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Rückkehr aus dem Reich der Toten Henry Clement 1. An einem Vorfrühlingsabend, wenn die Luft noch angenehm frisch ist, gibt es nichts Schöneres, als die Madison Avenue in den New Yorker East Sixties entlangzubummeln. Die Schaufenster der Kunstgalerien und der kleinen, teuren Spezialitätenläden sind noch erleuchtet, und man kann immer wieder stehenbleiben und sich die vielen hübschen Sachen ansehen. Noch gemütlicher ist es, wenn man einen Hund spazierenführt. Die Gegend ist immer noch sehr vornehm, wenn auch viele der alten Villen zusammengefallen sind und neuen Apartmenthäusern Platz gemacht haben, die trotz ihres mondänen Stils eine Aura von diskretem Luxus ausstrahlen. Aber in den Seitenstraßen, besonders zwischen der Fifth und der Madison Avenue, in unmittelbarer Nähe des Central Park, lebt immer noch die alte New Yorker Garde in ihren Sandsteinhäusern. Das Haus Nummer sechsundzwanzig in der East 67th Street war etwas größer als seine Nachbarbauten. Es hatte vier Stockwerke, war sehr breit, und die Kalksteinfassade wirkte ziemlich imposant. Aber an jenem Abend um halb neun warfen ihm die meisten Passanten nur einen flüchtigen Blick zu. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Hunde zu rufen oder sich mit ihren Begleitern zu unterhalten, um vor dem Haus stehenzubleiben und auf die Fenster mit den dicht geschlossenen Vorhängen zu blicken, durch die nur schwaches Licht drang. Und kein einziger Spaziergänger machte sich die Mühe, zu den dunklen Fenstern im zweiten Stock hinaufzusehen. Eines jener unbeleuchteten Fenster war geöffnet, und eine dünne Musselingardine bauschte sich im Abendwind. Eine Frau lag schlafend im Dunkel, ihr Gesicht war verzerrt vor innerer Anspannung und Angst. Mrs. Sarah Wilson war Ende Fünfzig, aber sie sah noch älter aus. Sie hatte eine spitze weiße Nase, und ihre Augen waren von unzähligen zarten Krähenfüßen umrahmt. Ihre schmalen Lippen
zitterten im Schlaf, und ihr graues Haar, das in dünnen Strähnen auf dem Kissen lag, wirkte ungepflegt. Drückende Stille lag über den massiven, altmodischen Möbeln des Schlafzimmers, über den silbernen Kämmen und Bürsten auf dem Toilettentisch, über den Flaschen, die auf der Marmorplatte des Nachtschränkchens standen. Sarah Wilson seufzte im Schlaf, wälzte sich unruhig hin und her. Dann lag sie wieder stumm und reglos in ihrem Bett, nur die langen Finger, schmucklos bis auf den schmalen goldenen Ehering, zerrten an der fadenscheinigen malvenvioletten Überdecke, als wären sie entschlossen, nicht auch noch den letzten Kontakt mit der realen Welt zu verlieren. Und während sie schlief, kroch ein klirrendes Geräusch ins Zimmer. Die zarten metallischen Klänge schienen aus einer verborgenen Spieldose zu kommen, formten sich zu einem klagenden kleinen Lied. Es war eine Melodie, die man nicht so leicht vergessen konnte – halb fröhlich, halb melancholisch. Eine wehmütige Walzererinnerung aus dem Wien vergangener Tage – wenn jenes romantische Wien wirklich jemals existiert hatte. Und die Musik klang merkwürdig gedämpft… Langsam hoben sich Sara Wilsons Lider. Einen Augenblick lang starrte sie durch das graue Dunkel, auf die vertrauten Umrisse ihrer Möbel, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Dann drangen die Klänge der Spieldose in ihr Bewußtsein. Reglos lag sie da, nur ihre Finger zupften nervös an der Satindecke, als sie der seltsamen Musik lauschte. Wie eine düstere Wolke legte sich die Angst auf ihr altes, müdes Gesicht. Ihre hellen Augen glitten suchend durch das Schlafzimmer, versuchten die schwarzen Schatten in den Ecken zu durchdringen. Sie räusperte sich, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und flüsterte: »Elaine?« Sie erhielt keine Antwort. Keine Stimme, nicht einmal ein leiser Schritt war zu hören. Nur die klimpernden Klänge aus der Spieldose drangen zu Sarah Wilson. Sie preßte die dünnen Hände an die Ohren, um diese Töne nicht mehr hören zu müssen. Aber der melancholische Walzer verfolgte sie hartnäckig, schien die Schatten ringsumher zu beleben. Ihr
Herz klopfte heftig und schmerzhaft gegen die Rippen. Und doch waren die Herzschläge nicht laut genug, um diese quälende Musik zu übertönen. Sie erhob sich, griff nach ihrem Morgenmantel und legte ihn um ihre mageren Schultern. Langsam ging sie auf die massive Tür zu. Sie war verschlossen. Sarah Wilson zögerte. Minutenlang stand sie im Dunkel, fuhr sich mit beiden Händen durch das schüttere Haar. Dann drehte sie den Türknauf und öffnete die Tür. Auch die Halle war von Schatten erfüllt. Sie blickte auf die dunklen Damasttapeten, auf denen die Bilder in ihren schweren, geschnitzten Goldrahmen wie schwarze Löcher wirkten. Die Türen der beiden anderen Schlafzimmer waren geschlossen. Voller Unbehagen sah Sarah Wilson zu der Treppe hinüber, die zu den oberen Stockwerken führte. Schweigendes Dunkel lag auf den Stufen. Nur die Melodie war immer noch zu hören, lauter jetzt und eindringlicher. Lautlos ging Sarah Wilson den Flur entlang, ihre Hand tastete über das glatte Holzgeländer. Die Treppe, die ins Erdgeschoß hinabführte, war breiter als die andere, und ihr Marmor schimmerte weiß in der Dunkelheit. Mit zitternden Händen zog sie den Morgenmantel enger um sich. »Elaine?« flüsterte sie. »Elaine? Bist du das?« Sie wartete vergebens auf Antwort. Und die Spieldose klimperte weiterhin ihr leises trauriges Lied. Langsam stieg Sarah Wilson die breite, geschwungene Marmortreppe hinab. Nur eine schwache Glühbirne brannte in der Eingangshalle und half ihr, die Umrisse der massiven Haustür zu erkennen, den Bogengang, der in das langgestreckte Wohnzimmer führte. Hinter dem Wohnzimmer lag der Speisesaal, aus dem kein Laut herandrang. Auf der anderen Seite der Halle mit ihrem schwarzweiß gemusterten Marmorboden führte eine hohe Eichentür in die Bibliothek. Langsam und angstvoll stieg sie die Stufen hinab, stützte sich auf das Geländer, von den Klängen des Walzers verfolgt. Schließlich erreichte sie keuchend den Fuß der Treppe. Sie blieb stehen, versuchte mit ihren Blicken das Dunkel zu durchdringen. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle eng. Angespannt lauschte sie. »Elaine?« flüsterte sie noch einmal.
Plötzlich verstummte die Musik, als hätte jemand auf einen Hebel gedrückt und die Spieldose ausgeschaltet. Sie stand in der atemlosen Stille, und eisige Angst stieg in ihr auf. Sie war in ihrem eigenen Haus. Die meisten Jahre ihres Lebens hatte sie hier verbracht. Sie kannte jede Ecke dieses Hauses, jedes Möbelstück, jeden Teppich, jedes Bild. Mit verbundenen Augen könnte sie durch ihr Haus gehen, sie würde sich ohne Schwierigkeiten zurechtfinden. Und doch war sie von einer unerklärlichen verzweifelten Furcht erfüllt. Und in diesem Augenblick spürte Sarah Wilson, daß außer ihr noch jemand im Haus war. Irgend jemand stand hinter ihr. Langsam drehte sie sich um und blickte die Treppe hinauf. Und dann stieß sie einen zitternden Angstschrei aus. 2. Sarah Wilson sah die Umrisse der Gestalt, die da im Dunkel stand – auf der obersten Stufe. Ein Schatten, der drohend aufragte… Es war unmöglich zu erkennen, wer oder was dieser Schatten sein mochte. Angstvoll umklammerte sie mit einer Hand das Geländer und preßte die andere auf ihr Herz, als sie nach oben starrte. Die Stimme, die aus ihrer engen Kehle kam, war kaum zu vernehmen. »Elaine?« Und jetzt tauchte die Gestalt aus dem Dunkel auf und begann langsam die Treppe herabzusteigen. Es war ein junges Mädchen von zwanzig Jahren - schlank, mit langen Haaren und barfuß, gekleidet in verblichene Bluejeans und eine Bluse, deren Zipfel unter der Brust verknotet waren. Sarah preßte die Hände auf den Mund »Oh – Ruth!« stammelte Sarah. »Du bist es…« »Du benimmst dich lächerlich, Mutter«, sagte Ruth Wilson ungeduldig. Sie war vor der zitternden Frau stehengeblieben. Blinzelnd sah Sarah Wilson ihre Tochter an. Sie sagte nichts. »Warum liegst du nicht im Bett?« wollte Ruth wissen. »Ich habe etwas gehört«, sagte Sarah Wilson mit dünner Stim-
me, wie ein verängstigtes Kind. Ruth Wilson machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und warum sind alle Lampen abgeschaltet?« fragte sie. Sie durchquerte die Halle, ging auf einen Lichtschalter zu und drückte darauf. Der große Kristallüster tauchte ihre Gesichter in kaltes, grelles Licht. »Du hättest dir den Hals brechen können«, sagte Ruth. »Es war Elaine«, erklärte Sarah Wilson. Ruth gab keine Antwort. »Ich weiß es«, sagte Sarah und sah ihre Tochter flehend an. Ruth ging auf sie zu, ignorierte ihre Bemerkung, den Ausdruck von Panik in dem müden, alten Gesicht. »Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat. Du sollst im Bett bleiben.« »Du glaubst, daß ich verrückt bin«, flüsterte Sarah Wilson. Ruth seufzte voller Ungeduld. »O Mutter!« Sarah Wilson schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß du das denkst.« Ruth nahm ihren Arm. »Komm jetzt, ich bringe dich in dein Zimmer. Der Doktor hat gesagt, daß du viel Ruhe brauchst, und deshalb gehst du jetzt wieder ins Bett. Glaub mir, ich meine es nur gut mit dir.« Sie führte ihre Mutter die Stufen hinauf. Aber auf halber Höhe der Treppe blieb Sarah Wilson stehen. »Ruth…«, sagte sie zögernd. »Was ist denn, Mutter?« Sarah Wilsons Stimme klang unsicher. »Ich wünschte fast, Mark würde nicht kommen.« Ängstlich sah sie in Ruths Gesicht, ihre Augen flehten um Zustimmung. Aber Ruths Miene war abweisend. »Du weißt, daß du dir das nicht wirklich wünschst, Mutter.« Sie legte den Arm um Sarah Wilsons Schultern, versuchte sie die Treppe hinaufzudrängen. Aber ihre Mutter blieb hartnäckig stehen. Ihr Atem ging schwer, ihr Gesicht war aschfahl. »Ich weiß nicht mehr, was ich will«, flüsterte sie. »Ich kann mir nicht helfen, Ruth… Ich habe solche Angst.« Ruth blickte hilfesuchend zum ersten Stock hinauf und zuckte
dann mit den Schultern, als wisse sie, daß sie ohnehin vergeblich auf Beistand hoffte. Ihre Mutter stand reglos neben ihr, als wäre sie aus kaltem Stein gemeißelt. Eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bis sie endlich einen zitternden Seufzer ausstieß. Ihr Körper schien sich zu entspannen, und sie ließ sich von Ruth die restlichen Stufen hinauf und in ihr Schlafzimmer führen. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Mutter«, sagte Ruth besänftigend. »Deine Angst ist völlig unbegründet.« Hinter ihnen dehnte sich die lange, geschwungene Marmortreppe – leer bis auf die Schatten, die das kalte Licht des Kristallüsters auf die weißen Stufen warf. 3. Wenige Minuten nachdem Ruth ihre Mutter ins Bett gebracht hatte, hielt ein Taxi vor dem Haus in der East 67th Street. Zwei Menschen stiegen aus und warteten, während der Fahrer den Gepäckraum öffnete und zwei Koffer herausnahm, an deren Griffen Fluglinienschilder hingen. Der Mann bezahlte den Fahrer und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Der Wagen fuhr davon und verschwand im Verkehrsstrom von Manhattan. Das junge Paar blieb einen Augenblick lang vor dem Portal stehen, im Licht der Straßenlampen. Mark Wilson blickte auf die Fassade des Hauses, das er so gut kannte. Dies war sein Heim, in dem er den Großteil seines einunddreißigjährigen Lebens verbracht hatte. Die widersprüchlichsten Gefühle regten sich in ihm. Aber seine klaren Gesichtszüge verrieten nicht, was er dachte oder empfand. Laura Wilson sah zu ihm auf und wünschte sich, daß ihr Mann weniger streng und zurückhaltend wäre, daß er sie an seinem Gefühlsleben teilhaben ließe. Sie war jung, Anfang Zwanzig, und sehr empfindsam. Und sie spürte fast schmerzhaft, wie verkrampft Mark war, weil er sich ständig bemühte, nichts von seinen Emotionen zu verraten. Laura war keine Schönheit. Aber sie war hübsch auf eine erfrischende amerikanische Art. Mit der Zeit würde sie verblühen wie eine jener vergessenen Frühlingsblumen, die man manchmal zwischen den Seiten von Gedichtbänden findet.
Sie war schüchtern, leicht zu beeinflussen, unsicher und stets bemüht, anderen Menschen gefällig zu sein. Und vor allem war sie bestrebt, Mark jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Als sie jetzt ihren Blick von Mark abwandte und das Haus betrachtete, das so sehr zu seinem Leben gehörte und das sie nun zum erstenmal sah, war ihr Interesse von leiser Nervosität überschattet. Das Haus erschien ihr viel zu groß für eine einzige Familie. Vielleicht, dachte sie, kam ihr das nur so vor, weil sie noch nie in New York gelebt hatte. Jedenfalls fühlte sie sich fremd hier. In dieser riesigen Metropole hatte sie das Gefühl, die kleine ruhige Stadt im mittleren Westen, in der sie geboren und aufgewachsen war, läge auf einem anderen Stern. Mark sah sie an. »Nervös?« fragte er. »Ein wenig«, erwiderte sie mit einem zaghaften Lächeln. »Wir können es uns immer noch überlegen«, sagte er. »Wenn du lieber in einem Hotel wohnst…« Sie straffte die Schultern und sah ihm in die Augen. »So nervös bin ich nun auch wieder nicht«, antwortete sie und versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. Sie wollte hinzufügen, daß nichts ihr Angst einjagen konnte, wenn er an ihrer Seite war. Aber sie wußte aus Erfahrung, daß Mark auf solche Bemerkungen mit Unbehagen reagierte. Er zuckte mit den Schultern und griff nach den beiden Koffern. Er drehte sich nicht um, als er den Gehsteig überquerte – so sicher war er, daß sie ihm folgen würde. Er ignorierte den großen Windhund, der an einer langen Leine am Haus vorbeigeführt wurde, und stieg die breiten Kalksteinstufen zu der massiven geschnitzten Eingangstür mit ihrem Messingklopfer hinauf. Laura stieg ihm nach. Es überraschte sie, daß die Fenster des Hauses alle so dunkel waren. Es überraschte sie auch, daß Mark den Türklopfer nicht hob. Sie stand hinter ihm, wartete und schwieg, aus Angst, sie könnte ihn mit einer unpassenden Bemerkung verärgern. Er zog seinen Schlüsselbund hervor, betrachtete die Schlüssel und steckte dann einen davon ins Schloß. Lautlos glitt die Tür nach innen. Mark wandte sich um und ließ Laura den Vortritt. Mit großen Augen betrat sie die Eingangshalle. Ein schwerer
dunkler Lüster hing von der Decke. Sie ließ den Blick über den schwarzweiß gemusterten Marmorfußboden wandern, über die großen Spiegel in ihren geschnitzten Rahmen. Ein schwacher Blütenduft lag in der abgestandenen Luft. Mark folgte seiner Frau in die Halle, lautlos fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. An ihrer Seite blieb er stehen, blickte sich mit kaum verhülltem Widerwillen um. »Nichts hat sich verändert«, sagte er. »Nichts…« Er unterbrach sich und sah sie fragend an. »Nun, wie gefällt dir das Haus?« Laura dachte, daß es noch zu früh war, um sich ein Urteil über das Elternhaus ihres Mannes zu bilden. Sie hatte noch nichts davon gesehen, außer dieser geräumigen, leeren Eingangshalle. Aber sie wußte, daß Mark auf eine Antwort wartete. Also mußte sie irgendetwas sagen. Hilflos suchte sie nach Worten. »Es – ist sehr groß.« »Das Haus hat vierzehn Räume«, sagte er. »Du kannst sie zählen. Es sind genau vierzehn.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, jedenfalls bin ich hier aufgewachsen. Du wolltest das Haus doch sehen, nicht wahr?« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Wärst du lieber in ein Hotel gegangen? Bereust du es, daß du mich hierhergebracht hast?« Er runzelte die Stirn. »Ich hasse dieses Haus. Ich wünschte, es würde bis auf die Grundmauern niederbrennen.« Abrupt ließ sie seinen Arm los. Es war ihr, als hätte sie sich an seiner Bitterkeit verbrannt. »Mark!« rief sie. »Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen!« Er schloß sekundenlang die Augen. »Als ich noch ein Kind war, glaubte ich, daß in jeder Ecke Geister lauerten. Und nachts hörte ich seltsame Geräusche. Dieses Haus ist ein finsteres Loch, Laura - ein häßliches, finsteres Loch.« Laura lachte nervös und unsicher. »Willst du mir Angst machen?« Er sah zu Boden, in seine eigenen Gedanken versunken, gab ihr keine Antwort. »Nun«, fuhr sie fort und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln, »das würde dir nicht gelingen. Ich finde das Haus sehr schön.«
Sie wandte sich von ihm ab und wies auf den Torbogen. »Was liegt denn dahinter?« fragte sie in spöttisch-geheimnisvollem Ton. »Eine dunkle Geisterhöhle?« »Nein – der Salon«, erwiderte er tonlos. »Oh, ich habe mir schon immer gewünscht, einen Salon zu haben«, erwiderte sie mit gespielter Fröhlichkeit. Er blieb mitten in der Halle stehen, sah ihr schweigend nach, als sie zur Tür der Bibliothek ging. »Und hier ist die Bibliothek, nicht wahr?« Er hob die Brauen. »Wieso weißt du das?« Sie drehte an dem schweren Knauf aus Messing und öffnete die Tür. »Ich wußte es nicht«, entgegnete sie. »Es ist mir nur so eingefallen…« Sie trat in den großen dunklen Raum, und Mark folgte ihr. »Man kann ja gar nichts sehen«, sagte sie. »Mach doch bitte Licht.« Er ging zur Wand und drückte auf den Lichtschalter. Auch wenn die Deckenleuchte brannte, wirkte der Raum düster. Er war mit dunklem Holz getäfelt, und die Bücherregale reichten bis zur Decke hinauf. Ein schwerer geschnitzter Schreibtisch mit einem abgewetzten Lehnstuhl und ein durchhängendes Ledersofa waren die einzigen Möbel. An einer Wand hing eine Sammlung afrikanischer Masken. Laura sah sich um. »Hier könnte man sich wirklich fürchten«, sagte sie halb spöttisch, halb ernst. »Das war das Lieblingszimmer meines Vaters«, erklärte Mark in gleichgültigem Ton. »O Mark!« rief sie. »Es tut mir so leid. Aber das konnte ich doch nicht wissen…« Aber es war, als hätte sie nicht gesprochen. Er sah sich um in dem großen Raum, seine Gedanken schienen in die Vergangenheit zurückzuwandern. Dieses Haus ist ein Teil seines Lebens, dachte sie. Ein Teil, den sie nicht fassen konnte. Würde sie jemals in jene Geheimnisse eindringen können? »Mein Vater saß oft stundenlang hier«, fuhr er fort. Und voller Bitterkeit fügte er hinzu: »Nur hier fand er Zuflucht.« »Zuflucht?« wiederholte Laura. »Wovor mußte er denn fliehen?«
»Vor meiner Mutter.« Sie ließ die Finger über die leere, polierte Schreibtischplatte gleiten. Sie wußte, daß sie nun irgend etwas sagen mußte. Aber sie war sich nicht sicher, was nun von ihr erwartet wurde. »Ich werde sehen, ob ich jemanden finden kann«, sagte Mark. »Bleib inzwischen hier.« Er ging in die Halle hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Unbehagen erfüllte Laura, als sie in der großen dunklen Bibliothek allein war. Solche Räume hatte sie bisher nur in Filmen gesehen. Sie ging zu einem der Regale, versuchte die Buchtitel zu lesen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Und plötzlich hatte sie das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wirbelte herum. Dann sah sie, daß es nur eine der afrikanischen Masken gewesen war, deren Blick sie im Rücken gespürt hatte. Das Gesicht mit der hohen, gewölbten Stirn, den vorstehenden Zähnen, den weißen toten Augenhöhlen und dem wirren, verstaubten Haar erschien ihr ungewöhnlich häßlich. Laura mußte über ihre sinnlose Angst lächeln. Sie ging zu der Maske und blickte sie herausfordernd an. »Buh!« machte sie. Aber ihr Mut war nicht echt. Noch immer war sie von quälendem Unbehagen erfüllt. Unwillkürlich erschauerte sie. Dann drehte sie sich mit einem gezwungenen Lachen zu Mark um, wollte ihm beweisen, daß sie sich nicht wirklich fürchtete… Aber natürlich, Mark war ja nicht da. Sie hatte vergessen, daß Mark sie in dem großen, düsteren Raum allein gelassen hatte. Plötzlich war ihr eiskalt. Sie sank auf das Ledersofa, verschränkte zitternd die Arme und wartete verzweifelt auf Marks Rückkehr. 4. Inzwischen war Mark die Treppe zum zweiten Stock hinaufgestiegen. Er ging auf das Schlafzimmer seiner Mutter zu, als er rasche Schritte hörte, die von der zweiten Etage herabkamen. Es war Ruth. »Mark!« rief sie aufgeregt, noch bevor sie den zweiten Stock erreicht hatte.
Er wandte sich zu ihr um, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, und er lächelte erfreut. »Ich dachte, ich hätte jemanden gehört…« Sie war auf halber Höhe der Holztreppe stehengeblieben. »Hallo, Ruthie!« sagte er. Sie lief die restlichen Stufen herab, warf sich in seine Arme. »Mark!« rief sie atemlos. »Mark!« Sie preßte sich an ihn, und dann sah sie unsicher zu ihm auf, als müsse sie sich vergewissern, daß er es wirklich war. »Wann bist du angekommen?« fragte sie. »Vor etwa fünf Minuten. Das Taxi ist in Rekordzeit vom Kennedy-Flughafen hierhergefahren, ob du es nun glaubst oder nicht.« Er küßte sie auf die Stirn, und dann schob er sie sanft von sich, um sie anzuschauen. »Wie geht es dir, Ruthie?« »Ich bin froh, daß du hier bist – also geht es mir gut.« Sie hatte ihren älteren Bruder bewundert, seit sie denken konnte. Liebevoll blickte sie zu ihm auf. »Mark, du siehst einfach großartig aus.« Und ein wenig neidisch fügte sie hinzu: »Es tut dir sichtlich gut, in Rom zu leben.« Er zuckte mit den Schultern. »Ein Job wie jeder andere. Sprechen wir lieber von dir.« Er grinste. »Hast du ein paar neue Freunde, Ruthie?« »Nur einen«, entgegnete sie würdevoll. Er hob die Brauen, und sie beantwortete seine unausgesprochene Frage. »Oh – Mutter ist nicht mit ihm einverstanden.« »Natürlich nicht«, sagte Mark. Er wies mit dem Kinn in die Richtung von Mrs. Wilsons Schlafzimmer. »Ist sie noch auf?« Ruth nickte. »Unglücklicherweise.« Mark ging auf die Tür seiner Mutter zu. »Warte!« rief Ruth ihm nach. »Nur einen Augenblick. Erzähl mir von deiner Frau!« »Was willst du wissen?« »Was werde ich schon wissen wollen?« stieß Ruth ungeduldig hervor. »Wie ist sie?« »Du kannst sie selbst fragen«, erwiderte er. »Sie wartet unten in der Bibliothek.« Ruth sah ihren Bruder verwundert an.
»Sie ist hier?« Er nickte. »Du bist erst zwei Wochen mit ihr verheiratet – und du bringst sie hierher – in dieses Haus?« Sie starrte ihn ungläubig an. Mark ignorierte ihre Frage. »Geh hinunter und kümmere dich um sie. Ich möchte jetzt Mutter begrüßen.« »Mark…« Ruth schüttelte langsam den Kopf. »Du mußt verrückt sein.« Einen Augenblick lang sahen sie einander schweigend an. Dann wandte Mark sich ab. »Geh jetzt zu ihr«, bat er. »Mark…« Er runzelte ungeduldig die Stirn. »Was noch?« »In welchem Zimmer wollt ihr wohnen?« »Sei nicht komisch, Ruth!« stieß er hervor. »Ich warne dich.« Wortlos wandte Ruth sich ab und stieg die Treppe hinunter. Fast unmerklich straffte Mark die Schultern, bevor er leise an die Tür seiner Mutter klopfte. 5. Die Nachttischlampe brannte. Aber obwohl das Licht, das durch den rosa Schirm drang, Sarah Wilsons Züge weicher erscheinen ließ, sah Mark die Spuren des Alters und der Sorge in dem einst schönen Gesicht. Sie lag im Bett. Er saß neben ihr in dem kleinen, zierlichen Lehnstuhl, an den er sich so gut erinnern konnte. Der Sessel war mit verblichenem malvenfarbenem Satin bezogen. Ihre schmale Hand mit dem dünnen Ehering lag auf seinem Arm, und sie lächelte ihn liebevoll an. Die Haut um ihre hellen Augen wirkte wie vergilbtes Pergament. »Zwei ganze Jahre!« wiederholte sie immer wieder. Plötzlich hob sie die Brauen. »Ich glaube, du bist gewachsen. Steh doch auf! Ich möchte es sehen.« Mark preßte die Lippen zusammen und unterdrückte das Gefühl der Ungeduld, das in ihm aufzusteigen drohte, trotz all seiner guten Vorsätze.
»Ich glaube nicht, daß ich noch gewachsen bin, Mutter«, sagte er kurz angebunden. Sie merkte nicht, daß er sich nur mühsam beherrschte, verträumt lächelte sie. »Der Leiter des römischen Büros… Ich bin so stolz auf dich, Mark.« Sarah Wilson richtete sich auf. »Ich kaufe dein Magazin jede Woche.« Er erinnerte sie nicht daran, daß er ihr ein Abonnement geschenkt hatte. Er sagte nur: »Es ist nicht mein Magazin, Mutter. Ich bin nur ein Angestellter des Verlages.« »Ja, aber…« »Was sagt der Arzt?« fragte er rasch. »Ich soll mich ausruhen – immer nur ausruhen«, antwortete sie seufzend. »Pillen nehmen…« Ihre Stimme erstarb. Sie schwieg eine Weile, und dann sagte sie eifrig: »Du hast also wieder geheiratet. Mark, ich war so glücklich, als du es mir geschrieben hast.« »Sie wird dir gefallen, Mutter«, versicherte er. »Sie ist sehr warmherzig und liebenswert.« »Das freut mich«, sagte sie aufatmend. Dann biß sie sich auf die Unterlippe. »Weiß sie Bescheid über…«, sie zögerte, bevor sie den Namen aussprach - »… über Elaine?« »Sie weiß, daß ich schon einmal verheiratet war«, erwiderte Mark mit kalter Stimme. »Mehr braucht sie nicht zu wissen.« Dann fügte er etwas sanfter hinzu: »Du wirst mir doch helfen?« Sarah starrte ihn verwirrt an. »Ich? Ich soll dir helfen?« »Ja, Mutter – du. Ich möchte, daß du jenes Thema vermeidest, solange wir hier sind.« »Hier?« Ihre Finger gruben sich in seinen Arm. »Du hast sie hierhergebracht?« Marks Gesicht war ausdruckslos. »Ich versuchte es ihr auszureden, aber sie wollte unbedingt das Haus sehen.« »Aber ich dachte – ich…«, stammelte Sarah Wilson. »Ich war so sicher, daß du…« »Laura ist hier, Mutter«, sagte er mit fester Stimme. Angst verzerrte ihr bleiches Gesicht. »Aber das geht nicht, Mark. Sie darf nicht hierbleiben…« »Es wird schon alles gutgehen«, versicherte er. »Wenn du nicht davon sprichst…«
Sarah Wilson schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du verstehst das nicht. Mark. Du mußt sie sofort aus dem Haus bringen.« »Das werde ich auch tun, Mutter. In ein paar Tagen reisen wir ab…« »Nein!« unterbrach sie ihn. »Ihr müßt noch heute gehen – noch heute abend!« »Mutter, das ist ein bißchen viel verlangt«, sagte er geduldig. »Wir sind gerade mehr als viertausend Meilen geflogen, und du kannst wirklich nicht erwarten, daß wir…« Wieder fiel sie ihm ins Wort. »Sie kann nicht hierbleiben!« Einen Augenblick lang lag Schweigen zwischen ihnen – gespanntes Schweigen. Mark ballte die Hände. Alles war wieder so wie früher. Genauso, wie er es befürchtet hatte. Deshalb war er nur widerwillig in das Haus seiner Mutter zurückgekehrt. Aber er riß sich zusammen. Und als er sprach, klang seine Stimme ruhig und sachlich. »Es tut mir leid, Mutter, daß du Laura nicht hier haben willst. Aber sie ist meine Frau.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Oder hast du das vergessen?« »Nein«, schrie sie, »ich habe es nicht vergessen!« Flehend sah sie ihn an. »Deshalb will ich doch, daß…« Er sah, wie ihr Tränen in die hellen Augen stiegen. »Mark!« flehte sie. »Ich meine es doch nur gut mit dir.« »Ich wußte, daß du das früher oder später sagen würdest«, erwiderte er mit einem bitteren Lächeln. Sekundenlang schloß er die Augen und wandte sich von ihr ab. Dann sagte er so beherrscht wie möglich: »Ich muß jetzt unsere Koffer heraufholen. Wir sehen uns morgen, Mutter.« Aber sie umklammerte noch immer seinen Arm. »Bitte, Mark!« Mit dumpfer Stimme sagte er: »Ich wollte nicht zurückkommen. Ich hätte es nicht tun sollen.« »Aber«, begann sie, »ich…« Er unterbrach sie. »Mutter…« Er bemühte sich, seine wachsende Erregung zu unterdrücken, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben. »Ich habe dir gesagt, daß ich mit Laura ein paar Tage hierbleiben
werde, und es wird dir nicht gelingen, mich von diesem Vorhaben abzubringen. Wenn du sie siehst… Ich würde diese Begegnung gern verhindern, aber das wird wohl nicht möglich sein. Ich bitte dich – wenn du sie siehst, sag nichts, was sie erschrecken könnte. Nichts!« wiederholte er eindringlich. »Denn wenn du etwas sagst, so werde ich nie wiederkommen. Ich meine es ernst, Mutter. Also bitte – überleg dir gut, was du zu Laura sagst. Sonst hast du mich zum letztenmal gesehen.« Er stand auf, verließ das Zimmer, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Blinzelnd sah Sarah Wilson auf die geschlossene Tür, die ihr wie eine neue Barriere zwischen ihr und ihrem Sohn erschien. Und es gab doch schon so viele Barrieren zwischen ihnen. Ihre Hand sank auf die malvenfarbene Seidendecke, rastlos zupften ihre dünnen Finger an dem dünnen Stoff. Für wenige Minuten hatte ein Hoffnungsstrahl ihr düsteres Schlafzimmer erhellt. Aber jetzt spürte sie wieder, wie die gräßliche Einsamkeit sie umfing – die Einsamkeit, der sie vergeblich zu entfliehen versuchte. 6. Nun, ich habe mein Bestes getan, dachte Mark wütend, als er in die Eingangshalle hinabging, um die Koffer zu holen. Er hatte versucht, all die begrabenen Gefühle ruhen zu lassen. Er hatte verhindern wollen, daß sie aus der Vergangenheit aufstiegen, ihn wieder zu überwältigen drohten. Aber nun erkannte er, daß er diese Gefühle nicht tief genug begraben hatte. Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, ins Stanhope-Hotel zu ziehen. Das Hotel lag ganz in der Nähe seines Elternhauses, und man brauchte nur die Fifth Avenue zu überqueren, um ins Metropolitan Museum zu gelangen. Laura wäre beschäftigt gewesen, während er seine Besprechungen mit der Verlagsleitung führte. Aber nun war es zu spät. Laura hatte darauf bestanden, in diesem Haus zu wohnen, seine Mutter und seine Schwester kennenzulernen, ein Teil seiner Familie zu werden. Und es war schwer, einer frischgebackenen Ehefrau einen Wunsch abzuschlagen. Und trotzdem… Er blickte sich um, suchte nach den beiden Koffern. Sie waren
verschwunden. Er ging zur Tür der Bibliothek. Die Lampe brannte noch. Aber Laura war nicht mehr in dem großen düsteren Raum. Wahrscheinlich war sie mit Ruth nach oben gegangen, und seine Schwester half ihr beim Auspacken. Er hoffte, die beiden würden Freundschaft miteinander schließen. Das wäre eine große Hilfe. Er lächelte bei dem Gedanken, daß seine Frau sich mit Ruth anfreunden würde. Ruth würde das schon schaffen, sagte er sich. Auf Ruth konnte man sich verlassen. Vielleicht war es am besten, die beiden eine Weile allein miteinander zu lassen. Er mußte ihnen eine Gelegenheit geben, sich näher kennenzulernen. Und auch er brauchte Zeit – Zeit, um sich von der Begegnung mit seiner Mutter zu erholen, von diesem ersten Wiedersehen nach zwei Jahren. Er blickte zum Salon hinüber. Es war dunkel geworden. Er fragte sich, ob sich irgendetwas in diesem Raum verändert hatte, seit er zum letztenmal durch den Torbogen gegangen war. Er durchquerte die Halle, drückte auf den Lichtschalter, und der Kristallüster flammte auf. Dann stand er unter dem Torbogen und sah sich um. Scharf und deutlich konnte er die Umrisse der Möbel erkennen, als sie so plötzlich in Licht getaucht waren. Nein, dachte er, nichts hatte sich verändert. Lange stand er unter dem Torbogen, erinnerte sich schmerzhaft an jede Einzelheit - an den großen Kamin aus italienischem Marmor mit den Blätterranken, die sich in einem kunstvollen Relief am Sims entlangzogen, an die Blattgolduhr. die unter ihrer Glasglocke tickte. Er erinnerte sich an den schwarzen Bechsteinflügel, dessen Deckel wie immer geschlossen war, an die geschnitzten Möbel aus Rosenholz, deren Polsterung mit rotgoldenem Damast bezogen war, an die goldgerahmten Landschaftsbilder an den Wänden, an den üppigen Stuck, der die hohe Decke schmückte. Es war alles so, wie es immer gewesen war, unverändert. Es war, als stünde der ganze Salon unter einer Glasglocke wie die Blattgolduhr. Widerwillig wandte er sich ab und schaltete mit einer heftigen Bewegung das Licht aus, als wolle er die Existenz dieses Salons mit seinen schweren, bedrückenden Möbeln und seinen noch bedrückenderen Erinnerungen auslöschen. Und wieder tauchte der große Raum im Dunkel unter. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war der schwache Lichtschein der Straßenlampe, der von der
67th Street durch eine schmale Spalte zwischen den Damastvorhängen drang. Im gleichen Augenblick, als das Licht verlöschte, hörte Mark Wilson die Stimme einer Frau. Sie summte eine leise Melodie, ein melancholisches Lied, das wie ein Wiener Walzer klang. Es war dieselbe Melodie, die seine Mutter gehört hatte – die Melodie der Spieldose. Er wandte sich um und rannte in die Halle, mit angespannten Sinnen. Lauschend blieb er stehen. Noch immer hörte er das leise Summen, wenn er auch nicht feststellen konnte, aus welchem Raum es kam. Aber woher immer die Melodie auch kommen mochte – ihre Klänge verwirrten ihn zutiefst. Er stürmte die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe, die er zurücklegte, klang ihm der Walzer lauter und deutlicher entgegen. Als er den zweiten Stock erreichte, rannte er zur Tür des hinteren Schlafzimmers. Es lag am Ende der Galerie, in sicherer Entfernung vom Zimmer seiner Mutter. Er blieb vor der Tür stehen und lauschte. Das Walzerlied kam nicht aus diesem Zimmer. Ohne die Tür zu öffnen, lief er zum mittleren Schlafzimmer. Jetzt konnte er die Melodie deutlicher hören. Er wartete ein paar Minuten, während die Töne wie Donnerschläge in seinen Ohren dröhnten. Dann drehte er langsam, fast ängstlich am Messingknauf und öffnete die Tür. Mark stand auf der Schwelle. Erleichtert atmete er auf. Alle Lampen brannten. Laura hatte der Tür den Rücken zugewandt und packte ihren Koffer aus. Immer noch summte sie den Walzer vor sich hin, hatte nicht gemerkt, daß Mark die Tür geöffnet hatte. Sein Koffer stand auf dem Gepäckständer, wartete darauf, ausgepackt zu werden. Laura fühlte sich glücklich und zufrieden. Ich mag Ruth, dachte sie, als sie die melancholische Melodie vor sich hin summte. Die Angst, die sie vorhin in der Bibliothek so quälend empfunden hatte, erschien ihr nun absurd und lächerlich. Wahrscheinlich hatten die lange Reise und ihre nervösen Erwartungen sie mehr ermüdet, als es ihr bewußt geworden war. Nur so ließen sich die seltsamen Empfindungen erklären, die sie in der Bibliothek gepeinigt hatten. Sie hängte das letzte ihrer Kleider in den Schrank und fühlte
sich bereits wie zu Hause in diesem hübsch eingerichteten Zimmer. Besonders angenehm fand sie den schwachen Veilchenduft, der dem Schrank entströmte. Mark trat in den Raum und schloß die Tür hinter sich. Erschrocken wirbelte Laura herum, und ihr Kleid glitt vom Bügel und fiel zu Boden. »O Mark!« Sie holte tief Atem. »Tu das nie wieder!« »Woher kennst du diese Melodie?« »Ich bin furchtbar erschrocken. Ich – ich dachte schon, einer deiner Geister sei hereingekommen.« »Die Melodie«, beharrte er, »woher kennst du sie?« »Was für eine Melodie?« fragte Laura verwirrt. »Die du eben noch gesungen hast.« Er trat einen Schritt auf sie zu, sein Blick schien sie zu durchbohren. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Wie geht es deiner Mutter?« Er beantwortete ihre Frage nicht. »Es war Ruth, nicht wahr?« Verständnislos sah Laura ihn an. »Sie fand das wohl sehr komisch«, stieß er hervor. »Laura, was soll der Unsinn? Was wollt ihr damit erreichen?« Verstört schüttelte Laura den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest, Liebling.« Er beherrschte sich nur mühsam. »Du hättest in Rom bleiben sollen.« Abrupt drehte er ihr den Rücken zu und ging zum Fenster. Mit zitternden Händen zog er die Vorhänge auseinander, starrte ins Dunkel hinaus. Laura beobachtete ihn bestürzt, und dann sagte sie leise: »Ich verstehe dich nicht, Mark.« Sie wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Zögernd ging sie zu ihm. »Es ist deine Familie«, sagte sie. »Aber nun ist es auch meine.« Sanft berührte sie seine Schulter. Sie versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine klägliche Grimasse zustande. Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe doch sonst keine Familie, Liebling.« Mark starrte noch immer in die Nacht hinaus. Ohne Laura anzusehen, sagte er: »Du hättest mich nicht heiraten sollen.« Ihre Finger gruben sich in seine Schulter. »Ich liebe dich.«
Mark gab ihr keine Antwort. »Ich habe gesagt, daß ich dich liebe, Mark Wilson.« Ihre Stimme klang ernsthaft und aufrichtig. »Und ich will nicht mit dir streiten.« Mark schüttelte ihre Hand ab. »Es ist dieses Haus«, sagte er tonlos. Ihre Bestürzung wuchs. Dann brachte sie doch noch ein Lächeln zustande, drehte ihn zu sich herum, zwang ihn, sie anzusehen. »Hör mir zu«, sagte sie. »Wenn du mich nicht jetzt sofort küßt – jetzt sofort…« Sie brach ab und fuhr dann mit spöttisch erhobenem Zeigefinger fort: »Wenn du mich nicht sofort küßt, wirst du kein Interview mit diesem neuen Botschafter kriegen.« Wider Willen mußte er lächeln. »Kleines Dummchen!« sagte er und küßte sie. »O nein!« rief sie. »Das war kein richtiger Kuß.« »Nein, wohl nicht«, gab er zu. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich an ihn. leidenschaftlich preßte sie ihre Lippen auf die seinen. Diesmal erwiderte er den Kuß so, wie sie es sich wünschte. »Das war schon besser«, sagte sie und legte den Kopf an seine Brust. »Mhm…« »Sag es mir, Mark.« »Was soll ich dir sagen?« Ihre Stimme klang nun nicht mehr spöttisch, sondern sehr ernsthaft. »Bitte, sag mir, warum du mich geheiratet hast.« »Weißt du das denn nicht?« »Sag es mir, bitte«, beharrte sie. »Weil ich…«, begann er. Aber die Worte, die er sagen wollte, kamen ihm nicht über die Lippen. Er grinste boshaft. »Weil du mir dieses Interview verschafft hast.« »Ich hasse dich.« »Und«, fuhr er im gleichen maliziösen Ton fort, »weil ich zuerst alle anderen Sekretärinnen in der Botschaft gefragt und mir nur Körbe geholt habe.« »Und Liebe hatte gar nichts damit zu tun?« fragte sie sanft. »Liebe? Großes L, kleines i, kleines e…« Zärtlich sah er sie an – zärtlich und auch verzweifelt, als könne
er ihre Liebe nicht ertragen. Dann nahm er sie fest in die Arme und küßte ihre Stirn. »Was denkst du?« fragte er leise. Laura klammerte sich an ihn, sah ihn an, mit einem eindringlichen Blick, als fürchte sie, er könne sich jeden Moment in Luft auflösen, wie ein Geist verschwinden und sie verlassen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie unglücklich. »Manchmal frage ich mich, Mark… Ich kann nichts dagegen tun, aber manchmal kommen mir Zweifel…« Es war spät am Abend. Ein Polizist ging die 67th Street entlang, schwang seinen Knüppel im Kreis und pfiff vor sich hin. Ein Paar in Abendkleidung stieg aus einem Taxi und verschwand im Haus Nummer neunundzwanzig auf der anderen Straßenseite. Ein einsamer Spaziergänger, begleitet von einem lustlosen Beagle, schlenderte durch den Lichtkreis der Straßenlampe. Aus einem vorbeifahrenden Auto drang Radiomusik und verstummte, als der Wagen um die nächste Straßenecke bog. Der Frühlingswind bewegte die Knospen an den Bäumen. Aus weiter Ferne drang die Sirene eines Polizeiautos oder einer Ambulanz in die stille 67th Street. Dann verhallte der gellende Ton. Der Polizist drehte sich an der Straßenecke um. Er pfiff immer noch vor sich hin. In der 67th Street war alles ruhig. Im Haus Nummer sechsundzwanzig rührte sich nichts. Mrs. Sarah Wilson lag in ihrem Bett. Ihre Leselampe brannte noch, aber sie war eingeschlafen. Trotz der Schlaftablette, die sie genommen hatte, wälzte sich Sara Wilson unruhig hin und her. Sie stöhnte, wand sich in den Klauen eines Alptraums, der sich nicht vertreiben ließ. Und unablässig zupften ihre dünnen Finger an der malvenfarbenen Bettdecke. Auch Mark und Laura Wilson waren zu Bett gegangen. Es war dunkel in ihrem Zimmer, und sie schliefen. Der Nachtwind spielte sanft mit den Gardinen. Plötzlich öffnete Laura die Augen. Sekundenlang lag sie reglos in ihrem Bett und fragte sich, wo sie war. Dann kam die Erinnerung zurück. Sie wandte den Kopf und sah zu Mark hinüber, der tief und fest zu schlafen schien. Er hatte einen Arm unter den Kopf gelegt und
sah wehrlos aus wie ein kleiner Junge. Sie lächelte und schloß die Augen. Und dann hörte sie es wieder. Jetzt wußte sie, daß dieses Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Das leise Schluchzen einer Frau. Sie öffnete wieder die Augen, lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, sie hatte sich dieses Schluchzen nicht eingebildet. Dies war kein Laut, der sie aus einem Traum ins Erwachen begleitet hatte. Das Schluchzen verwirrte sie, und ihr Unbehagen wuchs. Schließlich setzte sie sich in ihrem Bett auf und überlegte, ob sie Mark wecken sollte. Sie sah ihn an. Er schlief immer noch tief und fest. Der Tag war lang und anstrengend für ihn gewesen, dachte sie und beschloß, ihn schlafen zu lassen. Das Schluchzen war nicht verstummt. Laura stand auf, tastete im Dunkel nach ihrem Morgenmantel und schlüpfte hinein. Lautlos schlich sie zur Tür und öffnete sie. Als sie auf die Galerie trat, war das Schluchzen deutlicher zu vernehmen. Leise schloß sie die Tür hinter sich, blieb lauschend auf der finsteren Galerie stehen. Das Schluchzen schien aus dem Schlafzimmer am Ende des langen Ganges zu kommen. Als sie auf die Tür dieses Zimmers zuging, wuchs ihre Überzeugung, daß eine Frau dahinter bitterlich weinte. Und als sie die Tür erreicht hatte, hörte sie, wie eine atemlose, tränenerstickte Stimme immer wieder dieselben Worte hervorstieß, von verzweifeltem Schluchzen unterbrochen. »Bitte, komm! Bitte, komm! Ich habe dich nicht angerufen, um mit dir zu streiten. Ich will, daß du zu mir kommst. Bitte – ich bin so einsam, ich weiß nicht, was ich tun soll - bitte, komm! Bitte! Bitte…« Seltsam – plötzlich hatte Laura das Gefühl, ihrer eigenen Stimme zu lauschen. Sie holte tief Atem, dann klopfte sie leise an die Tür. Im gleichen Augenblick verstummte die Stimme abrupt. Es war, als hätte sie nie existiert. Es war völlig still im Haus. Laura war verwirrt. Sie zögerte. Dann klopfte sie noch einmal an die Tür. Doch sie erhielt keine Antwort. Verstört preßte sie ein Ohr an die Türfüllung. Kein Laut war zu vernehmen. »Geht es Ihnen gut?« flüsterte sie. Wieder wartete sie vergebens auf Antwort. Zaudernd griff sie nach dem Messingknauf, drehte daran. Die Tür flog auf. Der Raum dahinter war von grauen Schatten erfüllt.
Laura betrat das Zimmer auf Zehenspitzen, sah sich suchend um. Der schwache Schein der Straßenbeleuchtung, der durch die Fenster drang, enthüllte ein hübsch eingerichtetes Schlafzimmer. Die sehr feminin wirkenden Möbel verrieten, daß es das Zimmer einer Frau sein mußte. Aber offenbar wurde es nicht benutzt. Laura kniff die Augen zusammen, versuchte mit ihren Blicken das Dunkel zu durchdringen. Ein Telefon stand auf dem Nachttisch. Langsam ging sie darauf zu. Der Hörer lag nicht auf der Gabel, sondern neben dem Apparat, auf der Marmorplatte des Nachttischchens. Laura hielt den Hörer ans Ohr, aber sie vernahm keinen Laut, nicht einmal das Freizeichen. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sie drückte ein paarmal auf die Gabel, aber kein Geräusch drang aus dem Hörer. Die Leitung schien tot zu sein. Hastig legte sie den Hörer zurück auf den Tisch. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ginge eine dunkle Gefahr von diesem Telefon aus. Sie wich zurück zur Tür, drehte sich um, wollte aus dem Zimmer fliehen, von einer unbestimmten Angst erfüllt. Als sie an dem zierlichen Toilettentisch vorbeilief, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand. Unwillkürlich blieb sie stehen und sah auf die kleine barocke Spieldose hinab, die auf der Spiegelplatte des Tisches stand. Minutenlang starrte Laura auf die Spieldose. Dann streckte sie langsam und vorsichtig die Hand aus und hob den Deckel. Die klimpernden Töne eines Walzers füllten den Raum, die geisterhafte Wiederholung einer Melodie, die Laura schon einmal gehört hatte. Aber wo? Sie lauschte der Musik mit angehaltenem Atem, versuchte sich zu erinnern. Und dann begann sie die Melodie leise mitzusummen. Sie schloß die Augen, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie regte sich nicht, summte das Walzerlied vor sich hin… Und dann begann sie sich leise im Rhythmus der Melodie zu wiegen. Später, sehr viel später kehrte sie lautlos zurück in das Zimmer, in dem Mark immer noch schlief, tief und fest. 8. Es war früh am Morgen. Zu dieser Tageszeit, wenn die Luft noch frisch und kühl ist, zeigt sich New York stets von seiner ange-
nehmsten Seite. Auf der Straße vor dem Haus der Wilsons tummelten sich die Passanten, hasteten geschäftig einem neuen Tag entgegen – Männer und Frauen, die nach Taxis riefen, um zur Arbeit zu fahren, ein Briefträger, Kinder in Schuluniformen mit frisch gewaschenen Gesichtern. Dazwischen schlenderten die Leute umher, die mehr Zeit zu haben schienen – Frauen mit Einkaufstaschen, Männer, die ihre Hunde spazieren führten, eine dicke Schwester, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Laura und Mark standen in der offenen Tür des Hauses Nummer sechsundzwanzig. Mark hatte eine Aktentasche unter den Arm geklemmt. »Ruf mich in der Redaktion an, in Cobys Büro. Wenn ich Zeit habe, können wir zusammen essen – bei Mario.« Er seufzte sehnsüchtig. »Seine Gnocchi sind unübertrefflich. Nicht einmal in Rom habe ich bessere gegessen.« Sie lächelte. »Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.« »Was machst du denn heute vormittag?« fragte er. »Ich weiß noch nicht. Vielleicht schaue ich mir ein paar Sehenswürdigkeiten an. Oder wenn Ruth Zeit hat, könnten wir miteinander einkaufen gehen.« »Nun, jedenfalls wünsche ich dir viel Vergnügen.« Er küßte sie zum Abschied, winkte ein vorbeifahrendes Taxi. In Gedanken war er schon in der Redaktion des »Pace«. Laura sah zu, wie das Taxi sich in den Verkehrsstrom einordnete. Sie winkte Mark, aber er winkte nicht zurück. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam, und ein vages Unbehagen erfaßte sie. Ein paar Minuten lang beobachtete sie den Trubel auf der Straße und wünschte sich, daß sie etwas Vernünftiges zu tun hätte – etwas, das ihr Denken ausfüllte. Es müßte schön sein, in New York zu leben, dachte sie, wenn man einen interessanten Job hatte. Dann würde man das Gefühl haben, zu dieser Stadt zu gehören, ein Teil ihres pulsierenden Lebens zu sein. Sie drehte sich um und kehrte lustlos ins Haus zurück. Niemand war im Erdgeschoß zu finden. Die üblichen Morgengeräusche, die jedes normale Haus erfüllten, waren hier nicht zu hören. Laura fühlte sich fehl am Platz und wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte.
Sie schlenderte in den Salon. Die Vorhänge waren zurückgezogen worden, ließen das Tageslicht eindringen. Ziellos wanderte sie umher, blickte auf die düsteren Gemälde, ließ einen Finger über die geschnitzte Lehne eines Rosenholzstuhles gleiten. Dann ging sie zum Klavier, hob den Deckel und schlug ein paar Töne an. Der Bechsteinflügel war verstimmt. Sie fragte sich, wer zum letztenmal darauf gespielt hatte – und wann. Sie schloß den Deckel wieder, setzte sich auf ein Sofa und wünschte sich, in ein paar Magazinen blättern zu können - oder wenigstens in der Morgenzeitung. Auf dem Couchtisch standen ein Tischfeuerzeug und eine Dose, mit vertrockneten Zigaretten gefüllt. Laura nahm sich eine Zigarette und zündete sie an, obwohl sie eigentlich Nichtraucherin war. Ihr Blick blieb an dem Fotoalbum hängen, das auf dem Tisch lag. Sie griff danach, schlug es gelangweilt auf. Da waren Kinderbilder von Mark – als Baby in einer geschnitzten Wiege, als kleiner Junge in Schuluniform, als Student. Er sah natürlich jünger aus auf diesen Fotos – aber nicht viel anders als jetzt. Sie sah sich auch die Kinderbilder von Ruth an, die späteren Fotos, die ihre Schwägerin als junges Mädchen mit diversen Freunden und Freundinnen zeigten. Als sie das Album durchblätterte, stellte sie erstaunt fest, daß viele Fotos entfernt worden waren. Die Fotoecken, in denen sie gesteckt hatten, klebten noch in dem Album. Und auf den letzten Seiten fand sie nur noch leere Fotoecken. Sie schloß das Album, blickte nachdenklich vor sich hin. Diese leeren Seiten wirkten bedrückend auf sie, bedrückend und enttäuschend. Denn sie hatte gehofft, in diesem Album Antworten auf ihre unausgesprochenen Fragen zu finden, auf ihre Fragen nach Marks Familie. Sie hörte, wie eine Tür ins Schloß fiel. Das Geräusch war aus der Richtung der Halle gekommen. Endlich ist jemand aufgestanden, dachte sie erleichtert. Sie stand auf und ging in die Halle. Eine Frau von etwa sechzig Jahren kam ihr aus der Richtung der Küche entgegen. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht. Ihre grauen Augen waren zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt. Sie trug ein Frühstückstablett und war offenbar auf dem Weg zur Treppe, als Laura aus dem Salon trat. »Hallo!« sagte Laura lächelnd.
Die Frau nickte ihr freundlich zu. »Guten Morgen, Ma’am. Ich bin Mrs. Medina, allgemein Mrs. M. genannt.« »Und ich bin Laura Wilson, Marks Frau.« »Ich weiß, Ma’am. Hoffentlich haben Sie gut geschlafen.« »Ja – ganz gut. Wenn dieses Schluchzen mich nicht geweckt hätte…« »Ein Schluchzen?« Laura nickte. »Es war gegen zwei Uhr morgens. Haben Sie es nicht gehört?« Mrs. Medina schüttelte den Kopf. »Ich schlafe im obersten Stockwerk. Und ich würde nicht einmal den Teufel selbst hören, wenn mein Kopf erst einmal auf dem Kissen liegt.« Sie lächelte. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Mrs. Wilson…« Sie begann die Treppe hinaufzusteigen. »Wissen Sie, ob Ruth schon aufgestanden ist?« rief Laura ihr nach. »Sie ist in der Küche und macht sich ihre Frühstücksspezialität.« Mrs. Medina rümpfte die Nase. »Einen gräßlichen Kaffee.« »Vielen Dank«, sagte Laura lächelnd. Mrs. Medina setzte ihren Weg nach oben fort. Aber Laura hielt sie noch einmal zurück. »Oh, Mrs. Medina…« Die Haushälterin blieb stehen und drehte sich um. »Ja, Mrs. Wilson?« »Ich habe mir das Fotoalbum im Salon angesehen«, sagte Laura möglichst beiläufig. »Dabei habe ich festgestellt, daß viele Bilder herausgenommen wurden. Wissen Sie, wo diese fehlenden Fotos sind?« »Da müssen Sie schon Ma’am fragen.« Mrs. Medina wies mit einer heftigen Kopfbewegung nach oben, und Laura nahm an, daß sie von Sarah Wilson sprach. Die Haushälterin stieg die Treppe hinauf, und Laura war wieder allein. Sie seufzte, streckte die Arme aus und blickte zur Küche. Langsam ging sie auf die geschlossene Tür zu, aber dann blieb sie zögernd stehen. Sie überlegte, daß Ruth vielleicht beim Frühstück keinen Wert auf Gesellschaft legte. Laura beschloß, in die Bibliothek zu gehen. Im hellen Tageslicht wirkte der große Raum weniger bedrohlich als am vergangenen Abend. Sogar die afrikanischen Masken erschienen ihr nicht mehr
so furchterregend. Sie ging zu einem der Regale und betrachtete die langen Reihen alter, ledergebundener Werke – Sir Walter Scott, Thackeray, Dickens, Washington Irving. Die Bücher sahen so aus, als wären sie jahrelang nicht mehr gelesen worden. Sie ging zu einem anderen Regal und sah sich neuere Buchausgaben an, die den Eindruck machten, als würden sie öfter zur Hand genommen. Vielleicht fand sie hier einen Unterhaltungsroman, dachte Laura, mit dem sie sich ein wenig die Zeit vertreiben konnte. Ihr Blick wanderte über die Buchtitel. Aber sie fand keine Unterhaltungsromane – nur Bücher mit seltsamen Titeln, die sich alle mit dem gleichen Thema zu befassen schienen. Der erste Titel, der ihr ins Auge fiel, lautete: ›Die menschliche Persönlichkeit und ihr Überleben nach dem körperlichen Tod‹. Daneben stand ein noch dickerer Band: ›Die Geschichte dämonischer Besessenheit‹. Das ganze Regal enthielt nur Werke über Spiritismus, Geister, Besessenheit, Spuk. Mit gerunzelter Stirn nahm Laura ein Buch heraus und begann darin zu blättern. Mit wachsender Neugier las sie hier und da einen Absatz. Sie hatte nicht gewußt, daß solche Phänomene existierten, und noch weniger hatte sie geahnt, daß es Menschen gab, die diese Dinge ernst genug nahmen, um darüber zu schreiben. Und dann durchbrach eine Stimme die schwere Stille, die über der Bibliothek lag. »Suchst du etwas?« Laura war so in ihre Lektüre vertieft gewesen, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und drehte sich zur Tür um. 9. Ruth stand auf der Schwelle und sah sie lächelnd an. »Ich wußte nicht, daß du dich für die Geisterwelt interessierst.« Laura klappte verwirrt das Buch zu. Sie fühlte sich sehr unbehaglich, wenn sie sich auch sagte, daß ihre Verwirrung grundlos war. Sie zwang sich dazu, Ruths Lächeln zu erwidern, und sagte: »Ich interessiere mich auch nicht wirklich dafür.« »Vater war ganz besessen von diesem Thema«, erklärte Ruth.
Sie kam auf Laura zu, nahm ihr das Buch aus der Hand und las den Titel. » ›In der Macht der Geister‹ – eine Spezialität in diesem Haus. Warum hast du dir gerade dieses Buch ausgesucht?« Laura zuckte mit den Schultern. »Aus keinem besonderen Grund.« Ruth sagte nichts. Sie sah Laura an, die nervös ihrem Blick auswich und die Buchreihen betrachtete. Schließlich sagte Laura zögernd: »Ruth…« Sie wandte sich wieder ihrer Schwägerin zu. »Ich glaube, ich habe in der vergangenen Nacht etwas gehört…« »Bitte, Laura!« stieß Ruth ungeduldig hervor. »Spiel du nicht auch noch verrückt.« Sie stellte das Buch auf das Regal zurück. »Wo ist Mark?« »Er hat eine Besprechung im ›Pace‹ und dann treffen wir uns zum Lunch.« Ruth sah auf ihre Armbanduhr. »Nun, dann haben wir ja noch Zeit genug für einen Stadtbummel. Aber erst mußt du frühstücken. Mein Kaffee ist berühmt für seinen gräßlichen Geschmack. Komm!« Sie wandte sich ab und ging zur Tür. »Ruth!« rief Laura. Ruth drehte sich zu ihr um, sah sie fragend an. »Dieses Zimmer oben«, sagte Laura hastig, »am Ende des Ganges…« »Ja, was ist damit?« »War das Elaines Zimmer?« »Ja, dieses Zimmer hat sie zusammen mit Mark bewohnt«, erwiderte Ruth tonlos. Sie wartete, denn sie spürte, daß Laura noch etwas auf dem Herzen hatte. »Wann wurde das Telefon abgestellt?« fragte Laura. »Vor zwei Jahren«, antwortete Ruth. Das war nicht die Frage, die sie erwartet hatte. Ihre Augen verengten sich. »Warum?« »Ich erwachte mitten in der Nacht«, erzählte ihr Laura, »und ich dachte, ich hätte eine Frau weinen gehört… Und sie schien auch zu telefonieren.« »Ein Geist?« fragte Ruth spöttisch. »Ich ging in das Zimmer…« »Und?« »Niemand war darin.« »Was hat Mark gesagt?«
»Ich habe es ihm nicht gesagt«, gestand Laura. »Sicher hätte er mich für verrückt gehalten.« »Und damit hätte er auch ganz recht gehabt«, sagte Ruth mit Nachdruck. Sie ging zum Fenster hinüber. »Komm hierher!« Laura sah sie verwirrt an. Ruth winkte ihr zu. »So komm schon!« Zögernd ging Laura zu ihr. »Sieh dir das an«, sagte Ruth. »Das ist die 67th Street, und wir befinden uns im zwanzigsten Jahrhundert. Auf der einen Seite findest du die Madison Avenue, auf der anderen Seite die Fifth Avenue. Und das Ganze nennt sich Manhattan. Umweltverschmutzung, Verkehrslärm, zu viele Menschen.« Sie legte einen Arm um die Schultern ihrer Schwägerin und lächelte zynisch. »Und jetzt sag mir, ob ein Geist, der etwas auf sich hält, in so einer prosaischen Gegend sein Unwesen treiben würde.« Unwillkürlich mußte Laura lachen. »Und jetzt trinkst du eine Tasse von meinem lausigen Kaffee«, fuhr Ruth fort, »und danach zeige ich dir New York.« 10. Sarah Wilson trug einen Morgenmantel über ihrem Nachthemd. Sie stand am Fenster ihres Schlafzimmers und starrte auf die Straße hinab. Ihr Frühstückstablett stand noch immer dort, wo Mrs. Medina es abgestellt hatte – auf dem Nachttisch. Sarah Wilson hatte ihr Frühstück nicht angerührt. Reglos stand sie am Fenster, die Stirn gegen die Glasscheibe gepreßt. Sie rührte sich auch nicht, als Mrs. Medina zurückkam. Ohne sich umzudrehen, sagte Sarah Wilson: »Ich bin nicht hungrig.« »Aber Sie haben dem Doktor doch versprochen, daß Sie brav essen würden.« »Was weiß er schon?« stieß Sarah Wilson mit hoher, schriller Stimme hervor. »Er muß nicht hier leben.« »Ein glücklicher Mann«, bemerkte Mrs. Medina. »Und Sie müssen auch nicht hier leben, Mrs. M.«, sagte Sarah Wilson ärgerlich und drehte sich zu der Haushälterin um. »Wenn Sie gehen wollen – bitte, niemand hält Sie zurück.« »Und wohin soll ich gehen, Mrs. Wilson – nach dreißig Jahren?
Wo doch meine Schwester mit ihren Kindern in New Jersey lebt – in einem winzigen Bungalow. Nein, danke, da bleibe ich lieber hier in diesem Irrenhaus.« »Irrenhaus«, wiederholte Sarah Wilson verbittert. »Wer weiß? Vielleicht haben Sie recht.« Mrs. Medina schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren voller Mitleid. »Ich mache Ihnen jetzt einen schönen warmen Porridge, Mrs. Wilson.« »Wissen Sie, daß ich sie noch gar nicht gesehen habe? Marks neue Frau…« »Sie ist mit Ruth ausgegangen. Sie scheint eine sehr nette junge Frau zu sein.« »Hat sie etwas gesagt? Ist in der vergangenen Nacht irgendetwas geschehen?« Mrs. Medina stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und griff nach dem Tablett. »Sie sollten sich wieder ins Bett legen, Mrs. Wilson.« »Ich habe so schreckliche Träume«, sagte Sarah Wilson leise. »Ich höre Elaine immer weinen…« Einen Augenblick lang sah Mrs. Medina ihre Herrin an, als wolle sie etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und ging zur Tür. Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um. »Es sind nur Träume, Mrs. Wilson – und Träume sind Schäume. Ich mache Ihnen jetzt den Porridge.« Sarah Wilson ließ sich auf den Bettrand sinken. »Vielleicht verliere ich den Verstand«, flüsterte sie. 11. Laura und Ruth schlenderten die Madison Avenue entlang. Sie hatten in unzählige Schaufenster geblickt, hatten in einigen Geschäften Kleider probiert, ohne etwas zu kaufen. »Ich weiß wirklich nicht, wozu man Kleider braucht«, hatte Ruth gesagt. »Wenn man doch alles in Bluejeans genauso gut erledigen kann – nun, zumindest fast alles.« Sie lachten und scherzten und amüsierten sich großartig. »Ich liebe diese New Yorker Läden!« rief Laura, als sie in die
57th Street bogen. »In Rom gibt es doch sicher viel schönere Geschäfte«, sagte Ruth. »Sie sind ganz anders«, erklärte Laura. Dann kicherte sie. »Jedenfalls sind die Läden in Rom und in New York viel eindrucksvoller als das, was ich daheim in Ohio gewohnt war…« Plötzlich erstarb ihr Lachen. Sie war vor einem kleinen Geschäft stehengeblieben. Auf dem Ladenschild stand in altmodischen Goldlettern: ›Kurawicz – Antiquitäten‹. »Ich muß hier hineingehen«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen so seltsamen Klang, daß Ruth sie verwundert ansah. Ruth blickte in das vollgeräumte Schaufenster. »Das ist doch wertloser Trödel«, sagte sie angewidert. »Von diesem Zeug haben wir genug daheim.« Aber Laura hatte das Geschäft schon betreten, und Ruth blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Aus den dunklen Tiefen des Ladens tauchte ein korpulenter Mann auf, der einen fadenscheinigen Kordanzug trug. Weiße Haarbüschel umrahmten das rosige Gesicht. Er sah aus wie ein ziemlich betagter Erzengel. »Womit kann ich den Damen dienen?« fragte er mit europäischem Akzent. Zu Ruths Überraschung ging Laura zielstrebig auf das Schaufenster zu und griff nach einer kleinen barocken Spieldose. Als sie den Deckel hob, erklang eine fröhliche Gavotte. »Aber das ist nicht dieselbe Melodie«, sagte Laura. »Das wäre ja auch unsinnig«, erwiderte Mr. Kurawicz. »Die beiden Spieldosen waren ein Pärchen. Die eine spielte eine traurige Melodie, die andere eine fröhliche.« Er neigte den Kopf vor und lauschte, dann sah er Laura strahlend an. »Lustig, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte sie mit dumpfer Stimme. »Und unheimlich«, meinte Ruth. Mr. Kurawicz blinzelte sie durch seine randlosen Brillengläser an. »Wie, bitte?« Ruth runzelte die Stirn. »Wieso hast du gewußt, daß diese Spieldose hier zu finden ist, Laura?« »Ich habe es nicht gewußt.« »Sie hat es nicht gewußt!« rief Ruth dramatisch. Dann wandte
sie sich an den Ladenbesitzer. »Wie lange haben Sie das Ding schon?« Mr. Kurawicz überlegte. »Etwa fünf Jahre. Die eine Spieldose habe ich vor drei Jahren verkauft. Ich wollte sie eigentlich nur zusammen verkaufen, aber der Kunde redete so lange auf mich ein, bis ich schließlich nachgab und ihm die eine Spieldose überließ. Jetzt erinnere ich mich wieder – es sollte ein Geburtstagsgeschenk sein.« Reumütig schüttelte er den Kopf. »Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich hätte das Pärchen nicht auseinanderreißen sollen.« »Fünf Jahre, Laura!« stieß Ruth hervor. »Ich bin unzählige Male an diesem Schaufenster vorbeigegangen. Wieso habe ich die Spieldose nie gesehen?« »Vielleicht hast du nicht so genau hingeschaut«, erwiderte Laura langsam. »Verzeihen Sie, Miß, aber es hätte nichts genutzt, ins Schaufenster zu blicken«, mischte sich Mr. Kurawicz ein. »Ich konnte die Spieldose nicht verkaufen, und so verbannte ich sie in den Lagerraum. In dieser Branche muß man manchmal so etwas tun. Dann dachte ich mir, ich könnte es noch einmal versuchen, und stellte die Spieldose ins Schaufenster zurück.« »Wann war das?« wollte Ruth wissen. »Heute«, sagte Mr. Kurawicz, schlang seine rosaroten Finger ineinander und lächelte noch strahlender. »Vor etwa einer Stunde.« Ruth warf ihrer Schwägerin einen scharfen Blick zu. »Reiner Zufall«, sagte Laura. »Hoffentlich«, meinte Ruth. Laura stellte die Spieldose an ihren Platz zurück. »Gehen wir zu einer Telefonzelle. Ich möchte Mark anrufen.« Sie nahm Ruths Hand, zog sie aus dem Geschäft, und Mr. Kurawicz starrte ihnen verwirrt nach, während die lustigen GavotteKlänge abrupt verstummten. 12. Mark Wilson hatte stundenlang in Coby Ross’ Büro gewartet. Er langweilte sich tödlich, und seine Ungeduld wuchs, während er abwechselnd auf seine Uhr und auf die Zeitungsausschnitte starrte, die auf ein schwarzes Brett geheftet waren.
Coby Ross hockte hinter turmhohen Papierstapeln an seiner Schreibmaschine und tippte im Zweifingersystem eine Story. Er war Mitte Dreißig, hatte zerzaustes sandfarbenes Haar, und ein dichter Schnurrbart gab seinem jungen Gesicht einen verwegenen Ausdruck. Mark stieß einen frustrierten Seufzer aus, und Coby hörte zu tippen auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Reg dich ab, Mark«, sagte er mit einem entwaffnenden Grinsen. »Du weißt ja, wie der Boß ist.« »Weißt du, wie lange ich jetzt schon warte?« »Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du ihn siehst, sag ihm, daß du dich verändern möchtest.« Das Telefon klingelte, und Coby hob den Hörer ab. »Wie meinst du das?« fragte Mark. Coby schenkte ihm ein weiteres entwaffnendes Grinsen. »Ich gehe nach Rom, und du kannst dich wieder in dein altes Büro setzen.« Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Telefon. »Ja? O ja, er ist hier… Einen Augenblick…« Er sah Mark an. »Für dich. Eine weibliche Stimme.« Mark griff nach dem Hörer, aber Coby hatte plötzlich eine Idee. Er hob die Hand. »Warte doch! Nicht so schnell! Sie sind Laura, nicht wahr?« sagte er. »Wer ich bin? Ich bin Coby Ross. Sie kennen mich nicht, aber ich bin ein alter Freund von Mark und möchte Ihnen gratulieren… Was? Oh, sicher! Und passen Sie auf, daß er Sie nicht zu oft verprügelt… Ja, da haben Sie recht.« Er lachte schallend. »Er ist ein richtiger Killer, und geben Sie acht, daß…« Mark riß ihm ärgerlich den Hörer aus der Hand. »He!« protestierte Coby. »Ich finde das gar nicht komisch«, erklärte Mark. Dann sprach er in den Hörer. »Du darfst diesen Witzbold nicht ernst nehmen, Liebling. Wo bist du?« Sie sagte ihm, sie sei in einer Telefonzelle irgendwo an der East 57th Street und könne es nicht mehr erwarten, ihn zum Lunch zu treffen. »Ich habe leider keine Zeit«, sagte er. »Und ich fürchte, wir können nicht einmal miteinander zu Abend essen. Ja, ich weiß… Aber bisher konnte ich noch nicht mit dem Verlagsleiter sprechen, und sobald ich ihm erst einmal gegenübersitze, kann es Stunden dauern. Ich komme nach Hause, sobald ich kann. Ich werde mein
Bestes tun. Bis später, Liebling.« Er legte den Hörer auf. Coby Ross hatte das Gespräch mit unverhülltem Interesse mit angehört. »Bis später, Liebling«, wiederholte er entrüstet. »Du hättest ihr doch wenigstens sagen können, daß du sie liebst. Diese jungen Ehepaare heutzutage…« »Halt die Schnauze!« stieß Mark wütend hervor. Coby zündete sich eine Zigarette an. »Ihre Stimme klingt reizend. Muß ein nettes Mädchen sein. Viel zu schade für einen Strolch wie dich.« »Sie ist ganz anders als Elaine – wenn du das meinst«, entgegnete Mark. Er sah wieder auf seine Uhr und seufzte. Coby lehnte sich in seinem Sessel zurück, blies eine bläuliche Rauchwolke in die Luft und musterte Mark aufmerksam. »Mark?« sagte er nach einer Weile. »Was willst du?« »Weiß sie, wie Elaine gestorben ist?« »Natürlich nicht.« Coby blies eine weitere Rauchwolke in die Luft und sah zu, wie sie sich langsam auflöste. »Und wie lange, glaubst du, kannst du ihr das verheimlichen?« Mark ballte die Hände. Er wandte sich ab, um Coby Ross’ prüfendem Blick auszuweichen. Als er antwortete, klang seine Stimme gepreßt. »Lange genug.« 13. Laura und Ruth aßen Hot Dogs in einer Imbißstube in der Nähe von Bloomingdale. Laura meinte, sie sei nicht hungrig genug, um richtig zu Mittag zu essen, und Ruth erklärte, sie würde um diese Tageszeit ohnehin fast nie etwas zu sich nehmen. Der Kaffee schmeckte gut. Aber Ruth sagte: »Ich bin so an meine eigene gräßliche Brühe gewöhnt, daß ich dieses Wundergetränk gar nicht richtig würdigen kann.« Danach führte sie ihre Schwägerin auf das Dach irgendeines Wolkenkratzers. Laura konnte sich später nicht mehr erinnern, welcher es war, aber sie fand die Aussicht atemberaubend. Die
Luft war klar, und sie konnten meilenweit sehen. Dann gingen sie in die Radio City hinüber, bummelten durch die Fifth Avenue und landeten schließlich im Museum für moderne Kunst. Sie kehrten zu Fuß in die East 67th Street zurück. Kein einziges Mal erwähnten sie die Spieldose, die sie in dem Antiquitätenladen in der East 57th Street gesehen hatten. Bald nachdem sie zu Hause eingetroffen waren, rief Mark an und teilte Laura mit, daß die Besprechung noch ein paar Stunden dauern würde. Sie sagte ihm, er solle sich keine Sorgen um sie machen. Sie würde sich schon irgendwie beschäftigen. »Ich bin ohnehin müde nach den vielen Eindrücken, die ich heute gesammelt habe«, fügte sie hinzu. »Ich werde Mrs. Medina bitten, mir ein Sandwich zu machen, und dann werde ich früh ins Bett gehen. Wirklich, Mark, du brauchst dir meinetwegen keine Gedanken zu machen.« »Wirklich nicht?« »Nein«, versicherte sie. »Okay. Ich mache mir also keine Sorgen und komme nach Hause, sobald der Boß mich laufenläßt.« »Ich warte auf dich, Mark…« Aber er hatte den Hörer schon aufgelegt. »Ich habe alles gehört«, sagte sie. »Und wenn du mich fragst – das ist doch alles Unsinn von wegen Sandwich und früh zu Bett gehen und warten, bis Seine Lordschaft geruht, nach Hause zu kommen. Ihr beide solltet ausgehen, euch eine tolle Show anschauen und dann im Persian Room dinieren.« Laura lachte. »Heute abend nicht, Ruth. Ich bin völlig zufrieden mit einem Hühnerbrustsandwich, einem Glas Milch und einem Cracker hinterher.« Ruth setzte sich auf. »Ich habe eine Idee. Dave Brody hat mich eingeladen. Ich soll heute mit ihm in seinem Atelier essen. Ich rufe ihn einfach an und sage ihm, daß du auch mitkommst.« »Dave Brody?« Ruth nickte. »Der junge Mann, der gerade aktuell ist und Mutter gründlich mißfällt – wie alle seine Vorgänger. Er ist Maler und wohnt in einem Atelier am East Broadway. Wenn man New York richtig ken-
nenlernen will, muß man auch so eine Künstlerklause gesehen haben.« Lauras Augen leuchteten auf. Aber dann sagte sie: »Nein, es geht nicht.« »Aber warum denn nicht, um Himmels willen?« »Ich würde mir wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen.« Ruth winkte ab. »Das ist doch lächerlich. Ich bin oft genug mit Dave allein. Und außerdem«, fuhr sie in geziertem Tonfall fort, »entstamme ich einer guten New Yorker Familie und sollte wirklich nicht ohne die Begleitung einer älteren Verwandten einen jungen hübschen Künstler besuchen. Du bist doch hoffentlich meiner Meinung, liebe Schwägerin?« »Dann ist es natürlich meine Pflicht, dich zu begleiten«, erwiderte Laura lachend. »Nun, dann ist ja alles klar. Lauf nach oben und zieh dir was Respektables an, damit man dir die Anstandsdame abnimmt, und ich rufe den Jungen inzwischen an und sag ihm, daß wir kommen.« 14. David Brodys Atelier bestand aus einem geräumigen Dachboden in einem halbverfallenen alten Haus. Die Straßen in der nicht gerade vertrauenerweckenden Nachbarschaft waren leer und verlassen, als Laura und Ruth eintrafen. Sie fuhren in einem quietschenden Lift nach oben, der groß genug war, um einen VW zu transportieren. Und als sie an der Endstation ausstiegen, befanden sie sich bereits mitten im Atelier. Ein Mann von etwa dreißig Jahren winkte ihnen aus einer Kochnische zu. »Kommt herein!« rief er. »Ich kann meine Töpfe nicht aus den Augen lassen. Ich koche!« Er war groß und dunkelhaarig, und Laura fand, daß er sehr gut aussah. Seine Jeans und sein Hemd waren voller Farbkleckse, und an den bloßen Füßen trug er schwere Ledersandalen. Laura überlegte, daß er beinah wie ein Schauspieler aussah, der in die Rolle eines avantgardistischen Malers geschlüpft war. »Ich komme gleich!« rief er und rührte mit einem großen Holz-
löffel in einem der Töpfe. »Macht es euch inzwischen bequem!« Es gab nicht viele Möbel, auf denen man es sich bequem machen konnte – ein Bett, einen Tisch, ein paar Stühle. Die Wände waren mit großen, bunt gestreiften Leinwänden behängt. Auf einem Regal stapelten sich die Werke des Künstlers, die an den Wänden keinen Platz mehr gefunden hatten. Alles entsprach genau den Vorstellungen, die sich Laura vom Atelier eines modernen Malers gemacht hatte. Ruth ging zu ihm und fragte: »Kann ich dir helfen?« Als Dave den Kopf schüttelte, rief sie: »Gott sei Dank!« Sie warf sich auf das Bett. Laura setzte sich nicht. Sie ging langsam umher und betrachtete die Gemälde. Sie verstand nicht viel von abstrakter Kunst, und sie konnte nicht beurteilen, ob die Bilder gut oder schlecht waren. Aber sie sah sich jedes einzelne mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte dahinterzukommen, was es darstellen könnte. Nach einer Weile stand Ruth auf und begann den Tisch zu decken. Dave schüttete unzählige Gewürze in den Topf und rührte eifrig darin herum. Ab und zu hob er den Kochlöffel an die Lippen, um die Sauce abzuschmecken. »Hm!« machte er begeistert. »Jetzt weiß ich, was noch gefehlt hat – Tabasco.« Er drehte sich zu Laura um. »He, kommen Sie her! Kosten Sie das, und dann sagen Sie mir, ob Sie in Rom besser gegessen haben.« Zögernd trat Laura an den Herd. »Nun probieren Sie schon!« sagte er. »Sie müssen doch eine Spaghetti-Expertin sein.« »Ich bin auf keinem Gebiet Expertin«, erwiderte sie und starrte auf die brodelnde rote Sauce. »Sie hat Minderwertigkeitskomplexe!« rief er Ruth zu. »Aber mit ein paar Streicheleinheiten werden wir ihr Ego sicher aufmöbeln können.« Er hielt Laura den Löffel an die Lippen. »Nun kosten Sie schon endlich!« Laura gehorchte. »Gut«, sagte sie. Und es schmeckte ihr wirklich. »Nicht schlecht für einen gebürtigen Iren namens Brody, was?« Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie so überfalle. Sie wären sicher lieber mit Ruth allein gewesen…« »Sei nicht kindisch«, fiel Ruth ihr ins Wort. Sie hatte sich zu ih-
nen gesellt und probierte nun ebenfalls die Sauce. »Dave ist ein begeisterter Koch, und je mehr Leute seine Kreationen loben, desto glücklicher ist er. Nicht wahr, Liebling?« Dave warf den Inhalt einer Spaghetti-Packung in einen großen Topf mit kochendem Wasser. »Der Käse ist da drüben, Ruth«, sagte er. »Er ist schon gerieben. Übrigens - wann heiratest du mich?« Ruth ignorierte diese Frage. »Meine Füße tun mir weh. East Side, West Side, um die ganze Stadt herum… Ich habe heute mit Laura eine Riesentour unternommen, wir sind sogar aufs Dach eines Wolkenkratzers geklettert.« »Hast du nicht gehört, Ruth? Ich habe dich etwas gefragt.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Wann wirst du mich endlich heiraten?« »Geh weg!« rief sie und gab ihm einen kleinen Stoß, der aber nicht sehr überzeugend ausfiel. »Du bist doch nur hinter meinem Geld her.« »Natürlich«, gab er fröhlich zu. Er küßte sie noch einmal, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Herd zu und rührte in den Spaghettis. Als er sich überzeugt hatte, daß sie nicht zusammenklebten, drehte er sich zu Laura um. »Ihre Schwägerin wird in vier Monaten ein hübsches Sümmchen erben«, informierte er sie mit einem entwaffnenden Grinsen. »Und sie will das ganze Geld für sich allein haben. Finden Sie das fair?« Laura wich seinem Blick aus. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. »Ich – ich weiß nicht«, stotterte sie. »Sie sind mir eine große Hilfe«, sagte er seufzend. »Gehen Sie, schauen Sie sich lieber wieder die Bilder an.« Er beugte sich wieder über den Herd und drehte die Gasflamme unter dem Saucentopf kleiner. Laura wußte nicht recht, was sie von Dave halten sollte. Ein Mann wie er war ihr noch nie begegnet. Sie sah zu Ruth hinüber, die gerade Servietten auf den Tisch legte, aber ihre Schwägerin zuckte nur mit den Schultern, um anzudeuten, man brauche Dave nicht sonderlich ernst zu nehmen. Laura ging zu dem Regal und nahm ein Bild nach dem anderen
heraus. Sie fand, daß sie alle ziemlich gleich aussahen. Ruth war zu Dave an den Herd getreten. »Hör auf mit dieser Tour«, sagte sie leise. »Du verwirrst sie.« »Das verdient sie auch«, stieß er heftig hervor. »Nach dem Dinner rufen wir ein Taxi und schicken sie nach Hause.« Ruth schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.« »Doch, das geht«, sagte er und gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze. »Und jetzt geh. Sei meine Agentin, verkauf ihr ein Bild!« Er gab ihr einen sanften Stoß in Lauras Richtung und biß in eine Nudel, um festzustellen, ob sie gar war. Ruth ging zu Laura, die gerade ein Bild hin und her drehte und nicht recht wußte, wo oben und unten war. Ruth blickte ihr über die Schulter. »Er malt erst seit ein paar Jahren«, sagte sie. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Er will mich wirklich heiraten.« Laura sagte nichts. Sie blickte mit gerunzelter Stirn auf die Komposition weißer Streifen, die sich scharf von ihrem schwarzen Hintergrund abhoben. »Vielleicht wäre es gar keine so schlechte Idee, ihn zu heiraten«, fuhr Ruth fort. Laura wandte ihr den Kopf zu und sah sie skeptisch an. »Ja, ich weiß, er ist ein bißchen verrückt«, sagte Ruth seufzend. »Aber wer ist das nicht?« »Wie lange kennst du ihn schon?« »Seh, jetzt redest du genau wie meine Mutter«, stieß Ruth angewidert hervor. »Sechs Monate. Ist das lange genug? Ich habe ihn in einer Buchhandlung in Greenwich Village kennengelernt, in der Eigth Street.« »Ruth«, begann Laura, »ich wollte nicht…« »Und er hat mich angesprochen«, unterbrach Ruth sie ungeduldig. »Okay?« »He, das Essen ist fertig!« rief Dave. »Kann jemand die Weinflasche aufmachen?« »Wenigstens passen wir gut zusammen und verstehen uns«, sagte Ruth mit schriller Stimme. »Was man von dir und Mark nicht gerade behaupten kann…« »O Ruth…«, flüsterte Laura gekränkt. Aber Ruth hörte ihr nicht mehr zu. Sie ging zum Küchenschrank, um eine Flasche Chianti zu öff-
nen. »Eine Flasche Wein, mein Herr – bitte sehr…« Laura blickte ihr verstört nach. Hatte ihre Schwägerin die Wahrheit gesagt? Paßte sie wirklich nicht zu Mark? Nach dem Essen stand Laura vom Tisch auf. »Ich bin sehr müde«, sagte sie. »Ich glaube, ich sollte jetzt nach Hause gehen.« »Ich komme mit dir«, erbot sich Ruth. »Unsinn! Ich bin durchaus imstande, mir ein Taxi zu suchen und mich in die East 67th Street fahren zu lassen. Wenn ich mich in Rom zurechtgefunden habe, wird mir das wohl auch in New York gelingen.« »Also gut«, erwiderte Ruth. »Aber laß dich wenigstens von Dave nach unten bringen. Er soll dir ein Taxi besorgen.« »Sicher«, sagte Dave, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben. »Nein«, widersprach Laura hastig, »ich kann mir selbst ein Taxi besorgen.« Bevor einer der beiden protestieren konnte, hatte sie rasch ihre Handtasche ergriffen und war zum Lift gelaufen. »Vielen Dank für alles – und ich wünsche euch noch einen schönen Abend!« rief sie atemlos, bevor sich die Türen des Aufzugs schlossen. 15. Laura bezahlte den Taxifahrer und lief die Stufen des Hauses Nummer sechsundzwanzig hinauf. Niemand öffnete ihr die Tür, als sie auf den Klingelknopf gedrückt hatte. Sie läutete noch einmal, und dann drehte sie am Messingknauf und war ziemlich überrascht, als sich die Tür öffnen ließ. In der Eingangshalle brannte Licht. Sie schloß die Tür und lehnte sich für einen Augenblick dagegen, sah sich voller Unbehagen in der großen Halle um, die ihr nun noch bedrückender erschien als am Abend ihrer Ankunft. Wenn das Haus doch nur von normalem Leben erfüllt wäre, dachte sie, von Stimmen, von Radiomusik… Zögernd ging sie auf die Küche zu.
»Mrs. Medina?« rief sie. Aber sie erhielt keine Antwort. »Mrs. Medina?« Anscheinend war die Haushälterin nicht in der Küche. Laura blickte zum Salon hinüber, dann zur Bibliothek. Die beiden Zimmer waren dunkel. Sie überlegte, daß es wohl keinen Sinn hatte, hier unten zu bleiben. In den großen Räumen würde sie sich einsam und verlassen fühlen. Sie beschloß, oben im Schlafzimmer auf Mark zu warten. Sie lief die Treppe hinauf. Und als sie an der geschlossenen Tür von Mrs. Wilsons Schlafzimmer vorbeikam, sah sie den dünnen Lichtstreifen darunter. Sie zögerte – dachte nach… Und dann traf sie ihre Entscheidung. Leise klopfte sie an die Tür ihrer Schwiegermutter. »Ja?« antwortete eine Frauenstimme. Laura straffte die Schultern. Dann drehte sie den Türknauf herum und betrat das Zimmer. 16. Sarah Wilson lag in ihrem Bett. Die Nachttischlampe brannte und warf einen weichen Schein auf ihr Gesicht. Sie hatte gelesen, aber nun war das Buch aus ihrer Hand geglitten, und sie blinzelte, versuchte die Schatten jenseits des Lichtkreises mit ihren Blicken zu durchdringen. »Wer ist da?« rief sie. Der erste Eindruck, den Laura von ihrer Schwiegermutter gewann, überraschte sie. Sarah Wilson war keineswegs die furchteinflößende Gestalt, die ihre lebhafte Phantasie ihr vorgegaukelt hatte. Sie sah eine zarte, aristokratisch wirkende Frau in einem rüschenbesetzten Bettjäckchen. Nein, ihre Schwiegermutter war ganz sicher nicht furchterregend. Und sekundenlang hatte Laura sogar das untrügliche Gefühl, daß Mrs. Wilson sie ängstlich beobachtete. Sie wagte sich ein paar Schritte vor. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mrs. Wilson!«, sagte sie schüchtern. Ein Lächeln erhellte das alte, faltige Gesicht. »Du bist sicher Laura!«
»Ja. Mark ist noch nicht zu Hause, und da dachte ich…« »Er hat angerufen«, sagte Mrs. Wilson. »Er muß jeden Augenblick kommen. Mach die Tür zu, Kind, und setz dich zu mir.« Laura schloß die Tür und ging dann auf das Bett zu. »Endlich lerne ich dich kennen – Mutter. Ich darf dich doch so nennen?« »Aber natürlich, mein Kind.« »Nun bin ich schon vierundzwanzig Stunden in diesem Haus, und wir sehen uns erst jetzt…« »Setz dich, bitte. Ich möchte mit dir sprechen.« Laura ließ sich in dem zierlichen Lehnstuhl neben dem Bett nieder und wartete. Aber Mrs. Wilson sagte nichts. Sie lag im Bett, die Augen auf Laura gerichtet, ihre dünnen Finger zupften an der malvenfarbenen Bettdecke. Laura begann sich unbehaglich zu fühlen. Da Mrs. Wilson beharrlich schwieg, beschloß sie, ihrerseits Konversation zu machen. »Wußtest du, daß die Haustür nicht versperrt ist?« fragte sie. »Mrs. M. ist zum Drugstore gegangen«, erwiderte Sarah Wilson. »Und sie war wohl wieder einmal zu faul, den Schlüssel mitzunehmen.« »Oh…« »Du bist sehr hübsch, Laura.« Laura errötete. »Oh - vielen Dank«, sagte sie verlegen. Wieder geriet das Gespräch ins Stocken, und Lauras Unbehagen wuchs. Entschlossen beugte sie sich vor. »Ich konnte es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen«, sagte sie. »Und es war eine wunderbare Überraschung für mich, als Mark mir sagte, daß er hierherkommen wollte. Ich wußte gar nichts von diesem Haus…« »Gefällt es dir?« fragte Sarah Wilson. Laura fand diese direkte Frage ihrer Schwiegermutter etwas verwirrend. »Ich… O ja, es ist sehr schön…« Als Mrs. Wilson keine Antwort gab, fuhr Laura hastig fort: »Ich nehme an, Mark hat dir erzählt, wie wir uns kennengelernt haben. Ich habe in der amerikanischen Botschaft in Rom gearbeitet und…«
Mrs. Wilson unterbrach sie. »Fühlst du dich wohl hier?« »Nun – ja«, antwortete Laura zögernd. Sie wünschte, Sarah Wilson möge aufhören, sie so durchdringend anzublicken. »Bist du sicher? Fühlst du dich wirklich wohl in diesem Haus?« Obwohl Laura um jeden Preis einen guten Eindruck auf ihre Schwiegermutter machen wollte, fiel es ihr doch schwer, sich ihr wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Sie lächelte nervös und nicht sehr überzeugend. »Ich bin nicht daran gewöhnt, in einem so großen Haus zu leben. Ich bin in der Dreizimmerwohnung meiner Tante aufgewachsen, und da war es ziemlich beengt. Ich glaube, die ganze Wohnung hätte in deinem Salon Platz gehabt.« Mrs. Wilson schien ihr nicht zuzuhören. Sie setzte sich in ihrem Bett auf. »Hast du in diesem Haus irgendetwas Sonderbares bemerkt oder gefühlt?« Laura rutschte verwirrt auf ihrem Stuhl hin und her. »Nun – ich nehme an, in allen alten Häusern hört man seltsame Geräusche – ein Knarren, Ächzen und Stöhnen…« Mrs. Wilson seufzte ungeduldig. »Laura, du scheinst ein vernünftiges Mädchen zu sein, und ich…« Sie brach ab, beschloß es auf andere Weise zu versuchen. »Wenn ein Mensch stirbt – glaubst du, daß dann nichts von ihm auf Erden zurückbleibt außer den sterblichen Überresten, die in seinem Grab liegen?« Laura wich dem forschenden Blick ihrer Schwiegermutter aus. Also wirklich, dachte sie. Sarah Wilson ist… Kein Wunder, daß Mark… »Glaubst du das?« wiederholte Mrs. Wilson ihre Frage. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, erwiderte Laura zögernd. »Ich bin nicht mehr jung, aber ich habe noch alle meine Sinne beisammen«, versicherte Sarah Wilson. »Ich bin borniert und eigensinnig und… Laura, vielleicht werde ich doch langsam alt. Vielleicht ist das der Grund. Wenn man sich dem Tod nähert, kommt einem der Tod entgegen.« Was für ein sonderbares Gesprächsthema, dachte Laura. »Wissen Sie über Elaine Bescheid?« fragte Sarah Wilson. »Ja – ich weiß, daß sie tot ist.«
»Wußten Sie, daß sie hier gestorben ist? In diesem Haus? In dem Zimmer am anderen Ende der Galerie?« »Ich… Nein, das wußte ich nicht.« »Der Tod ist nicht das Ende«, erklärte Sarah Wilson mit tonloser Stimme. »Er kann nicht das Ende sein. Nicht, wenn etwas Unvollendetes zurückbleibt.« »Wie ist sie gestorben?« fragte Laura atemlos. »Was ist geschehen?« Sarah Wilson ignorierte ihre Frage. »Laura, ich möchte dich um etwas bitten. Verlaß dieses Haus – noch heute abend.« Laura starrte sie verwirrt an. »Aber…« »Es macht mir nichts aus, wenn du mich für verrückt hältst«, fiel ihr Sarah Wilson ins Wort. »Aber ich flehe dich an – tu, was ich dir sage!« »Aber warum?« »Wenn du fühlen könntest, was ich fühle…« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sie ist immer noch im Haus, Laura. Ich weiß es. Ich spüre ihre Gegenwart. Manchmal glaube ich, sie steht direkt hinter mir. Und wenn ich mich dann umdrehe, ist niemand da.« Laura lächelte nervös. »Ein Geist?« Mrs. Wilson strich mit ihrer mageren Hand durch die Luft, als wolle sie ein unsichtbares Wesen aus dem Zimmer scheuchen. »Es ist mir egal, wie du es nennst«, sagte Sarah Wilson. »Es – es ist ein Gefühl. Eine Gegenwart. Ein Wille. Irgendetwas von Elaine ist hier - und deshalb darfst du nicht bleiben. Mark hätte dich nie in dieses Haus bringen dürfen.« Obwohl sie sich einzureden versuchte, daß dies alles Unsinn sei, wuchs Lauras Nervosität. Mühsam versuchte sie, ihre innere Unruhe zu verbergen. »Aber – kein vernünftiger Mensch glaubt doch heutzutage noch an – Geister«, stammelte Laura. »Es spielt keine Rolle, ob du an Geister glaubst oder nicht.« Sarah Wilson sank in ihr Kissen zurück. »Es ist nicht einmal wichtig, ob du mir glaubst.« Ihr altes, müdes Gesicht war grau geworden. »Laura – liebst du meinen Sohn?« fragte sie in ihrer direkten Art. »Ja, natürlich.«
»Dann bleib nicht in diesem Haus.« »Aber – ich kann doch nicht einfach davonlaufen, nur weil du behauptest, daß es hier spukt.« »Warum nicht?« »Das wäre doch verrückt.« »Verrückt!« Sarah Wilsons Stimme klang verzweifelt, als sie das Wort wiederholte. »Verstehst du denn nicht, daß Elaine hier ist? Und sie ist böse!« Sie griff nach Lauras Hand, sah ihr bittend in die Augen. »Kind, ich flehe dich an! Ich weiß, wovon ich rede. Ich versuche dir doch nur zu helfen. Mark würde nicht auf mich hören. Aber du mußt tun, was ich dir sage. Bitte, Laura!« »Ich – ich weiß nicht…«, stotterte Laura verstört. »Bitte, sag mir, daß du meinen Rat befolgen wirst. Meinetwegen kannst du mich auslachen, mich für wahnsinnig halten – aber tu bitte, was ich dir sage!« Laura wollte aufstehen, aber Sarah Wilson hielt ihre Hand fest. Plötzlich hatte Laura das Gefühl, sie würde es nicht ertragen, auch nur noch eine Minute in diesem Zimmer zu bleiben. Sie mußte hinaus – sofort… »Wirst du das Haus noch heute verlassen?« drängte Sarah Wilson. »Ich – ich werde warten, bis Mark nach Hause kommt.« »Und dann wirst du gehen?« »Ich – ja, ich werde… Ich werde mit ihm sprechen.« Sarah Wilson ließ ihre Hand los. Sie schien Lauras Worte als Versprechen aufzufassen – als Versprechen, dieses Haus noch am gleichen Abend zu verlassen. Sie schloß erschöpft die Augen, ihre Lippen zitterten. »Ich danke dir, Laura«, flüsterte sie. Laura hatte das Gefühl, sie müsse noch etwas sagen. Aber sie fand keine Worte. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür. Als ihre Hand auf dem Türknauf lag, warf sie einen kurzen Blick zurück. Mrs. Wilsons Augen waren immer noch geschlossen. Lautlos öffnete Laura die Tür und trat auf die Galerie hinaus. 17.
Laura holte tief Atem. Sie schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Das Gespräch mit Sarah Wilson hatte sie ermüdet und verwirrt. In ihren Schläfen pochte es schmerzhaft, und ihre Kehle war wie ausgedörrt. Als sie hörte, wie die Haustür aufging und wieder ins Schloß fiel, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Endlich kam Mark nach Hause. Wie schön… Sie rannte zur Treppe und blickte nach unten. Aber es war Medina, die langsam die Stufen heraufstieg. Sie hielt ein kleines Päckchen in der Hand. »Pillen für unsere Patientin«, sagte sie. »Ist Mark schon zu Hause?« »Nein«, antwortete Laura mit dumpfer Stimme. »Ich werde froh sein, wenn er endlich kommt«, sagte die Haushälterin seufzend und warf einen bedeutsamen Blick in die Richtung von Sarah Wilsons Zimmer. »Diese Frau macht mich ganz verrückt.« »Mrs. Medina…«, begann Laura zögernd. Die Haushälterin war zu Mrs. Wilsons Zimmer gegangen. Sie hatte die Hand bereits erhoben, um die Tür zu öffnen. Als sie Lauras Stimme hörte, wandte sie sich um, sah sie fragend an. »Glauben Sie – an Geister?« fragte Laura stockend. Mrs. Medinas Augen verengten sich. »Dann hat sie also mit Ihnen geredet?« Laura zuckte mit den Schultern. »Es ist natürlich alles Unsinn, nicht wahr? Mrs. Medina – wenn Mark kommt, sagen Sie ihm bitte, daß ich hier oben auf ihn warte. Ich möchte mit ihm sprechen.« »Ja, ich werde es ihm sagen.« »Vielen Dank.« Laura ging auf ihr Zimmer zu. Mrs. Medinas Augen folgten ihr. »Mrs. Wilson!« Laura drehte sich um. »Ja?« »Ich arbeite schon seit vielen Jahren hier, Mrs. Wilson. Und bisher habe ich noch keinen einzigen Geist gesehen.« Die Haushälterin lächelte ihr beruhigend zu. »Und wenn Sie einen sehen, dann sagen Sie es mir. Ich werde ihn schon in die Flucht schlagen.« Laura erwiderte das Lächeln, und dann ging sie in ihr Schlafzim-
mer. Mrs. Medina schüttelte den Kopf. »Geister!« flüsterte sie verächtlich. »So ein Unsinn!« Einen Augenblick lang blieb sie noch vor der Tür stehen, dann seufzte sie tief auf und ging in Sarah Wilsons Zimmer. 18. Laura stand in der Mitte des Raumes, jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Sie hatte die Deckenbeleuchtung angeschaltet. Und jetzt sah sie sich voller Angst um, als erwarte sie, jeden Augenblick eine schreckliche Entdeckung zu machen. Aber in ihrem Zimmer hatte sich nichts verändert. Mit leerem Blick starrte sie auf das altmodische Bett mit den vier Pfosten, auf den Toilettentisch aus Mahagoniholz, auf die Redoute-Rosen in ihrem Silberrahmen, auf die buntgeblümten Vorhänge, die abgewetzten Stühle, den Gepäckständer, den Spiegel in seinem Mahagonirahmen, der mit vergoldeten Äpfeln geschmückt war. Es gab nichts in diesem Zimmer, das furchterregend wirkte. Laura lächelte über ihre unbegründete Angst, ging über den fadenscheinigen Teppich zum Fenster. Sie blickte hinaus in das Dunkel, dann öffnete sie einen Fensterflügel und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Sie fühlte, wie ihr Körper sich entspannte, wie sie ihre innere Ruhe wiederfand. Sie griff nach einem Buch, ohne einen Blick auf seinen Titel zu werfen, knipste die Leselampe an und setzte sich in den Lehnstuhl daneben. Aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Nach ein paar Minuten stand sie auf und schaltete jede Lampe im Zimmer an. Dabei warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel, schnitt eine Grimasse und lachte. »Laura, du bist eine dumme Gans«, sagte sie. Sie setzte sich wieder unter die Leselampe, nahm das Buch auf und versuchte sich auf die gedruckten Wörter zu konzentrieren. Die dünnen Gardinen raschelten im Wind. Laura spürte irgendetwas – sie wußte nicht, was es war. Blitzschnell drehte sie sich zum Fenster um. Die Vorhänge bewegten sich nicht.
Laura hatte das Gefühl, als würden sich Schatten im Raum bewegen. Sie glaubte. Geräusche zu hören. Etwas Undefinierbares schien in diesem Zimmer zu geschehen. Was war es nur, das ihr Herz rascher schlagen ließ? Nervös blickte sie sich um. Sie schauderte, spürte eine plötzliche Kälte. Sie warf das Buch aufs Bett und stand auf. Langsam ging sie zum Fenster, schloß es und lehnte die Stirn müde gegen die kühle Scheibe. Warum konnte sie diese unsinnige Angst nicht unterdrücken? Und dann kam eine flüsternde Stimme – aus dem Nichts, aus dem Irgendwo. »Laura!« Es war, als hörte sie ihre eigene Stimme. Ja – diese Stimme klang genauso wie die ihre… Aber sie kam nicht aus ihrer Kehle. Sie wirbelte herum, ihr Blick irrte durch das Zimmer, angstvoll preßte sie die Hände auf die Brust. Sie sah niemanden. »Laura!« Dieselbe Flüsterstimme wiederholte ihren Namen. Wieder ließ sie ihren Blick suchend durch das Zimmer gleiten, wieder sah sie niemanden. »Ich bin Elaine.« Das Flüstern verfolgte sie. »Kennst du mich nicht? Elaine…« Lauras Lippen begannen zu zittern. »Nein!« »Ja. Elaine – Elaine – Elaine – Elaine…« Immer wieder kam die Stimme, hartnäckig wie ein Alptraum. »Elaine…« Laura hielt sich die Ohren zu. »Nein! Das ist nicht möglich!« stieß sie keuchend hervor. Aber die Stimme ließ sich nicht vertreiben. »Elaine – Elaine – Elaine…« Unaufhörlich drang die Flüsterstimme zu Laura, unaufhörlich wie das Rauschen des Meeres, wie das Fluten der Zeit. Plötzlich verlor Laura die Nerven. Sie schrie gellend auf, konnte nicht aufhören zu schreien. Der Raum, das ganze Haus war erfüllt von ihren Schreien und dem unbarmherzigen Flüstern der körperlosen Stimme. 19.
Als Mark Wilson nach Hause kam, hatte Mrs. Medina seine Frau bereits zu Bett gebracht. Er rief den Hausarzt an, nachdem er einen Blick auf Laura geworfen hatte, die mit geschlossenen Augen im Bett lag und am ganzen Körper zitterte. Mrs. Medina brachte ihr noch weitere Decken. Mark saß am Bett seiner Frau und beobachtete sie besorgt, während Dr. Sam Carpenter, ein freundlicher Mann von etwa sechzig Jahren, umständlich in seiner Arzttasche kramte. Sarah Wilson stand in der Tür ihres Schlafzimmers, von nervöser Spannung erfüllt. Mrs. Medina kam mit einer weiteren Wolldecke an Lauras Bett. »Danke.« Der Arzt nahm ihr die Decke aus der Hand. »Wie geht es ihr?« fragte Mrs. Medina keuchend. »Sie wird sich bald wieder besser fühlen«, erwiderte Dr. Carpenter mit sanftem Lächeln. Dann merkte er, wie schwer die Haushälterin atmete. »Aber Ihnen wird es bald sehr schlecht gehen, wenn Sie sich jetzt nicht endlich ausruhen.« »Wie soll ich mich denn ausruhen?« stieß Mrs. Medina hervor. »Wie kann ich Ruhe finden, wo ich immer noch diese gräßlichen Schreie im Ohr habe…« Mark schnitt ihr das Wort ab. »Doktor!« Aufgeregt wies er auf seine Frau. Dr. Carpenter wandte sich sofort dem Bett zu. Laura begann das Bewußtsein wiederzuerlangen. Sie stöhnte leise, stammelte unverständliche Worte. Dr. Carpenter breitete die Wolldecke über sie. Als sich ihre Lider langsam und zitternd hoben, beugte er sich über sie. »Ich bin Dr. Carpenter«, sagte er lächelnd. Mit leeren Augen starrte sie ihn an. Sie war noch nicht ganz bei Bewußtsein. Doch dann kam plötzlich die Erinnerung zurück, und eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen. Mühsam richtete sie sich auf. »Laura«, sagte Mark, »nicht…« Als sie seine Stimme hörte, wandte sie den Kopf. Er war also endlich nach Hause gekommen. Erleichtert atmete sie auf. »O Mark…« Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, klammerte sich an
ihn mit der ganzen Kraft, die noch in ihrem erschöpften Körper war. Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. Mark biß sich auf die Unterlippe. »So beruhige dich doch, Liebes.« Aber sie hörte nicht auf zu schluchzen. »Es war so schrecklich«, stieß sie keuchend hervor. Mark warf dem Doktor einen besorgten Blick zu, wußte nicht, was er tun sollte. »Mrs. Wilson«, sagte Dr. Carpenter mit seiner ruhigen, sanften Stimme. Lauras Augen waren groß vor Angst. Sie achtete nicht auf den Arzt, war am Rand eines hysterischen Zusammenbruchs. »Sie war hier, Mark!« schrie sie. »Hier in diesem Zimmer! Hier…« Mark runzelte die Stirn, versuchte zu verstehen, was sie sagte. »Wer war hier?« »Sie – sie war hier, Mark«, stammelte Laura, »ja – sie war hier. Sie redete mit mir und lachte. Und – und dann… Ich weiß nicht mehr… Ich weiß es einfach nicht mehr. O Mark! Ich hatte so schreckliche Angst.« Mark begriff noch immer nicht, was Laura ihm zu sagen versuchte. »Natürlich hattest du Angst«, sagte er besänftigend. »Aber jetzt ist ja alles wieder gut.« Sie fröstelte in seinen Armen. »Ich bin so froh, daß du wieder bei mir bist«, flüsterte sie. »Mrs. M. hat dich gefunden«, erzählte er ihr. »Du warst ohnmächtig.« »Mrs. M.?« Sie blickte sich um und sah die Haushälterin in der Tür stehen. »Mrs. M. – Sie haben sie doch auch gehört, nicht wahr?« Eindringlich schaute sie in Mrs. Medinas rundes, gerötetes Gesicht. »Sie müssen sie gehört haben.« Mrs. Medina schüttelte mitleidig den Kopf. »Ich habe nur Ihre Schreie gehört, Ma’am.« Dr. Carpenter fand endlich das Tablettenröhrchen, nach dem er gesucht hatte. »Sie müssen jetzt schlafen, Mrs. Wilson.« Er schüttelte eine Tablette aus dem Röhrchen. »Nehmen Sie das, dann werden Sie sich entspannen können.« Er bat die Haushälterin, ein Glas Wasser zu bringen.
Gehorsam griff Laura nach der Tablette. Dann blickte sie ängstlich zu Mark auf. »Es war Elaine«, sagte sie leise. »Sie war hier.« »Laura, bitte…«, begann Mark. »Sie war hier«, beharrte Laura mit schriller Stimme. »Sie war hier – in diesem Zimmer. Mark, du mußt mir glauben. Sie war hier!« »Elaine ist tot«, erwiderte Mark sanft. »Das weißt du doch.« »Es ist mir egal, ob sie tot ist!« schrie sie hysterisch. »Jedenfalls war sie hier - sie war hier!« Mark wollte protestieren. »Aber…« Dr. Carpenter unterbrach ihn. »Mrs. Wilson, nehmen Sie jetzt bitte die Tablette. Danach werden Sie sich viel besser fühlen. Und vor allem werden Sie schlafen – tief und fest.« »Aber…«, stammelte Laura. Sie sah alle der Reihe nach an – Mark, den Doktor und Mrs. Medina. Sie beobachteten sie besorgt, aber sie glaubten ihr nicht. Das las sie in ihren Augen. Sie wandte sich wieder zu ihrem Mann. »Mark?« Er wich ihrem Blick aus. Bittend sah sie die Haushälterin an. »Mrs. Medina, Sie müssen sie doch gehört haben.« Dr. Carpenter beugte sich vor. Mit leiser, sanfter Stimme sagte er: »Mrs. Wilson, Sie haben eine lange Reise hinter sich. Sie sind in einem fremden Haus. Ihre Nerven waren überreizt, haben Ihnen einen Streich gespielt.« »Aber ich…« Er schnitt ihr das Wort ab. »Vielleicht haben Sie sich eingebildet, etwas zu hören«, gab er zu. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß Sie einen schweren Schock erlitten haben und nun Ruhe brauchen.« Er zeigte auf die Tablette, die sie noch immer in der Hand hielt. »Und nun nehmen Sie das - danach werden Sie sich beruhigen.« Sie blickte zu Mark auf. Es war eine stumme Bitte um Beistand. Aber Mark schien mit seinen Gedanken bereits woanders zu sein. Er stand auf und ging zu Mrs. Medina. Laura fühlte sich besiegt und hilflos. Sie schluckte die Tablette,
nahm das Glas, das Dr. Carpenter ihr reichte, und spülte mit Wasser nach. Mark zog Mrs. Medina auf die Galerie hinaus. »Hat sie mit meiner Mutter gesprochen?« Mrs. Medina nickte, und er runzelte ärgerlich die Stirn. »Mark?« rief Laura. Er kehrte an ihr Bett zurück. Dr. Carpenter schloß gerade seine Arzttasche. »Mark«, sagte Laura, »ich habe solche Angst.« »Dazu hast du keinen Grund«, versicherte er ihr, beugte sich hinab und küßte sie. »Sie werden jetzt schlafen, Mrs. Wilson, und morgen früh sieht alles anders aus«, versprach der Arzt. »Bleib bei mir, Mark!« bat Laura. »Ich – ich muß mit meiner Mutter reden«, sagte er, küßte sie noch einmal und streichelte sanft ihre Wange. »Versuch jetzt zu schlafen«, fügte er liebevoll hinzu. »Ich bin in deiner Nähe – falls du mich brauchst.« »Ich brauche dich jetzt.« Dr. Carpenter hatte sie besorgt beobachtet. »Mark«, sagte er, »ich werde mit Ihrer Mutter sprechen.« »Ich will selbst mit ihr sprechen«, erwiderte Mark brüsk. Er klopfte Laura auf die Schulter. »Du weißt doch, Liebes – ich bin ganz in deiner Nähe.« Dann wandte er sich ab und ging aus dem Zimmer. Laura starrte ihm nach. Dann schloß sie die Augen, versuchte die aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. Dr. Carpenter griff voller Mitleid nach ihrer Hand. »Es wird alles wieder gut«, sagte er leise. Es gelang ihr nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Und es war, als hätte sie seine Worte nicht gehört. 20. »Wie kannst du es wagen, mich so anzuschreien?« stieß Mrs. Wilson aufgebracht hervor. Sie war wieder zu Bett gegangen. Doch Mark, der wütend in ihr Schlafzimmer gestürmt war, dachte gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. »Ich habe dich doch gebeten, sie in Ruhe zu lassen. nicht
wahr?« Sarah Wilson hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen. »Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« Ihre Stimme klang brüchig. »Hier zu liegen, diese Schreie zu hören und zu wissen, was sie bedeuten. Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie das ist – wenn man hier liegt, wenn man nicht aufzustehen wagt und es doch nicht im Bett aushält… Ich habe dich doch gebeten, mit ihr auszuziehen.« »Warum?« Seine Augen wurden schmal. »Weil sie meine Frau ist?« »Ja«, sagte Sarah Wilson. Sie sah, wie er wütend die Hände ballte, und fuhr hastig fort: »Aber es ist nicht so, wie du glaubst. Ich habe nichts gegen sie. Ich kenne sie ja kaum. Ich finde, sie ist ein sehr nettes Mädchen.« »Vielen Dank«, erwiderte er sarkastisch. Sie ignorierte seinen Tonfall. »Mark - hat sie von Elaine gesprochen?« fragte sie. Sie erhielt keine Antwort und fragte noch einmal: »Mark – bitte – hat sie von Elaine gesprochen?« Ihre Stimme zitterte. Mark zuckte mit den Schultern. »Sie war völlig hysterisch. Sie bildete sich ein, Elaine sei bei ihr im Zimmer gewesen.« Voller Bitterkeit starrte er seine Mutter an. »Du konntest es nicht erwarten, nicht wahr? Du mußtest ihr unbedingt erzählen, wie Elaine gestorben ist.« Ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Nein, Mark«, antwortete sie, »ich habe es ihr nicht erzählt. Du weißt, daß ich das niemals tun würde.« Müde winkte er ab. »Ich weiß nie, ob ich mich auf dich verlassen kann.« »Ich habe dich zu warnen versucht – das war alles. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Deshalb mußte ich mit ihr sprechen. Und jetzt siehst du ja selbst, wie die Dinge stehen. Jetzt, nachdem das passiert ist, siehst du hoffentlich ein, daß ich recht hatte. Sie kann nicht hierbleiben.« »Mutter, wahrscheinlich schläft sie jetzt«, erklärte Mark geduldig. »Der Doktor hat ihr ein Schlafmittel gegeben.« »Du verstehst mich nicht.« Mutlos schüttelte sie den Kopf. »Was soll ich denn verstehen?«
»Noch ist nicht alles verloren. Wenn du noch heute mit ihr ausziehst, wenn du sie in Sicherheit bringst…« »Wovor soll ich sie in Sicherheit bringen?« »Vor Elaine.« Ich darf nicht die Geduld verlieren, sagte sich Mark, wenn mich das auch noch so große Anstrengung kostet. Er mußte sich beherrschen, mußte versuchen, seine Mutter zur Vernunft zu bringen. »Elaine ist tot«, sagte er langsam und eindringlich. »Sie kann niemandem Schaden zufügen.« Verzweifelt schlang Sarah Wilson die dünnen Finger ineinander. »Warum willst du mich nicht verstehen? Elaine ist hier. Sie ist immer noch im Haus.« Dr. Carpenter war in der offenen Tür erschienen. Schweigend stand er auf der Schwelle, hörte das Gespräch mit an. Weder Mark noch Sarah Wilson bemerkten seine Anwesenheit. »Wo ist sie?« rief Mark. »Zeig mir doch, wo sie ist! Steht sie vielleicht hinter diesem Vorhang? Oder hat sie sich unter dem Bett versteckt? Oder vielleicht ist sie ausgegangen, vielleicht spaziert sie die Madison Avenue entlang, um sich die Schaufenster anzusehen.« »Gut, mach dich über mich lustig, wenn du willst.« Mit plötzlicher Entschlossenheit richtete sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück. »Was hast du vor?« fragte Mark. »Ich werde jetzt mit Laura sprechen.« Bevor sie noch ihre Füße auf den Teppich setzen konnte, war Dr. Carpenter bei ihr. »Sarah, das werden Sie nicht tun«, sagte er mit fester Stimme. Verwirrt zuckte sie zusammen, dann sah sie ihn herausfordernd an. »Sie können mich nicht daran hindern.« »Sie werden das Mädchen in Ruhe lassen«, sagte der Arzt, »und wenn ich Sie an Ihr Bett fesseln muß. Für heute nacht hat sie genug Ängste ausgestanden.« »Verlassen Sie sofort mein Haus!« stieß sie wütend hervor. »Aber Sarah…«, protestierte er. Sie wandte sich zu Mark um. »Was hat er hier zu suchen.« Er blinzelte sie verwirrt an.
»Was er hier… Ich habe ihn angerufen…« »Es tut mir leid, mein Junge«, sagte der Arzt. »Ich dachte, Sie wüßten es.« »Was soll ich wissen?« Mark war nahe daran, seine mühsam gewahrte Beherrschung zu verlieren. »Was geht hier eigentlich vor, zum Teufel? Vielleicht kann ich das endlich erfahren!« Sarah Wilson erhob sich und warf den Kopf in den Nacken. »Dies ist immer noch mein Haus, Mark, und ich will ihn hier nicht sehen.« Dr. Carpenter lächelte sie beruhigend an. »Schon gut, Sarah, ich gehe ja schon. Aber ich bitte Sie – machen Sie keine Dummheiten. Lassen Sie Ihre Schwiegertochter in Ruhe. Sie braucht jetzt dringend ihren Schlaf.« Er nickte Mark zu. »Wir sprechen uns später, mein Junge«, sagte er leise und wandte sich zur Tür. »Nicht später – jetzt.« Mark nahm den Arm des Doktors und wollte ihn aus dem Zimmer führen. »Mark!« schrie Sarah verzweifelt. Er blieb stehen und wartete. »Wirst du Laura aus dem Haus bringen?« fragte sie. Mark ballte die Hände. »Mutter«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe. »Laura ist meine Frau. Ich werde schon auf sie aufpassen, du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen.« Und dann verließ er das Zimmer, begleitet von Dr. Carpenter. Wieder einmal blieb Sarah Wilson allein zurück. Aber es war nicht die Einsamkeit, die sie quälte. Es war die Angst, zu der sich nun auch die frustrierende Erkenntnis gesellte, daß sie nichts tun konnte – überhaupt nichts. Warum nur wollte Mark sie nicht verstehen? War er denn so gefühllos? Spürte er nicht die Gefahr, die in allen dunklen Ecken dieses Hauses lauerte? 21. An der Treppe blieb Mark stehen und wandte sich zu Dr. Carpenter um. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er.
»Vor zwei Jahren…«, begann der Arzt, dann räusperte er sich und warf Mark einen prüfenden Blick zu, bevor er weitersprach. »Vor zwei Jahren, als Elaine starb und Sie das Haus verließen… Nun, das alles war ein schwerer Schock für Ihre Mutter.« Mark schüttelte den Kopf, als wollte er sich von einer schmerzhaften Erinnerung befreien. »Ich konnte nicht hierbleiben.« »Ich weiß«, sagte Dr. Carpenter und klopfte ihm auf die Schulter. »Nun, ich kam ziemlich oft hierher, um nach Ihrer Mutter zu sehen. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen – aber eines Tages erzählte ich ihr, warum Elaine meiner Meinung nach soviel getrunken hat.« Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, und sein Lächeln bat um Verzeihung. »Dabei habe ich mich wohl nicht sehr gentlemanlike ausgedrückt. Das wird Sarah nie vergessen.« Schweigend sahen sich die beiden Männer in die Augen. Nach einer Weile wandte sich Mark ab und sagte mit müder, bitterer Stimme: »Es wird wohl nie aufhören, nicht wahr, Doktor?« Dr. Carpenter wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Nachdem Mark den Arzt zur Haustür begleitet hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Laura zurückzukehren. Die Lampen im Schlafzimmer waren gelöscht worden. Mark setzte sich auf den Stuhl neben Lauras Bett und bewachte ihren Schlaf. Sie schien sich beruhigt zu haben. Die hysterische Angst, die ihr kleines Gesicht verzerrt hatte, war von ihr gewichen. Ihre Züge waren entspannt, wirkten wieder so frisch und hübsch wie damals, als er sich in sie verliebt hatte. Plötzlich bewegte sie sich im Schlaf und stöhnte leise. Mark stand auf und beugte sich über sie. Aber da lag sie schon wieder ganz ruhig da, atmete tief und gleichmäßig. Abrupt wandte er sich ab. Er ertrug den Anblick ihrer Wehrlosigkeit, ihrer Verletzlichkeit nicht länger. Er ging zum Fenster und sah hinaus in die Nacht, überwältigt von der Erkenntnis seiner eigenen Ohnmacht, seiner Unfähigkeit, Laura zu schützen. 22. »Mach die Tür leise zu«, sagte Ruth. »Wahrscheinlich schlafen
sie alle schon.« Dave Brody schloß vorsichtig die Haustür hinter sich und sah sich um. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus. »Du bist ja tatsächlich ein steinreiches Mädchen.« »Ich habe dich gewarnt«, erinnerte sie ihn. »Und wo in diesem Märchenschloß ist dein Zimmer?« fragte er. »Im dritten Stock – hoch oben im Turm«, erwiderte sie lächelnd. »Rapunzel, Rapunzel, laß dein goldenes Haar herab!« sang er leise. »Glaub mir«, sagte sie nachdenklich, »ich überlege mir oft, ob ich nicht die Flucht ergreifen soll.« »Warum tust du es dann nicht?« Hilflos breitete sie die Arme aus. »Wahrscheinlich, weil ich ein Feigling bin«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Statt die Arme wieder sinken zu lassen, schlang Ruth sie um seinen Nacken. »Aber du wirst mir helfen, nicht wahr? Du wirst mir doch helfen?« wiederholte sie, und ihre Stimme klang plötzlich verzweifelt. »Und du wirst mich heiraten, nicht wahr?« flüsterte er und küßte sie. »O Dave!« stieß sie hervor. »Ich glaube, ich liebe dich wirklich!« Leidenschaftlich preßte sie ihren Mund auf den seinen. Lange hielten sie sich umfangen. Aber plötzlich wurde Daves Aufmerksamkeit abgelenkt. Sanft befreite er sich aus Ruths Armen und drehte sich um. »Was hast du?« fragte sie. »Ich dachte, da wäre jemand…« Er brach ab und lachte leise. »Vielleicht fange ich schon an, Gespenster zu sehen, so sehr bringst du mich um den Verstand. Ich gehe jetzt wohl lieber nach Hause und schlafe mich aus.« »O nein!« sagte sie enttäuscht. »Ich rufe dich morgen an«, versprach er und ging zur Tür. »Willst du denn keine Tasse Kaffee mit mir trinken?« rief sie ihm verzweifelt nach. »Vorhin sagtest du doch…« »Ich rufe dich morgen an«, wiederholte er. Und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Eine Weile blieb Ruth reglos in der Halle stehen und starrte die Tür an. Dann zuckte sie mit den Schultern, legte die Sicherheits-
kette vor und sah sich in dem großen leeren Raum um. »Vielen Dank, Elaine«, sagte sie in die Leere hinein. 23. Frustriert und verbittert stieg Ruth Wilson die Treppe hinauf. Sie haßte dieses Haus. Es schien sie in seinen Mauern gefangen zu halten, sie vom Leben auszuschließen, ihr alles zu verwehren, was sie sich wünschte. Wenn sie doch nur den Mut hätte, wegzugehen und sich ein eigenes Leben aufzubauen! Wenn sie nur diese schweren, altmodischen Möbel im Salon, die Familienporträts und sogar ihre Mutter verlassen könnte, ohne sie je wiedersehen zu müssen! Sie hatte die Treppe, die zum dritten Stockwerk führte, erreicht, als sie die Klänge der Spieldose hörte, die ihren traurigen Walzer klimperte. Verwirrt blieb Ruth stehen. Sie konnte nicht gegen die Angst ankämpfen, die in ihr aufstieg. Schweigendes Dunkel erfüllte das Haus. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war die Walzermusik, deren melancholisches Echo von den Wänden widerhallte. Sie zögerte. Dann ging sie die düstere Galerie entlang, zu Elaines Schlafzimmer. Die Tür stand einen Spalt offen. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen und lauschte. Dann stieß sie vorsichtig die Tür weiter auf. Eine Gestalt stand vor dem Toilettentisch – von Schatten umhüllt, nicht erkennbar im Dunkel. Lautlos trat Ruth in den Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Grelles Licht erhellte das Zimmer. Mark stand vor dem Toilettentisch, seine rechte Hand lag auf der kleinen Spieldose. Erschrocken wandte er sich um. und dabei ließ er den Deckel der Spieldose zuschnappen. Abrupt riß die traurige Melodie ab. Ruth ging auf ihn zu. »Ich dachte schon, es wäre Mutter. Weißt du, wie spät es ist?« »Es tut mir leid«, sagte er entschuldigend. »Das habe ich nicht bedacht, Ruth.«
»Ich verstehe.« Ihre Stimme war sehr sanft. »Was versuchst du zu beweisen, Mark?« Er zuckte mit den Schultern, sah sich im Zimmer um, und dann blieb sein Blick an der kleinen Spieldose hängen. »Warum hat Mutter dieses Ding nicht weggeworfen?« fragte er. »Weil es nicht ihr gehört, sondern dir.« Bitter sagte er: »Früher hat sie das nie gehindert…« »Hör auf, Mark«, bat Ruth. »Das ist doch jetzt alles vorbei.« »Es ist nicht leicht für mich.« »Das weiß ich doch.« Sie lächelte schmerzlich. »O Mark – seit meinem achtzehnten Geburtstag versuche ich mich von ihr zu befreien. Letztes Jahr hätte ich es fast geschafft. Wußtest du das?« »Nein, das habe ich nicht gewußt.« »Die große, tapfere Ruth ist einfach gegangen – einfach so.« »Und was geschah dann?« »Was glaubst du wohl?« entgegnete Ruth mutlos. »Sie hat mich aufgespürt und mich angefleht, zu ihr zurückzukommen. Und weißt du – ich war froh, daß sie es tat. Ich hatte solche Angst, Mark. Ich konnte zwar groß daherreden – von Freiheit und Unabhängigkeit - aber ich hatte gräßliche Angst.« »Es tut mir so leid, Ruth«, sagte er ernst. »Das habe ich nicht gewußt. Ich habe nie geahnt, daß es so schlimm für dich ist.« Für eine lange Minute sahen sie sich an, Bruder und Schwester, und sie spürten schmerzhaft das Band des Blutes, das sie vereinte, das Unglück, das sie gemeinsam trugen. Plötzlich stieß Ruth hervor: »Nimm das nächste Flugzeug, Mark! Flieg mit deiner Frau nach Rom zurück!« »Und was für einen Unterschied würde das machen?« fragte er mit einem wehmütigen Lächeln. Hilflos zuckte er mit den Schultern, wandte sich ab und blickte auf die kleine Spieldose hinab. Mit dem Zeigefinger strich er zart über den verschnörkelten Deckel. »Es geht nicht nur um Mutter«, sagte er zögernd. »Auch ich…« »So hör doch, Mark…« »Ruth«, unterbrach er sie, »warum können wir unsere Fehler nicht erkennen, bevor wir sie begehen? Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, als ich Elaine geheiratet habe. Ich hätte doch alt und reif genug sein müssen, um vorauszusehen, was geschehen würde, als ich sie in dieses Haus brachte.« Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Ich habe sie geliebt, Ruth. Und ich habe sie getö-
tet.« »Aber das ist doch lächerlich, Mark«, protestierte sie. »Wirklich? Wenn ich sie nicht hierhergebracht hätte, vielleicht…« Ruth fiel ihm ins Wort: »Sie hat sich erschossen, Mark. Sie hat es getan – nicht du.« »Das ist nicht…« Er brach ab, schlug die Hände vors Gesicht. »Mark, bitte! Hör auf!« »Ich kann nicht!« stieß er mit erstickter Stimme hervor. Mühsam rang er nach Fassung, und als er dann wieder sprach, klang seine Stimme ruhig und beherrscht. »Ich dachte, ich könnte die Vergangenheit vergessen, als ich Laura kennenlernte. Und als ich mich in sie verliebte, glaubte ich, das alles würde sich in Luft auflösen, wie ein Nebel, der allzu lange auf meiner Seele gelegen hatte. Aber es hat nicht funktioniert, Ruth. Es ist immer noch da.« Mit einer müden Geste strich er sich das Haar aus der Stirn. »Ich muß dir etwas gestehen, Ruth…« Er zögerte, wandte sich ihr wieder zu. »Ich brachte es nie über mich, Laura zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Ist das nicht eine wundervolle Basis für eine gute Ehe?« »O Mark!« rief Ruth voller Mitgefühl. Er streckte die Hand aus, streichelte sanft und zärtlich ihre Wange. Dann küßte er sie auf die Stirn. Es war ein sehr liebevoller Kuß. Noch nie waren sie einander so nahe gewesen. »Ich gehe jetzt ins Bett, Ruthie«, sagte er. Er lächelte ihr zu und wollte aus dem Zimmer gehen. Aber auf der Türschwelle blieb er stehen und blickte zu Ruth zurück. Hilflos hob er die Schultern. »Weißt du, Ruth«, sagte er langsam, »ich glaube, Mutter hat recht.« »Wie meinst du das, Mark?« »Elaines Geist hat dieses Haus nie verlassen«, erwiderte er mit dumpfer Stimme. Dann wandte er sich ab und ging davon. Nachdenklich blieb Ruth vor dem Toilettentisch stehen. Mark hatte ihr seine Gedanken und Gefühle noch nie so rückhaltlos offenbart wie in diesen letzten Minuten. Sie hatte ihn ihr Leben lang gekannt. Aber der Altersunterschied und die Tatsache, daß er ein Junge war, daß er die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend im Internat oder auf dem College verbrachte, hatte eine Wand zwi-
schen ihnen errichtet, hatte sie getrennt. Dazu kam, daß er von Natur aus sehr zurückhaltend und verschlossen war. Aber nun berührten sie Marks innere Qualen zutiefst. Vielleicht konnte sie ihm helfen, wenn sie älter und selbständiger wäre. Aber was konnte sie in ihrer Lage für ihn tun? Langsam ging sie auf die Tür zu. Sie wandte sich um, ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum wandern, in dem die bedrückenden Erinnerungen an Marks tote Frau hingen, fast greifbar, wie unheilvolle Monstren. Dann schaltete Ruth das Licht aus, und das Zimmer sank wieder ins Dunkel zurück, in ein lauerndes, wartendes Dunkel. 24. Es war Morgen. Mark stand in der Halle vor dem Telefontischchen und rief die Fluggesellschaft an. In der Maschine, die heute nach Rom abflog, waren keine Plätze mehr frei. »Und wenn jemand den Flug storniert?« beharrte er. »Hören Sie, es ist sehr wichtig. Wir müssen noch heute nach Rom fliegen… Was? Erzählen Sie mir nichts von Hochsaison! Meiner Frau geht es nicht gut. Ich muß sie nach Rom zurückbringen.« Laura war allein in ihrem Zimmer. Sie schlief immer noch. Sarah Wilson lauschte der Stimme ihres Sohnes, die aus der Halle heraufdrang. Sie zog ihren hellblauen Morgenmantel über das Nachthemd, schob ihre bloßen Füße in die Pantoffel und verließ auf Zehenspitzen ihr Schlafzimmer. Vorsichtig blickte sie sich um, dann ging sie die Galerie entlang und öffnete leise die Tür des Zimmers, in dem Laura schlief. Sie trat ein, schloß die Tür hinter sich und huschte zum Bett hinüber. Sie blickte auf das schlafende Mädchen hinab, zögerte sekundenlang. Dann beugte sie sich über Laura und schüttelte sie sanft an der Schulter. »Laura!« flüsterte sie. »Laura, wach auf!« Laura bewegte sich im Schlaf. »Laura, bitte!« wisperte Sarah Wilson. »Bitte, du mußt aufwachen!« Laura öffnete die Augen und blickte sich um. Sie schien nicht zu wissen, wo sie sich befand.
»Laura, bitte! Ich habe nicht viel Zeit!« Laura sah in das alte, faltige Gesicht, das sich über sie neigte, und da kehrte die Erinnerung zurück. »Wo ist Mark?« »Unten in der Halle. Er telefoniert mit der Fluggesellschaft. Hör mir zu, Laura. Sie wollen nicht, daß ich mit dir rede, aber…« Laura unterbrach sie. »Ich möchte Mark sehen.« Sie setzte sich auf, und dann stöhnte sie. »Oh, mein Kopf! Ich habe Schmerzen…« »Es war Elaine, nicht wahr?« Der stechende Schmerz in Lauras Schläfen übertönte die Erinnerung. »Elaine?« wiederholte sie verständnislos. »In der vergangenen Nacht«, sagte Sarah Wilson eindringlich. »Du hast ihre Stimme gehört, nicht wahr?« Laura preßte beide Hände an die Schläfen. Wenn diese Schmerzen nur aufhören würden, dachte sie, dann könnte ich klar denken. Und jetzt geht mir auch noch meine Schwiegermutter auf die Nerven. Wenn sie mich doch in Ruhe ließe… »Ich – weiß nicht«, stammelte sie. »Ich dachte, ich hätte ihre Stimme gehört.« Sie massierte sanft ihre Schläfen. »Aber ich weiß es nicht genau. Vielleicht«, fügte sie leise hinzu, »vielleicht bin ich auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren.« Sarah Wilson ließ sie nicht in Ruhe, und auch die stechenden Schmerzen wichen nicht. »Sie war hier«, beharrte Sarah. Laura richtete sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Sofort verstärkte sich der quälende Schmerz in ihren Schläfen, und sie stöhnte auf. »Ich muß mit Mark sprechen…« Mrs. Wilson setzte sich neben sie. »Laura, du mußt mir jetzt zuhören«, flüsterte sie. »Elaine war hier.« »Aber das ist doch nicht möglich«, entgegnete Laura. »Sie ist doch tot.« »Aber sie hat ein ganz bestimmtes Vorhaben nicht zu Ende geführt. Und deshalb wartet sie, Laura. Sie wartet seit zwei Jahren.«
Voller Qual und Verwirrung schrie Laura: »Was willst du von mir? Was soll das alles?« »Ich versuche, dir zu helfen, Laura.« »Bitte, Mutter - ich kann nicht klar denken…« Aber Sarah Wilson ließ sich nicht beirren. »Laura, die Trennwand zwischen dem Leben und dem Tod ist sehr dünn und schwach. Aber zwischen dem Tod und dem Leben ist sie fast unerschütterlich. Elaine kann diese Wand nicht durchbrechen. Nicht allein. Nicht ohne Hilfe. Und so wartet sie. Endlich kommt jemand.« Ihre Augen, groß und glänzend, schienen sich an Lauras Gesicht festzusaugen. Verstört wandte das Mädchen sich ab, wollte sich von diesem brennenden Blick befreien. Aber der Stimme Sarah Wilsons konnte sie nicht entrinnen. »Laura, du weißt, daß sie hier war.« »Ich… Es war so kalt, ich habe gefroren«, sagte Laura. Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen, schien die Anwesenheit ihrer Schwiegermutter vergessen zu haben. »Ich war in Eis begraben. Ich wollte mich befreien, aber jemand hielt mich fest – hielt mich zurück.« Sarah Wilson seufzte. Sie wußte, sie durfte jetzt nicht lockerlassen. Sie mußte ihre ganzen Kräfte, so gering sie auch waren, auf dieses halbwahnsinnige Mädchen übertragen, das sich gegen ihre Hilfe sträubte. »Du bist Marks Frau«, sagte sie, »und du bist nicht sehr stark. Du bist keine Gegnerin für Elaine.« Ihre Stimme war nun lauter und eindringlicher geworden. »Du mußt das Haus verlassen, bevor es geschieht.« Zumindest war es ihr jetzt gelungen, die Aufmerksamkeit ihrer Schwiegertochter zu erregen. Sie sah, wie das Blut in Lauras Wangen stieg, wie der dumpfe Ausdruck ihrer Augen nackter Angst wich. »Bevor – was geschieht, Mutter?« stammelte sie. »Was kann denn geschehen?« Stumm betete Sarah Wilson um neue Kraft. Denn sie brauchte jetzt viel Kraft, um Laura aus der Lethargie zu reißen, in die sie die Schlaftablette des Doktors versetzt hatte. Laura mußte hellwach die Gefahr erkennen, die in diesem Haus lauerte. Die Gefahr, die bisher nur sie allein kannte, die nur darauf wartete, sie alle zu vernichten.
»Sie will dich benutzen«, sagte sie. Die Anstrengung, die es sie kostete, Laura zu überzeugen, nahm ihr den Atem. Sie rang nach Luft, keuchend fuhr sie fort: »Sie wird dich dazu benutzen, meinen Sohn zu verletzen.« »Das ist doch lächerlich…« »Du hast sie nicht gekannt, Laura. Sie war sehr stark. Sie war besitzergreifend und rachsüchtig.« Sarah Wilson beugte sich näher zu Laura. Ihr sonst so bleiches Gesicht war nun hochrot. Mit bebenden Fingern strich sie sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn, auf der kleine Schweißperlen glänzten. »Sie will deinen Körper in Besitz nehmen. Sie kann es… Ihr Geist wird in deinen Körper schlüpfen.« Sie spürte, daß Laura nicht begriff, was sie da sagte. Seufzend fuhr sie fort: »Ja, ich weiß, das klingt verrückt. Aber ich weiß, daß es möglich ist.« Laura begann am ganzen Körper zu zittern. Plötzlich fror sie wieder. Wenn Sarah Wilsons Worte sie auch nicht überzeugt hatten – ihre eindringliche Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. »Ich… Aber – warum Mark? Warum will sie Mark verletzen? Dazu hat sie doch keinen Grund…« »Bitte, Laura! Es wird wieder geschehen. Und diesmal wird es dir nicht gelingen…« »Warum will sie ihn verletzen?« fiel Laura ihr ins Wort. »Spielt denn das eine Rolle?« Sarah Wilson schloß sekundenlang die Augen. »Lieber Gott, gib ihr doch die Kraft, es endlich zu begreifen…« Ihre Verwirrung, ihre Angst und der stechende, erbarmungslose Schmerz trieben Laura an den Rand der Hysterie. Mit schriller, hoher Stimme schrie sie: »Was hat er ihr denn getan?« »Er…«, begann Sarah Wilson. Dann sprach sie die Worte nicht aus, die ihr auf der Zunge lagen. Sie brachte es nicht über sich. Verzweifelt wandte sie sich ab, wußte nicht, was sie tun sollte. Sie blickte sich suchend im Zimmer um. Doch die leeren Wände gaben ihr keine Antwort. Sie konnte die Antwort nur in sich selbst finden. Und sie erkannte, daß es keinen anderen Weg gab, als Laura die Wahrheit zu sagen. Sie mußte das Unaussprechliche aussprechen. »Er hat sie getötet«, sagte sie tonlos. »O nein!« stieß Laura mit erstickter Stimme hervor. Sarah Wilson wandte sich ihr wieder zu, griff nach ihrer Hand.
»Verstehst du nun? Er hat sie getötet. Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Mark.« Sie sank in sich zusammen, alle Kraft schien sie nun verlassen zu haben. »Aber ich weiß, daß er es getan hat.« »Aber – Mark kann doch nicht… Er wäre nicht fähig dazu…« »Ich hörte, wie die beiden miteinander stritten. Sie waren in ihrem Schlafzimmer. Sie hatten schon oft gestritten, aber so schlimm wie an jenem Abend war es noch nie gewesen. Sie versuchte wieder einmal, Mark gegen mich aufzuhetzen. Ich hörte ihn schreien – und er sagte, er würde sie töten.« Laura war totenblaß geworden. Kalte Angst hatte ihre Augen geweitet. War ihre Schwiegermutter wahnsinnig? Oder hatte sie die Wahrheit gesagt? »Ich – glaube es nicht«, stammelte Laura. »Denkst du, ich will es glauben?« Sarah Wilsons Stimme war heiser vor Schmerz und ungeweinten Tränen. »Er ist mein Sohn.« Sie holte tief Atem. Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen. Aber sie mußte sich zusammenreißen. So viel stand auf dem Spiel. »Später an jenem Abend… Ich – lag im Bett. Ich dachte, sie seien ausgegangen.« Sie machte eine Pause, rang wieder nach Luft. »Da hörte ich plötzlich den Schuß, und dann hörte ich Mark die Treppe hinunterlaufen. Als ich die Halle erreichte, war er verschwunden, aber…« Sie brach ab, barg ihr schmerzverzerrtes Gesicht in den dünnen weißen Händen. »Ich höre es immer noch – wieder und wieder – die ganze Zeit. Den Schuß und die Schritte… Den Schuß und die…« Sie hob den Kopf, zwang sich, mit ruhigerer Stimme weiterzusprechen. »Ich ging in ihr Zimmer. Sie war tot. Der Revolver… Ich hob ihn auf und legte ihn in ihre Hand.« Ihre Schultern sanken nach vorn. Plötzlich sah sie aus wie eine kraftlose Greisin. »Ich sagte der Polizei, daß Elaine Selbstmord begangen hat.« »O Gott«, flüsterte Laura. »O Gott…« »Als die Untersuchung beendet war, ging Mark nach Europa. Ich dachte, nun sei alles vorbei. Die Polizeibeamten waren sehr nett und voller Mitgefühl. Sie gaben uns sogar den Revolver zurück. Der Revolver…« Mutlos schüttelte sie den Kopf. »Ich hatte mich geirrt. Es war nicht vorbei. Nicht für Elaine.« »Nein«, protestierte Laura mit schwacher Stimme, »es ist nicht
wahr…« »Sie ist hier, Laura«, sagte Sarah Wilson. »Sie wartet.« »Sie wartet?« wiederholte Laura. »Worauf wartet sie?« »Sie will ihn töten.« »Nein!« Das alles war Wahnsinn – ein Alptraum. Sie mußte aufwachen… »Nein!« schrie Laura und schloß die Augen. »Laura, bitte!« Laura öffnete die Augen wieder. Der Alptraum war immer noch da. Mrs. Wilson saß immer noch neben ihr, sah sie an mit diesem entnervenden, eindringlichen Blick. »Laura, du hast gesagt, daß du ihn liebst. Hilf ihm!« »Laß mich doch in Ruhe! Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?« jammerte Laura. Aber Sarah Wilson gab nicht nach. »Sie wird wiederkommen. Ich weiß, daß sie es tun wird. Geh weg, Laura. Geh weg, bevor…« »Laß mich in Ruhe!« kreischte Laura. Sie sprang auf, rannte zur Tür, riß sie auf, stürmte auf die Galerie hinaus. Keuchend lief Sarah Wilson ihr nach. In der offenen Tür blieb sie stehen und sah zu, wie Laura auf die Treppe zustolperte. »Ich will dir doch nur helfen!« rief sie ihr nach. Aber Laura hörte ihr nicht mehr zu. Taumelnd rannte sie die Treppe hinab. »Mark!« schrie sie. Für einen Augenblick verlor sie fast das Gleichgewicht, aber sie hielt sich am Geländer fest. »Mark!« kreischte sie. »Wo bist du, Mark?« »Willst du, daß Elaine ihn tötet?« rief ihr Sarah Wilson mit schriller Stimme nach. »Willst du das?« Mark hatte Lauras Schrei gehört. Er kam aus dem Salon gelaufen. »Laura!« Sie war am Fuß der Treppe angelangt, rannte auf ihn zu und warf sich in seine Arme. »O Mark!« jammerte sie. »Mark… Sag ihr, sie soll mich in Ruhe lassen! Bitte, bitte, sie soll mich in Ruhe lassen…« Noch immer folgte ihr Sarah Wilsons verzweifelte Stimme. »Sie ist in diesem Haus, Laura! Sie ist hier!« Laura preßte ihr Gesicht an Marks Brust.
»Bitte, Mark, bitte! Ich will ihr nicht zuhören!« Zitternd schmiegte sie sich in seine Arme. »Komm!« sagte er besänftigend und führte sie in den Salon. Aber auch dorthin folgte ihnen Sarah Wilsons zitternder Ruf. »Ich will dir doch nur helfen, Laura!« Doch nun schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen. Laura war in Sicherheit. Sie umklammerte mit beiden Händen Marks Arm, als sie in einen Stuhl sank. »Beruhige dich doch!« bat er. »Es ist ja alles gut. Du darfst dich nicht so aufregen, Liebes.« Ihre Finger gruben sich bebend in seinen Arm. »Mark, ich flehe dich an – fliegen wir nach Rom zurück – noch heute!« »Ich habe versucht, Tickets zu bekommen«, sagte er. »Ich habe alle Fluggesellschaften angerufen. Aber die Flüge heute sind alle ausgebucht. Ich konnte erst für morgen zwei Plätze bekommen.« »Dann nehmen wir uns ein Hotelzimmer. Ich kann nicht mehr hierbleiben.« Er sah herab auf ihr bleiches Gesicht, auf ihren schlanken Körper, der in dem dünnen Nylonnachthemd zitterte. »Was hat sie dir erzählt?« fragte er tonlos. »Mark, bitte…« Laura schüttelte den Kopf. »Bitte…« »Elaine?« fragte er. »Hat sie von Elaine und mir gesprochen?« Ängstlich blickte sie in sein ausdrucksloses Gesicht. »Das ist doch jetzt egal. Wenn wir nur von hier weggehen…« »Elaine hat Selbstmord begangen«, unterbrach er sie. »Hat sie dir das erzählt?« Laura sank stöhnend in den Stuhl zurück. »Hat sie dir das erzählt?« wiederholte er. »Ja«, sagte sie leise. Mark atmete hörbar auf. Er senkte den Kopf, und es schien, als hätte ihn plötzlich alle Kraft verlassen. Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber er reagierte nicht. Reglos stand er vor ihr, und ein lastendes Schweigen senkte sich über den Raum. Nur das Ticken der Uhr, die unter ihrer Glasglocke auf dem Kaminsims stand, durchbrach die Stille. »Mark«, flüsterte Laura, »ich liebe dich.« Er gab keine Antwort, ging zu einem der Fenster, schob den schweren Damastvorhang beiseite und starrte auf die Straße hinaus.
Lange Zeit blieb er reglos am Fenster stehen und schwieg. Schließlich fragte er, ohne sich umzuwenden: »Hat sie dir erzählt, warum Elaine sich umgebracht hat?« »Das ist doch nicht wichtig«, erwiderte Laura. »Es interessiert mich nicht.« Sie wollte noch hinzufügen, daß für sie nichts wichtig war außer seiner Liebe. Aber diese Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Mark ignorierte den flehenden Klang ihrer Stimme. »Elaine war Alkoholikerin«, stieß er hervor. »Hast du das gewußt?« »Mark«, sagte sie hilflos, »bitte, nicht…« Doch er sprach unbarmherzig weiter. »Sie war Schauspielerin – in einem Sommertheater. Ich brachte sie in dieses Haus, und da begann sie wieder zu trinken.« Er drehte sich zu Laura um und sah sie ernst an. »Ich weiß nicht, ob ich ihr das zum Vorwurf machen kann.« »Mark, bitte! Das ist doch jetzt alles vorbei.« Wenn er Elaine nur vergessen könnte, dachte sie, wenn er sich befreien könnte von diesen bösen Erinnerungen, dann könnte er vielleicht wieder er selbst sein, könnte sie lieben wie in jenen glücklichen Tagen nach der Hochzeit – in ihrer römischen Wohnung. »Es ist niemals vorbei!« schrie er. »Siehst du das denn nicht?« Sie spürte, wieviel Kraft es ihn kostete, sich zu beherrschen, mit ruhigerer Stimme fortzufahren: »Wir begannen zu streiten – immer öfter, immer heftiger. Mein Vater hatte einen Revolver. Elaine fand ihn, und nun drohte sie mir, sie würde sich erschießen. Ich nahm ihr die Waffe weg und versteckte sie. Ich wollte sie wegwerfen.« Er ballte die Hände. »Aber dann dachte ich nicht mehr daran, der Revolver blieb in der Schublade meines Nachttischchens liegen.« Minutenlang schwieg er, versunken in seine alptraumhaften Erinnerungen. Laura beobachtete ihn. Sie wußte, sie konnte ihn jetzt nicht mehr daran hindern, sich seine Qual von der Seele zu sprechen. Und sie wollte es auch nicht mehr. Zu sehr war sie selbst in diesem Alptraum gefangen. Sie hatte erkannt, daß Marks Qual auch die ihre war. Es gab kein Entrinnen für sie, sie mußte das schreckliche Wissen mit ihm teilen. »Zwei Wochen später«, fuhr er fort, »stritten wir wieder. Diesmal war es schlimmer als je zuvor. Es ging um die Spieldose –
dieses idiotische Ding. Den ganzen Tag ließ Elaine den traurigen Walzer klimpern. Ich haßte diese Melodie, sie zerrte an meinen Nerven. Ich wollte, daß sie das Ding endlich in den Mülleimer warf.« »Hast du ihr die Spieldose geschenkt?« fragte Laura. »Ich?« Erstaunt sah er sie an. »Nein. Ich habe keine Ahnung, woher Elaine das Ding hatte. Sie war wieder einmal betrunken – wie üblich. Und sie drohte mir, sie würde sich umbringen – wie üblich. Ich war so wütend, daß ich ihr sagte, sie solle es doch endlich tun. Und dann verließ ich das Haus.« Er holte tief Atem. »Eine Stunde später kam ich zurück.« »Und?« Er starrte auf seine Hände, und sein Gesicht verzerrte sich. »Sie hat den Revolver gefunden«, flüsterte er heiser. »Sie war tot.« Laura stieß einen zitternden Seufzer aus. »So war das also.« »Laura - ich habe sie getötet«, stammelte er. »ich…« »Hör auf!« unterbrach sie ihn. »Wenn ich nicht weggegangen wäre, wenn ich die Waffe nicht in der Schublade aufbewahrt hätte…« »Hör auf!« schrie sie noch einmal. Mühsam rang sie nach Fassung. »Bitte, Mark«, sagte sie dann mit ruhigerer Stimme, »Du darfst dich nicht so quälen.« Flehend sah sie ihn an, und ihre ganze Liebe lag in ihrem Blick, ihre verzweifelte Angst um ihn. »Wir hätten niemals hierherkommen dürfen«, sagte er. »Du hättest es nie erfahren dürfen…« »Aber wir sind hier, und ich weiß es.« Sie sagte sich, daß sie ihm helfen mußte. Sie mußte ihn herausreißen aus diesem Teufelskreis sinnloser Selbstanklagen, unbegründeter Schuldgefühle. »Hallo!« rief eine helle Stimme. Ruth hatte die Tür des Salons geöffnet. »Da bist du ja, Laura. Ich suche dich schon seit einer halben Stunde. Ich habe gehört, was gestern passiert ist. War es sehr schlimm?« Lauras Blick ließ Marks Gesicht nicht los. »Ja, es war ziemlich schlimm«, sagte sie.
Ruth ging auf sie zu und fragte besorgt: »Fühlst du dich jetzt wieder besser?« »Ja«, erwiderte Laura, den Blick immer noch auf Mark gerichtet. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Ich gehe jetzt nach oben.« Sie erhob sich und verließ den Salon, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Pack deinen Koffer, Laura!« rief Mark ihr nach. »Wir ziehen noch heute morgen aus!« Laura durchquerte die Halle und ging auf die Treppe zu. Sie gab keine Antwort, und er wußte nicht, ob sie seine Bitte gehört hatte. Er wandte sich zu seiner Schwester. »Paß auf sie auf, Ruth. Und sieh zu, daß Mutter sie in Ruhe läßt.« Er rannte aus dem Salon, und sie starrte ihm verwirrt nach. »Wohin gehst du?« fragte sie. Aber er nahm sich nicht die Zeit, ihr zu antworten. Mit grimmiger Entschlossenheit ging er auf die Haustür zu. Bevor er die Hand auf den Türknauf legte, drehte er sich um und blickte zur Treppe. Er sah Laura langsam die Stufen hinaufsteigen. Voller Zärtlichkeit beobachtete er sie, und er fühlte, daß er sie noch nie so sehr geliebt hatte wie in diesem Augenblick. Nein, er würde nicht zulassen, daß sie unglücklich wurde. Er blickte ihr nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, dann riß er die Tür auf und stürmte auf die Straße hinaus. 25. Laura ließ sich auf ihr Bett sinken und starrte vor sich hin. Ihre Kopfschmerzen hatten nachgelassen, sie konnte wieder klarer denken. Nach einer Weile stand sie auf, trat auf die Galerie hinaus und ging zu Elaines Zimmer. Der Raum sah aus wie immer – ein hübsch eingerichtetes Schlafzimmer, dem man es anmerkte, daß es lange nicht benutzt worden war. Das Fenster stand weit offen, und ein frischer Frühlingswind wehte herein. Laura ging zum Fenster und sah auf die belebte New Yorker
Straße hinaus. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihr Blick folgte zwar den Autos, die vorbeifuhren, den Passanten, die sich auf den Gehsteigen drängten. Aber sie schien sie nicht wirklich zu sehen. Langsam wandte sie sich um und ließ die Augen erneut durch das Zimmer wandern. Sie entdeckte keine Schatten, keine dunklen Ecken, aus denen plötzlich Geister hervortauchen konnten. Sie sah nur die bunten Farben der Chintzdecke, die auf dem Bett lag, die vielen Nippfiguren, mit denen Marks verstorbene Frau das Zimmer geschmückt hatte. Schweigend stand das Telefon auf dem Nachttisch. Es war nur ein Telefon – sonst nichts. Und plötzlich war ein leichtes Flirren im hellen Morgenlicht. Sie sah eine tote Frau auf dem Boden liegen. Und Mark beugte sich über die verkrümmte Gestalt. Er hielt einen Revolver umklammert, und in seinen Augen lag kaltes Entsetzen. Die flimmernde Vision war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Das Zimmer sah wieder so normal aus wie zuvor. Ein unbewohntes Schlafzimmer, das gelüftet wurde… Verwirrt preßte Laura die Hände an die Schläfen. Sekundenlang schloß sie die Augen, öffnete sie wieder und erwartete halb und halb, noch einmal jene gräßliche Vision aus der Vergangenheit zu sehen. Aber sie sah nichts. Sie ging zum Toilettentisch, auf dessen spiegelnder Platte die kleine Spieldose stand. Zögernd hob Laura den Deckel, und der melancholische Walzer erklang. Und als die Melodie durch das Zimmer flutete, weckte sie plötzlich eine Erinnerung in Laura. Sie ließ den Deckel der Spieldose zuschnappen. Nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Laura zog sich rasch an. Erleichtert atmete sie auf, als es ihr gelang, das Haus unbemerkt zu verlassen. Sie winkte einem vorbeifahrenden Taxi und bat den Fahrer, sie in die East 57th Street zu bringen. Der Mann beschwerte sich, weil die Fahrt so kurz war, aber Laura hörte ihm nicht zu. Sie gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, als er sie an der Ecke der East 57th Street und der Madison Avenue aussteigen ließ. Sie fand das kleine Antiquitätengeschäft sofort wieder.
Mr. Kurawicz war allein im Laden. Als er sie sah, rieb er sich lächelnd die Hände. »Ah, Sie wollen die kleine Spieldose also doch kaufen? Warten Sie, ich hole sie gleich aus dem Schaufenster.« »Nein«, sagte sie hastig, »deshalb bin ich nicht gekommen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich noch erinnern, wem Sie die andere Spieldose verkauft haben.« »Aber das habe ich Ihnen doch schon gestern erzählt. Ein Mann hat sie gekauft – als Geburtstagsgeschenk für seine Frau.« Laura starrte in sein rundes, gutmütiges Gesicht, und plötzlich fühlte sie sich schwach in den Beinen. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. »Mr. Kurawicz – erinnern Sie sich noch, wie – wie der Mann aussah?« stammelte sie. Der Antiquitätenhändler kicherte. »Liebe junge Dame, wenn ich mich an alle meine Kunden erinnern sollte…« Er brach ab, denn Laura taumelte plötzlich. Sie war totenblaß geworden und tastete nach der Kante eines Biedermeiertischchens, um sich festzuhalten. »Was ist denn los? Fühlen Sie sich nicht gut?« fragte Mr. Kurawicz besorgt. »Doch – es geht mir gut«, erwiderte sie mit schwacher Stimme. »Setzen Sie sich doch – warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wasser.« »Nein – bitte nicht, das ist nicht nötig. Wie hat der Mann ausgesehen, der die Spieldose gekauft hat?« Besorgt musterte er ihr blasses Gesicht. »Geht es Ihnen auch wirklich gut? Wollen Sie vielleicht einen Brandy trinken?« Sie schüttelte den Kopf. »Im Nachbarhaus wohnt ein Arzt. Sie könnten…« »Es geht mir gut«, sagte Laura mühsam. »Bitte – sagen Sie mir, wie der Mann ausgesehen hat.« Mr. Kurawicz zuckte mit den Schultern. In dieser Branche begegnet man heutzutage den merkwürdigsten Leuten, dachte er. »Lassen Sie mich nachdenken…« Er runzelte die Stirn. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Er war groß und etwa dreißig Jahre alt. Er sah sehr gut aus – ein netter junger Mann. Hätte ein Filmstar sein können. Er war blond und trug einen Schnurrbart. Daran kann ich mich ganz genau erinnern.«
Freundlich lächelte er Laura an. »Nun, habe ich nun Ihre Neugierde befriedigt, junge Dame?« »Ja, ich denke schon«, erwiderte sie langsam. »Immerhin«, sagte er, »es ist nicht so leicht…« Er brach ab und blinzelte verwirrt. Sie hatte den Laden bereits verlassen.
26. Mark saß in Coby Ross’ Büro und zog nervös an einer Zigarette. Coby saß in seinen Stuhl zurückgelehnt und zupfte an seinem blonden Schnurrbart, während er telefonierte. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Großartig! Vielen Dank.« Er legte den Hörer auf. »Klappt es?« fragte Mark. »Natürlich. Dein lieber Onkel Coby hat es geschafft. Heute abend, elf Uhr. Sei aber schon um zehn auf dem Flugplatz, du weißt ja – die Formalitäten…« Mark stand auf und griff nach dem Telefonhörer. »Ich weiß nicht, warum ich nicht schon früher daran gedacht habe.« »Weil du ein Kamel bist«, sagte Coby lachend. »Mit den Fluggesellschaften kommen wir ganz gut zurecht. Wir tun denen ja auch so manchen Gefallen. Eine Hand wäscht die andere. So ist das heutzutage.« Mark wählte eine Nummer. »Ich schicke dir aus Rom ein Geschenk«, versprach er. Coby grinste. »Ich bin schon zufrieden, wenn du glücklich bist. Immerhin habe ich ja ein besonderes Interesse daran…« Mark sah ihn fragend an. »Wie meinst du das?« »Vielleicht sollte ich dich nicht daran erinnern, aber…« Coby zögerte. »Nun ja – wer hat dich denn mit Elaine bekannt gemacht?« »Hör mal, es ist nicht deine Schuld…« Mark brach ab und sagte in den Telefonhörer: »Hallo, Ruth! Kann ich mit Laura sprechen?« Als er der Stimme seiner Schwester lauschte, runzelte er verwirrt die Stirn.
»Was sagst du da?« rief er dann. Nach wenigen Sekunden legte er den Hörer auf und drehte sich zu Coby um. »Sie ist nicht zu Hause.« 27. Es hatte nicht den Anschein, als ob Dave Brody einen angenehmen Abend verleben würde. Er hatte sich ganz auf dieses neue Mädchen konzentriert, das er vor ein paar Wochen aufgegabelt hatte. Tagelang war er ihr nachgelaufen. Sie war ein hübsches Ding mit wohlgerundeten Formen und wenig Verstand im Kopf. Endlich hatte sie sich bereit erklärt, den Abend mit ihm in seinem Atelier zu verbringen, und jetzt mußte das passieren. Sie saß auf der Couch und sah ihm zu, wie er Whisky in ein Glas goß. Der Whisky war nicht für sie bestimmt. Er blickte über die Schulter auf den Neuankömmling, und dann fügte er noch einen guten Schuß Whisky hinzu. Er trug das Glas quer durch den Raum zum Tisch, kam dabei an seiner neuen Freundin vorbei und seufzte hilflos. Laura saß am Tisch. Sie hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und das Gesicht müde in die Hände gelegt. Dave stellte das Whiskyglas vor sie hin. »Hier«, sagte er. Sie blickte nicht auf. »Wie spät ist es?« fragte sie. »Halb acht«, erwiderte er. »Kommen Sie, trinken Sie. Das wird Ihnen guttun.« Endlich sah sie zu ihm auf. Ihr Gesicht war verzerrt vor Sorge und Angst. »Dave, was ist nur mit mir los?« Er wies auf das Glas. »Ich hoffe, Sie wissen diesen guten Tropfen zu würdigen. Das Zeug ist sündteuer – Chivas Regal.« Aber Laura ignorierte den Drink. Sie sah ihn an, suchte verzweifelt nach einer Antwort. »Warum bin ich hierhergekommen?« Er lächelte. »Weil Sie von meinen Kochkünsten so angetan sind.« Sie ging nicht auf seinen scherzhaften Ton ein.
»Vielleicht dachte ich, Ruth sei bei Ihnen«, sagte sie langsam. Er warf einen nervösen Blick auf seine neue Freundin. »Nun, da muß ich Sie leider enttäuschen.« »Ich – ich bin spazierengegangen«, erklärte Laura. »Stundenlang – und dann… Ich weiß nicht, wie es geschah, wirklich nicht… Plötzlich war ich hier.« Sie blickte verwirrt um sich. »Dave«, jammerte sie, »ich bin ganz durcheinander. Ich… Oh!« Auf einmal spürte sie einen stechenden Schmerz im Kopf, tastete mit zitternden Fingern nach ihrer Schläfe. Das Mädchen erhob sich von der Couch, ergriff seine Handtasche und ging zum Lift. »Jetzt reicht’s mir. Ich gehe nach Hause, Dave.« David sah sie flehend an. Laura preßte beide Hände gegen die Schläfen und stöhnte. »He!« rief er. »So warte doch!« »So – durcheinander«, flüsterte Laura. »Auf Wiedersehen!« Das Mädchen winkte Dave noch einmal zu und betrat den Aufzug. David wußte nicht, was er tun sollte. Er fühlte sich hin und her gerissen. Er warf einen kurzen Blick auf Laura, dann lief er dem Mädchen nach. »Warte! Sie wird gleich gehen und…« Das Mädchen blickte zu Laura hinüber. »Kümmere dich um deine Patientin, Dave.« Sie drückte auf einen Knopf, die Türen des Aufzugs schlossen sich, und sie entschwebte nach unten. Dave kehrte zu Laura zurück. Plötzlich erschlafften ihre Glieder, und sie glitt vom Stuhl. Zusammengekrümmt lag sie neben dem Tisch. Sie war in Ohnmacht gefallen. Und was soll ich jetzt tun? fragte sich Dave. Verzweifelt kratzte er sich am Kopf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. 28. Es war nicht gerade leicht, aber Dave schaffte es, Laura aus
dem Haus zu tragen und sie in ein Taxi zu verfrachten. Als er sie in die Halle des Wilson-Hauses geschleppt hatte, übernahm Mark die Verantwortung für seine Frau. Er war sehr besorgt gewesen, sie alle hatten sich große Sorgen um sie gemacht. Mark trug sie die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer, und dann rief er Dr. Carpenter an. »Ich komme sofort«, versprach der Arzt, und er traf tatsächlich wenige Minuten später ein. Laura lag bewußtlos auf ihrem Bett. Mark sah zu, wie Dr. Carpenter sich über sie beugte und ihr eine Spritze gab. »Jetzt wird es ihr gleich bessergehen«, versicherte der Arzt. Laura flüsterte kaum verständliche Worte vor sich hin. »Elaine…«, stammelte sie. »Es war – Elaine…« »Beruhige dich, Liebling«, sagte Mark. »Du wirst jetzt tief und fest schlafen, und wenn du aufwachst, sieht die Welt ganz anders aus.« Er wandte sich an den Arzt. »Wie lang wird es dauern, bis die Spritze wirkt?« »Höchstens noch eine Minute.« Dr. Carpenter schüttelte den Kopf. »Leider werden Sie heute abend nicht nach Rom fliegen können.« »Mark…«, flüsterte Laura. Er beugte sich über sie, legte die Lippen an ihr Ohr. »Ja, mein Liebling?« »Ich – will – ich will dir – nicht weh tun«, stammelte sie mit schwacher Stimme. »Schlaf jetzt«, sagte er sanft. Ihre Lider flatterten. Bevor sie in einen traumlosen Tiefschlaf versank, gelang es ihr noch zu wispern: »Ich liebe dich.« Mark küßte ihre Stirn. »Ich liebe dich auch, Laura«, sagte er. Aber sie war bereits eingeschlafen. Ruth und Dave warteten im Salon. Der junge Mann stand auf und ging rastlos auf und ab. Schließlich blieb er an einem der Fenster stehen und sah hinaus. »Hörst du den Sturm?« fragte er. »Gleich wird das Gewitter losbrechen. Ich gehe jetzt lieber.« »Bitte nicht!« »Ruth«, begann er, »ich habe gerade an meinem neuen Bild ge-
arbeitet, als sie kam, und ich würde jetzt gern weiterarbeiten.« Aber sie ließ diese Ausrede nicht gelten. »Bitte, bleib bei mir, Dave!« rief sie. »Bitte!« Ihr Blick wanderte zur Zimmerdecke, und sie lauschte angespannt, als wolle sie herausfinden, was im Oberstock vor sich ging. »Ich kann mir nicht helfen, Dave«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich schrill, »ich habe Angst.« Sarah Wilson wartete in ihrem Schlafzimmer – allein und von innerer Unruhe geplagt. Es war still im Haus. Sie konnte keine Stimmen hören, obwohl sie angestrengt lauschte. Draußen heulte der Sturm immer lauter. Sie stand auf und schloß das Fenster. Dann ging sie zur Tür, drehte den Schlüssel herum, sperrte sich ein. Sie gestand sich ein, daß sie Angst hatte – namenlose Angst. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Es war, als würden eisige Finger ihr die Kehle zuschnüren, immer fester… 29. Laura schlief tief und fest. Mark und Dr. Carpenter gingen in den Salon hinunter. Dave Brody stand vor dem Bechstein-Flügel, schlug spielerisch ein paar Tasten an. Ruth blätterte im Fotoalbum. Aber ihr leerer Blick verriet, daß sie sich die Bilder nicht ansah, daß sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Mark und der Arzt setzten sich auf das langgestreckte Sofa, um zu warten. Mark trommelte mit den Fingern auf den Couchtisch und starrte nachdenklich vor sich hin. Nach einer Weile kam Mrs. Medina mit einer Kaffeekanne herein und stellte sie vor Dr. Carpenter auf den Tisch. »Wollen Sie auch etwas essen, Doktor?« fragte sie. »Nein, danke«, erwiderte er. Sie wandte sich an Mark. »Und Sie, mein Junge?« »Hm?« Geistesabwesend sah er sie an, und dann sagte er hastig: »Nein, danke – nein…«
»Gut, dann werde ich jetzt ins Bett gehen«, verkündete Mrs. Medina. »Ich bin todmüde.« »Ja, sicher, gehen Sie nur«, sagte Mark. »Schlafen Sie gut, Mrs. Medina.« Mit schweren Schritten ging sie in die Halle hinaus. Abrupt wandte Mark sich dem Doktor zu. »Glauben Sie an Geister, Dr. Carpenter?« fragte er. »Nein. An den Geist glaube ich – ja. Aber an Geister - nein.« Mark sah ihn verständnislos an. Dr. Carpenter lächelte. »Ich meine den Geist, der in gewissen Flaschen steckt und mehr oder weniger hochprozentig ist.« Mark grinste erleichtert. »Und genauso einen Geist könnten wir jetzt brauchen«, meinte der Arzt. Er wandte sich an Ruth. »Haben Sie irgendetwas dergleichen im Haus?« Ruth schüttelte den Kopf. »Das erlaubt Mutter nicht.« »Ich glaube, irgendwo muß noch etwas sein«, sagte Mark nachdenklich. »Ich habe Elaines Verstecke nicht alle gefunden.« Er warf Dr. Carpenter einen Seitenblick zu. »Vielleicht ist Elaine immer noch hier, Doktor.« »Mark, zwei Patientinnen kann ich wirklich nicht gebrauchen«, erwiderte der Arzt mit Nachdruck. »Ich weiß«, sagte Mark, »aber…« Er unterbrach sich und zuckte mit den Schultern, als wolle er einen unangenehmen Gedanken abschütteln. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht lassen, immer wieder ängstlich zur Zimmerdecke hinaufzusehen. 30. Der Sturm fegte heulend durch die Straßen. Laura schlief. Dr. Carpenters Schlafmittel hatte den Ausdruck der Verwirrung, der unerträglichen Angst von ihrem Gesicht gewischt. Ihr Gesicht war leer, wie ein weißes Blatt Papier, das vor einem Schriftsteller liegt und darauf wartet, seine Gedanken aufzunehmen.
Schwach, sehr schwach hallte das Echo eines Schusses durch den Raum, gefolgt von hastigen Schritten. Laura bewegte sich unruhig, erwachte aber nicht aus ihrem tiefen Schlaf. Wieder ertönte der Schuß, diesmal lauter. Und wieder entfernten sich eilige Schritte. Laura warf sich in ihrem Bett hin und her. Ein leises Stöhnen kam über ihre trockenen Lippen. »Mark…«, flüsterte sie. Und wieder krachte der Schuß – noch lauter diesmal, und die Schritte klangen wie dumpfe Trommelschläge. Mühsam hob Laura die Lider. Der Raum war nur schwach erleuchtet. Sie sah, daß sie allein war. »Mark!« schrie sie und wartete. Nun hörte sie es deutlich. Es schien aus Elaines Zimmer zu kommen – der Krach des Schusses, die Schritte, die über die Treppe nach unten rasten. Sie richtete sich auf, und das Entsetzen kehrte in ihre Augen zurück. »O Mark!« jammerte sie. »Mark!« Sie stand auf, tastete sich zur Tür. Sie trat hinaus auf die Galerie, war verwirrt und voller Angst und noch im Halbschlaf. »Mark?« flüsterte sie. Es kam aus Elaines Zimmer. Davon war sie nun überzeugt. Mark war dort, und sie mußte verhindern, daß etwas Schreckliches geschah. Sie taumelte auf die Tür zu, die in Elaines Zimmer führte. Die Tür stand offen. »Mark!« schrie sie. »Tu es nicht! Bitte, tu es nicht, Mark!« Sie stand jetzt in Elaines Zimmer, immer noch halb benommen und verwirrt, aber sie wußte, daß sie hierbleiben mußte, daß sie Mark retten mußte – aber wovor? Sie blickte sich um. Der Raum war leer, niemand war hier. Das Fenster war immer noch offen, und der Wind zerrte an den Gardinen. »Mark?« wiederholte sie unsicher. Blinzelnd sah Laura in das Dunkel. Jetzt wußte sie nicht mehr genau, warum sie hier war. Plötzlich dröhnte ihr ein Gelächter in den Ohren. Es schien von weit her zu kommen, aus weiter, weiter Ferne.
Wer war es, der dieses Gelächter ausstieß? Sie selbst? Sie fröstelte. »Nein!« stammelte sie atemlos. »Nein…« Ein plötzlicher Windstoß blähte die Vorhänge, wehte sie Laura entgegen. Die Tür hinter ihr fiel ins Schloß. Sie wirbelte herum, von Panik ergriffen. Das Gelächter gellte ihr noch immer in den Ohren, immer lauter, immer schriller. Sie lief zur Tür, versuchte sie aufzustoßen, aber es gelang ihr nicht. Verzweifelt warf sie sich gegen die Türfüllung, während das unbarmherzige Gelächter aus allen Zimmerecken zu kommen schien und sie verspottete. Warum war sie hierhergekommen, fragte sie sich mit wachsender Verzweiflung und drehte vergeblich am Türknauf. Er ließ sich nicht bewegen. Und dann gab sie ihren Kampf mit der Tür plötzlich auf und begann hilflos zu lachen. Ihr Lachen mischte sich mit dem körperlosen Gelächter, das aus allen Ecken heranzufluten schien, und allmählich hatte sie das Gefühl, daß diese beiden lachenden Stimmen aus einer Kehle kamen. Nach einer Weile brach das andere Lachen ab. Aber Laura lachte immer noch. Ihr Lachen klang genauso wie das körperlose Spottgelächter, das ihr während des sinnlosen Kampfes mit der Tür in den Ohren gegellt hatte. Allmählich beruhigte sie sich, und ihr Lachen verebbte. Ihre Angst war verflogen, und sie fror nicht mehr. Sie war immer noch allein in Elaines Zimmer. Aber nun hatte sie das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein. Sie war nicht mehr halb benommen, nicht mehr schwach. Sie fürchtete sich nicht mehr, war von neuer Selbstsicherheit erfüllt. Laura ging mit festen Schritten zum Toilettentisch. Da stand die kleine Spieldose. Liebkosend ließ sie die Finger über den verschnörkelten Deckel gleiten. Dahinter sah sie ihr Bild, das der halb blinde Spiegel undeutlich zurückwarf. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Es war ein Lächeln der Zufriedenheit, der Vertrautheit.
Laura straffte die Schultern und durchquerte den Raum, über dem jetzt lautlose Stille lag. Sie ging zur Tür und griff nach dem Messingknauf. Diesmal ließ sich die Tür spielend leicht öffnen. 31. Es regnete in Strömen, und die Tropfen trommelten heftig und unrhythmisch gegen die Fensterscheiben. Laura war in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt. Sie lag im Bett, ihre Augen waren geschlossen. Sie öffnete die Augen nicht, als die Tür aufging. Auf Zehenspitzen schlich Mark zu ihrem Bett. Er beugte sich über sie, sah sie liebevoll an. Dann drückte er seine Lippen auf die ihren. Laura wartete, bis er auf Zehenspitzen wieder hinausgegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann öffnete sie die Augen. Sie stand auf und ging zum Telefon, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie in den Hörer lauschte. 32. Dave Brody stand mißgelaunt an einem der Salonfenster und starrte in den Regen hinaus. Es goß in Strömen, und auf der Straße hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Dr. Carpenter trat hinter ihn und blickte ihm über die Schulter. »Ich nehme an, ich werde nach Hause schwimmen müssen«, sagte er. Ruth saß zusammengesunken auf dem Sofa. Nach einer Weile streckte sie sich und gähnte, schenkte sich noch einmal Kaffee ein. Er war inzwischen lauwarm geworden. »Warten Sie lieber noch ein bißchen, Doktor«, sagte Dave. »Bei diesem Wetter werden Sie kein Taxi kriegen. Und wenn Sie zu Fuß gehen, werden Sie bis auf die Haut naß.« »Sie haben recht«, erwiderte Dr. Carpenter. »Aber ich muß wenigstens eine Durchsage auf das Band meines automatischen Anrufbeantworters sprechen.«
Er ging zum Telefon hinüber und wollte gerade den Hörer abheben, als Mark den Salon betrat. Ruth sah zu ihm auf. »Wie geht es ihr?« fragte sie leise. Mark zuckte mit den Schultern. »Sie schläft.« »Mit der Injektion, die ich ihr gegeben habe, müßte sie die ganze Nacht schlafen«, meinte Dr. Carpenter. »Hoffentlich«, sagte Mark. Dr. Carpenter hob den Telefonhörer ab. Dabei warf er Mark einen raschen, abschätzenden Blick zu. Es gefiel ihm nicht, wie der junge Mann aussah. Er schien am Rande eines nervlichen Zusammenbruchs zu stehen. »Haben Sie übrigens irgendwelche Geister gesehen, als Sie vorhin oben waren?« fragte der Arzt leichthin. Mark zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf. Dr. Carpenter musterte noch sekundenlang Marks Gesicht, dann legte er den Telefonhörer wieder auf die Gabel und griff in seine Jackentasche. Er zog ein Tablettenröhrchen hervor, das er Mark reichte. »Sie können auch ein paar von den Dingern gebrauchen, mein Junge. Ich verordne Ihnen die Pillen als Arzt.« Mark winkte ab. »Ich brauche das Zeug nicht.« »Lassen Sie das lieber mich beurteilen«, sagte Dr. Carpenter. »Sie bekommen die Tabletten umsonst – eine Probepackung.« Mark schenkte ihm ein gequältes Lächeln, als er das Röhrchen nahm und es in seine Hosentasche schob. »Danke, Doktor.« »Sie sollen aber sofort eine Pille nehmen«, sagte der Arzt. »Ja, ich nehme gleich eine.« Die vier Menschen versanken wieder in Schweigen und warteten, während der Regen gegen die Fensterscheibe trommelte und die Blattgolduhr auf dem Kaminsims leise unter ihrer Glaskuppel tickte. 33. Auch Sarah Wilson wartete. Sie saß auf dem kleinen Lehnstuhl
neben ihrem Bett und lauschte dem Wind und dem Regen. Sie wußte nicht, worauf sie wartete. Ihr Buch lag geschlossen auf dem Nachttisch. Wie sollte sie an diesem Abend lesen, wo die Regentropfen so unheimlich gegen die Fensterscheiben schlugen, wo sich die quälenden Gedanken, die ihr Kopfschmerzen bereiteten, nicht vertreiben ließen? So saß sie nur da und wartete, und ihre zarten, müden Gesichtszüge wirkten fast durchscheinend im Licht der Lampe, die hinter ihrem Stuhl brannte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch an der Tür. Sie zuckte erschrocken zusammen, lauschte voller Angst. Langsam drehte sich der Türknauf – langsam und fast lautlos. Jemand versuchte die Tür zu öffnen. Da erinnerte sich Sarah Wilson, daß sie den Riegel vorgeschoben hatte. Sie stand auf, ging zur Tür und lehnte den Kopf dagegen. »Wer ist da?« wisperte sie. Sie erhielt keine Antwort. »Wer ist da?« flüsterte sie noch einmal, diesmal ein wenig lauter. Und dann hörte sie eine Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Hier ist Laura«, sagte die Stimme. »Was willst du?« »Ich muß mit dir sprechen«, sagte Lauras Stimme. »Es ist sehr wichtig.« Sarah Wilson stand vor der Tür, unsicher und voller Angst. Ein Schauer lief über ihren Rücken, und sie begann zu zittern. »Bitte!« sagte die Stimme eindringlich. »Ich brauche deine Hilfe.« Sie zögerte noch ein paar Sekunden lang, dann schob sie den Riegel zurück und öffnete die Tür. »Komm herein.« Sie trat beiseite, und Laura schlüpfte rasch ins Zimmer. Sarah Wilson sah sofort, daß sich die junge Frau verändert hatte. Dies war eine andere Laura. Sie wirkte viel selbstsicherer als bei der letzten Begegnung. Mit fester Stimme sagte Laura: »Mach die Tür zu!« Es klang wie ein Befehl. Sarah Wilson machte keine Anstalten, die Tür zu schließen. »Hat dir der Doktor denn erlaubt, das Bett zu verlassen?« fragte
sie. Laura ignorierte Sarah Wilsons Frage. »Ich habe dich gebeten, die Tür zu schließen.« Als die alte Frau sich immer noch nicht rührte, wandte sich Laura um und machte selbst die Tür zu. Dann drehte sie sich wieder zu Sarah Wilson um. »Nun können wir uns ungestört unterhalten.« Sarah Wilson sah die junge Frau prüfend an. Warum benahm sich Laura so seltsam? Und was war das für ein neuer Klang in ihrer Stimme? »Laura?« fragte Sarah schließlich zögernd. Der Name hing zwischen ihnen wie eine Frage, die auf Antwort wartete. Laura lächelte. Es war ein sonderbares Lächeln, das nicht zu ihr paßte. »Ja, Mutter?« Nun wußte Sarah Wilson Bescheid. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren Wahrheit geworden. Sie schloß sekundenlang die Augen, versuchte die schreckliche Tatsache zu akzeptieren. Diese junge Frau war nicht mehr Laura. Sie machte einen raschen Schritt auf die Tür zu, aber Laura schnitt ihr den Weg ab. »Nein, Mutter, wir wollen uns hier unterhalten.« »Du bist nicht Laura«, sagte Sarah Wilson und wich vor der jungen Frau zurück. Laura lachte spöttisch. »Wie lächerlich!« rief sie. »Lauf doch herum und behaupte, daß ich nicht Laura bin! Du weißt, was die Leute davon halten werden. Sie werden denken, daß du den Verstand verloren hast.« »Bitte…« Hilflos rang Sarah Wilson die Hände. »Wo ist der Revolver, Mutter?« »Bitte…« »Du hast gesagt, daß euch die Polizei den Revolver zurückgegeben hat«, fuhr Laura unbarmherzig fort. »Wo hast du ihn versteckt?« »Bitte – bitte, laß mich doch in Ruhe…« »Nun, Mutter, es liegt ganz bei dir, ob du Ruhe finden wirst oder nicht. Es hängt ganz davon ab, wen du nun schützen willst – Mark oder dich selbst.« Sarah wollte antworten, aber die Worte blieben ihr in der Kehle
stecken. Voller Entsetzen starrte sie Laura an, wollte dem Blick dieser Augen ausweichen, aber es gelang ihr nicht. Sie erkannte den Ausdruck in Lauras Augen, hatte ihn oft genug gesehen – diesen Ausdruck, der Eigensinn, Grausamkeit und Rachsucht verriet. Laura lächelte die sprachlose alte Frau an. Es war ein bitteres Lächeln. »Ich glaube, ich weiß, wie du dich entscheiden wirst.« 34. Es regnete immer noch in Strömen. Die vier Menschen saßen bedrückt im Salon und warteten, daß das Gewitter vorüberging und die Zeit verstrich. Ruth hatte den Kaffee aufgewärmt. Niemand wollte etwas essen, niemand hatte Appetit. Plötzlich schrillte die Türglocke. Mark und Ruth wechselten einen Blick. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Ich erwarte niemanden. Hast du jemanden eingeladen?« »Ich? Nein.« Wieder schrillte die Türglocke, anhaltend, hartnäckig. Mark stand auf. »Ich werde nachsehen, wer da ist.« Es war Coby Ross. Kleine Bäche rieselten von seinem Hut, sein Regenmantel war trief naß. Mark bat ihn in die Eingangshalle. »Was führt dich zu uns, Coby?« fragte er und starrte seinen Freund erstaunt an, nachdem er die Haustür hinter ihm geschlossen hatte. »Laura hat mich um meinen Besuch gebeten. Wußtest du das nicht?« »Laura?« fragte Mark verständnislos. »Sie rief mich vor einer Viertelstunde an und bat mich, hierherzukommen.« »Laura? Das kann ich nicht glauben.« »An deiner Stelle würde ich es schon glauben«, erwiderte Coby. »Was anderes als die Bitte einer schönen Frau könnte mich wohl bei diesem Wetter aus meinem gemütlichen Heim gelockt
haben?« Er nahm seinen triefenden Hut ab und schlüpfte aus dem Regenmantel. »Wo ist sie denn?« »Oben. Sie schläft. Also kann sie dich nicht angerufen haben, Coby.« »Meine Tante Nelly war es jedenfalls nicht«, stieß Coby ärgerlich hervor. Er streckte seinen Hut und den Mantel von sich und blickte sich suchend um. »Wo kann ich denn das nasse Zeug lassen?« Ruth hatte in der Tür des Salons gestanden und die Szene mit großen Augen verfolgt. Nun kam sie schweigend auf Coby zu und nahm ihm die Sachen ab. Sie brachte sie in den kleinen Garderobenraum unterhalb der Treppe. »Hör mal, Coby«, begann Mark, »Laura kann wirklich nicht…« »Sie hat mich angerufen – Laura, deine Frau. Hol mir einen Stapel Bibeln, und ich will auf jede einzelne schwören, daß ich die Wahrheit sage. Sie meinte, es sei sehr wichtig, ich solle sofort kommen. Bin ich nun verrückt – oder bist du es?« Mark blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann rief er Ruth über die Schulter hinweg zu: »Mach bitte frischen Kaffee für Coby, ja?« Dann wandte er sich wieder an seinen Freund. »Ich komme sofort zurück.« Er rannte die Treppe hinauf. Coby Ross grinste Ruth verwirrt an. »Was ist hier eigentlich…«, begann er. Dann brach er ab. Dave Brody war aus dem Salon gekommen und stellte sich neben Ruth. Coby starrte Brody an. Und Brody erwiderte den Blick gleichgültig. Nach einer Weile senkte Coby die Lider und wandte sich wieder an Ruth. »Also, was geht hier eigentlich vor?« fragte er. Aber unwillkürlich wanderte sein Blick zu Dave Brody zurück. Er runzelte die Stirn. Irgendetwas an Brodys Erscheinung mißfiel ihm ganz offensichtlich. Er wollte etwas sagen, aber dann zog er es vor, zu schweigen und noch einmal die Stirn zu runzeln. »Hallo«, sagte Dave. »Wer kann schon wissen, was hier vorgeht?« Ruth hob seufzend die Schultern, als wolle sie andeuten, daß wahrscheinlich die ganze Welt verrückt sei und sie mit dazu. »Kommen Sie, ich mache
frischen Kaffee. Den können wir wohl alle gebrauchen.« 35. Mark lief in das eheliche Schlafzimmer. Laura lag nicht in ihrem Bett. »Laura?« rief er. Er war verwirrt und machte sich Sorgen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Davon war er jetzt überzeugt. »Laura?« rief er noch einmal. Er lief die Galerie entlang zu Elaines Zimmer und stieß die Tür auf. Auch Elaines Zimmer war leer. Es regnete durch das offene Fenster herein, schlaff hingen die nassen Vorhänge herab. Aber Mark war zu erregt, um das zu bemerken. Er wirbelte herum, kehrte auf die Galerie zurück, rannte zum Zimmer seiner Mutter. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür. »Mutter«, rief er, »hast du Laura gesehen? Sie…« Er brach ab, lief zu Sarah Wilsons Bett. Sie saß zusammengesunken auf der Bettkante. Mit stumpfem Blick starrte sie vor sich hin. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen in das schweißnasse Gesicht. Sie sah krank aus – wie ein flügellahmer Vogel. »Mutter, was ist los?« rief Mark. »Was ist geschehen?« Sie sah zu ihm auf, aber ihr Blick schien durch ihn hindurchzugehen. »Mutter, hast du Laura gesehen?« drängte er. Sie bemühte sich, aus ihrem Zustand dumpfer Betäubung emporzutauchen. Und als sie schließlich sprach, war ihre Stimme ein heiseres Krächzen. »Ich habe versucht, dich zu warnen«, sagte sie. »Das habe ich getan – ich habe versucht, es dir begreiflich zu machen…« Sie versank wieder in Schweigen, schlang hilflos die Finger ineinander, und Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen. 36. Die einzige Lichtquelle im Keller war eine Sechzig-Watt-Birne,
die an einem Draht hing. Laura stand in ihrem grellen Schein und ließ ihren Blick über das Gerümpel wandern, das sich an den Wänden stapelte, über die ausrangierten Möbel, die Kisten und Schachteln. Über die Hintertreppe war sie in den Keller herabgelangt. Sie stieß mit dem Fuß ein paar alte Lampenschirme beiseite, ein Bündel staubiger Kissenbezüge. Noch hatte sie nicht gefunden, was sie suchte. Wie seltsam, dachte sie. Sie war überzeugt, daß es hier irgendwo sein mußte… Und dann sah sie es hinter einem alten Schaukelstuhl mit geborstener Sitzfläche. Sie sah das alte Kästchen mit den kleinen Schubladen. Ein massives Kästchen aus dunkler Eiche. Es dauerte eine Weile, bis sie den alten Schaukelstuhl von seinem Platz gerückt hatte. Ungeduldig stieß sie ihn beiseite, krachend schlug er gegen ein paar alte Blumentöpfe. Dann zog sie in fieberhafter Hast eine Schublade nach der anderen auf, durchwühlte ihren Inhalt, fand aber nur alte Kleider, die nach Kampfer rochen. Sie warf ein Kleidungsstück nach dem anderen auf den Zementboden. Nur in der untersten Lade hatte sie noch nicht nachgesehen. Sie zog sie auf, griff mit beiden Händen hinein, wühlte zwischen Chiffon, Perlenketten, Georgette, dünnem Samt. Und dann schloß sich ihre linke Hand um etwas Hartes, Metallisches. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie zog den Revolver hervor, sah ihn lächelnd an, ließ ihn in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten. Dann schob sie die Lade wieder zu. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr etwas anderes in die Augen stach. Ein großer Karton, mit Papieren gefüllt. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Deckel, und der Knoten der Schnur, die darumgebunden war, hatte sich mit der Zeit gelockert. Laura kniete neben dem Karton nieder, löste die Schnur und nahm den Deckel ab. Auf dem Papierstapel lag ein großes Album. Unter der Staubschicht konnte sie den Namen lesen, der mit weißer Tusche auf den schwarzen Einband geschrieben war. Elaine. Laura wischte den Staub von dem Deckel, schlug das Album der Toten auf, begann langsam darin zu blättern. Ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen – ein Ausdruck der Gier, des Triumphes.
Fein säuberlich hatte Elaine ihre Theaterkritiken, ihre Verträge und Bühnenfotos in das Album geklebt, die Programme der Aufführungen, in denen sie aufgetreten war. Als Laura das Album zuklappte und wieder in dem Karton verstaute, hatte sie entdeckt, wonach sie gesucht hatte. 37. Ruth hatte eine Kanne mit heißem Kaffee in den Salon gebracht und war wieder in die Küche zurückgekehrt. »Ich werde uns etwas zu essen machen«, hatte sie verkündet. »Wenn Mrs. M. erst einmal in ihren Federn liegt, können sie keine zehn Pferde mehr herausholen. Wie es mit euch steht, weiß ich nicht – aber ich habe jedenfalls einen Bärenhunger.« Dave Brody hatte wieder seinen Posten am Fenster bezogen und sah zu, wie der Regen auf die menschenleere Straße herabströmte. Coby Ross saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa und beobachtete Brody. Noch immer hatte er die Stirn nachdenklich gerunzelt. Dr. Carpenters leere Kaffeetasse klirrte auf dem Unterteller, als er diesen auf den Couchtisch stellte. »Wenn einer meiner Patienten in einer Nacht vier Tassen von dem Zeug trinken würde, müßte ich ihm erzählen, daß er sich damit eine Eintrittskarte ins Jenseits kauft.« Niemand nahm sich die Mühe, ihm zu antworten. Er seufzte und spielte mit dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche. Mark erschien in der offenen Tür. »Sam, kann ich dich unter vier Augen sprechen?« bat er. »Sicher, Mark.« Dr. Carpenter stand auf und ging in die Halle hinaus. David Brody drehte sich um und beobachtete den Arzt und Mark, die unter dem großen Kristallüster standen und leise miteinander sprachen. Plötzlich schnippte Coby mit den Fingern. Endlich wußte er die Antwort auf die Frage, über die er sich so lange den Kopf zerbrochen hatte. »Ogunquit!« rief er. »Aber natürlich!« Er stand auf und ging zu Brody hinüber.
»Ogunquit, Maine«, sagte er. »Im Sommertheater. Vor vier Jahren, Mister. Ich irre mich doch nicht?« Dave Brodys Gesicht war ausdruckslos. »Ich war noch nie in meinem Leben in Ogunquit.« Er wandte sich ab und ging zur Tür. »Möchte wissen, was Ruth so lange in der Küche macht. Da kann man ja glatt verhungern, bis dieses Mädchen was zusammengebrutzelt hat.« »Ich hätte schwören können, daß ich ihn in Ogunquit gesehen habe«, flüsterte Coby Ross vor sich hin. Dann zuckte er mit den Schultern. »Na, vielleicht komme ich noch drauf.« Seine Augen verengten sich, als sie Brody folgten, wieder zog er nachdenklich die Brauen zusammen. 38. Draußen in der Halle sprachen Dr. Carpenter und Mark immer noch miteinander – leise und erregt. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Sam«, sagte Mark. »Sie brabbelt lauter Unsinn vor sich hin, und ich denke, Sie sollten…« Er brach ab, sein nervöser Blick war zur Bibliothekstür geglitten. Der Arzt sah ihn fragend an. »Das ist merkwürdig«, sagte Mark langsam. »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte Dr. Carpenter. Mark wies auf die Bibliothekstür. Sie war geschlossen, aber ein schwacher Lichtschein kam darunter hervor. »Mark, also wirklich…«, protestierte Dr. Carpenter. Aber Mark war bereits auf die Tür zugerannt und hatte sie aufgerissen. Alle Lampen brannten in der Bibliothek, und Laura stand vor einem der Regale und nahm ein Buch nach dem anderen heraus. Sie hatte der Tür den Rücken zugewandt. »Laura!« rief Mark und ging auf sie zu. Vor Schreck ließ sie die Bücher fallen und wirbelte zu ihm herum. »Laura, was…« Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Was soll das?« unterbrach sie ihn. »Warum schleichst du dich von hinten an mich heran? Willst du mir nachspionieren?« »Laura, wo warst du denn die ganze Zeit? Und was machst du
hier unten?« Dr. Carpenter war Mark in die Bibliothek gefolgt. Es überraschte ihn ebenso wie den jungen Mann, Laura hier zu sehen. »Ich nehme an, das ist meine Sache!« stieß sie wütend hervor. »Was interessiert dich das? Oder bin ich hier etwa unter ständiger Aufsicht? Weil man mir nicht trauen kann? Weil ich meine fünf Sinne nicht mehr beieinander habe? Das denkst du doch, nicht wahr?« »Aber ich…«, begann Mark hilflos. »Ich wollte mir etwas zu lesen holen«, fiel sie ihm mit schriller Stimme ins Wort. »Findest du das so seltsam?« Sie wandte sich an den Arzt. »Und Sie, Doktor? Finden Sie es auch seltsam, daß ich mir ein paar Bücher aussuche?« »Offen gesagt, ja«, erwiderte Dr. Carpenter. »Ich finde es höchst sonderbar, daß Sie sich auf den Beinen halten können.« »Es geht mir großartig«, stieß sie hervor. »Ich bin völlig gesund.« »Mein liebes Kind«, protestierte er, »die starke Schlafmitteldosis, die ich Ihnen injiziert habe…« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.« Er griff nach ihrem Handgelenk, um ihr den Puls zu fühlen, aber sie riß sich los. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich völlig gesund bin!« schrie sie wütend. »Laura!« Mark starrte sie verwirrt an. Diese Laura kannte er nicht. Noch nie hatte er sie so unbeherrscht gesehen. Sie drehte sich zu ihm um. Auch das lauernde Glitzern in ihren Augen, die ihn zu durchbohren schienen, war ihm fremd. »Willst du mir jetzt auch einreden, daß ich krank bin?« fragte sie. »Mark, ich will nicht mit dir streiten - und mit Ihnen auch nicht, Doktor. Es geht mir gut, lassen wir es dabei bewenden.« »Laura, so kenne ich dich gar nicht«, sagte Mark hilflos. »Nein? Dann wird es aber höchste Zeit, daß du…« Sie brach ab, weil sie spürte, daß sie vielleicht zu weit gegangen war. »Oh, es tut mir leid, Liebling«, fuhr sie fort. Der Tonfall ihrer Stimme hatte sich abrupt verändert. »Ich bin doch nervöser, als ich dachte.« Dr. Carpenter musterte sie mit einem kühlen, klinischen Blick.
»Das sind Sie ganz gewiß, junge Dame«, sagte er. »Und jetzt gehen Sie am besten zurück in Ihr Bett.« Ihr Zorn schien endgültig verflogen zu sein. »Ja, Doktor«, antwortete sie fügsam. »Ich gehe hinauf und rede mit Ihrer Mutter, Mark«, sagte der Arzt mit leiser Stimme und verließ die Bibliothek. »Komm, gehen wir nach oben, Laura«, bat Mark. Sie rührte sich nicht. »Ich habe Stimmen im Salon gehört«, sagte sie. »Wer ist denn hier?« »Coby. Coby Ross. Er bildet sich ein, du hättest ihn angerufen.« Sie versuchte das schlaue Lächeln zu unterdrücken, das auf ihren Lippen erschien. »Oh? Und Dave Brody – ist er immer noch hier?« »Ja.« Impulsiv griff sie nach seiner Hand. »Mark, könnten wir heute nacht in dem anderen Zimmer schlafen?« »Laura«, begann er, »ich…« »Ich weiß, daß es Elaines Zimmer war«, sagte sie rasch. »Aber das macht mir nichts aus.« Sie schlang die Arme um seinen Hals, schmiegte sich an ihn. »Bitte, Liebling!« flüsterte sie. In ihrer Stimme lag eine verführerische Zärtlichkeit, die nicht zu ihrem Wesen zu passen schien. »Bitte, Liebling«, wiederholte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ihr Mund näherte sich dem seinen. »Bitte, Liebster«, flüsterte sie an seinen Lippen. Mark erwiderte ihren Kuß. Er war völlig verwirrt, aber auch auf seltsame Weise erregt. Noch nie war ihm Laura so bezaubernd erschienen wie in diesem Augenblick, so aufreizend, so begehrenswert. Dieses verführerische Lächeln hatte er noch nie an ihr gesehen, auch nicht diesen leicht verschleierten Blick. Das war nicht die Laura, die er gekannt hatte. Aber es war eine Laura, der er nicht widerstehen konnte. »Also gut«, sagte er. Aber da war sie schon aus seinen Armen geschlüpft. Sie rannte aus der Bibliothek, stürmte die Treppe hinauf, der spitzenbesetzte Morgenmantel flatterte hinter ihr her.
39. Sarah Wilson lag im Bett, als Dr. Carpenter in ihr Zimmer trat. Im ersten Augenblick erschrak er über den Zustand stumpfer Betäubung, in dem sie sich befand. Aber dann gelang es ihm, sie aus dieser tranceartigen Gleichgültigkeit zu reißen. Mit unsicherer Stimme begann sie zu sprechen. Er hörte ihr zu, und seine Miene verriet nicht, was er dachte. Und er fragte sich, wie er ihr helfen konnte. Es gab Momente, wo einem die medizinischen Erfahrungen eines ganzen Lebens nichts nutzten, dachte er. Und es gab Patienten, denen auch der beste Arzt nicht helfen konnte… Er ließ Sarah Wilson weitersprechen, denn er glaubte, daß es sie erleichtern würde, sich alles von der Seele zu reden. Wenigstens auf diese Weise konnte er ihr helfen, wenn er schon in seiner Arzttasche kein Mittel gegen ihre Qualen fand. »Ich konnte doch Mark nicht sagen, warum er nicht mit Laura hierbleiben sollte, nicht wahr?« stieß sie verzweifelt hervor. »Wie konnte ich ihm sagen, daß ich weiß, was er getan hat?« »Und was hat er getan, Sarah?« fragte er ruhig. Doch vor dieser direkten Frage scheute sie zurück. Sie sah ihn an mit ihren hellen, seltsam leeren Augen. »Mir ist, als würde ich in einem Grab leben – so einsam fühle ich mich, Sam. Und dabei wollte ich doch nie einsam sein.« »Niemand will einsam sein«, sagte er sanft. »Dann helfen Sie mir«, flehte sie. »Bitte! Sie müssen mir helfen…« Sie brach ab, die Worte schienen in ihrem Hals zu erstarren. Mit geweiteten Augen sah sie zur Tür. Dr. Carpenter wandte sich um. Laura und Mark standen auf der Schwelle. Und Lauras Blick schien Sarah Wilson zu hypnotisieren. »Gute Nacht, Mutter«, sagte die junge Frau. Sarah ließ das Kinn auf die Brust sinken. Sie antwortete nicht. Mark warf einen fragenden Blick auf Dr. Carpenter, aber der Arzt bedeutete ihm mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln, daß es besser wäre, wenn er mit Laura ginge. Laura wandte sich lächelnd an Mark. Es war ein verführerisches und gleichzeitig spöttisches Lächeln. »Komm, Liebling«, sagte sie. Und im nächsten Augenblick waren die beiden verschwunden.
Sarah Wilson hob den Kopf. Sie öffnete die Lippen, als wolle sie ihren Sohn zurückrufen. Aber sie rief nicht nach ihm. Sie befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge, schloß sekundenlang die hellen Augen. Es war, als sei nun ihr letzter Hoffnungsschimmer erloschen. »Sam«, sagte sie nach langem Schweigen. Voller Angst sah sie zu ihm auf. »Sam, Sie müssen ihn von ihr befreien.« »Ich soll ihn von Laura befreien?« fragte er verwundert. »Sie ist nicht Laura!« schrie Sarah Wilson in tiefster Verzweiflung. Er runzelte die Stirn. »Oh«, sagte er, »oh, ich verstehe.« Er räusperte sich. »Und wenn sie nicht Laura ist«, fragte er gottergeben, »wer ist sie denn dann?« »Ich werde es Ihnen sagen.« Ihre Stimme war ein heiseres, trockenes Flüstern. Und Dr. Carpenter hörte sich geduldig an, was sie ihm zu erzählen hatte. 40. Verwirrt sah Mark seiner jungen Frau nach, als sie durch Elaines Zimmer ging. Sie berührte die einzelnen Gegenstände mit einem seltsamen Lächeln – als würde sie alle wiedererkennen und begrüßen. Und sie schien auf eine unerklärliche Weise glücklich zu sein, als ihre Finger über Elaines Vasen, ihre Nippfiguren und Kerzenleuchter glitten. Verwundert beobachtete er seine Frau. Was konnten ihr all diese Dinge bedeuten? Sie war vor dem Toilettentisch stehengeblieben, auf dem die kleine barocke Spieldose stand. Mit einem fast seligen Lächeln hob sie den Deckel, und die melancholischen Walzerklänge füllten den Raum. »Laura!« rief Mark. »Was machst du da?« »Ich schwelge in Erinnerungen.« Der Walzer gellte ihm in den Ohren, in schrillen, scharfen Tönen. Diese Töne schienen überall im Zimmer zu sein – wie kleine dunkle Vögel, schienen sich an die bunten Chintzgardinen zu
klammern, an die Bilder, an die Kristallfläschchen auf dem Toilettentisch, an die zierlichen kleinen Lampenschirme, an die kleinen, buntbemalten Stühle, an das Bett mit seinem geblümten Baldachin. »Mark«, fragte sie plötzlich, »gefällt dir das Zimmer?« »Nein«, antwortete er. »Mir gefällt es«, sagte Laura träumerisch. »Es hat mir schon immer gefallen.« »Was?« Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Wahrscheinlich lag das an dieser verdammten Spieldose mit ihrer unerträglichen Musik. »Als ich ein kleines Mädchen war«, fuhr sie fort, »hatte ich immer wieder den gleichen Traum. Es war ein ganz besonderer Traum. Wenn ich etwas tat und es schiefging, träumte ich, daß ich erwachte, daß es erst gestern wäre und ich noch eine Chance bekäme.« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte wehmütig. »Aber dann wachte ich wirklich auf, und es war morgen – und ich hatte keine zweite Chance.« Mark ging zu der Spieldose und schloß den Deckel. Der Walzer brach ab, mitten in einer Phrase. »Ich glaube, wir sollten lieber doch nicht in diesem Zimmer schlafen«, sagte er. »Hast du Angst?« »Angst?« wiederholte er. Von einer Sekunde zur anderen änderte sich ihr Tonfall. »Ich möchte jetzt Coby und Dave sehen.« »Laura! Ich verstehe dich einfach nicht.« »Hol die beiden herauf«, sagte sie. »Jetzt hör mir einmal zu, Laura…« Verwirrt brach er ab. Warum hatte sie sich so sehr verändert? Was sollte er von diesen rasch wechselnden Stimmungen und Launen halten? Er fragte sich, ob vielleicht Dr. Carpenters Schlafmittel diese unvorhergesehene Wirkung auf Laura ausgeübt hatte. Er hatte schon einmal gehört, daß manche dieser neuen Medikamente… »Ich gehe erst schlafen, wenn ich mit den beiden gesprochen habe«, sagte Laura. Sie wandte sich ab und ging zum Fenster. Er sah ihr nach, und in seine Verwirrung mischte sich Resignation. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde - müde und ausge-
laugt. »Also gut, wenn du unbedingt willst…«, sagte er und verließ das Zimmer, um die beiden Männer zu holen. Als Laura allein war, erlaubte sie sich das triumphierende Lächeln, das sie bisher krampfhaft unterdrückt hatte. Eine wilde Freude erfüllte sie. Sie konnte sich nicht länger beherrschen. Wie ein ausgelassenes Kind begann sie durch Elaines Zimmer zu tanzen. 41. Sarah Wilson lag erschöpft in ihren Kissen. Dr. Carpenter hatte ihr geduldig zugehört. Es fiel ihm schwer zu glauben, was sie ihm da erzählt hatte, und noch schwerer fiel es ihm jetzt, sie davon zu überzeugen, daß das alles Unsinn sei. »Das gibt es doch nicht, Sarah«, sagte er. »Der Geist einer Toten, der vom Körper einer Lebenden Besitz ergreift… Das ist Unfug. Diese Art von Besessenheit gibt es nicht. Seien Sie vernünftig, Sarah. Sie können einen so dummen Aberglauben doch nicht ernst nehmen.« »Sie haben sie doch gesehen, Sam. Sie hat sich verändert.« »Das schon«, gab er zu, »aber…« »Ich sage Ihnen, sie will Mark vernichten. Ich weiß es.« »Aber warum sollte sie ein Interesse daran haben, ihm Schaden zuzufügen?« Darauf konnte Sarah Wilson ihm keine Antwort geben. »Sarah«, fuhr er fort, »wenn jemand in Gefahr ist, dann ist es dieses arme Mädchen. Und dafür sind Sie ganz allein verantwortlich.« Plötzlich schien Sarah Wilsons dünner Körper von neuer Kraft erfüllt zu sein. Es war bitterer Zorn, der ihr diese Kraft gab. Sie ballte die zarten Hände. »Ich hätte es mir gleich denken können, daß Sie…« »Hören Sie mir zu, Sarah«, unterbrach er sie. »Manche Menschen haben ein zu schwach entwickeltes Selbstbewußtsein. Und in einer fremden, ungewohnten Umgebung werden sie noch unsicherer. Mit anderen Worten: sie sind leicht beeinflußbar, empfänglich für Suggestionen.« Er beugte sich vor. »Sarah – Sie haben diesem Mädchen Angst eingejagt.«
»Ich habe ihr die Wahrheit gesagt«, stieß sie hervor. »Ich wollte Mark schützen.« Bis jetzt hatte Dr. Carpenter der alten Frau geduldig zugehört, hatte mit sanfter Stimme auf sie eingeredet. Aber plötzlich war er todmüde, glaubte sich am Ende seiner menschlichen und ärztlichen Weisheit. Und da er sich hilflos fühlte, stieg Wut in ihm auf. »Sie wollten Mark schützen?« schrie er sie unbeherrscht an. »Genauso, wie Sie ihn vor Elaine schützen wollten, als sie noch am Leben war?« Er schüttelte den Kopf. »Sarah, hören Sie mir zu! Es gibt eine Art von Besessenheit aber nicht die, an die Sie glauben!« 42. Mark kam die Treppe herauf, gefolgt von Coby Ross und Dave Brody. Die beiden machten ziemlich verwirrte Gesichter. Als Mark die oberste Stufe erreichte, sah er die Spieldose auf der Galerie liegen. Er blickte zur Tür von Elaines Zimmer. In diesem Haus scheint nichts mehr einen Sinn zu ergeben, dachte er und schüttelte den Kopf. Er gab der Spieldose einen wütenden Fußtritt, und sie stieß krachend gegen die Wand. Er ließ sie liegen, ging mit entschlossenen Schritten auf die Tür von Elaines Zimmer zu, die halb offenstand. Die anderen folgten ihm zu dem hell erleuchteten Raum, nachdem sie die Spieldose interessiert betrachtet hatten. Mark blieb auf der Schwelle stehen. »Laura, warum hast du dieses Ding da draußen…« Er brach ab und lief durch das Zimmer. Laura stand am offenen Fenster. Sie wandte ihm den Rücken zu, und der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht. Mark stieß die beiden Fensterflügel zu. »Bist du verrückt? Willst du dir zu allem Überfluß auch noch eine Lugenentzündung holen?« Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie mit ruhiger Stimme: »Ich werde schon nicht krank, Liebling.« Dann fügte sie im Befehlston hinzu: »Jemand soll die Tür schließen.« Coby Ross und Dave Brody wechselten einen verwirrten Blick
und wußten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Keiner der beiden rührte sich. Laura wartete noch ein paar Sekunden, dann wandte sie sich langsam um. »Los!« sagte sie zu Dave Brody. »Mach die Tür zu!« Er gehorchte zögernd. Laura warf Coby Ross einen spöttischen Blick zu. »Hallo, Coby.« »Hallo«, antwortete er. »Du glaubst, du hättest mich noch nie gesehen«, sagte sie. »Aber du irrst dich. Du kennst mich – sehr gut sogar. Du warst der Anfang.« Sie lächelte ironisch, dann wanderte ihr Blick zu Mark weiter. »Die Mitte«, sagte sie. Und schließlich blieben ihre Augen an Dave Brody hängen. »Und endlich Davey, der liebe Junge. Alle in einem Zimmer versammelt. Wie nett!« Coby wußte nicht recht, was er von dieser Situation halten sollte. »Mark hat gesagt, daß Sie uns sehen wollen«, erklärte er mit unsicherer Stimme. »Ich bin froh, daß ihr die Spieldose gesehen habt«, sagte sie. Jetzt sah sie wieder Mark an. »Ich hatte gehofft, sie würde schöne Erinnerungen in euch wecken.« »Laura – wovon redest du eigentlich?« fragte Mark. »Frag doch Davey!« stieß sie hervor. »Davey, warum erzählst du ihm denn nicht, wer die Spieldose gekauft hat?« Ihr Blick wanderte weiter zu Coby Ross. »Natürlich – er sah damals viel besser aus mit seinem blonden Haar und dem Schnurrbart.« Jetzt sah sie wieder Brody an und fügte traurig hinzu: »Du hättest ihn nicht abrasieren sollen.« »Laura!« Marks Stimme klang verzweifelt. »Ich bitte dich – was soll der Unsinn…« Coby fiel ihm erregt ins Wort. »Moment mal, Mark - sie hat recht.« Er ging zu Brody und packte ihn am Ärmel. »Es war in Ogunquit!« rief er. »Im Sommertheater. Sie waren in jenem Sommer dort.« Dave schüttelte seine Hand ab. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Coby wandte sich an Mark und erklärte: »Dort habe ich Elaine kennengelernt. Und dieser Bursche war in derselben Truppe wie
sie.« »Vielen Dank, Coby«, sagte Laura. Dave Brody hatte Coby Ross den Rücken zugewandt. Er ging mit raschen Schritten zur Tür. »Ihr seid ja alle verrückt«, sagte er verächtlich. »Einen Augenblick noch, Brody!« rief Mark. Dave blieb auf der Schwelle stehen und starrte ihn aus schmalen Augen an. »Nun, was gibt’s?« Mit ruhiger Stimme fragte Mark: »Haben Sie meine Frau gekannt? Meine Frau Elaine?« »Natürlich nicht«, erwiderte Dave Brody. »Du lügst, Dave!« rief Laura fröhlich. Sie griff in die Tasche ihres Morgenmantels, holte einen Zeitungsausschnitt hervor und drückte ihn Mark in die Hand. »Hier, Liebling.« Mark betrachtete den Zeitungsausschnitt verwirrt, starrte auf das Foto, das Dave und Elaine in einer Liebesszene zeigte. Darunter stand, daß es sich um eine Szene aus einer Sommertheateraufführung in Ogunquit handelte. Der Mann auf dem Foto hatte blondes Haar und einen buschigen Schnurrbart, aber es war zweifellos David Brody. Allerdings konnte Mark nicht feststellen, ob die natürliche Haarfarbe des abgebildeten Mannes dunkel oder blond war. »Im Augenblick fällt mir nicht ein, wie das Stück hieß«, sagte Laura. »Aber du erinnerst dich doch sicher, Davey, nicht wahr?« Dave machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Offensichtlich wußte er nicht, was er sagen sollte. »Wo hast du diesen Zeitungsausschnitt gefunden, Laura?« fragte Mark. »Im Keller, Liebling. Wo sonst? Es war eine großartige Idee von deiner Mutter, das Album zu verstecken. Aber sie hat es nicht gut genug versteckt.« Dave Brody hatte seine Fassung wiedergefunden und begann vehement zu protestieren. »Hören Sie, Mark, ich weiß nicht, was das alles bedeuten soll, aber…« Laura unterbrach ihn lächelnd: »Die Zeit der Erinnerungen ist gekommen, lieber Davey. Hast du das denn immer noch nicht verstanden? Die Erinnerungen…«
Sie wandte sich wieder zu Mark um, und plötzlich klang ihre Stimme schrill. »Du hast es nicht gewußt, Liebling, nicht wahr? Wie wir uns trafen, wie wir über dich lachten… Du warst Mamas lieber Junge, und du hast…« »Laura, hör auf!« schrie Mark. »Du kannst ihn doch gar nicht gekannt haben.« Sie lachte heiser. »O doch, ich habe ihn gekannt«, versicherte sie. »Ich habe ihn sogar sehr gut gekannt. Und ich habe auch Coby gekannt. Alle beide…« »Laura, hör mir jetzt bitte zu: Du hast in Europa gelebt. Du bist vor zwei Tagen zum erstenmal nach New York gekommen. Du kannst weder Coby Ross noch Dave Brody gekannt haben.« Ihr Gelächter gellte ihm in den Ohren. »Armer Mark!« rief sie. »Mein armer, armer Liebling!« Er konnte ihren Anblick und ihr Gelächter nicht mehr ertragen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, nur mühsam konnte er sich beherrschen. Er wandte sich ab und ging zur Tür. »Wohin gehst du, Mark?« rief sie ihm nach. »Ich gehe den Doktor holen.« »Nein!« schrie sie. »Tut mir leid, aber ich muß ihn holen, Laura. So kann das nicht weitergehen.« »Ich will ihn nicht sehen!« stieß Laura hervor. »Noch nicht!« Mark wollte auf die Galerie hinausgehen, als er Daves warnenden Ruf hörte. »He!« Erschrocken wirbelte er herum. Laura richtete einen Revolver auf ihn. sie lächelte ungerührt. »Tut mir leid, Liebling, aber wir müssen alle hierbleiben.« Ihre Stimme war so hart wie die Waffe, die sie in der Rechten hielt. Die Mündung zeigte auf Marks Brust. »Das ist meine zweite Chance. Und ich werde sie nutzen.« »Passen Sie auf mit dem Ding, Laura!« warnte Coby. »Laura!« wiederholte sie spöttisch und rümpfte angewidert die Nase. Sie machte einen Schritt auf Mark zu. »Sieh mich doch an, Mark! Sieh mich doch einmal ganz genau
an! Weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin?« »Laura!« rief er flehend. »Bitte, gib mir das Schießeisen!« »Laura, Laura, Laura!« kreischte sie wütend. »Hier gibt es keine Laura! Begreifst du denn nicht, Mark? Hier gibt es keine Laura!« Er griff sich stöhnend an den Kopf. »O Gott!« Plötzlich hatte er das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, in einer Szene mitzuspielen, in einem schlechten, melodramatischen Stück in einem Provinztheater. »Du glaubst mir nicht, Mark, nicht wahr?« sagte sie langsam. »Laura hast du auch nicht geglaubt, erinnerst du dich? Sie versuchte dich zu warnen. Auch deine Mutter hat dich gewarnt. Sie hatten Angst, daß ich zurückkommen würde.« Sie machte eine Pause, sah triumphierend auf die drei Männer, die wie festgewurzelt vor ihr standen und sie fassungslos anstarrten. »Nun, ich bin zurückgekommen«, sagte sie lächelnd. »Laura!« schrie Mark und machte einen verzweifelten Satz auf sie zu. Irgendwie mußte es ihm gelingen, ihr den Revolver zu entreißen, zu ihr vorzudringen - zu der wahren Laura, die er liebte. Er mußte diesem Alptraum ein Ende setzen, mußte den Kontakt mit der normalen, heilen Welt wieder herstellen… »Laura, bitte, gib mir jetzt…« Sie riß den Revolver hoch. »Nicht, Mark!« schrie sie warnend. Wie erstarrt blieb er stehen. Sie richtete die Waffe auf die beiden anderen, die verstohlen versucht hatten, zur Tür zu schleichen. »Hiergeblieben!« rief sie. »Ich habe doch gesagt, daß wir alle hierbleiben!« »Um Gottes willen!« schrie Dave. »Was wollen Sie eigentlich von uns? Was haben Sie vor?« »Ich will einen Mörder bestrafen, Davey. Und ich will, daß du auch dabei bist, Coby. Ich werde den Mann töten, der mich getötet hat.« »Niemand hat Sie getötet, Laura«, protestierte Coby. »Sie stehen doch hier vor uns, und Sie machen einen sehr lebendigen Eindruck.« Mark zwang sich, ruhig zu bleiben. »Laura, hör mir jetzt gut zu«, sagte er in besänftigendem Ton.
»Wir kommen dir nicht zu nahe, das verspreche ich dir. Dann legst du den Revolver schön brav hin, und wir können in Ruhe über alles reden.« Aber Laura legte die Waffe nicht beiseite. Sie rührte sich nicht. In traurig-spöttischem Ton sagte sie: »Du kennst mich nicht mehr. Und einmal hast du erklärt, du würdest mich nie vergessen. Mark, du hast mich tief enttäuscht. Wie konntest du nur?« »Es wird alles wieder gut«, versprach er. »Wenn du jetzt nur den Revolver weglegst und…« »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!« unterbrach sie ihn ärgerlich. »Ich weiß sehr genau, was ich tue, das kannst du mir glauben.« »Nein, das wissen Sie nicht!« schrie Coby. »Sie sind ja völlig…« Sie beendete an seiner Stelle den Satz. »Verrückt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Coby. Ich bin nicht verrückt. Vielleicht ist diese Laura verrückt, aber ich bin es nicht.« »Aber du bist doch Laura, Liebling«, versuchte Mark sie zu erinnern. »Du bist meine Frau, die ich in Rom geheiratet habe, Liebling, und…« »Du sollst mich nicht Liebling nennen!« stieß sie wütend hervor. »Das macht mich ganz krank. Das hast du immer getan. Du hast mich in die Arme genommen und mich ›Liebling‹ genannt, und dann bist du zu Mama gelaufen und hast ihren Worten gelauscht, als wären sie das Evangelium. Nun, es hat einen Fall gegeben, da hast du nicht auf sie gehört. Und gerade da hättest du es tun sollen. Sie hat mich sofort durchschaut – gleich bei der ersten Begegnung.« Mark starrte sie an. Und plötzlich ging ihm die ganze ungeheure Bedeutung ihrer Worte auf. »Das – das ist doch nicht möglich«, stammelte er. »Sie ist tot. Es ist unmöglich…« »Zwei Jahre«, sagte Laura. »Zwei Jahre lang habe ich gewartet – zwei ganze Jahre.« Sie richtete ihren spöttischen Blick auf Brody. »Du hast dir einen großartigen Plan zurechtgelegt, was, Davey? Wirklich ein toller Einfall – meine Schwägerin in einer Buchhandlung anzusprechen, sie mit deinem Charme einzuwickeln… Es ist natürlich wunderbar, ein reiches Mädchen zu heiraten, das kann ich sehr gut verstehen.«
»Sie ist wahnsinnig«, sagte Brody tonlos, »sie ist vollkommen wahnsinnig.« »Und du, Coby«, fuhr Laura fort, »hast du die Frau deines besten Freundes getötet?« »Niemand hat sie getötet«, entgegnete Coby Ross. »Elaine hat Selbstmord begangen.« Lauras Augen verengten sich. »Und der Schuß? Und die Schritte, die sich hastig entfernten? Und meine liebe Schwiegermutter, die den Revolver neben mir auf dem Boden findet und ihn in meine Hand legt?« Mark schloß sekundenlang die Augen. »Ist das wahr?« fragte er mit einer Stimme, die ihm fremd in den Ohren klang. »Sie dachte, du seist der Mörder gewesen«, sagte Laura. »Aber das warst du nicht. Du konntest es gar nicht sein.« »Mark, tu doch endlich etwas!« schrie Coby. »Mach dieser Hintertreppenkomödie ein Ende!« »Du warst es, nicht wahr, Coby?« Laura lächelte seelenruhig. »Nein«, stieß er hervor, »ich schwöre es.« »Laura…«, flehte Mark. Aber Laura achtete nicht auf ihn. Sie schwang den Revolver zu Brody herum. »Dann warst du es«, sagte sie. »Nein«, protestierte er mit zitternder Stimme. »Bitte… Ich war doch noch nie zuvor in diesem Haus.« Ihr Blick glitt von einem zum anderen. Zum erstenmal schien ihre Selbstsicherheit ins Wanken zu geraten. »Laura, bitte!« sagte Mark. »Leg den Revolver weg!« Ihre Verwirrung schien zu wachsen. Sie blickte von Coby zu Dave, und dann blieben ihre Augen an Mark hängen. »Mark!« schrie sie. »Hilf mir!« »Laura, du mußt…«, begann er. »Hier gibt es keine Laura«, jammerte sie. Dann brach ihre Stimme, klang fast flehend. »Hier – gibt – es – keine – Laura!« Verzweifelt starrte sie Mark an. »Wen, Mark? Wen muß ich töten?« »Niemanden«, antwortete er, so ruhig und beherrscht er konnte. »Versuch doch logisch zu denken. Wenn du wirklich Elaine wärst, müßtest du das wissen.« »Nein«, sagte sie, »ich…« Sie brach ab. Sie war nun völlig verwirrt, versuchte sich zu erin-
nern. Den Revolver hielt sie immer noch auf Armeslänge von sich gestreckt, die schwarze Mündung zeigte auf die beiden Männer. »Ich – war allein«, stammelte sie. »Und ich hatte solche Angst. Ich telefonierte mit ihm. Ich – ich weinte. Ich flehte ihn an, zu mir zu kommen. Und als er dann kam, stritten wir…« Dave lauschte ihr mit wachsendem Entsetzen. Mit großen Augen starrte er sie an. »Oh, mein Gott«, flüsterte er. »Oh, mein Gott…« »Ich – ich hatte den Revolver«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort. »Und – wir rangen miteinander.« Ihr Gesicht verzerrte sich, als sie angestrengt nachdachte, sich zu erinnern versuchte. »Er wollte mir den Revolver wegnehmen und – und…« Schluchzend brach sie ab. »Ich – oh!« jammerte sie. »Warum kann ich mich nicht erinnern?« »Weil dies alles der Vergangenheit angehört«, sagte Mark. »Es ist längst vorbei.« »Nein, es wird nie vorbei sein«, entgegnete sie voller Angst. »Nie! Nie! Nie! Mark, hilf mir doch! Wer war es? Wer hat es getan? Du mußt mir helfen…« »Ja, ich will dir helfen, Laura«, sagte er sanft. Und mit erhobener Stimme fügte er hinzu: »Laß sie in Ruhe, Elaine! Bitte! Laß sie zu mir zurückkommen!« »Hilf mir!« wiederholte sie. Es war ein Schrei der Verzweiflung, wie der Schrei eines verirrten Kindes. »Laura«, flehte Mark, »Laura, bitte! Du mußt mir jetzt zuhören.« »Ich muß es wissen«, stieß Laura keuchend hervor, »ich muß es wissen – versteh mich doch…« »Laura – Liebling…« Eindringlich sprach er auf sie ein, versuchte zu ihr vorzudringen, das Ich der Frau zu erreichen, die er so sehr liebte. »Sie sagt, daß es hier keine Laura gibt. Aber das kann nicht sein. Versuch mich anzuhören. Bitte – du mußt es versuchen. Elaine ist tot. Sie gehört der Vergangenheit an, und die ist vorbei. Du mußt gegen Elaine kämpfen. Das ist deine einzige Chance. Bekämpfe sie! Wehre dich!« »Nein…« Sie stöhnte gequält auf. »O nein – ich kann es nicht…« Coby und Dave beobachteten sie nervös, ihr Blick glitt immer wieder zu der schwarzen Mündung des Revolvers. Mark machte einen Schritt auf Laura zu und streckte die Hand
nach ihr aus. »Elaine darf dich nicht von mir trennen, Liebling. Das darfst du nicht zulassen. Ich liebe dich – und ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr. Sie hindert dich daran, mir zu sagen, daß auch du mich liebst und zu mir zurückkehren willst. Ich weiß es. Aber ich weiß auch, daß wir der Vergangenheit keine Chance geben dürfen. Wir müssen uns wehren, Laura. Das Vergangene darf nicht zu uns zurückkehren, darf uns nicht vernichten. Laura, bitte! Du bist alles für mich. Ich flehe dich an, komm zu mir zurück! Bitte!« Sein Blick hielt den ihren fest, als er langsam auf sie zuging. Er konnte sehen, daß sie mit der fremden Macht kämpfte, in deren Klauen sie sich befand. »Nein«, wimmerte sie schwach. »Ich – ich… Ich kann nicht…« »Bitte!« sagte Mark leise und drängend. Plötzlich war der Kampf zu Ende. Lauras Körper schien zusammenzuschrumpfen. Sie schwankte, die Beine gaben unter ihr nach, und sie wäre zu Boden gesunken, hätte Mark sie nicht festgehalten. »Laura!« schrie er und preßte die schlaffe Gestalt an sich. Müde fragte er sich, ob es Laura war, die er in den Armen hielt – oder Elaine. 43. Dave Brody verschwendete keine Zeit. Er stürmte zur Tür und riß sie auf, raste blindlings zur Treppe. Doch in seiner wilden Flucht übersah er die Spieldose, die in der Nähe der obersten Stufe lag. Nachdem Mark sie mit seinem wütenden Fußtritt an die Wand befördert hatte, war sie nach dem heftigen Aufprall zurückgeschlittert. Und nun lag sie da, wie ein lauerndes, böses kleines Tier. Dave stolperte darüber, verlor sein Gleichgewicht. Schreiend stürzte er die Treppe hinab. Seine Hände tasteten verzweifelt umher, versuchten an den Stäben des Geländers Halt zu finden. Aber er stürzte immer weiter die Marmorstufen hinab, wie von einer unsichtbaren Riesenhand geschleudert. Hart schlug sein Körper auf dem Fliesenboden der Halle auf, blieb reglos liegen.
Die kleine Spieldose kam langsam die Stufen heruntergerollt und landete auf seiner Brust. Ruth hatte seinen Angstschrei gehört. Sie kam aus der Küche gelaufen und war die erste, die sich über ihn beugte. »Dave!« rief sie. Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf, schien sie einen Augenblick lang zu lähmen. Dann kniete sie neben ihm, bettete seinen Kopf in ihre Arme. »O Dave!« stieß sie schluchzend hervor. »Dave -Dave…« Sie preßte ihn an sich, wiegte ihn hin und her. Die Spieldose glitt von seiner Brust, rollte auf den Fliesenboden, der Deckel sprang auf. Der traurige Walzer erklang, die klimpernden Töne erfüllten die Halle wie ein makabrer Spottgesang. Als die anderen die Treppe herabgelaufen kamen, war es zu spät. Sie konnten Dave Brody nicht mehr helfen. Er war in Ruths Armen gestorben. Schweigend standen sie vor der Leiche. Nur die melancholischen Walzerklänge durchbrachen die Stille, die sich wie ein schwarzes Tuch über die Halle gelegt hatte. 44. Als die Ambulanz eintraf, lockte sie eine Menge Neugieriger an, die sich vor dem Haus Nummer sechsundzwanzig drängten, um einen Blick auf die Bahre zu erhaschen. Coby Ross stand mit Mark in der Eingangstür und sah zu, wie der tote Dave Brody in den Wagen gehoben wurde. Dann fuhr die Ambulanz davon, und die Menschenmenge zerstreute sich. Mark seufzte und schloß die Tür. Er fühlte sich unendlich müde. »Armer Junge«, sagte Coby. »Glaubst du, daß er sie getötet hat?« fragte Mark. Coby hob resignierend die Schultern. »Keine Ahnung. Frag doch den Geist…« Dr. Carpenter war in Lauras Zimmer gewesen. Als die beiden Männer in die Eingangshalle zurückkehrten, stieg der Arzt gerade die Treppe herab. Mit langsamen, schweren Schritten. Er hatte die letzten Worte Cobys gehört. Tröstend legte er eine Hand auf Marks Arm. »Du trägst keine Schuld an Elaines Tod, mein Junge«, sagte er leise. »Vergiß das nicht… Und was Laura betrifft – das Schlafmit-
tel scheint jetzt endlich zu wirken. Ich glaube, sie wird bis zum Morgen durchschlafen. Aber ich werde später auf jeden Fall noch einmal nach ihr sehen.« Er wandte sich zu Coby Ross um. »Und was den Geist angeht… Ich kann Ihnen versichern, daß er nie existiert hat.« »Da bin ich nicht so sicher«, sagte Mark langsam. Müde strich er sich über die Stirn, dann kehrte er dem Arzt den Rücken zu und ging zur Bibliothekstür, wie von einer fremden Macht getrieben. Die Tür stand offen, die Lichter brannten, und die Bücher, die Laura hatte fallen lassen, lagen noch immer auf dem dunklen Teppich. Mark betrat den Raum, bückte sich und begann die Bücher aufzuheben. Dr. Carpenter folgte ihm langsam, beobachtete ihn besorgt. Sanft rüttelte er ihn an der Schulter. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Mark.« Unwillig wandte Mark sich um. »Worüber? Was gibt es denn noch zu besprechen?« Er schüttelte die Hand des Arztes ab, trat zu dem Regal, aus dem Laura die Bücher genommen hatte, und begann sie wieder einzuordnen. »Seien Sie kein Narr, Mark! Sie haben ihr das Gefühl gegeben, klein und unbedeutend zu sein. Und so blickte sie ängstlich zu Ihnen auf, zu ihrem starken, selbstsicheren Ehemann.« Mark schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber plötzlich war sie doch ganz anders… Erinnern Sie sich, wie wir sie hier überrascht haben? Als sie die Bücher aus dem Regal nahm? Da wirkte sie doch so überlegen und sicher, schien vor Selbstvertrauen geradezu zu strotzen. So war Laura nie.« Dr. Carpenter überlegte eine Weile, und dann sah er Mark an. »War Elaine so?« Auch Mark dachte nach, bevor er antwortete. »Nein«, gab er dann zu. »Sie erinnern sich doch sicher, Mark. Laura begann sich erst auf diese sonderbare Weise zu verändern, nachdem Ihre Mutter ihr gesagt hatte, Elaine würde von ihrem Körper Besitz ergreifen. Dieser Gedanke setzte sich in ihr fest, und so wurde sie Elaine – eine falsche Elaine, wie sie der Vorstellung Ihrer Mutter entsprach.«
Langsam schüttelte der Arzt den Kopf. »Suggestion – ja. Besessenheit – nein.« Mark hob die letzten der Bücher auf, die noch auf dem Teppich lagen, und stellte sie auf ihren Platz zurück. »Also gut, Sie haben mich überzeugt«, sagte er. »Ich möchte nicht behaupten, daß dies alles nicht gefährlich für Laura war«, fuhr Dr. Carpenter fort. »Aber jetzt ist alles glücklich überstanden. Sie muß sich ein paar Tage ausruhen, und dann…« Marks Augen verengten sich. Ein Gegenstand war ihm aufgefallen, der ganz hinten im Regal stand - hinter der Buchreihe, die er soeben neu geordnet hatte. »Nein, Doktor«, sagte er. »Wir reisen morgen früh ab. Wir werden keinen Tag länger in diesem Haus bleiben.« »Ich glaube nicht, daß das günstig wäre«, erwiderte der Arzt. »Laura braucht Ruhe, sie…« Mark riß ein paar Bücher aus dem Regal, warf sie zu Boden. »Nein, Doktor«, stieß er hervor, »sie darf nicht hierbleiben keinen einzigen Tag mehr… Ich werde sofort unsere Sachen packen, dann können wir gleich morgen früh aufbrechen.« »Aber Mark…«, protestierte Dr. Carpenter. »Verstehen Sie denn nicht? Laura stand unter einer ungeheuren seelischen Belastung. Sie muß sich erst erholen.« Mark griff in die Lücke zwischen den Büchern und zog eine Flasche Whisky hervor. »Haben Sie auch dafür eine logische Erklärung, Sam?« fragte er und hielt dem Arzt die Flasche vor die Nase. »Das war Elaines Versteck. Ich habe stunden- und tagelang danach gesucht, aber ich konnte es nicht finden. Können Sie mir erklären, wieso Laura es auf Anhieb entdeckt hat? Obwohl sie dieses Haus vor zwei Tagen zum erstenmal gesehen hat?« Dr. Carpenters Stirn rötete sich. »Nun – ich«, stammelte er verwirrt, »ich…« Er zuckte mit den Schultern, und dann gewann er seine Selbstsicherheit wieder. »Wahrscheinlich handelt es sich um einen Zufall. Solche Zufälle, die einem erstaunlich und rätselhaft erscheinen, gibt es immer wieder. Deshalb braucht man noch lange nicht zu glauben, daß geheimnisvolle Geister am Werk wären.« »Ein Zufall, Doktor?« fragte Mark langsam. »Glauben Sie das wirklich?« Er starrte auf die Flasche, und eine dunkle, quälende Angst
stieg in ihm auf. Und als er den Kopf hob und zur Zimmerdecke blickte, schien es ihm, als würde die kleine barocke Spieldose immer noch ihr trauriges Walzerlied klimpern. Und da wußte Mark, daß es ihm niemals gelingen würde, sich von dieser klagenden Melodie zu befreien. Sie würde ihn verfolgen, auch wenn er dieses Haus verließ, würde ihn begleiten auf allen seinen Wegen. 45. Das Fenster in Lauras Zimmer war nun geschlossen. Kein Straßenlärm drang herein. Sie lag in ihrem Bett, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Hörte auch sie den traurigen kleinen Walzer? Erfüllten die klagenden Töne ihre Träume? Sie schien friedlich zu schlafen. Laura? Elaine? Wer konnte es wissen?
ENDE