Ina Riechert Psychische Störungen bei Mitarbeitern
Ina Riechert
Psychische Störungen bei Mitarbeitern Ein Leitfaden für Führungskräfte und Personalverantwortliche von der Prävention bis zur Wiedereingliederung Mit 36 Abbildungen und 16 Tabellen
1C
Ina Riechert btz - Berufliches Trainingszentrum Hamburg GmbH Weidestraße 118 c 22083 Hamburg
ISBN-13
978-3-642-16979-3
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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26/2126 – 5 4 3 2 1 0
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Vorwort Fast wäre dieses Buch nie erschienen, wenn nicht mein Verlagsbetreuer Herr Coch rechtzeitig einen Irrtum aufgeklärt hätte. An einem turbulenten Freitagmorgen klingelte mittendrin das Telefon, eine fremde Stimme meldete sich und sagte ungefähr so etwas wie »Mein Name ist Coch vom Springer-Verlag, darf ich Sie mal etwas fragen?« Ich dachte, das ist ein CallCenter und mir will jemand zu einem Abo einer Hamburger Tageszeitung verhelfen, und antwortete ihm etwas brüsk: »Nein das dürfen Sie nicht!« Als ich merkte, dass mein Gesprächspartner am anderen Ende meine ablehnende Haltung nicht ganz verstand, versuchte ich schon herauszubekommen, was er denn eigentlich von mir wollte. Nach einer Weile hin und her platzte der Knoten, als mein Gegenüber sagte: »Das muss wohl eine Verwechslung sein, ich bin vom wissenschaftlichen Springer-Verlag.« Und ich entgegnete spontan: »Dann dürfen Sie mich auch was fragen.« Er wollte mir die Autorenschaft für dieses Buch antragen. Das war im Sommer 2009. Nach der Zusage, als Autorin für den Verlag dieses Buch zu schreiben, rutschte mir erst einmal das Herz in die Hose, weil ich mich an meine Diplomarbeit erinnerte. Die Diplomarbeit hatte ich dem betreuenden Assistenten vor der Abgabe zu lesen gegeben und bekam sie 14 Tage vor dem offiziellen Abgabetermin wieder zurück mit dem Kommentar »Kraut und Rüben«… Das war 1974. Schon immer habe ich mich für die Arbeit und für die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten, interessiert und im Laufe meiner Berufstätigkeit von anderen Menschen aus den verschiedenen Arbeitsfeldern viel darüber erfahren. Mein Interesse an dem Thema Arbeit hat mich dann vor gut 20 Jahren in das Berufliche Trainingszentrum Hamburg GmbH (BTZ) geführt. Berufliche Trainingszentren unterstützen Menschen, die aus psychischen Gründen zeitweise oder noch gar nicht am Arbeitsleben teilnehmen können. In den Beruflichen Trainingszentren können sich diese Menschen mit gezielten Trainingsmaßnahmen auf einen beruflichen Wiedereinstieg vorbereiten. Im BTZ habe ich in Gesprächen und in der Begleitung der Menschen von ihren Erfahrungen lernen können und Einblicke in ihre Arbeitsbiographien und Lebensgeschichten bekommen. Bei den Trainingsteilnehmern konnte ich beobachten, wie sich diese Menschen positiv entwickelt haben und sich wieder in das Arbeitsleben integrieren konnten. In den letzten Jahren wurde in den Berichten der Krankenkassen auf den Anstieg der psychischen Erkrankungen aufmerksam gemacht. Das Thema hat in den letzten Jahren an Brisanz zugenommen, weil sowohl die Anzahl der psychischen Erkrankungen als auch die Fehltage zugenommen haben und die Betriebe vor neue Aufgaben stellen. Dieses Buch will einen Beitrag, leisten Führungskräfte und Personalverantwortliche zu informieren und anzuregen, dieses sensible Thema für sich »zu erobern«. Ich möchte Sie einladen, über einige Dinge zu reflektieren, die Ihnen bisher vielleicht als gar nicht so wichtig erschienen sind. Dazu werden im Text kleine Experimente und Fragen angeboten. Und ich möchte Ihnen Hilfestellungen geben, wie Sie »Problemfälle« bei Ihren Mitarbeitern erkennen und gestaltend eingreifen können, sei es als direkte Führungskraft oder als Personalverantwortlicher in Ihrem Unternehmen. Grundsätzlich möchte Sie ermutigen, neugierig zu sein, den Blick zu öffnen, Anregungen auszuprobieren und am Ende Bewährtes zu integrieren. Die Daten der Fallbeispiele in diesem Buch wurden aus Datenschutzgründen verändert.
VI
Vorwort
Die Arbeitsblätter und Checklisten dieses Buches, die entsprechend gekennzeichnet sind, können Sie auch ganz praktisch als PDF-Datei aus dem Internet herunterladen. Sie finden sie auf der Seite > www.springer.com/978-3-642-16979-3. Sich für psychische Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter und bei sich selber einzusetzen, ist eine sehr lohnende Aufgabe, denn es können alle nur dabei gewinnen: die Mitarbeiter und Sie sowieso, der Betrieb bekommt leistungsfähige, motivierte und engagierte Mitarbeiter mit geringen Fehlzeiten, die lange leistungsfähig bleiben und die Träger der Sozialversicherung werden entlastet, die Beiträge bleiben stabil und die Lohnnebenkosten geringer. Das ist doch etwas – oder? Nun bleibt mir noch, einen großen Wunsch auszusprechen: Wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches mehr Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen bekommen haben, dann bitte ich Sie, sagen Sie es weiter und tragen Sie dazu bei, dieses Thema zu enttabuisieren, indem Sie ganz normal und unbefangen über Erschöpfung, Ängste und Depressionen sprechen. Über Anregungen, Fragen und Rückmeldungen freue ich mich! Ina Riechert
Hamburg, Februar 2011
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Danksagung Ganz besonders danke ich allen Menschen, an deren Leben ich Anteil nehmen durfte als beratende Psychotherapeutin, die Rehabilitation begleitende Psychologin oder die Wiedereingliederung organisierende Disability-Managerin. Alle haben mit ihren Erfahrungen dazu beigetragen, dieses Buch mit Leben zu füllen. Dem Beruflichen Trainingszentrum Hamburg GmbH danke ich für die großzügigen Regelungen, die dieses Buch erst ermöglicht haben. An der Entstehung dieses Buches waren Mitarbeiter und Trainingsteilnehmer des BTZ beteiligt. Meiner Kollegin Angelique Hinn danke ich für die aufmerksamen Korrekturen und Anmerkungen. Caroline Windisch und Peter Hüffmeier danke ich für die geduldige und tatkräftige Unterstützung bei der Herstellung dieses Buches. Das Manuskript ist in ihrem Trainingsbereich von zwei fleißigen und sehr sorgfältigen Trainingsteilnehmerinnen getippt und technisch betreut worden. Mein Dank gilt auch meinen Kollegen und meinen Teilnehmern, die zeitweise ohne mich auskommen mussten, und ganz besonders danke ich Andreas Willrodt, der mich in dieser Zeit immer klaglos vertreten hat. Prof. Jörg Fengler danke ich fürs Mut machen und die ersten Tipps für Anfänger. Dr. Martina Bergann, Dr. Hanno Bohnsack, Sabine Ide, Ammar Kanzari, Hartmut Pengel und Dr. Udi-Jutta Schneewind danke ich für fachliche und freundschaftliche Unterstützung. Danken möchte ich auch dem Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www. baua.de) für die freundliche Überlassung zahlreicher Materialien. Haike Gerdes-Franke danke ich für ihre Gastfreundschaft. Sie hat mir das Studierstübchen bei sich in der Lübecker Altstadt überlassen. Dorthin habe ich mich zum Schreiben zurückgezogen. Das Studierstübchen habe ich gerne genutzt und es war sehr inspirierend bei ihr. Was wäre ein Buch ohne Illustrationen? Diese wunderbaren Illustrationen verdanke ich der Grafikerin Christiane Weitendorf, die die Männchen und die maritime Umgebung für die einzelnen Kapitel geschaffen hat. Meinen Nachbarn Marion und Edgar danke ich für die rege Anteilnahme von Balkon zu Balkon am Fortgang des Buches. Ermuntert und aufgerichtet – im wahrsten Sinne des Wortes – haben mich auch die »Mädels« und Trainerin Inge Mordhorst aus meiner »leistungsorientierten Rückengymnastikgruppe« im Eimsbütteler Turnverband. Zuletzt bedanke ich mich bei all meinen Freundinnen und Freunden, die fast ein Jahr auf mich verzichten mussten, weil ich mich im »Buchschreibemodus« befand. Ich danke dem Verlag, dass er mir dieses Thema angetragen hat, Herrn Coch und Herrn Barton für die engagierte Betreuung und Frau Böhle für das aufmerksame und sorgfältige Lektorat.
IX
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 2.1 2.2
Der Mitarbeiter im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Psychische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrifflichkeiten fachlich korrekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Belastungs-Beanspruchungsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen psychischer Fehlbelastung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Kombinationen mit hohem Belastungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erschöpfungsspirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 5 7 9 11 17 19 20 23 25 33 34 42
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Ausgewählte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 5.1 5.2 5.3
Wenn sich der Mitarbeiter verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung? . . .
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
Das Gespräch mit dem Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verhaltensänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensbeobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 46 48 53 58 61 64 67 70 77 80 84 85
87 Erfahrungen von Geführtwerden und Führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Urbilder von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Vertrauensperson und Ansprechpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Was brauchen die Mitarbeiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Was Mitarbeiter nicht brauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden … . . . . . . . . . Wie ist die Ausgangslage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung auf das Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist, wenn es nicht so läuft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 122 123 126 132
X
Inhaltsverzeichnis
8
Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische und berufliche Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
8.1 8.2 8.3 8.4
Medizinische Behandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Wer sind die betrieblichen Helfer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und Krankenhausbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Stufenweise Wiedereingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebliches Eingliederungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 10.1 10.2
Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
11 11.1 11.2
Und wie geht es Ihnen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
141 144 145 145
150 150 152 153 157 168
Studien zur Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Ansätze für Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Innere Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Reflektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
XI
Autorenportrait Ina Riechert
5 5 5 5 5 5
Psychologische Psychotherapeutin, Disability-Managerin CDMP (Certified Disability Management Professional) 5 Geboren 1949 in Hamburg 5 Studium der Psychologie und Erziehungswissenschaften in Hamburg 5 Psychotherapeutische Ausbildung in Integrativer Therapie am Fritz-Perls-Institut 5 Weiterbildung in systemischer Therapie 5 Aufbau und Leitung einer therapeutischen Wohngemeinschaft für jugendliche und jungerwachsene Alkohol- und Tablettenabhängige bei der Therapiekette Hannover Psychologin im Institut für Familien- und Jugendberatung in Braunschweig Seit 1987 Psychologin in der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Beruflichen Trainingszentrum Hamburg GmbH Seit 2006 Disability-Managerin CDMP Freiberufliche Aktivitäten: Supervision, Coaching und Erwachsenenbildung Seit 2005 Casemanagement, Beratung und Wiedereingliederungsmanagement von Versicherten mit psychischen Problemen bei einer Betriebskrankenkasse Seit 20 Jahren Durchführung von Schulungen für Führungskräfte, Personalverantwortliche und Betriebsräte
1
Einführung 1.1
Falldarstellung – 2
1.2
Erste Auswertung – 5
1.3
Begrifflichkeiten fachlich korrekt – 7
1
2
Kapitel 1 • Einführung
Zur Einführung in das Thema beginne ich mit einer Falldarstellung, die in ihrem Ablauf alle Facetten und Aspekte beleuchtet, die in diesem Buch in den verschiedenen Kapiteln behandelt werden.
1
1.1
. Abb. 1.1 »Ich kann nicht mehr« (© Christiane Weitendorf )
Frau Grün hat viel erreicht.
Sie bekommt Angst und Panikattacken bei der Arbeit.
Eine Wiedereingliederung geht schief.
Falldarstellung
Frau Grün, Mitarbeiterin in einem großen Konzern, stand eines Morgens an der Bushaltestelle und konnte plötzlich nicht mehr den Fahrplan, geschweige denn die Überschriften der Bildzeitung lesen. Nichts ging mehr. Was war passiert? Sie war vor einigen Jahren vom Konzern für die IT-Abteilung als Systemanalytikerin eingestellt worden und hatte seitdem im Konzern gute Arbeit geleistet. Sie galt als Spezialistin für komplizierte IT-Fragen und ihre umfangreichen Kenntnisse wurden von vielen Abteilungen in Anspruch genommen. Knifflige Aufträge und Projekte waren für sie Ansporn und Motor, sich neben der Arbeit auch immer weiterzubilden. So kam es, dass sie an manchen Tagen bis zu fünfzehn Stunden arbeitete. Im Rahmen von Einsparungen sollte ihre Abteilung umstrukturiert und ihre Arbeit ins Ausland verlagert werden. Ihr hatte man auf Grund ihrer sehr guten Arbeitsergebnisse eine Führungsposition zugedacht. Diese Nachricht hatte sie in Panik versetzt. Sie wusste, dass eine Führungsposition nicht das Richtige für sie war. Sie liebte es, alleine und ungestört an ihrem Computer zu sitzen und bei komplizierten Fragen nach Lösungen zu suchen. Das genau entsprach ihren Stärken und Fähigkeiten. Die Zusammenarbeit mit anderen Menschen war für sie eher schwierig und anstrengend. Auf ein großes Projekt, das sie gerade abgeschlossen hatte, folgte kein weiteres und sie fiel in ein tiefes Loch. Sie schämte sich wegen ihrer Ängste und niemand sollte es merken. Es kostete sie viel Kraft, die Fassade nach außen aufrechtzuerhalten und immer öfter konnte sie sich kaum noch konzentrieren. Sie saß grübelnd an ihrem Arbeitsplatz und hatte Angst, entdeckt zu werden (. Abb. 1.1). Den Kollegen wich sie aus, so gut es ging, bis zu dem Morgen, an dem sie morgens vor Angst gelähmt kaum aus dem Bett fand. Sie schleppte sich mühsam ins Bad, zog sich wie im Traum an und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Als sie an der Bushaltestelle ankam, erschrak sie, denn es flimmerte ihr so sehr vor den Augen, dass sie nicht einmal mehr den Fahrplan und die Schlagzeilen der Zeitung erkennen konnte. Eigentlich hatte sie gute Augen. Das wurde ihr dann doch zu unheimlich. Sie ging zum Arzt und dieser wies sie auf Grund ihrer schlechten Verfassung in eine psychiatrische Klinik ein. Dort erholte sie sich in einer fünfmonatigen Behandlung, stabilisierte sich wieder und dachte an eine Rückkehr in den Betrieb mit Hilfe einer stufenweisen Wiedereingliederung. Die Wiedereingliederung wurde geplant und begonnen und schlug nach nur wenigen Wochen fehl. Was war geschehen? Nach der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz wurde Frau Grün freundlich begrüßt,
1.1 • Falldarstellung
so als sei sie gerade von einer längeren Reise zurückkehrt. Der Chef hoffte, der direkte Kollege, mit dem sie zusammenarbeitete, würde Frau Grün bei der Eingliederung unterstützen. Der Kollege jedoch hatte keine Zeit und auch keine Vorstellung von dem, was er zur Unterstützung von Frau Grün hätte tun sollen. So geschah nichts und man hoffte, es würde schon irgendwie klappen. Eine konkrete Aufgabenstellung gab es nicht, ebenso wenig wurde Frau Grün über die neuesten Entwicklungen im Betrieb informiert. So kam es, dass Frau Grün zwar an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, aber nicht recht etwas zu tun hatte. Sie fühlte sich ständig müde und bekam wieder Angst. Es gab einige Gespräche mit der Sozialberatung und die Hoffnung war, dass Frau Grün sich bei der Arbeit wieder stabilisieren würde. Das Gegenteil traf ein. Von Angstzuständen und Panikattacken gequält, musste sie den Eingliederungsversuch abbrechen und es schlossen sich ein erneuter Krankenhausaufenthalt von sechs Monaten und eine zweimonatige Tagesklinikbehandlung an. Inzwischen löste der Gedanke an ihren Arbeitsplatz Ängste und Panik bei Frau Grün aus und sie hatte keine Vorstellung, wie sie jemals wieder würde arbeiten können. Andererseits liebte sie ihre Arbeit und konnte sich auch nicht vorstellen, dauerhaft zu Hause zu bleiben. Ein erneuter Arbeitsversuch würde beim nächsten Mal nur mit mehr Unterstützung funktionieren können. Sie stellte einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und konnte sechs Monate später mit der beruflichen Rehabilitationsmaßnahme in einem Beruflichen Trainingszentrum beginnen. Dort lernte ich Frau Grün kennen und begleitete sie durch die Maßnahme hindurch bis zur Arbeitsaufnahme in dem Betrieb. Anfangs konnte Frau Grün sich eine Rückkehr an ihren Arbeitsplatz nicht vorstellen. Im Verlauf des Trainings konnte sie sich wieder so weit festigen, dass sie nach ca. achtmonatigem Training das erste Mal daran dachte, vielleicht doch in ihren Betrieb zurückzukehren. Es dauerte noch eine Weile, bis sie den ersten Kontakt wieder aufnahm. Die ersten Gespräche führte sie mit der Sozialberaterin des Betriebes, die sie schon von damals kannte und die sie während der stufenweisen Wiedereingliederung begleitet hatte. Gemeinsam mit der Sozialberatung, ihrer Therapeutin aus der Tagesklinik und mir erarbeiteten wir Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung von Frau Grün. Wir signalisierten dem Betrieb, dass er in absehbarer Zeit wieder mit Frau Grün rechnen könne. Wir machten deutlich, dass sie bestimmte Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Wiedereinstieg benötige. So bekam auch der Betrieb die Chance, sich auf die Rückkehr seiner Mitarbeiterin vorzubereiten. Vor der Arbeitsaufnahme lernte Frau Grün in einer so genannten »Elefantenrunde« ihren neuen Chef kennen. Diese Runde bestand aus allen beteiligten betrieblichen Akteuren: der Werksärztin, einem Betriebsrat, einem Schwerbehinderten-Vertreter, der Sozialberatung, der Personalabteilung, dem zukünftigen Chef, Frau Grün und mir. In
3
1
Wird sie wieder arbeiten können?
Berufliche Rehabilitation
Ein neuer Versuch …
4
Kapitel 1 • Einführung
. Tab. 1.1 Beeinträchtigungen und Lösungsvorschläge
1
Einschränkungen bzw. Beeinträchtigungen
… mit klaren Vorstellungen …
… und Bedingungen Es klappt!
Lösungsvorschlag
Belastbarkeit
30-Stunden-Woche
Soziale Ängste
Kleines Team, eigener Arbeitsbereich
Abgrenzungsprobleme
Klar umgrenzte Arbeitsaufträge, nur über den Vorgesetzten
Unsicherheit bzw. Versagensängste
Regelmäßige Gespräche und Rückmeldung durch den Vorgesetzten
Überforderungstendenz
Langsamer Einstieg, lange Einarbeitungsphase, anfangs einfache Aufgaben
Nachhaltigkeit
Regelmäßiges Coaching durch das Berufliche Trainingszentrum GmbH (BTZ)
dieser gemeinsamen Runde wurden die Modalitäten für die Wiedereingliederung besprochen und festgelegt. Auch nach langem Arbeitstraining war unklar, wie sich die Belastbarkeit unter jetzigen betrieblichen Bedingungen am Arbeitsplatz darstellen würde, deshalb vereinbarten wir eine 30-Stunden-Woche zum Einstieg für einen längeren Zeitraum. Frau Grün litt damals schon an sozialen Ängsten und wünschte sich ein kleines Team und möglichst einen eigenen Arbeitsbereich. Weil Frau Grün einen hohen Leistungsanspruch an sich hat und bei Arbeitsaufträgen schlecht nein sagen kann, kam jetzt unser Vorschlag: klar umgrenzte Arbeitsaufträge und Arbeitsaufträge nur über den Vorgesetzten. Nach langer Rückkehr herrschten bei Frau Grün eine große Unsicherheit und die Angst zu versagen. Als Lösungsvorschlag erarbeiteten wir: regelmäßige Gespräche und Rückmeldung durch den Vorgesetzten. Ihrem hohen Leistungsanspruch und der Neigung, sich selber zu überfordern, setzten wir einen langsamen Einstieg mit einer langen Einarbeitungsphase entgegen. Frau Grün sollte mit einfachen Aufträgen beginnen, die später durchaus steigerbar sein können. Die Leistungssteigerungen sollten immer zwischen Frau Grün und ihrem Chef abgesprochen und vereinbart werden. Tabelle 1 fasst zusammen, wie wir verschiedenen Beeinträchtigungen Rechnung getragen haben (. Tab. 1.1). Ihr Betrieb hat sich in vorbildlicher Weise an unsere Vorschläge gehalten. Es gab eine lange Einarbeitungsphase mit regelmäßigen Gesprächen, so dass Höhen und Tiefen gut überstanden und umschifft wurden. Frau Grün hat sich nach einem Jahr für die Beibehaltung einer Arbeitszeit von dreißig Stunden entschieden. Sie hat inzwischen
1.2 • Erste Auswertung
5
1
weitere interne Umstrukturierungen miterlebt und wirkt im Großen und Ganzen recht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Rehabilitation. Sie ist nach fast eineinhalb Jahren wieder in den Betrieb integriert. Sie hat gelernt, eigene Beeinträchtigungen zu akzeptieren und besser für sich zu sorgen und sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit einen Ausgleich zu suchen.
1.2
Erste Auswertung
Dieses Beispiel zeigt, dass eine Wiedereingliederung auch nach langer Zeit gelingen kann und wirft natürlich gleichzeitig viele Fragen auf: 5 Wäre diese lange Krankheitsphase vermeidbar gewesen? 5 Hatte es Frühwarnzeichen gegeben, die ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglicht hätten? 5 Was hätte ein Vorgesetzter tun können, um diese Ausfallzeiten zu verhindern bzw. möglicherweise auch die erste Wiedereingliederung zu erleichtern? 5 Wo gibt es überhaupt Hilfe und Unterstützung für alle Betroffenen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieses Buch. Das Beispiel von Frau Grün zeigt aber auch noch anderes: 5 dass eine psychische Störung zwar zu langen Arbeitsunfähigkeitszeiten führen kann, 5 dass aber auch nach langer Arbeitsunfähigkeitszeit und Behandlung eine Wiedereingliederung gelingen kann, 5 dass ein Mitarbeiter wieder arbeits- und leistungsfähig sein kann. 5 Es bedeutet auch, dass alleine das Vorhandensein und die Diagnose einer psychischen Störung nicht zwangsläufig gleichzusetzen ist mit einer Arbeitsunfähigkeit. 5 Frau Grün hat lange erfolgreich in ihrem Konzern gearbeitet und geriet erst, als durch Umstrukturierung massive Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz drohten, aus der Balance. Probleme können also auch nach langer erfolgreicher Mitarbeit und Betriebszugehörigkeit auftauchen. Bei Betriebsumstrukturierungen muss man besonders aufmerksam sein, weil Veränderungen immer ein großes Verunsicherungspotential in sich tragen (7 Kap. 10). Frau Grün ist kein Einzelfall. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden aus einer Erhebung 2007 zu Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz spielen psychische Belastungen im Arbeitsalltag eine größere Rolle als körperliche. Jeder achte (12,3%) Erwerbstätige gab an, bei der Arbeit psychischen Belastungen ausgesetzt zu sein. 11,2% geben Zeitdruck und Arbeitsüberladung als Hauptbelastungsfaktoren an. Mobbing und Belästigung wurde von 0,8%, Gewalt von 0,3% genannt (www.destatis.de).
Der Fall wirft Fragen auf …
… und zeigt Möglichkeiten.
Zahlen …
6
Kapitel 1 • Einführung
1 … und noch mehr Zahlen
Studie der Bundespsychotherapeutenkammer
Besonders betroffen ist der Dienstleistungssektor.
Von psychischen Belastungen sind die verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich betroffen. In einer Broschüre der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin findet sich die Angabe, dass ca. 50% der Beschäftigten in Deutschland sich psychischen Belastungen ausgesetzt fühlen, die psychische Fehlbeanspruchung und Stress verursachen. Die Folgekosten psychischer Fehlbelastungen durch Fehlzeiten, Lohnfortzahlung, Mehrbelastung von anwesenden Mitarbeitern, Produktionsausfall, Terminverzug, steigende Kosten für Unfallversicherung und Ausgleichszahlungen und langfristig auch der Verlust qualifizierter Mitarbeiter werden in Deutschland auf ca. 10 Milliarden Euro geschätzt (Joiko et al., 2008, S. 15). Aus den Gesundheitsberichten der Krankenkassen sind wachsende Zahlen von Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen bekannt. Auch der Fehlzeitenreport 2009 (Badura et al., 2010) widmet sich intensiv diesem Thema. Eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) aus dem Jahr 2010 zu psychischen Belastungen in der modernen Arbeitswelt bestätigt diesen Trend. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat die Gesundheitsberichte der gesetzlichen Krankenkassen seit dem Jahr 2000 ausgewertet und wissenschaftliche Untersuchungen zu psychischen Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt dazu gesichtet. Seit 2000 ist ein Anstieg der Arbeitsunfähigkeitszeiten durch psychische Erkrankungen zu beobachten, der vor allem auf einen Anstieg um 1% der psychiatrischen Krankheitsfälle auf anteilig 3–3,5% zurückzuführen ist. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen ist im Wesentlichen gleich geblieben, sie liegt im Schnitt bei ca. 3 bis 6 Wochen. Das ist allerdings lediglich ein Durchschnittswert, es kann auch deutlich längere Krankheitszeiten geben. Die häufigsten Diagnosen sind Depressionen, gefolgt von Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen. Unter Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen versteht man Reaktionen auf außergewöhnlich belastende Lebensereignisse oder eine besondere Veränderung im Leben, die von den betroffenen Personen nicht bewältigt werden können und so zu gesundheitlichen Störungen führen können. Besonders betroffen von psychischen Erkrankungen sind die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung, des Sozial- und Gesundheitswesens und des Dienstleistungssektors. Erhöhte Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen weisen weiterhin die Mitarbeiter der Telekommunikation und des Erziehungs- und Unterrichtswesens auf. In einzelnen Berufsgruppen lassen sich besondere Belastungen finden: bei den Telefonisten in den Call-Centern, den Wächtern, Krankenpflegehelfern, Kontrolleuren und Mitarbeitern der Zeitarbeitsbranche. Weit übertroffen werden die Zahlen der Erwerbstätigen jedoch von den Arbeitsunfähigkeitszeiten der Arbeitslosen, in denen diese dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.
1.3 • Begrifflichkeiten fachlich korrekt
Spitzenreiter bei den Arbeitsunfähigkeitszeiten ist Hamburg, dicht gefolgt von Berlin. In den neuen Bundesländern liegen die Arbeitsunfähigkeitszeiten sogar niedriger als im Bundesdurchschnitt (Studie der BPTK 2010). Aufgrund der vielfältigen und kostenintensiven Folgen psychischer Störungen am Arbeitsplatz ist es besonders wichtig, sie früh zu erkennen und gestaltend einzugreifen, um Kosten zu senken und Standort und Wettbewerbsvorteile zu erhalten. Einen Betrag dazu soll dieses Buch leisten. Es will auf psychische Fehlbelastungen und mögliche Ursachen hinweisen, Hilfestellung zur Früherkennung von Fehlbelastungen und konkrete Tipps zum Umgang mit gefährdeten Mitarbeitern geben.
1.3
7
1
Hamburg und Berlin sind Spitzenreiter.
Früherkennung ist wichtig.
Begrifflichkeiten fachlich korrekt
Es folgen noch einige Anmerkungen zu den Begrifflichkeiten, die im Folgenden immer wieder verwendet werden. Im Zusammenhang mit dem Thema psychische Störungen tauchen auch andere Begriffe auf wie psychische Erkrankung, psychische Fehlbelastung, psychische Fehlbeanspruchung, psychische Beeinträchtigung, psychische Behinderung und Befindlichkeitsstörung. In der Medizin und der fachärztlich-psychiatrischen Diagnostik spricht man heute nur noch von psychischen Störungen. Der Begriff der psychischen Erkrankung wurde bereits vor einigen Jahren als stigmatisierend aus dem Wortschatz der Fachleute und der psychiatrischen Diagnostik gestrichen. In der Umgangssprache werden weiterhin beide Begriffe psychische Störung und psychische Erkrankung verwendet. Zum Beispiel »hat jemand eine psychische Erkrankung oder ist psychisch erkrankt«. Politisch korrekt ist es allerdings, von psychischen Störungen zu sprechen. Die Begriffe der psychischen Fehlbelastung und Fehlbeanspruchung kommen aus dem Arbeitsschutz. Die Aufgabe des Arbeitsschutzes ist es, für menschengerechte Arbeitsbedingung zu sorgen und alle Arten von gesundheitlichen Belastungen zu vermeiden. Seit einigen Jahren gehört auch die Vermeidung von psychosozialen Belastungsfaktoren zum Aufgabengebiet der Fachkräfte für Arbeitsschutz. Man spricht von psychischen Fehlbelastungen und psychischen Fehlbeanspruchungen, wenn ein Mensch nicht über ausreichende Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten verfügt, den Anforderungen gerecht zu werden. Die Folgen psychischer Fehlbelastungen nennt man psychische Fehlbeanspruchung Die Folgen psychischer Fehlbeanspruchung können Stress, Monotonie, psychische Sättigung und psychische Ermüdung sein. Die Begriffe Beeinträchtigung und Behinderung sind Begrifflichkeiten aus der Sozialgesetzgebung, aus denen sich Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder Rentenansprüche ableiten lassen, wenn bestimmte Voraussetzungen und ein bestimmtes Maß an Be-
Begriffsklärung psychische Störung
Fehlbelastung und Fehlbeanspruchung
Beeinträchtigung und Behinderung
8
Kapitel 1 • Einführung
1 Wo sagt man was?
einträchtigungen bzw. Behinderung gegeben ist. Eine Behinderung droht, wenn die Beeinträchtigungen voraussichtlich länger als sechs Monate anhalten werden. Das heißt, je nachdem, in welchem Bereich wir uns bewegen, werden unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. Bewegen wir uns auf dem Gebiet der medizinischen Diagnostik, sprechen wir von psychischen Störungen, bewegen wir uns auf dem Bereich Arbeitsschutz, sprechen wir von psychischen Belastungen oder Fehlbelastungen sowie psychischer Beanspruchung und psychischer Fehlbeanspruchung. Wenn es um den Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation geht, dann werden Begrifflichkeiten wie Beeinträchtigung und Behinderung verwendet. Immer sind mit diesen Begrifflichkeiten auch unterschiedliche Maßnahmen verbunden, weil es entsprechende medizinische Versorgungen bzw. Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung bzw. Maßnahmen der Rehabilitation gibt. Ein letzter Begriff ist die Befindlichkeitsstörung. Sie beschreibt eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und ein vorübergehendes negatives psychisches Empfinden. So, nun sind Sie auch mit dem ersten Fachchinesisch bekannt gemacht worden – dann können wir jetzt tiefer in das Thema einsteigen.
9
Der Mitarbeiter im Betrieb 2.1
Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell – 11
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Die erste Säule: »Leiblichkeit« – 13 Die zweite Säule: »Soziale Beziehungen bzw. soziales Netzwerk« – 13 Die dritte Säule: »Arbeit, Leistung, Freizeit« – 14 Die vierte Säule: »Materielle Sicherheit« – 15 Die fünfte Säule: »Werte und Normen« – 16
2.2
Wechselwirkungen – 17
2
10
Kapitel 2 • Der Mitarbeiter im Betrieb
Werte und Normen
Materielle Sicherheit
Arbeit/Leistung/Freizeit
Soziale Beziehungen
Leiblichkeit
2
. Abb. 2.1 Fünf Säulen der Identität. (Angelehnt an Petzold 2010. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. H. Petzold. © Christiane Weitendorf )
Der Mitarbeiter ist mehr als ein Kostenfaktor.
Er hat eine persönliche Geschichte und Kultur.
In diesem Kapitel geht es mir um die ganzheitliche Betrachtungsweise eines Mitarbeiters. Ein Mitarbeiter ist mehr als eine Arbeitskraft und ein Kostenfaktor. Er ist ein Mensch mit Leib und Seele. Er bringt nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch sich selbst in den Betrieb mit ein. Er geht Beziehungen zu seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten ein. Er hat eine persönliche Geschichte und eine eigene Identität. Mit der Bedeutung und der Entwicklung der Identität eines Mitarbeiters wollen wir uns näher befassen. Dabei hilft das Modell der fünf Säulen der Identität (Petzold, 2001) zu verstehen, wie sie entsteht und aus welchen Quellen sich die Identität speist. Dieses Modell zeigt auch deutlich wie die verschiedenen Säulen voneinander abhängig sind und sich gegenseitig beeinflussen und was passiert, wenn einzelne Säulen beginnen zu bröckeln (. Abb. 2.1). Ein Mitarbeiter wird beispielsweise als Schweißer, Bürokraft, Lagerfacharbeiter oder Verwaltungsangestellter eingestellt. Er stellt dem Betrieb seine Arbeitskraft zur Verfügung, bestehend aus Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Erfahrung. Mit seiner Arbeitskraft übt er eine Funktion im Betrieb aus, die optimalerweise seinen Fähigkeiten und Erfahrungen entspricht. Neben den bestimmten beruflichen Kenntnissen, die im betrieblichen Kontext abgerufen werden, kommt mit jedem Mitarbeiter eine Persönlichkeit in den Betrieb. Er hat eine Geschichte, eine Lebens- und Arbeitsgeschichte, eine Kultur und ein soziales Netzwerk. Er bringt insgesamt viel mehr mit als das, was im Arbeitsvertrag vereinbart ist. Die persönliche Geschichte des Einzelnen hat im Hintergrund eine bestimmten Zeit, politische Verhältnisse, eine bestimmte Kultur oder Subkultur und einen Zeitgeist, der bestimmte Einstellungen, Werte und oft auch Lebensverhältnisse widerspiegelt. Menschen, die im Dritten Reich oder in Kriegszeiten auf-
2.1 • Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell
gewachsen sind, haben andere Lebenserfahrungen als jene, die in den Nachkriegsjahren oder in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren in Deutschland aufgewachsen sind. Bei ausländischen Arbeitsnehmern kommen ein anderer kultureller Hintergrund und die Migrationserfahrung hinzu, die mit bedacht und wahrgenommen werden sollten, wenn man sich mit dem einzelnen Mitarbeiter beschäftigen möchte. Arbeit findet immer in sozialen Bezügen statt und in sozialen Beziehungen entwickeln sich auch ein Mensch und seine Identität (Petzold, 2001). Die Arbeitsgeschichte eines Menschen beginnt bereits im Spiel in früher Kindheit, setzt sich in der Schule fort, ist geformt durch erste Erfahrungen mit Lehrern, später Lehrherren, Ausbildern und Vorgesetzten. Die Erfahrungen sind geprägt von Erfolg und Misserfolg, von Kollegialität, sowohl guter als auch schlechter, und Arbeitsbedingungen, die förderlich oder aber auch belastend gewesen sind. Um mitarbeiterorientiert führen zu können, halte ich es für notwendig, den Menschen ganzheitlich zu betrachten. Dazu gehören ganz wesentlich seine Geschichte und seine Identität. Die Säulen der Identität können dazu beitragen, ein Verständnis für das Entstehen und die Folgen von Krisen zu entwickeln. Sie können außerdem Hinweise auf Ressourcen geben, die helfen können, Krisen zu überstehen und zu überwinden.
2.1
11
2
Arbeitsgeschichte beginnt beim Spiel in der Kindheit
Den Menschen ganzheitlich betrachten
Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell
Um wesentliche Aspekte des Menschseins, der Persönlichkeit, des menschlichen Lebens abzubilden, werden in der Psychologie Modelle benutzt. Sie dienen dazu, die ganze Komplexität, die menschliches Leben ausmacht, zu vereinfachen und wesentliche Gesichtspunkte abzubilden. Auch in diesem Buch werden wir das eine oder andere Modell kennenlernen, um die Verschiedenheit von Menschen im Betrieb, ihre Bedürfnisse, ihr Verhalten und besonders ihre Reaktionen auf Anforderungen und Belastungen zu erklären. Sie sollen auch dazu dienen, unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Zusammenhänge zu lenken und menschliche Besonderheiten im Betrieb zu erkennen. Wir schauen, wie diese Modelle auch im Bereich der Prävention, im Gesundheitsschutz und in der Gesundheitsförderung genutzt werden können. Kommen wir zurück zu unserem Mitarbeiter: Was macht ihn außer seinen Kenntnissen und Fähigkeiten noch aus? Wie lässt sich die Entstehung menschlicher Identität beschreiben und wie hängt sie mit dem Arbeitsplatz zusammen? Die Identität eines Menschen entwickelt sich in einem lebenslangen Prozess in Beziehungen wie der Familie, dem Freundeskreis, der Schulklasse und dem Betrieb. Sie verläuft in drei Schritten: Identifizierung durch die anderen, die eigene Betrachtung und Bewertung und
Wieso ein Modell?
12
Kapitel 2 • Der Mitarbeiter im Betrieb
die daraus folgende Identifikation und Internalisierung Diese Schritte sollen an einem Beispiel erläutert werden:
2
Erster Schritt: Die Fremdzuschreibung, d.h. die Identifizierung von
außen, der andere sieht mich. Die Kollegen sagen, »Herr Müller ist ein sehr sorgfältiger Buchhalter«. Zweiter Schritt: Eigene Bewertung, ich werde gesehen.
Herr Müller selber hört die Beschreibung, die Zuschreibung der Kollegen und sagt: »Ja, ich finde es auch gut, dass ich so gründlich und sorgfältig bin«. Wie entsteht Identität?
Dritter Schritt: Statt Selbstzuschreibung kann man auch Identifikation sagen, ich sehe, dass der andere mich sieht. Und Herr Müller selber sieht sich letztendlich im Spiegel seiner Kollegen und sagt, »Stimmt, ich sehe mich auch so, ich bin ein gründlicher und sorgfältiger Buchhalter und das will ich auch sein«. Vierter Schritt: Internalisierung: Der Vorgang der Identifikation
Fünf Säulen. (Inhaltliche Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. H. Petzold.)
kommt ins innere Archiv und die Selbstzuschreibungen beeinflussen von dort aus die Haltung und das Verhalten. Besonders bedeutsam sind Internalisierungen vor allem, wenn sie mit Fremdzuschreibungen von wichtigen Menschen zusammenpassen. Das können Eltern, Lehrer und auch Vorgesetzte sein. Das gilt sowohl für die guten als auch für die schlechten Fremdzuschreibungen. »Aus Dir wird nie was«, »dafür bist Du viel zu dumm« können so nachhaltige negative Wirkungen entfalten. Fallen Ihnen zu sich Fremdzuschreibungen wichtiger Personen aus Ihrem Leben ein? Eine gute Systematik, um Aspekte der Persönlichkeit und der Identität eines Menschen abzubilden, bietet das bereits genannte Modell von Petzold, »Die fünf Säulen der Identität« (Petzold, 2001): 1. Leiblichkeit, 2. soziale Beziehungen bzw. soziales Netzwerk, 3. Arbeit, Leistung bzw. Freizeit, 4. materielle Sicherheit und 5. Werte und Normen. Was ist nun mit diesen fünf Säulen gemeint? Was macht unsere menschliche Identität aus? Alle Aspekte, die im Folgenden betrachtet werden und die Sie an sich und auch an anderen beobachten können, gehören zur Identität eines Menschen dazu und sind mehr oder weniger auch im Betrieb dabei. Es kommen nicht immer alle Aspekte der Identität zum Ausdruck, denn die Rolle im Betrieb als Arbeitnehmer oder Führungskraft schränkt die Ausdrucksmöglichkeiten ein. Im Hintergrund jedoch sind sie mehr oder weniger da, sei es beflügelnd oder auch beeinträchtigend.
2.1 • Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell
2.1.1
13
2
Die erste Säule: »Leiblichkeit«
Schon das Wort Leiblichkeit zeigt, dass mehr damit gemeint ist, als der reine Körper in seinen Funktionen. Leiblichkeit bezeichnet auch alle Erfahrungen und Gefühle, die im Laufe des Lebens im »Körpergedächtnis« gespeichert sind, und damit ist nicht nur das Gehirn gemeint. Der Leib leitet und plant Bewegungsabläufe und merkt sich beispielsweise Verletzungen. Nicht umsonst spricht man oft auch von Phantomschmerzen. Eine stabile Gesundheit, ein gutes Körpergefühl und Zufriedenheit mit der eigenen leiblichen Gestalt und dem Aussehen gehören zur ersten Säule der Identität dazu. Redensarten wie »sich in seiner Haut wohlfühlen« oder »gut bei Kräften sein« drücken Qualitäten der Leiblichkeitssäule aus. »Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit (…) werden mit einem bewegungsaktiven Lebensstil und (…) einem sorgsamen Umgang mit sich selbst erreicht und gefördert« (Petzold, 2001, S. 52). Nicht umsonst definiert auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO):
Leiblichkeit ist mehr als »nur Körper«.
» Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. (Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity (Definition 1946).
«
» Gesundheit ist die Fähigkeit des Individuums, die eigenen Gesund-
WHO Definition Gesundheit
heitspotenziale auszuschöpfen und auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren (Definition 1988).
«
Damit Leiblichkeit möglichst lange eine tragende Säule der Identität sein kann, sind Gesundheitsbewusstsein, gesunde Ernährung und ein gesundheitsorientierter Lebensstil eine gute Grundlage (Petzold, 2001). Von betrieblicher Seite aus wird die Säule Leiblichkeit vom Arbeitsschutz 7 Kapitel 3 und der betrieblichen Gesundheitsförderung 7 Kap. 10 unterstützt. Ziel des Arbeitsschutzes ist es, die gesundheitsschädigenden Einflüsse am Arbeitsplatz zu vermeiden. Die Gesundheitsförderung zielt darauf ab, die gesunde Lebensweise zu unterstützen, Bewegung zu fördern und die Gesundheitspotentiale des einzelnen Mitarbeiters zu erweitern und zu unterstützen (mehr darüber unter dem Aspekt der Prävention 7 Kap. 10).
2.1.2
Die zweite Säule: »Soziale Beziehungen bzw. soziales Netzwerk«
Die zweite Säule der Identität besteht aus den sozialen Beziehungen eines Menschen. Das soziale Netz bildet sich in der Regel aus der
Das soziale Netz
14
Kapitel 2 • Der Mitarbeiter im Betrieb
2 Das soziale Netz ist ein Schutzfaktor und es ist lebensnotwendig …
… und es ist brüchiger geworden
Familie, dem Freundeskreis, der Nachbarschaft und den kollegialen Beziehungen, dazu können auch der Hausarzt, Klassenkameraden, die Eltern befreundeter Kinder, die Gemeinde und viele andere Menschen, mit denen wir aus unterschiedlichen Gründen zusammenkommen, gehören. Die sozialen Beziehungen sind wie die Leiblichkeit ein zentrales Identitätsmoment und tragen zur Entwicklung der Identität ganz wesentlich bei (Petzold, 2001). Soziale Beziehungen können unterstützen und fördern oder auch belasten und einschränken. Dem sozialen Netzwerk, und sei es noch so klein, kommt insgesamt eine besondere Bedeutung zu. Das soziale Netzwerk ist ein Schutzfaktor, wenn es darum geht, mit schwierigen Situationen und Anforderungen fertig zu werden. Soziale Beziehungen sind für den Menschen eine wichtige Ressource, die er fast so notwendig für das Leben braucht wie die Luft zum Atmen, denn der Mensch ist als Mitmensch, als soziales Wesen gedacht und nicht als Einzelkämpfer. In unserer heutigen Zeit ist das soziale Gefüge brüchiger geworden. Die Vereinzelung vor allem in den Städten hat zugenommen und einen Familienzusammenhalt wie es ihn in Großfamilien mit mehreren Generationen unter einem Dach oder an einem Ort gegeben hat, die sich gegenseitig unterstützen, gibt es aufgrund verstärkter Anforderungen an die Mobilität der berufstätigen Menschen immer seltener. Häufig werden Beziehungen abgebrochen, Ehen geschieden und neue Familienstrukturen wie z. B. sogenannte »Patchworkfamilien« mit neuen Herausforderungen entstehen. Zunehmende Mobilität führt zu Fernbeziehungen und die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten unserer Zeit bieten keinen Ersatz für ein tragfähiges, leibhaftiges soziales Netz. Zunehmend mehr Menschen leben alleine, insbesondere in den großen Städten, und die Kollegen am Arbeitsplatz sind oft das einzige soziale Netz, das sie haben.
2.1.3 Arbeit trägt zur Entwicklung bei.
Die dritte Säule: »Arbeit, Leistung, Freizeit«
Die dritte Säule der Identität speist sich aus Arbeit, Leistung und Freizeit. Arbeit trägt im besonderen Maße zur persönlichen Entwicklung eines Menschen bei, sie fördert den Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen und kann von positiven Gefühlen wie Neugier, Stolz und Freude begleitet werden, sinnstiftend sein und das Selbstvertrauen steigern. »Ein tüchtiger Kollege«, »eine erfahrene Kraft«, »eine gute Führungskraft«, »sie ist Spezialistin für komplizierte Fälle«, das sind Zuschreibungen von Kollegen und Führungskräften aus dem Arbeitsumfeld. Wenn diese Zuschreibungen von der beschriebenen Person selbst positiv bewertet und bestätigt worden sind, »ja, ich finde das auch und das ist gut so«, »so sehe ich mich auch«, können sie sehr viel Selbstbestätigung und Selbstvertrauen bringen.
2.1 • Was macht unsere menschliche Identität aus? – Ein Identitätsmodell
Die Kollegen sagen: »Frau Schmidt gibt sich viel Mühe in der Einarbeitung der neuen Kollegin. Sie ist wirklich eine engagierte Mitarbeiterin.« Frau Schmidt hört die Beschreibung und sagt: »Ja, ich finde es gut, mich um die neue Kollegin zu kümmern – es ist mir wichtig, der Neuen zu helfen und ihr alles zu erklären« Frau Schmidt sieht sich im Spiegel ihrer Kollegen und denkt: Stimmt, ich sehe mich auch so. Ich bin engagiert und kümmere mich gerne um die neue Kollegin.« Für viele Menschen sind die berufliche Tätigkeit und die Leistung, die sie am Arbeitsplatz erbringen, die einzige Quelle, aus der sich ihr Selbstwert nährt. »Nur wenn ich etwas leiste, bin ich ein wertvoller Mensch«. Diese Einstellung ist mir oft begegnet. Sie birgt in Verbindung mit hohen Leistungsansprüchen große Gefahren für die psychische Gesundheit, wie wir an anderer Stelle genauer betrachten wollen (7 Kap. 5, Belastungsfaktoren). Doppelrollen wie sie die Verbindung von familiären Verpflichtungen als »gute Mutter«, oder »fürsorglicher Vater« oder zusätzlich der Pflege alter oder kranker Familienmitglieder einerseits und Berufstätigkeit, berufliche Karriere andererseits mit sich bringen, können zu geringem Erholungsverhalten, problematischer Dauerbelastung, Erschöpfung und gesundheitlichen Problemen führen (7 Kap. 3.6, Erschöpfungsspirale). Die dritte Säule Arbeit, Leistung, Freizeit ist von ganz zentraler Bedeutung und hat Auswirkungen auf viele andere Säulen. Insbesondere dann, wenn diese Säule aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Problemen am Arbeitsplatz zu bröckeln beginnt (Petzold, 2001).
2.1.4
15
2
»eine engagierte Kollegin«
Doppelrollen führen zu Dauerbelastung.
Die vierte Säule: »Materielle Sicherheit«
Die vierte Säule der Identität ist die materielle Sicherheit. Hier geht es um materielle Dinge wie z. B. Geld, Wohnung oder auch Kleidung. Eigenes Geld verdienen und für sich selber sorgen können, ist für viele Menschen von großer Bedeutung, denn es schafft Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Freiheit von materiellen Abhängigkeiten von der Familie, vom Ehepartner oder auch von staatlicher Unterstützung ist für viele Menschen wichtig. Geld verdienen zu müssen, um z. B. einen bestimmten Lebensstandard zu erreichen, finanzielle Unabhängigkeit zu erhalten oder finanzielle Notsituationen zu überwinden, kann durchaus auch zu einer enormen psychischen Belastungssituation führen. Die materielle Ausstattung und Sicherheit eines Menschen bieten Möglichkeiten, seine Identität auszugestalten, sei es durch eine Vorliebe für bestimmte Autos und Kleidung, die Gestaltung einer Wohnsituation oder die Teilnahme an sozialen Aktivitäten oder am kulturellen Leben.
Geldverdienen schafft Gestaltungsmöglichkeiten.
16
Kapitel 2 • Der Mitarbeiter im Betrieb
Beispiel: »Die Meyers haben ja ein schönes Altstadthäuschen und sind so geschmackvoll eingerichtet.« – »Ja, wir haben viel Freude an unserem alten Haus und es macht viel Spaß, nach den passenden Möbeln dafür zu suchen.« »Herr Grube ist ja auch so ein Autoverrückter!« – »Oh, ja, ich liebe sportliche, schnelle Autos! Autos sind wirklich eine Leidenschaft von mir!« - »Ich bin wirklich ein Autoliebhaber.« »Er bzw. sie sieht immer elegant aus, wie aus dem Ei gepellt.« – »Ja, das stimmt. Ich gebe mir auch viel Mühe und es macht mir Spaß, elegant auszusehen«. Dies sind Zuschreibungen, die zur vierten Säule gehören. Wie bedeutsam diese Identitätssäule »materielle Sicherheit« ist, bemerken wir oft erst, wenn sie bedroht ist oder wenn sie gar wegfällt (Petzold, 2001).
2
2.1.5 Werte geben Kraft und Sinn.
Wie sehen Ihre Säulen aus?
Die fünfte Säule: »Werte und Normen«
Die fünfte Säule der Identität ist die der Werte und Normen. »Es ist ja bewundernswert, wie er sich in seiner Freizeit ehrenamtlich für die Fußballjugend engagiert!«; »Sie ist eine überzeugte Christin und in der Gemeindearbeit sehr aktiv«. Wir engagieren uns beispielsweise für soziale Projekte, fühlen uns Religionsgemeinschaften zugehörig, arbeiten in politischen Organisationen oder Gewerkschaften mit oder sind in Vereinigungen aktiv, die ökologische oder humanitäre Ziel verfolgen. All diese an inneren Werten orientierten und sinnvollen Tätigkeiten tragen auf einer eher geistigen, immateriellen Ebene zu unserer Identität bei und geben unserem Leben oft Kraft und Sinn. Es bringt uns Zufriedenheit, wenn unser Handeln durch Nächstenliebe, Mitgefühl und im wahrsten Sinne des Wortes mit »Sinn« erfüllt wird. Werte bestimmen unser Handeln und führen zu inneren Haltungen. In schweren Krisen können Werte lange Kraft geben und diese Säule der Identität kann lange tragen, denn Werte helfen auch in schwerem Leid Sinn, Hoffnung und Hilfe zu finden. »Wenn ich meinen Glauben nicht gehabt hätte, hätte ich diese Krise nicht so meistern können« zeugt z. B. davon (Petzold, 2001). Vielleicht ist dem einen oder anderen Leser bei der Lektüre ja auch die Frage durch den Kopf gegangen: »Was macht mich denn eigentlich aus?«, »Wie sehe ich mich mit meiner Leiblichkeit?«, »Wie sieht mich meine Familie?«, »Wie sehen mich meine Freunde?« und »Wie steht’s mit der Arbeit?«, »Wie sehen mich die Kollegen am Arbeitsplatz?«, »Wie sieht meine Säule »Materielle Sicherheit« aus?« und »Welche Werte sind mir wichtig?« Es kann durchaus lohnend sein, innezuhalten und darüber einmal kurz nachzudenken.
2.2 • Wechselwirkungen
2.2
17
2
Wechselwirkungen
Die fünf Säulen der Identität können einander wechselseitig beeinflussen und auch beeinträchtigen. Wären wir körperlich versehrt, also wäre die Säule »Leiblichkeit« betroffen, hätte dies auch einen Einfluss auf die Säulen »Soziale Beziehungen bzw. soziales Netzwerk«, »Arbeit, Leistung, Freizeit« und »Materielle Sicherheit«. Verlieren wir einen geliebten Menschen oder bricht gar unser soziales Netz auseinander, sind wir oft auch erschüttert in unserer Leistungsfähigkeit und der Säule »Arbeit, Leistung bzw. Freizeit«, möglicherweise auch in der Säule »Materielle Sicherheit«. Sind finanzielle Ressourcen knapp, sind oft auch die Pflege des sozialen Netzwerkes und die Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten begrenzt. Auch ein gesunder Lebensstil ist schwieriger zu realisieren, so dass auch die Säule »Leiblichkeit« betroffen ist. Die dritte Säule »Arbeit, Leistung und Freizeit« beschreibt einen zentralen Aspekt unserer Identität, der starke Auswirkungen auf fast alle anderen Lebensbereiche hat. Arbeit kann dazu beitragen uns persönlich weiterzuentwickeln oder kann uns in Schwierigkeiten bringen und zu großen Belastungen führen. Diese Belastungen können sich auch auf alle anderen Säulen auswirken, insbesondere dann, wenn die Leistungsansprüche besonderes hoch, berufliche Leistungsfähigkeit und Erfolg als maßgebend für den persönlichen Wert angesehen werden und das soziale Netz sich auf den Kollegenkreis beschränkt. Stellen sich bei dieser speziellen Konstellation Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und gesundheitliche Probleme ein, die die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit einschränken, kann es zu persönlichen und psychischen Krisen kommen. Der Verlust der Arbeitsfähigkeit erschüttert die Säulen, »Arbeit, Leistung, Freizeit«, »Materielle Sicherheit«, »Soziale Beziehungen bzw. soziales Netzwerk« und »Leiblichkeit«. Auch am Arbeitsplatz bringt ein Mitarbeiter sich mit seinen Identitätssäulen in den Betrieb ein. Gefragt sind zunächst seine Kenntnisse und Fähigkeiten (die Säule »Arbeit, Leistung, Freizeit«), in der Zusammenarbeit mit seinen Kollegen sind seine sozialen Kompetenzen gefragt (die Säule »Soziales Netzwerk«), die Arbeitsweise und die Qualität speisen sich aus der Säule »Werte und Normen«, seine Gesundheit, die körperliche und mentale Leistungsfähigkeit haben ihre Quellen in der Säule der »Leiblichkeit«. Die Vertragsgestaltung, die Entlohnung, alle materiellen Auswirkungen aus dem Arbeitsverhältnis unterstützen die Säule »Materielle Sicherheit«. Die große Bedeutung, die die Arbeit für die Identität und ihre fünf Säulen hat, wird auch dann ganz besonders deutlich, wenn die Arbeit verloren geht, in der Arbeitslosigkeit. So haben wir beispielsweise die höchsten Krankenstände bei den Arbeitslosen und auch die meisten Fälle psychischer Störungen, ganz zu schweigen natürlich von den materiellen Problemen, die Arbeitslosigkeit verursacht.
Wie die Säulen sich beeinflussen
Wenn die Säule Arbeit bröckelt
Die Säulen ohne die Arbeit
18
Kapitel 2 • Der Mitarbeiter im Betrieb
Stabil gegründet?
2
Ich stelle diese Zusammenhäng dar, weil es sinnvoll ist, im Gespräch mit den Mitarbeitern einen Blick darauf zu haben, wie stabil und fest er in den fünf Säulen seiner Identität gegründet ist und sich ein Bild zu folgenden Fragen zu machen (s. a. 7 Kap. 7): 5 Wie steht es um das leibliche Wohlbefinden und die Gesundheit? 5 Gibt es ein soziales Netzwerk? 5 Hat mein Gesprächspartner eine berufliche Perspektive und passt sie zu ihm? 5 Ist er finanziell abgesichert? 5 Gibt es ein tragendes Wertgefüge? Oder gibt es an einer oder mehreren Säulen Risse oder gar schon Baustellen? Nehmen Sie dieses Konzept der fünf Säulen in Gedanken mit, Sie werden immer wieder Verbindungen zu diesem Modell finden.
19
Psychische Belastungen 3.1
Das Belastungs-Beanspruchungsmodell – 20
3.2
Folgen psychischer Fehlbelastung – 23
3.3
Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz – 25
3.4
Kritische Kombinationen mit hohem Belastungspotenzial – 33
3.5
Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen? – 34
3.5.1 3.5.2 3.5.3
Das Vulnerabilitäts-Stressmodell – 35 Die persönliche Bewertung – 40 Der Handlungs- und Entscheidungsspielraum – 40
3.6
Die Erschöpfungsspirale – 42
3
20
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
Wir haben im letzten Kapitel die fünf Bereiche kennengelernt, aus denen sich die Identität eines Menschen entwickelt und speist. Wir haben gesehen, dass sich diese fünf Säulen gegenseitig beeinflussen. Daher handelt das vorhergehende Kapitel insbesondere davon, wie die Aspekte der Identität auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit einwirken, und umgekehrt davon wie sich die Arbeit auf die verschiedenen Säulen der Identität auswirkt. In diesem Kapitel soll es um psychische Belastungen gehen. Welche Auswirkungen können psychische Belastungen haben? Warum reagieren verschiedene Menschen unterschiedlich darauf? Welche Risikofaktoren gibt es? Das Kapitel beginnt mit einigen Begriffsklärungen aus dem Arbeitsschutz und kommt dann zu den Folgen psychischer Fehlbelastungen und betrieblichen Risikofaktoren. Es geht dann der Frage nach, wie es kommt, dass Menschen so unterschiedlich auf Belastungen reagieren. Auch hier werden wieder einige Modelle bemüht, um menschliches Verhalten zu veranschaulichen.
3
3.1
Das Belastungs-Beanspruchungsmodell
Psychische Belastung und psychische Beanspruchung sind Begrifflichkeiten aus dem Arbeitsschutz und werden in der Norm DIN EN ISO 10075-1 folgendermaßen definiert:
» Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.
«
Definition psychische Belastung
Der Begriff Belastung wird neutral ohne Bewertung im Sinne von Anforderung verwendet. Als Einflüsse sind unter Arbeitsschutzgesichtspunkten die Arbeitsbedingungen gemeint. Sie umfassen: 5 die Arbeitsaufgabe und die Inhalte an sich, 5 die Arbeitsmittel, d. h. alle technischen Werkzeuge, Geräte, Maschinen und auch die PCs, 5 die Arbeitsumgebung: die Arbeitsräume, im weiteren Sinne auch das Raumklima, das Betriebsklima, die soziale Arbeitsumgebung und das Führungsverhalten, 5 die Arbeitsorganisation, also alle zeitlichen Arbeitsabläufe, Arbeitszeitregelungen, Pausenregelungen sowie die verschiedenen Schichtarbeitsmodelle, 5 den direkten Arbeitsplatz und die direkte Arbeitsumgebung des Einzelnen (Joiko et al., 2008, S. 9).
Was wirkt wie auf uns ein?
Die Gesamtheit aller Arbeitsbedingungen wirkt auf den Menschen. Er nimmt sie mit allen Sinnen (Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und Sehen) wahr. Die Wahrnehmungen lösen Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen und Gefühle aus, die wir innerlich als angenehm, posi-
3.1 • Das Belastungs-Beanspruchungsmodell
tiv oder negativ, unangenehm oder gar bedrohlich bewerten. Diese Eindrücke verknüpfen wir mit anderen, früheren Erfahrungen. Dies alles geschieht täglich in unserem Gehirn. Wir haben angesichts der Menge und der Vielfalt der Reize gelernt, viele Eindrücke, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen (Geräusche, Gerüche etc.), auszublenden, um uns auf bestimmte Dinge konzentrieren zu können. Ein kleines Experiment soll uns veranschaulichen, was wir eigentlich alles an Eindrücken unbewusst speichern. Sobald wir die Augen schließen und versuchen, uns, unseren Arbeitsplatz oder unseren Arbeitsweg vorzustellen, stellen sich sehr schnell Bilder, möglicherweise auch Gerüche und Geräusche dazu ein. Schließen Sie die Augen und warten Sie ab, welche Szenen vor Ihren Augen auftauchen, wenn Sie sich folgende Arbeitsplätze vorstellen: Metallwerkstatt, Tischlerei, Küche, Krankenhaus, Landwirtschaft, Werkhalle, Großraumbüro. Diese Aufzählung könnte beliebig erweitert werden. Haben Sie auch Geräusche und Gerüche wahrgenommen, die für die Arbeitsplätze typisch sind? Die Gerüche nach Metallverarbeitung, Schweiß, Holz, Essen, Desinfektionsmittel oder beispielsweise die Geräusche einer Kreissäge oder eines Traktors? Der Begriff der psychischen Belastung wird im Arbeitsschutz wertneutral verwendet und nicht mit einer negativen Bewertung, so wie dieser Begriff sonst umgangssprachlich verwendet wird. Er schließt jegliche Einflüsse ein: solche, die Aufforderungscharakter haben und Anforderungen darstellen, und solche, die Entlastungsfaktoren bedeuten. Es ist sicherlich für viele Leser schwer nachvollziehbar, dass entgegen unserer Gewohnheit dieser Begriff wertneutral verwendet wird. Betrachten Sie es als Herausforderung, dass diese Definition vom Arbeitsschutz in dieser Weise vorgegeben wird. Es wird noch schwieriger, wenn wir uns verdeutlichen dass Anforderungen bzw. Aufgaben anstrengend oder aber auch entspannend sein können. Es könnten Tätigkeiten sein wie 5 Zeitung lesen, 5 körperliche Aktivitäten bei sonst rein sitzender Tätigkeit, 5 Botengänge, 5 Kooperation und Austausch mit anderen Kollegen, 5 jemanden unterstützen, 5 manche Routinetätigkeiten, 5 kreative Aufgaben und 5 vielleicht auch alle Anforderungen, die z. B. ohne Zeitdruck erledigt werden können. Auch im normalen Leben hängen Last und Lust zusammen – so spricht man z. B. von einer »süßen Last«, wenn eine Belastung auch lustvoll erlebt wird. Welche Anforderungen betrachten Sie als entspannend?
21
3
Ein Experiment zum Mitmachen
Szenen
Geräusche und Gerüche
Belastung ist im Arbeitsschutz neutral.
22
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
Die Auswirkung der psychischen Belastung wird als psychische Beanspruchung bezeichnet. Gemäß der DIN EN ISO 10075-1 wird psychische Beanspruchung folgendermaßen definiert:
3
Definition psychische Beanspruchung
»
Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.
«
Persönliche Bewältigungsmöglichkeiten
Jeder reagiert individuell.
Belastungs-Beanspruchungsmodell
Was heißt das jetzt? Die Auswirkung einer psychischen Belastung (Arbeitsanforderung), ganz wertneutral, hängt davon ab, über welche Bewältigungsmöglichkeiten ein Mensch verfügt. Sie bestehen aus: 5 Fähigkeiten, 5 Erfahrungen, 5 Selbstvertrauen, 5 eigenen Leistungsansprüchen, 5 Einstellungen, 5 inneren Haltungen, 5 Wertmaßstäben, 5 Problemlösefähigkeiten, 5 Bewältigungsstrategien und 5 konstitutionelle Faktoren wie z. B. Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand. Ob sich die Aufgabe als Anforderung oder Stressbelastung auswirkt, hängt mit den augenblicklichen persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten des Einzelnen zusammen (Joiko et al., 2008). Jedes Individuum ist ein Gemisch aus sehr eigenen psychischen, körperlichen, genetischen und sozialen Voraussetzungen. Vor dem Hintergrund der persönlichen Geschichte und seiner Art, Erlebnisse zu verarbeiten, empfindet, reagiert und handelt jeder Mensch individuell. Genauso individuell sind auch die Möglichkeiten, die jedes Individuum hat, Probleme zu lösen, mit Anforderungen fertig zu werden, Grenzen zu setzen, sich zu schützen und mit seinen Kräften zu haushalten. Der eine freut sich über eine neue Aufgabe und eine neue Herausforderung, weil er die Abwechslung liebt. Ein anderer ist weniger flexibel und möchte lieber eine Aufgabe nach der nächsten abarbeiten. Diese komplexen Zusammenhänge zwischen individuellen Voraussetzungen, Arbeitsanforderungen und deren Bewertung sind dargestellt im Belastungs-Beanspruchungsmodell (. Abb. 3.1). In diesem Belastungs-Beanspruchungsmodell wird die Doppelgesichtigkeit der psychischen Beanspruchung dargestellt. Psychische Beanspruchung oder Belastung kann sowohl anregend als auch beeinträchtigend sein. Eine Aufgabe kann einerseits als Herausforderung zur Weiterentwicklung anregen, aber auch im Rahmen von Unter-
3
23
3.2 • Folgen psychischer Fehlbelastung
Anforderungen/psychische Belastung
Individuelle Vorraussetzungen des Menschen
»das kann ich schaffen« »das kriege ich hin«
positive Anregung
Aktivierung persönl. Entwicklung Erfahrungszuwachs Wohlbefinden
Bewertung
erlebte Belastung
Beanspruchung
langfristige Folgen
»das schaffe ich nie«
hohe Anspannung und innere Erregung Beeinträchtigung Ermüdung Stress Gesundheitliche Beschwerden Fehlzeiten
. Abb. 3.1 Belastungs- und Beanspruchungsmodell. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben 2008. www.baua.de)
und Überforderung zur Fehlbeanspruchung und Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit führen. Wirkt eine psychische Beanspruchung anregend, trägt sie zur Aktivierung bei und führt langfristig zu einer Weiterentwicklung von persönlichen Fähigkeiten, Wohlbefinden und Gesundheit. Wirkt eine psychische Beanspruchung eher beeinträchtigend, führt sie zu psychischer Fehlbelastung, Stress und langfristig zu psychosomatischen oder psychischen Störungen, Burnout-Syndrom, hohen Fehlzeiten, Fluktuation und im schlimmsten Fall zu Frühverrentung (Joiko et al., 2008).
3.2
Folgen psychischer Fehlbelastung
Was sind psychische Fehlbelastungen und welche Folgen haben sie? Der Arbeitsschutz kennt drei Arten von Fehlbelastung: Stresszustände. Das ist wohl die wichtigste Form psychischer Fehl-
belastung. Hier seien noch einmal die wichtigsten Merkmale genannt. Stress, genauer gesagt Distress, wird gesehen als ein Zustand innerer Anspannung, Unruhe, Nervosität, in der Regel begleitet durch Misserfolgserwartungen. Er wird als kritisch und teilweise auch bedrohlich erlebt. Stresszustände verändern das Arbeitsverhalten und
Stress
24
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
engen die Wahrnehmung, das Denk- und Reaktionsvermögen ein. Die Auswirkungen von Stresszuständen führen im Betrieb zu vielfältigen Arbeitsstörungen. Dauerstress hat direkte körperliche Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System, auf das Verdauungssystem und auf das psychische Wohlbefinden und führt zu Beeinträchtigung oder zur Störung des Immunsystems. Vielfältige körperliche Beschwerden können als Folgen von Dauerstresszuständen angesehen werden. Wir werden noch unter dem Kapitel »Erschöpfungsspirale« (7 Abschn. 3.6) genauer beleuchten, wie sich unter Dauerstress der Körper, die Einstellung und die Wahrnehmung langsam aber sicher verändert und einengt.
3
Psychische Ermüdung
Psychische Ermüdung. Die psychische Ermüdung stellt eine eher vorübergehende Beeinträchtigung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit dar. Sie führt zu Müdigkeitsempfindungen und in deren Folge zur Einschränkung von Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Das Ausmaß der psychischen Ermüdung ist abhängig von der Intensität, der Dauer und dem Verlauf der vorangegangenen psychischen Beanspruchung. Es kann sich daraus auch eine Spirale zu einer ausgeprägten Erschöpfung entwickeln: Wenn der Mitarbeiter bemerkt, dass er Fehler macht und sein Arbeitstempo sich verlangsamt und versucht, dies auszugleichen, indem er verstärkte Anstrengungen unternimmt, die Anforderungen zu erfüllen, kann er sich in immer tiefere Erschöpfungszustände hineinmanövrieren. Langfristig ähneln die Symptome chronischer Ermüdung und Erschöpfung denen von Depressionen. Chronische Erschöpfung führt zu Niedergeschlagenheit, Verlust der Lebensfreude, zu Schlafstörungen, pessimistischen Sichtweisen. Sie kann ebenso in die Erschöpfungsspirale einmünden mit körperlichen Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen- und Verdauungsbeschwerden, und all den Symptomen, die bei dauerhaften Stresszuständen im Prinzip auch zu finden sind.
Ermüdungsähnliche Zustände
Ermüdungsähnliche Zustände: Monotonie, herabgesetzte Wachsamkeit, psychische Sättigung. Diese drei ermüdungsähnlichen Zustän-
de kommen überwiegend in abwechslungsarmen Arbeitssituationen vor, in denen viel Routine vorherrscht (vgl. DIN-EN ISO100751: 2000; Joiko et al., 2008). Monotonie wird beschrieben als ein Zustand herabgesetzter Aktivierung, der sich bei lang andauernden, eintönigen, einförmigen Arbeitsabläufen, die sich ständig wiederholen, entwickeln kann, bei Arbeitsabläufen, die sozusagen »einschläfernd« wirken und zu Leistungsabnahme oder Leistungsschwankungen und Verminderung der Konzentrationsfähigkeit führen. Herabgesetzte Wachsamkeit entsteht z. B. bei abwechslungsarmen Beobachtungstätigkeiten, bei denen Messgeräte, Instrumente, Radarschirme o. Ä. beobachtet werden müssen. Dabei kann es zu herabgesetzter Konzentrationsfähigkeit, Wachsamkeit und Reaktionsbereitschaft kommen. Psychische Sättigung beschreibt einen Zustand von innerer Ablehnung und Widerwillen gegenüber sich immer wieder wiederholenden Abläufen verbunden mit negativen Gefühlen wie Frustration und Ärger, der zu
3.3 • Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz
25
3
Leistungsabfall und Rückzugstendenzen führt. Man könnte es auch übersetzen in »die Arbeit satt haben«. Psychische Ermüdung und ermüdungsähnliche Zustände verschwinden schnell, sobald Abwechslung und ein Wechsel der Tätigkeiten oder der Umgebung ermöglicht wird. Vielfach wird diesen Zuständen ja bereits begegnet, beispielsweise durch Rotation bei der Tätigkeit am Band bzw. bei der Bedienung von Maschinen oder durch ergänzende Tätigkeiten. Stress wird bei weitem als die gefährlichste Folge psychischer Fehlbelastungen angesehen und wird uns auch weiterhin beschäftigen. Zunächst gehen wir der Frage nach, welches denn nun die betrieblichen Belastungsfaktoren sind (Joiko et al., 2008).
3.3
Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz
Schauen wir uns einmal die Vielfalt der Risikofaktoren an, die psychische Fehlbelastungen begünstigen bzw. hervorrufen können. Zwei wesentliche Einflussfaktoren sind entscheidend für das Entstehen psychischer Fehlbelastungen: erstens Einflüsse aus der Arbeitssituation und den Arbeitsverhältnissen, in denen sich der Mitarbeiter befindet, und zweitens die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten des Mitarbeiters. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns ausführlicher mit den Einflüssen aus der Arbeitssituation und den dazugehörigen Arbeitsbedingungen. In der Darstellung lehne ich mich an die Systematik des Arbeitsschutzes an. Grundlage für diese Sammlung ist die Studie der IGA (Initiative Gesundheit und Arbeit) aus dem IGA-Report 5 »Ergebnisse einer Befragung von Arbeitsschutzexperten«, dem Fehlzeitenreport 2009 und dem von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin herausgegebenen Band »Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben« (4. Auflage Februar 2008). Die IGA ist ein Zusammenschluss des BKK-Bundesverbandes, der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, des AOK-Bundesverbandes und des Verbundes der Ersatzkassen. Sie hat eine Arbeitsschutzexpertenbefragung durchgeführt und nach deren Einschätzung zu psychischen Belastungen bei der Arbeit befragt. Die folgende Sammlung bezieht die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien mit ein. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Klar ist, dass es in jedem Betrieb betriebsspezifische Bedingungen gibt, die im jeweiligen betrieblichen Kontext erfragt und erhoben werden sollten. Die Sammlung wird ergänzt durch einige Äußerungen von Führungskräften und Informationen aus Gesprächen mit Betriebsräten und Arbeitsschutzexperten. Psychische Belastungen und Risikofaktoren treten häufig nicht isoliert, sondern in Kombination miteinander auf. Die besonders »kritischen« Kombinationen, die zu hohen psychischen Belastungen führen, finden sich unter 7 Abschn. 3.4.
Einführung Risikofaktoren
26
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
z Qualitative Unterforderung
3
Risikofaktoren aus dem Bereich der Arbeitsaufgaben und Arbeitsinhalte
Qualitative Unterforderung. Qualitative Unterforderung entsteht immer dann, wenn es eine Diskrepanz zwischen der Qualifikation eines Mitarbeiters und den Anforderungen gibt. Insbesondere anspruchslose Aufgaben führen gerne zu einer qualitativen Unterforderung.
Beispiele:
4 »Ich bin ein leidenschaftlicher Schweißer und bin jetzt in der Montage – das macht mich fertig.«
4 »Ich habe als Fernmeldetechniker gearbeitet und werde nun in einem Call-Center eingesetzt.«
Qualitative Überforderung
Qualitative Überforderung. Qualitative Überforderung entsteht wenn, die Anforderung hinsichtlich der Qualifikation des Mitarbeiters zu schwierig bzw. zu komplex ist oder die Anforderungen unklar oder widersprüchlich sind. Auch uneindeutige Aufgaben und Verantwortungszuschreibungen gehören dazu.
Beispiele:
4 »Ich habe eine Aufgabe bekommen, bei der mir der genaue Arbeitsauftrag überhaupt nicht klar ist.«
4 »Früher habe ich gerne im Rechnungswesen gearbeitet. Meine Abteilung wird aufgelöst und ich wurde versetzt. Meine neue Aufgabe ist mit viel Kundenkontakt verbunden, für den mir zusätzlich noch die Fachkenntnisse fehlen.«
Quantitative Überforderung
Quantitative Überforderung. Quantitative Überforderung entsteht immer dann, wenn ein zu großes Arbeitspensum im Verhältnis zu den Möglichkeiten verlangt wird. Besonders in Verbindung mit geringem zeitlichem Handlungsspielraum bildet sie einen erheblichen Stressfaktor.
Beispiel:
4 »Meine Kollegin ist aus Krankheitsgründen längere Zeit ausgefallen. Eine Vertretung gab es nicht und ich habe versucht, ihre Arbeit zusätzlich zu erledigen. Mein Chef braucht doch die Aufstellungen für den Quartalsabschluss und ich dachte, ich schaffe das schon.«
Emotionale Belastungen
Emotionale Belastungen. Emotionale Belastungen entstehen auch durch steigende soziale Anforderungen, beispielsweise mit der Zuständigkeit für zu viele Menschen oder in Verbindung mit Zeitdruck und Fristen im Umgang mit Menschen oder in Verbindung mit hoher
3.3 • Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz
27
3
Verantwortung für Menschen und der Kombination mit emotionalen Belastungen. In vielen sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen finden sich solche Belastungen. Emotionale Inanspruchnahme. Emotionale Inanspruchnahme ist ein Risikofaktor, besonders in sozialen Berufen, Dienstleistungs- und Pflegeberufen. 4 »Irgendwann konnte ich das Leid nicht mehr ertragen – ich hatte
Emotionale Inanspruchnahme
sowieso kaum Zeit, mich dem einzelnen alten Menschen zu widmen.« 4 »Ich war mit meinen Nerven am Ende und konnte diesen Kinderlärm einfach nicht mehr hören. Jetzt arbeite ich mit den Größeren, das geht besser.« Soziale Asymmetrie. Soziale Asymmetrie als emotionale Belastung
Soziale Asymmetrie
findet sich vor allen Dingen in Arbeitsverhältnissen, in denen auf der einen Seite eine Abhängigkeit und ein Gefälle im Einkommen besteht und auf der anderen Seite eine gleichbleibende Freundlichkeit erwartet wird wie z. B. zwischen Kellner und Gast, zwischen Chef und Assistentin oder Sekretärin oder zwischen Verkäuferin und Kundin. Es wird von den abhängig und geringer bezahlten Kräften eine gleichbleibende Freundlichkeit verlangt – auch wenn sie mit Herabwürdigung, Aggression oder Demütigung behandelt werden. Emotionale Dissonanz. Emotionale Dissonanz beschreibt das Missverhältnis zwischen den empfundenen Gefühlen, beispielsweise von Ärger, und dem, was an emotionalem Ausdruck verlangt, erwartet und erlaubt ist. Das betrifft vor allen Dingen Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich und im Call-Center, wenn sie mit unfreundlichen, aggressiven und unbeherrschten Gesprächspartnern oder Kunden zu tun haben und dabei trotz allem immer freundlich bleiben müssen und den eigenen Ärger oder Gefühle von Verletztsein hinunterschlucken müssen.
Emotionale Dissonanz
IGA-Befragung Von den Befragten nannten als häufigstes Merkmal, das zu psychischen Fehlbelastungen führen kann (Mehrfachnennungen waren möglich): 5 59% einen geringen Handlungs- und Entscheidungsspielraum 5 41,9% Anforderungen an Kooperation und Kommunikation 5 34,6% anspruchslose Aufgaben oder hohe Verantwortung und 5 34% hohe mentale Anforderungen (Paridon et al., 2004).
Forschungsergebnisse. (Wiedergabe der Forschungsergebnisse mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.)
28
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
z Technische Ausfälle
3
z Risikofaktor Arbeitszeit
Risikofaktor Arbeitsmittel
Die schnelle Veränderung der Arbeitsmittel und das Entstehen neuer Arbeitsformen und Organisation durch die rasante Entwicklung der Kommunikations- und Informationstechnologie stellt hohe Anforderungen an die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Mitarbeiter. Technische Ausfälle, Abstürze von Datenbanken und andere Tücken aus der Computerwelt verlangen manchmal ein hohes Maß an Frustrationstoleranz und bergen das Risiko psychischer Fehlbelastungen in sich. Da kann einen schon ein ausgefallener Drucker zur Verzweiflung bringen. Risikofaktor Arbeitsorganisation
Hier ist zunächst einmal der Belastungsfaktor Arbeitszeit zu nennen: 5 die Gestaltung der Arbeitszeit durch überlange tägliche Arbeitszeit, 5 geteilte Dienste, 5 fehlende Pausen, 5 Schichtarbeit. 5 Flexible Arbeitszeit bei beschränkter Zeitautonomie und für die innere Uhr ungünstige Arbeitszeiten führen zum Risiko, insbesondere, wenn das Gleichgewicht von Verausgabung und Erholung gestört wird. 5 Eine knappe Personaldecke im Verhältnis von Personal zu Arbeitsmenge führt in der Regel zu Arbeitsverdichtungen und hoher Stressbelastung. 5 Häufige Arbeitsunterbrechungen und Störungen im Arbeitsrhythmus sind insbesondere ein großer Risikofaktor bei Tätigkeiten, die viel Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern. 5 Termin- und Zeitdruck, überbordende Bürokratie, wechselnde Einsatzorte, häufige Dienstreisen und isolierte Arbeit stellen weitere Risikofaktoren dar.
IGA-Studie Forschungsergebnisse
Als Belastungsfaktor wurde Folgendes am häufigsten von den Befragten angegeben: 5 81,5% nannten Zeitdruck, 5 53,6% Bürokratie, 5 32,7% wechselnde Einsatzorte, häufige Dienstreisen und häufige Arbeitsunterbrechungen durch Störungen und Behinderung und 5 29,7% gaben ungünstige Arbeitszeiten als Belastungsfaktor an (Paridon et al., 2004).
3.3 • Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz
z
29
3
Risikofaktoren Arbeitsumgebung und Arbeitsplatz
Die Arbeitsumgebung und der Arbeitsplatz sind einerseits die klassischen Faktoren, die durch den Arbeitsschutz abgedeckt sind: Lärm und Raumklima, sowie nicht ergonomische Arbeitsplätze, räumliche Enge und nicht ergonomische Arbeitsmittel. Sie werden allesamt auch in der IGA-Studie als Risikofaktoren für psychische Belastungen genannt und sind im Großen und Ganzen auch schon durch den Arbeitsschutz und die Arbeitsschutzgesetze im Fokus der Aufmerksamkeit.
Risikofaktor Arbeitsumgebung
IGA-Studie Von den Befragten wurde folgende Merkmale aus der Arbeitsumgebung und dem Arbeitsplatz genannt: 5 Lärm, Klima 61,7% 5 Unergonomische Arbeitsplätze: 47,3%. 5 Unergonomische Arbeitsmittel: 28,2%
z
Risikofaktor »Soziale Beziehungen bei der Arbeit«
Hiermit sind sowohl die Beziehungen auf der kollegialen Ebene als auch die Beziehungen zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten gemeint. Ein ganz großer Teil psychischer Fehlbelastung rührt aus dem Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Kommunikation miteinander. Als wichtigster Punkt wird hier das Führungsverhalten angesehen, das eine häufige und oft auch schwer wiegende Belastungsart darstellt. Ausführlicher werden wir uns noch mit ungünstigem Führungsverhalten in dem Kapitel »Die Aufgaben der Führungskraft« beschäftigen (7 Kap. 6). Als weiterer Belastungsfaktor wirkt auch die Kommunikation der Mitarbeiter untereinander in Gestalt von Konflikten und Spannungen (Paridon et al., 2004). Ein weiterer Belastungsfaktor aus dem Bereich psychosozialer Belastung ist ein schlechtes Betriebsklima. Es wird begünstigt durch fehlende Werte und inadäquate Leitbilder eines Betriebes, die Führungskultur und die Personalpolitik. Ein Mangel an Fairness und Gerechtigkeit im Umgang mit den Mitarbeitern im Betrieb oder der Zusammenbruch des Gemeinschaftsgefühls durch Umstrukturierungen, ungenügende Gratifikationen und Anerkennung sowie gravierende Wertekonflikte zwischen den Werten der Mitarbeiter und den Werten des Unternehmens können zusätzliche Belastungsfaktoren sein.
Risikofaktor Soziale Beziehungen
Schlechtes Klima
IGA-Studie In der IGA-Studie gaben die Befragten zu 5 78,3% schlechtes Führungsverhalten, zu 5 62% schlechtes Betriebsklima und zu
Forschungsergebnisse
30
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
5 57,6% Konflikte und Spannungen bei der Arbeit als Risikofaktor an. Diese hohen Prozentsätze zeigen die große Bedeutung, die auf der Gestaltung der sozialen Beziehungen im Betrieb liegt (Paridon et al., 2004).
3 z Gesellschaftliche Bedingungen
Risikofaktor »Betriebliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen«
Nicht nur die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben einen Einfluss auf die Unternehmen, sondern auch der Konkurrenzdruck und die Stellung des Betriebes am Markt. Der zunehmende Vorrang betriebswirtschaftlichen Denkens wirkt sich auf die Unternehmenskultur und die Arbeitsorganisation aus und hat z. B. auch Einfluss auf die direkte Ausgestaltung der Arbeitsverträge und der Entlohnung. Unter den Risikofaktoren der betrieblichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen steht an erster Stelle die Arbeitsplatzunsicherheit. Dazu zählen auch die vielen Formen der Zeit- und Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, die Befristung von Verträgen, die Projektarbeit und die Scheinselbstständigkeit. Die Folgen dieser Arbeitsbedingungen sind zunehmende Unsicherheit und vor allem Angst vor Arbeitsplatzverlust (Oppolzer, 2010). IGA-Studie
Private Einflüsse
In der IGA-Studie wurde Arbeitsplatzunsicherheit zu 70,7% genannt und 36% nannten fehlende berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und veränderte Arbeitsbedingungen als Belastungsfaktoren. Im IGA-Report wurden auch private Einflüsse abgefragt. Dort wurden vor allem fehlende oder gestörte Beziehungen mit 65,1% und finanzielle Probleme mit 45,2% angegeben, gesundheitliche Probleme und Belastungen durch Hausarbeit, Kinder und Pflege von Angehörigen wurde mit je 35,2% genannt (Paridon et al., 2004).
Hier kann man schon erkennen, dass eine Kombination aus privaten und betrieblichen Belastungen ein hohes Risiko für psychische Fehlbelastungen darstellt und zu Dauerstress und psychischen Störungen führen kann. z
Risikofaktor »Personenmerkmale«
Wir haben in den vorherigen Abschnitten die äußeren Faktoren beschrieben und untersucht, inwiefern sie als Risikofaktoren für eine psychische Fehlbeanspruchung wirken können. Nun stellt sich auch die Frage: Gibt es neben den verschiedenen äußeren Merkmalen, die
3.3 • Risikofaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz
31
3
durch die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsmittel und den Arbeitsplatz gegeben sind, auch persönliche Merkmale, die in Kombination mit bestimmten Arbeitsanforderungen ungünstige Auswirkungen haben können und ein Risiko darstellen können? In der IGA-Studie wurden dazu folgende Merkmale jeweils in ihrer positiven und negativen Ausprägung untersucht; Qualifikation, Stressbewältigungsstrategien, Selbstwertgefühl, Grundhaltung, Persönlichkeit undkörperliche Leistungsfähigkeit. Es sollte in Erfahrung gebracht werden, ob es von bestimmten persönlichen Merkmalen abhängt, ob eine psychische Belastung zu einer Fehlbelastung werden kann. kPersonenmerkmale, die Überforderung und Fehlbeanspruchung begünstigen
Es nannten: 5 15,2% eine ängstlich-zwanghafte Persönlichkeit, 5 15,1% unzureichende Stressbewältigungsstrategien, 5 14,7% ein negatives Selbstwertgefühl und 5 14,3% eine pessimistische Grundhaltung. Diese vier persönlichen Risikofaktoren wirken sich insgesamt eher beeinträchtigend und hemmend auf die Bewältigungsmöglichkeiten aus, die eine Person für verschiedene Arbeitsanforderungen hat.
Forschungsergebnisse
Persönliche Hemmnisse
kPersonenmerkmale, die mit hoher Qualifikation assoziiert sind
Ein ganz anderes Personenmerkmal führt in einer kritischen Kombination zu einem Risiko für psychische Fehlbeanspruchung: eine hohe Qualifikation. Sie kann in Kombination mit fehlenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, anspruchslosen Aufgaben, Bürokratie, geringem Handlungsbedarf und Entscheidungsspielraum zu einem Risiko für psychische Fehlbeanspruchung werden. Insgesamt zeigen diese Hinweise, die uns durch die Personenmerkmale gegeben werden, noch einmal deutlich wie wichtig es ist, auf die richtige Passung von Personenmerkmal und Anforderung zu achten und durch Personalentwicklung und Schulung die Mitarbeiter auch in diesen Merkmalen zur Weiterentwicklung zu ermutigen und zu unterstützen. Zu diesem Abschnitt der Personenmerkmale ist mir ein Kommentar besonders wichtig. Es könnte nach diesen Ergebnissen ein Arbeitgeber auf die Idee kommen: »Ich stelle keinen mehr ein, der schüchtern ist, kein so großes Selbstwertgefühl hat oder aus welchen Gründen auch immer eine pessimistische Grundhaltung hat.« Alle diese Faktoren sind aber beeinflussbar: einerseits durch die Arbeit und die Arbeitserfolge selber und andererseits durch eine richtige Passung von Personenmerkmal und Anforderung. Denn unter den Bedingungen einer richtigen Passung wird sich ein Mitarbeiter positiv weiterentwickeln können.
Hohe Qualifikation als Risiko?
Auf die Passung Personenmerkmal – Anforderung achten
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Kapitel 3 • Psychische Belastungen
Zufriedenheit, Glück und Erfolg
Nicht unterschlagen werden soll, dass Arbeitsanforderungen nicht ausschließlich als Risikofaktoren anzusehen sind. Arbeit kann auch unter günstigen Bedingungen ausgesprochen positive Auswirkungen auf den Menschen haben. Arbeit kann zu persönlicher Weiterentwicklung, einem positiven Selbstwertgefühl, zu mehr Selbstvertrauen, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Glück und Erfolg führen.
Stimmen aus der Praxis
Aus den von uns durchgeführten Seminaren zur Schulung von Führungskräften im Umgang mit psychisch fehlbelasteten Mitarbeitern sollen einige Praxisbeispiele zur Veranschaulichung dienen. Auf die Aufforderung: »Nennen Sie psychische Belastungsfaktoren!« wurden uns folgende Punkte genannt: Stellvertreterkriege, konkurrierende Ziele, nicht Nein sagen können, Monotonie, zehn Aufgaben mit der Priorität 1 gleichzeitig, keine Erholungsphasen, Marionettendasein von Vorgesetzten, das Sparen wirkt zerstörerisch – wir haben Angst, dass unsere Betrieb kaputtgespart wird, Listen- und Tabellendenken von Vorgesetzten, »der Familie geht es schlecht und ich kann’s nicht ändern«. Dauerstress über einen langen Zeitraum, ständige Erreichbarkeit (Mobiltelefon), Nicht-abschalten-Können im Urlaub, Zeitautonomie versus Fremdbestimmung, Standardisierung, ständig neue Aufgaben und keine Zeit, mangelhafte Wertschätzung, vermeidbare Terminüberschneidungen, »mein Kerngeschäft, der Umgang mit den Mitarbeitern, läuft nebenbei«, der Feierabendverkehr. Zukunft des Betriebes unsicher, unsinnige Prozesse, lange Entscheidungswege, Zeit- und Termindruck, Unehrlichkeit, Ungerechtigkeit, Hektik, immer mehr Aufgaben, das Kerngeschäft kommt zu kurz, keine ausreichende Unterstützung bei neuen Projekten, keine Kontinuität. Nicht geregelte Abläufe, »Ich bin nicht zuständig«, die Verlahmung von Problemlösungen durch Bürokratie, »wir verwalten uns zu Tode«, »wasch mich, aber mach mich nicht nass«, Anordnung von »Werten« im Leitbild, die nicht gelebt werden, kritische Mitarbeiter und Querdenker sind nicht mehr erwünscht, engstirniges Bereichsdenken. »Ich fühle mich fremdgesteuert«, »geringe Gestaltungsmöglichkeiten meines Zeitmanagements«, unsinnige Schnellschüsse durch Entscheidungsträger, Strategie- und Strukturlosigkeit, Müdigkeit durch Schichtarbeit, widersprechende Vorgaben, sinnlose Tätigkeiten, keinen Einfluss haben auf die Personalsituation, mangelnde Absprachen, schwierige Mitarbeiter, Kennzahlen über Kennzahlen, vorhandene Probleme werden nicht mehr gelöst.
3
Stimmen aus der Praxis
Zehn Aufgaben Priorität 1
Mangelnde Wertschätzung
Hektik
Werte werden nicht gelebt.
Widersprechende Vorgaben
Kommt Ihnen davon etwas bekannt vor?
3
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3.4 • Kritische Kombinationen mit hohem Belastungspotenzial
Über- u. Unterforderung hohe Arbeitsintensität
soziale Unterstützung
Arbeitsplatzunsicherheit
Komplexität
Weiterbildung g
n slu
ch
we
Ab
Entwicklungsmöglichkeiten
. Abb. 3.2 Risikofaktoren und Ressourcen. (© Christiane Weitendorf )
3.4
Kritische Kombinationen mit hohem Belastungspotenzial
Es gibt ja nicht nur einzelne Risikofaktoren für psychosoziale Belastungen. In der Regel ist es das Zusammentreffen mehrerer Faktoren oder auch die Kombination von unterschiedlichen oder widersprüchlichen Anforderungen, die sich gegenseitig beeinflussen und zu einem hohen Belastungspotenzial werden können (. Abb. 3.2). Diese Zusammenstellung »giftiger« Anforderungskombinationen habe ich aus Gesprächen mit Betriebsräten und Arbeitsschutzexperten gewonnen, als ich sie in der Vorbereitung zu diesem Buch nach ihren Erfahrungen befragt habe. Aus den allgemeinen Belastungsfaktoren von Anforderungskomplexität, Handlungsspielraum, Verantwortungsumfang, zeitlichen Spielraum, Arbeitsunterbrechungen bis zu Anforderungen an die Konzentration, Entscheidungsspielraum, Kooperationserfordernis, Aufgabenvielfalt und emotionalen Belastungen sollen hier tabellarisch einige kritische Kombinationen dargestellt werden, die häufig zusammenspielen und dann besonders belastend sind (. Tab. 3.1). Diese Risiken einzelner Arbeitsplätze hinsichtlich ihrer psychosozialen Belastung lassen sich durch Gefährdungsbeurteilung und -analysen mit Hilfe verschiedener Methoden erfassen (7 Kapitel 10 »Prävention«). Das Vorhandensein dieser kritischen Kombinationen allein muss nicht immer zu psychischen Fehbelastungen führen. Es kann ja
Kritische Kombinationen …
… können auch herausfordern.
34
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
. Tab. 3.1 Kritische Kombinationen Hohe Arbeitskomplexität und …
… hohe Kooperationserfordernis … geringer zeitlicher Spielraum … komplexe Anforderungsstruktur
Hohe Aufgabenvielfalt und …
… große Verantwortung … häufige Arbeitsunterbrechungen … hohe Konzentrationsanforderungen
Geringer zeitlicher Spielraum und …
… große Verantwortung … häufige Arbeitsunterbrechungen … hohe Kooperationserfordernis
Große Verantwortung und …
… hohe Konzentrationsanforderungen … hohe Kooperationserfordernis … geringer Entscheidungsspielraum
Hohe emotionale Belastung und …
… Zeitdruck/Fristen … große Verantwortung … soziale Asymmetrie … emotionale Dissonanz
3
durchaus Mitarbeiter geben, die auch diese Arbeitsanforderungen als besondere Herausforderung und nicht als Belastungsfaktoren erleben. Ob Arbeitsanforderungen zu einem Risikofaktor für die psychische Gesundheit werden, hängt zusätzlich auch von den persönlichen Voraussetzungen und Vorlieben eines Mitarbeiters ab. Wir haben uns bis hierher schwerpunktmäßig mit den Risikofaktoren der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und -verhältnisse beschäftigt und kommen nun zu den eher individuellen und persönlichen Faktoren und Voraussetzungen, die dazu beitragen können, dass sich Risikofaktoren zu tatsächlichen, massiven Belastungen und gar psychischen Störungen bei einzelnen Mitarbeitern auswachsen können.
3.5
Menschen reagieren unterschiedlich.
Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen?
Weshalb kommt es unter ähnlichen Bedingungen und Anforderungen bei verschiedenen Mitarbeitern zu so unterschiedlichen Reaktionen? Wieso empfindet ein Mensch eine Aufgabe als Herausforderung, an der er wachsen kann, und ein anderer Mensch fühlt sich über- oder unterfordert und empfindet dies als psychische Belastung? Vielleicht ist es auch gerade diese eine Aufgabe, die dann »das Fass zum Überlaufen bringt«, so dass der Mitarbeiter in eine Krise gerät oder eine psychische Störung entwickelt. Auch hier hilft uns ein Modell, dies zu veranschaulichen.
3.5 • Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen?
35
3
Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Verletzlichkeit
Verletzlichkeit
Belastung/ Stress
Belastung/ Stress
Belastung/ Stress
kritischer Grenzwert
Person A
Person B
Person C
. Abb. 3.3 Vulnerabilitäts-Stressmodell. (Aus Bäuml, 2008)
3.5.1
Das Vulnerabilitäts-Stressmodell
Das Vulnerabilitäts-Stressmodell beschreibt, wie sich das Zusammenspiel von anlagebedingter oder lebensgeschichtlich erworbener Verletzlichkeit und situativer Belastung auf die subjektiv erlebte Stressbelastung und deren Bewältigung auswirkt. Dieses Modell kommt ursprünglich aus der Schizophrenie-Forschung, hat sich aber zur Erläuterung der individuellen Auswirkungen von Stressbelastungen als sehr alltagstauglich erwiesen. Es geht im Kern davon aus, dass jede Person eine eigene Verletzlichkeit besitzt, die sowohl genetisch bedingt als auch lebensgeschichtlich geformt sein kann. Mit Verletzlichkeit ist auch eine unterschiedlich schnelle oder intensive Reizverarbeitung gemeint. Vereinfacht könnte man sagen: Jeder Mensch hat ein unterschiedlich »dickes Fell«, »robustes Nervenkostüm« oder eine gewisse »Dünnhäutigkeit« und jeder Mensch hat seinen eigenen individuellen Belastungsgrenzwert Das Nervenkostüm hat einen Einfluss darauf, wie stark und intensiv jemand eine Situation erlebt und wie sehr eine Situation als belastend erlebt wird. Zusätzlich hängt es von individuellen psychosozialen Faktoren ab, ob bei einer Belastung von außen eine kritische Grenze erreicht wird (. Abb. 3.3). Die Vulnerabilität ist, wie oben beschrieben, einerseits genetisch und lebensgeschichtlich bedingt, andererseits ist das Stresserleben und die Stressresistenz abhängig von der aktuellen Situation, in der
Robustes Nervenkostüm oder Dünnhäutigkeit …
… in verschiedenen Lebenssituationen
36
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
3 Vulnerabilitäts-Stressmodell
sich ein Mensch gerade befindet: Lebt er in ruhigen Bahnen mit einem stabilen Netzwerk, das ihn unterstützt, oder befindet er sich eher in einer kritischen Lebensphase mit vielen Veränderungen, die ihn belasten oder verunsichern? Ist er beflügelt durch berufliche Erfolge oder eine neue Liebe oder ist er zusätzlich belastet durch eine Erkrankung, die Pflege bedürftiger Familienmitglieder, Einsamkeit, ein fehlendes soziales Netzwerk, Veränderungen oder Konflikte am Arbeitsplatz? Wird also durch das Zusammentreffen von individueller Vulnerabilität – einer Kombination aus angeborenem Nervenkostüm und situativer Belastung – mit erhöhter Stressbelastung die persönliche Belastungsgrenze überschritten, kann es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen. Das Vulnerabilitäts-Stressmodell besagt, dass diese Grenze für jeden Menschen individuell ist und durch die persönliche Lebensgeschichte und die Lebenserfahrungen beeinflusst wird. So können sich nicht bewältigte Anforderungen auf Dauer zu Versagensängsten summieren und zu Gefühlen wie Schwäche und Hilflosigkeit führen. Gut bewältigte Anforderungen hingegen führen zu einem Zuwachs von Fähigkeiten, Selbstvertrauen und Zuversicht für neue Aufgabenstellungen (7 Abschn. 3.1). Nehmen wir einmal drei verschiedene Typen A, B und C, die sich hinsichtlich ihres Nervenkostüms und ihrer Verletzlichkeit unterscheiden unabhängig von der Lebenssituation, in der sich die jeweilige Person befindet. Person A: Sie verfügt über ein solides Nervenkostüm, eine gute Belastbarkeit, viel Selbstvertrauen und die Zuversicht, Probleme lösen zu können. Sie bewältigt belastende Situationen ohne Probleme und entwickelt sich möglicherweise dadurch weiter. Person B: Sie besitzt ein mittelprächtiges Nervenkostüm, ist in der Regel gut belastbar, aber es kann schon sein, dass sie sich unter bestimmten Stressbedingungen kurzfristig sehr anstrengen muss, mit der Stressbelastung fertig zu werden. Sie kann sich aber nach einer gewissen Zeit wieder erholen und stabilisieren.
Drei Grundtypen
Person C: Sie ist insgesamt verletzlicher und empfindsamer als A und
B und kann sich nicht so gut schützen bzw. organisieren. Ist sie der gleichen Stressbelastung wie A und B ausgesetzt und hat keine Möglichkeit, sich zwischenzeitlich zu erholen, dann kann bei C schon die kritische Grenze überschritten werden und sie reagiert darauf je nach Veranlagung mit körperlichen bzw. psychischen Symptomen, die ihr signalisieren, dass hier aufgrund erhöhter Vulnerabilität die Grenze der gesunden Belastung überschritten ist. Diese Beispiele zeigen, wie die innere Einstellung bedingt durch die Lebenserfahrung das Stresserleben beeinflussen kann (transaktionales Stressmodell: 7 Abschn. 3.5.2).
3.5 • Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen?
Nehmen wir an, A, B und C sind kaufmännische Sachbearbeiter in einem Büro. Plötzlich erscheint der Vorgesetzte und möchte möglichst sofort ein umfangreiches Angebot für einen ausländischen Kunden erstellt haben. A sagt, »Das übernehme ich gerne«, und denkt, »Das bekomme ich schon hin.« A begreift die Aufgabe als eine Abwechslung und Herausforderung, die A annehmen und bewältigen kann. A muss sich zwar konzentrieren, empfindet aber keine besondere Anspannung und psychische Stressbelastung. B nimmt die Arbeit an, denkt, »Oh, je, das wird anstrengend, Zeitdruck mag ich nicht. Ich kann nicht so gut unter Druck arbeiten.« B muss sich sehr konzentrieren und zusammenreißen, die zeitliche Anforderung setzt B unter Druck, B empfindet eine große Anspannung, schafft es aber, den Auftrag zeitgerecht zu erledigen. Danach ist B erschöpft und kann nur noch einfache Routinetätigkeiten ausüben. B freut sich auf einen entspannten Feierabend und ist am kommenden Tag, nachdem B sich ausgeruht hat, wieder frisch. C bekommt einen Schrecken, fühlt sich vom Vorgesetzten schnell unter Druck gesetzt, hat Angst und ist unsicher, ob C die Zeitvorgabe einhalten kann und denkt, »Hoffentlich bekomme ich das hin. Jetzt bin ich wegen des Zeitdrucks auch noch innerlich blockiert.« C muss sich so stark anstrengen und konzentrieren, dass C körperlich und psychisch total verspannt. Unter großer Kraftanstrengung bekommt C das Angebot auch fertig, ist völlig erschöpft, und hat Sorge, dass die Migräne wieder ausbrechen könnte. Es ist der gleiche Auftrag, der von den dreien in einer vorgegebenen Zeit erledigt werden muss. Und alle drei gehen je nach Persönlichkeit unterschiedlich an diese Aufgabe heran. Nun leben unsere drei A, B und C nicht im luftleeren Raum, sondern es gibt auch noch zusätzliche Bedingungen aus dem Umfeld der drei, die sie zusätzlich belasten können: private Probleme, gesundheitliche Sorgen, finanzielle Nöte, was auch immer man sich da vorstellen kann. In diesem Fall kann eine zusätzliche berufliche Anforderung, die auf diesen Belastungsberg oben drauf kommt, den inneren Stresspegel noch weiter anheben. A kann sich klar abgrenzen, die Kräfte klar einteilen, ohne dabei unter Druck zu geraten. B kann die gehäuften Belastungen eine ganze Weile gut aushalten, kommt dann aber an die Grenzen, wird nervös und angespannt, doch es gelingt B zwischendurch auch immer wieder, sich zu erholen und zu entspannen. C empfindet den vorhandenen inneren Stresspegel stark und wird schnell nervös und unruhig, sobald sich der Stresspegel erhöht und Anforderungen hinzukommen. C fühlt sich schnell auch persönlich betroffen und sieht nicht so schnell eine Möglichkeit, für sich gut zu sorgen oder sich zu regenerieren, denkt bei sich eher: »Oh, jetzt das auch noch! Hoffentlich schaffe ich das, hoffentlich halte ich das durch.« Es gibt auch Situationen, in denen besteht über lange Zeit ein Gleichgewicht, so dass Stressbelastung und auch Erholungsmöglich-
37
3
Ihre Unterschiede
Wie Sie mit Stress umgehen.
Veränderung stört das Gleichgewicht.
38
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
keit immer wieder gegeben sind und Menschen über einen langen Zeitraum berufliche Anforderungen und persönliche Belastungen gut miteinander vereinbaren können. Wenn dann aber eine Veränderung eintritt, die so belastend ist, dass sie über den individuell tolerierbaren Stresspegel hinaus geht, kann es zu körperlichen und psychischen Symptomen und Störungen kommen. Zwei Fallbeispiele mögen diesen Zusammenhang noch einmal erläutern. Herr Schmidt im ersten Beispiel zählt eher zum Personenkreis der verletzlichen und empfindsameren Art C, während Herr Schwarz eher Personentyp B oder A zuzuordnen ist. Bilden Sie sich selber ein Urteil.
3
Fallbeispiel 1 Fallbeispiel Herr Schmidt …
Ein Mitarbeiter, nennen wir ihn Schmidt, ist um die fünfzig und arbeitet schon lange im Betrieb. Er arbeitet gern, hat seit längerem ein eigenes, selbstständiges Aufgabengebiet, das er gut ausfüllen kann. Vom Typ her ist er jemand, der sein Herz am rechten Fleck hat, er gilt bei den Führungskräften als impulsiver, nicht ganz einfacher Kollege. Er ist manchmal ein wenig polterig, hinter dieser rauen Schale steckt aber ein »weicher Kern«. Mit den Kollegen, die das respektieren und mögen, kommt er gut zurecht, mit den anderen eben nicht ganz so gut. Er ist Junggeselle und bei ihm lebt seine Mutter, die mit zunehmendem Alter pflegebedürftig wird. Er fühlt sich verantwortlich, für seine Mutter zu sorgen und sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Er hat also von der häuslichen Belastung her eine andauernde, psychische Grundbelastung. Die häusliche Belastung und die Arbeitssituation sind so gestaltet, dass Herr Schmidt beides miteinander vereinbaren kann, ohne dauerhaft fehlbelastet zu sein. Nun gibt es im Betrieb eine Veränderung. Sein alter Vorgesetzter, der wusste, wie er ihn zu nehmen hatte, geht in Rente. Mit der neuen Führungskraft wird er nicht richtig warm und findet keinen Draht. Das heißt, er hatte lange Zeit gute Bedingungen, die ausbalanciert waren, weil sich auf der mitmenschlichen Ebene die Belastungen im Betrieb und die häuslichen Belastungen in bewältigbaren Grenzen gehalten werden. In dieser Balance konnte Herr Schmidt seine Arbeit in seinem kleinen, selbstständigen Arbeitsbereich verrichten und zusätzlich seiner Mutter versorgen. Durch die Veränderung der betrieblichen Situation durch eine neue Führungskraft, geriet dieses Gleichgewicht insbesondere mitmenschlich aus dem Lot und die Arbeitsbedingungen wurden durch diese Veränderung zu einer zunehmenden Stressbelastung für Herrn Schmidt. Herr Schmidt erkrankt.
… und Herr Schwarz
Herr Schwarz ist Ende dreißig und hat eine erfolgreiche Karriere im Betrieb gemacht. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und er hat für sich und seine Familie ein Häuschen gebaut. Er musste viel arbeiten, um all diese Annehmlichkeiten zu finanzieren, freute sich aber immer wieder darü-
Fallbeispiel 2
3.5 • Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen?
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3
ber, dass er seiner Familie das bieten konnte, was er sich vorgestellt hatte. Das ganze System geriet aus dem Lot, als seine Frau ihm eröffnete, dass sie sich von ihm trennen wollte. Herr Schwarz geriet in eine Krise, es gelang ihm, sich relativ schnell Unterstützung und Hilfe zu holen, so dass er sich nach einer angemessenen Zeit wieder fing. Zwischendrin hatte er Phasen, in denen er am Arbeitsplatz saß, vor sich hin grübelte und nicht mehr die Leistung bringen konnte, die er eigentlich von sich erwartete. Sein Glück war, dass er verständnisvolle Kollegen hatte, die mit ihm gemeinsam diese krisenhafte Zeit durchstanden.
Die Beispiele zeigen, wie sich plötzliche Veränderungen im häuslichen Bereich, nämlich die Trennung seiner Frau, oder im Betrieb durch die neue Führungskraft auf das herrschende Gleichgewicht auswirken können und natürlich auch ganz massiven Einfluss auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz nehmen können. Das Vulnerabilitäts-Stressmodell dient zunächst nur zur Erklärung für die individuell unterschiedlichen Auswirkungen von Stressbelastungen. Kommt zu einer anlagebedingten »Dünnhäutigkeit« situativ bedingter Stress hinzu wie z. B. privater Stress durch belastete familiäre bzw. soziale Beziehungen, ein fehlendes soziales Netzwerk und beruflicher Stress durch Konflikte am Arbeitsplatz, Arbeitsverdichtung, Ansteigen der Arbeitsintensität, Umstrukturierungen im Betrieb, kann es zu einer Überforderung und Überstrapazierung der nervlichen Belastbarkeit und zu einer psychischen Krise kommen. Die Einteilung in drei verschiedene Typen ist natürlich sehr grob vereinfacht. Es bedeutet vor allem auch nicht, dass es nur drei Typen gibt, die ein Leben lang unterschiedlich belastbar sind und bleiben, so dass ein Arbeitgeber sich nur die belastbarsten Arbeitnehmer heraussuchen könnte, um psychische Krisen am Arbeitsplatz zu vermeiden. So einfach ist es nicht. Es gibt sicherlich sehr viele individuelle Abstufungen, die sich im Laufe des Lebens auch verändern können. Das Modell ist nicht statisch, sondern es gibt natürlich Möglichkeiten, die Belastungen, die Stressresistenz und die Fähigkeiten der Stressbewältigung zu beeinflussen. Besonders wichtig ist gerade unter dem Gesichtspunkt der Belastbarkeit die richtige Passung von Mensch und Arbeitsaufgabe, denn nicht jeder ist auch für jede Arbeit und jeden Arbeitsplatz geeignet. Menschen mit einer hohen Vulnerabilität bzw. Verletzlichkeit kommen möglicherweise in Situationen, die ihnen Stress bereiten, schneller an ihre persönlichen Grenzen als Menschen, die mit mehr Robustheit ausgestattet sind. Dafür sind Menschen mit einer höheren Verletzlichkeit oft empfindsamer und kreativer. So werden empfindsame, kreative Menschen oder Menschen mit hoher sozialer Kompetenz an anderen Stellen benötigt als Menschen mit Organisationstalent, technischen Fähigkeiten oder Entscheidungsfreude. Zusätzlich gibt es auch individuelle Möglichkeiten, die Stressresistenz der Mitarbeiter zu erhöhen. Dies geschieht heute vielfach in
So kann es zu einer Krise kommen.
Auf die richtige Passung kommt es an.
Stressbewältigung lässt sich trainieren.
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Kapitel 3 • Psychische Belastungen
Stressbewältigungstrainings, in denen die Teilnehmer z. B. lernen, eigene Stress verschärfende Gedanken, Einstellungen und Ansprüche kritisch zu hinterfragen und abzubauen, auf sich und ihre Grenzen zu achten, gut mit sich umzugehen und für Entspannung zu sorgen (7 Kap. 10 und 11).
3 3.5.2
Die persönliche Bewertung spielt auch eine Rolle.
Die persönliche Bewertung
Die persönliche Bewertung einer Situation spielt eine wichtige Rolle, um eine Situation als gefährlich oder bedrohlich und Stress auslösend einzuschätzen oder nicht. Menschen »verwenden fortwährend einen erheblichen Teil der unbewussten Gehirnaktivität darauf, die Gegenwart mit früheren Erinnerungen abzugleichen und aus diesem Vergleich abzuschätzen, ob die aktuelle Situation gefährlich ist oder Gutes verheißt« (Hüther & Fischer, 2010, S. 25). Das transaktionale Stressmodell von Lazarus stellt die persönliche Bewertung der Situation und seiner Möglichkeiten, mit der Situation fertig zu werden, in den Mittelpunkt. Bewertet ein Mitarbeiter eine Anforderung für sich, seine Möglichkeiten und seine Wertvorstellung als bedrohlich und hat darüber hinaus die Einschätzung, dass er nicht über ausreichende Bewältigungsmöglichkeiten verfügt, wird er mit einer Stressreaktion auf die Anforderung antworten. Bewertet der Mitarbeiter die Situation zwar für sich als bedrohlich, schätzt aber ein, dass er mit der Situation fertig wird, löst diese Situation keinen Stress in ihm aus. Das erklärt noch einmal, weshalb nicht jede Belastung eine Stressreaktion auslösen muss: Ob und wie stark die Stressreaktion sein kann, hängt auch von der inneren Bewertung und dem Selbstvertrauen des Mitarbeiters ab, die Situation bewältigen zu können. Wer von sich weiß, dass seine Verletzlichkeit hoch ist, wird sicherlich auch eine Anforderung anders bewerten und sich erst nach neuen positiven Erfahrungen mehr zutrauen als jemand, dessen Verletzlichkeit gering ist.
3.5.3
Der Handlungs- und Entscheidungsspielraum
Das Anforderungskontrollmodell von Karasek aus den 70er-Jahren beschreibt die Auswirkungen von Anforderungen, Arbeitsintensität und Kontrollmöglichkeiten bzw. Handlungs- und Entscheidungsspielraum in einem einfachen Quadrat (. Abb. 3.4). Die Abbildung zeigt anschaulich, dass der rechte obere Quadrant (hohe Anspruchs- bzw. Arbeitsintensität bei geringem Handlungsspielraum und Kontrollmöglichkeiten) ein hohes Risiko bedeutet. Dieser Kombination sollte bei der Betrachtung der Risikofaktoren und später der Prävention besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Als gesundheitsförderlich zeigt sich die Kombination »hohe
3.5 • Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen?
41
3
Anforderungs- Kontrollmodell
Anforderungen hoch
gering
Kontrollmöglichkeiten gering passiver Arbeitsplatz
keine Herausforderung
Risiko
hoch Gesundheitsförderlich
. Abb. 3.4 Anforderungskontrollmodell
Anforderung und hoher Handlungsspielraum«. Genau dann, wenn Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind und auf die Arbeitsintensität Einfluss genommen werden kann, bieten die Arbeitsbedingungen persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2010 hat die Auswirkungen psychischer Belastungen auf das Risiko, an Depressionen zu erkranken, untersucht. Dabei wurde Wert auf eine objektive Messung der Arbeitsintensität gelegt, um eine subjektive Tönung und Einschätzung der Ergebnisse zu vermeiden. Die Arbeitsanforderungen wurden mit objektiven Arbeitsanalysen durchgeführt und das Ergebnis zeigt: »Je höher die objektiv bewertete Arbeitsintensität war, desto häufiger traten Depressionen und Depressivität auf. Das bedeutet, dass mit steigender Arbeitsintensität das Risiko für eine Depression bzw. für Depressivität erhöht ist« (Rau, 2010). Auch unabhängig von anderen, persönlichen Faktoren kann also allein eine zu hohe Arbeitsintensität krank machen. Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die zunehmenden Sparmaßnahmen und Einsparungen von Personal zwangsläufig zu einer erhöhten Arbeitsintensität führen. Wen wundert es dann noch, dass wir in dieser Zeit geradezu von Nachrichten über den rasanten Anstieg von Depressionen überflutet werden. Diese Untersuchung zeigt, dass reine Arbeitsverdichtung und Erhöhung der Arbeitsintensität ohne die Erweiterung des Handlungsspielraums ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Depression bedeuten.
Neue Studien zum Risikofaktor Arbeitsintensität
Je höher die Arbeitsintensität, desto größer das Risiko
42
Kapitel 3 • Psychische Belastungen
3.6
3 Erschöpfung ist ein schleichender Prozess.
Wir haben jetzt an verschiedenen Beispielen gesehen, wie verschiedene Einflüsse dazu beitragen können, dass am Arbeitsplatz ein Mitarbeiter in die Krise geraten kann. Das dies nicht immer plötzlich geschieht, sondern oft auch ein langsamer, schleichender Prozess ist, lässt sich am eindrucksvollsten mit der Erschöpfungsspirale (Unger & Kleinschmidt, 2006) erläutern. Die von Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch »Bevor der Job krankmacht« (2006) dargestellte Beschreibung der Erschöpfungsspirale macht deutlich (. Abb. 3.5), wie ein Erschöpfungsprozess langsam und stetig voranschreiten und – wenn der Betroffene nichts unternimmt – am Ende auf eine Erschöpfungsdepression zusteuern kann. Die Autoren teilen den Prozess in drei Abschnitte: z
»Nichts Ernsthaftes«
Erste Anzeichen von körperlichen Beschwerden
Stufe 1: »Erste Anzeichen von Erschöpfung«
Die ersten Anzeichen sind in der Regel unspezifische körperliche Symptome aller Art, die oft von den behandelnden Ärzten nicht als Anzeichen einer Erschöpfung, bzw. Folgen einer Stressbelastung erkannt und noch weniger behandelt werden. Häufig findet der konsultierte Hausarzt keine Ursache für diese Beschwerden. Erleichert darüber, dass die körperlichen Beschwerden »nichts Ernsthaftes« sind, wird von dem Betroffenen wie bisher weitergearbeitet. Hinzu kommt, dass Erschöpfung als psychisches Problem angesehen und abgewertet wird. Außenstehende sehen oft viel eher, dass sich ein Kollege auf eine Erschöpfungssituation zubewegt. Warnsignale und häufige Symptome dieser ersten Stufe sind Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Rückenbeschwerden, Zahnschmerzen, Schlafstörungen, hartnäckige Infekte, Muskelverspannungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden; Magen-Darm-Beschwerden und Ohrgeräusche. Die Warnsignale des Körpers sind die Möglichkeiten, die der Körper hat, auf die Bremse zu treten und sich bemerkbar zu machen. Schön wäre es, wenn wir unserem Körper dafür danken und auf die Warnung auch reagieren würden, denn er macht uns auf ein Ungleichgewicht aufmerksam, ganz ohne Praxisgebühr. Übersehen wir diese körperliche Warnung, können sich diese anfänglich unspezifischen körperlichen Beschwerden zu schwerwiegenden chronischen Krankheiten entwickeln. z
Nur noch die Arbeit zählt.
Die Erschöpfungsspirale
Stufe 2: Die Erschöpfung schreitet voran – das Verhalten ändert sich
Die Arbeit nimmt immer mehr Raum ein und andere wichtige Lebensbereiche werden vernachlässigt. Das soziale Leben erlahmt, Freunde werden nicht mehr getroffen, Familie und Partner kommen zu kurz. Gut gemeinte Angebote von Freunden und Familie werden
3.6 • Die Erschöpfungsspirale
. Abb. 3.5 Erschöpfungsspirale. (Grafik in Anlehung an M. Asberg aus: Unger & Kleinschmidt 2006. © 2006, Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. © Christiane Weitendorf )
nicht mehr wahrgenommen. Hobbies und Freizeitaktivitäten werden zugunsten der Arbeit gestrichen. Statt weniger zu arbeiten, wird noch mehr Zeit mit Arbeit verbracht. Es sieht so aus, als helfe nur, früh anzufangen, lange zu bleiben und am Wochenende Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Alles Denken konzentriert sich auf die Arbeit. Als Folge von lang andauernder Stressbelastung zeigen sich nun im Verhalten vermehrte Reizbarkeit und Kränkbarkeit, Unbeherrschtheit, aggressive Ausbrüche oder aber Rückzug, Resignation, Konzentra-
43
3
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Kapitel 3 • Psychische Belastungen
tions- und Gedächtnisprobleme. Die bestehenden körperlichen Beschwerden verstärken sich. z Tiefe Erschöpfung ist da.
3
Stufe 3: Die Erschöpfung ist da
In der dritten Stufe wird ein gefährlicher Zustand von Erschöpfung erreicht. Die Arbeitsleistung wird sichtbar schlechter, die Effizienz sinkt deutlich, der Druck nimmt zu und die Schuldgefühle verstärken dies zusätzlich. Gefühle von Niedergeschlagenheit bis hin zu innerer Starre und Apathie überwiegen. Körperlich nehmen in dieser Stufe Schlafstörungen und innere Unruhe zu. Suizidgedanken kommen als erlösende Phantasien auf. Der Endpunkt der Erschöpfungsspirale ist erreicht (Unger & Kleinschmidt, 2006). Zusammenfassung
Menschen werden unterschiedlich belastet.
Hohe Arbeitsbelastung – ein Risikofaktor für Depressionen
An einen Mitarbeiter werden Anforderungen an seinem Arbeitsplatz gestellt, die sich aus dem Arbeitsauftrag, der Arbeitsorganisation und den sozialen Beziehungen ergeben. Ob diese Anforderungen zu einer psychischen Fehlbeanspruchung und somit im schlimmsten Fall zu einer krankmachenden Dauerstressbelastung führen, hängt einerseits von der Art und Kombination der Anforderungen ab und wird andererseits von der persönlichen Verfassung, der Situation und der persönlichen Bewertung des Mitarbeiters beeinflusst. Menschen werden durch berufliche Beanspruchung unterschiedlich belastet, weil sie durch ihre Veranlagung und individuelle Lebensgeschichte unterschiedlich robust und vorgeprägt sind. Kommt es unter den Arbeits- und Lebensbedingungen zu Dauerstress und psychischer Fehlbelastung, so beginnt Erschöpfung in einem langsamen und schleichenden Prozess voranzuschreiten. Wird er nicht rechtzeitig unterbrochen, kann er letztendlich in körperlicher Krankheit und seelischer Störung enden. Dieser Prozess kann mitunter Monate und auch Jahre dauern. Unabhängig von der Konstitution des Mitarbeiters gibt es eine Reihe von Arbeitsanforderungen, die in sich schon widersprüchlich sind und das Risiko psychischer Fehlbelastung in sich bergen. Eine ganz neue Untersuchung von Rau et al. im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat ergeben, dass allein der Faktor Arbeitsintensität ein hohes Risiko birgt, an Depressionen zu erkranken: »Je höher die objektiv bewertete Arbeitsintensität war, desto häufiger trat (…) Depression und Depressivität auf.« Die Studie belegt also, »dass sich mit steigender objektiv gegebener Arbeitsintensität (…) das Risiko für (…).Depression (…) erhöht« (Rau et al., 2010, S. 7). Aber es gibt auch Möglichkeiten der Hilfe und der Prävention (7 Kap. 10).
45
Ausgewählte psychische Störungen 4.1
Grundsätzliches – 46
4.2
Affektive Störungen – 48
4.2.1 4.2.2
Depression – 48 Manie – 52
4.3
Ängste – 53
4.3.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag – 58
4.4
Zwänge – 58
4.4.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag – 61
4.5
Schizophrenie – 61
4.5.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag – 64
4.6
Persönlichkeitsstörungen – 64
4.6.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag – 67
4.7
Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen – 67
4.7.1 4.7.2 4.7.3
Burnout-Syndrom – 67 Stressfolgeerkrankung – 69 Somatoforme Störungen – 70
4.8
Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin – 70
4
46
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
»Der macht doch nur blau.«
4
Dieses Kapitel ist kein Diagnoseleitfaden für Ärzte und Psychiater. Es dient Führungskräften und Personalverantwortlichen dazu, einen kleinen Überblick über verschiedene psychische Störungen zu erhalten. Es möchte informieren, und dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und Stigmatisierungen entgegenzuwirken. In einem Seminar für Führungskräfte hatte ein Teilnehmer für sich als Ziel formuliert, »Ich möchte unterscheiden können, wann jemand blau macht und wann er ernsthaft krank ist.« Hinter diesem Satz verbirgt sich ein Vorurteil: Da ist einer, der macht blau und kann mir ja viel erzählen, dass er eine psychische Störung hat. Eine psychische Störung wird von vornherein nicht mit ernsthafter Krankheit in Verbindung gebracht. Die Ursache hierfür ist verständlich: Oft ist bei psychischen Störungen von außen nicht sichtbar, wie sehr ein Mitarbeiter darunter leidet, ganz anders als bei körperlichen Erkrankungen oder gar bei Arbeitsunfällen. Es fällt uns leichter, Arbeitsunfähigkeitszeiten zu akzeptieren, wenn wir wissen, dass der Mitarbeiter eine Herz-Kreislauf-Erkrankung, ein orthopädisches Problem oder gar eine Krebserkrankung hat. Leidet ein Mitarbeiter unter Ängsten oder Depressionen, ist das oft für die Kollegen und Führungskräfte erst einmal befremdlich und für den Betroffenen peinlich. Dieses Kapitel soll helfen, die Wahrnehmung für psychische Krisen von Mitarbeitern zu schärfen und das Verständnis für deren Probleme zu verbessern.
4.1
Grundsätzliches
> Jeder kann im Laufe seines Lebens an einer psychischen Störung leiden und fast jeder zweite Bundesbürger erkrankt einmal in seinem Leben an einer psychischen Störung.
Psychische Störungen bleiben lange unbehandelt …
Wenn Sie einmal überlegen, ob Ihnen jemanden aus ihrem Umfeld einfällt, sei es beruflich oder privat, der an einer psychischen Störung erkrankt ist, werden Sie feststellen, dass fast jeder jemanden kennt, der von anderen als »verändert, merkwürdig, komisch, sonderbar oder sonderlich« bezeichnet wird. Ein tiefergehendes Wissen über psychische Störungen haben die meisten dagegen nicht. Bei Ihnen wird sich dies nun rasch ändern, denn das sollten Sie grundsätzlich wissen, ehe wir auf einzelne Störungen eingehen: 5 Viele psychische Störungen bleiben aus Unkenntnis der Betroffenen und der behandelnden Hausärzte unbehandelt. Nur ca. 25% aller in der EU an einer psychischen Störung erkrankten Menschen erhalten laut EU-Bericht in der Europäischen Union eine adäquate Behandlung. 5 Es braucht oft sehr lange, bis ein Mensch mit einer psychischen Störung eine angemessene Behandlung bekommt. Es wird in verschiedenen Berichten eine Dauer von fünf bis sieben Jahren
4.1 • Grundsätzliches
5
5
5
5
5
genannt. Auch die Betroffenen begeben sich nicht selbst in psychiatrische fachärztliche Behandlung, einerseits aus Unkenntnis, andererseits, weil gegen den Berufsstand der Psychiater und Psychologen Vorurteile bestehen, die davon abhalten, sich entsprechende fachliche Hilfe zu suchen. »Ich bin doch nicht verrückt«, denken immer noch viele. Die Folgen sind lange Arbeitsunfähigkeitszeiten, Verschlimmerung und chronische Verläufe sowie eine starke Belastung des Einzelnen, seiner Arbeits- und Familiensituation. Eine psychische Störung ergreift den ganzen Menschen und hat Einfluss auf die Wahrnehmung, das Denken, das Erleben, das Fühlen, das Verhalten und die Beziehungen sowie das Verhältnis zur Umwelt. Eine psychische Störung beeinträchtigt nicht die Intelligenz, wohl aber oft die Möglichkeit, in einer Krankheitsphase auf die vorhandenen intellektuellen Fähigkeiten jederzeit zugreifen zu können. Menschen mit psychischen Störungen haben die gleichen Gefühle wie andere, nur in akuten Krankheitsphasen erleben diese Menschen Gefühle von einer anderen Intensität und Dauer. Jeder kennt Gefühle von Angst, Traurigkeit oder Euphorie. Darauf werde ich in der Beschreibung der einzelnen Krankheitsbilder noch eingehen. Es gibt einen fließenden Übergang zwischen gesund und krank, der durch die Umwelt, das Umfeld und durch die beruflichen Anforderungen mitbestimmt wird. Ein Mensch mit Höhenangst kann sehr wohl am Boden in der Buchhaltung, im Büro arbeiten. Erst wenn er als Kranführer, Baumkletterer oder Dachdecker arbeiten soll, wird die Höhenangst zu einem Problem. Eine besondere Genauigkeit findet man bei einem Werkzeugmacher, Feinmechaniker, Uhrmacher, Buchhalter angemessen. Sie ist in einem kreativen Beruf möglicherweise ein Hemmnis. Schon in den vorherigen Kapiteln haben wir festgestellt, dass Störungen sich langsam entwickeln, oft gehen ihnen auch Warnsignale voraus. Es gibt keine klare Trennlinie; Leid und Beeinträchtigungen des Einzelnen sind ein wichtiges Maß.
Für die medizinische Diagnostik und Behandlung wird der Diagnoseschlüssel ICD-10 (Dilling et al., 1991) verwendet. Darin werden Symptomgruppen beschrieben, nach denen die Ärzte die Störung klassifizieren. Wichtig für die Diagnose aller psychischen Störungen ist das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome über einen längeren im ICD festgelegten Zeitraum. So wird sichergestellt, dass nicht jede kurzfristige Verstimmung oder Veränderung der Stimmungslage, die zum Leben dazugehört, zu einer psychiatrischen Diagnose führt.
47
4
… ergreifen den ganzen Menschen …
… nicht die Intelligenz.
Der Übergang von gesund zu krank ist fließend.
ICD-10
48
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
> Die festgestellte Diagnose ist wichtig für die medizinische Behandlung und Medikation. Sie sagt nichts über die Arbeitsfähigkeit aus.
So kann ein Mensch mit einer psychiatrischen Diagnose wie z. B. einer Depression durchaus arbeitsfähig sein und auch längerfristig arbeitsfähig bleiben. Das gilt insbesondere dann, wenn er gelernt hat, mit seiner Krankheit umzugehen. Im Folgenden will ich einzelne Störungsbilder beschreiben. Zur Veranschaulichung kommen zu jedem Störungsbild Betroffene zu Wort, die den Versuch unternommen haben, dem Laien zu beschreiben, wie sich das Störungsbild anfühlt und wie es sich auf ihr Erleben auswirkt. Die Beschreibungen der Störungsbilder sollen der Information dienen und nicht der Diagnosestellung.
4
Unipolar oder bipolar
Innerlich stumpf und leer
4.2
Affektive Störungen
4.2.1
Depression
Störungen, die sich auf das Gemüt und das Gefühlsleben bzw. auf die Stimmung und die Affekte – und im weiteren Verlauf auch auf die Energie und den Antrieb auswirken, bezeichnet man als affektive Störungen. Sie werden eingeteilt in unipolare, das sind rein depressive oder rein manische, oder bipolare manisch-depressive Störungen. Bei den unipolaren Störungen ist die Stimmungslage in den Krankheitsphasen wiederkehrend gleichförmig depressiv niedergeschlagen oder aber manisch gehoben, bei den bipolaren gibt es bei den betroffenen Patienten dagegen einen Wechsel von Zeiten mit stark gehobener Stimmung verbunden mit einem hohen Erregungszustand, und Zeiten mit gedrückter, depressiver Stimmung nicht selten mit niedrigem Erregungsniveau und niedrigem Antrieb. Der Volksmund kennt solche Stimmungsschwankungen als »himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt«. Jeder Mensch kennt das Gefühl von Traurigkeit, Unlust und Enttäuschung – normalerweise gehen diese Zustände mehr oder weniger rasch vorüber und wir gehen mit neuem Mut und Freude aus einer überwundenen Krise hervor und blicken wieder nach vorne in die Zukunft. Menschen mit einer depressiven Störung leiden jedoch unter einer massiv gedrückten Stimmungslage, Freud- und Hoffnungslosigkeit bis hin zu Verzweiflung und Gefühllosigkeit, die längere Zeit anhält und die sie aus eigener Kraft meist nicht bewältigen können. In solchen Phasen erlebt der depressive Mensch eine Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden und auf positive Gefühle zu reagieren. Er kann sich oft durch Freunde oder Familie nicht mehr berühren lassen und fühlt sich innerlich stumpf und leer. Körperlich fühlt er sich schlapp, energie- und kraftlos und wird schnell müde und er-
4.2 • Affektive Störungen
49
4
. Abb. 4.1 Wie ein Floß auf dem Ozean. (© Christiane Weitendorf )
schöpft. Konzentrationsprobleme stören ihn. Selbst das Verrichten alltäglicher Aufgaben und Gewohnheiten fällt ihm schwer, sodass schon das Zeitungslesen Schwierigkeiten bereitet. Soziale Kontakte können oft nur mühsam und manchmal auch gar nicht mehr gepflegt werden. Verschiedene körperliche Beschwerden können mit der Depression einher gehen: Es treten vor allem Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, häufig Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel und Kreislaufschwäche auf und das Interesse an Zärtlichkeit und Erotik ist oft nicht mehr vorhanden. Der Betroffene fühlt sich gefangen in einem Zustand der Schwäche, verbunden mit einem geringen Selbstwertgefühl und Schuldgefühlen. Hilflosigkeit und Angst zeigen sich als Unruhe und Rastlosigkeit oder als Bewegungslosigkeit und Lähmung. Viele Betroffene erleben sich als Versager, hegen massive Selbstzweifel oder fühlen sich wie ein Stein und ziehen sich zurück. Fallbeispiel 1 Herr Weiß beschreibt seine mittelschwere Depression folgendermaßen: »Ich fühlte mich wie ein kleines Boot im großen Meer mit einem Ruderschaden. Das Boot ließ sich nicht mehr steuern und dümpelte in den Wellen (. Abb. 4.1). Ich hoffte ständig, nicht umzukippen, dann wieder dachte ich, vielleicht wäre umkippen doch auch eine Lösung. Ich war hochsensibel für Ablehnung und Kritik und habe alles um mich herum persönlich genommen. Ich fragte mich ständig: Was hat das jetzt gerade wieder mit mir zu tun? Ich habe keinen Sinn mehr in
Wie ein Boot mit Ruderschaden
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4
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
meinem Leben gesehen, fühlte mich kraft- und energielos, abgewertet und nicht gebraucht. Ich fühlte eine große innere Leere und hatte zu nichts mehr ein Gefühl sondern kam mir vor wie eine Hülle. Ich war zwar da, hatte aber mein Sein komplett abgegeben. Dann empfand ich einen großen undefinierbaren inneren Schmerz. Er kam einfach über mich und ich konnte ihn nicht steuern. Ich war mir selber und meinen Stimmungen und Gedanken ausgesetzt. Diese Gedanken und Stimmungen haben sich verselbständigt. Bei der Arbeit hatte ich überhaupt keinen Biss und keine Motivation mehr. Ich konnte mich auch nicht mehr anstrengen, war völlig passiv und gleichgültig und hatte Angst vor Überforderung.«
Fallbeispiel 2 Herr Gelb hat zu dem Zeitpunkt, an dem er erkrankte, aufgeschrieben, wie es ihm ergangen ist, und Symptome unter verschiedenen Stichpunkten subsummiert. Körperliche Beschwerden: 4 Magendruck und Völlegefühl, morgens teilweise Übelkeit mit Erbrechen, 4 ein unerträglicher Druck in der Brust, 4 Verspannungen im linken Schulterblatt und Nacken, 4 teilweise Stiche in der Herzgegend. Die Stimmung: 4 ängstlich, 4 teilweise traurig und niedergeschlagen, 4 unsicher und angespannt, 4 unruhig, nervös und gereizt, 4 teilweise schreckhaft, 4 ich fühle mich unwohl und erschöpft, 4 kann nicht lachen, keine Freude empfinden, 4 habe kein Interesse an Unternehmungen. Weitere Symptome: 4 Fingerzittern, 4 Schweißausbrüche, 4 ständiges Seufzen, 4 Konzentrationsschwierigkeiten, 4 Herzrasen, 4 ich habe keinen Appetit, fühle mich zu dünn und mag meinen Körper nicht leiden, 4 liege häufig in der Nacht wach, 4 habe kein Selbstbewusstsein. Mein Verhalten, das ich an mir beobachtet habe: 4 Ich ziehe mich zurück, 4 ich meide große Menschenmassen, fühle mich beobachtet, werde dann nervös und muss weggehen.
4.2 • Affektive Störungen
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
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4
Einkaufen empfinde ich als unangenehm. Aufstehen aus dem Bett fällt mir schwer. Ich pflege keine Freundschaften mehr, in der Freizeit rede ich wenig, ich werde nervös, wenn plötzlich Besuch kommt, Einladungen empfinde ich eher als belastend, meine Gedanken sind überwiegend negativ, ich schaffe nichts mehr so richtig, ich habe Zukunftsängste und sorge mich darum, wie es weitergeht, ich denke oft, mein Speicher ist voll, meine Gedanken kreisen um Akten- oder Arbeitsvorgänge, ab und zu auch um Suizid, im Beruf fühle ich mich überfordert, ich bin dem Leistungsdruck zurzeit nicht gewachsen, das Telefonieren fällt mir schwer, ich habe kaum Termine, Kundenkontakte sind oft für mich mit Problemen verbunden, ich habe keine Erfolge mehr, bin unsicher, habe Konflikte mit dem Vorgesetzten wegen meiner geringen Produktivität, ich schiebe Vorgänge vor mir her und habe Kunden schon verprellt. ich habe ganz viel Stress, keine Motivation, bin wie blockiert, im Büro herrscht insgesamt getrübte Stimmung, ich führe keine privaten Gespräche mehr, mache keine Pausen, Urlaub ist auch schon lange her.
Meine Persönlichkeitsprobleme:
4 das Selbstwertgefühl ist im Keller, 4 ich bin mittlerweile im Umgang mit Menschen absolut unsicher, habe zunehmend mehr Kontaktschwierigkeiten,
4 Ängste blockieren mich, 4 meine Überzeugungskraft hat nachgelassen, 4 ich fühle mich leer und ausgebrannt. So unterschiedlich wie die Beschreibungen dieser beiden Betroffenen sind auch die Krankheitsbilder, die Verläufe und die Ausprägung der Depression. Depressionen können auch auftreten bei körperlichen Leiden in Sinne einer psychoreaktiven Folge- oder Begleiterkrankung, z. B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Tumorerkrankungen, Erkrankungen an der Schilddrüse sowie Hirnerkrankungen und als Folge verschiedener Medikamente, z. B. Cortison in hohen Dosen.
Depression als Folge- und Begleiterkrankung
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Auswirkungen im Arbeitsalltag
Keinen Biss mehr bei der Arbeit
4
Es zeigen sich folgende Veränderungen und Auffälligkeiten im Arbeitsalltag: ein Verlust der Flexibilität, ein Leistungsabfall, Konzentrationsprobleme, Verlust von Energie, »keinen Biss mehr haben«, das Gefühl von Überforderung und Anspannung, Nervosität und Unruhe. Diese Personen beziehen leicht etwas auf sich und nehmen kleine Bemerkungen persönlich; es kommt zum persönlichen Rückzug und alles ist unterlegt von einer eher getrübten Stimmung. Es gibt unterschiedliche Ausprägungsgrade von Depressionen. Es kann durchaus sein, dass ein Mitarbeiter noch zur Arbeit erscheint, es ihn jedoch sehr viel Kraft kostet, am Arbeitsleben teilzunehmen. Andere ziehen sich zurück oder es gibt auch den Mitarbeiter, der es nicht einmal mehr schafft, sich krank zu melden.
4.2.2 Mehr als richtig gute Laune
Exzessiv, distanzlos, hyperaktiv
Reizbarkeit, Selbstüberschätzung
Manie
Eine Manie ist mehr als richtig gute Laune. Im Gegensatz zur Depression wird die Manie häufig eher als ein Zustand von Hochstimmung, manchmal auch sorgloser Heiterkeit und grenzenlosem Optimismus beschrieben. Der manische Mensch verfügt plötzlich über unglaubliche Kräfte und Energiereserven, er fühlt sich stark und großartig, mit viel Interesse auch an ganz neuen Unternehmungen. Er hat ein übersteigertes Selbstvertrauen, neigt zu maßloser Selbstüberschätzung und kann die Konsequenzen seines Handelns nicht mehr absehen. So kann es zu exzessiven und unkontrollierten Geldausgaben, Kaufräuschen oder Saufgelagen oder auch zu sexuellen Abenteuern kommen. Die Betroffenen wirken hyperaktiv und brauchen wenig Schlaf. Im Sozialverhalten wirken sie oft eher distanzlos, manchmal übermäßig vertraulich. Immer fühlt es sich unangemessen an, teilweise benehmen sie sich flegelhaft, haben ein großes Redebedürfnis, oft auch verbunden mit einer geringen Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle. In der Manie fallen diese Menschen manchmal auch durch einen unbegrenzten Ausdruck von Gereiztheit, Aggression und Ärger auf. Auf der Ebene des Arbeitsverhaltens zeigen sie eine Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, eine erhöhte Ablenkbarkeit sowie das eben beschriebene auffällige Sozialverhalten: sprunghaft, überschwänglich, reizbar mit einem verfälschten Selbstbild, dem meist eine erhebliche Überschätzung der eigenen Ressourcen zu Grunde liegt. Wenn also Menschen neben der Depression auch Phasen mit Hochstimmung, einer hohen Erregung oder auch einer hohen Reizbarkeit haben, dann spricht man von einer bipolaren Störung. Früher nannte man das »manisch-depressiv«.
4.3 • Ängste
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4
Fallbeispiel Herr Rot war schon lange im Betrieb als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Er war im Controlling eingesetzt und arbeitete akkurat und genau. Eines Tages war er plötzlich verschollen, erschien nicht mehr zur Arbeit ohne irgendein Lebenszeichen und meldete sich tagelang nicht. Erst als er nach einigen Tagen manischer Phase in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert wurde, meldete er sich verzweifelt und kleinlaut wieder im Betrieb. In der Zwischenzeit hatte er in der Manie im Rotlichtmilieu den Gönner, Retter und Helfer gegeben und völlig die Kontrolle über seine Ausgaben verloren. Der Betrieb hat relativ gelassen auf ihn reagiert und versucht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Nach Abklingen der Manie ist Herr Rot wieder in den Betrieb zurück gekehrt.
Von einem Arzt wird berichtet, dass er in der Manie mit ungeahnten Kräften durchaus erfolgreich eine Klinik aufgebaut hat. Ein anderer hat wie aufgedreht am laufenden Band Partys organisiert. Dies sind Verläufe, die zeigen, zu welchen Leistungen diese Menschen auch in der Lage sein können. Oft kommt es dann doch zum Zusammenbruch, sodass dieses Aktivitäts- und Erregungsniveau nicht dauerhaft anhält.
4.3
Herr Rot meldet sich nicht.
Mit ungeahnten Kräften versehen
Ängste
Ängste gehören neben den Depressionen zu den häufigsten psychischen Störungen (. Abb. 4.2). Angstgefühle kennen wohl alle, denn Angst ist eine natürliche Reaktion des Menschen auf Gefahren und bereitet den Körper auf Verteidigungsmaßnahmen oder auf Flucht vor. Angst ist so gesehen für das Überleben sinnvoll. Bei Angststörungen ist die Angstreaktion jedoch nicht mehr mit einer realen Gefahr verbunden, sondern hat sich als Muster verselbstständigt. Sie tritt also auch in für den Betrachter völlig harmlosen Zusammenhängen als unangemessene Reaktion auf. Bei den Angststörungen unterscheidet man zwischen: 5 Panikstörung, 5 Agoraphobie, 5 spezifischen Phobien, 5 der Sozialphobie und 5 der generalisierten Angststörung. Allen Ängsten gemeinsam ist der Versuch der Betroffenen, die angstauslösenden Situationen zu meiden. Das kann dazu führen, dass sich ohne eine entsprechende Behandlung der Lebensraum und der Bewegungsradius des an einer Angststörung Erkrankten immer mehr einengt.
Angst ohne reale Gefahr
Angstvermeidung
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Bei verschiedenen Störungsbildern kann eine Panikattacke auftreten. Sie zeigt sich hauptsächlich in körperlichen Symptomen, die aber nicht immer alle auf einmal auftreten: 5 Herzklopfen, 5 beschleunigter Puls, 5 Schwitzen, 5 Zittern, 5 Atemnot, 5 Erstickungsgefühle, 5 Schmerzen und Beklemmungsgefühle in der Brust, 5 Übelkeit, 5 Magen-Darm-Beschwerden, 5 Schwindel und Benommenheit, 5 Kribbelgefühle, 5 Hitzewallungen oder Kälteschauer.
4
. Abb. 4.2 Angst ist wie eine superlange Schrecksekunde. (© Christiane Weitendorf )
Symptome der Panikattacken
Erste Panikattacken treten oft in Belastungssituationen auf, die chronischen Stress und Unruhe erzeugen. Sie sind oft begleitet von Gefühlen von Unwirklichkeit und Angst die Kontrolle zu verlieren. Betroffene beschreiben auch Gefühle von Todesangst. Die körperlichen Symptome der Panikattacke werden oft als lebensbedrohliche Katastrophe interpretiert und nicht als körperliche Begleitsymptome einer Angst. z
Panikstörung
z Phobien
Panikstörung
Bei einer Panikstörung treten diese Panikattacken plötzlich und unerwartet auf und führen so für den Betroffenen zu einer starken psychischen Belastung und Beeinträchtigung. Das ist ja bei den genannten körperlichen Begleiterscheinungen gut vorstellbar. Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Prozessen geschärft und körperliche Empfindungen werden von den Betroffenen als gefährlich bewertet. Es entwickelt sich bei den Betroffenen rasch ein Verhalten, das versucht, das erneute Auftauchen von Angstattacken zu vermeiden. Phobie
Wenn Angstanfälle durch bestimmte Auslöser hervorgerufen werden, z. B. durch Spinnen, Hunde, Schlangen etc., spricht man von Phobien. Hier ist es relativ einfach, durch Vermeidungsverhalten erfolgreich die Angst zu reduzieren. kAgoraphobie
Agoraphobie
Bei der Agoraphobie werden Situationen vermieden, in denen es unangenehm ist oder als gefährlich angesehen wird, einen Angstanfall zu bekommen. Die betroffene Person fürchtet, nicht schnell genug aus dieser Situation herauszukommen, also flüchten zu können. So werden oft Bus-, Bahn- und Autofahrten gemieden, Flüge, Fahrstüh-
4.3 • Ängste
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4
le, Kaufhäuser, Kino- und Theaterbesuche eingeschränkt und Menschenmengen vermieden. kSoziale Phobie
Die soziale Phobie ist gekennzeichnet durch eine unangemessene Furcht vor negativer Bewertung durch andere Personen. Sozialphobiker befürchten, sich lächerlich zu machen, sich ungeschickt zu verhalten und ausgelacht zu werden oder gedemütigt, kritisiert und abgewertet zu werden. Das bedeutet oft, dass soziale Kontakte und Aktivitäten entweder sehr anstrengend sind, oder vermieden werden. Großraumbüros und Kantinen sind beispielsweise Orte, die für Sozialphobiker eine große Anstrengung und Herausforderung bedeuten. z
Soziale Phobie
Generalisierte Angststörung
Die generalisierte Angststörung ist gekennzeichnet durch sorgenvolles Grübeln über Zukunftsängste. Sie ist oft begleitet von: 5 leichter Ermüdbarkeit, 5 Konzentrationsschwierigkeiten, 5 Reizbarkeit, Schlafstörungen, 5 innere Ruhelosigkeit und 5 Unruhe.
Generalisierte Angst
Häufig beziehen sich die Ängste ebenso wie bei den Menschen mit Sozialphobie auf den Leistungs- und Arbeitsbereich und auf die Kooperation mit Kollegen und Vorgesetzten. Fallbeispiel 1 »Jeder kennt bestimmt das Gefühl einer Schrecksekunde. Angst fühlt sich an wie eine superlange Schrecksekunde mit immer wiederkehrenden Angstgedanken. Ich habe das Gefühl, ich stehe unter Dauerstrom, mit innerer Anspannung, Herzrasen, Zittern, Schwindel und Schweißausbrüchen. Ich bin damit auch schon beim Arzt gewesen, der hat nichts gefunden. Keine organische Ursache. Also muss es psychisch sein. Ich will mein Kopfkino – so nenne ich das – mal anhand einer Arbeitssituation beschreiben. Ich bekomme die Aufgabe, morgen allein die Kasse zu führen. Eigentlich kann ich das auch, ich habe eine kaufmännische Ausbildung und viele Jahre Berufserfahrung. Jetzt kommen meine Ängste hoch. Diese Situation überfordert mich. Ich schaffe das nicht, ich bekomme sicher Ärger, denn wenn ich die Kasse mache, stimmt sie hinterher bestimmt nicht. Dann bin ich dafür verantwortlich und habe Schuld, wenn etwas fehlt. Andere können das sowieso viel besser. Meine Vorgesetzte ist bestimmt von mir enttäuscht, wenn sie merkt, dass ich Fehler mache und das gar nicht schaffe. Dann nimmt sie bestimmt demnächst jemand anderen für die Kasse. Da sind ja genug Jüngere. Jeder ist ersetzbar. Ich natürlich auch. Aber was mache ich denn dann? Was wird aus mir? Wenn ich an die-
»Angst ist wie eine superlange Schrecksekunde.«
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Ängste schlauchen enorm.
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ser Stelle angekommen bin, gibt es für mich je nach Tagesform unterschiedliche Wege, wie es weitergehen kann. Entweder sage ich mir dann, da musst du jetzt durch, und versuche es trotzdem, oder wenn ich insgesamt schlechter drauf bin, kann es auch sein, dass ich aufgebe und freiwillig gehe. Ängste auszuhalten schlaucht enorm. Ich fühle mich dann erschöpft. Ich weiß zwar vom Kopf her, dass die Angst vorbeigeht, aber ich realisiere es nicht. Da kann mir auch keine sachliche Bemerkung von außen helfen. Das ist wie im Film und ich fühle mich richtig fremd. Auch nachts kommen die Ängste. Dann bin ich plötzlich hellwach mit Angst. Zur Anschauung habe ich noch eine Liste von Ängsten gemacht, die mich plagen: Da ist z. B. die Angst, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Angst, im betreuten Wohnen zu landen. Angst vor Ämtern. Ich komme mir dann vor wie ein Bittsteller und nicht wie ein Bürger dieses Landes, der seine Rechte wahrnimmt. Angst vor Armut. Angst vor dem Leben. Angst davor, verrückt zu werden. Angst wieder so weit unten zu sein, dass ich wieder in der Klinik lande. Angst, immer wieder im Berufsleben zu scheitern. Angst vor neuen Situationen und neuen Aufgaben. Angst davor, dass mein Mann krank wird und stirbt. Angst vor einer weiteren Bandscheiben-OP. Ich habe schon lange Probleme mit dem Rücken. Angst davor, im Rollstuhl zu landen. Angst vor dem nächsten Angstanfall, Angst um die Sicherheit in diesem Land, Angst vor Krieg, Verlust der Demokratie etc.«
Fallbeispiel 2 »Ich habe in der ambulanten Pflege gearbeitet. Dort hatte ich öfter Panikattacken. Ich komme von einem Einsatz bei einer alten Dame im Rollstuhl und bin schon wieder unterwegs zu meinem nächsten Einsatz. Ich muss darüber nachdenken, ob ich auch den elektrischen Wasserkocher in ihrer Wohnung abgestellt habe. Es ist einer von der alten Sorte, der noch nicht von alleine ausgeht. Während ich darüber nachdenke, verselbstständigen sich meine Gedanken mit all dem, was passieren könnte, weil ich einen Fehler gemacht habe. Der Wasserkocher überhitzt, das Wasser verdampft, der Wasserkocher glüht und bald wird er explodieren und meine alte Dame kann sich nicht helfen. Während diese Gedanken durch meinen Kopf kreisen, bekomme ich Herzrasen, Übelkeit, Schweißausbrüche und Panik. Das Herz klopft bis zum Hals. Ich muss mich erbrechen, bekomme Durchfall und Rastlosigkeit lässt mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich entscheide mich nach der nächsten Patientin, die ich versorgen muss, noch einmal umzukehren und nach dem Rechten zu schauen. Wenn ich mich jetzt auf den Rückweg mache, lassen alle meine Symptome nach. Mein Körper und die Gedanken beruhigen sich wieder. Ich komme nun bei meiner alten Dame mit dem Wasserkocher an und stelle fest, es ist alles in Ordnung. Von diesen Situationen gab es viele, in denen ich mir immer das Schlimmste vorgestellt habe, von »Tabletten falsch gegeben« bis hin zu »Fenster offen gelassen«. Meine Befürchtungen reichten dann von »alte Dame vergiftet« bis hin zu »alte Dame ist aus dem Fenster ge-
4.3 • Ängste
fallen«. Immer musste ich bei meinen Kontrollversuchen feststellen, dass ich alles richtig gemacht hatte. Wenn ich eine Panikattacke hatte, musste ich unbedingt mit jemandem sprechen, auch mitten in der Nacht. Alleine wäre ich aus diesem gedanklichen Teufelskreis nicht wieder herausgekommen. So eine Panikattacke ist sehr anstrengend und hinterher bin ich erstmal total erschöpft. Das ist so, als wenn man gerade einen schlimmen Infekt hinter sich hat. Meine Chefin hatte schon Verständnis für mich. Sie hat mich aber auch ermahnt, ruhiger zu werden und nicht immer alles zu hinterfragen und mehr Selbstsicherheit zu haben. Vom Verstand her wusste ich, dass diese Panikattacken nicht normal sind. Aber der Körper reagierte und ich konnte es nicht mehr steuern. Ich hatte nicht nach jedem Einsatz eine Panikattacke und ich wusste nicht, wann die nächste kommen würde. Je öfter ich Panikattacken hatte, umso mehr habe ich alles das, was ich an Arbeiten gemacht habe, kontrolliert. Ich habe die Tabletten zweimal überprüft, die elektrischen Geräte mehrfach kontrolliert und die Haustür mehrfach angefasst. Bis ich in die richtige Behandlung gekommen bin mit meinen Panikattacken hat es acht Jahre gedauert. Anfangs wollte ich es gar nicht wahrhaben, bis es am Ende so schlimm geworden ist, dass ich zusätzlich auch noch an Depressionen litt und keine Freude mehr am Leben hatte.«
Fallbeispiel 3 »Meine erste Stelle nach dem Studium als Assistenzärztin in der Psychiatrie erhielt ich auf einer Entzugsstation für illegale Drogen. Der allergrößte Teil der Patienten war in der Kindheit oder später in der »Szene« schwer traumatisiert worden. Obwohl diese Traumatisierungen nicht im Mittelpunkt der Behandlung standen, wurden sie dennoch täglich an mich herangetragen. Sowohl von der Seite der Patienten als auch von Seiten der Mitarbeiter, die viele der wiederkehrenden Patienten gut kannten. Einige dieser Geschichten entsetzten und belasteten mich. Die Erinnerung an sie tauchte immer wieder auf und ließ sich nicht beiseiteschieben. Manchmal spielte sich das Geschehen in szenischen Bildern vor meinem inneren Auge ab. Zugleich begann ich in meinen eigenen Erinnerungen zu forschen. »ich bin doch im Alter von sechs Jahren vergewaltigt und später nicht abhängig geworden, was hat mir geholfen? Da muss es doch irgendeinen psychologischen Kniff geben, den ich weitergeben kann.« So kam es, dass mich neben der hohen Arbeitsbelastung an meiner neuen Arbeitsstelle auch vermehrte Erinnerungen an eigene schwere Lebensepisoden beschäftigten. Es traten Ängste und Dissoziationen auf. Dissoziationen sind geistige Extremzustände, die unter extremen Belastungen auftreten können. In solchen Zuständen nimmt man seine Umwelt nicht wahr, ist innerlich ganz woanders – fast wie in Trance. Nach drei Monaten wechselte ich als Ärztin in die Allgemeinpsychiatrie, wovon ich mir eine Besserung, andere Arbeits-
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4
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
bedingungen und andere Patienten erhoffte. Auch hier war ein großer Anteil der Patienten traumatisiert und später für eine spezielle Traumastation vorgesehen. Die Horrorgeschichten brachen also nicht ab. Meine eigenen alten Bilder und Gefühle und die Alpträume von damals wurden zwar wie erhofft seltener, aber die Angst nahm stetig zu. Bald hatte ich fast den gesamten Tag Angst und schweißnasse Hände und bei Zuspitzung Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall. Ich traute mich nicht, mich über längere Zeit krankschreiben zu lassen, weil ich u. a. wie damals für Assistenzärzte üblich nur einen befristeten Vertrag hatte. Ich befürchtete, dass dieser dann nicht verlängert würde. Außerdem bedeutete die Einnahme der Krankenrolle einen starken Rollenkonflikt für mich. Ich versuchte, weiterhin so gut es ging zu funktionieren und meine Krankheit, die ich auch als Stigma empfand, vor Vorgesetzten, Pflegepersonal und Patienten zu verbergen. Dieses kostete unendlich viel Anstrengung und trug erheblich zur dazukommenden verminderten Belastbarkeit bei.«
4
4.3.1 Schnell überfordert
Menschen mit Ängsten fühlen sich bei der Arbeit schnell überfordert und verunsichert, sind sehr zögerlich bei Entscheidungen, haben häufig Konzentrationsprobleme, Flexibilität und Durchhaltevermögen sind eingeschränkt, es kommt zu kurzen Fehlzeiten um sich zu entlasten, und zu sozialem Rückzug. Die Betroffenen suchen Wege und Umwege, die angstauslösenden Situationen zu vermeiden und die Ängste zu verbergen. Oft sieht das Umfeld lange keine Auffälligkeiten, weil die Betroffenen viele Anstrengungen unternehmen, ihre Ängste zu verbergen. Das ist sehr Kräfte zehrend und führt noch häufiger zu Fehlzeiten. In der zweiten Fallbeschreibung deutet sich an, wie aus Angst und Unruhe Zwangshandlungen entstehen können. Die Betroffene beschreibt, wie sie mehrfach und zunehmend die Handlung kontrolliert, um sicher zu sein, keine Fehler gemacht zu haben.
4.4 »Habe ich den Herd ausgeschaltet?«
Auswirkungen im Arbeitsalltag
Zwänge
»Habe ich das Auto abgeschlossen? Habe ich den Herd ausgestellt? Ist die Haustür abgeschlossen? Sind die Fenster zu? Habe ich alles?« –»Na, dann schau doch lieber noch einmal nach!« Diese inneren Dialoge kommen fast jedem bekannt vor. Auch Menschen mit Putzfimmel oder Zähltick sind uns schon einmal begegnet. Bis sich das Kontrollieren der Haustür, des Bügeleisens oder der Fenster und der Putzfimmel zu einer handfesten Zwangsstörung auswachsen, ist oft ein langer, schleichender Prozess. Im Nachhinein betrachtet kann kaum einer der Betroffenen einen Anfangspunkt setzen.
4.4 • Zwänge
Wenn die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen quälend werden, die Betroffenen versuchen, gegen diesen inneren Drang, die Handlungen immer wieder auszuführen, Widerstand zu leisten, der oft nicht gelingt, und die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Lebens führen, dann beginnt man von einer Zwangsstörung zu sprechen (. Abb. 4.3). Zwänge entwickeln sich oft aus Unsicherheit und Angst, und Zwangshandlungen sollen dazu dienen, Angst, Unruhe und innere Anspannung zu reduzieren. Im Wesentlichen werden vier große Bereiche unterschieden: 5 Kontrollzwänge, 5 Waschzwänge, 5 Kontroll- und Waschzwänge gemischt und 5 Zwangsgedanken. Den größten Anteil haben die Kontrollzwänge, dicht gefolgt von den Waschzwängen. Kontrollzwänge werden durch Angst vor Fehlern, der Sorge, durch Unaufmerksamkeit, Katastrophen auszulösen, aufrecht erhalten, so wie das die Altenpflegerin im Kapitel zuvor beschrieben hat. Am Arbeitsplatz müssen Menschen mit Kontrollzwängen auch Routineaufgaben mehrfach kontrollieren. Bei Ordnungszwängen muss immer wieder penibel eine Ordnung hergestellt werden. Ein Schlosser, der unter einem Ordnungszwang litt, begann und beendete seinen Arbeitstag regelmäßig mit dem Zählen und dem Ausrichten des gesamten Werkzeugs in und auf seiner Werkbank. Ohne diese Handlung konnte er seine Arbeit morgens nicht beginnen und abends nicht abschließen. Konnte er aus zeitlichen Gründen sein Werkzeug abends nicht mehr kontrollieren, erlebt er massive Unruhezustände. Jemand anderes musste morgens mehrfach die Fenster kontrollieren, ob sie auch geschlossen waren. War er am Ende des Kontrollganges angekommen, war er nicht mehr sicher, ob er auch alle Fenster sachgerecht kontrolliert hatte, und er begann von Neuem mit der Kontrolle. Ein Teufelskreis, der oft in Erschöpfung endet. Von Zwangsstörungen sind etwa 1–2% der Bevölkerung betroffen, man rechnet aber mit einer weitaus größeren Dunkelziffer, da dieses Störungsbild oft lange unbehandelt bleibt und chronisch wird. Bei einem Waschzwang gehen dem Reinigungsvorgang oft Zwangsgedanken, wie: »Alle Türklinken sind mit Viren infiziert.«, »Bei mir muss immer alles sauber sein.«, und Angst vor Verunreinigung und Infektion voraus, verbunden mit Ängsten vor Krankheit und Tod. Menschen mit Waschzwängen haben oft Angst vor Ansteckung und Verunreinigung und wollen ganz sicher gehen und reinigen und waschen sich deshalb mehrfach und besonders gründlich, bis die Haut Schäden davon trägt. Zur Vermeidung dieser Ängste entstehen Verhaltensweisen wie exzessives Händewaschen und morgendliche Reinigungsrituale. So musste z. B. ein junger Mann nach jeder Nutzung des Bades das ge-
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. Abb. 4.3 Immer ist da ein Zweifel. (© Christiane Weitendorf )
Zwänge sind quälend.
Ein Teufelskreis …
… bis die Haut kaputt geht.
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
samte Badezimmer putzen. Diese Aktion nahm unendlich viel Zeit in Anspruch, so dass er morgens häufig zu spät kam oder sich über einen längeren Zeitraum gar nicht wusch. Die Betroffenen leiden sehr stark unter ihren Zwängen, die viel Zeit kosten, und sind sich oft der Absurdität ihres Handelns bewusst. Zwangshandlungen und Gedanken sind sehr schambesetzt und es ist den Betroffenen enorm unangenehm, darüber zu sprechen. So bleiben Zwangsstörungen lange unbehandelt und verborgen und verursachen viel Anstrengung, Leid und soziale Isolation. Fallbeispiel »Seit meinem 15. Lebensjahr leide ich unter Ängsten und Zwängen. Am Anfang waren es Waschzwänge. Ich musste mich ständig waschen, bis ich mich nicht mehr bewegen konnte. Später hat sich der Waschzwang zu Gedanken- und Kontrollzwängen verlagert. Da denkt man, an einer Stelle ist der Damm gekittet und dann bricht es an einer anderen Stelle los. Eigentlich ist ja eine Zwangserkrankung eine Angsterkrankung und die Zwänge sind eigentlich ein einziges großes Ablenkungsmanöver, damit man die Ängste nicht ertragen muss. Da muss man alle möglichen Kontrollzwänge ausführen, anstatt die Ängste auszuhalten. Es geht mit einer großen inneren Unsicherheit beim Rausgehen und vor dem Schlafengehen einher. Du kontrollierst die Tür, den Herd, alles, was Feuer oder andere Katastrophen auslösen könnte. Am Ende traust du deiner eigenen Wahrnehmung nicht und kontrollierst von Neuem. Das Kontrollieren kann sich Stunden hinziehen bis zur völligen körperlichen Erschöpfung. Das Ganze ist eine wahnsinnige körperliche Anstrengung und am Ende kann man sich nicht mehr rühren. Angst bzw. Zwänge erfordern viel Konzentration und Energie. Manchmal eben brauchen sie so viel Kraft und Energie, dass es dann nicht mehr reicht, morgens aus dem Haus zu gehen. Gedankenzwänge machen furchtbare Angst. Ich fürchte, ich stoße jemanden vor die U-Bahn, dann habe ich einen Menschen auf den Gewissen und muss mich natürlich auch noch dafür verantworten, komme ins Gefängnis und mein ganzes Leben wäre ruiniert. Nun könnte man ja auf die Idee kommen, es wäre doch schön einfach, die Zwänge wegzulassen. Ja, dann muss man aber die Angst aushalten und das sind dann z. B. ganz starke Verlustängste, Angst mein Haus fackelt ab, mein Leben gerät komplett aus den Fugen, ich lade Schuld auf mich, wenn ich andere verletze, ich schade mir selber. Mir haben eine lange Verhaltenstherapie, ein Klinikaufenthalt und Medikamente geholfen, so dass ich mich langsam vom Minusbereich auf die Nulllinie zubewegt habe. Ich hatte in mir immer einen starken Antrieb und eine Hoffnung, dass es mit den Ängsten besser wird und ich einen Anspruch auf ein ganz normales Leben über der Nulllinie habe. Ja, was würde ich für mein Arbeitsumfeld brauchen? Druck wäre für mich nicht gut, denn den mache ich mir reichlich selber. Wenn ich z. B.
4.5 • Schizophrenie
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morgens mit starken Ängsten zu kämpfen habe und es nicht schaffe, zur Arbeit zu kommen, dann mache ich mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen, weil ich ja selber auch nicht fehlen will. Ich brauche ein Umfeld, in dem ich mich wohlfühle. Meine Kollegen und meinen Vorgesetzten würde ich informieren, damit sie Verständnis für meine Schwierigkeiten entwickeln können. Sensibilität meiner Vorgesetzten und meiner Kollegen wäre für mich schon die halbe Miete und würde mir helfen meine Ängste zu verringern.«
4.4.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag
Menschen mit Zwängen arbeiten oft langsam und sehr akkurat und ihre genaue Arbeit wird häufig gelobt. Aufgrund ihrer Ängste und Unsicherheiten, Fehler zu machen, sichern sie sich durch häufiges Kontrollieren und sich Vergewissern in tausend Richtungen ab. Auch kann es häufiger zu Problemen kommen, eine Arbeit fertig zu stellen und abzuschließen: Häufiges Kontrollieren verlangsamt das Arbeitstempo. Die Flexibilität ist eingeschränkt. Regelmäßiges Zuspätkommen kann ein Anzeichen für eine Zwangsstörung sein: Hat derjenige vielleicht ein großes Problem, von zu Hause wegzukommen? Die Auswirkungen von Waschzwängen sind oft an völlig rissig zerschundenen Händen zu sehen und häufigen, längeren Aufenthalten im WC. Menschen mit einer Zwangsstörung können aber auch am Arbeitsplatz ganz unauffällig sein, wenn sich der Zwang hauptsächlich auf den häuslichen Bereich erstreckt.
4.5
Am Arbeitsplatz
Schizophrenie
An einer Schizophrenie erkranken jedes Jahr in der Welt ca. 0,5–1% der Bevölkerung. Dieses Krankheitsbild ist vor allem durch eine Störung im Denken und in der Wahrnehmung geprägt. Dadurch wirkt sich die Schizophrenie in besonderer Weise auf die Beziehung zum Umfeld aus. Schizophrenie wird von anderen Autoren auch als ein Begriff für ein »Anderssein« (Haufe & Krause, 2008) verwendet, oder eine Schizophrenie wird von Betroffenen als »Störung auf der Festplatte« bezeichnet (das ist sozusagen die Erklärung für IT-Spezialisten). Jemand anders sagt »Ich war ganz verdreht im Kopf«. Was ist jetzt genau das, was anders oder verändert ist während einer Schizophrenie? Die Wahrnehmung und das Denken verändern sich und sind zu Beginn der Krankheit sowohl für den Betroffenen als auch für Außenstehende oft nicht mehr verstehbar und nachzufühlen. Die Krankheit beginnt mit einem beängstigen Gefühl von Fremdheit – die Welt fühlt sich für den Betroffenen fremd und unwirklich an. Er versucht, für sich eine Erklärung zu finden, und so kommt es, dass neben der als fremd empfundenen realen Welt eine zweite, parallele Wirk-
Ganz verdreht im Kopf
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Stimmen
4
Trugwahrnehmungen
Denkstörungen
»Die haben was gegen mich.«
lichkeit entsteht. Es kommt zu Trugwahrnehmungen, davon sind akustische Halluzinationen am häufigsten. Die Betroffenen hören Stimmen, die kommentierend, bewertend und teilweise auch befehlend sein können. Die Stimmen sind oft Stimmen von Angehörigen, Bekannten, bekannten Persönlichkeiten oder von höheren Mächten. So hörte z. B. ein junger Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien, der hier in Deutschland eine gute Schulbildung und Ausbildung bekommen hatte, Stimmen aus seinem Heimatdorf: »Du willst wohl was Besseres sein!«; »Du gehörst nicht mehr zu uns.« Er wurde durch die ihn kommentierenden Stimmen stark beeinträchtigt und in seinem Bemühen verunsichert, hier in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Bei diesem Beispiel kann man sich vorstellen, dass sich hier eine starke innere Zerrissenheit widerspiegelt zwischen dem Leben in einem armen ländlichen Dorf und dem Leben in einer fremden Großstadt, und welche Belastungen und Anspannungen es bedeutet, wenn das Integrationsbemühen durch innere Stimmen aus dem eigenen Dorf begleitet und kommentiert wird. Von eher seltenen optischen Halluzinationen berichtete ein Trainingsteilnehmer und fragte mich, um sich zu vergewissern, »Sehen Sie in diesem Baum auch rote Adern, in denen Blut fließt?« Auch von körperlichen Trugwahrnehmungen berichteten Betroffene: »Ich hatte das Gefühl, mein Rücken brennt.«, »Ich hatte das Gefühl, Spinnen laufen über meinen Körper.« Man kann sich bei diesen Beschreibungen sicher leicht vorstellen, wie schrecklich, ängstigend und beunruhigend diese Trugwahrnehmungen sind. Ähnlich verhält es sich mit den Denkstörungen und ihren vielfältigen Erscheinungsformen als Chaos, Leere oder Gedankenkreisläufe im Kopf. Gedanken brechen plötzlich ab oder springen ohne erkennbaren Zusammenhang zu einem beliebigen Wort. Es mischen sich plötzlich Assoziationen ein. Für die Außenstehenden zeigt sich das in merkwürdigen Sätzen, Gesprächspausen, der Gesprächsfaden reißt ab oder der Sinnzusammenhang geht verloren. Denkstörungen, die besonders die eigene Identität berühren, sind zum Beispiel die Gedanken von besonderer Genialität, großartigen Erkenntnissen und die Vorstellung, jemand anderes zu sein. Eine weitere Form der Denkstörung ist auch die Vorstellung, man sei fremdbestimmt, die Gedanken würden geleitet, beherrscht oder nach außen gesendet. Die häufigste Form der Schizophrenie ist die paranoide Schizophrenie. Hier stehen auf die eigene Person bezogen Wahnvorstellungen mit verfolgenden und beeinträchtigenden Inhalten und in deren Gefolge Furchtsamkeit und Misstrauen im Vordergrund. So schleicht sich beispielsweise, wann immer die Kollegen miteinander sprechen, bei den Betroffenen das Gefühl ein, »die reden jetzt schlecht über mich«, »die wollen mich nicht mehr dabei haben«, »die haben etwas gegen mich«.
4.5 • Schizophrenie
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Fallbeispiel 1 Herr Braun hatte plötzlich das Gefühl, der Betrieb wolle ihn loswerden. Es begann damit, dass er alle Stellen, Personal, Betriebsrat, Vorgesetzte damit beschäftigte, dass er darüber klagte, sein Arbeitsvertrag sei nicht in Ordnung. Es stünde dort nicht, dass sein Vertrag unbefristet sei. Auch die Erklärung, wenn im Arbeitsvertrag keine Frist genannt sei, sei der Vertrag unbefristet, konnte ihn nicht beruhigen. Nach langem Hin und Her ergänzte die Personalabteilung den Vertrag mit dem Satz »Dieser Vertrag ist unbefristet.« Fortan insistierte er, es gäbe in seinem Vertrag noch eine vierte Seite. Jetzt würde diese fehlen. Spätestens da wurde dem Betrieb deutlich, dass diesem Anliegen nicht rational und mit betrieblichen Handlungsweisen beizukommen war. Die Verhandlung über den Arbeitsvertrag wurde als abgeschlossen erklärt. Der Kollege gab sich damit scheinbar zufrieden. Als ein Fernsehteam im Betrieb filmte, war für Herrn Braun klar, dass sie seinetwegen gekommen waren. In seiner Wohnung fühlte er sich auch von Kameras beobachtet. Am Arbeitsplatz wurden deutliche Anzeichen einer psychischen Störung sichtbar. Der Kollege zog sich zurück. Seine Belastbarkeit und sein Leistungsvermögen ließen nach. Er hatte einen guten Draht zu seinem Vorgesetzten.Mit ihm sprach er über seine Gedanken, dass der Betrieb ihn loswerden wolle. Der Vorgesetzte nahm sich viel Zeit für ihn und hielt immer gegen. Als der Kollege sich dann eines Tages empört verabschiedete mit den Worten »Ich bin doch nicht paranoid« war der erste Schritt zu einer fachärztlichen Behandlung getan. Kurze Zeit darauf begab er sich in fachärztliche Behandlung.
Herr Braun fühlt sich beobachtet.
Fallbeispiel 2 Eine junge Frau berichtet über ihre Erkrankung: »Man rutscht so weg vom Normalen. Es verändert sich alles um einen herum. Es wird bedrohlicher und ich denke dann, alle reden über mich, und zwar eher etwas Schlechtes. In der U-Bahn beobachten mich alle. Und wenn sie sich unterhalten, dann denke ich, dass sie sich über mich unterhalten. Zuhause in meiner Wohnung dachte ich, ich lebe hier nur in Vertretung zum Blumengießen, und hatte immer Angst, dass jemand kommt und mich hinausschmeißt. Als ich darüber mit meiner Mutter und meiner Schwester gesprochen habe, haben die gesagt, »Das ist doch deine Wohnung«. Das hat mich zusätzlich verunsichert, weil das Gefühl, fremd zu sein, nicht wegging. Auch meine Therapeutin hat mir geraten, nachzuschauen, ob ich meine persönlichen Dinge im Schrank finde. Ich habe nachgeschaut, da war ein Instrument und ich war nicht sicher, ob es wirklich mein Instrument war. Das hat mich zusätzlich verunsichert und in mir ein Angstgefühl und Unruhe ausgelöst. Ich habe noch eine ganze Weile als Krankenschwester in einem Pflegedienst gearbeitet. Da war ich im Dienst mit dem Rad unterwegs. Das ging. Der Weg zur Arbeit mit der U-Bahn war sehr anstrengend, weil ich mich auch in der U-Bahn beobachtet gefühlt habe. Durch die ganzen Gedanken und das Chaos in meinem Kopf fiel es mir schwer,
»Ist das wirklich meine Wohnung?«
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
bei der Arbeit den Überblick zu behalten und mich zu konzentrieren. Im Kontakt mit anderen Menschen hatte ich Angst, dass sie merken, dass mit mir etwas nicht stimmt. Die Arbeit fiel mir zunehmend schwerer, weil ich so viel Chaos im Kopf hatte. Alle meine Gedanken schossen wild durcheinander. Auch Reize aus der Umwelt konnte ich gar nicht mehr filtern. Ein fürchterliches Durcheinander von Eindrücken, Geräuschen und Bildern rauschte durch meinen Kopf. Ich konnte nichts mehr sortieren oder ausblenden. Meine Therapeutin hat mir dann geraten, zum Arzt zu gehen, und der hat mir zuerst ein Mittel gegen die Angst verschrieben. Das hat nicht geholfen. Danach bin ich ins Krankenhaus in die Ambulanz gegangen. Dort wurde ich aufgenommen, weil die Medikamente bei mir richtig eingestellt werden mussten.«
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4.5.1
Auswirkungen im Arbeitsalltag
Am Arbeitsplatz kann sich die Störung als auffälliges Verhalten zeigen, wie es bereits beschrieben wurde. Es kann auch zu Leistungsminderung, sozialem Rückzug, Ablenkung, Verlangsamung in den Bewegungsabläufen und zu nachlassender Belastbarkeit kommen. Es gibt aber auch durchaus Menschen, die mit diesem Störungsbild lange arbeitsfähig sind.
4.6
Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen unterscheiden sich von den bisher beschriebenen Störungsbildern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sie 1991 in der ICD-10 definiert als
»
Tief verwurzelte anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebensbedingungen äußern (Dilling et al., 1991).
«
»Verwicklungen«
Anders ausgedrückt heißt das, dass diese Menschen beeinträchtigt sind, sich flexibel auf unterschiedlichste Lebens- und Umweltveränderungen einzustellen und sich anzupassen. Ihr Verhalten zeigt sich oft eher unflexibel, unangepasst und unzweckmäßig. Es kommt oft zu wiederkehrenden für die soziale Situation völlig unpassenden »Verwicklungen«, auch in den Arbeitsbeziehungen. Persönlichkeitsstörungen beginnen häufig in der Kindheit oder Jugend und dauern im Erwachsenenalter an. Sie wirken sich auf das Selbstbild aus (wie sehe ich mich selbst), auf die gefühlsmäßige Einstellung zu sich und anderen und auf die Lebensüberzeugungen (wie denke ich über mich und andere). Je nach Art der inneren Überzeugung führt dies zu Reaktionen, die zu Schwierigkeiten in den sozialen Beziehungen und der eigenen Lebensbewältigung führen. Dabei gibt es natürlich, wie auch bei den anderen Störungsbildern, unterschiedliche Ausprägungsgra-
4.6 • Persönlichkeitsstörungen
de. Die Grenzen zwischen normal und auffällig sind fließend und davon beeinflusst, was gesellschaftlich als auffällig gesehen wird. Die Bewertung auffälligen Verhaltens ist abhängig von dem Wandel gesellschaftlicher Normen. Verhaltensweisen, die vielleicht vor hundert Jahren noch als unangemessen und auffällig galten, können heute als normal angesehen werden (Linden, 2008). Zur Anschauung werden im Folgenden beispielhaft einige Grundüberzeugungen von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen und deren gefühlsmäßige und zwischenmenschliche Beeinträchtigungen genannt. Die paranoide Persönlichkeitsstörung ist geprägt durch ständiges Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Selbst freundliches oder neutrales Verhalten anderer wird oft als feindselig gedeutet. Die Betroffenen wirken eher verschlossen, selbstbezogen, manchmal auch überheblich. Sie gelten oft bei anderen als schwierig und haben häufig Probleme am Arbeitsplatz. Die innere Überzeugung könnte man beschreiben als »Alle sind gegen mich« (Linden, 2008, S. 229). Die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung ist geleitet von Gefühlen von Unzulänglichkeit sowie von starker Angst vor Ablehnung und Kritik. Diese Menschen wirken eher schüchtern und schweigsam, meiden soziale Kontakte und fühlen sich vom Grundgefühl her anderen eher unterlegen und weniger kompetent als andere Menschen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung hingegen zeichnet sich durch Großspurigkeit, Selbstüberschätzung und Überempfindlichkeit bei Kritik aus. Diese Menschen erwarten ständig Anerkennung und Bewunderung, ohne dafür eine objektive Gelegenheit zu bieten. Sie zeichnen sich außerdem durch ein geringes Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Personen aus. Die Überzeugung und Einstellung könnte man beschreiben als »Ich muss Eindruck machen« oder noch etwas überspitzter: »Ich bin genial« (Linden, 2008, S. 229). Die Borderline-Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch Instabilität aus. Es wurde mal gesagt, das Stabilste bei jemandem mit dieser Störung sei die Instabilität und zwar in den Gefühlen, der Identität und den sozialen Beziehungen. Menschen, die ihre Impulse schlecht kontrollieren können und unter starken Stimmungsschwankungen leiden, haben häufig intensive, instabile und unstete Beziehungen. Innerlich ist bei ihnen sehr viel Unsicherheit in der eigenen Identität. Wer bin ich? Wer will ich sein? Es findet sich häufig eher eine innere Leere und auch eine Unsicherheit in den eigenen Werten. Die Grundüberzeugung, die es ihnen so schwer macht, Beziehungen einzugehen, ist die Angst vor dem Verlassenwerden und darauf, dass eigentlich auf niemanden Verlass ist (Linden, 2008, S. 229). Im Arbeitsleben können sie sich durchaus für Dinge begeistern, neigen aber eher dazu, sich zu verausgaben, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht einhalten können. Es kommt dann zu Abbrüchen von Arbeitsverhältnissen, häufig auch zu Arbeitsplatzwechseln. Zusätzlich zum durchaus komplizierten Arbeitsverhalten können auch die Arbeitsbeziehungen nicht konstant gehalten werden. Die folgende
65
4
»Alle sind gegen mich.«
»Ich kann das nicht.«
»Ich bin genial.«
»Wer bin ich?«
66
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Fallbeschreibung stammt von einer Betroffenen, die es nach langer Einzeltherapie geschafft hat, einige ihrer zerstörerischen Muster zu erkennen und zu verändern. Fallbeispiel
4
Sie nennt ihre Beschreibung: »Extreme Gefühle, übersensible Wahrnehmung, Projektion oder die böse Falle, wie es zwangsweise zu zwischenmenschlichen Komplikationen kommt.« Jeder Mensch ist anders und fühlt anders und nimmt Mimik wie Gestik anders war, auch Dinge, die gesagt werden. Ich bin immer davon ausgegangen, dass alle mir etwas Böses wollen. Ständig habe ich mich kontrolliert, Ausschau gehalten, andere beobachtet und war sehr mit dem Ganzen um mich herum beschäftigt. Dabei habe ich mich selbst gar nicht wahrnehmen und nicht fühlen können, wie ich auf andere wirke. Stattdessen habe ich häufig den anderen die Schuld gegeben und damit argumentiert, was sie gemacht haben, denn die hatte ich ja sehr gut beobachtet. Wichtig war es für mich in der Therapie, selbst zu erkennen, welchen Beitrag ich geleistet habe. Aber wie soll das funktionieren, wenn ich mich selbst nur extrem wahrnehme, mich nicht fühle und auch meine Bedürfnisse nicht fühle? Stattdessen versuchte ich zwanghaft, perfekt zu sein, bloß keine Fehler zu machen, um Lob und Anerkennung zu ernten. Ich war auffällig im Verhalten, um gesehen zu werden, um das Gefühl zu haben, dass Leben in mir herrscht. Ich selbst habe nie gemerkt, wie andere mich wahrnehmen, bis der Tag X kam und jemand sich die Mühe gemacht hat, mir einen Spiegel vors Gesicht zu halten. Da war ich baff. So wirke ich auf andere? Das ist schrecklich! Kein Wunder, dass ich so anecke nach kurzer Zeit. Ich selber habe mich nie wahrgenommen, und wenn, dann nur verzerrt. Die anderen waren die Übeltäter. Ich habe in jedem Menschen einen Feind gesehen, habe mich ständig kritisiert gefühlt und darauf sehr aggressiv reagiert. Ich habe Menschen extrem abgewertet aus manchmal ganz unerklärlichen Gründen und aus Wut auf Probleme völlig überreagiert. Dabei hatte ich oft bloß Angst, Freunde zu verlieren, Anerkennung zu verlieren, nicht wahrgenommen zu werden. Die Menschen um mich herum haben natürlich auf das reagiert, was ich gezeigt habe. So bekam ich auch entsprechend Reaktionen zurück und es war für mich dann kein Wunder, dass ich häufig heulend in der Ecke saß und hilflos sagte: »Keiner mag mich!« Ich habe oft überhaupt nicht verstanden, wie das alles passiert, wieso ich immer in solche mitmenschlichen Katastrophen gerate. Als ich mit der Therapie begonnen habe, habe ich angefangen, meine alten Gefühle loszulassen, zu verarbeiten und durch neue zu ersetzen und anzufangen, positiv zu denken. Also nicht immer nur davon auszugehen, dass alle mir etwas Böses wollen.
4.7 • Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen
4.6.1
67
4
Auswirkungen im Arbeitsalltag
Auffälligkeiten im Arbeitsleben zeigen sich in der Regel in den Beziehungen am Arbeitsplatz. Da kommt es immer wieder zu Verwicklungen, Konflikten, Empfindlichkeiten und Reaktionen, die über das hinausgehen, was unter Arbeitskollegen oder Mitarbeitern und Vorgesetzten üblich ist.
4.7
Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen
Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen sollen hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden, weil auch sie zu langen Fehlzeiten und Produktivitätsausfällen führen. Und sie tauchen hier gemeinsam in einem Kapitel auf, weil sie oft auch nicht so exakt voneinander abzugrenzen sind.
4.7.1
Burnout-Syndrom
Unter Burnout-Syndrom bezeichnet man einen Zustand seelischer und körperlicher Erschöpfung, verbunden mit dem Mangel oder dem Verlust der Fähigkeit, sich zu erholen und zu regenerieren. Die Diagnose Burnout-Syndrom findet sich im Klassifikationssystem ICD-10 nicht unter den psychischen Krankheiten sondern unter »Z: Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung«. Das Burnout-Syndrom gilt somit noch nicht als psychische Erkrankung. Heute wird dieser Begriff für meinen Geschmack etwas zu inflationär gebraucht und oft auch als Ritterschlag für ein besonderes Maß an Arbeitstugenden. Das halte ich für gefährlich, denn immerhin bringt ein Burnout-Syndrom mannigfaltige körperliche und seelische Probleme mit sich. Unter Burnout-Syndrom versteht man einen Zustand totaler körperlicher und seelischer Erschöpfung, der sich oft über längere Zeit schleichend aufgebaut und entwickelt hat. Die Fähigkeit sich zu erholen und gut für sich zu sorgen ist schon längst auf der Strecke geblieben und die Reserven sind bereits aufgebraucht. Ein Burnout-Syndrom kündigt sich durch Ermüdbarkeit, Gereiztheit und Ungeduld, die Abnahme von gefühlmäßiger Resonanz auf andere Menschen und die Vernachlässigung zwischenmenschlicher Beziehungen an. Dies sind nur einige Merkmale vielfältiger Erscheinungsformen. Neben den psychischen Anzeichen gibt es eine Vielfalt körperlicher Symptome bedingt durch den Dauerstress: eine Schwächung des Immunsystems, Schlafstörungen und häufige Kopfschmerzen sowie Rücken- und Gelenkbeschwerden, erhöhter Blutdruck, Verdauungsstörungen, um nur einige zu nennen. Der Ablauf ähnelt dem, den wir bereits bei der Erschöpfungsspirale kennen gelernt haben. Lange wird versucht, den Anforderungen gerecht zu werden und
Das Burnout-Syndrom ist keine Krankheit.
Symptome des Burnout-Syndroms
68
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Ermüdung und Erschöpfung durch Mehrarbeit zu kompensieren. Die eigenen Grenzen werden nicht mehr wahrgenommen, der Betroffene wird dünnhäutiger, zieht sich sozial zurück und ignoriert seine körperlichen Warnsignale bis zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Zur Vertiefung empfehle ich die Lektüre von Matthias Burisch: »Das Burnout-Syndrom« (2009).
4
Burisch: Das Burnout-Syndrom
Kritische berufliche Situationen
Dynamik
Burnout-Syndrom ist mit dem Arbeitsplatz verbunden.
Burisch untersucht in seinem Buch den Prozess des Ausbrennens und geht in seiner Beschreibung des Burnout-Prozesses vom inneren Erleben der Betroffenen aus. Er weist in seinem Buch darauf hin, dass es für das Ausbrennen besonders kritische und gefährliche Momente in der Berufsbiografie gibt, die eine Veränderung der gewohnten Situation bedeuten und eine besondere Anpassungsleistung an eine neue Situation verlangen. Gemeint sind Situationen im Arbeitsleben wie z. B. der Berufsanfang, die Beförderung, ein neuer Vorgesetzter, die Übernahme neuer Aufgaben und Umstrukturierungsprozesse, die in vielen Betrieben »gang und gäbe« sind. Es soll teilweise in den Betrieben Mitarbeiter geben, die nach etlichen Ausgliederungen und Umstrukturierungen nicht mehr wissen, in welcher neu gegründeten Firma sie jetzt eigentlich angesiedelt sind. Burisch untersucht die innere Dynamik des Ausbrennens. Seine Grundannahme ist, dass der Mensch nach Autonomie strebt und sein Leben im Griff haben möchte. Die Veränderung der Arbeitsbedingungen erfordert von den Mitarbeitern eine Anpassungsleistung, die naturgemäß mit Stress und Unsicherheit verbunden ist. Gelingt diese Anpassungsleistung nicht und hat der Mitarbeiter das Gefühl, dass er mit seinen Mitteln diese Situation nicht bewältigen kann, kann der Verlust der Handlungsfähigkeit und die empfundene Hilflosigkeit eine wesentliche Quelle für den Prozess des Ausbrennens sein. Sich hilflos zu fühlen und keinen Ausweg mehr zu sehen steht natürlich im krassen Widerspruch zu dem Wunsch, das Leben im Griff haben zu wollen. Dieser innere Widerstreit kann eine der Triebfedern sein, sich übermäßig über die eigenen Grenzen hinweg anzustrengen »es doch noch schaffen zu wollen«(Burisch, 2009).
Anfangs dachte man, vom Burnout-Syndrom seien nur die sozialen Berufe betroffen, inzwischen weiß man, dass ein Ausbrennen auch in anderen Berufen vorkommen kann. Das Besondere am Burnout-Syndrom ist im Gegensatz zu den anderen psychischen Störungen, dass das Burnout-Syndrom hauptsächlich mit dem Arbeitsplatz und mit der Arbeit verbunden ist (. Abb. 4.4). Fallbeispiel »Seit gut dreißig Jahren arbeite ich nun in diesem Betrieb und bin eigentlich immer ganz gut klargekommen. Seit einiger Zeit gab es im Betrieb Umstrukturierungen, meinem Betrieb geht es wirtschaftlich schlechter und er ist mit Vertriebszahlen unter Druck geraten. Inzwischen haben wir eine neue Geschäftsführung bekommen und ich einen neuen jungen Vorgesetzten. Es gab weiterhin einige Umbesetzungen und ich bekam einen neuen Kollegen, mit dem ich sehr gut zurechtgekommen bin. Der wurde jedoch wieder versetzt und seine Stelle neu besetzt. Gleichzeitig wurde mir die Vertretung für das Aufgabengebiet einer Kollegin übertragen. So hatte ich also meine Arbeit, die Vertretung der Kollegin und die Einarbeitung der neuen Kollegin
4.7 • Burnout-Syndrom, Stressfolgeerkrankungen und somatoforme Störungen
69
4
. Abb. 4.4 Ausgebrannt! (© Christiane Weitendorf )
zu bewältigen. Ich habe natürlich versucht, das alles so gut wie möglich zu schaffen, bin deswegen häufiger auch mal länger geblieben und war trotzdem oft mit meiner Arbeit unzufrieden. Ich habe aber auch schon gemerkt, dass ich die neue Kollegin nicht so gut einarbeiten konnte, wie ich mir das vorgestellt habe, und ich war zunehmend genervt, wenn sie Fragen hatte, fühlte mich oft gestört, obwohl ich wusste, dass ihre Fragen berechtigt waren. Das Arbeitsgebiet meiner Kollegin, die ich vertreten habe, war mir nicht vertraut. Das musste ich mir selber erarbeiten und mochte auch nicht immer wieder nachfragen, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, was mein anderer Kollege so nebenbei schnell erklärt hatte. Und dann war da noch mein eigenes Arbeitsgebiet, das zu bestimmten Zeiten, wenn Quartals- und Jahresabschlüsse anstehen, auch besonders arbeitsintensiv ist. Ich habe schon gemerkt, ich schaffe das nicht, habe das aber nicht wahrhaben wollen. Davon habe ich niemandem erzählt und immer weiter versucht, alle drei Aufgabengebiete auszufüllen. Zuhause habe ich mich nur noch verkrochen und bin schon morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit gegangen, habe oft nachts nicht geschlafen, weil ich nicht schlafen konnte und nur noch an meine Arbeit gedacht habe.
4.7.2
Stressfolgeerkrankung
Als Stressfolgeerkrankung werden vorwiegend körperliche Beschwerden beschrieben, die als Folge von Dauerstress auftreten können, also Migräne, Schlafstörung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenbeschwerden, Bluthochdruck, Diabetes, Essstörung, Tinnitus, Hörsturz, Schmerzen aller Art sowie häufige Infektionen und Magen-Darm-Beschwerden. Diese Reihe ließe sich sicher noch fortsetzen. Mitbedingt werden diese Erkrankungen zum einen durch biochemische Prozesse, die durch Dauerstress verursacht beeinträchtigend auf das Immun-
Folgen von Dauerstress
70
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
system wirken, zum anderen durch gesundheitsschädigendes Verhalten wie Bewegungsmangel, übermäßigen Genuss von Alkohol und Zigaretten und insgesamt mangelndes Gesundheitsverhalten, was die Situation verschärft und den Körper zusätzlich belastet.
4.7.3
4
Kranke Seele drückt sich körperlich aus
Andere Kulturen
Somatoforme Störungen
Eine dritte Gruppe sind die somatoformen Störungen. Hier handelt es sich um körperliche Beschwerden, bei denen sich organisch keine Ursache finden lässt. Somatoforme Störungen machen einen nicht unerheblichen Anteil der langfristigen Fehlzeiten aus. Patienten leiden unter Beschwerden, beharren auf körperlichen Untersuchungen und haben oft lange Fehlzeiten und eine Odyssee durch die Wartezimmer verschiedener Facharztpraxen hinter sich. Die körperlichen Untersuchungen, die die Patienten für notwendig halten, ziehen sich infolge der Wartezeiten lange hin. Dass eine kranke Seele sich körperlicher Ausdrucksformen bedient, wird von den Patienten hartnäckig geleugnet oder aber von den Ärzten nicht rasch genug erkannt. Hier macht sich wieder bemerkbar, dass die Stigmatisierung durch psychische Erkrankungen oder psychische Probleme vermieden werden soll, auch wenn sich keine organischen Ursachen für körperliche Beschwerden finden lassen. In vielen Kulturen werden Körper und Seele als Einheit betrachtet und seelische Schmerzen auch körperlich ausgedrückt. Es ist für die Betroffenen oft ein Problem, dass unsere Kultur eher die Trennung von Körper und Seele betont und der ganzheitliche Ausdruck einer seelisch mitbedingten Symptomatik von den behandelnden Ärzten nicht verstanden wird. Umso wichtiger ist es für betriebliche Akteure, darüber informiert zu sein und sensibel darauf einzugehen.
4.8
Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin
Ohne einen Abschnitt über Abhängigkeit wäre dieses Kapitel über die psychischen Störungen nicht vollständig. Ich selber habe am Anfang meines Berufslebens drei Jahre in der Drogentherapie gearbeitet. Das ist inzwischen lange her. Es hat sich eine Menge getan in den letzten Jahren. Um Sie hier mit aktuellen Informationen bedienen zu können, habe ich zu diesem Thema die Suchtberaterin Sabine Ide befragt. Sie arbeitet als Sozialberaterin in verschiedenen Unternehmen und die Suchtberatung ist einer ihrer Schwerpunkte. z
Wann spricht man von Abhängigkeit?
Wir sprechen von Abhängigkeit, wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, den Konsum einer Substanz oder das Auftreten eines Verhaltens zu kontrollieren. Er konsumiert, obwohl er weiß, dass er sich gesundheitlich oder sozial schädigt. Der Wunsch oder Zwang, den
4.8 • Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin
Konsum oder das Verhalten zu wiederholen, ist so stark, dass der Betroffene sich ihm nicht widersetzen kann. Es gibt weitere Kriterien, die für eine Abhängigkeitserkrankung sprechen, dazu gehört der so genannte Abstinenzverlust. Der Abbau der Wirksubstanz im Körper oder der totale Entzug führt zu mehr oder weniger massiven körperlichen Entzugserscheinungen. In diesem Fall kann an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer Abhängigkeit gesprochen werden. Diese Entwicklung lässt sich über eine Toleranzsteigerung des Körpers gegenüber der Substanz nachvollziehen. Der Betroffene muss immer mehr einnehmen, um eine identische bzw. die gewünschte Wirkung zu erzielen. So kommt es z. B. zu den Fällen, in denen ein Autofahrer noch mit weit über drei Promille mit dem Auto unterwegs ist: Wenn wir ein medizinisches Fachbuch zu Rate ziehen, ist das eigentlich unmöglich, aber mit ausgiebigem und langjährigem Training ist es das eben doch. Bei nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten wie beispielsweise Medienabhängigkeit, die sich durch intensive Internetnutzung zeigt, kommt es zwar nicht zu allen klassischen Entzugssymptomen, aber unter Umständen führt die Abstinenz zu großer Unruhe, Nervosität und auch zu aggressivem Verhalten. Ein weiteres Kriterium für eine Abhängigkeitserkrankung ist der schon angesprochene Verlust der Kontrolle. Das bedeutet, der Beginn, das Ende und die Menge des Konsums können vom Betroffenen nicht mehr kontrolliert werden. Ich spiele, esse oder trinke mehr, als ich mir vorgenommen habe, ich kann nicht mehr aufhören, obwohl ich mir dies fest vorgenommen habe. Ich möchte beispielsweise nur ein Glas Wein trinken oder nur eine Stunde spielen und doch wird es, habe ich erst einmal begonnen, mehr oder länger. Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung berichten, dass sich ihre Gedanken fast ausschließlich um ihr Suchtmittel oder das süchtige Verhalten bewegen: Wie kann ich mein Verhalten vor anderen verbergen? Wo deponiere ich während des Tages meinen »Stoff«? Hoffentlich ist bald Feierabend, damit ich endlich konsumieren kann! Aber auch Gedanken, die sich mit dem Wunsch des Aufhörens beschäftigen, tauchen im Verlauf einer Abhängigkeitserkrankung immer wieder auf. Das schlechte Gewissen durch das Scheitern des Abstinenzwunsches führt dann zum heimlichen Konsum, der als ein weiteres Indiz für eine Erkrankung gewertet werden kann. Diese absolute gedankliche Vereinnahmung durch die Anstrengungen, die Abhängigkeit zu verbergen oder beenden zu wollen, führt in der Regel dazu, dass die Betroffenen andere Interessen vernachlässigen und sich sozial zurückziehen, da sie Angst haben, entdeckt bzw. enttarnt zu werden. z
Welches sind die häufigsten Abhängigkeitserkrankungen am Arbeitsplatz und wie äußern sie sich?
Die Nikotinabhängigkeit ist sicherlich die Abhängigkeitserkrankung, die wir am häufigsten im betrieblichen Umfeld antreffen, da sie sta-
71
4
Kriterien und Entzugserscheinungen
Steigerung des Konsums
Verlust der Kontrolle
Alles kreist um den Stoff.
72
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Im Betrieb
4 Cannabis bei Azubis
Anzeichen erkennen …
… ansprechen
Verhaltensänderungen
tistisch gesehen die in der Bunderepublik am meisten vertretende Abhängigkeitsform ist. Im betrieblichen Hilfesystem haben wir es am häufigsten mit Menschen zu tun, die eine Alkoholabhängigkeit entwickelt haben, die sich auf Dauer nur schwer verbergen lässt und durch die es früher oder später zu Auffälligkeiten am Arbeitsplatz kommt. Da die meisten Betriebe Führungskräfte und Betriebs- bzw. Personalvertretungen geschult haben, um die Anzeichen zu erkennen und Betroffenen Hilfe anbieten zu können, werden die Fälle von Alkoholabhängigkeit am ehesten im Betrieb angesprochen. Der entscheidende für den Arbeitgeber relevante Unterschied zwischen beiden Abhängigkeitsformen besteht darin, dass sich der Konsum von Nikotin nicht so schädigend auf die Arbeitsleistung und die Kooperation zwischen Kolleginnen und Kollegen auswirkt wie z. B. Alkohol- und Cannabiskonsum. Gerade der verstärkte Cannabiskonsum hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass es im Bereich der Berufsausbildung immer häufiger zu Auffälligkeiten im Leistungsverhalten der Auszubildenden gekommen ist. Wir können insgesamt davon ausgehen, dass sich alle Abhängigkeitserkrankungen im betrieblichen Umfeld wiederfinden, also auch Medikamentenabhängigkeit, Spielsucht, Medienabhängigkeit, Essstörungen. Im betrieblichen Kontext eine Erkrankung sicher zu erkennen, dürfte, außer bei Nikotin- oder Alkoholkonsum und bei einer Abhängigkeit von illegalen Drogen, sehr schwierig sein. Wir raten Führungskräften, auf Veränderungen im Sozial- und Leistungsverhalten oder im äußeren Erscheinungsbild zu achten und diese in den Gesprächen zu benennen. Wir raten immer von dem Versuch ab, eine Diagnose stellen zu wollen. Es kann ratsam sein, einen Verdacht zu äußern, jedoch selbst ich hüte mich, eine Diagnose zu stellen. Wir empfehlen den Betrieben, die beobachteten negativen Veränderungen und Auffälligkeiten zu benennen und positive Veränderungen zu fordern. Denn Veränderungen wie der soziale Rückzug aus dem Kollegenkreis oder plötzlich auftretenden Stimmungsschwankungen können auch andere Gründe haben. Es gilt, die Indizien zusammenzufügen und den Betroffenen mit diesen Veränderungen zu konfrontieren. Im Zusammenhang mit Abhängigkeitserkrankungen beobachten wir sehr häufig, dass erkrankte Kollegen 5 den Kontakt zum Vorgesetzten meiden, 5 den Arbeitsplatz sehr oft verlassen, 5 völlig übermüdet sind, 5 zu spät kommen, 5 oft kurzfristig erkrankt sind oder 5 bei Erkrankungen die Meldepflicht verletzen. 5 Auch die kurzfristige Inanspruchnahme von Urlaub kann ein Indiz für eine stoffgebundene Abhängigkeitserkrankung sein, um so körperliche Ausfallerscheinungen zu verschleiern.
4.8 • Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin
Ein alkoholkranker Kollege macht es dem Umfeld vergleichsweise einfach, ihn zu erkennen. Wenn sich seine Erkrankung so weit entwickelt hat, dass er abstinenzunfähig ist, wird er in der Regel durch eine Alkoholfahne oder – um diese zu überdecken – durch das ständige Lutschen von Bonbons auffallen. Bei dieser Abhängigkeitsform gibt es auch eine Vielzahl von Indizien, die sich im äußeren Erscheinungsbild widerspiegeln. Eine Medikamentenabhängigkeit, Spielsucht oder Medienabhängigkeit im betrieblichen Kontext zu erkennen, ist schwerer. Medikamentenabhängigkeit kann verschiedene Formen haben – als Abhängigkeit von Schlaf- oder Schmerzmittel oder auch als Missbrauch von Medikamenten, um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Am Arbeitsplatz sind solche Abhängigkeiten schwer zu erkennen. Von Spielsucht betroffen sind meistens Glücksspielabhängige. Das Spielen findet in der Regel außerhalb des Arbeitsplatzes statt, z. B. in Hallen mit Spielautomaten, im Spielcasino oder aber auch in privaten Kreisen. Glücksspielabhängige kommen häufig in finanzielle Not und erkundigen sich beim Arbeitgeber nach Vorschüssen oder Kreditmöglichkeiten. Ein Ansatz meiner Arbeit ist es, mit Personalabteilungen zu kooperieren. Den nachfragenden Kolleginnen und Kollegen wird empfohlen, einen Termin mit der Sozialberatung zu vereinbaren, um abzuklären, welche Ursachen für die finanzielle Notlage ursächlich sind und zu klären, welche Schritte notwendig sind, um eine dauerhafte Stabilisierung zu erreichen. Ich arbeite mit Arbeitgebern, die die Gewährung von Zuschüssen oder Vorauszahlungen von einem Termin mit der Sozialberatung abhängig machen, so dass eine Glücksspielabhängigkeit unter Umständen thematisiert werden kann. Die zunehmende Zahl der Medienabhängigen, also Menschen, die ihre Zeit fast ausschließlich im Internet oder am PC verbringen, lässt sich nur schwer erreichen. Auffällig werden diese Menschen in der Regel durch einen sozialen Rückzug, völlige Übermüdung oder dadurch, dass sie sich mit Kollegen umgeben, die sich ebenfalls nur noch über Spiele und Spiellevels unterhalten können. Ein großes Problem ist auch die stark zunehmende Zahl der essgestörten Menschen im betrieblichen Umfeld. Hier kommt es – je nach Störung – zu unterschiedlichen Leistungs- und Einsatzeinschränkungen. Diese Erkrankungsformen lassen sich zwar relativ leicht erkennen, aber mit den im Betrieb zur Verfügung stehenden Mitteln nur sehr schwer positiv beeinflussen. z
Wie häufig treten Abhängigkeitserkrankungen am Arbeitsplatz auf?
Darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Wenn wir uns jedoch anschauen, wie die Abhängigkeitserkrankungen in der Gesellschaft verteilt sind, ist davon auszugehen, dass wir eine Vielzahl Betroffener in den Betrieben haben.
73
4 Indiz Fahne
Sozialberatung
74
Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Zahlen
4
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schätzt, dass 5–8% der Beschäftigten eines Unternehmens alkoholkrank und weitere 10% gefährdet sind. Wenn wir dann im »Jahrbuch Sucht« der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. lesen, dass inzwischen wohl mehr Menschen eine Medikamentenabhängigkeit entwickelt haben als eine Alkoholabhängigkeit, können wir davon ausgehen, dass es auch eine Vielzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die zu dieser Personengruppe gehören. Der letzte DAK-Report »Doping am Arbeitsplatz«, hatte diese Thematik als Schwerpunktthema. In meiner beruflichen Praxis habe ich bereits eine Vielzahl von essgestörten Menschen, aber auch pathologische Spieler beraten. Unter Auszubildenden können wir eine steigende Anzahl von Cannabiskonsumenten und Handy- bzw. PC-Nutzern mit süchtigen Tendenzen beobachten. z
Betriebs- und Dienstvereinbarungen Falsche Hilfsbereitschaft
Stufenplan
Konsequenzen deutlich machen
Gibt es Handlungsorientierungen im Umgang mit abhängigkeitskranken Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?
Viele Unternehmen haben Betriebs- und Dienstvereinbarungen abgeschlossen, die den Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen regeln. Darin wird meistens ein Stufenplan festgeschrieben, der ein einheitliches konsequentes Vorgehen festschreibt. Für das Umfeld ergibt sich insofern ein Problem, als das gewohnte, mitmenschliche »Hilfeprogramm« im Falle einer Suchterkrankung nicht wirklich hilfreich ist, sondern krankheitsverlängernd wirkt: Unser normales mitmenschliches Hilfeschema heißt in der Regel: Unterstützung, Entlastung, Fehler vertuschen, Übernahme von Arbeit, wenn der Kollege es nicht mehr schafft, Verständnis, Rücksicht – und vor allem, die Kollegin bzw. den Kollegen nicht zu verraten. Leider helfen alle diese Vorgehensweisen nicht dabei, dem Betroffenen einen Veränderungsimpuls zu vermitteln. Ein Abhängiger wird so eher in dem Glauben gelassen, es läuft doch alles, ich habe noch alles im Griff, obwohl das gesamte Umfeld schon rotiert, um die Arbeitsmängel nicht auffliegen zu lassen. Um dieser falschen Hilfsbereitschaft entgegenzuwirken, haben viele Unternehmen eine Vorgehensweise in Form eines Stufenplans in Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vereinbart: Mit diesem strukturierten Vorgehen soll ein konstruktiver Leidensdruck erzeugt werden. Beim Betroffenen soll auf diese Weise ein Veränderungsimpuls ausgelöst werden. Ihm soll verdeutlicht werden, dass er handeln muss, um seine Situation positiv zu beeinflussen. Dafür ist es zwingend notwendig, den Betroffenen mit den Auffälligkeiten im Arbeitsumfeld zu konfrontieren, ihn auf die möglichen negativen Konsequenzen hinzuweisen, die bis zur Kündigung reichen können, wenn sich sein Verhalten bzw. die Arbeitsleistung nicht wieder stabilisiert. Eine Betriebsvereinbarung hilft, dem Betroffenen glaubhaft zu machen, dass diese Konsequenzen auch umgesetzt werden. Es liegt dann an dem Betroffenen, dem Betrieb nachzuweisen, dass er die vereinbarten Maßnahmen auch eingehalten hat.
4.8 • Abhängigkeitserkrankung. Interview mit einer Suchtberaterin
Gleichzeitig plädieren wir dafür, dass der Betroffene auf innerbetriebliche oder – wenn nicht vorhanden – auf externe Hilfsangebote hingewiesen wird. Unerlässlich ist ein zwischen den innerbetrieblichen Instanzen abgestimmtes Vorgehen, damit der Betroffene keine Chance erhält, die Parteien gegeneinander auszuspielen. Aus diesem Grund empfiehlt es sich auch, den Stufenplan in Kooperation mit der Mitarbeitervertretung zu entwickeln. z
75
4
Abgestimmtes Vorgehen im Betrieb
Unterscheidet sich der Umgang mit einem Mitarbeiter mit einer Suchterkrankung von dem mit einer psychischen Störung?
Diese Frage kann ich pauschal nicht beantworten, denn es gibt eine Vielzahl verschiedener psychischer Störungen mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf das betriebliche Umfeld; auch eine Abhängigkeitserkrankung zählt ja zu den psychischen Erkrankungen. Aber nicht jede psychische Störung oder Erkrankung hat eine progrediente Verlaufsform. Eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt sich hingegen immer weiter, wenn es nicht eindeutige Signale aus dem privaten oder beruflichen Umfeld gibt, die dazu führen, dass der Betroffene Hilfe in Anspruch nimmt und damit die Erkrankung zum Stillstand kommt. Ansonsten schreitet sie fort und die Beeinträchtigungen werden in der Regel immer gravierender und belasten dann nicht nur den Arbeitgeber in wirtschaftlicher Form, sondern durch Verhaltensauffälligkeiten oder zunehmende Arbeitsbelastung auch Kolleginnen und Kollegen im Umfeld, da diese im schlimmsten Fall die gesamte Arbeit übernehmen müssen. Es ist in diesem Zusammenhang immer wieder daran zu erinnern, dass es sich zwar um Erkrankungen handelt, der Betroffene aber trotzdem mitwirkungspflichtig ist. Er muss medizinische und therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Eine Abhängigkeitserkrankung ist in der Regel gut behandelbar. Es gibt andere psychische Störungen und Erkrankungen, die ähnlich gravierende Wirkungen im Arbeitsumfeld entfalten und zum Verlust der Arbeitsfähigkeit führen. Sicherlich unterscheidet sich der Umgang mit den Erkrankten. Im Prinzip hilft dabei auch hier ein klar strukturiertes, konsequentes und unter den betrieblichen Instanzen abgestimmtes Vorgehen analog einem Stufenplan. Der Stufenplan soll dem Betroffenen die Chance geben, seine Situation wahrzunehmen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir sprechen davon, dass mangelnde Krankheitseinsicht ein Teil der Abhängigkeitserkrankung ist. Auch bei Kolleginnen und Kollegen mit psychischen Störungen oder Erkrankungen treffen wir oft auf dieses Phänomen. Ein Stufenplan kann dann sehr hilfreich sein und den Weg des Erkennens anbahnen. Ziel muss es immer sein, den Betroffenen ihre Situation vor Augen zu führen, ihnen ihr Verhalten quasi zu spiegeln, damit sie Hilfe bzw. Behandlung in Anspruch nehmen. Dieses Vorgehen passt nicht unbedingt zu jeder psychischen Störung oder Erkrankung, aber das klare Benennen und Ansprechen von
Alkoholabhängigkeit schreitet voran, bis sie behandelt wird.
Sie ist gut behandelbar.
Passt ein Stufenplan?
Individuelle Lösungen
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Kapitel 4 • Ausgewählte psychische Störungen
Auffälligkeiten hilft den Betroffenen in jedem Fall, sich selbst besser einschätzen zu können. Darüber hinaus wird es Fallkonstellationen geben, die einen Arbeitgeber veranlassen müssen, die Arbeitsorganisation der Erkrankung des Arbeitnehmers anzupassen, wenn ein Arbeitnehmer mit einer psychischen Erkrankung trotz medizinischer Behandlung nicht völlig symptomfrei oder belastbar ist.
4
77
Wenn sich der Mitarbeiter verändert 5.1
Verhaltensänderungen – 80
5.2
Verhaltensbeobachtung – 84
5.3
Zusammenfassung – 85
5
78
Kapitel 5 • Wenn sich der Mitarbeiter verändert
Verhalten ist beobachtbar.
5
Jeder hat sein Verhaltensmuster.
Wir haben im letzten Kapitel einen kurzen Überblick über die Erscheinungsbilder verschiedener psychischer Störungen bekommen. Jetzt soll es darum gehen, erste Anzeichen für psychische Fehlbelastungen, psychische Probleme oder auch psychische Störungen am Arbeitsplatz wahrzunehmen und als Warnsignale zu erkennen. Wie kann das nun geschehen, wo wir doch im (7 Kap. 4) gesehen haben, dass psychische Störungen sich vorwiegend im Denken, in der Stimmung, der Gefühlslage ansiedeln? Das stimmt zwar, aber innere Prozesse haben immer auch Auswirkungen auf das Verhalten und oft können diese letztlich nur an dem Verhalten, dem Handeln und den Reaktionen eines Menschen wahrgenommen werden. Das Verhalten ist das, was wir als Außenstehende beobachten und erleben können. Bei Menschen, die uns vertraut sind, die wir lange kennen, können wir schon Rückschlüsse auf deren innere Beweggründe ziehen. Einer vertrauensvollen Beziehung geht jedoch oft ein langer Prozess des gegenseitigen Austausches, des Miteinandersprechens und einander Zuhörens voraus. Solcherlei Beziehungen gibt es sicherlich auch unter Kollegen, aber das ist nicht immer die Regel. Im Kollegenkreis hat jeder in seiner Berufsrolle ein Verhaltensrepertoire. Wir verhalten uns wie ein akkurater, sorgfältiger Buchhalter, eine flinke, geschickte Schreibkraft, eine freundliche, schnell vermittelnde Telefonzentrale, ein ruhiger, konzentrierter Maschinenbediener, eine lösungsorientierte IT-Systemanalytikerin, ein zuverlässiger Fahrer, ein geschickter Verkäufer etc. Hinter diesen kurzen Beschreibungen stehen sich zuverlässig wiederholende Verhaltensweisen, die in einer Arbeitsleistung von bestimmter Qualität münden. Wenn Kollegen und Führungskräfte länger miteinander arbeiten, dann kennen sie die jeweiligen Stärken und Schwächen und wissen wie sich der oder die Einzelne normalerweise verhält. Das Verhalten ist verlässlich und oft auch vorhersehbar, wenn man miteinander vertraut ist und sich kennt. Diese zuverlässigen, sich wiederholenden uns bekannten Verhaltensweisen sind die Grundlage, wenn es um die Beobachtung unerklärlicher Veränderungen geht (. Abb. 5.1). Fallbeispiel Der Mitarbeiter berichtet: »Es ist mir in den letzten Wochen zunehmend schwer gefallen, morgens aus dem Bett zu kommen und zur Arbeit zu fahren. Ich fühle mich schlapp und muss mich morgens richtig aufraffen. Alles fällt mir schwer. Ich bin auch schon ein paar Mal morgens zu spät gekommen. Das ist mir früher nie passiert, das ist mir sehr unangenehm und ich schäme mich dafür. Seitdem ich so schlecht schlafe, fühle ich mich oft müde und kraftlos und dann wache ich auch morgens so früh auf und kann nicht wieder einschlafen. Manchmal gelingt es mir dann doch, wieder einzuschlafen, und dann wird es morgens einfach zu spät. Dann kommen auch nachts die Gedanken und ich fange an zu grübeln.
Wenn sich der Mitarbeiter verändert
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5
. Abb. 5.1 Er hat sich verändert. (© Christiane Weitendorf )
Ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren und ich merke ja, dass ich mehr Fehler mache als sonst. Ich fühle mich im Moment mit allem überfordert. Bei der Arbeit und auch zu Hause und es wird überhaupt nicht besser. Ich kenne das sonst gar nicht von mir. Ich habe Angst, die anderen können bemerken, dass mit mir etwas nicht stimmt, und ich habe Angst, meine Arbeit nicht mehr zu schaffen. Ich bin für meine Kollegen hier nur noch eine Zumutung und eine Belastung. Am meisten Angst habe ich davor, meine Arbeit zu verlieren. Ich habe ja mitgekriegt, was hier im Betrieb los war. Wenn ich keine Arbeit mehr habe, ist alles aus. Dann hat alles sowieso keinen Sinn mehr. Ich bin am liebsten allein, mich kann ja sowieso kaum einer ertragen, ich mich ja selbst auch nicht. Hoffentlich spricht mich keiner an. Es macht mir auch nichts mehr so richtig Spaß und Appetit habe ich auch keinen mehr. Ich habe auch keine Lust mehr, rauszugehen und etwas zu unternehmen. Das war früher auch ganz anders.« Dem Vorgesetzten ist die Veränderung des Mitarbeiters aufgefallen. Er fragt sich: »Was ist denn bloß mit dem Kollegen los? Der war jetzt schon ein paarmal zu spät und dann hatte er immer wieder einzelne Fehltage. Er wirkt müde und unkonzentriert, sein Arbeitstempo und seine Qualität haben nachgelassen. Er macht auch plötzlich mehr Fehler. In den Pausen ist er immer für sich alleine, so ganz auf Rückzug. Mir weicht er auch aus. Früher hat er immer freundlich gegrüßt und
Ein Mitarbeiter verändert sich.
Dem Vorgesetzten fällt etwas auf.
80
Kapitel 5 • Wenn sich der Mitarbeiter verändert
gerne mal einen Spruch gemacht. Irgendwie kommt er mir komisch vor. Er ist auch nicht mehr so fröhlich und lebenslustig wie sonst und er läuft, nein, er geht gebeugt wie ein alter Mann. Die Kollegen haben auch schon gesagt, mit dem stimmt etwas nicht.«
Frühwarnzeichen erkennen
5
Wir haben hier festgestellt, dass psychische Störungen sich oft schleichend entwickeln, nur manchmal werden sie von heute auf morgen akut. Für die schleichende Entwicklung ist es umso wichtiger für alle Beteiligten, Frühwarnzeichen rechtzeitig zu erkennen und als solche zu deuten. In den einzelnen Kapiteln über die unterschiedlichen Störungen habe ich versucht, die Auswirkung der jeweiligen Störung auf das Arbeitsverhalten in Ansätzen zu beschreiben. In diesem Kapitel werde ich in einem Überblick mögliche Verhaltensänderungen und Ausdrucksformen zusammenfassen, denn im betrieblichen Kontext fällt ein Mitarbeiter durch eine Verhaltensänderung auf, ohne dass sich sofort ein Zusammenhang zu einer psychischen Störung erschließt und schon gar nicht zu einer psychiatrischen Diagnose herstellen lässt. Deshalb: Hüten Sie sich davor, eine vorschnelle Diagnose zu stellen oder dies gar dem Mitarbeiter mitzuteilen. > Eine medizinische Diagnose von einem Vorgesetzten gestellt zu bekommen, würde für den Mitarbeiter einen nicht zu tolerierenden Übergriff bedeuten, der das Gespräch mit ihm beendet bzw. verunmöglicht.
Veränderungen wahrnehmen
Bleiben Sie also auf der Ebene beschreibbaren Verhaltens. Es soll im Folgenden um Verhaltensänderungen von Mitarbeitern gehen, die anders sind, als wir es von ihnen gewohnt sind, und uns unerklärlich erscheinen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Blickwinkel und Standpunkt des Vorgesetzten ein anderer ist, als der des Personalverantwortlichen, und wiederum verschieden von den Beobachtungen der direkten Kollegen. Die Kollegen werden andere Veränderungen wahrnehmen als der direkte Vorgesetzte und die nächste Führungskraft. Manchmal kommt einem Kollegen oder Vorgesetzten ein Mitarbeiter zunächst einfach nur merkwürdig vor. Hier lohnt es sich, auf das eigene Gefühl zu hören und genauer hinzuschauen, anstatt den Kollegen als merkwürdig abzustempeln, ihn auszugrenzen oder ihm auszuweichen. > Hinsehen und Veränderungen wahrzunehmen, dies ist der erste Schritt, um Stigmatisierung und Ausgrenzung zu verhindern.
5.1 Auf unerklärliche Veränderungen achten
Verhaltensänderungen
Veränderungen zeigen sich für den Außenstehenden im Arbeitsverhalten, in der Leistungsfähigkeit, im Sozialverhalten, in der Ge-
5.1 • Verhaltensänderungen
81
5
fühlslage und im Ausdruck von Gefühlen, im körperlichen Bereich und im Alltagsleben. Ich nenne im Folgenden Beispiele für häufig vorkommende Anzeichen von psychischen Fehlbelastungen. Die Liste erhebt angesichts der Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.Das Verhalten der Mitarbeiter sollte immer unter dem Aspekt »Veränderung« und »unerklärlich« betrachtet werden. > Wenn Sie als Vorgesetzte oder Kollegen einige dieser im Folgenden genannten Veränderungen an einem Kollegen beobachten oder wiederfinden, sollten Sie hellhörig und aufmerksam werden, ohne den betreffenden Kollegen gleich als psychisch gestört abzustempeln. z
Veränderungen im Arbeitsverhalten
5 Vermehrte Fehlzeiten, auch wenn es nur einzelne Tage oder kurze Arbeitsunfähigkeitsmeldungen sind; 5 unentschuldigtes Fehlen; 5 verspätete Abgabe von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen; 5 Unpünktlichkeit, insbesondere, wenn es dafür keinen erkennbaren Grund gibt; 5 geringeres Durchhaltevermögen; 5 es werden vermehrt Pausen benötigt; 5 es kommt öfter zu Arbeitsunterbrechungen oder zu einem Entfernen vom Arbeitsplatz; 5 die Fähigkeit, sich an betriebliche Regeln und Strukturen halten zu können, nimmt ab.
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5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Fehlzeiten und andere Unregelmäßigkeiten
Veränderungen im Leistungsverhalten
Auffällige Leistungsschwankungen oder Leistungsminderungen; Verringerung der Arbeitsmenge und des Arbeitstempos; nachlassende Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsqualität; Erhöhung der Fehlerquote, auch vermehrt Flüchtigkeitsfehler; Vergesslichkeit und Unsicherheit sowie Nachfragen, auch bei Routinetätigkeiten; vermehrte Kontrollen für ausgeführte Arbeiten, auch bei Routinearbeiten; Nicht-mehr-abschließen-Können von Aufträgen, weil sie noch nicht kontrolliert sind; nachlassende Flexibilität und Umstellfähigkeit bei unterschiedlichen Aufgaben und Arbeitsaufträgen; Unzuverlässigkeit; Vermeiden von bestimmten Aufgaben; das sind oft Aufgaben, die mit dem Kontakt zu anderen Menschen zu tun haben, wie Kundenkontakt, Telefongespräche.
Alle Arten von Leistungsminderung
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Kapitel 5 • Wenn sich der Mitarbeiter verändert
Fallbeispiel Die Kollegen beschreiben Veränderungen.
5
Kollegen erzählten: Wir haben einen Kollegen in der Verwaltung, der arbeitet schon lange bei uns. Er arbeitet seine Akten zuverlässig und gut ab, aber in letzter Zeit muss er immer alles nachprüfen und das mehrmals – nur um dann festzustellen, dass alles korrekt ist. Er prüft und kontrolliert und kriegt den Abschluss nicht hin. Das Ergebnis ist, dass die Akten länger bei ihm bleiben und sich auf seinem Schreibtisch türmen. Letztendlich bedeutet das für unsere Kunden, dass ihre Anträge von ihm nicht immer fristgerecht abschließend bearbeitet werden oder dass Kollegen, die von seiner abschließenden Bearbeitung abhängig sind, warten müssen. Es dauert eben einfach alles viel länger. Er hat mal gute und auch mal schlechte Tage. An guten Tagen arbeitet er auch etwas ab von seinem Stapel, an schlechten Tagen bewegt sich gar nichts. Die Arbeitssituation und die Zusammenarbeit mit ihm sind schwierig und angespannt. Wir sind genervt von ihm. Er kann auch wegen seines ständigen Termindrucks nicht eingeplant werden in der Vertretung, wenn jemand von uns Urlaub hat oder nicht da ist. Außerdem hat er schon einen Einzelarbeitsplatz, weil er uns auch alle mit seinen Selbstgesprächen stört. Er ist einfach ein schwieriger Kollege und für uns sind dieses Kontrollieren und sein Verhalten schwer verständlich und erträglich und wir sind es wohl auch für ihn, wenn wir ihn bedrängen in der Arbeit. Wir meiden den Kontakt.
z
Sozialer Rückzug
Veränderungen im Sozialverhalten
5 Rückzug von den Kollegen bis hin zum Außenseitertum und Eigenbrötelei (das ist immer eine ganz starker Hinweis); 5 besondere Empfindsamkeit; 5 starke, schnelle oder auch latente Gereiztheit bis hin zu aufbrausenden, aggressiven Reaktionen; 5 starkes Misstrauen; 5 distanzloses Verhalten (die eigenen Grenzen und die der anderen nicht mehr achten und respektieren können); 5 innere Abwesenheit, vor sich hinstarren, Löcher in die Luft schauen, durch die Kollegen durchgucken; 5 in sich versunken sein; 5 Penetranz; der Kollege nervt mit immer demselben Anliegen, obwohl es für alle anderen bereits alles klar ist; 5 eine große Vielfalt merkwürdigen Verhaltens, z. B. Gespräche mit nicht sichtbaren Gesprächspartnern; 5 Verhaltensweisen, die in dem beruflichen Kontext unangemessen sind; 5 negative Erwartungen gegenüber Kollegen und Vorgesetzten, z. B. »Die wollen mich loswerden«, aber auch ständige Streitereien mit Kollegen und Beschwerden im Betrieb; 5 stets wiederkehrende Konflikte mit Kollegen; 5 stark abwertendes oder idealisierendes Verhalten; 5 übertrieben unterwürfiges oder hilfesuchendes Verhalten.
5.1 • Verhaltensänderungen
83
5
Fallbeispiele Der Mitarbeiter zum Meister: »Du darfst mich Prinz nennen.« Der Handwerker der bei der Arbeit viele Fehler macht und nicht mehr richtig alleine arbeiten kann, sagt über sich: »Ich bin hier völlig unterfordert, ich bin eigentlich ein Genie und habe Kenntnisse in der Quantenphysik.« Ein Kollege sprach beispielsweise immer mit seinem Spind, ein anderer baute Pappwände um seinen Arbeitsplatz, um sich vor Strahlen zu schützen.
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Veränderungen in den Gefühlsäußerungen und in der Gefühlslage
5 5 5 5 5 5 5 5
Resignation; das Äußern von Lebensüberdruss; Erschöpfung; Gereiztheit; Euphorie; Ängste, insbesondere Versagensängste; der Ausdruck von Gefühlen der Minderwertigkeit; andererseits können es auch Ausdrücke von besonderer Großartigkeit und Genialität sein.
z
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Du darfst mich Prinz nennen.
Resignation und Versagensängste
Körperliche Veränderungen
Vermehrtes Klagen über körperliche Beschwerden; Schmerzen verschiedener Art; Schlafstörungen; Schlaflosigkeit; körperliche Erschöpfung; Schwindel; extreme Angespanntheit; Nervosität und Unruhe (die man als Kollege fast schon körperlich mitfühlt); Veränderung der Körperhaltung; Schweißausbrüche; Herzrasen; übersteigerte Aktivitäten; Schnittverletzungen; viele durch Schnittverletzungen erzeugte Narben am Körper (Auswirkungen selbst verletzenden Verhaltens, die Menschen sich zuführen, um innere Spannungen abzubauen).
Fallbeispiel Der Mitarbeiter denkt: »Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir los ist. Manchmal habe ich so ein starkes Herzrasen mit Schweißausbrüchen. Und dann kriege ich kaum noch Luft und denke, gleich ist es vorbei
vielfältige körperliche Beschwerden
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Kapitel 5 • Wenn sich der Mitarbeiter verändert
Herzrasen und Schweißausbrüche
5
Was ist mit dem los?
mit mir. Ich werde total unruhig und muss manchmal in solchen Situationen fluchtartig den Raum verlassen. Ich bin schon mal nach Hause gegangen und habe mich krank gemeldet. Es gibt Tage, da kann ich überhaupt nicht zur Arbeit gehen, weil ich Angst habe, dass ich bei der Arbeit wieder so eine Herzattacke bekomme. Da bin ich wie gelähmt und kann nichts tun. Ich war schon beim Arzt deswegen. Er hat mich untersucht und gesagt, er findet nichts. Das kann doch gar nicht sein. Da muss doch was sein. Ich gehe nochmal zum Internisten. Die Kollegen haben mich schon angesprochen und gefragt, was mit mir los ist. Was soll ich denn sagen?« Der Vorgesetzte fragt sich: »Wieso meldet er sich jetzt eigentlich häufiger mal krank und dann immer nur einzelne Tage? Die Kollegen sagen, er ist auch hin und wieder schon einmal von der Arbeit nach Hause gegangen, weil er sich nicht gut fühlte. Der ist doch sonst immer ein handfester Kerl gewesen. Jetzt zieht er sich raus und macht alleine Pause, und manchmal steht er so versunken da, als wäre er überhaupt nicht anwesend. Die Kollegen sagen, er ist überhaupt nicht ansprechbar. Gesprächen weicht er zunehmend aus und auch von seinen Kollegen hat er sich zurückgezogen. Manchmal wird er plötzlich rot im Gesicht und hat Schweiß auf der Stirn. Es gibt Tage, da sieht er richtig fertig aus und sagt zu den Kollegen, er kann nicht mehr. Er sei körperlich fertig. Das war früher nicht so.«
z Zu viel Alkohol?
Veränderungen im Alltagsleben
5 5 5 5 5
Vernachlässigung der persönlichen Hygiene, ungepflegtes Äußeres, oder auch plötzlich übertriebene Pflege, auffälliger Alkoholkonsum, unsinnige finanzielle Transaktionen oder plötzliche hohe Geldausgaben, 5 Beeinträchtigung der Mobilität, nicht mehr aus dem Haus können bzw. nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können.
5.2
Verhaltensbeobachtung
Im vorherigen Abschnitt haben wir jetzt verschiedene Frühwarnzeichen kennen gelernt, die Hinweise auf psychische Probleme eines Mitarbeiters sein können. Bedenken Sie dabei immer: > Es geht um beobachtetes Verhalten und nicht um Wertung, Interpretationen und Vermutungen.
Dies ist nicht leicht, denn wir sind gewohnt, Verhalten wahrzunehmen, innerlich zu bewerten und einzuordnen, so dass es uns oftmals
5.3 • Zusammenfassung
schwerfällt, uns im Beschreiben von Verhaltensauffälligkeiten auf das beobachtete Verhalten zu beschränken. »Ich habe den Eindruck, Frau R. ist depressiv«, ist eine Vermutung und man kann mit dieser Vermutung leicht in die Ecke der Stigmatisierung landen. Hier stellt sich die Frage: »Welche Verhaltensweisen haben Sie beobachtet?« Dann könnte z. B. genannt werden: »Sie hat sich von den Kollegen, mit denen sie sonst immer zusammensitzt, zurückgezogen und sitzt oft allein an ihrem Arbeitsplatz. Sie klagt vermehrt über Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Sie schafft das übliche Arbeitspensum nicht mehr und macht häufiger Pausen. Es passieren auch öfter Fehler und sie arbeitet langsamer als sonst. Sie ist oft weinerlich und niedergeschlagen.« Eine kleine Übung dazu: Lassen Sie Ihr berufliches oder soziales Umfeld Revue passieren, stellen Sie sich eine Person vor und versuchen Sie zur Übung, deren Verhalten zu beschreiben: ohne Wertung und ohne Interpretation! Sie werden merken, dass das gar nicht so einfach ist. Wenn sich aus den Verhaltensbeobachtungen Hinweise ergeben haben, dass ein Mitarbeiter psychische Probleme haben könnte, soll es nicht bedeuten, wenn er mehrere dieser genannten Verhaltensänderungen aufzeigt und nun eindeutig psychisch krank ist. Genaueres lässt sich erst in einem Gespräch mit dem Mitarbeiter klären.
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5
Beschreibung statt Diagnose
Eine kleine Übung
Auffällig ist nicht immer gleich krank.
> Eine wichtige Grundregel lautet: Hinschauen und seinen eigenen Wahrnehmungen trauen. Leistungsminderungen und Verhaltensauffälligkeiten wahrnehmen, ohne Wertung benennen und beschreiben. Nie eine psychiatrische Diagnose stellen. Nicht alle Mitarbeiter, die Anzeichen von psychischen Fehlbelastungen aufweisen, leiden unter einer psychischen Störung.
Das Feststellen einer psychiatrischen Diagnose ist Aufgabe des Facharztes und nicht der Führungskräfte und der Kollegen. Ganz ausdrücklich soll noch einmal betont werden: Es geht lediglich darum, eine Verhaltensänderung zu bemerken, und nicht darum, daraus eine psychiatrische Diagnose abzuleiten.
5.3
Die Diagnose ist Aufgabe des Arztes.
Zusammenfassung
Wenn ein Mitarbeiter in eine psychische Krise gerät oder sich bei ihm langsam eine psychische Störung entwickelt und ausprägt, hat dies Auswirkungen auf sein Verhalten am Arbeitsplatz. Es zeigt sich in Veränderungen im Arbeitsleistungs- und Sozialverhalten, in der Gefühlslage, in der körperlichen Verfassung und im Alltagsverhalten. An dieser Stelle sei noch einmal auf die häufigsten Verhaltensmerkmale zur Früherkennung hingewiesen (. Tab. 5.1). Sollten Sie einige dieser Merkmale über einen längeren Zeitraum bei Ihrem Mitarbeiter bemerken, dann lohnt es sich, ihn darauf an-
Eine Krise hat Auswirkungen auf das Verhalten.
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Kapitel 5 • Wenn sich der Mitarbeiter verändert
. Tab. 5.1 Hauptmerkmale von Verhaltensänderungen Arbeitsverhalten
Vermehrte Fehlzeiten, sowohl längere als auch kürzere, Unpünktlichkeit und vermehrte Arbeitsunterbrechung
Leistungsverhalten
Leistungsminderung, Leistungsschwankungen, Nachlassen von Konzentration, Flexibilität und Umstellfähigkeit
Sozialverhalten
Sozialer Rückzug, verstärktes Misstrauen, aggressives aufbrausendes Verhalten sowie Verhalten, das im beruflichen Kontext unangemessen ist
Gefühlslage
Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Resignation, Ängste, vermehrtes Klagen über verschiedene körperliche Beschwerden
Alltagsverhalten
Auffälliger Alkoholkonsum, ungepflegtes Äußeres, eingeschränkte Mobilität
5
zusprechen und ihm Ihre Beobachtungen mitzuteilen. Bei der Beschreibung Ihrer Beobachtung ist es wichtig, sich auf die Verhaltensbeschreibung zu beschränken und sie ohne Wertung und ohne Interpretation mit Ihrem Mitarbeiter zu besprechen.
87
Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung? 6.1
Erfahrungen von Geführtwerden und Führen – 88
6.2
Urbilder von Führungskräften – 91
6.3
Vertrauensperson und Ansprechpartner – 93
6.3.1 6.3.2 6.3.3
Zur Bedeutung früherer Erfahrung – 95 Die innere Haltung bzw. Werte – 97 Die Grenzen – 100
6.4
Was brauchen die Mitarbeiter? – 102
6.5
Was Mitarbeiter nicht brauchen – 106
6
88
Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
Wie sehe ich meine Rolle?
6
Dieses Kapitel widmet sich der Rolle der Führungskraft, dem Führen und dem Geführtwerden. Es will die Bedeutung einer Führungskraft für den einzelnen Mitarbeiter beschreiben und aufzeigen, welche Einflüsse sie auf die Leistungsfähigkeit und das Klima in der Abteilung oder im Betrieb hat. Dieses Kapitel soll auch dazu beitragen die eigene Rolle zu reflektieren. Der Fokus soll insbesondere auf den Umgang mit fehlbelasteten oder psychisch gefährdeten Mitarbeitern gelegt werden bzw. es sollen solche Aspekte der Führung betrachtet werden, die im Zusammenhang mit der Mitarbeitergesundheit stehen. Es geht also der Frage nach: Gibt es gesundheitsförderliche Führung? Gibt es Führungsverhalten, das zu Leistungsminderung, innerer Kündigung oder gar psychischen Problemen führen kann? Die Beschäftigung mit diesem Thema kann hier nur unvollkommen sein und das Thema nur anreißen. Ich konzentriere mich im Wesentlichen auf den Beziehungsaspekt von Führung, da er für das Thema des Buches entscheidend ist. In diesem Kapitel stelle ich immer wieder Fragen, die anregen sollen, die eigenen Erfahrungen wachzurufen und zu reflektieren und sich mit den eigenen Werten, inneren Haltungen, Einstellungen und Führungsqualitäten auseinanderzusetzen.
6.1 Frühe Erfahrungen bilden den Boden.
Das Leben ist eine lange Erfahrung von Führung und Geführtwerden.
Die ersten Führungskräfte im Leben
Erfahrungen von Geführtwerden und Führen
In diesem Kapitel hole ich weit aus und beginne mit den ganz frühen Erfahrungen, die wir alle in unserem Leben mit Führen und Geführtwerden gemacht haben, denn unsere frühen Beziehungserfahrungen bilden den Boden, auf dem sich nicht nur im Privatleben, sondern auch im Arbeitsleben Beziehungen entwickeln. Wie Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern gelebt und erlebt werden, wird bereits durch frühe Erfahrungen beeinflusst und gebahnt. Sie können sich sowohl positiv als auch einschränkend auf unsere Beziehungsfähigkeit auswirken. Das bedeutet auch, dass von Ihren Erfahrungen mit Führung und Geführtwerden abhängt, wie Sie als Führungskraft den Kontakt und das Verhältnis zu Ihren Mitarbeitern gestalten. Schauen wir uns doch einmal an, wie sich dieses Thema im Laufe des Lebens darstellt. Das Leben ist eine lange Erfahrung von Geführtwerden und Führen und jeder hat seine ganz individuelle Geschichte. Es ist eine Geschichte von unterschiedlichen und oft sehr emotionalen Beziehungen. Sie beginnt bereits mit der Geburt und endet erst mit dem Tod. In dieser Spanne erlebt jeder Mensch viele verschiedene Facetten von Führung und Geführtwerden. Einige wenige sollen in diesem Kapitel beschrieben werden. Wir sind kaum auf der Welt, und schon treten die ersten Führungskräfte in unser Leben: Mutter und Vater. In größeren Familien gibt es auch schon eine mittlere Führungsebene, die Geschwister, großer Bruder, große Schwester. Wir erfahren ganz früh schon wichtige
6.1 • Erfahrungen von Geführtwerden und Führen
Führungsqualitäten, die wir auch für ein gesundes Wachstum benötigen: Liebe, Schutz, Fürsorge, leibliches und geistiges Genährtwerden, später Förderung, Grenzen. Wir lernen Regeln und bekommen Werte vermittelt. Wir lernen, was man tut und was man besser lässt. Später, vielleicht im Kindergarten, sind es die Erzieher und Erzieherinnen, die uns als nächste Führungskräfte einen Rahmen bieten, zusammen mit anderen Kindern zu spielen und spielerisch die Welt zu erobern. Hier kristallisieren sich vielleicht schon einige »Anführer« heraus, die lieber »Bestimmer« sein wollen und andere, die es gut finden, sich einzuordnen. Wir machen Erfahrung von Konkurrenz und Kooperation. In der Schule ist die nächste Führungskraft, die uns begegnet, der Lehrer. Erinnern Sie sich noch an den ersten Lehrer in der Grundschule in der ersten Klasse? Konnte er durch seine Art Wissen zu vermitteln in uns Freude am Lernen und Neugier entfachen? Der Führungsauftrag des Lehrers ist ja neben dem Erkennen und Fördern von Begabungen und der Vermittlung von Wissen auch die Entstehung einer Art von Klassengemeinschaft zu unterstützen. Wir sammeln Erfahrungen, gefordert, gefördert und bewertet zu werden. Hat der Lehrer die Talente erkannt und gefördert? Hat er Sie gerecht behandelt? In der Schule können erste eigene Führungserfahrungen ermöglicht werden: in der Rolle des Klassensprechers oder aber auch im Lernen in Gruppen und Projekten. Während der Schuljahre gibt es ein weiteres Übungs- und Erfahrungsfeld in der Freizeit: z. B. im Sportverein oder in verschiedenen Jugendgruppen. Der Trainer, der Gruppenleiter, der Mannschaftskapitän sind wieder wichtige Führungspersonen in unserem Leben. Dem guten Trainer gelingt es, aus einer Anzahl von Individualisten oder Einzelkämpfern eine Mannschaft zu formen, sie zu Höchstleistungen anzuspornen, und lässt sie die Erfahrung machen, dass eine Mannschaft oft mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile. Eine andere Erfahrung, die wir aus Gruppen mitnehmen können, ist die Notwendigkeit, dass es jemanden geben muss, der im entscheidenden Fall das Sagen haben muss, dem sich andere dann auch unterzuordnen haben. Ganz wichtig ist das z. B. beim Segeln und in der Seefahrt. Im Leben vieler Jugendlichen und junger Menschen gibt es lebensbegleitend weitere, vielleicht nicht ganz so nahe stehende Führungskräfte. Das ist einmal der Pastor oder der Pfarrer oder vielleicht für einige auch der Hausarzt. Dies sind oft Personen, die die ganze Familie kannten und die Gesundheit und das Wohlergehen der Familie im Blick hatten. Sie wirkten und kurierten eher im Hintergrund. Junge Menschen suchen sich neben den eigenen Eltern oft andere Erwachsene, an denen sie sich orientieren. Das kann der Lehrer sein, der Pastor, der Trainer, der Jugend-Obmann, die Eltern von Freunden, die die jungen Menschen auf der Suche nach Orientierung und nach Zugehörigkeit und Anerkennung im Sinne von »jemand wird erkannt und an-erkannt« finden. Weitere Leitbilder suchen sich Jugendliche in ihren Szenen, Jugendkulturen und politischen Gruppierungen.
89
6
»Anführer« und »Bestimmer«
Schule
Kapitäne und Mannschaften
Andere wichtige Personen
Szene und Jugendkultur
90
Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
Ausbilder …
6 … und der erste Vorgesetzte
Bis wir in das Arbeitsleben eintreten, haben wir schon an vielen Stellen Erfahrung gesammelt, wie sich vor allem Geführtwerden angefühlt hat und wie wir es erlebt haben. Lassen Sie noch einmal einige dieser wichtigen Menschen aus ihrer Jugendzeit Revue passieren und prüfen Sie einfach für sich die Frage: Mit wem habe ich mich wohl gefühlt? An wen denke ich gerne zurück? Nach der Schule sind Ausbilder und Lehrmeister, bei jungen Männern häufig zusätzlich auch noch die Vorgesetzten beim Militär die nächsten Führungskräfte. Bei den Ausbildern und Meistern geht es um Vermittlung von Fachkenntnissen und Arbeitstugenden und die Begleitung von ersten Arbeitserfahrungen. Erinnern Sie sich noch? Wie war Ihr Meister oder erster Ausbilder? Wie war Ihre Beziehung zu ihm? Mit welchem Gefühl denken Sie daran zurück? Nach dem Abschluss der Ausbildung und dem Beginn der Berufstätigkeit haben wir dann mit unserem ersten Vorgesetzten zu tun, eine wichtige Person in unserer Arbeitsbiographie. Sie alle prägen die Einstellung, das Verhalten gegenüber späteren Führungsfiguren beziehungsweise das eigene Verhalten als Führungskraft. Welche Wirkungen und Auswirkungen diese Erfahrungen auf uns und unser Arbeitsverhalten haben, sehen wir ja oft eher, wenn es schlecht läuft. Fallbeispiel
Schlechte Erfahrungen prägen.
Fragen zur Reflektion
Eine junge Frau hat als Kind von den Eltern viel Gewalt, Abwertung und auch Übergriffe, missbräuchliche Übergriffe, erlebt. Die frühen Prägungen haben ihr in ihrer gesamten Arbeitsbiographie Probleme bereitet und geschadet, denn sie fürchtete von jedem Vorgesetzten Übergriffe und von jeder weiblichen Führungskraft oder auch Kollegin Abwertung und Gewalt.
Dieses Beispiel zeigt, wie sich schon ganz frühe Erfahrungen mit den Eltern einschränkend auf die zukünftigen Arbeitsverhältnisse und den Umgang mit Vorgesetzten und Kollegen auswirken können. Jetzt gibt es zur Anregung noch einmal ein paar Fragen. Lassen Sie die verschiedenen Führungskräfte aus ihrem Leben vor Ihrem inneren Auge Revue passieren und versuchen Sie, sich folgende Fragen zu stellen oder zu beantworten: 5 Wie waren meine Führungserlebnisse in der Kindheit? 5 Wie waren meine Eltern als Führungskräfte? 5 Wie waren die Erzieher und Lehrer? 5 Was haben ich für Erfahrungen machen können mit Fairness und Gerechtigkeit? 5 Welche Erfahrungen habe ich mit Führung? 5 Gibt es für mich aus dieser Zeit ein Vorbild? 5 Wer hat mich von diesen Vorbildern bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr besonders beeindruckt und womit? 5 Was zeichnete das Vorbild aus?
6.2 • Urbilder von Führungskräften
91
6
5 Wie beeinflussen die Erfahrungen, die ich mit Führung und Geführtwerden gemacht habe, meine jetzige Ausgestaltung meiner Rolle? Können Sie sich erinnern? Sind Ihnen Beispiele eingefallen? Ich hoffe das sehr, denn wenn Sie durch diese Übung Verbindung bekommen haben zu den Wurzeln Ihres Führungsverhaltens ist das eine gute Basis für das Verständnis des eigenen Führungsverhaltens. Im folgenden Abschnitt stelle ich Ihnen noch einmal einige Prototypen von Führungskräften genauer vor, so wie sie von Konrad Stadler (2009) zusammengetragen worden sind.
6.2
Urbilder von Führungskräften
Stadler (2009) beschreibt folgende Urbilder: 5 Der Vater, 5 der strenge Meister, 5 der Lehrer, 5 der Hirte und 5 der weise Arzt. Sie alle zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Führungsqualitäten und Schwerpunkte aus. Ich habe dieser Aufzählung noch eine wichtige Figur hinzugefügt: Die Mutter (und andere positive Frauenfiguren!) Der Vater als Führungskraft sorgt wohlwollend für seine Mitarbeiter, ist Ansprechpartner für Sorgen und Wünsche, er kennt seine Mitarbeiter und ihre Besonderheiten, er ist für sie die Vertrauensperson. Er findet im Umgang mit ihnen den passenden Ton, wenn nötig auch klare Worte. Er sieht die Entwicklungspotentiale seiner Mitarbeiter, gibt Anstöße, fördert und fordert heraus. Als geistiger Vater liefert er Ideen, gibt Impulse und ist die Quelle von Bewegung und Inspiration. Die alten Patriarchen kommen diesem Führungsbild sehr nahe. Sie pflegten den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und waren im Betrieb stets präsent. Und sie förderten auch in größeren Betrieben stets ein eher persönliches, familiäres Betriebsklima.
Der Vater
Der strenge Meister als Urbild von Führung ist entlehnt aus dem
Der Meister
Handwerk. Er vermittelt fachliches Wissen, ist fachlich hoch kompetent und eine Autorität. Er versteht sein Handwerk, er ist Anleiter und Ausbilder, er setzt hohe Qualitätsmaßstäbe und verlangt eine qualitätsbewusste, handwerklich anspruchsvolle Arbeitseinstellung. Seine Maßstäbe sind eindeutig, klar und transparent und sie beziehen sich auf die Qualität der handwerklichen Ausführung. Sie werden in klaren Beurteilungen ausgedrückt. Das Werkstück, heute würde man sagen, das Produkt oder die angebotene Dienstleistung,
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
steht für ihn im Mittelpunkt. Arbeitstugenden vermittelt er durch Vorbild, sie dienen der Herstellung des Werkstücks. Der Lehrer
Der Lehrer macht sich gemeinsam mit seinen Schülern auf den Weg des Lernens und Entdeckens. Er initiiert individuelle oder auch gemeinschaftliche Lernprozesse, so dass die Schüler mit Anstrengung zu neuen Ergebnissen und Erkenntnissen kommen können. Er entfacht Begeisterung und Neugier, bietet einen Rahmen für Lernerfahrungen und vermittelt Teamgeist und Gemeinschaftssinn. Er fühlt sich nicht nur für die Bildung des Einzelnen verantwortlich, sondern auch für die Bildung des Klassenverbandes. Ein guter Lehrer sieht sich selbst als Beispiel. Er muss selber vorleben können, was er erreichen will, um den Schülern als Orientierungspunkt dienen zu können. Das Bild des Lehrers kann auch verglichen werden mit dem eines guten Trainers, der seine Mannschaft zu hohen Leistungen führen will. Es geht sowohl in der Ausbildung durch den Meister als auch durch den Lehrer oder den Trainer neben der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen auch um die Erziehung und Bildung von Persönlichkeiten sowie das Vorleben von Wertevorstellungen, Arbeitstugenden und Lernkultur. Ein wichtiges Merkmal eines guten Lehrers und Trainers ist die Begeisterungsfähigkeit und die Freude, anderen Menschen zu Wachstum, Entwicklung und Erkenntnissen zu verhelfen.
Der Hirte
Der gute Hirte ist ein ganz altes Führungsbild. Er steht etwas abseits der Herde und richtet sein Augenmerk auf den Zusammenhalt. Er achtet darauf, dass die Herde nicht auseinanderdriftet, auch darauf, dass jeder seinen Platz hat und keiner verloren geht. Und er ist für alle präsent. Er wird unterstützt von seinem Hütehund und in der inneren Führung der Herde vom Leittier. Und er bietet für alle einen geschützten Rahmen, er ist verantwortlich nach frischem Grün (neuen Aufgaben, Projekten oder Kunden) Ausschau zu halten, an dem seine Herde sich entwickeln und wachsen kann.
Der Arzt
Der weise Arzt als Urbild der Führung weiß um die Höhen und Tiefen des Lebens. Er ist in seiner Sichtweise auf die Mitarbeiter und die Atmosphäre konzentriert. Auf seiner »Visite« im Betrieb »fühlt er den Puls«, schaut genau hin, nimmt wahr, was seine Mitarbeiter bewegt, bedrückt oder auch beflügelt. Seine Stärken sind das Hinschauen, Zuhören und das Erfassen, was los ist im Betrieb. Ihm ist wichtig, »Krankheiten« und »Fehlentwicklungen« rechtzeitig erkennen und »behandeln« zu können oder durch Prävention gar zu vermeiden. Sein herausragendes Merkmal ist Achtsamkeit, also gesammelte Aufmerksamkeit. Wer achtsam sein will, muss sich Zeit nehmen zum Zuhören, das Gehörte annehmen, bedenken, bis sich ein Bild ergibt, und dann entsprechend zu handeln. Der »weise Arzt« versteht sich als Begleiter auf der Suche nach Lösungen und er sieht den Erfolg des Unternehmens in der »Gesundheit« der Mit-
6
6.3 • Vertrauensperson und Ansprechpartner
93
6
arbeiter. Auch die Führungsqualitäten finden sich in dem, was wir »alte Patriarchen« nennen, wieder (Stadler, 2009). Ergänzen möchte ich die weibliche Qualität der Führung, das Urbild der »guten Mutter«. Die gute Mutter (und andere positive Frauenfiguren!) ist sie diejenige, die Leben schenkt und die die Familie liebevoll versorgt und nährt. Sie kümmert sich um gesundes Wachstum und reiches Gefühlsleben. Sie fördert soziale Fähigkeiten und einen guten Umgang mit sich selbst. Sie hat einen liebevollen, klaren Blick, bietet Halt und emotionale Unterstützung. Sie hat das soziale Gefüge im Blick und ist insgesamt auf Kooperation und Gemeinschaft angelegt. Sie ist sich aber auch nicht zu schade, wenn es sein muss, die Leiche aus dem Keller zu holen. Sie kann energisch sein und auch mal durchgreifen. Sie hat das Herz am rechten Fleck, einen klaren Verstand und die Fähigkeit, auch Unstimmigkeiten zu ertragen. Sie ist eine gute Ergänzung in ihrer Andersartigkeit zum Meister, Lehrer, Arzt, geistigen Vater und Hirten. Diese unterschiedlichen Urbilder weisen auf ganz unterschiedliche Funktionen von Führung hin. Die klare Ansage des Meisters, die Begeisterungsfähigkeit und Beispiel gebende Begleitung des Lehrers, die Rückenstärkung und die Inspiration des geistigen Vaters, die integrierende Kraft des guten Hirten, die Achtsamkeit des weisen Arztes und die liebevolle Fürsorge der Mutter. Diese Urbilder finde ich besonders anschaulich und einprägsam, weil sie bestimmte, auch heute gültige Wertvorstellungen und Führungsqualitäten bildhaft veranschaulichen (7 Abschn. 6.3.2, innere Haltung und Werte). Sie können noch einmal die prägenden Bilder und Vorbilder aus der jeweiligen persönlichen Geschichte ergänzen und verdichten. Welches dieser Bilder hat Sie besonders angesprochen und kommt Ihrem inneren Bild von Führung nahe?
6.3
Vertrauensperson und Ansprechpartner
Nach den früheren eigenen Erfahrungen von Geführtwerden und Erinnerungen an Menschen, die uns geführt haben, und der Betrachtung der Urbilder von Führung soll nun die Frage im Vordergrund stehen: »Wie fülle ich meine Rolle als Führungskraft aus, um meine Mitarbeiter gesund zu erhalten?« Bevor wir uns aber mit der Rolle der Führungskraft beschäftigen möchte ich Sie wieder zu einer kleinen Übung einladen. Übung Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer geführten Bergtour in den Alpen oder auf einer Expedition im Himalaya, oder auf einem Se-
Die Mutter
Wie sehe ich meine Rolle?
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
Lotse 1
. Abb. 6.1 Lotse oder Steuermann? (© Christiane Weitendorf )
6 geltörn unterwegs. Versuchen Sie sich in die Rolle des Geführten hineinzuversetzen und für sich die Frage zu klären: »Was erwarte ich von meinem Bergführer, Expeditionsleiter oder Skipper?« Wie würde eine gute Führungskraft aussehen? Nennen Sie fünf der für Sie wichtigsten Qualitäten, die eine gute Führungskraft haben müsste.
Ansprechpartner, Vertrauensperson, Lotse
Auf die Frage: »Wie sehe ich meine Rolle als Führungskraft?« antworten die meisten Führungskräfte in meinen Seminaren mit der Vorstellung: »Ich möchte für meine Mitarbeiter eine Vertrauensperson sein.« Andere wiederum beschreiben sich als »Ansprechpartner« für ihre Mitarbeiter. Gemeinsam ist den meisten Führungskräften in jedem Fall der Wunsch, das Vertrauen der Mitarbeiter zu haben und Ansprechpartner für die Mitarbeiter zu sein und auf diesem Wege »gesundheitsförderlich zu führen«. Die Beziehung zum Mitarbeiter kann in verschiedenen Arten gestaltet werden, wie wir ja auch schon an den Urbildern gesehen haben. Jede Führungskraft hat ihre eigene Art, Nähe und Distanz zu den Mitarbeitern zu regulieren. Das kann in der Beziehung das wohlwollend Väterliche, das fürsorglich Mütterliche, das Integrative, das Strenge und der herzlich-fachliche Blick des Meisters sein, der am Mitarbeiter interessierte achtsame Blick des weisen Arztes, die ermunternde Art des Lehrers oder der freundliche Blick des älteren Geschwisters, des guten Freundes oder was immer es auch an vielfältigen Formen von Beziehungen geben mag. Ich selber als Küstenbewohnerin und Seglerin bevorzuge auch Bilder aus der Seefahrt wie z. B. das Bild des Lotsen und des Steuermannes (. Abb. 6.1). Vertrauen zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist ein gegenseitiges Geschenk, das sowohl Mitarbeiter als auch Führungskraft zunächst als Vorschuss bekommen. Jeder der beiden Partner hat den Auftrag, geradezu die Verpflichtung vom jeweiligen Gegenüber,
6.3 • Vertrauensperson und Ansprechpartner
95
6
dieses Vertrauen zu würdigen und zu erhalten, d. h. dem anderen auch zu zeigen, dass er das Vertrauen verdient.
6.3.1
Zur Bedeutung früherer Erfahrung
Eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter kann einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Mitarbeitergesundheit haben. In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach: Was kann eine Führungskraft zu einer vertrauensvollen Beziehung und damit auch zur Mitarbeitergesundheit beitragen? Zunächst muss sie wissen, dass eine vertrauensvolle Beziehung vom Mitarbeiter zur Führungskraft oft eine hoch emotionale Angelegenheit ist, die eben durch ganz frühe Erfahrungen mit Macht, Führung und Geführtwerden mit beeinflusst wird. So kann sie manchmal scheinbar durch Kleinigkeiten völlig aus dem Lot geraten und der Führungskraft ist schleierhaft, wie plötzlich aus einer vermeintlich kleinen Sache eine Vertrauenskrise erwächst. Vertrauen braucht als wichtigstes Moment das persönliche Gespräch und den Austausch; das bedeutet vor allem, dem Mitarbeiter zuzuhören und ihn ernst zu nehmen. Auf diese Weise lässt sich ein gegenseitiges Kennenlernen, Erkennen und Vertrautheit entwickeln. Mit Erkennen meine ich, die Stärken und Schwächen des Gegenübers kennen lernen und so Zutrauen in die Person bekommen und vertiefen. Wenn Sie vertrauensvoll auf die Stärken Ihrer Mitarbeiter bauen und die Möglichkeit haben, den Menschen am rechten Platz einzusetzen, d. h. auf die Passung von Anforderung und Fähigkeiten zu achten, wird vieles praktisch von ganz alleine laufen. Für den Erhalt von Vertrauen braucht es von beiden Seiten unter anderem Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Klarheit und Ehrlichkeit. Für den Mitarbeiter ist von ganz zentraler Bedeutung zu wissen, dass die Führungskraft hinter ihm steht. Es darf kein Lippenbekenntnis sein im Sinne von »Ja, ja, es ja selbstverständlich, dass ich hinter Ihnen stehe«, sondern da muss auch jemand sein, wenn der Mitarbeiter sich umdreht und hinter sich schaut, ob da auch jemand ist, der hinter ihm steht, wenn er Unterstützung und Rückendeckung von seiner Führungskraft benötigt. Der Mitarbeiter muss sich auf die Loyalität seines Vorgesetzten verlassen können. Viele Konflikte und Probleme zwischen Mitarbeiter und Führungskräften entstehen, weil es genau daran mangelt, durch Unsicherheit, Misstrauen und übermäßige Kontrolle. Folgende Punkte sind für eine Führungspersönlichkeit gegenüber den Mitarbeitern zentral: 5 Verlässlichkeit, 5 Verbindlichkeit, 5 Berechenbarkeit, 5 klare Wertevermittlung, 5 Klarheit, 5 Ehrlichkeit.
oft eine hoch emotionale Angelegenheit
Aufbau vertrauensvoller Beziehungen
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
> Tragende Elemente einer vertrauensvollen Beziehung sind Wertschätzung und Anerkennung.
»
Vertrauen ist eine Ressource, die sich durch kräftigen Gebrauch nicht verringert, sondern vermehrt (Pinnow, 2009, S. 133).
«
Ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft eine hoch emotionale Angelegenheit ist, die durch frühe Erfahrung mit beeinflusst wird. > Wenn man als Führungskraft eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen möchte, hängt das Gelingen nicht nur von den eigenen Bemühungen und Verhalten ab, sondern auch von den Vorerfahrungen der Beteiligten.
6
»Übertragung«
Bereits an dieser Stelle fließen von beiden Seiten schon ganz frühe Erfahrungen von Geführtwerden mit hinein. Wenn jemand, ein Mitarbeiter oder auch die Führungskraft, diese alten Beziehungsmuster von früher als Erwartungen »der oder die ist bestimmt so oder so« auf eine jetzige Beziehung richtet, wird dies »Übertragung« genannt. Wir übertragen alte Beziehungsmuster auf neue Personen, ohne zu sehen, dass die neuen Personen andere sind, als die unserer Vorgeschichte. Ein Beispiel soll dies erläutern: Fallbeispiel 1
Ich bin doch euer Kurt!
»Ich stamme aus einer großen Familie mit vielen Kindern. Mein Vater hat mich in unserer Familie so gut wie nie wahrgenommen, weil ich der Letzte und Kleinste war. Es kam vor, dass er mich beim Abendbrot abends fragte »Und du? Wann musst du zu Hause sein?« – so als ob er mit einem Besuchskind sprach und ich irgendwie nur antworten konnte: »Ich bin doch euer Kurt. Und es ist schon merkwürdig, bei meinem Vorgesetzten habe ich auch manchmal das Gefühl, dass er mich überhaupt nicht richtig sieht.«
Die alte Erfahrung, in der Familie vom Vater nicht richtig wahrgenommen zu werden, hat Kurt auf seinen Vorgesetzten übertragen. Er ist überzeugt, dass auch er ihn nicht richtig wahrnimmt. Übertragungen lassen sich oft auflösen, wenn sie den Betroffenen erst einmal bewusst geworden sind. Es kann aber auch anders sein. Ein Mitarbeiter der in früherer Zeit z. B. väterliche Zuneigung und Unterstützung vermisst hat, kann jetzt durch eine gute Beziehung zu seinem Vorgesetzten etwas nachholen, was ihm gut tut und ihm zu innerer Balance verhilft.
6.3 • Vertrauensperson und Ansprechpartner
97
6
Fallbeispiel 2 Herr Max hatte über lange Zeit einen Vorgesetzten, schon etwas älter, einen erfahrenen und feinfühligen Industriemeister. Mit ihm kommt er gut zurecht, er fühlt sich angenommen von der ruhigen, väterlichen Art seines Meisters und sagte über seinen Vorgesetzten: »Mit dem kam ich gut klar. Der wusste mich zu nehmen. Und er hatte mich akzeptiert.«
Der weiß mich zu nehmen.
Fallbeispiel 3 Frau Braun ist als junges Mädchen nach der Trennung der Eltern beim Vater und ihren Brüdern aufgewachsen. Sie erlebt damals im Alter von zwölf Jahren, dass sie nur wahrgenommen wird, wenn sie etwas leistet, und so ganz nebenbei fällt ihr »natürlich« auch die Haushaltsführung zu. So ist sie damals schon immer an der Grenze zur Überforderung entlang geschrammt, weil keiner der »Führungskräfte« auf sie geachtet und ihr Grenzen gesetzt hat. In ihrer Arbeitsbiographie findet sie einen feinfühligen Vorgesetzten, der einerseits ihre Fähigkeiten, aber auch ihre Schwächen erkennt und ihr von außen Grenzen setzt. Er setzt ihr den Rahmen, den sie in ihrer Jugend nicht bekommen hat, und Frau Braun kann auf diese Weise lange an ihrem Arbeitsplatz mit diesem Vorgesetzten erfolgreich zusammenarbeiten. In einer anderen Konstellation wäre dies nicht so gut gelungen.
Dies sollen nur einige Beispiele sein, die zeigen, wie weit Erfahrungen, die wir mit unseren früheren Führungskräften gemacht haben, in unser Arbeitsleben mit hineinwirken und wie oft, ganz ohne Wissen, Führungskräfte mit ihrer Art zu führen und Beziehungen zu gestalten einen wichtigen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und die Gesamtbefindlichkeit des Mitarbeiters haben.
6.3.2
Die innere Haltung bzw. Werte
» Als Summe der bisher von einer Person gemachten Erfahrungen lässt sich das beschreiben, was im allgemeinen Sprachgebrauch als innere Haltung oder innere Einstellung umschrieben wird (Hüther & Fischer, 2010, S. 28)
«
Aus der Summe unserer Erfahrungen von Führen und Geführtwerden entwickelt sich im Laufe des Lebens eine innere Haltung, mit der ein Mensch z. B. an seine Führungsaufgabe herangeht. Mit dieser Haltung oder Einstellung wird er seine Aufgabe wahrnehmen, Mitarbeiter und ihre Arbeitsbedingungen anschauen und bewerten. Hat jemand z. B. fortlaufend Erfahrungen mit Machtmissbrauch bei Eltern, Lehrer und anderen Menschen gemacht, wird er als Mitarbeiter jede Führungskraft argwöhnisch beäugen und als Führungskraft wird er sich schwer tun respektvoll mit den Mitarbeitern umzugehen. Ein Mensch, der überwiegend positive Erfahrungen gemacht hat, gefördert und unterstützt wurde, oder schlechte Erfahrungen gut re-
Machtmissbrauch
Wohlwollen
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
flektiert und verdaut hat, kann mit einer ganz anderen inneren Haltung an eine Führungsaufgabe heran gehen bzw. als Mitarbeiter eine vertrauensvolle, wohlwollende Einstellung zu seiner Führungskraft entwickeln. Dies sind nur zwei Beispiele, die veranschaulichen sollen, was gemeint ist. Die Bandbreite ist natürlich viel größer, ebenso auch die Erfahrung, die Menschen mit diesem Lebensbereich gemacht haben. Ich will damit nur sagen, dass die innere Haltung als Summe unserer Erfahrungen sich auch damit verbindet, wie wir Situationen bewerten und langfristig dann auch zu Wertvorstellungen kommen. Sie festigen sich, wenn wir sie leben und sie von außen bekräftigt werden. > Die innere Haltung der Führungskraft hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf das Klima, sowohl das zwischen den Mitarbeitern untereinander als auch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft.
6 Humane Werte und Menschenliebe
Werte und Beziehungsgestaltung
Welche Werte sind Ihnen wichtig?
Die innere Haltung zu meiner Führungsaufgabe und zu den Menschen, die ich führe, sowie die Wertvorstellung, die ich mir zu Eigen gemacht habe, haben sowohl einen entscheidenden Einfluss auf das Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeitern als auch auf den Umgang der Mitarbeiter untereinander. Eine menschenfreundliche Grundhaltung bietet ein sehr gutes Fundament für den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen. Menschenliebe, das mag vielleicht kitschig klingen, trägt ganz wesentlich dazu bei, einander wertschätzend und respektvoll zu begegnen. Menschenliebe und eine menschenfreundliche Grundhaltung, das Wissen um menschliche Unvollkommenheit, die erlauben, menschliche Schwächen, Zweifel und Ängste zu haben, sind für viele Mitarbeiter und Führungskräfte eine ungeheure Erleichterung. Es nimmt von allen Beteiligten den Druck, wenn es erlaubt ist Schwächen zu zeigen und Fehler machen zu dürfen. Es ist völlig unnötig, sich zu quälen, nur weil man meint, sich keine Fehler erlauben zu dürfen. Neben der inneren Grundhaltung sind auch die Werte, die eine Führungskraft vertritt, wichtige Einflussfaktoren für die Beziehung zum Mitarbeiter. Erinnern wir uns an die fünf Säulen der Identität. Die Säule »Werte und Normen« ist eine tragende Säule unserer Identität. Werte helfen uns in der Bewertung unserer Wahrnehmungen und in unserem Denken und Handeln.Sie beeinflussen natürlich auch unsere Art der Beziehungsgestaltung. Welche Werte helfen nun mir als Führungskraft für meine Mitarbeiter eine Vertrauensperson oder ein wichtiger Ansprechpartner zu sein? Zur Anregung folgt hier eine kleine Auswahl, die Sie inspirieren soll, über ihre eigenen Wertvorstellungen, die Ihnen für Ihre Arbeit wichtig sind, nachzudenken Prüfen Sie für sich wohlwollend, ob für Sie diese Werte lebbar sind. Welche Werte sind mir wichtig und wie lebe ich sie? Sind es Werte wie
6.3 • Vertrauensperson und Ansprechpartner
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
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6
Klarheit, Ehrlichkeit, Toleranz, Beständigkeit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Offenheit, Freiheit, Menschlichkeit, Solidarität, Fairness, Transparenz?
Oder haben Sie noch ganz andere Werte, die in dieser Aufzählung nicht enthalten sind? Einige dieser Werte möchte ich aus meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die unter psychischen Störungen und deren Folgen leiden, als besonders bedeutsam herausgreifen. Klarheit: Klarheit sieht und benennt die Dinge so wie sie sind, hat den Blick fürs Wesentliche, beschönigt und verniedlicht nicht. Es kann schon einmal Klartext gesprochen werden und es können deutliche Worte fallen. Dies ist für viele Menschen zwar gewöhnungsbedürftig, doch Klarheit zeigt dem Gegenüber auch eindeutig, woran er ist und was von ihm erwartet wird.
Klartext sprechen
Ehrlichkeit: Mitarbeiter haben grundsätzlich ein sehr gutes Gespür
Ehrlich meinen
dafür, ob die Führungskraft es mit ihnen ehrlich meint und ehrlich kommuniziert, oder ob sie manipuliert werden sollen. Ehrlichkeit bedeutet jedoch nicht, immer alles von sich zu geben, was man denkt, sondern das, was jemand sagt, muss ehrlich gemeint sein. Fairness und Gerechtigkeit: Dies sind Werte, die ganz erheblich zu
Fair handeln
einem gesunden Klima beitragen, nicht nur im Arbeitsleben, sondern überall, wo Menschen miteinander zu tun haben. Fairness definiert einen wechselseitigen Umgang miteinander und kann schon fast als eine Vereinbarung gelten, wie man am Arbeitsplatz miteinander umgehen möchte. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, fair behandelt zu werden, sind sie auch eher bereit, ihren Teil und manchmal auch darüber hinaus zum Erfolg des Betriebes und des Unternehmens beizutragen. Transparenz: Sie gewährleistet, dass grundsätzlich für alle klar und nachvollziehbar ist, worum es geht, wer mit wem welche Vereinbarung getroffen hat, welche Ziele verfolgt werden und welche Anforderungen gestellt werden. Für Menschen in psychischen Krisen
Klar und nachvollziehbar
100
Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
ist es ganz besonders wichtig, dass nichts hinter ihrem Rücken ausgehandelt und besprochen wird. Beziehungsabbrüche schaden
Beständigkeit: Grundsätzlich ist eine vertrauensvolle MitarbeiterVorgesetzten-Beziehung auf einen längeren Zeitraum angelegt und kann sich auch so erst aufbauen und ihre positive Wirkung entfalten. Viele Wechsel und somit auch Beziehungsabbrüche der Führungskräfte können dem Klima und der Leistungsfähigkeit eher schaden.
Vereinbarungen einhalten
Verlässlichkeit: Sie ist für Menschen nach psychischen Krisen ein ganz besonders wichtiger Wert und um z. B. nach Phasen starker Verunsicherung wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Verlässlichkeit meint, sich an gemeinsame Vereinbarungen, Ansagen und Zusagen zu halten und einander eben nicht zu verlassen.
6
> Werte entfalten ihre Wirksamkeit nur, wenn sie im täglichen Handeln gelebt werden.
Innere Balance
Eine Vertrauensperson oder auch Ansprechpartner für seine Mitarbeiter zu sein, ist eine ganz zentrale Führungsaufgabe. Wie dies gelingt, hängt einerseits von dem Vertrauen ab, das den Mitarbeitern entgegengebracht wird, andererseits auch von der inneren Haltung der Führungskraft, die durch Wohlwollen und eine menschenfreundliche Einstellung und eher humane Werte zum Ausdruck kommt. Das klingt anspruchsvoll und ist es auch. Es verlangt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und Reflektion des eigenen Handelns. Und es bedarf einer inneren Balance, die es immer wieder herzustellen gilt. Innere Balance schafft eine wichtige Grundlage für eine menschenfreundliche Haltung. Sie geht oft im Alltag durch Druck, Belastung und Hektik verloren. Und sie will gepflegt und immer wieder hergestellt werden. Wer seine innere Balance und Haltung wiederfinden und pflegen will, benötigt Zeit und Abstand, um sich wieder inneren Freiraum zu schaffen. Darauf kommen wir noch im Kapitel »Die gesunde Führungskraft« zu sprechen (7 Kapitel 11).
6.3.3
Die Grenzen
Eine Führungskraft ist kein Sozialarbeiter, kein Arzt, auch kein Therapeut und auch kein Übermensch, der sich um alle Belange und psychischen Probleme seiner Mitarbeiter kümmern kann. Er ist vielmehr die erste Anlaufstelle, derjenige, der Fehlentwicklungen, Leistungsminderungen und Veränderungen zuerst erkennt und bemerkt und dessen Aufgabe es ist, eine Korrektur einzuleiten, indem er den betroffenen Mitarbeiter anspricht. Bei allen Fragen und Problemen, die die Führungskraft überfrachten und überfordern, ist es gut, eine Grenze zu setzen und an einen Experten zu verweisen.
6.3 • Vertrauensperson und Ansprechpartner
Es ist keine Schande, wenn eine Führungskraft ehrlich zu seinen Mitarbeitern sagt: »Dabei kann ich dir nicht weiterhelfen, aber ich hätte eine Idee, an wen du dich wenden kannst.« Manchmal kommt das Gefühl der Überforderung aus dem eigenen starken Wunsch, zwar helfen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie das möglich wäre. Eine direkte Hilfe ist dabei oft auch gar nicht gefragt. Da genügt es oft schon, ein offenes Ohr zu haben, Anteil zu nehmen oder einfach nur da zu sein. Es gibt aber auch Mitarbeiter, die mit ihrer Unsicherheit, Ängstlichkeit und Hilflosigkeit an die Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft der Vorgesetzten appellieren. Da ist es nicht immer sinnvoll, Hilfe anzubieten, weil sie auf diese Weise auch lernen können, dass Hilflosigkeit zum Erfolg führt. Dieses Verhalten wird manchmal auch »gelernte Hilflosigkeit« genannt. Schwingt bei einem Mitarbeiter mit: »Ach weh, ich bin so arm und hilflos und klein, ohne die Hilfe meines Vorgesetzten würde ich untergehen«, muss man vorsichtig sein. Schwimmen lernt eine Person mit einer solchen Grundhaltung jedenfalls nicht, wenn man ihr hilft. Bei diesen Mitarbeitern ist es erlaubt, auch wenn sie noch so hilfsbedürftig wirken, Grenzen zu setzten und sie zu ermuntern, eigene Schritte zu gehen und Eigenverantwortung zu entwickeln. In der Regel kennt die Führungskraft ihre Mitarbeiter mit ihren Stärken und Schwächen und kann übertriebene »gelernte« Hilflosigkeit von notwendigem Unterstützungsbedarf unterscheiden. Wenn Sie unsicher sind, achten Sie darauf, wie sie selber auf diese Mitarbeiter reagieren. Manchmal machen uns die unsicheren, ängstlichen Mitarbeiter innerlich ungeduldig und aggressiv. Nehmen Sie dies als innerliches Signal, das es für Sie an dieser Stelle besser ist, eine Grenze zu ziehen und freundlich und bestimmt Abstand zu nehmen, um sich innerlich wieder auszubalancieren.
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6
Sie müssen nicht alles können.
»Gelernte Hilflosigkeit«
> Auch wenn Sie die Vertrauensperson für Ihre Mitarbeiter sind und für sie Ansprechpartner sein wollen, haben Sie Ihre Grenzen, die durch den Rahmen am Arbeitsplatz, Ihre Rolle und Ihre persönlichen Möglichkeiten bestimmt werden.
Wir haben in diesem Abschnitt einige Aspekte angerissen, die meiner Meinung nach wichtig sind, um eine gute und vertrauensvolle Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter entstehen zu lassen. Wichtig ist mir dabei, zu betonen, dass Führungsaufgaben nur im Rahmen von Beziehungen wahrgenommen werden können und dass eine ganz wichtige Führungsaufgabe eben auch ist, diese Beziehungen zu gestalten. Zur Beziehungsgestaltung gehören auch das »Nein-Sagen« und die Abgrenzung, um die eigenen Grenzen deutlich zu machen. Es geht hier bei den Grenzen nicht um die Ablehnung des Mitarbeiters als Person, sondern um die persönliche Grenze der Führungskraft. Wenn Abgrenzung so vermittelt wird, kann sie auch für die Mitarbeiter eine wichtige Vorbildfunktion haben.
Grenzen setzen
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
Ein »Nein« ist keine Katastrophe
Viele Menschen tun sich schwer, Grenzen zu setzen, und geraten so häufig in einen Strudel von Überforderung, weil sie nicht gelernt haben, dass ein »Nein« keine persönliche Katastrophe auslöst. Wenn die Führungskraft als wichtiges Vorbild durch ihr eigenes Verhalten quasi die Erlaubnis erteilt sagen zu dürfen: »Das wird mir jetzt zu viel« oder Ähnliches, dann leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Prävention psychischer Krisen.
6.4
6 Ressourcen für gute Arbeit
Direkte und unkomplizierte Kommunikation
Was brauchen die Mitarbeiter?
Eine kluge Führungskraft fragt ihre Mitarbeiter danach, was sie brauchen, um gut arbeiten zu können. Diese Frage könnten Sie auch für sich beantworten, wenn Sie sich vorstellen, Ihr Vorgesetzter stellt Ihnen diese Frage. Für mich sind vier Punkte ganz wesentlich: 5 Vertrauen und Handlungsspielräume, 5 einen guten Informationsfluss bzw. Kommunikation und Feedback, 5 Unterstützung und Förderung der Mitarbeiterpotenziale durch die Führungskraft, 5 als Mensch wahrgenommen werden, Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren (Pinnow, 2009; Badura, Schröder, Klose, Macco, 2010; Paridon et al., 2004, Joiko et al., 2008, Fuchs, 2006). Auf welche Punkte kommen Sie? Finden Sie sich in diesen vier Punkten wieder und haben sie vielleicht auch Ergänzungen? Ein gesundes Maß an Vertrauen erlaubt auch dem Mitarbeiter Verantwortung und Handlungsspielräume. Damit sind schon gute Bedingungen für die Leistungsbereitschaft des Mitarbeiters gegeben. Handlungsspielraum gilt als eine ganz starke Ressource am Arbeitsplatz. Ein guter Informationsfluss alle wichtigen Vorgänge, Pläne und Unternehmensentscheidungen betreffend ermöglicht dem Mitarbeiter, Entscheidungen zu verstehen, nachzuvollziehen und sich zu beteiligen. Auf diese Weise können Mitarbeiter viele Unternehmerentscheidungen, Sparmaßnahmen und Veränderungsprozesse mittragen, wenn sie das Vertrauen haben können, dass sich die Entwicklung, Schritte, Maßnahmen und Pläne nicht langfristig zu ihren Ungunsten auswirken. So sind z. B. Sparpläne schon von vielen Belegschaften getragen worden, wenn sie genau wussten, wie es um den Betrieb steht und welchen Beitrag sie zum Bestand und Erhalt des Betriebes leisten können. Bei einem zu geringen Informationsfluss, bei dem nur Entscheidungen weitergegeben werden, tun sich die Mitarbeiter weitaus schwerer, Sparpläne mitzutragen, ohne dass sie das Gefühl beschleicht, vom Unternehmen »übers Ohr gehauen« zu werden. Dann fallen Sätze wie: »Das hören wir schon seit Jahren, das Lied
6.4 • Was brauchen die Mitarbeiter?
vom Sparen, und bisher haben wir den Eindruck, dass immer nur bei uns gespart wurde, jedes Jahr aufs Neue.« Der gute Informationsfluss kann auch schon bei kleineren Vorhaben den Mitarbeitern vermitteln, dass sie mit einbezogen werden. Nicht nur der Informationsfluss sondern auch die regelmäßige und möglichst auch unkomplizierte Kommunikation zwischen der Führungskraft und dem Mitarbeiter ist das Band und die Verbindung zwischen Mitarbeiter und Unternehmen Lebendige Kommunikationsprozesse fördern die Rückmeldung und erleichtern es auch, über schwierigere Themen miteinander ins Gespräch zu kommen, ohne Angst vor unliebsamen Konsequenzen haben zu müssen. Eine weitere Führungsaufgabe ist es, die Potenziale der Mitarbeiter zu erkennen und die Mitarbeiter entsprechend ihren Fähigkeiten und Stärken einzusetzen und zu fördern. Meine Erfahrung ist, wenn ein Mitarbeiter seinen Platz gefunden hat, der seinen Fähigkeiten entspricht und dann auch noch in das soziale Umfeld seines Arbeitsplatzes hineinpasst, dann haben Sie einen leistungsbereiten, hochmotivierten Mitarbeiter, der Spaß an seiner Arbeit hat, einen Sinn in seiner Arbeit sieht und täglich in seinen Arbeitsergebnissen Freude und Bestätigung erlebt. Einander wahrzunehmen und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen, wenn es z. B. um die Entwicklung und Förderung von Potenzialen geht, trägt auch zur Weiterentwicklung der Identität bei. Die Führungskraft sieht in ihrem Mitarbeiter Potenziale, die der Mitarbeiter möglicherweise an sich bisher noch nicht entdecken konnte, weil dazu die Außensicht nötig war. So hilft die Sicht der Führungskraft dabei, den eigenen Blick auf die eigene Person zu lenken. Arbeit kann auf diese Weise dazu beitragen, sich neu wahrzunehmen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Das ist genau das, was viele Menschen antreibt und was nie aufhört: Der Wunsch sich weiterzuentwickeln. In einer Umfrage der Akademie für Wirtschaft (2004) wurde die Frage untersucht, welche Eigenschaften eine Führungskraft braucht, wenn sie ihre Mitarbeiter motivieren will Es wurden folgende Eigenschaften am häufigsten genannt: 5 Wahrhaftigkeit und Authentizität (92%), 5 souveräner Umgang mit Konflikten (86%), 5 Begeisterungsfähigkeit (84%), 5 Einfühlungsvermögen 61% (Pinnow 2009, S. 120).
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6
Feedback als Entwicklungschance
Eigenschaften von Führungskräften, die Mitarbeiter motivieren können
Aus den Ergebnissen der Umfrage wird ganz deutlich, dass es vor allem um ganz persönliche Qualitäten und nicht um Führungstechniken geht. z
Wahrhaftigkeit und Authentizität
Hinter Begriffen wie Wahrhaftigkeit und Authentizität steckt der Wunsch nach einer offenen und ehrlichen Kommunikation, in der auch die Führungskraft als Mensch erkennbar ist. Authentisch sein bedeutet, mit sich im Einklang zu sein und die eigene innere Über-
Stimmig sein
104
Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
zeugung in Handeln umsetzen zu können. Insbesondere die empfindsamen Mitarbeiter haben feine Antennen für Unstimmigkeiten und sind dann stark verunsichert, wenn sie merken, dass die Führungskraft ihnen etwas vormacht. Authentisch sein bedeutet: sagen, was ich denke, ausdrücken, was ich fühle, meinen, was ich sage, mit sich und seinen Wertvorstellungen, Gedanken und Gefühlen stimmig sein. Das ist insgesamt ein hoher Anspruch, weil Authentizität auch verlangt, mit sich selber ehrlich zu sein und sich nichts vorzumachen. Wer authentisch sein kann, wird das als enorme Erleichterung empfinden für sich selbst und im Kontakt mit anderen. z
Souveränitat im Umgang mit Konflikten
Konflikte gehören zum Leben dazu und können natürlich auch an jedem Arbeitsplatz vorkommen. Konflikte entstehen aus ganz gegensätzlichen Interessen von einzelnen Mitarbeitern oder Gruppen untereinander innerhalb des Betriebes und können je nachdem, wie sie ausgetragen werden, nützliche oder auch schädliche Auswirkungen haben. Sie entstehen z. B. im betrieblichen Alltag, 5 wenn Mitarbeiter arbeitsteilig arbeiten und aufeinander angewiesen sind, 5 wenn die Ressourcen oder Mittel knapp sind und um deren Verteilung gerungen werden muss, 5 wenn es unterschiedliche Werte, Ziele, Interessen oder Anrechte auf Macht und Status gibt, 5 wenn sich Konflikte aus der Aufgabe und Rolle im Betrieb ergeben, z. B. die Ausübung von Kontrollfunktionen.
6
Eine hilfreiche Einstellung für die Konfliktlösung ist eine kooperative Haltung. So kann eine Lösung erdacht werden, die für alle befriedigend ist (Win-win-Strategie). Folgendermaßen kann eine Führungskraft möglichen Konflikten vorbeugen: 5 klare Zuständigkeiten festlegen, 5 klare Regelungen schaffen, 5 für einen schnellen und transparenten Informationsfluss sorgen, 5 eine gemeinsame Zielsetzung erarbeiten, die von allen getragen wird, 5 Zusammenarbeit fördern, 5 auf den Menschen und damit auch auf die Beziehungsebene achten und nicht nur an der Sachebene bleiben. Konflikte sind Energieräuber Mit innerer Distanz souverän bleiben
Konflikte können wahre »Energieräuber« sein und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter stark beeinträchtigen. Ein souveräner Umgang mit Konflikten ist ein hohes Ziel, das nur gemeinsam von Mitarbeitern und Führungskräften erreicht werden kann. Am besten lässt es sich in einem Klima des Vertrauens entwickeln. Es bedeutet einerseits, dass Konflikte als »zum Arbeitsleben gehörig« zu bewerten sind, die unterm Teppich einfach nichts zu suchen haben, und Konflikte als Chance zur Problemlösung zu betrachten.
6.4 • Was brauchen die Mitarbeiter?
105
6
Souveränität braucht innere Distanz der Führungskräfte zum konflikthaften Geschehen und den Mut, auch unangenehme Dinge auszusprechen. Souveränität braucht persönliche Festigkeit, so dass auch heftige Ausbrüche als Ausdruck innerer Konflikte betrachtet werden können und die Führungskraft sich nicht immer persönlich angegriffen fühlt oder sich verwickeln lässt. Das ist nicht immer leicht und mancher Mitarbeiter schafft es, auch die ruhigste und gelassenste Führungskraft innerlich zum Glühen zu bringen. Mit Souveränität schafft man es, sich nicht verwickeln zu lassen und die eigene Gefühlslage wieder innerlich auszubalancieren. z
Begeisterungsfähigkeit
Der Wunsch nach Begeisterungsfähigkeit spricht für sich und zielt zuletzt auf die Führungsqualität des Urbildes des Lehrers, der Begeisterung lebt und seine Mitarbeiter mitnehmen, besser noch: mitreißen kann. Begeisterungsfähigkeit erleichtert es, Menschen für ein Ziel, ein Projekt, eine Aufgabe oder auch für Veränderungen zu gewinnen. Mit Begeisterung vermittelt sich auch oft ein Zutrauen zu dem Mitarbeiter, dem Team, der Abteilung oder für die neue Aufgabe. Es ist hier wieder die emotionale Ebene angesprochen. Der Mitarbeiter möchte begeistert, also mit frischem neuem Geist angesprochen und erreicht werden. z
Frischen Geist und Zutrauen vermitteln
Einfühlungsvermögen
Einfühlungsvermögen setzt die Fähigkeit voraus, sich in sich selber und in andere hineinversetzen zu können, um deren Gefühlslagen zu erfassen. Dies ist nicht immer einfach, fördert jedoch in der Zusammenarbeit das Gefühl der Zugehörigkeit und des Angenommenseins im Sinne von »Ich werde als Mensch wahrgenommen. Es geht hier also auch um mich, als Mensch, und nicht ausschließlich um mich als Kostenfaktor.« Einfühlungsvermögen ist eine der zentralen Persönlichkeitsmerkmale oder Fähigkeiten, die für eine Führungsaufgabe unverzichtbar sind. Es ist immer hilfreich, wenn eine Führungskraft sich in andere hineinversetzen kann. Neben dem Erfassen: »Wie geht es wohl meinem Gegenüber?« wird auch ein Perspektivenwechsel vollzogen. »Ich schaue mit den Augen des anderen, aus seiner Perspektive.« Manchmal kann es dazu auch hilfreich sein, real einen anderen Platz einzunehmen oder sich vorzustellen »einen anderen Hut« aufzusetzen, um sich den inneren Platz- und Perspektivenwechsel zu erleichtern. Ich werde dieses Thema unter dem Kapitel »Gespräch mit dem Mitarbeiter« wieder aufgreifen, wenn es um die Vorbereitung auf das Mitarbeitergespräch geht (7 Abschn. 7.3.2). Einfühlungsvermögen hat für mein Empfinden viel mit der Bereitschaft zu tun, sich auf das Gegenüber einzulassen und neugierig und aufgeschlossen zu sein für einen Perspektivenwechsel. »Was mag in meinem Gegenüber wohl vorgehen?« Einfühlungsvermögen braucht Zeit und Ruhe. Einfühlsam zu sein mit einem Mitarbeiter geht nicht mal so eben auf die Schnelle, ein Innehalten, eine kurze Pause muss schon sein.
Innerer Perspektivenwechsel
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
z
Die Führungskraft ist ein bedeutsamer Mensch für die Mitarbeiter
6
6.5 Demotivierendes Führungsverhalten
Einladung zum Gedankenspiel
Fazit
Alle diese genannten Qualitäten sind orientiert auf die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter und machen anschaulich, wie wichtig es ist, dass Mitarbeiter und Führungskraft sich in ihren jeweiligen Rollen auch als Menschen begegnen. Führungsarbeit ist zu einem ganz wesentlichen Teil die Gestaltung und Pflege von Beziehungen, behalten Sie daher bitte immer im Bewusstsein, dass die Führungskraft ein bedeutsamer Mensch im Leben des Mitarbeiters ist, der viele tiefe und mächtige Gefühle im Mitarbeiter zum Klingen bringen kann. Stabile, tragfähige und vertrauensvolle Beziehungen sind im Grunde genommen der Motor betrieblichen Geschehens. Fühlen Mitarbeiter sich angenommen und wertgeschätzt, trägt dies ganz wesentlich zu ihrem Wohlbefinden am Arbeitsplatz und somit auch zu deren Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei. Das wird Ihnen als Führungskraft auch nicht anders gehen als Ihren Mitarbeitern.
Was Mitarbeiter nicht brauchen
In den letzten Kapiteln habe ich einiges zusammengetragen zu den Fragen: Wie entsteht eine vertrauensvolle Beziehung? Was braucht die Führungskraft, um eine vertrauensvolle Beziehung zum Mitarbeiter zu entwickeln und was brauchen die Mitarbeiter von ihrer Führungskraft, um emotional engagiert und leistungsbereit zu sein und gerne und mit Freude zu arbeiten? In diesem Kapitel geht es hingegen um demotivierendes Führungsverhalten, d. h. wir kommen zu den Fragen: Was brauchen die Mitarbeiter überhaupt nicht? Welches Führungsverhalten demotiviert, führt zu Verletzungen, innerem Rückzug oder gar zu psychischen Fehlbelastungen und Störungen? Hierzu möchte ich Sie zu einem kleinen Gedankenspiel einladen. Nennen Sie zehn Punkte, die eine total schlechte Führungskraft auszeichnen. Na, ist Ihnen dazu etwas eingefallen? Haben Sie eigene Erfahrungen aus Ihrer Berufsbiographie mit Ihren früheren Vorgesetzten? Vorab zeigen einige Zahlen, wie es in den Betrieben um dieses Thema bestellt ist. In der IGA-Studie, die ich bereits in Kapitel 3 herangezogen habe, nannten 78,3% der Befragten schlechtes Führungsverhalten und 57,6% Konflikte am Arbeitsplatz als Risikofaktoren für psychische Fehlbelastung. Die Gallup-Studie eines Marktforschungsinstituts, die emotionales Engagement von Mitarbeitern als ausschlaggebenden Faktor für die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter ansieht, liefert 2004 folgende Ergebnisse in einer Untersuchung für die deutsche Wirtschaft: 5 87% fühlen sich ihrem Arbeitgeber nicht mehr richtig verpflichtet, 5 69% machen Dienst nach Vorschrift und 5 18% haben innerlich bereits gekündigt.
6.5 • Was Mitarbeiter nicht brauchen
Auch das Marktforschungsinstitut sieht als Ursache für diese Ergebnisse nicht die Mitarbeiter, sondern schlechte Führung (Pinnow, 2009, S. 122). Welches Führungsverhalten bzw. welche Erfahrung von Führung ist es nun, was Mitarbeiter demotiviert, den inneren Rückzug antreten lässt, Unlustgefühle bis hin zu körperlichen Beschwerden und psychischen Störungen als Reaktionsmuster entwickeln lässt? Ich habe hier einige Verhaltensweisen zusammengetragen. Diese Auflistung soll Fehlverhalten, Kränkungen und Verletzungen vermeiden helfen, sensibilisieren und aufmerksam machen. Und diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Daniel F. Pinnow von der Akademie der Wirtschaft hat folgende Demotivatoren benannt: 5 Ungleichbehandlung durch die Führungskräfte, 5 mangelnde Fairness, 5 mangelnde Gelassenheit, 5 Launenhaftigkeit und 5 Inkompetenz der Führungskräfte (Pinnow, 2009, S.125).
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6
87% fühlen sich dem Arbeitgeber nicht mehr richtig verpflichtet
Demotivatoren. (Inhaltliche Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von D. F. Pinnow.)
z
Ungleichbehandlung, mangelnde Fairness und Ungerechtigkeit Besonders schwerwiegend sind dabei Ungleichbehandlung und mangelnde Fairness sowie Ungerechtigkeit in jeder Form, weil sie
die Mitarbeiter im Kern ihrer Persönlichkeit und ihrer Würde treffen. Aus der Sicht der Mitarbeiter ist eine Ungleichbehandlung dabei schneller erreicht, als sich manche Führungskraft denken mag. So führen bereits scheinbar belanglose Ereignisse wie z. B. Unterschiede im Duzen und Siezen, Freundschaften mit Untergebenen oder Bevorzugung einiger Kollegen zu Verstörungen im Kollegenkreis. Nicht immer lassen sich solche Dinge verhindern, doch sollte eine Führungskraft diese Kräfte bewusst machen und versuchen, dafür einen Ausgleich zu schaffen bzw. es offen zu kommunizieren. Der Wunsch nach Gerechtigkeit und Fairness ist in allen Menschen tief verwurzelt. Sich ungerecht behandelt zu fühlen, führt schon in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, im Grunde genommen von Beginn an immer wieder zu Kränkungen und Streit. Vielleicht erinnern Sie sich selber an eine frühe Situation, bei der Sie sich ungerecht behandelt gefühlt haben oder wo eines der Geschwister vorgezogen wurde, Sie sich in der Schule ungerecht benotet gefühlt haben. Welche Situation kommt Ihnen in den Sinn und wie haben Sie sich damals gefühlt? Erinnern Sie sich an die Empörung, den inneren Aufruhr, das Verletztsein? Ich selber habe nach der Schulzeit meinen alten Mathematiklehrer über Jahre immer wieder angesprochen, weil ich mich von ihm ungerecht benotet gefühlt habe. Erst als er nach vielen Jahren irgendwann – da war er schon pensioniert und ich schon am Ende meines Studiums – zu mir sagte: »Ja Ina, auch als Lehrer macht man mal Fehler«, da hatte meine liebe Seele Ruhe. Also im Prinzip hat sich bis zum Erwachsenenalter an dieser Gefühlslage
Ungerechtigkeit kann passieren …
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Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
… und kann tiefe Gefühle auslösen
nichts geändert. Wir empfinden genauso, wir können vielleicht nur als Erwachsene mit unserem Verstand das Gefühl etwas relativieren. Weil Ungleichbehandlung, mangelnde Fairness und Ungerechtigkeit tiefe alte Gefühle mobilisieren, ist es so wichtig, sorgsam zu sein. Wenn es dann doch mal geschieht, dass jemand ungerecht behandelt wird (das lässt sich natürlich nicht immer vermeiden) ist es für den betroffenen Mitarbeiter wichtig, dass Sie darauf reagieren, wenn Sie es mitbekommen. Sonst ergeht es dem Mitarbeiter vielleicht so wie mir mit meinem alten Mathematiklehrer. Es bleibt ein Gefühl, das nagt oder über Jahre wurmt. z
Schwächen sind menschlich
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Im Gespräch darüber bleiben
Ungünstiges Führungsverhalten hat Auswirkungen.
Mangelnde Gelassenheit und Launenhaftigkeit
Auch durch mangelnde Gelassenheit und Launenhaftigkeit der Führungskräfte kommt es immer wieder zu Irritationen – insbesondere, wenn sich die Mitarbeiter den Launen und Gefühlen der Führungskraft ausgeliefert fühlen. Es geschieht durchaus im prall gefüllten Arbeitstag, vielleicht auch noch mit familiären Problemen im Hintergrund oder besonderen Anforderungen, dass eine Führungskraft aus der inneren Balance gerät und ihre Gefühlslage und den Umgangston nicht mehr so ganz unter Kontrolle hat. Das kann jedem passieren und ist nicht weiter schlimm, wenn Sie den betroffenen Mitarbeiter ansprechen und kurz etwas dazu sagen. Das kann z. B. sein: » Es tut mir Leid, ich habe gerade so viel um die Ohren« oder »Ich habe neben der Arbeit noch andere Sorgen.« So geben Sie sich als Mensch zu erkennen und Ihnen werden menschliche Schwächen auch nachgesehen und verziehen. Führungskräfte, denen es dauerhaft nicht gelingt, ihre innere Balance zu finden bzw. wieder herzustellen, wären mit einer Unterstützung durch einen Coach gut beraten. Langfristig kann die »Launenhaftigkeit und mangelnde Gelassenheit« eines Vorgesetzten für die Mitarbeiter zu einer starken Belastungsprobe werden, die ihnen viel Energie abzieht und ihre Leistungsfähigkeit und Einsatzfreude bremst. Selbst wenn die Hierarchien flacher werden und die Führungsstile partnerschaftlicher, vom Gefühl des Mitarbeiters aus betrachtet, wird das Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter doch oft eher noch als Abhängigkeitsverhältnis wahrgenommen. Dieses Gefühl der Abhängigkeit wird durch Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und Gefühlsausbrüchen negativ verstärkt. Nun mögen Sie denken »Ja, was mache ich denn, ich bin nun mal ein impulsiver Typ.« Abgemildert werden kann die Auswirkung dessen allein durch das Gespräch von Mensch zu Mensch, bei dem die Führungskraft versuchen kann, bei dem Mitarbeiter um Verständnis zu werben. Es gibt leider immer neben den vielen gut geschulten und ausgebildeten Führungskräften diejenigen, die durch unaufmerksame Einstellungspolitik und Führung an Arbeitsplätzen landen, bei denen die Passung zwischen Anforderungsprofil und Fähigkeiten des Stelleninhabers nicht gut ist. So können Menschen in Führungspositio-
6.5 • Was Mitarbeiter nicht brauchen
109
6
nen geraten und werden ihren Aufgaben sowohl fachlich, als auch menschlich nicht gerecht. Oft werden auch Gelegenheiten zur Überprüfung und Maßnahmen zur Qualifizierung und Personalentwicklung nicht genutzt. Das ist bedauerlich, denn die Auswirkungen von ungünstigem Führungsverhalten auf die Mitarbeiterschaft und auf ihr emotionales und leistungsmäßiges Engagement sind beträchtlich, wie z. B. die Ergebnisse der Gallup-Umfrage zeigen. »Alle bekommen Fortbildungen angeboten, nur ich werde nicht mehr gefragt. Und das, obwohl ich das Thema schon mehrfach angesprochen habe«, sagte mir ein schwer gekränkter und kranker Mitarbeiter eines Betriebs, als wir darüber sprachen, ob es auch betriebliche Gründe geben könnte, die zu seiner Erkrankung geführt haben könnten. Er fühlte sich von seiner Führungskraft missachtet und von Personalentwicklungen ausgeschlossen. Eine Äußerung, die ich an anderer Stelle hörte: »Wie soll ich mit meiner Führungskraft über kollegiale Probleme sprechen, wenn sie mit meiner direkten Kollegin in den Urlaub fährt?«
z
Weitere Demotivatoren
Weitere wichtige Demotivatoren, die im Laufe meiner Beratungstätigkeit deutlich geworden sind, will ich hier auflisten; sie sind den oben genannten Oberbegriffen teilweise zuzuordnen: 5 mangelnde Transparenz von Entscheidungen und Maßnahmen und mangelnde Möglichkeiten der Mitgestaltung; 5 lückenhafte und unzureichende Informationspolitik sowie unklare Kommunikation; 5 unsachliche, persönliche, eher übergriffige Kritik, wie persönliche Beleidigung, Bedrohung, Herabwürdigung, Bloßstellen, Entwürdigung; 5 mangelnde Integrität des Vorgesetzten und Indiskretion von persönlichen Informationen; 5 übermäßiges Misstrauen und Kontrolle sowie mangelndes Vertrauen in und Zutrauen im Hinblick auf die Mitarbeiterschaft; 5 Zynismus, Kaltschnäuzigkeit und Arroganz in der Personalführung; 5 die Führungskraft ist im Mitarbeitergespräch nicht bei der Sache; Mitarbeiter werden nicht angehört und bekommen auf Fragen keine Antworten; 5 nicht eingehaltene Vereinbarungen; 5 die Führungskraft nimmt ihre Rolle nicht wahr oder missachtet ihre Vorbildfunktion; 5 mangelnder Respekt und fehlende Achtung.
Demotivierendes Führungsverhalten
110
Kapitel 6 • Die Rolle der Führungskraft oder: Gibt es gesundheitsförderliche Führung?
z
Wenn die menschenfreundliche Haltung verloren geht
6
Fazit
Viele der psychischen Belastungsfaktoren rühren aus schlechtem Führungsverhalten her. Allen beschriebenen Verhaltensweisen ist gemeinsam, dass die innere Haltung, aus der heraus eine Führungskraft seine Mitarbeiter nicht ausreichend informiert, nicht unterstützt, sondern herabwürdigt, missachtet, nicht als wohlwollend und menschenfreundlich zu beschreiben ist. Eine eher nachlässige und im schlimmsten Fall menschenverachtende Einstellung wird von den Mitarbeitern mit feinen Antennen aufgenommen und als kränkend und verletzend bis feindlich wahrgenommen. Besonders problematisch wird es dann, wenn es sich nicht um Einzelfälle handelt, über die kann man reden, sondern wenn das Verhalten eher eine manifeste innere Einstellung der Führungskraft deutlich macht. Andererseits kann natürlich auch eine Einstellungsänderung (vorausgesetzt, es war früher einmal anders) auch ein Hinweis für psychische Fehlbeanspruchung der Führungskraft sein. Übung
Einladung zum Rollentausch
Es hilft, das Gegenüber besser zu verstehen.
Die Technik des Rollenwechsels oder Hutwechsels habe ich ja im Abschnitt »Einfühlungsvermögen« schon einmal beschrieben. Dabei geht es darum, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und nachzuempfinden. Was empfinde ich, wie geht es mir, wenn ich mich an seine Stelle begebe? Also stellen Sie sich vor, Ihre Führungskraft setzt Sie unter Druck, wertet Sie ab, hört Ihnen nicht zu, hält sich nicht an Vereinbarungen oder plaudert persönliche Gesprächsinhalte über Sie aus. Wie würde es Ihnen dabei gehen?
Diese kleine Übung ist immer wieder hilfreich und kann für Sie von großem Nutzen sein und Ihnen Aufschluss darüber geben, was in Ihrem Gegenüber vorgeht und wie er möglicherweise empfinden mag. Wir werden diese Technik auch noch einmal anwenden, wenn es darum geht, den Mitarbeiter auf mögliche Ursachen von beobachteten Verhaltensänderungen anzusprechen. Vielleicht können Sie diese Technik auch gleich ausprobieren und sich jeweils in die beschriebenen Mitarbeiterbeispiele hineinversetzen, die im Folgenden noch einmal beschrieben werden. > Es kommt immer dann zu psychischen Belastungen, Irritationen und Störungen, wenn die Führungskraft…
5 ganz wesentliche Regeln im mitmenschlichen Umgang nicht einhält, 5 die menschenfreundliche Einstellung verliert, 5 von humanen inneren Haltungen und Einstellungen abweicht, 5 ihre Vorbildfunktion vergisst oder 5 nicht beachtet, dass neben der Arbeitsbeziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter immer eine emotionale Beziehung mitschwingt, die gepflegt und geachtet werden muss.
111
6.5 • Was Mitarbeiter nicht brauchen
Einige Fallbeispiele sollen diese Aufzählung ergänzen. Fallbeispiele »Mein psychischer Absturz begann, als ich in der Zeitung eine Ausschreibung meiner eigenen Stelle las. Mich traf dieser Akt wie ein Donnerschlag. Als ich daraufhin meinen Vorgesetzten ansprach, antwortete er mir nur: »Du wolltest dich doch verändern, oder?« Der betroffene Mitarbeiter empfand diesen Akt als vernichtend und hat lange gebraucht, sich davon zu erholen. Fast ebenso dramatisch ist der Fall eines Abteilungsleiters in einer Verwaltung, der feststellen musste, dass seine Abteilung ohne sein Wissen einer Umstrukturierung zum Opfer gefallen war und sein Posten mit Beginn seiner Altersteilzeit neu besetzt worden war, obwohl er diesen Posten noch einige Jahre innehaben würde. So stand er völlig unvorbereitet vor einem Nichts. Ein dritter erzählt: »Ich bin an Depressionen krank geworden, nachdem ich über viele Jahre die Willkür meines Chefs ertragen musste – der Chef war Alkoholiker –, zudem eine Arbeit hatte, die weit unter meiner Qualifikation lag und schlecht bezahlt wurde. Hier fehlten dauerhaft Wertschätzung und Anerkennung auf der ganzen Linie, über einen langen Zeitraum herrschte ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen. Eine Mitarbeiterin, die nach langer Krankheit wieder an ihrem Arbeitsplatz erscheint, findet ihren Namen nicht mehr auf dem Türschild. Das kann als kleine Nachlässigkeit gesehen werden, hat aber ein großes Verletzungspotential.
Positiv ausgedrückt bietet Daniel Pinnow gute Leitsätze dessen, was Führung ausmacht
» Gute, erfolgreiche, wirksame, beziehungsorientierte Führung bedeutet für mich, eine Welt zu gestalten, der andere gerne angehören wollen.(…) Wer führen will (…) muss Menschen achten, mögen, schätzen, respektieren und sie so nehmen, wie sie sind, denn es gibt keine anderen (Pinnow, 2009, S. 245).
«
Zusammenfassung Es lässt sich feststellen, dass alle Spielarten mangelnder Fairness und Ungerechtigkeit sowie Abweichungen von einer menschenfreundlichen Grundeinstellung zum Mitarbeiter sowie die Abkehr von humanen Werten zu Störungen der Beziehung zum Mitarbeiter und zu psychischen Fehlbelastungen führen.
6
113
Das Gespräch mit dem Mitarbeiter 7.1
Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden … – 114
7.1.1 7.1.2
Vier Ebenen einer Botschaft – 115 Vier Ohren des Empfängers – 119
7.2
Wie ist die Ausgangslage? – 122
7.3
Vorbereitung auf das Gespräch – 123
7.3.1 7.3.2 7.3.3
Innere Haltung klären – 123 Direkte Gesprächsvorbereitung – 124 Rahmenbedingungen – 125
7.4
Gesprächsverlauf – 126
7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
Eröffnung – 126 Worum geht es? – 127 Problemlagen und Hintergründe klären – 129 Ziele und Planung der nächsten Schritte – 131 Abschluss – 132
7.5
Was ist, wenn es nicht so läuft? – 132
7
114
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Ein Kommunikationsmodell
7
Dieses Kapitel will Tipps und Informationen geben, die Sie für ein persönliches Gespräch und die Vorbereitung darauf mit dem Mitarbeiter nutzen können. Auch hier hilft uns wieder ein Modell. Dieses Mal ist es ein Modell aus der Kommunikationspsychologie, das von Friedemann Schulz von Thun Anfang der 80er-Jahre entwickelt worden ist (Schulz von Thun, 1981). Das Kommunikationsmodell ist ein sehr erprobtes und anerkanntes Modell für die menschliche Kommunikation. Es zeigt auf sehr einfache und anschauliche Weise, wie Kommunikation funktioniert und wie sie auch gründlich schief gehen kann. Jeder kann sicherlich aus dem eigenen Erfahrungsschatz Beispiele von Missverständnissen, schiefer und schräger Kommunikation beitragen. Vielleicht können Sie beim Weiterlesen auch das eine oder andere Beispiel noch im Sinn behalten. Dieses Kommunikationsmodell beschreibt, auf welchen Ebenen wir uns eigentlich miteinander austauschen, was wir über uns und die Beziehung zwischen uns und unserem Gegenüber ausdrücken – auch wenn wir der Meinung sind, Kommunikation ist eigentlich nur: miteinander reden. Für die Gespräche zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter ist dieses Modell gut anwendbar und kann sogar helfen, sich auf Mitarbeitergespräche gezielt vorzubereiten oder im Nachhinein nachzuvollziehen, wieso es zu Missverständnissen und Konflikten in der Kommunikation gekommen ist. Gespräche zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten sind so gesehen menschliche Kommunikationen, die vielfach freier und einfacher ablaufen könnten, wenn die Beteiligten schon einmal etwas von den vier Seiten einer Botschaft und den vier Ohren eines Empfängers gehört hätten.
7.1
Kuddelmuddel in der Kommunikation vermeiden
Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden …
Friedemann Schulz von Thun hat dieses sehr brauchbare und bewährte Konzept Anfang der 80er-Jahre entwickelt. Er geht von folgender Grundannahme aus: In der Kommunikation zwischen zwei Menschen gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich zu verständigen, sich gründlich misszuverstehen oder aber auch aneinander vorbeizureden. Viele Probleme und Schwierigkeiten, auch im Betrieb, basieren auf zwischenmenschlichen Spannungen und Störungen in der Kommunikation. In einem Mitarbeitergespräch ist es deshalb besonders wichtig, Missverständnisse und inneres Kuddelmuddel bei den Beteiligten möglichst zu vermeiden oder besonders geringzuhalten. So wird sichergestellt, dass das, was man als Vorgesetzter sagen möchte, auch bei meinem Gegenüber, bei meinem Gesprächspartner ankommt. Das Kommunikationsmodell hilft dabei, die Zusammenhänge zu beleuchten (Schulz von Thun, 1981).
7.1.1
7
115
7.1 • Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden …
Vier Ebenen einer Botschaft
BOTSCHAFT
Appell
Selbstoffenbarung
Sachinhalt
In der Kommunikationspsychologie werden die beiden Gesprächspartner Sender und Empfänger genannt, der Sender sendet eine Nachricht an den Empfänger. Dabei hat nach Schulz von Thun jede Nachricht vier Seiten, was auch in einem Kommunikationsquadrat dargestellt werden kann (. Abb. 7.1). 1. Jede Nachricht enthält einen Sachinhalt, eine Sachinformation. 2. Ein weiterer Aspekt ist die Selbstoffenbarung, das bedeutet, in jeder Nachricht steckt auch eine Aussage über den Sender als Person. 3. Jede Nachricht hat zudem eine Beziehungsseite. Hier macht der Sender eine Aussage über seine derzeitige Beziehung zum Empfänger. Das kann er mit Worten, der Wortwahl oder auch mit seinem Tonfall ausdrücken. 4. Die vierte und letzte Seite der Nachricht wird die Appellseite genannt. Sie enthält eine Aufforderung (Appell) an den Empfänger, d. h. die Nachricht will Einfluss nehmen auf den Gesprächspartner und ihn veranlassen, bestimmte Dinge wahrzunehmen, zu tun oder auch zu unterlassen (Schulz von Thun, 1981. Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags.).
Beziehung
. Abb. 7.1 Vier Seiten einer Nachricht. (Aus Schulz von Thun, 1981. Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags.)
Diese vier Aspekte wollen wir noch einmal genauer im beruflichen Kontext beleuchten: z
Sachebene
Die Sachebene vermittelt einen bestimmten Sachverhalt. Auf dieser Ebene werden Informationen, Entscheidungen, Regeln, Argumente ausgetauscht und weitergegeben. Diese Seite kommt im betrieblichen Alltag häufig vor. Wichtig zu wissen ist aber auch, dass in jeder Aussage, die als »reine« Sachinformation gedacht war, immer auch alle Aspekte oder Seiten einer Nachricht stecken. z
Selbstoffenbarungsebene
Hier vermittelt der Sender von sich als Person etwas z. B. über die eigene Befindlichkeit »Ich habe mich geärgert.« Er kann sie auch zur Selbstdarstellung nutzen. »Dem werde ich zeigen, mit wem er es zu tun hat«, es kann eine Einstellung sein, mit der jemand in ein Gespräch geht und die dann auf der Selbstoffenbarungsebene durch Tonfall, Mimik, Gestik, Körperhaltung gezielt und bewusst untermauert wird. Was häufig nicht bedacht wird, ist, dass eine Botschaft auf der Selbstoffenbarungsebene immer auch dann »mitschwingt«, wenn sich der Sender einer Nachricht gar nicht dessen bewusst ist. Eine Selbstoffenbarung kann demnach selten ganz vermieden werden, weil wir immer etwas über uns auch nonverbal vermitteln, z. B. in unserer Körpersprache. Für den Sender ist diese Seite der Nachricht besonders wichtig, wenn er sich fragt: Wie stelle ich mich nach außen dar? Wie will ich von den anderen wahrgenommen werden? Will ich besonders in der Rolle als Führungskraft, als Mensch, als
Reine Sachinformation
116
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Was sage ich über mich?
7
Mann, als Frau wahrgenommen werden? Auf dieser Ebene wird sicherlich auch ein Teil des Selbstverständnisses, der eigenen inneren Haltung, der Haltung gegenüber dem Gesprächspartner und in der Einstellung zum Gesprächsthema transportiert. Die Selbstoffenbarungsebene schwingt immer mit. Sie wird vielfach auch genutzt: Ein Vorgesetzter demonstriert z. B. Macht oder Überlegenheit, wenn er den Mitarbeiter bittet, sich an einen riesigen Schreibtisch zu setzen, und selbst in lässiger Körperhaltung an dessen anderem Ende sitzt. Die Selbstoffenbarung könnte heißen: Ich bin überlegen, ich sage hier wo es lang geht, ich stehe über ihnen. Noch drastischer ist die Situation, wenn ein Gesprächspartner sitzt und der andere steht und ein Gespräch nicht auf Augenhöhe geführt wird. Das führt z. B. im Krankenhaus zwischen Arzt und Patient (der Arzt steht, der Patient liegt) zu einer unguten Machtdemonstration der Ärzte. »Ich weiß, was gut ist. Ich stehe über ihnen.« Eine zwischen Tür und Angel hingeworfene Botschaft an den Mitarbeiter kann auch verstanden werden als: »Ich habe jetzt eigentlich keine Zeit für Sie.« Fallbeispiel 1 Eine Führungskraft steht in der Tür des Mitarbeiters und fragt ob er einen neuen Auftrag übernehmen kann. Der Mitarbeiter schaut den Vorgesetzten an, trägt vor, an welchen Aufgaben er gerade arbeitet, und will damit ausdrücken: Eigentlich habe ich dafür gar keine Kapazitäten mehr. Der Vorgesetzte lächelt ihn freundlich an, dreht sich um und geht. Der Mitarbeiter bleibt irritiert zurück und ist nicht ganz sicher, welche Botschaft er damit auf der Selbstoffenbarungsebene bekommen soll. Ist es: »Ich habe keine Zeit mehr, dir zuzuhören« oder »Ich will es gar nicht wissen« oder »Ich bin genervt durch Gegenargumente, eigentlich interessiert mich das alles gar nicht«?
Fallbeispiel 2 Es besteht ein Interessenkonflikt zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin. Die Mitarbeiterin hat einen Antrag auf eine Fortbildung gestellt. Die Führungskraft hat abgelehnt, will aber noch einmal mit der Mitarbeiterin sprechen. Die Mitarbeiterin ist zurzeit gefühlsmäßig angeschlagen, weil sie in der Arbeit sehr belastet ist. Sie weint, während sie der Führungskraft von den aktuellen Belastungen berichtet. Die Selbstoffenbarung der Mitarbeiterin geht in die Richtung: »Ich bin am Ende mit den Kräften, ich bin traurig, angeschlagen und bedürftig.« Der Vorgesetzte versteht diese Selbstoffenbarungsseite und reagiert darauf. Bietet ihr erst einmal einen Kaffee an. Er möchte ihr etwas Gutes tun und sie unterstützen und er sagt zu, den Antrag auf Fortbildung noch einmal wohlwollend zu prüfen.
Beispiele
Sie sehen, welchen Einfluss die Selbstoffenbarungsebene auf die Kommunikation haben kann, auch wenn das unabsichtlich geschieht. Sie
7.1 • Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden …
117
7
kann auch gezielt eingesetzt werden, um die anderen Ebenen zu unterstützen, z. B. wenn es im Vorstellungsgespräch darum geht, sich als besonders kompetent und positiv zu präsentieren. Ich möchte noch einmal betonen, dass diese Seite immer mitschwingt. Wir werden im Folgenden sehen, wie wichtig es gerade im Mitarbeitergespräch ist, auch diese Seite zu berücksichtigen. z
Beziehungsebene
Auf der Beziehungsebene drückt der Sender etwas über seine Beziehung zu seinem Gesprächspartner aus. Wie sieht er seinen Gesprächspartner? Wie sieht er die Beziehung zu seinem Gegenüber? Diese Ebene ist für den Gesprächspartner, also für den Empfänger der Nachricht, von besonderem Interesse, denn auf dieser erfährt er, was der Sender »von ihm hält«. Im beruflichen Kontext spielen zwei verschiedene Ebenen der Beziehung eine Rolle: die der beruflichen Rollen und der mitmenschlichen Beziehung. Einmal von Führungskraft zu Mitarbeiter und eben auch von Mensch zu Mensch. Nehmen wir als Beispiel unsere kleine Sequenz von der Führungskraft, die im Türrahmen steht und dem Mitarbeiter eine neue Aufgabe antragen will. Er hat eine Frage an den Mitarbeiter, doch ehe der Mitarbeiter seine Antwort zu Ende gesprochen hat, dreht sich der Vorgesetzte freundlich lächelnd um und geht. Was könnte dieses Verhalten jetzt über die Beziehung zum Mitarbeiter aussagen? »Du bist mir nicht wichtig«, »Hauptsache der Auftrag wird bearbeitet« oder »Sie sind ein fähiger Mitarbeiter, Sie schaffen das schon, ich traue Ihnen das zu«? Letztendlich fließt in die Beziehungsebene auch der betriebliche Kontext mit ein und die Gesamtsituation, in die diese kleine Sequenz eingebettet ist. Die Bedeutung der Beziehungsebene ist besonders bei unterschiedlichen kulturellen Hintergründen sorgsam zu bedenken, da sie einfach in anderen Kulturen von noch viel größerer Bedeutung ist. Wir leben in einer Kultur, die sehr durch Individualität geprägt ist. In vielen anderen Kulturen hat das gesamte Beziehungsgefüge eines Menschen eine viel größere Bedeutung und steht mehr im Vordergrund. Da kann es schon einmal vorkommen, dass ein Mitarbeiter auf dem Weg zu einer Besprechung einen alten Schulkameraden trifft, den er lange nicht gesehen hat, es riskiert, zu spät zur Besprechung zu kommen, um mit seinem alten Schulkameraden noch ein wenig zu plaudern. Wie hätte denn wohl ein deutscher Mitarbeiter reagiert? Sehr wahrscheinlich hätte er seinen Freund mit den Sätzen des Bedauerns stehen lassen: »Du, ich habe keine Zeit, tut mir Leid, ich bin auf dem Weg zu einer wichtigen Besprechung.« Die Beziehungen im Betrieb werden stark beeinflusst vom Betriebsklima und den Werten, die im Betrieb gelebt werden und die inneren Haltungen der Mitarbeiter zueinander beeinflussen.
Wie ist die Beziehung?
Andere Kulturen
118
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
> Auf der Beziehungsebene entstehen in der Kommunikation die meisten Verletzungen und Irritationen. Insofern ist die Rollenklarheit und Klarheit der inneren Haltung für diese Beziehungsebene in der Nachricht besonders wichtig. z
Appellebene
Am besten klare Ansagen
Die Appellebene macht deutlich, was der Sender eigentlich vom Empfänger will. Das können Anforderungen, Anordnungen, Aufträge und Wünsche sein. Am einfachsten für den Empfänger ist es, wenn der Sender seine Wünsche klar und deutlich ausdrückt. Im beruflichen Kontext tun sich viele Menschen schwer, sich klar und deutlich auszudrücken, aus Angst den anderen zu verletzen. Ebenso fällt es vielen schwer, klare Ansagen auch zu ertragen. Insofern gibt es in diesem Bereich viele unausgesprochene oder indirekte Botschaften, die die Kommunikation und das Miteinander verkomplizieren und beeinträchtigen. Ich meine, dass im Umgang mit ohnehin innerlich verunsicherten Menschen klare Ansagen am hilfreichsten sind, auch wenn sie manchmal unangenehm sind. Auch wenn wir nicht miteinander sprechen, findet menschliche Kommunikation statt. Es wird dann nicht auf allen Ebenen kommuniziert, doch Botschaften auf der Selbstoffenbarungs- und der Beziehungsebene werden in jedem Fall ausgesendet und können größere oder kleinere Wirkungen entfalten.
Auch wenn wir nicht sprechen …
Der Chef geht morgens bei Arbeitsbeginn über den Flur. Es kommt ihm eine Mitarbeiterin entgegen und er geht grußlos an ihr vorüber. Was sendet er aus? Auf der Selbstoffenbarungsebene könnte es so etwas sein wie: »Ich bin in Gedanken.« Auf der Beziehungsebene könnte seine Botschaft sein: »Sie sind mir nicht wichtig, ich nehme Sie gar nicht wahr.« Oder aber auch: »Sie grüße ich nicht.« Auf der Appellebene könnte sowas rauskommen wie: »Sprechen Sie mich nicht an.«
7
Ein Geschäftsführer hat sich vorgenommen seinen Mitarbeitern mehr Wertschätzung entgegen zu bringen. Wie macht er das? Er entscheidet sich, sich jede Woche ein bis zwei Stunden auf dem Betriebsgelände bei den Mitarbeitern aufzuhalten, durch den Betrieb zu gehen und ansprechbar und da zu sein. Alleine seine Anwesenheit signalisiert den Mitarbeitern auf der Selbstoffenbarungsebene: »Ich bin da und offen für die Begegnung mit den Mitarbeitern.« Auf der Beziehungsebene: »Ich komme zu Ihnen, weil Sie mir wichtig sind.« Auf der Appellebene: »Sie können mich ruhig ansprechen.«
Watzlawick, der große Kommunikationspsychologe, hat dazu einmal gesagt:
7.1 • Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden …
119
7
» Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick & Beaven, 1969). « Also auch bei nichtverbalen Äußerungen kommunizieren wir auf den beschriebenen Ebenen. Das sollten sich insbesondere Führungskräfte und Personalverantwortliche klar machen, denn sie haben im betrieblichen Gefüge für die Mitarbeiter eine besondere Bedeutung und insofern werden die Mitarbeiter auch besonders darauf achten, was die Vorgesetzten ihnen auch auf nichtsprachliche Weise auf diesen Ebenen kommunizieren. Besondere Beachtung sollte das auch noch einmal bei der Vorbereitung auf besondere Gespräche finden. Darauf wird im Folgenden noch einmal eingegangen. Die vier Seiten einer Botschaft stehen nicht im luftleeren Raum, sondern werden durch die Situation mitbestimmt. Schon die Situation, in der menschliche Kommunikation stattfindet, Mitarbeiter und Vorgesetzte miteinander umgehen, einander begegnen oder auch sich im Gespräch befinden, erzeugt Erwartung und beeinflusst die Interpretation der gesendeten Botschaften auf allen vier Ebenen. Der Geschäftsführer möchte Nähe zu seinen Mitarbeitern zeigen, geht durch die Büros, die Hallen, den Betrieb. Das könnte, wenn ein angespanntes Betriebsklima herrscht, auch anders interpretiert werden.
7.1.2
… kommunizieren wir.
Die Situation erzeugt Erwartungen.
Vier Ohren des Empfängers
Nach Schulz von Thun hat nun nicht nur eine Nachricht vier Seiten, sondern auch jeder Empfänger vier Ohren, mit denen er eine Nachricht empfängt: 5 das Sachohr, 5 das Beziehungsohr, 5 das Selbstoffenbarungsohr und 5 das Appellohr.
Mit vier Ohren hören
Mit welchem Ohr der Empfänger schwerpunktmäßig wahrnimmt, entzieht sich leider dem Einfluss des Senders. Es wird aber aus der Reaktion des Empfängers deutlich. z
Sachohr
Das Sachohr hört die Sachseite der Nachricht, es hört den sachlichen Informationsgehalt, die Daten und Fakten, die Tatbestände aus der Nachricht heraus. z
Fakten
Beziehungsohr
Das Beziehungsohr achtet mehr auf den Tonfall, die Zwischentöne, das Zwischenmenschliche und will wissen, wie der Sender zum
Die Zwischentöne
120
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Empfänger steht, fragt sich, was hält er von mir? Der Empfänger, der schwerpunktmäßig mit dem Beziehungsohr hört, nimmt schnell alles persönlich, fühlt sich als Mensch betroffen in den unterschiedlichsten Gefühlsfacetten, fühlt sich oft angegriffen, schlecht behandelt, oder ist schnell beleidigt. Sie kennen sicherlich alle die Situation in einem Gespräch, in dem der Sender versucht, eine sachliche Kritik anzubringen, und der Empfänger plötzlich aufgebracht äußert: »Aber mit mir nicht in diesem Ton!« z Die Stimmung
7
z Wünsche
Selbstoffenbarungsohr
Das Selbstoffenbarungsohr hört die Stimme, die Stimmung des Senders, und versucht herauszuhören, was mit dem Sender los ist. Geht es dem Chef heute gut? ist er gut gelaunt? ist er gestresst oder gar missmutig? Das geschulte Selbstoffenbarungsohr nimmt auch Tonfall, Gestik, Mimik, Körperhaltung, die persönliche Ausstrahlung und die emotionalen Qualitäten des Senders wahr. Es kann auch helfen, die Wahrnehmung des Beziehungsohres zu relativieren: »Der Chef hat ja heute wieder einen schlechten Tag.« Menschen, mit einem geschulten Selbstoffenbarungsohr sind oft gute Zuhörer, besonders dann, wenn Respekt und Wertschätzung die innere Haltung des Empfängers prägen. Appellohr
Das Appellohr hört Anforderungen und Wünsche des Senders. Ist das Appellohr Schwerpunktohr, kann der Empfänger leicht in die Bredouille geraten, es allen recht machen zu wollen. Andererseits gibt es z. B. im Dienstleistungsbereich viele Menschen, die hauptsächlich mit dem Appellohr hören müssen. z
Fazit
Im Arbeitsalltag überwiegt die sachliche Ebene des Gesprächs, bei Auseinandersetzungen, Konflikten, Kritikgesprächen. Da geht es oft weniger um die Sachebene als um den Beziehungs- und Selbstbekundungsaspekt. Dieses Modell zeigt, wie vielschichtig menschliche Kommunikation ist und wie viele Möglichkeiten sich bieten, sich gut zu verstehen oder einander misszuverstehen (. Abb. 7.2). Oft haben Menschen ein bevorzugtes Empfängerohr. Welches das sein wird, zeigt sich erst im weiteren Verlaufe des Gesprächs. Auch zwischen verschiedenen Kulturen kann es aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägung und verschiedenen Sende- und Empfangsgewohnheiten zu Missverständnissen kommen. Stellen wir uns vor ein deutscher Geschäftsmann möchte eine Kooperation mit einem französischen Geschäftspartner vereinbaren. Der Deutsche ist eher sachorientiert, schickt oder faxt Pläne und Vertragsentwürfe und wundert sich, weshalb sein zukünftiger Geschäftspartner darauf nicht reagiert. Er bekommt schon Zweifel an seinem Vorhaben und denkt, dass sein Partner kein Interesse an einer
7.1 • Ein kommunikationspsychologisches Modell: Wie wir miteinander reden …
Was ist das für einer? Was ist mit ihm?
Wie redet der eigentlich mit mir? Wen glaubt er vor sich zu haben?
121
7
Wie ist der Sachverhalt zu verstehen?
Was soll ich tun, denken, fühlen auf Grund seiner Mitteilung?
. Abb. 7.2 Vier Ohren des Empfängers. (Aus Schulz von Thun, 1981. Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags.)
Zusammenarbeit hat. Der Franzose wiederum ist zunächst an einer persönlichen Begegnung interessiert. Für ihn ist es am besten, seinen zukünftigen Partner bei einem gemeinsamen Essen kennenzulernen, um zu ihm eine persönliche Beziehung zu bekommen, bevor er überhaupt in die Sachdiskussion einsteigt. Wenn wir von dem Wort »Geschäftsbeziehung« ausgehen, dann zeigen sich die Unterschiede ganz deutlich. Bei dem Deutschen liegt der Schwerpunkt auf der Worthälfte »Geschäft« – und er denkt, wenn die Geschäfte laufen, entwickelt sich auch eine Beziehung. Bei dem französischen Partner liegt der Schwerpunkt auf der anderen Worthälfte »Beziehung« und erst dann, wenn für ihn die Beziehung stimmt, kommt er zum Geschäft. Solche kulturellen Unterschiede gibt es wie bei unseren direkten Nachbarn – den Franzosen – in vielen anderen europäischen Ländern und darüber hinaus natürlich auch Ländern mit deutlich anderen Kulturen. Insofern kann es für eine Verständigung mit Menschen aus anderen Kulturen durchaus hilfreich sein, sich über deren Gepflogenheiten zu informieren, um Missverständnisse zu vermeiden. Es gibt inzwischen auch Firmen, die sich auf die Unterstützung interkultureller Dialoge spezialisiert haben und Betrieben ihre Dienstleistungen anbieten. > Menschen, die innerlich verunsichert sind, wie in unserem Fall Menschen mit psychischen Fehlbelastungen oder Störungen, werden voraussichtlich versuchen, herauszuhören, wie sieht mein Gesprächspartner mich und unsere Beziehung? Wie sicher kann ich mich fühlen?
Dieses Kommunikationsmodell, also das Wissen um die Verschiedenheit der Aspekte einer Nachricht, die vier Ohren des Empfängers, kann uns helfen, uns sorgfältig auf Mitarbeitergespräche vorzubereiten und es kann bei der Analyse von Kommunikationsstörungen helfen. Was lief schief? Wo, an welcher Stelle haben wir aneinander vorbei gesprochen? Wo gab es Missverständnisse? Wir werden uns dies bei der Vorbereitung auf ein Mitarbeitergespräch zunutze machen (7 Kap. 7.2).
Und andere Kulturen?
Vorbereitung und Analyse
122
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
7.2 Der Anlass
Hoffentlich merkt es keiner.
7 Was passiert?
Macht der blau?
Wie ist die Ausgangslage?
Kommen wir nun zurück zu dem geplanten Mitarbeitergespräch und stellen uns dabei eine konkrete Situation vor. Der Anlass dieses Gespräches ist die für uns unerklärbare Veränderung eines Mitarbeiters. Wir haben Beobachtungen gemacht, die uns alarmiert haben, seien es Fehlzeiten, Leistungsabfall, sozialer Rückzug, die nun Anlass sind für ein Gespräch mit dem Mitarbeiter. In der Regel sollte es der direkte Vorgesetzte sein, der dieses Gespräch führt. Es kann auch Ausnahmen geben, dazu aber im weiteren Verlauf dieses Kapitels. Vergegenwärtigen wir uns einmal die folgende Situation: Da ist zum einen ein Mitarbeiter, der psychisch fehlbelastet ist und möglicherweise auch schon an sich selber Veränderungen wie Konzentrationsmangel, Fehler, Leistungseinbußen bemerkt hat. Er hofft inständig, dass er dies mit vermehrter Anstrengung wettmachen kann und hat große Angst, dass jemand außer ihm das bemerken könnte. Deshalb hält er sich auch schon von seinen Kollegen fern und meidet die Gespräche mit ihnen. Innere Sätze wie »Hoffentlich merkt es keiner« und bestimmt auch »Ich habe Angst, meine Arbeit zu verlieren, wenn es jemand bemerkt« haben sich längst in seinem Kopf festgesetzt. Der Vorgesetzte sieht seine Kennzahlen, Fehlzeiten, Vorgaben und einen Mitarbeiter, der im Vergleich zu früher oft mal einzelne Tage fehlt, sich zurückgezogen und isoliert hat, mehr Fehler macht als sonst, Ausschuss produziert und langsamer geworden ist. Der Vorgesetzte bekommt eine Ahnung, dass bei diesem Mitarbeiter eine Veränderung voranschreitet, die möglicherweise auf eine psychische Fehlbelastung und später auf eine psychische Störung hinauslaufen könnte. Oder aber der Mitarbeiter ist durch merkwürdiges Verhalten aufgefallen, so dass der Vorgesetzte gleich an eine psychische Störung denken muss. Da ist auf der einen Seite der Druck und die Anforderung an den Vorgesetzten, »Halte die Fehlzeiten in deiner Abteilung gering«, und auf der anderen Seite ein Mitarbeiter, der angesprochen werden muss. Der Vorgesetzte ist unsicher: »Was wird passieren, wenn ich den Mitarbeiter anspreche?« Vielleicht ist er auch innerlich nicht frei von Vorurteilen. Denken Sie einmal darüber nach, ob Ihnen die folgenden Gedanken auch schon einmal durch den Kopf gegangen sind – vor Vorurteilen sind wir alle niemals sicher: 5 Macht da jemand blau? 5 Macht da jemand einen auf Psycho? 5 Fängt der jetzt auch noch an zu spinnen? 5 Habe ich als Vorgesetzter auf Grund meines eigenen inneren Drucks eine innere Abwehrhaltung? 5 Der macht ja blau auf Kosten der Kollegen. 5 Und was denke ich, wenn es sich dabei um einen ausländischen Kollegen handelt, der über vielfältige Beschwerden klagt und dauernd verschiedene Arzttermine wahrnimmt?
7.3 • Vorbereitung auf das Gespräch
123
7
Es ist nicht nötig, dass Sie Ihre Gedanken bewerten. Sie sollten sich diese nur klarmachen, denn sie fließen mit ein. Fassen wir noch einmal die Ausgangslage zusammen. Da ist ein verunsicherter Mitarbeiter, der merkt, dass seine Leistungsfähigkeit nachgelassen hat. Er bemerkt möglicherweise noch verschiedene andere Symptome an sich und hat Angst zu versagen, zusammenzuklappen oder vor allem als »psychisch belastet« entdeckt zu werden, weil er für sich negative Konsequenzen wie Kündigung, Stigmatisierung und weitere Schwierigkeiten mit den Kollegen fürchtet. Da ist eine Führungskraft, die einen Mitarbeiter auf Leistungseinbußen und Verhaltensauffälligkeiten ansprechen will oder muss und befangen ist, weil sie nicht weiß, was in diesem Gespräch auf sie zukommt. Bedenken Sie in jedem Fall bei der Vorbereitung: > Das erste Gespräch mit einem psychisch fehlbelasteten Mitarbeiter ist entscheidend für den weiteren Verlauf.
7.3
Vorbereitung auf das Gespräch
Nachdem wir uns noch einmal die Ausgangslage verdeutlicht haben, ist es wichtig, sich ausführlich und gründlich auf das Gespräch mit dem Mitarbeiter vorzubereiten. Als erster Schritt empfiehlt sich, die eigene innere Haltung zu klären.
7.3.1
Innere Haltung klären
Bevor ich fortfahre, welche Haltung günstig für ein Gespräch ist, möchte ich sie bitten, innezuhalten und darüber noch einmal kurz nachzudenken: Wie ist meine Haltung und Einstellung zu psychischen Störungen, zu »Verrücktsein«, wie viel inneren Abstand habe ich zu diesem Thema? Hilfreich im Gespräch mit psychisch fehlbelasteten Mitarbeitern ist die Annahme, dass dieses Verhalten einer inneren Notlage entsprungen ist und dass das kritische Verhalten das Optimum ist, das der Betroffene in seinem Repertoire hat, mit seiner inneren Notlage, seinem Problem umzugehen. Sein Verhalten ist sein Lösungsversuch. Diese Sichtweise klärt dann auch die Frage, ob einer nicht kann oder nicht will.
Verhalten als Lösungsversuch …
> Ich empfehle grundsätzlich, davon auszugehen, dass der Mitarbeiter zurzeit nicht anders kann, und nicht, dass er nicht will.
Es mag sein, dass der Führungskraft einige schwarze Schafe, die es immer gibt, und die eigentlich auch bekannt sind, durch diese Haltung durch die Lappen gehen. Ich gebe zu bedenken, dass eine grundsätzlich von Misstrauen geprägte Einstellung, »Der kann, aber der will
… und die schwarzen Schafe
124
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
nur nicht«, bei allen anderen Mitarbeitern mehr und länger anhaltenden Flurschaden anrichtet, als wenn die »schwarzen Schafe« etwas später als solche enttarnt werden. Sobald wir uns innerlich eine eher offene und wohlwollende Haltung zum Thema »psychische Störungen« und zu dem Mitarbeiter selbst erarbeitet haben, können wir mit den Vorbereitungen fortfahren.
7.3.2 Um was geht es?
7
Wie geht es mir damit?
Ein Experiment:
Direkte Gesprächsvorbereitung
Hier ist es praktisch, mit dem Modell der vier Seiten einer Nachricht zu arbeiten. Beginnen wir also mit der Sachebene. Welche Verhaltensänderungen und Leistungsmängel sind in der letzten Zeit konkret aufgetaucht? Auf der Sachebene geht es darum, das Verhalten, das sie beobachtet haben, genau zu beschreiben, sachlich möglichst wertfrei ohne Interpretation, Bewertung oder gar diagnostische Zuordnung. Es geht um Daten, Fakten, Fehlzeiten, Unpünktlichkeiten, andere Unregelmäßigkeiten, Fehlerquoten. Sie sollten Angaben sammeln, die die Leistungsminderung und Veränderung verdeutlichen können. Dazu gehören auch die Folgen und Konsequenzen der Leistungsminderung, die die Veränderung auf die Kollegen, auf die Abteilung, im betrieblichen Zusammenhang haben. Was ist die Botschaft auf der Ebene der Selbstkundgabe? Klären Sie für sich die Frage: Wie geht es mir eigentlich mit dieser Situation in meiner Berufsrolle als Vorgesetzter und wie geht es mir als Mensch damit? Gerade mit einem so sensiblen Thema wie »psychische Störung« ist es hilfreich, sich auch als Mensch in der Situation zu zeigen und seiner Sorge Ausdruck zu verleihen, im Sinne von »Ich sorge mich um deine bzw. Ihre Gesundheit und möchte Unterstützung anbieten. Noch weiß ich nicht, was das sein kann. Ich bin interessiert daran, zu erfahren, was los ist.« Die Beziehungsebene ist in diesem Gespräch von besonderer Bedeutung, besonders dann, wenn wir uns noch einmal die Ausgangslage und die Situation des Mitarbeiters ins Gedächtnis rufen und uns vielleicht auch als kleine Übung einmal kurz in seine Lage hineinversetzen. Setzen Sie zur Übung einmal innerlich den Mitarbeiterhut auf und versetzen sich in die Lage Ihres Mitarbeiters. »Ich bin Herr oder Frau X. Mir geht es in letzter Zeit nicht mehr so gut und ich habe an mir bemerkt, dass ich nicht mehr so kann wie vorher. Jetzt will mich mein Vorgesetzter sprechen. Ich habe Angst und weiß nicht: »Was will er von mir? Was kommt da auf mich zu?«
Wenn Sie kurz einmal in Ihren Mitarbeiter auf diese Weise hinein gespürt haben, setzen Sie diesen Hut wieder ab und nehmen die gemachte Erfahrung mit in die Gesprächsvorbereitung hinein.
7.3 • Vorbereitung auf das Gespräch
Die Beziehung ist das Band bzw. die Verbindung zu Ihrem Mitarbeiter. Sie bestimmt letztendlich, wie viele Inhalte von der Sachebene auch bei ihm landen und ankommen. Hilfreich ist, wenn die Beziehung von Wohlwollen, Respekt und Wertschätzung getragen ist und auf diese Weise ein guter Boden besteht für Klarheit und Deutlichkeit. Zuletzt betrachten wir noch die Appellebene: Was ist das Ziel? Was soll am Ende des Gespräches herauskommen? Was wollen Sie erreichen? Das Ziel eines ersten Gespräches kann sein, einen Eindruck zu bekommen, was den Mitarbeiter bedrückt, überfordert, besorgt, kurzum: in Erfahrung bringen, was los ist. Im günstigen Fall kann es zu einer Vereinbarung über weitere Schritte kommen. Hilfreich ist, wenn Sie als Führungskraft deutlich machen, dass es Ihnen wichtig ist, dass Ihre Sorge und der Wunsch nach Veränderung vom Mitarbeiter gehört wird. Wenn Sie diese vier Punkte »Sachebene«, »Selbstoffenbarungsebene«, »Beziehungsebene« und »Appellebene« für sich geklärt haben, können Sie gut vorbereitet in das Gespräch hineingehen. Ich habe die Gesprächsvorbereitung so ausführlich beschrieben, weil mir wichtig ist, dass diese Gespräche mit Menschen, die psychisch angeschlagen und belastet sind, nicht zwischen Tür und Angel und nicht mal eben aus dem Bauch heraus mit Intuition bestritten werden. Wir erinnern uns an das Vulnerabilitäts-Stress-Modell: In seinem Sinne haben wir mit empfindsamen Menschen zu tun, die bereits belastet sind, und sie verdienen unseren Respekt und unsere Achtung und eine gründliche Vorbereitung, wenn wir mit ihnen über ihre Schwachstellen sprechen wollen.
7.3.3
125
7
Wie ist die Beziehung?
Was ist mein Ziel?
Gute Vorbereitung ist nötig.
Rahmenbedingungen
Wie schon in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben, geht es in dem Mitarbeitergespräch um ein relativ sensibles Thema, das den Mitarbeiter sehr persönlich berührt. Insofern ist es wichtig, dass Sie ungestört (auch von Handyklingeln) in einem geschützten Rahmen und einem geschlossenen Raum miteinander sprechen können. Auch die Schweigepflicht und der Datenschutz dürfen nicht verletzt werden. Nehmen Sie sich eine begrenzte Zeit, die nicht länger als sechzig Minuten dauern sollte. Gespräch über Leistungseinschränkungen und seelische Probleme sind für alle Beteiligten anstrengend und häufig auch belastend. Da hilft eine Zeitbegrenzung als limitierender Faktor, das Ausmaß der Belastung für die Gesprächspartner zu steuern und gering zu halten. Die Einladung sollte möglichst persönlich erfolgen. Wenn Sie die Schriftform wählen, wären hier auch einige persönliche Worte förderlich, so dass der Angstpegel nicht durch unbedachte, automatisierte Anschreiben unnötig in die Höhe steigt.
Ort, Zeit, Einladung
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Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Wer ist dabei?
7
Wer sollten die Gesprächspartner bzw. Gesprächsteilnehmer sein? Das hängt meiner Ansicht nach stark von der Größe des Betriebes und des Betriebsklimas ab. Es ist davor abhängig, ob in einem Betrieb ein Vertrauensklima herrscht, in dem offen über Schwierigkeiten gesprochen werden kann oder eher das Motto gilt: »Kein Wort ohne meinen Betriebsrat«. Zwischen diesen beiden Polen ist aber alles möglich. Gedacht ist bei einem ersten Gespräch zunächst an ein VierAugen-Gespräch zwischen dem Vorgesetzten und dem Mitarbeiter. Dem Betroffenen sollte jedoch offenstehen, ob er das Beisein von Vertrauenspersonen wünscht. Ich finde es wichtig, diesen Wunsch möglichst auch zu respektieren. Grundsätzlich empfehle ich beim ersten Gespräch, den Rahmen klein und vertraulich zu halten, so dass auch eine Atmosphäre aufkommen kann, die ein offenes und vertrauensvolles Gespräch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft begünstigt. Außer dem Betriebsrat könnte auch eine andere Vertrauensperson hinzukommen, ein Kollege, mit dem sich der Betroffene besonders gut versteht, dem er vertraut, oder auch, falls im Betrieb vorhanden, die betriebliche Sozialberatung. Das alles sollte möglich sein, um dem Mitarbeiter auch zu verdeutlichen, dass es darum geht, ihn zu unterstützen.
7.4
Gesprächsverlauf
Der Gesprächsverlauf hängt maßgeblich davon ab, wie es zu Beginn des Gespräches gelingt, eine offene und vertrauensvolle Situation zu schaffen und für die Dauer des Gespräches aufrecht zu erhalten.
7.4.1
Eröffnung
In einer kurzen Einleitung wird die Führungskraft dem Mitarbeiter kurz erläutern, worum es in diesem Gespräch gehen soll und welcher zeitliche Rahmen dafür bereitsteht (. Abb. 7.3). Schön, dass Sie gekommen sind.
»Frau Altmann (oder Herr Niemann), schön dass Sie gekommen sind. Zu diesem Gespräch habe ich Sie eingeladen, weil ich mir Sorgen um Ihre Gesundheit mache. Sie sind mir als zuverlässige Kollegin, (kontaktfreudiger Kollege oder was auch immer) bekannt und in den letzten Wochen habe ich Veränderungen an Ihrem Verhalten bemerkt, die ich mir nicht recht erklären kann. Darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen. Ziel unseres Gespräches heute soll sein, herauszufinden, ob und wie der Betrieb Sie unterstützen kann, zu Ihrer alten Form zurückzufinden. Ich habe mir für dieses Gespräch ca. eine Stunde Zeit genommen. Ist das für Sie so in Ordnung? Haben Sie zu meiner Einleitung noch Fragen? Möchten Sie etwas dazu sagen?«
7.4 • Gesprächsverlauf
. Abb. 7.3 »Ich mache mir Sorgen.« (© Christiane Weitendorf )
Wichtig ist, vom ersten Kontakt an für Klarheit, Ehrlichkeit, Offenheit und Vertrauen zu sorgen. Mit Vertrauen ist vor allem auch eine emotionale Qualität gemeint, die einen festen Rahmen und somit auch Halt und Orientierung bietet.
7.4.2
Worum geht es?
Im weiteren Verlauf des Gespräches geht es darum, dem Mitarbeiter die Beobachtungen bzw. die Verhaltensänderung klar zu beschreiben. Positivbeispiele
4 »Ich habe Veränderungen an Ihnen wahrgenommen« oder »Die Kollegen haben von Änderungen berichtet, die sie so an Ihnen bisher nicht kannten und Verhaltensweisen beschrieben, die sie so bisher an Ihnen nicht kannten. So haben Sie an mehreren einzelnen Tagen krankheitsbedingt gefehlt. Das kenne ich so von Ihnen gar nicht.«
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7
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Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Verhalten beschreiben
4 »Seit vier Wochen bleiben Sie eher alleine an Ihrem Arbeitsplatz 4 4 4 4 4 4 4
7
4 4 4 4 4 4
und ich sehe Sie kaum noch mit den Kollegen sprechen. Früher waren Sie viel mehr mittendrin.« »Ihre Arbeitsleistung hat abgenommen. Sie schaffen derzeit weniger als früher. Und Sie haben etliche Vorgänge noch nicht abschließend bearbeitet.« »Plötzlich kommen Sie morgens häufiger zu spät.« »Ihre Stimmung ist im Vergleich zu früher insgesamt gedrückter geworden. Und Sie wirken auf mich niedergeschlagener, müder und angespannter als früher.« »Sie reagieren plötzlich aggressiv auf neue Arbeitsaufträge.« »Das Arbeitstempo hat sich verändert. Sie arbeiten langsamer als sonst.« »Sie haben Nachfragen bei Arbeiten, die Sie schon ganz oft durchgeführt haben.« »Die Kollegen haben mir erzählt, Sie hätten Ihnen gegenüber geäußert, dass Sie keine Lebenslust mehr haben.« »Sie haben verschiedene Aufträge im Gegensatz zu früher fehlerhaft bearbeitet.« »Sie geraten häufiger mit Ihren Kollegen in Streit und werden schnell gereizt und aggressiv.« »Sie wirken besonders nervös und unsicher, klagen vermehrt über Erschöpfung, Kopfschmerzen und andere körperliche Beschwerden.« »Sie haben sich in letzter Zeit mehrfach morgens bei der Arbeit abgemeldet.« »Sie reagieren empfindlich auf Zeit- und Termindruck und fühlen sich schnell unter Druck gesetzt, werden hektisch und manchmal auch gereizt.« »Es gibt Tage, da sind Sie nicht ansprechbar und wirken nach außen verschlossen und abwesend.«
Wichtig ist bei der Benennung und Beschreibung des auffälligen Verhaltens, dass Sie auf der Verhaltensebene bleiben und keine Zuschreibungen über die Person machen. Die folgenden Sätze sind Beispiele dafür, wie Sie besser nicht argumentieren sollten: Negativbeispiele Besser nicht
4 »Sie sind in letzter Zeit so depressiv!« 4 »Sie sind unsicher und ängstlich!« 4 »Sie haben in der letzten Zeit häufiger Fehltage gehabt. Sie kommen offenbar mit der neuen Aufgabe nicht zurecht.«
Wenn Sie Vermutungen äußern, dann sollten Sie Vermutungen auch kenntlich machen. Also z. B. so: »Sie hatten in der letzten Zeit einige krankheitsbedingte Fehltage. Ich vermute, dass Sie Probleme mit der neuen Aufgabe haben« oder »Ich vermute, dass es an der neuen Auf-
7.4 • Gesprächsverlauf
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7
gabe liegt.« Vermeiden Sie es weiterhin, Vorwürfe zu machen wie z. B.: »Sie haben ja schon wieder gefehlt! Können Sie sich denn nicht zusammenreißen?« Vermeiden Sie Verallgemeinerungen wie »Immer sind Sie unpünktlich und unkonzentriert!«, Verniedlichungen: »Sie sind in letzter Zeit ein bisschen unkonzentriert geworden!« oder Abwertung: »Nicht einmal mehr pünktlich können Sie sein!« Sie können in einem Gespräch durchaus einen Verdacht, eine Vermutung, eine Hypothese äußern, wichtig ist, sie kenntlich zu machen, zu sagen »Ich habe die Vermutung…«, »Ich habe den Verdacht…«, »Meine Hypothese ist…«, so dass das Gespräch weiterhin offen bleibt, auch für eine Antwort und Klarstellung, bzw. Richtigstellung oder Stellungnahme des Gegenübers. Zusammenfassend lassen sich für die Verhaltensbeschreibung folgende Regeln ableiten: > Bleiben Sie bei der Beschreibung auf der Verhaltensebene und beschreiben Sie so präzise wie möglich. Vermeiden Sie Vorwürfe, Verallgemeinerungen, Zuschreibungen, Verniedlichungen, Abwertungen, Unterstellungen, Interpretationen. Machen Sie Ihre Vermutung, Ihren Verdacht, Ihre Hypothese als solche kenntlich.
7.4.3
Problemlagen und Hintergründe klären
Nachdem Sie klar beschrieben haben, auf Grund welcher Verhaltensweisen Sie dazu gekommen sind, sich Sorgen um die Gesundheit des Mitarbeiters zu machen, folgt nun die Frage nach den Hintergründen und der Problemlage. »Was können Sie dazu sagen? Mögen Sie sagen, was Sie bewegt? Wie ist Ihre Sichtweise? Was ist denn los?«
Je nach Branche und Verhältnis zum Mitarbeiter können diese Eingangsfragen unterschiedlich ausfallen. > Stellen Sie offene Fragen, die dem Mitarbeiter die Gelegenheit und den Raum bieten, Ihnen auch mit mehr als mit ja oder nein zu antworten. Meiden Sie Fragen, die mit »warum« beginnen. Sie bringen den Gesprächspartner oft in eine unangenehme Rechtfertigungssituation.
Gelingt es dem Mitarbeiter, sich zu öffnen, wird er wichtige Hinweise und Informationen geben können, wie er die Situation erlebt, und möglicherweise auch ausführlicher berichten, was ihn bedrückt und belastet. An dieser Stelle des Gesprächs ist aktives Zuhören vom Vorgesetzten gefordert. Mit aktivem Zuhören ist gemeint, den Gesprächspartner aussprechen lassen, nicht zu unterbrechen und sich während eines Gespräches bei Aussagen des Gegenübers darauf zu konzentrieren, genau zu erfassen, was der Gesprächspartner vermit-
Mit Interesse aktiv zu hören
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Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
teln will. Ziel des aktiven Zuhörens ist also, sicherzustellen, dass ich genau mitbekomme und verstehe, was mein Gegenüber mir mitteilen will. So spürt der Mitarbeiter, dass auf der anderen Seite des Tisches eine Führungskraft und ein Mensch sitzt, der an ihm als Mitarbeiter und Mensch interessiert ist. Im Verlaufe des Gesprächs können Fragen hilfreich sein, die helfen, die Situation so weit zu klären, dass Sie sich ein Bild von der Sicht des Mitarbeiters und dessen Situation machen können. > Dabei ist es wichtig, dass Sie auf die Wahrung Ihrer Rolle achten und sich nicht zu tief involvieren lassen. Alles richtig verstanden?
7
Vergewissern Sie sich, ob Sie Ihren Mitarbeiter richtig verstanden haben. Auch wenn es ungewohnt erscheint, ist es sinnvoll, zu wiederholen, was sie als Führungskraft verstanden haben, wie sich die Problemlage für Sie darstellt, und den Mitarbeiter noch einmal zu fragen, ob Sie ihn so richtig verstanden haben. Dies trägt einerseits zur Vertiefung des Gesprächs bei und vermeidet andererseits auch, dass sich Missverständnisse entwickeln. Und der Mitarbeiter bekommt zusätzlich das Gefühl, dass Sie ihm wirklich zugewandt sind und ihm zuhören. Haben Sie mit dem Mitarbeiter Übereinstimmung erzielt, ist dies die Basis für die nächsten Schritte und die Frage, ob er und welche Art von Hilfe und Unterstützung er möchte. Fallbeispiel, Teil 1
Frau Sonntag ist stiller geworden.
Der Vorgesetzte ist besorgt.
Frau Sonntag ist zweiundvierzig Jahre alt und schon lange im Betrieb dabei. Sie gilt nicht nur als engagiert, sondern auch als innovativ und belastbar. Sie ist bei allen, mit denen sie zu tun hat, geschätzt wegen ihrer Kompetenz und ihres fachlichen Wissens. Sie bekommen mit, dass ihre Mitarbeiterin in der letzten Zeit öfters einzelne Fehltage hat, dass sie Aufgaben, die sie früher gerne übernommen hat, lieber anderen Kollegen überlässt, sich zurückzieht, viel stiller geworden ist als sonst. Sie wirkt oftmals abwesend, unkonzentriert und vergesslich. Sie beschließen, sie zu einem Vier-Augen-Gespräch einzuladen, zu dem Frau Sonntag auch pünktlich erscheint. Sie wirkt deutlich müde und erschöpft. Sie lässt die Schultern hängen und wirkt abgespannt. Sie sprechen Frau Sonntag auf die Veränderungen an. »Sie gelten bei uns als engagierte und fachlich kompetente Mitarbeiterin und haben die Kollegen oft spüren lassen, wie viel Spaß Sie bei der Arbeit haben. Ich habe in der letzten Zeit beobachtet, dass Sie seit einiger Zeit Ihr Verhalten geändert haben. Sie hatten bisher acht einzelne Fehltage, Aufgaben, die Sie früher gerne übernommen haben, geben Sie jetzt an die Kollegen ab. Sie wirken unkonzentriert und stiller als sonst. Sie haben sich zurückgezogen und ich möchte Ihnen sagen: Mich besorgt diese Veränderung, die ich ja so von Ihnen bisher noch nicht kenne! Was können Sie mir dazu sagen?« Frau Sonntag sackt noch mehr in sich zusammen und beginnt mit leiser Stimme zu sprechen:
7.4 • Gesprächsverlauf
»Ja. Mir ist in der letzten Zeit alles über den Kopf gewachsen. Wie Sie ja wissen, bin ich seit vielen Jahren alleinerziehend und muss meine Tochter und mich alleine ernähren. Sie kommt jetzt in die Pubertät und ich müsste mich einfach mehr um sie kümmern. Wenn ich abends nach Hause komme, bin ich müde und habe keine Zeit, mich auszuruhen, denn bei uns wohnt mein alter Vater und der ist seit einiger Zeit ein Pflegefall. Tagsüber kommt zweimal ein Pflegedienst und abends, wenn ich nach Hause komme, kümmere ich mich um ihn.
131
7
Frau Sonntag erzählt.
So könnte ein Gespräch verlaufen, wenn Frau Sonntag ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten hat.
7.4.4
Ziele und Planung der nächsten Schritte
Sind die spezifischen Bedingungen deutlich geworden, unter denen es zu einer psychischen Fehlbelastung gekommen ist, können gemeinsam mit dem Mitarbeiter die nächsten Schritte und Ziele erarbeitet werden. Hier ist zu fragen: 5 Welche Unterstützung und Hilfsangebote ermöglicht der Mitarbeiter? 5 Gibt es Lösungsmöglichkeiten? 5 Welche Möglichkeiten könnten z. B. mit Frau Sonntag erarbeitet werden? 5 Welche Ideen haben Sie dazu?
Lösungen?
Die Frage an den Mitarbeiter könnte sein: 5 Wie kann der Betrieb Sie unterstützen? 5 Was kann der Betrieb zu Ihrer Entlastung beitragen? 5 Wie können wir helfen? 5 Was können wir tun? 5 Wo finden Sie sonst noch Unterstützung und Entlastung? Hier geht es darum, dem Mitarbeiter die Situation deutlich zu machen, Wege zu finden, und Unterstützung anzubieten, die zu seiner Entlastung dienen und zur Problemlösung führen. Vor allem mit dem Ziel, die Gesundheit des Mitarbeiters wiederherzustellen. Liegen die Schwierigkeiten mehr im privaten Bereich und sind Veränderungen und Belastungen eingetreten durch Krankheit, Tod, Verlust, Trennung, Scheidung, Einsamkeit, finanzielle Sorgen, können sich die betrieblichen Hilfsangebote eher auf eine vorübergehende Entlastung im Arbeitsbereich beschränken und zusätzlich können externe Angebote genutzt werden. Auf die Vielfalt externer Hilfen werde ich im 7 Kap. 8 eingehen. Signalisiert der Mitarbeiter, dass er an Hilfsangeboten interessiert ist, ist es in dieser Phase des Gesprächs sinnvoll, zu Vereinbarungen zu kommen, in denen gemeinsam festgelegt wird, wer was bis wann unternimmt. Das kann z. B. die Einleitung von Veränderungen am
Welche Unterstützung ist möglich?
Vereinbarungen treffen
132
Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Arbeitsplatz, die Einbeziehung betrieblicher Helfer, ein Besuch beim Facharzt und die Vereinbarung weiterer Gespräche sein. Ganz wesentlich ist bei psychischen Störungen die Nachfrage nach einem Arzt des Vertrauens, besser noch der Hinweis auf eine fachärztliche Mitbehandlung. Ebenso wie bei körperlichen Erkrankungen gehört auch eine kranke Seele in fachärztliche Behandlung. Diesen Hinweis sollte man ruhig schon in einem der ersten Gespräche geben.
7.4.5 Klare Absprachen und Vereinbarungen treffen
7
Zum Abschluss des Gespräches fassen Sie am besten das Gesprochene noch einmal kurz zusammen, erläutern die vereinbarten Ziele, Maßnahmen und weitere Schritte und bedanken sich beim Mitarbeiter für seine Offenheit und sein Vertrauen. Das weitere Vorgehen ergibt sich aus den gemeinsamen Vereinbarungen. Dabei ist zu beachten, dass Vereinbarungen klar und deutlich formuliert sein sollen und vor allem auch eingehalten werden müssen. Menschen mit psychischen Störungen und in psychischen Krisen haben sehr feine Antennen für Misstöne und Unehrlichkeiten. Verlässlichkeit ist deshalb von großer Bedeutung. Viele Menschen mit psychischen Fehlbelastungen haben oft schon eine längere Geschichte mit enttäuschenden zwischenmenschlichen Beziehungen hinter sich und vor diesem Hintergrund sind Offenheit, Ehrlichkeit, Klarheit, Transparenz und Verlässlichkeit wichtige Qualitäten, die den Betroffenen Halt und Orientierung geben.
7.5 »Nein, es ist nichts.«
Abschluss
Was ist, wenn es nicht so läuft?
Die Beschreibung des Gesprächsverlaufs in den letzten Abschnitten stellt sozusagen den Idealfall dar. Dieses Kapitel soll auf mögliche Komplikationen vorbereiten. Es kann sein, dass ein Mitarbeiter beim ersten Gespräch die beobachteten Verhaltensänderungen bestreitet bzw. nicht wahrhaben möchte. Der Mitarbeiter sagt Ihnen, es sei alles in Ordnung, oder er macht äußere Gründe für sein Verhalten verantwortlich. Fallbeispiel, Teil 2 Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Frau Sonntag, so könnte sie, im ungünstigsten Fall, z. B. so antworten: »Ach, wissen Sie, ich hatte in der letzten Zeit viele private Sorgen, die mich belasten. Ich kriege das bestimmt bald wieder in den Griff.« oder »Darüber möchte ich hier nicht sprechen.«
Nicht entmutigen lassen …
Lassen Sie sich durch Zurückhaltung, Zurückweisung und Leugnen nicht entmutigen. Machen Sie trotzdem deutlich, dass Sie sich Sorgen
7.5 • Was ist, wenn es nicht so läuft?
um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter machen. Bieten Sie Unterstützung und Hilfe an und nennen Sie ihrem Mitarbeiter auch externe Hilfsmöglichkeiten und schlagen Sie vor, dort möglicherweise Kontakt aufzunehmen. Vielleicht hat der Mitarbeiter andere Personen seines Vertrauens im Betrieb, mit denen er über seine Belastung sprechen möchte, auch das ist eine Möglichkeit. Planen Sie auf jeden Fall ein weiteres Gespräch in einem angemessenen Zeitraum ein. Sollte sich bis zum Wiederholungsgespräch die Situation des betroffenen Mitarbeiters nicht bessern, sollten Sie den Mitarbeiter erneut auf seine Verhaltensänderung ansprechen und mit ihm über die Konsequenzen und Auswirkungen sprechen, die das Verhalten auf der betrieblichen Ebene hat und was konkret die Leistungseinschränkung für seinen Arbeitsauftrag und die Kollegen bedeutet. Hier kann die Führungskraft noch einmal an die Eigenverantwortung des Mitarbeiters appellieren und mit ihm gemeinsam einmal durchgehen, welche betrieblichen und außerbetrieblichen Hilfsangebote es gibt (dazu auch 7 »Das Hilfekonzept H-I-L-F-E«). Tritt auch nach diesem Gespräch keine Änderung ein, muss der Vorgesetzte einerseits klare Arbeitsziele und Vorgaben definieren, sozusagen das Leistungssoll noch einmal benennen, und Vereinbarungen treffen, wie der Mitarbeiter dieses Ziel erreichen will. Weiterhin sollte er von den Mitarbeitern mit Nachdruck verlangen, dass er sich um seine Gesundheit kümmern muss und die Erwartung des Vorgesetzten noch einmal verdeutlichen, dass er wünscht, dass der Mitarbeiter sich in Behandlung begibt. Hier ist noch einmal wichtig, mit dem Mitarbeiter zeitlich definierte Zielvorgaben zu besprechen und mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen anzusprechen, wenn der Mitarbeiter sich nicht an die getroffenen Vereinbarungen hält. Langfristig muss dem Mitarbeiter schon deutlich werden, dass sein Verhalten Auswirkungen auf die betrieblichen Abläufe hat und auch arbeitsrechtliche Konsequenzen haben kann – und auch haben wird, wenn weiterhin nichts geschieht. Eine weitere Komplikation im Gespräch mit betroffenen Mitarbeitern kann sein, dass das Gespräch überhaupt nicht in die gewünschte Richtung läuft und der betroffene Mitarbeiter versucht, die Führungskraft zu manipulieren oder beziehungsmäßig zu verwickeln. Das können Sie daran merken, dass Sie plötzlich zu einem Verhalten verführt oder verleitet werden, das Sie von sich gar nicht kennen. Sie werden ganz schnell ärgerlich und aggressiv, obwohl Sie sonst eher ein ruhiger Vertreter sind, oder Sie fühlen sich plötzlich stark persönlich verantwortlich, machen ganz viele persönliche Hilfsangebote und verlieren die professionelle Distanz. Sie fallen sozusagen aus ihrer Rolle. > In all diesen Situationen, in denen Sie sich unwohl oder bedrängt fühlen, das Gefühl haben, Sie haben die Gesprächsführung nicht mehr in der Hand und sind nicht mehr »Herr im eigenen Haus« oder »aus der Rolle gefallen«, empfehle ich, das Gespräch zu unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt strukturiert und stringent fortzuführen.
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7
Ein weiteres Gespräch anbieten…
… und dran bleiben.
Zeitlich definierte Zielvorgaben
Auswirkungen benennen
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Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
Das Hilfekonzept H-I-L-F-E Der Bundesverband der Angehörigen Psychisch Kranker e.V. hat in Zusammenarbeit mit dem BKK Bundesverband eine Broschüre herausgebracht: »Psychisch krank im Job – was tun?« Das Vorgehen, das dort für Unternehmen empfohlen wird, nennen sie das H-I-L-F-E-Konzept. Mit den einzelnen Buchstaben ist Folgendes gemeint: 4 H – Hinsehen, 4 I – Initiative ergreifen, 4 L – Leitungsfunktion wahrnehmen, 4 F – Führungsverantwortung, d. h. Fördern und Fordern, 4 E – Experten hinzuziehen.
7
Das H-I-L-F-E-Konzept ist ein Stufenplan für Führungskräfte und betriebliche Akteure und meint im Prinzip nichts anderes als ein gestuftes Vorgehen von Hinsehen, Veränderungen wahrnehmen, die
Wenn es Verwicklungen gibt
Initiative ergreifen, den Mitarbeiter auf die Veränderung ansprechen und ihm konkrete Hilfe und Unterstützung anbieten. Leugnet der Mitarbeiter Veränderungen seines Verhaltens bzw. nimmt er Hilfsangebote nicht wahr, wird dem Vorgesetzten angeraten, eine Leitungsfunktion wahrzunehmen und Zielvereinbarungen mit seinem Mitarbeiter zu vereinbaren. Außerdem soll klar zum Ausdruck gebracht werden, dass das Wahrnehmen von Hilfsangeboten vom Mitarbeiter im Sinne einer Eigenverantwortung und Selbstfürsorge von der Führungskraft erwartet wird. In der Mitarbeiterführung, also in der Ausübung der Führungsverantwortung, wird von der Führungskraft verlangt, auch bei einem psychisch fehlbelasteten Mitarbeiter die Balance von Fördern und Fordern zu finden. Dazu gehört im Umgang mit
psychisch fehlbelasteten Mitarbeitern sehr viel Fingerspitzengefühl, Verständnis, Geduld und auch bei derzeitig eingeschränkter Leistungsfähigkeit die Erwartung, die Arbeitsplatzgestaltung anzupassen, kurzfristig auch zu korrigieren, und gleichzeitig aber auch ein gewisses Arbeitspensum zu verlangen. Dabei gilt es, Unter- sowie Überforderung gleichermaßen zu vermeiden. Realistische Anforderungen mit erreichbaren Ergebnissen können einen betroffenen Mitarbeiter eher aufbauen als Schonung und Unterforderung. Eine möglichst frühe Zusammenarbeit mit Experten, betrieblichen oder auch externen, kann für alle Betroffenen eine große Hilfe und für die Führungskraft auch Entlastung bedeuten (Hommelsen, 2006, S. 28–31. Inhaltliche Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der BKK Bundesverband.)
Eine Gesprächsunterbrechung bringt hier einen klaren Schnitt und ist viel einfacher zu handhaben, als sich im laufenden Gespräch aus so einer verzwickten, verwickelten Beziehung herauszuarbeiten. Beispiel für eine verzwickte Gesprächssituation Zur Vorgeschichte: Frau Zwick ist von einer anderen Abteilung in Ihre versetzt worden. Sie haben bereits von der alten Abteilung gehört, dass sie als schwierige Mitarbeiterin gilt, und es gab schon die ersten Probleme in Ihrer Abteilung. Sie als Führungskraft wollen Frau Zwick ansprechen: »Frau Zwick ich möchte gerne mit Ihnen sprechen, weil mir nach Ihrem fulminanten Start hier bei uns in der Abteilung aufgefallen ist, dass Sie in letzter Zeit etwas nachgelassen haben, mehr Pausen machen und sich öfter zurückziehen. Die Kollegen haben mir berichtet, dass Sie mit ihnen manchmal Reibereien und Unstimmigkeiten haben und Sie sich manchmal im Ton gegenüber den Kollegen vergreifen. Nach Ihrem guten Beginn hier bei uns in der Abteilung, wo Sie sich durch Umsicht und Engagement ausgezeichnet haben, bin ich doch beunruhigt über diese Veränderung. Mich interessiert einfach, was sich da bei Ihnen verändert hat.« Frau Zwick antwortet: »Ja, wissen Sie, ich bin so ein Typ, ich gebe immer alles, wenn es mir an einem Arbeitsplatz gefällt, und Sie als Vorgesetzte finde ich auch ganz toll. So eine gute Vorgesetzte hatte ich noch nie. Sie überzeugen durch Ihr fachliches Können und Ihre Persönlichkeit und ich habe schon einiges an Erfahrung. Aber inzwischen habe ich auch mitbekommen, wie es hier in der Abteilung läuft. Die
7.5 • Was ist, wenn es nicht so läuft?
Kollegen machen übrigens auch Pause, wann sie wollen. Ihnen kann ich das ja sagen. Und mich machen sie an, wenn ich ab und zu mal eine rauchen gehe und nicht gleich Altpapier mit entsorge. Eigentlich gehört das ja auch gar nicht zu meinen Aufgaben, das können die auch mal selber machen. Ich bin hier zwar die Neueste in der Abteilung, aber ich muss mir ja auch nicht von allen was sagen lassen. Meine Vorgesetzte sind doch Sie und wenn Sie mir Arbeit aufgetragen haben, dann habe ich das doch auch immer gut gemacht, oder?« Was ist Ihr erster Impuls? Lassen Sie sich auf eine Diskussion mit Frau Zwick ein, wie es in Ihrer Abteilung läuft? Stellen Sie sich schützend vor Ihre Mitarbeiter? Fühlen Sie sich geschmeichelt? Denken Sie, Frau Zwick hat ja auch Recht? Was Sie auch tun, die Verführung in eine Falle zu tappen ist groß. Wenn Sie sich jetzt manipuliert fühlen, brechen Sie das Gespräch freundlich und bestimmt an dieser Stelle ab und machen Sie deutlich, dass Sie noch einmal auf die Mitarbeiterin zukommen werden in dieser Frage. Beispielsweise so: »Liebe Frau Zwick, ich denke, an dieser Stelle kommen wir miteinander so nicht weiter. Ich bin durchaus an Ihrer Mitarbeit interessiert und möchte mit Ihnen über Ihr Verhalten in der Abteilung sprechen. Im Moment bringen Sie mich in eine Situation, die ich nicht haben möchte, daher beende ich jetzt unser Gespräch. Ich bitte Sie, über Ihr verändertes Verhalten den Kollegen und jetzt auch mir gegenüber nachzudenken, danach können wir uns gerne noch einmal zusammensetzen.«
In . Tab. 7.1 finden Sie einen Gesprächsleitfaden sowie Tipps zur Gesprächsführung. > Denken Sie bei Ihrer Erkundung der Problemlage auch an die eigenen Grenzen, auch Sie müssen den Gesprächsinhalt verkraften können. Eine gewisse Sachlichkeit und eine innere Distanz zu bewahren, kann helfen, das Gespräch mehr auf einer sachlichen Ebene zu führen und verhindern, dass Sie eine zu persönlichen Ebene bei sich und dem Mitarbeiter berühren. Wenn Sie merken, dass Sie zu Verhaltensweisen gedrängt werden, die Sie selber nicht wollen, sollten Sie sich nicht scheuen, Grenzen zu setzen und Machtkämpfe vermeiden, im Zweifelsfall sollten Sie das Gespräch eher beenden und vertagen. Humor kann schwierige Situationen deutlich entschärfen.
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7
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Kapitel 7 • Das Gespräch mit dem Mitarbeiter
7 Zum Download unter www. springer.com/978-3-642-16979-3
7
. Tab. 7.1 Gesprächsleitfaden und Tipps zur Gesprächsführung Zielsetzung
Was ist mein Ziel? Was will ich erreichen? Für eine gründliche Vorbereitung die Frage genau klären: Um welche konkreten Verhaltensweisen geht es?
Eigene Haltung überprüfen
Wie stehe ich persönlich zu diesem Mitarbeiter?
Beziehungsgrundlage definieren
Auf welcher Beziehungsgrundlage findet das Gespräch statt? Was bedeute ich für ihn?
Haltung einnehmen
Eine wohlwollende Haltung ist nötig; der Mitarbeiter kann sich zurzeit nicht anders verhalten.
Umgang mit Beobachtungen beachten
Die gemachten Beobachtungen sollten nur beschreiben, nicht bewerten.
Einladung aussprechen
Wählen Sie einen freundlichen Einladungstext und einen ruhigen Ort, legen Sie die Gesprächsdauer auf maximal 60 Minuten fest.
Datenschutz und Schweigepflicht
Stellen Sie Datenschutz sicher und halten Sie sich an die Schweigepflicht.
Weitere Anwesende
Es kann im Einzelfall sinnvoll sein, dass z. B. auch ein Betriebsrat oder ein anderer Vertrauter ebenfalls anwesend ist.
Gesprächseröffnung
Das Gespräch sollte unbedingt positiv beginnen.
Verlauf erläutern
Erklären Sie einleitend, worum es geht. Machen Sie deutlich, dass Sie sich persönlich Sorgen um die Gesundheit des Mitarbeiters machen
Beschreibung des Problems
Benutzen Sie eine klare, eindeutige Sprache und reden Sie nicht um den heißen Brei herum und verniedlichen oder verharmlosen Sie nicht die Dinge. Vermeiden Sie möglichst Interpretationen, Hypothesen und Unterstellungen oder kennzeichnen Sie diese als solche im Gespräch.
Beschreibung des auffälligen Verhaltens
Stellen Sie immer den Bezug zu früher her und gehen Sie auf die Veränderungen ein.
137
7.5 • Was ist, wenn es nicht so läuft?
. Tab. 7.1 Fortsetzung Klärung
Stellen Sie zur Klärung offene Fragen: Was können Sie mir dazu sagen? Wie ist es zu diesen Veränderungen gekommen? Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem? Wie könnten Hilfe und Unterstützung aussehen?
Fragen
Vermeiden Sie Fragen nach dem »Warum?«, da diese den Befragten in eine Rechtfertigungsnot bringen, das ist dem Gespräch nicht förderlich.
Aktives Zuhören
Wenn der Mitarbeiter sich öffnen kann und Ihnen seine Situation erläutert, sind Fragen zum Verständnis sinnvoll angebracht. Tiefer gehendes Nachfragen, das möglicherweise die Grenzen dessen überschreitet, was am Arbeitsplatz normalerweise besprochen wird, sollten Sie besser unterlassen.
Gemeinsames Verständnis
Ziel ist ein gemeinsames Verständnis. Nach der Erfassung der »Problemlage« sollten Sie das Gespräch zusammenfassen und prüfen, ob Sie alles richtig verstanden haben, was der Mitarbeiter Ihnen mitteilen wollte.
Nächste Schritte, Vereinbarungen und Absprachen treffen.
Sie sollten nächste Schritte planen und Vereinbarungen und Absprachen treffen. Absprachen müssen eindeutig, klar und verlässlich sein.
7
139
Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische und berufliche Rehabilitation 8.1
Medizinische Behandlungsmöglichkeiten – 141
8.1.1
8.1.5 8.1.6
Ambulante medizinische Versorgung bzw. Facharzt für Psychiatrie – 141 Stationäre Behandlungsmöglichkeiten – 141 Teilstationäre Behandlungsmöglichkeiten – 142 Ambulante therapeutische Versorgung durch Psychotherapeuten – 143 Soziotherapie – 143 Ergotherapie – 144
8.2
Beratungsstellen – 144
8.3
Weitere Angebote – 145
8.4
Berufliche Rehabilitation – 145
8.4.1 8.4.2 8.4.3
Berufliche Trainingszentren – 146 Integrationsfachdienst – 147 Außerbetriebliche Berater – 147
8.1.2 8.1.3 8.1.4
8
140
Kapitel 8 • Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische
Welche Hilfsangebote gibt es?
In den ersten vertraulichen Gesprächen haben Sie mit dem Mitarbeiter über die Hintergründe für seine Leistungsminderung und seine Verhaltensänderung gesprochen. Sie haben einen Eindruck von der Problemlage bekommen und wollen nun gemeinsam mit ihm über Hilfsangebote sprechen und Lösungen planen und realisieren. Grundsätzlich ist es jetzt sinnvoll und notwendig, zweigleisig zu fahren. Dazu muss man die vielfältigen externen Hilfsangebote kennen und zu nutzen wissen und gemeinsam mit dem Betroffenen überlegen, welche betrieblichen Lösungen zur Unterstützung gefunden werden können. Ich beginne in diesem Kapitel die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Störungen zu beschreiben und zeige weitere Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation. Unterstützung und Hilfestellung für den betroffenen Mitarbeiter bedeutet, sich die Sorgen und Nöte des Mitarbeiters anzuhören und dafür zu sorgen, dass der Betroffene professionelle Hilfe bekommt. Manchmal muss man auch kontrollieren, ob er sie angenommen hat (. Abb. 8.1).
8
. Abb. 8.1 Medizinische Behandlung. (© Christiane Weitendorf )
8.1 • Medizinische Behandlungsmöglichkeiten
8.1
Medizinische Behandlungsmöglichkeiten
8.1.1
Ambulante medizinische Versorgung bzw. Facharzt für Psychiatrie
141
8
Die wichtigste Anlaufstelle ist der behandelnde Arzt. Im besten Fall ist dies ein Facharzt für Psychiatrie. Falls der Mitarbeiter bisher mit seinem Leiden bei seinem Hausarzt in Behandlung war, ist dieser für den Mitarbeiter sicher erst einmal der Arzt seines Vertrauens. > Sie sollten als Führungskraft dennoch nicht darauf verzichten, eine fachärztliche Behandlung oder zumindest einen Besuch bei einem Facharzt vorzuschlagen oder anzuregen, weil eine angegriffene und belastete Seele eben auch eine fachkundige Behandlung bekommen sollte.
Sie benötigt ebenso wie das Herz, der Magen oder der Rücken einen fachkundigen, mit diesen Gesundheitsproblemen erfahrenen Mediziner. Der Hinweis auf einen Besuch beim Facharzt für Psychiatrie bzw. bei einem Psychiater ist notwendig, wird jedoch von vielen aufgrund der Sorge und der Angst vor Stigmatisierung schwer angenommen. Dennoch ist es wichtig, bei dem Mitarbeiter für einen Besuch beim Facharzt zu werben. Der Facharzt entscheidet über die weitere Behandlung und Therapie und die Notwendigkeit einer Medikation. Bei etlichen psychischen Störungen können Medikamente entlastend wirken. Die Wirkweise dieser Medikamente ist sehr unterschiedlich. Sie können Angst lösen, Stimmungen stabilisieren, die starken Gefühle oder Schwankungen abmildern oder bei Psychosen für eine Unterbrechung der Symptome sorgen. Ob Medikamente nötig sind und in welcher Form, entscheidet der Arzt. Ebenso muss er entscheiden, ob überhaupt und ob weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt.
Auch die Seele braucht einen Facharzt.
> Je eher ein Mensch mit einer psychischen Störung in Behandlung kommt, desto besser. Haben Sie im Mitarbeitergespräch mit dem Betroffenen einen Arztbesuch vereinbart, ist durchaus erlaubt nachzufragen, wann ein Arztbesuch geplant ist bzw. stattgefunden hat.
Nun mag es Regionen geben, in denen die Facharztdichte für Psychiater nicht allzu groß ist. Alternativ kommt auch die Ambulanz eines psychiatrischen Krankenhauses, ein medizinisches Versorgungszentrum oder aber auch der Hausarzt für die Behandlung in Frage.
8.1.2
Stationäre Behandlungsmöglichkeiten
Sollte in einer akuten Krise eine ambulante Behandlung beim Facharzt nicht mehr ausreichen, wird der Facharzt eine stationäre Behandlung in Erwägung ziehen und eine Krankenhauseinweisung vorschlagen. Hier gibt es einerseits die Einweisung in eine Psychiatrie oder
Kliniken
142
Kapitel 8 • Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische
Angebote der Rentenversicherungsträger
8
ein Akutkrankenhaus mit einer psychiatrischen Abteilung oder die Einweisung in eine psychosomatische Abteilung. Für eine Akutbehandlung im Krankenhaus ist die Krankenkasse der Kostenträger. Je nach Krankheitsbild und Krankheitsverlauf kann der Arzt auch eine Einweisung in eine psychosomatische Klinik empfehlen. Psychosomatische Kliniken haben neben der organischen Behandlung auch einen psychotherapeutischen Schwerpunkt. In der Psychiatrie geht es demgegenüber zunächst um Stabilisierung und Rückführung zur Alltags- und Lebensbewältigung. Eine andere Möglichkeit der stationären Behandlung bietet ein Klinikaufenthalt im Rahmen einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit, in Fachkliniken, bei denen man einen Aufenthalt beim Rentenversicherungsträger zu beantragen hat. Eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme über den Rentenversicherungsträger ergibt dann einen Sinn, wenn die akute Behandlung abgeschlossen ist und die medizinische Rehabilitationsmaßnahme dazu dient, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen und zu sichern. Sie wird in Fachkliniken, die von der Rentenversicherung ausgewählt werden, durchgeführt. Dort besteht dann die Gelegenheit, mit Abstand vom häuslichen und betrieblichen Milieu zur Ruhe zu kommen, sich körperlich, geistig und seelisch wieder zu stabilisieren und für die Arbeitssituation mit Hilfe von Bewegungstherapie, Ausdauer, Sport, Einzel- und Gruppentherapie, Gesundheitsinformationen, z. B. zum Umgang mit Stress, Training von Entspannungsverfahren, Anregung für einen gesundheitsorientierten, bewegungsaktiven Lebensstil sowie weiteren gesundheitsförderlichen Maßnahmen für den Arbeitsalltag wieder fit zu machen. Für Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund gibt es spezielle Angebote, auch mit muttersprachlichen Therapeuten und Ärzten. Eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme hat noch einen weiteren Vorteil: Sie unterliegt weitaus weniger der Stigmatisierung als ein Psychiatrieaufenthalt.
8.1.3 Tagesklinik
Teilstationäre Behandlungsmöglichkeiten
Diese Behandlung bieten psychiatrische und psychosomatische Tageskliniken, in denen die Patienten ausschließlich tagsüber ein Behandlungsprogramm wahrnehmen. Die Patienten gehen nachmittags wieder nach Hause. In den Tageskliniken wird im Wesentlichen eine Tagesstruktur mit verschiedenen Behandlungen wie Ergotherapie, Bewegung, Psychotherapie und Maßnahmen zur Förderung der Alltagsbewältigung und der Steigerung der Belastbarkeit angeboten. Ganz neu in Hamburg ist eine Tagesklinik zur Behandlung von Stressfolgeerkrankungen, die auf Initiative von Dr. Unger, dem Chefarzt einer Hamburger Klinik, entstanden ist. Hier wird mit einem Gruppenprogramm gearbeitet, das speziell auf den Umgang mit Stresssituationen fokussiert ist.
8.1 • Medizinische Behandlungsmöglichkeiten
8.1.4
8
Ambulante therapeutische Versorgung durch Psychotherapeuten
Bei den meisten psychischen Störungen wird eine Kombination aus medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung empfohlen. Es gibt inzwischen viele wirksame psychotherapeutische Ansätze und Verfahren, die von den Krankenkassen finanziert werden. Ein Problem, vor allem in Großstädten, ist die lange Wartezeit, die häufig zusätzlich dazu führen kann, dass die Chronifizierung des Krankheitszustandes voranschreitet. In diesem Fall ist es sinnvoll, mit der Krankenkasse Kontakt aufzunehmen. Die Krankenkasse verfügt häufig über Listen von Psychotherapeuten mit Kassenzulassung. Sie können auch Psychotherapeuten in Wohnortnähe ausfindig machen. Bei den Psychotherapeutenkammern oder der kassenärztlichen Vereinigung gibt es häufig so etwas wie einen psychotherapeutischen Notdienst, der freie Therapieplätze für Psychotherapie vermitteln kann. Schnelle therapeutische Hilfe findet man auch in den Ambulanzen psychiatrischer Kliniken oder den neu aufkommenden medizinischen Versorgungszentren. Anlaufstelle für die Suche nach medizinischen Versorgungsstellen und Klinikambulanzen ist grundsätzlich die Krankenkasse. Psychotherapie kann einen Menschen stabilisieren und ihm helfen, seine inneren Konflikte zu bearbeiten. Im Rahmen einer Psychotherapie kann der Betroffene lernen, einen Umgang mit der psychischen Störung zu finden, alte Ängste zu überwinden und neue Verhaltensweise einzuüben. Er kann auch neue Sichtweisen und Perspektiven gewinnen. Eine Psychotherapie ist für viele Menschen hilfreich, weil sie neue Beziehungserfahrungen vermitteln und zu mehr Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein führen kann. Sie kann dem Betroffenen neue Wahlmöglichkeiten für Verhalten ermöglichen und insgesamt zu mehr Lebensqualität führen.
8.1.5
143
Psychotherapie kann zu mehr Lebensqualität führen.
Soziotherapie
Die Soziotherapie ist eine relativ neue Form der Behandlung. Sie wird von Sozialtherapeuten durchgeführt, die in der Regel vom Grundberuf Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sind. Soziotherapie hilft, die Folgen von psychischen Störungen und langem inneren Rückzug, z. B. Antriebsarmut, mangelndes Selbstvertrauen, geringe Belastbarkeit, zu überwinden. Soziotherapeuten helfen bei der Bewältigung alltagspraktischer Dinge, z. B. bei der Haushaltsführung, der Tagesstrukturierung, dem Aufbau und der Pflege von sozialen Kontakten, später bei der Unterstützung bei der Entwicklung beruflicher Perspektiven und erster Schritte in Richtung Selbstständigkeit und Arbeitsaufnahme. Soziotherapie arbeitet mit Einzel- und Gruppengesprächen und ein Sozialtherapeut macht auch Hausbesuche. Soziotherapie kann stationäre Krankenhausaufenthalte verhindern helfen und dazu beitra-
Der Soziotherapeut ist ein guter Begleiter.
144
Kapitel 8 • Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische
gen, dass ein kranker Mensch sich stabilisiert und nicht noch weiter abrutscht. Ein Soziotherapeut ist vergleichbar mit einem guten und erfahrenen Begleiter.
8.1.6 Mit Ergotherapie üben und trainieren
8
Ergotherapie hat viele Fachrichtungen. Eine Fachrichtung ist die Arbeit mit Menschen, die an Folgen psychischer Störungen leiden. Sie wird auch schon auf den psychiatrischen Stationen und in der teilstationären Behandlung in der Tagesklinik angeboten. Ergotherapie kann helfen, krankheitsbedingte Einschränkungen zu lindern und die Belastbarkeit wieder zu steigern oder zu trainieren. Mit Hilfe von gezielten Programmen, und zum Teil auch mit PC-Training, können Einschränkungen der Aufmerksamkeit, des Konzentrationsvermögens, der Merkfähigkeit, des Arbeitstempos in Form von Verlangsamung, von rascher Ermüdbarkeit, reduzierter kognitiver Flexibilität, reduzierter Planungs- und Problemlösefähigkeit sowie die motorische Koordination gefördert und wieder entwickelt werden. In einem speziellen Gruppentraining können auch soziale Kompetenzen wieder trainiert werden.
8.2 Vielfältiges Beratungsangebot
Schuldenberatung
Ergotherapie
Beratungsstellen
Bei spezifischen Problemlagen bieten oft Beratungsstellen eine Möglichkeit, schneller kompetent zu beraten. Es gibt für viele Themenbereich Beratungsstellen, z. B. für Familien-, Erziehungsbeziehung, Paar- und Eheberatung Das Beratungsangebot der Suchtberatung ist inzwischen sehr differenziert. Suchtberatung wird zu verschiedenen Suchtmitteln angeboten und einzelne Beratungsstellen befassen sich inzwischen auch schon mit Internetabhängigkeit. Besonders erwähnen möchte ich noch die Schuldenberatungsstellen. Wirtschaftliche Probleme sind in ihrer Auswirkung auf die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit eines Mitarbeiters nicht zu unterschätzen. Sie können einen Mitarbeiter innerlich »auffressen«. Hier hilft nur eine handfeste Unterstützung bei der Regelung der finanziellen Angelegenheiten. Oft liegt die Arbeit in den Händen der betrieblichen Sozialberater, die in den Betrieben die ersten Ansprechpartner der Mitarbeiter sind. Wenn es diese vor Ort nicht gibt, dann sollte dem Mitarbeiter angeraten werden, auf die Hilfe einer Schuldenberatungsstelle zurückzugreifen. Auch dann, wenn es längere Wartezeiten gibt (. Abb. 8.2).
8.4 • Berufliche Rehabilitation
145
8
. Abb. 8.2 Hilfen in der Not. (© Christiane Weitendorf )
8.3
Weitere Angebote
Zusätzlich zu den therapeutischen und den Beratungsangeboten gibt es eine Vielfalt von Unterstützung durch unterschiedliche Formen des betreuten Wohnens und der individuellen persönlichen Hilfe durch Betreuer sowie Möglichkeiten, soziale Kontakte zu pflegen, z. B. in Treffpunkten und Tagesstätten. Wichtig zu erwähnen sind zahlreiche Selbsthilfegruppen sowohl für Betroffene als auch Angehörige. Für Angehörige ist eine Selbsthilfegruppe oft eine sehr segensreiche Einrichtung. Viele Angehörige sind im Umgang mit erkrankten Familienmitgliedern oft zunächst sehr hilflos und trauen sich oft auch aus Scham und Schuldgefühlen nicht an die Öffentlichkeit.
8.4
Selbsthilfegruppen
… auch für Angehörige
Berufliche Rehabilitation
Benötigt ein Mensch nach einer erfolgreichen medizinischen Behandlung weitere Unterstützung zur beruflichen Wiedereingliederung, gibt es verschiedene Möglichkeiten der individuellen Förderung durch spezielle Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Kostenträger für diese Maßnahmen sind in der Regel die Arbeitsagentur oder die Rentenversicherungsträger. Für Leistungen zur beruflichen Rehabilitation ist ein persönlicher Antrag auf Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben bei einem der Kostenträger notwendig. Im Folgenden will ich auf spezielle Angebote eingehen, die sich mit beruflichen Trainingsmaßnahmen für Menschen beschäftigen, die unter Folgen von psychischen Störungen leiden.
Nur auf Antrag
146
Kapitel 8 • Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische
8.4.1
Berufliche Trainingszentren
Sie gibt es inzwischen in fast allen Bundesländern. Berufliche Trainingszentren (BTZ) unterstützen Menschen, die aus psychischen Gründen zeitweise oder noch gar nicht am Arbeitsleben teilnehmen können. In den Beruflichen Trainingszentren können diese Menschen mit gezielten Trainingsmaßnahmen 5 sich wieder stabilisieren, 5 ihre Leistungsfähigkeit steigern, 5 fachliche Kenntnisse aufschulen, 5 Selbstvertrauen gewinnen, 5 soziale Kompetenzen entwickeln und 5 lernen, mit den Folgen der psychischen Störung im Arbeitsalltag umzugehen. Sie lernen ihre Grenzen zu achten, entwickeln ein Krisenmanagement zur Rückfallprophylaxe oder eigene Strategien zur Prävention und bereiten sich mit Hilfe von Praktika auf eine Wiedereingliederung in ihren alten Arbeitsplatz vor oder suchen sich während des Trainings einen neuen Arbeitsplatz im erlernten Beruf. Es gibt auch Teilnehmer, die ganz neue berufliche Perspektiven entwickeln. Berufliche Trainingszentren führen Maßnahmen durch 5 zur Belastungserprobung, 5 zur Arbeitserprobung und Berufsfindung und 5 zur Integration und zur Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und zur Vorbereitung auf Umschulung.
8
Fallbeispiele Angebote der beruflichen Trainingszentren
Frau Grün aus unserem ersten Kapitel (7 Kap. 1) ist nach erfolgreichem Training in ihren alten Betrieb zurückgekehrt. Jemand anderes stellt während seiner Genesungsphase fest, dass eine falsche Berufswahl auch mit für die Entwicklung einer Störung ausschlaggebend war. So kann es z. B. sein, dass eine Altenpflegerin oder Krankenschwester in einem Training feststellt, dass sie den Anforderungen dieses Berufes nicht mehr gewachsen ist. Ein Mediengestalter hat seinen Beruf zu Ende gelernt und schon während der Ausbildung festgestellt, dass diese Tätigkeit ihm nicht liegt. Er ist nicht ausreichend belastbar für diesen Beruf. Oder ein Vertriebsmitarbeiter ist ausgebrannt und will auch nicht mehr in den Vertrieb zurück. Er kann im Training lernen, auf seine Grenzen zu achten und in einem Praktikum überprüfen, ob es vielleicht andere Einsatzgebiete für ihn gibt oder ob er vielleicht doch wieder in seinem Beruf arbeiten kann, wenn er gelernt hat, besser für sich zu sorgen. Ein anderer hat einen handwerklichen Beruf gelernt, ist vom Typus aber eigentlich im Dienstleistungsgewerbe besser aufgehoben und hat während
8.4 • Berufliche Rehabilitation
147
8
seiner Berufstätigkeit festgestellt, dass er in einem eher männlich definierten Arbeitsbereich nicht zurechtkommt. Diese Reihe ließe sich beliebig fortführen.
Es besteht also auch in den Beruflichen Trainingszentren die Möglichkeit, sich beruflich umzuorientieren. So vielfältig und variantenreich wie die Arbeitsbiographien der BTZ-Teilnehmer sind, so individuell werden auch die Trainingsmaßnahmen gestaltet. Gibt es Anhaltspunkte, dass ein Mitarbeiter aus Ihrem Betrieb für seine berufliche Wiedereingliederung eine Trainingsmaßnahme sozusagen als Zwischenschritt braucht, ist es durchaus sinnvoll, mit einem der nahe gelegenen Trainingszentren Kontakt aufzunehmen oder sich bei den Rehabilitationsberatern des Arbeitsamtes oder der Rentenversicherung zu informieren. Neben den Beruflichen Trainingszentren gibt es regional auch andere Anbieter für berufliche Rehabilitationsmaßnahmen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch darin beraten die Arbeitsagentur und die Rentenversicherung.
8.4.2
Individuelles Training
Integrationsfachdienst
Die Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen können durch den Integrationsfachdienst direkt im Betrieb unterstützt werden. Er ist oft unterteilt in die Zuständigkeit für 5 Menschen, die an einer Erwerbsminderung aufgrund körperlicher Beeinträchtigung leiden, 5 Menschen, die Beeinträchtigungen der Sinne (also hörgeschädigte oder auch sehbehinderte Menschen) haben und 5 Menschen die aufgrund psychischer Beeinträchtigung Unterstützung benötigen. An den Integrationsfachdienst können sich sowohl Arbeitgeber als auch Betroffene wenden. Die Inanspruchnahme der Beratung ist für den Betrieb kostenfrei. Die Begleitung von Mitarbeitern in den Betrieb bei der Wiedereingliederung wird gefördert durch die Arbeitsagentur oder durch die Rentenversicherung. Die Integrationsfachdienste sind regional unterschiedlich, zum Teil sind sie an Bildungsträger angegliedert, zum Teil sind sie auch eigenständig. Informationen bekommt man über die Berater der Arbeitsagentur, der Rentenversicherung, über die Schwerbehindertenvertreter oder das Integrationsamt.
8.4.3
Unterstützung im Betrieb …
… und bei der Wiedereingliederung
Außerbetriebliche Berater
Für die Beratung im Einzelfall stehen auch die Servicestellen der Krankenkassen und der Rentenversicherungen – wenn es sie denn
Servicestellen
148
Kapitel 8 • Hilfsangebote und Behandlungsmöglichkeiten für die medizinische
Disability-Manager
8
in der jeweiligen Region gibt – zur Verfügung. Auch in den Servicestellen der Arbeitsagentur und in der Rentenversicherung arbeiten Rehabilitationsberater, die die berufliche Integration von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen unterstützen und ihnen beratend zur Seite stehen können. Die Fallmanager der Krankenkassen und in Einzelfällen auch die Berufshelfer der Unfallkassen können ebenfalls als Experten für die Beratung hinzugezogen werden. Alle diese Berater sind sachkundige kompetente Begleiter, deren Aufgabe es ist, die Versicherten beruflich wieder zu integrieren. Inzwischen gibt es seit ca. fünf Jahren zusätzlich ausgebildete und zertifizierte Disability-Manager, die ausgebildet sind, die berufliche und betriebliche Eingliederung zu unterstützen, zu koordinieren und den Betrieb auch bei der Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements zu beraten. Sie sind in größeren Betrieben häufig Mitarbeiter des werksärztlichen Dienstes oder der Sozialberatung. Die Disability-Manager arbeiten als Berufshelfer bei der Unfallkasse oder freiberuflich und können als Dienstleister engagiert und angesprochen werden. Kontaktmöglichkeiten gibt es über den Verein der Disability-Manager: www.vdima.de und www.disability-manager. de.
In verschiedenen Regionen haben sich Netzwerke zum Thema »seelische Gesundheit« zusammengefunden, die dazu beitragen wollen, dass Menschen, die Hilfe benötigen, schnell versorgt und beraten werden können. Da gibt es z. B. ein »Netzwerk Depression«, das sich die umfassende Versorgung und Prävention zum Ziel gesetzt hat. In ihm sind Ärzte, Kliniken, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, teilweise auch Krankenkassen vertreten. Etliche Krankenkassen bieten ihren Versicherten bereits eine integrierte Versorgung an. Es lohnt sich in jedem Fall dort einmal nachzufragen www.netzwerk-depression.de.
149
Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter 9.1
Wer sind die betrieblichen Helfer? – 150
9.2
Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten – 150
9.3
Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und Krankenhausbehandlung – 152
9.4
Stufenweise Wiedereingliederung – 153
9.5
Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung – 157
9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4
Vorbereitung auf die Rückkehr an den Arbeitsplatz – 157 Leitfaden für die stufenweise Wiedereingliederung – 158 Was ist, wenn die stufenweise Wiedereingliederung scheitert? – 158 Regelmäßige Überprüfung des Verlaufs – 161
9.6
Betriebliches Eingliederungsmanagement – 168
9
150
Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
In den letzten Kapiteln habe ich die Vielfalt der Behandlungsmöglichkeiten dargestellt. Im folgenden Kapitel geht es vorwiegend um die Unterstützung, die innerhalb des Betriebes erfolgen kann. Wenn es darum geht, individuelle Lösungen zu finden, sollten möglichst von Anfang an alle betrieblichen Helfer mit einbezogen werden.
9.1
Wer sind die betrieblichen Helfer?
Wer hilft mit im Betrieb?
In kleineren und mittleren Betrieben werden sich die Geschäftsführung, der Vorgesetzte, der Betriebsrat, der Personalrat oder die Mitarbeitervertretung und der betroffene Mitarbeiter zusammensetzen und beraten. In Großunternehmen kommen der Betriebsarzt oder der Werksarzt, die Sozialberatung und gegebenenfalls auch ein Schwerbehindertenvertreter hinzu. Es kann also durchaus vorkommen, dass der betroffene Mitarbeiter neben dem Betriebsrat als Mitarbeitervertreter noch zusätzlich einen oder eine Vertraute seiner Wahl dabei haben möchte. In kleineren Betrieben kann es sogar sinnvoll sein, ein Familienmitglied mit einzubeziehen. In großen Betrieben werden Gespräche mit Familienmitgliedern eher beim Werksarzt, der Sozialberatung oder beim direkten Vorgesetzten angesiedelt sein. Eine Vertrauensperson mit einzubeziehen, kann für den betroffenen Mitarbeiter eine große Unterstützung sein und ihm Sicherheit in großen Gesprächsrunden geben.
Gemeinsam und transparent
Ein gemeinsames Vorgehen aller Beteiligten hat für alle große Vorteile: Notwendige Unterstützungsmaßnahmen können vereinbart
9
werden und jeder kann seinen Beitrag dazu leisten. Die Vereinbarungen sind für alle transparent und notwendige Absprachen können miteinander sofort getroffen werden. So werden unnötiger Abstimmungsbedarf und Zeitverlust vermieden. Alle haben den gleichen Informationsstand und es ist nicht mehr möglich, die einzelnen Helfer gegeneinander auszuspielen. Wir erinnern uns an das Fallbeispiel im 7 Kap. 4. Dort wurde beschrieben, wie ein Mitarbeiter Probleme mit seinem Arbeitsvertrag hatte. Er zog die Personalabteilung, dann den Betriebsrat, seinen Vorgesetzten und die Sozialberatung einzeln in dieser Sache zu Rate. Das hatte zur Folge, dass alle einzeln und unabgesprochen aktiv wurden. Hier wäre ein gemeinsames Vorgehen viel schneller, effektiver und zielführender gewesen.
9.2
Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten
Je nach Problemlage können Lösungen aus unterschiedlichen Bereichen sinnvoll sein. Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten hat der Betrieb auf
9.2 • Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten
5 5 5 5 5
151
9
die Veränderungen der Arbeitsaufgabe, die Anforderungen, die Arbeitsbedingungen, das Umfeld und die sozialen Bezüge.
Zu prüfen ist, ob die Veränderung der Arbeitsaufgabe helfen kann, wenn eine Überforderung oder Unterforderung vorliegt. Ist die Arbeitsaufgabe zu unkonkret, die Einarbeitung nicht ausreichend, sind die Anforderungen an sich schon belastend, ist mit dem Mitarbeiter gemeinsam zu prüfen und zu besprechen, welche Maßnahmen dazu geeignet sind, ihn zu stabilisieren, vorübergehend zu entlasten und zu unterstützen. Das kann, wie gesagt, bei Über- oder Unterforderung eine Veränderung der Arbeitsaufgabe und der Anforderungen sein. Beispiele für Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind z. B. eine Kürzung der täglichen Arbeitszeit oder der Wochenarbeitszeit, eine befristete Befreiung aus der Wechselschicht oder von der Nachtschicht können ebenso sinnvoll und auch medizinisch notwendig sein. Ich denke, dass im Bereich der Arbeitszeitgestaltung ein gutes Entlastungspotenzial liegt. Neben der Arbeitszeit kann auch die Besetzung eine Einzelarbeitsplatzes Entlastung bringen, wenn z. B. ein Mitarbeiter verstärkt unter sozialen Ängsten oder auch unter Beobachtungsgefühlen leidet. Aus den Untersuchungen und Umfragen geht hervor, dass ein großer Anteil psychischer Fehlbelastungen sich aus sozialen Problemen aufgrund von Führungsverhalten und Konflikten am Arbeitsplatz entwickelt. In diesen Fällen bedarf es sicherlich intensiver Gespräche mit dem Mitarbeiter mit dem Ziel einer Konfliktlösung. Oft handelt es sich um eine längere Geschichte von Kränkung, Verletzung und Missverständnissen. Schön und entlastend ist es für alle Beteiligten, wenn es gelingt, den Konflikt zu lösen und Hemmnisse für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu beseitigen. Voraussetzung dafür ist eine vertrauensvolle Beziehung, die einen offenen Austausch ermöglicht und eine Klärung herbeiführen kann. Es gibt auch Konstellationen, in denen die Chemie einfach nicht oder auch nicht mehr stimmt oder in denen durch das Verhalten Einzelner »verbrannte Erde« entstanden ist, die sich nicht mehr befruchten lässt. Wenn möglich, kann auch innerhalb des Betriebes eine Versetzung erwogen werden, um die gespannte Arbeitssituation und alle Betroffenen zu entlasten. Bei Versetzungen in solchen Fällen sollte unbedingt auf die Passung auch in der neuen Konstellation geachtet werden, so dass nicht »der Teufel mit dem Beelzebub« ausgetrieben wird. ! Nun gibt es Mitarbeiter, die aufgrund ihrer Persönlichkeit immer wieder Schwierigkeiten haben, sich in ein neues Team oder eine neue Abteilung einzufügen, und die immer wieder eine Versetzung in eine andere Abteilung einfor-
Anforderungen prüfen
Kürzere Arbeitszeit?
Entlastung schaffen …
… auch zwischenmenschlich
Versetzung?
152
Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
dern. Bei ihnen kann Versetzung auch zur Konfliktvermeidung und zur Vermeidung einer Anpassungsleistung an die gegebenen Bedingungen dienen. Hier kann es hilfreich sein, diese »Versetzungsgeschichte« zu beenden, eine Grenze zu setzen und von dem Mitarbeiter eine Einordnung in die neue Arbeitsumgebung zu verlangen. Das hat erfahrungsgemäß schon bei etlichen Mitarbeitern in der Tat zu einer Klärung und Beruhigung der Verhältnisse geführt.
Grenzen setzen
Telearbeit
Die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten sind so vielfältig und variabel, dass ich sie hier nicht erschöpfend behandeln kann, sondern nur einige Anregungen geben wollte. Ich möchte an dieser Stelle Mut machen, auch ungewohnte Gedanken zu denken und ungewöhnliche Wege zu gehen. Sofern dies betrieblich möglich ist, können auch Telearbeitsplätze für manchen Mitarbeiter eine Entlastung sein. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass der Mitarbeiter auch weiterhin organisatorisch und betrieblich eingebunden bleibt, um den Kontakt zum Betrieb nicht zu verlieren.
9.3
9
Kontakt halten
Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und Krankenhausbehandlung
Eine Arbeitsunfähigkeit hat sich nicht vermeiden lassen und ein Mitarbeiter ist länger arbeitsunfähig. Längere Arbeitsunfähigkeitszeiten sind hier durchaus möglich. Für diese Zeit ist es für den Betroffenen eine gute und hilfreiche Unterstützung, wenn die Führungskraft und die Kollegen lockeren Kontakt halten und dem kranken Kollegen so zeigen, dass sie an ihn denken und er vermisst wird. Die lockere und feinfühlige Kontaktaufnahme hilft, die Verbindung zum Betrieb aufrecht zu erhalten und unterstützt den Genesungsprozess. Dies gilt auch, wenn ein Mitarbeiter aufgrund mitmenschlicher Probleme eine psychische Störung entwickelt hat oder schon durch Symptome seiner Störung im Arbeitsumfeld aufgefallen ist. Diese Symptome wie aggressives Verhalten, totaler Rückzug, distanzloses Verhalten, »verrückte Gedanken« klingen im Laufe der Behandlung wieder ab und sind dem Betroffenen womöglich auch unangenehm – und noch unangenehmer, wenn er später darauf angesprochen wird. Ein Kontakt zu einem vertrauten Kollegen oder zum Vorgesetzten kann eine gute und wichtige Brücke zurück in den Betrieb sein. Fallbeispiel Nach langer Krankheit von fast eineinhalb Jahren vor dem Hintergrund von Depressionen, Ängsten und Panikattacken kehrt Frau Lühmann wieder in ihren Betrieb zurück. Sie freut sich sogar, ihre Kollegen wiederzusehen, denn die Kollegen haben sich immer regelmäßig bei ihr gemeldet. Anfangs war sie noch eher ein bisschen reservierter, weil sie innerlich zur Ruhe kommen musste und Abstand brauchte, je besser
9.4 • Stufenweise Wiedereingliederung
153
9
. Abb. 9.1 Stufenweise Wiedereingliederung. (© Christiane Weitendorf )
es ihr ging, desto mehr sprach sie wieder mit ihren Kollegen und fühlte sich durch diese regelmäßigen Anrufe von den Kollegen getragen. Sie gaben ihr Halt und trugen auch zur Stabilisierung bei.
Es kann sein, dass zur Überwindung der Krise ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist und der Arzt den Mitarbeiter in eine Klinik einweist. Bei Klinikaufenthalten, auf psychosomatischen und psychiatrischen Stationen, können auch Krankenbesuche gemacht werden. Es empfiehlt sich jedoch, vorher anzurufen und zu fragen, ob ein Besuch erwünscht ist. Bei der Behandlung von psychischen Störungen kann es immer wieder zu starken Stimmungsschwankungen kommen, so dass ein Krankenbesuch nicht immer passend ist und z. B. der Kranke in einer Stimmung ist, in der er sich am liebsten verkriechen möchte oder einfach nur Ruhe braucht. In dieser Phase der Behandlung ist es gut, Kontakt zu halten und feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kranken einzugehen. Plötzliche Absagen sollen die Kollegen nicht persönlich nehmen, sondern als Zeichen einer noch bestehenden psychischen Labilität. Je länger die Arbeitsunfähigkeit und die Behandlung dauern, desto schwieriger ist es für den Betroffenen, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Für einen langsamen Einstieg hat sich eine stufenweise Wiedereingliederung bewährt.
9.4
Krankenbesuche
Stufenweise Wiedereingliederung
Eine stufenweise Wiedereingliederung dient dazu, den Mitarbeiter nach langer Krankheit schrittweise an die volle Arbeitsbelastung des bisherigen Arbeitsplatzes heranzuführen und den Übergang zur vollen Berufstätigkeit zu erleichtern. Durch die Steigerung der Arbeitszeit und Arbeitsbelastung im Rahmen eines überwachten Stufenplanes wird angestrebt, den Eingliederungsprozess günstig zu beeinflussen (. Abb. 9.1).
Schrittweise in die Arbeit zurück …
154
Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
… und sich dabei erproben.
Die stufenweise Wiedereingliederung ermöglicht dem Mitarbeiter, seine Belastbarkeit zu erproben und langsam zu steigern. Sie hilft, Versagensängste abzubauen und die Arbeitsanforderungen langsam zu steigern, bis die volle Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit erreicht ist. Die Zeit der stufenweisen Wiedereingliederung gilt immer noch als Arbeitsunfähigkeit und der Mitarbeiter erhält für diese Zeit Krankengeld. Bei längerer Arbeitsunfähigkeit ist zu beachten, dass die Zahlung des Krankengeldes auf 78 Wochen begrenzt ist. Ohne eine stufenweise Wiedereingliederung besteht das Risiko, dass bei normaler Arbeitsbelastung nach längerer Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Überforderung der Arbeitsversuch misslingt, so wie es bei Frau Grün in 7 Kap. 1 geschehen ist. Missglückte Arbeitsversuche führen oft zu einer erneuten Labilisierung der Betroffenen und zur Verlängerung der Arbeitsunfähigkeitszeiten. Sie zeigen, dass entweder der Zeitpunkt für eine Wiedereingliederung zu früh, die Stufen zu steil, oder die Steigerung der Anforderungen zu ungenau sind. Im ungünstigsten Fall kann ein Misslingen auch weitere Rehabilitationsmaßnahmen wie die berufliche Rehabilitation nach sich ziehen. Zur Veranschaulichung gebe ich im Folgenden ein Fallbeispiel eines ungünstigen Verlaufs. Fallbeispiel
9
Ein Mitarbeiter drängte immer wieder auf seinen Arbeitsplatz zurück, weil er unbedingt wieder arbeiten wollte. Er wurde ein Jahr nach der ersten stufenweisen Wiedereingliederung wieder krank. Es folgte ein längerer Krankenhausaufenthalt. Die zweite stufenweise Wiedereingliederung misslang. Ein erneuter Tagesklinikaufenthalt folgte. Beim dritten Versuch lehnte der Betrieb eine stufenweise Wiedereingliederung ab und erteilte dem Mitarbeiter den Auftrag, sich erst zu stabilisieren und dann Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation zu beantragen. Die berufliche Rehabilitation wurde abgelehnt mit dem Hinweis auf noch nicht ausreichende Stabilität. Er stellte einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Um sein Ziel – die Rückkehr auf seinen Arbeitsplatz – doch noch zu erreichen und um nach einigen Jahren Rente beruflich wieder Fuß zu fassen, besuchte er eine Werkstatt für behinderte Menschen. Sie hat ein niederschwelliges Angebot, das ihm auch bei geringer Belastbarkeit ermöglichte, seine Tage zu strukturieren und seine Arbeitsfähigkeiten zu trainieren.
Ein Mitarbeiter hat in diesem Fall sich und seine Leistungsfähigkeit überschätzt. Er war immer hoch motiviert, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren, hatte aber einen ungünstigen Krankheitsverlauf. Das ist manchmal tragisch, kann aber hin und wieder auch vorkommen. Insofern ist es ganz besonders wichtig, die stufenweise Wiedereingliederung so anzulegen, dass sie gelingen kann. > Eine stufenweise Wiedereingliederung gilt versicherungsrechtlich als Arbeitsunfähigkeit.
9.4 • Stufenweise Wiedereingliederung
Die Teilnahme eines Mitarbeiters daran ist freiwillig und der Arbeitgeber muss der stufenweisen Wiedereingliederung von seiner Seite aus zustimmen. Für die stufenweise Wiedereingliederung erstellt der behandelnde Arzt einen Stufenplan, der jeweils laufend überprüft und gegebenenfalls auch korrigiert werden kann. Die zeitliche Dauer kann sich über mehrere Wochen oder sogar Monate erstrecken. Eine Verordnung für eine stufenweise Wiedereingliederung wird in der Regel mit dem Arbeitgeber und der Krankenkasse abgestimmt.
155
9
Der Arzt stellt den Plan auf.
> Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine individuelle, auf den Mitarbeiter abgestimmte Maßnahme, die hinsichtlich der Arbeitszeit und der Anforderungen flexibel gestaltet werden kann.
Wie sieht die Planung der stufenweisen Wiedereingliederung aus? Sobald Mitarbeiter und Arzt zu dem Ergebnis kommen, dass der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben näher rückt, werden Gespräche mit allen Beteiligten geführt. Von Seiten des Betriebes ist mit dem Mitarbeiter zu klären, wie der Einstieg hinsichtlich der Arbeitsinhalte und des zeitlichen Rahmens gestaltet werden kann. > Für die Arbeitsinhalte bieten sich für den Anfang klare, überschaubare Aufgaben an, die dann im Verlaufe der stufenweisen Wiedereingliederung langsam inhaltlich gesteigert werden können.
Die Absprache über die Inhalte und die Ausgestaltung werden mit dem Mitarbeiter und den betrieblichen Helfern vorbereitet. Welchen Weg der Mitarbeiter wählt, um zum Betrieb den ersten Kontakt aufzunehmen, bleibt ihm überlassen. Das kann der Vorgesetzte, der Betriebsrat, der Fallmanager einer Krankenkasse, der werksärztliche Dienst oder ein anderer betrieblicher Helfer sein. Frau Grün z. B. (7 Kap. 1) war zuerst mit der Sozialberatung und danach mit dem werksärztlichen Dienst im Gespräch. Der angesprochene Helfer trägt dann die Informationen in den Betrieb und die Gespräche über die Planung der stufenweisen Wiedereingliederung können beginnen. Zunächst werden die zeitlichen Abläufe festgelegt. Nach meiner Erfahrung ist es gut, vorsichtig zu beginnen. Zwei bis drei Stunden tägliche Arbeitszeit für die ersten Wochen erscheinen ausreichend. Die tägliche Arbeitszeit sollte an die Belastbarkeit des Mitarbeiters angepasst werden und ein Einstieg mit zwei bis drei Stunden ist für den Anfang realistisch. Die Schwelle zurück in den Betrieb ist somit niedrig und kann die Ängste vor einer Rückkehr und vor einem Versagen gering halten. Mitarbeitern, die hoch motiviert sind und sofort wieder loslegen wollen, wird durch stufenweise Wiedereingliederung eine Grenze aufgezeigt, die daran erinnert: »Geh achtsam und vorsichtig vor!« Die zeitliche Steigerung der Arbeitszeit orientiert sich im weiteren Verlauf an der Belastbarkeit, der Ausdauer, der Konzentration und der Ermüdbarkeit. Die einzelnen Schritte werden gemeinsam
Klein anfangen Vorsichtig beginnen
156
Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
mit dem Vorgesetzten, dem Betroffenen und dem betrieblichen Ansprechpartner (»Helfer«) festgelegt. > Wichtig dabei ist, dass die Planungsschritte transparent sind und der Mitarbeiter beteiligt wird.
Zur Vorbereitung auf eine stufenweise Wiedereingliederung gibt es noch, bezogen auf die Störungsbilder, Unterschiede, die bedacht werden sollten. z Individuell gestalten
z Ängste überwinden
9
Ängste und Panikattacken
Für Menschen mit Ängsten und Panikattacken ist der konkrete Arbeitsbeginn eine große Hürde, da zusätzlich Versagensängste auftreten können, die sich nicht durch Vermeidung verringern, sondern nur durch den aktiven Schritt in den Betrieb überwunden werden können. Der Vorbereitung auf den beruflichen Wiedereinstieg kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Für den Betroffenen ist es hilfreich, sich mit seinen Ängsten auseinandersetzen zu können und z. B. erst einmal seinem alten oder möglicherweise auch künftigen Arbeitsplatz einen Besuch abzustatten, um sich vor Ort mit den Kollegen zu beschnuppern und »Stallgeruch« aufzunehmen. »Stallgeruch« ist im wahrsten Sinne des Wortes gemeint: Erinnern Sie sich an die anfangs in 7 Kap. 2 angeregten Bilder von Arbeitsplätzen, die wir als Szenen und Atmosphären in uns gespeichert haben? Durch den betrieblichen »Stallgeruch« werden sie wieder wachgerufen und können den Arbeitsbeginn positiv beeinflussen und die Schwellenangst senken. Nach den vorbereitenden Maßnahmen gilt es, einen Termin für den Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung festzulegen und mit dem Betroffenen die Ängste zu thematisieren. Dabei sollte man ihm deutlich machen, dass nach der Überwindung der ersten Ängste der Erfolg der Arbeitsaufnahme liegt. z
Bei Schamgefühlen helfen
Depression
Bei Menschen mit Depressionen kann es sinnvoll sein, die stufenweise Wiedereingliederung nicht unbedingt ganz früh am Morgen mit der Frühschicht zu beginnen, weil etliche depressive Menschen gerade unter einem morgendlichen Stimmungstief leiden. Da bietet es sich an, die Arbeitszeit auf den Vormittag zu legen und sich mit den Arbeitszeitsteigerungen dem tatsächlichen morgendlichen Arbeitsbeginn zu nähern. Zusätzlich sollten auch weitere Anfahrtswege bei Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung in der Arbeitszeitplanung eine Berücksichtigung finden.
Manie
Menschen, die an einer Manie erkrankt sind und sich im Betrieb besonders auffällig verhalten haben, haben vor der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz häufig Schamgefühle. Hier kann es helfen, den Kollegen am Arbeitsplatz zu vermitteln, dass das auffällige Verhalten bereits zur Symptomatik der Erkrankung gehört und dass diese Symptome
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
157
9
jetzt abgeklungen sind. Eine Information über die Erkrankung ist jedoch nur in Übereinstimmung mit dem Betroffenen möglich. z
Persönlichkeitsstörung
Menschen, die aufgrund einer Persönlichkeitsstörung eher Probleme im sozialen Verhalten haben, benötigen eine gute Vorbereitung hinsichtlich der Anpassungsleistung, die von ihnen am Arbeitsplatz verlangt wird. Sie brauchen einen festen Ansprechpartner, der die stufenweise Wiedereingliederung begleiten kann. Sinnvoll ist eine psychotherapeutische Begleitung oder eine professionelle Unterstützung durch Coaching oder einen Integrationsfachdienst. z
Feste Ansprechpartner
Abhängigkeitserkrankung
Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen sollten Arbeitsfelder meiden, die für sie eine Gefährdung darstellen. So wird ein Mensch mit einer Alkoholerkrankung nicht mehr in der Gastronomie arbeiten können. Hier wird an einen Wechsel des Arbeitsfeldes, gegebenenfalls auch an eine Umschulung gedacht werden müssen.
9.5
Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
Für die Planung der Arbeitsinhalte im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung ist ganz wesentlich ein Abgleich von Anforderungsund Fähigkeitsprofil der als Grundlage für die Eingliederungsplanung dient.
9.5.1
Vorbereitung auf die Rückkehr an den Arbeitsplatz
Neben der Vorbereitung auf die Wiedereingliederung mit der zeitlichen und fachlichen Planung soll auch die Planung der Rückkehr zu den Kollegen bedacht werden. Unsicherheiten und Vorurteile hinsichtlich psychischer Störungen stellen sich oft als Hemmnis für die Rückkehr an den Arbeitsplatz heraus. Die Kollegen sind unsicher, wie sie dem Rückkehrer begegnen sollen, und der betroffene Kollege ist unsicher und eventuell auch beschämt und weiß nicht, wie er auf seine Kollegen zugehen soll. Hier hat die Führungskraft die wichtige Aufgabe der Vermittlung und Unterstützung. Sie bespricht mit dem Rückkehrer das Thema und überlegt gemeinsam mit dem Betroffenen, welche Informationen die Kollegen vor der Rückkehr des Kollegen bekommen sollen. Der Betroffene alleine muss entscheiden, wie viel er seinen Kollegen über seine Erkrankung preisgeben möchte. Die Führungskraft sollte als Vermittler im Vorfeld die Kollegen informieren und die Kollegen ermuntern, sofern dies überhaupt
Was sollen die Kollegen wissen?
158
Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
notwendig ist, dem Betroffenen den Einstieg mit einem freundlichen Empfang zu erleichtern. Es bestehen große Unterschiede in der Vorstellung der Rückkehrer über das, was sie den Kollegen vermitteln wollen. 4 Die Kollegen sollen gar nichts von meinen Ängsten erfahren. Ich hatte ja auch noch Rückenprobleme.
4 Ich möchte ganz normal wieder anfangen. Die Kollegen sollen nichts von meiner Krankheit erfahren. Das wäre mir sehr unangenehm zu sagen, dass ich Ängste und Panikattacken hatte. 4 Ich habe mit meinen Kollegen über meine Ängste gesprochen und war ganz erstaunt, dass es auch andere Kollegen gab, die Ängste gehabt haben, oder die jemanden kannten, der das hatte. 4 Ich habe mir vorgenommen, meinen Kollegen etwas über Depressionen zu erzählen und sie über mein Krankheitsbild zu informieren. Für mich ist es wichtig, dass die Kollegen wissen, was mit mir los ist, und mir auch helfen können, indem sie auf mich achtgeben. 4 Ich sage erstmal gar nichts, weil ich nicht weiß, ob meine Vorgesetzte und Kollegen das nicht gegen mich verwenden.
9
9.5.2
Leitfaden für die stufenweise Wiedereingliederung
Grundsätzlich gehört die stufenweise Wiedereingliederung in die Zeit der Arbeitsunfähigkeit und ist gedacht als eine Belastungserprobung (. Tab. 9.1). Während der Zeit der stufenweisen Wiedereingliederung wird Krankengeld gezahlt. Es gibt einige Ausnahmeregelungen, wo z. B. die Hälfte der Zeit von der Krankenkasse bezahlt wird und die andere Hälfte vom Betrieb. > Der Plan der stufenweisen Wiedereingliederung ist kein Gesetz. Er kann bei Bedarf auch geändert und individuell neu angepasst werden.
9.5.3
Was ist, wenn die stufenweise Wiedereingliederung scheitert?
Zu befürchten ist ein Rückfall und weitere Arbeitsunfähigkeit. Hierbei bestehen die Gefahr und das Risiko, dass das Krankengeld ausläuft. Schon zu Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung darauf geachtet werden, dieses Risiko möglichst gering zu halten. Ist eine medizinische Rehabilitation vorrangig, muss ein Antrag auf Leistung zur medizinischen Rehabilitation gestellt werden. Kommt berufliche Rehabilitation als längerfristige Vorbereitung auf einen beruflichen Wiedereinstieg in Frage, muss ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation)
Der richtige Zeitpunkt für einen Wiedereinstieg muss ermittelt werden: Wie schätzt der Mitarbeiter seine derzeitige Belastbarkeit ein? Welche Beeinträchtigungen sind noch vorhanden? Welche inhaltlichen und terminlichen Vorstellungen hat der Mitarbeiter? Wie ist deren Einschätzung hinsichtlich der Belastbarkeit? Wie soll der zeitliche Rahmen aussehen? Er schreibt die Verordnung und legt die Stufen der Wiedereingliederung fest. Mit zwei bis drei Stunden täglicher Arbeitszeit sollte vorsichtig begonnen werden. Der Arbeitgeber sollte über den Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung informiert werden. In einem gemeinsamen Gespräch zwischen Mitarbeiter und Betrieb wird die stufenweise Wiedereingliederung geplant. Das Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes und das aktuelle Fähigkeitsprofil des Mitarbeiters werden abgeglichen: Was traut der Mitarbeiter sich zu? Passt das noch zum alten Arbeitsplatz oder soll die stufenweise Wiedereingliederung erst einmal an anderer Stelle begonnen werden? Liegt eine Schwerbehinderung vor? Wichtig: Bei der inhaltlichen Planung ist zu beachten, dass die Anforderungen und Arbeiten zu Beginn so gewählt werden, dass der Mitarbeiter auch schon kleine Erfolge zum Aufbau seines Selbstvertrauens verbuchen kann.
Vorgespräch mit dem Mitarbeiter
Vorgespräch mit den Behandelnden
Aufgabe des behandelnden Arztes
Information an den Arbeitgeber
Gemeinsames Gespräch
Abgleich von Arbeitsplatz und Mitarbeiter
Vorlauf bzw. Planung
Es muss allen Beteiligten klar sein, dass der berufliche Wiedereinstieg nach langer Arbeitsunfähigkeit mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist, und deshalb sorgsam an ein solches Projekt heran gegangen werden muss.
Voraussetzung
. Tab. 9.1 Leitfaden für die stufenweise Wiedereingliederung. (7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
159
9
Was sage ich wem und was muss der Vorgesetzte wissen? Was sage ich den Kollegen? Sage ich gleich zu Beginn etwas oder erst später? Wie ist die Einstellung der Kollegen, der Führungskraft, des Betriebes zu psychischen Störungen? Wichtig: Sicherlich ist es nicht sinnvoll, über Diagnosen zu sprechen, sehr wohl aber über Beeinträchtigungen, die durch die Krankheit entstanden sind. Von den Arbeitsanforderungen und dem Fähigkeitsprofil her ist auf die Passung zu achten, außerdem auf die soziale Passung mit den Kollegen und dem Vorgesetzten. Geht die Rückkehr auf dem alten Arbeitsplatz oder muss es ein leidensgerechter Arbeitsplatz sein? Geht es zurück zu den alten Kollegen oder besser zu neuen Kollegen? Zum alten oder auch zum neuen Vorgesetzten? Was ist, wenn die Passung nicht zustande kommen kann? Liegt eine Schwerbehinderung vor? Bieten sich andere Quellen der Unterstützung an? Es muss mit dem Betroffenen geklärt werden: Wie kann der Status quo für ihn erträglich gestaltet werden? In diesem Fall kann es auch sinnvoll sein, Informationen über die Krankheitsauswirkungen an die Führungskraft zu geben und sie in die Fürsorgepflicht zu nehmen. Festlegung eines Termins für den Beginn
Vorbereitung auf Kollegen und Vorgesetzte
Detailfragen klären
Zeitplan
Feedbackgespräche sollten regelmäßig stattfinden. Ein Wiedereinstieg nach längerer Erkrankung ist stets mit sehr viel Unsicherheit verbunden. Zur Förderung der Sicherheit trägt ein solches regelmäßiges Feedback bei. Wichtig: Die Termine schon zu Beginn vereinbaren. Bei positivem Verlauf werden die fachlichen und zeitlichen Anforderungen bis zur vollständigen Arbeitsaufnahme gesteigert. Wie sind die Erfahrungen?
Feedbackgespräche
Verlauf
Abschlussgespräch und Ausblick
Verlauf der Wiedereingliederung
Wie steht es um die Rückkehr zu den Kollegen? Freut sich der Mitarbeiter auf Sie? Gibt es noch alte Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten zu klären? Oder ist ein Wechsel in eine andere Abteilung zu einem anderen Vorgesetzten notwendig? Gibt es Belastungen aus dem privaten Umfeld? Wie ist der Mitarbeiter mit seiner Krankheit ausgeschieden? Gibt es noch »Reste von Scham«, die überwunden werden müssen? Gibt es Belastungen, bei denen der Mitarbeiter Unterstützung braucht? Gibt es einen Vertrauten, der bei der Arbeitsaufnahme unterstützen kann?
9
Psychosoziale Aspekte
. Tab. 9.1 Fortsetzung
160 Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
161
9
gestellt werden. In jedem Fall ist es sinnvoll, Gründe für das Scheitern herauszufinden, um einen zweiten verbesserten Anlauf nehmen zu können, wenn all die anderen Punkte nicht in Frage kommen.
9.5.4
Regelmäßige Überprüfung des Verlaufs
Während der stufenweisen Wiedereingliederung sollte in regelmäßigen Feedbackgesprächen überprüft werden, ob die Wiedereingliederung erfolgreich verläuft und der Plan so weiter bestehen kann oder ob die Planung korrigiert werden muss. Ausschlaggebend sind die Belastbarkeit und die fachlichen Anforderungen. Anhand zweier Fallbeispiele soll das Thema noch einmal veranschaulicht werden.
Regelmäßige Feedbackgespräche
Fallbeispiel Zur Vorgeschichte: Herr Grau ist Anfang 30. Er arbeitet als Maschinenführer und stellte sich auf Anraten des Arbeitsmediziners und der Sozialberatung bei mir vor. Er kam an einem Freitagnachmittag zu mir und berichtete: Er habe schon einmal als junger Mann Depressionen mit starken Suizidgedanken gehabt. Damals sei er in einer Klinik gewesen und das hatte ihm gut getan. Er hätte jetzt das Gefühl, er befände sich jetzt wieder in so einem Zustand wie damals und bräuchte Hilfe. Äußerlich sah er jämmerlich aus, dürr, abgemagert, kraft- und energielos. Für mich war klar, er gehörte dringend in stationäre Behandlung. Nun war es Freitagnachmittag und für eine Aufnahme in einer Klinik könnte er sich nur noch als Notfall selber einweisen. Oder er könnte versuchen das Wochenende zu überstehen, um dann am Montag zu seinem behandelnden Arzt zu gehen. Er entschied sich jedoch ganz anders. Er nahm am Montag nach dem Gespräch mit mir die Arbeit wieder auf. Vertrauensvoll wandte er sich an seinen Vorgesetzten und erzählte ihm von seinem schlechten Gesundheitszustand. Der Vorgesetze hatte glücklicherweise eine Schulung zum Umgang mit psychisch erkrankten Mitarbeitern bekommen und versuchte, ihm zunächst den inneren Druck zu nehmen. Er ließ ihm bei der Bewältigung seiner Arbeit freie Hand und sagte ihm: »Du machst so viel wie du kannst und teilst dir deine Arbeit deinen Kräften entsprechend ein.« Herr Grau versuchte noch zwei Tage an seinem Arbeitsplatz durchzuhalten, doch dann bekam er eine heftige Panikattacke, klappte im Betrieb zusammen und wurde mit dem Notarzt in die Klinik gebracht. Dort wurde er über ca. zehn Wochen stationär behandelt, acht Wochen davon auf einer Psychotherapiestation. Durch die Krankheitsbilder seiner Mitpatienten wurden ihm die Augen geöffnet, wie schlimm seine Erkrankung werden und welches Ausmaß die Erkrankung haben könnte. Er sah auch einige Patienten, denen es noch viel schlechter ging als ihm. Da entschied er für sich: »Da will ich nicht hin. Ich will etwas daran machen.«
Der Zusammenbruch
Mit dem Notarzt in die Klinik gebracht
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Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
Besuch vom Vorgesetzten
Nach der Entlassung mit der Eingliederung beginnen
Der Plan
9 Viele gute Vorsätze
Den Kollegen von der Krankheit erzählen
Aufklärung ist nötig
Sein Vorgesetzter hatte ihn in der Klinik besucht und ihm von seinen Sorgen um den Mitarbeiter berichtet. Herr Grau sagte dazu: »Da ist mir deutlich geworden, was man seiner Umwelt antut und zumutet, wenn man sich so verhält.« Er bekommt jetzt Medikamente, die ihm helfen, sich zu stabilisieren. Die will er jetzt eine Weile nehmen. Kurz vor seiner Entlassung aus der Klinik meldete er sich wieder und kündigte an, er wollte gleich nach der Entlassung mit der stufenweisen Wiedereingliederung beginnen. Also wurde ganz vorsichtig mit seiner stufenweise Wiedereingliederung begonnen. Die Planung sah folgendermaßen aus: 4 zwei Wochen lang täglich zwei Stunden Arbeit, Einsatz in der Qualitätssicherung, 4 vier Wochen lang täglich vier Stunden Arbeit, Einsatz in einem kleinen Projekt zusammen mit einem Ingenieur (das war für Herrn Grau eine völlig neue Tätigkeit in einem relativ ruhigem Umfeld), 4 drei Wochen lang täglich sechs Stunden Arbeit, weiterhin in dem kleinen Projekt; nach erfolgreichem Ablauf der sechs Stunden dann 4 Vollzeit mit dem Einsatz als Maschinenführer in seinem alten Arbeitsbereich an einer Maschine mit eher ruhigerer Umgebung. Da in diesem Betrieb im Schichtbetrieb gearbeitet wird, wurde geplant, dass Herr Grau zunächst ausnahmslos in der Frühschicht mitarbeiten sollte. Im Anschluss daran sollte er für mindestens sechs Monate am Zweischichtbetrieb teilnehmen. Soweit die Planung. Herr Grau hatte sich während des Klinikaufenthalts viel vorgenommen. Vor allem war ihm wichtig, das Gespräch mit den Kollegen zu suchen und sie über seine Erkrankung aufzuklären: Depression. Er wollte Ihnen sagen, dass er wieder arbeitet, um gesund zu werden, und dass er sich viel zu lange mit den Depressionen herumgeschlagen hat, bis es zu diesem schrecklichen Zusammenbruch gekommen war. Er wollte den Kollegen auch sagen, dass sie keine Schuld daran tragen. »Nur in der Krankheit werden von einem depressiven Menschen Dinge anders aufgefasst, man nimmt leicht alles persönlich, will die Kollegen nicht belasten und zieht sich jeden Schuh an. Ich möchte in Zukunft nicht mehr dauernd sagen: Ich fühle mich nicht wohl. Ich werde meine Kollegen bitten, mich anzusprechen, wenn sie Veränderungen an mir wahrnehmen, und ich wünsche mir wohlwollende Beobachtung und Ansprache.« »Ich werde meine Kollegen bitten, mich lieber einmal zu viel anzusprechen, als einmal zu wenig zu fragen. Ich denke, bei uns am Arbeitsplatz wird viel zu wenig miteinander gesprochen und ich finde, Aufklärung über Depression ist nötig. Dazu will ich im Betrieb mit meinen Erfahrungen beitragen.« Aber zunächst war er während der stufenweisen Wiedereingliederung mit sich selbst beschäftigt. Wir vereinbarten regelmäßige Gespräche nach den jeweiligen Etappen. Die Eingewöhnungsphase mit zwei Stunden ist gut gelaufen. Mit einer Arbeitszeit von täglich vier Stunden arbeitete er in einem kleinen Projekt.
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
Das war für ihn eine völlig neue Tätigkeit, sie machte ihn neugierig, sie machte ihm Spaß und das Umfeld war deutlich ruhiger als an seinem zukünftigen Arbeitsplatz. Gedanklich bereitet er sich jedoch schon auf seinen Einsatz an seinem alten Arbeitsplatz vor. Das Hauptproblem sah er in dem psychischen Druck, der am Arbeitsplatz aufgrund enger Vorgaben und hoher Stückzahlen in kurzem Zeitraum besteht. Der Druck verstärkt sich, wenn Gerätschaften defekt sind und die Führungskraft den Druck, den sie selber bekommt, an die Mitarbeiter weitergibt. Auch die Instandsetzung gerät unter Druck, wenn sie das Problem nicht gleich lösen kann und die Produktion durch ein defektes Gerät nur eingeschränkt laufen kann. Herr Grau nimmt sich vor, für den Einsatz am alten Arbeitsplatz sein Verhalten so zu ändern, dass er nicht mehr so unter Druck gerät. Er setzt sich folgende Ziele: 4 lernen, mich nicht verrückt zu machen und mir nicht jeden Druck anzuziehen und mich nicht um jeden »Scheiß« zu kümmern; 4 mehr Lob und Anerkennung von der Führungskraft einfordern; 4 wenn es in einer Situation zu wuselig und unübersichtlich wird, aus der Situation herausgehen, Abstand nehmen und neu beginnen, anstatt mich »festzubeißen« (»festbeißen« bringt nichts, habe ich festgestellt); 4 mir erlauben, nachfragen zu dürfen, wenn ich etwas vergessen habe; 4 wenn mir etwas auf der Seele brennt, aufschreiben, wenn ich es im Moment nicht woanders los werden kann; 4 lernen, meine eigenen Grenzen zu akzeptieren; 4 lernen, um Hilfe zu bitten. 4 Ich möchte mehr auf Zwischenmenschliches achten und die Kollegen als Menschen sehen, das gilt natürlich auch umgekehrt: Ich möchte auch als Mensch gesehen werden. Mit diesen Vorsätzen wechselte er, nachdem die drei Wochen mit sechs Stunden durchaus erfolgreich gelaufen waren, in seine alte Abteilung mit der vollen Arbeitszeit. Der erste Einsatz war an einer Maschine mit einer etwas ruhigeren Umgebung geplant. Im Umgang mit seinen direkten Kollegen setzt er sich folgende Ziele: 4 Ich will lernen, mich zu begrenzen und nicht mehr für alle da zu sein; 4 ich will mit meinen Kollegen über meine Erkrankung sprechen (das hatte er sich schon zu Beginn der Wiedereingliederung vorgenommen) und die Kollegen bitten, auf mich zu achten, wenn ich mich zurückziehe oder wenn sie feststellen, dass ich wieder dünner werde, denn Gewichtsverlust ist ein wichtiger Indikator. »Eine anderer Kollege«, berichtet er, »sei auch arbeitsunfähig gewesen und hat bereits Informationszettel zur Erkrankung Depression in der Abteilung verteilt.« Daran wollte er anknüpfen mit dem Bericht über seine Erfahrung. »Ich möchte für mich innerlich stopp sagen können
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9
Hauptproblem ist der Druck
Persönliche Ziele:
Nicht mehr um alles kümmern
Grenzen akzeptieren
Als Mensch gesehen werden
Nicht mehr für alle da sein
Die Kollegen bitten, auf mich zu achten
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Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
An die Grenzen herantasten
9
und es nicht mehr allen recht machen wollen. Ich möchte um Hilfe bitten, das ist für mich besonders schwierig, und auch mal Aufgaben an andere abgeben.« Herr Grau hat sich im Laufe des gesamten Prozesses immer wieder an seine Leistungsgrenze herangetastet. Einmal berichtete er mir, dass er einen kleinen »Hänger« gehabt hätte als Folge davon, dass er sich für einen zusätzlichen Arbeitseinsatz gemeldet hatte. Er musste feststellen, dass diese zusätzliche Belastung für ihn eine Überforderung dargestellt hatte und er über seine Grenzen hinausgegangen war. Nach einer längeren Phase im Zweischichtbetrieb gab es erste Versuche, sich auch wieder an die Nachtschicht heran zu tasten. Der Versuch, drei Tage in der Nachtschicht mitzuarbeiten, verlief erfolgreich, so dass nach ca. sechs Monaten des Wiedereingliederungsprozesses Herr Grau wieder voll in den Drei-Schicht-Betrieb integriert werden konnte. Rückblickend befragt, wie es denn im Moment aussieht, sagt er: »Och, ich kriege das schon ganz gut hin, mit ein paar Haken klappt es schon ganz gut. Mit den Kollegen habe ich gesprochen, einige haben mir auch zugehört. Das Abstandhalten kriege ich auch ganz gut hin. Aber ich weiß, ich muss auf mich noch eine Zeit lang aufpassen, dass ich nicht in alte Verhaltensweisen zurückfalle.«
Wiedereingliederung erfordert persönliche Entwicklung
An dieser Fallgeschichte kann man sehen, welche wichtigen Themen neben der fachlichen und zeitlichen Eingewöhnung den betroffen Mitarbeiter zusätzlich beschäftigen: 5 sich mit sich selber auseinanderzusetzen, 5 einen neuen Umgang mit sich und seiner Erkrankung zu finden, 5 alte Verhaltensweisen abzubauen bzw. zu überwinden und 5 zu einem neuen gesundheitsförderlichen Verhalten zu kommen.
Ist harte Arbeit
Das ist für die Betroffenen harte Arbeit, die in der Regel den ganzen Menschen in Anspruch nimmt und zu beglückenden Erfolgsmomenten führt, wenn es gelingt, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, sich abzugrenzen und die Kollegen um Hilfe zu bitten. So sind das die eigentlichen und großen Erfolge, die ein Mitarbeiter in der Wiedereingliederung erringen kann und die im weiteren Verlauf des Arbeitsprozesses gefestigt und erhalten bleiben wollen.
Lange krank
Frau Flux ist eine langjährige Mitarbeiterin, sie arbeitet als kaufmännische Angestellte. Sie ist eine tatkräftige, handfeste Frau. Sie arbeitet gerne, mit Leidenschaft und Einsatzfreude. Dabei hatte sie bei steigenden Anforderungen und steigendem Leistungsdruck nicht bemerkt, dass sie schon lange über ihre eigenen Grenzen gegangen war. Sie erkrankte an Ängsten und an einer Angst- und Panikstörung und war fast eineinhalb Jahre arbeitsunfähig. In dieser Zeit ging es ihr tageweise so schlecht, dass sie kaum das Haus verlassen konnte. Das war für sie eine ganz schlimme Zeit.
Fallbeispiel
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
Sie hat sich mit Hilfe fachärztlicher Behandlung und einer Gruppentherapie ganz langsam gefangen und wieder stabilisiert. Den Kontakt zu den Kollegen hatte sie immer lose behalten. Nach ca. 14 Monaten Arbeitsunfähigkeit wollte sie nun mit einer stufenweisen Wiedereingliederung beginnen. Es gab erste Vorgespräche mit den Kollegen und den Vorgesetzten und zum Start der stufenweisen Wiedereingliederung ein Gespräch mit der Personalleitung, der direkten Vorgesetzten, dem Leiter der Abteilung, dem Betriebsrat, Frau Flux und ihrem Coach. Alle sagten Frau Flux ihre Unterstützung zu. Ihr Eingliederungsplan sah folgende zeitliche Abstufung vor: 4 zwei Wochen mit zwei Stunden Arbeitszeit täglich, 4 zwei Wochen mit jeweils drei Stunden, 4 vier Wochen mit jeweils vier Stunden und 4 danach sechs Stunden als Vollzeit, da für weitere sechs Monate eine Arbeitszeit von 30 Stunden in der Woche geplant war. Alte Urlaubsansprüche wollte Frau Flux nach der stufenweisen Wiedereigliederung mit einem Tag pro Woche für eine halbes Jahr abgelten. So wurde im Anschluss für ein halbes Jahr ein 30-Stunden-Vertrag abgeschlossen. Frau Flux hatte auf diese Weise letztendlich am Ende der stufenweisen Wiedereingliederung eine Arbeitszeit von Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag jeweils sechs Stunden. Am Mittwoch wollte sie einen Urlaubstag aus dem alten Urlaub nehmen. Dies war eine Planung, die insgesamt einen vorsichtigen Einstieg ermöglichen sollte. Fachlich sah der Plan vor, dass sie die ersten zwei Wochen anwesend sein und schauen sollte, was die Kollegen so machen. Danach sollte sie klare, überschaubare, in sich abgeschlossene Aufgaben bekommen, die auch kleine Erfolgserlebnisse vermitteln konnten, um das Selbstvertrauen von Frau Flux wieder zu stärken. Weiterhin wurden ein regelmäßiger Austausch mit der direkten Vorgesetzten und Feedbackgespräche zur Unterstützung geplant. Nach vier Wochen erreichte den Coach ein erster Hilferuf. »Meine Psychotherapeutin ist krank, es ist mir alles zu viel, ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich glaube, ich muss das alles abbrechen.« Dank guter Verbindungen des Coachs konnte schnell eine neue Psychotherapeutin als Begleitung gefunden werden, die ganz konkret und praktisch mit Frau Flux das Arbeitsverhalten und die Belastungsfaktoren anschaute und mit ihr überprüfte, ob ihre Verhaltensweisen denn wirklich gesundheitsförderlich waren. Dabei gab es die ersten »Aha-Erlebnisse«. Diese betrafen z. B. die Kommunikation mit ihrem Vorgesetzten. Er hatte sie gefragt, ob sie nicht auch schon in der Wiedereingliederung für bestimmte Aufgaben ihre Fachkenntnisse mit einbringen könnte. Das ist ungefähr folgendermaßen abgelaufen: Gleich in der ersten Woche kam Herr Knoll zu Frau Flux. Herr Knoll: »Frau Flux können Sie uns nicht bei der Erarbeitung eines Konzepts für ein kleines Projekt unterstützen?« Frau Flux: »Ja, gerne, wobei denn genau?«
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9
Erste Vorgespräche
Der Stufenplan
Klare, überschaubare Aufgaben
Hilfe, es wird mir alles zuviel!
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Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
»Nein« sagen lernen zum
Chef…
… zu alten Verhaltensweisen und Ansprüchen.
Der Plan wird geändert
9
Phase des Umlernens
Her Knoll: »Es geht dabei um Folgendes: (…)« Frau Flux: »Ja, ich überlege es mir.« Die Folge dieser kleinen Sequenz: Frau Flux hatte eine schlaflose Nacht, geplagt von Ängsten und Selbstzweifeln, weil ihr das Ansinnen ihres Chefs so riesig vorkam, dass sie glaubte, davon völlig überfordert zu sein. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrem Chef und sagte die Aufgabe ab. Der Chef akzeptierte das und Frau Flux war erleichtert und völlig erschöpft, denn diese Aktion hatte sie sehr angestrengt. Es war ihr schwer gefallen, ihrem Chef »nein« zu sagen und sich selber ihre Grenzen eingestehen zu müssen. Die kleine Sequenz hat ihr gezeigt, dass sie den Anspruch hatte, nach eineinhalb Jahren Arbeitsunfähigkeit an alte Verhaltensweisen und Vorstellungen von sich anknüpfen zu können, nämlich tatkräftig und effektiv zu sein. Und das, obwohl ihr inzwischen auch klar geworden ist, dass Tatkraft und Effizienz zu ihrer Erkrankung beigetragen hatten. Ihre Angst, die schlaflose Nacht, die Verspannungen, der Schwindel und die Schmerzen sprachen jedoch eine deutliche Sprache: »So kannst du nicht mehr weitermachen, du bist nicht mehr die Macherin, sondern du solltest besser etwas vorsichtiger an die Arbeit herangehen.« Sie besprach dieses Ereignis mit ihrem Arzt. Der schlug vor, den Eingliederungsplan so zu verändern, dass Frau Flux auch schon während der vier Wochen mit vierstündiger Arbeitszeit den Mittwoch frei bekommt, um sich zu erholen. Der Plan, an fünf Tagen täglich vier Stunden zu arbeiten wurde entsprechend verändert. Sie arbeitete nun vier Wochen an vier Tagen mit vier Stunden täglich. Hier kann man noch einmal schön sehen, dass die Pläne der stufenweisen Wiedereingliederung keine festen Gesetze sind, sondern an die gesundheitlichen Bedingungen angepasst werden können. Spätestens mit dieser Erfahrung begann für Frau Flux die Phase des Umlernens, nämlich: 4 eigene Grenzen zu akzeptieren, 4 lernen »nein« zu sagen, 4 Aufgaben, wenn nötig, abzulehnen, 4 Pausen wahrzunehmen und vor allem 4 sich wichtig zu nehmen, für sich gut zu sorgen und sich nicht für alles verantwortlich zu fühlen. Frau Flux empfindet jetzt täglich bei der Arbeit immer noch eine permanente Anspannung. Sie beobachtet sich selbst und ihr Arbeitsverhalten und sie blickt auf das Geschehen im Betrieb mit dem Blick eines von außen kommenden Insiders. Sie nimmt Veränderungen im Vergleich zu früher wahr, sie sieht eine überbordende Arbeitsmenge und ihre Kollegen, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit sind. Sie bekommt Angst, denn sie will auf keinen Fall wieder krank werden. Sie will gerne wieder arbeiten, weil ihr Arbeit Spaß macht, sie ausfüllt und sie ihre Arbeit interessant und abwechslungsreich findet.
9.5 • Fachliche Planung der stufenweisen Wiedereingliederung
Sie muss für sich jedoch einen neuen Standort finden. Und immer ist er da der Vergleich mit früher. »Was konnte ich früher und wie stehe ich jetzt da?« Diese Phase der Neuorientierung in der sie merkt, es geht nicht mehr wie früher und es ist noch unklar, wie es denn gehen könnte, kostet sie viel Kraft. In dieser Phase ist die Unterstützung durch den Vorgesetzten besonders wichtig. Es gibt im Verlauf der Wiedereingliederung gute und nicht so gute Tage für sie. An guten Tagen wächst ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstbewusstsein und die schlechten Tage werfen sie wieder zurück. Dennoch zeigt die Tendenz nach oben und sie merkt, dass die Belastbarkeit langsam zunimmt. Die stufenweise Wiedereingliederung geht nach acht Wochen dem Ende zu. Das Resümee von Frau Flux ist: »Wenn ich die Stunden, die ich im Betrieb gewesen bin, zusammennehme und auf eine 30-Stunden-Woche hochrechne, dann komme ich auf ca. drei Wochen und in dieser Zeit habe ich unheimlich viel geschafft.« Dieser Satz macht die ganze Zwiespältigkeit deutlich, nämlich einerseits den Stolz darauf, wie viel sie in dieser Zeit für sich erreicht hat, andererseits aber auch die Sorgen: 4 Wie kann es weitergehen? 4 Wo fädele ich mich ein? 4 Wo kann ich selber an mir arbeiten? 4 Wo muss ich mich abgrenzen, um gesund zu bleiben? »Stufenweise Wiedereingliederung – das ist total anstrengend«, sagt sie. Es findet am Ende eine Auswertung in großer Runde mit der Personalleitung, dem Abteilungsleiter, dem Betriebsrat, Frau Flux und dem Coach statt. Frau Flux berichtet noch einmal über alle Höhen und Tiefen dieser stufenweisen Wiedereingliederung. Sie trägt ihre Ängste und Bedenken vor und spricht über ihre Ziele und Verhaltensänderungen. Ihr oberstes Ziel ist es, bloß nicht wieder krank zu werden. In diesem Gespräch wird ihr von der Führungskraft und der Personalleitung noch einmal verdeutlicht, dass man froh sei, dass sie wieder da ist. Eigentlich hatte man noch gar nicht mit ihr gerechnet. Sie sei zurzeit eigentlich zusätzlich da, denn es gäbe für sie ja noch eine Vertretungskraft in der Abteilung. Diese Nachricht entlastet Frau Flux enorm. Auch die Anfrage des Chefs wegen der zusätzlichen Aufgabe kommt noch einmal zur Sprache und es stellt erst jetzt heraus, wie der Chef es gemeint und geplant hatte: nämlich als kleine, in sich abgeschlossene Aufträge, so wie es vorab für die gesamte stufenweise Wiedereingliederung geplant und besprochen war. Hier zeigt sich doch wieder, wie wichtig das gemeinsame Gespräch ist und wie produktiv es werden kann, wenn der Gesprächsfaden nicht abreißt und jeder die Knackpunkte, die ihn beschäftigen, auch immer wieder auf den Tisch bringen kann.
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Neuorientierung
Gute und schlechte Tage
»Stufenweise Wiedereingliederung – das ist total anstregend!«
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Kapitel 9 • Betriebliche Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der psychisch belasteten Mitarbeiter
9.6
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Ergänzend zu den bestehenden betrieblichen Möglichkeiten gibt es seit 2004 die neue Vorgabe des Gesetzgebers im SGB 9 § 84 Abs. 2. Dieses neue Gesetz verpflichtet die Arbeitgeber, demjenigen Mitarbeiter, der innerhalb von 12 Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist, ein betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten. Gesetzliche Verpflichtung
»
SGB 9: § 84 (2): Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 93, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement).
«
9
Gesundheit herstellen Fehlzeiten vermeiden Arbeitskraft erhalten
Die Rehabilitationsträger (Krankenkassen, Unfallversicherungen und Sozialversicherungsträger) und die Integrationsämter können Arbeitgeber, die ein betriebliches Eingliederungsmanagement einführen, durch Prämien oder einen Bonus fördern. Ziel der Gesetzgebung ist ausdrücklich, die Gesundheit des erkrankten Mitarbeiters wieder herzustellen, zukünftige Fehlzeiten zu vermeiden, die Arbeitskraft auch derjenigen Mitarbeiter zu erhalten, die gesundheitliche Einschränkungen haben, und Kündigungen zu vermeiden. Verantwortung für das betriebliche Eingliederungsmanagement liegt bei der Unternehmensführung. Sie kann bei Bedarf auch Experten, z. B. aus der Krankenkasse, der Rentenversicherung, den Unfallkassen oder der Arbeitsagentur, hinzuziehen. z
Eingliederungsprozesse optimal begleiten
Der Disability-Manager
Aus den Anforderungen, die das betriebliche Eingliederungsmanagement an die Durchführung stellt, hat sich ein neuer Beruf entwickelt – der Disability-Manager. Er verfügt über alle rechtlichen Kenntnisse, die für ein betriebliches Eingliederungsmanagement erforderlich sind, und in der Regel über ein Netzwerk, das die Eingliederungsprozesse optimal begleiten und unterstützen kann. Mehr dazu finden Sie unter www.disability-manager.de und wenn Sie konkret jemanden suchen, finden Sie zertifizierte und gut ausgebildete Disability-Manager unter www.vdima.de. Das ist der Verein der zertifizierten Disability-Manager. Das Zertifikat muss durch strenge Fortbildungsvorgaben immer wieder neu bestätigt werden. z
Situation für den Mitarbeiter
In großen Betrieben sind diese Eingliederungsprozesse allgemein geregelt. Das Wichtigste bei diesem Vorgehen bleibt, den Mitarbeiter dafür zu gewinnen und ihn zu überzeugen, dass das Engagement des
9.6 • Betriebliches Eingliederungsmanagement
Betriebes der Förderung der Gesundheit des Mitarbeiters dient und nicht zu seinem Nachteil geraten soll. Die Teilnahme am betrieblichen Eingliederungsmanagement ist in jeder Phase freiwillig und bedarf immer der Zustimmung des Mitarbeiters. Die Hauptfragestellung des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist: Hängt die Erkrankung mit betrieblichen Bedingungen und Arbeitsbedingungen zusammen und was kann der Betrieb dazu tun, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, die Wiedereingliederung zu unterstützen und einer erneuten Erkrankung vorzubeugen? Dabei wird strikt auf Datenschutz und Schweigepflicht geachtet. Daten werden nur mit Einverständnis des betroffenen Mitarbeiters eingeholt und an erforderliche Stellen weitergeleitet. z
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Den Mitarbeiter gewinnen
Situation für den Betrieb
Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist einerseits eine Maßnahme, die die betriebliche Wiedereingliederung unterstützen soll, andererseits ist die Aufgabe auch präventiv ausgelegt. Wie das betriebliche Eingliederungsmanagement im Einzelnen in den Betrieben umgesetzt werden kann, hängt vor allem von der Größe des Betriebes ab. Unterstützung bei der Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements erhalten die Betriebe von den Berufsgenossenschaften, den Krankenkassen und den Rentenversicherungsträgern. Das Eingliederungsmanagement trägt dazu bei, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten, und dient auch als Mittel zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Maßnahmen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement ergänzen die Bemühungen der Betriebe um den Arbeitsschutz und die Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung. Die Ergebnisse und Analysen aus dem betrieblichen Eingliederungsmanagement können eine Grundlage sein für das Einleiten von präventiven und gesundheitsförderlichen Maßnahmen sowie die Gewährleistung einer nachhaltigen Integration auch leistungsgewandelter Mitarbeiter.
Grundlage für Prävention
171
Prävention 10.1
Studien zur Prävention – 172
10.1.1
10.1.5
Studienergebnisse der INQA–Studie: Was ist gute Arbeit? – 173 DGB-Index »Gute Arbeit« – 178 Wie kann man gegensteuern? – 180 »Great place to work«: ein Arbeitsplatz, an dem man sich wohlfühlt – 182 Erkenntnisse aus den berichteten Studien – 183
10.2
Ansätze für Prävention – 184
10.2.1 10.2.2
Unternehmenskultur – 185 Gesundes Führen bzw. mitarbeiterorientierte Führung – 190 Gefährdungsbeurteilung – 202 Gesundheitsmanagement – 209 Maßnahmen zum Gesundheitsmanagement – 213
10.1.2 10.1.3 10.1.4
10.2.3 10.2.4 10.2.5
10
172
Kapitel 10 • Prävention
In den letzten Kapiteln habe ich mich auf die Früherkennung von psychischen Störrungen und dem Umgang mit dem Einzelfall konzentriert. Es soll jetzt auch übergeordnet die Frage gestellt werden: »Was ist denn zu tun, damit es gar nicht erst zu psychischen Störungen am Arbeitsplatz kommt?« Andersherum gefragt: »Welche Arbeitsbedingungen erhalten Mitarbeiter gesund?« Wie kann ein Betrieb psychischen Störungen vorbeugen und im Rahmen der Arbeit sogar psychisches Wohlbefinden fördern und erhalten?
10.1
Studien zur Prävention
Wie kann man vorbeugen?
Im Folgenden werden Ergebnisse dreier Studien vorgestellt, die sich mit Prävention beschäftigen. 5 Eine Studie wurde von der Initiative »Neue Qualität der Arbeit« (INQA) durchgeführt und gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahre 2004. Sie hat die Fragestellung: »Was ist gute Arbeit? Anforderungen an gute Arbeitsbedingungen aus der Sicht von Erwerbstätigen« (Fuchs, 2006). 5 Der DGB-Index »Gute Arbeit ist als regelmäßige Berichterstattung gedacht über die Entwicklung der Arbeitsbedingung aus der Sicht der Beschäftigten. Der Index baut auf der Fragestellung und die INQA-Studie auf und ich stelle einige aktuelle Ergebnisse aus dem Jahre 2009 dar (Fuchs, 2010). 5 Die »Great-place-to-work«-Studie dient zur Ermittlung sehr guter Arbeitgeber, die sich in besonderer Weise um die Gesundheit der Mitarbeiter verdient gemacht haben. In dieser Studie geht es um das psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter. Das Great-place-to-work-Institut führt regelmäßig Studien zur Organisationsentwicklung durch (Hauser & Pleuger, 2009).
Welche Maßnahmen eignen sich?
Nach der Darstellung der Forschungsergebnisse beschäftigen wir uns mit den Schlussfolgerungen: Was bedeuten die Studienergebnisse für die Gestaltung des Betriebsklimas und der Betriebsstrukturen, das Führungsverhalten und den Gesundheitsschutz? Welche Anforderungen werden im Einzelnen gestellt? Welche Maßnahmen eignen sich besonders zur Förderung psychischen Wohlbefindens und zur Vermeidung psychischer Störung am Arbeitsplatz? Hier bietet insbesondere die betriebliche Gesundheitsförderung gute Möglichkeiten, für psychisches Wohlbefinden zu sorgen und mit Hilfe von Gefährdungsanalysen hinsichtlich psychischer Belastungen Hinweise zur Ursachenbekämpfung zu bekommen.
10
10.1 • Studien zur Prävention
10.1.1
173
10
Studienergebnisse der INQA–Studie: Was ist gute Arbeit?
Ziel der Untersuchung war die Frage: Was verstehen Menschen unter guter Arbeit und welche Anforderungen werden an gute Arbeit und Arbeitsbedingungen gestellt? In einem zweiten Schritt wurde untersucht, wie weit die vorherrschenden Arbeitsbedingungen den Vorstellungen von guter Arbeit nahe kommen. Welche Aspekte fördern psychisches Wohlbefinden und erhalten die Mitarbeiter gesund? Die Untersuchung ist eine theoretisch fundierte und repräsentative Umfrage an 5 400 Erwerbstätigen. Es ging INQA mit dieser Untersuchung darum, ein Leitbild zu schaffen, Anforderungen an gute Arbeit aufzuzeigen und Handlungsbedarf deutlich zu machen. Das Ziel dessen war es, gesunde (auch psychisch gesunde) und leistungsfähige Mitarbeiter zu haben, die sich an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen, sich mit ihrem Betrieb identifizieren, mit Engagement und Kreativität arbeiten und die Entwicklung des Betriebes verantwortlich mitgestalten.
INQA-Studie
Anforderungen an gute Arbeit Als Ergebnis der Befragung wurden 25 verschiedenen Anforderungen an gute Arbeit festgestellt, die von mindestens mehr als der Hälfte der Befragten als bedeutsam angesehen werden. Aus diesem Top 25 wurden sieben wesentliche Aspekte herauskristallisiert. z
Sicherer Arbeitsplatz mit festem Einkommen
Für 92% ist ein sicherer Arbeitsplatz am wichtigsten mit einem festen Einkommen, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Gesundheit und Bildung ermöglicht. Das Einkommen soll in einem angemessenen Verhältnis zur Arbeitsleistung stehen. Weicht dieses Einkommen deutlich von der als angemessen empfundenen Balance ab, stellt diese Disbalance einen eindeutigen demotivierenden Faktor dar. Ganz drastisch ausgedrückt bedeutet es, dass Menschen, die permanent unter finanziellen und existenziellen Sorgen und Nöten leiden, psychisch belastet sind und nicht über ihre volle Arbeits- und Leistungsfähigkeit verfügen können. z Sinnvolle und abwechslungsreiche Arbeit 85% betonen die Bedeutung sinnlicher und kreativer Merkmale der
Sicherer Arbeitsplatz Festes Einkommen
Spaß, Abwechslung und Sinn
Arbeit – Arbeit soll Spaß machen, sie soll als sinnvoll empfunden werden, abwechslungsreich sein und die Beschäftigten möchten stolz auf die Arbeitsergebnisse sein. Die Menschen wollen in ihrer Arbeit einen Sinn sehen und Sinnvolles tun. z Sozialer Aspekt der Arbeit 84% ist der soziale Aspekt der Arbeit wichtig. Sie wollen als Mensch
wahrgenommen, geachtet und geschätzt werden. Ihnen ist die Förderung von Kollegialität und Solidarität sowie gegenseitige Unter-
Mensch sein
174
Kapitel 10 • Prävention
stützung wichtig. Hier zeigt sich, wie wichtig das zentrale Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist. z Gesundheit
z Handlungsspielraum
10
Gute Arbeit:
Entwicklungsmöglichkeiten
Entwicklungsmöglichkeiten sind für 66% der Beschäftigten ein Kriterium guter Arbeit. Gute Arbeit fördert persönliches Wachstum, bietet Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, durch Verantwortung persönlich zu wachsen und aus Fehlern lernen zu können. Dabei wird betont, dass die Entwicklungsmöglichkeiten in den Arbeitsaufgaben an sich liegen, also in der täglichen Auseinandersetzung mit den Arbeitsanforderungen liegen sollen. Fortbildung kann diesen Aspekt der täglichen Herausforderung nicht ersetzen, lediglich ergänzen. z
Gute Führung
Einfluss und Handlungsspielraum
Dem Einfluss und Handlungsspielraum messen 71% eine große Bedeutung bei. Die Arbeitsorganisation und die Arbeitsbedingung sowie die Inhalte mitgestalten zu können und Mitspracherechte zu haben, wenn es um die Gestaltung der Arbeitsbedingungen geht, ist für fast drei Viertel der Beschäftigten wichtig. z
Persönliche Entwicklung
Gesundheitsschutz
An vierter Stelle steht für 74% der Gesundheitsschutz. Es zeigt die Bedeutung des betrieblichen Gesundheitsschutzes für die Mitarbeiter. Er umfasst letztendlich die Gestaltung der Arbeitsorganisation, der sozialen Beziehungen, der Führung und der Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten. Betriebliche Gesundheitsförderung kann eine große Chance sein für die gemeinsame Gestaltung eines gesundheitsförderlichen Arbeitsumfeldes.
Vorgesetzte mit Führungsqualität
Gleichauf mit 66% wird die Anforderung an die Führungsqualität des direkten Vorgesetzten gestellt. Er soll für eine gute Arbeitsplanung sorgen, Unterstützung, Anerkennung, Lob und konstruktive Kritik geben sowie die fachliche und berufliche Entwicklung der Mitarbeiter fördern und Verständnis für persönliche Probleme haben. Dies zeigt noch einmal die emotionale Qualität, die im Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter steckt, und die Bedeutung, die die Beziehung zwischen dem direkten Vorgesetzten und dem Mitarbeiter hat. Zusammengefasst liest sich das Ergebnis von INQA so: »Gute Arbeit bedeutet aus der Sicht von Arbeitnehmer/innen: 5 ein festes verlässliches Einkommen zu erhalten, 5 unbefristet beschäftigt zu sein, 5 kreative Fähigkeiten in die Arbeit einbringen und entwickeln zu können, 5 Sinn in der Arbeit zu erkennen, 5 Anerkennung zu erhalten,
10.1 • Studien zur Prävention
175
10
5 soziale Beziehung zu entwickeln und 5 die Achtung bzw. der Schutz der Gesundheit« (Fuchs, 2006, S. 14). Die Anforderungen sind hoch. Wie sieht denn nun die Arbeitsrealität aus? Wie steht es um Fehlbeanspruchung und Ressourcen?
Anforderungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen Wie sieht tatsächlich die Situation hinsichtlich der Belastungsfaktoren in den Betrieben aus? Als Hauptbelastungsfaktor wurde von den Befragten Arbeitsplatzunsicherheit genannt. Und da werden nicht nur die Angst vor Arbeitsplatzverlust (59%), sondern auch die Befürchtung, keinen gleichwertigen Arbeitsplatz wiederzufinden, und die Befürchtung einer ungewollten Versetzung genannt. Es empfinden 48% körperlich schwere oder auch eintönige Arbeit (dazu gehörte häufig auch PC-Arbeit) als Belastung. Komplexe Arbeitsanforderungen werden von 47% als Fehlbeanspruchung erlebt (dazu gehören Anforderungen, mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen zu müssen, Aufgaben zu haben, die lange Konzentration erfordern, sowie Arbeiten, die sehr genau mit geringer Fehlertoleranz ausgeführt werden müssen). Daran schließen sich fast gleichwertig qualitative und quantitative Über- und Unterforderung, hohe Arbeitsintensität und emotional Anforderung an. Insgesamt zeigt die Untersuchung ein hohes Maß an Fehlbeanspruchung. Es erleben 57%, also über die Hälfte der abhängig Beschäftigten, Fehlbeanspruchungen in zehn der möglichen 15 Dimensionen. Das bedeutet, dass die Beschäftigten zwei Drittel der gestellten Aufgaben als subjektiv belastend empfinden. Nur 11% der Arbeitnehmer empfinden ihre derzeitige Arbeitsbedingung als nicht belastend. Es ist schon ein beeindruckendes Ergebnis. Fassen wir noch einmal zusammen. Als Hauptbelastungsfaktoren wurden genannt: 5 Arbeitsplatzunsicherheit, 5 körperlich schwere oder eintönige Arbeit, 5 komplexe Arbeitsanforderungen, 5 quantitative und qualitative Überforderung, 5 hohe Arbeitsintensität und 5 emotionale Belastung.
Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten Anforderungen führen nicht per se zu Fehlbeanspruchungen. Es hängt von den persönlichen Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten ab, die eine Person zur Verfügung hat, ob eine Anforderung subjektiv als Fehlbeanspruchung und im umgangssprachlichen Sinne als Belastung empfunden wird oder als Herausforderung und Entwicklungsmöglichkeit.
Angst vor Arbeitsplatzverlust
Komplexe Anforderungen
Hohes Maß an Fehlbeanspruchung
Hauptbelastungsfaktoren
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Kapitel 10 • Prävention
Kollegiale Unterstützung
Sinnvolle Tätigkeit
Wertschätzung
Wesentliche Ressourcen
10
Wie sehen denn nun die Anteile an Ressourcen in der Arbeitsrealität aus? Als wichtigste Ressource wird aus dem Arbeitsumfeld die Unterstützung durch Kollegen genannt. Unterstützung geben 83% als wichtigste Ressource an: bei Bedarf Hilfe zu erhalten, ein gutes Arbeitsklima zu haben und Anerkennung und Kritik durch die Kollegen zu bekommen. Eine weitere Ressource ist die positive Rückmeldung durch die Arbeit an sich. Die eigene Tätigkeit wird als sinnvoll erlebt und das Arbeitsergebnis zeigt direkt, ob die Arbeit gut war. So bekommt der Mitarbeiter direkt Rückmeldung durch die eigene Tätigkeit und die Arbeit. Diese Ressource haben 68% zur Verfügung. Unterstützung durch Vorgesetzte wird von 52% der Befragten genannt: Die Führungskraft zeigt Beachtung und Wertschätzung, hilft und unterstützt, plant die Arbeit gut, löst Konflikte gut, vermittelt Anerkennung und achtet auf die Entwicklung der Mitarbeiter. Es berichten 40%, dass sie Einflussmöglichkeiten auf die Arbeit haben, 38% sehen Möglichkeiten für Kreativität und Abwechslung bei der Arbeit und nur 30% haben Möglichkeiten zur Weiterbildung. Lediglich 12% haben volle persönliche und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb. Immerhin geben 46% an, dass ihr Wissen und Können bei der Arbeit weiterentwickeln können, aber nur 15% sehen für sich Karrieremöglichkeiten im Betrieb. Fassen wir die wesentlichen Ressourcen noch einmal zusammen, dann sind das: 5 soziale Unterstützung durch Kollegen, 5 sinnvolle Tätigkeit, positive Rückmeldung durch das Arbeitsergebnis, 5 Unterstützung durch Vorgesetzte, Anerkennung und Wertschätzung, 5 Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielraum, 5 abwechslungsreiche Tätigkeiten und 5 Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.
Bewertungen der Arbeitsbedingungen Im Wesentlichen haben sich in der Untersuchung drei Grundkonstellationen von Arbeitssituationen herauskristallisiert: z Gute Arbeit
z Mittelmäßige Arbeit
»Gute Arbeit«
Gute Arbeit verfügt über ein mittleres bis hohes Ressourcenpotenzial, ein niedriges Fehlbeanspruchungsniveau und ein existenzsicherndes Einkommen. 3% beschreiben eine hohe Qualität der Arbeit, die auch verbunden ist mit einem hohen Maß an Arbeitszufriedenheit. Arbeit zwischen Perspektive und Überbeanspruchung
Mit »Arbeit zwischen Perspektive und Überbeanspruchung« ist gemeint, dass einem guten Ressourcenspektrum ein hohes Maß an Fehlbeanspruchungen gegenübersteht. In dieser Gruppe erfahren 68% z. B. eine hohe Komplexität der Arbeit als Belastung, 65% empfinden
10.1 • Studien zur Prävention
177
10
Arbeitsplatzunsicherheit und 61% arbeiten so sehr unter Zeitdruck, dass sie Abstriche an der Qualität der Arbeit machen müssen. Dies stellt insbesondere eine starke Belastung der Psyche dar und sorgt für massive Unzufriedenheit, wenn Abstriche in der Qualität in Kauf genommen werden müssen. So werden auch die direkte Rückmeldung und die Zufriedenheit mit dem Arbeitsergebnis beeinflusst. Die Möglichkeit »Ich habe ein gutes Produkt hergestellt, ich habe eine gute Dienstleistung erbracht« wird durch Qualitätsabstriche geschmälert. Insgesamt wird der größte Teil der Arbeitsplätze zu diesem mittleren Spektrum gezählt. z
Belastende ressourcenarme Arbeit
Ein gewaltiges Spektrum an Fehlbelastung ist bezeichnend für den Typ »belastende ressourcenarme Arbeit«. Hier fehlt das Ressourcenpotenzial, der Sinn ist wenig erkennbar, die Bezahlung ist häufig niedrig und die Angst vor Arbeitslosigkeit verbreitet. Einer beruflichen Veränderung werden wenige Chancen eingeräumt. Als Lichtblick und als Ressource wird die Unterstützung der Kollegen gesehen. Die Mitarbeiter sind oft resigniert und eher unzufrieden (Fuchs, 2006).
Schlechte Arbeit
Wie sieht es mit der Arbeitszufriedenheit und Gesundheit aus? Wie wirken sich nun diese unterschiedlichen Arbeitsbedingungen auf die Arbeitszufriedenheit, die Gesundheit und das Wohlbefinden aus? Die Ergebnisse zeigen, es gibt einen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Qualität der Arbeit (das Verhältnis von Fehlbeanspruchung, Ressourcen, Gesundheitsschutz und Einkommen), der Arbeitszufriedenheit und der Gesundheit. Eine hohe Arbeitsqualität fördert zusätzlich positive Gefühle wie Stolz, Freude, Begeisterung und die Verbundenheit mit dem Betrieb, und sie trägt maßgeblich zur Arbeitszufriedenheit und Gesundheit der Mitarbeiter bei. Je besser die Arbeitsbedingungen, desto gesünder die Mitarbeiter und umgekehrt. Je stärker die Fehlbelastungen zunehmen und die verfügbaren Ressourcen abnehmen, desto mehr überwiegen Gefühle von Frust, Zukunftsängsten und Erschöpfung, desto geringer sind die Arbeitszufriedenheit und das psychische Wohlbefinden. Es besteht weiter ein statistisch gesicherter Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, empfundener Arbeitsqualität und Leistungsfähigkeit. Die Untersuchungsergebnisse zeigen es deutlich: Bei positiven Arbeitsbedingungen können sich fast 79% der Befragen vorstellen, gesund das Rentenalter zu erreichen, bei mittelmäßigen Arbeitsbedingungen sind es 59% und bei vielfach belasteten Arbeitsplätzen lediglich 25%. Insgesamt konnte sich bei der Erhebung 2004 unter den vorliegenden Arbeitsbedingungen lediglich jeder Zweite vorstellen, das Rentenalter zu erreichen. Aber noch einmal positiv ausgedrückt, es gibt auch Hoffnung: Positive Arbeitsbedingungen erzeugen ein hohes
Arbeitszufriedenheit fördert Gesundheit
Je besser desto gesünder
Bis zur Rente?
Gute Prognose für Zufriedene
178
Kapitel 10 • Prävention
Strahl Qualität der Arbeit
gute Arbeit
100
mittelmäßige Arbeit
80
schlechte Arbeit
50
0
. Abb. 10.1 DGB-Index Qualität der Arbeit. (Aus Badura et al., 2010)
Maß an Arbeitszufriedenheit sowie eine starke Verbundenheit mit dem Arbeitgeber und dem Arbeitsplatz. Diese Gefühlslage erlaubt eine gute Prognose für ein langes Arbeitsleben mit geringen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Soweit die doch sehr anschaulichen und eindrucksvollen Ergebnisse aus der Studie 2004 (Fuchs, 2006). Wie sieht es jetzt 2009 aus? Einige Auskünfte gibt uns der DGB-Index »Gute Arbeit«.
10.1.2
10
Der Index
DGB-Index »Gute Arbeit«
Seit 2007, also in der Nachfolge zu der INQA-Studie »Was ist gute Arbeit?«, hat der DGB mit seinem Index »Gute Arbeit« eine regelmäßige Berichterstattung zur Entwicklung der Arbeitsbedingungen aus der Sicht der Arbeitnehmer aufgebaut (Fuchs, 2010). Der Index basiert auf 31 Fragen, ähnlich wie die der INQA-Studie (nur kürzer), die die Anforderungen und das Vorhandsein von Ressourcen und die subjektiv empfundenen Belastungen ermitteln. Für die Auswertung der Fragebögen werden für die Qualität der Arbeit und der Arbeitsbedingungen Punkte zwischen 100 (gute Arbeit) und null (unzumutbare Arbeit) vergeben und Schwellenwerte festgelegt. So entsteht ein Strahl von 0 bis 100, auf dem drei Bereiche festgelegt werden: 5 Von 100 bis 80 liegen gute Arbeitsbedingungen vor, die sich auszeichnen durch ein hohes Maß an Ressourcen, seltenen Fehlbeanspruchungen und einem leistungsgerechten Einkommen. 5 Zwischen 80 und 50 liegen mittelmäßige Arbeitsbedingungen vor, geringere Ressourcen, ein hohes Maß an Belastung und ein ausreichendes Einkommen. 5 Von 50 bis 0 ist der Bereich schlechte Arbeit festgelegt, keine förderlichen Ressourcen, belastende Arbeitsbedingungen und kein leistungsgerechtes Einkommen (. Abb. 10.1).
179
10.1 • Studien zur Prävention
10
. Tab. 10.1 Beschwerden Rücken-, Schulter-, Nackenbeschwerden
58%
Allgemeine Müdigkeit und Erschöpfung
55%
Nervosität und Reizbarkeit
38%
Schlafstörungen
33%
Niedergeschlagenheit
26%
Magen- und Verdauungsbeschwerden
knapp 20%
Depressionen
8%
(Fuchs, 2010)
Der Index hat gegenüber der INQA-Studie den Vorteil, dass er als einfacher Wert auf einem Kontinuum eingeht und auf diese Weise alle Ergebnisse bequem dargestellt werden können. Der DGB-Index 2009 hat für alle Branchen den Gesamtpunktwert von 58 errechnet, er liegt somit im Bereich mittelmäßiger Arbeit. Der Wert differiert für verschieden Branchen. So liegen z. B. die Werte der technischen Berufe, die Ingenieure, Verwaltungs- und Büroberufe, Elektroberufe, Lehrer und wissenschaftliche Berufe sowie Leitungs- und Organisationsberufe über 58 dem Indexwert. Unterhalb des Wertes liegen die Bauberufe, Verkehrsberufe, Groß- und Einzelhandelskaufleute, sozial-pflegerische Berufe, Lagerberufe, Maschinisten und der Metallbereich. Entscheidend ist, dass alle Werte zwischen 52 und 69 erreichen (Fuchs, 2010). Das bedeutet, dass noch Potential für Verbesserungen vorhanden ist. In fast allen Branchen können Möglichkeiten gesucht werden, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Schon in der INQA-Studie wurde festgestellt, dass es einen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen Arbeitsqualität (Qualität der Arbeitsbedingungen), Arbeitszufriedenheit und gesundheitlichen Beschwerden gibt. Der DBG hat 2009 seiner Befragung eine Beschwerdetabelle beigefügt. Schaut man sich die Zahlen an, die auf einen Zusammenhang von gesundheitlichen Beschwerden und dem DGB-Index hinweisen, dann zeigen sich für den Bereich »mittelmäßige Arbeit«, in dem die meisten Branchen angesiedelt sind, etliche Beschwerdebilder, die auch auf psychische Fehlbeanspruchungen, besonders als Stressfolgen, hinweisen (. Tab. 10.1). Ein großer Teil der Beschwerden weist deutlich auf psychische Fehlbeanspruchungen hin (7 Kapitel 4 und 5), die unter »belastenden Arbeitsbedingungen« noch dramatisch zunehmen. Unter belastenden Arbeitsbedingungen geben 82% an, dass sie unter Müdigkeit und Erschöpfung leiden, 68% unter Nervosität und Reizbarkeit, unter Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit 60%, unter Schlafstörungen knapp 60%, auch körperliche Schmerzen nehmen zu. Depressionen geben gut 20% an.
Unterschiede bei den Branchen
Index und Beschwerden
180
Kapitel 10 • Prävention
Die Ergebnisse unterstreichen noch einmal deutlich den Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit, Arbeitsbelastungen und gesundheitlichen Beschwerden. Die meisten der Beschwerden weisen auf eine hohe Stressbelastung hin.
10.1.3 Ressourcen für Arbeitszufriedenheit
Geistige Anforderungen
10
Wunsch und Wirklichkeit
Wie kann man gegensteuern?
Der Index gibt auch Hinweise auf Handlungsbedarf oder Handlungsmöglichkeiten, Fehlbeanspruchungen abzubauen und Ressourcen weiterzuentwickeln. Als besondere Prädiktoren für eine stabile Arbeitszufriedenheit weist der DGB-Index das Vorhandensein folgender Ressourcen aus: 5 wertschätzender unterstützender Führungsstil, 5 guter Informationsfluss und Informationsklarheit, 5 Personalentwicklungsmöglichkeiten, 5 Unterstützung durch die Führungskraft sowie 5 Zukunftssicherheit. Wie sieht es bei den Arbeitsanforderungen aus? Die stärksten Prädiktoren für Arbeitszufriedenheit: 5 ein geringes Maß schwerer körperlicher Arbeit, 5 eine günstige Gestaltung der Arbeitsintensität, d. h. möglichst wenig Zeitdruck, um nicht wegen des Drucks Abstriche bei der Arbeitsqualität machen zu müssen. Damit ist ein Abbau von Arbeitsverdichtung notwendig. Der DGB-Index bietet noch einen besonderen Vorteil, er lässt einen Vergleich zwischen Soll-Zustand »Gute Arbeit« und dem IstZustand zu. Die Grafik (. Abb. 10.2) zeigt, dass es durchaus Bereiche gibt, in denen der Ist-Zustand der guten Arbeit den Vorstellungen von guter Arbeit nahe kommt. Weit auseinander liegen Wunsch und Wirklichkeit noch bei einem angemessenen Einkommen, der beruflichen Zukunftssicherheit, der Gestaltung einer gesundheitsförderlichen Arbeit, einem guten Informationsfluss und den persönlichen und beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. Viele wünschen sich ein angemesseneres Einkommen, eine sichere berufliche Zukunft, gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen, einen guten Informationsfluss und mehr persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. In dieser Grafik lässt sich das wunderbar ablesen. Weitaus näher beieinander liegen Anspruch und Wirklichkeit bei der Bewertung des kollegialen Klimas, der Sinnhaftigkeit der Arbeit, der Einflussnahme bei der Arbeitszeitgestaltung, wenn es um die Berücksichtigung der eigenen Belange geht sowie in Hinblick auf die Möglichkeit, sich kreativ im Arbeitsprozess einbringen zu können (. Abb. 10.2).
181
10.1 • Studien zur Prävention
10
Bedeutung für Gute Arbeit (Anspruchsniveau) nicht wichtig (0)..... .....(25).....
.....(50)..... 58
DGB-Index Gute Arbeit Qualifizierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten
.....(75).....
59 68
Möglichkeiten für Kreativität 47
Aufstiegsmöglichkeiten Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten
60
Informationsfluss
69 64
Führungsstil
62
Betriebskultur Kollegialität
77 79
Sinngehalt der Arbeit 66
Arbeitszeitgestaltung 57
Arbeitsintensität emotionale Anforderungen
71 63
körperliche Anforderungen 48
berufliche Zukunft/Arbeitsplatzsicherheit 40
Einkommen 0 DGB-Index 2009
sehr wichtig .....(100)
50 DGB-Index 0 bis unter 50 Punkte subjektiv belastende Arbeit
Quelle: DGB-Index Gute Arbeit 2009, INIFES (Tatjana Fuchs) . Abb. 10.2 Wunsch und Wirklichkeit. (Aus Fuchs, 2010)
Jetzt fragen Sie sich sicherlich: Wo liege ich mit meinem Arbeitsplatz? Jeder kann ganz schnell seinen persönlichen Index unter »www. dgb-index-gute-arbeit.de« ermitteln.
80 100 DGB-Index 51 bis DGB-Index unter 80 Punkte 80 bis unter Arbeit ohne 100 Punkte ausreichende gut Ressourcen gestaltete Arbeit Fehlzeiten-Report 2009
182
Kapitel 10 • Prävention
10.1.4
»Great place to work«: ein Arbeitsplatz, an dem man sich wohlfühlt
»great place to work«
Das Great-place-to-work-Institut arbeitet und forscht in der Organisationsberatung und Entwicklung und führt jährlich Studien durch, um »Deutschlands beste Arbeitgeber« ausfindig zu machen. Ausgezeichnet werden Betriebe, die sich in besonderer Weise in der Förderung der Gesundheit und des psychischen Wohlbefindens der Mitarbeiter engagiert haben. Basierend auf Forschungsergebnissen hat das Institut ein Modell »Great-place-to-work« entwickelt. Für das Thema Gesundheit spielen in dem vom Institut entwickelten Modell folgende Faktoren eine Rolle: 5 »Sicherstellung der körperlichen Sicherheit am Arbeitsplatz, 5 der Arbeitsplatz als Ort des psychischen und emotionalen Wohlbefindens, 5 ein Angebot an Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, 5 Förderung der Work-life-balance der Mitarbeiter inklusive der Möglichkeit Zeit frei zu nehmen, wenn nötig, 5 Angebot an Sozialleistungen, die ebenfalls zum physischen und psychischen Wohlbefinden der Mitarbeiter beitragen können« (Hauser & Pleuger, 2010, S. 198).
Wer sich wohl fühlt, leistet mehr.
Die jährlichen Studien des Great-place-to-work-Institutes bestätigen den engen Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit, psychischem Wohlbefinden und dem Engagement der Mitarbeiter und stellen fest: Mitarbeiter, die sich an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen, identifizieren sich mit ihm, sind motiviert und leistungsbereit und fühlen sich mit ihrem Unternehmen verbunden. Wie kann nun ein Unternehmen das Wohlbefinden der Mitarbeiter unterstützen? Für die Förderung des Wohlbefindens zeigt Hauser Faktoren auf, die vom Arbeitgeber direkt beeinflussbar sind: Jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen. Es gibt im Betrieb ein Gefühl von Teamgeist, eine freundliche Atmosphäre und einen fairen Umgang mit Beschwerden. Neue Mitarbeiter werden gut aufgenommen und alle ziehen an einem Strang (Hauser & Pleuger, 2010). Als zentrale Bedingungen für psychisches und emotionales Wohlbefinden zeigen sich hier also mitarbeiterorientierte Führung, Fairness, Gemeinschaftsgefühl und eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Die Bedeutung des psychischen Wohlbefindens der Mitarbeiter für die Leistungsfähigkeit des Unternehmens wird auch vom Greatplace-to-work-Institut betont. Ein wichtiger Indikator für psychisches Wohlbefinden ist auch ein niedriger Krankheitsstand im Unternehmen (Hauser & Pleuger, 2010).
10
Wohlfühlfaktoren
10.1 • Studien zur Prävention
10.1.5
183
10
Erkenntnisse aus den berichteten Studien
Fassen wir zusammen, was sich aus den beschriebenen Untersuchungen und Studien für die Fragestellung der Prävention von psychischen Fehlbelastungen und des Entstehens psychischer Störungen ergibt. Es gibt unter den Beschäftigten eine klare Vorstellung, was für sie eine gute Arbeit bedeutet und welche Arbeitsbedingungen sie sich dafür wünschen. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist der mitmenschliche Umgang im Betrieb und der Wunsch, im Betrieb als Mensch wahrgenommen zu werden. Ein anderer Faktor für die psychische Gesundheit ist die Arbeitszufriedenheit. Sie hängt ab von den Erwartungen der Mitarbeiter, der Arbeitsqualität und den Arbeitsbedingungen: Je mehr Ressourcen und Möglichkeiten zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen bereitstehen, desto höher wird die Arbeitsqualität bewertet und die Arbeitszufriedenheit empfunden. Psychische Gesundheit und Wohlbefinden sind eng verknüpft mit einem mitarbeiterorientierten Führungsstil, Wertschätzung, Fairness, Gemeinschaftsgefühl und einem guten Arbeitsklima. Arbeitszufriedenheit, psychische Gesundheit und Wohlbefinden beeinflussen das Ausmaß und die Anzahl gesundheitlicher Beschwerden. Je höher die Arbeitszufriedenheit ist, desto höher ist das Wohlbefinden der Mitarbeiter und desto geringer sind auch die Fehlzeiten. Was ist nun speziell für die Prävention von psychischen Störungen bei Mitarbeitern von Bedeutung? Gerade bei der Prävention psychischer Beeinträchtigungen haben soziale Aspekte wie Kollegialität, Solidarität und gegenseitige Unterstützung einen hohen Stellenwert. Hier geht es vor allem um die Gestaltung von Beziehungen. Denn besonders Probleme und Konflikte im mitmenschlichen Umgang führen am häufigsten zu psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen. So wurde das Fehlen kollegialer Unterstützung und mitarbeiterorientierter Führung von den Arbeitnehmern als Belastungsfaktor in ihrer Arbeit gesehen. Andersherum werden Kollegialität und Führungsqualität von allen Befragten als wichtige Ressource gewertet und geschätzt. Menschen in psychischen Krisen, mit Ängsten, Depressionen oder großer innerer Verunsicherung sind ganz besonders auf eine Betriebskultur angewiesen, in der sie sich sicher fühlen können, in der sie Verständnis und Unterstützung bekommen und nicht fürchten müssen, in einer Krise auch noch ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Betriebskultur, Führungsqualität und ein gesundheitsförderliches mitarbeiterorientiertes Betriebsklima sind für mich die Schlüssel für weitere Überlegungen zur Prävention psychischer Fehlbeanspruchung und psychischer Störungen am Arbeitsplatz, denn sie nehmen Einfluss auf das gesamte Beziehungsgefüge innerhalb des Betriebes. Der DGB-Index 2009 und die INQA-Studie haben gezeigt, dass die Arbeitsbedingungen in vielen Branchen im Bereich »mittelmä-
Als Mensch gesehen werden
Arbeitszufriedenheit
Wohlbefinden
Betriebskultur und Führungsqualität
Es geht noch besser.
184
Kapitel 10 • Prävention
. Abb. 10.3 Wenn die Verbindung abreißt. (© Christiane Weitendorf )
ßiger Arbeit« liegen. Hier gibt es offensichtlich noch Spielraum für Verbesserungen. > Wichtiges Ziel von Prävention sollte sein, die psychische Gesundheit, die Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu steigern. Mit dem Wohlbefinden der Mitarbeiter sinkt nicht nur die Arbeitsunfähigkeit, sondern steigt auch die Leistungsfähigkeit, die Kreativität und das Engagement der Mitarbeiter.
Kultur, Führung, Gesundheitsschutz
10
Folgende Handlungsfelder bieten sich nun für Prävention psychischer Störungen an: 5 die Betriebskultur und das Betriebsklima, denn sie haben einen starken Einfluss auf die Arbeitsorganisation und das menschliche Miteinander; 5 die Führungsqualität, denn der direkte Vorgesetzte ist eine ganz wichtige Person für den Mitarbeiter; 5 die Einflussmöglichkeiten der Mitarbeiter, denn mit zunehmenden Einflussmöglichkeiten der Mitarbeiter steigen deren Identifikation mit dem Unternehmen, die Arbeitszufriedenheit und die Leistungsfähigkeit; 5 der Gesundheitsschutz, denn er bietet Möglichkeiten der gemeinsamen Entwicklung von Maßnahmen, die psychische Gesundheit fördern, Ursachen und Fehlbeanspruchungen und Stressfaktoren erkennen und abbauen. Ziele von Interventionen sind, wenn es um psychischen Störungen geht, nicht mehr nur die klassischen Bereiche des Arbeitsschutzes, sondern auch ganz besonders das menschliche Miteinander, sozusagen die »Mensch-Mensch-Schnittstelle« (. Abb. 10.3).
10.2
Ansätze für Prävention
Aus den Untersuchungsergebnissen lassen sich drei Ansätze für Prävention und präventive Maßnahmen ableiten: 5 eine Unternehmenskultur geprägt durch ein Leitbild und humane Wertvorstellungen entwickeln, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördert. 5 eine Führungskultur installieren, die sich an den Mitarbeitern orientiert;
10.2 • Ansätze für Prävention
185
10
5 Arbeitsschutzmaßnahmen und Gesundheitsförderung bieten gute Ansätze zur genaueren Gefährdungsbeurteilung von psychischen Belastungsfaktoren vor Ort. Sie haben zum Ziel, die Arbeit belastungsärmer und Ressourcen reicher zu gestalten und die Mitarbeiter bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen einzubeziehen. Die Gesundheitsförderung geht darüber hinaus und hat das Ziel, die Gesundheit im Unternehmen und die Gesundheitskompetenz der Mitarbeiter zu fördern. z
Dreimal die Gesundheit fördern
Sozialkapital
Der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Badura hat mit seinem Sozialkapitalansatz (Badura et al., 2008) ein Modell geschaffen, das den Menschen wieder als wichtigen Faktor für wirtschaftlichen Erfolg in den Mittelpunkt rückt. Sein Ansatz beschreibt die Quantität und Qualität sozialer Netzwerke und sozialer Beziehungen im Betrieb und nennt dies Sozialkapital. Das Sozialkapital eines Unternehmens besteht nach Badura aus drei Elementen, die die Qualität der Beziehungen auf allen Ebenen abbilden und beeinflussen: dem Netzwerkkapital, dem Führungskapital und dem Überzeugungs- und Wertekapital eines Unternehmens. Im Einzelnen ist damit folgendes gemeint: 5 Das Netzwerkkapital bezieht sich auf die Qualität sozialer Beziehungen der Mitarbeiter untereinander, den Umgang mit Konflikten und das Ausmaß von Unterstützung und Vertrauen, von denen die kollegialen Beziehungen getragen werden. 5 Das Führungskapital bezieht sich auf die Qualität der sozialen Beziehungen zwischen Vorgesetzen und Mitarbeitern. 5 Überzeugungs- und Wertekapital bezieht sich auf gemeinsame Werte, Überzeugung, Regeln, Visionen und Ziele, die Organisationsprozesse nachvollziehbar und berechenbar erscheinen lassen. Gemeinsame Wertvorstellungen sind mit Gefühlen und Gemeinschaftsgefühlen verbunden und fördern Zugehörigkeit und Verbindung zum Unternehmen (. Abb. 10.4; Badura et al., 2008). Das Modell von Badura eignet sich gut dazu, auf die Handlungsfelder der Prävention einzugehen, die die Unternehmens- und Führungskultur betreffen.
10.2.1
Unternehmenskultur
In diesem Kapitel geht es um die Unternehmenskultur, es beschäftigt sich mit der Frage: Was kann die Unternehmenskultur zu Gesundheit, Wohlbefinden und der Prävention psychischer Störungen bei Mitarbeitern beitragen?
Sozialkapitalansatz
186
Kapitel 10 • Prävention
Sozialkapital von Organisationen
} } } } }
Netzwerkkapital
Führungskapital
Kohäsion im Team Kommunikation Sozialer »Fit« Soziale Unterstützung Vertrauen
} Mitarbeiterorientierung } Kommunikation } Gerechtigkeit und Fairness } Vertrauen } Akzeptanz des Vorgesetzten } Soziale Kontrolle } Machtorientierung
Überzeugungsund Wertekapital
} Gemeinsame Normen und Werte } Gelebte Kultur } Konfliktkultur } Kohäsion im Betrieb } Gerechtigkeit } Wertschätzung } Vertrauen
Das Sozialkapital von Organisationen: Elemente und Indikatoren . Abb. 10.4 Sozialkapital. (Aus Badura et al., 2010)
10
Die Unternehmenskultur ist geprägt durch das Leitbild, die Wertvorstellungen und die Führungskultur und hat einen großen Einfluss auf den Umgang der Führungskräfte mit den Mitarbeitern und den Umgang der Mitarbeiter untereinander. Unter gesundheitswissenschaftlichen Aspekten wird natürlich empfohlen, im Leitbild auch die Gesundheit als Unternehmensziel und als Leitidee einer mitarbeiterorientierten Unternehmenspolitik aufzunehmen. Unter dem Aspekt der psychischen Gesundheit bedeutet dies, dass besonderer Wert auf die Gestaltung der Beziehungen in der Organisation gelegt werden muss. Dazu gehört: 5 ein Leitbild, das von gemeinsamen Zielen, Visionen, Projekten, Werten von allen getragen und vor allem gelebt wird, denn gelebte Gemeinsamkeiten fördern den Zusammenhalt, die sozialen Beziehungen untereinander und eine innere Bindung des Einzelnen an das Unternehmen, 5 ein Leitbild, das den Mitarbeiter nicht nur als Kostenfaktor sieht, sondern als Menschen, und ihm und seinem Beitrag für das Betriebsergebnis und das Unternehmensziel die entsprechende Wertschätzung und Anerkennung entgegenbringt, 5 ein Leitbild, das auch die Förderung der psychischen Gesundheit ausdrücklich beinhaltet, 5 eine Kultur des Vertrauens, die einen vertrauensvollen Umgang zwischen Führungskräften und Mitarbeitern und Mitarbeitern untereinander, Solidarität und Kooperation fördert sowie einen
10.2 • Ansätze für Prävention
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schnellen Informationsfluss und einen offenen Wissensaustausch unterstützt, 5 eine Organisation in der die Arbeits- und Organisationsprozesse für die Mitarbeiter verstehbar, sinnhaft und berechenbar sind, Unternehmensentscheidungen transparent und nachvollziehbar sind, und Mitwirkungsmöglichkeiten beinhalten, 5 ein mitarbeiterorientiertes, unterstützendes Führungsverhalten, Fairness und Gerechtigkeit und ein konstruktiver Umgang mit Konflikten und 5 eine Organisation, die auch auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben achtet (Badura et al., 2008). Auf einige dieser Aspekte will ich in den folgenden Abschnitten eingehen. So hat die vielfach verbreitete Sichtweise »hohe Gewinne bei maximalen Einsparungen« oft auch zur Folge »Wir sollten uns aus betriebswirtschaftlichen Gründen von älteren und schwächeren Mitarbeitern und von Mitarbeitern mit hohen Fehlzeiten trennen«. Diese Sichtweise hat starke Auswirkungen auf das soziale Klima im Betrieb. Es entsteht eine Kultur von Misstrauen, Rücksichtslosigkeit, Angst und Druck und viele Mitarbeiter gehen innerlich auf Distanz zu ihrem Betrieb mit den bekannten Folgen von Präsentismus und innerer Kündigung. Das ist genau das Gegenteil von dem, was eigentlich erreicht werden sollte. Was ist also zu tun? Ein Umdenken und neue Leitlinien sind erforderlich, die mehr Wertschätzung für die Mitarbeiter und deren Beitrag für das Unternehmen ausdrücken. So fördert die Leitlinie »Jeder Mitarbeiter leistet einen wichtigen Beitrag für unser Unternehmen, deshalb brauchen wir alle Mitarbeiter an Bord und müssen uns um jeden einzelnen kümmern und bemühen« eher den Zusammenhalt des Unternehmens und zeigt den Mitarbeitern gegenüber ein hohes Maß an Wertschätzung für ihre Arbeit. Die gemeinschaftliche Überzeugung im Betrieb »Wir sind alle wertvolle Mitarbeiter und leisten mit unserer Arbeit einen wichtigen Beitrag für das Unternehmen« kann durch humane Werte im Leitbild gefördert und getragen werden. Im Great-Place-to-work-Ansatz nennt Hauser das Bild »Alle ziehen an einem Strang« (Hauser & Pleuger, 2010, S. 199). Gemeinsame Regeln, Werte und Vorstellungen helfen den Mitarbeitern, sich zu orientieren und zu kooperieren.
Gesunde Unternehmenskultur
> Die Förderung von psychischer Gesundheit und Wohlbefinden sollte als wichtiges Unternehmensziel aufgenommen werden.
Bisher ist es vielfach ein großes Hemmnis für Menschen über ihre Zweifel, Schwächen, Ängste, Depressionen oder gar über Erschöpfungssymptome zu sprechen. Psychische Störungen sind immer noch mit einem Stigma verbunden, und die Betroffenen haben Angst vor Ausgrenzung, Kündigung und Diskriminierung. Der Fall Enke hat uns im Jahr 2009 noch einmal eindrucksvoll und dramatisch vor
Psychische Störungen enttabuisieren und darüber sprechen …
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Kapitel 10 • Prävention
Augen geführt, in welche Seelennöte ein an Depression erkrankter Mensch gerät, wenn er offensichtlich nicht zu sich und seiner Erkrankung stehen darf. Klar, es hat ihm keiner verboten darüber zu sprechen. Aber das vorherrschende Klima, nicht nur in seinem Verein sondern auch in unserer Gesellschaft, hat ihn auch nicht dazu ermutigen können. Der Verein hätte die Saison 2009 sicherlich ganz anders abschließen können, wenn es im Verein und auch in der Gesellschaft eine Gesprächskultur gegeben hätte, die erlaubt, sich auch als Hochleistungssportler krank und bedürftig zu zeigen. Damit will ich mein Ansinnen unterstreichen und auf den Nutzen einer Enttabuisierung dieses Themas hinweisen. > Wirksame Prävention von psychischen Störungen bei Mitarbeitern gelingt nur, wenn sie als Unternehmensziel aufgenommen und ein lösungsorientierter und gesundheitsförderlicher Umgang mit allen Mitarbeitern festgelegt wird. Dazu gehört vor allem eine durch das Unternehmen geförderte Enttabuisierung dieses Themas sowie Information und Aufklärung der Führungskräfte und der Mitarbeiter.
… und eine Gesprächskultur pflegen
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Ein Anfang dazu kann ein Vortrag auf betrieblichen Veranstaltungen in den jeweiligen Abteilungen oder das Thema »Psychische Gesundheit« auf einem Gesundheitstag sein. Herrscht eine Unternehmenskultur in einem Betrieb vor, die einen lösungsorientierten und gesundheitsförderlichen Ansatz im Umgang mit ihren chronisch kranken und leistungsgewandelten Mitarbeitern verfolgt, wird sich das auf lange Sicht insgesamt positiv auf den gesamten Betrieb, die Fehlzeiten durch Arbeitsunfähigkeit und die Leistungsausfälle durch Präsentismus auswirken. Keiner muss Angst haben, ausgegrenzt und diskriminiert zu werden und den Arbeitsplatz zu verlieren Eine Gesprächskultur, die den Austausch über psychische Probleme, Schwächen und persönliche Sorgen unterstützt, kann zur Prävention beitragen. Es gibt bereits Unternehmen, die dabei sind einen Wandel zu vollziehen und den Menschen wieder in den Vordergrund zu stellen. Diese Betriebe haben die Wertschätzung der Mitarbeiter und das Bemühen um jeden Einzelnen in ihre Unternehmensziele aufgenommen und aufgehört, schwächere Mitarbeiter mit Abfindungsangeboten aus dem Unternehmen zu drängen. Das Bemühen um jeden Einzelnen als Unternehmensleitlinie führt auch zu einer gesundheitsförderlichen Veränderung der Führungskultur und des sozialen Klimas im Betrieb mit all den positiven Auswirkungen auf die Mitarbeiter: Die Mitarbeiter identifizieren sich wieder mit dem Unternehmen, psychische Gesundheit und Wohlbefinden nehmen zu und ihre Leistungsbereitschaft steigt. > Es ist wichtig, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu achten.
Familienfreundlichkeit
Zur Prävention psychischer Störungen kann auch eine familienfreundliche Einstellung des Unternehmens hilfreich sein, denn oft
10.2 • Ansätze für Prävention
tragen familiäre Belastungen in Verbindung mit betrieblichen Anforderungen dazu bei, dass Mitarbeiter eine psychische Störung entwickeln. So könnte ein Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeitregelungen auf familiäre Belastungen reagieren, den Mitarbeitern zur Unterstützung betriebliche Sozialberatung anbieten (7 Abschn. 10.2.5) oder gar Eltern mit der Einrichtung eines Betriebskindergartens entlasten. Ein Unternehmen sollte seinen Mitarbeitern signalisieren, dass sie bei familiären Belastungen auf die Unterstützung des Unternehmens zählen können. Solch ein Angebot werden viele Mitarbeiter als eine enorme Entlastung empfinden. Ein mitarbeiterorientiertes gesundheitsförderliches Leitbild, das eine Vertrauenskultur, Gesprächskultur, Konfliktkultur, Familienfreundlichkeit, gegenseitige Hilfe und Unterstützung, Enttabuisierung psychischer Störungen fördert, entfaltet seine volle Wirkung, wenn es im Unternehmen gelebt wird. In der Vermittlung des Leitbilds kommt den Führungskräften eine wichtige Rolle zu. Sie sind diejenigen, die den Mitarbeitern vor Ort an ihren Arbeitsplätzen vorleben und vermitteln, dass das Unternehmen seine Mitarbeiter wertschätzt und Unterstützung bei Problemen und Schwierigkeiten anbietet. Die Führungskräfte sind diejenigen, die zuerst und ganz wesentlich durch das offene Gespräch über Stressbelastung, Erschöpfung und Depressionen einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung psychischer Störungen leisten. Sie sind die Vermittler von Unternehmenskultur und Werten gegenüber den Mitarbeitern, sie sind lebende Vorbilder für betriebliche Werte und sie sind die greifbaren Ansprechpartner im Unternehmen für die Mitarbeiter. Damit die Führungskräfte dieser wichtigen Aufgabe gerecht werden können, brauchen sie wiederum die Unterstützung des Unternehmens, z. B. durch Betriebsvereinbarungen, Handlungsleitlinien und Fortbildung der Führungskräfte. Angeregt wurde beispielweise von einem Chefarzt einer Hamburger Klinik, über eine Betriebsvereinbarung zum Umgang mit Erschöpfungsdepression nachzudenken. Eine Betriebsvereinbarung zu Depressionen oder dem Umgang mit psychischen Störungen könnte sich anlehnen an das H-I-L-F-E-Konzept (7 Kap. 7.5). Zur Förderung kollegialer Unterstützung empfehlen Stadler und Spieß (2002), »Unterstützung der Kollegen zum Kriterium der Personalbeurteilung zu machen und mangelnde soziale Unterstützung (Ellenbogenmentalität) nicht zu belohnen«. Der Betrieb könnte in Leitlinien festlegen, dass er Kooperation und gegenseitige Unterstützung fördert und belohnt und dass ein Verhalten nicht erwünscht ist, das sich durch Ellenbogenmentalität, Konkurrenz und Vermeiden sozialer Unterstützung auszeichnet. Kooperation und gegenseitige Unterstützung können z. B. auch in die Zielvereinbarungen für die Mitarbeiter aufgenommen werden. Ziele und Leitbilder, die ein Unternehmen für sich festlegt, werden durch die Führungskräfte vorgelebt und in das Unternehmen ge-
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Leitbild leben
Offen über Erschöpfung und Depressionen sprechen
Handlungsleitlinien und Betriebsvereinbarungen
Kooperationen und kollegiale Unterstützung fördern
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Kapitel 10 • Prävention
tragen. Den Führungskräften wird diese Aufgabe erleichtert, wenn das Unternehmen gesundes Führen durch mitarbeiterorientierte Führung in sein Leitbild aufnimmt.
10.2.2
Gesundes Führen?
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Leitbild und Werte leben und dem Mitarbeiter die Werte vermitteln
Gesundes Führen bzw. mitarbeiterorientierte Führung
In 7 Kap. 6 ging es vorwiegend um die Beziehungsqualitäten von Führen und Geführtwerden und die tragenden Wertvorstellungen, die dahinter stehen. In diesem Abschnitt geht es um gesundheitsförderliche, mitarbeiterorientierte Führung unter dem Aspekt der Gesundheitsförderung und Prävention. Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf Untersuchungen und Ausführungen von dem Gesundheitswissenschaftler Badura (Badura et al. 2008) und Stadler &Spieß, die bereits 2002 Untersuchungen zu diesem Thema vorgelegt haben. Was kann die Führungskraft für das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit der ihr anvertrauten Mitarbeiter tun? Die Führungskraft befindet sich oft in einer Doppelrolle. Sie ist einerseits Repräsentant des Unternehmens für die Mitarbeiter und andererseits auch als Vorgesetzter ein ganz wichtiger Mensch für jeden einzelnen Mitarbeiter. Als Repräsentant des Unternehmens kommt ihr eine wichtige Vermittlerfunktion zu: die Ziele und Werte des Unternehmens zu leben, zu pflegen und auch gegenüber den Mitarbeitern zu kommunizieren und vorzuleben. Ein mitarbeiterorientiertes Leitbild macht es den Führungskräften natürlich leichter, die Werte des Unternehmens auch in mitarbeiterorientierte Führung einfließen zu lassen. Besonders gesundheitsförderliche Werte sind hervorzuheben: 5 Vertrauen, 5 Fairness und Gerechtigkeit 5 Anerkennung und Wertschätzung im Umgang miteinander. Darüber ist bereits einiges gesagt und geforscht worden und die Ergebnisse der Untersuchungen sprechen eindeutig dafür. Eine wesentliche Aufgabe der Führungskräfte ist es, durch die Förderung von Kooperation, gegenseitiger Unterstützung und Solidarität den Mitarbeitern Erfahrungen zu vermitteln. Auf diese Weise werden die Werte Vertrauen, Fairness und Gerechtigkeit sowie Anerkennung und Wertschätzung erfahrbar und fühlbar. Unterstützung und Solidarität zu erfahren und zu empfinden, erzeugt auf die Dauer auch bei den Mitarbeitern eine Haltung von solidarischem unterstützendem Handeln. Ein solidarischer Umgang untereinander ist ein starker Schutzfaktor hinsichtlich der Prävention psychischer Störungen am Arbeitsplatz. Ein Beispiel soll das kurz veranschaulichen.
10.2 • Ansätze für Prävention
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Fallbeispiel Ein junger noch recht neuer Kollege kommt auf Grund von Krankheitsausfällen und Vertretungsnot in eine Situation, in der sich die anfallenden Aufgaben wie ein Berg vor ihm häufen. Die Führungskraft bekommt es mit und bittet eine erfahrene Kollegin, helfend einzuspringen. Das tut sie gerne. Sie kann ihre Erfahrung an den Jüngeren weitergeben und ihn unterstützen. Gemeinsam können sie den aufgelaufenen »Arbeitsberg« sortieren und nach Wichtigkeit abarbeiten. Der Kollege bedankt sich für die Unterstützung und beide sind am Ende zufrieden. Der junge Kollege hat durch die Unterstützung Stress abbauen können und Hilfe erfahren und die ältere Kollegin fühlt sich gut, weil sie helfen konnte.
Wenn sich solche Erfahrungen in einer Abteilung wiederholen, ohne dass sie gegenseitiger Ausbeutung Vorschub leisten, dann ist viel gewonnen für ein Klima, das soziale Unterstützung und Zusammenhalt fördert. Erfahrungen von Solidarität der Kollegen untereinander sind gesundheitsförderlich und wirken Stressfaktoren entgegen. Wenn der Mitarbeiter sich aufgehoben fühlt, kann er ganz anders mit einer Stressbelastung umgehen, als wenn er sich als Einzelkämpfer zusätzlich noch behaupten muss. z
Emotionale Unterstützung der Mitarbeiter
Für eine mitarbeiterorientierte Führung steht der Mitarbeiter als Mensch im Vordergrund. Die Führungskraft nimmt den ganzen Menschen mit vielen Facetten seiner Person und Persönlichkeit wahr. Mitarbeiterorientierte Führung berücksichtigt auch die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und emotionaler Unterstützung. Emotionale Unterstützung zeigt sich als Vertrauen, als Zutrauen, Zuneigung, Anteilnahme und ein offenes Ohr für die persönlichen Belange des Mitarbeiters. Emotionaler Rückhalt ist ganz wesentlich für das psychische Wohlbefinden und auch wieder für die Prävention von psychischen Störungen (Stadler & Spieß, 2002). z
Zusammenhalt fördern
Emotionalen Rückhalt bieten
Soziale Unterstützung der Mitarbeiter
Dies beschränkt sich nicht nur auf die Arbeit, sondern auch auf die persönliche Situation des Mitarbeiters. So kann die Führungskraft durchaus auch soziale Unterstützung geben als Rat und Information oder zur Orientierung für persönliche Belange und sich auch für seine Mitarbeiter an höherer Stelle einsetzen, wenn es notwendig ist (Stadler & Spieß, 2002). Gesundheitsförderlich für eine Abteilung oder für ein Team ist immer die Unterstützung der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts. Kennzahlen, die Kooperation fördern, sind sinnvoller als Leistungsmerkmale, die Konkurrenz der Mitarbeiter untereinander erzeugen.
Als Rat und Orientierung
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Kapitel 10 • Prävention
z Auf die Passung achten
Fachliche und soziale Passung beachten
Zur Förderung von Kooperation ist es deshalb wichtig, auf die fachliche und soziale Passung des Mitarbeiters zu achten. Damit ist gemeint: Passen die Anforderungen des Arbeitsplatzes und die Fähigkeiten des Mitarbeiters zusammen? Passt der Mitarbeiter in die Abteilung, in die Arbeitsgruppe menschlich hinein? In diesem Zusammenhang steht auch die Aufgabe der Führungskraft, Stärken und Schwächen der Mitarbeiter zu kennen und sie beim Einsatz und den Anforderungen zu berücksichtigen, wenn es möglich ist. Sollte keine Möglichkeit eines passenden Arbeitsplatzes bestehen, ist zumindest das geteilte Wissen von Mitarbeiter und Führungskraft, dass dies zurzeit kein optimaler Platz ist, bereits eine Erleichterung, die der Stressbewältigung dient. Das Beachten der fachlichen und sozialen Passung ist zudem ein äußerst wichtiger Punkt für Neueinstellungen und auch für Versetzungen. Die Erfahrung zeigt, dass sich immer dann ein Mitarbeiter optimal entwickeln kann, wenn er an einem Arbeitsplatz ist, an dem sowohl die Anforderung und seine Qualifikation als auch der soziale Rahmen zu ihm passen. Fallbeispiel
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Herr Roth hat lange Jahre an einem Arbeitsplatz gearbeitet, der seinen Fähigkeiten und auch seinen Leidenschaften entspricht. »Ich bin auf meinem Arbeitsgebiet richtig gut.« Ein Wechsel der Führungskraft bringt soziale Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Er kommt mit seiner neuen Führungskraft nicht richtig klar. Es kommt zu Konflikten im zwischenmenschlichen Bereich. Er hat den Eindruck, dass seine Führungskraft eigene Probleme an den Mitarbeitern auslässt und wehrt sich dagegen. Die Situation zwischen ihm und seinem Vorgesetzten spitzt sich zu und der Betrieb weiß sich letztendlich nicht anders zu helfen, als ihn zu versetzen. Er wird in eine andere Abteilung versetzt und bekommt eine andere Aufgabe. Hier versteht er sich sehr gut mit seinem neuen Vorgesetzten. Doch die Arbeit füllt ihn nicht aus, entspricht nicht seinen Fähigkeiten und die Tätigkeit, die er besonders gut kann und die er liebt, kann er an diesem Arbeitsplatz nicht mehr ausüben. Er klagt nun, dass er seit einiger Zeit an Ängsten und Panikattacken leidet. Er bemüht sich, trotzdem zur Arbeit zu gehen. Doch es kommt immer häufiger vor, dass er an seinem Arbeitsplatz Beklemmungen und Ängste bekommt und seinen Arbeitsplatz verlassen muss. Er spricht mit seinem Vorgesetzten darüber, der volles Verständnis für seine Situation zeigt und ihm rät, sich fachlichen Rat und Unterstützung einzuholen.
Dies Beispiel zeigt deutlich, dass sowohl die mitmenschliche als auch die fachliche Passung wichtig sind und dass das Fehlen auch nur eines der beiden Aspekte zu psychischen Problemen führen kann.
10.2 • Ansätze für Prävention
z
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Schneller und transparenter Informationsfluss
Ein weiterer wichtiger Teil mitarbeiterorientierter Führung ist es, für einen schnellen und transparenten Informationsfluss zu sorgen. Mitarbeiter wollen Anforderungen, Abläufe und Prozesse verstehen und beeinflussen können. Insofern kommt dem schnellen und transparenten Informationsfluss eine besondere Bedeutung zu. Hakt es an dieser Stelle, führt dies häufig zu Irritation und Widerstand. Mitarbeiter tragen auch unbeliebte Maßnahmen mit, wenn die Ziele nachvollziehbar, im Unternehmen gerecht verteilt sind und ihnen erläutert werden. So ist für alle transparent, welche gemeinsamen Ziele mit diesen Maßnahmen verfolgt werden. Verordnete Sparmaßnahmen und unverständliche betriebsbedingte Kündigungen erzeugen eher Angst und Unsicherheit. Das Gefühl, einer Situation hilflos ausgesetzt zu sein, wirkt sehr belastend und Stress auslösend (Stadler & Spieß, 2002). z
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Schneller, transparenter Informationsfluss
Achtsamkeit der Führungskraft
Zur Prävention von psychischen Störungen ist eine wichtige Aufgabe der Führungskraft, auf Irritationen, Leistungsabfall und auffälliges Verhalten rechtzeitig zu reagieren. Für diese Aufgabe braucht die Führungskraft Zeit, Menschen über längeren Zeitraum wahrnehmen zu können und mit ihnen Gespräche zu führen. Häufige Wechsel von Führungskräften – selbst wenn die Passung stimmt – sind für soziale Beziehungen und Präventionen ungünstig. Für die Wahrnehmung von Auffälligkeiten und Veränderungen bei Mitarbeitern benötigt die Führungskraft soziale Kompetenzen und die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Besondere Achtsamkeit erfordern Situationen, in denen die Mitarbeiter zunächst unsicher sind. 5 Bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter: »Kann ich die Aufgabe bewältigen? Finde ich in das Unternehmen hinein? Finde ich hier meine Rolle und meinen Platz? Wie läuft es hier eigentlich?« 5 Die Einarbeitung nach längerer Arbeitsunfähigkeit: »Ich weiß gar nicht, was ich noch kann und wie meine Kollegen mich aufnehmen.« 5 Bei der Übertragung von neuen Aufgaben: »Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann.« 5 In Phasen von sehr hoher unvermeidbarer Arbeitsbelastung: »Hoffentlich schaffe ich es durchzuhalten, bis das hier zu Ende ist.« 5 Bei Umstrukturierung: »Ich habe Angst vor Veränderung, vor Kündigung und allem Ungewissen, was da auf mich zukommt.« Das Ausbleiben von Unterstützung und achtsamem Umgang mit der unsicheren Situation kann zu großen Stressbelastungen und unerwünschten Folgen führen: 5 Ein neuer Mitarbeiter fühlt sich isoliert, überfordert und denkt schon an einen Stellenwechsel.
Rechtzeitig reagieren
Achtsam sein
Unerwünschte Folgen
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Kapitel 10 • Prävention
5 Eine stufenweise Wiedereingliederung geht schief und der Mitarbeiter fällt weiter aus. 5 Die neue Aufgabe verursacht Überforderung. 5 Eine Arbeitsbelastung verursacht weitaus mehr Stress, wenn die soziale Unterstützung ausbleibt. 5 Die Umstrukturierung kann sich zu einer persönlichen Bedrohung entwickeln und zu einem hohen Stressfaktor werden (Stadler & Spieß, 2002). Unterstützung in unsicheren Situationen
Mut machen, über psychische Probleme sprechen
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In all diesen Situationen kann jemand, dessen Stressbewältigungsmöglichkeiten dauerhaft überschritten werden, gesundheitlichen Schaden nehmen. Insofern verdienen diese mit Unsicherheit verbundenen Situationen für die Führungskraft eine ganz besondere Beachtung. Es muss ja nicht immer die Führungskraft persönlich sein, die sich unterstützend engagiert. Diese Aufgabe kann von Kollegen, einem zugeordneten Paten oder besonderen Vertrauten übernommen werden. Die Aufgabe der Führungskraft ist es jedoch, diese Situation im Kopf zu haben und für ein Klima zu sorgen, in dem gegenseitige Unterstützung zur Selbstverständlichkeit gehört. Wie ein Betrieb mit seinen gesundheitlich beeinträchtigten oder chronisch kranken Mitarbeitern umgeht, beeinflusst auch die Haltung gegenüber Menschen mit psychischen Problemen, Ängsten, Depressionen oder anderen psychischen Störungen. Der Betrieb und die Führungskraft sollten ein Klima fördern, dass die Betroffenen ermutigt, über Überforderung, Erschöpfung, unangenehme Gefühle wie Ängste, Niedergeschlagenheit und Depressionen sprechen zu können. Das Klima sollte Kollegen Mut machen, auf einander zu achten, den Betroffenen anzusprechen oder sich an die Führungskraft zu wenden. Die Haltung des Betriebes zu psychischen Störungen wie Ängsten und Depressionen könnte auch Thema in einer Dienstbesprechung sein. Es ist schon viel gewonnen, wenn es eine Atmosphäre gibt, die den Gesprächsfaden der Mitarbeiter untereinander und zur Führungskraft nicht abreißen lässt. z
Führungskräfte darin schulen
Schulung der Führungskraft
Ein Unternehmen ist gut beraten, seine Führungskraft im Umgang mit Mitarbeitern mit psychischen Fehlbeanspruchungen und Störungen zu qualifizieren, damit die Führungskräfte sich sicher fühlen und das Thema aus Unsicherheit und Hilflosigkeit nicht abwehren und abwerten müssen. Es kommt leider immer noch vor, dass Menschen mit Erschöpfungsdepressionen sowie Menschen, die auf ein BurnoutSyndrom zusteuern oder andere Anzeichen von psychischen Störungen zeigen, diskriminiert und als faul und unangenehm abgewertet werden.
10.2 • Ansätze für Prävention
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Fallbeispiel Herr Bender kam in die Beratung, weil er sich Sorgen um seine Ehe machte und seine Familie. Er wurde an eine gute Familienberatungsstelle empfohlen und gut ein Jahr hörte man nichts von ihm. Dann meldete er sich wieder. Er berichtete noch immer von familiären Problemen und war inzwischen wegen körperlicher Beschwerden wie Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit beim Arzt gewesen. Dieser untersuchte ihn gründlich und warnte ihn, er sei kurz davor ein Burnout-Syndrom zu bekommen. Er wollte dem vorbeugen und wünschte sich Erleichterung an seinem Arbeitsplatz und eine Veränderung seiner Arbeitszeit. Bei seinem direkten Vorgesetzten stieß er mit diesem Wunsch auf taube Ohren. Er hielt ihn für verschlagen und unterstellte ihm, dass er sich mit Hilfe seines Burnout-Syndroms Vorteile gegenüber seinen Kollegen erschleichen wolle. Er weigerte sich, sich mit dem Wunsch des Mitarbeiters überhaupt zu beschäftigen. Herr Bender war verzweifelt. Ihm war deutlich, dass er unter den gegebenen zeitlichen Belastungen nicht mehr lange würde durchhalten können und sah sich schon in der Klinik. Er fasste noch einmal Mut und sprach den Vorgesetzten seiner Führungskraft an. Dieser konnte der Belastungssituation kurzfristig abhelfen. Für einen begrenzten Zeitraum wurde Herrn Bender eine Veränderung seiner Arbeitszeit zugesprochen. Herr Bender begann sich langsam zu stabilisieren und sein Gesundheitszustand besserte sich. Die Schlafstörungen wurden geringer, die familiäre Situation entspannte sich, auch die depressiven Verstimmungen und seine Niedergeschlagenheit wurden weniger.
Ohne das Einbeziehen der nächsthöheren Führungsebene hätte sich sicherlich ein längerer Klinikaufenthalt auf Dauer nicht vermeiden lassen. In diesem Fall ist es noch einmal gut gegangen. Dieses Beispiel soll unterstreichen, wie wichtig es ist, Führungskräfte im Umgang mit psychisch fehlbeanspruchten Mitarbeitern zu schulen und sie in gesundheitsförderlichem, mitarbeiterorientiertem Führungsverhalten zu unterstützen und zu bestärken. z
Gemeinschaftserlebnisse
Zur Förderung von Zusammenhalt, sozialer Unterstützung und solidarischem Verhalten gehören neben der gemeinsamen Arbeit auch Gemeinschaftserlebnisse außerhalb des Arbeitsplatzes. So sind gemeinsame Aktivitäten wie z. B. Abteilungstreffen, die Teilnahme an sportlichen Veranstaltungen oder Betriebsausflüge mindestens ebenso wichtig für eine gute Abteilungsentwicklung wie eine erfolgreiche Zusammenarbeit. In einer Diskussionsrunde zur Burnout-Prophylaxe sagte ein Mitarbeiter: »Früher war es üblich, dass wir nach der Arbeit noch mal miteinander auf ein Bier gegangen sind. Oder gemeinsam etwas unternommen haben. Das ist jetzt hier bei den vielen Umstrukturierungsmaßnahmen völlig verloren gegangen. Ich würde gerne mal wieder einmal mit Kol-
Gemeinsame Aktivitäten fordern
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Kapitel 10 • Prävention
legen, die Lust dazu haben, mich nach Feierabend treffen, so dass wir einfach zusammen sitzen können und klönen.« Eine andere Diskussionsteilnehmerin warf ein: »Ja, und wir hatten früher auch so etwas wie eine Kulturarbeitsgemeinschaft, wo wir gemeinsam geschaut haben, was wird hier bei uns im Ort an kulturellen Ereignissen angeboten, und uns gemeinsam für Theater, Konzert, Museumsbesuch verabredet haben. Ich wünsche mir, dass wir dies wieder organisieren sollten.«
> Neben dem Austausch der Mitarbeiter untereinander bei unterschiedlichen Gelegenheiten ist es auch für Führungskräfte hilfreich, wenn ihnen die Gelegenheit zu regelmäßigem Erfahrungsaustausch geboten wird und sich ein Gemeinschaftsgefühl auch innerhalb der Führungsriege entwickeln kann. z Mitarbeiterorientiertes Führen lohnt sich
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Fazit
In Unternehmen, die eher rein betriebswirtschaftlich geführt werden, hat die einzelne Führungskraft es sicherlich schwerer, einen mitarbeiterorientierten Führungsstil zu pflegen. Auch wenn es schwieriger ist, lohnt es aber sich grundsätzlich immer. Wie wir an den Zahlen diverser Untersuchungen gesehen haben, ist ein gesundheitsförderliches mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten auch wirtschaftlich erfolgreicher. Gesunde Mitarbeiter sind leistungsfähiger, einsatzfreudiger und auch im betriebswirtschaftlichen Sinne effektiver. Lassen wir noch einmal den Gesundheitswissenschaftler Badura zu Worte kommen: »Gute Führungskräfte im Betrieb tragen zum einen in ganz erheblichem Maße dazu bei, die Rahmen- bzw. Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter adäquat zu gestalten. Zum anderen haben sie aber auch die wichtige Aufgabe, die Arbeitsteams sozial zu stabilisieren. Gut funktionierende Arbeitsgruppen tragen ihrerseits dazu bei, die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern« (Badura et al., 2008, S. 128). Dabei kommt auch der Wertschätzung der älteren Mitarbeiter eine besondere Bedeutung zu. Nach Baduras Forschungsergebnissen zum Sozialkapital sind sie die tragenden Säulen des Unternehmens und es sind gerade die älteren Kollegen im Unternehmen, die die Werte des Unternehmens repräsentieren: »Unternehmen sollten daher vor allem auch in die älteren Mitarbeiter investieren und ihre Arbeit- und Beschäftigungsfähigkeit durch gezielte Qualifizierungsprogramme und Projekte der Gesundheitsförderung längerfristig erhalten und fördern« (Badura et al., 2008, S. 124). Checkliste gesundheitsförderliche mitarbeiterorientierte Führung 5 die Mitarbeiter als Menschen wahrnehmen und für sie ansprechbar sein, 5 soziale Unterstützung geben und fördern,
10.2 • Ansätze für Prävention
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10
5 ein Klima gegenseitiger Hilfe, Solidarität und Kooperation fördern und unterstützen, 5 Vertrauen, Zuneigung, Anteilnahme als emotionale Unterstützung geben und fördern, 5 Zeit für Mitarbeitergespräche haben, 5 auf die fachliche und soziale Passung achten, 5 besonderes Augenmerk auf die soziale Passung bei der Personalauswahl und der Versetzung haben, 5 Leitbild und Wertvorstellungen des Unternehmens leben und fühlbar machen, dazu gehört auch ein respektvoller und angemessener Umgang mit älteren und schwächeren Mitarbeitern, 5 besondere Achtsamkeit walten lassen für unsichere Situationen wie Einarbeitung, Wiedereingliederung, Versetzung, Übertragung neuer Aufgaben, hohe Arbeitsbelastung und Umstrukturierung, 5 Mitarbeiter beteiligen, für Transparenz und Informationsfluss sorgen, 5 Werte wie Vertrauen, Fairness und Wertschätzung leben und ein Vorbild gesunder Lebensführung sein (Stadler & Spieß, 2002), 5 das Thema psychische Störungen in Mitarbeitergesprächen enttabuisieren.
Diesem Abschnitt angehängt sind vier Checklisten, um Schwächen und Stärken von gesundheitsförderlichem Führungsverhalten zu erkennen und die Belastungssituation der Mitarbeiter zu erfassen (. Abb. 10.5; . Abb. 10.6; . Abb. 10.7; . Abb. 10.8). Die Auswertung ist einfach. Es sind Werte von eins bis fünf angegeben, »stimmt« bis »stimmt nicht«. Für jede Checkliste können Sie die Werte addieren und erhalten dann ein Gesamtergebnis. Je geringer die Summe bei den Checklisten eins und drei ist, umso eher kann auf Schwächen im Führungsverhalten insbesondere hinsichtlich sozialer Unterstützung geschlossen werden. Für die Checklisten zwei und vier gilt: Je höher die Werte, desto höher ist die Belastungssituation bei den Mitarbeitern. Die Checklisten sind sehr grobe Messinstrumente, mit denen man natürlich nur annäherungsweise Hinweise bekommen kann über die Belastungssituation der Mitarbeiter. Ergeben sich aus diesen Checklisten Hinweise, kann das in jedem Fall auch in die Gefährdungsbeurteilung psychosozialer Belastungen unter dem Aspekt Führungsverhalten mit einbezogen werden.
Mit Checklisten Hinweise bekommen
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Kapitel 10 • Prävention
stimmt 1
2
stimmt nicht 3
4
5
»Der/die Vorgesetzte kritisiert die Mitarbeiter vor Anderen.« »Er/sie weist stets Änderungsvorschläge von Mitarbeitern zurück.« »Er/sie verändert Arbeitsaufgaben der Mitarbeiter, ohne dies vorher mit ihnen abgesprochen zu haben.« »Er/sie erkundigt sich nicht nach der Arbeit der Mitarbeiter.« »Er/sie stellt den Mitarbeiter bloß, der einen Fehler macht.« »Treffen Mitarbeiter eigene Entscheidungen, so fühlt er/sie sich übergangen.« »Er/sie gibt den Mitarbeitern Aufgaben, ohne ihnen zu sagen, wie sie sie erledigen sollen.« »Anweisungen gibt er/sie als Befehl.« »Seinen Ärger lässt er/sie an den Mitarbeitern aus.« »Er/sie versucht den Mitarbeitern das Gefühl zu geben, dass er/sie der Chef ist und sie von ihm/ihr abhängig sind.« »Der Umgangston mit den Mitarbeitern ist unhöflich und taktlos.« »Nach Auseinandersetzungen mit Mitarbeitern trägt er/sie es ihnen nach.« »Er/sie achtet nur auf die Fehler.«
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»Er/sie möchte gern den Anschein erwecken, als wüsste er/sie bereits alles.« »Die Stimmung im Betrieb hängt von den Launen der Vorgesetzten ab.« »Er/sie versucht, eigene Fehler auf andere zu schieben.« »Entscheidungen werden zwar mit den Mitarbeitern getroffen, danach sieht deren Verwirklichung stets ganz anders aus, als man sich das vorgestellt hat.« »Er/sie handelt häufig nicht gerecht.« »Man wird stets zur Arbeit angetrieben.« »Selbst bei Entscheidungen, die direkt die Interessen der Mitarbeiter betreffen, werden sie vorher nicht nach ihrer Meinung befragt.« [Quelle: Aus »Mitarbeiterorientiertes Führen und soziale Unterstützung am Arbeitsplaz (P.Stadler, E. Spieß), Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Dortmund, Berlin, Dresden; www.baua.de/cae/servelet/contentblob/publicationFile/46791/Gd5.pdf]
. Abb. 10.5 Checkliste 1, Erkennen von defizitärem Führungsverhalten. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de) und der Initiative »Neue Qualität der Arbeit« (www.inqa. de). 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
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10.2 • Ansätze für Prävention
stimmt 1
2
stimmt nicht 3
4
5
»Der/die Vorgesetzte zeigt Anerkennung, wenn ein Mitarbeiter gute Arbeit leistet.« »Er/sie bemüht sich, langsam arbeitende Mitarbeiter zu mehr Leistung anzuspornen.« »Er/sie weist den Mitarbeitern spezifische Arbeitsaufgaben zu.« »Hat jemand persönliche Probleme, so hilft er/sie ihm.« »Er/sie steht für die eigenen Mitarbeiter und ihre Taten ein.« »Er/sie behandelt die Mitarbeiter wie gleichberechtigte Partner.« »In Gesprächen mit den Mitarbeitern schafft er/sie eine gelöste Stimmung, so dass sie sich frei und entspannt fühlen.« »Er/sie ist freundlich und gut erreichbar.« »Er/sie reißt die Mitarbeiter mit.« »Bei wichtigen Entscheidungen holt er/sie erst die Zustimmung der Mitarbeiter ein.« »Wenn er/sie Fehler entdeckt, bleibt er/sie freundlich.« »Er/sie ist am Wohlergehen der Mitarbeiter interessiert.« »Er/sie passt die Arbeitsgebiete den Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten der Mitarbeiter an.« »Er/sie regt die Mitarbeiter zur Selbstständigkeit an.« »Er/sie hat Vertrauen in die Mitarbeiter.« »Er/sie vermittelt den Eindruck von Kompetenz.« »Er/sie ist ein gutes Vorbild.« »Man ist stolz darauf, mit ihm/ihr zusammenzuarbeiten.« »Er/sie hört gut zu.« »Er/sie versucht, Probleme auch aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.« »Er/sie gibt Ratschläge, wenn sie gebraucht werden.« »Er/sie achtet auf Fehler, wenn dadurch ein bestimmter Standard gefährdet ist.« »Er/sie bespricht mit den Mitarbeitern, wie sie ihre Ziele erreichen können.« [Quelle: Aus »Mitarbeiterorientiertes Führen und soziale Unterstützung am Arbeitsplaz (P.Stadler, E. Spieß), Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Dortmund, Berlin, Dresden; www.baua.de/cae/servelet/contentblob/publicationFile/46791/Gd5.pdf]
. Abb. 10.6 Checkliste 2, Erkennen von gesundheitsförderlichem Führungsverhalten. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de) und der Initiative »Neue Qualität der Arbeit« (www.inqa.de). 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
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Kapitel 10 • Prävention
stimmt 1
2
stimmt nicht 3
4
5
»Ich fühle mich durch meine Arbeit insgesamt ziemlich belastet und mitunter sogar überlastet.« »Ich habe – bedingt durch Arbeitsabläufe und Arbeitsgestaltung – wenig Kontakt zu Kollegen.« »Ich habe – bedingt durch Arbeitsabläufe und Arbeitsgestaltung – wenig Kontakt zu meinem/meiner Vorgesetzten.« »Wenn etwas schief läuft, wird immer gleich ein Schuldiger gesucht, statt über die zugrundeliegenden Ursachen für die Probleme nachzudenken.« »In unserer Abteilung/Arbeitsgruppe herrscht großes Konkurrenzdenken. Keiner hilft dem anderen.« »Persönliche Bedürfnisse zählen in der Arbeit nichts.« »In Konfliktsituationen fühlt man sich alleingelassen.« »Um Hilfe nachzusuchen wird als Schwäche betrachtet.« »Es ist keine Zeit da, damit gemeinsam überlegt werden kann, wie man die Arbeit besser organisieren kann.« »Dem anderen nicht zu helfen, wird bei uns »belohnt«. Nur mit Ellenbogen-Mentalität kommt man bei uns nach oben.« »Der horizontale Informationsfluss (unter den Kollegen) ist gering.«
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»Der vertikale Informationsfluss (von dem/der Vorgesetzten zum Mitarbeiter) ist gering.« »Man erhält kaum Rückmeldung oder soziale Bestätigung.« »Rückmeldung von dem/der Vorgesetzten gibt es nur, wenn etwas schief gelaufen ist.« »Als Neuer hat man es nicht leicht, sich einzugliedern und akzeptiert zu werden.« »Der/die Vorgesetzte ist immer schwer zu erreichen, wenn ich ihn/sie brauche.«
[Quelle: Aus »Mitarbeiterorientiertes Führen und soziale Unterstützung am Arbeitsplaz (P.Stadler, E. Spieß), Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Dortmund, Berlin, Dresden; www.baua.de/cae/servelet/contentblob/publicationFile/46791/Gd5.pdf]
. Abb. 10.7 Checkliste 3: Erkennen von mangelhafter sozialer Unterstützung. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de) und der Initiative »Neue Qualität der Arbeit« (www. inqa.de). 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
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10.2 • Ansätze für Prävention
stimmt 1
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stimmt nicht 3
4
5
»Wenn einer Probleme mit seiner Arbeit hat, wird ihm von dem/der Vorgesetzten geholfen.« »Wenn einer Probleme mit seiner Arbeit hat, wird ihm von den Kollegen geholfen.« »Die Arbeitskollegen bieten immer wieder ihre Hilfe an.« »Wenn Schwierigkeiten auftreten, stellt sich der/die Vorgesetzte vor einem.« »Der/die Vorgesetzte hat immer ein Ohr – auch wenn es um Privates geht.« »Der/die Vorgesetzte nimmt sich auch mal mehr Zeit, wenn Mitarbeiter mit ihren Problemen oder Vorschlägen zu ihm/ihr kommt.« »Der/die Vorgesetzte informiert gut über Unternehmensziele, Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse.« »Der/die Vorgesetzte kommt auf mich zu und bespricht sich mit mir, wenn es um Dinge geht, die meinen Arbeitsplatz oder meinen Aufgabenbereich betreffen.« »Auf meine Kollegen kann ich mich jederzeit verlassen.« »Der/die Vorgesetzte setzt sich für mich ein, soweit das im Rahmen seiner/ihrer Möglichkeiten liegt.« »Der/die Vorgesetzte kann sich gut in meine Situation hineinversetzen.« »Der/die Vorgesetzte ist bestrebt, mich nicht zu überfordern.« »Es gibt regelmäßige Besprechungen, auf denen Probleme, die das ganze Team betreffen, diskutiert werden.«
[Quelle: Aus »Mitarbeiterorientiertes Führen und soziale Unterstützung am Arbeitsplaz (P.Stadler, E. Spieß), Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Dortmund, Berlin, Dresden; www.baua.de/cae/servelet/contentblob/publicationFile/46791/Gd5.pdf]
. Abb. 10.8 Checkliste 4: Erkennen von guter sozialer Unterstützung. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de) und der Initiative »Neue Qualität der Arbeit« (www.inqa. de). 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
202
Kapitel 10 • Prävention
10.2.3
Gefährdungsbeurteilung
Psychische Gefährdung ausfindig machen
Wie können nun im Betrieb psychische Gefährdungen und Belastungsfaktoren ausfindig gemacht werden? Welche Maßnahmen können daraus abgeleitet und entwickelt werden? Hierzu bieten der Arbeitsschutz und die Methoden der betrieblichen Gesundheitsförderung eine Fülle von Möglichkeiten. Einige davon sollen hier kurz vorgestellt werden und durch einige Anregungen und Erfahrungen aus guten Praxisbeispielen ergänzt werden. Ziel des Arbeitsschutzes ist die Gestaltung menschengerechter Arbeitsbedingungen, indem psychische Gefährdung analysiert und abgebaut sowie Ressourcen gefördert werden. Die betriebliche Gesundheitsförderung geht darüber hinaus. Ihr Ziel ist es, betriebliche Strukturen und Arbeitsabläufe so zu gestalten, dass sie die Gesundheit der Mitarbeiter fördern und sie zu gesundheitsförderndem Verhalten befähigen. Die WHO hat dies 1986 in der Ottawa-Charta so formuliert:
Ottawa-Charta der WHO
Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, den Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel (…). Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt also deshalb nicht nur im Gesundheitssektor.
10
»
«
Nicht alle Anforderungen sind gefährlich.
Das heißt, auch die Art und Weise, wie Arbeit und Arbeitsbedingungen organisiert sind, sollte die Gesundheit fördern und nicht Erkrankung Vorschub leisten. Der Arbeitsschutz verpflichtet die Arbeitgeber, Belastungen zu reduzieren und Arbeitsbedingungen menschengerecht zu gestalten. Dabei ist die Gefährdungsermittlung psychischer Belastungen ausdrücklich miteinbezogen. Was ist mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung gemeint und wie findet man sie heraus? In 7 Kap. 3 wurden schon Wechselwirkungen von Individuum und Arbeitsanforderung dargestellt. Es gibt Belastungen und Anforderungen, die Gefährdungsfaktoren sein können, aber nicht zwangsläufig negative Folgen für die Gesundheit haben müssen. Ein gewisser Grad an Arbeitsanforderungen ist notwendig, damit die Menschen sich daran persönlich weiterentwickeln können und positive Gefühle wie Stolz, Freude und Zufriedenheit bei der Arbeit empfinden können. Die Beanspruchung als Folge der Belastung ist ganz individuell und hängt von den Ressourcen und der Persönlichkeit des Mitarbeiters ab.
10.2 • Ansätze für Prävention
Alle Ressourcen beeinflussen die Bewältigungsmöglichkeiten, die ein Mitarbeiter hat, um mit Arbeitsanforderungen zurechtzukommen. Im positiven Fall kann sich der Mitarbeiter weiterentwickeln, im ungünstigen Fall erlebt der Mitarbeiter Über- und Unterforderung, macht Fehler, erlebt Konflikte, Ängste und körperliche Beschwerden. Die Auswirkungen dauerhafter psychischer Fehlbeanspruchung sind: 5 Stress, erlebt als unangenehmer Spannungszustand, 5 Monotonie, erlebt als Schwäche der Langeweile, 5 psychische Sättigung als nerviges Auf-der-Stelle-Treten und 5 Unlust sowie psychische Ermüdung, empfunden z. B. als erschöpftes Verzweifeln. Mit diesem Gefährdungspotential beschäftigt sich die Gefährdungsermittlung psychosozialer Belastungen. Was ist bei der Gefährdungsermittlung von psychischen Belastungen zu beachten? Entschließt sich ein Betrieb eine Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen durchzuführen, sollte von der Geschäftsführung gewollt und getragen werden.
203
10
Folgen von Fehlbeanspruchung
Psychische Gesundheit ist Chefsache
> Die psychische Gesundheit der Mitarbeiter ist nur als Chefsache wirklich Erfolg versprechend.
Die Planung Vor Beginn der Gefährdungsermittlung empfiehlt es sich, die Durchführung zu planen, Ziele und Zeitraum festzulegen. Der Zeitraum sollte nicht zu üppig bemessen sein, denn bereits der Beginn einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist eine betriebliche Intervention. Sie erzeugt natürlich auch eine Erwartungshaltung, die gerade dann nicht enttäuscht werden sollte, wenn es um psychische Gesundheit und Wohlbefinden geht. Die Ergebnisse aus der Gefährdungsermittlung und die geplanten Maßnahmen sollten deshalb zeitnah wieder in den Betrieb fließen und durchgeführt werden. Sollte aufgrund der Größe des Betriebs oder des Projekts eine zeitnahe Vermittlung der Ergebnisse nicht möglich sein, dann ist es umso wichtiger, die Mitarbeiter aktuell über das laufende Verfahren zu informieren. Es ist notwendig, für die Planung und Durchführung eine Gruppe zu bilden, die den gesamten Prozess steuert. Sie kann in einer schon bestehenden Arbeitsstruktur angesiedelt sein, also z. B. im Arbeitsschutzausschuss oder auch in einem Arbeitskreis Gesundheit. Ein Arbeitskreis Gesundheit hätte den Vorteil, dass von vornherein mehr Mitarbeiter mit einbezogen werden können, der Arbeitskreis Gesundheit kann später auch Steuerungsfunktionen für die betriebliche Gesundheitsförderung übernehmen. Aber eigentlich bleibt es jedem Betrieb selbst überlassen, welche Form er dafür wählt. Nachdem die Planung abgeschlossen ist, ist der späteste Zeitpunkt, die Mitarbeiter über die geplanten Maßnahmen und den Zeitplan zu informieren, um sie für die Mitarbeit zu gewinnen. Die Zusicherung von Datenschutzanonymität und Vertraulichkeit sind
Zur Planung Steuerungsgruppe bilden
Datenschutz und Erwartungen
204
Kapitel 10 • Prävention
Gefährdungsanalyse
Analyse
Maßnahme planen
Auswertung
Maßnahme durchführen
. Abb. 10.9 Zirkulärer Ablauf: analysieren, planen, durchführen, auswerten
selbstverständlich eine Grundvoraussetzung. Insgesamt ist die Gefährdungsbeurteilung als ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess gedacht, der erneut nach der Bewertung der Wirksamkeit der Maßnahmen wieder in Gang gesetzt werden kann (. Abb. 10.9).
Die Gefährdungsanalyse
10
Gefährdungsanalyse des Arbeitsplatzes
Toolbox der BAuA
Für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kann es sinnvoll sein, sich zur Unterstützung externe und neutrale Berater hinzuzuziehen, die über Fachkompetenzen zum Thema psychische Belastungen verfügen. Das kann z. B. ein Betriebsarzt oder der Werksarzt, eine Fachkraft für Arbeitssicherheit, ein Gesundheitswissenschaftler oder ein kompetenter Dienstleister sein. Das Erfassen psychischer Belastungen ist nicht so einfach messbar wie ein Lärmpegel oder Lichtverhältnisse. Das macht die Sache etwas aufwändiger. Wichtig ist, den Mitarbeitern zu vermitteln, dass die Gefährdungsermittlung psychischer Belastungsfaktoren in erster Linie den Arbeitsplatz und die dazugehörigen Arbeitsanforderungen betrifft. Eine Gefährdungsanalyse sollte sich erprobter Beurteilungs- und Messinstrumente bedienen. Selbst konstruierte Fragebögen weisen nicht die erforderlichen Gütekriterien auf, die für eine solide Analyse erforderlich sind. Welche Verfahren können also dafür angewendet werden? Der Gesetzgeber hat den Betrieben Spielraum in der Ausgestaltung gelassen und so ist es jedem Betrieb selber überlassen, wie und mit welchen Mitteln er die Gefährdungsermittlung durchführen will. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat auf ihrer Internetseite unter www.baua.de eine Toolbox zusammengestellt, in der eine Vielfalt von Fragebögen, Checklisten und Anregungen zu finden ist. Die Zusammenstellung ist eingeteilt für Anfänger, Fortgeschrittene und Experten. So findet man je nach Erfahrungsstand entsprechende Mittel. Hilfestellung bei der Auswahl der Mittel und Methoden bekommt ein Betrieb auch von den Be-
10.2 • Ansätze für Prävention
205
10
triebsärzten, den Krankenkassen, den Berufsgenossenschaften, den Arbeitgeberorganisationen und den Gewerkschaften. So kann jeder Betrieb für sich zugeschnitten Methoden für die Ermittlung psychischer Belastungsfaktoren entwickeln. z
Erster Schritt: objektive Beurteilung der Arbeitsmerkmale
In einem ersten Schritt wird es um eine möglichst objektive Beurteilung der Arbeitsmerkmale gehen, um alle Anforderungsmerkmale zu erfassen. Eine objektive Bewertung kann durch die Anwendung eines Analyseverfahrens oder durch die Fremdbeurteilung geschehen. Ein objektives Messverfahren ist sehr aufwändig, deshalb empfiehlt sich für die Praxis die Fremdbeurteilung. Sie wird in der Regel durch ein Gremium bestehend aus Führungskraft, Betriebs- oder Werksarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Betriebs- oder Personalrat vorgenommen. So lassen sich schon divergente bzw. sich widersprechende Anforderungen, die zu psychischen Fehlbelastungen führen können, herausfiltern. In einem zweiten Schritt werden sie mit der subjektiven Bewertung durch den Mitarbeiter verbunden. z
Fremdbeurteilung
Zweiter Schritt: persönliche Befragung
In zweiter Linie dann gilt es zu erfahren, wie der Mitarbeiter persönlich die psychischen Belastungsfaktoren empfindet. Für diesen Schritt ist der Mitarbeiter als Experte für seinen Arbeitsplatz ein wichtiger Partner in diesem Verfahren. Durch die getrennte Erfassung von Anforderung und psychischer Beanspruchung ist es möglich, empfundene Beanspruchungsfolgen mit den Arbeitsbedingungen in Verbindung zu bringen. Es werden sowohl Fakten als auch persönlich empfundene Auswirkungen ermittelt. Eine Kombination aus Selbst- und Fremdbeurteilung z. B. des Arbeitsplatzes führt zu einer Relativierung der Ergebnisse. Sie schützt vor »Betriebsblindheit« durch mangelnde Vergleichsmöglichkeiten des Mitarbeiters, der, weil er es nicht anders kennt, Belastungsfaktoren nicht als solche identifiziert, und vor mangelndem »Basiskontakt« der Führung und einer Fehlbeurteilung nach dem Motto: »Was nicht sein darf, kann auch nicht sein« auf der anderen Seite. Es kann auch sein, dass Mitarbeiter vorhandene Gestaltungsmöglichkeiten nicht sehen und nutzen, obwohl sie vorhanden wären. Zur Erfassung der zeitlichen Dimension von Arbeitsintensität können auch Tagesprotokolle beitragen. So kann überprüft werden, ob die zeitliche Planung für den entsprechenden Arbeitsplatz realistisch ist und der Zeitbedarf angemessen kalkuliert ist. Einen groben Überblick zur Situation kann eine Mitarbeiterbefragung liefern. Sie kann mit Hilfe von Fragebögen und Checklisten durchgeführt werden (s. Ende des Kapitels). Häufig verwendet wird der KFZA (Kurzfragebogen zur Arbeitssituationsanalyse). Die BAuA empfiehlt, bei der Verwendung von Fragebögen nicht mehr als 40 Fragen zu benutzen und nicht mehr als 20 Minuten für die Bearbeitung einzusetzen, da so eine gute Rücklaufquote zu erreichen
Betriebsblindheit vermeiden
Mitarbeiterbefragung
Fragebögen
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Kapitel 10 • Prävention
Checklisten
ist. Es gibt vier Checklisten zu den vier Bereichen psychischer Fehlbeanspruchungen, Stress, Sättigung, Monotonie und Ermüdung. Diese Auswertung der Checklisten kann erste Anhaltspunkte liefern. Diese Fragebögen lenken die Aufmerksamkeit auf verschiedene Belastungsfaktoren. Mit ihrer Auswertung erhält der Betrieb bereits zu Beginn einen groben Überblick über die psychischen Gefährdungspotentiale und die Mitarbeiter sind durch die Fragebögen bereits angesprochen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. > Oberste Priorität bei Fragenbogenaktionen hat der Datenschutz, die Gewährleistung von Datenschutz und Anonymität bei der Auswertung und Darstellung der Ergebnisse.
Gruppengespräche mit neutraler Moderation
10
Für kleinere Betriebe
Einige zentrale Belastungsfaktoren
Eine feinere Analyse lässt sich nur mit einer mündlichen Befragung der Mitarbeiter erreichen, z. B. in Einzel-, Gruppen- oder Abteilungsgesprächen. Es ist sinnvoll, diese Gesprächsrunden von einer neutralen Person aus dem Betrieb oder einem Externen moderieren zu lassen. Hier bieten sich wieder Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder Dienstleister auf diesem Gebiet an. Der Vorteil dieser Gesprächsrunden oder Einzelgespräche ist die intensive Beteiligung der Mitarbeiter als Experten ihres eigenen Arbeitsplatzes. Sie bieten die Chance, eine Vielfalt an Lösungsvorschlägen aus Sicht der Betroffenen zu bekommen. Ein weiterer Vorteil von Gruppengesprächen ist, dass sie sich leicht in die bestehenden betrieblichen Strukturen einfügen lassen. Für kleinere Betriebe mit wenigen Mitarbeitern kann unter Umständen auf Fragebögen und Checklisten verzichtet werden und das Gruppengespräch die Methode der Wahl sein, um miteinander ins Gespräch zu kommen. In größeren Betrieben können ergänzend Daten über Fehlzeiten, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Altersstruktur und Qualitätskennzahlen mit einbezogen werden. Zur Orientierung seien hier noch einmal einige zentrale Belastungsfaktoren genannt: 5 widersprüchliche Arbeitsanforderungen, 5 hohe Arbeitsintensität, 5 fehlende Informationen und Materialien, 5 veraltete, unzureichende Arbeitsmittel – das betrifft insbesondere die Nutzung von EDV, 5 unrealistische Zeitvorgaben, 5 mangelnde soziale Unterstützung, 5 emotionale Belastungen, 5 Führungsverhalten sowie 5 Entwicklung von Maßnahmen. z
Maßnahmen entwickeln
Maßnahmen
Nach der Beurteilung von Arbeitsbedingungen und der Ermittlung von psychosozialen Belastungsfaktoren folgt die Entwicklung von Maßnahmen. In den Gruppengesprächen sind wahrscheinlich schon zahlreiche Verbesserungsvorschläge und Anregungen gekommen.
10.2 • Ansätze für Prävention
207
10
Die gilt es jetzt zu bündeln, Prioritäten zu setzen und einen Maßnahmenplan daraus zu entwickeln und umzusetzen. Es folgen drei Schritte nach der Datensammlung: 5 Prioritätenliste erstellen, 5 daraus messbare Ziele ableiten und 5 einen Umsetzungs- und Kontrollplan erstellen. Bei der Entwicklung von Maßnahmen kann es sinnvoll sein, Fachwissen heranzuziehen, damit nicht aus Unwissenheit der Beteiligten mangelhafte Arbeitsbedingungen hingenommen werden, weil der Mitarbeiter sich längst damit abgefunden und arrangiert hat. Was können das z. B. für Maßnahmen sein? Grundsätzlich haben nachhaltig wirkende Maßnahmen einen Nutzen für den Betrieb und die Mitarbeiter gleichermaßen, wenn sie dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen schädigungsärmer und menschengerechter zu verändern und die Arbeitsorganisation zu optimieren. Grundsätze nachhaltiger Maßnahmen: 5 Vermeidung widersprüchlicher Anforderungen, 5 realistische zeitliche Planungen, die auch Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigen, 5 bei komplexen Anforderungen, die viel Konzentration erfordern, für störungsfreie Zeiten sorgen, 5 bei belastenden Tätigkeiten kann die Arbeit durch andere Tätigkeiten angereichert werden. Das A und O sind jedoch Mitarbeitergespräche: 5 Sie helfen dabei, Zielvereinbarungen und Arbeitsergebnisse zu reflektieren. Das gibt dem Betrieb die Möglichkeit, schnell auf Veränderungen regieren zu können. 5 Die Mitarbeiter bekommen auf diese Weise die Gelegenheit, Einfluss auf die Arbeitsorganisation und -gestaltung zu nehmen. Gerade Einflussnahme ist ein wichtiger Faktor, der psychische Fehlbeanspruchung vermeiden helfen kann. 5 Jedes Mitarbeitergespräch könnte auch zur Anerkennung der Leistung des Mitarbeiters und zur Personalentwicklung genutzt werden, indem sowohl über Stärken, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten als auch über Anzeichen von Erschöpfung und Sorgen gesprochen wird. Dazu gehört auch der Erhalt und Ausbau von Ressourcen: 5 die Personalentwicklung und Qualifizierung des Personals, 5 Unterstützung durch entsprechendes Führungsverhalten, 5 Transparenz, 5 Gestaltungsspielräume, 5 einen guten Kommunikationsfluss sowie 5 die Förderung von Kooperation und von sozialer Unterstützung auch bei familiären Problemen der Mitarbeiter.
Abbau von Belastungen, Erhalt und Ausbau von Ressourcen
Empfohlene Maßnahmen
208
Kapitel 10 • Prävention
Weitere Maßnahmen können sein: 5 Verbesserung der technischen Ausstattung, 5 Verbesserung des Informationsflusses, 5 Abbau von Störungen während des Arbeitstages, 5 Eindämmen der Informationsflut, 5 Sozialberatung, die sinnvollerweise im Betrieb angesiedelt sein sollte, 5 auch ein 360°-Feedback zur gegenseitigen Rückmeldung aller Beteiligten inklusive der Führungskräfte ist ein gutes Mittel für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess und Förderung der Gesundheit im Betrieb. Beispiele aus der Praxis Kümmerer
Entärgerungsseminar
10
Sprechstunde psychische Gesundheit
Schulung der Führungskräfte
Wunschdienstplan
Geschäftsführung zum Anfassen
Bei einer Stadtreinigung wurde eine Sozialberatung etabliert und in den jeweiligen Kolonnen, die mit den Müllwagen unterwegs sind, wurden Kümmerer gefunden und qualifiziert. Für die Beeinflussung der körperlichen Belastungen ist ein Fitnessmobil im Einsatz, um den Mitarbeitern ein Training während der Arbeitszeit zu ermöglichen. Bei einem ambulanten Pflegedienst wurden die Einsatzpläne so optimiert, dass die Mitarbeiter ihre Pausen einhalten konnten und dem regelmäßigen Austausch zur Entlastung wurde mehr Raum gegeben. In einem »Entärgerungsseminar« hatten die Mitarbeiter gemeinsam »Ärgerpunkte« gesammelt und Lösungsmöglichkeiten gefunden. In einem Großunternehmen wurde eine Sprechstunde »Psychische Gesundheit« eingerichtet und sie findet regen Zuspruch. Die Sprechstunde wird in Zusammenarbeit mit einer Klinik von einem Facharzt durchgeführt. Man könnte dafür sicherlich auch einen Psychotherapeuten oder einen niedergelassenen Facharzt gewinnen. In einem anderen Unternehmen wurden die Führungskräfte umfassend zum Thema »Psychische Störungen am Arbeitsplatz« geschult mit dem Ziel, rechtzeitig Anzeichen von Fehlbeanspruchung zu erkennen und Maßnahmen ergreifen zu können. Auch diese Maßnahmen zeigten Wirkung und es ist gelungen, die Führungskräfte für dieses Thema zu sensibilisieren. Ein Verkehrsbetrieb hat gute Ergebnisse mit Wunschdienstplänen erzielt, auch wenn niemand wirklich geglaubt hat, dass dies funktionieren könnte, so dass alle Zeiten auch besetzt werden können. Hier spielt der Faktor »Einflussmöglichkeit auf die Arbeitszeit« eine große Rolle. Ein anderes Unternehmen hat erkannt, dass es für die Mitarbeiter wichtig ist, Kontakt zur Geschäftsführung zu haben. So nimmt sich der Geschäftsführer unter dem Motto »Geschäftsführung zum Anfassen« regelmäßig in der Woche zwei Stunden Zeit, um im Betrieb zu sein.
Umsetzung und Bewertung der Maßnahmen Wahrscheinlich werden nicht alle Maßnahmen, die im Verlauf des Verfahrens entwickelt worden sind, auch gleich umgesetzt werden
209
10.2 • Ansätze für Prävention
10
. Tab. 10.2 Checkliste Gefährdungsanalyse psychischer Belastungsfaktoren. (7 Download unter: www.springer. com/978-3-642-16979-3) Arbeitsschritte
Details
Vorbereitung der Gefährdungsanalyse
Ziele, Bereiche festlegen, Planung zeitlich und inhaltlich
Planung den Mitarbeitern vorstellen Screening
Die Fragebögen oder Checklisten sollen Anhaltspunkte liefern, alle mit einbeziehen und für das Thema sensibilisieren.
Fremdbeurteilung der Arbeitsanforderungen an den jeweiligen Arbeitsplätzen
Akteure: Vorgesetzter, Mitarbeiter, Betriebsrat, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Betriebsarzt bzw. Werksarzt
Subjektive Beurteilung durch die Mitarbeiter in Gruppen- oder Einzelgesprächen und Entwicklung von Maßnahmen
Moderation durch eine neutrale Person
Auswertung aller Ergebnisse und Planung der Maßnahmen Umsetzungen der Maßnahmen Bewertung der Maßnahmen
können. Hier gilt es, den Mitarbeitern deutlich zu machen, welche Prioritäten gesetzt worden sind und welche Maßnahmen vorrangig umgesetzt werden sollen. Sind die Maßnahmen auf den Weg gebracht und dokumentiert, sind alle gespannt und voller Erwartungen auf die Ergebnisse. Nach angemessener Zeit sollte eine Bewertung angesetzt werden, um die Wirksamkeit zu untersuchen: Was hat es gebracht? Was ist noch offen und wo gibt es noch etwas zu verbessern? Die Gefährdungsbeurteilung von psychischen Belastungsfaktoren ist an sich schon eine Intervention im Betrieb. Sie dient der Identifizierung und dem Abbau von psychischen Belastungs- und Risikofaktoren und dem Erhalt und Ausbau von Ressourcen. Das Ziel ist die Steigerung bzw. Verbesserung der Arbeitssicherheit und der Gesunderhaltung der Mitarbeiter. Nur wenn die Gefährdungsbeurteilung ein Prozess kontinuierlicher Verbesserung ist, wird es auch ein wirksames Mittel des Arbeitsschutzes werden. Ohne Kontrolle der Wirksamkeit hat jedoch der Arbeitsschutz keinen Effekt und es wird sich kein Vertrauen in die entwickelten Maßnahmen bilden. Und wenn die Kontinuität des gesamten Prozesses nicht gewährleistet ist, wird es keine nachhaltige Veränderung geben können (. Tab. 10.2).
10.2.4
Gesundheitsmanagement
Ein Betrieb kann aber auch einen Schritt weitergehen und ein betriebliches Gesundheitsmanagement etablieren (Uhle & Treier, 2010). Das betriebliche Gesundheitsmanagement verbindet den klassischen Arbeitsschutz mit der allgemeinen Gesundheitsförderung der Mit-
Loslegen und später bewerten
210
Kapitel 10 • Prävention
Gesundheit und Regenerationsfähigkeit dauerhaft erhalten
Vorteile
10
arbeiter. Im Unternehmensleitbild verankert und als Managementsystem im Betrieb etabliert orientiert es sich an der Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit und betrachtet den Menschen ganzheitlich in seiner Arbeits- und Lebenssituation. Gesundheitsmanagement zielt darauf ab, im Unternehmen Maßnahmen zu entwickeln, die die Gesundheitskompetenz im Unternehmen und bei den einzelnen Mitarbeitern so fördern, dass die Gesundheit und die Regenerationsfähigkeit der Mitarbeiter dauerhaft erhalten wird. Das besondere daran ist die ganzheitliche Sichtweise. Sie bezieht das Individuum, die Arbeitsbedingungen, die Organisation und die Umwelt mit ein. Sie umfasst dabei ein Spektrum von Maßnahmen, die die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Betriebsabläufen ebenso berücksichtigt und beinhaltet wie die Förderung eines gesundheitsorientierten Lebensstils der Mitarbeiter sowie die Unterstützung der Mitarbeiter auch außerhalb des Betriebes. Die Vorteile eines betrieblichen Gesundheitsmanagements liegen auf der Hand: 5 die Gesundheitsquote steigt, 5 Motivation, Kreativität sowie psychische und physische Leistungsfähigkeit steigen, 5 ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess und regelmäßiger Diskurs über gesundheitsförderliche Arbeits- und Organisationsabläufe findet regelmäßig statt und ist in die betrieblichen Prozesse integriert, 5 die Gesundheitskompetenz im Betrieb steigt, 5 die Arbeitszufriedenheit steigt, 5 die Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen nimmt zu.
»
Unternehmen sind nur so gesund, wie die Menschen, die in diesen arbeiten, und nur gesunde Unternehmen werden dauerhaft am Markt bestehen können (Meifert & Mathias, 2004).
«
Verhältnisprävention Verhaltensprävention
Beim betrieblichen Gesundheitsmanagement wird immer von zwei Arten von Prävention gesprochen: Verhältnisprävention und Verhaltensprävention. Mit Verhältnisprävention ist die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, der Kommunikation, der sozialen Beziehungen sowie die Betriebs- und Führungskultur gemeint. Verhaltensprävention will den Mitarbeiter in seinem Verhalten beeinflussen und zielt mit ihren Maßnahmen auf das gesundheitsbewusste Verhalten des einzelnen Mitarbeiters. Zurzeit werden vielfach in den Betrieben ausschließlich Maßnahmen zur Verhaltensprävention wie z. B. Entspannungskurse oder Stressbewältigungstrainings angeboten. Vorherrschend ist hier die Meinung, der Mitarbeiter sei allein für seine Gesundheit verantwortlich. Diese Maßnahmen verpuffen jedoch wirkungslos, wenn nicht auch an den betrieblichen Ursachen psychischer Belastungen angesetzt wird, denn gegen ungünstige und psy-
10.2 • Ansätze für Prävention
211
10
chisch belastende Arbeitsbedingungen und -abläufe hilft kein noch so guter Entspannungskurs! > Für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen gilt: Vorrangig für erfolgreiche und nachhaltige Prävention sind Maßnahmen zur Verhältnisprävention und erst in zweiter Linie ergänzend können Angebote zur Verhaltensprävention dazukommen.
Die verschiedenen Arbeitsmethoden aus der betrieblichen Gesundheitsförderung können sehr gut die Maßnahmen und Methoden des Arbeitsschutzes ergänzen und sind miteinander kombinierbar. Die Ergebnisse der Gefährdungsermittlung psychischer Belastungen können also eine gute Grundlage bieten für weitere präventive Maßnahmen (dazu auch 7 »Exkurs zum anerkennenden Erfahrungsaustausch«). Um derartige Maßnahme im Betrieb einzuleiten, empfiehlt sich ein gezieltes und koordiniertes Vorgehen unter Einbeziehung von Geschäftsführer, Mitarbeitervertreter, Experten und der gesamten Mitarbeiterschaft. Auch hier gilt wieder: Gesundheit ist Chefsache. Gefährdungsanalysen und Gesundheitsförderung haben auch eine gemeinsame Schnittmenge, wenn es darum geht, Ziele für die Gesundheitsförderung zu entwickeln. Gefährdungsbeurteilungen können auch von Gesundheitszirkeln oder Gruppen zur Arbeitssituationsanalyse sowie Gesundheitsworkshops durchgeführt werden. Nach einer Mitarbeiterbefragung mit Hilfe von Checklisten und Fragebögen können an der Stelle von Gruppengesprächen auch Gesundheitszirkel, Arbeitssituationsanalysen oder Workshops durchgeführt werden. Ein Gesundheitszirkel ist ein Arbeitskreis, eine Art »Think tank«, und kann auch als Steuerungsgruppe tätig werden. Er besteht aus der Geschäftsführung, Betriebsrat, Mitarbeitern und der Fachkraft für Arbeitssicherheit und wird durch einen Moderator geleitet. Themen eines Gesundheitszirkels sind die gesundheitlichen Belastungen am Arbeitsplatz, gesundheitliche Beschwerden der Mitarbeiter, die Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung von Arbeitssituationen, Organisationsabläufen und zur Gesundheitsförderung. Die Arbeitssituationsanalyse wird jeweils von den Mitarbeitern eines Bereichs durchgeführt. Anhand von Fragen werden gesundheitsbeeinträchtigende und gesundheitsförderliche Faktoren bearbeitet und Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitssituation des Bereichs, der Abteilung oder des Projekts entwickelt. Ein Gesundheitsworkshop tagt mehrmals mit Mitarbeitern eines Arbeitsgebietes, kann auch in kleineren Betrieben durchgeführt werden und ist das kleinere Geschwister des Gesundheitszirkels. Alle diese aus der Gesundheitsförderung entnommenen Methoden zur Erfassung psychischer Belastungen und zur Besserung der Arbeitssituation sind geeignet, Maßnahmen zur Prävention zu erarbeiten und bei der Umsetzung gestaltend einzugreifen (. Tab. 10.3).
Verhältnisprävention geht vor Verhaltensprävention
Gesundheit ist Chefsache
Gesundheitszirkel
Kombination mit dem Arbeitsschutz ist sinnvoll.
212
Kapitel 10 • Prävention
Exkurs zum anerkennenden Erfahrungsaustausch
10
Der anerkennende Erfahrungsaustausch (Bökenheide, in: Badura, 2010, S. 325 ff.) stellt ein Führungsinstrument dar, bei dem die Anwesenheit des Mitarbeiters im Mittelpunkt steht. »Das schärft den Blick der Führungskraft auf vorhandene Ressourcen von Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Wohlbefinden der Mitarbeiter im Unternehmen und bei der Arbeit und bietet Möglichkeiten betriebliche Gesundheitspolitik neu zu gestalten« (Bökenheide, in: Badura, 2010, S. 324). Die große Gruppe der stets Anwesenden kann viele gute Hinweise liefern, wo die Stärken und Ressourcen im Unternehmen liegen. Sie können auch vermitteln, welche Schwächen und Belastungsfaktoren sie sehen. Im anerkennenden Erfahrungsaustausch werden z. B. Fragen gestellt wie: 4 »Was gefällt Ihnen bei der Arbeit?« 4 »Was davon gefällt Ihnen am meisten?« 4 »Auf was sind Sie stolz im Unternehmen und bei der Arbeit?«
4 »Was tut Ihr Arbeitgeber für die Gesundheit der Mitarbeiter?« 4 »Was belastet und stört Sie?« 4 »Und was belastet und stört Sie davon am meisten?« 4 »Was würden Sie anstelle der Führungskraft als Erstes verbessern?« 4 »Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Kollegen ihren Beruf bis 65 ausüben können bzw. wollen?« 4 »Was brauchen Sie, um die verbleibende Zeit bis zur Rente arbeitsfähig zu bleiben?« (Bökenheide, 2010) Die Beantwortung dieser Fragen sollte von der Führungskraft sorgfältig aufgenommen werden. »Mit diesem Wissen sind Führungskräfte nun besser in der Lage, individuell das Anwesenheitsverhalten der Mitarbeiter positiv zu stärken und oder Hemmnisse zu verringern bzw. abzuschaffen« (Bökenheide, 2010, S. 330). Die Angabe zu Belastungen und Ressourcen können ebenso wie die Ergebnisse aus der Gefährdungsbeurteilung und
den Gruppengesprächen genutzt werden, um Ressourcen zu erhalten, auszubauen und Belastungen zu verringern. Der anerkennende Erfahrungsaustausch vermittelt mit seinem ressourcenorientierten Ansatz eine Wertschätzung der arbeitsfähigen Mitarbeiter, trägt zur Verbesserung der sozialen Beziehungen bei, stärkt die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter und hinterlässt bei den Gesprächspartnern ein positives Gefühl und gute Laune. So ist der anerkennende Erfahrungsaustausch durch einen positiven Anlass zustande gekommen, nämlich dass die Führungskraft den arbeitsfähigen Mitarbeiter einlädt, mit ihm über seine Gesundheit und über sein Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu sprechen. Das ist neben all den Krankenrückkehrgesprächen und stufenweisen Wiedereingliederungen eine gute Ergänzung mit einem positiven und gesundheitsorientierten Ansatz, finde ich.
. Tab. 10.3 Checkliste Gesundheitsmanagement. (7 Download unter: www.springer.com/978-3-642-16979-3) Arbeitsschritte
Details
Gesundheit der Mitarbeiter als Unternehmensziel und Bestandteil der Unternehmenskultur festlegen und Ziele definieren Steuerungsgremium bilden Erfassung und Bewertung der Belastungsfaktoren
Themenschwerpunkte auf der Grundlage der Gefährdungsanalyse auswählen
Diskussion der Ergebnisse im Steuerungsgremium
Auf die Diskussion folgt die Ableitung von Maßnahmen
Kooperationspartner einbinden
Als Kooperationspartner eignen sich Krankenkasse, Unfallversicherung und andere Externe
Konzept für den Betrieb entwickeln Umfang der finanziellen und personellen Ressourcen festlegen Zeitlichen Rahmen festlegen Maßnahmen umsetzen und bewerten
Abklären, ob ein Beitrag der Krankenkassen möglich ist
10.2 • Ansätze für Prävention
10.2.5
213
10
Maßnahmen zum Gesundheitsmanagement
Maßnahmen zum Gesundheitsmanagement können aus verschiedenen Bausteinen bestehen. Folgende Maßnahmen zur Verhältnisprävention sind möglich: Auf der Ebene der Organisation: die Festlegung von Gesundheitsma-
nagement als Unternehmensziel, Unternehmensleitlinien zur gesundheitsförderlichen Führung und der Berücksichtigung gesundheitsförderlicher Fragen bei allen betrieblichen Maßnahmen. Auf der Ebene der Arbeitsbedingungen: eine gesundheitsgerechte
Gestaltung von Arbeitsplätzen, -abläufen und -strukturen, das können z. B. ergonomische Arbeitsbedingungen, flexible Arbeitszeitregelungen und Handlungsspielräume sein.
Gesundheitsmanagement als Unternehmensziel
Gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen
Auf der individuellen Ebene: Gesundheitssprechstunde, Sozialbera-
tung, Angebote zur medizinischen Versorgung (z. B. Grippeimpfungen) und Maßnahmen zur Verhaltensprävention wie Trainings und Informationen, die zu einem gesundheitsorientierten Lebensstil beitragen wie z. B. zu den Themen Ernährung, Entspannung, Bewegung, Stressbewältigung, Zeitmanagement. Welche Maßnahmen dienen dazu, die Gesundheitspotentiale der Arbeitsbedingungen zu fördern, die Mitarbeiter zu Gesundheitsexperten zu machen und zu gesunder Lebensführung zu animieren? Soziale Beziehungen haben, das ist mittlerweile gut belegt, ein hohes Gesundheitspotential. Insofern sind alle Maßnahmen, die das soziale Miteinander, sowohl der Mitarbeiter untereinander als auch zwischen Mitarbeiter und Führungskräften, im Betrieb unterstützen, besonders sinnvoll und effektiv. Welche Maßnahmen können dies unterstützen? z
Mitarbeiter zu Gesundheitsexperten machen
Schulungen und Trainings
Empfohlen werden Schulungen und Trainings zur Personalentwicklung der Führungskräfte. Sie können vor allen Dingen dazu beitragen soziale Kompetenzen zu vermitteln und zu fördern und Themenschwerpunkte behandeln wie: 5 gesunde Führung, 5 Vermittlung sozialer Kompetenzen, 5 Kommunikation, 5 Konfliktmanagement, 5 Burnout-Prophylaxe, 5 psychische Gesundheit. Sie sollten in jedem Fall die Auseinandersetzung mit zentralen Werten wie Vertrauen, Transparenz, Ehrlichkeit und Offenheit und die Reflektion über das Führungsverhalten und den Austausch der Führungskräfte untereinander unterstützen.
Maßnahme zur Personalentwicklung
214
Kapitel 10 • Prävention
Führungskräfte schulen und sensibilisieren
Zur Prävention von psychischen Störungen empfehle ich zusätzlich spezielle Fortbildungen und Workshops zum Umgang mit Menschen in psychischen Krisen oder mit psychischen Störungen am Arbeitsplatz, um die Führungskräfte für dieses Thema zu sensibilisieren und ihnen Hilfen zu geben. So können sie die Mitarbeiter in Krisensituationen besser unterstützen und psychische Belastungen früher erkennen. Für die Durchführung von Mitarbeitergesprächen bekommen sie zunehmend mehr Sicherheit und können ohne Vorbehalte auf ihre psychisch fehlbelasteten Mitarbeiter zugehen. Auch Einzelcoachings zu besonderen Fragen sind hilfreich und denkbar. Für die Mitarbeiter werden zur Förderung der sozialen Kompetenz und der Gesundheitskompetenz Trainings und Fortbildungen empfohlen zu Themen wie: 5 Kommunikationen, 5 Konfliktmanagement, 5 psychische Gesundheit, 5 Stressbewältigung und Entspannung sind ebenso sinnvoll wie z. B. auch 5 Vorträge zu den Themen Schlaf und Ernährung. z
Psychische Gesundheit zum Thema machen
10
z Sozialberater im Betrieb sind für alle Probleme ansprechbar
Sozialberatung vor Ort hat viele Vorteile:
Gesundheitstage
Die regelmäßige Durchführung von Gesundheitstagen bietet zusätzlich die Möglichkeit, psychische Gesundheit zu einem Themenschwerpunkt eines Gesundheitstages zu machen. Solche Veranstaltungen sollten den Austausch ermöglichen und sich z. B. mit den Themen Angst, Erschöpfung und Depression beschäftigen. Auf diese Weise können diese häufig noch tabuisierten Themen öffentlich besprochen werden und dazu beitragen, dass die Betroffenen keine Angst vor Ausgrenzung und Arbeitsplatzverlust haben müssen, sondern sicher sein können, dass sie Unterstützung und Hilfe bekommen. Sozialberatung
Auch die Einführung einer Sozialberatung ist empfehlenswert. Die Sozialberatung vor Ort ist für die Betriebe eine sehr sinnvolle und wirkungsvolle Maßnahme zur Prävention. In der Regel fungieren die Sozialberater im Betrieb zusätzlich als Suchtberater und sind für alle sozialen Probleme ansprechbar. Sie werden aufgesucht bei Problemen am Arbeitsplatz, zur Unterstützung bei der Schuldenberatung, bei familiären Problemen, zur Vorbereitung von Rehabilitationsmaßnahmen und zur Unterstützung bei Wiedereingliederungen, kurzum in allen sozialen Fragen, die den Mitarbeiter am Arbeitsplatz belasten und beschäftigen können. Betriebliche Sozialarbeiter haben eine Lotsenfunktion im Betrieb und helfen, den ratsuchenden Menschen schnell an die richtige Stelle zu bringen. Sie verfügen in der Regel über ein Netzwerk vor Ort und kennen die Menschen, die Zusammenhänge und die Arbeitsplätze im Betrieb. Oft sind sie selber lange im Betrieb als Mitarbeiter, das senkt die Schwelle für die Betriebsangehörigen, ihren Rat in Anspruch zu nehmen. So können sie oft recht früh
10.2 • Ansätze für Prävention
helfend eingreifen und lange Wartezeiten bei externen Beratungsstellen vermeiden helfen. Die Sozialberatung im Betrieb hat den großen Vorteil kurzer Wege. Man kann dort kurz einmal vorbeigehen, auch mal zwischendurch und auch kurz mal um Rat fragen, ohne lange warten zu müssen. Das hat für die Prävention von psychischen Störungen enorme Vorteile. Gerade lange Wartezeiten führen häufig zur Verschlimmerung von Beschwerden, zur Zuspitzung von kritischen Situationen und zur Chronifizierung psychischer Störungen. In letzter Zeit tauchen vermehrt Dienstleister auf, die zu einem vermeintlich günstigen Preis eine Beratung und manchmal auch weitere Sozialleistungen für die Mitarbeiter anbieten. Es wird mit einem 24-Stunden-Service geworben. Dort können sich die Mitarbeiter telefonisch beraten lassen oder aber außerhalb des Betriebes Beratungstermine wahrnehmen. Es mag für manche Betriebe verlockend klingen, das Angebot bleibt jedoch meistens in der Qualität weit hinter der der betrieblichen Sozialberatung zurück und ist in der Regel auch nicht günstiger. Auch die Werbung mit einem 24-Stunden-Service erscheint fast unlauter, denn in all den Jahren, in denen es betriebliche Sozialberatung gibt, gab es nur sehr selten Probleme, die keinen Aufschub bis zum nächsten Morgen oder zum nächsten Montag geduldet hätten. Sozialberater sind durch ihre Betriebszugehörigkeit und die Nähe zum Betrieb durchaus in der Lage, tragfähige Beziehungen zu den Mitarbeitern zu entwickeln, die auch über eine Nacht und ein Wochenende hinaustragen können. Meiner Meinung nach gibt es zu einer Sozialberatung im Betrieb keine Alternative und die Vorteile eines im Betrieb verwurzelten und bekannten Ansprechpartner, der die Mitarbeiter und die Arbeitsplätze kennt, kann kein noch so günstiger Dienstleister bieten. Für kleinere Betriebe empfehle ich, eine feste Ansprechpartnerin auf Honorarbasis zu engagieren und sie auch für begrenzte Stundenzahlen in den Betrieb zu integrieren. Nur so halten sie die Kontaktschwelle niedrig und können Sozialberatung als effektive Maßnahme zur Prävention nutzen. Auch die Unterstützung und Beratung bei familiären Problemen, wenn es z. B. um die Pflege von älteren Familienangehörigen geht oder die Ermöglichung von flexibleren Arbeitszeiten, wenn schwerwiegende familiäre Probleme zu lösen sind, können auch durch die Sozialberatung unterstützt, teilweise angestoßen werden. Denn auch die Sozialberatung hat Möglichkeiten, von sich aus Anregungen in den Betrieb hineinzutragen. z
215
10 Kurze Wege
Keine Wartezeiten
Externe Dienstleister bleiben in der Qualität zurück
Zur Sozialberatung im Betrieb gibt es keine Alternative
Für kleinere Betriebe: Feste Ansprechpartner integrieren
Betriebssport
Zur Förderung von Gemeinschaftserlebnissen kann auch der Betriebssport einen wichtigen Beitrag leisten. Gemeinsam Sport zu treiben, sei es beim Fußball, Radfahren, Joggen, Walken oder anderen sportlichen Aktivitäten, bietet ganz andere Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu kommen, frei von der Rolle am Arbeitsplatz. In einem Betrieb war sogar der gemeinsame Sport Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung. Also
Betriebssport
216
Kapitel 10 • Prävention
nden
MS Wohlbefi
. Abb. 10.10 Auf dem richtigen Kurs. (© Christiane Weitendorf )
können auch vom Sport wichtige Impulse ausgehen. Die gemeinsame Teilnahme als Betrieb an Breitensportveranstaltungen und kleineren Wettkämpfen können ein guter Anlass sein für die Gründung einer Betriebsmannschaft. Neben der Förderung sozialer Beziehungen trägt Sport, insbesondere Ausdauersport, auch zur Steigerung psychischer Belastbarkeit und mentaler Leistungsfähigkeit bei, er hilft dabei, Stressbelastungen abzubauen, und wirkt zusätzlich antidepressiv. z
10
Kurse und Vorträge
Unterstützung durch Krankenkassen und Berufsgenossenschaften
Bei der Durchführung von Trainingskursen und Vorträgen können Betriebe Unterstützung von den Krankenkassen und den Berufsgenossenschaften bekommen. Es werden häufig von Experten der Krankenkasse oder der Berufsgenossenschaft Seminare und Trainingsworkshops zu den gesundheitsrelevanten Themen wie Bewegung, Entspannung, Ernährung, Schlaf, psychische Gesundheit usw. angeboten. Dem Ideenreichtum für ein betriebliches Gesundheitsmanagement sind keine Grenzen gesetzt, um Ihr Schiff auf den richtigen Kurs Richtung psychische Gesundheit und Wohlbefinden zu bringen (. Abb. 10.10). Am Ende des Kapitels folgen Checklisten und ein Kurzfragebogen zur Ist- und Soll-Analyse der Arbeitstätigkeit (. Abb. 10.11; . Abb. 10.12 . Abb. 10.13; . Abb. 10.14; . Abb. 10.15).
10.2 • Ansätze für Prävention
217
Arbeitsbereich/Berufsgruppe:*) Arbeitstätigkeit:*) Checkliste 1:
Stress
In der Liste sind Merkmale enthalten, die das Erleben von Stress bei der Arbeit kennzeichnen. Treffen diese für die Arbeiten, die Sie bewerten, zu? Kreuzen Sie bitte die entsprechenden Merkmale an. Bei der Arbeit… 1
ist die Verantwortung zu hoch.
2
kommen Termin- oder Zeitdruck häufig vor.
3
gibt es häufig Störungen oder Unterbrechungen.
4
gelten enge Vorgaben für die Ausführung der Arbeit.
5
müssen Entscheidungen ohne ausreichende Informationen und mit unzureichenden Entscheidungshilfen getroffen werden.
6
gibt es widersprüchliche Anforderungen (z. B. Konflikte zwischen Termineinhaltung und Qualität.)
7
fehlt die Unterstützung der Kollegen und Vorgesetzten.
Liegen zusätzlich andere Einflüsse vor, z. B. … 8
soziale Spannungen.
9
ist häufig zu wenig Personal da.
10
ist die Zukunft der Abteilung oder des Betriebes unsicher.
Merkmale aus den Bereichen Leistung und Verhalten Bei der Arbeit… 11
übersehe ich oder übergehe ich überdurchschnittlich häufig Informationen.
12
habe ich das Gefühl, dass ich die Übersicht verliere.
13
mache ich häufig Fehler.
14
bin ich mir unsicher, ob ich alles richtig mache.
15
bin ich unruhig und nervös.
16
habe ich Angst, dass ich die Arbeit nicht schaffe.
Die Merkmale 11 bis 16 können nur von den Beschäftigten eingeschätzt werden. *) Angaben bei Bedarf
. Abb. 10.11 Checkliste Stress. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. www.baua.de 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
10
218
Kapitel 10 • Prävention
Arbeitsbereich/Berufsgruppe:*) _____________________________ Arbeitstätigkeit:*) Checkliste 2:
_____________________________ Psychische Ermüdung
In der Liste sind Merkmale enthalten, die das Erleben von psychischer Ermüdung bei der Arbeit kennzeichnen. Treffen diese für die Arbeiten, die Sie bewerten, zu? Kreuzen Sie bitte die entsprechenden Merkmale an.
Bei der Arbeit… 1
werden nur bearbeitende oder ausführende Tätigkeiten ausgeübt.
2
muss für die Tätigkeit nichts vorbereitet und organsiert werden, der Ablauf oder die Ergebnisse sind nicht zu kontrollieren.
3
gibt es kaum Rückmeldungen über den Arbeitsablauf oder die Arbeitsergebnisse.
4
gibt es keine oder nur geringe Möglichkeiten zur Kooperation oder Kommunikation mit Kollegen.
5
wird in einseitigen Körperhaltungen oder in Zwangshaltungen gearbeitet.
6
herrscht Bewegungsmangel.
7
sind kaum Pausen möglich.
Liegen zusätzlich andere Einflüsse vor, z. B. …
10
8
mangelhafte Wahrnehmungsbedingungen (z.B. verursacht durch ungenügende Beleuchtung, Staub, Dampf u. Ä.).
9
schlecht gestaltete Arbeitsmittel (z.B. ungünstige Lage der Anzeigen oder Stellteile).
10
störende Arbeitsumgebungsbedingungen (z.B. Lärm).
Merkmale aus den Bereichen Leistung und Verhalten Bei der Arbeit… 11
benötige ich zunehmend mehr Zeit für die Tätigkeitsausführung.
12
werden mir eigene Fehlleistungen erst später bewusst.
13
fühle ich mich erschöpft und müde.
14
lässt meine Konzentration nach.
15
muss ich meine Müdigkeit überwinden.
16
habe ich ein starkes Erholungsbedürfnis.
Die Merkmale 11 bis 16 können nur von den Beschäftigten eingeschätzt werden. *) Angaben bei Bedarf
. Abb. 10.12 Checkliste Psychische Ermüdung. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. www.baua.de 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
219
10.2 • Ansätze für Prävention
10
Arbeitsbereich/Berufsgruppe:*) _____________________________ Arbeitstätigkeit:*)
Checkliste 3:
_____________________________
Monotonie
In der Liste sind Merkmale enthalten, die das Erleben von Monotonie bei der Arbeit kennzeichnen. Treffen diese für die Arbeiten, die Sie bewerten, zu? Kreuzen Sie bitte die entsprechenden Merkmale an. Bei der Arbeit… 1
handelt es sich vorwiegend um eine ausführende Tätigkeit (z.B. Kontrolle von Abläufen u. Ä.).
2
ist die Tätigkeit anregungsarm.
3
kehren einförmige Verrichtungen immer wieder.
4
wird die ganze Zeit Aufmerksamkeit gefordert, ohne dass etwas anderes getan werden kann oder muss.
5
muss mit niemanden zusammengearbeitet werden.
6
kann mit Keinem geredet werden.
7
werden die Fähigkeiten und Kenntnisse der Beschäftigten zu wenig genutzt.
Liegen zusätzlich andere Einflüsse vor, z. B. … 8
ist der Arbeitsraum überhitzt.
9
ist der Arbeitsraum dunkel.
10
kehren gleichförmige Geräusche immer wieder.
Merkmale aus den Bereichen Leistung und Verhalten Bei der Arbeit… 11
fühle ich mich unterfordert.
12
sinkt meine Leistung immer wieder ab.
13
benötige ich mehr Zeit, bis ich reagiere.
14
führe ich Nebentätigkeiten aus oder meine Gedanken schweifen trotz geforderter Daueraufmerksamkeit ab.
15
langweile ich mich.
16
döse, dämmere oder träume ich vor mich hin.
Die Merkmale 11 bis 16 können nur von den Beschäftigten eingeschätzt werden. *) Angaben bei Bedarf
. Abb. 10.13 Checkliste Monotonie. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. www.baua.de 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
220
Kapitel 10 • Prävention
Arbeitsbereich/Berufsgruppe:*)
_____________________________
Arbeitstätigkeit:*)
_____________________________
Checkliste 4:
psychische Sättigung
In der Liste sind Merkmale enthalten, die das Erleben von psychischer Sättigung bei der Arbeit kennzeichnen. Treffen diese für die Arbeiten, die Sie bewerten, zu? Kreuzen Sie bitte die entsprechenden Merkmale an. Bei der Arbeit… 1
sind die Beschäftigten zeitlich streng gebunden.
2
liegen strenge inhaltliche Vorgaben vor.
3
gibt es keine Möglichkeit, der Aufgabe zu entfliehen.
4
werden die Beschäftigten nicht ausreichend informiert.
5
gibt es kaum Rückmeldungen.
6
ist die Verantwortung zu gering.
7
werden Beschäftigte qualifikationsfremd eingesetzt.
Liegen zusätzlich andere Einflüsse vor, z. B. …
10
8
Führungsmängel.
9
schlechtes Betriebsklima, Mobbing.
10
sind die materiellen Arbeitsvoraussetzungen schlecht (z.B. der Arbeitsraum, die Arbeitsgeräte, das Arbeitsmaterial,…).
Merkmale aus den Bereichen Leistung und Verhalten Bei der Arbeit… 11
mache ich »Dienst nach Vorschrift«.
12
kann ich mich zu wenig einbringen.
13
ist mir der Sinn und der Nutzen meiner Tätigkeit für das Gesamtergebnis (der Arbeitsgruppe, des Betriebes) unklar.
14
trete ich auf der Stelle und komme nicht vorwärts.
15
bin ich missgestimmt, ärgerlich und gereizt.
16
bin ich unzufrieden.
Die Merkmale 11 bis 16 können nur von den Beschäftigten eingeschätzt werden. *) Angaben bei Bedarf
. Abb. 10.14 Checkliste Psychische Sättigung. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. www.baua.de 7 Zum Download unter www.springer.com/978-3-642-16979-3)
221
10.2 • Ansätze für Prävention
10
KFZA–Fragebogen Kurzfragebogen zur IST – und SOLL – Analyse der Arbeitstätigkeit Bitte beachten Sie: Im Folgenden geht es um die Beurteilung Ihrer Arbeitstätigkeit, so wie sie ist und so wie Sie sie gerne hätten. Mit anderen Worten: wir wollen eine IST- SOLL-Analyse durchführen. Das Ziel der IST-Beurteilung ist es, Schwachstellen aufzudecken und konkrete Verbesserungsvorschläge für Ihren Arbeitsplatz zu entwickeln. Für die SOLL-Beurteilung stellen Sie sich bitte vor, wir würden eine Analyse der Arbeitstätigkeit durchführen und die Bedingungen in Ihrem Unternehmen wären für Sie genauso, wie sie es gerne hätten. Wie würden Sie Ihre Arbeitstätigkeit bewerten? Aus der Analyse der IST-SOLL-Diskrepanzen haben wir die Möglichkeit besonders gezielten Handlungsbedarf abzuleiten. Um dies zu bewerkstelligen, ist Ihr persönliches Urteil von entscheidender Bedeutung! Dabei geht es nicht um eine Beurteilung Ihrer Person, sondern um Ihre Bewertung der Arbeitstätigkeit. Ihre Angaben in diesem Fragebogen werden vertraulich behandelt, die Datenauswertung erfolgt anonym Beurteilen Sie bitte nun auf den folgenden Seiten Ihre Arbeitstätigkeiten durch Ankreuzen! Bitte lassen Sie dabei keine Frage aus! Sehr wenig
Ziemlich wenig
Etwas
Ziemlich viel
Sehr viel
Arbeitstätigkeit Können Sie bei Ihrer Arbeit Neues dazulernen?
IST SOLL
Können Sie bei Ihrer Arbeit Wissen und Können voll einsetzen?
IST SOLL
Bei meiner Arbeit habe ich insgesamt gesehen häufig wechselnde, unterschiedliche Arbeitsaufgaben.
IST SOLL
Bei meiner Arbeit sehe ich selber am Ergebnis, ob meine Arbeit gut war oder nicht.
IST SOLL
Meine Arbeit ist so gestaltet, dass ich die Möglichkeit habe, ein vollständiges Arbeitsprodukt/eine vollständige Arbeitsaufgabe von Anfang bis Ende herzustellen.
IST SOLL
Stressoren Bei dieser Arbeit gibt es Sachen, die zu kompliziert sind (z. B. aufgrund keiner oder unklarer Arbeitsbeschreibungen oder aufgrund mangelnder Qualifizierung).
IST SOLL
. Abb. 10.15 KFZA-Fragebogen. (Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Jochen Prümper. Weiterführende Informationen sind unter folgender E-Mailadresse erhältlich:
[email protected]. 7 www.springer.com/9783-642-16979-3)
222
Kapitel 10 • Prävention
Sehr wenig Es werden zu hohe Anforderungen an meine Konzentrationsfähigkeit gestellt.
IST SOLL
Ich stehe häufig unter Zeitdruck.
IST SOLL
Ich habe zu viel Arbeit.
IST SOLL
Oft stehen mir die benötigten Informationen, Materialien und Arbeitsmittel nicht zur Verfügung.
IST SOLL
Ich werde bei meiner eigentlichen Arbeit immer wieder durch andere Personen unterbrochen.
IST SOLL
An meinem Arbeitsplatz gibt es ungünstige Umgebungsbedingungen, wie Lärm, Klima, Staub.
IST SOLL
An meinem Arbeitsplatz sind Räume und Raumausstattung ungenügend.
IST SOLL
Ressourcen
10
Wenn Sie Ihre Tätigkeit insgesamt betrachten, inwieweit können Sie die Reihenfolge der Arbeitsschritte selbst bestimmen?
IST SOLL
Wie viel Einfluss haben Sie darauf, welche Arbeit Ihnen zugeteilt wird?
IST SOLL
Können Sie Ihre Arbeit selbstständig planen und einteilen?
IST SOLL
Ich kann mich auf meine Kolleginnen und Kollegen verlassen, wenn es bei der Arbeit schwierig wird.
IST SOLL
Ich kann mich auf meine/n direkte/n Vorgesetzte/n verlassen, wenn es bei der Arbeit schwierig wird.
IST SOLL
Man hält in der Abteilung gut zusammen.
IST SOLL
Diese Arbeit erfordert enge Zusammenarbeit mit anderen Kolleginnen und Kollegen in der Organisation.
IST SOLL
Ich kann mich während der Arbeit mit verschiedenen Kolleginnen und Kollegen über dienstliche und private Dinge unterhalten.
IST SOLL
Ich bekomme von Vorgesetzten und Kollegen immer Rückmeldung über die Qualität meiner Arbeit. . Abb. 10.15 Fortsetzung
IST SOLL
Ziemlich wenig
Etwas
Ziemlich viel
Sehr viel
223
10.2 • Ansätze für Prävention
Sehr wenig
Ziemlich wenig
Etwas
Ziemlich viel
10 Sehr viel
Organisationsklima Über wichtige Dinge und Vorgänge in unserer Organisation sind wir ausreichend informiert.
IST SOLL
Die Leitung unserer Organisation ist bereit, die Ideen und Vorschläge der Beschäftigten zu berücksichtigen.
IST SOLL
Unser Unternehmen bietet gute Weiterbildungsmöglichkeiten.
IST SOLL
Bei uns gibt es gute Aufstiegschancen (z. B. auch durch Erweiterung des bisherigen Tätigkeitsfeldes).
IST SOLL
Raum für Anmerkungen:
Quelle: Prümper, J., Hartmannsgruber, K. & Frese, M. (1995). KFZA – Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse, Zeitschrift für Arbeitsund Organisationspsychologie, 39, 125-132 in Erweiterung durch: Prümper, J. (2009). KFZA – Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse. In W. Sarges & H. Wottawa (Hrsg.), Handbuch wirtschaftspsychologischer Testverfahren – Band 2: Organisationspsychologische Instrumente. Lengerich: Pabst-Verlag (in Druck).
. Abb. 10.15 Fortsetzung
225
Und wie geht es Ihnen? 11.1
Innere Balance – 226
11.1.1
Selbstfürsorge – 227
11.2
Reflektion – 230
11
226
Kapitel 11 • Und wie geht es Ihnen?
Eigene Möglichkeiten wertschätzen Innere Balance, Selbstfürsorge, Reflektion
Jetzt bin ich mit dem Schreiben beim letzten Kapitel angekommen und frage mich: Wie mag es Ihnen wohl jetzt ergehen, nachdem Sie sich nun bis zu diesem Kapitel vorgearbeitet haben? Welche Gedanken mögen Ihnen noch durch den Kopf gehen? Sind es solche wie: Wie führe ich? Wie mache ich das? Und ich würde hinzufügen: Fragen Sie sich auch: Was kann ich gut? Was fällt mir leicht? Was kann ich nicht so gut? Wo habe ich selbst möglicherweise schon über meine Grenzen hinaus gelebt? Und wo möchte ich mich weiterentwickeln? Ich kann Sie beruhigen: Es geht mir nicht darum, dass Sie alle Ideen und Anregungen eins zu eins umsetzen, sondern dass Sie Ihre eigenen Möglichkeiten sehen und wertschätzen können. In diesem Kapitel geht es mir darum, dass Sie sich auch um Ihr eigenes Wohlbefinden kümmern und eigene Fehlbelastungen im Blick behalten. Es geht mir um dreierlei: um innere Balance, um Selbstfürsorge und um Reflektion. Selbstfürsorge und Reflektion dienen dazu, den Zustand der inneren Balance zu unterstützen, von dem ich schon im 7 Kap. 7 geschrieben habe. Innere Balance ist für eine gute und erfolgreiche Führungsarbeit und Beziehungsgestaltung mit Menschen sehr hilfreich. Ich möchte einige Anregungen zur Reflektion geben. Führung ist für mich nichts Statisches, sondern ein Prozess. Führung ist ein Prozess, der die persönliche Entwicklung fordert und auch fördert. Dabei hilft die Reflektion über die eigene Führungsarbeit und die Person, die eigene Entwicklung voranzubringen und vor allem die Arbeit zu erleichtern.
11.1
11
Innere Balance zur Gestaltung von Beziehungen
Innere Balance
Führung bedeutet immer auch Arbeit mit Menschen und die Gestaltung von Beziehungen zu Menschen. Diese Gestaltung gelingt immer dann am besten, wenn Sie selbst sich in einem Zustand der inneren Balance befinden. Innere Balance beschreibt einen Zustand innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Wir werden in diesem Zustand innerer Balance nicht durch vorherrschende Gedanken und Gefühle abgelenkt, irritiert oder getrieben. Sind wir nicht im inneren Gleichgewicht und fehlt uns etwas dazu, dann ist oft dieses Bedürfnis bestimmend. Wenn wir z. B. hungrig, durstig, müde, verärgert oder besonders stark auf Harmonie angewiesen sind, werden wir durch diese inneren Bedürfnisse in unserer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Aus einer Position der eigenen Bedürftigkeit, wenn man also selber belastet ist oder sich Sorgen macht, ist es schwer, unbefangen und unvoreingenommen auf einen Mitarbeiter zuzugehen. Diese Unvoreingenommenheit ist besonders dann wichtig, wenn Sie mit Mitarbeitern umgehen, die selber aufgrund einer psychischen Krise oder Störung ihr inneres Gleichgewicht verloren haben. Die Begegnung mit diesen Menschen kann aber auch bei Ihnen zu innerer Disbalance führen
227
11.1 • Innere Balance
11
. Abb. 11.1 Innere Balance. (© Christiane Weitendorf )
und Sie aus dem Lot bringen. Innere psychische Unruhe, starke Ängste, Erregungszustände, oder auch tiefe Niedergeschlagenheit können manchmal auch »ansteckend« sein, ohne dass man es gleich bemerkt. Das passiert und ist ganz normal. Wichtig für Sie als Führungskraft ist lediglich, dass Sie es bemerken und wissen, wie es Ihnen wieder gelingt, Ihre innere Balance herzustellen. Mir gefällt das Bild einer Waage mit zwei Waagschalen. Wenn wir uns vorstellen, wir hätten zwei Waagschalen in uns, die in der Balance sein müssten. Gibt es auf der einen Seite ein Über- oder Untergewicht, dann fehlt etwas oder ist zu viel in der einen Schale. Wir müssen entweder in eine der Schalen etwas hineinlegen oder herausnehmen. Wie kriegt man das hin mit der inneren Balance (. Abb. 11.1)?
11.1.1
Selbstfürsorge
Innere Balance erreicht man durch eine gute Selbstfürsorge.
» Selbstfürsorge meint die Fähigkeit, mit sich gut umzugehen, zu
Was ist Selbstfürsorge?
sich selbst gut zu sein, sich zu schützen und nach sich selbst zu schauen, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen, Belastungen richtig einzuschätzen, sich nicht zu überfordern oder sensibel auf Überforderung zu bleiben (Küchenhoff, 1999, S. 151).
«
Was bedeutet dies nun im Einzelnen? Mit sich gut umgehen meint vor allem: mit sich selber wohlwollend zu sein, auf die Dinge schauen, die gut gehen, die eigenen Stärken und Fähigkeiten wertschätzen und die eigenen Schwächen nicht zu verdammen oder abzuwerten, sondern als Bereicherung und
Mit sich wohlwollend umgehen
228
Kapitel 11 • Und wie geht es Ihnen?
zu sich zugehörig zu akzeptieren. Kein Mensch muss alles können – wie langweilig wäre das Leben, wenn wir alle perfekt wären. Gerade unsere unterschiedlichen Stärken und Schwächen machen die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der Menschen aus. Manchmal ist es ja auch umgekehrt, da entpuppt sich eine vermeintliche Schwäche unter anderen Bedingungen als absolute Stärke. Oft sind es ja die Schwächen, die eine Führungskraft für die Mitarbeiter liebenswert machen können. Eine wohlwollende Haltung ist demnach nicht nur für Ihre Mitarbeiter, sondern auch für Sie selber gut. Auf leibliches und seelisches Wohlbefinden achten
Zu sich selber gut sein: Das heißt für mich, gut für sich sorgen zu können und sich auch um das eigene leibliche und seelische Wohlbefinden zu kümmern. Dazu gehört neben einem gesundheitsbewussten Lebensstil auch die Genussfähigkeit. Nur wer zu sich selber gut ist, der kann auf Dauer auch zu anderen gut sein.
Nähe, Distanz und klare Grenzen
Sich schützen und nach sich selbst schauen: Sich schützen können ist für Führungskräfte eine ganz wichtige Aufgabe der Selbstfürsorge. Damit ist gemeint, die Beziehungen zu anderen Menschen gut auszubalancieren, sich selber gut abzugrenzen und Nähe und Distanz zu anderen Menschen regulieren zu können. Beides ist wichtig, um die Führungsrolle gut ausüben zu können. Die Fähigkeit, eine Beziehung halten zu können, ohne dem Gegenüber zu nahe zu treten, ist im Sinne der Selbstfürsorge wichtig. Welchen Abstand benötige ich, um meine Aufgabe gut ausführen zu können, ohne dass ich die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter mit nach Hause nehme? Klare Grenzen zu den Mitarbeitern machen eine Führungskraft natürlich auch einsam. Sie brauchen dafür zum Ausgleich an anderer Stelle eine soziale Einbindung bzw. ein soziales Netzwerk z. B. im Kollegenkreis, im Freundeskreis und in der Familie.
Sich selbst nicht vergessen
Die eigenen Bedürfnisse berücksichtigen Dieser Punkt soll Sie daran erinnern, sich selber nicht zu vergessen und sich nicht nur für die Belange der Mitarbeiter sondern auch für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. Dazu muss man sich manchmal Zeit nehmen, innehalten und auf sich hören, damit man sich gerade in trubeligen, stressigen Zeiten nicht verloren geht.
Handlungsspielräume nutzen
Belastungen richtig einschätzen: Auch dafür benötigen Sie Zeit, um zuerst einmal die eigenen aktuelle Belastbarkeit abzuchecken und die zu erwartenden Belastungen realistisch einschätzen zu können. Bei zu erwartenden hohen Dauerbelastungen sind Handlungsspielräume, soziale Unterstützung und die Delegation von Aufgaben hilfreich. Wenn das alles nichts hilft, dann müssen Sie auf jeden Fall für Ausgleich sorgen und Handlungsspielräume nutzen.
Achtsam sein und Unterstützung annehmen
Sich nicht überfordern und sensibel für Überforderung bleiben: Gehen Sie mit sich achtsam um und nehmen Sie, wenn Sie Anzeichen
11
11.1 • Innere Balance
229
11
. Abb. 11.2 Immer erst die nächste Tonne. (© Christiane Weitendorf )
der Erschöpfungsspirale wahrnehmen, Unterstützung von anderen an. Auf diese Weise kann man » etwas geschenkt bekommen, was man selber gerade nicht hat«. Wichtig ist, dass Sie gerade dann auch nicht allzu streng mit sich selber sind, sondern auf ein realistisches Maß achten. Wenn man an sich selbst zu hohe Maßstäbe anlegt, fühlt man sich sowieso nicht entspannt und gut und das hilft niemandem weiter. > Sie dürfen auch Schwächen und Grenzen haben und auch mal erschöpft sein – das ist nur allzu menschlich.
Kennen Sie Ihre Frühwarnzeichen, an denen Sie bemerken, dass Sie dabei sind, über Ihre Grenzen zu gehen? Welche Gedanken, Gefühle oder Körpersignale sind es, die Ihnen sagen wollen: »Halt, stopp! Warnung, du bist gerade dabei, dich in eine Erschöpfungsspirale (7 Kap. 3.6) hinein zu manövrieren.« Sind es Kopfschmerzen, der Rücken, Schlafstörungen, Sehnsucht nach Ruhe? Wenn Sie in solchen Stresszuständen sind, wie bringen Sie sich wieder in Balance? Gibt es Gedanken und innere Sätze, die Ihnen helfen, sich zu beruhigen und neu zu orientieren? Sind es Gedanken oder Sätze wie: 5 Immer mit der Ruhe, 5 in der Ruhe liegt die Kraft, 5 eins nach dem anderen oder auch 5 ich bin auch nur ein Mensch? Welches ist Ihr Satz? Aus der Seefahrt stammt mein Satz: »Immer erst die nächste Tonne.« Und wenn alles über mir zusammenbricht, frage ich mich: Welches ist jetzt die nächste Tonne? Eine kleine Erklärung für die Landratten: Dieses Bild orientiert sich am Tonnenstrich, der die Schiffe durch das Fahrwasser leitet. Eine Tonne auszulassen und auf die übernächste zuzusteuern, kann böse Folgen haben. Dieses Bild hat inzwischen schon viele Anhänger gefunden, so dass Menschen zu mir in die Beratung kommen mit dem Ziel: Ich möchte mit Ihnen besprechen, welches die nächste Tonne ist.
Was sind Ihre Frühwarnzeichen?
Stress mildernde Gedanken
Welche ist die nächste Tonne?
230
Kapitel 11 • Und wie geht es Ihnen?
Sich Gutes tun
Alle diese Fragen und sind Hinweise sind als Denkanstöße gedacht, die jeder nur für sich alleine klären kann. Selbstfürsorge heißt auch, gut zu sich selber zu sein. So lassen Sie mich noch eine letzte Frage stellen: Was tun Sie Gutes für sich? Aus meinen Führungskräfteschulungen kommt zu dieser Frage häufig ein bunter Strauß von Ideen zusammen, den ich Ihnen nicht vorenthalten will: 5 Mit meiner Familie zusammen sein, 5 im Garten arbeiten, 5 am Haus bauen, 5 im Keller oder in der Garage schrauben und basteln, 5 mit Freunden zusammen sitzen, 5 schöne Reisen und Ausflüge unternehmen, 5 ins Kino, Konzert oder Theater gehen, 5 zum Sport gehen, 5 zum Joggen, Radfahren, Rudern, Motorsport, Segeln gehen, 5 Angeln gehen, 5 was Leckeres kochen, 5 Fische züchten, 5 eine Modelleisenbahn pflegen, 5 Joga machen, 5 malen, 5 Musik machen, 5 im Chor singen. Wie ist es bei Ihnen? Was tun Sie Gutes für sich? > Die Fähigkeit zur Selbstfürsorge ist auch unter einem anderen Aspekt besonders wichtig, nämlich in Ihrer Vorbildfunktion für Ihre Mitarbeiter. Ein Vorbild für die eigene Selbstfürsorge zu haben, ist für viele Mitarbeiter mehr wert als jeder Entspannungskurs.
11
11.2 Abstand gewinnen
Was hilft?
Reflektion
Es ist enorm hilfreich, wenn man sich ab und zu Zeit nehmen kann, Abstand vom Tagesgeschehen zu gewinnen und über sich und verschieden Fragen zu reflektieren »Nicht zu streng mit sich selber sein«, heißt auch für mich nicht nur zu gucken: was ist schief gelaufen und wie kann ich es besser machen sondern auch, wie kann ich mir meine Aufgabe leicht machen? Abstand vom Tagesgeschehen können sie am besten erschaffen, wenn Sie Wege finden sich innerlich davon zu distanzieren. Eine räumliche Distanz kann alleine schon sehr hilfreich sein. Für einige reicht ein langer Arbeitsweg z. B. um sich innerlich vom betrieblichen Alltag zu lösen, es kann ein Wochenendausflug sein. Bewegung hilft Distanz zu schaffen: das kann ein Spaziergang in der Natur, im Wald
11.2 • Reflektion
zwischen den Feldern sein Anderen helfen laute Rockmusik oder fesselnde Radiosendungen und lenken die Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung. Es gibt auch Menschen, denen hilft, sich nach innen zu wenden und für diejenigen ist eine Meditationspraxis oder Yoga hilfreich. Jeder muss da für sich einen eigenen Weg finden. Haben Sie eine besondere Art für sich gefunden, Abstand vom Arbeitsalltag zu bekommen? Nehmen Sie sich doch einfach jetzt ein wenig Zeit Ihre eigene Situation zu reflektieren. Wenn Sie Ihren Arbeitsplatz betrachten: welche Erwartungen haben z. B. Ihre Mitarbeiter an Sie und welche Erwartungen hat Ihr Vorgesetzter? Haben Sie als Führungskraft auch mit sich widersprechenden Aufgaben, Vorgaben und Zielen zu tun? Sollen sie einerseits die Fehlzeiten in Ihrer Abteilung gering halten und haben andererseits vor lauter Arbeit gar keine Zeit sich um Ihre Mitarbeiter zu kümmern? Oder ersticken Sie in Bürokratie und kommen nicht zu Ihrer eigentlichen Arbeit? Ich glaube, dass ein Hauptwiderspruch für Führungskräfte ist, dass bei Arbeitsaufträgen, Zielvorgaben und Verteilung von Projekten zu wenig beachtet wird, dass eine wesentliche Aufgabe von Führungskräften die Beziehungsgestaltung zu den Mitarbeitern ist. Was sind denn für Sie zurzeit Ihre Belastungsfaktoren? Antworten auf diese Frage sind sicherlich vielfältig. Einige von den Antworten haben Sie wahrscheinlich schon in 7 Kap. 3 beispielhaft wiedergefunden. Wenn Sie sich umschauen, gibt es Kollegen mit denen Sie sich darüber austauschen können? Der Austausch mit Kollegen und anderen vertrauten Menschen sind gute Möglichkeiten sich zu entlasten, Rückmeldung und Unterstützung zu bekommen und auch die eigenen Anteile an Belastungen und Problemen zu erkennen und das eigenen Verhalten zu reflektieren. Erst wenn wir die eigene Beteiligung in einer Situation bemerkt haben, kann es gelingen von sich aus die Situation günstig zu beeinflussen, nämlich in dem wir die eigene Einstellung und das eigene Verhalten beeinflussen. Ein Beispiel dazu soll das erläutern: Sie kommen morgens ganz in Gedanken an Ihren Arbeitsplatz. Ihre Gedanken sind noch zu Hause bei Ihrer Familie, Sie hatten einen Streit mit Ihrem halbwüchsigen Sohn, Sie ärgern sich über seine Größenfantasien und die verpatzte Arbeit, die er abgeliefert hat. Grußlos, ohne es selber es richtig zu bemerken, gehen Sie gerade an Ihren Mitarbeitern vorbei. So auch an Frau Flux, die gerade auf Sie zukommt und Sie wegen etwas ansprechen möchte. Im günstigsten Fall ist sie verdutzt und denkt sich: Was ist denn mit dem los? Ein empfindsamer Mitarbeiter, der sich seiner guten Beziehung zu seinem Chef nicht sicher ist (das muss gar nichts mit Ihnen zu tun haben), wird im höchsten Maße irritiert sein und voreilig zu dem Schluss kommen: der mag mich nicht, der hat was gegen mich und vielleicht sogar den inneren Rückzug antreten. Sie haben sich inzwischen wieder gesammelt und bemerken den kritisch-fragenden Blick und die Reserviertheit von Frau Flux und sprechen sie an. »Frau Flux, Sie schauen so kritisch.« »Ja«, sagt sie jetzt,
231
11
Ihre Belastungsfaktoren?
Austausch mit Kollegen
Die eigene Beteiligung bemerken
Ein Beispiel
232
Kapitel 11 • Und wie geht es Ihnen?
»wenn Sie mich nicht einmal mehr grüßen«. Hier kann jetzt die Selbstreflektion einsetzten: Sie halten den Film an, spulen ihn einmal noch kurz zurück zum Zwecke der Selbstreflektion: Was könnte mein Anteil an der Geschichte sein? »Ach, je«, fällt Ihnen ein, »ich war heute Morgen noch in Gedanken zu Hause bei meiner Familie. Da muss ich, ohne es zu bemerken, grußlos an ihr vorbei gerauscht sein.« Nun können Sie reagieren: »Es tut mir leid Frau Flux. Das war nicht gegen Sie gerichtet.« Sie können auch noch mehr sagen. »Ich war heute Morgen noch ganz in Gedanken und hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Sohn.« Noch mehr wäre: »So, und nun bin ich bei Ihnen.«
lose Enden
Situationen überdenken
Impulse von außen
11 Was ist mein Anteil und wie kann ich Einfluss nehmen?
»Ist das noch stimmig?«
Komplexere Situationen lassen sich vielleicht nicht so schnell durchschauen wie dieses Beispiel. Es macht gar nichts, wenn Sie sich erst später dafür Zeit nehmen können. Wichtig ist nur, dass Sie es bemerken und tatsächlich Zeit dafür haben. Lose Enden, also Situationen, die nicht richtig abgeschlossen sind, haben ein großes Beharrungsvermögen. Enorm hilfreich und erleichternd ist es, wenn man sich immer wieder Zeit nimmt zur Reflektion, um verschiedene Fragen zu überdenken, Situationen zu überdenken, Dinge, die mit den Mitarbeitern passiert sind, noch einmal an sich vorbei ziehen zu lassen mit der Frage: wie könnte ich es mir leichter machen? Es ist schon gut, wenn man sich als Führungskraft mit sich selber auskennt, die eigenen Schwächen, Stärken kennt und auch von den eigenen blinden Flecken weiß. Zur Reflektion des eigenen Verhaltens kann ein außenstehender Mensch hilfreiche Anregungen und Impulse geben. Für viele sind es andere Kollegen zu denen sie Vertrauen haben, Freunde, manchmal auch der Partner oder einen Coach, also ein professioneller Reflektierer. Im Grund genommen haben die eigene Haltung und das eigene Verhalten immer Auswirkungen auf das gesamte soziale Gefüge in dem wir uns bewegen. Und so ist auch die Frage: »was ist mein Anteil an dem Geschehen?«, eine Frage die uns lebenslang in allen Systemen in denen wir leben begleitet. Diese Frage hat auch ein Geschwister, nämlich die Frage: »was will und was kann ich tun, um Einfluss zu nehmen, um an meiner Situation was zu ändern und für mich zu erleichtern? » Die Antwortmöglichkeiten auf diese Frage sind so zahlreich wie die Menschen die sie sich stellen. Eine Antwort kann auch sein: ich entscheide mich ganz bewusst nichts zu tun. Reflektion ist ein lebenslanger Prozess, der uns hilft unsere Ziele, unser Handeln, unserer Arbeit auf den Prüfstand zu stellen und sich zu fragen: »ist das noch stimmig für mich so wie es ist?« Und, »was trage ich dazu bei, dass bestimmte Dinge mir schwer, andere wiederum leichter fallen?« Das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen hilft zu verstehen, weshalb mir bestimmte Dinge leichter fallen und ich mich bei anderen Aufgaben schwer tue und in bestimmten Situationen regelmäßig innerlich in die Luft gehe. Das Wissen darum
11.2 • Reflektion
kann Ihnen helfen, dass auch Sie für sich bestimmen können, wie gut die » Passung« an Ihrem Arbeitsplatz für Sie ist. Soweit das möglich ist, können Schwächen durch kollegiale Unterstützung, Delegation von Aufgaben, regelmäßige Feedbacks, Coaching oder Weiterbildung ausgeglichen werden. So können Sie sich hoffentlich langfristig die Arbeit erleichtern und die Beanspruchung auf einem gesunden Level einpendeln. Mit ihren Stärken können Sie dann auch zur Unterstützung anderer Kollegen wuchern. Zur Veranschaulichung, wie unterschiedlich Stärken und Schwächen ausgeprägt sein können und wie die Resonanz der Mitarbeiter darauf ist, lasse ich an dieser Stelle vier verschiedene Typen von Führungskräften und deren Mitarbeiter zu Wort kommen. Urteilen Sie selbst, was diesen Führungskräften leichter oder schwerer fallen könnte. Fallbeispiele Herr Appel: »Ich bin jemand, der sich gut abschotten kann gegenüber eigenen misslichen Gedanken und Gefühlen und allem Missliebigen, was um mich herum ist. Da bin ich manchmal der Fels in der Brandung. Meine Mitarbeiter denken von mir: Den kann nichts erschüttern. Manchmal beschweren sie sich, dass sie mich sowieso nicht erreichen können.« Die Mitarbeiter sagen über ihren Vorgesetzten: »Der sitzt die Sachen aus. Da kannst du dich manchmal wirklich fragen, ob den überhaupt irgendetwas erreicht oder innerlich berührt. Irgendwie werde ich mit dem überhaupt nicht richtig warm. Menschlich ist er kaum zu fassen. Schade.« Herr Beer: »Ich bin jemand, der eher skeptisch ist. Mein Motto lautet: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das Gute ist sowieso so selten und meine Skepsis schützt mich vor Enttäuschungen. Damit bin ich bisher auch ganz gut gefahren.« Die Mitarbeiter denken und sagen: »Der muss aber auch immer alles kontrollieren. Hat er denn gar kein Vertrauen zu uns? Hat er vielleicht Angst, wir könnten sein Vertrauen ausnutzen und Bockmist bauen oder was anderes Schlimmes passiert? Manchmal kommt er mir vor wie jemand, der immer nur das Schlechte erwartet. Das ist doch schade. Wo bleibt denn da der Spaß?« Frau Dill: »Ich finde meine Führungsaufgabe oft ganz schön anstrengend. Ich arbeite viel und manchmal auch zu viel und bekomme dafür zwar Anerkennung, aber das ist eigentlich nicht das, was ich suche. Ich habe manchmal das Gefühl, für mich bleibt neben der vielen Arbeit gar nichts übrig. Das ist ganz traurig, wenn ich es genau bedenke.« Die Mitarbeiter: »Ich habe einen ganz guten Draht zu meiner Vorgesetzten, fast schon freundschaftlich. Ist schon komisch, mir kommt es so vor, als würde sich ihr Leben hier im Betrieb abspielen. Wenn es
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Kapitel 11 • Und wie geht es Ihnen?
mal darauf ankommt Klartext zu reden, dann wartet sie für meinen Geschmack zu lange oder sagt gar nichts. Ich finde das nicht gut aber ich kann ihr nicht wirklich böse sein, ich glaube, sie ist ein Workaholic.« Herr Rettich »Wenn ich mich mit anderen Führungskräften vergleiche, dann bin ich ziemlich gut. Es gibt nur wenige, die so gut sind wie ich. Und wenn mir wieder mal klar wird, dass Führung ein ganz einsames Geschäft ist, dann will ich das eigentlich gar nicht spüren und denke mir: Das ist eben so. Hauptsache, ich mache meinen Job gut. Wenn man sich zu viel um andere Menschen kümmert, dann kommt man nur von seiner Linie ab, und wenn mir dann doch einmal einer zu nahe kommt, dann zeige ich ihm was eine Harke ist.« Die Mitarbeiter sagen über ihn: »Das ist ein Machtmensch, dem ist es egal, was mit uns ist. Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Manchmal frage ich mich, ob der überhaupt was fühlen kann. Bei dem musst du richtig aufpassen, ein falsches Wort, das lässt er dich ewig spüren.«
11 Überzeugungen reflektieren
Führungskräfte brauchen Fürsorge.
Diese zugegeben extremen Beispiele zeigen, dass die eigene Überzeugung es manchmal schwer machen kann, die Beziehung zu den Mitarbeitern gut zu gestalten. So kann es durch die eigene Überzeugung erschwert werden, die Balance zu halten und Aspekte der Selbstfürsorge und des menschlichen Umgangs nicht zu vernachlässigen. Womit hätten diese vier verschiedenen Führungskräfte im Kontakt zu den Mitarbeitern einfacher? Herr Appel hätte es leichter, wenn er mehr mit seinen Mitarbeitern im Kontakt wäre. Herr Beer hätte es leichter, wenn er etwas mehr Vertrauen zu seinen Mitarbeitern hätte. Frau Dill täte es gut, sich abzugrenzen und für sich gut zu sorgen. Herr Rettich hätte es einfacher, wenn er sich eingestehen würde, dass es menschlich ist, Fehler und Schwächen zu haben. Aus der Reflektion der eigenen Arbeit können wieder neue Anregungen, Ideen und vielleicht sogar Handlungsfelder für die Selbstfürsorge entstehen. Selbstfürsorge kann also auch heißen: Wir überdenken Überzeugungen, die wir aus unserer Lebenserfahrung gewonnen haben, und prüfen, ob Sie noch dazu taugen, uns das Leben leichter zu machen. Wenn wir aber feststellen, dass es eher umgekehrt ist, dass unsere vorherrschenden Überzeugungen uns das Leben eher sauer, anstrengend und beschwerlich machen, dann ist es durchaus an der Zeit, darüber nachzudenken, sie zu relativieren oder gar zu überlegen: Mit welchen geänderten und neuen Überzeugungen könnte ich es mir leichter machen? Einen weiteren Aspekt von Fürsorge möchte ich noch betonen: Auch Führungskräfte brauchen Fürsorge von der Spitze des Unternehmens. Führungskräfte brauchen Wertschätzung, Austausch, Fortbildung und Entwicklungsmöglichkeiten. Meiner Meinung nach ist auch die Ausbildung und Schulung der Führungskräfte im mitmenschlichen Umgang mit Mitarbeitern immer noch ausbaufähig, um nicht zu sagen, oft noch ungenügend. In dieser Hinsicht sollte für
11.2 • Reflektion
Führungskräfte mehr getan und angeboten werden, denn sie haben eine wichtige Funktion, wenn es darum geht im Unternehmen die Gesundheit, auch die psychische Gesundheit, und das Wohlbefinden der Mitarbeiter positiv zu beeinflussen und dafür Sorge zu tragen. Diese Arbeit ist auch unter dem Aspekt leerer Sozialkassen noch einmal mehr von Bedeutung: Die beste Sparmaßnahme zur Entlastung der Sozialkassen sind immer noch gut geschulte Führungskräfte und gesunde Mitarbeiter.
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Stichwortverzeichnis
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Stichwortverzeichnis
A Abhängigkeit 70 – Alkohol- 70 nichtstoffgebundene 71 – Medikamenten- 72, 73 – Medien- 72, 73 – Nikotin- Spielsucht 72, 73 Abhängigkeitserkrankung 71, 157 Abstinenz 71 Achtsamkeit 193 Achtung, fehlende 109 Agoraphobie 54 Akutkrankenhaus 142 Alkoholkonsum 84 Alkoholkrankheit 73 Anerkennung 96, 102, 182, 190 Anforderungen 22, 43, 120 – Arbeits- 32, 180 Anforderungskontrollmodell 40 Angespanntheit 83 Ängste 53, 156 Angststörung 53 – generalisierte 55 Angstzustände 3 Anpassungsleistung 157 Anpassungsstörungen 6 Ansprechpartner 93, 94, 100 Arbeit 14 – eintönige 175 – gute 173, 174, 176 – körperlich schwere 175 – sozialer Aspekt 173 Arbeitsagentur 147 Arbeitsauftrag 43 Arbeitsbedingungen 20, 25, 30, 151 – belastende 179 – gesundheitsförderliche 180 Arbeitserprobung 146 Arbeitsfähigkeit 20 Arbeitsgeschichte 11 Arbeitsintensität 43 – Erhöhung der 41 Arbeitskraft 10 Arbeitskreis Gesundheit 203 Arbeitsorganisation 43 Arbeitsplatz – sicherer 173 – unsicherheit 30, 175 Arbeitsplatzverlust, Angst vor 175 Arbeitsqualität 177 – nachlassende 81 Arbeitsschutz 20, 25, 202 Arbeitsschutzausschuss 203 Arbeitssituationsanalyse 211 Arbeitstempo 81 Arbeitsunfähigkeit 152
Arbeitsunfähigkeitsmeldung 81 Arbeitsunfähigkeitszeiten 5, 46 Arbeitsunterbrechungen 81 Arbeitsverdichtung 41 Arbeitsverhalten 52, 80 Veränderungen im 81 Arbeitsversuch, missgeglückter 154 Arbeitszeit 28 – Steigerung der Arbeitszeit 155 Arbeitszufriedenheit 177, 180, 182, 183 Asymmetrie, soziale 27 Aufmerksamkeit 182 Ausgeglichenheit 32 Ausgrenzung 187 Außenseitertum 82 Äußeres, ungepflegtes 84 Äußerungen, nonverbale 119 Authentizität 103
B Balance, innere 100, 226 Beanspruchung, psychische 20 Beeinträchtigung 4 – psychische 7, 147 – p 147 – Mobilität 84 Befindlichkeitsstörung 7 Begeisterungsfähigkeit 103, 105 Behandlung – ambulante 141 – stationäre 141 Behinderung, psychische 7 Belastung – Auswirkung von Stressbelastung 39 – emotionale 26 – psychische 20 – psychosoziale 33 – situative 36 – Stressbelastung (s. auch Stress) 22, 35, 37, 43 – Kombinationen, kritische 34 Belastungs-Beanspruchungsmodell 22 Belastungserprobung 146, 158 Belastungsfaktoren 175, 202 – psychische 32, 209 Belastungspotenzial 33 Belastungssituationen 54 Beratungsstellen 144 – Suchtberatung 144 – Schuldenberatung 144
Berechenbarkeit 95 Berufliches Trainingszentrum 3, 146 Berufsgenossenschaft 169, 216 Berufsrolle 78 Berufstätigkeit, Beginn der 90 Beschwerden 179 – körperliche 107 betriebliche Helfer 150, 155 Betriebsarzt 150, 204–206 Betriebsklima 117, 184 – schlechtes 29 Betriebskultur 183, 184 Betriebsrat 126, 150, 205 Betriebssport 215 Betriebsvereinbarung 189 betriebswirtschaftliches Denken 30 Bewältigungsmöglichkeiten 175, 203 persönliche 22, 25 Bewertung 209 persönliche 40 Beziehungen 117 – soziale 13, 43 – vertrauensvolle Beziehung 78, 96 – vertrauensvolle und tragfähige Beziehung 95 – zwischenmenschliche Beziehungen 29 Beziehungsebene 104, 117, 118, 124 Beziehungsgestaltung 98, 101 Borderline-Persönlichkeitsstörung 65 BTZ 146 s. Berufliches Trainingszentrum Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 25, 41, 43, 204 Bundesministerium für Arbeit und Soziales 172 Bundespsychotherapeutenkammer 6 Bundesverband der Angehörigen Psychisch Kranker e.V. 134 Burnout-Syndrom 23, 67
C Cannabiskonsum 72 Coaching 157
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Stichwortverzeichnis
D Datenschutz 125, 169, 206 Depression 6, 48, 156 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 74 DGB-Index „ Gute Arbeit“ 172, 178, 180 Diagnose 47 – psychiatrische 80, 85 Dialog, interkultureller 121 Disability-Manager 148, 168 Diskriminierung 187 Dissonanz, emotionale 27 distanzloses Verhalten 82 Distress 23 Durchhaltevermögen, geringeres 81
E Ebenen einer Botschaft, vier 115 Ehrlichkeit 95, 99, 127 Einarbeitungsphase 4 Einflüsse, private 30 Einflussmöglichkeiten 176, 184 Einfühlungsvermögen 103, 105 Eingliederungsmanagement – betriebliches 148, 168 Eingliederungsprozess 168 Einkommen, angemessenes 180 Einstellung – innere 36, 110 – menschenverachtende 110 – menschenfreundliche 100 emotionale Qualität 127 Empfänger 115, 120 – vier Ohren des Empfängers 119, 121 Empfindsamkeit 82 Engagement 182 Entlastung 131 Entwicklungsmöglichkeiten 176, 180 Erfahrungsaustausch 196 – anerkennender 212 Ergotherapie 144 Erholungsmöglichkeit 38 Erkrankung, psychische 7 Ermüdung – psychische 24, 25, 203 – ermüdungsähnliche Zustände 24, 25 Erschöpfung 83 – chronische 24 Erschöpfungsprozess 42
Erschöpfungsspirale 42, 228 Erwartungen, negative 82 Erwerbsfähigkeit 142 Essstörung 72, 73 Euphorie 83
F Facharzt für Psychiatrie 141 Fachklinik 142 Fachkraft für Arbeitssicherheit 204–206 Fairness 99, 190 – mangelnde 107, 111 Fallmanager 148 Familienfreundlichkeit 188 Familienmitglieder 150 Feedback 102 – -gespräch 161 Fehlbeanspruchung 175 – psychische 7, 179 Fehlbelastung 31, 177 – psychische 7, 23 Fehlen, unentschuldigtes 81 Fehlerquote, Erhöhung der 81 Fehlzeiten 6, 23, 81, 122 Flexibilität, nachlassende 81 Fluktuation 23 Freiraum, innerer 100 Freizeit 14 Fremdheit 61 Fremdzuschreibung 12 Früherkennung 85 Frühverrentung 23 Frühwarnzeichen 5, 80, 84, 229 Führungsarbeit 106 Führungsaufgabe 100 Führungserfahrungen 89 Führungskultur 186, 188 Führungsqualitäten 91, 184 Führungsverhalten 29 – mitarbeiterorientierte Führung 190, 196 – demotivierendes 106 – gesundheitsförderliches 88, 197 – schlechtes 110
G Gallup-Studie 106 Gefährdungen, psychische 202 Gefährdungsanalyse 204, 209 Gefährdungsbeurteilung 33, 204 Gefährdungsermittlung 202, 203
A-I
Gelassenheit, mangelnde 107, 108 Gemeinschaftserlebnisse 215 Gemeinschaftsgefühl 196 Gerechtigkeit 99, 190 Gereiztheit 82, 83 Gesamtbefindlichkeit 97 Gespräch, persönliches 114 Gesprächsabschluss 132 Gesprächsführung 136 Gesprächsleitfaden 136 Gesundheit 177 – psychische 188 Gesundheitsförderung 202 Gesundheitskompetenz 214 Gesundheitsmanagement 212, 213 – betriebliches 209 Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz 5 Gesundheitsschutz 184 Gesundheitstag 188 Gesundheitsworkshop 211 Gesundheitszirkel 211 Great-place-to-work-Studie 172
H Haltung – innere 97, 98, 100, 117, 118, 120, 123 – kooperative 104 – menschenfreundliche 98 – pessimistische 31 Handlungsspielraum 41, 102 Herzrasen 83 Hilfe, medizinische und therapeutische 75 Hilfekonzept H-I-L-F-E 133 Hilflosigkeit, gelernte 101 Hilfsangebote 131, 140 Hilfsbereitschaft, falsche 74 Hintergrund, kultureller 117 Hygiene 84
I Identifikation 12 Identifizierung 11 Identität 11, 20 IGA-Studie 25, 27–31, 106 Inanspruchnahme, emotionale 27 Indiskretion 109 Individualität 117 Informationsfluss 102 – guter 180 – transparenter 104
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Stichwortverzeichnis
unzureichende 109 Initiative Gesundheit und Arbeit 25 Initiative Neue Qualität der Arbeit 172 – INQA-Studie 173 Inkompetenz 107 Integration, berufliche 148 Integrationsamt 147, 168 Integrationsfachdienst 147, 157
K Klarheit 95, 99, 127 Klinik – psychiatrische 141, 143 – psychosomatische 142 Kollegialität 173, 183 Kommunikation 29, 102, 114, 116, 118, 120 – unklare 109 Kommunikationsmodell 114, 121 Kommunikationsstörung 114 Kompetenz, soziale 213, 214 Konflikt 82, 104, 114 – souveräner Umgang 103 Konfliktlösung 104 Konfliktvorbeugung 104 Konkurrenz 89 – Druck 30 Konsequenzen – arbeitsrechtliche 133 – negative 123 Kontext, betrieblicher 117 Kontrolle, übermäßige 95 Kontrollverlust 71 Konzentrationsfähigkeit, nachlassende 24, 81, 122 Kooperation 89 körperliche Beschwerden 83 Krankengeld 154, 158 Krankenhaus (s. Klinik) Krankenhausaufenthalt 153 Krankenkasse 143, 147, 168, 169, 216 Krankheitsstand, niedriger 182 Krise – psychische 17, 46, 85, 102 Krisenmanagement 146 Kritik 109 – sachliche 120 – unsachliche, übergriffige 109 Kündigung 123, 187 – innere 88
L
P
Launenhaftigkeit 107, 108 Lebensüberdruss 83 Leistung 14 – arbeitsrechtliche 133 Leistungsabfall 24, 122-124 Leistungsfähigkeit 20, 80, 88, 97 Leistungsminderung 81, 85, 88, 124 Leistungsschwankungen 24, 81 Leistungsverhalten – gesundheitsförderliches 189 – Veränderungen 81 Leitbild 186 Lösungsmöglichkeiten 131 Loyalität 95
Panikttacken 3, 54, 156 Passung, richtige 31, 39, 95, 192 Penetranz 82 Personalrat 150, 205 Personenmerkmale 31 Persönlichkeit, ängstlichzwanghafte 31 Persönlichkeitsstörung 64, 157 – Borderline 65 – narzisstische 65 – paranoide 65 – selbstunsichere 65 Phobie, soziale 55 Potenziale der Mitarbeiter 102, 103 Prävention 102, 172, 183, 184, 188, 190 Psychiater 141 Psychiatrie 141 psychisches Wohlbefinden 172 psychotherapeutische Begleitung 157 Psychotherapie 143
M Manie 51, 156 Maßnahmenplan 207 Medikamente 141 medizinisches Versorgungszentrum 141, 143 Minderwertigkeitsgefühle 83 Misserfolgserwartungen 23 Misstrauen 82, 95, 109, 123 Missverständnis 114 Mitarbeiterbefragung 205 Mitarbeitergespräch 105, 114, 117, 121, 122, 141, 207 Mitarbeitervertretung 75, 150 Monotonie 24, 203
N Nachricht 115, 118, 119 – vier Seiten einer Nachricht 124 Nervosität 83 Netzwerk Depression 148 Notdienst 143
O Offenheit 127 Ohren des Empfängers, vier 114, 119, 121
Q Qualifikation, hohe 31 Qualitäten, emotionale 120
R Reaktionen, aggressive 82 Reflektion 226 Rehabilitation – berufliche 140, 158 – medizinische 158 Rehabilitationsberater 147, 148 Rehabilitationsmaßnahme 3, 154 – medizinische 142 Rehabilitationsträger 168 Rentenalter 177 Rentenversicherung 147 Rentenversicherungsträger 142, 169 Resignation 83 Respekt 120 – mangelnder 109 Ressourcen 102, 175, 203, 207 Risikofaktor 20, 25, 26, 34 – Arbeitsmittel 28 – Arbeitsorganisation 28 – Arbeitsumgebung und Arbeitsplatz 29
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Stichwortverzeichnis
– Betriebliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen 30 – Personenmerkmale 30 – persönliche 31 – Soziale Beziehungen bei der Arbeit 29 Rollenklarheit 118 Rollenwechsel 110 Rückfallprophylaxe 146 Rückmeldung – positive 176 Rückzug – innerer 107 – sozialer 72, 122
– unipolare 48 – Panikstörung 54 – Störungsbilder 48 – Zwangsstörung 59 Stress 23, 25, 203 – Belastung 22, 35, 37, 43 – Bewältigungsmöglichkeiten 31, 194 – Dauerstress 24, 30, 69 – Erleben 36 – Reaktion 40 Stressbewältigungstraining 40 Stressfolgeerkrankung 69 Stressmodell, transaktionales 40 Stresspegel, individuell tolerierbarer 38
S Sättigung, psychische 24, 203 Säulen der Identität, fünf 10, 12, 17, 18, 98 Schizophrenie 61 – paranoide 62 Schlafstörungen 83 Schmerzen 83 Schnittverletzungen 83 Schweigepflicht 125, 169 Schweißausbrüche 83 Schwerbehindertenvertreter 147, 150 Schwindel 83 Selbstfürsorge 226, 227, 230, 234 Selbsthilfegruppen 145 Selbstvertrauen 32 Selbstwertgefühl – negatives 31 – positives 32 Sicherheit, materielle 15 Sinn 16, 173 Solidarität 173, 183 somatoforme Störungen 70 Souveränitat 104 Sozialberatung 3, 150, 214 soziales Gefüge 232 Sozialverhalten 80 – Veränderungen 82 Sozialversicherungsträger 168 Soziotherapie 143 Stigmatisierung 123, 187 Stimmungsschwankungen 48, 72 Stimmungstief, morgendliches 156 Störung – Angststörung 53 – bipolare manisch-depressive 48 – depressive 48
T Tagesklinik 142 Teamgeist 182 Telearbeitsplatz 152 Trainingsmaßnahmen, berufliche 145 Transparenz 99 – mangelnde 109 Trugwahrnehmungen 62 Überforderung 23 – qualitative 26 – quantitative 26 Übertragung 96
U Umschulung 146, 157 Umstellfähigkeit, nachlassende 81 Umstrukturierung 2 Unabhängigkeit, finanzielle 15 Unfallversicherung 148, 168 Ungerechtigkeit 107, 111 Unpünktlichkeit 81 Unruhe 83 Unsicherheit 81, 95 Unterforderung 22 – qualitative 26 Unternehmensleitlinie 188 Unterstützung 95, 102, 131, 140, 150 – durch Kollegen 176 – durch Vorgesetzte 176 – emotionale 191 – gegenseitige 183 – soziale 191 Unzuverlässigkeit 81
I-W
V Veränderungen 80 – im Alltagsleben 84 – im Arbeitsverhalten 81 – im Leistungsverhalten 81 – im Sozialverhalten 82 – in den Gefühlsäußerungen und in der Gefühlslage 83 – körperliche 83 – unerklärliche 78 Vergesslichkeit 81 Verhalten – auffälliges 65, 85, 123 – gesundheitsschädigendes 70 Verhaltensänderung 80, 86 127 Verhaltensbeobachtungen 85 Verhaltensbeschreibung 86 Verhaltensprävention 210 Verhältnisprävention 210 Verlässlichkeit 95, 100 Verletzlichkeit 35, 40 Versagensangst 83, 154, 156 Vertrauen 94, 102, 127, 190 – mangelndes 109 Vertrauenskrise 95 Vertrauensperson 93, 100 Vertrautheit 95 Vorbild 189 Vorbildfunktion 101, 109 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 35, 39, 125
W Wachsamkeit, herabgesetzte 24 Wahnvorstellungen 62 Wahrhaftigkeit 103 Warnsignale 42, 78 Weiterentwicklung 22, 103 – persönliche 32 Weltgesundheitsorganisation 13, 64 Werksarzt 150, 204, 205 Werte 16, 89, 98, 100, 117 – gesundheitsförderliche 190 Wertschätzung 96, 102, 120, 190 Wertvorstellungen 186 Wettbewerbsfähigkeit 169 WHO 13, 64, 202 Wiedereingliederung 2, 4 – berufliche 145 Wiedereingliederung, stufenweise 153, 155, 158 – Leitfaden 159, 160 – Planung 157
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Stichwortverzeichnis
Wiederholungsgespräch 133 Win-win-Strategie 104 Wohlbefinden 177 – psychisches 182 Wohlwollen 100
Z Zielsetzung, gemeinsame 104 Zuhören, aktives 129 Zukunft, sichere berufliche 180 Zurückhaltung 132 Zurückweisung 132 Zusammenarbeit 104 Zuständigkeiten, klare 104 Zutrauen 95 Zwänge 58 – Kontrollzwänge 59 – Waschzwänge 59 Zwangsgedanken 59 Zwangshandlungen 59 Zwangsstörungen 59