erkenntnisgewissheit. Es wurde ein Verfahren gesucht, das einer (Warum-) Erklärung empirischer Phänomene Beweiskraft verleiht. Das in der Wissenschaftstheorie diesbezüglich bevorzugte Instrument heißt deduktiv-nomologische Ereignis-Erklärung und besteht aus einem logischen Modell, in dem ein Explanandum mit einem Explanans durch einen Deduktionsschluss verbunden wird (das sogenannte Subsumtionsmodell oder auch Hempel-Cppenheim-Schema; vgl. Breuer 1991, S. 149ff.). Ein intellektuell schlichtes Beispiel: Die "Erklärung" (oder "Prognose") der Tatsache, dass der Mensch namens "Jedermann" sterblich ist (gestorben ist, sterben wird) (= Explanandum) wird in dem Modell aus dem allgemeinen Satz (der "Hypothese" bzw. "Theorie") "Alle Menschen sind sterblich" sowie der Randbedingung ",Jedermann' ist ein Mensch" (die gemeinsam den Explanans-Teil des Arguments bilden) abgeleitet. Sofern die Behauptungen im Explanans (die Prämissen) wahr sind, ist die gezogene Schlussfolgerung (das Explanandum) mit Gewissheit wahr - dem hier verwendeten Verfahren der logischen Deduktion kommt Beweiskraft zu. Diese Denkweise bringt eine Reihe von Problemen mit sich, wenn sie auf sozialwissenschaftliche Sachverhalte bzw. Ereignisse angewandt wird - so vor allem: • Dort haben wir es so gut wie nie mit strikten deterministischen (HundertProzent-) Gesetzen (sogenannten "Allaussagen") zu tun, sondern mit probabi-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
listischen Zusammenhangsbehauptungen - mit statistischen Gesetzen, die Ausnahmen und Abweichungen zulassen. Das führt zu logischen Fragwürdigkeiten, wenn diese Gesetze zur Erklärung von Einzelfällen (einzelnen Ereignissen bzw. Sachverhalten) herangezogen werden. Statistische Gesetze besagen etwas über Merkmale von Grundgesamtheiten, sie lassen sich jedoch nicht auf individuelle Ereignisse beziehen. Die Übertragung der deduktiv-nomologischen Vorstellung auf Einzelfall-Erklärungen oder -Prognosen ist logisch zweifelhaft, zumindest unsicher - die Beweis-Charakteristik der Schlussfolgerungen geht dabei jedenfalls verloren. In den Sozialwissenschaften haben wir es bei Situationen jenseits von Laborexperimenten in aller Regel mit Bedingungskonstellationen zu tun, die sich in der Praxis nicht mehr zureichend in Form einer handhabbaren Zahl von relevanten Gesetzen und Antezedens-/Randbedingungen darstellen lassen. Alltagsweltliche Realität besitzt einen Grad an Komplexität und Unübersichtlichkeit ihrer Faktoren, der die Grenzen praktikabler Erklärungsmodellierungen nach dem Subsumtionsmodell übersteigt. Dem Versuch, im Bereich menschlichen HandeIns, Meinens, Wollens, Fühlens etc. Naturgesetze aufzustellen, kommt die Ebene des Sinns und der Be-fDeutung dazwischen: Wahrnehmungsperspektiven und Interpretationen lassen sich als für die Human- und Sozialwissenschaften konstitutiv unterstellen, sind jedoch im naturwissenschaftlichen Erklärungsmodell nicht angemessen zu konzeptualisieren.
2.2.2 Wissenschaftliches und alltagsweltliches Verstehen und Deutensozialwissenschaftliche Hermeneutik Die zweite Methodologievariante der wissenschaftlichen Wirklichkeitserschließung ist die des Verstehens oder der Hermeneutik. Bei diesem Verfahren geht es ebenfalls um das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, nun jedoch weniger um zwingende logische Ableitungen, sondern um das Einordnen von Sinneinheiten (Handlungen, Gesprächsäußerungen, Texten) in einen umgreifenden Bedeutungshorizont, ihr Verständlich- und Nachvollziehbarmachen innerhalb eines gegebenen bzw. unterstellten Interpretationsrahmens. Hinter den Begriffen "Verstehen" und "Hermeneutik" stecken unterschiedliche Traditionen, Verfahren und Erkenntnismethoden. Es gibt einschlägige Konzepte in einer ganzen Reihe von Theorien und wissenschaftlichen Disziplinen (zum Überblick vgl. etwa Gadamer & Boehm 1978; zum sozialwissenschaftlichen Spektrum: Bühl 1972; Kleining 1995; HitzIer & Honer 1997; Kurt 2004).
2.2 "Erklären" und "Verstehen"
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Der Begriff "Verstehen" besitzt eine Vielzahl von Bedeutungen - in alltagssprachlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen. Es lassen sich beispielsweise Formen des "existentialen Verstehens" anführen, eines alltagsweltlichen Mitfühlens ("Empathie") zwischen Personen auf verschiedenen Ebenen: von reflexartigen Analog-Reaktionen (Tränenfluss beim Anschauen anrührender Liebesszenen im Film), über emotionale Empathie ("Ich weiß genau, wie du Dich jetzt fühlst"), Geschmacks-Empathie (interpersonales Teilen von Vorlieben und Praktiken des soziokulturellen Habitus), Gedankenwelt-Empathie (sich im gleichen ästhetischen, literarischen o. Ä. Kosmos bewegen) bis zum empathischen Gleichklang in religiös-transzendentalen Sphären (gemeinschaftliches Erleben von Erweckungs- oder Bekehrungserlebnissen, in spiritistischen Seancen etc.). In alltagsweltlichen Begegnungen"verstehen" wir die Ausdruckshandlungen unserer Interaktionspartner ("Fremdverstehen"): Eine Person X, die ich auf der anderen Straßenseite sehe, winkt mit der Hand; ich bin mit dieser Person bekannt, ich interpretiere ihr Winken als "Grüßen" und "grüße" in einer verbalen oder nichtverbalen konventionellen Form zurück. Wir müssen die Bedeutung, den Sinn von Gesten, Zeichen, Sprechakten verstehen, die an uns adressiert werden. Verwechseln wir "Grüßen" mit "Drohen" (oder umgekehrt), kann das zu folgenreichen Verwicklungen ("Missverständnissen") führen. Wir wollen die Intentionen, Motive und auch die Hintergedanken eines Mitmenschen, der uns gegenüber in dieser oder jener Weise handelt, "richtig" entschlüsseln. Beim interpersonalen Verstehen werden bestimmte gemeinsam geteilte anthropologische Zugehörigkeiten bzw. Ähnlichkeiten, soziokulturelle Vorerfahrungen und lebensweltliche Situiertheiten, die Übereinstimmung von Relevanzsystemen sowie die Vertauschbarkeit von Standpunkten bzw. Perspektiven vorausgesetzt. Unsere Deutungen sind zudem zeitlich gebunden und wandelbar ("Damals hat er mich getäuscht und ich bin ihm auf den Leim gegangen! Heute weiß ich besser, dass er ..."). Der Ausdruck "Verstehen" wird ferner im Zusammenhang von SymbolArtefakten, speziell in Bezug auf Texte und Bilder, verwendet. Ich kann ein Straßenverkehrszeichen verstehen, ich kann die Bedienungsanleitung meines neuen Telefons verstehen, ich kann einen schwierigen englischsprachigen Text verstehen, ich kann ein bei Ausgrabungen gefundenes Kulturobjekt aus der Zeit vor Christi Geburt verstehen ... - Im Zusammenhang mit solchen Aussagen wird deutlich, dass es beim "Verstehen" auf das Vorhandensein eines bestimmten Hintergrundwissens des Interpretanten ankommt. Dieses versetzt ihn erst in die Lage, im Kontext einer Interpretationsgemeinschaft einem bestimmten Symbol (einem artifiziellen Objekt, einem Text o. Ä.) eine Bedeutung - beispielsweise im Sinne eines Herstellens von Verbindungen zu i.Tbergeordnetem, Allgemeinem oder Idealtypi-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
schem - zu verleihen. Das Symbolobjekt bewahrt stets einen Überschuss an Bedeutung/en über die jeweilige Interpretation hinaus, es ist - perspektivenbedingt auch anders lesbar. Verstehens- bzw. Deutungsprozesse bleiben dauerhaft vorläufig und revidierbar. Es wird zwischen einern "Verstehen erster Ordnung" und einem "Verstehen zweiter Ordnung" unterschieden. Ersteres bezieht sich auf den Vollzug alltagsweltlicher Deutungshandlungen; letzteres auf die Metaebene, das "Verstehen des Verstehens", die Reflexion seiner Voraussetzungen und Abläufe. Das ist die Domäne der Verstehensbemühungen in Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und entsprechender "hermeneutischer Methoden" (vgl. Kurt 2004, S. 47ff.) - expliziter Verfahrensweisen, mit deren Hilfe Syrnbolartefakte in einer bestimmten Weise interpretiert werden, wobei dieser Deutungsprozess selbst-/reflexiv gestaltet wird. Der Grundgedanke der Konzepts reflexiven Verstehens lässt sich auch mit der Metapher des SpurenIesens illustrieren: Dabei werden lebensweltliche Manifestationen und Produkte eines (zeitlich zurückliegenden) HandeIns von Menschen vorgefunden bzw. beobachtet, und ein Interpretant bemüht sich darum, die Bedeutung, den Sinn der hinterlassenen Handlungsspuren zu entschlüsseln. Es kann sich beispielsweise um einen einschlägig erfahrenen Indianer handeln, der aus den Abdrücken von Pferdehufen im Boden den Geschehenszeitpunkt, die Geschwindigkeit, das Alter sowie die freundliche oder feindliche Absicht des Reiters ablesen kann; oder um eine Kriminalkommissarin, die die Spuren am Tatort hinsichtlich der Umstände des Verbrechens sowie des Täterprofils zu erschließen vermag. Eine historisch frühe Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, des methodisch angeleiteten Bedeutungsentschlüsseins, ist in den Textwissenschaften entstanden - v. a. in der Theologie. Hier ging und geht es darum, den Sinn der heiligen Schriften zu verstehen, Gottes oder der Propheten Botschaften "richtig" auszulegen. In der juristischen Hermeneutik wird versucht, Gesetzestexte in angemessener Weise zur Einordnung und zum Verständnis spezifischer Sachverhalte, Handlungen oder Ereignisse in einem definierten Rechtsrahmen anzuwenden. In der kunstwissenschaftlichen Hermeneutik bemüht man sich, den Inhalt und die Gestaltung künstlerischer Artefakte bezüglich der sinnlichen Ebenen, der historisch-kulturellen Sehgewohnheiten und Bedeutungsauffassungen, der ästhetischen Konzepte der Zeit sowie der aktuellen Diskurse in der Kunst auszuleuchten. Auch Archäologinnen arbeiten mit einern hermeneutischen Erkenntniszugang: Sie bemühen sich, die Schöpfer, die Bedeutung, die Funktion etc. ihrer Fundstücke im Kontext einer Kultur bzw. ihres Wissens und ihrer Theorien über diese Kultur aufzuklären - etwa durch Einordnung in den zeitgeschichtlichen Hintergrund, durch Vergleich mit bereits gefundenen Artefakten und deren Interpretationen.
2.2 "Erklären" und "Verstehen"
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Hermeneutik wird mitunter als "Kunst der Auslegung" bezeichnet. Die KunstCharakteristik weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um einen trivialen oder algorithrnischen Vorgang handelt. Vielmehr spielen kreativ-schöpferische Komponenten eine Rolle: Der Theologe Ratzinger deutet Bibeltexte möglicherweise anders als der Theologe Drewermann, der Staatsanwalt Dalheimer interpretiert das Handeln des Angeklagten hinsichtlich seiner rechtlichen Charakteristik anders als der Verteidiger Bossi. Die Maßstäbe der logischen Eindeutigkeit und des Beweisens, die dem oben skizzierten Subsumtionsmodell des Erklärens zugrunde liegen, können hier nicht greifen. So entstehen mancherlei Unsicherheiten: Wenn eine bestimmte Deutung (eines Ereignisses, einer Handlung, eines Satzes, eines Sprechakts, eines Textes) nicht als gültig und wahr bewiesen werden kann, können auch andere Deutungen richtig sein bzw. mit guten Gründen Geltung beanspruchen! Und genau so ist es: Hermeneutisches Interpretieren beinhaltet kein "Feststellen", sondern ein "Entwerfen" von Sinn (Tratter 1993, S. 102). Sinnbildung ist ein "offener Prozess", der nicht zu zwingenden Ergebnissen führt und der niemals vollständig abgeschlossen ist (vgl. Eco 1990). Bei verschiedenen Standpunkten, Vorerfahrungen und Wissenshintergründen kann es zu unterschiedlichen objektbezogenen Auffassungen und Verständnissen kommen. Im Lichte neuer (Hintergrund-) Kenntnisse werden bisher vermeintlich "verstandene" Phänomene mitunter erneut zum Rätsel oder erfahren eine ganz neue Interpretation - Deutungen können sich im Laufe der Zeit wandeln. "Finale Deutungen" können nur durch "Basta!"Entscheidungen oder durch Gewaltausübung zustande kommen. Fortdauernde Hinterfragungsbereitschaft, Neugier und Offenheit des Wahrnehrnens und Denkens der Interpretanten sind in diesem Zusammenhang wichtige persönliche Voraussetzungen.
I Begriffsklärung: Hermeneutik als Haltung "Beim wissenschaftlichen Verstehen kommt es auch [...] auf die Haltung an. Menschen, die immer schon wissen, was Sache ist, wo es lang geht und was als Nächstes zu tun ist, eignen sich für vieles - für die hermeneutische Arbeit bringen sie allerdings keine guten Voraussetzungen mit. ,!-Menschen' haben in der Hermeneutik nichts zu suchen (weil sie dort nichts finden können). Für ,?-Menschen' sind die Aussichten in der Hermeneutik ungleich besser" (Kurt 2004, S. 31). ,,[...] die Funktion der Hermeneutik gegenüber dem wissenschaftlichen Methodengebrauch [lässt sich] als diejenige einer Reflexion beschreiben, deren Ziel darin besteht, die naiven Dogmatismen oder perspektivischen Engführungen der wissenschaftlichen Methodik jeweils deutlich zu machen und dadurch neue Fragedi-
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mensionen zu öffnen und insgesamt die Fragwürdigkeit und Andersartigkeit der Sache gegenüber dem methodischen Zugriff weiter aufrechtzuerhalten" (Boehm 1978, S. 8).
Eine zentrale Gedankenfigur derartiger Deutungs- und Auslegungsverfahren ist der sogenannte hermeneutische Zirkel oder die henneneutische Spiralbewegung. Erkenntnis vollzieht sich in einern Kreisprozess zwischen Vor-Nerständnis (den Präkonzepten) des Erkenntnissubjekts einerseits und den Phänomenen (Ereignissen, Handlungen, empirischen Daten), mit denen das Subjekt in seinem Aufmerksarnkeitsfeld konfrontiert wird, andererseits. Bei mehrmaligem Durchlaufen dieses Zirkels ergibt sich eine spiralförmige Erkenntnisbewegung.
· ~ C leitet
Vor-/ Verständnis
EreignisDeutung
--+--... verändert
Abbildung 1: Hermeneutischer Zirkel Im Konzept des hermeneutischen Verstehens wird davon ausgegangen, dass man (in Alltag und Wissenschaft) bei der Konfrontation mit einern Phänomen (einem Sachverhalt, einern Ereignis, einer Handlung, einer Gesprächsäußerung, einem Artefakt, einer TextsteIle etc.) bereits mit einem gewissen Voroerständnis daher kommt (einem Hintergrundwissen, einern Wahrnehmungsschema, einer Erwartung, was in diesem Bereich alles der Fall sein kann und was das "normalerweise" zu sagen hat, einer Hypothese bzw. Theorie - einern Präkonzept; vgl. Kapitel 1.3). Eine solche apriorische Annahme ("Vor-Nerständnis tl") leitet unser Verstehen/Deuten des Phänomens zu einern bestimmten Zeitpunkt (hier tl). Beim Verstehensakt, bei der Verarbeitung von Wahrnehmung und Deutung, wird dieses Vor-Nerständnis verändert, angereichert - und es stellt dann einen erweiterten Annahrnenhintergrund für den nächsten Verstehensakt dar ("Vor-Nerständnis t2"). Auf diese Weise wird das Präkonzept in einem - im Prinzip unendlichenProzess der Auseinandersetzung mit Phänomenen modifiziert bzw. elaboriert ("Vor-Nerständnis t3" bis "Vor-Nerständnis tn").
2.2 "Erklären" und "Verstehen"
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In der geistes- und sozialwissenschaftlichen Methodenlehre wird auf unterschiedliche Weise versucht, hermeneutisches Verstehen, Deuten, Auslegen zu systematisieren und zu kanonifizieren. Wenn schon Gewissheit von Erkenntnis und Beweiskraft von Geltungsbehauptungen nicht zu erlangen sind, so sollen die angewandten Verfahren und Regeln doch ein Höchstmaß an Transparenz, Explizitheit und Nachvollziehbarkeit aufweisen. Die Methodik solllehrbar und lernbar sein, ihre Anwendung soll von anderen (in bestimmter Weise charakterisierten und qualifizierten) Personen nachvollzogen und nachgemacht werden können. Im Kontext einer Interpretationsgemeinschaft soll schlussendlich ein intersubjektiv "gemeinsames Verständnis" des analysierten Phänomens bzw. Gegenstandes herauskommen, oder die bestehenden Deutungsunterschiede sollen diskutierbar und aufklärbar sein. Von Bedeutung dabei sind u. a. das genaue Fixieren des zu deutenden Phänomens (z. B. als möglichst detailliertes Beobachtungsprotokoll, als Transkript von Gesprächs-/Ereignissen), die Berücksichtigung des Kontextes, in dem das Phänomen hervorgebracht wurde sowie der Vergleich von Fällen miteinander. Die individuelle Aneignung derartiger Deutungs-Regelwerke erfordert Lern- und Sozialisationsaufwand. Ein Adept kann sich dabei als mehr oder weniger gelehrig und geschickt erweisen. Bei sozialwissenschaftlichen Verstehensbemühungen steht soziales Handeln im Blickfeld - Lebensvollzüge, Interaktionen, Gespräche u. Ä. Es sollen Handlungen von Personen hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen, der dabei relevanten Intentionen, Situations- und Handlungsverständnisse aufgeklärt und nachvollzogen bzw. nachvollziehbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang spricht man häufig von einer Rekonstruktion der Bedeutungs- und Sinnwelten, die für Akteure in ihrem Handeln eine Rolle spielen. Wir können eine Reihe disziplinärer bzw. theoriegebundener Regelwerke zur Hermeneutik finden, mit denen dieses Ziel verfolgt wird. Die Verfahren unterscheiden sich u. a. bezüglich der Frage: Inwieweit und in welcher Weise übersteigen die angewandten Deutungsverfahren jene, die die alltagsweltlichen Akteure beim Zustandebringen ihrer Handlungen bzw. Interaktionen verwenden (diese werden häufig als "subjektive" oder auch "naive Theorien" bezeichnet)? Wollen SozialwissenschaftIer die Sichtweisen und Auffassungen der Akteure empathisch, explizierend, rekonstruierend nachvollziehen? Oder wollen sie in ihren Entsch1üsselungen und Modellierungen über deren (eventuell beschränkte) Selbstdeutungen und Selbstverständnisse hinausgehen? Hier kommen Begriffe wie "bewusste" und "unbewusste psychische Prozesse" oder "subjektiver" und "objektiver Sinn" ins Spiel. Alltagsweltliche Handlungsvollzüge sind mannigfaltig von Ausführungsroutinen und Automatismen gekennzeichnet, die nicht als für die Selbstwahrnehmung unmittelbar offen liegende Wahrnehmungs- und Wissenshintergründe in Erschei-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
nung treten und erfragt werden können. Der Anteil impliziter Bewusstseinsfonnen ist in vielen Handlungsbereichen groß, und wir haben und finden dort nur eingeschränkt ein sprachlich darstellbares und explizierbares selbstreflexives Verständnis. Reflexive hermeneutische Verstehensprozeduren können sich nun auf unterschiedliche Ebenen beziehen: Sie können eng gebunden an die Selbstwahrnehmungen und -deutungen der Akteure operieren - oder sie können, davon abgehoben, transindividuell verallgemeinerte (soziale, kulturelle) Sinnzusammenhänge und Hintergründe in den Blick nehmen. Die Verfahren lassen sich hinsichtlich mehr oder weniger starker Transzendenzen unterscheiden - gemessen an der Frage: Wie weit vom Selbstverständnis der Handelnden in ihrer Lebenswelt entfernt bewegen sich die wissenschaftlichen Interpretationen? In welchem Ausmaß können Untersuchungsobjekte und -subjekte sich über die wissenschaftlichen Deutungen verständigen, sie intersubjektiv teilen - bzw. welcher (Sozialisations-) Aufwand ist erforderlich, um ein gemeinsames Verständnis (unter dem Primat der wissenschaftlichen Sichtweise) zu erreichen? Ich nenne hier einige Beispiele hermeneutischer Regelwerke aus den Sozialwissenschaften, die sich auf der Dimension der Transzendenzansprüche gegenüber alltagsweltlichem Verstehen differenzieren lassen - wobei das Objekt des Verstehens in aller Regel sozial kontextualisierte Handlungen und Bedeutungsauffassungen sind: • Das aus der sozialwissenschaftlichen Psychologie stammende Verfahren der Strukturlege-Technik (Scheele & Groeben 1984) ist eine methodische Prozedur, um sogenannte Subjektive Theorien von Personen zu explizieren, zu rekonstruieren und zu systematisieren. Dabei spielt die Herstellung von Strukturierungsübereinstimmung zwischen Forscher und Untersuchungspartner eine zentrale Rolle für die Angemessenheit der wissenschaftlichen Rekonstruktion (Gütekriterium "Dialog-Konsens"). • Deutungsverfahren auf psychoanalytischem Theoriehintergrund - etwa die sogenannte Tiefenhermeneutik (Lorenzer 1986; König 1997) - sind ein Beispiel für die dezidierte Entkoppelung wissenschaftlicher Interpretation vom Selbstverständnis der Akteure aus dem alltagsweltlichen Kontext. Auf der Basis einer spezifischen Sozialisations-fTheorie wird eine Unterscheidung von latenter/unbewusster und manifester/bewusster Sinnebene getroffen. Der Wissenschaftler nimmt für sich das "Prä" des tiefgründigeren Verstehens in Anspruch. Im Extremfall sind Selbst- und Fremddeutung nicht konsensfähig. Der Psychoanalytiker kann sich zu seinen Gunsten auf den aus der Theorie begriindbaren Standpunkt der "Widerständigkeit" und "Abwehr" des Analysanden gegenüber seiner Deutung berufen.
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
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Von ähnlicher Transzendenz-AnspTÜchlichkeit ist das Verfahren der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2002; Wemet 2000). Hier wird ebenfalls ein Standpunkt des wissenschaftlichen Durch- und Überblicks verfochten, der die alltagsweltlich-subjektiven Selbst-/Deutungen der Untersuchten übersteigt - auf der Grundlage der kategorialen Unterscheidung zwischen objektivem/latentem Sinn und subjektiv gemeintem Sinn. Die GTM nimmt auf dieser Dimension eine MittelsteIlung ein: Einerseits ist der Forscher an subjektiven Konzeptualisierungen der Akteure unter ihren "natürlieh"-lebensweltlichen Umständen interessiert und schätzt deren Begriffsbildungs- und Theoretisierungsleistungen. Andererseits nimmt er auf dieser Grundlage eine Kategorien- und Modellbildung vor, die über die lebensweltlichen Selbst-Nerständnisse, die Denk-, Sortierungs- und Interpretationswelten der Feldmitglieder hinausgeht.
Nach unserer Ansicht hat die Grenzziehung zwischen subjektiver Interpretation von Phänomenen und Geschehnissen einerseits und der sozialwissenschaftlichen Variante der Verstehensmethodik andererseits etwas mit den in den Abschnitten 1.3 oben und 3.3 unten besprochenen Konzepten der Dezentrierung und Selbstreflexion des Deutenden gegenüber seinem Handeln zu tun. Wir sind hier wieder mit der Gratwanderung des Sozialwissenschaftlers konfrontiert: In seiner Doppelmitgliedschaft in "zwei Welten" und einer privilegierten Situation der relativen Entlastung von alltagsweltlichen Handlungszwängen des Untersuchungsfeldes kann er das Hin- und Herwechseln zwischen praktischem Tun und DarüberReflektieren als ein wesentliches Verfahren der kreativen Erkenntnisentwicklung nutzen. An dieser Stelle ist auch der Gedanke der partizipativen Sozialforschung (vgl. Punkt 1.4.3) anschlussfähig - wenn die Forschenden ihre Untersuchungspartner auf dem Weg der hermeneutischen Deutungsbemühungen gewissennaßen mitnehmen, indem sie (mithilfe einer geeigneten Vennittlung ihrer Dezentrierungsmethodik) die Erkenntnisentwicklung zu einem dialogischen und kooperativen Austauschprozess zwischen beiden Parteien gestalten.
2.3
Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
Die Arbeitsweise der GTM lässt sich in aller Kürze folgendermaßen kennzeiclmen: Ausgangspunkt des Forschungsprozesses ist typischerweise ein Themeninteresse mit einer recht allgemein gehaltenen alltagsweltbezogenen empirischen Fragestellung. Der Forscher 1 interessiert sich beispielsweise für die Probleme herange-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
wachsener Adoptivkinder, die sich als Gunge) Erwachsene mit ihrer Vergangenheit bzw. Geschichte "in zwei Familien" auseinandersetzen. Die Forscherin 2 möchte sich mit der Frage der Betreuung und Versorgung alt werdender Eltern durch Familienmitglieder der nachfolgenden Generation beschäftigen. Die Forscherin und der Forscher begeben sich ins soziale Feld bzw. zu dessen Mitgliedern, bemühen sich um Kontakte mit (erfahrenen) Betroffenen, eventuell mit "Problem-Experten" u. Ä., sammeln dort erste Interaktionserfahrungen, sondieren die Verhältnisse und Sichtweisen, sammeln Daten verschiedener Art. In diesem Zusammenhang wird mit einem weiten Datenbegriff gearbeitet. Brauchbar sind und analysiert werden können ganz unterschiedliche Materialien: Gespräche, Beobachtungsprotokolle, Dokumente des Feldes etc. Unter unserer spezifischen Vorgehensakzentuierung kommen ausgelöste subjektive Eindrücke und das einschlägige Erleben des Forschers bzw. der Forscherin ("Resonanzen am eigenen Körper") als mögliche Informationsquellen hinzu. Diese Daten werden in einer Haltung theoretischer Offenheit detailliert und kleinschrittig auf ihren konzeptuellen Gehalt hin ausgeleuchtet: Die beobachteten Phänomene werden in Bezug gesetzt zu allgemeinen Begriffen und Ideen, auf die sie verweisen bzw. mit denen sie in sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können ("Konzept-Indikator-ModelI"). Diese Arbeit des Konzeptualisierens der Daten wird Kodieren genannt. Dahinter steckt die Suche nach gegenstandsadäquaten Begriffen mit Verallgemeinerungscharakter ("treffenden", kreativen, häufig auch neuartigen Sprachausdrücken). Dafür gibt es im Rahmen der GTM ein ausdifferenziertes Regelwerk, das als prozeduraler Kern der Methodik gelten kann. Auf Basis der Analyse der erhobenen Daten wird im Fortgang des Forschungsprozesses entschieden, welche Phänomene und Fälle als Nächstes bzw. im Laufe der Zeit untersucht werden (Prinzip des "Theoretical Sampling"). Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Vergleiche und Kontraste, die Informationen über Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Vertrauten bzw. bereits Beschriebenen liefern, dabei den theoretischen Blick erweitern und das Sensorium für ein Hinterfragen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten und "Normalitäten" schärfen. Im Verlauf kristallisieren sich die Konturen der Untersuchungsfrage zunehmend deutlich heraus: Sie kann sich wandeln, sie wird präziser, selektiver und durchdachter. Durch die Analyse und Einsortierung der neu erhobenen Daten festigen und differenzieren sich bestimmte Konzepte, während andere modifiziert werden oder sich als uninteressant, ungeeignet oder nicht haltbar erweisen. Im Wechsel, im Hin und Her zwischen Datenerhebung und Datenauswertung, entstehen gegenstandsbegriindete verallgemeinernde Begriffe (Kodes, Kategorien), die im Laufe der Zeit immer weiter ausgearbeitet, zueinander in Beziehung gesetzt und theoretisch verdichtet werden (induktive und deduktive Schritte der Theorieelaboration und -prüfung). Die
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
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GTM zeichnet sich durch die Betonung kreativer Theorieentwicklung aus - allerdings auf der Grundlage eines Regelwerks gegenstandsbezogener Explorationen des Forschers. In diesem sogenarmten "Grounding" des Forschungsprozesses (systematische "Erdung" der generierten Theorieelemente durch ständige Schritte der Rückbindung an Daten) liegt eine Besonderheit und Stärke dieses methodologischen Ansatzes. Darüber hinaus spielen auch Prüf- und Ausarbeitungsschritte der entstehenden ("emergierenden") Theorie eine Rolle: das Vergleichen mit ähnlichen und kontrastiven Fällen zur Erweiterung, Absicherung und "Verdichtung" der Modellierung. Am Ende der Theorieentwicklung steht - nach dem LehrbuchIdealfall - eine sogenarmte "Kernkategorie", die einen Schlüssel zum Verständnis des fokussierten Problemthemas liefert und das strukturierende Zentralkonzept für die gefundenen Konzepte bzw. die entwickelte Bereichstheorie darstellt. Diese kann - wiederum im Idealfall- einen Grad "theoretischer Sättigung" gewinnen, so dass durch das weitere Aufsuchen empirischer Daten keine modelltheoretisch relevanten Überraschungen bzw. Neuerungen mehr zum Vorschein kommen. Unser Beispiel-Forscher 1 ist im Laufe seiner Arbeit an der Thematik zu einem Schlüsselkonzept identitärer "Wurzelarbeit" gekommen, durch die heranwachsende bzw. erwachsene Adoptivkinder sich mit ihrem "herkunftsfarniliären Gepäck" im Beziehungsdreieck aus Herkunfts- und Adoptiveltern auseinandersetzen (vgl. auch Kapitel 2.4.7). Forscherin 2 hat in ihrer entwickelten Theorie die sozialen Verhältnisse des "Kümmerns" um die alten Eltern in Familien unter der Kernkategorie der "filialen Neupositionierung" in den Beziehungsrelationen zwischen Eltern und Kindern theoretisch aufbereitet (vgl. auch Kapitel 4.3.1).
I
Begriffsklärung: Deduktion -Induktion - Abduktion Die Argumentationsfiguren Deduktion und Induktion wurden in den Debatten zwischen Vertretern des Logischen Empirismus und des Kritischen Rationalismus (in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) hinsichtlich ihrer wissenschaftstheoretischen Brauchbarkeit als logische Schlussverfahren einander gegenübergestellt (vgl. etwa Chalmers 2000). Als Ergebnis dieser Diskussion ergab sich die Überzeugung, dass für eine Absicherung von Erkenntnisgewissheit die Induktion unbrauchbar ist. Der induktive "Erweiterungsschluss" bringt stets Geltungsunsicherheit mit sich: Beim Schließen vom Speziellen/Besonderen auf Allgemeines gehen die gezogenen Folgerungen in ihrem extensionalen Gehalt über die Prämissen hinaus. Schlussfolgerungsgewissheit vermag nur das Verfahren der Deduktion zu erzeugen. Dort wird das Spezielle aus dem Allgemeinen (plus Randbedingungen) logisch abgeleitet (vgl. Punkt 2.2.1).
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Mit der angesprochenen Überlegung ist allerdings nicht erklärt, wie wissenschaftliche Theorien in die Welt kommen bzw. wie sie entwickelt werden. Wenn wir die Theoriengenese betrachten, spielen gedankliche Figuren eine Rolle, die an Einzelerfahrungen ansetzen und von dort aus zu Trend- und Verallgemeinerungsaussagen kommen. Denkwege der Expansion vom Wissen über Einzelfälle zu verallgemeinernden Hypothesen werden häufig mit dem Prinzip der Induktion in Zusammenhang gebracht. Mit gutem Grund wird jedoch bezweifelt, ob auf diese Weise der Aspekt des Kreativen, der Entdeckung des theoretisch Neuen, angemessen gefasst werden kann (vgI. etwa Kelle 1994, S. 143ff.). Es wird zwar (hypothetisch, mit Unsicherheit belastet) ein beobachteter Zusammenhang von "einigen Fällen" auf "alle Fälle" generalisiert, dabei kommt jedoch nichts konzeptuell Neues zu Tage. Bezüglich des Erfindens neuartiger Hypothesen oder Regeln, mit deren Hilfe das Auftauchen unerwarteter Daten erklärt werden kann, wird als logische Denkfigur die Abduktion ins Spiel gebracht. Dabei wird häufig auf den Philosophen eharles S. Peirce Bezug genommen (vgI. etwa 1991), dessen Überlegungen zur Abduktion auf die Theoriegenerierung mittels qualitativer Methodik übertragen werden (s. Kelle 1994; Reichertz 2003; 2007). Bei diesem Sch1ussverfahren steht der kreative Geistesblitz des Entdeckens einer neuen Regelhaftigkeit im Mittelpunkt, angeregt durch rätselhafte bzw. zuvor nicht erklärbare Daten. Eine solche Prozedur ist jedoch weder durch genaue methodische Anleitungen vorfixiert noch liefert sie Erkenntnissicherheit. Es handelt sich vielmehr um sogenannte Heuristiken, die einer psychologischen Bahnung und Inspiration bedürfen (vgI. Bromme & Hömberg 1977; Groner u. a. 1983; Müller 1990) - hier u. a. der theoretischen Sensibilität und Kreativität des/der Forschenden in der Auseinandersetzung mit gesuchten und gefundenen empirischen Phänomenen.
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2.3.1 Fokussierung und Fort-/Entwicklung der Forschungsfrage Die Auswahl, Ausrichtung und Präzisierung der Fragestellung sowie des Untersuchungsdesigns sind in der GTM Angelegenheiten, die keineswegs schon zu Beginn fixiert und fertig sind. Vielmehr sind dies Aufgaben, die den Gesamtablauf des Forschungsprozesses durchziehen. Das Thema ist bei Projekten unter diesem Forschungsstil typischerweise zu Anfang noch relativ unscharf formuliert: Es gibt ein Probleminteresse, auf dessen Hintergrund der Forschende erste Blicke wirft, erste empirische Erfahrungen sucht. Durch die Auswertung und Interpretation dieser Daten ergibt sich eine Modifikation, Differenzierung und Neuausrichtung der Fra-
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gestellung - beispielsweise in Bezug auf bisher nicht bedachte Gegenstandsmerkmale oder Ideen zum nächsten interessanten empirischen Fall. Es ist also möglich und wahrscheinlich, dass sich die Themenfokussierung im Laufe des bereichsbezogenen Erfahrungs- und Wissenszuwachses verändert. Wandlungen in der Fragestellung sind eine Folge reichhaltiger werdender Kenntnisse des Forschers über das Gegenstandsfeld. Um- oder Neufokussierungen erscheinen so nicht als Scheitern von Vorüberlegungen oder Vorannahrnen, sie stellen vielmehr ein einkalkuliertes und durchaus erwünschtes Ingredienz und Ergebnis der hermeneutischen Erkenntnisfigur dar. Die schrittweise Elaboration und Fokussierung des Problemthernas im Laufe des Forschungsprozesses ist ein charakteristisches Merkmal der GTM. Die Untersuchungsdurchführung erfolgt forscherseits geleitet durch eine Konzeptualisierung und Planung, die einer fortlaufenden Revision auf der Grundlage gewonnener Erfahrungen im Problemfeld sowie der Reflexion der eigenen Interessendynamik und Fokussierungsaktivität unterzogen wird - also in Abhängigkeit von der Entwicklung der Begriffe und Kategorien, des Gegenstandsverständnisses, der eigenen Person- und Körperresonanzen, der theoretischen Sensibilität. Die Problemauffassung und die Forschungsarnbitionen des Forschenden werden differenziert und ausgebaut. So besteht programmatisch die Möglichkeit, stets neu über einzuschlagende Interessenausrichtungen, die Auswahl bedeutsam erscheinender Fälle (Auskunftspersonen, Ereignisse, Beobachtungssituationen etc.) und Datenausschnitte zu entscheiden (sogenanntes "Theoretical Sampling"). Bei der Darstellung des Forschungsprozesses hebt Strauss (1991, S. 46) dessen iterativ-zyklischen Charakter hervor, der mit dem hermeneutischen Gedanken der Spiralförmigkeit der Erkenntnisentwicklung korrespondiert: Bei der GTM findet ein fortwährendes Hin- und Her-Pendeln zwischen unterschiedlichen Forschungsphasen statt: Datenerhebung, Datenauswertung (Kodieren) und Theoriebildung (Memos schreiben, Modellbildung etc.) wechseln sich in unterschiedlicher Aufeinanderfolge ab. Rücksprünge in diesem Ablauf (z. B. die erneute Zuwendung zu schon kodiertem Material) auf verändertem Fokussierungshintergrund sind sehr wohl möglich und können sinnvoll sein. Wird die Themenfokussierung, Datengewinnung und Theorieentwicklung als spiralförmiger Ausarbeitungsprozess aufgefasst, lassen sich der Forschungsplan, das avisierte Forschungsergebnis und der erforderliche Zeitbedarf vorausschauend nur in rudimentärer Form festlegen. Hier bestehen gravierende Unterschiede zur konventionellen empirischen Forschungsmethodik, bei der die Fragestellung und das Untersuchungsdesign weitgehend im Vorhinein fixiert werden. Im Rahmen der Reglemente für akademische Qualifikationsarbeiten und bei der Beantragung von Fördermitteln für Forschungsprojekte, Forschungsstipendien u. Ä. werden
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zumeist Forderungen nach exakter Planung und Spezifikation von Themenfokus, Arbeitsprogramm und Zeitbedarf gestellt. In dieser Hinsicht bringt der Arbeitsmodus der GTM gewisse Vagheiten und Schwierigkeiten bezüglich der Antizipation des Projektverlaufs mit sich.
2.3.2 Umgang mit Literatur Die angezeigten Umgangsweisen mit wissenschaftlicher Fachliteratur sowie der Lektüre von Texten auch aus anderen Literaturgattungen im Zusammenhang mit der Verfolgung eines Untersuchungsanliegens werden von GTM-Vertretern anders beurteilt, als dies unter einer Standardmethodologie-0rientierung zumeist geschieht. Bei letzterer wird davon ausgegangen, dass eine Aufarbeitung vorhandener Theorien und Forschungsergebnisse zu einem Themengebiet vor Beginn der Empiriephase eines Untersuchungsprojekts eine unabdingbare Pflichtvoraussetzung darstellt. Aus dem Stand der Fachliteratur ist der konzeptuelle Rahmen für die eigene Forschung abzuleiten, es ergeben sich so Hinweise auf Kenntnislücken, sinnvolle Hypothesen, Leitlinien für die Auswahl von Variablen etc. Ein vollständiger Überblick über die themenbezogene Forschungsliteratur sollte jedoch - so die von GTM-Autoren vertretene Ansicht - nicht unbedingt vor dem Beginn des eigenen Forschungsprozesses erarbeitet werden: "Sie werden mit einigem Hintergrundwissen aus der Fachliteratur in die Forschungssituation eintreten, und es ist wichtig, dies anzuerkennen und zu nutzen [...]. Aber es ist nicht notwendig, die gesamte Literatur im voraus durchzusehen [...], denn wenn wir in unserer Analyse erfolgreich sind, werden neue Kategorien auftauchen, an die weder wir noch irgend jemand anders vorher gedacht haben. Wir wollen uns nicht so sehr in die Literatur vergraben, daß wir in unserem kreativen Bemühen durch unsere Literaturkenntnis eingeschränkt oder sogar erstickt werden! [...] Erst wenn sich eine Kategorie als relevant erwiesen hat, sollten wir auf die Fachliteratur zurückgreifen" (Strauss & Corbin 1996, S. 33).
Hier wird also stärker auf den unverbrauchten Blick des Novizen in einem Themenbereich gesetzt, der unter Umständen neuartige und ungewohnte Sichtweisen begünstigt. Das Literaturstudium bekommt stärker einen begleitenden Stellenwert im Prozess der Themenfokussierung und -ausarbeitung. Ein bilanzierender Abgleich von Forschungsliteratur mit der eigenen Themenkonzeptualisierung und den gewonnenen Resultaten erfolgt mitunter erst in späteren Forschungsphasen. Einerseits soll es nicht darum gehen, "das Rad neu zu erfinden", d. h. so zu tun, als sei man als Forscher die erste Person, die sich mit der jeweiligen Problematik und den verwendeten Konzepten beschäftigt. Andererseits ist es angezeigt, sich den Blick und
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das Denken nicht vorzeitig von bereits von anderen Autoritäten Gesehenem und Gedachtem verstellen zu lassen, sich also auch in dieser Hinsicht einen Status "reflektierter Offenheit" zu bewahren. Bei der Darstellung der eigenen Forschungsergebnisse in einem wissenschaftlichen Bericht (Aufsatz, Buch) ist es allerdings sinnvoll und nötig, diese in den Kontext des aktuellen Wissens-, Theorien- und Forschungsstandes zu einem Themengebiet einzubetten. Bei Strauss & Corbin (1996, S. 33ff.) werden folgende Ftrnktionen aufgezählt und erläutert, die Fachliteratur im Forschungsprozess nach G1M-Stil besitzen kann: • Sie kann die theoretische Sensibilität der Forscherin oder des Forschers anregen (s. Punkt 2.3.4); • sie kann sekundäre Datenquellen liefern - etwa in Form von Erfahrungsberichten, Zitaten o. Ä.; • sie kann Fragen anregen, die beim Beobachten oder Interviewen im Feld nützlich sind; • sie kann Hinweise für eine sinnvolle Stichprobenzusammenstellung nach dem Prinzip des Theoretical Sampling geben (s. Punkt 2.3.3); • sie kann als ergänzender Gültigkeitsnachweis verwendet werden, wenn es gelingt, die eigenen Untersuchungsergebnisse damit in einen theoretisch sinnvollen Zusammenhang zu stellen (sogenannte "Konstruktvalidierung"). Bezogen auf die Hin-und-Her-Bewegung zwischen Wissenschaft und Alltags-/ Lebenswelt, die für die Durchführung von GTM-Projekten charakteristisch ist, erweisen sich häufig auch andere Literaturgenres und Medien - jenseits von Fachbüchern und wissenschaftlichen Aufsätzen - als interessant und bedeutsam. Journalistische Berichte, Auto-/Biographien von Problembetroffenen; Romane, in denen die behandelte Thematik eine Rolle spielt; Theaterstücke, Spiel- und Dokumentationsfilme u. Ä. können hinsichtlich einer Blickerweiterung und Heuristik wertvoll sein. Dort finden sich mitunter innovative Sichtweisen des Themas sowie Begriffe und Schilderungen von Subtilität und Differenziertheit, die zur Schärfung der theoretischen Sensibilität und zu produktiven Untersuchungsideen beitragen können (vgl. Dieris & Breuer 2008; Dieris 2009; s. auch Punkt 4.3.1).
2.3.3
Theoretical Sampling
In der deduktionslogisch orientierten Strategie des Hypothesenprüfens legt der Forscher (zumindest nach den Maximen des Methodenlehrbuchs) das Forschungsdesign vor Untersuchungsbeginn genau fest. Die Auswahl der Stichprobe, die
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Wahl der Forschungsinstrumente bzw. -verfahren etc. werden in vorauslaufender Untersuchungsplanung ("a priori") bestimmt. Dabei liegt in der Regel das Bestreben zugrunde, eine repräsentative Stichprobe an Objekten (Versuchs-/Personen) von hinreichender Größe in die Untersuchung einzubeziehen, so dass Ergebnisse unter wahrscheinlichkeitstheoretischem Kalkül bei einem akzeptablen Fehlerrisiko auf eine "Grundgesamtheit" hochgerechnet werden können. In der Forschungskonzeption der GlM werden Entscheidungen über die Stichprobenkonfiguration - sowohl hinsichtlich der einbezogenen Personen, Gruppen, Ereignisse und Datenarten, wie hinsichtlich des Umfangs - prozessbegleitend getroffen, konsekutiv in Abhängigkeit vom jeweiligen Stand der eigenen Erkenntnisund Theorieentwicklung. Dabei geht es um die Auswahl von Untersuchungsobjekten bzw. -phänomenen nach konzeptueller Relevanz, so wie sie sich aus dem Fortgang der Theoriebildung ergeben: Es werden solche Fälle, Variationen und Kontraste gesucht, die das Wissen über Facetten des Untersuchungsgegenstands bzw. fokussierter Konzepte voraussichtlich erweitern und anreichern oder auch absichern und verdichten können. Die jeweils erreichte theoretische Kenntnis ist Grundlage der Entscheidung darüber, was die nächsten interessanten Daten für die Forscherin sind, und auf welche Weise sie diese erheben will. Der Stichprobenumfang fällt bei den meisten GTM-Studien relativ klein aus - jedenfalls geringer, als dies bei Forschungsprojekten üblich ist, die mithilfe mathematisch-statistischer Verfahren hypothesentestend operieren. Das hat zum einen pragmatische Gründe und ist der Aufwendigkeit der Erhebung und Verarbeitung qualitativer Daten geschuldet. Zum anderen hängt dies jedoch auch mit der explorativen Ausrichtung des Forschungsstils zusammen: Der Akzent liegt zumeist stärker auf der Entwicklung und Ausdifferenzierung von bereichsbezogenen Theorien als auf ihrer Gewissheitsabsicherung - trotz des Idealpostulats der"theoretischen Sättigung".
2.3.4
Theoretische Sensibilität
Theoretische Sensibilität wird von Strauss und Corbin als eine wesentliche Qualifikation des GlM-Forschers postuliert, die sich auf seine Wahmehmungsbereitschaft und Aufmerksamkeit bezüglich der Subtilitäten von Merkmalen, Strukturen und Prozessen des Gegenstands (-feldes) sowie seine diesbezügliche hermeneutische Kompetenz bezieht. "Gemeint ist ein Bewußtsein für die Feinheiten in der Bedeutung von Daten. [...1Theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen" (Strauss & Corbin 19%, S. 25).
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
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Diese Kompetenzen sind zu Beginn eines Projekts forscherseits in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße vorhanden, und sie können sich im Verlauf der themenbezogenen Auseinandersetzung weiterentwickeln. Es gibt gewisse persönliche Prädispositionen, die solche Fähigkeiten bahnen und fördern oder ihnen im Weg stehen (vgl. Breuer 1996, S. 171ff.; Breuer & Schreier 2007). Eine Haltung der Selbstaufmerksamkeit, der sozialen Achtsamkeit, ein Interesse an sprachlicher Genauigkeit und Differenzierung erscheinen als Voraussetzungen günstig; spezifisch themenbezügliche Sensibilität und Souveränität müssen hinzukommen. Der beschriebene Forschungsstil steht in differentiellem Passungsverhältnis zu Kompetenzen und Neigungen von Forscherpersonen (vgl. Kapitel 4). Zur Fokussierung und Entwicklung der theoretischen Sensibilität der Forschenden können unterschiedliche heuristische Quellen, Zugänge, Werkzeuge und Maßnahmen nützlich sein. Von ihnen war zumeist schon die Rede: • Die Reflexion der themenbezogenen Forscherinnen-Präkonzepte aus der Quelle der eigenen Lebenserfahrung, der Mitgliedschaft in einer alltagsweltlichen Sub-/Kultur, in der das fokussierte Problem eine Rolle spielt (eigene Betroffenheit, Betroffenheit/Beteiligung von sozial nahestehenden Personen), eventuell eigener Berufserfahrung o. Ä.; • Aneignung der wissenschaftlichen Theorien und Untersuchungen zum Themengebiet; • Beschäftigung mit Literatur aus anderen Textgenres: Belletristik, Auto-/Biographien, Zeitschriften, Zeitungen, Betroffenenliteratur etc., die sich mit dem Thema des Forschungsproblems befassen; • beobachtete Handlungsweisen sowie Darstellungen und Berichte von Beteiligten aus dem Problemfeld; • Mitglieder von Professionen, die mit dem Untersuchungsfeld zu tun haben, sind häufig kenntnisreich und verfügen über perspektivische Verallgemeinerungen und eigene Konzeptionen; • die fortlaufende Selbst- und Themenreflexion aus der Arbeit mit dem Forschungstagebuch; • das Hin- und Herpendeln des Forschers zwischen intensivem Feld- und Datenbezug und analytischer Distanznahrne; • die kooperative Arbeit in einem Forschungsteam: gemeinsame Ideenentwicklung, Anregungen in Diskussionen, Unterstützung bei Selbstreflexion etc.; • Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls im Rahmen eines solchen Forschungsstils arbeiten, und/oder im Rahmen einer Forschungssupervision. • Zudem werden bei Strauss & Corbin (1996, S. 56ff.) einige heuristische Verfahren in der Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsmaterial - etwa im
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
60
Kontext des Kodierens - beschrieben, die den theoretischen Blick auf den Gegenstand fördern können: das Stellen von Fragen, die mikroskopische Analyse von Datenelementen (Wörtern, Sätzen), das Anstellen und Aufsuchen von Vergleichen u. a.
2.3.5
Der Datenbegriff
"Die Datenerhebung kann in der Grounded Theory eine große Vielfalt von Formen annehmen. Daten können mit Hilfe von Interviews, von teilnehmender Beobachtung, Videoaufnahmen, Fokusgruppen, geschichtlichen Dokumenten und Dokumenten von Organisationen, publiziertem Material, Tagebüchern, Bildern und Fotos oder jedem anderen Material, das von den Forschenden als angemessen erachtet wird, erhoben werden" (Corbin 2003, S. 71).
Barney Glaser (2007, S. 57) drückt das hier Gemeinte schlichter und provozierender aus - sein Wahlspruch lautet: "All is data." Darüber hinaus sind unter unserem GTM-Konzept nicht nur manifeste Wörter und Sätze eines Gesprächstranskripts oder eines Beobachtungsprotokolls interessante und brauchbare Daten, sondern auch Informationen, die sich aus den Verhältnissen und Geschehnissen zwischen den Zeilen, aus dem Beziehungsaspekt der Forschungsinteraktion, den Subtexten des Geschehens im Untersuchungsfeld ablesen bzw. entnehmen lassen. Dazu können durchaus auch durch den Kontakt mit dem Feld und den Feldmitgliedern ausgelöste Resonanzen auf Seiten der Forscherperson (Gefühlsreaktionen, Assoziationen, Phantasien u. Ä.) gehören. In Kontakten mit einem Untersuchungspartner bin ich als Forschender beispielsweise durch dessen Autorität und Souveränität beeindruckt oder eingeschüchtert; das mag mir die Sprache verschlagen, und ich traue mich daraufhin situativ nicht, Fragen nach seinen potentiellen Schwächen oder Unzulänglichkeiten zu stellen. Ich habe, in einem anderen Kontakt, das Gefühl, meine Fragen verunsichern die Untersuchungspartnerin, rufen bei ihr negative Affekte und sogar Tränen hervor - und ich halte meine Nachfrageinteressen zurück, ich "schone" mein Gegenüber (oder doch eher mich selbst?) bezüglich eines potentiell wichtigen Problemaspekts. Die (mir bekannte) Tochter einer alten ("kümmerbedürftigen") Frau bereitet mir den Kontakt zu ihrer Mutter, für die ich mich - als Forscher über die Probleme alternder Menschen - interessiere; ich bemerke mit Unbehagen das mir im Gespräch entgegen kommende Misstrauen der Mutter und ihre über längere Zeit währende kommunikative Kargheit und Verschlossenheit; im Verlauf stellt sich heraus, dass die Mutter mir (dem "Psychologen") unterstellt hat, ich sei von der Tochter vorgeschickt, um sie zum Auszug aus ihrer Wohnung und zur Übersiedlung in ein Altenheim zu bewegen.
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
61
Derartige Geschehensaspekte sind allerdings zumeist weniger eindeutig fixierbar, schwieriger explizit zu registrieren und hinsichtlich ihrer Bedeutung mitunter von größerer Vagheit und Mehrdeutigkeit. Hier liegen die Gründe, die Forscher üblicherweise dazu neigen lassen, solche Ebenen zu neutralisieren, zu standardisieren oder zu ignorieren. Wir plädieren dagegen für ein Beachten, Dokumentieren und Reflektieren dieser Zugänge und Hinweise - als Anhaltspunkte, die uns veranlassen können, bestimmte Gegenstandscharakteristika auf andere Weise eingehender in den Blick zu nehmen (Genaueres dazu in Kapitel 3). Von daher ist es sinnvoll, bei der bzw. über die Forschungsarbeit im Feld möglichst viele Aufzeichnungen, Erinnerungsprotokolle anzufertigen, persönliche Eindrücke u. Ä. festzuhalten. Die Erlebnisse, Assoziationen, Gefühlsregungen etc. sollten (in unterschiedlichen zeitlichen Abständen) reflektiert, mit kooperierenden bzw. geeigneten Kommunikationspartnern ausgetauscht und besprochen werden. Auch eigene Phantasien und Träume können es wert sein, aufgeschrieben und themenbezogen weiter verfolgt zu werden. Was an technischen Aufzeichnungen im Feld unter pragmatischen und ethischen Gesichtspunkten möglich ist, sollte wahrgenommen werden - so lange der Aufwand und die Form nicht zum Selbstzweck werden. Nachträgliches Protokollieren aus dem Gedächtnis mag als altmodisch gelten, kann jedoch ebenfalls forschungsstrategisch sinnvoll sein und mitunter den Vorzug gegenüber technischen Aufzeichnungen verdienen; günstig ist dabei, wenn es zwei oder mehrere parallele Protokollanten gibt. In sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen, die sich dem nomothetischen Ideal verschrieben haben, herrscht ein enger Begriff wissenschaftlicher Empirie, der vorwiegend auf das Ablesen von Messwerten applizierter Instrumente ausgerichtet ist - physiologische Parameter, Test-Kennziffern u. Ä. sind prototypische Beispiele dafür. Bei Daten in alltagsweltlichen Formaten sind Forschende häufig bestrebt, deren anarchische O1arakteristik, die übliche methodische Raster leicht sprengt, schnellstmöglich durch Verwendung überkommener Schemata zu entschärfen (z. B. mittels apriorischer inhaltsanalytischer Kategorien/-systeme). Daten sind jedoch stets hochgradig (erkenntnis-) systembedingt, theoretisch aufgeladen, multipel bedeutungshaltig und interpretationsoffen. Unter diesen Voraussetzungen ist es von größter Bedeutung, ob ein Wissenschaftler über einen passenden Interpretationsrahmen für die Daten und deren Zustandekommen verfügt, der ihm ein theoretisch angemessenes Gegenstandsverständnis ermöglicht.
62 2.3.5.1
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Im Untersuchungsfeld: "Nosing Around"
Informationen über ein alltagsweltliches Feld, einen subkulturellen Weltausschnitt oder ein interessantes sozialwissenschaftliches Problemthema sind auf unterschiedliche Weise zu gewinnen. Erfahrungen, die ich als Alltagsperson in der sozialen Welt mache, werden in der wissenschaftlichen Ausbildung und Sozialisation zumeist mit dem Argument abgewertet, sie seien als Daten nicht "methodisch sauber" zustande gekommen. Daher neigen Sozialforscherinnen und Sozialforscher häufig dazu, Daten für ihr Forschungsthema weit "dort draußen" zu suchen, sie mit ihrer eigenen Person nicht in Zusammenhang zu bringen, die nahe vor der eigenen Tür liegenden Erfahrungsschätze gering zu schätzen. Im Sinne der hier vorgestellten Methodologie ist Achtsamkeit und aufmerksames Registrieren von informativen Situationen und Kontakten im Umgang mit alltagsweltlichen Kontexten und Herangehensweisen als Forschungsstrategie sehr sinnvoll. Ein Vorbild liegt in der US-amerikanischen interaktionistischen Soziologie-Tradition der sogenannten Chicago School, die sich v. a. für städtische Subkulturen und ethnische Minderheiten interessierte und die methodisch eine starke journalistische Prägung besaß (vgl. Riemann 2003; Lindner 2007). Als Schulengründer wird zumeist Robert Ezra Park (1864 bis1944) genannt, dessen Leitspruch "to see and to know life" lautete. Dort wurde die charakteristische Zuwendung zu einem Forschungsfeld als Nosing Around bezeichnet - als aufmerksames aber relativ zielunspezifisches Herumhängen, Mitfließen, Bummeln und Schnüffeln im Feld, mit einer Haltung "interessenlosen Interesses" (Lindner 2007, S. 13) oder "gleichschwebender Aufmerksamkeit" (vgl. Nadig 1998, S. 196 unter Bezug auf das Freud'sche Konzept) und unter (relativer) Auskoppelung bzw. (vorübergehender) Suspendierung eines moralischen Standpunkts. Entsprechend der persönlichen und kontextuellen Gegebenheiten und Möglichkeiten hält man sich im Untersuchungsfeld auf, man guckt herum - zu unterschiedlichen Tageszeiten, zu Werk- und Feiertagen, wendet sich hierhin und dorthin, nimmt Kontakte auf, man unterhält sich mit diesem und jener, probiert das eine oder das andere aus, macht sich bekannt und vertraut, entwickelt ein Gespür für den Kontext und seine Bewohner. Ein solches Vorgehen kann der Entdeckung theoretisch interessanter Aspekte und Relevanzen dienen, der Forscher kann Hinweise auf die Denk- und Handlungsweisen der Feldmitglieder bekommen - es kann also für die Problemannäherung und die theoretische Sensibilität der Forschenden und als gegenstandsbezogene Heuristik von Nutzen sein. Entsprechende Erlebnisse und Eindrücke können (schriftlich oder auch bildlich) festgehalten und reflektiert werden (z. B. im Feldoder Forschungstagebuch, als Fotos oder Videos). Auf dieser Grundlage lassen sich Ideen-Memos zu Konzepten, Modellen etc. entwickeln und ausarbeiten und der
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
63
Forschende karm sich Gedanken darüber machen, welche weiteren Untersuchungsschritte er in methodisch anders angelegter Weise zur Vertiefung unternehmen möchte - etwa im Sinne der Idee des Theoretical Sampling: Wo als nächstes hingehen und suchen? Mit wem als nächstes sprechen? Etc.
2.3.5.2
Gespräche, Interviews
Eine häufig praktizierte Form der Datengewinnung in Projekten qualitativer Sozialforschung ist das Interviewgespräch. Es werden forscherseits oftmals viel Überlegungen und Vorarbeiten darauf verwendet, eine solche Untersuchungssituation hinsichtlich Setting, Inhalt und Ablauf vorzubereiten. Ein Interview ist nicht lediglich als Geben bzw. Gewinnen themenbezogener Auskünfte anzusehen, sondernumfänglicher - als soziale Interaktion, als ein "interpersonelles Drama" (Hennarms 2000, S. 360ff.), in dem vielerlei Rollencharakteristika, Dynamiken, Verständnisse, Emotionen und Aushandlungen eine Rolle spielen. Der Interviewer karm sich dabei in der Position des Regieführenden wie des Mitakteurs betrachten. In der Methodenliteratur gibt es eine Anzahl kanonifizierter Fonnen von Forschungsinterviews, die sich etwa hinsichtlich des Grades der thematischen Offenheit und der verlaufsbezogenen Un-/Gebundenheit unterscheiden (vgl. etwa Hopf 2000; Flick 2002, S. 117ff.). Wird der Untersuchungspartner vom Interviewer hinsichtlich der Gestaltung des Gesprächs bzw. der Darstellungsweise an der "kurzen Leine" gehalten, oder besitzt er "narrative" Spielräume und Wahlmöglichkeiten? Autoren von Methodenbüchern versuchen sich mit Abwandlungen von Interviewformen einen bleibenden Namen zu machen, indem diese nuancierten Versionen mit ihrer Person gekoppelt werden. Nach unserer Erfahrung mit dem hier vorgestellten Forschungsstil ist es günstig, für diese Art der Datenerhebung im Kontakt mit Untersuchungspartnern den Ausdruck "Gespräch" zu verwenden und mit dem Gebrauch des Interviewbegriffs sparsam und zurückhaltend zu sein. Mit "Interview" werden bei den Untersuchungspartnern häufig Vorstellungen geweckt, die sich aus Erfahrungen mit (Massen-) Medien speisen (z. B. aus der Kenntnis des Ablaufmusters von Femsehinterviews mit strikteren Frage-Antwort-Folgen und wenig narrativen Anteilen). Auf Seiten des Forschenden sind mit dem Interviewbegriff allerlei Ideale des Wissenschaftlich-Methodischen, der eigenen Zurückhaltung, Meinungs-Enthaltsamkeit und Distanziertheit assoziiert. Auf diesen Erwartungshintergründen sind offene, intensive und empathische Besprechungen einer Thematik mit flexiblen Verlaufslinien schwer zu erreichen.
64
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Wir setzen für solche kommunikativen Situationen stärker auf ein persönliches Themen- und Partnerinteresse sowie auf Gesprächskompetenzen, wie sie in vertrauensvollen alltagsweltlichen Sozialkontexten gebraucht werden. Der Diskurs wird von den Beteiligten - auf dem Hintergrund geteilten sozialen (Regel-) Wissens - gemeinsam konstruiert und gestaltet (vgI. Mishler 1986). Forschungsbezogen geht es darum, den Untersuchungspartner zum ausführlichen Erzählen über die fokussierte Thematik, zum Darstellen seiner Sichtweisen, seiner Problemdeutungen, seiner Handlungserfahrungen, seiner Lebensgeschichte etc. zu bewegen und ihn als Zuhörer mit anteilnehmendem Interesse zu begleiten und seine Präsentations- und Explikationsbemühungen zu unterstützen. Ein in der Methodenliteratur häufig dargestellter Gesprächstyp ist das sogenannte "narrative Interview", in dem dem Untersuchungspartner ein großer Freiraum hinsichtlich selbstbestimmter Darstellungsweisen gegeben wird, das aber auch aufgrund seiner (impliziten) Verbindlichkeiten (sogenannter "Zugzwänge" des Erzählens) ein hohes Maß an Verdeutlichungsbemühungen hervorruft. Animiert durch eine themenfokussierende "Erzählaufforderung" wird der Gesprächspartner zu einer ausführlichen Stegreifdarstellung einer zusammenhängenden Geschichte gebracht (vgI. Schütze 1983; Hermanns 1984; Helfferich 2004). Die Nachvollziehensmöglichkeit des Forschenden soll (z. B. durch anschließende Nachfragen bei Verstehensproblemen) beachtet und gewährleistet werden. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn sich der Forschende im Laufe des Gesprächs in seiner Haltung zur behandelten Thematik (etwa durch vorsichtiges Ansprechen eigener Erfahrungen, Haltungen, Reflexionen) "sichtbar macht" bzw. zu erkennen gibt, um so ergänzende Erzählungen, gemeinsame Abwägungen und Vertiefungen von Überlegungen anzuregen. Eine solche Haltung setzt auf Forscherseite persönliche Souveränität sowohl in sozialer wie in themenbezogener Hinsicht voraus. Anfänger zeigen in solchen interaktiven Datenerhebungssituationen vielerlei Unsicherheiten, was sie in Interview-/Gesprächssituationen tun dürfen oder nicht tun dürfen, und sie versuchen, sich an methodischen Vorschriften - etwa an einem strikten Interviewleitfaden - festzuklammern. Häufig herrscht auch die Befürchtung unangemessener Einflussnahme auf den Gesprächspartner und den Gesprächsverlauf. Reaktive Effekte sind in Situationen dieser Art jedoch unvermeidlich - davon war bereits die Rede: Als Gesprächsteilnehmer beeinflusse ich ihn so, wie er auch mich beeinflusst. Es kann nicht darum gehen, diese Auswirkung zu vermeiden - es kommt vielmehr darauf an, mit ihr reflektiert umzugehen und sie zu einer positiven Erkenntnisquelle zu machen.
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
2.3.6
65
Dokumentieren und Transkribieren
Vom Forscher und von der Forscherin erlebte, beobachtete, registrierte Ereignisse im Feld bzw. in der Interaktion mit den Untersuchungspartnerinnen und -partnern müssen in einer Weise dokumentiert werden, dass sie einer analytischen Bearbeitung im Rahmen von Auswertungs- und Kodierverfahren zugänglich werden. Sie werden in eine Form transformiert, die es erlaubt, sie wiederholt, detailliert, mit zeitlicher Muße, allein und zu mehreren Auswertenden zu rezipieren, zu bearbeiten sowie sie einem Leser oder einer Leserin des wissenschaftlichen Produkts zugänglich zu machen. Heutzutage geschieht dies zumeist durch eine Umwandlung von technisch aufgezeichneten Geschehnissen, Erlebnissen und Interaktionen im Untersuchungsfeld in schriftlich-textuelle Darstellungen - in Gestalt von sogenannten Transkripten. Mitunter werden Erinnerungsprotokolle von beobachteten Ereignisverläufen, Erlebnissen, Verständnissen und Geschehenseindrücken angefertigt - u. U. auch über die technische Aufzeichnung hinaus. Auch während eines Feldaufenthalts können schriftliche Notizen bzw. Protokolle angefertigt werden (im Feldnotizbuch, im Forschungstagebuch). Wie das sinnvoller Weise konkret gemacht wird (sichtbar oder nicht sichtbar für Feldmitglieder, zwischendurch oder am Ende eines Beobachtungsintervalls etc.) hängt von mannigfachen Umständen (Feldgegebenheiten, Reaktionen der Feldmitglieder etc.) und den Untersuchungszielen ab (Worauf kommt es an? - Zu solchen Durchführungsfragen vgl. etwa Lofland 1979a; Schoneville u. a. 2006). Die schriftliche Protokollierung von Situationen und Interaktionen wird heute häufig ersetzt durch Audioaufzeichnungen (auf Tonbandkassetten oder anderen elektronischen Kleinspeichern) sowie durch Videoaufzeichnungen, die im Zeitalter der Miniaturisierung und Verbilligung der Geräte technisch relativ leicht möglich geworden sind. Die gegenstandsbezogene, situative und beziehungsmäßige Passung des Einsatzes solcher Aufzeichnungsgeräte muss vom Forschenden abgewogen und mit den Untersuchungspartnern ausgehandelt werden. Das Nadelöhr der Verschriftlichung der Aufnahmen bleibt bestehen: Wissenschaftliche Berichte haben textuelle Formate, seien es Bücher oder Zeitschriftenaufsätze in Print- oder elektronischen Medien. Am Horizont der wissenschaftlichen Produktion zeichnen sich allerdings auch Versuche mit transtextuellen Präsentationsweisen ab - etwa im Rahmen der sogenannten "performativen Sozialwissenschaft". Dort wird etwa mit bildlich-darstellerischen Formen experimentiert und gearbeitet (vgl. McCall 2000; Jones u. a. 2008). In diesem Zusammenhang ergeben sich naturgemäß neuartige Herausforderungen für die Formen und Kriterien wissenschaftlicher Produktion.
66
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Ein Transkript können wir bei genauerem Hinsehen nicht als schlichte Repräsentation, als abbildende Dokumentation beispielsweise eines (Interview-) Gesprächs auffassen. Transkribieren heißt vielmehr: ein Interaktions-/Kommunikationsereignis auf der Basis bestimmter Aufzeichnungs- und Erinnerungsspuren selektiv re-/konstruieren. Dabei wird u. a mündlich Gesprochenes in Schriftliches transponiert, es werden para- und nonverbale Aspekte des Gesprächs bzw. der Interaktion (Satzmelodie, Geschwindigkeiten, Unterbrechungen, Sprecheruberlappungen, Hörersignale, Gestik, Mimik, Teilnehmeranordnung im Raum etc.) - mehr oder weniger selektiv und detailliert - in einem konventionellen schriftlichen Syrnbolsystem festgehalten. Es wird - in der Regel auf der Basis einer technischen Aufzeichnung - notiert • was ein Sprecher gesagt hat, • oder was auf einer Tonspur technisch festgehalten ist, • oder was ein Hörer verstanden hat, • oder was mehrere Hörer gleichsinnig verstanden haben. Hiermit ist angedeutet, dass die Frage nach dem Gegenstand der Transkription bzw. nach ihrem Abbildungsbezug nicht trivial ist, sondern ein theoretisches Problem darstellt. Was tut jemand, der ein technisch aufgezeichnetes Interaktionsgeschehen transkribiert? Und wie ist das Produkt der Transkriptionsarbeit in Relation zum sozialen Ereignis, auf das es sich bezieht, zu verstehen? Man transponiert ein Ereignis aus einer Welt in eine andere - vom lebendig-sinnlichen Geschehen und erlebten Handeln in das Medium der elektromagnetischen Aufzeichnung und schließlich in ein schriftsprachliches oder linguistisches Symbolsystem. Dabei geht einiges verloren - anderes wird hinzugefügt. Dieser Transformationsprozess besitzt vielerlei Dimensionen und Aspekte, die man sich in der Transkribierpraxis selten bewusst macht. In Breuer (1999, S. 246ff.) gibt es dazu weiterführende theoretische und methodologische Überlegungen, aus denen hier einige Passagen zitiert werden: "Kann eine Äquivalenz kognitiver Prozesse zwischen zwei Personen erreicht werden, wenn die eine von ihnen unmittelbare Beobachterin des Interaktionsereignisses, die andere Leserin des entsprechenden Transkripts dieses Ereignisses ist? [...] Wenn eine Transkription weder die Sprecherinnen- noch die Hörerinnen-Seite des verbal-akustischen Anteils einer Sprech-/Hör-Situation (Interaktion) eindeutig und zweifelsfrei modelliert und auch die kognitiven Resultate einer Beobachterin und einer Leserin nicht ohne Probleme aufeinander beziehbar sind - was tut die Transkription dann? [...] Ich halte sie für eine selektive, perspektivische Konstruktion in einem neuen Darstellungs-Medium, ein Artefakt mit Werkzeugcharakter, eine methodische Hervorbringung durch Expertinnen. [...] In ,besseren Fällen' ist die Transkription eine Expertinnenschöpfung unter einer Konsens-Maxime - wenn zwei oder mehr Personen an der Transkriptherstellung beteiligt sind. Al-
2.3 Methodische Werkzeuge der Grounded Theory
67
lerdings zeigt sich erfahrungsgemäß, dass ein Transkriptionsbemühen. das auf einen hohen Genauigkeitsgrad angelegt ist, hinsichtlich der intra- und intersubjektiven Reliabilität problematisch wird: Je präziser und detaillierter die Verschriftlichung ausgearbeitet wird, desto unreliabler wird sie [...]. Reliabilitäts-Streben setzt eher ,flache' Transkriptionen in Vorteil. Zudem vergrößern sich mit steigendem Detailliertheitsgrad die Schwierigkeiten der Rezeption. [...] Transkripte sind Angebote möglicher Lesarten von Interaktionsereignissen, Erlebensweisen der Situations-/InteraktionsBeteiligten wie auch der nachträglichen Rezipientinnen. Man könnte sie betrachten als Bemühung um die (Re-) Konstnlktion eines ,Möglichkeitenraums' oder der ,latenten Sinnstnlkturen', aus dem/denen Teilnehmerinnen/Rezipientinnen jeweils bestimmte Ausschnitte oder Versionen realisieren" (Breuer 1999, S. 252ff.).
Transkribieren stellt sich im Rahmen von qualitativen bzw. von GTM-geleiteten Forschungsprojekten als methodisches und technisches Problem dar: Auf welche Weise macht man das? Wie transformiert man technische Tonaufzeichnungen in Textdateien auf den Computer - ökonomisch und methodisch angemessen? Macht die Forschende das eigenhändig? Oder ist das Zeitvergeudung? Delegiert man das besser an Hilfskräfte? Oder geht das gar "automatisch"? Für die Verschriftlichung gesprochener Sprache gibt es in der Linguistik eine Reihe elaborierter Regelwerke, in denen Symbolisierungsweisen, Notationen, Zeichen etc. entworfen werden. Sie sind zum Teil auf allergrößte Genauigkeit und Detailliertheit angelegt. Inwieweit derart ausgefeilte und arbeitsaufwendige Transkriptionsverfahren im Rahmen von GTM-Projekten - beispielsweise bei der Dokumentation von Interviewgesprächen - zur Anwendung kommen (sollten), muss nach gegenstandsbezogen-theoretischen Gesichtspunkten entschieden werden: Welche Aspekte und Ebenen der Feld- bzw. Forschungsinteraktion interessieren mich, sind für meine Theoriebildung wichtig? Wenn es beispielsweise in einer gesprächsanalytischen Studie um Aufklärung darüber geht, auf welche Weise Sprecherwechsel in Streitgesprächen vollzogen werden (sogenanntes "Turn Taking": Beanspruchen der Sprecherrolle, Ins-WortFallen o. Ä.), müssen Gesprächsphänomene in ihren verbalen und paraverbalen Charakteristika "mikroskopisch" genau untersucht werden. Wenn es mehr um die inhaltlichen Aspekte des Erzählten zu einem Problemthema geht, ist die Art und Weise der Gesprächsorganisation im Interview - von "besonderen" Passagen abgesehen - häufig nicht so wichtig. Insofern heißt die generelle Devise beim schriftlichen Dokumentieren von Kommunikationsereignissen: "Es sollten nur solche Merkmale des Gesprächsverhaltens transkribiert werden, die auch tatsächlich analysiert werden" (Kowal & O'Connell 2000, S. 444). Andererseits hatten wir bei der Darstellung der Themenfokussierungsdynamik in der GTM-Methodik gesehen, dass der Unterschied zwischen "wichtig" und "unwichtig" nicht unbedingt von Anfang an eindeutig zutage liegt. Insofern wird im Buch von Strauss & Corbin
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
(1996, S. 14) empfohlen, die Selektivität der Dokumentation bzw. Transkription
sich erst im Verlauf des Forschungsprozesses entwickeln zu lassen. Einen Überblick zu linguistischen Transkriptionssystemen findet man bei Dittmar (2004) und Knöbl & Steiger (2006). Hilfreiches dazu findet sich auch im Internet unter http://www.mediensprache.net/de/medienanalyse/transcription/ sowie unter http://www.audiotranskription.de/. Dort gibt es Übersichten zu Varianten von Transkriptionssystemen bzw. -regeln sowie zu technischen und elektronischen Lösungen und Hilfsmitteln (s. auch Cremer u. a. 2008). Bezüglich der Frage, ob es die Forscherin selbst sein soll, die die Transkription anfertigt, gehen die Ansichten auseinander. In den Diskussionen ist häufig die Meinung anzutreffen, Transkribieren sei für den Forschenden Zeitvergeudung. Es wird dem gemäß für unökonomisch gehalten, und es werden fremde Transkribierdienste in Anspruch genommen, die die Aufgabe gegen ein Honorar erledigen. Eine Utopie und (vermeintliche) Ideallösung des Problems ist die "automatische Transkription" mit Hilfe von Software-Werkzeugen der Spracherkennung, die auf dem Computer laufen und auch für unbekannte Sprecher und unübersichtliche Redeanteile tauglich sind. Wir vertreten zu dieser Thematik eine andere Ansicht: Wir halten die Verschriftlichungsprozedur keineswegs für eine "stumpfe" und "rein mechanische" Arbeit. Vielmehr ist sie mit intensiver Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsmaterial verbunden bzw. kann in dieser Hinsicht genutzt werden: Man hört die Aufzeichnung immer wieder an, man beschäftigt sich mit der Datenfülle und vielen Details, fügt (interpretationshaItige) Interpunktionen hinzu, gewinnt ein Gespür für und Eindrücke von Stimmqualität, Gesprächsatmosphäre, Gesprächsdynamik und Personcharakteristik der Beteiligten, es entwickeln sich vielerlei themenbezogene Assoziationen und Ideen. Aufgrund solcher Überlegungen ist es angezeigt, dass ein Forscher seine technischen Gesprächs-/Interviewaufzeichnungen für die weitere Auswertung eigenhändig in Schriftform bringt. Die Dokumentation eines Feldgeschehens oder eines Interviewgesprächs sollte keineswegs darauf beschränkt sein, die dort gesprochene Rede zu verschriftlichen. Vielmehr ist es sinnvoll, das Transkript einzurahmen durch ein Protokoll der Erinnerungen an die kontextuellen Gegebenheiten, an das "Vorher", "Nachher" und "Drumherum" des Forschungskontakts, an das eigene Erleben in der Situation und Interaktion, die eigenen Assoziationen, gegebenenfalls die Gedanken und Überlegungen aus einem Austausch unter den Mitgliedern des Forschungsteams, der im Anschluss an die Situation der Datenaufnahme stattgefunden hat. Für eine solche einbettende Dokumentation sollten im Rahmen von Forschungsprojekten systematische Anleitungen und Leitfäden entwickelt, und deren Durchführung sollte nicht nachlässig behandelt werden (vgl. Kapitel 3.5.2).
2.4 Kodieren
2.4
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Kodieren im Grounded Theory-Modus
Das Kodieren wird als Herzstück der GTM bezeichnet. Es handelt sich hierbei um relativ regelgeleitete und erlernbare Prozeduren, die in Aussicht stellen, aus einer Menge qualitativer Daten (Gesprächs-, Beobachtungsprotokolle u. Ä.) theoretische Konzepte und Strukturen extrahieren und destillieren zu können. Dieses GTMVersprechen wird nicht selten von Forscherinnen und Forschern in einer Weise miss-/verstanden, dass sie die Kodierprozeduren gewissermaßen losgelöst vom "Rest" der Methodologie benutzen: Er/sie hat beispielsweise unter einer apriorischen Forschungsfrage eine Menge von Interviews gesammelt und steht nun vor einem großen, komplexen, kaum zu überschauenden Berg von Daten und Informationen - und sucht das Zaubermittel, um hieraus komplexitätsreduzierende Allgemeinaussagen zu gewinnen. Auf der Suche nach einschlägigen Verfahren scheint das GTM-Kodieren mitunter als Rettungsanker. Von einem solchen (planlosen) Vorgehen ist allerdings abzuraten. Die Prozeduren des Kodierens entfalten ihren Sinn und ihre Potenzen erst im Rahmen der ausgebauten konsekutiv-iterativrekursiven Strategie des Hin und Her, des Vor und Zurück zwischen Datenerhebung, Konzeptbildung, Modellentwurf und Modellprüfung sowie der Reflexion des Erkenntniswegs. Auf diese Weise entsteht eine datengegründete Theorie in einer hermeneutischen Spiralbewegung.
2.4.1
Was heißt "Kodieren"?
Mit dem Begriff des Kodierens wird in den Sozial-, Kultur- und Textwissenschaften in der Regel die Zuordnung bestimmter aufgezeichneter oder symbolisch fixierter Phänomene bzw. Ereignisse (tontechnisch dokumentierte und/oder transkribierte Segmente gesprochener Sprache, videoaufgezeichnete Handlungssegmente, textliche oder bildliche Dokumente u. Ä.) zu einem kategorial-theoretischen Vokabular, zu verallgemeinernden Begriffen durch dafür geschulte bzw. qualifizierte Kodierer-Personen verstanden. Dabei wird die Logik verfolgt: "Ein ,xyz' ist ein ,A'!"; "xyz" stellt die Benennung von sichtbaren und leicht feststellbaren Phänomenmerkmalen bzw. Datencharakteristika und "A" die dem zugeordnete zugrunde liegende Kategorie (ein Verallgemeinerungskonzept) dar. Wenn wir an Interaktionen zwischen Kindern im Kindergarten interessiert sind und dort eine Beobachtungsstudie vornehmen, kodieren wir beispielsweise "schlagen, boxen, treten", "mit Bauklötzen werfen" und "schimpfen, anschreien" als Anzeichen ("xyz": Indikatoren) für "Aggression" ("A": Kategorie) eines dortigen Akteurs.
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Wir haben es hierbei mit Annahmen zum Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu tun und mit der Unterstellung, das Wesentliche ("dahinter") sei unsichtbar. Häufig verfügt der Kodierende bei einer solchen Verfahrensweise über ein fixiert-vorgegebenes Inventar ("System") von Kategorien, die auf die Daten appliziert werden. Bei dieser Prozedur - häufig Inhaltsanalyse genarmt - geht es darum, die Kodierer so gut einzuweisen und zu trainieren, dass sie alle das System bzw. die Zuordnung von Datenausschnitten und Kategorien in gleicher Weise benutzen. Ein Gütekriterium ist die (Höhe der) Übereinstimmung der Kodiererurteile bei identischem Datenmaterial, die sogenarmte Interrater-Reliabilität. Urteilsdivergenzen zwischen Kodierenden werden als Fehler eingestuft, und es werden Verfahren angewandt, um in Zweifels- bzw. Unstimmigkeitsfällen Eindeutigkeit zu gewährleisten (z. B. durch den Ausschluss von abweichenden Urteilen). Kodieren im Modus der GTM bedeutet demgegenüber etwas anderes. Strauss & Corbin (1996, S. 39) drücken das so aus: "Kodieren stellt die Vorgehensweisen dar, durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden."
Es geht also nicht darum, ein vor-/gegebenes und ab-/geschlossenes Inventar von Kategorien auf einen (in Segmente zerlegten) Handlungs-, Interaktions- oder Ereignisstrom bzw. auf ein Beobachtungsprotokoll, ein Felddokument, einen geschriebenen Text oder ein Gesprächstranskript anzuwenden. Vielmehr geht die Zielorientierung darauf hinaus, aus dem - unter einer vorläufig-globalen Interessenperspektive erhobenen - Datenmaterial auf dem Hintergrund der theoretischen Sensibilität des/der Kodierenden nach seinen (Vor-) Verständnissen und Deutungen bezüglich der Charakterisierung einer Ereignissequenz (einer Textstelle) bestimmte Kodes bzw. Kategorien zu er-/finden und auszuarbeiten und diese anschließend in einem theoretisch unterfütterten und durchdrungenen Modell wieder zusammenzufügen. Die Unterschiedlichk.eit möglicher "Lesarten" eines Datenausschnitts, die auftretenden Uneindeutigkeiten (sowohl zwischen verschiedenen Kodierenden wie "innerhalb" eines Kodierenden in zeitlichen Abständen) stellen dabei kein prinzipielles Problem im Sinne von Mangel und Fehlerhaftigkeit dar. Derartige Differenzen können vielmehr als standpunktgebundene Sichtweisen auf das Material aufgefasst werden, deren Variationen und Abweichungen als gegenstandstheoretisch-heuristische Quellen nutzbar sind. In diesem Rahmen geht es um begrifflich-konzeptuelle bzw. theoretische Identifikations-, Konstruktions- und Benennungsarbeit. Kodieren wird als eine kreative gedankliche und sprachliche Aktivität verstanden, bei der auf der Grundlage em-
2.4 Kodieren
71
pirischer Materialien einzelfallübergreifende, verallgemeinernde, typisierende Konzepte destilliert und benannt werden. Dadurch wird Wesentliches (aus dem Material, dem Phänomenbereich) extrahiert und auf einen theoretischen Begriff gebracht. Die Konzepte sollen aussichtsreiche Kandidaten für die Bildung von Erklärungsargumenten abgeben - was sich im Laufe der nachfolgenden Bearbeitung, beim Fortgang der Kodierung, der Kategorienentwicklung, bei weiterer gezielter Datensammlung sowie bei der Bildung theoretischer Modelle allerdings erst erweist. Beim Kodieren nach dem GTM-Modus wählt man als Ausgangspunkt empirisch-phänomenale Daten in sprachlicher bzw. versprachlichter Form (typischerweise Transkripte). Aus diesen bzw. aus einer detaillierten Analyse entsprechender Textsegmente durch Kodierende werden Kodes und Kategorien herausgearbeitet. Produktivitätsförderlich dafür - besonders in der Anfangsphase des Kodierens, beim sogenannten "Offenen Kodieren" (s. Punkt 2.4.5.1) - ist ein Gruppenprozess mit mehreren Kodierenden, der dabei hilft, die Offenheit, den Assoziationsreichtum und die Vielperspektivität bei der Deutung und Konzeptbildung zu stimulieren und zu sichern. Vier Augen, sechs Augen, acht Augen ... mit den entsprechenden Verständnishintergründen nehmen mehr wahr als zwei. Dabei ist es, zumindest anfänglich, nicht sinnvoll, Urteile bezüglich dessen zu forcieren, was (an Verständnis bzw. Lesart) "richtig" und was "falsch" ist. In der Frühphase des Kodierens sollten dem Assoziationsraum und den gedanklichen Freiheiten möglichst wenige Grenzen gezogen sein - auch zunächst fern liegende oder absurd erscheinende Ideen können anregend wirken, interessante und neuartige Blickweisen auf den Gegenstand eröffnen. In Kodiersitzungen lösen überraschende Deutungsvorschläge mitunter Heiterkeit aus, nicht selten geht es bei solchen Gelegenheiten lustig zu, und es kann viel gelacht werden.
2.4.2
Das Konzept-Indikator-Modell
Als Hintergrundannahme liegt dem Kodieren im GTM-Modus das sogenannte Konzept-Indikator-Modell zugrunde. Alltagsweltliche Phänomene in Form empirischer Daten werden als Indikatoren, als Anzeichen für etwas Allgemeineres, Grundlegenderes verstanden. Die Phänomene bzw. Indikatoren sind danach das Unmittelbare und Sichtbare, die allgemeinen Konzepte das Dahinterliegende. Letztere sind in den Daten gewissermaßen eingeschlossen, versteckt und müssen durch methodische und kreative Aktivität des Forschers, seine heuristischen und hermeneutischen Bemühungen auf der Basis theoretischer Sensibilität, zu Tage gefördert werden.
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Dieses Verhältnis von Indikatoren und Konzepten ist 1.UlS vom Prinzip her aus alltagsweltlichen Erfahrungszusammenhängen wie auch aus wissenschaftstheoretischen Regelwerken vertraut. • In der Alltagswelt und ihren kognitiv-sprachlichen Deutungsroutinen gehen wir häufig so vor: Wir nehmen bei anderen Personen oder an 1.UlS selbst bestimmte Verhaltensweisen wahr, die häufiger vorkommen, sich wiederholen. Wir deuten dieses Verhalten dann als ein verallgemeinertes Personcharakteristikum. Wir sprechen beispielsweise von jemandem als "spießig", "peinlich" oder "cool" - und fassen damit bestimmte von uns (häufiger, regelmäßig) beobachtete Verhaltensweisen dieser Person (Indikatoren) in einer typisierenden Weise begrifflich zusammen (Konzept). Dieses Vorgehen lässt sich als Begriffsbilden oder "alltagsweltliches Kodieren" bezeichnen. • In wissenschaftstheoretischen Überlegungen wird zwischen einer empirischen und einer theoretischen (Sprach-) Ebene unterschieden. Bei der Forschungsarbeit in empirischen Disziplinen wird mit sogenannten Konstrukten operiert, d. h. mit theoretischen Begriffen, die über Zuordnungsregeln mit der Sphäre des Beobachtbaren, mit den Indikatoren, in Zusammenhang gebracht werden (müssen). Methodologisch wird hier häufig von Operationalisierung oder operationaler Definition gesprochen. Ein klassisches psychologisches Konstrukt-Beispiel ist das der "Intelligenz": Dessen Indikatoren sind Verhaltenscharakteristika (Miss-/Erfolge, Leistungswerte) einer Person beim Umgang mit Problemlöseaufgaben, die in einer bestimmten Weise gemessen, zu einem numerischen Wert verrechnet und als Maß für eine spezifische Konstrukt-Ausprägung interpretiert werden. In der nomothetischen Standardwissenschaft fehlt allerdings eine systematische Methodik für die Er-/Findung und Entwicklung von Konstrukten. Dort wird die logische und empirische Stimmigkeit (Widerspruchsfreiheit) von theoretischer und empirischer Aussagenebene als Gütekriterium in den Mittelpunkt gestellt. Die gegenstandstheoretische Bedeutung der Konzeptbegriffe wird im Prozess der sogenannten Konstruktvalidierung ausgetestet: Ein Konstrukt wird bei der Aufstellung von Hypothesen verwendet, und die entsprechende Behauptung wird anschließend einer empirischen Prüfung unterzogen. Der Miß-/Erfolg derartiger Hypothesentestung hat - zumindest indirekt und längerfristig - Auswirkungen auf die Weiterverwendung des Konstrukts (vgl. Breuer 1991, S. 115ff.). Mit diesen Vorstellungen vom Verhältnis von Indikatoren und Konstrukten lässt sich die Idee des Kodierens in der GTM vergleichen. Die Kategorienbildung vollzieht sich im Grounded Theory-Vorgehen sowohl
2.4 Kodieren
•
•
73
datengetrieben, d. h. angeregt und inspiriert durch empirische Phänomene (Fälle, Ereignisse, Erfahrungen, Beschreibungen) und nicht geprägt durch eine explizite Apriori-Theorie - allerdings unter dem Vorbehalt der Voraussetzungshaltigkeit jeder Erkenntnis und ihrer dementsprechenden Reflexionsbedürftigkeit (vgl. Kapitel 1.3); wie kritisch-systematisch, d. h. durch Prüfen der theoretischen Potenz der Konzepte bzw. Kategorien (ihrer Erklärungs-, Vorhersage-, Integrationskraft) mit Hilfe der Anwendung auf neue Fälle und das In-Beziehung-Setzen zu anderen Konzepten, durch das theoretische Integrieren passender oder kontrastierender Beispiele mit Hilfe von Ausdifferenzieren und Sättigung der begrifflichen Komponenten des Modells und ihrer Relationen.
So werden im Kodierprozess induktive und abduktive sowie deduktive Schritte miteinander integriert und im Rahmen der hermeneutischen Spiralbewegung in einen Zusammenhang gebracht.
2.4.3 Die Logik des Kodierens Man kann sich die Kodierlogik - ganz ähnlich der Vorstellung vom hermeneutischen Zirkel bzw. der hermeneutischen Spiralbewegung (s. Punkt 2.2.2) - in folgendem Dreiecksverhältnis vorstellen:
--------Abbildung 2: Konstellation des Kodierens
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Der Kodierende bzw. der Forschende arbeitet an einem Brückenschlag zwischen Daten- und Theorieebene, den er bewerkstelligt durch • fortwährenden Dialog mit den empirischen Daten (Assoziationen, FragensteIlen, Überlegungen zu Kontrasten u. Ä.); • Entwicklung und Strukturierung von datengegründeten Konzepten - Kodes und Kategorien; • Ausarbeitung theoretisch aussichtsreicher Kodes zu Kategorien: mögliche Ausprägungsvarianten, Dimensionalisierung, Typenbildung, Zeitstrukturierung, Phasen, Schwellen, Übergänge u. Ä.; • Einbinden, Relationieren und Konfigurieren der Kategorien in Vorstellungen über Bedingungsgefüge bzw. Modelle; • Ausbalancieren zwischen dem "Eigenwert" der Phänomene/Daten und den (prä-) konzeptuellen Wahrnehmungs-, Verstehens- und Deutungsmöglichkeiten des Kodierenden.
I
Begriffsklärung: Konzepte, Kodes, Kategorien, Dimensionen Der Gebrauch von Sprachausdrücken für abstrakte Konzepte ist in diesem Zusammenhang mitunter verwirrend, die Begriffsverwendung ist bei verschiedenen GTM-Autoren unterschiedlich. Folgende Ausdrücke kommen dabei häufig vor: Begriffe, Konzepte: Beide Ausdrücke werden hier synonym verwendet und stammen nicht i. e. S. aus dem GTM-Vokabular. Sie bezeichnen verallgemeinernde Sprachausdrücke für spezifische empirische Phänomene (beobachtete Sachverhalte, Ereignisse, Erlebnisse). Sie liegen gewissermaßen eine Abstraktionsstufe oberhalb der Phänomenbezeichnungen bzw. -beschreibungen - analog der wissenschaftstheoretischen Unterscheidung zwischen zwei Sprachebenen; den "empirischen Begriffen" und den "theoretischen Begriffen" (wobei dieser Unterschied ein relativer ist; vgl. Breuer 1991, S. 111ff.). "Begriffe" und "Konzepte" können auch als Sammelbezeichnungen für "Kodes" und "Kategorien" angesehen werden. Kodes, Kategorien: Diese Ausdrücke werden in der GTM in einer spezifischen Weise verwendet. Mit "Kodes" sind (vorläufige) Abstraktions- und Bennennungsideen von Phänomenbeschreibungen (aus Transkripten oder Beobachtungsprotokollen) gemeint, wie sie Kodierer typischerweise im Zuge des "Offenen Kodierens" entwickeln. Aus einer größeren Anzahl solcher Kode-Ideen entstehen durch Selektion, Zusammenfassung, Sortierung, Fokussierung u. Ä. im Laufe des Kodierprozesses "Kategorien", die die theoretische Grundbegrifflichkeit einer entwickelten Grounded Theory darstellen. Die Kategorien werden im Laufe der Theorieausarbeitung in einer Modellstruktur konfiguriert, wobei sie unterschiedliche/n Gewich-
2.4 Kodieren
75
tigkeit bzw. Stellenwert in einer hierarchischen Anordnung der Theoriekomponenten bekommen können. So taucht in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von "Kategorie" und "Subkategorie" auf. Ferner ist in den GlM-Lehrbüchern von einer für die Theorie zentralen "Schlüssel-" oder "Kemkategorie" die Rede, "um die herum" die übrigen Kategorien angeordnet werden. Eigenschaften, Dimensumen: Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Ausarbeitung von "Kategorien" wird diesen eine gewisse konzeptuelle bzw. theoretische Struktur aus Eigenschaften und Dimensionen verliehen. Man kann beispielsweise überlegen, welche verschiedenen Ausprägungsvarianten es bezüglich einer Kategorie gibt - etwa hinsichtlich räumlicher oder zeitlicher Merkmale (drinnen draußen; Dauer etc.) oder Intensitätscharakteristika (stark - schwach o. Ä.). Eine Kategorie kann bezüglich solcher Eigenschaften gekennzeichnet werden; die Eigenschaften können dimensionalen Charakter besitzen. Die theoretische Ausarbeitung von Kategorien in diesem Sinn ist Bestandteil der kreativen Entwicklungsarbeit des GTM-Forschers (z. B. durch Anfertigen theoretischer Memos) sowie des fortwährenden Überprufens der Ideen anhand von empirischen Fällen (im Rahmen des Theoretical Sampling).
I
--------J
Man findet in der GTM-Literatur Darstellungen, wonach die Kodes bzw. Kategorien aus den Daten herauswachsen - gern wird dafür der Ausdruck emergieren benutzt. Naturgemäß entstehen die Konzepte nicht von allein bzw. nicht automatisch aus den Daten, sondern durch die handwerkliche und gedankliche Arbeit des Kodierenden. Die Erfindungen, Abstraktionen, Typisierungen, Selektionen, Fokussierungen werden von den Auswertenden bzw. Analysierenden vorgenommen. Bei einer intensiven Arbeit mit den empirischen Phänomenen im Rahmen dieser Konzeptbildungsprozedur (mit sprachlichen Feinheiten, Formulierungen, geäußerten Sichtweisen der Untersuchungspartner etc.) spricht man von datengegründeten Kategorien bzw. bei deren weiterer Ausarbeitung: von einer datengegründeten Theorie, eben einer Grounded Theory. Für den Erfolg der Theoriebildung ist es wichtig, dass Kodieren nicht lediglich in einer Paraphrasierung des im Interview Gesagten bzw. im Beobachtungsprotokoll Festgehaltenen besteht, also nicht in einer Wiedergabe in synonymen Begriffen der gleichen Abstraktionsstufe. Vielmehr sollen Begriffe ge-/erfunden werden, die wesentliche Gegenstandsaspekte auf einem theoretisch allgemeineren Niveau fassen. In dieser Hinsicht sind eine gewisse handwerkliche Übung und ein theoretisches Gespür nötig: Einerseits sollen die gebildeten Kodes und Kategorien sich durch ihre (relative) Spezifität und Gegenstandsnähe auszeichnen - andererseits
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sollen sie Idealisierungen und Abstraktionen darstellen. Weder triviale Zusammenfassungen eines Urspnmgstextes (z. B. von Interviewaussagen) noch weit von der Gegenstandscharakteristik entfernte Allgemeinbegriffe sind in der Regel nützlich. Die "Kunst" liegt gewissermaßen in der Mitte zwischen diesen beiden Polen: Es geht um das Entwickeln abstrakter Begriffe, die jedoch noch die Aura ihres empirischen Rejerenzobjekts besitzen, die gewissermaßen nach ihrer Gegenstandsherkunft riechen und schmecken. In den Regelwerken des Kodierens, die sich in den GlM-Lehrbüchern finden, werden unterschiedliche Verfahren und Instrumente vorgeführt. Üblicherweise werden das "Offene Kodieren", das "Axiale Kodieren" und das "Selektive Kodieren" unterschieden, die im Forschungsprozess sukzessiv aufeinander folgen. Diese Abfolge kann jedoch auch iterativ immer wieder neu (von vorn auf verändertem Verständnishintergrund) durchlaufen werden. Die Kodierschritte haben jeweils unterschiedliche Zielsetzungen und folgen verschiedenen Re-/Konstruktionslogiken. Die in diesem Zusammenhang vorkommenden zentralen Begriffe und Verfahren, die nachfolgend genauer erläutert werden, sind in Abbildung 3 in eine gewisse Übersicht und Systematik gebracht (vgl. Strauss 1991; Strauss & Corbin 1996; Berg & Milmeister 2007):
Offenes Kodieren
Axiales Kodieren
Kode-Ideen mögliche Lesarten
Selegieren, Ordnen Dimensionalisieren Sortieren 1. Ordnung
Story Line Integrieren, Verdichten Sortieren 2. Ordnung
Kodierparadigma
Kernkategorie
/
,, ,
,,
,, ,
Selektives Kodieren
,,
/ /--\ ,,
\
,,
,
____ (Grounded) (Primär-) Daten - - - Kode - - Kategorie - - - Modell Theorie
\
Rezeption! Verarbeitung
/~/
Konzeption! Entwurf
Strukturgebung! eigenes Erzählen
Abbildung 3: Kodierprozeduren in systematisierter Anordnung
2.4 Kodieren
77
2.4.4 Der Ablaufdes Kodierprozesses Der Forschende durchläuft beim Kodieren idealtypisch folgende Überlegens- und Arbeitsschritte auf dem Weg zu einer gegenstandsgegründeten Theorie: (1) Orientierung auf eine interessierende Themenstellung, auf eine (im Fortgang noch zu fokussierende und zu spezifizierende) Forschungsfrage, (2) Aufsuchen und/oder Herstellen themenbezüglich potentiell interessanter FeldPhänomene (Personen, Ereignisse, Interaktionen etc.): Sammlung von Daten und deren Aufbereitung (Aufnehmen, Dokumentation, Transkription zu einem "Daten-Text"); (3) Selegieren und Segmentieren des Daten-Textes: Welche Teile und Aspekte sind (nach dem derzeitigem Forscherverständnis, Prä-/Konzept) interessant bzw. relevant? Wie können angemessene Sinn- bzw. Analyse-Teileinheiten gebildet werden ("Komgröße": makroskopisch, mikroskopisch)? Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, einen Text in mehreren Kodierdurchgängen auf unterschiedliche Weise (in verschiedenen Auflösungsgraden) zu segmentieren und zu analysieren. (4) Rezeption und Verarbeiten des Daten-Textes: Intensive Lektüre und Auseinandersetzung; Entwurf abstraktiver Begriffe, möglicher Sinnvarianten des Textausschnittes ("Lesarten"); Benennungsarbeit: Kodes, Kategorien-Kandidaten; Offenes Kodieren; Finden einer "optimalen Distanz" zwischen Daten und gebildeten Kodes (Abstraktion mit "Objektgeruch"); (5) Nachdenken über Kategorien-Kandidaten, ihre Ausdifferenzierung und Ausarbeitung: Die theoretischen Konzepte stehen im Fokus, deren Eigenschaften und Dimensionen; Suchen von Ähnlichkeiten und Gegenteilen; von Zusammenhängen; Sortieren und Bündeln der Kodes und Kategorien (1. Ordnung); Zuhilfenahme von Sortierlogiken (das sogenannte paradigmatische Modell; vgl. Strauss & Corbin 1996, S. 78ff.; oder andere Sortierhilfen, z. B. die "Kodierfamilien" von Glaser 1978, S. 72ff.); Kategorien-Memos; Axiales Kodieren; (6) finales Fokussieren und Spezifizieren des Themas; Sortieren, Integrieren der Konzepte; ihr Anordnen nach einer Modell-Logik um ein theoretisches Zentrum (Kernkategorie; Sortieren 2. Ordnung); Selektives bzw. Theoretisches Kodieren. Dieser Parcours besitzt jedoch in den seltensten Fällen eine derart einfache und geordnete Struktur und Abfolge. Häufiger ist er durch Um- und Abwege, Zwickmühlen, Sackgassen, Vagheiten, Wiederholungen, Überraschungen u. Ä. gekennzeichnet. Beim Kodieren im GTM-Modus wird häufig zwischen den sogenannten theoretischen Kodes und den In-vivo-Kodes unterschieden.
78
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Bei ersteren handelt es sich um Erfindungen (aspektbezogene Abstraktionsleistungen, Wortschöpfungen etc.) des Kodierenden oder um Anknüpfungen an existierende wissenschaftliche Konzepte. Begriffliche Übernahmen aus anderen Theoriezusammenhängen bringen mitunter das Problem mit sich, dass sie durch die dortige Verwendung geprägt und daher u. U. mehrdeutig sind und zu Missverständnissen Anlass geben. Sprachliche Erfindungen und Neuschöpfungen sind daher bei der Entwicklung von Kategorien einer bereichsbezogenen Grounded Theory häufig vorzuziehen: Dies entspricht zum einen der kreativen Seite der GTM und ermöglicht zum anderen die Gegenstandsnähe des theoretischen Vokabulars. Bei den sogenannten In-vivo-Kodes handelt es sich um die Übernahmen von kennzeichnenden bzw. typisierenden Ausdrucks-, Redeweisen oder Bezeichnungen der Befragten bzw. Beobachteten, die sich in den Texten bzw. Materialien finden lassen. Diese können zu Kandidaten für die wissenschaftliche Tenninologie gemacht werden. Die Möglichkeit, auf diesem Weg zu gegenstandsbezogenen Kategorien zu kommen, erklärt sich aus der Tatsache, dass die Mitglieder des Untersuchungsfelds - entsprechend dem hier zugrunde liegenden Menschenbild - für reflexive Subjekte gehalten werden (vgl. Punkt 1.2), die über ihre eigene Person, ihr Handeln, ihre Subkultur etc. nachdenken und entsprechende interpretierende und typisierende Begriffe bilden, die in ihrer Lebenswelt zur Strukturierung und Erklärung herangezogen werden. Sie haben häufig den Vorteil, Charakteristika des Gegenstands im Idiom des Feldes ("authentisch") zu fassen. So eröffnet sich die Möglichkeit, die gedanklichen und sprachlichen Konstruktionen der Feldmitglieder für die Bildung von Kategorien im Sinne der GTM zu nutzen und fruchtbar zu machen. Der "Geruch" bzw. "Geschmack" des thematischen Gegenstandes ist bei dieser Art der Begriffsbildung nahezu garantiert. Für die Erfindung und Benennung von Konzepten ist sprachliche Sensibilität und Kreativität nötig. Die gefundenen bzw. konstruierten Ausdrücke (Kodes, Kategorien) sollen möglichst treffend formuliert sein, so dass die Aura des Gegenstands (-feldes) "herüberkommt". Insofern sind Achtsamkeit bezüglich des Sprachgebrauchs, der Begriffsverwendung und der Wortschöpfungen der Akteure im Untersuchungsfeld wichtig. Bei der Kodierprozedur im GTM-Modus wird davon ausgegangen, dass Sprache zählt - dass es darauf ankommt, dass es lohnenswert ist, sich um eine sprachlich-begrifflich passende Ausdrucksweise zu bemühen. Dafür sind, neben Sprachgefühl, Entdeckungsfreude und Lust am Spielerischen, auch Geduld und "Sitzfleisch" der Forschenden gefragt. Beim Kodieren geht es nicht um das Herausfinden des wahren Sinns, der wahren Be-/Deutung im Einzelfall (Was steckt bei einer Person "wirklich" dahinter? Was hat die Gesprächspartnerin damit "wirklich" gemeint? o. Ä.). Das herauszufinden
2.4 Kodieren
79
ist nicht Ziel und Anspruch der Kodierprozedur in der GTM - und diese Charakteristik unterscheidet sie von Deutungsverfahren wie beispielsweise der Psychoanalyse oder der sogenannten Objektiven Hermeneutik. Vielmehr steht das Entdecken, Sammeln, Zusammenstellen möglicher Lesarten, potentieller Bedeutungen, Sinnebenen und -aspekte von Daten, eines Textsegments o. Ä. im Mittelpunkt: Auf welche durchaus unterschiedlichen Weisen kann man die Aussage bzw. eine bestimmte sprachliche Ausdrucksweise verstehen? Und welche Voraussetzungen oder Implikationen sind mit den jeweiligen Verständnisvarianten verbunden (Präkonzepte, Perspektiven, Werthaltungen u. Ä.)? Die Deutungsplausibilitäten für einen Einzelfall können naturgemäß begründet und diskutiert werden. Häufig gibt es hierbei jedoch keine Entscheidungen, die mit Gewissheit richtig sind. Das Ziel besteht nicht in der Diagnose von Merkmalen, Intentionen o. Ä. einer spezifischen Person. Die Daten eines Untersuchungsteilnehmers werden vielmehr dazu benutzt, um Vorstellungen über Grundkonzepte, Komponenten, Dimensionen, Bedingungsgefüge, Verlaufsmuster o. Ä. zu entwickeln, die zu einer Beschreibung der möglichen Varianten von Phänomenen und Prozessen in einem Handlungsfeld oder in einer Subkultur sowie zu deren Verständnis und Erklänmg beitragen können.
2.4.5 Verfahren und Regeln des Kodierens In den Lehrbüchern der GTM gibt es Sammlungen von Regeln und Vorbildern für die Entwicklung, Ausarbeitung und Vernetzung von Kodes bzw. Kategorien. Diese sollen einmal die Offenheit und Entdeckungsfreude bei der Begriffsbildung fördern, zum anderen die Systematisierung und theoretische Verdichtung der Kategorien sowie deren Vernetzung in Modellkonfigurationen inspirieren. Zu diesem Zweck werden drei Formen des Kodierens vorgeschlagen, die als "Offenes", "Axiales" und "Selektives Kodieren" bezeichnet werden. Die Vorstellung, es gäbe die (einzig) richtige Vorgehensweise des Kodierens, führt in die Irre. Es bilden sich im Laufe der individuellen GTM-Praxis bestimmte persönlich-handwerkliche Stilvarianten des Umgehens mit dem Regelwerk der Lehrbücher heraus. Ferner ist es praktisch unmöglich, das gesamte bei einem GTM-Projekt gewonnene Datenmaterial (Gesprächstranskripte, Feldprotokolle, selbstreferentielle Beobachtungen etc.) in gleichbleibender Detailliertheit zu kodieren. Stets ist es notwendig, aus umfangreichen Datenmengen bestimmte Ausschnitte als (vorläufig, vermutlich) bedeutsam und interessant auszuwählen und sich diesen in der Analyse besonders aufmerksam, feinkörnig und intensiv zu widmen. Diese Auswahlentscheidung sollte unter gegenstandsbezogenen Fokus-
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sienmgs-Leitlinien begründet sein und im Lichte neuer Überlegungen modifiziert werden. Theoretische Abstraktionen per Induktion bzw. Abduktion bleiben stets riskant. Der damit verbundenen Ungewissheit soll im Rahmen des spiralförmig sich entwickelnden Erkenntnisprozesses ein angemessener Raum für Revisionsmöglichkeiten eingeräumt werden. Die folgende Darstellung ist hauptsächlich orientiert an den einführenden Lehrbüchern von Strauss (1991) sowie von Strauss & Corbin (1996).
2.4.5.1
Offenes Kodieren
"Offenes Kodieren stellt [...] den analytischen Prozeß dar, durch den Konzepte identifiziert und in Bezug auf ihre Eigenschaften und Dimensionen entwickelt werden. Die grundlegenden analytischen Verfahren, mit denen das erreicht wird, sind: das Stellen von Fragen an die Daten und das Vergleichen hinsichtlich Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen jedem Ereignis, Vorfall und anderen Beispielen für Phänomene. Ähnliche Ereignisse und Vorfälle werden benannt und zu Kategorien gruppiert" (Strauss & Corbin 19%, S. 54f.).
In einer intensiven, quasi mikroskopischen Analyse eines Beobachtungsprotokolls oder Gesprächstranskripts (hinsichtlich der gebildeten Textsegmente: möglicherweise Wort für Wort, Zeile für Zeile, Satz für Satz - oder auch in größeren Einheiten) wird versucht, die Phänomenbeschreibungen " aufzubrechen", indem sie durch passende Oberbegriffe (Kodes) gekennzeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine Art assoziatives Brainstorming zu möglichen Bedeutungen, Benennungen, unterschiedlichen Lesarten eines Textes mit dem Ziel der Bildung von typisierenden Sprachausdrücken, von Begriffen höheren Allgemeinheitsgrades. Unterschiedliche Deutungen darüber, "was hier der Fall ist", "wie das zu verstehen ist" etc. sind von Interesse und können als Interpretationsmöglichkeiten durchaus nebeneinander stehen bleiben. Es geht um die konzeptuelle bzw. theoretische Eröffnung eines Raums möglicher Be-/Deutungen eines Phänomens, eines Datenausschnitts. Hierbei darf es zunächst auch gewagte, riskante, auf den ersten Blick abwegige Assoziationen und Interpretationen geben. Offenes Kodieren ist besonders ergiebig, wenn sich daran mehrere Personen beteiligen: Innerhalb eines Forschungsteams oder innerhalb einer Gruppe von GTM-Erfahrenen, die an unterschiedlichen Themen und Projekten arbeiten, können durch Anregungen und Perspektivenöffnungen im kooperativen Prozess reichhaltige und kreative Kodierideen, Kodes, Kategorien-Kandidaten und konzeptuelle Überlegungen zustande kommen. Offenes Kodieren für sich allein ist hingegen ein schwierigeres Geschäft, vor allem für Novizen. Hierbei treten - neben interessanten Einfällen - auch vielerlei Unsicherheiten auf, die sich erst im weite-
2.4 Kodieren
81
ren Auswertungs- und Modellbildungsprozess auflösen. Umgehenkönnen mit offenen, unübersichtlichen Situationen, Unsicherheitstoleranz und Ausdauer sind hier als persönliche Qualifikationen gefragt. Im Prozess des Offenen Kodierens entsteht eine Vielzahl von Ideen und Kodes zu (Ober-) Begriffen, durch die bestimmte Phänomene abstrakter gekennzeichnet und theoretisch gebündelt werden können. Durch Hin-und-Her-Abwägungen zwischen Datenbezug und Theorieorientierung kristallisieren sich aus dieser Sammlung Kategorien heraus, die für eine gegenstandsbezogene Modellierung tauglich erscheinen können. Deren Strukturcharakteristika, ihre Kennzeichen bzw. Eigenschaften werden genauer untersucht und ausgearbeitet. Dimensionen bzw. die Kodiereraktivität des Dimensionalisierens sind hierbei wichtige Aspekte: Die Eigenschaften der Kategorien lassen sich dimensional darstellen, mit Hilfe von Merkmalskontinua oder Abstufungsformen kennzeichnen. Generative Fragen Das Stellen von Fragen an die Daten, das deren "kategoriales Aufbrechen" befördern oder auch zu neuen Schritten, Blick- und Frageweisen der Datengewinnung führen kann, wird von unseren GTM-Autoren für eine wichtige heuristische Aktivität auf dem Weg zu einer gegenstandsgegründeten Theorie beschrieben. Derartige Fragen ergeben sich beim Nachdenken über Phänomene aus einem Gegenstandsgebiet im Zusammenhang mit dem vorhandenen Kontext- und Hintergrundwissen eines Forschers oder bei der Auswertung von Daten, beispielsweise beim kleinräumigen Kodieren von Gesprächstranskripten, der Analyse eines Wortes, einer Zeile, eines Satzes o. Ä. Darüber hinaus spielt das Fragenstellen in allen Phasen des Forschungsprozesses eine bedeutsame horizonterweiternde Rolle. Strauss und Corbin schlagen einige Standardfragen vor, die sich mit Aussicht auf Erkenntnisgewinn auf alle Fälle applizieren lassen: "Es gibt bestimmte allgemeine Fragen, die gleichsam automatisch an die Daten gestellt werden können. Jede Frage regt eine Reihe spezifischerer und davon abgeleiteter Fragen an, die wiederum der weiteren Entwicklung von Kategorien, Eigenschaften und ihren Dimensionen dienen. Diese grundlegenden Fragen lauten Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviei? Und Warum?" (Strauss & Corbin 1996, S. 58).
Am Beispiel einer Studie über den individuellen Umgang mit Schmerzen bei Arthritis illustrieren die Autoren dies anhand des Beispielkonzepts (der Kategorie) "Schmerzerleichterung", das sie im Forschungsprozess entwickelt hatten. Zur weiteren Exploration und Anreicherung dieser Kategorie in einem theoretischen Umfeld stellten sie Fragen, denen sie durch analytische Überlegungen, Inspektion
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ihres Datenfundus sowie durch neue empirische Recherchen nachgingen (Strauss & Corbin 1996, S. 59f.): • • • • • •
Wer verschafft Menschen mit Arthritis Schmerzerleichterung? Was gibt Erleichterung? Wie wird Schmerz erfahren und bewältigt? Wie viel Erleichterung wird benötigt? Wann tritt der Schmerz auf und wann sorgt eine betroffene Person für Erleichterung? Warum ist Schmerzerleichterung wichtig?
Anstellen von Vergleichen Das Vergleichen, das Suchen nach bzw. Bilden von Kontrasten ist ein heuristisches Kernverfahren im Instrumentenkoffer der GTM ("Constant Comparison Method"; Glaser & Strauss 1998, S. 107ff.; vgl. Kelle 1994, S. 293ff.). Das Kontrastieren von Fällen, Ereignissen, Zeitpunkten, Personen, Gruppen, Situationen und Kontexten hinsichtlich theoretisch potenziell interessanter Eigenschaften ist eine zentrale Quelle von Erkenntnis, die den Stoff für gegenstandsbegründete Theorien hergeben kann bzw. aus der einschlägige Ideen herauswachsen können. Die Forscherin wird zur permanenten Suche nach zufälligen, theoriebezogenen und systematischen, nah bei oder auch entfernt liegenden Vergleichen aufgefordert. Diesbezüglich ist der "schockierende" Vergleich zwischen dem Priester und der Prostituierten hinsichtlich der Merkmale ihrer Tätigkeiten sprichwörtlich (er wurde erstmals von Hughes 1970 in der einschlägigen Methodenliteratur verwendet; vgl. Star 2007, S. 81): Angehörige beider Berufsgruppen werden von ihren Klienten mit "Bekenntnissen" konfrontiert, beide hören anderen eher zu als dass sie aus dem eigenen Leben berichten, beide schaffen Kontexte von Intimität. Gegenüberstellungen dieser Art sind geeignet, die Augen einer Forscherin für die Strukturen, Eigenheiten und Dynamiken des Gegenstandsgebiets zu öffnen, dabei neue Konzepte zu entdecken, Bedingungszusammenhänge und Prozesse aufzuklären - auf der Grundlage vorhandener Daten, Präkonzepte und Verstehensmöglichkeiten. Vertrautes kann durch die Konfrontation mit Unvertrautem bzw. Neuartigem häufig den Charakter des Selbstverständlichen und Normalen einbüßen. Vergleiche und Kontraste sind dazu geeignet, den Forscherblick zu erweitern, die theoretische Sensibilität zu verbessern, den Erstreckungsbereich einer Theorie auszuloten, die Theoriestrukturen anzureichern und zu verdichten.
2.4 Kodieren
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Eigenschaften und Dimensionen Anselm Strauss (1991, S. 40ff.) berichtet über eine seiner Krankenhaus-Studien, in der er (mit Kollegen) der Frage nachging, wie sich die Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten durch den Einsatz von Apparaten verändert. Dabei entwickelte er die Kategorie des "Apparat-Körper-Anschlusses". Nach seinen Beobachtungen sind Krankenhauspatienten auf unterschiedliche Weise mit technischen Geräten verbunden. Er begann, die Art dieser Anschlüsse hinsichtlich ihrer Eigenschaften und deren Dimensionen zu vergleichen und auszudifferenzieren: ,,[...] zwischen solchen Apparaten, bei denen der Anschluß extern über die Haut des Patienten verläuft, und solchen Apparaten, bei denen der Anschluß innerlich gelegt ist (durch Körperöffnungen [...]). Diese Unterscheidung hat zwei Dimensionen der Apparat-Körper-Kategorie: innerliche und äußerliche Anschlüsse. [...] Subdimensionen können auch analytisch generiert werden, indem man Fragen stellt [...]. So beispielsweise über die innerlichen Anschlüsse: Könnten sie [...1den Patienten verletzen? Sind sie sicher? Sind sie unbequem? Machen sie dem Patienten Angst?" (a. a. 0., 5.41).
Man kann derartige Sub-/Dimensionen als Nominalskalen (z. B. dichotom: ja nein) oder als Kontinua konstruieren, etwa als Skala mit bestimmten Wertausprägungen (technisch gesprochen: als Ordinal- oder Intervallskaien). Strauss & Corbin (1996, S. SOff.) illustrieren das Dimensionalisieren von Kategorien bzw. deren Eigenschaften im Kontext einer Studie über die Arbeit in einem Restaurant, bei der sie eine offensichtlich für die dortigen Abläufe wichtige Person - "die Dame in Rot" - beobachtet haben. Deren Rolle hatten sie zunächst mit dem Kode "Speisen-Dirigentin" gekennzeichnet. Die Arbeit der Person ist durch unterschiedliche Handlungen geprägt, deren Spektrum (z. B. Beobachten, Überwachen, Helfen ...) mit dem systematisierenden Begriff "Arbeitstypen" belegt wird. Für den Arbeitstyp "Beobachten" haben sie beispielsweise folgende Eigenschaften unterschieden und dimensionalisiert: "Bei jedem Vorkommen von Beobachten können wir seine Häufigkeit festhalten. Kaufigkeit kann durch folgende Fragen dimensionalisiert werden: Wie oft beobachtet sie diesen Bereich im Vergleich zu anderen? [...] Beobachten hat auch die Eigenschaft Ausmaß. [...] Hinzu kommt die Eigenschaft Intensität. [...] Eine andere Eigenschaft ist die Dauer des Beobachtens. Beobachtet sie einen Bereich für lange oder kurze Zeit?" (a. a. 0., S. 52).
So bekommt die Kategorie "Beobachten" aus dem Inventar der "Arbeitstypen" bestimmte Eigenschaften jeweils mit einem dimensionalen Ausprägungsspektrum zugeordnet: Häufigkeit (oft - nie), Ausmaß (viel- wenig), Intensität (hoch - niedrig) und Dauer (lang - kurz). Eine weitere lllustration zum Dimensionalisieren nehmen Strauss & Corbin (1996, S. 124) bei der Erläuterung des allgemeinen Konzepts "Veränderung" vor.
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Veränderungen haben u. a die Eigenschaften: Geschwindigkeit (schnell - langsam), Vorkommen (geplant - nicht geplant), Gestalt (geordnet - zufällig; fortschreitend - nicht fortschreitend), Richtung (vorwärts - rückwärts; aufwärts - abwärts), Zweck (weit - eng), Wirkungsgrad (groß - klein), Kontrollierbarkeit (hochniedrig). Das Nachdenken über bzw. das Suchen nach Kategorien-Eigenschaften und deren Dimensionen dient der Ausdifferenzierung eines konzeptuellen Raums für die Modell- bzw. Theorieentwicklung. Ob diese Sub-/Kategorien, ihre Eigenschaften und Dimensionen für eine gegenstandsbezogene Theorie von Bedeutung sind oder nicht, stellt sich erst im Verlauf der Forschungsarbeit durch die Verbindung mit empirischen Daten und mit anderen Kategorien heraus.
2.4.5.2
Axiales Kodieren
Mit derartigen Überlegungen zur Bedingungsanalyse, Strukturbildung und Systematisierung von kodierten Daten haben wir bereits die Grenze zum "Axialen Kodieren" überschritten. "Axiales Kodieren fügt [die durch Offenes Kodieren aufgebrochenen] Daten auf neue Art wieder zusammen. indem Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihren Subkategorien ermittelt werden. [...] Beim Axialen Kodieren liegt unser Fokus darauf, eine Kategorie [..., die ein spezifisches Phänomen kennzeichnet,] in Bezug auf die Bedingungen zu spezifizieren, die das Phänomen verursachen; den Kontext (ihren spezifischen Satz von Eigenschaften), in den das Phänomen eingebettet ist; die Handlungs- und interaktionalen Strategien, durch die es bewältigt, mit ihnen umgegangen oder durch die es ausgeführt wird; und die Konsequenzen dieser Strategien" (Strauss & Corbin 1996, S. 76).
Axiales Kodieren ist nach Strauss & Corbin (1996, S. 86) durch vier analytische Schritte gekennzeichnet: "a) das hypothetische In-Beziehung-Setzen von Subkategorien zu einer Kategorie [entsprechend dem sogenannten "Paradigmatischen Modell"; s. unten] [...]; b) das Verifizieren dieser Hypothesen anhand der tatsächlichen Daten; c) die fortgesetzte Suche nach Eigenschaften der Kategorien und Subkategorien und nach der dimensionalen Einordnung der Daten [...], auf die sie verweisen; d) die beginnende Untersuchung der Variation von Phänomenen [...]."
Es geht hier darum, Systematiken für die An-/Ordnung und das In-BeziehungSetzen der herausgearbeiteten Kategorien zu entwickeln. Dabei können neue Fragen und Ideen hinsichtlich bisher unentdeckter oder vernachlässigter Fälle und Felder auftauchen, die zu weiterer Datenerhebung oder einem veränderten Blick
2.4 Kodieren
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auf die vorhandenen Daten anhalten. Hier kommt die Forschungsstrategie des Theoretical Sampling ins Spiel. Beim Axialen Kodieren lassen sich unterschiedliche gegenstandsunspezifische, verallgemeinert-metatheoretische Vorstellungen verwenden, die als vorgehensleitende Heuristiken das Zustandebringen von Ordnungssystematik anleiten können. Insbesondere sind hier das Paradigmatische Modell, die Bedingungsmatrix sowie die Typenbildung zu nennen. Paradigmatisches Modell In den GTM-Darstellungen bei Strauss (1991) sowie Strauss & Corbin (1996) werden bestimmte Modellierungsrichtlinien und Sortierhilfen in Bezug auf herausgearbeitete Kategorien vorgegeben. Da ist zum einen das sogenannte Paradigmatische Modell oder auch Kodierparadigma. Anselm Strauss verfolgt in seiner soziologischen bzw. sozialpsychologischen Orientierung eine interaktionale Handlungstheorie (vgl. Strauss 1993). Seine spezifischen gegenstandsbezogenen Entwürfe besitzen eine Theorie des sozialen Handelns in gesellschaftlichen, sub-/kulturellen und institutionellen Kontexten als Hintergrund. Zusammen mit einer epistemologischen Vorstellung der kausalen Bedingtheit von Sachverhalten, Ereignissen und Handlungen ergibt sich ein (apriorisches) Modell, das allen nach GTM (sensu Strauss) entwickelten Theorien unterlegt ist. Dieses Präkonzept enthält Annahmen, die aus der gegenstandsspezifischen Auswertungs- und Theoriebildungsarbeit selbst nicht bzw. nicht unbedingt hervorgewachsen sind (in der Erkenntnistheorie werden solche Annahmen häufig als "synthetische Urteile apriori" bezeichnet - nach einem terminologischen Entwurf Kants aus dessen "Kritik der reinen Vernunft"; vgl. Breuer 1991, S. 126). An dieser Stelle lässt sich ein Widerspruch zu den Straussschen Postulaten der theoretischen bzw. konzeptuellen Offenheit und der Emergenz theoretischer Strukturen auf der Basis intensiver Auseinandersetzung mit den Daten feststellen. Wir treffen hier auf einen der Punkte, die Barney Glaser (1992) in seinen Attacken auf die Fortentwicklung des GTM-Regelwerks durch Strauss & Corbin (1996) gegenüber den einschlägigen Anfangs-Entwürfen moniert (wir kommen in Punkt 2.9 darauf zurück). Glaser bezeichnet diese Vorgaben als theoriebezogene Zwangsstrukturen, die den Daten übergestülpt werden. Er stellt dies in der Polarität von "Emergence" (Glaser = gut) vs. "Forcing" (Strauss & Corbin = schlecht) einander gegenüber. In seinem Methodologie-Entwurf stellt er dem universell verwendbaren Paradigmatischen Modell (sensu Strauss & Corbin) ein größeres Spektrum wählbarer "Kodierfamilien" entgegen. Damit erweitert er zwar (pragmatisch) den Möglichkeitenraum der zur gegenstandsbezogenen Modellbildung verwendbaren Prinzipien, entkommt
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jedoch schlussendlich ebenfalls nicht dem Problem der apriorischen Setzung von Grundannahmen einer Theorie-Architektur: Auch die von ihm bereitgehaltene Variantenvielfalt ist nicht in der jeweils aktuellen GTM-Studie bzw. deren Daten gegenstandsgegründet (vgl. Strübing 2004, S. 63ff.). Auf der anderen Seite liefert das Paradigmatische Modell auf abstrakter Ebene einen Rahmen, dessen Logik für eine Vielzahl konkreter Theorieentwicklungen forschungspraktisch durchaus passt. Zudem ist die Vorgabe häufig hilfreich für Anfänger und Novizen der GTM-Verwendung, da so Anhaltspunkte und Handlungsanleitungen gegeben werden, die Schritte auf dem Weg des Zusammenfügens der gegenstandsbasiert destillierten Kategorien in einer Gesamtstruktur inspirieren und orientieren können. Beim Paradigmatischen Modell handelt es sich um eine nach Kausalitätslogik gebaute handlungstheoretische Vorstellung aus konsekutiv miteinander verketteten Komponenten, die bei Strauss & Corbin (1996, S. 75ff.) durch Zusammenhangsaussagen über das Phänomen Schmerz (der in der Folge eines ProtagonistenUnfalls mit Beinbuch entstanden ist) illustriert werden. Bei Strauss (1991, S. 56f.) hieß die Bezeichnung dieser methodischen Strukturvorgabe "Kodierparadigma" und war im Vergleich weniger explizit und detailliert ausgearbeitet. Das Modell besitzt folgende Bestandteile: • Ursächliche Bedingungen für das fokussierte Phänomen: Das Beinbrechen verursacht Schmerzen bei einer Person; die Eigenschaften des Bruchs hängen bedingend mit unterschiedlichen Schmerz-Eigenschaften und -Dimensionen zusammen; • Eigenschaften des Kontextes, der zu einem Phänomen gehört: z. B. anhaltender Schmerz von hoher Intensität, im Unterschenkel lokalisiert, früh im Verlauf ...; • intervenierende Bedingungen, Merkmale eines breiteren strukturellen Kontextes: z. B. Zeit, Raum, Kultur, sozioökonomischer Status, technologischer Status, individuelle Biographie ..., die mit dem Phänomen und den Umgehens-Strategien zusammenhängen (wiederholte Fraktur von Extremitäten dieses Protagonisten, Mangel an Übung der Beteiligten in Erster Hilfe, ein weiter Weg des Hilfeholens ...); • Handlungs- und interaktionale Strategien, Inter-fAktionen mit prozessualer und zielorientierter Charakteristik: z. B. das gebrochene Bein provisorisch schienen, Notrufe absetzen ...; • Konsequenzen, beabsichtigte und unbeabsichtigte Ergebnisse und Folgen des kontextuellen Handelns/lnteragierens: z. B. Schockzustand, Schmerzerleichterung, Umstände des Eintreffens eines Krankenwagens ...
2.4 Kodieren
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Diese Modellkomponenten erwecken den Eindruck von Plausibilität, und anband der in den Lehrbüchern vorgeführten Beispiele sind sie gut nachzuvollziehen; unter Punkt 4.3.1 zeigen wir in einern Diagramm die Brauchbarkeit eines solchen Vorstellungsrahmens im Kontext einer empirischen Studie. GTM-Forscher/innen tun sich bei ihren Projekten allerdings mitunter schwer, diese Vorgaben bzw. die Begrifflichkeit des Kodierparadigmas durchgängig anzuwenden. Was "Bedingungen" und was "Konsequenzen" sind, erscheint mitunter beliebig, ebenso die Unterscheidung zwischen "Kontext" und "intervenierenden Bedingungen". In einigen Fällen resultiert die Zuordnung von gegenstandsbegründet entwickelten Kategorien und Paradigma-Konzepten aus Entscheidungen des Forschers nach Opportunität ("Konsequenzen" in einer Modellstruktur können sinnvoll auch "Bedingungen" in einer nächsten darstellen). In andern Fällen geht es eher um Seinsfragen, die anscheinend richtig oder falsch beantwortet werden können (ist "X" ein "Kontext"-Merkmal oder eine "intervenierende Bedingung"?), zumeist aber auch nach forschungspragmatischen Gesichtspunkten lösbar sind. Es gibt auch Fälle, in denen die gesamte Modellierungslogik auf ein fokussiertes Thema nicht passen will. Wir halten die Vorgabe des Paradigmatischen Modells dafür geeignet zu zeigen, wie eine modellhafte Zusammenfügung der entwickelten Konzepte und Kategorien aussehen kann. Sie fordert zum Denken in Zusammenhängen und Bedingungsgefügen heraus. Allerdings muss das Konfigurieren von Kategorien in einer Gesarntarchitektur nicht in jedem Fall genau so und nach dieser Logik gemacht werden. Es ist das Verdienst der früheren GTM-Darstellung Glasers (1978) sowie seiner späten Kritik an der Darstellung der Methodik durch Strauss und Corbin (etwa in Glaser 1992), dass wir diesbezüglich inspiriert werden, offener auch nach anderen Rahmenideen für eine gegenstandsbezogene Modellierung zu suchen. Nach Glasers (1978; 1998) Vorschlag sogenannter "Kodierfarnilien" befinden sich ganz unterschiedliche Rekonstruktionslogiken im GTM-Repertoire. Dieses Spektrum ist jedoch von Glaser wenig konkretisiert und viele der Varianten sind kaum durch Beispiele illustriert und ausgearbeitet worden. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass die Modellierungslogik in einer Grounded Theory eine Wahlentscheidung darstellt, die sich aus dem Wechselspiel zwischen dem Forschenden und seinem Gegenstand bzw. den Daten ergibt. Kodierfarnilien Einige Beispielandeutungen zu Glasers (insgesamt 18) Kodierfamilien, die entlang unterschiedlicher erkenntnistheoretischer und soziologischer Konzeptualisierun-
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gen gebaut sind (Glaser 1978, S. 72 ff.; vgl. auch die zusammenfassende Übersichten bei Mey & Mruck 2007, S. 26ff. und Mey & Mruck 2009): • Kausalitäts-Familie (mit Modellkomponenten wie Ursachen, Kontexten, Bedingungen, Konsequenzen, Kovariationen u. a). Diese Strukturierungslogik trifft sich mit der Konzeption kausaler Gefügeannahmen im vorgestellten Paradigmatischen Modell; • Prozess-Familie (mit Modellkomponenten wie Verläufen, Stadien, Phasen, Sequenzen, Passagen, Karrieren u. a.); • Grad-Familie (Grad, Ausmaß, Niveau, Intensität, Kontinuum, Schwellenwerte u. a.); • Dimensions-Familie (Dimensionen, Elemente, Teilbereiche, Eigenschaften, Aspekte, Facetten u. a.); • Typen-Familie (Typen, Formen, Klassen, Genres, Taxonomien u. a); • Strategie-Familie (Strategien, Taktiken, Manöver, Umgangsformen, Positionierungen, Management u. a); • Interaktions-Familie (Beziehungen, Abhängigkeiten, A-/Symmetrien, Rückwirkungen, Wechselwirkungen u. a.); • Identitäts- und Selbstkonzept-Familie (Selbstkonzept, Selbstwert, Identität, Identitätsarbeit, Identitätswandel, Fremdbild u. a.); • Kultur-Familie (soziale Kognitionen, Normen und Werte, Einstellungen u. a.). Bedingungsmatrix Als weitere apriorische Strukturierungsvorgabe finden wir bei Strauss & Corbin (1996, S. 135ff.) eine - im Rahmen der Entwicklung einer spezifischen gegenstandsgegründeten Theorie universal verwendbare - sogenannte Bedingungsmatrix. Dort wird (in der graphischen Form konzentrischer Kreise symbolisiert) das soziale Weltgefüge auf verschiedenen Inklusivitätsniveaus ausdifferenziert, und die Ebenen werden in ein Über-/Unterordnungsverhältnis gebracht. In diesen Rahmen kann dann ein konkretes Handlungs- oder Interaktionsphänomen, um dessen Untersuchung es in einer GTM-Studie geht, eingebettet und in Relation zu seiner Systemumgebung gebracht werden. Die Matrix dient u. a. dem Zweck, die "Bedingungen" und "Konsequenzen" konkreter Handlungen und Interaktionen auf unterschiedlichen (Mikro-, Meso- und Makro-) Niveaus aufzuspüren und zu modellieren. Es werden folgende Modellebenen ausdifferenziert - gewissermaßen vom "Kleinen" zum "Großen", von "innen" nach "außen":
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eine Handlung, eine Interaktion, das Individuum, die Gruppe, das Kollektiv, Unter-fEinheiten in Institutionen und Organisationen, Organisationen und Institutionen, Gemeinden, Gemeinwesen, die nationale Ebene, die internationale Ebene.
Dem ließen sich zur Komplettierung - für bestimmte Phänomenanalysen durchaus mit gutem Grund - noch die planetare und die interplanetare Ebene hinzufügen. Mit Hilfe dieser Matrix können sogenannte Bedingungspjade rekonstruiert werden: Die Ursachen und Konsequenzen eines Phänomens, einer Handlung, einer Interaktion lassen sich dabei über die unterschiedlichen Ebenen hinweg fokussieren und spezifizieren. Ihren Implikationen und systemischen Folgen kann auf diese Weise detaillierter auf den Grund gegangen werden. Statt einer globalen Allgemeinaussage wie: "AIDS besitzt Auswirkungen auf Krankenhausarbeit" können so - nach Strauss & Corbin (1996, S. 141ff.) - die Zusammenhänge konkreter nachvollziehbar gemacht werden. Bezogen auf das Beispiel: zwischen der globalen HN-Epidemie einerseits und Unterbrechungen des ärztlichen Arbeitsflusses auf einer bestimmten Krankenhausstation durch einen Mangel an Gummihandschuhen einer bestimmten Größe, die als Ausrüstung für von Ärztinnen durchgeführte Untersuchungen beim akut veränderten Aufkommen von Patientinnen gehäuft benötigt werden, andererseits. Auch im Falle dieser Bedingungsmatrix haben wir es mit einer theoretischen Vorgabe zu tun, die auf einem allgemeinen Weltmodell, auf apriorischen Vorstellungen über Wirkzusammenhänge beruht. Unter kritischer Reflexion dieser Denkvoraussetzungen kann das Instrument jedoch ebenfalls gute Dienste tun bei der Anleitung zur Analyse und zur theoretischen Strukturbildung in einem mit G1MMethodik fokussierten Gegenstandsgebiet. Typenbildung Bei der Erarbeitung von Konzepten gegenstandsbegründeter Theorien spielen Typen und Typologien oftmals eine Rolle. In den Lehrbüchern von Strauss (1991) und Strauss & Corbin (1996) wird die dem zugrunde liegende Logik allerdings nicht in systematischer Weise besprochen. Bei gegenstandsbasierten Modell- und Theorieentwicklungen im G1M-Rahmen werden jedoch mancherlei Varianten von Typologien hervorgebracht. Dieses methodische Konstruktionsprinzip kommt in
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den GTM-Präsentationen der Gründerfiguren zumindest rudimentär in der Sammlung der Glaserschen "Kodierfamilien" zur Sprache (Glaser 1978; 1998). Die in der Auseinandersetzung mit Daten herausgebildeten Kategorien lassen sich häufig als Typen charakterisieren - und sie sowie ihre Darstellung als Ordnungssystematiken bzw. Taxonomien können sich zu Typologien formieren. Derartige Konzepte stellen eine Möglichkeit wissenschaftlicher Abstraktion und Generalisierung dar, wie sie für qualitative Sozialforschung sehr charakteristisch ist. Typen bzw. Typologien liefern eine systematische Ordnung bzw. Sortierung des (Merkmals-) Variationenspektrums in einem Phänomenbereich durch die Anwendung bestimmter theoretischer Gesichtspunkte. Bei dieser Vorgehensweise geht es nicht um Auftretenshäufigkeiten, Umfänglichkeiten oder andere Maßzahlen oder Maßzahldifferenzen von und zwischen unterschiedlichen Typen, sondern um die Herausarbeitung gegenstandsbezogener Systematisierungen, die für Beschreibungs-, Erklärungs- und Selbst- bzw. Handlungsreflexions-Zwecke tauglich sind. Typen und Typologien sind methodologische Instrumente, die in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen eine Rolle spielen: Naturwissenschaftler ordnen die Grundbausteine der materiellen Welt in einem Periodensystem an; Botaniker und Zoologen verfügen über Taxonomien von Pflanzen- und Tierarten; Sprachwissenschaftler typisieren Sprachen entlang unterschiedlicher Merkmalsdimensionen; LiteraturwissenschaftIer differenzieren Textsorten und literarische Charaktere auf diese Weise; Psychologen gruppieren menschliche Charaktereigenschaften korrespondierend zu ihrem Körperbau, Angstformen oder Persönlichkeitsfaktoren; Sozialwissenschaftler unterscheiden Handlungsschemata, institutionelle Ablaufmuster und Verlaufskurven nach Typizitätsgesichtspunkten. Neben hermeneutischqualitativen Prozeduren, die zu derartigen Typologien führen, gibt es eine Reihe mathematisch-statistischer Verfahren, die von der Grundidee her Ähnliches leisten (z. B. Faktoren- und Clusteranalyse). In Typologien wird ein Merkmal oder ein Merkmalscluster von gewissem Abstraktionsgrad für theoretisch gegenstandsrelevant erklärt und zur Beschreibung bzw. Unterscheidung von Mitgliedern bzw. Fällen einer bestimmten Grundgesamtheit herangezogen. Auf diese Weise kommt eine Sortierlogik für den fokussierten Phänomenbereich zustande. Jeder dort subsumierte Einzelfall behält gegenüber seiner Typifizierung allerdings einen Merkmalsüberschuss, der auch eine andere Eingruppierung (im Rahmen einer anderen Sortierlogik) erlaubt. Typenkonzepte bzw. Typologien können die Einzelfälle, auf die sie angewendet werden, also niemals vollständig beschreiben. Bei einer Typ(olog)isierung lassen sich unterschiedliche Versionen unterscheiden, beispielsweise:
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Prototypen: besonders treffende (empirische) Exempel, Fall-Repräsentationen für ein Typkonzept - etwa Mickey Rourke als US-amerikanischer Macho oder Marilyn Monroe als "Blondine schlechthin"; Idealtypen: abstrakt-idealisierte, "bereinigte" Merkmalskonfigurationen eines Typkonzepts, die sich empirisch gar nicht finden lassen müssen bzw.lediglich Grenzfälle darstellen - etwa der/die "Sündenfreie"; Durchschnittstypen: nach Populationsmittelwerten konstruierte "repräsentative" Vertreter - etwa "Max Mustermann" als Repräsentant des männlichen deutschen Merkmalsmittelwerts; Extremtypen: entlang einer bestimmten Dimension in Opposition anzuordnende Merkmalscluster - etwa "Gott" und"Teufel"; Strukturtypen: Aufgliederung eines Gegenstandsfeldes, einer Population o. Ä. nach strukturellen Gesichtspunkten - etwa die Menschenpopulation nach Frauen und Männern; Prozesstypen: Darstellung zeitlicher Verlaufsmuster in einer bestimmten inhaltlichen Domäne - etwa die Phasenabfolge eines Lebenslaufs, einer Schullaufbahn oder eines Sterbeprozesses.
Es stellt sich die Frage, wie solche Typen und Typologien zustande kommen bzw. (gezielt) konstruiert werden (können). Soweit es sich um eine sozialwissenschaftlich-reflexive Konstitutionsmethodik handelt, haben sich Susann Kluge und Udo Kelle (Kelle & Kluge 1999; Kluge 1999) um eine Systematisierung von Regeln für eine empirisch begründete Typenbildung bemüht - gewissennaßen eine (normative) Prozess-Typologie. Sie unterscheiden folgende Stufen: • Die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen (anhand theoretischen Vorwissens und des Datenmaterials - sowie deren hermeneutischer Prozessierung); • die Gruppierung der Fälle und die Analyse der empirischen Regelmäßigkeiten (z. B. Gruppenbildung nach interner Homogenität und externer Heterogenität); • die Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge und die Ausarbeitung der Typen (Untersuchung der Bedingungszusammenhänge, die den gebildeten Merkmalskonfigurationen zugrunde liegen; Reduktions- und Vereinfachungsmaßnalunen zur Konfiguration der Gesamttypologie); • Charakterisierung der gebildeten Typen (umfassende Beschreibung der Typen anhand ihrer Merkmalsdimensionen und -kombinationen sowie der involvierten theoretischen Beziehungen).
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2.4.5.3
Selektives Kodieren
Selektives Kodieren ist gewissermaßen Axiales Kodieren auf einem Niveau höherer Abstraktion, allgemeinerer Theoretisierungsstufe. Es soll eine Schlüssel- bzw. Kernkategorie, ein konzeptuelles Zentrum der entwickelten Theorie, ausgewählt bzw. festgelegt werden. Alle anderen Theoriebestandteile (Kategorien) werden sodann um dieses Zentralkonzept herum angeordnet und mit diesem verknüpft nach der Logik des Paradigmatischen Modells oder einer anderen ModellArchitektur. Zudem ergibt sich aus der Wahl der Kernkategorie eine Entscheidung des Forschenden über die sogenannte "Story Line", den roten Faden bzw. den Bogen der nun zu erzählenden Geschichte, der Ergebnisdarstellung des Forschungsprojekts, die Fokussierungsperspektive der Themenbearbeitung bzw. der gegenstandsbezogenen Theorie. Beim Selektiven Kodieren werden die Früchte der zuvor geleisteten Kodierarbeit geerntet und eingefahren. Nach Strauss & Corbin (1996, S. 95) geschieht dies in mehreren Schritten, die allerdings nicht in linearer Abfolge, sondern - wie üblich in einer Hin-und-her-Bewegung absolviert werden: "Der erste Schritt besteht im Offenlegen des roten Fadens der Geschichte. Der zweite besteht aus dem Verbinden der ergänzenden Kategorien rund um die Kemkategorie mit Hilfe des Paradigmas. Der dritte umfaßt das Verbinden der Kategorien auf der dimensionalen Ebene. Der vierte beinhaltet das Validieren dieser Beziehungen durch die Daten. Der fünfte [...) Schritt besteht im Auffiillen der Kategorien, die einer weiteren Verfeinerung und/oder Entwicklung bedürfen" (im Original z. T. kursiv).
Schlüssel-/Kernkategorie Dem Idealziel der Vollendung einer gegenstandsbegründeten Theorie ist eine Forscherin dann nahe gekommen, wenn es ihr gelingt, in dem konstruierten Kategoriengefüge ein Zentralkonzept hoher theoretischer Integrationskraft auszumachen, um das herum sich die anderen gefundenen Kategorien anordnen lassen. Diese Anordnung bzw. die Relationen zwischen den Kategorien sollen theoretisch plausibel gemacht und durch die Daten belegt und unterfüttert werden. In manchen GTM-Darstellungen (etwa bei Strauss & Corbin, 1996, S. 98f.) ist davon die Rede, dass es hier um das Finden einer einzigen Schlüsselkategorie geht. In anderen Texten wird das Singularitätspostulat weniger strikt formuliert (z. B. bei Strauss 1991, S. 65). In diesem Zusammenhang spielen die forschungspragmatische Maxime der Klarheit und Eindeutigkeit einer Theoriefokussierung sowie die wissenschaftstheoretische Idee der Einfachheit und Ökonomie eine Rolle (vgl. Breuer 1991, S. 140f.). Es kann u. E. allerdings durchaus auch sinnvolle GTM-Modellierungen geben, die
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vorn Ideal der "einen Kernkategorie" abweichen - etwa dann, wenn eine Logik verfolgt wird, die auf ein PhasenrnodelI eines Geschehensablaufs hinausgeht. Bei Strauss (1991, S. 67) finden sich eine Reihe von Kriterien, anhand derer sich die Charakteristik einer Schlüsselkategorie festmachen lässt. Einige Aspekte aus dieser Reihe sind die folgenden: • • • •
"Sie muß zentral sein, d. h. einen Bezug haben zu möglichst vielen anderen Kategorien [... j. Die Schlüsselkategorie muß häufig im Datenmaterial vorkommen. [... j Die Schlüsselkategorie läßt sich mühelos in Bezug setzen zu anderen Kategorien. [... j Sobald die Details einer Schlüsselkategorie analytisch ausgearbeitet sind, entwickelt sich die Theorie merklich weiter."
In den Abschnitten 4.2.1 und 4.3.1 unten finden sich beispielhaft-illustrierend Skizzen von GTM-Studien mit ihren namhaft gemachten Kernkategorien im Zentrum einer Theorie.
2.4.6 Sukzession und Iteration Bei dem geschilderten Dreischritt des Theoriebildungsprozesses handelt es sich um ein Modell konsekutiv-progressiver Formen des Kodierens, das die zugrunde liegende Figur des hermeneutischen Erkenntniszirkels methodisch umsetzt und konkretisiert: Offenes Kodieren ist Voraussetzung für Axiales Kodieren, Axiales Kodieren ist dem Selektiven Kodieren vorangestellt. Es kann im Kodierprozess jedoch häufig sinnvoll sein, aus Phasen des Axialen oder des Selektiven Kodierens wieder zurückzukehren zur Phase des Offenen Kodierens oder auch - nach dem Prinzip des Theoretical Sarnpling - erneut Schritte der Datenerhebung zu unternehmen, beispielsweise aufgrund der 'Überlegung: Auf dem Hintergrund meines bisherigen Verständnisses und meiner Erwartungen habe ich einen interessanten (für mich) neuartigen theoretischen Aspekt entdeckt und bemühe mich nun, dazu weitere passende empirische Phänomene zu finden, die meine in Entwicklung befindliche Theorie erweitern, differenzieren oder modifizieren können.
2.4.7 Eine lllustration: Kodieren, Themenfokussierung und Modellierung Wir zeigen hier anhand eines Beispiels einige Möglichkeiten des Kodierens, Kategorienbildens, Sarnpelns und ModelIentwickelns im Rahmen eines GTM-Forschungsprozesses zum Thema Adoption im Kontext familiensystemischer und ent-
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wicklungspsychologisch-biographischer Zusammenhänge auf. Zunächst wird ein Ausschnitt aus einem Interviewgespräch präsentiert, in dem eine Mutter, deren Tochter Brigitta als Baby von einer anderen Mutter bzw. Familie adoptiert wurde, ihre Problemsicht schildert. Es werden einige Kodier-Ideen vorgestellt, die beim Durcharbeiten dieser Passage zustande kamen. Das beschriebene Adoptionsereignis fand etwa zwanzig Jahre vor dem Zeitpunkt des analysierten Gesprächs statt. Die Segmente und Subsegmente des Transkripts sind von uns nach inhaltlichen Gesichtspunkten gebildet worden - auf dem "Satz-für-Satz"-Niveau oder etwas grobkörniger. Erläuterung hier benutzter Transkriptions-Zeichen:
,,1" bedeutet kurze Unterbrechung bzw. Pause im Gesprächsfluss, ,,11" bedeutet mittellange Unterbrechung bzw. Pause im Gesprächsfluss. Mutter: (a) [...] Und dann war sie irgendwann in der Pflegefamilie. Und dann bin ich alle zwei Wochen zu ihr hingefahren. Ich habe zu der Zeit in [A-dorf] gewohnt und die Pflegefamilie war in [B-stadtL nicht weit weg. Ich bin mit dem Fahrrad hingefahren. (b) Und da bin ich I ehm, es war immer sehr schwer für mich, dahin zu fahren, da I Die Frau hat sich den ganzen Tag um das Kind gekümmert. Sie hatte ganz andere Voraussetzungen als ich. Und Brigitta wurde in der kurzen Zeit ziemlich lebendig. Also bei mir war sie, oder als Robert [Brigittas Erzeugervater] noch da war, sehr still, sehr ängstlich, hat am Daumen genuckelt. Und in der Familie wurde sie so richtig I sie ging aus sich raus, sie veränderte sich. Es war sehr II es war nicht zu übersehen. Ich hab mich auf der einen Seite gefreut, auf der anderen dachte ich: Wieso ist sie jetzt so lebendig? Kannte ich irgendwie gar nicht. Und sie ging natürlich auch weiter weg von mir, das war schon zu spüren. (c) Und das ging mit diesen Besuchsterminen II zirka ein halbes Jahr so. Und dann hatte sie Geburtstag, und dann hab ich einfach am Geburtstag angerufen, dass ich nachmittags komme. Es war für mich selbstverständlich, dass ich am Nachmittag dahin fahre. Ich hab nicht darüber nachgedacht, dass ich da unerwünscht bin. Und da hat mir die Adoptionsmutter am Telefon gesagt, dass ich unerwünscht bin. Und danach bin ich nicht mehr hingefahren. [...] (d) Ich hatte mich total minderwertig gefühlt dieser Frau gegenüber. Sie hatte ein Haus, einen Mann, sie hatte Geld, sie hatte Beruf. Sie hatte all das, wovon ich gesagt hab, das ist das Nonplusultra. Und ich: keinen Job, keinen Mann, fing mit Drogen an. Und ich wurde immer kleiner in ihrer Gegenwart. Und als sie dann noch sagte, ich bin nicht erwünscht auf diesem Geburtstag, konnte ich ihr nicht mehr in die Augen gucken, dieser Frau. Und ich konnte Brigitta nicht mehr in die Augen gucken. [... ] (e) Und da war auch noch die Geschichte mit Brigittas Abschlussparty. Sie hat im Krankenhaus als Krankenschwester gelernt. Und als sie dann diese Abschlussparty gefeiert haben, hat sie mich
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spontan eingeladen. Sie hat mir einfach eine SMS geschickt. Und ich bin dahin gegangen. Und die Adoptionsmutter war nicht dabei
Einige ausgewählte Ideen aus einer Gruppenarbeit des Offenen Kodierens: In diesem Gesprächsausschnitt erscheint der Akt des Vergleichens mit lIder Frau" einen wichtigen Stellenwert zu besitzen: "Ich" vs. "die Frau". Es kommen unterschiedliche Ebenen zur Sprache, hinsichtlich derer ein Vergleich vorgenommen wird ("Kodes" und "Dimensionen"). Der Ausdruck "die Frau" wirkt stark distanziert und distanzierend: Sie bekommt hier keinen persönlichen Namen und keine Rollencharakteristik zugesprochen. Wir nennen in der Analyse die Abkunfts-Mutter: "Mutter I", die Adoptivmutter "Mutter 2".
In Abschnitt (b): • Mutter 2 kümmert sich "... den ganzen Tag" Mutter 1 (implizit) offensichtlich deutlich weniger, da sie weniger dafür verfügbare Zeit hat bzw. andere Voraussetzungen besitzt (möglicher Bezug zu Abschnitt (d»: 7 Vergleich des (möglichen) Zeitaufwands der Zuwendung zum Kind. • Verhalten des Kindes bei Mutter 2: " ... in kurzer Zeit ziemlich lebendig", "ging aus sich raus" bei Mutter 1: "... still, ängstlich, am Daumen genuckelt", die Tochter ging dann (beziehungsmäßig) " ... weiter weg": 7 Vergleich der Reaktionsweisen des Kindes auf die beiden Mutter-Personen bzw. die unterschiedlichen (familiären etc.) Lebensumstände. In Abschnitt (d):
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Mutter 2 hat Haus, Geld, Mann, Beruf, "das Nonplusultra" in den Augen von Mutter 1Mutter 1 hat keinen Job, keinen Mann und ein Drogenproblem: 7 Vergleich der Voraussetzungen, der verfügbaren Ressourcen.
In Abschnitt (e): • Mutter 2 wird nicht zur Abschlussparty anlässlich des Ausbildungsendes eingeladen - Mutter 1 wird dazu eingeladen:
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7 Ein Vergleich der Beziehungsqualität auf lange Sicht: Wer hat das bessere Verhältnis zur Tochter, wenn diese aus den Kinderschuhen heraus bzw. wenn sie erwachsen ist? Ein Theorie-Memo zum subjektiven Vergleichen von Mutter/Eltem 1 mit Mutter/ Eltern 2 - vorgenommen durch unterschiedliche Problemfeld-Akteure: Vergleiche dürften im Kontext des Wechsels bzw. Übergangs eines Kindes von Mutter/Familie 1 nach Mutter/Familie 2 eine systematische Rolle spielen. Solche Vergleichsaktivitäten könnten im Rahmen von Adoptionsgeschichten auf Seiten vieler Beteiligter und zu unterschiedlichen Zeitpunkten wichtig sein: Wer ist die bessere Mutter? Welches ist die bessere Familie? Wie lässt sich der Vergleichs-Fokus begrifflich kennzeichnen bzw. benennen? Vorläufige Idee (Kategorie?): Mutter-Image. Derartige Vergleiche sind auf unterschiedlichen Ebenen, auf unterschiedlichen Dimensionen möglich. Sie können implizit oder explizit (offen - verdeckt o. Ä.) angestellt und ausgetragen werden. Im Textbeispiel wird implizites Vergleichen seitens Mutter 1 beschrieben: Sie empfindet sich gegenüber Mutter 2 als minderwertig, schneidet im Vergleich in der Selbstbeurteilung ganz schlecht ab. - Auf welchen Ebenen laufen solche Vergleiche? Lassen sich in anderen Passagen oder bei anderen Fällen auch Formen des expliziten/offenen Austragens (Konkurrieren, Kämpfen etc.) des Vergleichens finden? Interessant ist in unserem Beispielfall, dass sich die "Niederlage" in der Beziehungskonkurrenz mit Mutter 2 später, als die Tochter erwachsen wird, anscheinend in einen "Sieg" verwandelt. Zur Party anlässlich des Ausbildungsabschlusses wird Mutter 1 und nicht Mutter 2 eingeladen. Wir finden hier einen Hinweis auf die zeitliche Strukturiertheit des Verarbeitungsprozesses der Adoption: Wie wandelt sich das Verhältnis zwischen Mutter 1 und dem weggegebenem bzw. adoptierten Kind im Laufe der Lebensgeschichten (der eigenen, der des Kindes) - kurzfristig und langfristig? (Kategorie?: Beziehungswandel) Vergleiche bzw. Gegenüberstellungen von Mutter 1 und Mutter 2 (unterschiedliches "Mutter-Image") oder auch Familie 1 und Familie 2 werden durch unterschiedliche Akteure bzw. Beobachter, die sich im alltagsweltlichen Problemfeld aufhalten, vorgenommen. Hierbei ist zu denken an: • Mutter/Familie 1 (wie im Fallbeispiel gesehen), • Mutter/Familie 2 (die es naturgemäß besser machen muss),
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das Kind selbst (im Fallbeispiel: Wegwenden von Mutter 1 und Hinwenden zu Mutter 2 in der Kindheit, wieder Zurückwenden zu Mutter 1 als junge Erwachsene), das Gugend-) Amt (evtl. Richter o. Ä.); hier wird es möglicherweise aktentaugliche Anhaltspunkte, Kriterien, Feststellungen geben (ein Themenaspekt für weitere Recherchen!), Beobachter aus dem sozialen Umfeld: Ehe-/partner, Nachbarn, Lehrer, Polizei u.a.
Daraus können sich Überlegungen für das theoretische Sampling ergeben. Hier kommt wieder der Zeitaspekt ins Spiel: Möglicherweise tritt ein Wandel im Laufe der Zeit ein, bei dem die personalen Bedeutungen einzelner Akteure/Bezugspersonen abnehmen oder auch zunehmen (Kategorie?: Relevanz-Verschiebungen hinsichtlich der Beurteilungen des Mutter-Images; z. B. rückt der Einfluss des Jugendamts in späteren Phasen in den Hintergrund, die Beziehung zu Mutter 1 kommt wieder mehr in den Vordergrund). Um solchen Wandel erfassen zu können, müssen adoptierte Kinder in relativ späten Phasen ihrer Lebensgeschichte befragt werden. Weiterführende Gedanken im Sinne des Axialen KodierensEntwurf einer möglichen Modellierung zum Prozessverlauf der Adoption Es handelt sich - wenn man die gesamte Passage überblickt - um einen Gesprächsausschnitt zum Adoptionserleben einer (die Tochter Brigitta) abgebenden Mutter (Mutter 1), die im zeitlich distanten Rückblick über die Adoption ihrer Tochter durch eine andere Mutter bzw. Familie sowie über die spätere Entwicklung der Beziehung zur Tochter (bis hin zu deren Ausbildungs-Beendigung) berichtet. Dabei klingen Prozesse, Wandlungen und Übergänge im Adoptionsgeschehen bzw. dessen Verarbeitung durch die Beteiligten an, für die sich eine gewisse (typische, regelhafte?) zeitlich-prozessuale Gliederung (Ablauftypologie) entwerfen lässt. Es folgen einige skizzenhafte Überlegungen zur Zeitstruktur des Wandels des Mutter-Tochter-Verhältnisses in längerfristiger Sicht. Der entstehende Modellentwurf könnte in seiner Grundlogik auf eine Theorie des konsekutiven Prozesses eines (groß-) familiären Beziehungsgefüges im Fortgang einer Adoption hinauslaufen, der sich aus aufeinander folgenden Phasen konstituiert. Der Entwurf der im Folgenden skizzierten Abschnitte bzw. Schritte (1) bis (5) stanunt teilweise aus der Lektüre und Analyse anderer Gesprächspassagen und anderer Interviews sowie aus in der Beschäftigung damit entstandenen Überlegungen, die z. T. durch (Suche nach/in) Daten weiter ausgearbeitet werden müssen.
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Das Vorfeld der Adoption: Dazu gibt es in dem dokumentierten Gesprächsausschnitt nur mittelbar etwas: den Hinweis auf schlechte Ressourcen-Lage: Arbeitslosigkeit, "ungeordnete Familienverhältrrlsse" und Drogenkonsum in Abschnitt (d). Man kann hier eine Situation unterstellen, in der die Mutter ihren grundlegenden Aufgaben der Versorgung der Tochter nicht gerecht wird. Dies ist in irgendeiner Weise sozial auffällig geworden und wird amtlich festgestellt. Schließlich wird (durch den Eingriff des Jugendamts, durch rechtliche Prozeduren) das Kind der Mutter/Familie l"weggenommen". Hier könnte die Geschichte des Auffällig-Werdens interessant sein: Wie/wann wird so etwas bemerkt? Wer bemerkt es? Unter welchen Voraussetzungen und Umständen erfolgt ein amtlicher Eingriff? u. Ä. Dies ist vermutlich eine häufige Variante einer Vorgeschichte, die (heutzutage, in unserer Gesellschaft) zum Herausnehmen eines Kindes aus einer Familie und zur Adoption führt - aber sicher nicht die einzige. In nachfolgenden Gesprächen könnte dieser Aspekt zum Thema gemacht und theoretisch fokussiert werden. Frage: Welche anderen Varianten von Vorgeschichte einer Adoption gibt es? "Freiwillig-eigenaktives" Hergeben eines Kindes zur Adoption (z. B. "Babyklappe") ist denkbar; Adoption eines Kindes, dessen Eitern gestorben sind; Adoption eines Kindes aus dem Ausland etc. - Eine Frage des Theoretical Sampling: Welche anderen bzw. weiteren, nächsten Fälle bzw. Fallvarianten sollen in diesem Forschungsprojekt auf-/gesucht werden? (1)
(2) Der formelle Adoptions-Akt: Dieser Schritt ist gegenstandslogisch notwendig und aus anderen Interviewpassagen sowie aus der Darstellung unterschiedlicher Beteiligter (Mutter 1, MutterNater 2, Jugendamtsmitarbeitern u. Ä.) detaillierter rekonstruierbar: Wegnehmen des Kindes von Familie/Mutter 1 - Übergang in eine Pflegefamilie - Schritt zur Adoption. In unserer Transkriptpassage ist von diesem Schritt explizit nicht die Rede -lediglich von seinem Ergebnis: "... irgendwann in der Pflegefamilie". Die Geschichte, die dahin geführt hat, ist für Mutter 1 vermutlich schwer zu erzählen. Hier kann man möglicherweise Aktivitäten und Anteile der beiden Protagonisten (Mutter/Familie 1, Mutter/Familie 2) unterscheiden, wobei das Jugendamt und assoziierte Professionen ("oberer Kontext") eine wesentliche Rolle als Mitakteure spielen: • Feststellung der groben Vernachlässigung des Kindes durch Mutter/Familie 1 (entsprechend dem "Mutter-Image" in seiner "amtlichen" Sichtweise); • Wegnahme des Kindes, Interims-Unterbringung (Heim, Pflegefamilie o. Ä.);
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Suchaktivitäten und Finden von Mutter/Familie 2 für eine Adoption, deren Überprüfung auf Geeignetheit, deren (vorläufige) ·Übernahmeentscheidung.
(3) Nach der Adoption: die frühe/re Zeit - das Kind in der Kleinkind- und Kinderzeit: • Beziehungsaushandlung in der Familie 2 mit dem neu hinzugekommenen Familienmitglied: Kümmer- und Versorgungsmodalitäten, familiäre Reglemente. In der oben zitierten Gesprächspassage (b) wird intensives Kümmern der Mutter 2 um das Kind sowie dessen "Aufblühen", die soziale Abwendung von Mutter 1 und (implizit) das Annähern an Mutter 2 beschrieben. • Kontakt- und Beziehungsaushandlung zwischen Mutter 1 und Kind und Mutter/Familie 2: Welche Kontakte sind überhaupt legitim, werden amtlicherseits ermöglicht bzw. gefördert? Welche Kontaktvarianten sind in der Praxis denkbar? Welche Kontakte werden von Seiten der Mutter/Familie 1 sowie Mutter/Familie 2 gewünscht oder ermöglicht? Welche Interaktionsqualitäten entwickeln sich zwischen Mutter/Familie 1 und Mutter/Familie 2? In der Gesprächspassage (a) unseres Beispiels wird das Bemühen der Mutter 1 um Kontaktwahrung beschrieben; in (c) ist die Rede von der Ausgrenzung der Mutter 1 durch Mutter 2 bei einer für die Familienkultur signifikanten Gelegenheit, an der die Mutter-/Familien-Rechte auf das Kind zum Ausdruck kommen (Kindergeburtstag: Wer gehört zur Familie?), eine Ausgrenzung als "unerwünschte Person" - eine Kränkung und Demütigung von Mutter 1, die ihren resignativen Rückzug und Kontaktabbruch zur Folge hat: Sie gibt die Besuche bei der Tochter und der Familie 2 auf. (4) Nach der Adoption: die späte/re Zeit - das Kind als Jugendliche und Erwachsene: Nach dem Ende der Kindheitsphase, in oder nach der pubertären Identitätssuche tritt mitunter ein neues Bemühen des "Kindes" um Kontakt mit Mutter/Eltern 1 auf - ein neuer Versuch der Beziehungsaushandlung, u. U. begleitet von einem (gemeinsamen) Durcharbeiten der Vergangenheit (Kategorien?: Vergangenheitsgepäck, Wurzelarbeit; vgl. Rösner 2009). In unserer Gesprächspassage (e) finden wir einschlägig die Schilderung der Einladung und des gemeinsamen Feiems des Ausbildungsabschlusses der Tochter mit Mutter 1 - ohne Mutter 2. Hier scheint es sich um einen späten Sieg der Mutter 1 über Mutter 2 mit entsprechender Genugtuung auf Seiten von Mutter 1 zu handeln - eventuell ist sie in der Rolle als Freundin bzw. im Kontext der Freundinnen der nun erwachsenen Tochter passender als die fürsorgliche Mutter 2. In den Phasen (3) und (4) sind die Bedürfnisse und Wünsche sowie die Beziehungsmöglichkeiten zwischen Müttern/Eltern und Kindern bedingt durch Ent-
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wicklungscharakteristika und Lebensgeschichte unterschiedlich (Kategorie?: Rele-
vanz-Verschiebungen): In (3) geht es um zuverlässige Versorgung und Bemutterung des Kindes (Fürsorge, Sicherheit, Verlässlichkeit, Dominanz), um den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Aufgrund ihrer psychosozial-Iebensgeschichtlichen Situation kann Mutter 1 das nicht gewährleisten. In (4) geht es um die Kalibrierung einer Beziehung mit stärkerer PeerCharakteristik, quasi auf gleicher Augenhöhe - etwa Mutter und Tochter als Freundinnen. Hier kann Mutter 1 (u. U. lebensgeschichtlich geläutert) eventuell wieder ins Spiel kommen. Das könnte ihr leichter fallen als der Mutter 2, die stärker auf den Versorgungs- und Erziehungs-Part abonniert ist.
(5) Ganz langfristig: das Verhältnis des Adoptiv-"Kindes" zu Mutter/Eltern 1 und Mutter/Eltern 2 beim Alt- und Kümmerbedürjtig-Werden der Mutter (Eltern): Dies ist ein Aspekt, der erst beim theoretischen Nach- und Weiterdenken entlang der lebens- bzw. familiengeschichtlichen Linien auftaucht: Wie entwickelt sich das Verhältnis des "Kindes" zu den Eltern 1 und Eltern 2, wenn diese - etwa altersbedingt - einer Unterstützung durch fremde Hilfe bzw. durch Hilfe ihrer familiären Nachkommen bedürfen? (Kategorie?: Neupositionierung; vgl. Dieris 2006; s. Punkt 4.3.1). Um wen wird sich dann von Seiten des Kindes gekümmert? Das ist eine lohnenswert erscheinende Fragestellung, der man - allerdings eher in einer separaten Untersuchung - nachgehen könnte. Die hier skizzierten Überlegungen zur Prozessrekonstruktion einer Adoptionsgeschichte beziehen sich auf unterschiedliche Beteiligtenperspektiven. Im Kern ist die Rede von Sichtweisen der Mutter 1, zum Teil auch der Mutter 2 (bzw. der Eltern 2) sowie des "Kindes", und es wird die Dynamik ihrer Beziehungskalibrierung in charakteristischen Phasen modelliert. Es sind auch andere Fokussierungen und Modellierungslogiken einer solchen Geschichte denkbar. Zum Beispiel lässt sich der Verlauf auch vom Standpunkt des "Kindes" aus entfalten, das sich mit seiner sozialen Zugehörigkeit zu bzw. zwischen zwei Müttern/Familien auseinandersetzt (so etwa Rösner 2009). Bei diesem Beispiel haben wir eine Reihe von Fokussierungsmöglichkeiten des Problemthemas "Adoption" skizziert - Wege, die bei einer (Fort-) Entwicklung der Themenstellung im Rahmen einer GTM-Studie eingeschlagen werden könnten. Neben dem übergreifenden Modell der Phasen des Adoptionsverlaufs und der Adoptionsverarbeitung können einzelne Abschnitte daraus - aus dem Blickwinkel bestimmter Beteiligter - fokussiert werden. So beispielsweise:
2.5 Kodieren und Computer
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2.5
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das (mehrstufige) Auffälligwerden einer problematischen Familien- bzw. Erziehungssituation, die den Ausgangsp1.U1kt von Aushandlungen des "amtlichen" Herausnehmens eines Kindes aus der Familie und einer Adoptionsgeschichte darstellt (etwa aus der Sicht von Jugendamts-Professionellen), die Aufarbeitung der Adoptionsgeschichte retrospektiv aus der Sicht von betroffenen erwachsenen "Kindern" (möglicher kategorialer Fokus: Wurzelsuche, Wurzelarbeit) oder prospektiv-vorwärtsgewandt: die Bedeutung der Adoptionsgeschichte für familiäre Kümmer-Konstellationen im Falle alt und kümmerbedürftig werdender Eltern 1 und Eltern 2 (möglicher kategorialer Fokus: Neupositionierung im Verhältnis von "Kindern", Eltern 1 und Eltern 2).
Kodieren und Computer
Ein sozialwissenschaftlich-qualitatives Forschungsprojekt, das zu großen Teilen aus Arbeit an und mit Texten besteht, erscheint ohne Zuhilfenahme eines Computers heutzutage gar nicht denkbar. Beobachtungsprotokolle, Interviewtranskripte, Memos, Diagramme, Teile und Fassungen des Endberichts etc. werden als Dateien auf dem Computer gespeichert, verwaltet und umkopiert. Das Spektrum von Programmvarianten, die diesem Zweck dienen, ist vielfältig. Mitunter kann es mit der Verwendung konventioneller Textverarbeitungssoftware sein Bewenden haben (vgl. etwa Nideröst 2002), andererseits werden mehr und mehr auch für die qualitative Forschungsarbeit speziell konstruierte und angepasste Software-instrumentarien (sogenannte QDA-Software) verwendet (vgl. etwa Kuckartz 2005). Zu den Zeiten des Erfindens und Entwickeins des GTM-Ansatzes - in den 1960er Jahren - stellte sich die Frage des Computereinsatzes naturgemäß nicht. Die von den Vätern des Verfahrens hervorgebrachten Untersuchungen und Theorieentwürfe zeigen, dass es auch ohne die Hilfe elektronisch basierter Technologien möglich ist, auf interessante, innovative und ergiebige Weise mit dieser Methodik zu operieren. Die gegenstandsgerechte Verwendung der Methodik sowie die theoretische Sensibilität, Kreativität, Sorgfalt und Ausdauer der Forschenden sind dafür entscheidend. Die Ausarbeitung kann dann auch mit den Werkzeugen Schreibmaschine, Papier, Schere, Karteikarten, Farbstifte, Klebstoff u. Ä. gelingen. Computeruntersmtzung kann beim Arbeitsprozess mit großen und schwer übersichtlichen Datenmengen allerdings vieles erleichtern, ökonomischer und effektiver gestalten - sie ersetzt jedoch nicht die gründliche intellektuelle Durchdringung der Daten sowie den "Forschergeist". Das Erfinden und Entwickeln von Kategorien, Modellen und Theorien übernimmt kein Computer und keine noch so
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
"intelligente" Software. In Forschungsberichten findet man mitunter Formulierungen wie: "Bei der Untersuchung wurde die Grounded Theory-Methodik verwendet, die Auswertung erfolge mit Hilfe des Programmsystems ,XY'." Eine solche Aussage ist bezogen auf das konkrete Vorgehen wenig informativ. Das Hervorkehren der Applikation eines (aktuellen, prestigeträchtigen, teueren) Softwarepakets dient mitunter lediglich der Imagearbeit und dem Imponierhabitus des Autors bzw. der Autorin, ohne substantiell etwas über die Vorgehensweise oder die Güte der Theorieentwicklung auszusagen. Es ist eine interessante und wichtige Frage, ob und inwieweit die Verwendung komplexer Auswertungssoftware über ihren Hilfsmittelcharakter hinaus die Forschungspraxis und Denkweise in einer tiefer gehenden Weise prägt (vgl. Konopasek 2008). Abgesehen von der hier artikulierten skeptischen und Zurückhaltung nahelegenden "Warnung" vor einem unreflektierten Softwaregebraum Es gibt in der Zwischenzeit mehrere Programmsysteme, die angepasst an den Vorgehensmodus der GTM konstruiert sind und - je nach Arbeitsstil und persönlichen Gewohnheiten - eine hervorragende Unterstützung der Arbeit mit der GTM bieten können. Datenverwaltung, Organisation von Kodes und Kategorien, Einbindung von Memos und Diagrammen, komfortable Suchfunktionen, Herstellung von Ordnung und Übersichtlichkeit sind wesentliche Leistungen, die durch einschlägige Softwareinstrumente unterstützt werden (Beispiele: ATLAS.ti, MAXqda, QSR NVivo, Ethnograph, AQUAD). Auf einzelne Programmsysteme einzugehen ist hier jedoch nicht möglich. Die Entwicklungen in dieser Domäne schreiten rasant fort. Eine vergleichende tJbersicht solcher Werkzeuge wird etwa bei Lewins & Silver (2007) gegeben. 1
Weiterführende Information: QDA-Sojtware-Übersichten im Internet Das Internet bietet dazu eine Vielzahl von Informationen. Hier sind einige Links aufgeführt, die zum Zeitpunkt der Arbeit an diesem Text nützlich erschienen: http://www.latrobe.edu.au/aqr/index.php?option=content&task=view&id=20&Item id =38; http://kerlins.net/bobbi/research/qualresearch/researchware.html; http://www.qual.auckland.ac.nz/; http://caqdas.soc.surrey.ac.uk/; http://www.qualitativeresearch.uga.edu/QuaIPage/qdaresources.htm; http://onlineqda.hud.ac.uk/Which_software/index.php 1
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2.6 Schreiben des Forschungsberichts
2.6
103
Schreiben des Forschungsberichts
Qualitative Sozialforschung und besonders das Arbeiten im GlM-Modus ist in hohem Maße durch die Auseinandersetzung mit Texten geprägt - fremden und eigenen. GlM-Arbeit besteht zu wesentlichen Teilen aus eigenem Schreiben. Schreiben heißt u. a Verfertigen und Präsentieren von Überlegungen, Gedankengängen und Deutungen. Schreiben ist im Arbeitsprozess - wie (mit anderen darüber) Reden - ein Verfahren der Herstellung von Distanz gegenüber Sachverhalten und Erlebnissen aus der Interaktion mit den Untersuchungspartnern, des Überblick-Gewinnens, der Sortierung und Reflexion empirischer Erfahrungen, gesammelter Daten. Konzeptuelles Denken, die analytische Auseinandersetzung mit den Daten, Bemühungen um ihre interpretative Transformation auf eine theoretische Ebene, sind im GTM-Modus programmatisch von Anfang an wesentlicher Teil der Arbeit. Insofern setzt sinnvoller Weise auch das Schreiben als Mittel der Explikation und Klärung von Ideen gleich zu Beginn des individuellen Forschungsprozesses ein. Wo ist aber der Beginn? Wir sind der Auffassung, dass bereits die ersten gedanklichen Annäherungen an eine Forschungsfrage ein Thema des Schreibens sein sollten: eigene alltagsweltliche Themenberührung, persönliche Problemverwicklungen, Präkonzepte, "naive" Vorstellungen und Phantasien, in welche Richtung man gehen könnte, Motivationslagen und Motivationshintergründe etc. sind Gegenstände des Festhaltens und der Auseinandersetzung in Textform. Hier ist das Medium des Forschungstagebuchs angesprochen (Genaueres dazu unten unter Punkt 3.5.1). Das persönliche Forschungstagebuch ist zunächst ein intim-vertrauliches Aufzeichnungsmedium mit vielfältigen Funktionen der Erinnerungssicherung, der Entlastung, der Fokussierung von Eigenresonanzen, der Selbstreflexion, des Festhaltens von Entwürfen, affektiven Regungen, Phantasien und Träumen. Schreiben soll so zu einem integralen und selbstverständlichen Mittel werden, das den Forschungsprozess, die Auseinandersetzung mit dem Thema und eigene Entwicklungen begleitet. Es gibt bei unserem Forschungsstil keine klare Trennlinie zwischen Datenerhebung, Auswertung und "Niederschrift", wie dies in Standardabläufen wissenschaftlichen Arbeitens anzutreffen ist. Auf vielfältige Weise werden von Anfang an Texte geschrieben. Die Barrieren des Ins-SchreibenKommens hinsichtlich der Verfertigung des Forschungsberichts sind unter einer solchen Voraussetzung schon in der Anfangsphase aus dem Weg geräumt. In den Lehrbüchern der GTM ist viel von Memos die Rede, von (kleinen) konzeptuellen und reflexiven Texten, die im Verlauf des Forschungsprozesses, entlang seiner Schritte und beim Voranschreiten innehaltend, verfasst werden (z. B. Strauss 1991, S. 153ff.). Dort werden beispielsweise Kode-Memos, theoretische Memos und
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
Planungs-Memos unterschieden. Und es werden Hinweise und Anregungen gegeben, wie solche Texte zu gestalten sind und wie mit ihnen umgegangen werden soll-u. a.: • Datieren und in den Daten lokalisieren, • mit einer Überschrift versehen, • Vergleichen und Sortieren der Memos, • Fortschreiben und "Sättigen" von Memo-Ideen. • Grundsätzlich sollten Memos konzeptuell gehalten sein, also einen theorieorientierten Akzent besitzen (Strauss & Corbin 1996, S. 169ff.). Das Gegenstück bzw. Komplement von Memos sind die Diagramme (vgl. Strauss 1991, S. 190ff.; Strauss & Corbin 1996, S. 169ff.). Diagramm-Darstellungen von Theorien besitzen in der GTM einen hohen Stellenwert. Ihr Anfertigen unterstützt das Abstrahieren und theoretische Konzeptualisieren im Entwicklungsprozess, fördert das pointierte und prägnante sprachliche Benennen von Theoriekomponenten, das Sortieren und An-/Ordnen von Teil-/Konzepten, das Interpretieren und Benennen von Relationen zwischen den Bestandteilen. Diagramme animieren zur Bezugnahme auf das Paradigmatische Modell bzw. die Bedingungsmatrix (vgl. 2.4.5.2) zur Systematisierung von Kategorien und Subkategorien in ihren Bedingungsgefügen, von Kernkategorien in ihrem Netz von Relationen. Diese Form der bildhaften Kondensierung von Theoriestrukturen ist charakteristisch für die Präsentation der Ergebnisessenzen von GTM-Projekten. So gibt es dort häufig ein GesamtmodelI der Theorie in Diagramm-Darstellung - mit der Kemkategorie und den Relationen zu den gebildeten (Haupt-) Kategorien. In Kapitel 4 finden sich entsprechende Veranschaulichungen (s. Punkte 4.2.1 und 4.3.1). Davon ausgehend lassen sich dann - gewissermaßen im Zoom-Verfahren - einzelne Teilsegmente dieses Gesamtmodells herausschneiden und "vergrößern", in seinen Details, Subkategorien und Verbindungslinien zeigen. Dem Leser kann auf diese Weise ein Nachvollziehen und Verständnis der Theorie erleichtert werden. Auch bezüglich des Abfassens von Forschungsberichten sind in Lehrbüchern mancherlei Überlegungen und Empfehlungen zu finden (etwa bei Strauss & Corbin 1996, S. 193ff.; vgl. auch Sandelowski 1998). In diesem Zusammenhang spielen Regelwerke des Textverfassens unter unterschiedlichen institutionellen und disziplinären Rahmenbedingungen eine wesentliche Rolle: Für Examensarbeiten, für Dissertationen, für wissenschaftliche Aufsätze in bestimmten Zeitschriften existieren kodifizierte Reglemente und Formatvorgaben, an die sich ein Autor in der Regel halten muss. Für das Schreiben von Büchern gelten andere Maximen als für das Verfassen von Zeitschriftenbeiträgen. In gewissen Fächern sind Zeitschriften-
2.6 Schreiben des Forschungsberichts
105
aufsätze die Hauptform der Publikation von Forschungsarbeiten, in anderen Disziplinen besitzen Bücher/Monographien einen höheren Stellenwert. Für diese Fragen gibt es keine einfachen Patentrezepte, keine Antworten-füralle-Fälle. Die Lösungen müssen für Projekte, Personen, Disziplinen, Kontexte und Zwecke - unter Berücksichtigung bestimmter Zielsetzungen, Werthaltungen und ethischer Gesichtspunkte - je spezifisch überlegt, geplant und ausgehandelt werden. Die Darstellungen zum Publizieren und zur Rezeption von Forschungsberichten, die Whyte (1984, S. 193ff.) aus seiner langjährigen Erfahrung als qualitativer Sozialforscher gibt, bieten interessante Einblicke. Zur Bedeutung des Schreibens in der qualitativen Sozialforschung bietet das Buch von Holliday (2007) eine Übersicht. Das Gestalten und Schreiben eines Berichts über ein GTM-Projekt beinhaltet eine Vielzahl von Fragen und Problemen, von denen einige hier genannt werden: • Wie werden die Daten im Forschungsbericht präsentiert? Und welche Funktion erfüllen sie in der Darstellung? Daten in der Form von Zitaten, Fotos o. Ä., (bei der Präsentation in elektronischen Medien) auch Ton-Nideo-Dokumente dienen häufig als Beleg und Illustration für theoretische Behauptungen, Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen. Sie werden in einen vom Autor konfigurierten Kontext gestellt. Die Spielräume für ein Lesen von Texten alternativ oder konträr zu den Deutungen und Intentionen des Autors sind durch diesen gebahnt und begrenzt. • Stets steht eine GTM-Berichtsautorin (und da geht es ihr nicht anders als allen Autorinnen sozialwissenschaftlicher Berichte) im Schnittfeld unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten und Diskursarenen. Sie ist Mitglied - einer gesellschaftlich-historisch geprägten Sozialkultur mit bestimmten Weltanschauungen, Werthaltungen, Vorlieben, Tabus, Selbstbildern etc. sowie ihren relevanten Publikationsplätzen (Fernsehen, überregionale Feuilletons, Lokalzeitungen u. Ä.); - einer Wissenschaftlerinnengemeinschaft in einer Fachdisziplin, in der GTM einen respektierten, geduldeten oder marginalen Stellenwert besitzt und in der, bezogen auf das Forschungsthema, bestimmte Theorie- und Fokussierungs-Traditionen existieren; - einer Interaktionsgemeinschaft mit den Mitgliedern des Untersuchungsfelds, denen gegenüber sie (explizit, implizit) bestimmte Verabredungen und Verpflichtungen eingegangen ist; - sowie auch eines persönlichen Kreises (Eltern, Familie, Freunde, Nachbarn etc.), mit dem sie verbunden ist (vgl. Leithäuser & Volmerg 1988, S.13lff). Ein Text besitzt in diesen Zusammenhängen jeweils unterschiedliche Bedeutungen und Relevanzen, wird in verschiedener Weise beachtet, gelesen und
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
gewertet, zieht unterschiedliche Folgen nach sich. Thomas Manns Roman "Buddenbrooks" brachte ihm Ruhm und Ehre in der literarischen Welt - in der Lübecker Gesellschaft vor Ort hatte er sich aufgrund der Wiedererkennbarkeit des Romanpersonals die Sympathien der besseren Gesellschaft verscherzt. Beim Schreiben wird der Autor sich mehr oder weniger stark von Vorstellungen über solche differenziellen Rezeptionsprofile leiten lassen - beispielsweise davon, wie er sich als (bedeutsame, hilfreiche, dankbare etc.) Person im jeweiligen Kontext präsentieren, welche Meriten er einstreichen möchte, wie er den ihm entgegengebrachten Respekt hier und dort bewertet, wie er sich in einen publizistischen oder politischen Diskurs einbringt o. Ä. Daten qualitativer GTM-Studien sind in schriftlichen Berichten mitunter kaum hinsichtlich ihres Ursprungs unkenntlich zu machen. Es gibt ein Dilemma zwischen der methodologischen Programmatik, das Forschungsfeld, aus dem die Daten stammen, transparent zu machen - und der erwünschten oder erforderlichen Sicherung der Vertraulichkeit von Informationen. Die Ersetzung von Namen von Personen, von Orten und Institutionen durch Pseudonyme sowie auch gewisse Verfremdungen in der Darstellung können mitunter helfen. Das ist jedoch kein garantiertes Hilfsmittel für alle Fälle. Manche Kontexte sind (z. B. für Szene-Kenner oder aufgrund ihrer Singularität) gar nicht zu anonymisieren. Methodologische und forschungsethische Maximen geraten so beim Schreiben bzw. Publizieren unter Umständen in Gegensatz zueinander. Mit der IdentiHzierbarkeit untersuchter Felder und Personen durch Rezipienten von Forschungsberichten hängt das Problem zusammen, dass die Untersuchungspartner selbst diese Texte lesen (können). Sie finden sich dort wieder als in bestimmter Weise Beschriebene, Analysierte, Typisierte, explizit oder implizit Beurteilte; sie sehen sich gewürdigt, belobigt oder auch bloßgestellt und verraten. Klarheit, Explizitheit und Offenheit der Ergebnisdarlegung einerseits, Achtsamkeit für Empfindlichkeiten empathisch imaginierter Leser andererseits können für den Autor eines Ergebnisberichts in Widerspruch kommen.
Es gibt nach unserer Ansicht interessante (Entwicklungs-) Möglichkeiten des gegenstandsangepassten, eigensinnigen und/oder kreativen Schreibens und Gestaltens der Forschungsberichte in unterschiedlichen Textformaten und literarischen und performativen Genres - sofern es die Umstände sozialwissenschaftlichen Arbeitens erlauben. Solche Formen können allerdings unter den Rahmenbedingungen überkommen-konventioneller akademischer (Text-) Produktion häufig nicht ausgeschöpft werden. In einigen institutionellen bzw. disziplinären Umgebungen herrscht diesbezüglich größere Offenheit und Experimentierbereitschaft, und es
2.6 Schreiben des Forschungsberichts
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entwickeln sich neue wissenschaftliche Präsentationsformate und Präsentationsformen (s. beispielsweise EHis 2004; Winter & Niederer 2008; Jones u. a. 2008). Be-/Schreiben als Re-/Präsentation Die Vorstellung, dass man es in wissenschaftlichen Kontexten erstens mit Fakten und zweitens mit deren Darstellung zu tun habe, und dass es sich dabei um separate und unabhängige Angelegenheiten handele, ist in der jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion weithin aufgegeben worden (vgl. Breuer 1999, S. 231ff.).
Auf die disziplinär-selbstbezüglichen Betrachtungen ethnologischer Forschungspraxis waren wir bereits in Kapitel 1.3 zu sprechen gekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass der dortige Forschungsgegenstand (das sozio-jkulturell Fremde) in Form seiner wissenschaftlichen Beschreibung ("Othering") erst konstituiert und konstruiert wird (vgl. Geertz 1990; Berg & Fuchs 1993; Denzin 1997). Auch in anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen hat eine analoge epistemologische Selbstbesinnung stattgefunden. In der Geschichtswissenschaft beispielsweise wurde hervorgehoben, dass die Darstellung historischer "Tatsachen" immer an sprachliche Formen - an Varianten von Erzählungen - gebunden ist. Textuelle Weisen der Repräsentation lassen sich dabei nicht vom Gegenstand ablösen. In unserer Sprachkultur verfügen wir über ein begrenztes Repertoire grundlegender Darstellungstypen, und somit liegen jeder Repräsentation historischer Gegebenheiten bereits bestimmte (poetische) Strukturmuster zugrunde. Historische Verläufe können somit stets in unterschiedlichen Formen, unter verschiedenen Sinnbezügen und Logiken sowie von unterschiedlichen Standpunkten aus beschrieben werden. Diese Repräsentationen können untereinander in Konkurrenz stehen. Manche davon setzen sich durch (sogenannte "Meistererzählungen"), andere geraten ins Hintertreffen. Das Spektrum von Darstellungsweisen und ihr jeweiliger Stellenwert im disziplinären oder gesellschaftlichen Diskurs wandeln sich mit der Geschichte (vgl. Stopka 2008). Neuerdings erlangt die Konzeption der sogenannten Autoethnographie in den Sozialwissenschaften gewisse Aufmerksamkeit: Eine Weise des Schreibens einer Forscherin oder eines Forschers über persönlich-intime Erlebnisse, deren Präsentation in üblichen wissenschaftlichen Textsorten tabuisiert ist, wobei wissenschaftlich bedeutsame Phänomene gewissermaßen am eigenen Leib gezeigt werden (vgl. etwa Roth 2002; 2005). Carolyn Eilis, eine der Protagonistinnen der Autoethnographie-Bewegung, schildert ihre Entwicklung (in) dieser Methodik - ausgehend von ihrem Interesse an Emotionsforschung - im Zusammenhang mit dem Schreiben eines selbstreflexiven Buchs über ihr Erleben und Verarbeiten des Unfalltodes ih-
2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
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res jüngeren Bruders sowie des langsamen und qualvollen Sterbens ihres Ehemanns (EIlis 1995; vgl. EIlis 2004, 18ff.). Im Zusammenhang mit Grundlagendebatten um die sozialwissenschaftliche Repräsentationsproblematik sind vielfältige Bemühungen um Formen des Be-/ Schreibens - jenseits einer Darstellung vom "hohen Thron" vorgeblich objektiver wissenschaftlicher Autorität aus - entwickelt worden; z. B. Formen des Schreibens unter Reflexion und Offenlegung des autorschaftlichen Standpunkts (z. B. "ich" anstatt dem "Wir" des Pluralis majestatis), Varianten sogenannter "dichter Beschreibung" (Darstellung gleichzeitig/parallel über unterschiedliche Ebenen hinweg), Beschreibungen in dezidierter Vielstimmigkeit unterschiedlicher Beteiligter/ Autoren, ethnographische Beschreibungen als "kreative analytische Praxis" (Richardson 2000) - bis hin zur sogenannten anthropologischen oder Ethno-Poesie (Brady 2000; Schmitt-Maaß 2008). In dieser Hinsicht beinhaltet der Forschungsstil der GTM durchaus eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten, ein Entwicklungspotential sowie Spielräume individueller und projektbezogener Ausgestaltung und Kreativitätsentfaltung. Bezüglich der Präsentation eigener Forschungsergebnisse ist bereits die Bedeutung der Wahl eines "roten Fadens", einer "Story Une" in Zusammenhang mit der Festlegung einer Kernkategorie herausgestellt worden (vgl. Punkt 2.4.5.3; Strauss & Corbin 1996, S. 94ff.) - und dieser wird programmatisch per Entscheidung der Autorin bzw. des Autors festgelegt.
2.7
Bereichsbezogene und Formale Theorien
In der Grounded Theory-Methodologie wird eine Unterscheidung zwischen zwei Theorietypen vorgenommen, den Bereichsbezogenen und den Formalen Theorien ("Substantive" und "Formal Grounded Theories"). Erstere erstrecken sich auf eng/er umgrenzte empirische Bereiche - unter den von Strauss bearbeiteten Forschungsthemen beispielsweise auf die Modellierung von Schmerzbewältigung, von Krankheitsverläufen oder von Kommunikationspraktiken mit Sterbenden. Formale Theorien sind solche, die sich - gegründet auf entsprechend generalisierbare Schlüsselkonzepte - auf ein breites Spektrum von empirischen Domänen und Themenfeldem beziehen lassen. Die Kernkategorie einer bereichsbezogenen Grounded Theory wird über weitere Daten und Kontexte expandiert und ausgearbeitet (gleichzeitig etwa Krankheitsverläufe wie Berufskarrieren wie biographische Verlaufslinien; oder kommunikativer Umgang mit Spionage wie mit ehelicher Untreue wie mit Ver-lErben in Familien; s. Strauss 1991, S. 303ff.; Glaser 2007a; Kearney 2007).
2.8 Gütekriterien
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Über die Entstehung Formaler Theorien schreibt Strauss (1991, S. 311): ,,[...] das Spektrum der bereichsbezogenen Untersuchungen [vergrößert sich] allmählich. Man denkt plötzlich an Gegenstandsbereiche, auf die man während seiner früheren Forschungsarbeit nie gekommen wäre, und erforscht diese dann auch konkret."
In den Grundlagenwerken von Barney Glaser und Anselm Strauss finden sich beispielsweise Ausarbeitungen der "formalen" Theoriekonzepte "Statuspassage" (Glaser & Strauss 1971a), "Verlaufskurve" (Trajectory; Glaser & Strauss 1967), "Bewusstheitskontext" (Awareness Context; Glaser & Strauss 1965/1974; Kearney 2007, S. 133ff.). Ein eigener Versuch zur Entwicklung einer solchen Theorie in Bezug auf Vorgänger-Nachfolger-Übergänge bzw. "Objekt-Transfers" - durch einen Vergleich über unterschiedliche Weitergabekontexte u. a. zwischen Familienunternehmen, Elternschaft und Organtransplantation - findet sich bei Breuer (2009, S. 333ff.).
2.8
Gütekriterien der Grounded Theory-Methodik
Zum Problem der Beurteilungskriterien qualitativ-methodischer Untersuchungen und ihrer Resultate gibt es in den Sozialwissenschaften vielfältige Vorstellungen und Vorschläge, die mit bestimmten epistemologischen Überzeugungen zu tun haben (vgl. Breuer 1996, 36ff.; Steinke 1999; Breuer & Reichertz 2001). Entsprechende Differenzen kommen beispielsweise zwischen "naturalistischen" und "kulturrelativistischen" Versionen der Darstellung der GTM zum Ausdruck (z. B. Charmaz 2000; Glaser 2002; vgl. auch die Diskussionen zum Sozialen Konstruktivismus bei Reichertz & Zielke 2008 oder zu unterschiedlichen Reflexivitätsbegriffen bei Langenohl 2009). Steinke (2000) hat eine Liste von "Kernkriterien" zusammengestellt, die sich auf qualitative Sozialforschung generell bezieht und die sich auch bei der Beurteilung von Untersuchungen nach der GTM-Methodik verwenden lässt. Sie führt folgende Aspekte an: • Intersubjektive Nachvollziehbarkeit: Dokumentation des Forschungsprozesses, Interpretationen in Gruppen, Anwendung kodifizierter Verfahren; • Indikation des Forschungsprozesses: Geeignetheit des qualitativen Vorgehens, Angemessenheit der Methodenwahl, der Transkriptionsregeln, der Samplingstrategie, der Einzelentscheidungen im Gesamtkontext, der Bewertungskriterien;
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
empirische Verankerung: Verwendung kodifizierter Methoden, Aufweis von Textbelegen, Verwendung Analytischer Induktion, Ableitung prüfbarer Prognosen, kommunikative Validierung; Limitation: Austesten bzw. Angabe der Grenzen des beanspruchten Geltungsbereichs durch Fallkontrastierung und Suche nach abweichenden Fällen; Kohärenz: Konsistenz des Aussagensystems, Widerspruchsfreiheit; Relevanz: praktischer Nutzen; reflektierte Subjektivität: Selbstbeobachtung des Forschers, Reflexion der Forschungsbeziehung.
Bei der Arbeit unter dem GTM-Forschungsstil ist die Beantwortung der Frage wichtig, wann eine Theorieentwicklung in Bezug auf eine fokussierte Fragestellung sinnvoller Weise als abgeschlossen anzusehen ist. Im Lehrbuch von Strauss & Corbin (1996, S. 159) wird dafür das Kriterium der theoretischen Sättigung genannt. Die Kategorien und ihre Modellkonfiguration müssen durch oftrnalige Konfrontation mit Fällen und Daten hinsichtlich ihrer Strukturen und Bedingungszusammenhänge den auftretenden empirischen Variationen standhalten und theoretisch detailliert, kohärent und dicht ausgearbeitet sein. Der epistemologische Gnadenstand der Sättigung einer Theorie gilt dann als erreicht, wenn weitere hinzugezogene und analysierte Daten keinen Beitrag zu ihrer konzeptuellen Erweiterung bzw. Veränderung mehr leisten, wenn alle neuen Fälle im herausgearbeiteten Modell theoretisch "untergebracht" werden können. Allerdings kann ein solches finales Urteil mit Gewissheit von keinem Forschenden gefällt werden. Wir haben es - forschungslogisch betrachtet - grundsätzlich und andauernd mit einern provisorischen Zustand der Falsifizierbarkeit zu tun. Der "Sättigungsgrad" ist auf diesem Hintergrund eher als ein pragmatisches Kriterium für die Beendigung des Forschungsprozesses anzusehen, für die eine gewisse Rechtfertigungsverpflichtung besteht. Die Theorie liefert naturgemäß nicht die Gewissheit, dass die dort fokussierte Welt auch morgen noch genauso wie heute aussieht. Und ebenso wenig ist auszuschließen, dass im Gefolge weiterentwickelter selbst-/reflexiver Analyse forscherseits in der Zukunft gewandelte Konzeptualisierungsweisen hervortreten. Insofern lässt sich stets nur von einern vorläufigen und relativen Abschluss der Theorieausarbeitung sprechen. Zudem ist das Ende eines Forschungsprozesses auch von pragmatisch-kontextuellen Umständen des Forschenden bestimmt - von solch profanen Dingen wie dem Forschungsbudget, dem Abgabetermin für die Qualifikationsarbeit, der Befristung des Arbeitsvertrages, den Überzeugungen und Ansprüchen von Betreuungs- und Begutachtungsautoritäten u. Ä.
2.9 Zur Entwicklungsgeschichte der Grounded Theory-Methodik
111
Wir können und müssen also sagen: Nicht nur der Anfang des G1MForschungsprozesses, sondern auch sein Ende ist von einer gewissen epistemologischen Offenheit gekennzeichnet. Und dies erscheint trnS unter dem Gesichtspunkt, dass letzte Erkenntnisgewissheit schwerlich zu garantieren ist, eine ganz realistische Charakterisierung und gar nichts Ungewöhnliches.
2.9
Zur Entwicklungsgeschichte der Grounded Theory-Methodik
Die Offenheit und Flexibilität der G1M-Prozeduren bringen es mit sich, dass das hier skizzierte Vorgehen nicht als der einzig seligmachende Weg zu einer guten gegenstandsgegriindeten Theorie anzusehen ist. Es war bereits auf die Kontroverse zwischen den beiden Schulengründern Barney Glaser und Anselm Strauss hingewiesen worden, die sich in unterschiedlichen Nuancierungen des Reglements der Kodierschritte widerspiegeln (vgl. Glaser 1978). Diese werden von kenntnisreichen Beobachtern jedoch als nicht so weit auseinander liegend eingeschätzt, wie es der "späte Glaser" (1992) in Opposition zu Strauss und Corbin darstellt. Manche epigonalen Anhänger und Anwender der G1M versuchen, der Methodik zudem noch ihren speziellen Stempel aufzuprägen, Abwandlungen und Verbesserungen zu erfinden und in Lehrbüchern zu propagieren (vgl. etwa Breuer 1996; Flick 2002, S. 257ff.; Charmaz 2006). In jedem individuellen Fall des forschungspraktischen Operierens mit der GTM-Methodik und mit ihren Kodierverfahren ergeben sich Variationen und Passungen zwischen Gegenstandscharakteristika, Kontexten und Umständen des Forschungsprozesses sowie Eigenheiten der Forscherperson (vgl. etwa Breuer u. a. 1996; Berg & Milmeister 2007; Muckel2007; Star 2007). Die G1M ist als eine methodische Praxis unter bestimmten historischen, sozialen, lokalen und kontextuellen Bedingungen sozialwissenschaftlicher Forschung in der Kooperation von Forscherpersonen, von Barney Glaser und Anselm Strauss in Zusammenarbeit mit anderen, in konkreten Untersuchungsprojekten herausgearbeitet worden (vgl. Bryant & Charmaz 2007a; Strübing 2007). Erst geraume Zeit später wurde die Forschungsprozedur in Form von methodischer Unterweisung und Lehrbüchern festgeschrieben und kanonifiziert - und erst in diesem Zusammenhang kam die Frage auf, wie G1M "richtig" gemacht wird und was ihre genauen Reglemente und Vorschriften sind. Ein sichtbarer Startpunkt der Geschichte der GTM ist das Erscheinen des "Discovery"-Buchs von Glaser und Strauss ("The discovery of Grounded Theory") im Jahre 1967 (deutsch erst 1998: "Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung"). Es handelt sich um eine programmatische Schrift zur Methodologie und Methodik - gewissermaßen ein Alternativentwurf, eingebettet in den und in Op-
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
position zum Kontext der damals vorherrschenden Soziologie-Methoden in den USA sowie verbunden mit den Ideen der linken Studentenbewegung der 1960er Jahre. Das Konzept gründete sich auf Erfahrungen im Bereich der sozialwissenschaftlichen Feldforschung v. a. zu den Themen Krankheit, Sterben und Tod sowie von sozialen Prozessen und interpersonalen Aushandlungen im Krankenhaus. Im Discovery-Buch wird man als Methoden-Anfänger allerdings nicht ins Durchführen von Untersuchungen eingewiesen. Zur konkreten Anleitung und Vermittlung mussten Studierende seinerzeit an Seminaren von Barney Glaser teilnehmen. 1978 brachte dieser ein weiteres Buch zur Methodik mit dem Titel "Theoretical Sensitivity" heraus. Der Text blieb ebenfalls noch relativ praxisfern in Bezug auf die Anleitung konkreter Forschungsschritte. Strauss übernahm ab 1979 das GTM-Einführungsseminar von Glaser. Vorwiegend auf der Grundlage von Tonbandaufnahmen angeleiteter Gruppenarbeiten aus diesen Veranstaltungen entstand 1987 das Buch "Qualitative analysis for sodal sdentists" (deutsch: "Grundlagen qualitativer Sozialforschung", 1991), durch das Lernende zahlreiche Hilfen und Veranschaulichungen an die Hand bekamen, wie der "Meister" seine Forschungsstrategien und Deutungen entwickelte, und wie er mit der Erhebung, Auswertung und Interpretation von Daten umging. In den USA gehörte die GTM schon bald nach dem Erscheinen der ersten Publikationen zum Kanon der Sozialwissenschaft. In (West-) Deutschland begann die Rezeption der GTM in der Soziologie bereits in den 1960er und 1970er Jahren. Hier ist vorwiegend eine Bezugnahme auf die GTM in der Konzeption von Anselm Strauss zu finden, was wesentlich auf dessen Kontakte mit interaktionistisch gesinnten Soziologen in Westdeutschland, Gastaufenthalte an den Universitäten Hagen und Konstanz zu tun hat (bei und mit Grathoff, Soeffner, Schütze, Hildenbrand u. a.; vgl. Strübing 2007, S. 40f.). Der Werkstattcharakter des Strauss-Buchs (1987/1991) ist allerdings nur ansatzweise gebändigt durch ein vorgehensleitendes Vorschriftenwesen. Fragen der Reglementierung und Kanonifizierung geraten erst in dem in Koautorschaft mit Juliet Corbin (1990, deutsch 1996) entstandenen Buch stärker in den Vordergrund. Dort werden dezidierte Handlungsanweisungen für das praktische GTM-Vorgehen vorgestellt. Das Buch wird seither verbreitet als Einführung und Novizen-Einstieg in die konkreten methodischen Prozeduren verwendet. (Es erscheint in der 3. revidierten Auflage in den USA inzwischen in der Autorenreihenfolge Corbin & Strauss 2007). Die zentralen Publikationen Glasers zur GTM liegen hingegen (bisher) nicht in deutschsprachiger Übersetzung vor. Barney Glaser, der sich nach 1979 aus dem universitären Wissenschaftsbetrieb zurückgezogen hatte, meldete sich in den 1990er Jahren aus einem von ihm privat gegründeten "Grounded Theory-Institute" auf der sozialwissenschaftlichen Bühne zurück (s. http://www.groundedtheory.com/). Er verurteilte - zum Teil in ausge-
2.9 Zur Entwicklungsgeschichte der Grounded Theory-Methodik
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sprochen polemischer und aggressiver Form - die inzwischen vollzogenen Entwicklungen der GTM unter der Federführung von Anselm Strauss als Abweichungen von der ursprünglichen und "authentischen" Linie. Inhaltlich geht es bei dieser Auseinandersetzung vor allem um die Einschätzung der Rolle des Vorwissens bei der Entwicklung einer bereichsspezifischen Grounded Theory: Inwieweit spielen die theoretische Sensibilität des Forschenden und seine Präkonzepte eine Rolle? Werden einem Problemthema forscherseits vorgefasste theoretische Strukturen übergestülpt (Glaser nennt das "forcing"), oder können diese aus den Daten gewissermaßen "herauswachsen" ("emergence"). Glaser vertritt in der Kontroverse eine empiristische Sichtweise maximaler theoretischer Voraussetzungslosigkeit. Er verwickelt sich bei näherem Hinsehen allerdings in Widersprüche (vgl. Absdmitt 2.4.5.2; s. auch Kelle 2007a). Die GTM vereint - in Gestalt der wissenschaftlichen Herkunft bzw. Sozialisation ihrer beiden Gründungs-Protagonisten - in sich zwei unterschiedliche intellektuelle und methodologische Traditionen der Sozialwissenschaft, die zwar durch Überschneidungsbereiche (z. B. eine Präferenz für Feldforschung), aber auch durch Differenzen gekennzeichnet sind: Strauss entstammt dem Kontext der sogenannten Chicago School der (Mikro-) Soziologie und Sozialpsychologie (vgl. Punkt 2.3.5.2) sowie der Tradition des Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus (Herbert Blumer, George Herbert Mead u. a.). Es handelt sich - grob charakterisiert - dabei um eine handlungstheoretische Vorstellung basierend auf dem Grundgedanken, dass die Bedeutung von Objekten, Situationen und Beziehungen in symbolisch vermittelten Prozessen der Interaktion hervorgebracht wird. Glaser hingegen kommt aus der sogenannten Columbia School (Paul F. Lazarsfeld, Robert K. Merton u. a.), in der eine positivistische und vorwiegend quantitativ ausgerichtete Methodik vertreten wurde (vgl. Bryant & Charmaz 2007a). Diese Differenz wurde in der gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsarbeit in den 1960er und 1970er Jahren produktiv überbrückt, scheint aber - so die Rekonstruktion bei Kelle (2005) und Strübing (2007a) - die (rationale) Grundlage eines in den 1990er Jahren aufbrechenden Konflikts zwischen den beiden GTM-Vätem über die "wahre Lehre" zu sein. Und wie es mit wissenschaftlichen Instrumentarien und Paradigmen häufig so geht: Attraktive Werkzeuge funktionieren in ihrer Anfangszeit gut und erfolgreich - im Laufe der Zeit werden die Schwierigkeiten, Problemzonen, Beschränkungen und Inkonsistenzen deutlich. Sodann wird die Methodik verfeinert, kompliziert, diversifiziert und neu interpretiert. In diesem Zusammenhang werden die sozialen Prozesse innerhalb der Gemeinde der Paradigmenvertreter bedeutsamer: Es werden kritische Analysen und Revisionen des Denkstils bzw. Paradigmas vorgenommen, die Zahl der Exegeten und Lehrbücher wächst, Deutungsfraktionen mit
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2 Der Forschungsstil der Grounded Theory
eigenen Profilierungsansprüchen kristallisieren sich heraus. Die Entwicklung des Ansatzes wird in Lexikoneinträgen, Methodenlehrbüchern und in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung kondensiert und fixiert. Dabei versuchen die Sachwalter der Tradition und verschiedener Traditionsvarianten sich in Stellung zu bringen, die Kompetenzrollen für sich zu reklamieren, Terrains zu belegen und auszuweiten. Es melden sich Autoren, die die Gründer kennen oder gekannt haben, aus persönlichen Gesprächen oder Email-Korrespondenzen mit ihnen zitieren können - und damit ihre Deutungsansprüche untermauern. Die Entwicklung der GTM-Methodik befindet sich nun in einer Phase, in der die Sachverständigen und Epigonen das Gelände in den Lehr- und Handbüchern unter sich aufteilen, um Anhängerschaft und Ressourcen konkurrieren. Es werden einschlägige Publikationsorgane okkupiert, Einladungs- und Zitationskartelle etabliert, "Zentren", "Cluster" und "Institute" gegründet und zu etablieren versucht, es werden die Insider von den Outsidern getrennt. Der "Kampf der Linien" ist beispielsweise aus dem Wandel der unterschiedlichen Sachverhaltsdarlegungen in der Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" abzulesen (deren Einträge werden weitgehend von "Nutzern" bzw. Interessenten geschrieben und überarbeitet): Im Jahr 2008, während der Arbeit an diesem Text, ließen sich in der englischsprachigen Version mehrere Varianten unter dem Stichwort "Grounded Theory" finden - u. a. "Grounded Theory (Strauss)" http://en. wikipedia.org/wiki/Grounded_theory_%28Strauss%29 und "Grounded Theory (Glaser)" http://en.wikipedia.org/wiki/Grounded_theory_(Glaser) - in denen Anhänger die jeweilige WeItsicht darlegten. Anfang 2009 fand sich (nur noch) ein Vereinigungstext "Grounded Theory", in dem auf die Differenzen zwischen den beiden Fraktionen eingegangen wird. Man kann gespannt sein, wie es weiter geht. Auch im jüngsten "Handbook of Grounded Theory" (Bryant & Charmaz 2007) zeigen Vertreter der beiden unterschiedlichen Linien Flagge. Deutschsprachig gab es zum genannten Zeitpunkt ebenfalls ein "Grounded Theory"-Stichwort in Wikipedia, bei dem "überparteilich" beide Standpunkte berücksichtigt wurden. Dabei lassen sich Autoren in den Vordergrund schreiben, die Deutungshoheit bezüglich der GTM im deutschsprachigen Raum für sich beanspruchen und befestigen möchten - was an den selektiven Zitationen ablesbar ist: http://de.wikipediaorg/wiki/Grounded_Theory. Anselm Strauss hat sich in seinen letzten Lebensjahren dieser Entwicklung, den Auseinandersetzungen und Territorialkämpfen gegenüber gelassen gezeigt und hat öffentlich nicht auf die von Glaser gegen ihn gerichteten Polemiken reagiert. Hinsichtlich der mit seinem Namen verbundenen Methodik und deren konkreter Adaption in Forschungszusammenhängen legte er in seinen publizierten Verlautbarungen eine entspannte und liberale Haltung an den Tag (vgl. Kapitel 2.1).
3 Subjektivität, Perspektivität und Selbst-/Reflexivität
3.1
Einführung
Unserem Forschungsstil liegt die Auffassung zugrunde: Der Forscher bzw. die Forscherin kommt selbst als Subjekt und Person im Kontext der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisarbeit vor. Das methodologisches Postulat, das aus diesem Grundgedanken folgt, beinhaltet eine selbstreflexive Herangehensweise an die Forschungsarbeit, an ihre physischen, kulturellen, sozialen, persönlichen Ressourcen; an die Tatsache, dass sie sowohl aufregend und herausfordernd wie belastend und schmerzlich sein kann, dass darin möglicherweise auch ein tieferer persönlicher Sinn für den Forscher vergraben ist. Das Schwergewicht der Darstellung des Erlernens und Anwendens der GTM liegt in diesem Kapitel auf dem Gesichtspunkt der Person- und Subjekthaftigkeit des Forschungshandelns und den damit verbundenen methodischen Folgen und Folgerungen. Wir halten dieses Charakteristikum einerseits für unvermeidlich und unhintergehbar - andererseits im konkreten Forschungsprozess für reflexionsbedürftig, um seine Implikationen und Konsequenzen berücksichtigen, einschätzen und erkenntnisproduktiv machen zu können. Insofern werden hier Überlegungen und Verfahrensweisen in den Mittelpunkt gestellt, die die personale und soziale Selbst-/Reflexivität des Forschenden betreffen und anregen - die das Fragen nach der Bedeutung und der Rolle eigener Anteile für den Verlauf des Forschungsprozesses, seine Fokussierungen und Hervorbringungen inspirieren und dabei Möglichkeiten des produktiven epistemologischen Nutzens eröffnen können.
3.2
Forschen als Tätigkeit und Handlung
Ich habe Wissenschaft als eine Form menschlicher Tätigkeit beschrieben, die sich wie andere Formen professioneller Arbeitstätigkeit betrachten lässt (Breuer 1991, S. 65ff.). Eine solche Auffassung ist mit einer Umorientierung weg von einer normativ-methodologisch hin zu einer deskriptiv-arbeitswissenschaftlich und historischsozialwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaftstheorie verbunden, die seit
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (etwa im Gefolge der Aufmerksamkeit für Thomas Kuhns Buch"The structure of scientific revolutions", 1962) stattgefunden hat. Dabei erlangen folgende Komponenten des Erkenntnisprozesses verstärkt Aufmerksamkeit: • die institutwnellen, sozialen und subkulturellen Merkmale des (Arbeits-) Kontextes, • die Arbeitsinstrumente (Methoden, Verfahren, Apparate) und deren Entwicklung sowie • die Person des wissenschaftlich Forschenden. Der wissenschaftliche Erkenntnisvorgang ist unter dieser Betrachtungsperspektive an Voraussetzungen und Bedingungen auf Seiten des erkennenden Subjekts - und das heißt auch: des Wissenschaftlers als Individuum bzw. Person - gebunden und von diesen geprägt. Von den Protagonisten der GTM wird Forschen mitunter ebenfalls als eine konkrete Tätigkeit von Personen - als eine Form von Arbeit - beschrieben. Bei Strauss (1991, S. 34) lesen wir: "Forschen [ist] als Arbeit zu verstehen [...]", und "zwischen dem Wissenschaftler und seiner Arbeit besteht eine intensive Wechselwirkung", die dort mit der "Arbeit des Künstlers" parallel gesetzt wird. Das Ergebnis der Arbeit, die entwickelte Theorie, ist demzufolge ein persönlich-subjektiv geprägtes Produkt (vgl. Strübing 2004, S. 16). Bezüglich der Rolle des Wissenschaftlers haben wir es hier mit der Vorstellung von einem Subjekt der Tätigkeit zu tun, einem Forschungsakteur, einem Handelnden. Seine Merkmale, sein persönlicher (Arbeits-) Stil und seine individuellen Entscheidungen sind für den Erkenntnisprozess wie das Erkenntnisprodukt von Bedeutung. In unserem Ansatz gehen wir dem gemäß von dem Standpunkt und von einer Haltung aus, die Subjektivitätsvoraussetzung des Forschungsprozesses ernst zu nehmen und methodologisch zu berücksichtigen. Wir richten unseren Blick auf die Erkenntnischancen, die sich unter einer solchen Sichtweise ergeben, auf die "epistemologischen Fenster", die sich so öffnen (lassen). Die Eigenschaft der Subjektgeprägtheit nimmt ungern zur Kenntnis, wer der Idealvorstellung der Objektivität von Wissenschaft anhängt. Individuell-subjektive Voraussetzungen eines Forschenden (Personcharakteristika, Vorstellungen über den Untersuchungsgegenstand, Präkonzepte) werden üblicherweise in der sozial-/ wissenschaftlichen Arbeit nicht explizit thematisiert, spielen im "offiziellen" Bild von Forschung keine Rolle und werden dort nicht bearbeitet. Sie üben ihren Einfluss eher im Hintergrund oder "hinter dem Rücken" der Akteure aus und bleiben unthematisiert - sei es als sub-/kulturelle Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit oder im persönlich-idiosynkratischen Sinn des "blinden Flecks", der durch kultu-
3.2 Forschen als Tätigkeit und Handlung
117
relle, soziale und lebensgeschichtliche Prägungen, Verwicklungen o. Ä. bedingt ist. Es besteht so die Gefahr, dass gegenstandsbezogene Vorverständnisse unreflektiert in die Denkweisen und Forschungspraktiken einfließen. Die Forschenden behaupten und sind u. U. auch davon überzeugt, dass ihre Konzeptualisierungen und ihr Vorgehen durch explizite wissenschaftliche Theorien geleitet seien (etwa im Sinne von Hypothesenprüfung). Sie sind oftmals nicht gewahr, dass ihr Wahrnehmen und Denken von soziokulturellen Schemata, Stereotypen, Haltungen, von sozialisatorisch bedingten Relevanzen und Werthaltungen, von persönlichen Appetenzen und Vorlieben, ebenso wie von Aversionen, Vermeidensneigungen und Blindheiten mitbestimmt sind.
3.2.1 Selbst-/Reflexivität, Konstruktivismus Der Begriff Reflexivität wird in der jüngeren sozialwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussion gern und häufig verwendet - in unterschiedlichen Bedeutungen. Lynch (2000) gibt einen iJberblick über die Ausdifferenzierung und Systematisierung von Reflexivitätsarten in sozialwissenschaftlichen Theorien. Er unterscheidet dabei u. a.: • Varianten von Reflexivität, die dem Gegenstand selbst als inhärent zugeschrieben werden (substantive reflexivity), etwa in Theorien der sogenannten "reflexiven Modeme" im Sinne des Soziologen Beck (vgl. Beck u. a. 1996); • methodologische Reflexivität, Selbstaufmerksamkeitshaltungen gegenüber der eigenen Position und Rolle im Erkenntnisprozess; • metatheoretische Reflexivität, die beispielsweise in Spielarten des epistemologischen Konstruktivismus zum Ausdruck kommt; • interpretative Reflexivität, etwa in Form der hermeneutischen Zirkelhaftigkeitsannahme. Langenohl (2009) unterscheidet zwei Verständnisweisen des Reflexivitätsbegriffs, die für die Sozialwissenschaften eine Rolle spielen: Die aus der kulturanthropol0gischen bzw. ethnologischen Diskussion stammende Variante des sogenannten Linguistic oder Textual Turn (der "Krise der Repräsentation"; vgl. Punkt 1.3 oben) sowie die von Bourdieu (1993) entwickelte Form der soziologischen Reflexivität (reflexive Selbstobjektivierung im Sinne der Perspektive eines außenstehenden Beobachters der wissenschaftlichen Praxis). Während erstere auf eine "Annullierung von Objektivität [...] sozialwissenschaftlicher Beschreibung" (Langenohl2009, Abs. 12) hinausläuft, behauptet letztere ihre Objektivierungskraft gerade durch soziologische Reflexivität, die von einer bloß "narzisstischen" Form abgehoben wird.
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
Hinsichtlich der metatheoretischen und methodologischen Rolle von Selbst-/ Reflexivität unterstellen wir (typisierend, vereinfachend) eine Dimension subjektseitig-apriorischer Erkenntnisvoraussetzungen, die sich durch die gegensätzlichen Pole (a) anthropologische Generalität vs. (b) personale Spezijität kennzeichnen lässt: Einerseits (a) haben wir es mit allgemeinen gatlungsspezifischen, gesellschaftlichen und historisch-kulturellen Voraussetzungen trnSeres Erkennens zu tun, andererseits (b) sind wir mit dessen individuell-persönlicher Bedingtheit und Idiosynkrasie konfrontiert. Dazwischen bewegen sich andere - beispielsweise lokale, subkulturelle und familiäre - Einflussfaktoren (vgl. Letlau & Breuer 2007). Die Trennung dieser Aspekte ist in der analytischen Betrachtung möglich, im konkreten (Forschungs-) Handeln fließen sie jedoch ineinander. Die Fokussierung, Berücksichtigung und konstruktiv-produktive Einbeziehung und Nutzung dieser Voraussetzungen im bzw. in den sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess machen den Kern dessen aus, was wir hier als methodologisches Postulat der Selbst-/Reflexivität verstehen. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: (1) Zum einen müssen wir trnSere evolutionär herausgebildete Sinnesausstattung sowie die soziokulturell geprägten Wahrnehmungs- und Denkmuster in Rechnung stellen. Die Präformation der Erkenntnis geschieht durch die menschliche Biologie bzw. Neurologie sowie durch unsere gesellschaftlich-historische (abendländische) Kultur, Sprache und Denkweise. Das gilt für alltagsweltliche wie für wissenschaftliche Epistemologie gleichermaßen. Diese Erkenntnisvoraussetzungen werden reflexiv in konstruktivistischen Theorien aufgegriffen, die welt- bzw. gegenstandsbezogene Wahrnehmungen und Konzeptualisierungen als Hervorbringungen eines Erkenntnissubjekts im Bedingungsrahmen seiner "Systemcharakteristik" thematisieren. Beim Konstruktivismus handelt es sich um eine heterogene und multidisziplinäre Versammlung "methodischer", "radikaler" und "sozialer" u. a. Spielarten (vgl. etwa Watzlawick 1985; Maturana & Varela 1987; Knorr-Cetina 1989; Gergen 2002; Zielke 2007; Reichertz & Zielke 2008). Dort ist allgemein der Gedanke in den Vordergrund gerückt, dass es sich bei trnSeren Bildern und (symbolischen) Darstellungen der Wirklichkeit nicht um Abbildungen mit Wahrheitscharakter handelt, sondern dass wir es stets mit konstruktionistischen Vorgängen zu tun haben, die durch vielfältige Zustandekommensfaktoren auf Seiten des Erkennenden geprägt sind. Hirschauer (2003, S. 103) stellt drei epistemologische Aspekte des Konstruktivismus heraus: • Den Erschließungseffekt: Auf der ontologischen Ebene werden die Gegenstände der wissenschaftlichen Fakultäten in einer transdisziplinären Weise entgrenzt und neu sortiert.
3.2 Forschen als Tätigkeit und Handlung
•
•
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Den Auflösungseffekt: Auf der begrifflich-theoretischen Ebene geht es nicht (wie im Realismus) um die Zuordnung von Entitäten und Substanzen, sondern um Hypostasierungen von Beobachtern, eine Umstellung von Was- auf WieFragen in unabschließbaren Erkenntnisprozessen. Den Reflexivitätseffekt: Auf der methodologischen Ebene werden epistemische Praktiken unterstellt, bei denen die Selbsteinschließung des Beobachters sowie die Selbstbezüglichkeit von Aussagen konstitutiv sind. In diesem Zusammenhang ist der Blick der qualitativen Sozialforschung auf die "Selbstaufklärung der Sozialwissenschaften über ihre Beteiligung an der (Selbst-) Beschreibung sozialer Wirklichkeit" (Hirschauer 2003, S. 104) gerichtet.
(2) Die personalen, lebensgeschichtlichen Voraussetzungen der Subjekte von Erkenntnisprozessen - das Einzigartige, höchst Private, das Intime - stehen gewissermaßen am anderen Pol der oben angesprochenen Dimension. Auch hierfür gelten die skizzierten konstruktivistischen Annahmen und hnplikationen. Diesen Pol forschungspraktisch zu konkretisieren und produktiv zu machen, daraus theoretische Funken zu schlagen, gehört zu den Desideraten, für die in sozialwissenschaftlichen Methodenarsenalen noch wenig Aufmerksamkeit und Hilfestellung zu finden ist. Man bewegt sich dabei auf einem Gelände, das von der konventionellen sozialwissenschaftlichen Methodenlehre programmatisch gemieden wird. Häufig wird hier vor einem Abgleiten in die psychotherapeutische Selbsterfahrung, Selbstbespiegelung und Nabelschau gewarnt, und der Nutzen für die wissenschaftliche Erkenntnisbildung wird in Zweifel gezogen oder in Abrede gestellt. Hinsichtlich der Ausleuchtung der Bedeutsamkeit und der möglichen Ergiebigkeit individuell-idiosynkratischer Aspekte ist der psychoanalytisch grundierte Ansatz von Georges Devereux (1984) als wegweisend anzuführen, der die Reflexion der inter-/personalen Resonanzen zwischen Forschungssubjekten und -objekten ("Übertragung" und "Gegenübertragung") als methodische Erkenntnisquelle nutzt (s. unten). Im Kontext postmoderner Wendungen in den Sozialwissenschaften bemüht man sich darum, Formen der Gegenstandsdarstellung zu finden, die den individuellen Erkenntnisgang und den eigenen Standpunkt transparent machen und auch alternative Lesarten ermöglichen (vgl. Berg & Fuchs 1993) sowie dialogische, reflexive und kreative Formen des Schreibens zu entwickeln (vgl. Richardson 2000; s. Punkt 2.6). Die Grenzziehung zwischen der "Forschenden als Wissenschaftlerin" (als Repräsentantin eines entrückten Erkenntnisstandpunkts und einer zertifizierten Erkenntnismethodologie) und der "Forschenden als alltagsweltliche Person" (mit eigenem Lebensgeschick, mit spezifischer Leibhaftigkeit, Leidenschaft, Persönlichkeit und Sozialisation) wird bei unserer Betrachtungsweise in beiden Richtungen
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
unschärfer. Die hier postulierte Art des Hin- und Herpendelns, des Beobachtens und Darstellens eigener Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsmuster sowie des eigenen Erlebens und Handeins verlangt von den Forschenden eine elaborierte Selbstaufmerksamkeit, Sensibilität, Empathie, Reflexionsbereitschaft, literarischästhetische Kompetenz und Kreativität. Auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst wird in diesem Zusammenhang unschärfer und durchlässiger.
3.2.2 Subjektivität - Perspektivität Das vorherrschende und übliche wissenschaftliche Ideal ist das der Unabhängigkeit der Erkenntnis von der erkennenden Person - ihre Objektivität. Es handelt sich dabei nach unserer Ansicht um eine unrealistische Fiktion, die zu zweifelhaften Vorstellungen über wissenschaftliche Epistemologie führt. Jeder - auch der wissenschaftliche - Erkenntnisprozess ist an ein erkennendes Subjekt, dessen Positionen, Selektionen, Fokussierungen etc. gebunden. Die Sinnesfähigkeiten des Forschenden können methodisch-instrumentell erweitert und geschärft werden (Fernrohr, Röntgengerät, Videokamera etc.). Auf diese Weise werden bestimmte Erkenntnisarten ermöglicht, aber auch begrenzt (vg. Breuer 1991, S. 76ff.). Die Subjektgebundenheit (oder allgemeiner: die Systembedingtheit) sozial-/wissenschaftlicher Erkenntnis lässt sich durch die folgenden vier Aspekte kennzeichnen (Breuer 2003): • Standpunktgeprägtheit - in räumlicher und darüber hinausgehend verallgemeinerter Hinsicht, • Kabinenhaftigkeit - Wahrnehmung geschieht aus einem dynamischen, sich (raumzeitlich, historisch) bewegenden und wandelnden System heraus, • Sinnes-, Instrumenten-, Schemagebundenheit, • Interaktivität und Interventionshaftigkeit der Situationen der Erkenntnisproduktion. Eine dem angemessene Vorstellung ist die der epistemologischen Perspektivität: Jeder Wahrnehmende bzw. Erkennende sieht die Welt grundsätzlich innerhalb eines spezifischen Bedingungsrahrnens und Bezugssystems. Ein sogenannter "Superbeobachter", der frei ist von jeglichen Perspektivierungen, ist für uns nicht vorstellbar. Unterschiedliche Sichtweisen (Positionen, Lesarten, "Stinunen" etc.) sind im hier vertretenen Wissenschaftsverständnis von Interesse und Bedeutung. Ihre Vereinheitlichung ist dabei nicht obligatorisch. Vielmehr können gerade die auftretenden Unterschiede interessant und wichtig sein und als Erkenntnisquelle genutzt werden - sowohl als Information über den Erkenntnisgegenstand (seine Merkma-
3.3 Perspektiven, Perspektivenvergleich, Dezentrienmg
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le, Facetten, Mehrdeutigkeiten etc.) wie über den Erkennenden (seine Positionierungen, Wahrnehmungs/-un-/fähigkeiten, Präkonzepte, Veränderungen etc.). Gregory Bateson (1982, S. 88ff.) verwendet in diesem Problemzusamrnenhang die Metapher des binokularen Sehens, das uns - aufgrund der Wahrnehmung aus zwei verschiedenen Winkeln, die neuronal und kognitiv miteinander integriert werden - eine andersartige Wahrnehmungsqualität ermöglicht, nämlich das Tiefensehen. Er verwendet dieses Beispiel als Veranschaulichung des Prinzips der "Entstehung von Infonnationen eines neuen logischen Typs aus der NebeneinandersteIlung vielfältiger Beschreibungen": "Im Prinzip ist zusätzliche ,Tiefe' in einem metaphorischen Sinne immer dann zu erwarten, wenn die Infonnationen für die beiden Beschreibungen unterschiedlich zusammengestellt oder unterschiedlich codiert werden" (a. a. 0., S. 90).
3.3
Perspektiven, Perspektivenvergleich, Dezentrierung
Unsere reflexiven GTM-Studien operieren mit der Re-/Konstruktion von Gegenstandsbildern aus unterschiedlichen Positionen bzw. unterschiedlichen Blickwinkeln. Den subjektiv-persönlichen Darstellungen der Untersuchungspartner, der fokussierten Feldakteure, kommt die zentrale Bedeutung zu. Deren Deutungs- und Handlungskonzepte können • in ihrem (beobachtbaren) alltagsweltlichen Vollzug und Interagieren, • in dessen performativen Rahmungen und Begleitungen (Inszenierungen, Ritualen u. Ä.), • in kommunikativ-sprachlichen Verdeutlichungen und Kommentierungen (Dokumenten, Akten etc.) sowie • in (narrativen) Darstellungen und Berichten gegenüber dem Forschenden (in Befragungen, Interviewgesprächen etc.) zum Ausdruck kommen. Haltungen und Darstellungsvoraussetzungen der Akteure und Beobachter sind unterschiedlich - etwa aufgrund verschiedener Rollen und Zugehörigkeiten im Feld, differenzieller Zugänglichkeiten und Betroffenheiten, mehr oder weniger umfangreichen Erfahrungswissens, spezifischer Expertise, professionaler Praxis und Deutungsroutinen etc. Derartige Kontraste stellen wichtige Ressourcen für die Theoriebildung dar. Durch den Vergleich von Beteiligtensichtweisen wird die Standpunktgebundenheit der Konzeptualisierungen erkennbar und thematisierbar: Der Gedanke der Perspektivität der Weltwahrnehmung und -deutung sowie der Reflexion der subjektiven Erkenntnisvoraussetzungen öffnet einen Blick auf das einschlägige Spek-
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
trum von Wahrnehmungs- und Interpretationsmöglichkeiten und die jeweiligen Bedingungshintergründe der verschiedenen Varianten. Auf diese Weise wird ein Austausch, eine Selbst-/Reflexion und Dezentrierung von Positionen und Konstruktionen ermöglicht: Der übliche Blick aus einem Muster kann bei solchen Kontrastierungen unter Umstände zu einern reflexiven Blick auf das Muster gewandelt, umgearbeitet werden. Dies kann zur Veränderung und Selbst-/Entwicklung von Sachverhalts- bzw. Geschehensauffassungen auf Seiten der an dem Vergleichsbzw. Austauschprozess Beteiligten anhalten bzw. beitragen. In diesen Zusammenhang ist auch der Forschende eingebunden. Er kann sich selbst nicht über die grundlegenden Perspektivitätsvoraussetzungen - seine Subjekthaftigkeit, Standpunktgebundenheit - erheben: Seine Sicht unterscheidet sich von der anderer Mitakteure nicht in der epistemologischen Basischarakteristik (Strukturgleichheitspostulat; s. Punkt 1.2 oben). Sein Vorteil ergibt sich vielmehr aus dem Verfügen über spezifische methodische Erkenntnisverfahren sowie aus der größeren Handlungsentlastung und Muße zur Rekonstruktion, zur Kontrastierung, zur Gegenstands- und Selbst-Reflexion.
I
Begriffsklärung: Dezentrierung Ame Raeithel hat in seinen philosophisch-psychologischen Arbeiten (1983, 1998) eine epistemologische Reflexionsfigur entworfen, die aus drei Komponenten bzw. Stufen besteht, die er mit den Begriffen "Urzentrierung", "Dezentrierung" und "Rezentrierung" kennzeichnet. Diese Figur scheint mir ein passender Rahmen für die hier entfaltete methodologische Idee zu sein. ",Urzentrierung' bedeutet: Das Subjekt blickt aus seiner Tätigkeit auf die Struktur des Gegenstandes, reflektiert aber nicht seine eigene Tätigkeit im Verhältnis zum Gegenstand. Das Subjekt handelt gewissermaßen in Unmittelbarkeit aus einern Muster heraus, ohne sich über dieses Muster im Klaren zu sein. ,Dezentrierung' meint den Vorgang des Zurücktretens und Distanzgewinnens von eigenen Handlungsmustern, den Blick auf das Muster, die Einnahme eines Beobachter- bzw. Metastandpunkts gegenüber der eigenen Ausgangsperspektive, das Reflexiv-Werden hinsichtlich der urzentrierten subjektiven Konzepte. ,Rezentrierung' bedeutet eine Stufe des reflektierten Handelns, in der das beobachtende Subjekt im Dialog mit sich und mit anderen die Teile des sozialen Systems [...] reflektieren, umgestalten oder neu erfinden kann, die die (eigene) Problemsicht bestimmen" (RaeitheI1998, S.141). Ich spreche von Dezentrierungs- und Selbstreflexions-Techniken, wenn methodische Verfahren gemeint sind, die dazu dienen, die eigenen Handlungsmuster
3.4 "Störungen" im Feld und am Forscher
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und/oder die eigene Person des Forschers im sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu thematisieren und im Verhältnis zum Gegenstand zu analysieren (vgl. Breuer 2003).
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--------J
3.4
"Störungen" im Untersuchungsfeld und am Forscher als Erkenntnisfenster
Ein Wissenschaftstheoretiker, der sich mit dem Verhältnis von Forscher und Beforschten (Forschungsfeld, Forschungsthema) in den Humanwissenschaften in einer bemerkenswerten Weise auseinandergesetzt hat, ist Georges Devereux. In seinem Buch "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" (1967/1984) beschäftigt er sich mit Möglichkeiten, wie die Fokussierung dieser Konstellation erkenntnisproduktiv gemacht werden kann. Sein Ansatz ist dazu angetan, gerade jene inter-/personale und interaktive Charakteristik der Forschungssituation, die in der konventionellen sozialwissenschaftlichen Methodologie und Methodik durch Kontrolle, Standardisierung und Eliminierung vernagelt und unschädlich zu machen versucht wird, als genuines Erkenntnisfenster zu konzeptualisieren und zu nutzen. Er benutzt den Begriff der "Störung", die in einem Untersuchungsfeld bzw. in einer Forschungsinteraktion durch das Hinzutreten, durch die Anwesenheit eines Forschers entsteht. In der konventionellen Methodologie und Methodik werden solche "reaktiven Effekte" auf Seiten der Untersuchungspartner als unerwünscht betrachtet, häufig übersehen oder ignoriert. Man hängt dort gern der illusion an, die beobachtete Situation verlaufe "ganz normal", genau so wie bei Abwesenheit des Beobachters. 1
Begriffsklärung: Störungen des Feldes Die folgenden beiden Zitate entstammen dem genannten Buch von Devereux (1984). "Statt die Störung, die durch unsere Anwesenheit im Feld [...] entsteht, zu beklagen [...], sollten wir das Problem konstruktiv zu lösen und herauszufinden suchen, welche positiven Erkenntnisse - die sich auf anderem Wege nicht erhalten lassen - wir von der Tatsache ableiten können, daß die Gegenwart eines Beobachters [...] das beobachtete Ereignis stört" (S. 304).
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
"Der Verhaltensforscher muß lernen zuzugeben, daß er niemals ein Verhaltensereignis beobachtet, wie es in seiner Abwesenheit ,stattgefunden haben könnte', und daß ein Bericht, den er zu hören bekommt, niemals mit dem identisch sein kann, den derselbe Berichterstatter einer anderen Person gibt. Glücklicherweise werden die sogenannten ,Störungen', die durch die Existenz und das Agieren des Beobachters entstehen, wenn sie entsprechend ausgewertet werden, zu Ecksteinen einer wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens und bleiben nicht - wie man gemeinhin glaubt - bedauerliche Mallieurs, die man am besten eilends unter den Teppich kehrt" (S. 29). Auch auf dem Hintergrund einer systemtheoretischen Auffassung von Familien- und Organisationspsychologie kann eine ähnliche methodologische Perspektive zustande kommen: " [...] der Psychologe [muss] sich ganz zwangsläufig von Zeit zu Zeit die grundsätzliche Frage stellen [...]: ,Welche - verbalen und nonverbalen - Verhaltensweisen, Kommunikationen und Reaktionen meinerseits können von Einfluß darauf gewesen sein, daß die Situation sich so und nicht anders entwickelt hat?'" (Selvini Palazzoli u. a. 1984, S. 221; im Original z. T. kursiv).
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Im human- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungskontakt beobachten sich das Forschungssubjekt und das Forschungsobjekt wechselseitig. Beide besitzen füreinander spezifische Reizwerte, die sich auf ihr Handeln, die Interaktion, das Geschehen in der Forschungssituation auswirken - auf beiden Seiten treten dementsprechende Resonanzen auf. In der psychoanalytischen Denkwelt werden solche Effekte mit den Begriffen Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet. Damit sind subjektive, innere Re-/Aktivierungen von Assoziationen und Beziehungsmustern aus der Sozialisationsgeschichte gemeint, die auf Seiten der beiden Beteiligten im Kontakt ausgelöst werden können und zu bestimmten Affekten, Gedanken und Handlungsimpulsen führen. Die Fokussierung und Reflexion solcher Interaktionseffekte hinsichtlich ihrer möglichen Zustandekommensbedingungen kann erkenntnisproduktiv genutzt werden, anstatt - wie es in der Standardforschung unter Herrschaft der Objektivitätsmaxime geschieht - sie für unbedeutend zu erklären, zu ignorieren, zu "verdrängen". Die Forscherin kann ihren Blick in der Feldinteraktion nicht nur "nach draußen" (auf das intendierte Objekt und dessen Handeln), sondern auch auf sich selbst richten und sich fragen: Welche Effekte werden im Kontakt, in der Interaktion mit dem Untersuchungsgegenstand (Personen, Kontexte, Themen) bei mir selber evoziert? Sie kann der Frage der "Störungen am eigenen Körper" nachgehen: Wie reagiere ich auf das Feld und die Akteure, die mir dort begegnen? Welche Reso-
3.4 "Störungen" im Feld und am Forscher
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nanzen lösen die Mitglieder und das Geschehen im Feld bei mir aus - in Gedanken, Gefühlen, Handlungsimpulsen, Phantasien, unter Umständen auch in meinen Träumen? Welche Akteure springen mir ins Auge, und welche übersehe ich? Von wem fühle ich mich angezogen, von wem abgestoßen? An welche Charaktere oder Erlebnisse aus meiner eigenen Lebensgeschichte erinnern sie mich? Was lasse ich im Untersuchungsfeld mit mir machen und wo setze ich Grenzen? Meine eigenen Reaktionsweisen, die Affekte und Emotionen, die ich im Kontakt spüre - all das lässt sich als Hinweis auf Merkmale des Forschungsobjekts nutzen, denen die Forscherin genauer nachgehen kann. Ich kann mich selbst auch - hypothetisch - als ein (repräsentatives) Feldmitglied und/oder als einen spezifischen Rollenprotagonisten (z. B. einen Bittsteller, einen Klienten, einen Untergebenen) betrachten und empathisch "nachfühlen", wie es so jemandem im Kontakt und in der Konfrontation mit Akteuren und Situationen im Feld ergehen mag: Ist mir dabei wohl oder unbehaglich? Fühle ich mich groß oder klein (gemacht)? Animiert oder gelangweilt? Respektiert oder missachtet? Willkommen oder als Störenfried? Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Eigenresonanzen an "Leib und Seele", die bei Berührungen mit dem (Untersuchungs-) Objekt zustande kommen, ist eine Erkenntnispraxis, die für psychoanalytische Denk- und Behandlungsweisen (als Arbeit über die "Gegenübertragung") charakteristisch ist und dort besonders elaboriert und gepflegt wird: Die Therapeutin lauscht gewissermaßen in sich hinein und nimmt wahr, welche Assoziationen, Gefühle etc. im Kontakt mit dem Klienten bei ihr auftreten. Diese haben etwas mit ihrer eigenen Sozialisation, Lebenserfahrung und -geschichte zu tun. Aufgrund ihrer - per Ausbildung eingeübten - Aufmerksamkeitsausrichtung, ihrer Wahrnehmungs- und Interpretationsfähigkeiten bezüglich solcher Eigenresonanzen ist sie darauf eingestimmt, die in ihr ausgelösten Affekte und Effekte als Hinweise aufzufassen, die sich - per Deutungsarbeit - auf den Klienten beziehen lassen. Dieses Erkenntnisprinzip wird von Georges Devereux auf den humanwissenschaftlichen Forschungskontakt transferiert: Des Forschers Ablesen von Resonanzen am eigenen Körper, die in der Forschungssituation hervorgerufen werden, wird als ein Erkenntnisfenster, als Verstehensmethodik angesehen und zur Nutzung empfohlen (vgl. Mucke11996; Nadig 1998; Breuer 1999; 2000; 2003). In diesem Zusammenhang spielen Ängste vor dem Objekt bzw. bestimmten Gegenstandscharakteristika und damit einhergehende Ausblendungen und Vermeidungsimpulse eine besonders herausgehobene Rolle, aber auch entsprechende Attraktion und Faszination sind hinsichtlich ihrer Aufmerksamkeitskonsequenzen etc. von Bedeutung.
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
Eine solche Sichtweise und Haltung stellt sich entschieden in Opposition zur verbreitet üblichen Methodologie und Methodik, die (beunruhigende) Regungen (an) der Forscherperson durch einen strikten vorgegeben-standardisierten Methodenkanon zu neutralisieren und zu bannen versucht. Devereux kennzeichnet derartige Vorgehensweisen mit gewisser Polemik als "Gegenübertragungswiderstände [...], die sich als Methodologie tarnen" (1984, S. 17).
I Begriffsklärung: Störungen am Beobachter Noch einmal in den Worten von Georges Devereux (1984): Der Psychoanalytiker ,,[...] duldet, daß in ihm selbst eine Störung hervorgerufen wird, und untersucht diese Störung sogar sorgfältiger als die Äußerungen seines Patienten. Er versteht seinen Patienten psychoanalytisch nur insoweit, als er die Störungen versteht, die sein Patient in ihm auslöst. [...] Diese Entdeckung ist epistemologisch ausschlaggebend. Die Störung findet ,innerhalb' des Beobachters statt, und gerade diese Störung wird dann als [...] relevantes Datum behandelt. [...] Es ist offensichtlich, daß ,das Subjektive' von den meisten Verhaltenswissenschaftlern als Quelle systematischer Fehler behandelt wird, während der Psychoanalytiker es als hauptsächliche Informationsquelle behandelt, und zwar einfach deshalb, weil er infolge seiner Lehranalyse derlei subjektive Informationen zu ertragen in der Lage ist" (a a. 0., S. 335f.). Ein anderer psychoanalytisch ausgerichteter Sozialforscher, Mario Erdheim, fokussiert in einem Rückblick auf eigene zurückliegenden Untersuchungen und damit verbundene Entscheidungen das Konzept des "Agierens", wie es in der Psychoanalyse aufgefasst wird - als unbewusst motiviertes bzw. getriebenes Handeln, das im Kontakt mit einem Forschungsthema oder Forschungsfeld ausgelöst wird und mit solchen lebensgeschichtlich zurückliegenden Erlebnissen in Zusammenhang steht, die nicht selbstreflexiv zugänglich sind (Erdheim 1989, S. 89): "Die Faszination, die ein Gegenstand auf den Wissenschaftler ausübt, bezieht ihre Kraft immer auch aus unbewußt gewordenen Erfahrungen. Je größer die Faszination, desto wirksamer wird auch die Neigung zum Agieren sein, das heißt, daß der Wissenschaftler daraufhin tendieren wird, zu handeln statt sich zu erinnern. [...] gerade dann, wenn es darum geht, neue Bereiche zu entdecken, und man deshalb noch gar nicht wissen kann, was einen eigentlich lockt und erwartet, wird das Agieren zu einer Art Reisebegleiter ins Unbekannte. Dabei darf es aber nicht bleiben. Subjektivität kann nur dann zum Erkenntnismedium werden, wenn zuerst einmal beim Forscher selber - das Agieren in ein Erinnern übergehen kann"
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3.4 "Störungen" im Feld und am Forscher
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Man kann das skizzierte Prinzip auch in anderer theoretischer Terminologie beschreiben: So finden wir beispielsweise die Unterscheidung eines Inhalts- und eines Beziehungsaspekts bei der Konzeptualisierung der menschlichen Kommunikation - und damit auch im sozialen Kontakt zwischen einem Forscher und seinem Objekt, seinen Untersuchungspartnem. Diese Differenzierung ist ein Grundaxiom der Kommunikationstheorie von Watzlawick u. a. (vgl. 1969). Als Forscher im Feld gewinne ich explizite Information in Form von Sachmitteilungen, gegenstandsbezogenen Beschreibungen in Gesprächen u. Ä. (Inhalt: "Was?"). Die unvermeidliche Gestaltung der Beziehungen - in unserem Fall zwischen Forscher und Forschungsobjekt - rahmt den Inhaltsaspekt der Kommunikation ein und bestimmt dessen Interpretation ("Wie?"). Der Beziehungsaspekt kann ebenso gut wie die Inhaltsebene als Ausdruck und Kennzeichen der Charakteristik des Gegenstandsfeldes und seiner Akteure betrachtet und in diesem Sinne gelesen und analysiert werden. Es lassen sich - pointiert ausgedrückt - zwei methodologische Umgehensweisen mit dem Phänomen des persönlichen Verwickeltseins des Forschenden in sein Forschungsthema unterscheiden: • Die personalen Resonanzen werden als Fehlerquelle aufgefasst. Sie stellen eine Beeinträchtigung der Datengewinnungs-Objektivität durch die idiosynkratischen Charakteristika von Personen, Interaktion und Beziehung in der Untersuchungssituation dar. Es gilt, diese auszuschalten oder wenigstens zu minimieren. Man versucht, "Subjektivität" durch "Objektivität" zu ersetzen, indem Subjektivität eliminiert wird. Dafür gibt es vielerlei Techniken, die darauf hinauslaufen, die Person des Forschers im Forschungskontext unsichtbar zu machen oder zu deindividualisieren, gewissermaßen auf "gleich wie alle anderen" zu schalten. Prototyp: Die standardisierte Befragung, die durch einen neutralen, gesichtslosen Befragenden oder auch gänzlich apersonal, etwa im Dialog mit einem Computer, durchgeführt wird. Dabei werden häufig kontextuelle Laborbedingungen konstruiert, wie es sie alltagsweltlich nirgendwo gibt - es sei denn eben in Versuchslaboren unterschiedlicher Art. Bei diesem Vorgehen macht man sich über personale und sozial-interaktive Faktoren keine differenzierteren Gedanken. • Die personalen Resonanzen werden als unvermeidliche und konstitutive Phänomene angesehen und hinsichtlich ihrer positiven Erkenntnismöglichkeiten in den Blick genommen: Welche Art von Information kann auf diese Weise gewonnen, hervorgebracht werden? Dabei lässt sich wiederum in zwei Richtungen denken und suchen: Die Resonanzen, die bei mir in der Auseinandersetzung mit einem Forschungsfeld auftreten, sagen einerseits etwas über mich als Person (meine Präkonzepte und Denkweisen, meine emotionalen, sozialen und moralischen Strickmuster etc.), andererseits etwas über Charakteristika des Ge-
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
genstands (Welche Aspekte besitzt er? Wie wird er wahrgenommen? Welche Reaktionen ruft er hervor? Etc.). Wenn ich über meine durch ein Problemthema, ein Forschungsfeld und seine Mitglieder ausgelösten persönlichen Resonanzen nachdenke, kann ich dies als heuristisches Mittel nutzen und sie zu einer Erkenntnisquelle in Bezug auf Strukturen und Aspekte des zu untersuchenden Themas machen. Sie können Bestandteil und Werkzeug einer kreativen Entdeckungs- und Theorieentwicklungsmethodologie werden. Die auf diese Weise zustande kommenden Ideen und Überlegungen sind naturgemäß provisorisch und hypothetisch. Sie müssen im weiteren Forschungsprozess hinterfragt, belegt und ausgearbeitet werden. In dieser Hinsicht erweisen sich Sozialwissenschaftler als unterschiedlich interessiert, aufmerksam, sensibel und souverän. Mit der fließenden Grenze, dem Übergangsfeld, dem Hin- und Herpendeln zwischen "Forscher als Privatperson" und "Forscher als Professioneller" sowie dem erlebenszentrierten Nah-Herangehen und dem reflektierenden Distanznehmen ist im Kontext von Forschungsarbeit des hier beschriebenen Stils - beim Agieren im Untersuchungsfeld, in der Wissenschaftsgemeinschaft (der Fachkultur, der Forschungsinstitution), beim Schreiben von Forschungsberichten - nicht leicht umzugehen.
3.5
Verfahren und Praktiken der Selbst-lReflexion
Um die Bereitschaft und Sensibilität für den propagierten Zugang zum Forschungsprozess zu entwickeln, sind Vorgehensweisen günstig, die zur Reflexion des Forschenden in Bezug auf die eigene Person, das Untersuchungsthema und den Forschungsprozess anhalten. Hier ist gewissermaßen ein Äquivalent zur Lehranalyse des Psychoanalytikers gefragt. Nach unseren Erfahrungen mit Forschungsarbeiten und deren Begleitung haben sich einige Verfahrensweisen bewährt, die Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion des Forschers bzw. der Forscherin fördern. Diese können eine Explikation der subjektiven Wahrnehmungen, Resonanzen und Verarbeitungen, eine Konfrontation mit eigenen Erlebnis- und Sichtweisen (eventuell aus unterschiedlichen zeitlichen Abständen) sowie einen sozialen Abgleich und Austausch mit den Perspektiven anderer Beobachter (Forschungsteam-Mitglieder, Feldmitglieder o. Ä.) anregen. Diese Art des Arbeitens sollte in einen kooperativen Rahmen mit Supervisionscharakter eingebettet sein. Wir empfehlen folgende Prozeduren: • Das Schreiben eines Forschungstagebuchs von Beginn des Forschungsprozesses an, in dem alle für das Untersuchungsprojekt potenziell einschlägigen Ge-
3.5 Verfahren der Selbst-lReflexion
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danken, Assoziationen, Erlebnisse, Gefühlsregungen, Erfahrungen, Probleme, Überlegungen festgehalten werden; die retrospektive Selbstkonfrontation mit, die Rekonstruktion und Reflexion von Beobachtungen, Situationen und Interaktionen im Untersuchungsfeld, möglichst gemeinsam durch die Mitglieder eines Forschungsteams; der kollegiale Austausch unter Koforschenden (gleicher methodologischer Orientierung) zu Erlebnissen im Forschungsprozess, zu einschlägigen Konzeptualisierungen und Deutungen ete. - etwa in Gestalt von Forscherteams, Forschungswerkstätten, Forsehungskolloquien o. Ä.
3.5.1 Forschungstagebuch Das Forsehungstagebuch ist ein Werkzeug, das den Forscher bzw. die Forscherin begleitend zum Arbeitsprozess dazu anhält, in systematischer Weise die Transaktionen zwischen Person, Thema, Forschungspartnern und -feld, Kontext ete. aufmerksam zu registrieren, in Worte zu fassen, schriftlich festzuhalten und selbst-/ reflexiv zu analysieren. In das Forschungstagebuch kann und soll unter unserem Arbeitsmodus "alles" hinein: von theoretischen Ideen, Lesefrüchten, Feldbeobachtungen, Tageserlebnissen mit potentiellem Themenbezug, von ausgelösten Erinnerungen aus der eigenen Lebensgeschichte, Sympathie- und Antipathie-Reaktionen auf Personen im Untersuehungsfeld, bis hin zu nächtlichen Träumen, die etwas mit dem Thema zu tun haben könnten. Das Tagebuch ist ein persönlicher und vertraulich-intimer Aufzeichnungsort. Beim Schreiben soll der Autor bzw. die Autorin davon ausgehen, dass niemand als er/sie selbst zum Darin-Lesen befugt ist. Das Tagebuch ist ferner ein Hilfsmittel gegen das Vergessen: Am Ende eines persönlichen Forschungsprojekts wird man sich ohne derartige dokumentarische Stützen nicht mehr in seine kognitive, konzeptuelle und affektive Welt des Projektbeginns oder vergangener Projektphasen zurückversetzen können. Das Tagebuch hilft zur Reflexion des eigenen Entwieklungsprozesses (der Veränderungen von Themenfokussierungen, Reaktionsmustern, Interessen, Bewertungen, Haltungen etc.). Es hilft zum Festhalten und Entwickeln erster noch unausgereifter und fragmentarischer Gedanken, Assoziationen, Ideen ete., die im Laufe der Zeit (neue) Relevanz bekommen, unter Umständen auch Bedeutung verlieren - und sich zu einer Gesamtgestalt konfigurieren können. Das Tagebuch hilft zum Kennenlernen und Reflektieren des eigenen Themenbezugs und Arbeitsstils, eventuell auch im Vergleich mit den Herangehensweisen der Koforschenden. Ferner ist das regelmäßige Fiihren eines Forschungstagebuchs eine Einübung und Einsozialisation ins Schreiben: Texte werden nicht erst dann verfasst, wenn alle Daten und Auswer-
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
tungen "im Sack" sind. Idealerweise kommt so eine Vielzahl von Textteilen zustande, die möglicherweise einen Stellenwert im schriftlichen Endprodukt des Projekts besitzen (s. auch Abschnitt 2.6). Wie und wo jemand günstiger Weise in sein Forschungstagebuch schreibt, hängt von individuellen Gewohnheiten und Präferenzen ab. Das ist eine Sache des Ausprobierens, des Entwickelns und Erfindens. Empfehlenswert ist meist das Führen einer Kladde, die man (u. a vorn Format her) ständig mit sich tragen kann, die man immer bei der Hand hat, in die man jederzeit zwanglos hineinschreiben kann. Es können auch Loseblattsammlungen sein. Mitunter ist ein kleines Tonaufnahrnebzw. Diktiergerät nützlich. Wichtig ist, dass die Hürde, das Forschungstagebuch (in welcher Gestalt auch immer) zur Hand zu nehmen und zu benutzen, möglichst niedrig gebaut wird. Die Einträge können dann - in zeitlichem Abstand - bearbeitet werden, etwa indern man sie in eine computerisierte Form überträgt, sie ablegt, kategorisiert, ordnet, systematisiert, Metakommentare dazu verfasst u. Ä. Folgende Bereiche und Aspekte können beispielsweise als Inhalte des Forschungstagebuchs interessant und wichtig sein: • Die eigenen Präkonzepte zum Forschungsfeld und Untersuchungstherna; Alles was ich zu Beginn meines Forschungsunternehmens über das Thema bzw. das Untersuchungsfeld weiß, ahne, vermute, fürchte, hoffe etc. - und die Umgehensmöglichkeiten damit: Was habe ich darüber gehört? Was habe ich selbst oder was haben Personen meines Umfeldes in dieser Hinsicht am eigenen Leib erfahren - Episoden und Fälle? Inwieweit betrifft mich das Thema? Was löst es bei mir aus? Wenn es mich - im Unterschied zu anderen Mit-/Forschenden - gar nicht betrifft: Wie erkläre ich mir das? Das Explizieren und Festhalten der Präkonzepte kann unterschiedliche Funktionen haben: - Eine Sensibilisierung hinsichtlich persönlich-affektiver Verquickungen mit dem Thema; - eine Heuristik für die themenbezogenen Theorie; - eine Ermöglichung des Rückverfolgens des eigenen Forschungswegs zu einern späteren Zeitpunkt. • Persönliche Erlebnisse und Berührungspunkte, die mit dem Problemthema in Zusammenhang gebracht werden können: Wenn ich mit einer Forschungsfrage umgehe, die mich interessiert und beschäftigt, werde ich oftmals am Tag an Dinge denken und auf Sachverhalte stoßen, die damit in Zusammenhang stehen. Ich werde möglicherweise mit dem Thema assozüerte Träume haben. Diese Dinge sind es wert, beachtet und festgehalten zu werden: Sie liefern einen Ideen- und Materialfundus, der im Laufe der Projektbearbeitung in-
3.5 Verfahren der Selbst-lReflexion
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teressant und nützlich werden kann. Durch das Führen des Forschungstagebuchs wachsen sowohl meine Konzentration, Selbstaufmerksamkeit und Achtsamkeit bezüglich des Themas wie mein schriftliches Ideenmaterial. • Problem- und theoriebezogene Memos: Wenn ich Literatur zum Thema lese, wenn ich einen einschlägigen Film sehe, wenn ich Erlebnisse mit dem Problemfeld habe, wenn ich mit anderen über das Thema spreche - in vielen alltagsweltlichen Situationen entstehen Ideen, Konzepte, Hypothesen, Theoriefragmente u. Ä. Das Forschungstagebuch ist ein Ort, an dem solche Gedanken festgehalten, ausgearbeitet, präzisiert und weiterentwickelt werden können. Es tauchen z. B. Konzept-, Kategorisierungs- und Modellierungsideen auf, es entstehen Überlegungen zum theoretischen Sampling (Welcher empirische Fall kann unter diesem Gesichtspunkt interessant sein?), es rücken Theoriebereiche in den Blick, um die man sich intensiver kümmern muss, es können Einzelfälle zu neuartigen Perspektiven und Kontrastierungen zustande kommen.
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Selbstreflexion, Dezentrierung:
Die Arbeit mit dem Forschungstagebuch hält an zu forschungsbegleitender kritischer Distanznahme bezüglich des eigenen Handelns, zum Von-außen-Betrachten des Entscheidens und Agierens im Forschungszusammenhang, zum Blick auf die eigenen Handlungs- und Denkmuster. Man kann die auftretenden Eigenresonanzen, die Reaktionen am Forscherkörper, dort schriftlich festhalten und sie (gleich oder später) analysieren. Man kann sich so darin üben und sich daran gewöhnen, aufmerksam und achtsam zu sein für themenbezügliche Geschehensaspekte aus unterschiedlichen Bereichen und für das, was sie bei mir auslösen; - Das Interaktionsfeld mit den Untersuchungspartnern, - das Interaktionsfeld mit den Koforschenden und den anderen Beteiligten aus dem Forschungskontext (Studium, Fachdisziplin, Forschungsgruppe, Betreuer), - die sich entwickelnde oder auch ausbleibende Dynamik der theoretischen Konzeptbildung (Wandlungen, Sprünge - stagnierender Erkenntnisforschritt, Barrieren der Themenfokussierung, des theoretischen Vorankommens etc.).
3.5.2 Reflexion von Forschungsinteraktionen Das Zustandekonunen und der Verlauf von Forschungsinteraktionen (Ins-FeldKonunen, Kontaktaufnahme mit Untersuchungspartnern, Interaktion mit Feldmitgliedern, Zurechtkonunen in Interview- bzw. Gesprächssituationen, Wandel der Feldbeziehungen im Laufe der Zeit etc.) enthalten - über die dort gelieferten bzw. registrierten expliziten Auskünfte (den Inhaltsaspekt) hinaus - Informationen über Beteiligte, die Thematik und den Kontext, die implizit-hintergründige Charakteri-
3.5 Verfahren der Selbst-lReflexion
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meinem Untersuchungsthema zu tun haben? Und was sagen sie über mich selbstüber meinen Reizwert für den Untersuchungspartner, über mein Verhältnis zum Problemthema bzw. Untersuchungsfeld und über meine Person-Besonderheiten, über das Bild von mir, das ich beim Untersuchungspartner hervorrufe? • Merkmale des Gesprächs-/lnterview-Verlaufs: Es werden in solchen Situationen nicht nur Wörter und Sätze mit inhaltlicher Bedeutung gesagt, es wird darüber hinaus Vielfältiges und Verschiedenes von den Beteiligten inszenatorisch und aushandlungsbezogen getan. Mögliche Handlungsaspekte und Handlungsebenen in der Interviewdramatik können sein: - Ich gebe etwas (explizit und implizit) über mich zu erkennen: Was bin ich für eine Person (Student, welche Fachrichtung, Sympathisant oder Opponent, Frau oder Mann)? Welchen Habitus und welchen Geschmack besitze ich (tiefsinnig oder oberflächlich, Ästhetik des Auftretens, engagiert oder gelangweilt ...)? Welche Angebote für einen Kontakt mache ich (locker oder steif, sachlich oder persönlich, distanziert oder näher dran ... )? - Ich zeige meine Nicht-/Wertschätzung für den Interviewpartner (Ernstnehmen, Respekt, Interesse für seine vielfältigen Charakteristika etc.). - Ich gebe dem Interviewpartner eine mehr oder weniger sichere Orientierung darüber, was ich von ihm möchte, wünsche, erwarte. - Soll der Interviewpartner "geschont" werden (bzw. schone ich mich auf diese Weise selbst) - oder wird er heraus-/gefordert? Halte ich ihn für belastbar, selbstverantwortlich - oder für schwach, verletzlich, für einen "Klienten"? Welche und wessen Annahmen bzw. Befürchtungen spielen hierbei eine Rolle? - Wie wird die Gesprächsdominanz ausgehandelt? Wer hat das Sagen beim Einbringen von Themen, bei Themenbeendigungen, -wechseln, und wie kommt das zustande? - Es kommt mitunter zu unangenehmen Situationen (Peinlichkeiten, Schweigepausen, affektiven Reaktionen, Weinen o. Ä.): Was steckt dahinter? Wovon wurde meine Reaktions- bzw. Umgehensweise bestimmt? - Es werden bestimmte Bündnisse und Abgrenzungen hergestellt, man nimmt Wertschätzungen und Abwertungen vor - in Bezug auf anwesende und nichtanwesende Personen (Ko-Interviewer, Interviewpartner, Peers, Kontextpersonen, Leitung im Feld des Interviewten, Forschungsleitung im Feld des Interviewers, Herstellung gemeinsamer Freund- und Feindbilder, Koalitionen etc.). - Welche eigene Haltung zur interviewbestimmenden Forschungsfrage, zum Forschungsanliegen bringe ich im Kontakt zum Ausdruck? (Interesse, Identifikation, Parteilichkeit; stelle ich mich "im Auftrag" handelnd dar?)
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
stik besitzen und in stärkerem Maße Deutungsarbeit erfordern (Beziehungsaspekt). Es wird indirekt gesprochen, vermieden, ausgewichen, verschwiegen, drüber weg geredet, vorgetäuscht. Es ist sinnvoll, sich solchen Phänomenen des Forschungskontakts aufmerksam und sensibel zuzuwenden. Das kann zum einen solitär jeder Forscher für sich allein machen: Man hält seine Erlebnisse, Beobachtungen, Eindrücke, Gefühle im Forschungstagebuch fest, formuliert und dokumentiert dort seine Verarbeitungen unmittelbar nach dem Kontakt und am Morgen danach; eventuell ergeben sich auch aus einem längeren zeitlichen Abstand noch einmal neue Gesichtspunkte. Wenn man in der glücklichen Lage ist, das Forschungsprojekt in einem Team zu bearbeiten, bieten sich Zusammentragen und Austauschen, gemeinsames Besprechen und Reflektieren solcher Erfahrungen und ihrer Deutungsversuche an. Man kann Interpretationen entwickeln und diese als Heuristik nutzen, etwa um Gegenstandscharakteristika aufzuspüren, bezüglich derer es lohnenswert erscheint, ihnen - u. U. auf anderen Wegen - absichernd oder vertiefend nachzugehen. Wenn es um Interviewgesprächskontakte geht, können beispielsweise folgende Aspekte hinsichtlich der Bedeutung für das Forschungsthema reflektiert werden:
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Vorgeschichte und Zustandekommen des Gesprächs bzw. Interviews:
- Wie und warum kam ich auf diesen Gesprächspartner? War ich bei der Wahl vorsichtig oder risikofreudig? Gab es Vermittlungspersonen? Und welche Beziehungs-Vorprägung ist auf diese Weise zustande gekommen? - Was waren meine Vorinformationen über die Person? Und woher hatte ich diese bekommen? - Wie ging die erste Kontaktaufnahme, das erste Telefonat der Teilnahme- bzw. Gesprächsanfrage vor sich? - Wie war die Reaktion (Interesse, Bereitschaft, Kontaktqualität) des Partners? - Welches Bild und welchen Eindruck hat mein Untersuchungspartner (vermutlich) anfangs von mir gehabt? - Worüber wurde im Vorkontakt verhandelt? Was war wichtig, kritisch, heikel? - Was waren meine Erwartungen, Hoffnungen, Unsicherheiten, Befürchtungen bezüglich des Gesprächspartners, der Gesprächsbereitschaft und des Gesprächsverlaufs? - Welche Schwierigkeiten, Vorbehalte, Misstrauensprobleme, Missverständnisse o. Ä. mussten bewältigt werden? - Wie waren die Umstände der Terminverabredung, des Gesprächsortes, des Raum- und Zeitarrangements? Was können diese beobachteten Charakteristika der Vorgeschichte des Untersuchungskontakts mit dem Gesprächspartner, mit dem Forschungsfeld oder mit
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
- Welche Bedeutung, welchen Symbolwert besitzt der ausgehandelte Ort des Gesprächs? - Wie saßen wir während des Gesprächs räumlich zueinander? An welche Körperhaltung/en kann ich mich erinnern (eigene, des Gesprächspartners, ggf. des KoInterviewers)? - Wie haben wir trnS begrüßt und wie haben wir uns verabschiedet? Wie hat sich die Beziehung zwischen dem ersten und dem letzten Händedruck gewandelt? Man kann überlegen: Welche Rolle haben diese Charakteristika im Gespräch gespielt - und welche Folgen für den Gesprächsverlauf, die Gesprächsatmosphäre, die Inhalte des Gesprächs, die Gefühle nach Gesprächsbeendigung haben sie gehabt? Was können die Aspekte mit der Person, Rolle, Problematik des Untersuchungspartners, mit dem Kontext, mit meinem Untersuchungsthema, mit meiner eigenen Person und mit der Forschungsbeziehung zu tun haben? Wenn der Untersuchungskontakt (das Interview, die Beobachtung) von mehreren Forschern/Forscherinnen (im Rahmen eines Forschungsteams) durchgeführt wurde, ist es hilfreich, wenn die Interviewer/innen bzw. Beobachter/innen nach Ende des Besuchs beim Gesprächspartner bzw. im Forschungsfeld gemeinschaftlich ihre Gedanken und Erinnerungen zusammentragen: Was jedem hinsichtlich des Untersuchungskontakts - seiner Beteiligten und seines Ablaufs - aufgefallen, durch den Kopf und durchs Gefühl gegangen ist. Man sollte versuchen, solche Merkmale möglichst genau und treffend sprachlich auszudrücken. Unter Umständen lassen sich für diese Handlungscharakteristika und deren Konsequenzen bestimmte Kernbegriffe finden oder Kernaussagen formulieren, die das Wesentliche auf eine anschauliche und griffige Fonnel bringen. Es können neue potentiell lohnende Untersuchungsfragen und Themenfokussierungen zustande kommen, die sich im Rahmen einer Strategie des Theoretical Sampling weiter verfolgen lassen.
3.5.3
Austausch unter Kojorschenden: Kolloquium - Forschungswerkstatt - Forschungssupervision
Ein wichtiger Förderkontext für das hier skizzierte sozialwissenschaftliche Arbeiten ist der begleitende Austausch in einer Gruppe von Forschenden, die diesen Forschungsstil teilen. Es gibt positive Erfahrungen mit "Kolloquiums"- oder IIWerkstatt"-Gruppierungen, auch wenn die inhaltlichen Themen der Teilnehmer heterogen und ihr Bearbeitungsstand unterschiedlich fortgeschritten sind.
3.5 Verfahren der Selbst-lReflexion
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Austausch-Zusammenschlüsse sind an bestimmten Orten organisiert, z. B. um einen Seniorforscher an einer bestimmten Hochschule herum, häufig mit gewisser Kontinuität und Dauerhaftigkeit (vgl. etwa Breuer 1996; Gramespacher u. a. 2009; eine Liste von Einrichtungen ist unter http://www.qualitativeforschung.de/informationlakteure/forschungswerkstaettenl zu finden); mitunter handelt es sich um frei konfigurierte und gewählte Gruppen unter einem - u. U. kostenpflichtigen - Beratungs- bzw. Betreuungsangebot (vgl. etwa Mruck & Mey 1998); es gibt"virtuelle" Gruppentreffen mit einiger Kontinuität, Kontakte und Chats per Internet, sogenannte "Netzwerkstätten" u. Ä. (vgl. Moritz u. a. 2009; s. auch http://www.qualitative-forschung.de/netzwerkstatt/); schließlich finden sich zeitlich begrenzte "Forschungswerkstätten" im Rahmen von Tagungen oder regelmäßigen Arbeitstreffen (vgl. die Angebotspalette des "Berliner Methodentreffens": http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffenl oder des "Zentrums fiir Sozialweltforschung und Methodenentwicklung" in Magdeburg: http://www.uni-magdeburg.de/zsm/workshop).
Solche Gruppen besitzen unterschiedliche institutionelle, un-/verbindliche und in-I offizielle Zuschnitte und können - auf der Grundlage gemeinsam geteilter methodischer Ausrichtung, differenzieller Erfahrung und Kompetenzen sowie persönlich-sozialer Aufmerksamkeit und Verknüpfung - eine Reihe von Funktionen erfiillen: Feedback und Ratschläge; Unterstützung bei inhaltlichen Fragen, bei methodischen Problemen und Unsicherheiten, bei der Bahnung von Feldkontakten; gemeinsam am Untersuchungsmaterial arbeiten (Kodieren, Interpretieren), Modellierungen besprechen; darüber hinaus kann sich eine Gruppenkultur (mit sozialer Kohäsion, interpersonaler Verbundenheit, Gruppengeist etc.) herausbilden, die in schwierigen und intensiven Arbeitsphasen eine Stützung und gewissennaßen eine "zeitweilige Heimat" bieten kann (vgl. Mruck & Mey 1998). Breuer u. a. (1996, S. 122ff.; aus Teilnehmersicht: Mähler & Niemeier 1996, S. 125ff.) beschreiben die Arbeit in einer Kolloquiumsgruppe, die eine offiziellinstitutionelle Rahmung durch die Betreuung von Qualifikationsarbeiten an einer Hochschule besitzt. Die Tatsache, dass der Betreuer/Gruppenleiter schlussendlich auch Beurteiler/Gutachter des Endprodukts ist, spielt bei einer solchen Kooperationsfonn (bei allen selbstreflexiven Bemühungen) eine wichtige Rolle. Als Merkmale und Effekte dieser Gruppe werden die Einsozialisation in den Forschungsstil (v. a. durch Lernen am Modell), die Funktion als Interpretationsgemeinschaft (gemeinsame Deutungsarbeit am Material, kooperatives Kodieren von Interviewausschnitten etc.), wechselseitige Motivation und Unter-/Stützung sowie die Gelegenheit zur Bildung informeller Subgruppen mit engerer interpersonaler Verbunden-
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3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
heit beschrieben. Die subjektive Relevanz des Austauschs im Kolloquium kann sich mit der Entwicklung des eigenen Forschungsprojekts wandeln - die größten Förderungs- und Stützungseffekte gibt es zumeist zu Beginn und in der mittleren Phase der Arbeit am eigenen Projekt. Antje Krüger (2008) gibt einen Einblick in die Vorgehensweise einer "Deutungswerkstatt" unter der spezifischen Ausrichtung der ethnopsychoanalytischen Methodologie von Maya Nadig (vgl. 1997). Katja Mruck und Günter Mey (vgl. 1998) machen ein modellhaftes Betreuungsangebot einer vom Begutachtungskontext losgelösten Beratung und Begleitung von Qualifikationsarbeiten im Rahmen ihrer "Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens". Daran nehmen (Nachwuchs-) Forscher/innen aus unterschiedlichen lokalen und institutionellen Zusammenhängen teil. Auf dem Hintergrund des Konzepts der "Themenzentrierten Interaktion" (TZI; Cohn 1991) unterscheiden sie mehrere Funktionen der Gruppe, die mit bestimmten Arbeitsphasen einhergehen: die Nutzung als Kolloquium, als Interpretationsgemeinschaft, als Supervisionsgelegenheit und schließlich als soziale Unterstützung und Begleitung.
3.6
Selbst-/Reflexion im Ablauf des Forschungsprozesses
Über Personrelevanz in Handeln und Interaktionen, bei Ereignissen und Entscheidungen im Untersuchungsfeld und bei der Weichenstellung für das eigene Forschungsprojekt nachzudenken, darüber mit den angesprochenen Hilfsmitteln und Verfahren zu reflektieren, deren Bedeutung für das Thema zu fokussieren - all dies kann zu jeder Phase des Forschungsprozesses sinnvoll sein und stattfinden. Es folgt hier eine Auflistung charakteristischer Vorgehensetappen und dafür jeweils möglicher selbst-/reflexiver Fragen für den Forschenden zu Eigen- und Fremd-Resonanzen und -Reaktionen, die beim Durchlaufen des Erkenntnisparcours gestellt werden können (vgl. Breuer 1999; 2003; Mruck & Mey 2007). Die Beschäftigung mit diesen Aspekten kann einem Forschenden zum einen Aufschlüsse liefern über die Charakteristika des Forschungsfeldes, die Handlungen, Haltungen und Sichtweisen der dortigen Akteure, zum anderen über die eigene Person und Sub-/Kultur sowie deren "Reizwert" - durch die Fokussierung der auftretenden Resonanzen am eigenen Körper, der Reaktionen in der Forschergemeinschaft sowie der beobachteten Auslösungen bei den Untersuchungspartnern.
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Themenwahl und Fokussierung von Problemaspekten:
Welche Rolle spielen die Forscherperson, die lokale und translokale Wissenschaftsgemeinschaft, Forschungssponsoren, von der Thematik Betroffene sowie
3.6 Selbst-lReflexion im Ablauf des Forschungsprozesses
137
diverse Öffentlichkeiten bei der Wahl und bei der Fokussienmg des Problemthemas? Ist dieses Themengebiet gerade "angesagt"? Bei welchen Interessenten und warum dort? Karm ich damit Aufmerksamkeit erregen und brillieren? Inwiefern ist die Beschäftigung "lukrativ"? Welche eigenen lebensgeschichtlichen Bezüge und Verwicklungen gibt es? Warum und wie wird gerade dies "mein" Thema? Meine persönlichen Vorstellungen, Kognitionen, Emotionsmuster hinsichtlich des Gegenstands (Präkonzept) prägen die eigenen Denk- und Herangehensweisen in Bezug auf die ThemensteIlung. Was weiß ich über das Gebiet? Was halte ich dort für un-/ wichtig, un-/interessant? Was halte ich für un-/normal, un-/attraktiv, un-/moralisch? Was zieht mich an? Was ängstigt mich? Was erhoffe ich, was befürchte ich bei dieser Beschäftigung? Wohin will ich gucken - und wohin nicht? Wie un-/offen bin ich für Dynamiken der Themenfokussierung im Verlauf des Forschungsprozesses?
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Methodenzuschnitt und Datengewinnung:
Welches Ausmaß an Vorstrukturienmg, Fixierung und Obligationen des Erkenntniswegs wird mir von wem aus dem Forschungs- und Feldkontext nahe gelegt und welchen Weg wähle ich zwischen den Angeboten und Verpflichtungen? Welche Beziehungsnähe zu den Untersuchungspartnern, welche Weise des "MichEinlassens" will und kann ich ertragen? Wie vorstrukturiert oder offen-flexibel gehe ich vor? Wie viel/e Ressourcen und Zeit will ich dem Untersuchungsfeld widmen? Wie viel Ungewissheitstoleranz bezüglich des Forschungswegs karm ich aufbringen? Für welche unterschiedlichen Sichtweisen auf den Gegenstand bin ich aufmerksam, welche Perspektiven interessieren mich, welche lasse ich außen vor? Welche Resonanzen erziele ich mit meinen Entscheidungen und meinem Agieren in den verschiedenen Kontexten und bei den unterschiedlichen Beteiligten? Und wie wirken diese auf meinen Forschungsgang und meine Erhebungsweisen zurück? • Positionieren und Agieren im Feld, Interaktionen mit den Feldmitgliedern: Auf welche Weise (über welche Einstiegsfenster, Türhüter und in welcher Rolle) betrete ich das Untersuchungsfeld, und wie werde ich dort aufgenommen? Wie reagieren die verschiedenen Akteure des Untersuchungsfeldes auf mich? Wie verändert sich das Feld durch meine Anwesenheit und mein Agieren dort? Es gibt Reaktionen der Beteiligten bzw. des Feldes auf "Fremdlinge" wie mich: Wer ist mir gegenüber zutraulich und offen, wer ist misstrauisch und verschlossen, wer ist ängstlich und vorsichtig? Woran karm das liegen? Was wird mir von wem "gezeigt", was wird vor mir verborgen? Wer hofiert mich, von wem werde ich geschnitten? Macht man mir Angebote unterschiedlicher Art? Werde ich wertgeschätzt oder eingeschüchtert? Kommt es zu Annäherungen, Koalitionen oder Distanzienmgen zwischen mir und bestimmten Feldmitgliedern - und wie wird das
3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
138
von anderen gesehen und beurteilt? Wie verhalte ich mich mit meinen Nonn- und Wertvorstellungen zu den Reglementen und Verpflichtungen des Feld- und des Wissenschaftskontextes? In welchem Maße benötige bzw. benutze ich "wissenschaftliche Autorität" als Distanzierungsmittel und Demarkationsattitüde gegenüber meinen Untersuchungspartnern? Wie lassen sich die "Stallgerüche" der unterschiedlichen Akteure kennzeichnen? Anerkenne ich das Expertentum der Feldmitglieder als Betroffene? Kann ich die Interaktion als Dezentrierungsgelegenheit für die Untersuchungspartner, für deren Selbstreflexion, Selbstentwicklung und Empowerment anlegen? Welche "Störungen" am eigenen Körper treten im Kontakt mit den Akteuren des Feldes auf (Unsicherheiten, Ängste, Peinlichkeiten; Sympathien, Antipathien u. Ä.)? Was bewirken sie in meinem Handeln? Wo darf/ kann ich meine affektiven Reaktionen thematisieren? Wem gegenüber, wem gegenüber nicht? Welches Bild von mir, meinem Anliegen und Vorgehen sowie meiner Fachrichtung bzw. Profession erzeuge ich im Feld und bei verschiedenen Beteiligten? Und wie wirkt das auf die Beziehungsgestaltung und auf meine Untersuchungsmöglichkeiten zurück? Wie gleichsinnig oder unterschiedlich nehmen meine Koforscher Situationen und Interaktionen wahr? Wie wandelt und verändert sich das alles im Laufe des Forschungskontakts? Und welche Hinweise gibt mir das alles in Bezug auf die Charakteristik der Feldmitglieder und meines Untersuchungsgegenstands? Was besagen die Unterschiede, die Effekte, die Verändenmgen? Welche Interpretationsideen gibt es dazu? Und auf welche Weise lassen sich diese weiter verfolgen?
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Dokumentation:
Was halte ich (schriftlich, medial) fest von meinen Vorgehensweisen, meinen Konzeptualisierungen und Umkonzeptualisierungen, von meinen Wahrnehmungen der Ereignisse und Facetten des Feldes, meinen affektiven Eigenresonanzen - und was nicht? Offizielle und inoffizielle Phänomene, Geschehen vor und hinter den Kulissen, öffentliche Verlautbarungen und Nachrichten aus der Gerüchteküche, objektseitige und subjektseitige Phänomene? Welche Geschehnisse, Sichtweisen, Stimmen werden dokumentiert - und welche bleiben "außen vor"? In welcher Sprache, mit welchem Vokabular? Wie ist dies durch meine personalen und sozialen Charakteristika, durch wissenschaftliche Standards, durch Vorgaben der Feldmitglieder, durch Öffentlichkeit etc. bedingt? Welche Reaktionen werden durch meine Aufzeichnungsaktivitäten bei den Feldmitgliedern ausgelöst?
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Auswertung und Interpretation - Konzeptualisierungs-Entscheidungen:
Was finde ich berichtenswert, was liegt mir am Herzen? Was kann ich (nicht) verstehen? Was passt (nicht) zu meinen Präkonzepten oder den Interessen von Beteiligten, Betreuern oder Auftraggebern? Was möchte ich am liebsten verschweigen? Aus welchen Gründen? Wie groß ist meine Ausdauer im Ringen um eine theoreti-
3.6 Selbst-lReflexion im Ablauf des Forschungsprozesses
139
sche Strukturgebung? Wie ausgeprägt ist mein Vertrauen auf eigene Strukturierungen vs. mein Anlehnungsbedürfnis an autoritative Vorgaben aus der wissenschaftlichen Literatur oder an in der Vergangenheit liebgewonnene Konzepte? Wie gestalte ich den Dialog und die Rückkopplung der Ergebnisse und der Interpretationen mit den Feldmitgliedern? Was sind meine Absichten, Befürchtungen und Hoffnungen dabei?
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Darstellung, Präsentation:
Welche Beschreibungsebenen und Perspektiven, welche Beteiligten-Stimmen lasse ich im Ergebnisbericht zur Sprache kommen? Ist die persönliche Stimme des Autors bzw. der Autorin erkennbar? An welche Beurteiler und Teil-/Öffentlichkeiten wende ich mich? Und wie wandelt sich - adressatenabhängig - meine Darstellungsweise? Womit kann ich welche Rezipientinnen und Rezipienten gewinnen, beeindrucken, verschrecken? Welche Rücksichten nehme ich bei der Präsentation? Auf wen? Welche Wirkungen will ich mit meinen Texten bei wem erzielen? Für wen nehme ich Partei - bewusst oder ohne es zu wollen? Wie präsentiere ich meine Sichtweise als "gelehriger Schüler", als "dankbarer Gast", als "autoritativer Experte", als "un-/parteilicher Forscher"? Auf welche Autoritäten beziehe und berufe ich mich? Wie konstruiere ich Plausibilität, Kohärenz, Glaubwürdigkeit, meinen Standpl.Ulkt? An welchen Textgattungen und Schreibkonventionen orientiere ich mich? Welche Veröffentlichungsorgane und -medien wähle ich bzw. sind für mich verfügbar? Wage ich Darstellungs-Innovationen und -Experimente? Welche Rezeptionsprozesse in verschiedenen Beteiligtengruppen, Subkulturen und Medien lassen sich beobachten und wie "bediene" ich diese? Welche Reaktionen und Resonanzen bekomme ich daraufhin aus dem Untersuchungsfeld, vom Auftraggeber, aus meiner Wissenschaftssubkultur, aus der Öffentlichkeit? Beim Aufwerfen weiterer ähnlicher Fragen sind Phantasie und Kreativität gefragt. Wir können hier Hinweise und Beispiele zur Anregung geben - es lassen sich jedoch keine erschöpfenden Vorgaben machen. Die Antwortversuche müssen in Bezug auf die beiden Leserichtungen - auf den Gegenstand wie auf den Forschenden bezogen - analysiert und interpretiert werden: Was kann das hinsichtlich der Charakteristik der Feldmitglieder sowie der eigenen Person bedeuten? In jedem Projekt, das unter einem solchen Forschungsstil angepackt wird, sind die Verhältnisse anders und laufen die Dinge unterschiedlich. Jede Forscherin ist auf ihre Weise involviert und schlägt ihren eigenen Weg ein. Das schafft Probleme, Ungewissheiten und Risiken, macht die entsprechende Forschungsarbeit aber auch kurzweilig, interessant und zu einem persönlich bereichernden Erlebnis und Abenteuer.
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3.7
3 Subjektivität, Perspektivität, Selbst-/Ref1exivität
Resümee
Sozialwissenschaft wird von Personen aus Fleisch und Blut, mit einern - historisch entstandenen und sich im Zeitverlauf wandelnden - sub-/kulturellen, sozialen, institutionellen Hintergrund sowie im Rahmen einer persönlichen Lebensgeschichte ausgeübt. Dabei spielt der Kontakt mit dem Forschungsfeld und mit den Untersuchungspartnern eine zentrale Rolle - Forschung ist wesentlich Interaktion. In unserer sozialwissenschaftlichen Forschungsmethodologie betrachten wir dies als unabweisbar und grundlegend. Wir sehen keinen Sinn darin, solche elementaren Voraussetzungen zu ignorieren oder durch methodische Prozeduren eliminieren zu wollen. Vielmehr arbeiten wir unter dem Vorsatz, methodologisch und methodisch daraus Funken zu schlagen, den (Objektivitäts-) "Nachteil" zu einern epistemologischen "Vorteil" zu wenden, die interaktive Charakteristik der Forschungssituation als potentiell ergiebiges Erkenntnisfenster zu nutzen. In diesem Sinn ist die Aufgabe des Sozialwissenschaftlers bzw. der Sozialwissenschaftlerin eine selbst-/reflexive Hin- und Herbewegung gewissermaßen zwischen Person-Sein und Forscher-Sein, zwischen Sich-Einlassen und Distanz-Nehmen im Untersuchungszusammenhang: die Beriicksichtigung und Einbeziehung der alltagsweltlichen Charakteristik der Forschungsinteraktion in der wissenschaftlich-methodisch angeleiteten und reflektierten Prozedur, das Aufsuchen interpersonaler Kontakt- und Beziehungsnähe zum Gegenstand einerseits - eine Dezentrierung und Reflexion nach methodischen Prinzipien andererseits. Dies verlangt eine aufmerksame und sensible Wahrnehmung der Eigenschaften und Merkmale der eigenen Forscherperson und ihrer Wirkungen auf die Untersuchungspartner sowie eine sensible Registrierung der Auslösungen des Forschungsthemas, des Untersuchungsfeldes und seiner Mitglieder an der eigenen Person. Dabei kommen Selbstaufmerksamkeit, die Bereitschaft zur Selbstthematisierung, theoretische, sozial-kommunikative und sprachliche Sensibilität, methodische Sorgfalt, Geduld, Unsicherheitstoleranz sowie Intuition und Kreativität ins Spiel. Wir haben eine Reihe methodologischer Leitlinien sowie einige Instrumentarien und Selbst-/Reflexionsanregungen vorgestellt, die hilfreich sein können, um diesen Postulaten gerecht zu werden. Die konkreten Vorgehensweisen sind jedoch wenig standardisierbar, und sie behalten - auch bei einem gemeinschaftlich geteilten programmatischen Forschungsstil - eine stark persönlich getönte Komponente, die im sozial kontextualisierten Forschungszusammenhang (Forschungsgruppe, Forschungssupervision u. Ä) abzugleichen und zu begründen ist. Der Forschungsprozess findet in einem disziplinären und lokalen Setting statt, das gesellschaftlichinstitutionell-kulturell-historisch eingerahmt ist - und das eine solche selbst-/re-
3.7 Resümee
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flexive qualitativ-methodische Sozialwissenschaft unterstützen, tolerieren oder auch behindern kann. Im folgenden Kapitel präsentieren wir zur Konkretisierung und Veranschaulichung zwei Beispiele "persönlicher Forschungsprojekte". Dabei wird das Vorgehen im Zusammenhang mit der praktischen Aneignung des Forschungsstils - bei der Bearbeitung eines Untersuchungsthemas, im Rahmen eines institutionellen Kontextes sowie persönlicher Situiertheit - selbstbezüglich beschrieben und reflektiert.
4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils und ihre Erkenntnisresultate
4.1
Einführung
In diesem Kapitel werden Schilderungen der individuellen Aneignung der reflexiven Grounded Theory sowie Entdeckungsgeschichten in einem persönlich motivierten Forschungsgebiet präsentiert. Für deren Zustandekommen spielen zum einen jachlich-disziplinäre Hintergründe eine Rolle: Zwei Psychologinnen berichten aus einer Fachkultur, die in ihrer gegenwärtigen Verfassung qualitativ-sozialwissenschaftliche Denkweisen und Forschungspraxen nur in seltenen Fällen - und dann in Nischenkontexten - vorbereitet und fördert. In den Geschichten tritt die Entdeckung der GTM als kontrastiver und persönlich passender Fund im Kontext einer anders gepolten wissenschaftlichen Ausbildung in Erscheinung. Zum Zweiten stehen das Thema und das Untersuchungsfeld des ersten selbst gewählten GTM-Projekts im Mittelpunkt: Welche Bedeutung haben die Verquickungen und Resonanzen im Verhältnis von Forscherperson und Untersuchungsthematik für die Entwicklung des eigenen Forschungsprogramms? Und wie lässt sich das in erkenntnisproduktiver Weise berücksichtigen und nutzen? Wir haben es mit zwei Beispielen koordinierter "Tanzbewegungen" zwischen GTM-Methodik sowie selbstreflexiver Fokussierung und Gestaltung des Forschungsprozesses zu tun. Beide Geschichten machen deutlich, dass es hier um das Suchen und Finden eines persönlich geprägten Forschungsstils geht. Und schließlich: Wohl nicht ganz zufällig gehört ein ausgeprägtes Interesse an Sprache/n und Literatur zum Profil beider Junior-Forscherinnen, die hier über ihre Aneignungsgeschichte berichten.
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4.2
4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Mein Vertrautwerden mit der Grounded Theory-MethodikAntje Lettau
4.2.1 Meine Forschungsarbeit Ich habe eine GTM-Studie als Abschlussarbeit im Diplomstudiurn im Fach Psychologie über lebensgeschichtliche Wege in die Zen-Meditation und die soziale Einbettung intensiver Meditationspraxis durchgeführt. Ich berichte hier von meinen Erfahrungen, die ich bei der Aneignung der GTM sowie deren Anwendung im Rahmen der Untersuchung dieser Thematik gemacht habe. In der Studie habe ich auf der Basis ausführlicher Interviewgespräche und teilnehmender Beobachtung in verschiedenen Meditationskontexten ein Modell biographischer Verläufe aus Sicht von Meditierenden entwickelt.
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Die Studie Die Kernkategorie meines biographischen Modells zur und in der Zen-Meditation habe ich als Seinen-Weg-Finden bezeichnet. Als "Story Line" wird das Modell eines Entwicklungsprozesses entworfen, ausgehend von der Wahrnehmung eines subjektiven Mangelzustandes in der eigenen Lebensweise, über die Suche und Erprobung von Lösungswegen, bis schließlich zum Heimischwerden im Meditationskontext des Zen (Lettau 2005). Das Konzept des Seinen-Weg-Findens habe ich in drei kategoriale Bereiche ausdifferenziert: • Den Weg zum Zen mit den Teilkomponenten: "Den Weg aus dem Mangelzustand finden", "den Weg zur Spiritualität finden", "den passenden spirituellen Weg finden" und "den Weg in die Zen-Praxis finden". • Die Übungspraxis mit den Teilkomponenten: "Einen Weg in die Übungspraxis finden", "einen Weg zum Sinn und zu weltanschaulicher Orientierung finden" und "einen Weg in die Transzendenz finden". • Der soziale Kontext mit den Teilkomponenten: "Den Weg zu sozialer Teilhabe finden", "den Weg zur Integration von Alltagswelt und Zen-Welt finden", "den Weg zur eigenen Identität finden" und "den Weg im Leben finden".
42 Mein Vertrllutwerden ... - Antje Lettau
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Abbildung 4: Der Prozess des ".Seinen-Weg-im-Zen-Findens" (Lettau 2005, S. 137f.)
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Der Umschlagtext meines Buchs, in dem ich die Untersuchung dargestellt habe, lautet: "Meditation findet stets in einem biographischen und sozialen Kontext statt: Dem Beginn der Übungspraxis ist eine lebensgeschichtliche Entwicklung vorangegangen, die Auswirkungen auf andere alltägliche Lebenskontexte hat und oftmals mit dem Anschluss an eine spirituelle Gemeinschaft einhergeht. Mit dieser biographischen und sozialen Einbettung intensiver Meditationspraxis beschäftigt sich diese Untersuchung. Auf Basis ausführlicher Interviews mit intensiv Meditierenden wird hauptsächlich am Beispiel der Zen-Meditation ein integratives Modell biographischer Verläufe, beginnend mit dem Weg zur Meditation bis hin zum Heimisch-Werden in der Praxis, und ihren sozialen Bezügen vorgestellt. Es werden neben Erfahrungen mit der Übungspraxis auch Konfliktpotentiale, die durch den Eintritt in eine spirituell orientierte Lebenswelt entstehen können, sowie Funktionen der spirituellen Lebenswelt für die Identitätskonstruktion der Meditierenden diskutiert."
4.2.2 Die ersten Erfahrungen mit universitären Fachkulturen und einem qualitativen Forschungsstil- die Herausbildung einer Neigung und Motivation Meine wissenschaftliche Sozialisation in der Universität begann 1998, als ich voller Erkenntnis- und Tatendrang ein Studium der Sinologie und der Allgemeinen Sprachwissenschaft aufnahm. In beiden Fächern existierten, soweit ich das überblicken konnte, qualitative und quantitative Forschungsmethoden weitgehend gleichberechtigt nebeneinander. Ich kann mich nicht erinnern, dass während meiner zwei ersten Studiensemester die Wissenschaftlichkeit qualitativer Methoden in Frage gestellt wurde. Nach meinem Wechsel in die Psychologie reagierte ich zunächst verwundert, später zunehmend frustriert und ärgerlich auf die einseitige Ausrichtung der Lerninhalte auf experimentelle Forschungsdesigns und mathematisch-statistische Auswertungsverfahren. Dieser Kontrast machte mir bereits sehr früh in meiner studentischen Laufbahn deutlich, dass Forschungsthemen, methodische Zugänge und die Wahl wissenschaftlicher Fragestellungen erheblich von disziplinären Bedingungen beeinflusst werden. Im Fach Psychologie machte ich die Erfahrung, dass qualitative Forschungsmethoden, soweit sie überhaupt Erwähnung fanden, als weitgehend beliebig, wenig aussagekräftig und nicht den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens genügend angesehen wurden. Einsetzbar schienen solche Verfahren - schenkt man den Lehrwerken und Lehrveranstaltungen Glauben - lediglich zur Exploration neuer Themenbereiche, quasi als Vorstufe für handfeste Forschung, in der Ergebnisse
4.2 Mein Vertrautwerden ... - Antje Lettau
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durch mathematisch verrechenbare Kennziffern belegt werden können. Konsequenz dieser Methodenorientierung - so meine Wahrnehmung - ist ein zum Teil verzweifelt bis grotesk anmutendes Bemühen, jegliche Forschungsfragestellung in ein quantitativ-experimentelles Forschungsdesigns zu pressen. Dabei verblüffte mich immer wieder, dass die Idee, Untersuchungsteilnehmer hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen und Deutungen als vernunftbegabte und auskunftsfähige Wesen zu Wort kommen zu lassen, einfach nicht zu existieren schien. Im Rahmen der für die Zulassung zur Vordiplomprüfung erforderlichen Teilnahme an Experimenten des Fachs fühlte ich mich tatsächlich oftmals im wörtlichen Sinn zur "Versuchsperson" degradiert. Fortlaufendes Ärgernis war für mich die ständige Präsenz und Dominanz quantitativer Methodenausbildung einschließlich der zugehörigen statistischen Verfahren in den Lehrplänen im Verlauf des gesamten Studiums. Qualitative Forschungsansätze begegneten mir als ernstzunehmende eigenständige Methoden im Rahmen meines Psychologiestudiums erstmals nach dem Vordiplom. Im fünften Semester stand eine sogenannte "Forschungsorientierte Vertiefung (FOV)" auf dem Lehrplan - ein über zwei Semester laufendes, im Hinblick auf die zu investierende Semesterwochenstundenzahl umfangreicheres Seminar. Die Auswahl der passenden FOV unter den Angeboten sorgte bei den Studierenden für einige Aufregung, wollte man doch das "richtige" Seminar bekommen. Im Angebot stand auch ein Seminar, in dem eine Forschungsfragestellung mit qualitativen Methoden (nämlich der GTM) bearbeitet werden sollte. Für mich stand die Entscheidung für dieses Seminar schnell fest. Allerdings wurden im Vorfeld der Seminarwahl auch warnende Stimmen laut: Die "qualitative FOV" verlange hohen persönlichen Einsatz, der Erwerb des theoretischen Wissens sei trocken, das ganze Projekt sei mit sehr viel Arbeit verbunden und qualitative Forschung ohnehin langwierig und schwierig. Ich ließ mich durch solche Warnungen nicht abschrecken und freute mich zu Beginn des Seminars, endlich wieder über den Tellerrand der experimentellstatistischen Methoden hinausschauen zu können. Im Verlauf konnte ich erste Erfahrungen mit der Aneignung und Anwendung der GTM machen. Besonders reizvoll erschien mir dabei, nun endlich mit "Untersuchungspartnern" (statt "Versuchspersonen") in Interaktion zu treten, sie als introspektionsfähige und reflexive Menschen ernst nehmen zu können und Einblick in ihre Lebenswelt zu erhalten. Gleichzeitig machte ich auch die Erfahrung, dass dieses In-Kontakt-Treten mit Verunsicherungen und Ängsten verbunden sein kann - jedenfalls deutlich mehr als in der Rolle eines "Versuchsleiters", hinter deren fixiertem Regelwerk der Experimentalprozeduren sich vortrefflich in Deckung gehen lässt. So erlebte ich die Durchführung meines ersten Leitfadeninterviews, das nach Arbeitsanleitung offen
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
und flexibel verlaufen sollte, als stark angespannt. Während des Gesprächs fühlte ich mich sehr auf mich allein gestellt, mit unklaren Kriterien, wie denn ein gutes Interview überhaupt aussieht. Besonders augenfällig wurde das im Kontrast zu anderen Lehrveranstaltungen, in denen psychometrische Verfahren und standardisierte klinisch-diagnostische Interviews trainiert wurden. Im Verlauf des Seminars entwickelte ich große Begeisterung für die Arbeit an den Interviewgesprächen und Feldprotokollen. Die Entwicklung von Kodes, Kategorien und Modellentwürfen im Forschungsstil der GTM erschien mir herausfordernd und kreativ. Das Seminar machte Lust auf mehr. Im Gespräch mit Mitstudierenden waren Erfahrungen aus den FOV-Seminaren immer wieder Thema. Ich erinnere mich, dass viele neugierige Nachfragen an mich gerichtet wurden, was denn eigentlich in der qualitativen FOV so laufe, wie der Forschungsprozess aussehe etc. Reaktionen auf meine Berichte über das qualitative Arbeiten waren sehr unterschiedlich. Neben abwertenden Kommentaren im Sinne der üblichen Sozialisation im Fach Psychologie ("Das ist doch völlig subjektiv!", "Ist das denn reliabel, was ihr da macht?"), gab es auch nahezu ehrfürchtigbewundernde Kommentare ob dieser persönlich fordernden "Geheimwissenschaft" ("Ich glaube, das könnte ich gar nicht!"). Qualitative Forschung in einer quantitativ orientierten akademischen Fachumgebung bietet Projektions- und Angriffsflächen, und als deren Repräsentant/in muss man damit rechnen, mit Bewunderung, Kritik und Abwertung gleichermaßen konfrontiert zu werden. Ein gewisses Maß an Mut ist bereits bei der Entscheidung für eine qualitative Forschungsarbeit in der Psychologie verbunden, bevor erste Schritte im Forschungsprozess erfolgt sind. Für mich stand jedenfalls nach dem besagten Seminar fest, dass ich eine "qualitative Diplomarbeit" schreiben wollte, und ich machte mich alsbald auf die Suche nach einer geeigneten Fragestellung.
4.2.3 Die Wahl eines Forschungsthemas Bei meinen Vorüberlegungen zu einem geeigneten Themenbereich für meine Diplomarbeit fühlte ich mich ein bisschen wie ein Pionier, der sich mutig auf noch unbekanntes, fremdes, vielleicht sogar etwas gefährliches Terrain begibt. Besonders positiv war für mich, mein Themengebiet nach persönlichen Interessenlagen und Vorlieben weitgehend frei wählen zu dürfen - ein weiterer für mich sehr wertvoll erscheinender Gegensatz zur Mehrzahl der Qualifikationsarbeiten im quantitativ-experimentellen Forschungssetting. Zu dieser Zeit befasste ich mich mit Konzepten der transpersonalen Psychologie - ich las die Bücher von Wilber (1991) und Grof (1997). Dort wurde immer wieder Bezug genommen zu bewusst-
4.2 Mein Vertrautwerden ... - Antje Lettau
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seinserweiternden meditativen Techniken, und es wurde versucht, die Erforschung der menschlichen Psyche auf Bereiche jenseits des normalen Alltagsbewusstseins auszuweiten. Diese Ansätze machten mich neugierig - zum einen auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, zum anderen auf eigene praktische Erfahrungen mit Meditation, die spannende und außergewöhnliche Erlebnisse versprachen. Beides ließ sich aus meiner Sicht in einer Forschungsarbeit im GTMStil vereinbaren. Da ich keinerlei praktische Erfahrungen mit meditativen Techniken oder spirituellen Traditionen besaß und über keine Anbindung an eine Meditationsgruppe oder eine spirituelle Gemeinschaft verfügte, war mein Wissen über einschlägige Praxiskontexte recht gering. Erste provisorische Themenfokussierungen blieben vage und unbestimmt. Daher machte ich mich zunächst auf die Suche nach einem geeigneten Einstieg ins Feld und durchsuchte Zeitungen und Anschlagtafeln nach Meditationsangeboten. Dort entdeckte ich den Hinweis auf regelmäßige Treffen einer kleinen Zen-Gruppe, nahm Kontakt mit dem angegeben Ansprechpartner auf und informierte ihn über mein Forschungsvorhaben. Ich begab mich dann zunächst sehr offen in mein erstes Forschungsfeld. In den Anfangsphasen des Forschungsprozesses hatte die Explikation meiner Präkonzepte wesentliche Bedeutung. Sehr hilfreich war für mich der Austausch mit Koforschern (in meinem Fall ein Forschungskolloquium sowie eine Gruppe von drei Studierenden, in der wir gemeinsam unsere Texte kodierten). Dort erhielt ich Unterstützung dafür, die Charakteristik der Brille, durch die ich mein Forschungsfeld betrachte, genauer zu explizieren. Bereits bei meinen ersten Schritten wurde mir deutlich, dass der Forschungsprozess von eigenen Vorerfahrungen, Interessenlagen, Wünschen und Befürchtungen erheblich beeinflusst wurde. So wählte ich z. B. aufgrund meiner anfangs bestehenden Ängste und Unsicherheiten im Hinblick auf spirituelle Gemeinschaften ("Sind das Sekten?", "Gibt es dort unseriöse Praktiken?") als erstes Forschungsfeld eine Zen-Gruppe. Bei dieser altehrwürdigen japanischen Tradition fühlte ich mich relativ sicher vor Unseriosität, Scharlatanerie und persönlicher Gefährdung. Ich war neugierig darauf, über die Zen-Gruppe, ihre sozialen Strukturen und die Meditation Genaueres zu erfahren. Bereits bei meinen ersten Kontakten und Meditationsversuchen stellte ich fest, dass viele meiner Vorstellungen über das Forschungsfeld revidiert werden mussten. Die große inhaltliche und vorgehensmethodische Offenheit meines Herangehensansatzes erlebte ich einerseits als reizvoll - hier herrschte der Pioniergeist, ich begab mich erstmals in neue und fremdartige meditative Welten. Andererseits tauchten immer wieder Besorgnisse auf, ob sich eine sinnvolle Fragestellung ergeben würde, wie eine Themenfokussierung für mein Forschungsprojekt entstehen könnte etc.
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Themenfokussienmgen und Fragestellungen veränderten sich nicht nur durch meine ersten Erfahrungen im Feld. Vielmehr begleiteten mich Überlegungen, welche Aspekte in den Daten ich als theoretisch relevant und interessant einstufen wollte, im Verlauf des gesamten Forschungsprozesses. Nach der Revision meiner Präkonzepte entfielen einige der von mir im Vorfeld als wesentlich angesehenen Gesichtspunkte. Mir erschienen nun phänomenologische Beschreibungen meditativer Erfahrungen als besonders ergiebig. Ich musste jedoch im Laufe der Zeit erfahren, dass die Meditierenden Vorbehalte gegenüber der Versprachlichung dabei gemachter Erfahrungen äußerten. Es wurde mir deutlich, dass Gespräche über intensive Meditationserfahrungen für sie einen gewissen Tabubruch bedeuteten. Im weiteren Verlauf meiner Beschäftigung mit dem Thema verlagerte sich der Aufmerksamkeitsfokus auf biographisch-sozialisatorische Prozesse. Durch die Erfahrung der Interviewgespräche erschienen mir als besonders interessant: • Die Bedingungen und Entwicklungsprozesse auf Seiten meiner Untersuchungspartner vor ihrer Hinwendung zu einem spirituellen Weg, • die Prozesse des Heimisch-Werdens in einem spirituellen Kontext, • die Rolle und Funktion des Meditationslehrers und der Meditationsgruppe, • die wahrgenommenen Auswirkungen der Meditationspraxis auf die alltägliche Lebensführung sowie • auftretende Konflikte zwischen den verschiedenen Teil-Lebenswelten und Strategien im Umgang mit solchen Konflikten. • Aufgrund der zentralen Bedeutung, die die Meditation bei vielen meiner Untersuchungspartner für ihre Lebensgestaltung besaß, ergab sich gegen Ende meiner Auswertungsarbeit die Frage, welche Funktionen die Meditation für sie erfüllt und welche Bedeutung dem Zen als Weg zur Identitätsbildung zukommt. Mir wurde im Verlauf der Modellbildung zunehmend bewusst, dass angesichts der Reichhaltigkeit meines Datenmaterials unzählige Möglichkeiten der Themenfokussierung bestanden und eine Vielzahl von Sampling-Entscheidungen sinnvoll gewesen wäre. Die Entwicklung und Wandlung meines Themas ergab sich aus einer ständigen Interaktion zwischen meinen Interessen- und Motivlagen und denen meiner Untersuchungspartner. Aber auch die Rückmeldungen aus der Forschergruppe und die zeitlichen und räumlich-geographischen Grenzen und Einschränkungen der Forschungsarbeit spielten eine Rolle. Für eine Studienabschlussarbeit gibt es einen amtlichen Abgabetermin. Die inhaltliche und strategische Offenheit des Forschungsprozesses stellte hohe Anforderungen an die Kreativität der Forscherin, aber auch an ihre Fähigkeit, Stagnationen, Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten und damit einhergehende Frustrationen aushalten zu können. Gleichzei-
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tig macht dies in meinen Augen die Arbeit mit der GTM spannend und abwechslungsreich. Für mich persönlich stellt die Arbeit zur Zen-Meditation zudem lebensgeschichtlich eine gelungene Synthese aus Psychologiestudium und meinem Interesse an Meditation und Spiritualität dar.
4.2.4 Der Feldzugang und die Datenerhebung "vor Ort"
Meine ersten Schritte im Forschungsfeld waren geprägt durch bestimmte Vorannahmen darüber, was mich vor Ort erwarten könnte. Außerdem hatte ich mir durch Lesen von Literatur aus dem Feld und über das Feld eine ungefähre Vorstellung über Zen verschafft. Die Sampling-Entscheidungen im Forschungsprozess sind unvermeidlich durch forscherseitig bestehendes Vorwissen mitbestimmt. Daneben spielen bei der Schaffung eines Feldzugangs auch pragmatische, zeitliche und lokale Voraussetzungen eine Rolle. In meinem Fall bot sich die Zen-Gruppe für die ersten Schritte ins Feld an, da sie für mich sozial und örtlich leicht erreichbar war und die Meditationstreffen (im Rahmen meines dicht gepackten Stundenplans) zeitlich günstig gelegen waren. Es ging mir zunächst darum, einen ersten Zugang zu schaffen und erste Erfahrungen dort zu machen. Um meine Unsicherheit bezüglich der Eignung dieses Feldzugangs zu verringern, hielt ich mir immer wieder vor Augen, dass beliebige weitere Anknüpfungspunkte zu einem späteren Zeitpunkt im Forschungsprozess gewählt werden könnten. Den Erstkontakt mit dem Leiter der Zen-Gruppe stellte ich telefonisch her. Ich berichtete von meinem Forschungsvorhaben und bat ihn um ein Gespräch. Er zeigte sich sofort bereit und motiviert, an der Untersuchung teilzunehmen und äußerte großes Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung von Meditationspraxis. Im Rahmen unseres ersten persönlichen Zusammentreffens erhielt ich von ihm eine kurze Einführung in die Zen-Meditation und die Abläufe im Meditationsraum. Dies sollte mich in die Lage versetzen, an den Meditationstreffen der Gruppe teilzunehmen. Die ersten Berührungen mit dem Forschungsfeld erwiesen sich für meine Theoriebildung als interessant und wesentlich. Ich konnte Beobachtungen über Zugangscharakteristika des Feldes, über Kommunikationsregeln, den Umgang mit neuen Mitgliedern etc. gewinnen. Zu Beginn hatte ich die Rolle eines interessierten und teilinformierten Laien - und zumindest bei denjenigen, die von meinem wissenschaftlichen Interesse wussten, einen gewissen Sonderstatus als "Forscherin". Meine Positionierung veränderte sich im weiteren Verlauf. Die von mir durchgeführten Interviewgespräche lassen sich technisch als "narrative Leitfadeninterviews" kennzeichnen, die sich durch Merkmale wie Alltagsnähe, inhaltliche Offenheit und Flexibilität in der Themenwahl und Gesprächsfüh-
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rung auszeichneten. Dabei bemühte ich mich, den Gesprächspartnern als Experten für ihre Lebenswelt und ihre Meditationspraxis Raum zu lassen für Strukturierungen, Deutungen und Themenvorschläge nach eigenen Relevanzgesichtspunkten. Zu Beginn der Gespräche stand eine "Erzählaufforderung", in der ich die Untersuchungspartner bat, ihren Lebens-/Weg zur Meditation zu beschreiben. Zu meiner eigenen Sicherheit brachte ich einen vorbereiteten Gesprächsleitfaden mit, in dem ich aus meiner Sicht wesentliche Stichpunkte, nach Themenbereichen geordnet, aufgelistet hatte. Ich hatte im Rahmen des Seminars zur qualitativen Methodik erste Erfahrungen mit dem Interviewen gesammelt und fühlte mich hier bereits etwas sicherer. Im Verlauf der Forschungsarbeit stellte sich zunehmend Routine ein. Ständige Quelle von Stress während der Interviews war für mich allerdings der Umgang mit der Aufnahmeapparatur ("Hoffentlich nimmt das Ding jetzt auch auf!"). Neben den sieben Interviews, die ich im Rahmen meiner Untersuchung durchgeführt habe, war ein weiterer wichtiger Zugang die regelmäßige Teilnahme an Aktivitäten im Forschungsfeld. Dabei hielt ich nach jedem Besuch Erlebnisse, Beobachtungen, Eindrücke etc. in Protokollen und Memos fest. Meine Beobachtungen erfolgten unstandardisiert und nicht verdeckt. Der fest strukturierte Ablauf im Meditationsraum erschien mir zunächst für das Protokollieren hilfreich, da so die Rekonstruktion im Nachhinein erleichtert wurde. In der reizarmen Umgebung der Meditationsphasen widmete ich meine Aufmerksamkeit vor allem meiner eigenen Meditationstätigkeit und machte bald die Erfahrung, wie anstrengend diese Praxis sein kann. Aus der Unterschiedlichkeit der Anforderungen, die mit meiner Doppelrolle als Forscherin und Meditierende zusammenhing, ergaben sich für mich im Feld Probleme der In-/Kompatibilität, auf die ich noch zu sprechen komme. Zu Vergleichszwecken suchte ich nach einem weiteren Untersuchungskontext. Dabei stieß ich auf ein Kursangebot zur Yoga-Meditation. Hier zeigte sich eine Vielzahl von Unterschieden in der sozialen und formalen Organisation der Meditation sowie hinsichtlich der Kommunikationspraktiken und Interaktionsformen. Bei der Auswertung der Feldprotokolle und des Interviews, das ich mit der dortigen Kursleiterin führte, stellten sich viele theoretisch fruchtbare Kontraste zur ZenPraxis heraus. Mein eigener "Lebenslauf" in diesem Forschungsfeld unterschied sich erheblich von dem in der Zen-Gruppe. Ich konnte mich an die strenge Disziplin der ZenPraxis und die Kommunikationsarmut während der Meditationstreffen nur schwer gewöhnen. Demgegenüber fühlte ich mich in der Yoga-Gruppe sozial bald sehr zu Hause und gab dort nach und nach meine Forscheridentität auf. Ich machte gewissermaßen den "Going native"-Schritt - was mir im Zen-Kontext nie gelang. Meine Anbindung an die Yoga-Gruppe blieb auch lange Zeit nach Beendigung der For-
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schungsarbeit erhalten. Aus meinen unterschiedlichen eigenen Lebensläufen in den beiden Forschungsfeldem bildete sich somit ein für die Theoriebildung nutzbarer Kontrast heraus. Meine Gesprächspartner im Zen waren dort heimisch geworden, es bestand eine gute Passung zwischen ihren Motivlagen und Lebensthemen sowie ihrer Meditationspraxis. Bei mir war das im Zen nicht der Fall, und der Kontext blieb mir bis zuletzt trotz längerer Teilnahmedauer gefühlsmäßig fremd. Ich behielt dort weitgehend eine Beobachter- bzw. Außenperspektive. Rückblickend waren die Interviewgespräche und die teilnehmende Beobachtung im Feld für mich "Highlights" der Forschungsarbeit und in jeder Hinsicht der damit verbundenen Mühe wert. Auch heute denke ich noch oft an beeindruckende Erlebnisse im Feld zurück. Das gilt für die vielfältigen Meditationserfahrungen, die ich im Verlauf der Arbeit machen konnte. Gerade hierbei wurde die Forschungsarbeit tatsächlich zu einer aufregenden Reise in fremde Lebenswelten. Ich konnte frustrierende wie beglückende Erfahrungen mit Meditation und spirituellen Gemeinschaften sammeln. Die Gespräche mit meinen Untersuchungspartnern, die mich teilhaben ließen an ihrer Lebensgeschichte und ihren höchst intimen Erfahrungen, haben mich in vielerlei Hinsicht sehr beeindruckt.
4.2.5 Die Datenanalyse und die Theorieentwicklung Bereits nach meinem ersten Treffen mit dem Leiter der Zen-Gruppe stand ich einem großen Berg von Daten gegenüber. Ich ließ mich jedoch nicht einschüchtern und ging mit Begeisterung daran, mit Hilfe des Regelwerks zum Offenen Kodieren vielfältige Assoziationen und erste Kodes zu entwickeln. Bald musste ich jedoch feststellen, dass das Finden eines eigenen Stils der Datenanalyse in der GTM viel Zeit und Übung benötigt. Dabei stellte sich zunächst die Frage, wie ich die in großer Zahl entstehenden Kodes, Kategorien-Kandidaten und Memos angemessen archivieren und ordnen konnte. Bis in die späten Phasen meiner Forschungsarbeit hatte die Entwicklung eines Stils der qualitativen Datenanalyse viel mit Trial-andError zu tun. Es ging zunächst darum, verschiedene Vorgehensmöglichkeiten auszuprobieren - manche dieser Möglichkeiten bewährten sich, andere erwiesen sich als unpraktikabel oder umständlich. Meine Erfahrung mit der Kodierarbeit ist, dass Zeiten großer Produktivität und Kreativität sich abwechselten mit Phasen, in denen mir kaum sinnvolle Ideen für das sich entwickelnde Modell einfallen wollten. Ich habe es in diesbezüglich unproduktiven Zeiten als hilfreich empfunden, mit der Auswertungsarbeit für eine Weile zu pausieren, um anschließend mit "frischem Blick" auf die Daten zurückkehren zu können. In der Auseinandersetzung mit den Interviews und Beobach-
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
tungsprotokollen entstand rasch eine große Menge an Kodes, Kategorien und theoretischen Entwürfen. Speziell in der Anfangsphase fiel es mir zuweilen schwer darauf zu vertrauen, dass sich aus der ungeheuren Fülle von Ideen und Konzepten ein sinnvolles Modell entwickeln könnte. Schwierig erschien mir dabei immer wieder, mich für die Fokussierung bestimmter Aspekte zu entscheiden und damit andere in den Hintergrund treten zu lassen oder auszuschließen - es gab so viele Themen, die mir fruchtbar erschienen. Auf diesem Hintergrund habe ich es als hilfreich empfunden, schon früh mit ersten Schritten der Modellentwicklung zu beginnen. Ich erstellte zu diesem Zweck immer wieder Diagramme über Zusammenhänge zwischen Kodes bzw. Kategorien, die ich dann in begleitenden Texten näher erläuterte. Das Verfassen theoriebezogener Memos von Anfang an ließ erst gar keine Schreibhemmungen aufkommen und half mir dabei, das sich entwickelnde Modell angesichts der Fülle des Datenmaterials fortlaufend in konzeptueller Manier im Blick zu halten und weiterzuentwickeln. Rückblickend erscheint es mir so, dass die Kodierarbeit mir viel Freude gemacht hat. Ich empfand es als reizvoll und herausfordernd, die Daten immer wieder neu zu befragen, zu sortieren und Kodes, Kategorien und Modellentwürfe zu erarbeiten. Allerdings war hierbei ein Aushalten von Unsicherheit und Offenheit des Forschungswegs nötig. Viele Fragen standen zur Debatte: Welche SamplingEntscheidungen sind sinnvoll? Welche Kodes bzw. Kategorien sollen Eingang in das Modell finden? Werde ich jemals eine geeignete Kemkategorie finden? Wann ist mein Modell abgeschlossen? - Dringlich wurden solche bangen Fragen und Selbstzweifel auch dadurch, dass irgendwann ein Abgabetermin und eine Benotung der Forschungsarbeit vor der Tür standen. Ein wichtiges Instrument für mein Untersuchungsprojekt war - vor allem in den früheren Phasen - mein Forschungstagebuch, in dem ich Gedanken, Assoziationen, Felderfahnmgen, Freude und Frustration festhielt. In der Zeit, als zunehmend die Theoriebildung im Mittelpunkt stand, verlor das Tagebuch für mich an Bedeutung. Allerdings war ich sehr dankbar für meine früheren Aufzeichnungen. Eindrücke und Erfahrungen aus dem Feld, meine zu Beginn der Arbeit vorhandenen Präkonzepte sowie meinen Theorieentwicklungsweg hätte ich im Nachhinein kaum rekonstruieren können. Als hilfreich empfand ich im gesamten Forschungsprozess auch die fortlaufende Begleitung durch das Forschungskolloquium und meine Kodiergruppe. Hier entstanden in der Diskussion mit anderen GTM-Forschenden wertvolle Anregungen. Vor allem wenn ich mich gerade sehr in meinen Daten vergraben hatte, half mir die Gruppe, blinde Flecken, Denkblockaden und Voreingenommenheiten zu entdecken und meinen Auswertungsprozess kritisch zu hinterfragen. Als gewinn-
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bringend empfand ich auch die Teilnahme an einem überregionalen Methodentreffen (an der Universität Magdeburg, s. http://www.uni-magdeburg.de/zsm/work shop), bei dem ich meine Forschungsarbeit zur Diskussion stellte. Dort ergaben sich noch einmal wertvolle Hinweise für die Theorieentwicklung. Im Verlauf des Forschungsprozesses erschien mir eine Frage als zunehmend heikel: Wann hat mein Modell genügend "theoretische Sättigung" erreicht? Zu meiner Beruhigung führte ich mir vor Augen, dass das Abbruchkriterium eines solchen Projekts oft auch durch pragmatische Gesichtspunkte (Geld, Zeit etc.) begründet ist. Dennoch erschien mir die entstandene Theorie chronisch unfertig, und mir fielen eine Menge weiterführender Sampling-Möglichkeiten ein. In einem meiner Forschungsfelder, der Zen-Gruppe, führte ich fünf Interviews durch. Auswahlentscheidungen beruhten dabei oft auf minimalen Vorinformationen, da das während der Zen-Treffen geltende Schweigegebot genaueres Kennenlernen im Vorfeld der Interviews verhinderte. Bei der Auswertung des fünften Gesprächs ergaben sich nur noch wenige neue Kodes und Kategorien, so dass ich zu diesem Zeitpunkt beschloss, zu Kontrastierungszwecken Kontakt zu einem anderen Meditationskontext, nämlich der schon genannten Yoga-Gruppe, aufzunehmen. Aufgrund meines persönlichen Heimisch-Werdens in diesem Kontext blieb es bei einem einzigen Interview dort, das ich in meiner Forschungsarbeit immer wieder zu Vergleichszwecken herangezogen habe. Gegen Ende meines Projekts nahm ich Kontakt zum Leiter einer anderen ZenGruppe auf. Er war im Unterschied zu meinen bisherigen Untersuchungspartnem zum Buddhismus konvertiert und bekleidete die Funktion eines Mönchs. Hier ergab sich noch einmal eine Kontrastierungsmöglichkeit innerhalb meiner Gesprächspartner aus dem Zen. Meine Sampling-Entscheidungen wurden insgesamt hauptsächlich durch die Vermittlung meines ersten Gesprächspartners bzw. Gatekeepers im Feld bestimmt, der mir weitere Kontakte vermittelte. Nach meinem siebenten Interview erschien mir mein theoretisches Modell als ausreichend gesättigt - und auch der Abgabetermin für die Arbeit war herangerückt. In Bezug auf den "richtigen" Umgang mit wissenschaftlicher Literatur und theoretischen Vorbildern und Modellen fühlte ich mich im Verlauf des Forschungsprozesses immer wieder unsicher. Mitunter befürchtete ich, mich zu viel mit einschlägigen Texten auseinandergesetzt zu haben, dann wieder war ich überzeugt, keinen ausreichenden Einblick in die bestehende Literatur zu besitzen und mich schleunigst in die Bibliothek aufmachen zu müssen. Rückblickend glaube ich, dafür ein recht gutes Maß gefunden zu haben. Verstärkte Auseinandersetzung mit Literatur erfolgte vor allem in den frühen und dann wieder in den späten Phasen des Forschungsprozesses. Dabei nahm ich anfangs die wissenschaftliche Literatur eher kursorisch zur Kenntnis - vor allem um mir ein Bild davon zu machen, wel-
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
che Themengebiete bereits beforscht waren. Fokus der Arbeit mit Literatur lag auf Texten aus dem Feld. So las ich eine Reihe von Büchern, auf die meine Interviewpartner mich aufmerksam gemacht hatten. Zudem diente mir diese Art der Lektüre dazu, einen Überblick über verschiedene spirituelle Gemeinschaften zu gewinnen - eine Basis für erste Sampling-Entscheidungen. Die Auseinandersetzung mit dieser Literatur erschien mir zudem wichtig, um mit den Redeweisen des Feldes und den weltanschaulichen und spirituellen Hintergründen meiner Gesprächspartner vertraut zu werden. In späteren Phasen des Forschungsprozesses begann ich dann gezielter nach wissenschaftlicher Literatur und theoretischen Modellen zu suchen, die auf meinen Themenfokus zu beziehen waren. In dieser Phase erschien mir die Lektüre oft bereichernd und lieferte Ideen für Kategorien und Modellentwürfe.
4.2.6 Ich und mein Forschungsfeld und meine Untersuchungspartner: Gedanken zur Selbstreflexivität Bereits zu Beginn meiner Themenannäherung bemühte ich mich, meine Präkonzepte (Ängste, Unsicherheiten, Erwartungen, Konzepte etc.) in Hinblick auf den Forschungsgegenstand zu explizieren, um ein möglichst gutes Bild der "Brille" zu erarbeiten, durch die ich das Feld betrachtete. So bestimmte mein Unbehagen gegenüber möglicherweise "unseriösen" Meditationsangeboten und meine geringe Kontextkenntnis den ersten Zugang ins Forschungsfeld ganz erheblich - ich wollte mit meiner Zen-Gruppe quasi auf "Nummer Sicher" gehen. Sich seiner Positionierungen und Rollenzuweisungen bewusst zu werden ist auch deswegen bedeutsam, da sich dadurch u. U. sehr unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Ereignissen im Feld ergeben. Solche Positionen verändern sich in aller Regel im Verlauf des Forschungsprozesses und im Rahmen des eigenen "Lebenslaufs" im Feld (vgl. Heeg 1996). Bei meinen ersten Kontakten mit Meditierenden wurde ich - so nehme ich an - als interessierter, teilinformierter Laie wahrgenommen. Dies war aus meiner Sicht zunächst eine sehr komfortable Position - die Identität als Forscherin bot mir Versteck- und Rückzugsmöglichkeiten bei der Meditation und einen "gefahrlosen" Einstieg ins Feld. Zudem schilderten meine Gesprächspartner bestimmte Zusammenhänge, wie z. B. die soziale Organisation der Gruppe und die Beziehung zum Zen-Lehrer, detaillierter als sie das einem "Eingeweihten" gegenüber getan hätten. Andererseits wurde mir bald deutlich, dass bestimmte Themenbereiche, wie z. B. meditative Erfahrungen, von Meditierenden ausschließlich mit "Eingeweihten" und dies auch nur unter bestimmten Bedingungen besprochen werden, also mit solchen Menschen, bei denen sie davon ausgehen
4.2 Mein Vertrautwerden ... - Antje Lettau
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können, dass diese über meditative Erfahrungen verfügen. Die Reflexion meiner Position im Feld und der Interaktionen der Feldmitglieder mit mir ermöglichten mir daher vielfältige Rückschlüsse auf Eigenarten und soziale Strukturen des Feldes. Während der Anwesenheit im Zen-Meditationsraum war ich Teilnehmerin an den Meditationen und Forscherin zugleich. Daraus ergaben sich für mich sehr schell widersprüchliche Ansprüche, die ich bis zuletzt kaum vereinbaren konnte. Die Aufgabe in der Meditation bestand beispielsweise darin, die Atemzüge zu zählen - von eins bis zehn und dann wieder von vorn. Eine sehr einfach zu begreifende Anleitung, die jedoch schwierig zu befolgen ist. An dieser Stelle offenbarte sich ein prinzipielles Dilemma teilnehmender Beobachtung von Meditationspraxis: Die Meditation ist einerseits darauf ausgerichtet, das diskursive und begriffliche Denken außer Kraft zu setzen. Aufkommende Gedanken, Bilder, Vorstellungen und Emotionen sollen nicht festgehalten werden, um Distanz von der ständigen ruhelosen Tätigkeit des Geistes zu bekommen, eine höhere Bewusstheit und ein stärkeres Gefühl von Verankerung im Hier und Jetzt zu erlangen. Andererseits hatte ich als Forscherin im Feld die Aufgabe, Abläufe im Meditationsraum genau zu registrieren, mich selbst und andere in der Meditation zu beobachten und mir Details des ablaufenden Geschehens sowie der eigenen Reaktionen, Empfindungen, Emotionen etc. für die spätere Protokollierung zu merken. Diese nach außen gerichtete Aufmerksamkeit und gedankliche Tätigkeit führte zu einer permanenten empfindlichen Störung meiner Meditationsversuche. Das heißt: Die Anforderungen meiner beiden Rollen im Feld als Teilnehmerin am Meditationsgeschehen und als Forscherin waren unverträglich. Die Einnahme einer distanzierten Beobachterposition und die vollwertige und identifizierte Teilnahme an den Aktivitäten im Untersuchungsfeld ließen sich nicht gleichzeitig verwirklichen. Zugleich hatte die Teilnahme am Feldgeschehen Auswirkungen auf mein Handeln als Forscherin. In der Meditation trainierte ich die Einnahme einer möglichst nicht bewertenden Beobachterposition, von der aus man versucht, achtsam und genau wahrzunehmen und zu spüren, was "da draußen", was "hier drinnen bei mir" und was in der Interaktion zwischen Drinnen und Draußen passiert. Idealtypisch entspricht das der Haltung des Forschers in und gegenüber seinem Forschungsfeld - einmal abgesehen davon, dass er nicht gleichzeitig die Atemzüge von eins bis zehn zu zählenhat! Mein "Lebenslauf" im Feld erscheint mir in erheblichem Ausmaß bestimmt durch meine persönliche Passung mit dem Forschungsfeld. Zu vielen Charakteristika der sozialen Organisation der Zen-Praxis und auch ihrer Meditationstechniken fand ich keinen "gefühlten" Zugang - sicherlich auch erschwert durch die "Doppelidentität" als Meditierende und Forscherin. In dem Yoga-Kontext hinge-
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
gen, begann für mich - anfangs noch unbemerkt - ein Prozess des Heraustretens aus der Forscherrolle und des identifikatorischen Heimisch-Werdens in der Gruppe und der Meditation. Die Einnahme einer distanzierten und reflektierenden Außenperspektive wurde für mich dort zunehmend unpassend, das ursprüngliche wissenschaftliche Engagement verwandelte sich mehr und mehr zu einem persönlich und lebensweltlich bedeutsamen. Meine erhalten gebliebene Außenperspektive im Zen hingegen machte es mir dort möglich, einen "fremden Blick" auf die Ereignisse bewahren, Muster und Selbstverständlichkeiten des Feldes zu registrieren und zu hinterfragen - und in diesem Kontext meine Forschungsarbeit fortzuführen.
4.2.7 Die persönlichen Folgen: Gedanken zu Auswirkungen der Forschungsarbeit Aus einem zunächst vornehmlich wissenschaftlich motivierten Engagement ist im Verlauf meines Forschungsprojekts ein lebensgeschichtlich bedeutsames geworden. Auch nach dem Abschluss der Diplomarbeit zeigen sich Rückwirkungen meiner Erfahrungen im Feld in meiner Lebenspraxis. Mir wurde oftmals deutlich, dass der Eintritt in ein Forschungsfeld nicht nur Reaktionen dort bzw. bei den Feldmitgliedern auslöst, sondern auch auf Seiten der Forscherin nicht ohne Folgen bleibt. Durch Begegnungen, Erfahrungen, Erkenntnisse etc. kommt es bei ihr ebenfalls zu Veränderungen. Die Yoga-Meditationsgruppe, in der ich im Verlauf meiner Forschungsarbeit heimisch wurde, existiert inzwischen nicht mehr. Seit dem Abschluss meines Studiums arbeite ich in einer psychiatrischen Klinik. In meinem beruflichen Alltag in der Therapie von Menschen mit psychischen Erkrankungen spüre ich die "Spätfolgen" meiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Meditation. In der Psychotherapie erhalten spirituell inspirierte und meditative Ansätze zunehmend Einzug, z. B. unter Stichworten wie "Achtsamkeit" (Linehan 1996) und "Mindfulness-based-therapy" (Zindel u. a. 2002). Das Wissen über Meditation, ihre Wirkungen, Probleme und Schwierigkeiten, ihr Potenzial für ein persönliches Wachstum erleichtern mir den Einsatz solcher Techniken in der Psychotherapie und machen mich in ihrer Vermittlung für meine Patienten glaubwürdiger. Gleichzeitig sind Techniken der Achtsamkeit, Meditation und Selbst-Distanzierung in meinem psychotherapeutischen Alltag eine wichtige Ressource geworden.
4.3 Meine Passungsgeschichte ... - Barbara Dieris
4.3
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Meine Geschichte der Passung von Person, Forschungsstil und Forschungsthema - Babara Dieris
4.3.1 Meine Forschungsarbeit Ich habe zwei GTM-Studien zum Thema "Altwerden in Familien" durchgeführt. Ich habe mich dafür interessiert, wie die intergenerationalen Beziehungen der Familienmitglieder sich in diesem Prozess verändern, und wie dies in der Familieninteraktion verhandelt wird. In der ersten Untersuchung, meiner Diplomarbeit im Fach Psychologie, ging es um den Rollenwandel in Familien, den das Alt- und Kümmerbedürftig-Werden von Eltern mit sich bringt. Die sozialen Konstellationen zwischen den Familienmitgliedern, speziell die zwischen Eltern- und KinderGeneration, müssen neu kalibriert werden. In der zweiten Untersuchung, meiner Dissertation, ging es um die Frage, wie die mit der Alternsproblematik der Eltern verbundenen Kümmeraufgaben zwischen den Familienmitgliedern ausgehandelt werden. In beiden Studien habe ich auf Interviewgespräche mit Betroffenen, insbesondere mit sich kümmernden (Schwieger-) Töchtern und Söhnen, als Datenbasis zurückgegriffen. In meiner Dissertation habe ich als weitere Datenquelle literarisch-fiktionale Texte (Romane, Erzählungen, Bühnenstücke) hinzugezogen. Zudem habe ich dort auch meine selbstreflexiven Überlegungen und Texte sowie die wissenschaftliche Forschungsliteratur explizit als Datenquellen bezeichnet, auf deren Basis mein Kümmeraushandlungsmodell entstehen konnte.
Die zwei Studien Studie 1: "Och Mutter, was ist aus dir geworden?!" Eine Grounded-Theory-Studie über die Neupositionierung in der Beziehung zwischen alternden Eltern und ihren erwachsenen, sich kümmernden Kindern (Dieris 2006)
Zusammenfassung: Wenn die selbstständige Lebensführung älter werdender Menschen fraglich wird, sind es häufig die erwachsenen Töchter und Söhne, die sich verstärkt um ihre Eltern kümmern. Die Übernahme neuer Aufgaben und Rollen führt zu Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung. Es kommt jedoch nicht zu einer vollständigen Rollenumkehr, bestimmte alte Beziehungs- und Rollencharakteristika bestehen weiter. Ich rekonstruiere in der Untersuchung diesen Beziehungswandel aus der Perspektive sich kümmernder erwachsener Töchter und Söhne. Es wird ein theoretisches Modell der filialen Neupositionierung entwickelt so habe ich die Kernkategorie genannt. Ich beschreibe verschiedene im Rahmen des
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Kümmerprozesses auftretende Veränderungen von Handlungs- und Beziehungsebenen sowie diesbezügliche Umgehensweisen und Strategien von Eltern und Kindern. Abbildung 5 gibt einen Überblick über die zentralen Kategorien meines Modells. Die rechte Spalte gibt Auskunft über die Funktionen, die die Kategorien innerhalb eines Bedingungsgefüges im Sinne des Paradigmatischen Modells (vgl. Punkt 2.4.5.2 oben) einnehmen sollen. Die Kümmerbedürftigkeit der Eltern kann unter der Voraussetzung, dass der Sohn oder die Tochter das Kümmern um die Eltern als Aufgabe für sich auffasst - auf verschiedenen Handlungs- und Beziehungsebenen zu Veränderungen führen. Die Töchter und Söhne nehmen bestimmte Umgehensweisen der Eltern im Kontext ihrer Neupositionierung wahr. Gleichzeitig reagieren die Kinder mit spezifischen Strategien auf die Veränderungen der Eltern. Wie der Neupositionierungsprozess im Verhältnis von Eltern und Kindern im Einzelfall aussieht, hängt von verschiedenen Rahmenbedingungen ab, die Beziehungscharakteristika und den Gesundheitszustand der Eltern betreffen. Die Wahrnehmung der Umgehensweisen der Eltern und die Umgehensweisen der Kinder selber können Konsequenzen für die neue Position haben, indem es zu einem Wandel - einer Verstärkung oder einer Rücknahme - des Verstehens der Kümmerbedürftigkeit der Eltern als Aufgabe für mich kommt, oder indem Modifikationen auf Ebenen der Veränderung stattfinden.
4.3 Meine Passungsgeschidtte ... - Barbara DieriB
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Kategorien des Neupositionierungsmodells
-
}
"Kümmerbedürfligkeit" der Ettern
I
..Aufgabe für mich" (als Sohn bzw. Tochter)
!
}
FILIALE NEUPOSITIONIERUNG
-
Ebenen der Veränderung Hilfestellungen Verantwortlichkeiten Entscheidungszusländigkeiten
Stellung der Kategorien im Bedingungsgefüge des Kodierparadigmas
-
ursächliche Bedingungen
Phänomen! Kernkategorie
Kontexte
Nähe und Distanz
Urngehensweisen ~ der Eltern (aus Sicht der Kinder) • Herstellen von Dominanz • At:>geoon von Verantwortung • Kind in den Bhck kriegen
Umgehensweisen der Kinder • Rollen·Trennung • zeitliche und räumliche Grenzen • Reflexion der eigenen Position im Familiensys1em • En1schuldigungen
f
Handlungs- und InteraktionsStrategien
f Rahmenbedingungen
• Beziehungscharakteristika - Beziehung zu Eltern und Geschwistern - Kümmermuster - Ehepartner und andere wichtige Personen
intervenierende Bedingungen
• Körperlicher und geistiger Gesundheitszustand
Abbildung 5: Konzept der "Filialen Neupositionienmg" (Dieris 2006, Abs. 16)
Studie 2: Sprechen. und Schweigen. Aushandlungsstrategien des ,Sich Kümmems' um alte Familienmitglieder (Dieris 2009)
In einem gewissen Rahmen gibt es normative Richtlinien, die besagen, dass das Sich Kümmern eine Angelegenheit der Familie sei. Handlungsspielräurne bestehen dabei jedoch bezüglich der Art und Weise, wie dieser Verpflichtung konkret nach-
4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
162
gekommen werden kann. Fragt man sich kümmernde Familienangehörige, wie gerade sie (und nicht ihre Geschwister) in die Kümmerposition gelangt sind, ist häufig von Selbstverständlichkeit und Automatismus die Rede. Ich bin der Frage nach den innerfamiliären Interaktions- und Aushandlungsweisen des Sich Kümmerns nachgegangen: Über welche impliziten und expliziten Kanäle wird hier agiert?
AushandlungsProtagonisten
kümmerrelevante EreignissefPhasen
"Sprechen und Schweigen" "Klartext Reden" "Beschweigendes Reden" "Beredtes Schweigen" "Sprechendes Handeln"
(vorläufige) Kümmerrealitäten
narrative Perspektiven
Abbildung 6: Aushandlungsstrategien des Sich-Kümmerns um alte Familienmitglieder (Dieris 2009, S. 53)
Ich habe ein Modell unterschiedlicher Formen des diesbezüglichen Sprechens und Schweigens - so heißt hier meine Kernkategorie - als zentralem Merkmal der Aushandlungsinteraktionen entwickelt. Abbildung 6 gibt einen Überblick über die
4.3 Meine Passungsgeschichte ... - Barbara Dieris
163
herausgearbeiteten Kategorien und deren Relationen. Die Beziehungen, in denen die Kategorien zueinander stehen, orientieren sich wiederum an der Logik des Paradigmatischen Modells. Das Diagramm lässt sich folgendermaßen lesen: Je nach Eigenschaften der Aushandlungsprotagonisten sowie in Abhängigkeit von kümmerrelevanten Ereignissen und Phasen wird "Klartext geredet", "beschweigend geredet", "beredt geschwiegen" oder "sprechend gehandelt". Diese Aushandlungsstrategien führen dann zu " (vorläufigen) Kümmerrealitäten". Das Kümmeraushandlungsmodell berücksichtigt zudem den narrativen Kontext (die narrative Datengrundlage, den narrativen Modellcharakter), innerhalb dessen es entwickelt wurde.
I
--------J
4.3.2 Ich und die Methode Wenn ich als Person eine Rolle spiele in meiner Forschungstätigkeit und in meiner Ausgestaltung der Forschungsmethode, wie ließe sich diese in meinem Fall beschreiben und charakterisieren? Ich versuche, mich meinem persönlich-individuellen Forscherinnenstandpunkt über die Rekonstruktion meiner Lerngeschichte schreibend anzunähern (vgl. Dieris 2007). In meinem Psychologiestudium hatte ich bis zu meinem Vordiplom von "qualitativen Methoden" zwar gehört, wusste aber nicht, was ich mir darunter konkret vorzustellen hatte. "Grounded Theory" oder gar "Selbstreflexivität" in der psychologischen Forschung waren mir unbekannt. Als dann ein Forschungsseminar angeboten wurde, in dem "qualitativ" gearbeitet werden sollte, war für mich klar, das zu machen, um einen genaueren Eindruck zu bekommen. Ich war bis dahin eigentlich nicht besonders begeistert von meinem Studienfach: Ich hatte zwar das Gefühl, Informationen aufzunehmen und auch wiedergeben zu können, aber es hatte mich nicht "gepackt", nur selten besaß ich das Gefühl, mich wirklich zu interessieren, mich vertieft auseinanderzusetzen. Diese Erfahrung, von einer Sache, einer Idee, einem Gedankengang fasziniert zu sein, kannte ich allerdings aus meinem Nebenfachstudiengang der Literaturwissenschaft. Was mich dann - als eine meiner ersten Erfahrungen in diesem Seminar zur qualitativen Psychologie - gepackt hat, war das Angebot der Dozent(inn)en, auch literarische Texte zum Thema einzubringen. Inhaltlich ging es dort um Lebens- und Wohnsituationen im höheren Lebensalter. Damit war ich sofort "im Boot", interessiert und motiviert für qualitative Sozialforschung, bei der es sich - in diesem Fall, aufgrund der Standpunkte der Lehrenden - um die GTM handelte.
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Wie ein konkreter Forschungsprozess von der Festlegung einer Fragestellung, eines thematischen Fokus', über das Sammeln von Interviewdaten, deren Auswertung bis zum Verfassen eines Absch1ussberichts aussehen kann, erlebte ich dann am eigenen Leib im Rahmen dieses Forschungsseminars. In der Rückschau scheinen mir dabei, jenseits der beschriebenen Initialzündung bzw. teilweise auch eng daran anknüpfend, die folgenden Lernerfahrungen für mich und mein weiteres (Forschungs-) Handeln wichtig: • Interdisziplinäre Berührungspunkte der Methodologie und Methodik: Mein Wissen aus dem geistes- bzw. literaturwissenschaftlichen Zusammenhang und mein Interesse daran boten mir hilfreiche Anknüpfungspunkte im praktischen und theoretischen Aneignungsprozess einer qualitativ-methodischen Herangehensweise. So besaß ich eine gewisse Vertrautheit mit der Auswertung von Texten und mit hermeneutischen und konstruktivistischen Denkhaltungen. Relativ schnell hatte ich das Gefühl, dass mir das qualitative Denken nahe liegt, vertraut ist, Spaß macht - obwohl ich immer noch nicht ganz richtig wusste, was genau qualitative Forschung bzw. "selbst-/reflexive Grounded Theory" macht, wie das geht, und was dabei heraus kommt. Über den lernpsychologischen Nutzen hinaus war die Wahrnehmung der interdisziplinären Verbindungen für mich motivationssteigernd: Ein Zusammenführen meines Wunschstudienganges Literaturwissenschaft und meines Zweckstudienganges Psychologie, den ich eher aus berufspragmatischen Gründen gewählt habe, hatte ich mir immer gewünscht, erschien mir aber lange Zeit ziemlich utopisch. • Multiperspektivität: Eine wichtige neue Erfahrung für mich war, auch in einern psychologischwissenschaftlichen Kontext verschiedene Herangehens- und Sichtweisen - sowohl thematisch-inhaltliche als auch methodische - zulassen zu dürfen. Das fand ich nicht nur einleuchtend, sondern auch erleichternd: Es hat den Druck verringert, etwas grundlegend falsch zu machen und statt dessen Ressourcen freigesetzt und mich sensibel gemacht, gerade aus der Wahrnehmung und Reflexion unterschiedlicher Perspektiven etwas erfahren und lernen zu können. Konkrete Beispiele, bei denen mir verschiedene Blickpunkte bewusst wurden, waren etwa der Umgang und das Sprechen mit unterschiedlichen Forschungs- bzw. Interviewpartnem und -partnerinnen, die verschiedenen Geschichten und Aspekte, die sie in Bezug auf unser Seminarthema erzählt haben, die Wahrnehmungen und Herangehensweisen der Interviewer/innen und die verschiedenen Fokussierungen und Schwerpunktsetzungen, die bei der gemeinsamen Auswertung in der Seminargruppe möglich waren.
4.3 Meine Passungsgeschichte ... - Barbara Dieris
•
165
Schreiben:
Im Psychologiestudium, so wie ich es kenne, schreibt man selten Texte - zumindest nicht solche, in denen eigene Überlegungen entwickelt und dargestellt werden. Während meiner ersten "qualitativen" Serninarerfahrung war ich deshalb trotz der Hinweise und Ermutigungen durch die Lehrenden - in dieser Hinsicht noch zurückhaltend und eher schreibfaul. Das Spannende und Produktive am Formulieren und Schreiben, am schreibenden Denken, habe ich erst in meinem weiteren Lernprozess erfahren und zu nutzen gelernt, vor allem in Zusammenhang mit meiner Diplomarbeit.
•
Entdeckungen machen:
Die beschriebenen Aspekte, vor allem die Anschlussfähigkeit an alltagsweltliche und persönliche Themen und Gedanken, brachten die - zumindest in der Psychologie - für mich neue Erfahrung mit sich, bestimmte forschungsrelevante Fragen, mitunter auch jenseits des Seminarkontextes, nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen. Von Zeit zu Zeit ergab sich das Gefühl, etwas Neuem auf der Spur zu sein, etwas entdecken zu können.
•
Rolle des Lehrenden:
Die Darstellung dessen, was ich als meine Schlüsselerfahrungen wahrnehme, mag den Anschein erwecken, als sei für meine Lerngeschichte hauptsächlich die Person der Lernerin bedeutsam (gewesen). So war und ist es sicher nicht! Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, mein qualitativer Forschungsstil entwickele sich "aus mir heraus", war für diesen Eindruck die Person, die das Ganze als Lehrender begleitet hat, sehr wichtig. Häufig hatte ich im Seminar den Eindruck, dass im Vordergrund nicht eine Lehrer/innen- und Schülerinnen-Situation stand, sondern dass es sich um einen gemeinsamen Entdeckungs- und Lernprozess handelte, bei dem die Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema im Vordergrund stand und nicht (nur) die Vermittlung einer bestimmten Methode oder bestimmter Wissensinhalte. Ohne gegenseitige/s Vertrauen, Sympathie und Kompetenzzuschreibung wäre es mir sicherlich nicht möglich gewesen, mich in dieser Weise auf eine Forschungsmethode einzulassen. Immer wieder ist mir bewusst geworden, dass meine Lerngeschichte und mein Forschungsstandpunkt eng mit diesem inter-/ personellen Kontext verknüpft sind, etwa als es um die Überlegung ging, im Ausland oder an einer anderen Universität zu promovieren. Dieser Rekonstruktionsversuch von Kernaspekten meiner Lerngeschichte zeigt mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Was ich methodisch tue, für welche Methodenvarianten ich mich entscheide (z. B. in meiner Dissertation neben narrativen Interviews auch literarische, fiktionale Texte als Datenquelle zu verwenden), hat eine Menge mit mir, mit meinen Interessen, Vorlieben, Eigenheiten bzw. mit meinem forsche-
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
risch-sozialen Umfeld zu tun. Das mag meine Zufriedenheit mit meinem aktuellen Tun miterklären. Es erklärt vielleicht auch, warum und wie ich mich motiviere, unausweichliche Unsicherheiten und Risiken in einem selbstreflexiven GTMProzess auszuhalten, damit umzugehen, sie möglicherweise sogar manclunal reizvoll zu finden. Schön für mich! Aber was bedeutet das für mein Vorgehen, meine Resultate, für die Rezeption meiner Forschung? Mit Sicherheit weiß ich das nicht. Aber die Reflexion solcher Fragen erlaubt mir, zwingt mich sogar dazu, die Standpunktabhängigkeit meiner Herangehensweise mir und anderen deutlich zu machen und so auch sensibler für andere methodische - und damit zusammenhängend auch inhaltliche - Perspektiven zu werden.
4.3.3 Ich und das Thema Mein Forschungsthema ist das "Älterwerden in der Familie". Dabei handelt es sich um eine Problematik, bei der eindeutig ist, dass ich selbst davon auf die eine oder andere Weise betroffen bin: Jeder Mensch altert und - in irgendeiner Art - hat jeder Mensch einen familiären Kontext, dem er sich verbundener oder entfernter fühlt. In dem Forschungsseminar zum "Wohnen im Alter", an dem ich teilgenommen habe und das den Beginn meiner qualitativen Forschungstätigkeit und meiner Auseinandersetzung mit dem Thema "Alter und Familie" markiert, fand ich das Thema Alter zunächst nur mäßig anziehend. Die reflexive Beschäftigung mit meinen eigenen Vorstellungen und Erfahrungen, mit meinen persönlichen Altersbildem, meiner familiären Situation und der Austausch darüber unter meinen Mitstudierenden im Seminar ließen mein Themeninteresse im Laufe der Zeit jedoch anwachsen. Dabei waren meine persönlichen Resonanzen immer dann besonders ausgeprägt, wenn es innerhalb der Vielfalt von psychosozialen Aspekten des Alter(n)s um die familiäre Beziehungsgestaltung im Zusammenhang mit dem Älterwerden ging. Spannend erschien mir alles, was themenbezügliche Aspekte familiärer Konstellationen und Aushandlungen betraf. Dies kann damit zu tun haben, dass ich besonders in diesen Bereichen Probleme und Komplexitäten selber erlebte, während mir anderes innerhalb meines persönlichen Erfahrungshorizontes als "junger Mensch" (noch) fremd und weit weg schien. In jener Zeit machten meine Eltern sich Gedanken, was mit meinen Großeltern passieren könnte, wenn sie einmal stärker auf Hilfe angewiesen sein sollten. Im Fall der einen Familie schien die Lösung recht eindeutig: Diese Oma würde im Hause meiner Eltern gepflegt werden. Soweit ich weiß, gab es darüber jedoch mit
4.3 Meine Passungsgeschichte ... - Barbara Dieris
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ihr keine expliziten Absprachen, lediglich die planenden Überlegungen meiner Eltern. Im Fall der anderen Groß-lEltern kam diese Lösung nicht in Frage. Meine Eltern hatten jedoch auch hier eine Idee: Im Fall der Fälle könnten meine Großeltern in eine Altenwohnung in ihrer Nähe umziehen. Gespräche darüber und vorbereitende Aktionen (z. B. Besichtigungen) verliefen jedoch im Sande bzw. wurden von den Großeltern abgelehnt. Ich spürte und beobachtete, dass dieser Problemkomplex in der Familienatmosphäre etwas ziemlich Heikles, Knisterndes darstellte: Selbst im Falle der scheinbaren "theoretischen" Eindeutigkeit - dass meine Oma im Hause meiner Eltern gepflegt werden würde - gab es eine Menge "praktisch" Ungeklärtes. Aus diesen Gründen lag für mich die persönliche und psychologische Relevanz auf der Hand. Aus einem zunächst durch mein Studium vorgegebenen Problembereich war mehr und mehr ein Thema mit persönlicher Identifikation geworden. Es wurde für mich so bedeutsam und interessant, dass ich mich entschloss, meine Diplomarbeit zum Wandel der Eltern-Kind-Beziehung im Alter zu schreiben. Während der letzten fünf Jahre, in denen ich mich - inzwischen auch im Rahmen einer Dissertation - mit Alterns- und Familiendynamiken beschäftigte, ging der Prozess in meiner Familie weiter, zeitweise durchaus für die Beteiligten auf dramatische Art und Weise: Es musste mit gewandelten Gegebenheiten, akuten Erkrankungen und längerfristigen Kümmerbedürftigkeiten meiner Großeltern umgegangen werden. Es kam zu Umbrüchen, Belastungen, Konflikten und Entscheidungszwängen für alle familiär Beteiligten, für meine Großeltern, meine Eltern, meine Tante und meinen Onkel und auch für uns Enkelinnen und Enkel Bisherige Selbstverständlichkeiten, (Wunsch-) Vorstellungen und Planungen wurden dabei in Frage gestellt und teilweise über den Haufen geworfen. Sicherlich prägte mein persönlicher Erlebenshintergrund meinen Forschungsfokus: In meiner Familie fielen mir insbesondere bestimmte Rollen und Kommunikationsmuster auf - etwa im Sinne von: Wer bespricht was mit wem und mit wem nicht? Ich erlebte die Aushandlung der Kümmerrollen als eine besondere Familienaufgabe und Herausforderung. In meiner Dissertation geht es um solche Kommunikationsstrategien, wie in alternden Familien das Sich Kümmern festgelegt wird. Meine thematische Eigenverwicklung hatte dabei für mich heuristischen Wert bei der Herausarbeitung theoretischer Konzepte, stand als eine Datenquelle neben anderen Quellen - nämlich narrativen Interviews mit Angehörigen anderer Familien sowie literarischen Erzählungen. Durch meine Position als Enkelin und dadurch, dass ich nicht im Haus meiner Eltern sondern ein ganzes Stück entfernt wohne, finde ich mich im Vergleich zu meinen Eltern und Großeltern in gewisser Weise am Rande, in relativer Distanz, als - natürlicherweise teilnehmende - Beobachterin der alternsbedingten farniliä-
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
ren Kümmerprozesse. Ich komme "nach Hause" zu Besuch, mitunter auch mal für ein paar Tage, telefoniere regelmäßig mit meinen Eltern und seltener mit meinen Großeltern, in besonderen (Not-) Situationen übernehme ich kurzzeitig die Kümmerrol1e für meine Oma. Dabei nehme ich eine Menge wahr an mir und an meiner Familie, am Umgang mit dem Altern und dem Sich Kümmern. Diese Beobachtungen von Verhaltensweisen, emotionalen Reaktionen, Selbstverständlichkeiten oder Unmöglichkeiten sind unausweichlich, sie passieren automatisch. Sie werden von allen Familienmitgliedern gemacht und haben zunächst einmal nichts mit meinem Forschungsinteresse zu tun. So fühle ich mich auch nicht ständig, wenn ich mit meinen Eltern oder Großeltern spreche, in einer Forscherinnenposition, sondern immer in meiner besonderen, individuellen Rolle als Mitglied einer Familie - als Tochter, Enkelin, Nichte, Schwester. Das schließt nicht aus, dass ich für bestimmte Feinheiten und Aspekte, die ich in meiner Forschungsarbeit betrachte, auch in meinen alltäglichen familiären Zusammenhängen besonders sensibel und aufmerksam bin. Darüber hinaus versuche ich, diese Erlebnisse und Wahrnehmungen für meine Untersuchung nutzbar zu machen. Immer wieder bemühe ich mich um Explikationen und Reflexionen. So habe ich beispielsweise recht ausführlich in einer Art narrativem Selbstinterview meine familiären Kümmergeschichten schriftlich festgehalten. In einem Seminar hatte ich die Möglichkeit, anhand von persönlich-familiären Kümmergeschichten anderer Kommilitoninnen und Kommilitonen aus Enkelinnen- und Enkelperspektiven das Spezifische, aber auch die Bandbreite dieser familiären Position/en genauer zu betrachten. Wie bin ich mit der Gefahr umgegangen, innerhalb des gewählten Fokus' zu eng an eigenen Familien-/Kümmerbildern und -erfahrungen hängen zu bleiben und andere mögliche und praktizierte Ausprägungen zu übersehen? Ich habe mich zum einen bemüht, mit einer offenen Haltung an meine Daten heranzugehen. Ich habe bewusst nach Neuern, Überraschendem und Widersprüchlichem gesucht. Auch die Interviewsituation lässt es zu, jemanden, nachdem er seine Geschichte erzählt hat, nach von mir "Vermisstem" oder für mich "Fremdem" vertiefend zu fragen - und dies nicht nur im Vergleich zu meinen eigenen Erfahrungen sondern auch zu anderen, bereits geführten Interviews oder zum Wissen aus der Forschungsliteratur. Zudem habe ich erfahren, dass das Vorstellen und Diskutieren des jeweiligen Auswertungs-/Modellstands mit Anderen unerlässlich für das Erkennen möglicher Einseitigkeiten bzw. blinder Flecken ist. Hierfür bot sich mirneben meinem Freundes- und Verwandtenkreis - vor allem das Diplomandenund Doktorandenkolloquium meines Betreuers an, in dem ich regelmäßig Gelegenheit bekam, Interviewausschnitte gemeinsam mit anderen Mitgliedern zu kodieren und Modellierungskomponenten vorzustellen. Auch schien es mir mitunter hilfreich, meinem Betreuer einen Einblick in meinen persönlichen thematischen
4.4 Resümee
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Hintergrund bzw. diesbezüglich jeweils aktuelle Dynamiken zu geben: Durch seinen externen Blick auf mein Forschungsthema "und mich" wurde eine gewisse Supervision möglich, die Hinweise auf mögliche Verzerrungen geben konnte. So habe ich beispielsweise die ursprüngliche Benennung der Kernkategorie des "beschweigenden Redens" modifiziert in "Sprechen und Schweigen", da die erstgenannte Formulierung eine - auch durch meine eigenen Erfahrungen geprägte negativ getönte Sichtweise auf implizite Formen von Kümmeraushandlung in sich trägt. Ich erlebe meine zurückliegenden beiden Forschungsarbeiten als den Lern- und Verstehensversuch über einen psychosozialen Gegenstand, der auf interessante und fruchtbare Weise hin und her pendelt zwischen Eigenem (Erleben, Beobachten, Denken, Handeln, Funktionieren etc.) und Fremdem bzw. Anderem (Erleben, Beobachten, Denken, Handeln, Funktionieren etc.). Hier ergibt sich - wie auf vielen anderen Ebenen eines GTM-Forschungsprozesses - die Möglichkeit, unterschiedliche und vielfältige Perspektiven zu berücksichtigen, miteinander zu vergleichen und daraus theoretischen Gewinn zu ziehen.
4.4
Resümee
Die beiden präsentierten Geschichten der verquickten Methodenaneignung und Projektdurchführung illustrieren die Bedeutung und Relationen unterschiedlicher Ebenen und Kontexte der jeweiligen Forschungsprozesse - des Problemthematischen, des Methodischen, des Institutionell-Kontextuellen und des IndividuellPersönlichen. Derartige Bezüge und Wechselwirkungen sind nach unserer Überzeugung bei jeder Art lebensweltlich ausgerichteter sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit von Bedeutung - sie werden im "offiziellen" Diskurs jedoch kaum einmal offen zur Sprache gebracht. Ihre Explikation und Reflexion ist - so wird an dieser Stelle noch einmal aufgezeigt - kein Ausfluss der persönlichen Neigung zu Gefühlsseligkeit oder zu narzisstischer Selbstbespiegelung. Ein derartiges Vorgehen lässt sich vielmehr methodologisch-programmatisch als Erkenntnisfenster nutzen und fruchtbar machen: Einerseits kann so der Einblick in die Möglichkeiten, Grenzen und Beschränktheiten eigener Sehweisen und Erkenntnis befördert werden (über die Aufklärung von Annäherungs- und Vermeidungsneigungen, persönlichen Verwicklungen, Werthaltungen etc.), andererseits ergeben sich hierbei themen- und vorgehensbezogene Inspirationen, es eröffnen sich Ideenräume und Orientierungen für eine gegenstandssensitive und kreative Forschung jenseits vorgegebener Denkschablonen.
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4 Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils
Die Explikation und Offenlegung derartiger Ebenen-Verquickungen, ihre selbstreflexive Bearbeitung und die so erreichbare heuristische Blickerweiterung müssen von sozialwissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern (bzw. Autorinnen und Autoren) hinsichtlich der kontextuell gegebenen Bedingungen (Erwünschtheit oder Unerwünschtheit) kalkuliert und kalibriert werden: Welcher "Mut" ist dafür nötig und was sind mögliche Konsequenzen? In vielen institutionell-disziplinären Kontexten gilt diese subjektfokussierte und selbstreflexive Prägung der Forschungsmethodologie gegenwärtig als heikel oder verpönt. Bei Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern trifft eine solche Forschungsorientierung nach unserer Erfahrung jedoch durchaus auf Interesse und Motivations-Resonanz. In sozialwissenschaftlichen Diskursen können neue Perspektiven erwachsen, wenn eine solche methodologische Ausrichtung durch Beispiele produktiver "persönlicher Projekte" sichtbar wird und Anhänger gewinnt. Das Regelwerk disziplinärer Fachkulturen beruht auf Konventionen. Diese sind veränderbar und wandeln sich - so oder so.
Literatur
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