Wilhelm Kirch · Bernhard Badura (Hrsg.) Prävention
Wilhelm Kirch · Bernhard Badura (Hrsg.)
Prävention Ausgewählte Beiträge des Nationalen Präventionskongresses Dresden, 1. und 2. Dezember 2005
Mit 50 Abbildungen und 45 Tabellen
123
Professor Dr. Dr. WILHELM KIRCH
Professor Dr. BERNHARD BADURA
Forschungsverbund Public Health Sachsen – Sachsen Anhalt e.V. Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 27 01307 Dresden
Fakultät für Gesundheitswissenschaften/AG1 Universität Bielefeld Universitätsstr. 25 33615 Bielefeld
ISBN-10 ISBN-13
3-540-28953-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-28953-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg
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Danksagung Frau Ines Kube und Frau Christiane Hagedorn vom Forschungsverbund Public Health Sachsen & Sachsen-Anhalt e.V. sind wir für die vielfältigen Hilfen bei der Herausgabe dieses Buches dankbar. W. Kirch B. Badura
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Vorwort »Mais c’est de l’homme qu’il s’agit, et de son renouement.« Saint-John Perse Von verschiedenen geladenen Referenten des Nationalen Präventionskongresses, der in Dresden am 1. und 2. Dezember 2005 stattfand, kam der Vorschlag, zum Kongress ausgewählte Vortragsmanuskripte in Buchform zu veröffentlichen. Daraufhin wurden von uns eine Reihe Referenten angeschrieben, die sich zum großen Teil bereit erklärten, bis zum 15.06.2005 einen Artikel für das vorliegende Buch zu verfassen und uns zur Verfügung zu stellen. Nachdem die Arbeiten reviewed worden waren, konnten dem Springer Verlag 32 Skripte übermittelt werden. Somit liegt zum Kongress ein Buch mit dem Titel »Prävention« vor. Darin wird die Präventionsthematik unter verschiedenen Gesichtspunkten in den Kapiteln »Konzeptorientierte Aspekte der Prävention«, »Prävention und Lebenswelten«, »Arbeitswelt und betriebliche Prävention«, »Medizinische Versorgung und Prävention« sowie »Prävention in der Zahn-, Mundund Kieferheilkunde« abgehandelt. Prävention lässt sich vielleicht am besten mit vorausschauender Problemvermeidung übersetzen. Seit der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation gelten Prävention und Gesundheitsförderung als die geeignetsten Instrumente, dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen durch Vermeidung des Sozialversicherungsfalls entgegenzuwirken; mit anderen Worten: durch Vermeidung von Bedarf an Behandlung, Rehabilitation und Pflege. Die lange politische Missachtung dieses Ansatzes und seine kaum mehr nennenswerte öffentliche Förderung haben zu seiner völligen Unterentwicklung hierzulande beigetragen. Der Nationale Präventionskongress will einen Neuanfang in Sachen Prävention und Gesundheitsförderung und er will dabei eine zukünftig stärkere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis anstoßen. Wir danken an dieser Stelle allen Autoren des Buchs für die pragmatische und konzise Zusammenarbeit, ohne die die vorliegende Veröffentlichung nicht in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum hätte fertiggestellt werden können. Dresden und Bielefeld im November 2005
Wilhelm Kirch Bernhard Badura
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Inhaltsverzeichnis A Konzeptorientierte Aspekte der Prävention Erfolgskriterien und Typen moderner Primärprävention . . . . . . . . Rolf Rosenbrock
3
Strategie- und Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Bernhard Badura Perspektiven der Prävention in Deutschland aus der Sicht der GKV . . Hans-Jürgen Ahrens
41
Hausärztliche Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Harald Abholz
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Präventionsaspekte in den Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbünden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Slesina, Christiane Patzelt Präventionsprogramme der Europäischen Kommission mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Aktivität – eine Auswahl aktueller Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Meusel, Andreas Fuchs
71
91
Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte in der medizinischen Versorgung zur Optimierung der methodischen Ansätze im Rahmen der evidenzbasierten Prävention. . . . . . . . . . . 111 Wolfgang Böcking, Gernot Lenz, Diana Trojanus, Wilhelm Kirch Prävention und Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Adem Koyuncu
X
Inhaltsverzeichnis
B Prävention und Lebenswelten Mehr Gesundheit für alle – ein Programm zur Reduzierung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen durch Prävention in Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Michael Bellwinkel, Alfons Schröer Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation in der lebensweltorientierten Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Michael T. Wright, Martina Block Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte: das Beispiel der schulischen Suchtprävention und Skillförderung . . . 173 Uwe H. Bittlingmayer, Klaus Hurrelmann Übergewicht bei Migrantenkindern – methodisch-epidemiologische Stolpersteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Liane Schenk, Anja Kroke, Anette E. Buyken, Nadina G. Karaolis-Danckert, Anke L.B. Günther, Sally Meerkamm, Oliver Razum Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst . . . . . . . . . . 219 Bertram Szagun, Klaus Walter Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen . . . . . . . . . . 243 Walter Brehm Gesundheitssport in Turn- und Sportvereinen – ein Beitrag zur Förderung der öffentlichen Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Michael Tiemann Herausforderungen der Zukunft – Entwicklung des Turn- und Sportvereins als gesunder Lebensort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Karin Fehres, Pia Pauly
XI Inhaltsverzeichnis
Struggle over Tobacco Control in Serbia: Transnational Tobacco Companies vs. Public Health. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Andjelka Dzeletovic, Sanja Matovic Miljanovic, Ulrich Laaser
C Arbeitswelt und betriebliche Prävention Zukunft der Arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung (Positionspapier der Vorstände der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. und des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Klaus Scheuch, Wolfgang Panter Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement – betriebswirtschaftlicher Nutzen aus Unternehmersicht. . . . . . . . . . 325 Gudrun Eberle Prävention in den Gesundheitsberufen und in Gesundheitseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Ulrich Stößel, Holger Pfaff Ganzheitliche Prävention (GATE) auf einem internationalem Flughafen (FraportAG) – Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Walter Gaber
D Medizinische Versorgung und Prävention Hausärztliche Präventivmedizin in kommunaler Kooperation: Erfahrungen aus dem Östringer Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Armin Wiesemann, Erika Weih, Wolfgang Braunecker, Reginald Scheidt
XII
Inhaltsverzeichnis
Hausärztliche Quartiärprävention am Beispiel der Reduzierung unnötiger Antibiotikaverordnungen bei akutem Husten . . . . . . . . . 399 Attila Altiner, Silke Brockmann Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik – eine qualitätsorientierte Bestandsaufnahme 409 Thomas Kliche, Christina Krüger, Cornelia Goldapp, Reinhard Mann, Jürgen Töppich, Uwe Koch Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen . . . . . . . . . . 429 Peter Bramlage, Wolfgang Böcking, Wilhelm Kirch Die Prävention psychischer Erkrankungen und die Förderung psychischer Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Reinhold Kilian, Thomas Becker Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen und Einnahme von Sexualhormonen bei Frauen – Ergebnisse der Study of Health in Pomerania (SHIP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Sabine Schwarz, Henry Völzke, Dietrich Alte, Wolfgang Hoffmann, Ulrich John, Martina Dören Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen: Zum wechselseitigen Einfluss von Strategien der Krankheitsbewältigung, Depression und Sozialer Unterstützung Eike Fittig, Johannes Schweizer, Udo Rudolph
495
Prävention mit Arzneimitteln – Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . 521 Ulf Maywald, Isabel Hach Telemedizin in der Tertiärmedizin: Wirtschaftlichkeitsanalyse des Telemedizin-Projektes Zertiva bei Herzinsuffizienz-Patienten der Techniker Krankenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Tatjana Heinen-Kammerer, Peter Kiencke, Kerstin Motzkat, Bodo Liecker, Frank Petereit, Torsten Hecke, Hardy Müller, Reinhard Rychlik
XIII Inhaltsverzeichnis
E Prävention in der Zahn-, Mundund Kieferheilkunde Präventionsorientierte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – wichtige Krankheitsbilder und deren oralprophylaktischer Zugang . . 553 Dietmar Oesterreich, Sebastian Ziller Zahnverlust und Zahnersatz vor dem Hintergrund des demographischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Ursula Schütte, Michael Walter Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
XV
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz
Dr. Uwe Bittlingmayer
Abteilung für Allgemeinmedizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Fakultät für Gesundheitswissenschaften/AG 4 Universität Bielefeld Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld
Dr. Hans-Jürgen Ahrens
Martina Block
AOK Bundesverband Kortrijker Str. 1, 53177 Bonn
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Forschungsgruppe Public Health Reichpietschufer 50, 10785 Berlin
Dr. Dietrich Alte Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Walther-Rathenau-Str. 48, 17487 Greifswald
Dr. Wolfgang Böcking Cohen Brown Management Europe Ltd. Oskar-von-Miller-Str. 20, 60314 Frankfurt a.M.
Dr. Attila Altiner Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin Abteilung für Allgemeinmedizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Dr. Peter Bramlage
Prof. Dr. Bernhard Badura
Am Kirchberg 19, 76684 Östringen
Fakultät für Gesundheitswissenschaften/AG1 Universität Bielefeld Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld
Prof. Dr. Walter Brehm
Prof. Dr. Thomas Becker Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin BKH Günzburg, Ludwig-Heilmeyer-Str. 2, 89312 Günzburg
Institut für Klinische Pharmakologie Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 27, 01307 Dresden
Wolfgang Braunecker
Lehrstuhl für Sportwissenschaft Universität Bayreuth Universitätsstr. 30, 95440 Bayreuth
Silke Brockmann Abteilung für Allgemeinmedizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Michael Bellwinkel
Dr. Anette E. Buyken
Abteilung Gesundheit BKK Bundesverband Kronprinzenstr. 6, 45128 Essen
Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) Heinstück 11, 44225 Dortmund
XVI
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Martina Dören
Anke L. B. Günther
Klinisches Zentrum für Frauengesundheit Campus Benjamin Franklin Charité – Universitätsmedizin Berlin Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) Heinstück 11, 44225 Dortmund
Dr. Isabel Hach Dr. Andjelka Dzeletovic, MD, PhD Institute of Public Health of Serbia »Dr Milan Jovanovic Batut« 5 Dr. Subotica st, 11000 Belgrade, Serbia and Montenegro
Dr. Gudrun Eberle Abteilung Prävention AOK-Bundesverband Kortrijker Str. 1, 53177 Bonn
Dr. Karin Fehres Vizepräsidentin Allgemeines Turnen Deutscher Turner-Bund Otto-Fleck-Schneise 8, 60528 Frankfurt a.M.
Eike Fittig Allgemeine & Biopsychologie Institut für Psychologie TU Chemnitz, 09107 Chemnitz
Institut für Klinische Pharmakologie Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 27, 01307 Dresden
Dr. Torsten Hecke Techniker Krankenkasse Hamburg Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg
Dr. Tatjana Heinen-Kammerer Institut für Empirische Gesundheitsökonomie Am Ziegelfeld 28, 51399 Burscheid
Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann Abteilung Versorgungsepidemiologie und Community Health Institut für Community Medicine Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Ellernholzstr. 1–2, 17487 Greifswald
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann Andreas Fuchs Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhalt Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 33, 01307 Dresden
Dr. Walter Gaber Fraport AG, Frankfurt/Main Leitender Betriebsarzt 60547 Frankfurt/Main
Fakultät für Gesundheitswissenschaften/AG 4 Universität Bielefeld Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld
Prof. Dr. Ulrich John Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Walther-Rathenau-Str. 48, 17487 Greifswald
Nadina G. Karaolis-Danckert Cornelia Goldapp Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln
Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) Heinstück 11, 44225 Dortmund
XVII Autorenverzeichnis
Dr. Peter Kiencke
Prof. Dr. Ulrich Laaser
Institut für Empirische Gesundheitsökonomie Am Ziegelfeld 28, 51399 Burscheid
Section of International Public Health Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universität Bielefeld Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
Dr. Reinhold Kilian Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm BKH Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2, 89312 Günzburg
Gernot Lenz Keuslinstr. 9, 80798 München
Dr. Bodo Liecker Prof. Dr. Dr. Wilhelm Kirch Forschungsverbund Public Health Sachsen – Sachsen Anhalt e.V. Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 27, 01307 Dresden
Thomas Kliche Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie Universitätsklinikum Eppendorf Martinistr. 52 (S 35), 20246 Hamburg
Prof. Dr. Dr. Uwe Koch Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie Universitätsklinikum Eppendorf Martinistr. 52 (S 35), 20246 Hamburg
Techniker Krankenkasse Hamburg Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg
Reinhard Mann Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln
Sanja Matovic Miljanovic, MD, MSc Institute of Public Health of Serbia »Dr Milan Jovanovic Batut« 5 Dr. Subotica st, 11000 Belgrade, Serbia and Montenegro
Dr. Ulf Maywald Institut für Klinische Pharmakologie Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 27, 01307 Dresden
Dr. Dr. Adem Koyuncu Rechtsanwalt und Arzt Rechtsanwaltskanzlei Mayer, Brown, Rowe & Maw LLP Kaiser-Wilhelm-Ring 27–29, 50672 Köln
Sally Meerkamm
Dr. Anja Kroke
Dr. Dirk Meusel
Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) Heinstück 11, 44225 Dortmund
Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhalt Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 33, 01307 Dresden
FKE & Fachhochschule Münster Fachbereich Oecotrophologie Corrensstr. 25, 48149 Münster
Christina Krüger Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie Universitätsklinikum Eppendorf Martinistr. 52 (S 35), 20246 Hamburg
Kerstin Motzkat Institut für Empirische Gesundheitsökonomie Am Ziegelfeld 28, 51399 Burscheid
XVIII
Autorenverzeichnis
Dr. Hardy Müller
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock
Techniker Krankenkasse Hamburg Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg
Dr. Dietmar Oesterreich
Forschungsgruppe Public Health Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Reichpietschufer 50, 10785 Berlin
Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer Chausseestr. 13, 10115 Berlin
Prof. Dr. Udo Rudolph
Dr. Wolfgang Panter Hüttenwerke Krupp Mannesmann GmbH Betriebsarztzentrum Postfach 25 11 24, 47251 Duisburg
Pia Pauly Deutscher Turner-Bund Otto-Fleck-Schneise 8, 60528 Frankfurt/Main
Allgemeine & Biopsychologie Institut für Psychologie TU Chemnitz, 09107 Chemnitz
Prof. Dr. Dr. Reinhard Rychlik Institut für Empirische Gesundheitsökonomie Am Ziegelfeld 28, 51399 Burscheid
Dr. Reginald Scheidt Christiane Patzelt Sektion Medizinische Soziologie Medizinische Fakultät Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Harz 42-44, 06097 Halle (Saale)
Abteilung Klinische Sozialmedizin der Universität Heidelberg Thibautstr. 2, 69115 Heidelberg
Dr. Liane Schenk
Techniker Krankenkasse Hamburg Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg
Abt. für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung Robert Koch-Institut/ FG 23 Seestr. 10, 13353 Berlin
Prof. Dr. Holger Pfaff
Prof. Dr. Klaus Scheuch
Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie e.V. Abteilung für Medizinische Soziologie des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität zu Köln Eupener Str. 129, 50933 Köln
Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin Medizinische Fakultät der TU Dresden Fetscherstr. 74, 01307 Dresden
Dr. Frank Petereit
Prof. Dr. Oliver Razum AG Epidemiologie and International Public Health Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universität Bielefeld Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
Dr. Alfons Schröer Abteilung Gesundheit BKK Bundesverband Kronprinzenstr. 6, 45128 Essen
Dr. Ursula Schütte Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhalt Medizinische Fakultät der TU Dresden Fiedlerstr. 33, 01307 Dresden
XIX Autorenverzeichnis
Sabine Schwarz
PD Dr. Henry Völzke
Klinisches Zentrum für Frauengesundheit Campus Benjamin Franklin Charité – Universitätsmedizin Berlin Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Walther-Rathenau-Str. 48, 17487 Greifswald
Prof. Dr. Johannes Schweizer
Dr. Klaus Walter
Innere Medizin I, Klinikum Chemnitz Bürgerstr. 2, 09113 Chemnitz
Bundesvorsitzender des BVÖGD Landratsamt Ostalbkreis – Geschäftsbereich Gesundheit Postfach 1704, 73407 Aalen
Prof. Dr. Wolfgang Slesina Sektion Medizinische Soziologie Medizinische Fakultät Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Harz 42-44, 06097 Halle (Saale)
Prof. Dr. Michael Walter Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstr. 74, 01307 Dresden
Dr. Ulrich Stößel Abteilung Medizinische Soziologie Universität Freiburg Hebelstr. 29, 79104 Freiburg
Erika Weih Am Sonnenhang, 76684 Östringen
Prof. Dr. Armin Wiesemann Prof. Dr. Bertram Szagun Sprecher des Fachausschusses GBE/Prävention des BVÖGD Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege Hochschule Ravensburg-Weingarten Postfach 1261, 88241 Weingarten
Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der Universität Heidelberg Voßstr. 2, 69115 Heidelberg
Dr. Michael T. Wright
Schneiderstr. 116, 44229 Dortmund
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Forschungsgruppe Public Health Reichpietschufer 50, 10785 Berlin
Jürgen Töppich
Dr. Sebastian Ziller MPH
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln
Ltr. der Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung der Bundeszahnärztekammer Chausseestr. 13, 10115 Berlin
Dr. Michael Tiemann
Diana Trojanus Kurfürstenstr. 4, 60486 Frankfurt/Main
A Konzeptorientierte Aspekte der Prävention Erfolgskriterien und Typen moderner Primärprävention – 3 Rolf Rosenbrock
Strategie- und Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik – 23 Bernhard Badura
Perspektiven der Prävention in Deutschland aus der Sicht der GKV – 41 Dr. Hans-Jürgen Ahrens Hausärztliche Prävention – 55 Heinz-Harald Abholz
Präventionsaspekte in den Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbünden – 71 Wolfgang Slesina, Christiane Patzelt
Präventionsprogramme der Europäischen Kommission mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Aktivität – 91 Eine Auswahl aktueller Projekte
Dirk Meusel, Andreas Fuchs
Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte in der medizinischen Versorgung zur Optimierung der methodischen Ansätze im Rahmen der evidenzbasierten Prävention – 111 Wolfgang Böcking, Gernot Lenz, Diana Trojanus, Wilhelm Kirch
Prävention und Eigenverantwortung – 121 Adem Koyuncu
3 Erfolgskriterien und Typen
Erfolgskriterien und Typen moderner Primärprävention Rolf Rosenbrock*
Abstract Das im Sommer 2005 gescheiterte Präventionsgesetz1 verfolgte das anspruchsvolle Ziel, die primäre Prävention neben Kuration, Pflege und Rehabilitation zur vierten, eigenständigen Säule der Gesundheitssicherung aufzubauen. Angesichts der drei Megatrends im Gesundheits-, Krankheits- und Sterbegeschehen in industrialisierten Ländern – Dominanz chronisch-degenerativer Erkrankungen mit hohen präventiven Potenzialen; Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung bei gleichzeitigem Trend zu gesünderem Altern; Zunahme sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen (Rosenbrock 2004) – lässt sich dieser Anspruch zumindest gut begründen. Maßstab zur Beurteilung der Qualität des Gesetzes (und aller folgenden Regelungsversuche) muss es sein, ob es Aktivitäten in hinreichender Quantität und Qualität hervorbringt bzw. auslöst bzw. ermöglicht, die dem state of the art entsprechen. Das ist zwar zunächst eine gesundheitswissenschaftliche Fachfrage (Was ist der state of the art für primärpräventive Interventionen? Welche Typen und Arten der Primärprävention kommen infrage?), im zweiten Schritt aber ein *
[email protected] 1
Das ›Gesetz zur Stärkung der Gesundheitlichen Prävention‹ (BT-Drucksache 15/4833) wurde nach ausführlicher Anhörung im Bundestagsausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung am 9. März 2005 (Protokoll 15/95) am 22. April 2005 vom Bundestag verabschiedet. In seiner 811. Sitzung beschloss der Bundesrat am 27. Mai 2005 das Gesetz aufzuhalten und den Vermittlungsausschuss ›mit dem Ziel der grundlegenden Überarbeitung‹ anzurufen. Wichtiger Kritikpunkt war ›die vorgesehene Finanzierung durch die Sozialkassen‹(BR-Drucksache 306/05) und damit jene Komponente des Gesetzesvorhabens, der die Länder im Herbst 2004 nach langen Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium ausdrücklich zugestimmt hatten. Allen Beteiligten muss klar gewesen sein, dass die Anrufung des Vermittlungsausschusses – fünf Tage nach der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen zum Bundestag für den Frühherbst 2005 – das ›Aus‹ für dieses Gesetzesvorhaben in dieser Legislaturperiode bedeutete. Zum Inhalt und zur Kritik des Gesetzes vgl. Rolf Rosenbrock, Thomas Gerlinger: Gesundheitspolitik, Eine systematische Einführung. Verlag Hans Huber: Bern usw. 2. Auflage 2006 (i. E.).
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
primär politisches Problem (Sind die ›richtigen‹ Akteure angesprochen? Sind Instrumente, Anreize und Ressourcen geeignet und ausreichend, um eine über Modellprojekte hinausgehende Dynamik in Richtung auf die Entwicklung einer Kultur der Primärprävention auszulösen und aufrecht zu erhalten?) Im Folgenden geht es primär um Teilantworten auf die erste Frage, die zweite Frage wird in dem Augenblick (wieder) an Aktualität gewinnen, wenn ein neuer Regelungsversuch, z. B. als Gesetzentwurf vorliegt. Schlüsselworte: Primärprävention, Interventionstypen, Umsetzungsbedingungen, Qualitätssicherung, Präventionsgesetz
Was ist der ›state of the art‹ für primärpräventive Interventionen? Die Entwicklung von Methoden und Strategien der Primärprävention hat in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung genommen2. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Verabschiedung der Ottawa Charta für Gesundheitsförderung im Jahre 1986, die auf breiten und prozessorientierten Konzepten sowohl von Gesundheit/Krankheit als auch von Intervention aufbaut und damit den Stand der internationalen Diskussion zusammenfasst, der – zeitlich parallel und unabhängig von der Charta – auch in anderen Interventionsfeldern der Primärprävention, zum Beispiel im Hinblick auf Aids, zu ähnlicher Praxis geführt hatte (Rosenbrock, Schaeffer 2002). Gegenüber der hergebrachten Praxis der Gesundheitserziehung und von ›Old Public Health‹ impliziert dies vier Innovationen3: 1. Belastungssenkung und Ressourcenförderung Sowohl Strategien der Verhaltensbeeinflussung bzw. Gesundheitserziehung als auch solche der gesundheitsgerechten Gestaltung von materiellen und sozialen Umwelten können sich zwar in manchen Fällen darauf beschränken, tatsäch-
2
3
Ein guter Indikator für die relative Reife eines Feldes ist das Erscheinen von Lehrbüchern, vgl. Naidoo/Wills 2003 und Hurrelmann/Klotz/Haisch 2004. Elemente dieser Innovationen finden sich verstreut auch schon in früher angewendeten Interventionen. Der mit der Ottawa Charta dokumentierte und angestoßene Paradigmenwechsel besteht v. a. darin, diese Innovationen als essentielle Bestandteile primärer Prävention aufgewertet und systematisiert zu haben.
5 Erfolgskriterien und Typen
liche oder mögliche Gesundheitsbelastungen (also z. B. chemische, physikalische und biologische Belastungen, Disstress, körperliche und seelische Überlastungen, geringe Verhaltensspielräume, schlechte Ernährung, Tabak-Rauchen, Bewegungsmangel, soziale Isolierung) zu beeinflussen. Meist wird es jedoch zugleich auch darauf ankommen, die Vermehrung von gesundheitsdienlichen Ressourcen (z. B. Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Kompetenzen, Information, Bildung, Handlungswissen, Einkommen, angemessene Partizipation, Verhaltensspielräume, Unterstützung durch soziale Netze, Erholung) der betroffenen Individuen bzw. Zielgruppen anzustreben. Dahinter steht die ebenfalls im Gefolge der Ottawa Charta einflussreicher gewordene, an Übergangen und Nuancen reichere Sichtweise auf Gesundheit, die die Dichotomie von »gesund« und »krank« überwindet und Gesundheit als geglückte, und Krankheit als missglückte Balance zwischen Gesundheits-Belastungen einerseits und Gesundheits-Ressourcen andererseits sieht (Rosenbrock 1997). Damit verbindet sich nicht nur die Vorstellung, Menschen in den Stand zu versetzen, Risiken für ihre Gesundheit sensitiver wahrzunehmen und aktiver an ihrer Minderung zu arbeiten, sondern auch die durch viele Untersuchungen (zum Beispiel Antonovsky 1987, Karasek und Theorell 1990) gut belegte Erwartung, dass sich mit zunehmender Transparenz von Lebenssituationen, mit Qualifikation, wachsenden Entscheidungsspielräumen, direkter Partizipation (Bagnara et al. 1985) sowie durch materielle und ideelle soziale Unterstützung (House 1981, Berkman and Syme 1979) die Fähigkeit zur Belastungsverarbeitung erhöht, die Erkrankungswahrscheinlichkeit mithin sinkt. Gesundheitsressourcen werden also im Hinblick auf Krankheitsvermeidung benötigt, (1) um die physischen bzw. psychischen Bewältigungsmöglichkeiten von Gesundheitsbelastungen zu erhöhen; sei es, (2) um die individuellen Handlungsspielräume zur Überwindung gesundheitlich belastenden Verhaltens zu vergrößern, sei es, (3) um Handlungskompetenz für die Veränderung von Strukturen zu entwickeln bzw. freizusetzen, die (a) entweder direkt die Gesundheit belasten oder (b) gesundheitsbelastendes Verhalten begünstigen. 2. Aufwertung unspezifischer Interventionen Schon die Geschichte erfolgreicher Primärprävention (Labisch 1992¸ McKeown 1982) zeigt, dass mit ein und derselben Maßnahme bzw. Strategie (z. B. Stadtsanierung, allgemeine Bildung etc.) Beiträge zur Senkung der Inzidenz mehrerer und verschiedener Krankheiten erzielt werden können. Der gleiche Effekt zeigt sich zum Beispiel auch bei der Anwendung integrierter Strategien betrieb-
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
licher Gesundheitsförderung (Lenhardt et al. 1997; Lenhardt 2003). Die Beeinflussung von scheinbar weit von den unmittelbaren Krankheitsursachen angesiedelten (›distalen‹) Faktoren (z. B. Partizipation, soziale Unterstützung), deren Beitrag zur Krankheitsentstehung in vielen Fällen auch heute noch nicht hinreichend erforscht ist, kann danach einen größeren präventiven Effekt haben – sowohl im Hinblick auf bestimmte Zielkrankheiten als auch im Hinblick auf die Gesamt-Morbidität/-Mortalität – als die Bearbeitung von Faktoren, deren kausale Beziehung zu Krankheitsentstehung sehr viel enger ist. Das gilt sowohl für die Senkung von Gesundheitsbelastungen als auch für die Vermehrung von Gesundheits-Ressourcen. 3. Priorität für Kontextbeeinflussung Um eine möglichst große Wirkung v. a. bei sozial benachteiligten Zielgruppen zu erzielen, reicht es regelmäßig nicht aus, die Intervention auf die Anwendung der Instrumente ›Information, Aufklärung und Beratung‹ zu beschränken. Vielmehr steigt die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs mit der Beeinflussung des Verhaltenskontextes, sei es auf individueller Ebene, sei es im Setting oder sei es im Rahmen von integrierten, multimodalen und intersektoralen Kampagnen für die gesamte Bevölkerung oder definierte Teilgruppen. Information, Aufklärung und Beratung bilden im Regelfall eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung erfolgreicher Prävention. 4. Priorität für Partizipation Spätestens seit den praktischen und theoretischen Arbeiten von Paolo Freire in den 70er Jahren darf als etabliert gelten, dass insbesondere Menschen mit geringer formaler Bildung sowohl kognitiv wie habituell desto erfolgreicher lernen, je besser und unmittelbarer das Lernangebot an ihrem praktischen Alltag anknüpft und je mehr sie das zu Erlernende in ihrem praktischen Alltag ausprobieren und selbst entwickeln können (Freire 1980). Aus dem Leitbeispiel erfolgreicher Primärprävention im Setting, der betrieblichen Gesundheitsförderung ist zudem bekannt, dass Verhaltens- und Verhältnisänderungen desto erfolgreicher und nachhaltiger sind, je stärker die Beschäftigten an der Problemeinschätzung, der Konzipierung und Implementation der Veränderungen sowie auch an der Qualitätssicherung direkt beteiligt sind. Aus diesem Sachverhalt folgt die Forderung nach einem hohen Grad an direkter Partizipation der Zielgruppen.
7 Erfolgskriterien und Typen
5. Qualitätssicherung Um die Potenziale dieser vier Innovationen der Primärprävention nachhaltig zur Gestaltung zu bringen und zu verallgemeinern, tritt ein Querschnittserfordernis hinzu: Die Anwendung von Konzepten und Strategien, die diese vier Innovationen aufgreifen und benutzen, führt zu sehr beachtlichen Erfolgen in der Prävention (Smedley/Syme 2001, Minkler 1997), ohne dass die Wirkmechanismen vollständig bekannt wären. Primäre Prävention nach dem state of the art der Ottawa Charta und verwandter Konzepte ist deshalb nicht einfach die Anwendung bekannter Regeln, sondern immer auch eine Entwicklungsaufgabe. Für die Praxis bedeutet dies, dass bei jeder Intervention wo immer möglich dafür gesorgt werden muss, dass die gesundheitliche und soziale Ausgangslage, die relevanten Aspekte der Intervention und die Ergebnisse der Intervention nach wissenschaftlichen Standards dokumentiert werden, um auf diese Weise Auswertungen zu ermöglichen, die den Stand des Wissens über die Potenziale und die Wirkmechanismen primärer Prävention weiter entwickeln. In der Praxis wird gegen dieses gesundheitswissenschaftlich begründete Postulat regelmäßig verstoßen (Emmons 2001), weil sich Möglichkeiten, Strategien, Zeitpunkte und Dauer präventiver Interventionen meistens nach anderen Kriterien (Zugang, Finanzierung etc.) als solchen der Forschung und Evaluation richten. Die Zunahme der Anzahl wie auch der Varianz von Interventionen im Rahmen geplanter und wissensbasiert gesteuerter Programme ist deshalb nicht nur eine Chance für die Präventionspolitik, sondern kann zugleich wertvolle Beiträge zur Methodenentwicklung im Hinblick auf Auswahl, Durchführung, Qualitätssicherung, Vernetzung und Evaluation von präventiven Interventionen und Strategien leisten. Von besonderer Bedeutung ist die Beteiligung sowohl der Akteure als auch der Zielgruppen an der Konzipierung und Umsetzung der Qualitätssicherung und der Evaluation (Wright 2004).
Welche Typen und Arten der Primärprävention kommen infrage? Primärpräventive, d. h. Belastungen senkende und Ressourcen vermehrende Aktivitäten und Strategien lassen sich drei Interventionsebenen zuordnen: dem Individuum, dem Setting und der Bevölkerung. Je nachdem, ob die Intervention sich auf Information, Aufklärung und Beratung beschränkt oder ob sie auch Interventionen zur Veränderung gesundheitsbelastender bzw. ressourcen-
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Tabelle 1. Typen der Primärprävention
Information, Aufklärung, Beratung
Beeinflussung des Kontexts
Individuum
1. z. B. Ärztliche Gesundheitsberatung, Gesundheitskurse
2. z. B. ›präventiver Hausbesuch‹
Setting
3. z. B. Anti-Tabak Aufklärung in Schulen,
4. z. B. Betriebl. Gesundheitsförderung als Organisationsentwicklung
Bevölkerung
5. z. B. ›Esst mehr Obst‹, ›Sport tut gut‹, ›Rauchen gefährdet die Gesundheit‹, ›Seid nett zueinander‹
6. z. B. HIV/Aids-Kampagne, Trimming 130
hemmender Faktoren der jeweiligen Umwelt/des jeweiligen Kontextes einschließt, ergeben sich sechs Strategietypen, zu denen in . Tabelle 1 jeweils ein Beispiel gegeben wird. Für jeden dieser sechs Strategietypen lassen sich zweckmäßige Einsatzfelder identifizieren, jeder dieser Handlungstypen erfordert unterschiedliche Instrumente, Ressourcen, Akteurkonstellationen und Methoden der Qualitätssicherung4. Es ist eine zentrale gesundheitspolitische Steuerungsaufgabe, dafür zu sorgen, dass je nach Zielgruppe und Gesundheitsrisiko der jeweils angemessene Strategietyp zum Einsatz kommt. Im Selbstlauf tendiert die Politik (auf Makro-, Meso- und Mikro-Ebene) dazu, jeweils auch dann auf weniger komplexe Interventionen (z. B. Interventionsebene Individuum statt Setting sowie/oder Vernachlässigung des Kontextes) zurückzugreifen, wenn Interventionen höherer Ordnung angezeigt wären.
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Nur noch einmal zur Klarstellung: Jeder dieser sechs Strategietypen enthält – wenn er nach dem state of the art durchgeführt wird – sowohl das Moment der Belastungssenkung wie jenes der Ressourcenstärkung, also der Gesundheitsförderung.
9 Erfolgskriterien und Typen
1. Individuell ansetzende Prävention ohne Kontextbeeinflussung be-
schränkt sich definitionsgemäß auf Methoden der Information, der Beratung und des Trainings. In der Regel geht es um Versuche, gesundheitsbelastendes Verhalten zu modifizieren sowie persönliche Ressourcen (Selbstvertrauen, self efficacy, Transparenz, Fähigkeit zur Selbsthilfe, Einbindung in Gruppen/Netzwerke von Menschen in ähnlicher Lebenslage) zu stärken. Klassische Instrumente sind Kurse (›verhaltensorientiertes Gruppentraining‹) mit Kommstruktur (›passive Rekrutierung‹). Bei den kassengetragenen individuellen Maßnahmen dieses Typs wurde bislang eine überproportionale Beteiligung von sozial und gesundheitlich weniger belasteten Gruppen festgestellt (Kirschner, Radoschewski, Kirschner 1995). Auch nach der jüngsten Dokumentation zur Umsetzung des § 20 Abs. 1 SGB V, mit dem ja explizit ›ein Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen‹ geleistet werden soll, waren unter den Teilnehmern nicht nur Männer, Jugendliche sowie über 60jährige deutlich unterrepräsentiert. Vielmehr lag auch der Anteil der »Härtefälle«5 an den Teilnehmern bei nur 6,8 %, ihr Anteil an den Versicherten liegt mit 13,6 % doppelt so hoch (MDS 2004). Damit bestätigen sich erneut Befunde, nach denen Menschen aus schwierigen Lebenslagen solche Angebote der Verhaltensmodifikation schwerer finden als Angehörige besser situierter Bevölkerungsgruppen, dass sie auch vergleichsweise größere Probleme haben, solche Kurse bis zum Ende durchzuhalten und – insbesondere – große Schwierigkeiten haben, das im Kurs erlernte Verhalten nach Kurs-Ende in den ja meist unveränderten Alltag ›einzubauen‹ (Rosenbrock 2002a). An der Eignung individuell ansetzender Prävention ohne Kontextbezug als Instrument der Primärprävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen bestehen demnach erhebliche Zweifel. 2. Individuell ansetzende Primärprävention mit Beeinflussung des Kontexts
richtet sich regelmäßig an Menschen in ihrer häuslichen bzw. familiären Umgebung. Beispielhaft seien hier – einmalige oder wiederholte – Hausbesuche bei werdenden Eltern zur Vorbereitung auf das Leben mit dem Neugeborenen (z. B. Ernährung, Hygiene, Neurodermitis- und Unfallprävention) (Dierks et al. 2002), oder bei älteren Menschen zur altergerechten Anpassung der Wohnumgebung genannt (Kruse 2002, Walter 2004). In beiden Beispielen zielt die Inter5
›Härtefall‹ ist der einzige Indikator in der Dokumentation, der – mit allen Vorbehalten – auf ›soziale Benachteiligung‹ schließen lässt.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
vention sowohl auf eine Verbesserung des individuellen Gesundheitsverhaltens (einschl. Hilfesuchverhalten, Inanspruchnahme sozialer Leistungen und der Krankenversorgung) als auch auf die situationsgerechte Gestaltung der technischen und sozialen Wohnumgebung. In beiden Fällen erscheint allerdings auch fraglich, ob diese Ziele mit einem einmaligen Besuch erreicht werden können6. In Finnland und den USA wurden erfolgreich Modelle mit sehr intensiver individueller Verhaltensbeeinflussung zur Senkung des Diabetes-Risikos durchgeführt, bei denen auch das persönliche Lebensumfeld im Hinblick auf förderliche und hemmende Bedingungen für die geforderten Verhaltensänderungen (v. a. Bewegung, Ernährung, Zigarettenrauchen) in das Konzept und in die Intervention einbezogen wurden (Diabetes Prevention Program Research Group 2002; Toumilehto et al. 2001) Auch die vorwiegend in der Sozialarbeit (mit und ohne expliziten Gesundheitsbezug) entwickelten – teilweise langfristig angelegten – Formen der Intervention in Familien (Familienfürsorge, Einzelfallhilfe, Familien-Management) können als Primärprävention mit Bezug zum ›Setting Familie‹ betrachtet werden (Mühlum et al. 1998). Die Wirksamkeit solcher Interventionen ist allerdings v. a. im Hinblick auf Nachhaltigkeit unklar bzw. strittig. 3. und 4. Settingbasierte Primärprävention: Ein Setting ist ein durch formale
Organisation, durch regionale Situation und/oder durch gleiche Erfahrung und/oder gleiche Lebenslage und/oder gemeinsame Werte bzw. Präferenzen definierter und auch den Nutzern/Bewohnern subjektiv bewusster sowie relativ dauerhafter Sozialzusammenhang, von dem wichtige Impulse bzw. Einflüsse auf die Wahrnehmung von Gesundheit, auf Gesundheitsbelastungen und/oder Gesundheitsressourcen sowie auf (alle Formen der) Bewältigung von Gesundheitsrisiken (Balance zwischen Belastungen und Ressourcen) ausgehen können. Neben dem Betrieb sind KiTas und Schulen sowie Stadtteile und soziale Brennpunkte wichtige und für Interventionen geeignete Settings. Grundsätzlich lässt sich Primärprävention/Gesundheitsförderung im Setting auf zwei – nicht völlig trennscharfe – verschiedene Arten betreiben:
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Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Veränderungen, die unmittelbar beim Hausbesuch bewirkt werden, und solchen, für die der Hausbesuch lediglich die Begründung der Notwendigkeit liefert (Indikationsstellung). Seine volle Wirksamkeit im Sinne der Kontextbeeinflussung entfaltet der Hausbesuch erst dann, wenn letztere tatsächlich durchgeführt werden.
11 Erfolgskriterien und Typen
3. Primärprävention im Setting: Bei diesem Ansatz wird v. a. die Erreichbarkeit von Zielgruppen im Setting genutzt, um dort Angebote der Verhaltensbezogenen Prävention, z. B. im Hinblick auf die Großrisiken Fehlernährung, Bewegungsmangel, Stress, Drogengebrauch zu platzieren. Die Spannweite reicht von der Benutzung eines Settings als Ablegeplatz für Informationen für eine bestimmte Zielgruppe bis hin zu speziell für eine oder mehrere Gruppen im Setting partizipativ gestalteten Programmen. Primärprävention im Setting ist zwar im Kern Verhaltensprävention, unterscheidet sich aber von der individuellen Prävention dadurch, dass die Zielgruppe/n nach ihrer Zugehörigkeit zum Setting ausgewählt und dort auch aufgesucht werden, weshalb grundsätzlich vergleichsweise gute Voraussetzungen für die Erreichbarkeit der Zielgruppen, die Anregung von Kommunikation und sozialer Unterstützung in der Zielgruppe und (damit) die Haltekraft von verhaltensmodifizierenden Präventionsprogrammen bestehen (z. B. Tabakprävention in Schulen: Be Smart – Don’t Start, Klasse 2000 etc.). Gesundheitsförderung im Setting kann auch – meist flankierend oder zur Erleichterung von Verhaltensmodifikationen – mit Veränderungen im Setting selbst verbunden sein und insofern auch Elemente der Verhältnisprävention, d. h. der Entwicklung zum gesundheitsförderlichen Setting (s. u.) beinhalten7. Die Wirkung von Maßnahmen nach diesem Ansatz auf Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen ist unklar. Bei der Prävention von Tabakrauchen in der Schule nach diesem Ansatz (Be smart – Don’t start) waren (eher schwache und ohnehin nur vorübergehende Wirkungen) am stärksten in Gesamtschulen sowie auch (etwas schwächer) in Gymnasien, nicht aber bei Hauptschülern feststellbar (Wiborg/Hanewinkel/Kliche 2002). 4. Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Settings: Im Gegensatz zur Gesundheitsförderung im Setting stehen bei der Schaffung eines gesundheitsförderlichen Settings Partizipation und der Prozess der Organisationsentwicklung konzeptionell im Mittelpunkt. Im Kern steht der Gedanke, durch ermöglichende, initiierende und begleitende Intervention von außen Prozesse im Setting auszulösen, mit denen die Nutzer des Settings dieses tatsächlich nach ihren Bedürfnissen mitgestalten (empowerment). Jedes Projekt der Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Settings ist gewissermaßen eine synthetisch in7
Einen Grenzfall zwischen den beiden Typen der Setting-Interventionen stellt z. B. eine betriebliche Ernährungskampagne mit flankierenden Veränderungen in der Gemeinschaftsverpflegung (Kantine) dar.
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duzierte soziale Reformbewegung für das jeweilige Setting. Insoweit in solchen Setting-Projekten auch Angebote zur Unterstützung von Verhaltensmodifikationen vorkommen (und sie tun dies meist auch), besteht der grundsätzliche Unterschied zu ähnlichen oder sogar gleichen Verhaltensinterventionen beim Ansatz ›Gesundheitsförderung im Setting‹ (s. o.) darin, dass solche Interventionen im Rahmen eines partizipativ gestalteten Prozesses der organisatorischen, sozialklimatischen etc. Veränderung des Settings von den Nutzern des Settings selbst identifiziert, angefordert und meist auch (mit-)gestaltet werden und insofern die partizipative Organisationsentwicklung flankieren oder ein Bestandteil von ihr sind. Es ist zum Beispiel hoch plausibel, dass – im Setting Betrieb – eine Schulung von betrieblichen Managern in menschengerechter Führung (Respekt, Anerkennung, Gerechtigkeit, Unterstützung (Geißler et al. 2003)) dann einen wesentlich größeren Impact auf Wohlbefinden und Zufriedenheit der Beschäftigten ausübt, wenn sie im Ergebnis einer von den Beschäftigten selbst vorgenommenen Problemanalyse und eines darauf gegründeten Vorschlages zustande kommt, als wenn sie ohne einen solchen Vorlauf von der Geschäftsleitung ›verordnet‹ wurde. Analoges gilt auch für Gesundheitskurse z. B. im Stressmanagement aber auch für betriebliche Kampagnen zum ›rauchfreien Betrieb‹. Im (idealen) Ergebnis soll ein gesundheitsförderliches Setting den Prozess der Organisationsentwicklung derart verstetigen, dass die dezentralen Erneuerungsprozesse durch die verschiedenen Bereiche des Settings ›wandern‹ bzw. rotieren und sich das Setting auf diese Weise kontinuierlich stückweise jeweils in partizipativ gestalteten Diskursen ›neu erfindet‹. Im Ergebnis sollen die Nutzer/stakeholder des Settings das realitätsbegründete Gefühl haben, sich in einer Umwelt zu bewegen, die sie selbst nach ihren Bedürfnissen mit gestaltet haben und in der die formellen und informellen, die materiellen wie die immateriellen Anreize und Sanktionen Aktivierung, soziale Unterstützung und den Abbau von physischen und psychosozial vermittelten Gesundheitsbelastungen nahe legen bzw. belohnen bzw. unterstützen und auf diese Weise Veränderungen bewirkt werden, die gut sind für Wohlbefinden und Gesundheit der Nutzer. Interventionen in Settings haben grundsätzlich gegenüber individuellen Präventionsmaßnahmen den Vorteil, dass sich in ihnen gesundheitlich wichtige Einflüsse auf die Gesundheit sowie auf Wahrnehmung, Einstellungen und Verhalten bündeln und durch systemische Interventionen verändert werden können. Bei solchen Interventionen bleibt die enge Koppelung zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention nicht nur Programm. Da sich die Intervention
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auf das gesamte Setting bezieht, gibt es gibt keine Diskriminierung von Zielgruppen, es kommt zu hierarchie- und gruppenübergreifender Kooperation und Kommunikation. Durch vermehrte Transparenz, Partizipation und Aktivierung werden gesundheitsrelevante Kompetenzen entwickelt. Darüber hinaus erfüllt das Setting besser als alle bekannten Ansätzen der Verhaltensprävention Voraussetzungen für Lernen bei geringer formaler Bildung: Informationen und Aktivitäten knüpfen am Alltag und an den vorhandenen Ressourcen an, gemeinsam werden eigene Vorstellungen zum Belastungsabbau und zur Ressourcenmehrung entwickelt und in einem gemeinsamen Lernprozess so weit wie möglich umgesetzt (Freire 1980; Baric, Conrad 2000). Zudem scheinen gesundheitliche Erfolge bei Setting-Interventionen auch zumindest über mehrere Jahre relativ stabil bleiben zu können (Lenhardt 2003, Minkler 1997). In eigenen empirischen Untersuchungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung wurde herausgearbeitet, dass die wichtigste Voraussetzung zur Ingangsetzung und Beibehaltung des Prozesses eine formelle oder informelle Koalition betrieblich relevanter Akteure ist, die den Prozess wollen (›advocacy coalition‹), weil sie die Überzeugung (›belief system‹) teilen, dass durch partizipative Gesundheitsförderung sowohl auf der Verhaltens- wie auf der Verhältnisebene Ergebnisse erzielt werden können, die sowohl der Produktivität und Innovationskraft des Betriebes als auch dem Wohlbefinden und der Gesundheit der Beschäftigten nützlich sind (Lenhardt et al. 1997, Berthoin Antal et al. 2003). Wie meist in der Präventionspolitik erhöht eine solche Kombination des Themas ›Gesundheit‹ mit einem anderen Thema die Durchsetzungschancen erheblich (›Themenverbindung‹: Rosenbrock 1996, Gerlinger 2003), ohne zugleich auch schon eine hinreichende Bedingung für den Beginn und Erfolg derartiger Prozesse zu sein. Ebenso wichtig scheint ein dauerhaft motivierter Akteur zu sein, der über entsprechende Fertigkeiten und Erfahrungen in der Vorbereitung, Durchführung und Qualitätssicherung derartiger systemischer Interventionen verfügt. Mit plausiblen Begründungen wird derzeit v. a. überlegt, argumentiert und zum Teil auch schon erprobt, den Ansatz ›gesundheitsförderliches Setting‹ vom Betrieb auf die Schule zu übertragen (SVR 2003, Bd. II, Kap. 5.1). Dafür sprechen neben der anhaltenden öffentlichen Thematisierung der Probleme dieses Sektors ähnlich verbindliche Strukturen wie im Betrieb (die auch durch Macht und Herrschaft abgesichert sind) sowie auch Gesichtspunkte der quantitativen und qualitativen Relevanz des öffentlichen Bildungssektors für Gesundheitsförderung und Prävention. Durch entsprechende Auswahl der Schulen nach Ort
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
(Orte bzw. Stadtteile mit großem Anteil von sozial Benachteiligten) und Art (Grund-, Haupt-, Berufs- und Sonderschulen) könnten im Erfolgsfall auch relevante Beiträge zur Verminderung sozial bedingter Chancenungleichheit geleistet werden. Diskutiert und in Ansätzen erprobt wird ebenfalls, den Ansatz ›gesundheitsförderliches Setting‹ auch auf soziale Brennpunkte v. a. im städtischen Zusammenhang zu übertragen. Das stößt zunächst auf das Problem, dass ›soziale Brennpunkte‹ schwerer zu definieren und zu identifizieren sind als institutionelle Settings wie Schule und Betrieb und dass sie meist über keine feste Organisationsstruktur verfügen. Auf der anderen Seite werden im Rahmen des Bundes-Programms »Soziale Stadt« zum Teil sehr gute Erfahrungen mit partizipativem Quartiersmanagement gemacht, dessen Gesundheitsförderlichkeit bzw. Übertragbarkeit auf Gesundheitsförderung bzw. Ergänzbarkeit durch Module der Gesundheitsförderung zu überprüfen wäre (Altgeld 2003, Buhtz et al. 2004). Für alle diese Überlegungen gilt: Die Anwendung des Ansatzes der Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Settings ist desto aussichtsreicher, 4 je klarer identifizierbar und institutionalisiert die Akteure und Interessenträger (stakeholder) im/am Setting sind, 4 je mehr stabile Strukturen und Interaktionen und 4 je mehr Verbindlichkeit es gibt, und 4 je geringer die Fluktuation ist. 5. und 6. Primärprävention durch Kampagnen
Eine Kampagne ist eine systematisch geplante Kombination von Maßnahmen (Einzelprojekten) zur Erreichung gesundheitsbezogener Ziele bei der Gesamtbevölkerung oder definierten Zielgruppen (Töppich 2004). Regelmäßig besteht das Kampagnenziel in einer Veränderung von gesundheitsrelevanter Wahrnehmung und gesundheitsrelevantem Verhalten in der Gesamtbevölkerung bzw. in der/den definierten Zielgruppe/n. In der Werbewirtschaft wird unter Kampagne die systematische Verbreitung von Werbebotschaften durch gezielten und ggf. kombinierten Einsatz von Massenmedien verstanden. Auch hier ist das Ziel ein verändertes (Kauf-)Verhalten. Bedauerlicherweise prägt das aus der Werbewirtschaft stammende Konzept einer Kampagne vielfach auch die Vorstellungen dieses Instruments in der gesundheitswissenschaftlichen bzw. gesundheitspolitischen Diskussion. Durch die Verkürzung auf die Frage der Nutzung von Massenmedien gerät dabei der für die gesundheitspolitische Bewertung ent-
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scheidende Unterschied oft aus dem Blickfeld. Dieser Unterschied besteht nicht darin, ob Massenmedien eingesetzt werden oder nicht, sondern ob eine Kampagne auf den Verhaltenskontext (die Lebensbedingungen, das Setting) der Bevölkerung bzw. Zielgruppen eingeht (und diese u. U. auch verändert) oder nicht. 5. Kampagnen ohne Kontextbezug
Kampagnen ohne relevanten Kontextbezug (›Esst mehr Obst‹, ›Sport tut gut‹, ›Rauchen gefährdet die Gesundheit‹) richten sich in der Regel an die gesamte Bevölkerung, indem sie gesundheitsrelevante Botschaften transportieren, ohne jedoch auf die fördernden und hemmenden Bedingungen ihrer Annahme bzw. Umsetzung einzugehen oder gar diese zu verändern. Solche Kampagnen sind unaufwändig zu organisieren, haben aber einen, wenn überhaupt nur sehr geringen impact und gehören regelmäßig in die Kategorie ›symbolische Politik‹. Typischerweise werden sie auch nicht im Hinblick auf gesundheitliche Wirkungen evaluiert. Sie entsprechen nicht (mehr) dem Stand des gesundheitswissenschaftlichen Wissens. 6. Kampagnen mit Kontextbezug
Das Erfolg versprechende Instrument bevölkerungsbezogener Kampagnen der nicht-medizinischen Primärprävention mit Kontextbezug wurde in der Bundesrepublik bislang nur sehr selten angewendet8. Große nicht medizinische Gesundheits-Kampagnen mit Kontextbezug gab es bislang eigentlich nur drei: die Kampagne zum Sicherheitsgurt in den 60erJahren (sehr erfolgreich) (Vieth 1988), die Trimm Aktion (ab 1970) und ihre bis 1994 laufenden NachfolgeKampagnen (zumindest phasenweise sehr erfolgreich) (Mörath 2005) und die HIV/Aids-Kampagne v. a. in den 80er und 90er Jahren (zumindest in den zentralen Zielgruppen ca. 15 Jahre sehr erfolgreich) (Rosenbrock 1994, 2002b). Eine Kampagne bedarf der Planung entlang der Logik des Public Health Action Cycle (Rosenbrock 1995). Dazu ist es erforderlich, die einzelnen Inter8
Das methodische Fundament für diesen Interventionstyp wurde in den 70er Jahren in den USA mit städtebezogenen Kampagnen auf der Basis einer erweiterten ›social marketing‹ zur Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren gelegt (Farquhar 1990). Zum Teil baute die Deutsche Herzkreislauf Präventionsstudie (DHP) methodisch darauf auf (Forschungsverbund DHP 1998).
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
ventionsschritte in einem Interventionskonzept zu beschreiben, mit dem die Maßnahmen/Aktivitäten gesteuert werden und das zugleich die Grundlage zur ständigen Überprüfung der Zielerreichung bildet. Eine kontextbezogene Kampagne umfasst damit alle drei Interventionsebenen: neben der Information und Sensibilisierung der Gesamtbevölkerung/ -Zielgruppe, die über die Massenmedien erreicht werden soll, geht es immer auch um die Anregung von geplanten und spontanen Setting-Projekten (sowohl Gesundheitsförderung im Setting als auch Entwicklung zum gesundheitsförderlichen Setting). Letztlich soll damit meist je individuelles Verhalten verändert werden, was wiederum auch durch Maßnahmen der individuellen Prävention (mit und ohne Kontextbezug) zusätzlich angeregt bzw. verstärkt werden kann.
Perspektiven Gesundheitspolitik richtet sich nur sehr selten nach den durch die Epidemiologie und die vorhandenen Interventionsmöglichkeiten definierten Prioritäten (Levine/Lilienfeld 1987). Deshalb ist für die akademische Disziplin ›Public Health‹ als praxisorientierte Multidisziplin auch die Frage nach den Umsetzungsbedingungen Erfolg versprechender Ansätze von hoher Relevanz. Denn tatsächlich sind die Anwendung des hier skizzierten state of the art der Primärprävention und die Auswahl des dem jeweiligen Problem und der jeweiligen Zielgruppe angemessenen Interventionstyps gegenwärtig (noch) eher die Ausnahmefälle, und keineswegs die Regel. Unter den vielen Hindernissen moderner und effizienter Prävention ragen zwei heraus, die mit den Begriffen »Ökonomismus« und »Medikalisierung« bezeichnet werden können (Kühn/Rosenbrock 1994). Aus Basis des »Ökonomismus« wird vielfach gegen gesundheitswissenschaftliche Evidenz und gegen die gesundheitspolitische Vernunft sowohl über das »Wieviel« als auch über das »Was« der Prävention entschieden. Das »Wieviel«: Gesundheitsgerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen, Reduktion von Umweltbelastungen, komplexe Gesundheitskampagnen mit Lebensweisebezug etc. kosten zunächst einmal Geld. Ihr Nutzen ist dagegen oft nicht unumstritten in Geld auszudrücken, oder er liegt außerhalb des Interessenbereichs der Entscheidungsträger oder jenseits ihrer meist kurzfristigen Planungshorizonte (z. B. Geschäftsjahr bei Unternehmen; Wahlperiode in der
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Politik). Die Geschichte der Prävention zeigt, dass die wichtigsten Erfolge nicht im Ergebnis ökonomischer Kalküle, sondern durch soziale Bewegungen induziert wurden, die sich zumeist gegen die einseitige Durchsetzung wirtschaftlicher Partialinteressen richteten. Das »Was«: Kommerziell betriebene Prävention und Gesundheitsförderung richtet sich in einer Marktwirtschaft anreizgerecht nach der mobilisierbaren kaufkräftigen Nachfrage, die – vor allem unter dem Gesichtspunkt sozial bedingt ungleich verteilter Gesundheitschancen – kein geeignetes Steuerungsinstrument für Leistungen der Gesundheitssicherung ist, weil Menschen mit der geringsten Kaufkraft den höchsten Bedarf haben. Für Menschen mit höherer Kaufkraft wurden dagegen durch die Ökologie- und Gesundheitsbewegungen Gesundheitsbedürfnisse und -ansprüche thematisiert bzw. geweckt. Diese finden mittlerweile ein rasch expandierendes Angebot an Dienstleistungen und Waren »für die Gesundheit« bzw. »Wellness« bzw. »für die Umwelt«. Diese Umformung gesellschaftlicher Probleme in individuell durch Kauf von Waren und Dienstleistungen zu befriedigende Bedürfnisse weist den wohlhabenderen Teilen der Bevölkerung für einen Teil ihrer Gesundheitsprobleme vielleicht einen gangbaren Weg, sie nimmt aber dem sozialen Impuls von Prävention und Gesundheitsförderung einen großen Teil seiner Wirksamkeit. Auch die Medikalisierung wirkt auf zwei Ebenen: Definitionsmacht: Ein großer Teil der sozialen Schubkraft des Konzepts der Gesundheitsförderung wird durch die Definitionsmacht und die Aktivitäten der individuell kurativ orientierten klinischen Medizin absorbiert. Überspitzt lässt sich sagen, dass in der gesamten Gesundheitspolitik, also keineswegs nur in der Kuration, Sichtweise und Leistungen des Kassenarztes dominieren. Dies äußert sich u. a. in einer deutlichen Privilegierung der ärztlichen Beratung vor anderen Trägern und Formen der Beratung und Kommunikation. Es ist freilich weder erwiesen noch plausibel, dass ärztliche Beratung größere Wirkungen erzielt als z. B. Beratung durch Krankenschwestern oder problembezogene Auseinandersetzung und Diskussion zwischen Menschen in ähnlicher sozialer Lage, wie es z. B. im Ansatz der »peer education« (BZgA 1995) oder in Selbsthilfegruppen (Trojan 1986) praktiziert wird. Die in der Öffentlichkeit nur langsam nachlassende Identifikation von »Gesundheitssicherung« mit »Medizin« führt häufig zu einer Umthematisierung von Problemen der Primärprävention zu solchen der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen (Zola 1972), also zur Medikalisierung. Individualisierung: Ähnlich wie der Ökonomismus in der Prävention tendenziell dazu führt, gesellschaftlich und politisch anzugehende Probleme in
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individuelle Kaufakte umzuwandeln, bestärkt die Medikalisierung der Prävention die Tendenz, solche Probleme in Akte der individuellen Inanspruchnahme umzudefinieren. Beide Tendenzen laufen darauf hinaus, die zugrunde liegenden Probleme unbearbeitet zu lassen. Da sich unter diesen Rahmenbedingungen die Tendenz zur politischen Untergewichtung der Primärprävention (einschl. der Gesundheitsförderung) und zur relativen Übergewichtung der Verhaltensmodifikation innerhalb der ohnehin zu geringen Bemühungen von selbst eher verstärkt (Kühn/Rosenbrock 1994), ist eine Erweiterung präventionspolitischer Handlungsräume am ehesten von einer staatlich getragenen gegentendenziellen Politik zu erwarten, die die entsprechenden Impulse aus der Bevölkerung wie auch von den vielen professionellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren aufnimmt. Nach dem vorläufigen Scheitern eines Bundesgesetzes zur nicht medizinischen primären Prävention im Jahre 20059 wird sich deshalb die Aufmerksamkeit der akademischen und praktischen Public Health Professionals auf den nächsten Anlauf richten. Weil sich ohne eine geeignete staatliche Regulierung der Abstand zwischen dem gesundheitlich Möglichen und dem Tatsächlichen immer weiter vergrößert.
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19 Erfolgskriterien und Typen
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
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23 Strategie- und Konzeptwechsel
Strategie- und Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik Bernhard Badura* Abstract Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und einer beschleunigten Globalisierung erreichen hoch industrialisierte Marktwirtschaften eine neue Phase ihrer Entwicklung. Einzelstaatliches Handeln verliert an Bedeutung, auch für das Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger. Demgegenüber gewinnen Entscheidungen der Europäischen Union, auf den internationalen Finanzmärkten, in Banken und Unternehmen weiter an Bedeutung. In Deutschland sind die sozialen Begleiterscheinungen dieser Entwicklung unübersehbar: über 5 Mio. Arbeitslose, durch permanente Umstrukturierungen und drohende Entlassungen verunsicherte Belegschaften, eine finanzielle Dauerkrise aller sozialen Sicherungssysteme (mit Ausnahme der Unfallversicherung) sowie ein entsprechender Verlust an Vertrauen in die politischen Eliten. Die zur Bewältigung sozialer und gesundheitlicher Probleme bisher allseits akzeptierte Strategie: großzügige Externalisierung sozialer und gesundheitlicher Kosten der Marktwirtschaft einerseits, ihre ebenso großzügige Kuration bzw. Kompensation durch sozialstaatliche Leistungen andererseits, hat sich als nicht mehr finanzierbar und letztlich auch wenig wirksam erwiesen und beeinträchtigt durch Mitverursachung steigender Lohnnebenkosten die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der von zahlreichen Akteuren geforderte Rückbau des Staates wirft gleichzeitig die Frage nach Mehrverantwortung der Bürger, insbesondere aber auch der Unternehmen auf – zumindest bei jenen, die einem einseitigen Verfall sozialer Standards entgegenwirken möchten im Interesse einer nachhaltig positiven Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die im Folgenden gemachten Vorschläge zum Strategie- und Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik versuchen hierauf eine Antwort zu geben. Schlüsselworte: Betriebliche Gesundheitspolitik, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Globalisierung, Arbeitsschutz * e-mail:
[email protected]
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
1. Strategiewechsel: reprivatisieren statt externalisieren Wenn es zutrifft, dass wir hierzulande die Externalisierung sozialer Kosten zu weit getrieben haben und die dadurch mitverursachten Aufwendungen für Sozialleistungen der Schaffung neuer Arbeitsplätze im Wege steht, dann sollten wir über Möglichkeiten intelligenter Reprivatisierung nachdenken. Ein deutliches Mehr an Investitionen in die Gesundheit der Beschäftigten ist – so die hier vertretene These – ein zentrales Element einer solchen Reprivatisierungsstrategie. Gesunde Beschäftigte fördern die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen und vermeiden Kosten, bedingt durch Fehlzeiten, Behandlung oder Frühberentung. So verstandene Reprivatisierung gesundheitlicher Kosten dient der Verhütung von Sozialversicherungsfällen sowie der Dämpfung der Lohnnebenkosten und trägt zur finanziellen Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme bei. Reprivatisierung gesundheitlicher Kosten der Marktwirtschaft beinhaltet aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht zweierlei: eine Aufwertung betrieblicher Gesundheitspolitik als Führungsaufgabe und eine Neuausrichtung ihrer Ziele und Vorgehensweisen. Neue Erkenntnisse und Entwicklungen eröffnen innovative Wege gesundheitsförderlicher Personal- und Organisationsentwicklung, die auch wegen der Alterung der Belegschaft und den anhaltenden Erschütterungen der Wirtschaft sehr viel zügiger als bisher beschritten werden sollten (Bertelsmann Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung 2004). Der Strukturwandel in der Wirtschaft in Richtung wissensintensiver Dienstleistungen und Fortschritte in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften legen eine Neubewertung menschlicher Arbeit nahe: als Humankapital statt als Kostenfaktor. Dies wiederum erfordert eine Neubewertung gesundheitlicher Problemstellungen in den Betrieben mit dem Ziel: gesünder älter werden. Nicht mehr nur Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen werden Gegenstand betrieblicher Gesundheitspolitik sondern die gesamte Organisation: Neben der Mensch-Maschine-Schnittstelle wird die Mensch-Mensch-Schnittstelle, werden immaterielle Organisationsfaktoren immer bedeutsamer und das Wohlbefinden der Beschäftigten zur wichtigen Voraussetzung für eine hohe Qualität der erbrachten Leistungen, für Produktivität und Innovationsbereitschaft. Unter immateriellen Faktoren (oft auch als »weiche« Faktoren bezeichnet) sind insbesondere zu nennen: die Qualität der Führung, die Qualität der sozialen Beziehungen und ein Vorrat gemeinsamer Überzeugungen, Werte und
25 Strategie- und Konzeptwechsel
Regeln sowie das dadurch bedingte Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft unter den Beschäftigten. Die von dem hier skizzierten Strategiewechsel profitierenden sozialen Sicherungssysteme: die gesetzliche Krankenversicherung, die Rentenversicherung, die Unfallversicherung und die Bundesanstalt für Arbeit sollten einen wachsenden Teil ihres Umsatzes für Anreizsysteme verwenden, die Unternehmen, Verwaltungen und Dienstleistungssysteme belohnen, die in die Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren und dadurch zur Reprivatisierung sozialer Kosten der Marktwirtschaft beitragen. Auch über MalusSysteme sollte nachgedacht werden für Unternehmen, die einen vorzeitigen Verschleiß ihrer Mitarbeiter zulassen durch unterlassene Investitionen in ihr betriebliches Gesundheitsmanagement (Bertelsmann-Stiftung und Hans-Böckler Stiftung 2004). Das Folgende dient der Konzeptentwicklung in der Gesundheitsförderung und der Entwicklung von Standards für das betriebliche Gesundheitsmanagement. Begonnen wird mit einem Blick auf die Entwicklung der salutogenetischen Perspektive und ihrer maßgeblichen Pioniere. Daran anschließend werden Grundlagen Ziele und Standards salutogener Organisationsgestaltung angesprochen sowie Konsequenzen für Praxis und Forschung.
2. Konzeptwechsel: von der Pathogenese zur Salutogenese . Abbildung 1 charakterisiert die Neuausrichtung betrieblicher Gesundheitspolitik: von der pathogenetisch orientierten Gestaltung der Arbeitsbedingungen (Mensch-Maschine-Schnittstelle) zur salutogenetisch orientierten Organisations- und Personalentwicklung (Mensch-Mensch-Schnittstelle). Der Begriff »Salutogenese« wurde in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem israelischen Soziologen Aaron Antonovsky eingeführt. Das Interesse an den Bedingungen guter Gesundheit ist jedoch sehr viel älter. Schon in der Antike bedeutete für die Anhänger der Göttin Hygieia Gesundheit etwas Positives und Erstrebenswertes, das – so die damalige Auffassung – von der natürlichen Ordnung der Dinge und einer klugen Lebensführung abhängt. Den Anhängern von Äskulap ging es dagegen nicht um Gesundheit, ihre Ursachen und die Möglichkeiten zu ihrer Förderung, sondern um Krankheit, deren Ursachen und die Möglichkeiten zur Krankheitsbehandlung (Dubos 1959). Sie beherrschten lange Zeit das Feld und tun es weithin auch heute noch. Für die
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Abb. 1. Von der Bekämpfung arbeitsbedingter Risiken zur gesunden Organisation
Erforschung von Krankheitsursachen und die Entwicklung neuer Therapien werden Nobelpreise verliehen, nicht für die Erforschung der Ursachen guter Gesundheit und die Entwicklung von Interventionen zu ihrer Förderung. Mittlerweile nimmt das Interesse an Gesundheit allerdings immer mehr zu. Die bekannte Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation war eine Charta zur Gesundheitsförderung. Gesundheitsförderung wird heute gleichberechtigt und in einem Atemzug mit Prävention genannt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die International Labour Organization (ILO) und auch die Kommission der Europäischen Union haben die Förderung von »Wohlbefinden« zum zentralen Ziel erklärt. In einer »Mitteilung« zum Thema »Anpassung an den Wandel von Arbeit und Gesellschaft: eine neue Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2002 – 2006«, die von allen Mitgliedsländern gebilligt wurde, für alle verbindlich ist und von allen auch umgesetzt werden soll – auch von Deutschland – heißt es: Diese neue Strategie »geht vom globalen Konzept des Wohlbefindens bei der Arbeit aus, wobei sie die Veränderungen in der Arbeitswelt und das Auftreten neuer, insbesondere psychosozialer, Risiken berücksichtigt, und zielt auf eine Verbesserung der Qualität der Arbeit ab, wofür eine gesunde und sichere Arbeitsumgebung eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt« (Kom (2002) 118 vom 11.03.2002). Herausragende Pioniere der salutogenetischen Perspektive waren der französische Soziologe Émile Durkheim und der russische Verhaltensforscher Peter
27 Strategie- und Konzeptwechsel
Kropotkin. Für Durkheim ist die Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv (Gruppe, Familie, Organisation usw.) und daraus resultierende gemeinsame Überzeugungen, Werte und Regeln zentrale Voraussetzung individuellen Wohlbefindens. Wer die Überzeugungen und Werte anderer teilt, erfährt »Sympathie, Wertschätzung und Zuneigung« seitens seiner Mitmenschen. »...jenes Gefühl der Stärkung, ... das ihn ... aufrichtet. Das Gefühl, das die Gesellschaft für ihn hat, erhöht das Gefühl, das er von sich selber hat.« (Durkheim 1984, S. 291). Für Kropotkin besitzen Menschen ein soziales Gen, ist »gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung ... ein Faktor von größer Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens und jeder Spezies... Es ist das Bewusstsein ... von der menschlichen Solidarität« (Kropotkin 1975, S. 16 ff.). Der israelische Soziologe Aaron Antonovsky hat die salutogenetische Perspektive in Kontrastierung zum Belastungsdiskurs entwickelt und deshalb in bewusster Abgrenzung zu all jenen, deren Erkenntnisinteresse pathogenetischen Fragestellungen folgt, den Begriff der »Salutogenese« geprägt (Antonovsky 1991). Er ging dabei von der Frage aus, warum es Menschen gelingt, auch unter extrem menschenfeindlichen Lebensbedingungen, z. B. denen eines KZs, ohne schwere psychische Traumen zu überleben. Seine Forschung richtete sich auf die Frage nach salutogenen Merkmalen psychischer Systeme, m.a.W. auf Merkmale von Personen, die es ihnen erlauben, ein seelisches Gleichgewicht zu erhalten unter Umständen, unter denen andere seelisch oder körperlich zusammenbrechen. Nach Antonovsky sind es insbesondere die folgenden drei Fähigkeiten, die dieses Phänomen der psychischen Robustheit oder auch das, wie er es nennt »Kohärenzempfinden« zu erklären erlauben: Die Fähigkeit, die Welt als sinnhaft, als verständlich und als beeinflussbar zu erleben. Für Antonovsky ist das Wohlbefinden des Menschen also eng verbunden mit der Befriedigung kognitiver und motivationaler Bedürfnisse sowie der Beeinflussbarkeit seiner Lebensumstände. Die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, wie dies Durkheim insbesondere mit Blick auf das Selbstwertgefühl betont hat, oder etwa die Annahme eines sozialen Gens, wie sie sich bereits bei Kropotkin herauslesen lässt, spielen bei ihm noch keine Rolle. Für deren hohe
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
gesundheitliche Bedeutung sprechen aber mittlerweile zahlreiche Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, von Evolutionspsychologen und Sozialepidemiologen. Emotionen wie Stolz und Freude, aber auch Scham, Wut, Angst oder Hilflosigkeit sind von grundlegender Bedeutung für die Steuerung psychischer, aber auch physischer Prozesse und damit für Verhalten und Gesundheit (Savage, Kanazawa 2004; Klein 2002; Fukuyama 1999). Menschen sind nicht nur zur Problemlösung z. B. zur Arbeitserledigung, sondern auch zur Regulierung der damit einhergehenden Gefühle auf das Engste angewiesen auf Verhaltensorientierung durch zwischenmenschliche Prozesse (Berkman/ Kawachi 2000; Badura/Kickbusch 1991). Dies alles spricht dafür, dass die Antonovsky’sche Trias personaler Merkmale ergänzt werden muss um die Dimension der Emotionen und die biologische Ausstattung der Menschen und um noch genauer zu identifizierende Merkmale sozialer Systeme. Als Zwischenfazit lässt sich feststellen: 1. Das psychische Befinden hängt ab von den kognitiven, motivationalen und emotionalen Voraussetzungen des Menschen, d.h. von personenspezifischen Fähigkeiten (Merkmale des psychischen Systems). 2. Das psychische Befinden hat Auswirkungen auf den Organismus (Merkmale des biologischen Systems) und umgekehrt. 3. Das psychische Befinden wird maßgeblich beeinflusst von der sozialen Umwelt (Merkmale des sozialen Systems) und wirkt auf sie zurück z.B. durch das Arbeitsverhalten auf das Betriebsergebnis. Dies wird mittlerweile auch von einer für den Bereich der betrieblichen Gesundheitspolitik maßgebenden Expertenorganisation, dem National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) anerkannt, das die »gesunde Organisation« zum Zielwert betrieblicher Gesundheitspolitik erklärt – also nicht mehr nur die Bekämpfung von arbeitsbedingten Risiken, Unfällen oder Erkrankungen. Das NIOSH bezeichnet Organisationen als »gesund«, deren Kultur, Klima und Prozesse gleichermaßen dem Unternehmensergebnis dienen wie der Gesundheit ihrer Mitglieder (Lowe 2003). Das vielleicht überzeugendste Argument zugunsten der salutogenetischen Perspektive liefert die Mortalitätsstatistik der zurückliegenden 150 Jahre in Westeuropa, den USA und Japan. Sie zeigt nahezu eine Verdopplung der Lebenserwartung – also einen in der Geschichte der Menschheit sicherlich einmaligen kollektiven Gewinn an Gesundheit. Salutogene Persönlichkeitsmerkmale können dies nicht erklären. Auch der Wandel der physischen Lebens- und Ar-
29 Strategie- und Konzeptwechsel
beitsbedingungen alleine kann dies nicht. Eine Analyse der dafür verantwortlichen gesellschaftlichen Entwicklungen unter salutogenetischer Perspektive steht noch aus. Die dazu hier vertretene These lautet: Neben einer besseren Kontrolle pathogener Faktoren hat zu dem großen Gewinn an Gesundheit im Verlauf der Industrialisierung maßgeblich eine mit dem Ausbau von Bildung, Sozialstaat, Demokratie und Marktwirtschaft verbundene Epidemie salutogener Einflüsse beigetragen. Die Mitglieder hoch industrialisierter Dienstleistungsgesellschaften erleben ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen im Durchschnitt heute offensichtlich sinnhafter, verständlicher und beeinflussbarer als die Mitglieder sich industrialisierender Feudalgesellschaften vor 150 Jahren dies taten. Salutogene Merkmale sozialer Systeme fördern salutogene psychische und biologische Einflüsse und Verhaltensweisen.
3. Gesunde Organisationen Menschen sind als soziale Wesen zum Erhalt ihres Wohlbefindens angewiesen auf Interaktion mit ihresgleichen und auf bestimmte Merkmale ihrer weiteren Lebenswelt. Pathogene Einflüsse der Lebens- und Arbeitsbedingungen sind gut erforscht. Für salutogene Einflüsse der Arbeitswelt gilt dies nicht. Die folgenden Überlegungen sollen Möglichkeiten einer systematischen Verknüpfung salutogenetischer und pathogenetischer Fragestellungen andenken. . Tabelle 1 gibt einen Überblick über Merkmale sozialer Systeme von Organisationen, deren Ausprägungen dazu dienen, reale Unternehmen einem Kontinuum zwischen »gesund« und »ungesund« zuzuordnen. Je häufiger sich eine Organisation dem »gesunden« Ende des Kontinuums der angeführten Merkmalsdimensionen zuordnen lässt, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der im nachfolgenden Kapitel skizzierten Organisationspathologien, und um so wahrscheinlicher ist eine hohe Prävalenz von positivem Befinden, Leistungsbereitschaft und hoher Produktivität unter den Beschäftigten (zur Evidenzbasis zu den einzelnen angeführten Organisationsdimensionen siehe Badura/Hehlmann 2003 und Pfaff et al. 2005). Ausmaß sozialer Ungleichheit: Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf Gesundheit und Lebensdauer sind wissenschaftlich hervorragend belegt. Bezogen auf Organisationen lässt sich aus dem vorliegenden sozialepidemiologischen Erkenntnisstand die folgende Hypothese ableiten: Je größer die sozialen Unterschiede im Bildungsniveau, im Ansehen und im Einkommen, umso
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Tabelle 1. Merkmale gesunder und ungesunder Organisationen
Strukturmerkmale gesunder und ungesunder Organisationen
Gesunde Organisation
Ungesunde Organisation
Ausmaß sozialer Ungleichheit (Bildung, Status, Einkommen)
moderat
hoch
Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen, Werten, Regeln (»Kultur«)
groß
gering
Transparenz von Entscheidungen und Prozessen für Organisationsmitglieder
hoch
gering
Beteiligungsmöglichkeiten an Willensbildung und Entscheidungsfindung (»Partizipation«)
häufig
selten
Qualität der Führung
hoch
gering
Stabilität und Qualität der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz
hoch
gering
Team-/abteilungsübergreifende Vernetzung der Organisationsmitglieder
hoch
gering
Vertrauen und Zusammenhalt unter Organisationsmitgliedern (»Klima«) (»Wir-Gefühl«)
stark
gering
Sinnstiftende Aufgabenstellung
stark verbreitet
gering verbreitet
Identifikation der Organisationsmitglieder mit Aufgaben und Organisationszielen (»commitment«)
hoch
gering
Handlungsspielräume bei der Arbeit
groß
gering
Fachliche Qualifikation der Organisationsmitglieder
hoch entwickelt und verbreitet
gering entwickelt und verbreitet
Soziale Kompetenz
hoch entwickelt und verbreitet
gering entwickelt und verbreitet
31 Strategie- und Konzeptwechsel
wahrscheinlicher sind Symptome einer ungesunden Organisation mit negativen Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit und Gesundheit Ihrer Mitglieder. Ein großer Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen, Werten und Regeln (»Kultur«) erleichtert die Zusammenarbeit im Team und die prozessorientierte, teamübergreifende Koordination des Organisationsgeschehens insgesamt. Er wirkt dadurch stress-, weil konfliktminimierend und ist ein erster zentraler Bestandteil des betrieblichen Sozialkapitals. Transparenz von Entscheidungen erleichtert den Organisationsmitgliedern die Versteh- und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und Vorgängen und wirkt dadurch salutogen. Das Gleiche gilt für Beteiligungsmöglichkeiten, weil sie erlauben, eigene Kompetenz einzubringen (was das Selbstwertgefühl stärkt) und Arbeitsbedingungen mit Blick auf die eigenen Bedürfnisse und Erwartungen mitzugestalten. Vertrauen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für problemarme, vertikale wie horizontale Kooperation. Je höher das Vertrauen in die Führung, umso stärker die innere Bindung an die Aufgabenstellung und die Ziele einer Organisation. Zu erwarten ist Vertrauen in die Führung nur bei hoher Führungsqualität, z. B. ausgeprägter Mitarbeiterorientierung und großer Transparenz von Entscheidungen auf allen Ebenen. Die sozialen Beziehungen des Menschen sind von zentraler Bedeutung für Gefühlsregulierung, Problemlösung, Lebensqualität und Lebenslänge. Stabilität und Anzahl als positiv erachteter Beziehungen bei der Arbeit sind daher ein zweiter Kernbestandteil des betrieblichen Sozialkapitals, das gepflegt und weiterentwickelt werden sollte wegen seiner grundlegenden Bedeutung für die Leistungsfähigkeit und das Befinden der Beschäftigten. Zu unterscheiden gilt es »bonding« Sozialkapital und »bridging« Sozialkapital, d. h. starke und schwache Bindungen mit ihren unterschiedlichen Funktionen. »Schwache« Bindungen, d.h. »bridging« Kapital bezieht sich auf Dichte und Reichweite der sozialen Vernetzung der Organisationsmitglieder und erhöhen ihr Problemlösungs- bzw. Leistungspotenzial. »Bonding« Kapital bezieht sich auf deren emotionale Bindung aneinander und erhöht ihr Potenzial zur Arbeits-Motivation und Gefühlsregulierung. Sinnhafte Aufgabenstellungen sind eine weitere grundlegende Voraussetzung gesunder Organisationen. Angesprochen ist hier der Grad an Übereinstimmung der inneren Bedürfnisse der Organisationsmitglieder mit den äußeren Arbeitsbedingungen und Aufgabenstellungen. Für die intrinsische Motivation ist das Sinnhafte des eigenen Tuns von grundlegender Bedeutung – auch zur Vermeidung von Hilflosigkeitsgefühlen.
32
A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Das Gleiche gilt für die Identifikation mit den Organisationszielen insgesamt. Neben dem Vertrauen in die Führung und der inneren Akzeptanz (Internalisierung) gemeinsamer Überzeugungen, Werte und Regeln (Unternehmenskultur) ist die Sinnhaftigkeit der Aufgabenstellung die wichtigste Voraussetzung für »Commitment« der Organisationsmitglieder. Handlungsspielräume bezeichnen die Freiheitsgrade bei der Gestaltung der Arbeitsinhalte und -bedingungen. Handlungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten erhöhen das Kompetenzgefühl der Beschäftigten und damit Selbstvertrauen und Zuversicht. Sie schaffen zugleich die Möglichkeit, dass Organisationsmitglieder ihre Fähigkeiten und Potentiale voll einbringen. Fachliche Qualifikation wirkt stresspräventiv. Soziale Kompetenz ist entscheidend zum Aufbau und zur Pflege sozialer Beziehungen auf allen Ebenen einer Organisation und zwischen diesen Ebenen. Fachliche und soziale Kompetenz sowie gute Gesundheit der Mitglieder bilden das Humankapital einer Organisation.
4. Organisationspathologien und Interventionskonzepte Die salutogenetische Perspektive eröffnet neue Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten, insbesondere auch mit Blick auf die Situation in der Arbeitswelt. Organisationen bewegen sich – wie bereits erwähnt – aus salutogenetischer Perspektive auf einem Kontinuum zwischen »gesund« und »krank«. »Krank« sind Organisationen, die zahlreiche gesundheitsschädigende Symptome zeigen wie z. B. verbreitetes Mobbing, Burnout oder innere Kündigung. Im Folgenden sollen diese drei Symptome »kranker« Organisationen beispielhaft charakterisiert werden, um dann eingehen zu können auf Interventionsmöglichkeiten, die eine weitgehende Vermeidung derartiger gesundheitsschädigender Symptome erwarten lassen. Mobbing bei der Arbeit ist dann gegeben, wenn einzelne oder Gruppen systematisch Feindseligkeit gegenüber Arbeitskollegen ausüben. Als Ursachen werden angenommen: 4 mangelhafte Arbeitsbedingungen (Rollenkonflikte, schlechtes Arbeitsklima) 4 Organisationsmängel (hohe Kontrolle und Fremdbestimmtheit, geringe Handlungsspielräume, mangelnde Transparenz) 4 Kommunikationsmängel (auch fehlende Streitkultur)
33 Strategie- und Konzeptwechsel
4 hohe Arbeitsanforderungen 4 Konfliktreiche Arbeitsatmosphäre 4 mangelhaftes Führungsverhalten insbesondere mangelhafte soziale Kompetenzen der Vorgesetzten und Betroffenen (zusammenfassend: Grande 2003). Burnout ist eine Folge chronisch belastender Arbeitsanforderungen. Davon
besonders betroffen sind Personen, die ihre berufliche Tätigkeit ursprünglich mit viel Engagement und Idealismus begonnen haben. Als Entstehungsbedingungen werden genannt: 4 hohe quantitative Arbeitsbelastungen 4 mangelhafte Kontrolle über Arbeitsabläufe und Arbeitsbedingungen 4 Mängel im Belohnungssystem (materielle und immaterielle Belohnungen) 4 mangelhafte soziale Integration, belastende soziale Beziehungen 4 Mängel in der Fairness bei der Zuteilung von Arbeitsaufgaben, bei der Beförderung usw. 4 Wertekonflikte vor allem zwischen den Arbeitsanforderungen und den persönlichen Wertvorstellungen der Beschäftigten (zusammenfassend: Leppin 2003). Innere Kündigung liegt dann vor, wenn Mitarbeiter ihr »inneres Vertragsver-
hältnis« zum Arbeitgeber oder einer Organisation »kündigen«, ohne dass dies ihr »äußeres Arbeitsverhalten« erkennbar beeinflusst. »Dienst nach Vorschrift« ist keine Arbeitsverweigerung, wohl aber eine Weigerung, die eigenen Leistungspotenziale voll in den Arbeitsalltag einzubringen. Die Ursachen dafür liegen u.a. in: 4 einer subjektiv empfundenen Nichterfüllung von Zusagen seitens der Organisation 4 unrealistisch hohe Anforderungen 4 einer dramatischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen 4 Glaubwürdigkeitsproblemen der Führung 4 einem Mangel an (immateriellen und materiellen) Anreizen (zusammenfassend: Richter 2003). Krankheitssymptome einer Organisation wie die angeführten treten nicht zufällig auf, sondern sind dort verstärkt aufzufinden, wo sich pathogene Organisationsmerkmale häufen.
34
A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Die Forschung zu diesen oder ähnlichen Organisationspathologien hat sich bisher auf die Klärung und Operationalisierung der jeweiligen Konstrukte und die Erfassung ihrer Konsequenzen für Arbeit und Gesundheit konzentriert. Auch die Ursachenforschung dazu hat Fortschritte gebracht. Die teilweise sehr weit getriebene Spezialisierung der Forschungsnetzwerke hat allerdings eine vergleichende Betrachtung der Ursachen unterschiedlicher Organisationspathologien behindert. Ihre Rückführung auf Strukturen und Prozesse einer Organisation ist eine notwendige Voraussetzung jedweder sachgerechter Interventionen. Hier besteht erheblicher Forschungsbedarf z. B. zur Frage, welche Konstellation von Organisationsmerkmalen welche Art von Organisationspathologien befördern oder verhüten helfen. Im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements sind wissenschaftliche Grundlagen Mittel zum Zweck der Intervention. Sie verweisen auf mögliche (Kausal-) Zusammenhänge und Ansatzpunkte zum praktischen Eingreifen in Strukturen und Prozesse einer Organisation. Welche Interventionen konkret ausgewählt werden, hängt ab von der vorausgegangenen Organisationsdiagnose, Ursachenanalyse und Zielsetzung – und diese wiederum von der Qualifikation und Berufserfahrung derer, in deren Händen Planung und Durchführung konkreter Projekte liegen. Unterscheiden lassen sich im konkreten Vorgehen drei Ansatzpunkte – bei der Person, ihrem Verhalten oder bei den Arbeits- und Organisationsbedingungen. Die Entwicklung betrieblicher Gesundheitspolitik in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten lässt sich wie folgt charakterisieren: 4 Konzeptionell: von der Pathogenese zur Salutogenese 4 In den Schwerpunkten: von der Person und ihrem Verhalten zu den Strukturen und Prozessen sozialer Systeme 4 Im Vorgehen: von singulären Maßnahmen/Projekten der betrieblichen Gesundheitsförderung zum Aufbau eines professionellen Gesundheitsmanagements (Münch et al. 2003). Salutogene Interventionen betrieblicher Gesundheitspolitik haben das psychische Befinden der Beschäftigten zum Ziel und setzen an bei den immateriellen Faktoren einer Organisation. Sie dienen dazu, Betriebe bei der Diagnose und Bekämpfung pathogener Bedingungen zu unterstützen und salutogene Potentiale zu mobilisieren, um sie dadurch auf den Weg zur gesunden Organisation zu bringen. Neben der weiter wichtigen Bekämpfung chronischer Belastungen liegt der Schwerpunkt salutogener Interventionen
35 Strategie- und Konzeptwechsel
bei Investitionen in das Human- und Sozialkapital einer Organisation, u.a. durch: 4 Qualifizierung der Führungskräfte (»Führerschein für Führungskräfte«), 4 Vertrauensbildende Maßnahmen (z.B. mehr Transparenz und Beteiligung), 4 Vernetzung der Beschäftigten (z.B. in Projekten oder Zirkeln), 4 Pflege gemeinsamer Überzeugungen, Werte, Regeln (z.B. durch Betriebsvereinbarungen), 4 Aufklärung zum Thema Gesundheit, ihrer Ursachen und Auswirkungen als Teil der Unternehmenskultur, 4 Qualifizierung der Gesundheitsexperten und Personalverantwortlichen zur salutogenetischen Sichtweise, zum Thema Organisationspathologien und zum Einsatz moderner Instrumente betrieblichen Gesundheitsmanagements (Moderationstechnik, Projektmanagement, Controlling usw.). Die folgende Tabelle fasst die notwendige Neuausrichtung betrieblicher Gesundheitspolitik zusammen (. Tabelle 2).
5. Forschungsbedarf In der Grundlagenforschung zum Thema Arbeit, Organisation und Gesundheit besteht hoher Bedarf insbesondere zu salutogenen Bedingungen sozialer, psychischer und biologischer Systeme und den hier bestehenden Wechselwirkungen. Zusätzlich zur disziplinären sollte zukünftig verstärkt auch interdisziplinäre Forschung gefördert werden. Erheblicher Bedarf besteht in der anwendungsnahen Forschung; z. B. zur Frage nach den Zusammenhängen zwischen Globalisierung und Strukturveränderungen in den Unternehmen und nach den innerbetrieblichen Zusammenhängen von Arbeit, Organisation und Gesundheit. Besonderer Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht schließlich beim Aufbau einer entsprechenden Dateninfrastruktur. Globalisierung, Alterung der Gesellschaft und neue Management- und Ratingverfahren zwingen Unternehmen zu einer möglichst validen Einschätzung ihrer Ist-Situation, nicht nur in den Bereichen Finanzen und Kunden, sondern auch mit Blick auf ihre Mitarbeiter. Betriebliches Gesundheitsmanagement trägt bei zur Sichtbarmachung, Messung und Beeinflussung der das soziale Systeme einer Organisation bestimmenden immateriellen Unternehmensgrößen. Die dabei zusammengeführten
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Tabelle 2. Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik
Arbeitsschutz während der Industrialisierung
Gesundheitsmanagement in der hoch industrialisierten Dienstleistungswirtschaft
Fokus
pathogenetisch
salutogenetisch
Verständnis von Arbeit
Arbeit ist ein physisches Geschehen
Arbeit ist ein physisches, psychisches und soziales Geschehen
Basisannahme
Arbeit macht krank
Gesundheit fördert Arbeit
Zentrale Problemstellung
Arbeitsbedingungen, insbesondere: Mensch-MaschineSchnittstelle
Organisationsbedingungen, insbesondere: Mensch-Mensch-Schnittstelle
Wissenschaftliche Grundlagen
naturwissenschaftlichtechnisch
interdisziplinär, sozial- und gesundheitswissenschaftlich
Bedarfseinschätzung/ Evaluation
erfahrungsbasiert
datenbasiert
Zielwert
Vermeidung/Reduzierung von Unfällen, Berufskrankheiten, Identifizierung von Risikogruppen
Förderung von (Wohl-)Befinden/Gesundheit und Sozial kapital; gesunde Arbeit in gesunden Organisationen
Vorgehensweisen und Zuständigkeiten
Regeln, Kontrollen, Experten
Anreize, BGM-System; Führung, Experten, Mitarbeiter
Qualitätsentwicklung
Optimierung der Strukturqualität
Optimierung der Prozess-, Ergebnis-, Systemqualität
oder neu erzeugten Daten schaffen eine Infrastruktur von bleibendem Wert, für die Führung ebenso wie für die betrieblichen Gesundheitsexperten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Infrastruktur stellt Transparenz her, wo sie bisher nicht bestand, lenkt den Blick auf Zusammenhänge, die so bisher nicht gesehen oder ausreichend beachtet wurden, und sie erlaubt die Wirksamkeitsprüfung einzelner Maßnahmen und Projekte im betrieblichen Gesundheits-
37 Strategie- und Konzeptwechsel
management und darüber hinaus in der gesamten Personalwirtschaft. Gesundheitsziele werden »konkurrenzfähig« mit anderen betrieblichen Zielen. Das betriebliche Gesundheitsmanagement trägt dadurch dazu bei, das Leistungspotenzial eines Unternehmens sehr viel exakter zu erfassen, als dies bisher möglich war. Bei der Entwicklung dieser Dateninfrastruktur sollte eine strenge Systematik verfolgt werden mit Blick auf die: 4 vertretene Perspektive (salutogenetisch vs. pathogenetisch) 4 Unterscheidung in »Treiber« und »Ergebnisse« 4 prognostische Relevanz der einzelnen Kennzahlen (»Früh-« vs. »Spätindikatoren«) 4 Herkunft der Daten (»objektiv« vs. »subjektiv«). Frühindikatoren, z. B. Anzeichen für ein sinkendes Sozialkapital, dienen in der Sprache des Controlling dazu, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt Aussagen über den zu erwartenden Grad der Zielerreichung eines Prozesses machen zu können, um präventiv korrigierend einzugreifen, wenn sich dadurch höhere Kosten einer zeitlich später angesetzten Korrektur vermeiden lassen. Spätindikatoren wie AU-Daten oder Fluktuationsraten dienen der Aufmerksamkeitssteuerung und sind Anlass, »upstream«, d.h. in Rückverfolgung der Wirkungsketten nach Ursachen zu suchen. Die folgende . Abbildung 2 ist ein Versuch, BGM-relevante Unternehmensgrößen in »Treiber« und »Ergebnisse« zu unterteilen und auf Möglichkeiten ihrer Objektivierung hinzuweisen. Folgende Daten kommen für die Entwicklung einer betrieblichen Dateninfrastruktur in Frage: 1. Daten, die im Dialog mit den Beschäftigten gewonnen werden (z. B. im Rahmen eines Gesundheitszirkels, einer Gefährdungsanalyse, eines Mitarbeitergesprächsprogramms oder im Rahmen von Fokusgruppen und Workshops); 2. Beobachtungsdaten (z. B. aus der Arbeitsplatzbegehung oder einer Arbeitssystemanalyse); 3. Routinedaten der Sozialversicherung (z. B. AU-Daten, Unfallstatistiken, Frühberentungsdaten); 4. Daten aus medizinischen Untersuchungen (z. B. Grad der Behinderung, Umfang und Schwere der Risikofaktoren); 5. Daten aus Mitarbeiterbefragungen und Experteninterviews (z. B. Befragungen zur Arbeitssituation, Arbeitszufriedenheit, Wohlbefinden und Gesundheit, zum Arbeitsverhalten und zu Führung, Kultur und Klima einer Organisation);
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Abb. 2
39 Strategie- und Konzeptwechsel
6. Daten aus der Personalabteilung (z. B. Daten aus Beurteilungssystemen oder Daten zum Arbeitsunfähigkeitsgeschehen), 7. betriebswirtschaftliche Daten über Kosten, Produktivität und Qualität einzelner Unternehmensteile (vgl. Pfaff et al. 2005). Der Konsens unter den relevanten Akteuren für einen Strategie- und Konzeptwechsel in der betrieblichen Gesundheitspolitik nimmt zu. Dieser Prozess sollte durch Forschung und die Entwicklung innovativer Instrumente und Vorgehensweisen beschleunigt werden.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
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41 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
Perspektiven der Prävention in Deutschland aus der Sicht der GKV Hans-Jürgen Ahrens*
Abstract Trotz des Scheiterns des Präventionsgesetzes halten die gesetzlichen Krankenkassen an Prävention und Gesundheitsförderung fest. Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen das Gesundheitswesen in Deutschland steht, ist eine Stärkung der Prävention unverzichtbar. Seit der Gesundheitsreform 2000 konzentrieren sich alle gesetzlichen Krankenkassen bei der Durchführung und Finanzierung von Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention auf gesundheitlich wirksame Maßnahmen nach einheitlichen Qualitätsstandards und machen diese regelmäßig transparent. Trotz aller nachweislichen Erfolge der GKV und anderer Akteure fehlt der Prävention in Deutschland die Breitenwirkung. Sie erfordert Investitionen, die nicht von der GKV allein geschultert werden können. Viele zielführende Maßnahmen liegen zudem außerhalb ihres Verantwortungsbereichs. Von daher muss Prävention und Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angegangen werden, die weit über das Gesundheitswesen hinausgeht. Für eine spürbare Absenkung des Krankheitsrisikos und der Leistungsausgaben der GKV muss ebenen- und ressortübergreifend zusammengearbeitet werden. Vor allem müssen Bund, Länder und Kommunen ihre Verantwortung für Gesundheit wahrnehmen und den notwendigen Paradigmenwechsel auch durch eigene Investitionen voranbringen. Schlüsselworte: Demografische Entwicklung, Finanzierbarkeit der GKV, Prävention als gesellschaftliche Aufgabe, Notwendiger Paradigmenwechsel, Öffentliche Investitionen statt Verschiebebahnhof
* e-mail:
[email protected]
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
GKV hält an Prävention fest Die GKV bekennt sich zum hohen Stellenwert der Prävention. Auch nach dem Scheitern des Präventionsgesetzes sind und bleiben Prävention und Gesundheitsförderung Leistungsschwerpunkte der GKV. Gerade für die AOK als Gesundheitskasse sind Prävention und Gesundheitsförderung Philosophie, Markenzeichen und erfolgreiches Aktionsfeld. Im Vordergrund steht für uns die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Versicherten. Nur aus eigenem Antrieb heraus können Menschen ihr Verhalten auf Dauer verändern. Gesundheitsbewusstes Verhalten des einzelnen führt zur Verbesserung der eigenen Lebensqualität und ist zugleich ein unverzichtbarer Beitrag zur Reduktion chronischer Volkskrankheiten und damit zur Kostensenkung im Gesundheitswesen. Die GKV will aber auch Träger von Lebenswelten, wie z.B. Schulen, Kindergärten und Betriebe befähigen, ihre Zuständigkeit und Verantwortung wahrzunehmen. Sie sind mit verantwortlich für Rahmenbedingungen, die häufig den Versicherten ein eigenverantwortliches gesundheitsgerechtes Verhalten erst ermöglichen. Mit gutem Grund ist Prävention seit einigen Jahren zum Schwerpunktthema der politischen Diskussion geworden und mit gutem Grund wird nicht nur von den gesetzlichen Krankenkassen, sondern von allen gesellschaftlichen Gruppen unisono eine spürbare Stärkung der Prävention gefordert.
Notwendig: Stärkung der Prävention – über das Gesundheitswesen hinaus Das Gesundheitswesen in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Die demografische Entwicklung mit einer schrumpfenden Gesamtbevölkerung und einem immer größer werdenden Anteil älterer Menschen, aber auch Umweltbelastungen führen zu einer Zunahme der Krankheitslast in der Bevölkerung, insbesondere zu einem Anstieg chronischer Erkrankungen. Chronische Erkrankungen beeinträchtigen nicht nur erheblich die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen, sie führen auch zu steigenden Leistungsausgaben bei Krankenkassen, Pflege- und Rentenversicherung. Beispielsweise ist jeder fünfte (vorzeitige) Renteneintritt in Deutschland einer verminderten Erwerbsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen geschuldet – i.d.R. einer chronischen Erkrankung (1). Zugleich bedingt die prekäre soziale
43 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
Entwicklung mit zunehmender Arbeitslosigkeit rückläufige Einnahmen bei den Krankenkassen. Wachsende Ausgaben bei sinkenden Einnahmen haben steigende Beitragssätze zur Folge und konterkarieren das politische Ziel, die Lohnnebenkosten in Deutschland zu senken. Ohne wirksame Gegensteuerung ist die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesamten Sozialversicherung gefährdet. Diese bedrohliche Situation erfordert einen nachdrücklichen Paradigmenwechsel in Deutschland vom bisher kurativ orientierten Gesundheitswesen hin zu einer spürbaren und nachhaltigen Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung. Um jedoch eine statistisch durchschlagende Absenkung des Krankheitsrisikos und – damit verbunden – der Leistungsausgaben zu erreichen, müssen Prävention und Gesundheitsförderung auf allen Ebenen und über alle Ressortgrenzen hinweg flächendeckend gestärkt werden. Dazu sind Investitionen erforderlich, die weder von den Sozialversicherungsträgern und schon gar nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung allein geschultert werden können. Viele zielführende Maßnahmen liegen ohnehin außerhalb ihres Verantwortungsbereichs. Vielmehr erfordern breitenwirksame Prävention und Gesundheitsförderung einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Diese Forderung wird von allen Akteuren in Deutschland immer wieder erhoben, seit die Arbeitsgruppe Prävention des Runden Tisches der Gesundheitsministerin im Jahr 2001 erstmals zusammenkam. Für diesen gesamtgesellschaftlichen Ansatz müssen vor allem Bund, Länder und Kommunen ihre Verantwortung für Gesundheit wahrnehmen und durch zusätzliche eigene Investitionen für die notwendigen Ressourcen sorgen.
GKV-Engagement aus originärem Interesse Ungeachtet dessen engagieren sich die gesetzlichen Krankenkassen seit langem für das Verhüten von Krankheiten und die Stärkung gesundheitsförderlicher Potenziale ihrer Versicherten. Die AOK hat bereits 1977 mit »Aktion Gesundheit« als erste Krankenkasse ein umfassendes Präventionsmodell durchgeführt, das mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde (2). Mit Prävention und Gesundheitsförderung verfolgen wir vor allem das Ziel, langfristig die Morbiditätsstruktur unserer Versicherten zu verbessern, ihre Lebensqualität zu steigern und zugleich unsere Leistungsausgaben zu senken. Für die künftige Finanzierbarkeit der solidarischen Krankenversicherung und insbesondere für unsere
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
AOK-Gemeinschaft ist diese Strategie unverzichtbar. Denn gerade für die AOK sind die ungleich verteilten Krankheitslasten in unserer Gesellschaft ein besonderes Problem: Die Struktur unserer Versicherten ist durch einen vergleichsweise hohen Anteil an älteren Versicherten mit erhöhten Krankheitsrisiken und überdurchschnittlich vielen chronisch Erkrankten charakterisiert. Die AOK hat als »Versorgerkasse« eine optimale Behandlung, aber auch qualifizierte Präventionsangebote für diese Zielgruppe im Blick. Prävention ist für uns deshalb schon seit langem Schwerpunktthema. Bundesweit halten die gesetzlichen Krankenkassen für ihre Versicherten wissenschaftlich fundierte Angebote zur individuellen Verhaltensprävention, zur betrieblichen Gesundheitsförderung und zur Gesundheitsförderung in Kindergärten und Schulen vor. Bedarfsgerechte AOK-Angebote gibt es für alle Altersgruppen. Auch bereits erkrankte Versicherte unterstützen wir durch geeignete behandlungsbegleitende Präventionsmaßnahmen, damit sie ihre Erkrankung besser bewältigen und Verschlimmerungen verhüten können. Beispielsweise ergänzen wir mit solchen speziellen Präventionsleistungen die Disease-Management-Programme der AOK zum Diabetes mellitus und zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die besondere Intensität des AOK-Engagements lässt sich belegen: Unser Anteil an allen dokumentierten GKV-Maßnahmen (3) der Primärprävention ist überrepräsentativ (. Abbildung 1). Unsere Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung lagen im Jahr 2003 mit 2,10 € pro Versicherten deutlich über dem Durchschnitt der GKV (1,62 €); sie liegen auch im Jahr 2004 mit 2,15 € pro Versicherter weiterhin über dem GKV-Durchschnitt (2,03 €) (. Abbildung 2). Für die GKV ist es selbstverständlich, im gesamten Präventionsspektrum ausschließlich qualitätsgesicherte und effiziente Angebote zur Verfügung zu stellen. Seit der Gesundheitsreform 2000 konzentrieren sich alle gesetzlichen Krankenkassen bei der Durchführung und Finanzierung von Maßnahmen auf Handlungsfelder, die von Wissenschaftlern als gesundheitlich wirksam anerkannt werden. Sie sind in einem gemeinsam herausgegebenen Leitfaden festgeschrieben (4). In Zusammenarbeit mit namhaften Experten hat die GKV einheitliche und verbindliche Qualitätsstandards für Präventionsangebote und Anbieter entwickelt, an denen sich u.a. alle AOK-Angebote orientieren. Das gesamte Präventionsgeschehen wird in einer jährlich erscheinenden GKV-Dokumentation transparent gemacht. Darüber hinaus wird derzeit im Auftrag der Krankenkassen von externen Experten ein einheitliches In-
Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV 45
. Abb. 1. GKV-Engagement im Bereich Primärprävention nach § 20 SGB V
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
. Abb. 2. Ausgaben für Prävention pro Versichertem in 2003 und 2004
strumentarium für die permanente Evaluation aller GKV-Präventionsangebote entwickelt. Das gleichbleibend hohe Niveau unserer Präventionsangebote und unsere leistungsfähigen Strukturen zur Prävention und Gesundheitsförderung, die bundesweit innerhalb der AOK entwickelt wurden, haben sich gelohnt: inzwischen wird uns nicht nur von unseren eigenen Versicherten, sondern auch von der Gesamtbevölkerung eine hohe Kompetenz im Handlungsfeld Prävention zugesprochen. (Dies belegt z.B. der Imagemonitor des AOK-Bundesverbandes.)
Prävention ist nachweislich erfolgreich Unser originäres Interesse an Prävention und Gesundheitsförderung hat inzwischen zu beachtlichen Erfolgen geführt. In 2003 haben insgesamt über 216.000 Versicherte an den vielfältigen AOK-Kursen zum gesundheitsförderlichen Verhalten teilgenommen. Um den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Versicherten gerecht zu werden, bieten wir auch zwei internetgestützte Programme an, nämlich »Abnehmen mit Genuss« und »Laufend in Form«. Erhebungen
47 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
belegen, dass mit verhaltensorientierten Kursen tatsächlich Änderungen bei wichtigen Lebensstil- und Risikofaktoren sowie signifikante Verbesserungen des allgemeinen Gesundheitsbefindens erreicht werden können. Mit Kursen zur gezielten Sturzprophylaxe, die wir speziell unseren älteren Versicherten anbieten, lassen sich ca. 35 % der Sturzunfälle vermeiden, die zu Frakturen führen. Die dadurch eingesparten Behandlungskosten werden pro Fall auf 10–15.000 € geschätzt. Durch dieses Angebot konnte allein die AOK Baden-Württemberg, die als erste eine wissenschaftlich begleitete Pilotstudie zur Sturzprophylaxe durchgeführt hat, ihre Leistungsausgaben um 500.000 € senken. Uns geht es aber nicht nur um Bewusstseinswandel und mehr Selbstverantwortung des Einzelnen, sondern auch um gesellschaftliche Verantwortung für gesunde Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Seit über 25 Jahren beraten wir Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größen über eine unternehmensverträgliche betriebliche Gesundheitsförderung – mit Erfolg! Beispielsweise hat der AOK-Service Gesunde Unternehmen bislang im Vergleich zu den anderen Kassenarten bundesweit am meisten betriebliche Gesundheitsmanagementprozesse initiiert bzw. unterstützt. Für die GKV-Dokumentation (. Abbildung 1) hat allein die AOK im Jahr 2003 rund 1.200 Partnerbetriebe gemeldet, die einen Gesundheitsförderungsprozess im eigenen Unternehmen etabliert haben. Nach einer Hochrechnung wurden in diesen Betrieben insgesamt rund 350.000 Beschäftigte erreicht. Nachweislich können bei qualitativ anspruchsvollem und prozessorientiertem betrieblichen Gesundheitsmanagement die Beschäftigten ihren Gesundheitszustand nennenswert verbessern und die Unternehmen ganz erhebliche Krankenstandsrückgänge und Verbesserungen ihrer Betriebsergebnisse verzeichnen. Dies haben beispielsweise 130 »best-practise«-Unternehmen aus dem gesamten Bundesgebiet, die in der Regel mehrere Jahre mit der AOK zusammengearbeitet haben, eindrucksvoll bestätigt (5). Besonders wichtig ist die Kombination von gesundem Verhalten und gesundheitsgerechten Verhältnissen bei Kindern und Jugendlichen. Deshalb sind die Aktivitäten der AOK insbesondere in Kindergärten und Schulen seit 2000 laufend angewachsen. Im Jahr 2003 war die AOK in 262 längerfristig angelegten Projekten engagiert, zumeist im Schulbereich. Einzelprojekte umfassten teilweise bis zu 200 gesundheitsförderlich aktive Schulen. Wie notwendig die Stärkung der Gesundheitsförderung an Schulen ist, zeigen Daten einer Studie, die der AOK-Bundesverband gemeinsam mit dem
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Deutschen Sportbund und dem Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD) bei über 30.000 Schülerinnen und Schülern gesammelt hat (6): Danach ist allein in den letzten 10 Jahren ein Rückgang der Fitness bei 10– 14-Jährigen um mehr als 20 % zu beobachten. Unfallforscher stellen heute schon fest, dass solche Bewegungsdefizite das Verletzungsrisiko erhöhen. Auch Übergewicht steht in direktem Zusammenhang mit Bewegungsarmut. Krankheiten in Folge von Bewegungsmangel, u.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verursachen heute schon jährliche Kosten von über 30 Mrd. € und werden rasant zunehmen, wenn es uns nicht gelingt, rechtzeitig und erfolgreich zu intervenieren. Gleichwohl wäre es möglich, diese fatale Entwicklung zu stoppen. Schon eine ausreichende Zahl der wöchentlichen Schulsportstunden (drei statt zwei) wirkt sich nachweislich positiv auf die Fitness der Kinder und Jugendlichen aus. Diese gesundheitsförderliche Maßnahme liegt grundsätzlich im Verantwortungsbereich der Schulträger. Prävention ist für Gesunde, aber auch für erkrankte Versicherte sinnvoll. Das zeigen unsere Erfahrungen im Bereich der behandlungsbegleitenden Präventionsangebote (nach § 43 SGB V). Mit spezifischen Präventionsmaßnahmen wollen wir beim Erkrankten – flankierend zur ärztlichen Behandlung – eine gezielte, auf das jeweilige Krankheitsbild abgestimmte Lebensstiländerung bewirken. In diesem Präventionsbereich können wir inzwischen mit mehreren wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten einen Know-howVorsprung vorweisen. Erfreulicher Weise lassen sich erhebliche Einsparungen bei den Behandlungskosten erzielen. Trotz vergleichsweise hoher Programmkosten kann in allen Modellprojekten, in denen die Behandlungskosten nachverfolgt wurden, ein positiver Return on Investment nachgewiesen werden. Generell ergeben alle Modellprojekte signifikante Verbesserungen medizinischer Parameter, die längerfristig eine Senkung der Morbidität erwarten lassen. Über dieses breite Angebotsspektrum hinaus sind wir – wie auch andere Krankenkassen – in diversen bundesweiten und regionalen Netzwerken aktiv. Außerdem arbeiten wir in zahlreichen Gemeinschaftsprojekten z.B. zur Stärkung der Gesundheitsförderung in Schulen und Betrieben mit unterschiedlichen Akteuren wie Ärzten, anderen Krankenkassen, Unfallversicherungsträgern, Landesarbeitsgemeinschaften für Gesundheit, Kultus- und Landessozialministerien zusammen, um wichtige gesundheitspolitische Ziele zu unterstützen bzw. neue Erkenntnisse zu gewinnen.
49 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
Messbarer Erfolg braucht Breitenwirksamkeit Trotz des konsequenten und erfolgreichen Engagements der AOK und vieler anderer Akteure sind Prävention und Gesundheitsförderung – quantitativ betrachtet – nicht viel mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Auch wenn alle gesetzlichen Krankenkassen zusammen für das Jahr 2003 erfreulicher Weise in rund 2.200 Betrieben laufende Gesundheitsförderungsprozesse ausweisen können, so ist das – gemessen an den insgesamt rund 3 Millionen steuerpflichtigen Betrieben in Deutschland – alles andere als flächendeckend. Und auch die rund 543.000 gesetzlich Krankenversicherten, die von den individuellen Kursangeboten zur Verhaltensprävention aller gesetzlichen Krankenkassen Gebrauch gemacht haben – sind in Anbetracht von über 70 Millionen Versicherten zahlenmäßig nicht zufriedenstellend. Damit fehlt der Prävention in Deutschland die erforderliche Breitenwirkung, um z.B. auch statistisch durchschlagende Erfolge bei der Senkung von Leistungsausgaben nachweisen zu können. Von daher begrüßt es die GKV grundsätzlich, dass Anfang des Jahres nach langem Ringen ein Präventionsgesetz auf den Weg gebracht wurde mit dem Ziel, Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland nachhaltig zu stärken. Dabei müssen bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt sein, um breiten Kreisen der Bevölkerung ausreichende Kompetenzen zum eigenverantwortlichen Gesundheitsverhalten zu vermitteln und bundesweit gesundheitsgerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Insbesondere müssen sich alle Ebenen und Ressorts finanziell und organisatorisch angemessen einbringen. Das fordern alle Akteure, nicht nur die gesetzlichen Krankenkassen. Vor allem gesundheitsgerechte Lebensbedingungen, die oft erst die Voraussetzungen für eigenverantwortliches individuelles Gesundheitsverhalten schaffen, müssen als Gemeinschaftsaufgabe angegangen und finanziert werden, z.B. auch von Kultusministerien, Arbeitgebern, Bund, Ländern, Kommunen und anderen verantwortlichen Organisationen. Nur dann lassen sich sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen in Deutschland nennenswert vermindern. Nur dann wird sich die Situation derer nachhaltig verbessern, die durch individuelle Präventionsangebote bislang kaum erreicht werden konnten. Soziale Gerechtigkeit braucht das Zusammenwirken vieler. Sie kann und darf nicht der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Sozialversicherung alleine aufgebürdet werden.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Gescheitertes Präventionsgesetz: Verschiebebahnhof statt Paradigmenwechsel Der am 27. Mai 2005 vom Bundesrat an den Vermittlungsausschuss verwiesene vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention wäre unseren Vorstellungen vom gesamtgesellschaftlichen Ansatz nicht gerecht geworden. Denn trotz wiederholter Kritik seitens aller Sozialversicherungsträger hätte er ausschließlich die gesetzlichen Krankenkassen und die anderen Sozialversicherungsträger (ausgenommen Bundesagentur für Arbeit) zur Bereitstellung konkret bezifferter Finanzvolumina verpflichtet. Als größtes Manko gilt aus Sicht der GKV, dass der Gesetzentwurf keine klare Verpflichtung für Bund, Länder und Gemeinden enthielt. Selbst die steuerlichen Anreize für Betriebe, die im Entwurf des Präventionsgesetzes ursprünglich vorgesehen waren, um künftig das eigenverantwortliche Engagement von Unternehmen für BGF nachdrücklich zu verstärken, fielen im Verlauf der Diskussion offensichtlich dem Rotstift zum Opfer. Laut Gesetzentwurf wäre das für Prävention verfügbare Gesamtvolumen der GKV auch künftig unverändert auf dem heutigen Niveau von 180 Mio. € pro Jahr geblieben. Zwar hätten sich die jährlich verfügbaren Finanzmittel durch die Einbeziehung der Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung in die Primärprävention um jährlich zusätzliche 70 Mio. € auf insgesamt 250 Mio. € erhöht. Und sicherlich hätten die Bestimmungen des Gesetzes dafür gesorgt, dass alle Krankenkassen das gesetzlich vorgesehene Finanzvolumen noch in 2005 voll ausschöpfen, d.h. auch jene Kassen, die derzeit noch darunter liegen, ihre schrittweise Annäherung an das Soll beschleunigt erreicht hätten. Allerdings hätte das alles noch nicht die Prävention vor Ort nennenswert vorangebracht! Denn zugleich wären jedes Jahr von allen Sozialversicherungsträgern insgesamt 50 Mio. € für die geplante Präventionsstiftung auf Bundesebene abgeflossen. Diese Mittel wären den Versicherten nicht unmittelbar zugute gekommen. Sie waren vornehmlich für Aufgaben vorgesehen, die zu den originären Aufgaben des Bundes zählen, wie z.B. bundesweite Aufklärungskampagnen und regelmäßige Berichterstattungen. Und weitere 100 Mio. € hätten künftig alljährlich von den Sozialversicherungsträgern auf Länderebene für gemeinsame Projekte zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten zur Verfügung gestellt werden müssen – mit gleichermaßen positiven wie negativen Konsequenzen: So wäre durch
51 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
diese Verpflichtung ein deutlicher Schub für Prävention in nichtbetrieblichen Lebenswelten (z.B. Kindergärten und Schulen) zu erwarten gewesen. Das hätte gerade die Erreichbarkeit von sozial Benachteiligten erheblich verbessert. Wir haben diesen beabsichtigten Effekt von Anfang an immer ausdrücklich begrüßt. Allerdings wäre diese Verbesserung voll zu Lasten der individuellen Verhaltensprävention und der eigenständigen betrieblichen Gesundheitsförderung der GKV erfolgt. Denn die 70 Mio. € für nichtbetriebliche Lebenswelten, die allein auf die GKV entfallen wären, wären – wie schon die 35 Mio. € der GKV für die Bundesstiftung Prävention – von den 180 Mio. € Gesamtbudget abgegangen. Den Krankenkassen wären dadurch anstelle der heutigen 2,70 € pro Versicherten im Jahr künftig nur noch 1,08 € pro Versicherten für eigenständige individuelle Primärprävention und betriebliche Gesundheitsförderung verblieben. In Folge dieser Reduktion auf 40% des bislang verfügbaren Finanzvolumens hätten die Krankenkassen ihre Angebote erheblich einschränken müssen. Unter anderem hätte dies bei Krankenkassen wie der AOK zur Freisetzung eigener erfahrener und qualifizierter Fachkräfte geführt. Dieser Effekt war politisch sicherlich nicht gewollt! Statt zu einer spürbaren Stärkung der Prävention wäre es wieder einmal lediglich zu einem Verschiebebahnhof gekommen!1 Ein derzeit nicht zu beziffernder Teil der Finanzmittel wäre zudem für bürokratische Strukturen auf Bundesebene (z.B. für die diversen Gremien der Stiftung Prävention) und auf Landesebene (zur Vergabe der Fördermittel) angefallen. Zu befürchten stand, dass aus dem Länderbudget der Sozialversicherungsträger künftig auch solche Präventionsleistungen bezahlt worden wären, die bislang aus regionalen öffentlichen Mitteln finanziert werden, wie z.B. Suchtberatung. Ein Abwälzen originärer öffentlicher Aufgaben auf die sozialen Präventionsträger ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich (7). In solchen Fällen wäre sogar ein Rückgang der Prävention in Deutschland zu verzeichnen gewesen. Insofern hätte das Gesetz nach dem vorliegenden Entwurf keineswegs automatisch zu einer Stärkung der Prävention geführt. Vielmehr wäre dieses Ziel
1
Ähnlich stünde auch bei der Rentenversicherung zu befürchten, dass ihr erstmals gesetzlich vorgesehenes Engagement im Bereich der Primärprävention nur auf Kosten der bisherigen Rehabilitationsmaßnahmen hätte umgesetzt werden können.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
entscheidend davon abhängig gewesen, ob Bund und Länder aus Überzeugung ihre Verantwortung für Gesundheit wahrgenommen und durch eigene Investitionen die für breitenwirksame Prävention notwendigen Ressourcen – auch außerhalb des Gesundheitswesens – bereitgestellt hätten.
Unsere Forderungen für breitenwirksame Prävention Ein echter Mehrwert für die Prävention wird sich aus unserer Sicht nur dann ergeben, 4 wenn Bund, Länder und Kommunen jegliche Zweckentfremdung von Beitragsmitteln der Sozialversicherung (z.B. für bundesweite Fernsehspots, für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, für Schulhofsanierungen oder Lehrerfortbildungen) vermeiden; 4 wenn die Länder nicht in die Finanzhoheit der sozialen Präventionsträger eingreifen, sondern finanzwirksame Entscheidungen den sozialen Präventionsträgern überlassen; 4 wenn Länder und Kommunen in ihrer Funktion als Träger von Lebenswelten einen angemessenen Eigenanteil beisteuern, um dort nachhaltige Gesundheitsförderungsprozesse anzustoßen; 4 wenn unnötige bürokratische Strukturen soweit wie möglich vermieden werden; 4 wenn eine sachgerechte Aufgabenverteilung auf örtlicher, regionaler und Bundesebene sichergestellt wird; 4 wenn die qualifizierten Präventionsfachkräfte der Krankenkassen ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterhin voll einsetzen können und vor allem, 4 wenn Bund und Länder auch außerhalb des Gesundheitswesens ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen und wichtige präventive Aufgaben umsetzen, z.B. in der Bildungs-, Arbeits-, Umwelt- und Verkehrspolitik, im Verbraucherschutz etc. Prävention ist keine Aufgabe, die der Staat einzelnen Akteuren zuweisen und dann abhaken kann. Prävention ist ein gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozess hin zu mehr Eigenverantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit. Aber zugleich muss dieser Veränderungsprozess auch alle Organisationen, Ebenen und Ressorts erfassen, die für Lebens- und Arbeitsbedingungen der einzel-
53 Perspektiven der Prävention aus der Sicht der GKV
nen mit verantwortlich sind, weil sie durch geeignete Rahmenbedingungen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gesundheitliche Risiken und Belastungen abbauen sowie Gesundheitspotenziale stärken können. An einer solchen Aufgabe müssen sich alle gesellschaftlichen Kräfte aus Überzeugung beteiligen, sonst bleibt Prävention letztlich eine Alibiveranstaltung einzelner Akteure ohne durchschlagenden Effekt.
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55 Hausärztliche Prävention
Hausärztliche Prävention Heinz-Harald Abholz*
Abstract
Es wird eine Differenzierung zwischen Prävention in der Hausarztpraxis und Hausärztlicher Prävention vorgenommen. Erstere beinhaltet Prävention, die in der Hausarztpraxis betrieben wird, aber auch an anderen Orten durchgeführt werden kann und wird. Dem gegenüber wird Hausärztliche Prävention dargestellt als eine Prävention mittels individualisierter Gesundheitsberatung und Behandlung im Sinne der Sekundär- oder Primärprävention sowie der Gesundheitsförderung. Individualisierter Prävention nutzt einerseits die Schwächen/Risiken und andererseits die Stärken (salutogene Potenzen) des Patienten. Zudem wird die Kontinuität und Breite der Zuständigkeit einer Hausarztpraxis und die meist gewachsene stabile Arzt-Patienten-Beziehung eingesetzt, um bei »günstigsten Gelegenheiten« sowie ausreichender Motivation auf Seiten des Patienten präventiv tätig zu werden. Eine weitere Besonderheit stellt die Quartiärprävention dar, die eine Verhinderung von Überversorgung unter Nutzung der sehr individuellen Gegebenheiten auf Seiten des Patienten beinhaltet. Der Ansatz von Hausärztlicher Prävention beinhaltet nicht ein gesondertes Programm, sondern ist integraler und häufig schwer von normaler Versorgung zu trennender Bestand hausärztlicher Arbeit. Es werden Perspektiven und Probleme dieser präventiven Arbeit aufgezeigt. Schlüsselworte: Prävention, Primärärztliche Versorgung, Arzt-Patienten-
verhältnis, Salutogenese Es wird vorgeschlagen, »Hausärztliche Prävention« von »Prävention in der Hausarztpraxis« begrifflich zu unterscheiden. Dabei meint letzteres die Anwendung medizinischer Prävention in der Hausarztpraxis; dies in einer Weise wie Prävention auch ansonsten an jeder anderen Stelle des Versorgungssystems betrieben wird. * e-mail:
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Ersteres hingegen meint die Verbindung spezifisch hausärztlicher Arbeitsweise mit dem Inhalt von Prävention, einschließlich der Gesundheitsförderung.
1. Prävention in der Hausarztpraxis Prävention in der Hausarztpraxis beinhaltet die folgenden Bereiche: 1. Impfungen 2. Früherkennungsuntersuchungen 3. Gesundheitsberatung, Diätberatung etc. 4. Sekundärprävention bei Risiko-Erkrankungen (z.B. Hochdruck, Hyperlipidämie etc.) bzw. zur Verhinderung von Folgeerkrankungen bei einer schon bestehenden Erkrankung b (z.B. Zustand nach Dickdarm-Karzinom, nach Schlaganfall etc.) 5. Präventionsbeteiligung in Präventionsprojekten der Gemeinde (36,37). Prävention in diesen Bereichen unterscheidet sich nicht wesentlich von einer solchen an anderem Ort – sei es eine andere Praxis oder eine andere Einrichtung des Gesundheitswesens. Allerdings wird – zumindest in Deutschland – Prävention in diesen Bereichen mit wenig Systematik, also nicht programmgemäß und unter versuchter Erfassung aller in Frage kommenden Patienten durchgeführt (1). Ausnahmen stellen die Kinder-Früherkennungs-Untersuchungen mit der bekannten hohen Beteiligung sowie die Impfungen im Kindesalter dar. In anderen Ländern – z.B. Großbritannien oder Holland – ist dies anders: Hier gibt es für Früherkennung und Impfungen im Erwachsenenalter, aber auch für einen Teil der Gesundheitsberatungen und einen Teil der sekundärpräventiven Maßnahmen systematisierende Pläne (Guidelines), die in einer PraxisPopulation dann auch systematisch umgesetzt werden. In England ist es sogar so, dass die Bezahlung des Arztes von der möglichst vollständigen Erfüllung dieser Pläne abhängig ist. Dennoch gibt es auch hier immer wieder Hinweise auf die »Verweigerung« einer Systematik in der Prävention durch die Hausärzte (4, 7). Da Hausärzte häufig aufgesucht werden – rund 80% der Menschen in Deutschland sehen mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt (16) – wird mit einer solchen Prävention in der Hausarztpraxis in den Ländern, in denen diese dann noch systematisch betrieben wird, ein relevanter Teil der Bevölkerung fast flächendeckend erreicht.
57 Hausärztliche Prävention
Dies ist aber aus verschiedenen Gründen in Deutschland nicht so: Nur etwa 10 % der Erwachsenen über 35 Jahren nehmen – dann aber überwiegend bei ihrem Hausarzt – an der Gesundheitsuntersuchung, einem Check-up mit Schwerpunkt auf kardiovaskuläre Erkrankungen, teil (17). Welcher Anteil dieser Personen hier nun auch regelmäßig – also konform einer systematischen Früherkennung – teilnimmt, ist aus der Datenlage nicht zu entnehmen. Über Impfungen wissen wir, dass im Erwachsenenalter – je nach Impfung und Altersgruppe – auch nur zwischen 30 und 70% regelmäßig teilgenommen haben (33). Aus Einzelstudien wissen wir, dass nach Herzinfarkt nur knapp 2/3 der Patienten nach einem Jahr noch jene sekundärpräventiven Maßnahmen erhalten, die sie – kunstgerecht – nach Krankenhausempfehlung bekommen sollten (2). An dieser Stelle soll nicht näher auf die Gründe hierfür eingegangen werden. Es ist nach der – wenn auch spärlichen – Datenlage am ehesten davon auszugehen, dass deutsche Hausärzte nicht die Rolle des Public Health verpflichteten Doktors übernommen haben. Dies ist ganz anders in den Ländern mit angelsächsischer Medizinkultur – also Skandinavien, den Niederlande und – heute auch – Italien, Spanien und Portugal. Zudem aber dürfte das, was im folgenden zur Hausärztlichen Prävention gesagt wird, auch Erklärung für das Fehlen »systematischer Prävention« sein. Der Ansatz von Hausärztlicher Prävention ist zwar grundsätzlich mit dem eher Public Health verpflichteten Konzept von Prävention in der Hausarztpraxis kompatibel, verlangt aber vom Arzt zwei Arbeitsweisen und zwei Konzepte in Bezug auf »seinen Patienten«.
2. Hausärztliche Prävention Unter Hausärztlicher Prävention wird etwas anderes, etwas spezifisch Hausärztliches verstanden, was sich deutlich von Prävention in der Hausarztpraxis abgrenzt. Fragt man Hausärzte, welche Art der Prävention sie betreiben, so sprechen sie – insbesondere deutsche, weniger englische, skandinavische oder niederländische – von ganz anderen Dingen: Es ist das regelmäßige, immer wieder neue oder bestehende Krankheits- oder Gesundheitssituationen eines Patienten nutzende »Präventive Gespräch«, es sind – von Patient zu Patient anders ausfallende – Unterstützungen bei Veränderung der Lebensführung. Es ist auch der Ansatz, den man mit »Nutzung salutogener Poten-
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zen des Patienten« beschreiben kann. Und es ist die individualisierte, auf den einzelnen Patienten zielende Nutzung von Schwächen und medizinischen Risiken sowie Ängsten des Patienten, um präventiven Einfluss zu nehmen oder mit dem Patienten zu einer präventiven Zielsetzung zu kommen. Darüber hinaus verstehen Hausärzte auch das Verhindern von Zuviel an Medizin als präventive Aktivität – mit dem Ziel, Nebenwirkungen – seien es körperliche oder solche über ein »Labeling« – zu verhindern (10, 12, 14). Hausärztlich Prävention kann man damit auf zwei zentrale Aspekte fokussiert zusammenfassen: Individualisierte Prävention: Sie meint eine präventive Einflussnahme des Hausarztes, die von Patient zu Patient unterschiedlich ist und zudem, bei sich verändernden Lebenssituationen, nochmals unterschiedlich – bezogen auf den jeweils selben Patient – realisiert wird. Sie nutzt die Kontinuität der Versorgung sowie ein gewachsenes Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt. Inhaltlich ist sie durch die gezielte Nutzung von sowohl Schwächen und Risiken als auch salutogenen Potenzen des jeweiligen Patienten charakterisiert. Sie erfolgt sowohl als »Behandlung« (z.B. Risikofaktoren-Behandlung) als auch im Sinne von Gesundheitsförderung. Quartiärprävention: Hierunter versteht man die Bewahrung des Patienten vor
einem Zuviel an medizinischer Intervention. Dies meint sowohl das »Herunterschrauben« überhöhter Erwartungen an die Medizin als auch den gezielten Abbau von Überversorgung durch kontinuierliche, individualisierende Beeinflussung von Patienten (11). Unter hausärztlicher Prävention wird also der lebensbegleitende Versuch der primär-, sekundär und tertiär-präventiven sowie der quartiär-präventiven Beeinflussung verstanden, der sowohl mit medizinischen Interventionen als auch mittels Gesundheitsförderung umgesetzt wird. Nun zu den Ansätzen Hausärztlicher Prävention im einzelnen. a) Individualisierte Prävention Individualisierte Prävention meint, dass jeder Patient unter Würdigung seiner gesundheitlichen Bedürfnisse und seiner speziellen gesundheitlichen Stärken und Schwächen sowie unter Berücksichtigung der medizinischen, psychischen
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und sozialen Problematik präventiv behandelt und zu Gesundheitsförderung angesprochen wird (19, 20, 39). Es ist damit nicht so – wie bei Präventionskampagnen –, dass ein Thema vorgegeben ist und dieses Thema in gleicher Weise allen potenziell Anzusprechenden angeboten wird bzw. eine Behandlung durchgeführt wird. Vielmehr verhält es sich so, dass jeder Patient unterschiedlich, seinem – im allgemeinsten Sinne – Risikoprofil entsprechend präventiv zu beeinflussen versucht wird (13). Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass zielgerichteter gehandelt wird. Technisch ausgedrückt heißt dies, dass die number needed to treat (NNT) aufgrund der Vor-Selektion nach dem »Risikoprofil« deutlich kleiner – im Vergleich zu Kampagnen- oder Programm-getragener Prävention – sein kann. Weitere Faktoren, die in gleicher Richtung wirksam werden, sind die Dauer des Kennens des Patienten und die gewachsene Arzt-Patienten-Beziehung. Beides ermöglicht eine realistische Einschätzung, was ein Patient mitzumachen bereit ist und was nicht (23,25) Es geht also um die individuelle Einschätzung des präventiven Potentials und der Motivation des jeweiligen Patienten. Die Stärke des Ansatzes besteht darin, dass die Bereiche, die am ehesten zu beeinflussen sind, auch in den Vordergrund gebracht werden. Auch hierin unterscheidet sich der Ansatz vom klassischen Ansatz einer Kampagnen- oder einer Systematischen (also Programm-)-Prävention (5). Und schließlich gilt das gleiche – gewissermaßen spiegelbildlich – bei der Nutzung salutogener Potenzen des Patienten (39). Kennt der Hausarzt seinen Patienten mit seinen Stärken und Werteorientierungen, also den Aspekten, zu denen er ihn am besten salutogen ansprechen kann, so kann ein individualisierender Ansatz diese Potenzen für das präventive Ziel nutzen. Damit grenzt sich Hausärztliche Prävention auch von Prävention in der Hausarztpraxis deutlich ab. Dies geschieht insbesondere in Bezug auf die systematische Erfassung aller Personen vs. der individualisierenden Erfassung einzelner und in bezug auf einzelne, sich jeweils von Patient zu Patient unterscheidende Aspekte. Ein weiterer Unterschied besteht in der Nutzung der Kontinuität und der hierüber ermöglichten Variabilität des präventiven Vorgehens über die Zeit. Prävention in der Hausarztpraxis hat ihre Rhythmik (z.B. Regelmäßigkeit von Früherkennung), Hausärztliche Prävention nutzt die »Gunst der Stunde« in Abhängigkeit von einer konkreten Krankheitssituation oder einer besonderen Situation von erlebter Gesundheit, die es zu erhalten gilt.
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Ein solcher Ansatz zeichnet sich also – zumindest konzeptionell – durch hohe Effektivität aufgrund der Nutzung individueller Ressourcen aus. Hinzu kommt auch, dass Ratschlägen immer eher dann gefolgt wird, wenn sie von Vertrauenspersonen – möglichst dann noch mit Autorität – ausgesprochen werden. Dies ist bei einer gewachsenen Arzt-Patienten-Beziehung und bei häufigen Kontakten zwischen Arzt und Patienten weitaus eher der Fall, als bei isolierten Empfehlungen von Personen oder Institutionen, zu denen kein besonderes Vertrauensverhältnis besteht (29). Public-Health-getragene Interventionen haben alle diesen »Vorteil« nicht, müssen also auf andere Motivations-erhöhende Ansätze zurückgreifen. Dies macht dann z.B. notwendig, dass mehrere Interventionen in gleicher Richtung stattfinden müssen, und mehrere Institutionen alle mit der gleichen präventiven »Botschaft« tätig werden müssen (29). Man kompensiert hier personales Vertrauen durch die Breite des Einsatzes mehrerer Institutionen mit gleicher Botschaft. b) Quartiärprävention Dieser Begriff ist von Fischer (11) zum ersten Mal benutzt worden und beschreibt die Verhinderung von Überversorgung aufgrund guter Kenntnis des Patienten, also hausärztlicher Versorgungswirklichkeit. Das Problem von Überversorgung in unserem System ist – abgesehen von eher randständigen, patientenseitigen Fehlsteuerungen – im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen einer Mehrzahl in Frage kommender Personen/Patienten vorgeschlagen werden, also gerade nicht individualisiert gehandelt wird. In der Regel sind sie zwar als Einzelmaßnahmen plausibel und somit grundsätzlich berechtigt, häufig aber nicht unter Berücksichtigung dieses Patienten in dieser Situation. Erst in der Fülle der Maßnahmen und unter Berücksichtigung der Gesamtheit des Patienten wird deutlich, dass derartige Empfehlungen dann Überversorgung darstellen. An zwei Beispielen soll dies illustriert werden. Diagnostik: Ein Patient, der in die Praxis kommt und berichtet, dass ihm sehr übel sei, er Durchfall habe und er hellrotes Blut spucke, und der schließlich sogar betont, dass dies sogleich und ohne großes Würgen beim ersten Erbrechen dabei gewesen sei, braucht eine Speiseröhren-Magen-Spiegelung. Wenn er aber noch angibt, er sei sich aber nicht sicher, ob es nicht auch aus der Luftröhre käme, weil er so zu husten begonnen habe, muss zusätzlich eine
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HNO-ärztliche Untersuchung und schließlich dann auch eine Spiegelung der Bronchien bekommen. Denn hinter den Symptomen können ernste Erkrankungen stecken. Ein Teil dieser Untersuchungen kann aber eingriffsbedingte Nebenwirkungen haben, also gesundheitsschädlich sein. Kennt man als Hausarzt diesen Patienten als einen, der sich über drastisch übertreibende Schilderungen Krankschreibungen besorgen will, oder kennt man den Patienten als jemanden, der immer – bei einer Angststörung im Hintergrund – in Panik gerät, wenn er krank ist, dann wird man das Problem sehr viel zurückhaltender angehen, also Überdiagnostik – auf diesen Fall bezogen – vermeiden. Therapie: Ein 51-jähriger Patient mit leichter chronisch obstruktiver Lun-
generkrankung, supraventrikulären Tachykardien sowie immer wieder wechselnden funktionellen Störungen kommt von einem Krankenhausaufenthalt wegen einer Synkope, die sich ätiologisch nicht klären ließ, mit den folgenden zusätzlichen Diagnosen: Hyperurikämie, Hyperlipidämie, Verdacht auf asymptomatischer KHK. Die zusätzlich angesetzte Therapie besteht in Allopurinol, einem Statin, einem niedrig dosierten ACE-Hemmer sowie ASS 100 – alle als prophylaktische Maßnahme bei der angenommenen KHK. Der Hausarzt kennt den Patienten und weiß, dass dieser ein schweres Alkoholproblem hat, aufgrund dessen es immer wieder zu familiären Zusammenbrüchen kommt. Er hat dann nach solchen Exzessen multiple, nicht näher definierbare Beschwerden für 2–4 Wochen und er muss krankgeschrieben werden. Die Compliance bei Behandlung ist extrem schlecht und im Rahmen mehrer Alkoholentzugsbehandlungen – sämtlich alle nach einigen Tagen bis Wochen abgebrochen – wurde auch ein latent suizidales Verhalten – bei faktisch keinem Ansatz für eine Psychotherapie – gesehen. Unter dieser Betrachtung erscheint die vorgeschlagene Therapie nicht sehr sinnvoll und – wie sich in einem ernsten Gespräch mit dem Patienten auch darstellt – auch nicht gewünscht. Behandlungen können inadäquat in einer Lebenssituation sein und sie können die Willigkeit und die Möglichkeiten eines Patienten überschätzen. Sie werden darüber dann zur Überbehandlung. Selbstverständlich kann sich unter der Nicht-Befolgung von medizinischen Regeln auch Unkenntnis, Ignoranz, gar ein Geld-Sparen verbergen. Dies wird
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häufig unterstellt, wenn z.B. Studien zu Ergebnissen kommen, dass ein nennenswerter Teil der Empfehlungen bei Krankenhausentlassung nicht mehr eingehalten wird. Es kann sich hierbei aber auch um das Ergebnis von Entscheidungen der Quartiärprävention oder eine, vom Patienten durchgesetzte, NonCompliance handeln. Auch in dem quatiärpräventiven Bereich ist es so, dass hausärztliche Prävention nicht systematisch, zu bestimmten Terminen, mit dann bestimmten, immer wieder identisch vorgegebenen Themen stattfindet, sondern dass sie individualisiert erfolgt. Dies bedeutet auch, dass bestimmte Zeitpunkte – und damit inhaltlich günstige Gelegenheiten – genutzt werden, andere aber zur Unterlassung einer quartiärpräventiven Handlung Anlass geben. Anders ausgedrückt: Hausärztliche Prävention zeichnet sich durch keine von außen ersichtliche Systematik aus. Die Systematik besteht aber – zumindest im Idealfall – darin, dass bei jedem Patienten unterschiedlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten – aber individualisiert ausgerichtet – gehandelt wird. Diese Art der »Systematik« aber macht die wissenschaftliche Untersuchung, die Qualitätssicherung und die Abgrenzung gegen auch »schlechte Versorgung« schwierig.
3. Probleme der Prävention Es gibt für beide Präventionsansätze der Hausarztpraxis spezifische Probleme, die hier kurz dargestellt werden sollen: Bei Prävention in der Hausarztpraxis haben wir es mit dem generellen Problem jeder systematischen Prävention zu tun: Alle Patienten – gleich in welcher Lage sie sind – sollen erreicht werden. Dies gelingt eher, wenn sie dabei passiv bleiben können, also sich z.B. »nur« eine Untersuchung »holen« (Früherkennung). Es gelingt aber deutlich schlechter, wenn sie in Bezug auf Lebensstiländerung angesprochen werden (Gesundheitsberatung, Gesundheits-Kampagne) – gleich welcher Motivation sie in einer bestimmten Lage sind (32). Bei hausärztlicher Prävention haben wir es hingegen gerade damit zu tun, dass diese – zumindest formal gesehen – unsystematisch ist und somit häufig auch bestimmte Patienten nicht erreicht, die durch systematischere Prävention erreichbar wären (38). Andererseits ist sie – zumindest konzeptionell – wahrscheinlich hoch effektiv, weil sie die individuellen Stärken und Schwächen des Patienten in Bezug auf Ansprechbarkeit für präventive Maßnahmen – seien es
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Medikamente oder Verhaltensänderungen – nutzen kann. Dies geschieht dann in Kontinuität und nicht intervall- oder gar einmalig, und es wird unter Berücksichtigung des Wandel eines Patienten in bezug auf seine Gesundheits- und Krankheitskonzepte sowie seine Motivationslage getan.
4. Hintergrund für die Hausärztliche Prävention Hausärztliche Prävention basiert auf drei Charakteristika hausärztlicher Versorgung, nämlich: a) Kontinuität der Versorgung, b) Breite der Zuständigkeit für Gesundheitsprobleme, sowie c) einem entwickelten Arzt-Patienten-Verhältnis – letzteres insbesondere aufgrund der ersten beiden Aspekte. Diese drei Charakteristika zeichnen hausärztliche Arbeit zumindest für den Kern der versorgten Patienten aus. Auf der Basis dieser Charakteristika wächst eine Beziehung mit relativ guter Kenntnis, einem Vertrauensverhältnis sowie auch emotionaler Vertrautheit (19, 24, 30). Letztere kann – je nach »Typ« des Patienten – eher kameradschaftlich und mit Akzeptanz des Expertenstatus des Hausarztes oder eher paternalistisch ausgeformt sein. Für beide Formen gilt jedoch gleichermaßen: Es besteht ein Verhältnis, in dem man als Patient in der Regel vertrauensvoll entweder Ratschläge oder »Anweisungen« bekommen möchte. Berücksichtigen diese Anweisungen oder diese Ratschläge nun noch den jeweiligen Handlungsspielraum des Patienten, seine Krankheitskonzepte sowie seine Möglichkeit für präventives Handeln, dann lässt sich – zumindest konzeptionell – ein idealer Rahmen für Einflussnahme vermuten. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch, dass hier auch Probleme und nicht nur Vorzüge zu sehen sind. Die subjektive Sicht auf Probleme sowie die Macht, die aus einer eingefahrenen Arzt-Patienten-Beziehung auch resultieren kann, können auch präventives Wirken verhindern: Es besteht z. B: ein Bild vom Patienten, an dem – inhaltlich nicht begründet – »festgehalten« wird (8, 15). Neue Aspekte werden nicht wahrgenommen. So kann der Vorteil der individualiserenden Prävention, nämlich der Anpassung an den Wandel beim Patienten, auch verloren gehen. Es existiert ein weiteres Problem: In einem gewachsenen und stabilen ArztPatienten-Verhältnis lässt sich ein Arzt auch all zu leicht von einer von ihm
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vorgeschlagenen präventiven Maßnahmen durch den Patienten »abbringen«; er folgt dem Patienten. Oder er lässt sich gar schon antizipierend von Vorschlägen durch bestimmte nuancierte Verhaltensweisen des Patienten abbringen (9, 21). Es gibt noch einen weiteren Aspekt hausärztlicher Prävention, der von den Hausärzten selbst kaum, eher aber von den Sozialwissenschaftlern benannt wird: Die sozial befriedende Funktion eines Hausarztsystems.
5. Die Hausarztpraxis als sozial befriedende Institution In einer Zeit, in der zumindest in Europa und den USA eine zunehmende Anatomisierung von Zuständigkeit und Verantwortung erfolgt und zudem der Einfluss von Glauben und Kirche schwindet, sowie in einer Gesellschaft, in der es kaum noch verfügbare »Sozialanwälte« oder Institutionen mit dieser Funktion gibt, hat die Hausarztpraxis eine zusätzliche – sozialwissenschaftlich gut beschreibbare – Funktion bekommen. Sie ist ein Ort, an dem unter generalistischem Ansatz die ganze Person – einschließlich der psychosozialen Aspekte des Lebens – gesehen wird. Sie ist ein Ort, an dem man sich dem Wohle des Einzelnen (Patienten) verschrieben hat. Darüber hinaus ist es die Institution, in der – konzeptionell und auch noch häufig in der Wirklichkeit – der Arzt primär nur für seinen Patienten handelt (3, 6). Diese Form der Arztpraxis ist einerseits – wie jede ärztliche Institution – Autorität, andererseits aber auch Vertrauens-Ort. Man kann mit seinem Doktor – auf dem Lande nicht selten sogar per Du – reden, kann ihn Dinge fragen, die man ansonsten sich zu fragen nicht wagt. Man kann über eigene Vorstellungen reden und man wird nicht ausgelacht. Hierin hat die Arztpraxis eine Nähe zu Einrichtungen der Kirche, deren Bedeutung aber für viele Menschen geschwunden ist. Anatomisierung von Zuständigkeiten, ein Kampf »Aller gegen Alle«, die Isolierung des Einzelnen sowie ein Sinn- und Werteverlust, all dies sind sozialwissenschaftlich und sozialepidemiologisch belegte Faktoren für das Auftreten von mehr Krankheit und Tod. Sicherlich sind diese Faktoren gesellschaftlich so stark wirksam, dass auch eine Institution wie die Kirche oder – hier im Fokus – eine Hausarztpraxis kaum diese Effekte aufheben kann. Und dennoch ist vorstellbar, dass durch diese »Insel« in gesellschaftlich harter Realität eine
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Befriedung und damit Teil-Aufhebung von sozial-pathologisch wirksamen Lebensbedingungen möglich ist. Zumindest haben viele Ärzte, die an Orten sozialer Brennpunkte ihre Praxis haben, nicht selten die Idee, dass sie mittels »Stärkung und Stützung« ihrer Patienten Befriedendes tun. Zum Teil tauchte so auch die Frage auf, ob man hier nicht eine Stabilisierung einer sozial nicht gewünschten Situation betreibt.
6. Nutzen hausärztlicher Prävention Prävention in der Hausarztpraxis orientiert sich – im Idealfall – an einem »Programm«, das über empirische Belege (Studien) fundiert und im Nutzen belegt ist. Der Nutzen wird aber bei unsystematischer Anwendung – wie in Deutschland üblich – geringer als nach Studienlage angenommen. Aufgrund der einem Programm impliziten Gleichheit im Vorgehen – jeder bekommt das Gleiche zum gleichen Zeitpunkt – kann aber selbst bei systematischer Einhaltung eines Programms ein solcher Ansatz – bezogen auf die Zahl der Angesprochenen – nicht sehr effektiv sein kann. Sehr Vielen wird etwas in einem »ungünstigen« Moment angeboten, in dem sie nicht motiviert sind. Und vielen wird etwas angeboten, was sie nicht brauchen. Der Ansatz Hausärztlicher Prävention, auf der Basis einer bestehenden Beziehung individualisiert und kontinuierlich Einfluss zu nehmen, ist da wahrscheinlich – zumindest konzeptionell gesehen – sehr viel effektiver. Man muss hier aber auch den Nachteil unsystematischen Vorgehens, nämlich versäumte Einflussnahme, gegenüber stellen (denn nicht alle werden angesprochen) (22, 27, 28, 31, 35). Was kann auf Basis von Empirie zu diesen Fragen gesagt werden? Der individualisierende und sich kontinuierlich über den Betreuungszeitraum erstreckende Ansatz ist schwer in Bezug auf seine Effizienz zu untersuchen, weil er sich – dies charakterisiert ihn – nicht von der »normalen Versorgung« trennen lässt. Auch ist es kaum vorstellbar – und ethisch wäre dies problematisch –, dass Ärzte ganz explizit im Rahmen einer Studie auf diese Einflussnahme systematisch verzichten – nur damit eine Vergleichsstudie durchgeführt werden kann. Dennoch gibt es Studienansätze, die – wenn auch relativ vermittelt – die Effektivität der hausärztlichen Prävention nahe legen. In den USA ist im
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Rahmen einer sehr groß angelegten Studie mit einem ökologischen Ansatz nach Beziehungen zwischen einerseits Hausarzt- und Facharzt-Dichte zu andererseits Mortalität anhand der offiziellen Todesursachen-Statistik gesucht worden. Dabei sind die wichtigen Einfluss-Faktoren Alter, Geschlecht und soziale Schicht und ethnische Herkunft statistisch kontrolliert gehalten worden. Ergebnis war, dass eine signifikante deutliche positive Beziehung zwischen hausärztlicher Versorgungsdichte und niedriger Mortalität – bei Kontrolle der genannten anderen Einflussfaktoren auf Mortalität – besteht (34). Dies galt hingegen nicht für Facharztdichte, und es galt nicht für Krankenhausdichte. Diese Beziehung ist nun umso deutlicher, umso weiter entfernt die Mortalitätsbestimmung vom Zeitpunkt der hierzu korrelierten Hausarztdichte ist. Es wurde hierzu die Mortalität 10 Jahre später als die Feststellung der Hausarztdichte angeschaut. Man kann hieraus schlussfolgern, dass insbesondere längerfristig die »Chance, eine hausärztliche Versorgung zu erhalten«, mit deutlich verminderter Mortalität einhergeht. Ob dies nun über eine besonders gute Therapie – besser als bei fachärztlicher Therapie – geschieht oder über den präventiven Einfluss im hier gemeinten Sinne, ist selbstverständlich nicht zu entscheiden. Da jedoch ein Großteil der zum Tode führenden Erkrankungen nicht besonders effektiv durch Therapie längerfristig zu beeinflussen ist, darf die Vermutung als sehr plausibel angesehen werden, dass es eher über die präventive Wirksamkeit der Hausarztpraxis zu erklären sein dürfte. Dass sich in der gleichen Studie ein solcher Einfluss der Arztdichte bei den Fachärzten nicht oder teilweise sogar negativ nur zeigt, lässt an die Frage von Überversorgung und ihre negativen Auswirkungen denken. Bei dem gewählten Ansatz einer ökologischen Untersuchung dürfte es zu keiner Selektion nach dem Muster, kränkere Patienten suchen sich Regionen mit mehr Fachärzte aus, gekommen sein. Denn es ist nicht von einer nennenswerten Anzahl von Patienten auszugehen, die wegen ihrer schweren Erkrankung die Region – hin zu der mit hoher Facharztdichte – gewechselt sind. Ähnliche Hinweise zur präventiven Wirksamkeit der Hausarztpraxis ergeben sich aus anderen ökologischen (26), aber auch aus Originalstudien zu präventiven Interventionen in Praxen (28, 31, 35).
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7. Resümee und Bewertung Für die Prävention in der Hausarztpraxis gibt es die Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven, die für einem Teil westeuropäischen Auslands oben aufgeführt wurden: Mehr systematisierendes Vorgehen, mehr Qualitätssicherung, mehr Vollerfassung. Denn das, was in Deutschland im Bereich der Sekundärprävention – als wesentlichsten Teil der Prävention in der Hausarztpraxis – getan wird, zeichnet sich bisher durch Unsystematik, nur Teilerfassung entsprechender Populationen und durch fehlende Qualitätssicherung aus. Mit Sicherheit aber liegt in der systematischen und damit die Versorgten »gleichmachenden« Versorgung nicht die Stärke einer Hausarztpraxis. Selbst wenn man – wie in Großbritannien am weitesten vorangetrieben – über die Bezahlung eine Vollerfassung der sekundärpräventiv zu erfassenden Populationen erreichen kann, so bleibt immer noch ein Problem bestehen: Ist die Praxis mit ihrem individualisierendem Ansatz, nach dem der Patient die jeweils beste Versorgung für sich bekommen soll, idealer Ort für Sekundärprävention wie Früherkennung und Risikofaktoren-Therapie? Früherkennungsprogramme sind evaluiert bzw. sogar in randomisierten Studien in Bezug auf ihren Nutzen untersucht. Zu solchen Programmen gehört auch die operationalisierte Festlegung zur Durchführung, zum Ausmaß der Früherkennungs-Diagnostik und ggf. zur konsekutiven Therapie; hierzu gehört selbst auch noch die Festlegung auf die Schritte beim Assessment im Falle eines positiven (Verdachts-) Befunds. Solche Festlegungen in den Programmen kommen aufgrund der Orientierung auf ein Optimum zwischen einerseits hohem Prozentsatz erkannter Fällen bei möglichst wenig Nebenwirkungen und andererseits möglichst wenig Aufwand und Belastung für den Patienten sowie möglichst niedrigen Kosten zustande. Eine solche Orientierung auf das Optimum – für alle versorgten Personen – kann dem Einzelnen aber nicht immer gerecht werden. Der Einzelne aber steht im Zentrum der Hausarztpraxis – zumindest in Deutschland. In der Orientierung auf den Einzelnen kommt es in der Praxis daher nicht selten zu weitaus mehr an Diagnostik – um auch den leisesten Verdacht auszuräumen. Darüber aber wird nicht Prävention nur teurer, sondern sie produziert für die Mehrzahl der beteiligten Personen/Patienten auch Gefahren: Gefahren der falsch-positiven Befunde, der Eingriffs-bedingten Morbidität und Mortalität. Denn für die versorgte Gruppe – nicht aber den Einzelnen – gibt es ja das oben angesprochene Optimum für den Diagnostik- und Therapie-Ablauf.
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Diesen Widerspruch der beiden unterschiedlichen Arbeitsansätze (zuständig für den Einzelnen und für die Gruppe) in einer Person, als Hausarzt, auszuhalten, ist meist nicht möglich. Daher könnte es weise sein, Früherkennung – so wie in vielen anderen Ländern – in Früherkennungs-Institutionen »auszulagern«. Die Durchführung von Mammografie in Deutschland, die nur in Zentren noch erfolgen darf, ist auch hierzulande der erste Schritt in diese Richtung. Hausärztliche Prävention hingegen ist nicht nach außen zu verlagern, da diese nur mit dem spezifisch hausärztlichen Arbeitsansatz und den Rahmenbedingungen von »Kontinuität« und »Breite der Zuständigkeit« zu realisieren ist. Allerdings wird es Aufgabe sein, dass das, was momentan hier getan wird, und dabei nicht als gesonderter Teil der Arbeit überhaupt erscheint, auch systematischer umzusetzen. Systematischer umsetzen heißt: Präventive Ziele expliziter – z.B. durch Eintrag in die Akte – machen, um immer wieder auf diese zurückzukommen. Systematischer heißt auch, dass eine solche Zielwertfestlegung und Diskussion des Erreichten mit dem Patienten zum festen Leistungsinhalt (z. B. Präventionsgespräch zweimal jährlich) wird, auf den der Patient Anspruch hat.
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Präventionsaspekte in den Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbünden Wolfgang Slesina*, Christiane Patzelt
Abstract Tertiäre Prävention ist ein zentraler Bestandteil der Rehabilitation. Projekte der acht Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbünde prüften u.a. die präventive Wirksamkeit von Patientenschulungen, Empowerment und intensivierter Nachsorge. Andere Studien untersuchten präventionsrelevante Einstellungen von Rehabilitanden, den Verlauf von Gesundheitsverhalten und Risikofaktoren im Reha-Prozess und die Beteiligung an Selbsthilfegruppen. Schlüsselworte: Rehabilitation – Tertiärprävention – Gesundheitsverhalten – Patientenschulung – Nachsorgeprogramme
1. Ziele und Programmatik des Förderschwerpunkts »Rehabilitationswissenschaften« Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) förderten im Zeitraum von 1998 bis 2005 gemeinsam den Schwerpunkt »Rehabilitationswissenschaften«. Ziel der Förderung war es zum einen, die Rehabilitationsforschung zu stärken und qualitativ zu verbessern (Koch et al. 1998). Zum anderen zielte das Forschungsprogramm auf die Weiterentwicklung und Verbesserung der rehabilitativen Versorgung durch praxisorientierte Forschung (Koch 2000:258; Buschmann-Steinhage et al. 1998). Die Finanzierung des Förderprogramms im Umfang von gut 40 Millionen Euro erfolgte zu gleichen Anteilen seitens des BMBF und der DRV.
* e-mail:
[email protected]
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Die Ausschreibung des Förderschwerpunkts im Jahr 1996 gab fünf Themenschwerpunkte für die Einreichung von Forschungsanträgen vor (7 Bundesanzeiger Nr. 62/1996): 1. Rehabilitationsrelevante Entstehungszusammenhänge, Verläufe und Prognosen von (chronischen) Krankheiten und ihren Folgen (Impairment, Disability, Handicap einschließlich der Frühberentung; z.B. Studien zu Chronifizierungsprozessen, zu den Zusammenhängen zwischen Impairments und Disabilities, zur Epidemiologie der Disabilities), 2. Rehabilitationsdiagnostische Verfahren (insbesondere Instrumente der Funktions- und Leistungsdiagnostik zur Erfassung von Disabilities und Handicaps, z. B. zur Feststellung der Rehabilitationsbedürftigkeit, zur Rehabilitationsplanung, -steuerung und -kontrolle oder für die sozialmedizinische Beurteilung), 3. Weiterentwicklung und Evaluation von Rehabilitationsmaßnahmen (z.B. Wirksamkeitsstudien im Hinblick auf das Rehabilitationsziel, Interventions- und vergleichende Studien bei neuen Therapiemodellen und Versorgungsformen), 4. Patienten in der Rehabilitation (Studien zur Krankheitsverarbeitung, zu Erwartungen und Motivation bezüglich Änderung von Risikoverhalten und Lebensstiländerung oder zur sozialen Unterstützung), 5. Rehabilitationssystem (z.B. Antrags- und Inanspruchnahmeverhalten, Zuweisungs- und Verfahrenssteuerung einschließlich individuellem Fallmanagement, Bedarfsplanung, System ambulanter, teilstationärer und stationärer Rehabilitation, Schnittstellenprobleme, Qualitätsmanagement, Kosten-Nutzen-Analysen). Das Thema »Prävention« wurde in der Ausschreibung nicht eigens erwähnt. Insbesondere der vierte Themenschwerpunkt der Ausschreibung bot aber für Untersuchungen zur Prävention im Kontext der Rehabilitation gute Anknüpfungsmöglichkeiten. Acht regionale Rehabilitationswissenschaftliche Forschungsverbünde mit insgesamt ca. 160 Einzelprojekten wurden in dem genannten Förderzeitraum finanziert. In der ersten Förderphase (1998–2002) belief sich die Zahl der Projekte auf 78, in der zweiten Förderphase (2001–2005) auf 81 (einschließlich der Querschnittprojekte). Jeder Verbund verfügte über ein eigenes Leitthema, wie in . Tabelle 1 beschrieben.
73 Präventionsaspekte
. Tabelle 1. Leitthemen der acht Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbünde
Verbund
Verbundthema
Bayern
»Patienten in der Rehabilitation«
Berlin/Brandenburg/Sachsen
»Theoretische und praktische Grundlagen der Reha-Organisation und Ökonomie«
Freiburg/Bad Säckingen
»Zielorientierung in Diagnostik, Therapie und Ergebnismessung«
Niedersachsen/Bremen
»Prädiktion, Verfahrensoptimierung, Kosten«
Norddeutschland
»Optimierung der Rehabilitation: Bedarfsermittlung und Effektivitätsforschung«
Nordrhein-Westfalen
»Zukunftsstrategien für die Rehabilitation«
Sachsen-Anhalt/Mecklenburg-Vorpommern
»Schnittstellenprobleme in der medizinischen und beruflichen Rehabilitation – Entwicklung und Erprobung praxisorientierter Lösungsansätze«
Ulm
»Bausteine der Rehabilitation«
Die folgende Übersicht soll zeigen, inwieweit in den ca. 160 Forschungsprojekten der acht Reha-wissenschaftlichen Forschungsverbünde Aspekte der Prävention und Gesundheitsförderung berücksichtigt wurden. Hierfür erscheint es sinnvoll, zunächst einige Hinweise über den Auftrag und Stellenwert der Rehabilitation im System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, über ihren präventiven Bezug und danach einige begriffliche Klärungen und Zuordnungen voranzustellen.
2. Reha-Auftrag der Sozialversicherungsträger Die Rehabilitation in der Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung hat den Auftrag, einer durch Krankheit oder Behinderung drohenden bzw. verursachten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit der Versicherten und einem damit verbundenen vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbs-
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leben entgegenzuwirken (§ 9.1, §10 SGB VI). Es gilt das Prinzip »Reha vor Rente«. Für die gesetzliche Krankenversicherung lautet der Auftrag (§ 11 SGB V), durch Rehabilitation einer »drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie nach Eintritt zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten«. Es gilt das Prinzip »Reha vor Pflege«. Die Arbeitsagenturen haben allgemeine sowie besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben u. a. für Personen zu erbringen, »deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben, wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung … wesentlich gemindert sind« (§§19; 97f SGB III). Für die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung gilt, »mit allen geeigneten Mitteln möglichst frühzeitig« durch Heilbehandlung einschließlich Rehabilitation den »Gesundheitsschaden zu beseitigen oder zu bessern, seine Verschlimmerung zu verhüten und seine Folgen zu mildern« sowie die Versicherten »möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern« (§ 26. 1 und 2 SGB VII). Das SGB IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen formuliert u.a. die Ziele der Rehabilitation (z.B. § 4) und grundsätzlich den Vorrang von Prävention (§ 3), um den »Eintritt einer Behinderung einschließlich einer chronischen Krankheit« zu vermeiden. Der in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern fixierte Rehabilitationsauftrag von Sozialversicherungsträgern impliziert insbesondere die Vermeidung des vorzeitigen Bezugs anderer Sozialleistungen (Rente, Pflege) (7 auch Walter 2003). Diesen Aspekt sozialleistungsbezogener Prävention werden wir im Folgenden nicht in den Vordergrund stellen. Die Betrachtung wird vielmehr darauf gerichtet sein, inwieweit in den Projekten der Reha-Forschungsverbünde Aspekte der krankheits- bzw. behinderungsbezogenen Prävention und Gesundheitsförderung inhaltlich einbezogen wurden. Dies veranlasst zu einer kurzen terminologischen Klärung des zu Grunde gelegten Präventionsbegriffs.
3. Zum Präventionsbegriff Dem verbreiteten Begriffsgebrauch folgend unterscheidet der weitere Text zwischen den drei Präventionsformen 4 primäre Prävention (Krankheitsverhütung), d. h. den Maßnahmen, »die vor dem Erstauftreten … einer Erkrankung durchgeführt werden« (Leppin
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2004:32). Sie umfasst die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheit durch Beseitigung spezifischer Expositionen, durch Verhinderung bzw. Verminderung verhaltensbedingter Risikofaktoren, durch Erhöhung der Widerstandskraft des Organismus und durch Abbau bzw. Veränderung gesundheitsschädigender Umweltfaktoren (vgl. Franzkowiak 2003:179). 4 sekundäre Prävention (Krankheitsfrüherkennung), d. h. den Maßnahmen zum Erkennen von Frühstadien einer Erkrankung und deren frühzeitiger Behandlung (Walter u. Schwartz 2003). 4 tertiäre Prävention (Verhütung von Krankheitsverschlechterung). Sie umfasst die Maßnahmen zur Vermeidung oder Abmilderung von Folgeschäden, (sozialen) Funktionseinbußen und Chronifizierungen manifester Erkrankungen sowie die Verhütung von Rückfällen. Die tertiäre Prävention bildet einen zentralen Bestandteil der ganzheitlich ausgerichteten Rehabilitation; manche setzen sie mit Reha gleich (vgl. Franzkowiak 2003:179; Walter u. Schwartz 2003). Rehakliniker bezeichnen Maßnahmen der Tertiärprävention (im eben genannten Sinne) allerdings häufig im eigenen Sprachgebrauch als »Sekundärprävention« (vgl. Walter 2003). Um die Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung sowie die damit bezeichneten Aktivitäten voneinander abzugrenzen, wird zumeist auf das Begriffspaar »pathogenetische« versus »salutogenetische« Orientierung Bezug genommen. Während Prävention vornehmlich auf die Vermeidung von Gesundheitsrisiken ausgerichtet sei, sei die Gesundheitsförderung primär auf die Stärkung personaler und sozialer Gesundheitsressourcen bezogen (z.B. Waller 1995). Rehabilitation impliziert zusätzlich zu den Maßnahmen zur Besserung oder Beseitigung von Funktionseinschränkungen stets Maßnahmen der tertiären Prävention. Im Sinne des oben genannten Präventionsbegriffs eröffnen sich mit Blick auf die Rehabilitation insbesondere die folgenden Felder für Prävention im Sinne der »Verhütung von Krankheitsverschlechterung«: 4 die Entwicklung und der Einsatz von Screening-Instrumenten zur frühzeitigen Erkennung von Reha-Bedürftigkeit mit daran anschließender RehaAntragstellung und Reha-Maßnahme (sekundärpräventiver Ansatz in der Rehabilitation),
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
4 während der Reha-Maßnahme die Einleitung von Lebensstiländerungen sowie Empowerment für Krankheits-Selbstmanagement (z.B. durch Patientenschulung) mit dem Ziel der langfristigen Reduktion bzw. Vermeidung von Risikofaktoren und Krankheitsverschlechterung, 4 die Vorbereitung, Flankierung und Strukturierung der Nach-Rehaphase mit dem Ziel der Verstetigung des Reha-Erfolgs und weiterer Verbesserungen des Gesundheitsstatus. Dazu können zählen: a) die frühzeitige Kontaktanbahnung zu Selbsthilfegruppen, b) die nachgehende Motivationsarbeit zur Lebensstiländerung, c) strukturierte Nachsorge zur Verbesserung der Versorgungskontinuität nach Ende der Reha-Maßnahme und zur Verhaltensstabilisierung. Solche Präventionsaspekte im Kontext der Rehabilitation waren auch Gegenstand von Reha-Verbundprojekten, wie in Kap. 5 dargestellt wird, dem allerdings eine etwas andere Gliederung zugrunde liegt.
4. Durchgeführte Recherchen Als Grundlage für die Recherche, inwieweit die Reha-Verbundprojekte Aspekte von Prävention und Gesundheitsförderung einbezogen haben, dienten 4 die Kurzbeschreibungen der Projekte in der Gesamtdarstellung der RehaVerbünde (7 DLR u. DRV 2002), 4 die vom VDR bisher im Internet veröffentlichten Abschlussberichte zu den Projekten der ersten und, soweit bereits verfügbar, der zweiten Förderphase (7 VDR), 4 ergänzend einige Abstracts von Projekt-Vorträgen. Eine Reihe von Studien mit potentiellem präventiven Gehalt, deren Schwerpunkt mehr im Bereich der Therapiezuweisung, der Therapieentwicklung oder der Verhütung von Erwerbslosigkeit liegt, wurden nicht berücksichtigt. Wegen einiger noch ausstehender Projektberichte erhebt die folgende Übersicht keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
77 Präventionsaspekte
5. Ergebnisse1 Die Gliederung dieses Kapitels folgt dem Prozess der Rehabilitation. 5.1 Frühzeitiger Reha-Zugang, präventives Verhalten vor Reha Der frühzeitige Zugang zur Rehabilitation kann als präventive Intervention aufgefasst werden, da eine künftige Krankheitsverschlechterung und Chronifizierung vermieden oder hinausgezögert werden kann. Gerade in Bezug auf die kardiovaskulären Risikofaktoren wie z.B. Übergewicht, Hypertonie oder Diabetes kann die Rehabilitation präventiv wirksam sein, aber nicht nur in diesem Segment. 4 Das Projekt »Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs in einer Kohorte von LVA-Versicherten mit Diabetes mellitus« (Peters et al. 2002) entwickelte einen Reha-Score für Diabetes mellitus, der als Screening-Instrument für einen wahrscheinlichen bzw. sicheren Reha-Bedarf von Versicherten dient. Die Reha-Bedürftigen sollen möglichst schon vor dem Eintreten von Komplikationen erreicht werden. Daher gingen in den Reha-Score weniger die bereits eingetretenen Komplikationen als vielmehr Risikofaktoren und Diabetes assoziierte Gesundheitsstörungen ein. Aus dem Score resultiert die Indikation für eine oder mehrere Interventionen wie Sporttherapie, Diätberatung, Schulung, Raucherentwöhnungsprogramm u.a. Benötigt ein Patient sechs oder mehr dieser Therapien, so ist nach dem Reha-Score ein sicherer Bedarf für eine stationäre Rehabilitation gegeben. Von den Personen mit Typ 2 Diabetes mellitus in dieser Studie erfüllten 15% die Kriterien für einen sicheren stationären Rehabilitationsbedarf. Auch in der Fortsetzungsstudie mit einer Kohorte von LVA-Versicherten mit Diabetes mellitus und metabolischem Syndrom (Peters) dient der Reha-Score zur Ermittlung des Bedarfs für eine multimodale Rehabilitation. 4 Die Studie »Systemforschung in der medizinischen Rehabilitation« von Badura u. Staender (2002) untersuchte mit qualitativen Interviews das Konstrukt Reha-Bedürftigkeit und die rechtzeitige Beantragung einer Rehabilitation aus der Perspektive niedergelassener Ärzte. Der Zugang zur Reha
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Wir danken Herrn Dr. Andreas Weber, Sektion Medizinische Soziologie, für hilfreiche Gliederungshinweise.
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wurde aus niedergelassener ärztlicher Sicht eher nicht unter präventiven Aspekten gesehen. Die Grenzziehung, wer ab wann ein Risikopatient sei und wann eine Reha indiziert sei, sei schwierig. 4 Eine Studie von Brennecke et al. (2002) beschäftigte sich mit Determinanten der Reha-Bedürftigkeit und Reha-Inanspruchnahme. In diesem Zusammenhang wurde eine Versichertenstichprobe u.a. über die Inanspruchnahme von gesundheitsfördernden Maßnahmen im letzten Jahr sowie über Aspekte des Gesundheitsverhaltens (Alkohol, Rauchen, Vorsorgeuntersuchungen) befragt. Es fanden sich für verschiedene Teilgruppen (Versicherte mit und ohne Reha-Antragsabsicht, Versicherte mit unterschiedlichen Erkrankungsformen vs. gesunde Versicherte) Unterschiede im präventiven und gesundheitsfördernden Handeln. 4 Die »Versorgungsepidemiologische Studie zu Strukturen, Prozessen und Ergebnissen der beruflichen Rehabilitation« (Hansmeier et al. 2002) erhob getrennt für Versicherte der Rentenversicherung (BfA, LVA), für Versicherte mit beantragter beruflicher Rehabilitation und für Versicherte mit bewilligter beruflicher Reha mittels standardisierter Fragebögen zahlreiche gesundheitsbezogene Informationen. Die Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen in den letzten 12 Monaten (z.B. Selbsthilfegruppen, Rückenschule, Gesundheitssportgruppen, Entspannungstraining, Ernährungsberatung) ergab bei insgesamt geringen Teilnahmeraten tendenzielle Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Tendenziell am schwächsten war das Teilnahmeverhalten der LVA-Probanden (Versicherte, Antragsteller, Bewilligte). Die Indikatoren zum Gesundheitsverhalten zeigten erhebliche Unterschiede im Rauchverhalten der drei Gruppen. Weitere Ergebnisse beziehen sich auf Alkoholkonsum, sportliche Aktivität und regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, wobei zum Teil ein Antwort-Bias vermutet wird. 5.2 Motivation zur Lebensstiländerung, Reha-Ziele und -Erwartungen Für die Veränderung des Gesundheitsverhaltens und des Lebensstils bietet die Zeit in der stationären und ambulanten Rehabilitation eine gute Möglichkeit. Eine Studie (Nübling et al.) beschäftigte sich mit der Änderungsbereitschaft der Rehabilitanden/innen hinsichtlich präventiven Verhaltens; eine weitere Studie von Grande et al. erfragte speziell risikofaktorenspezifische Reha-Ziele von Patienten und Ärzten; das Projekt von van den Bussche u. Dunkelberg thematisierte u.a. Reha-Erwartungen.
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4 Die Studie von Nübling et al. (2002) entwickelte und erprobte einen Patientenfragebogen zur Erfassung der Reha-Motivation (PAREMO), der u.a. eine Skala zur »Änderungsbereitschaft« hinsichtlich präventiven Verhaltens enthält. Die Skala bezieht sich auf »die Einsicht in die Notwendigkeit und den Wunsch des Patienten, sein Leben, sich selbst und speziell sein gesundheitsbezogenes Verhalten zu ändern« (S. 54). Im Vergleich der Rehabilitanden mit kardiologischer, orthopädischer oder psychosomatischer Indikation zeigten kardiologische und psychosomatische Patienten die höchste Änderungsbereitschaft hinsichtlich des präventiven Verhaltens und unterschieden sich beide signifikant von den Orthopädie-Patienten (S. 106, 176). 4 Die Längsschnittstudie »Geschlechtsspezifische Unterschiede in der kardiologischen Rehabilitation« (Grande et al. 2002) erhob bei weiblichen und bei männlichen Herzinfarktpatienten und den behandelnden Ärzten zunächst im Akutkrankenhaus anhand einer vorgegebenen Item-Liste die jeweiligen Reha-Ziele. Die Ziel-Items betrafen die Bereiche Lebensstiländerung, psychischer Zustand u.a. Die von den Patienten/innen am häufigsten genannten risikofaktorenbezogenen Reha-Ziele waren regelmäßige Bewegung, Stressbewältigung, Ernährungsumstellung, Gewichtsabnahme, Beendigung des Rauchens. Eine signifikante Zieldifferenz nach Geschlecht fand sich (nach Kontrolle des Merkmals Alter) nur bei »regelmäßiger Bewegung« (häufigeres Reha-Ziel von Männern). Die Reihenfolge der von Ärzten genannten risikofaktorenbezogenen Reha-Ziele war: Ernährungsumstellung, regelmäßige Bewegung, Gewichtsabnahme, Stressbewältigung, Beendigung des Rauchens. Das Ziel der regelmäßigen Bewegung wurde von den Ärzten signifikant häufiger für Frauen genannt. Die Einjahreskatamnese ergab, dass unabhängig von einer Reha-Teilnahme eine signifikante Wissenszunahme der Patienten über Risikofaktoren zu verzeichnen war. Die Teilnahme an einer ambulanten Herzgruppe belief sich für Männer und Frauen auf ca. 25%. 4 Die Studie »Der Nutzen von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation aus hausärztlicher Sicht« (van den Bussche u. Dunkelberg 2002) erhob von Hausärzten und Patienten u.a. die Erwartungen/Wünsche an eine medizinische Reha-Maßnahme und den wahrgenommenen Nutzen der Rehabilitation. Bei Hausärzten stand an vorderer Stelle der Erwartungen: das Erlernen einer gesünderen Lebensweise (Ernährung, Bewegung) seitens der Patienten während der Reha und ein verbesserter Umgang mit der Erkrankung. Von den Patienten nannten knapp 60% die Erwartung der Hilfestellung während der Reha für eine gesündere Lebensweise.
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5.3 Patientenschulung In der Rehabilitation bezwecken Patientenschulungen (7Mühlig u. Petermann 2002; Petermann 2003) u.a. eine langfristige Verbesserung des Gesundheitsverhaltens und der Lebensqualität. Mehrere Studien wurden zur Evaluation von Patientenschulungen durchgeführt. Teilweise wurde auch auf das Gesundheitsbildungsprogramm des VDR »Aktiv Gesundheit fördern« eingegangen (VDR 2000), welches wesentliche Elemente der Gesundheitsförderung beinhaltet. Innerhalb des Förderschwerpunkts Rehabilitationswissenschaften etablierte sich des Weiteren eine verbundübergreifende Arbeitsgruppe »Patientenschulung« (vgl. Vogel et al.). 4 Das Projekt »Evaluation eines Schulungsprogrammes für Patienten mit Spondylitis ankylosans (SpA)« (Bönisch et al. 2002) führte mit einem quasiexperimentellen, prospektiven Kontrollgruppendesign mit SpA-Rehabilitanden die Wirksamkeitsprüfung eines Patienten-Schulungsprogramms durch. Das Programm bezweckte insbesondere vermehrtes Krankheitswissen und Kompetenzerweiterung (Bewältigungskompetenz, Selbstmanagement, krankheitsgerechtes Verhalten). Im Laufe der Einjahreskatamnese zeigten die Teilnehmer der Schulung im Vergleich zur Kontrollgruppe ein verbessertes Krankheitswissen, eine höhere Selbstwirksamkeit, Funktionsfähigkeit u.a. 4 Ein Projekt von Mühlig u. Petermann (2002) untersuchte die »Effekte von Patientenschulung bei erwachsenen Asthmatikern im Rahmen ambulanter und stationärer Reha«. Durch die Stärkung des Patienten-Selbstmanagements wurden nachhaltige Effekte auf gesundheitlich-medizinische Erfolgsparameter und die Lebensqualität angestrebt. Die Untersuchungshypothese lautete, dass mit Intensität und Umfang der Schulung die Zieleffekte zunehmen. Im Ergebnis war eine starke Verbesserung des Wissens, Kenntnis- und Fertigkeitsniveaus der Schulungsteilnehmer zu verzeichnen, das Wissensniveau stieg stärker mit Schulungsumfang und -intensität. Die mitgeteilte körperliche Asthmasymptomatik verbesserte sich in allen Schulungsgruppen, zum Teil auch in der Katamnese. Die Autoren vermuten, dass »der Effekt zumindest nicht unerheblich auf die Schulungsteilnahme zurückgeht« (S. 52), wenngleich mangels echter Kontrollgruppe nicht klar zu bestimmen sei, »ob diese Effekte primär durch die Schulungsmaßnahmen oder die übrige Rehabilitation erzielt wurden« (S. 52). 4 Mit einem prospektiven, randomisierten Kontrollgruppendesign wurde von Wittmann et al. geprüft, ob eine zusätzliche Patientenschulung
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während der stationären Rehabilitation von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis effektiv ist. Im Jahr nach der Rehabilitation waren bei den geschulten Patienten gegenüber der Kontrollgruppe die Morbidität (insbesondere notfallmäßige Arztkontakte) und Krankenhaustage signifikant reduziert und die Lebensqualität signifikant gesteigert. 4 Mit einem prospektiven Kontrollgruppendesign prüfte Fritschka (2004) Effekte eines Schulungsprogramms für chronisch Nierenkranke auf renale Funktionen und Risikofaktoren (Hypertonie, Übergewicht u.a.). Das Schulungsprogramm (Selbstmanagement u.a.) führte im einjährigen Katamnesezeitraum zu signifikant günstigeren Kreatininwerten und zu signifikant niedrigeren Blutdruck- und Cholesterinwerten bei der Schulungs- gegenüber der Kontrollgruppe. Außerdem wiesen die Schulungsteilnehmer ein Jahr nach Reha einen signifikant höheren krankheitsbezogenen Wissensstand auf. 4 Das Projekt »Motivation zu gesundheitlichem Handeln bei Patienten in der stationären Rehabilitation« (Ellgring et al.) zielte darauf, die Motivation zu »sportlicher Aktivität, gesunder Ernährung und Entspannungsübungen bei Patienten mit orthopädischen, kardiologischen und endokrinologischen Erkrankungen auf Basis des Stufenmodells der Veränderungsmotivation (Prochaska u. DiClemente)« zu erhöhen. Mit einem multizentrischen, kontrollierten, randomisierten und prospektiven Design wurden das Gesundheitsbildungsprogramm des VDR bzw. die bisher üblichen Vorträge auf ihre motivationalen Effekte untersucht. Die Datenauswertungen zeigten von Reha-Beginn bis 3 Monate nach Reha Verbesserungen der Motivation zu Bewegung bei den Bildungsprogramm-Teilnehmern (Reusch et al. 2005). 4 In einer laufenden Studie testen Härtel et al. ein frauenspezifisches Bewegungs-, Ernährungs- und kardiologisches Aufklärungsprogramm während der kardiologischen AHB, woran sich ein intensiviertes Nachsorgeprogramm anschließt. 5.4 Verhalten nach Reha Einige rehabilitationswissenschaftliche Projekte der Forschungsverbünde fokussierten auf die Phase nach Reha. Insbesondere in Studien zu Rehabilitanden mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurde katamnestisch die Veränderung des Gesundheitsverhaltens und der Risikofaktoren und/oder die Teilnahme an am-
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bulanten Herzgruppen untersucht (s. Slesina u. Patzelt 2005); teilweise wurden auch intensivierte Nachsorgeprogramme evaluiert (7 Kap. 5.5). 4 Die Studie zur »Rehabilitationsnachsorge« von Gerdes et al. (2004) untersuchte, inwieweit die Rehabilitanden im Zeitraum 6 bis 9 Monate nach der Maßnahme die von den Reha-Ärzten gegebenen Nachsorgeempfehlungen (dokumentiert im Reha-Entlassungsbericht) umgesetzt haben. Die Frage zielt auf die Stabilisierung des tertiärpräventiven Handelns im Lebensalltag der Rehabilitanden (orthopädische und kardiologische Patienten). Den Patientenangaben zufolge wurden Empfehlungen wie Heimtraining, ambulante Krankengymnastik, rücken-/gelenkschonendes Verhalten, Blutdruckselbstkontrolle relativ gut umgesetzt. Größere Umsetzungsprobleme wurden bei Gewichtsreduktion, Diätumstellung und Reha-Sport mitgeteilt. Die Studie erfragte auch Ursachen von Umsetzungsproblemen. 4 Das Projekt von Keck et al. (2002) untersuchte an kardiologischen AHBRehabilitanden u.a. die Teilnahme an einer ambulanten Herzgruppe als tertiärpräventiver Aktivität im Zeitraum 6 Monate nach Reha. Es fanden sich deutliche Teilnahmeunterschiede der Rehabilitanden unterschiedlicher kardiologischer Diagnosen: Bypass-Operierte (43% Teilnahme), Herzklappen-Operierte (43,1%), Herzinfarkt-Patienten (35,2%), CMP (20,4%). Die Teilnehmer und Nichtteilnehmer an einer ambulanten Herzgruppe (Zugang und Verbleib) unterschieden sich mit Blick auf soziodemographische Merkmale lediglich im Merkmal Alter (signifikant höhere Beteiligung von Älteren). 4 Die genderorientierte Studie »Vergleich der Verläufe nach erstem Herzinfarkt bzw. erster ACVB-Op oder PTCA bei Frauen und Männern« (Mittag 2001) ermittelte bei Männern und Frauen mit einem kardialen Erstereignis das Gesundheitsverhalten im Zeitraum T1 (Reha-Beginn), T2 (3 Monate nach Reha) bis T3 (12 Monate nach Entlassung aus der Reha-Klinik). Bei T2 berichteten fast alle Rehabilitanden/innen von einer Umstellung der Ernährung, überwiegend in Form cholesterinarmer Kost (95%). Zu T3 fand sich eine deutliche Reduktion des Rauchens und eine deutliche Veränderung sportlicher Aktivität. Nur 23% der Patienten/innen nahmen jedoch regelmäßig an einer ambulanten Herzsportgruppe teil. Bei keiner der genannten Outcome-Variablen fanden sich relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern. 4 Ein Projekt von Härtel et al. (2003) untersuchte bei weiblichen und männlichen Herzinfarkt-Rehabilitanden die Veränderungen klassischer korona-
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rer Risikofaktoren und des Gesundheitsverhaltens sowie ferner die Teilnahme an einer ambulanten Herzgruppe von AHB-Beginn bis 18 Monate nach AHB. Ergebnisse zur Entwicklung des Gesundheitsverhaltens und der Risikofaktoren stehen noch aus. 26 % der Männer und 30 % der Frauen haben in dem Katamnesezeitraum an einer ambulanten Herzgruppe teilgenommen. 4 Die Studie von Slesina et al. (2004) ergab, dass von den LVA-versicherten Herzinfarkt-Rehabilitanden zum Zeitpunkt sechs Monate nach AHB lediglich 8,8% an einer ambulanten Herzgruppe teilnahmen und weitere 10,5% vor einiger Zeit an einer Herzgruppe teilgenommen hatten. Gründe der Nichtteilnahme waren vor allem: solche Gruppen seien nicht bekannt (61,2%), Zeitmangel (24,5%), keine Gruppe in erreichbarer Entfernung (22,4%). Von den LVA-versicherten Rehabilitanden mit der Indikation degenerative Wirbelsäulenerkrankung gaben 38,6% der Probanden sechs Monate nach stationärer Reha an, Muskeltraining durchzuführen. Gut 70% der Befragten teilten mit, die in der Reha-Klinik erlernten Rückenschulregeln im Alltag umsetzen zu können. 4 Dem Projekt »Zielorientierte Evaluation stationärer onkologischer Rehabilitationsmaßnahmen« (Weis et al. 2002) zufolge haben die AHB-Patientinnen mit Brustkrebserkrankung im einjährigen Katamnesezeitraum nach der Reha-Maßnahme wesentlich häufiger präventive und gesundheitsförderliche Angebote wahrgenommen als die Patientinnen der Kontrollgruppe (ohne AHB-Versorgung): Teilnahme an Kursen zur Gesundheitsförderung (15,4% vs. 8,0%), Sport für Krebsbetroffene (12,7% vs. 8,0%), Selbsthilfegruppen (23,4% vs. 11,4%). »Damit wird deutlich, dass die Patientinnen der Reha-Gruppe wesentlich offener für zusätzliche Hilfsund Therapieangebote waren« (S. 195). Allerdings zeigte die Gruppe der Reha-Patientinnen in mehreren Variablen durchschnittlich eine schlechtere Befindlichkeit bzw. eine höhere Belastung verglichen mit der Kontrollgruppe (S. 192). 5.5 Intensivierte, strukturierte Nachsorge In den Reha-Forschungsverbünden wurden auch intensivierte Nachsorgeprogramme erprobt und evaluiert. Folgende vier Projekte zeigen Ansatzpunkte für tertiärpräventive Interventionen. 4 Bei dem Projekt zur intensivierten Reha-Nachsorge von Hahmann et al. (2002) wurde durch eine kontrollierte Interventionsstudie geprüft, ob sich
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die Langzeiteffekte der stationären AHB bei Patienten mit KHK durch eine intensivierte Nachsorge verbessern lassen. Die Interventions- und Kontrollgruppe durchliefen die stationäre Reha in üblicher Weise und erhielten beide eine eingehende Empfehlung, sich wohnortnah einer ambulanten Herzgruppe anzuschließen; der Interventionsgruppe wurde außerdem die Aufnahme eines individuellen Ausdauertrainings-Programms empfohlen. Die intensivierte Nachsorge umfasste vierteljährliche Seminare zu Themen wie Risikofaktoren, Ernährung, Stressmanagement und Lebensqualität sowie die Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren und Behandlungsziele (S. 7). Die Annahme einer größeren präventiven Wirksamkeit der intensivierten Nachsorge konnte nicht bestätigt werden. Jedoch stieg in der Gruppe mit intensivierter Nachsorge der systolische Blutdruck im einjährigen Katamnesezeitraum signifikant weniger stark an und die Zahl der Raucher war signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. 4 Eine Studie zur strukturierten stationären Reha-Nachsorge für rheumatische Erkrankungen (Bönisch u. Ehlebracht-König 2004) prüfte die Effekte eines einwöchigen stationären Nachsorgekonzepts (aus Trainingseinheiten, motivationalen, edukativen, psychologischen Elementen) zur Stabilisierung von Reha-Effekten. Übergeordnetes Ziel war die Verbesserung des Selbstmanagements. Die kontrollierte, randomisierte, prospektive Studie ergab bei der Einjahreskatamnese signifikante positive Effekte in beiden Gruppen, aber keine Überlegenheit der Nachsorgegruppe. 4 Das Projekt »Entwicklung und Evaluation eines telefonischen Nachsorgeprogramms in der kardiologischen Rehabilitation« von Mittag u. China bezweckte in erster Linie, durch ein telefonisches Nachsorgeprogramm das koronare Risiko und damit langfristig die Krankheitsprognose der Rehabilitanden mit ischämischer Herzerkrankung zu verbessern. In dieser multizentrischen, prospektiven, kontrollierten Studie wurden die Patienten der Treatment-Gruppe über einen Zeitraum von zwölf Monaten durch spezialisiertes Pflegepersonal manualgestützt telefonisch nachbetreut. Primäre Zielpunkte waren die Risikofaktoren Blutdruck, Rauchen, Diabetes mellitus, Gesamtcholesterin, ferner das HDL-Cholesterin. Die ersten Ergebnisse sprechen für einen Erfolg der telefonischen Nachsorge. Ein Jahr nach Reha fanden sich in der Treatment-Gruppe bei Männern »statistisch und klinisch bedeutsame Unterschiede im Hauptendpunkt, dem Framingham-Score«, bei den Frauen dagegen nicht (China et al. 2005:329).
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4 In einer multizentrischen, randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie prüften van Egmond-Fröhlich u. Bräuer (2005) die Effekte einer strukturierten ambulanten Weiterbetreuung nach Reha durch niedergelassene Ärzte auf den längerfristigen Rehabilitationserfolg bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas. Die Intervention im Jahr nach Reha umfasste 1. Beratungsleitfäden und Informationsmaterialien für die weiterbehandelnden niedergelassenen Ärzte zur regelmäßigen Nachbetreuung und -schulung der Jugendlichen in 12 durchschnittlich 30-minütigen Beratungen, 2. leichtverständliche, attraktive und interaktive Materialien per Internet für die Jugendlichen und ihre Eltern zur fortgesetzten Verhaltensmodifikation. Die Kontrollgruppe erhielt die derzeit übliche ambulante Weiterbehandlung. Nach einem Jahr ließ sich kein signifikanter Effekt der Intervention bezüglich der Veränderung des BMI-SDS feststellen. Andererseits zeigten sich im ersten Halbjahr nach der Reha weitere Verbesserungen des Schweregrads der Adipositas in Interventions- und Kontrollgruppe, was die häusliche Umsetzung des in der stationären Reha erlernten gesunden Verhaltens belegt. Erst danach deuten sich wieder eintretende Verschlechterungen des BMI-SDS an, was auf unzureichende Maßnahmen der Rückfallprophylaxe hinweist. Neben der Verbesserung des BMI-SDS konnten auch für das adipositasrelevante Verhalten Effekte durch die Rehabilitation nachgewiesen werden (aktive Freizeitgestaltung, Sport, Essverhalten). 5.6 Interventionsprogramme für Angehörige von Rehabilitanden Durch die Betreuung eines chronisch kranken bzw. behinderten Familienmitglieds können für die engen Angehörigen Gesundheitsrisiken durch Überforderung entstehen. Auch zur Verhütung solcher Risiken finden sich Projekte in den Reha-Forschungsverbünden. 4 Eine frühere Studie von Wilz u. von Cramon (2002) ergab, dass sich in Folge der Betreuung eines Schlaganfallpatienten in der Familie der Gesundheitszustand der engsten Angehörigen verschlechtert. Vor diesem Hintergrund wurde ein Interventionsprogramm für Angehörige entwickelt (Wilz u. von Cramon), von dem eine erhöhte Kompetenz der engsten Angehörigen zur Bewältigung der Schlaganfallerkrankung des Familienmitglieds erwartet wird sowie eine Verringerung des Risikos gesundheitlicher Beeinträchtigungen. 4 Eine frühere Studie von Angermeyer et al. (2002) ergab, dass Angehörige psychisch Kranker aufgrund ihrer erlebten Stressbelastung ein erhöhtes Gesundheitsrisiko vor allem im Hinblick auf psychische und psychosoma-
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tische Beeinträchtigungen aufweisen. Eine Folgestudie (Angermeyer et al.) entwickelte und evaluierte Interventionsprogramme für Partner von an Depression und Schizophrenie erkrankten Menschen. Die Programme zielen auf eine Belastungsreduktion und darüber auf eine »Verbesserung der körperlichen und psychischen Befindlichkeit der unterstützenden Partner (Prävention)«.
6. Schlussbemerkung Im Zuge unterschiedlicher Rahmenbedingungen (SGB IX, verstärkte Qualitätsentwicklung, arbeitsmarktpolitische Einflüsse) ist zu erkennen, dass RehaEinrichtungen ihre präventiven Aktivitäten verstärken. Wesentliche Handlungsfelder sind dabei insbesondere Patientenschulungen und PatientenEmpowerment, aber auch verstärkte Bemühungen zur Integration von Rehabilitanden in das Erwerbsleben (Slesina 2005). Eine Reihe von laufenden Umsetzungsprojekten der Reha-Forschungsverbünde und assoziierter Projekte, die in diesen Beitrag noch nicht einbezogen wurden, befassen sich mit solchen Themenstellungen.
Literatur Alle zitierten Abschlussberichte von Reha-Verbundprojekten sind auf der Homepage des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger abrufbar (www.vdr.de). (Vorgehensweise: Startseite: Rehabilitation: Forschung: Reha-Förderschwerpunkt: ProjektDatenbank zum »Förderschwerpunkt Rehabilitationswissenschaften«). Angermeyer MC, Wittmund B, Bischkopf J, Jungbauer J, Mory C et al. (2002) Gesundheitliche und ökonomische Belastungen von Familien mit psychisch kranken Angehörigen. Abschlussbericht Angermeyer MC, Bull N, Wilm HU, Wittmund B Belastungsbezogene Interventionen für Partner psychisch kranker Menschen - Optimierung der Kontextfaktoren in der Rehabilitation http://www.vdr.de (Zugriff: 14.06.2005.10:12.MEZ) Badura B, Staender J (2002) Systemforschung in der medizinischen Rehabilitation: Eine Analyse von Versorgungsabläufen und ihrer Steuerung. Abschlussbericht Bönisch A, Ehlebracht-König I, Rieger J (2002) Evaluation eines Schulungsprogrammes für Patienten mit Spondylitis ankylosans. Abschlussbericht Bönisch A, Ehlebracht-König I (2004) Ein strukturiertes Nachsorgekonzept für rheumatische Erkrankungen in der medizinischen Rehabilitation. In: Verband Deutscher Rentenversi-
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91 Präventionsprogramme
Präventionsprogramme der Europäischen Kommission mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Aktivität Eine Auswahl aktueller Projekte
Dirk Meusel*, Andreas Fuchs Abstract Der vorliegende Beitrag stellt Präventionsprogramme mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Bewegung vor, welche durch die Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« (DG SANCO) in Luxemburg gefördert wurden und werden. Die Liste der vorgestellten Präventionsprogramme erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll dem interessierten Leser vielmehr ein Bild von der Komplexität der Themen sowie der Fülle von Problemstellungen eines einzelnen europaweiten Förderprogramms geben, welches wiederum eines unter zahlreichen ist. Pro Präventionsprojekt werden Ziele, Partner und die verfolgte Strategie des Projektes dargestellt, Quellen zu weiterführenden Reports angegeben sowie das Projekt in den jeweiligen Kontext des beschriebenen Förderprogramms gestellt. Der interessierte Leser soll diese Aufstellung als Leitfaden für einen Einstieg in die komplexe Materie Europäischer Präventionsprojekte und -netzwerke verstehen. Schlüsselworte: Ernährung, körperliche Aktivität, Europäische Kommission, Förderprogramme, europäische Präventionsprojekte
1 Einleitung Chronische, nicht übertragbare Krankheiten stellen für moderne Industriegesellschaften eine wesentliche Komponente der jährlichen Gesamtausgaben ih* e-mail:
[email protected]
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
res Gesundheitssystems dar. Viele dieser Krankheiten lassen sich auf Aspekte eines geänderten Lebensstils zurückführen, welchem ein Großteil der Bevölkerung einer Gesellschaft mit gestiegenem Wohlstand sich selbst aussetzt oder ausgesetzt ist. Diese Feststellung resultierte im Begriff der »Wohlstandskrankheiten«. In einen besonderen Fokus politischer und gesundheitswissenschaftlicher Anstrengungen sind dabei in den letzten Jahren die Themen Ernährung und körperliche Aktivität gestellt worden. In der Tat, wie Sjöström et al. (1999) ausführen, ergeben sich für die Mehrheit der Erwachsenen in Europa, welche nicht rauchen oder exzessiv trinken, die am besten kontrollierbaren Risikofaktoren für eine langjährige stabile Gesundheit daraus, was sie verzehren und inwieweit körperlich aktiv sie sind. In dieser elementaren Feststellung liegt dennoch ein einfaches wie auch kompliziertes Dilemma: Einerseits besteht ein deutliches subjektives Bild einer überernährten Wohlstandsgesellschaft. Fastfood und überzuckerten Modegetränken wird dabei, neben anderen, die Rolle einer übermäßigen Kalorienaufnahme mit einem hohen Anteil gesättigter Fette sowie kurzkettiger Kohlenhydrate zugeschrieben. Weiterhin werden Computerspiele und -arbeitsplätze dafür verantwortlich gemacht, eine ausreichende körperliche Bewegung im Alltag zu verhindern bzw. diese nicht zu fördern. Aus dem resultierenden Missverhältnis von Kalorienaufnahme und -verbrauch begründet man die Beobachtung von sich bevölkerungsweit ausweitenden Raten von Übergewicht und Adipositas, wie diese für Kinder zwischen 5 und 11 Jahren in . Abbildung 1 dargestellt sind. Die andere Seite des Dilemmas liegt in der Schwierigkeit begründet, verlässliche bevölkerungsweite Daten darüber zu generieren, was von der Bevölkerung eines Landes wirklich verzehrt wird und wie körperlich aktiv diese ist. Solche Daten wiederum sind Grundvoraussetzung für gezielte und dauerhafte Präventionsprogramme. Zwar existieren verschiedene Datenerhebungsmethoden zur bevölkerungsweiten Messung von Ernährung und körperlicher Aktivität, doch sind diese entweder sehr aufwendig oder methodisch mit Annahmen verbunden, welche die Brauchbarkeit der Ergebnisse regelmäßig in Frage stellt. So kann das Ernährungsverhalten beispielsweise mit Ernährungstagebüchern, Recalluntersuchungen oder einer Kombination dieser mit anthropometrischen Messungen erhoben werden. Diese Methode erzeugt qualitativ hochwertige Daten, benötigt dafür aber einen enormen Aufwand. Die Auswertung von Haushaltbudgetdaten stellt eine einfachere und kostengünstigere Form dar,
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. Abb. 1. Steigende Prävalenzraten übergewichtiger Kinder zwischen 5 und 11 Jahren in Europa in Prozent zwischen 1960 und 2000 (Quelle: EU Platform on Diet, Physical Activity and Health 2005)
da diese im Kontext regelmäßiger statistischer Untersuchungen mit erhoben werden. Diese Form der Erhebung beantwortet die Frage: Was wurde in einer Zeiteinheit pro Haushalt an Lebensmitteln gekauft? Hierbei existieren jedoch mehrere methodische Schwierigkeiten: Was von dem, was in einem Haushalt gekauft wird, wird letztendlich tatsächlich verkonsumiert? Wer isst davon wie viel und was? Was und wie viel wird zusätzlich in Restaurants, Bars etc. konsumiert? Ähnlich ist die Situation zur Messung körperlicher Aktivität. Tagebücher, Erinnerungsfragebögen und aufwendige Untersuchungen mittels Pedometer oder anderen Bewegungssensoren sind hier die Mittel der Wahl. Für einige Länder in Europa wurden innerhalb der letzten 20 Jahre auf nationaler Ebene bereits bevölkerungsrepräsentative Mechanismen für eine qualitativ hochwertige Datenerhebung zu Ernährung und körperlicher Aktivität implementiert. Für Deutschland ist das Robert-Koch-Institut in Berlin zu nennen, welches innerhalb des Ernährungs- und Bundesgesundheitssurveys Daten zu beiden Themengebieten sammelt (Mensink et al. 2002; Mensink 2003). Wie ungleich schwieriger jedoch die Sammlung verlässlicher und vergleichbarer Daten zu beiden Themen über Ländergrenzen hinweg ist, zeigt das Beispiel Europa.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Viele verschiedene Initiativen versuchen hier, aus den unterschiedlichsten existierenden Datenquellen pro Land ein Bild über das Ernährungsverhalten der europäischen Bevölkerung zu generieren. Zumeist kann pro Initiative lediglich ein Ausschnitt von 8 bis 12 Ländern abgebildet werden. Der Europäische Gesundheitsernährungsbericht (Elmadfa, Weichselbaum 2005) kombiniert verschiedene Datenquellen aus 13 europäischen Ländern zu einem umfassenden Bericht. Die DAta Food NEtworking Initiative (Trichopoulou, Lagiou 1998) abstrahiert Haushaltbudgetdaten aller europäischen Mitgliedsstaaten zu einer Gesamtdatenbank, jedoch ist deren Brauchbarkeit mit den bereits angesprochenen methodischen Einschränkungen behaftet. So sind momentan auf europäischer Ebene vielmehr Anstrengungen notwendig, gemeinsame standardisierte Indikatoren zur einheitlichen Messung und Beschreibung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens in Europa voranzutreiben. Ein Beispiel dafür ist die Initiative Monitoring Public Health Nutrition in Europe (Sjöström et.al. 2004), welche einen gemeinsamen Indikatorensatz für verschiedene Ernährungssowie Bewegungsparameter entworfen und die Verfügbarkeit von Daten für diese untersucht haben. Ausgehend von dieser einführenden Schilderung einer verbesserungswürdigen Datenlage zu den Lebensstilfaktoren Ernährung und körperliche Aktivität wird deutlich, dass Präventionsprogramme mit einem gesamteuropäischen Fokus einer ähnlichen Schwierigkeit unterliegen. Welche Interventions- und Präventionsprogramme kann die Gesundheitswissenschaft also politischen Entscheidungsträgern in Luxemburg und Brüssel vorschlagen? Auf welche Aspekte der Ernährung sollten solche Präventionsprogramme zielen? Welche Umstände können zur Förderung körperlicher Aktivität angesprochen werden, um Krankheiten aufgrund körperlicher Inaktivität präventiv zu begegnen? Welche möglichen Ziele von Präventionsprogrammen entsprechen gesamteuropäischen Fragestellungen oder welche davon sind in besonderen lokalen Gegebenheiten zu begründen und damit nicht notwendigerweise in allen europäischen Mitgliedstaaten präventiv zu entgegnen? Dass sich die praktische Umsetzung theoretisch gut fundierter Präventionsprogramme mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Bewegung aufgrund finanzieller und administrativer Restriktionen als mühsam erweisen kann, zeigten zahlreiche zumeist auf regionaler Ebene durchgeführte Studien (Wagner, Meusel, Kirch 2005; Göpfert et al. 2004). Es ist leicht vorstellbar, dass Präventionsprogramme, welche die 25 teils sehr heterogen Staaten Europas in den Fokus ihrer Anstrengungen setzen möchten, mit umfangreichen Schwierigkeiten in
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der praktischen Umsetzung zu ringen haben. Diese reichen von einer schwer durchschaubaren Vielfalt europäischer Förderprogramme über eine ebenso schwer erfassbare europäische Forschungsorganisation bis hin zu Schwierigkeiten aufgrund unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Settings innerhalb der Teilnehmer eines Präventionsprojektes. Der vorliegende Beitrag stellt Präventionsprogramme mit Bezug zu Ernährung und körperlicher Bewegung vor, welche durch die Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« (DG SANCO) in Luxemburg gefördert wurden und werden. Die Liste der vorgestellten Präventionsprogramme erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll dem interessierten Leser vielmehr ein Bild von der Komplexität der Themen sowie der Fülle von Problemstellungen eines einzelnen europaweiten Förderprogramms geben, welches wiederum eines unter zahlreichen ist. Pro Präventionsprojekt werden Ziele, Partner und die verfolgte Strategie des Projektes dargestellt, Quellen zu weiterführenden Reports angegeben sowie das Projekt in den jeweiligen Kontext des beschriebenen Förderprogramms gestellt. Der Leser soll diese Aufstellung als Leitfaden für einen Einstieg in die komplexe Materie Europäischer Präventionsprojekte und -netzwerke verstehen.
2 Das Public Health Programm der Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« Vergleichbar zu den Ministerien einer Landesregierung sind die Aufgabengebiete der Europäischen Union auf unterschiedliche Generaldirektionen aufgeteilt. Neben der Generaldirektion »Forschung« und der Generaldirektion »Bildung und Kultur« ist für die Durchführung europaweiter Präventionsprogramme maßgeblich die Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« zuständig. Letztere beschäftigt etwa 800 Mitarbeiter, davon ca. 600 in Brüssel, ca. 100 in Luxemburg und weitere 100 in Grange, nahe Dublin (Europäische Kommission 2005 a). . Tabelle 1 fasst die generellen politischen Ziele der Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« auf dem Gebiet der Öffentlichen Gesundheit zusammen, welche sich unter anderem aus Artikel 152 des Maastrichter Vertrages zur Gründung der Europäischen Union ergeben. Am 23. September 2002 hat das Europäische Parlament den Beschluss über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit angenommen, welches als Public Health Programm 2003–2008 in den drei
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. Tabelle 1. Generelle Ziele der Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« (Europäische Kommission 2005 a)
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Gesundheitserziehung und Gesundheitsschutz für die Jugend Europas. Dies beinhaltet ein Tätigwerden der EU, komplementär zu den Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, Minimierung der großen Ungleichheiten in Sachen Gesundheit sowohl innerhalb der Länder selbst als auch zwischen den Ländern und Senkung der durch Krankheiten bedingten Belastung. Mit zu den Anliegen, die der Befassung bedürfen, gehören u. a. die Problematik des Tabakkonsums (90 % aller Fälle von Lungenkrebs sind auf Rauchen zurückzuführen), das zunehmende Übergewicht, alkoholbedingte Gesundheitsschäden und HIV/AIDS.
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EU-weite Planung und Vorbereitung zum besseren Schutz – bei geringeren Kosten – vor den großen Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit, zum Beispiel durch Grippen oder sonstige Pandemien und Bioterrorismus, und zwar durch Aufbau und Betreibung eines Netzes von Strukturen für schnelle Reaktionen auf Krisen und durch neue rechtliche Bestimmungen für den Einsatz von Mitteln aus dem EU-Solidaritätsfonds in Notfällen.
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Entwicklung gemeinsamer Strategien zur stärkeren Aufmerksamkeit für die potenziellen Auswirkungen anderer Gemeinschaftspolitiken auf die Gesundheit, und zwar durch Verstärkung der Verbindungen untereinander und Konzipierung gemeinsamer Ansätze in Bereichen wie Binnenmarkt, Sozialpolitik oder Umwelt.
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Bessere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf mehr Effektivität und Effizienz der Gesundheitssysteme in Europa durch Schaffung der Voraussetzungen für eine korrekte Bewertung und Nutzung neuer Technologien im Gesundheitswesen, gegenseitige Teilhabe am Know-how und an klinischem Fachwissen sowie gemeinsame Nutzung spezialisierter Technik zwecks Schaffung einer soliden Evidenzgrundlage für die Verwaltung von Gesundheitswesen in ganz Europa und Förderung wirksamer Investitionen in Gesundheitsinfrastrukturen.
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EU-weite Zusammenstellung und Analyse von Gesundheitsdaten zwecks Bereitstellung objektiver, vergleichbarer und aktueller Informationen als Ausgangsbasis für wirksame gesundheitspolitische Konzepte, Strategien und Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten wie auch auf EU-Ebene und Versorgung der Bürger und der medizinischen Fachberufe mit einschlägigen Informationen.
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Themengebieten Gesundheitsinformation, schnelle und koordinierte Reaktion auf Gesundheitsgefahren sowie Gesundheitsfaktoren mit jährlich unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt wird (Europäische Kommission 2005 b). Im Rahmen der letzteren Säule des Programms namens »Gesundheitsfaktoren« (vom englischen health determinants) werden unter anderem Präventionsprojekte gefördert. Grundlegendes Prinzip aller innerhalb dieses Programms geförderten Projekte ist, dass diese auf Ergebnisse und Erfahrungen früherer Projekte aufbauen sollen, welche bereits in diesem Themengebiet gefördert wurden (Meusel und Kirch 2005). Angesicht neuer Zahlen, welche ein weit umfangreicheres Vorkommen von Adipositas unter der europäischen Bevölkerung im Vergleich zu älteren Zahlen aufzeigten, verpflichtete sich der momentane EU Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz Markos Kyprianou (Zypern) dem Thema Prävention von Adipositas und Übergewicht eine vorrangige Priorität einzuräumen (Europäische Kommission 2005 c). Zu diesem Zweck initiierte er die EU Platform for Action on Diet, Physical Activity and Health, die Vertreter aus Industrie, von Seiten der Verbraucher, Gesundheitsexperten sowie führende Politiker zur gegebenen Problematik zusammenbringen soll. Hierin, wie auch in den jährlichen Arbeitsplänen zum Public Health Programm 2003–2008, wird der ausdrückliche Schwerpunkt der europäischen Politik in Richtung Prävention von Krankheiten, welche mit ungesunder Ernährung und übermäßiger körperlicher Inaktivität verbunden ist, deutlich.
3 Präventionsprogramme Forschungsorganisatorisch basieren Präventionsprogramme, welche durch die Generaldirektion »Gesundheit und Verbraucherschutz« gefördert werden, auf den aus der nationalen Forschungsförderung bekannten Prinzipien: Auf Grundlage einer jährlich wechselnden Ausschreibung können Verbundpartner Projektanträge einreichen, welche nach positiver Prüfung auf Konkordanz mit den formalen Richtlinien und den politischen Zielen der Ausschreibung mit bis zu 80% von der Europäischen Kommission kofinanziert werden. Ein Hauptpartner fungiert dabei als Projektkoordinator, welcher die inhaltlichen, organisatorischen und finanziellen Aufgaben an alle weiteren Projektpartner verteilt. Sehr oft werden solche Projekte auch von bereits bestehenden europaweiten Netzwerken initiiert und koordiniert. Ein abschließender Projektbericht informiert
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
über Methode, Schwierigkeiten und Evaluationsergebnisse des durchgeführten Projektes.
3.1 Schutz, Förderung und Unterstützung des Stillens Das Projekt »Protection, promotion and support of breastfeeding in Europe: Blueprint for action« widmete sich der ersten Lebensphase, in welcher falsche Ernährungsmuster bereits zu nachteiligen Effekten für die Gesundheit führen können, das Neugeborene aber noch keinen Einfluss auf die Art und Weise seiner eigenen Ernährung besitzt. Die zugrunde liegende Argumentation dieses Projektes bestand darin, dass niedrige Stillraten und die frühe Beendigung des Stillens nicht zu unterschätzende negative Nebeneffekte und Folgen für Frauen, Kinder und Gesellschaft haben und höhere Ausgaben im Gesundheitswesen nach sich ziehen (Cattaneo 2005). Somit muss nach Erachten der Verfasser die Förderung des Stillens ein zentrales Anliegen von Public Health in Europa sein. Dieses Projekt wurde während des letzten Public Health Promotion Programms im Zeitraum 2002–2004 durch die Europäische Kommission unterstützt und durch das Pädiatrische Institut Burlo Garofolo in Triest, Italien koordiniert. Beteiligt waren 16 Staaten der EU, Island sowie Norwegen als Vertreter der EFFTA Staaten. Weitere Teilnehmer waren Experten aus Nicht-RegierungsOrganisationen (NGO), Public Health Vereinigungen, sowie der UNICEF und WHO. Dem Projekt selbst war eine rege öffentliche Diskussion über den Stellenwert des Stillens vorausgegangen. Die Basis für generelle Public Health Initiativen zur Förderung des Stillens und damit zur Prävention negativer Auswirkungen zu kurzer Stillzeiten stellt das Thesenpapier der WHO »Global Strategy on Infant and Young Child Feeding« von 2003 dar, in welchem empfohlen wurde: »As a global public health recommendation, infants should be exclusively breastfed for the first six month of life to achieve optimal growth, development and health. Thereafter, to meet their evolving nutritional requirements, infants should receive nutritionally adequate and safe complementary foods while breastfeeding continues for up to two years of age or beyond.« (World Health Organisation 2003) Das Ziel des Projektes im allgemeinen Sinne lautet somit, die Akzeptanz des Stillens von Säuglingen über die ersten 6 Lebensmonate hinaus und den Anteil
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der stillenden Mütter zu erhöhen. Diese Aufgabe ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller und vor allem religiöser Handlungsmuster und Normen in Europa keine leicht zu Bewältigende. Weiterhin empfahl der Abschlussbericht eines weiteren, durch die Europäische Kommission geförderten Projektes, dem EURODIET Projekt, einen europäischen Modellplan zur Förderung des Stillens zu entwickeln und umzusetzen. Der Rat der Europäischen Union folgte dieser Aussage im Jahre 2000 mit einer Erklärung, die die Förderung des Stillens als ein unterstützungswürdiges Gesundheitsförderungsprojekt einstufte (Cattaneo 2005). Eine Konsequenz aus diesen Empfehlungen mündete in der Umsetzung des Projektes »Protection, promotion, and support of breastfeeding« in Europa. Der Abschlußbericht »Blueprint for Action« dieses Projektes beinhaltet einen Modellplan, wie auf nationaler Ebene Aktivitäten zur Erhöhung der Rate an stillenden Müttern durchgeführt und etabliert werden können (Cattaneo 2004). Der Report richtet sich dabei nicht nur an die politischen Entscheidungsträger, sondern auch an die medizinischen Fachgesellschaften und weiteren Gesundheitsexperten. Grundlage für die dort getroffenen Empfehlungen war eine Analyse, welchen Stellenwert das Stillen in den beteiligten Staaten dieses Projektes einnimmt, welche Elemente zu einer erfolgreichen Umsetzung von Förderprogramm zur Erhöhung der Stillrate beitragen und wer die geeigneten Adressaten für die bestmögliche Umsetzung solcher Programme sind. Die empfohlenen Aktivitäten schließen Interventionen auf verschiedenen Ebenen ein, deren Wirksamkeit in einem laufenden Folgeprojekt mit dem Titel »Promotion of breastfeeding in Europe: testing the blueprint for action« bestimmt wird, welches momentan im zuvor beschrieben Public Health Programme 2003–2008 von der Europäischen Union gefördert wird.
3.2 Früchte- und Gemüsekonsum unter Schulkindern Aus Erhebungen und Publikationen zu gesunden Lebensstilen ist bekannt und wird immer wieder betont, dass der tägliche Verzehr von Obst und Gemüse einen Beitrag zur Prävention von chronischen Krankheiten wie Herz-KreislaufErkrankungen oder Krebsleiden leistet. Dem unzureichenden Konsum dieser Nahrungsmittel wird nach Schätzungen des Weltgesundheitsberichtes ein Teil des Auftretens von Schlaganfällen und Herzinfarkten zugeschrieben (World Health Organisation 2002). Allerdings liegt die aktuelle Rate zur Einnahme
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
dieser Nahrungsmittel in den meisten europäischen Staaten unter jener, welche allgemein empfohlen wird. Daher werden und wurden Projekte initiiert, welche sich zum Ziel gesetzt haben, Einflussfaktoren zu identifizieren und so zu steuern, dass der Verzehr von Obst und Gemüse gesteigert werden kann. Verschiedene Zielgruppen sollen dabei in den Fokus der Arbeit gehoben werden. Auch dieser Tatsache ist geschuldet, das verschiedene Förderprogramme der Europäischen Kommission Projekte zu diesem Thema unterstützen, so neben der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz auch die Generaldirektion Forschung mit Sitz in Brüssel. Das Projekt »Promoting and sustaining health through increased vegetable and fruit consumption among European schoolchildren: The PRO CHILDREN Project« wurde im Rahmen des 5. Forschungsrahmenprogramms im Schwerpunkt »Quality of life« gefördert. Dieses Projekt mit der Laufzeit von 2002 bis 2006 verfolgte im ersten Teil das Ziel, den Konsum von Obst und Gemüse unter Schülern und deren Eltern zu bestimmen, die bestehenden Unterschiede in Europa zu beschreiben sowie die Einfluss gebenden Faktoren, wie das soziale Umfeld und persönliche Einstellungen, zu eruieren. Daran sind neun europäische Staaten unter Federführung des Ernährungsinstitutes der Universität Oslo, Norwegen, beteiligt. Im zweiten Schritt werden Interventionsstrategien zu Förderung des Obst- und Gemüsekonsums an drei der beteiligten Institutionen auf Ihre Umsetzbarkeit getestet (Klepp et al. 2005). Ein weiteres Projekt »Increasing Availability of Fruit and Vegetables in School and Workplaces« (FRUITAVITAL) aus dem aktuellen Public Health Programm 2003 bis 2008 der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz beschäftigt sich ebenso mit der Verbesserung des Verzehrs von Obst und Gemüse, insbesondere an Schulen und Arbeitsplätzen. Dieses Projekt wird unter Koordination der Dänischen Krebsgesellschaft beginnend ab 1. Januar 2005 durchgeführt. Es verknüpft die Aktivitäten europäischer Initiativen, wie die der »5 am Tag«, welche wiederum von zahlreichen nationalen Organisationen aus den Bereichen Gesundheit, Handel, Erzeuger und Wissenschaft gebildet werden. Beteiligt sind insgesamt 15 Staaten aus Europa, wobei auch Initiativen aus Ländern, wie der Schweiz und der Türkei, involviert sind, die nicht der Europäischen Union angehören. Wie schon das oben erwähnte Projekt PRO CHILDREN hat sich auch dieses Projekt zum Ziel gesetzt, Maßnahmen für eine erhöhten Verzehr von Obst und Gemüse in den Settings Schule und Arbeitsplatz zu entwickeln und zu testen.
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3.3 Kinder, Adipositas und vermeidbare chronische Erkrankungen Das Projekt Children, obesity and associated avoidable chronic diseases wird innerhalb des laufenden Public Health Programmes 2003–2008 durch die Europäische Kommission im Zeitraum von März 2004 bis Ende 2006 unterstützt. Die Federführung des Projektes obliegt dem European Heart Network (EHN) mit Sitz in Brüssel, Belgien, dem zahlreiche nationale Stiftungen vieler europäischen Staaten (in Deutschland: Deutsche Herzstiftung) und international agierende Gesundheitsvereinigungen angehören. Das Ziel des Europäischen Herznetzwerkes ist, gemeinsam auf verschiedenen Handlungsebenen gegen die Risikofaktoren, die zu Herz- und Kreislauferkrankungen führen, vorzugehen und mit Hilfe verschiedener Einzelprojekte zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen in Europa beizutragen. Die Etablierung dieses Netzwerkes erfolgte bereits mit Unterstützung der Europäischen Kommission innerhalb ihres früheren Public Health Förderprogramms zwischen 1996 und 2002. Momentan hat das EHN 30 Mitgliederorganisationen in 26 Staaten der europäischen Gemeinschaft. Seine Internetseite kann über die Adresse [http://www.ehnheart.org] aufgerufen werden. Hintergrund dieses Projektes ist der beobachtete Anstieg des Anteils übergewichtiger Kinder und Jugendlicher in den europäischen Staaten. Nach Angaben der internationalen wissenschaftlichen Organisation »Obesity Taskforce« mit Sitz in London leiden 20% der Kinder im Schulalter an Übergewicht und ein Viertel von diesen weisen weitere Risikofaktoren für das Auftreten von chronischen Erkrankungen in der Folge auf. Als Gründe für Übergewicht werden einerseits der über den täglichen Bedarf hinausgehende Konsum von Nahrungsmitteln, die für eine gesunde Lebensweise ungeeignete Nahrungszusammensetzung und andererseits der Mangel an körperlicher Aktivität angesehen. Die Ernährungsweise wird von vielen Umweltfaktoren und sozialen Settings beeinflusst. Somit bieten sich prinzipiell viele dieser Einflussfaktoren als Ziele von Präventionsprojekten an. Das Marketing für Nahrungsbzw. Lebensmittel ist nach einer Untersuchung der britischen »Food Standard Agency« in London einer dieser Faktoren, welcher die Präferenzen der Kinder für Marken, Produkte und Nahrungsmittel bestimmt sowie deren Eltern zum Kauf spezifischer Produkte drängt. Darauf basierend wurde in der ersten Projektphase das Ausmaß der Werbung für Lebensmittel in den Medien und Schulen in 20 europäischen Staaten untersucht (European Heart Network 2005).
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Darüber hinaus wurden Informationen zu unterschiedlichen nationalen Regelungen, Gesetzesinitiativen und freiwilligen Vereinbarungen der Nahrungsmittelindustrie gesammelt. Der Fokus dieses Projektes wird insbesondere auf das Marketing der Produkte gerichtet, die aus ernährungsphysiologischer bzw. gesundheitswissenschaftlicher Sicht als »ungesund« eingestuft werden. Diese Bezeichnung wird auf Nahrungsmittel angewendet, welche durch einen hohen Anteil an gesättigten Fetten, Einfachzuckern sowie einem niedrigen Anteil an Mineralien, Spurenelementen oder Ballaststoffen gekennzeichnet sind. Bei übermäßigem Konsum gelten diese Nahrungsmittel als ein Grund für den Anstieg des Anteils übergewichtiger Kinder und Jugendlicher. Die Bezeichnung »unhealthy foods« unterliegt jedoch keiner einheitlichen Definition. Nach Aussage der Projektteilnehmer soll diese Definition im weiteren Verlauf des Projektes spezifiziert werden. Der Zwischenbericht »The marketing of unhealtlhy food to children«, fasst die Diskussion über europaweite gesetzliche Regelung zur Werbung für Nahrungsmittel zusammen (European Heart Network 2005). Da der Anstieg der Anzahl von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen nicht nur ein europäisches Problem ist, sondern ebenfalls in anderen Regionen der Welt zu verzeichnen ist, setzt sich ebenso die Weltgesundheitsorganisation WHO mit dem Einflussfaktor des Marketing auf die Präferenz von Lebensmitteln auseinander. Diese Auseinandersetzung findet in dem im Jahre 2004 veröffentlichten Report »Marketing Food to Children: the Global Regulatory Environment« ihren Niederschlag und präsentiert die Ergebnisse einer internationalen Erhebung aus 73 Ländern (World Health Organisation 2004).
3.4 Die Europäische Herzgesundheitsinitiative Das Ziel der europäischen Gesundheitspolitik ist mit Hilfe von verschiedenen präventiven Arbeitsansätzen in den unterschiedlichen Bereichen des Lebensstiles der ansteigenden Inzidenz und Prävalenz von Herzkreislauferkrankungen in Europa entgegenzuwirken (Petersen et al. 2005). Zur Thematisierung dieses Anliegens in breiten Bevölkerungsschichten wurden von der European Heart Health Inititiative (EHHI) in der Vergangenheit zahlreiche Aktivitäten initiiert. Das Projekt wurde federführend vom European Heart Network (EHN, siehe vorigen Abschnitt) im Rahmen des Public Health Programms 1996–2002 geleitet. Der Initiierung der Herzinitiative war eine Diskussion über das Ausmaß
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und den Stellenwert von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Gesundheitsinformation und Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen im Public Health Programm aus dem Jahre 1993 vorausgegangen. In dieser Auseinandersetzung spiegelt sich auch die schon erwähnte Tatsache wieder, welcher Ausrichtung die europäische Gesundheitspolitik folgen soll. Um dem Thema einen hohen Grad an Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit einzuräumen, ergriff das EHN 1995 die Initiative in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission, um ein Europäisches Herzjahr bzw. eine Herzwoche zu planen. Dieser Entwicklungsprozess führte zu einem von der Europäischen Kommission unterstützten Arbeitspapier zur gemeinsamen Aktion für die Prävention von Herzkreislauferkrankungen mit dem Titel »The European Heart Health Initiative«, welches 1997 publiziert wurde und Ausgangspunkt für die europäische Herzinitiative war (European Heart Network 1997). Dieser Plan umfasste letztendlich die Beschreibung eines dreiteiligen Arbeitsprogramms: In der ersten Phase sollte die Verknüpfung und Stärkung der Kooperationen zwischen den verschiedenen Interessengruppen vorangetrieben werden, die in der Prävention von Herzkreislauferkrankungen involviert sind. Im zweiten Schritt sollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Projektarbeit gelenkt werden. Im Mittelpunkt der dritten Phase standen die Fortführung und Weiterentwicklung der Aktivitäten zur Förderung der Herzgesundheit als langfristiges Ziel. Hierbei fokussierte die Initiative ihren Arbeitsschwerpunkt insbesondere auf die Maßnahmen zu Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Stress. Dieses Arbeitsprogramm mündete in der Durchführung mehrerer Einzelprojekte unter der Organisation der EHHI, welches über eine Zeitdauer von 5 Jahren und unter der Beteiligung von 24 europäischen Staaten, einschließlich der bis dahin der EU nicht beigetretenen Staaten Sloweniens, Ungarns und Estlands durchgeführt wurde. Aus diesem Projekt gingen zahlreiche Empfehlungen hervor. Ein weiterer Tätigkeitsschwerpunkt der einzelnen Projekte richtete sich auf Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien bei Kindern und Jugendlichen, um bereits in jungen Bevölkerungsschichten dem Auftreten von Herzkreislauferkrankungen vorzubeugen. Eine Umfrage zum Wissen und dem Verständnis über das Ausmaß und die Bürde kardiovaskulärer Erkrankungen in Europa wurde unter europäischen Parlamentariern in den Jahren 1999 und 2000 durchgeführt. Zweck dieser Untersuchung war es, das gesundheitspolitische Umfeld zur Etablierung von Präventionsmaßnahmen zu bestimmen (European Heart Network 2000). Darin
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
gaben die Mitglieder des europäischen Parlamentes an, dass der Vorbeugung von Herzkreislauferkrankungen mit geeigneten Präventionsmaßnahmen ein wesentlicher Vorrang eingeräumt werden muss. Diese Ansätze sollten den Parlamentariern zufolge bereits im Schulalter einsetzen und sie betonten, dass sich die wichtigsten Maßnahmen auf die Lebensstilfaktoren des Rauchens, einer falschen Ernährung, Stress und Bluthochdruck beziehen sollten. Sie betonten, dass mehr Ressourcen für Präventionsmaßnahmen bei besonders gefährdeten Personen/Risikogruppen bereitgestellt und in die Präventionsmaßnahmen zudem die allgemeinärztlichen Versorgung (Hausarzt als 1. Ansprechpartner) eingebunden werden sollten. Ebenso schätzten die Abgeordneten ein, dass zur Förderung der körperlichen Aktivität bessere Rahmenbedingungen nötig sind und dieses Anliegen schon im Schulalter begonnen werden sollte. Die Bedeutung der körperlichen Aktivität wurde ferner in der Veröffentlichung »Children and Young People: The importance of Physical Activity« (European Heart Health Initiative 2001) hervorgehoben. Die Ergebnisse der Umfrage unter europäischen Parlamentariern wurden am 14. Februar 2000 (Valentinstag) auf einer Konferenz »Winning Hearts – Actions and Policies for a Healthier Europe« präsentiert, welche vom European Heart Network geleitet wurde. Eine Reihe von Empfehlungen zur Prävention von Herzkreislauferkrankungen wurden in einer Konferenzdeklaration zusammengefasst, die sich vor allem auf die Gesunderhaltung der Kinder und Jugendlichen konzentrierte und wiedergibt, welches Ziel Präventionspolitik haben sollte: »Every child born in the new millennium has the right to live until the age of at least 65 without suffering from avoidable cardiovascular disease« (European Heart Network 2000). Als grundsätzliche Anforderung für die zukünftigen Präventionsmaßnahmen wurden folgende Ziele formuliert: (1) Förderung der körperlichen Aktivität als ein wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens; (2) Förderung der Ausgewogenheit der Ernährung und des häufigen Verzehrs von Obst und Gemüse; (3) Verstetigung der Anti-Rauch-Kampagnen und der Aufrufe zur Beendigung des Rauchens; (4) Reform der Landwirtschaftspolitik hin zur Förderung der Produktion qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel; sowie (5) weitere Forschung und Beobachtung kardiovaskulärer Erkrankungen und ihrer Determinanten.
105 Präventionsprogramme
Eine weitere Publikation »Guidelines for Building National Alliances for the Prevention of CVD« zielt auf die Implementierung dieser Anforderungen auf nationaler Ebene ab (European Heart Network 2003). Diese Richtlinien fassen weitere Voraussetzung zusammen, die nötig sind, um nationale Allianzen für Präventionsprogramme etablieren zu können. Dabei wird zwischen aktionsorientierten Bündnissen, die konkrete Projekte und Maßnahmen vorantreiben und Allianzen, die strategische Ziele verfolgen, unterschieden. Elemente für die Ziel führenden und gut zusammenarbeitenden Interessenverbände sind: (1) eine klare Beschreibung der Zielvorgaben und Beschreibung des Arbeitsplanes und Abgrenzung zu anderen Projekten; (2) Prinzipien für die gemeinsame Arbeitweise; (3) laufende Kommunikation untereinander zur Weiterentwicklung und Motivation der Partner; sowie (4) die Etablierung starker nationaler Verbünde.
3.5 Europäischer Studiengang »Master of Public Health Nutrition« Das Projekt namens »A European Masters Programme in Public Health Nutrition« wurde unter Federführung des Karolinska Institutes in Stockholm, Schweden, durchgeführt. Das Projekt erstreckte sich über einen Zeitraum von 3 Jahren zwischen 1997 und 2000 und wurde innerhalb mehrerer Phasen von der Europäischen Kommission gefördert. Das Vorhaben verfolgte das Ziel, einen Europäischen Studiengang für Postgraduierte zu etablieren, der mit dem Abschluss »Master of Public Health Nutrition« endet. Unter dem Begriff Public Health Nutrition wird die Förderung eines gesunden Lebensstiles mittels eines geeigneten Ernährungsverhaltens, ausreichend körperlicher Aktivität sowie der Vermeidung eines ungesunden Lebensstils thematisiert. Um gesunde Lebensstile in Bezug auf Ernährung und körperliche Aktivitäten in Europa zu propagieren, sind effektive und populationsbasierte Strategien notwendig. Die Umsetzung dieses Ziels erfordert einerseits das Wissen über gesunde Ernährung und körperliche Aktivität, andererseits aber auch die Ausbildung von Fachkräften, welche dieses Wissen in verschiedenen Bevölkerungsschichten verbreiten. Bei dem beschriebenen Projekt wurden Ergebnisse eines weiteren Forschungsprojektes namens EURODIET (siehe nächster Abschnitt) eingebunden, in welchem die Bedeutung der Ernährung für eine gesunde Lebensweise in verschiedenen Fragestellungen bearbeitet wurde. Der Bericht des Projektes »A European Masters Programme in Public
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Health Nutrition« führt Zielstellungen, Partner sowie das Curriculum des Studiengangs aus (Yngve, Sjöström & Warm 2001). Nach mehreren Förderphasen und unter der Beteiligung von zahlreichen Institutionen aus 17 Staaten der EU wurden verschiedene Public Health Nutrition bezogene Module entwickelt, die für den Masterabschluss zu absolvieren sind. Der Studiengang bietet die Möglichkeit, diesen Abschluss in den Bereichen der Gesundheitsförderung, körperliche Aktivität und angewandte Ernährung zu erlangen und richtet sich in fachübergreifender Zusammenarbeit an Ernährungsfachleute und -wissenschaftler, und andere in den Heilberufen Tätige. Im Masterprogramm werden die Ergebnisse der zukünftigen Projekte des neuen Public Health Programms eingearbeitet. Mit der wachsenden Anzahl von in diesem Kurs ausgebildeten Fachleuten ergibt sich nach Erachten der Projektorganisatoren die Möglichkeit, den hohen Anforderungen nach Spezialisierung von Public Health gerecht zu werden und die Grundlage für weit reichende Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Über die Projektförderung hinaus wurde der Studiengang verstetigt und wird heute maßgeblich durch das Karolinska Institut in Stockholm personell und finanziell unterstützt.
3.6 Ernährung für eine gesunden Lebensstil Das Projekt »Nutrition & Diet for Healthy Lifestyles in Europe: Science and Policy Implications« (EURODIET) wurde im Oktober 1998 initiiert und von der Universität Kreta, Griechenland, koordiniert. Es involvierte Partner aus 15 Europäischen Staaten und endete im Jahre 2001. Die Zusammenfassung der Ergebnisse ist im Bericht »EURODIET: Nutrition & Diet for Healthy Lifestyles in Europe: Science and Policy Implications« einsehbar (EURODIET 2000). Ziel des Projektes war die wissenschaftliche Evidenz über einen gesunden Lebensstil und im Speziellen zu gesunder Ernährung in die politische Entscheidungsebene einzuflechten. Aufgaben zu Beginn des Projektes waren, einen Aktionsplan, ein korrespondierendes Netzwerk der beteiligten wissenschaftlichen Institutionen und eine gemeinsame Strategie für die Umsetzung von Ernährungsleitlinien im europäischen Kontext zu entwerfen. Dazu wurden mehrere Arbeitsgruppen innerhalb des Projektes gebildet: (1) die Arbeitsgruppe mit dem Titel »Gesundheit und Ernährung – die Rolle der Ernährung und des Lebensstiles auf die Verteilung und Häufigkeit bestimmter Erkrankungen«; (2) die Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Ernährungsricht-
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linien; (3) die strategische Arbeitsgruppe »Nahrung und Menschen«, welche Strategien zur effektiven Realisierung der Gesundheitsförderung in Bezug auf Ernährung und physische Aktivität ausarbeitete; sowie (4) die strategische Arbeitgruppe zur Untersuchung der Schwierigkeiten und Möglichkeiten bei der Umsetzung der Empfehlungen. Die Resultate der Arbeitsgruppen wurden auf der abschließenden »European Conference on Nutrition and Diet for Healthy Lifestyles: Science and Policy Implications« im Mai 2000 auf Kreta präsentiert und diskutiert. Ein umfassender Überblick zu den Abschlussberichten der Arbeitsgruppen findet sich im Internet unter der Adresse [http://eurodiet. med.uoc.gr].
4 Resümee und Ausblick Wie bereits einführend erläutert, soll und kann die Liste der hier vorgestellten Projekte nicht umfassend und vollständig sein. Weitere Präventionsprojekte könnten genannt werden, welche zwischen 1996 und 1997 durch die Europäische Kommission Unterstützung erfuhren, so beispielsweise: (1) das Projekt »The Involvement and the Role of older Volunteers in Promoting Healthy Diet for the Prevention of Cardiovascular Diseases« koordiniert durch die Hellenische Gesellschaft für Gerontologie; (2) das Projekt »The European Guide ›Nutrition Education in Schools‹« koordiniert durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein; (3) das Projekt »Essstörungen bei Jugendlichen in Europa: Erhebung zum Präventionsbedarf« koordiniert durch den Verein KABERA – Beratung bei Essstörungen; sowie (4) das Projekt »The Development of a Pan-EU Strategy to Promote Exercise and Reduce Obesity based on an Attitudinal Survey in all EU Member States« koordiniert durch das Institute of European Food Studies. Wie die Liste der beschriebenen Projekte mit Unterstützung der Europäischen Union zeigt, bestand und besteht die aktuelle Arbeit der vergangenen 5 bis 10 Jahre in der Ausarbeitung von europaweiten Richtlinien zur Prävention weit verbreiteter Krankheiten, welche sich auf ungesunde Ernährung und zu geringe körperliche Aktivität zurückführen lassen. Damit solche Richtlinien Eingang in die europäische wie auch nationale Politik finden sowie in konkreten Programmen umgesetzt werden, bedarf es konstanten und energischen Initiativen. Nur so können und werden die Empfehlungen und Ergebnisse der bisher durchgeführten Projekte bei politischen Entscheidungsträgern auf regionaler wie auch
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
europäischer Ebene immer wieder ins Bewusstsein gerufen und deren Implementierung möglich.
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111 Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte
Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte in der medizinischen Versorgung zur Optimierung der methodischen Ansätze im Rahmen der evidenzbasierten Prävention Wolfgang Böcking*, Gernot Lenz, Diana Trojanus, Wilhelm Kirch
Abstract Steigende Kosten der medizinischen Versorgung verstärken die Notwendigkeit, die Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen so umzuverteilen (Reallokation), dass das Ergebnis Gesundheit (Public Health) unter annähernd gleichem gesamthaften Ressourceneinsatz maximiert wird. Ein möglicher Ansatz ist die Reallokation finanzieller Mittel vom Versorgungs- in den Präventionsbereich. Diese Reallokation muss allerdings derart erfolgen, dass die umverteilten Mittel in der Prävention zu einer größeren Steigerung des Gutes »Gesundheit« führen als derzeit in der medizinischen Versorgung. Diese Evaluation kann nur dann zielführend erfolgen, wenn eine homogene Messsystematik in beiden Bereichen angewandt wird. Im Rahmen der Einführung der G-DRGs haben sich neue Möglichkeiten ergeben, die Kosten im Vergleich zur Qualität der medizinischen Versorgung besser evaluieren zu können. Dies schafft eine Basis, eine derartige Systematik auf den Bereich der Prävention zu übertragen. Durch eine solche homogene Vorgehensweise würde es ermöglicht, die Allokation der Ressourcen im Gesundheitssystem zwischen Prävention und Versorgung deutlich zu optimieren und somit die Qualität des deutschen Gesundheitssystems ohne zusätzliche Mittel nachhaltig zu verbessern.
* e-mail:
[email protected]
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Schlüsselworte: Evaluationskonzepte, evidenzbasierte Prävention, Reallo-
kation
Einleitung und Fragestellung Die BRD unterhält eines der teuersten Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich. So liegt es unter den OECD Staaten bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf auf Rang 6 und beim Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sogar auf Platz 3 (OECD 2005). Dies zeigt . Abbildung 1, in der sowohl Pro-Kopf-Ausgaben als auch der Anteil am BIP für das Jahr 2002 für die OECD Staaten dargestellt sind.1 In absoluten Zahlen wurden in der BRD im Jahre 2002 über 234 Mrd. Euro für Gesundheitsleistungen ausgegeben (Statistisches Bundesamt 2004). Dabei wird immer deutlicher, dass die Finanzierbarkeit der gesundheitlichen Versorgung an ihre Grenzen stößt. Es existieren zahlreiche Vorschläge zur Reformierung der Finanzierung des Gesundheitssystems2, im Rahmen derer auch die Verschiebung von Ressourcen – hauptsächlich finanzieller Mittel – von der Versorgung in den Bereich der Prävention3 intensiv diskutiert wird, wie die aktuellen Diskussionen um das derzeit im Bundestag und Bundesrat diskutierte Präventionsgesetz zeigen. Derzeit betragen die Ausgaben für Prävention lediglich 3–4% der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen (Bundesministerium für Gesundheit 2002). Die Einsparpotentiale erscheinen beträchtlich und werden in der Literatur bisweilen mit ca. 20% der Gesamtkosten des Gesundheitssystems angegeben:
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Es werden nur die ersten 25 Länder dargestellt bezogen auf die Gesundheitsausgaben pro Kopf. Von Australien und Japan wurden Daten des Jahres 2001 verwendet, da jene für 2002 bei der OECD noch nicht verfügbar sind. Vgl. zu einer zusammenfassenden Darstellung der unterschiedlichen Reformvorschläge z.B. Henke et al. 2004, Böcken et al. 2001. Definitorisch wird zwischen drei Arten der Prävention unterschieden: Primärprävention zur Verhinderung von Erkrankungen, Sekundärprävention bei Erkrankten zur Vermeidung von einer schwereren oder chronischen Erkrankung, sowie tertiäre Prävention bei chronisch Erkrankten zur Verhinderung von Folgeschäden. Dieser Beitrag fokussiert auf den Bereich der Primärprävention.
113 Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte
. Abb. 1. Gesundheitsausgaben 2002 im internationalen Vergleich (Quelle: Eigene Berechnung nach Daten der OECD 2005)
»Unser System könnte 20 Prozent billiger sein – allerdings frühestens in zehn Jahren, wenn Reformen wie die Stärkung der Hausärzte und der Prävention sowie der Abbau der doppelten Facharztstruktur in Praxen und Krankenhäusern wirklich greifen würden.« (Lauterbach 2003) Um eine Verschiebung der Ressourcen (Reallokation) bestmöglich zu erreichen, ist es notwendig, eine homogene Messung der Kosten, der Wirkung und der Qualität in beiden Bereichen herzustellen. Dies lässt sich durch folgendes Beispiel veranschaulichen: Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung wird durch den Straßenverkehr volkswirtschaftlich beeinträchtigt, z.B. durch Verkehrsverletzungen und Unfallopfer. Die Kosten fallen durch die medizinische Versorgung der Betroffenen an. Gleichzeitig bestehen bereits hohe Kosten der Prävention, unter anderem durch Verkehrsregeln, Schulungen, Prüfungen und Verbesserung der Sicherheit der Autos. Trotzdem gibt es nach wie vor Unfallopfer und Verkehrstote. Diese Zahl ließe sich weiter reduzieren durch eine Steigerung der Ressourcen in der Prävention, bspw. durch jährliche verpflichtende Sicherheitstrainings, geringere Höchstgeschwindigkeiten, Fahrverbote für Risikogruppen und Verbesserung
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
des Zustandes der Strassen. Allerdings wären die Kosten hierfür unter Umständen derart hoch, dass eine weitere Investition in die Prävention im Vergleich zu den Kosten der Wiederherstellung der Gesundheit durch die medizinische Versorgung von Unfallopfern ökonomisch ineffizient wäre. Hieraus ergibt sich somit die Fragestellung, ob eine homogene Messsystematik geschaffen werden kann, um Kosten, Wirkung und Qualität in den Bereichen Versorgung und Prävention vergleichbar zu machen und somit eine effiziente Allokation der Ressourcen zu ermöglichen.
Innovative Evaluationskonzepte in der stationären Versorgung Die Diskussion über Qualität im Gesundheitswesen hat in den letzten Jahren stark zugenommen.4 Dies geht einher mit der Forderung nach mehr Transparenz, durch die der Wettbewerb sowohl zwischen den Leistungserbringern als auch in der Interaktion von Leistungserbringern und gesetzlichen Krankenkassen (GKV) bzw. privaten Krankenversicherungen (PKV) als Kostenträgern zunehmen soll. Eine wichtige Funktion zur Schaffung einer höheren Transparenz im Krankenhaus übernimmt dabei das als Folge der GKVGesundheitsreform 20005 von der Selbstverwaltung6 beschlossene und seit 2004 verpflichtende pauschalierende Entgeltsystem, die »German Diagnosis Related Groups (G-DRGs)«. Die dadurch erreichte Transparenz des Leistungsgeschehens sowie eine Vergütung, die der erbrachten Leistung entspricht sollen insgesamt zu einer erhöhten Versorgungseffizienz führen. Da die Vergütung nun von der Leistungsfähigkeit abhängt, wird erwartet, dass bei gleichzeitiger Reduzierung der Krankenhausverweildauern der Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern zunehmen wird (Hehner et al. 2002, Weyel und Mühlhauser 2003). Wenngleich bereits Ansätze zur Qualitätsmessung im Krankenhaus existieren, fokussiert der Großteil davon auf Prozess- und Strukturqualität anstelle von Ergebnisqualität oder stellt die Ergebnisqualität nur in aggregierter Form, nicht 4
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Exemplarisch dafür sei der Krankenhaus-Report 2004 genannt, der sich explizit dem Thema der Qualitätstransparenz annimmt (Klauber et al. 2005). Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahre 2000 vom 22.12.1999. Als Selbstverwaltung werden gemeinhin die Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. und die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. bezeichnet.
115 Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte
jedoch differenziert nach Krankenhäusern dar (Leber 2004). Die bisherigen Qualitätsmessungen beruhen darüber hinaus meist auf Krankenaktendaten oder klinischen Dokumentationen und ermöglichen dadurch weder die Betrachtung von Krankheitsverläufen noch die Langzeitbeobachtung. Speziell aus Sicht der Krankenkassen sind Informationen über die Qualität der Leistungserbringung in den einzelnen Krankenhäusern jedoch von hohem Interesse. So darf erwartet werden, dass in den Verhandlungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen zunehmend Qualitätsaspekte an Bedeutung gewinnen. Dies ist besonders von Relevanz im Falle der zu erwartenden Entwicklung in Richtung eines wettbewerbsorientierten Einkaufsmodells (Heller et al. 2004). Weiterhin können Informationen über die Ergebnisqualität in einzelnen Leistungsbereichen im Sinne eines Benchmarking an die Leistungserbringer weitergegeben werden, um Verbesserungsmaßnahmen zu initiieren. Besonders auffällige Kliniken können bspw. einer gezielten Überprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen unterzogen werden. Außerdem ist es denkbar, diese Informationen auch an die Versicherten weiterzugeben und sie damit als Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb mit anderen Krankenkassen zu verwenden, die diese Informationen nicht anbieten. Da sich Qualität einer direkten Messung entzieht, bedient man sich der indirekten Erhebung mittels sogenannter Indikatoren. Diese sind Hilfsgrößen, welche die Qualität durch Zahlen bzw. Zahlenverhältnisse indirekt abbilden und dadurch operationalisierbar machen (Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations 1989). Durch Einführung der DRGs wird es den Krankenkassen ermöglicht, die Qualität in den Krankenhäusern für die einzelnen DRGs anhand von ausgewählten Ergebnisindikatoren zu vergleichen. Dies können zum Beispiel Sterblichkeitsraten, Komplikationsraten oder Wiederaufnahmeraten sein, je nach DRG. Es besteht demnach die Möglichkeit, neben den Kosten einer DRG auch die Qualität abbilden zu können, indem je DRG die relevanten Indikatoren ermittelt werden und über Referenzwerte festgelegt werden. Die Stärke der Ergebnisindikatoren liegt darin, dass sie das Endresultat der medizinischen und pflegerischen Versorgung je DRG im Krankenhaus abbilden. Falls die Ergebnisindikatoren zum Krankenhausvergleich verwendet werden, erfordern sie eine Risikoadjustierung, da die Ergebnisse stark durch patientenspezifische Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Begleiterkrankungen beeinflusst werden können. Der Risikoadjustierung kann durch Methoden wie bspw. der indirekten Standardisierung oder logistischer Regressionsmodelle Rechnung getragen werden.
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Mit Einführung der DRGs lassen sich die relevanten Daten direkt aus den Abrechnungsdaten (synonym: »administrative Daten«, »Routinedaten«) der Krankenkassen entnehmen. Die Daten enthalten Angaben zum Versicherten (Alter, Geschlecht, Postleitzahl), zum einweisenden Arzt bzw. Krankenhaus, zu den in Rechnung gestellten Entgelten sowie zu Haupt- und Nebendiagnosen, durchgeführten Maßnahmen sowie zum Entlassungsgrund des Patienten. In der BRD ist im Bereich der GKV in § 301 SGB V festgelegt, welche Daten die Krankenhäuser an die Krankenkassen übermitteln müssen. Der Erhebungsaufwand bei administrativen Daten ist gering, da diese ohnehin zu Abrechnungszwecken erhoben und geprüft werden. Der Grund, warum in der BRD bisher nur sehr wenige Untersuchungen auf Basis von Routinedaten durchgeführt wurden, liegt in der Tatsache begründet, dass vor Einführung der DRGs häufig nur sehr unvollständig seitens der Krankenhäuser kodiert wurde und deshalb eine Auswertung keine validen Ergebnisse erbracht hätte. Ein weiterer Vorteil von Routinedaten liegt darin, dass sie den Krankenkassen vollständig vorliegen, d.h. die Leistungserbringer haben keine Möglichkeit, durch z.B. selektive Meldung die Ergebnisse zu beeinflussen, was bei den aktuellen Qualitätssicherungsverfahren, die auf klinischen Daten beruhen, nicht ausgeschlossen werden kann (Heller et al. 2004).
Übertragbarkeit auf den Bereich der Prävention Das Modell zur Evaluation der Qualität der Versorgung im stationären Bereich ermöglicht es, Kosten und Nutzen (Wirkung, Qualität) der Versorgung einer DRG-Fallgruppe relativ genau zu bestimmen. Eine Vergleichbarkeit ergibt sich dann, wenn 4 die Wirkung bestimmter präventiver Maßnahmen eindeutig (zumindest anteilig) einzelnen G-DRG-Fallgruppen zugeordnet werden kann 4 die Kosten klar abgrenzbar sind 4 die Wirkung evidenzbasiert nachgewiesen werden kann. Sind diese drei Informationen vorhanden, ist es möglich eindeutig zu bestimmen, in welchem Fall Ressourcen vorteilhafter in der Prävention oder in der Versorgung fokussiert werden sollten. Eine solch binäre Entscheidungslogik stößt allerdings dann an Grenzen, wenn die Kosten-/Nutzenrelation nicht linear, sondern progressiv verläuft. Dies
117 Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte
. Abb. 2. Evaluationssystematik
lässt sich am oben verwendeten Beispiel des Straßenverkehrs leicht verdeutlichen: Die grundsätzliche Verminderung von Unfällen (Prävention) ist vergleichsweise ressourcenarm, da sie sich im Wesentlichen auf die Wartung der Verkehrsinfrastruktur und die Verbesserung der Sicherheitsstandards in Autos verbessern lässt. Soll allerdings eine weitere Verminderung erfolgen, sind neue Maßnahmen notwendig, wie der Aufbau von Verkehrsleitsystemen und Aufstellen weiterer Straßenschilder. Eine Möglichkeit der deutlichen Reduzierung von Unfällen könnte beispielsweise sein, jedem Fahrer einen professionellen Fahrlehrer bei jeder Fahrt als Beifahrer zuzuordnen, oder gar jede Person durch einen professionell geschulten Fahrer transportieren zu lassen, unterstützt durch Leitsysteme, Autopiloten usw. Die oben beschriebene Maßnahme kann sich als sehr teuer erweisen, deutlich teurer als die Versorgung der Unfallbetroffenen. Eine Umverteilung der Kosten vom Versorgungs- in den Präventionsbereich ist also nur dann sinnvoll, wenn die Kosten der Vermeidung eines Unfalls (x) die Kosten für die Versorgung des Unfallpatienten (y) nicht übersteigt, also x
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
von Unfällen nicht möglich ist und eine fast vollständige Vermeidung zu prohibitiv ansteigenden Kosten führt (bspw. die Begleitung eines jeden Fahrers zu jedem Zeitpunkt durch einen Aufseher). Die Kosten für die Versorgung würden gleichzeitig nur leicht steigen; dieser Anstieg entsteht durch die Tatsache, dass bei geringerer Menge an Unfällen die Versorgung für diese Unfälle entsprechend reduziert wird und sich durch sinkende Mengen somit leicht steigende Kosten ergeben. Das Optimum wird in obigem Beispiel dort erreicht, wo die Kurven sich schneiden. Eine Umverteilung der Ressourcen wäre bis zu diesem Schnittpunkt optimal. Für das System der GKV kann die Einführung des DRG-Systems durch die erhöhte Kostentransparenz und Standardisierung somit Möglichkeiten bieten, die knappen Präventionsgelder den Kosten der Behandlung entgegenzustellen, um so die vorteilhaftesten Austauschbeziehungen zwischen Prävention und Behandlung zu berechnen. In einzelnen Krankheitsbildern, z.B. Bandscheibenschäden, kann durch Kontrollgruppen mit bzw. ohne vorherige Präventionsteilnahme somit verglichen werden, welche Ausgabenminderungen durch spezifische Präventionsmaßnahmen möglich ist. Hierdurch können nicht nur Mittelallokationen zwischen Prävention und Leistungsausgaben optimiert werden, sondern ebenso zwischen unterschiedlichen Präventionsmaßnahmen. Diese Optimierungsmöglichkeiten sind allerdings derzeit durch gesetzliche Rahmenbedingungen eingeschränkt. Dies zeigt sich unter anderem im Fehlen von Möglichkeiten der intersektoralen Budgetumverteilung, die notwendig wären, um die Kostenallokation optimal für das gesamte Gesundheitssystem und nicht nur innerhalb der einzelnen Sektoren vornehmen zu können. Um Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem durch eine optimierte Allokation von Ausgaben zwischen Prävention und Leistungsausgaben zu erreichen, ist der Gesetzgeber somit gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, z.B. im Rahmen des aktuell diskutierten Präventionsgesetzes.
Ausblick Die Einführung der G-DRGs ermöglicht es, die Reallokation von Ressourcen zwischen (stationärer) Versorgung und Prävention effizienter und gesundheitsökonomisch vorteilhafter zu gestalten. Zielsetzung sollte es somit nunmehr sein, die Präventions- und Versorgungskosten aller relevanten G-DRG-Fallgruppen bestmöglich zu ermitteln und die Potenziale einer Umverteilung
119 Übertragbarkeit innovativer Evaluationskonzepte
zu evaluieren. Neben einer homogenen Evaluationssystematik ist es hierbei allerdings notwendig, die Kostenprogressionen im stationären wie auch im Präventionsbereich zu berücksichtigen (. Abbildung 2), um eine bestmögliche Qualität ohne untragbare zusätzliche Kosten für das Gesundheitssystem zu ermöglichen.
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121 Prävention und Eigenverantwortung
Prävention und Eigenverantwortung Adem Koyuncu*
Abstract Der folgende Beitrag widmet sich der Prävention durch Eigenverantwortung des Patienten. Sowohl die Prävention als auch die Eigenverantwortung des Patienten für seine Gesundheit sind bereits für sich gesehen sehr aktuelle Themen. Die Eigenverantwortung von Patienten ist zunehmend auch Gegenstand gesundheitspolitischer und medizinrechtlicher Diskussionen. Letzteres gilt für das Sozialrecht genauso wie für das Haftungsrecht. Die Verantwortungssphäre des Patienten bedarf indes inhaltlicher Konkretisierung. Dieses Bedürfnis liegt nicht zuletzt daran, dass der »mündige Patient« in allen Diskussionen zum Patientenleitbild erstarkt ist. Im Folgenden wird daher die Eigenverantwortung des Patienten im medizinischen Behandlungsprozess und damit auch bei der Prävention analysiert. Exemplarisch nimmt sich der Beitrag der Arzneimitteltherapie als die am meisten verbreitete Behandlungsform an und geht der Frage nach, welchen Beitrag der Patient für eine erfolgreiche Therapie erbringen muss. Die medizinisch-rechtliche Untersuchung stellt hierzu auch das Spannungsfeld im Dreieck zwischen pharmazeutischem Unternehmer, Arzt und Patienten dar. Im Ergebnis werden verschiedene Obliegenheiten des Patienten aufgezeigt, die dieser im Interesse einer sicheren und wirksamen Arzneimitteltherapie und mithin zur eigenverantwortlichen Prävention beachten muss. Schlüsselworte: Prävention, Arzneimitteltherapie, Patient, Eigenverantwor-
tung, Arzneimittelschäden
* e-mail:
[email protected]
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
I. Einleitung Die Prävention ist eines der aktuellsten gesundheitspolitischen Themen des Jahres 2005. Zu Beginn des Jahres wurde gar der Entwurf eines Präventionsgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht, den er auch am 22. April 2005 passierte. Das Gesetzesvorhaben verfehlte später aber die Mehrheit im Bundesrat und blieb vorerst im Gesetzgebungsverfahren »stecken« (Deutscher Bundestag 2005a). Die Prävention ist ein Gemeinschaftsakt aller am Gesundheitswesen Beteiligter. Dies gilt für die Krankenkassen, Leistungserbringer, aber noch mehr für den einzelnen Patienten1. Es ist sein Leben und seine Gesundheit, die es durch eine gezielte Prävention zu erhalten und zu fördern gilt. Deshalb wurde in der Begründung zum Präventionsgesetz auch zutreffend auf die Bedeutung der Eigenverantwortung des Patienten bei der gesundheitlichen Prävention hingewiesen; ein Hinweis, über den auch im Bundesrat Einigkeit bestand. Es wurde ausgeführt, dass »auf der Grundlage der Eigenverantwortung jedes und jeder Einzelnen« die im Gesetz vorgesehen Maßnahmen und Leistungen das Bewusstsein »für einen verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit« stärken sollen (Deutscher Bundestag 2005b). Dieser Beitrag richtet seinen Blick auf die Frage, welche eigenverantwortlichen Maßnahmen und Verhaltensgebote von dem einzelnen Patienten im medizinischen Behandlungsprozess als Beitrag zur Prävention eingefordert werden können und müssen.
II. Prävention bei der Arzneitherapie Die Diskussionen um Prävention und die zugehörigen Maßnahmen und Leistungen finden auf der Makroebene des Gesundheitssystems statt. Zurecht werden sie daher abstrakt geführt. In diesem Beitrag zu dem Thema »Prävention und Eigenverantwortung« soll die Mikroebene des Gesundheitssystems, nämlich die einzelne Arzt-Patienten-Interaktion, in den Fokus gerückt werden. Die Arzt-Patienten-Interaktion, so wie sie täglich millionenfach in Arztpraxen
1
Im Folgenden werden alle Akteure der Einfachheit halber in der maskulinen Form für beide Geschlechter bezeichnet.
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und Krankenhäusern anzutreffen ist, bildet das Herzstück des Behandlungsgeschehens. Um die »Trefferzahl« der Darstellung hoch zu halten, wird eine besonders weit verbreitete Maßnahme herausgegriffen, und zwar die Arzneimitteltherapie. Anhand der Arzneimitteltherapie wird untersucht, welche Pflichten und Obliegenheiten die Beteiligten dieses Komplexes zu beachten haben, um die Therapie möglichst wirksam und sicher umzusetzen. Hierbei gilt es insbesondere die Wirksamkeit des Medikaments möglichst effektiv zu entfalten und zugleich Arzneimittelschäden zu vermeiden. Auf die Phänomenologie der Arzneimittelschäden und ihr Ausmaß wird sogleich näher eingegangen. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt auf dem Aspekt der Eigenverantwortung des Patienten. Konkret stellt sich die Frage, welchen Beitrag der Patient im eigenen Interesse leisten muss, um zu einer wirksamen Prävention beizutragen. Auf die Arzneimitteltherapie bezogen gilt es somit abzuklären, welche Verhaltensgebote und Pflichten der Patient wahrzunehmen hat, um eine sichere und wirksame Therapie zu gewährleisten. Die Zuordnung von Verhaltensgeboten zu den Patienten, die auch »sanktionsbewehrt« eingefordert werden können, stellt im Kern eine juristische Analyse dar. Andererseits kann die juristische Beurteilung nicht ohne die Einbeziehung der medizinischen Realität erfolgen. Recht und Realität sind aufeinander angewiesen. Zum Einstieg in die Thematik bedarf es indes einiger Begriffserläuterungen. 1. Grundlagen der Prävention Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der allgemeinen Gesundheitsförderung und der Prävention. Diese anerkannte Unterscheidung findet sich auch in § 2 des Entwurfs des Präventionsgesetzes. Die Gesundheitsförderung umfasst den Aufbau individueller Fähigkeiten sowie gesundheitsförderlicher Strukturen, um das Maß an Selbstbestimmung des Einzelnen über seine Gesundheit zu erhöhen. Gegenüber der Gesundheitsförderung ist der Präventionsbegriff enger gefasst. Die Prävention meint alle Vorkehrungen zur Verhinderung von Krankheiten, Gesundheitsschäden oder Unfällen einschließlich der individuell veranlassten ärztlichen Maßnahmen, die der Überwachung und Erhaltung der Gesundheit dienen (Roche Lexikon Medizin 2003). Es wird weitergehend unterschieden zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Die primäre Prävention zielt auf die Verhütung und Vorbeugung des erstmaligen Auftretens von Gesundheitsschäden und Krankheiten. Die sekundäre Präven-
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
tion zielt auf die Früherkennung von noch asymptomatischen Krankheitsvorstufen bzw. Krankheitsfrühstadien. Schließlich dient die tertiäre Prävention der Verhütung der Verschlimmerung von Erkrankungen und Behinderungen sowie der Vorbeugung von Folgeerkrankungen. 2. Die Arzneitherapie und Arzneimittelschäden Die Arzneimitteltherapie ist die am weitesten verbreitete medizinische Behandlungsform. Dabei geht ihre Bedeutung weit über die konservativen Fachgebiete hinaus, da auch die operativen Eingriffe erst durch entsprechende Arzneimittel, zum Beispiel zur Anästhesie, ermöglicht werden. Die Bedeutung der Arzneitherapie ist unbestritten. Indes ist allen Beteiligten auch klar, dass es kein wirksames Arzneimittel gibt, das nicht auch schädliche Nebenwirkungen entfalten kann. Im US-amerikanischen Sprachgebrauch wird daher auch von »unavoidably unsafe products« gesprochen (Deutsch, Lippert 2001). Das Produkt Arzneimittel hat ein gesteigertes Konsumrisiko (Koyuncu 2004). Die sichere Arzneitherapie erfordert das Zusammenwirken einer Reihe von Beteiligten. Die Protagonisten des unmittelbaren Behandlungsgeschehens sind der Arzt und der Patient. Sehr eng verbunden mit ihnen ist der pharmazeutische Unternehmer (im Folgenden: Pharmaunternehmer), der das Arzneimittel in den Verkehr bringt, denn dieser ermöglicht dadurch erst seine therapeutische Anwendbarkeit. Hinzu kommen weitere Beteiligte, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Arzneimittelschäden haben unterschiedliche Erscheinungsformen und Ursachen. Der klassische Fall ist die Nebenwirkung. Diese wird definiert als die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch des Medikaments auftretenden unerwünschten Begleiterscheinungen. Arzneimittelschäden können auch Folge von Unverträglichkeiten oder Allergien gegen die arzneilich wirksame Substanz oder Hilfsstoffe des Präparates sein. Darüber hinaus können arzneimittelinduzierte Gesundheitsschäden Folge von Wechselwirkungen sein, die sich aus der gemeinsamen Anwendung verschiedener – für sich alleine angewendet unschädlicher – Medikamente ergeben können. Zu bedenken ist, dass Arzneimittel auch mit Genussmitteln interagieren und zu Schäden führen können. Im März 2005 urteilte beispielsweise der Bundesgerichtshof, dass eine Gynäkologin einen Behandlungsfehler begeht, wenn sie ihre Patientin nicht ausreichend über die Interaktionsgefahren der »Pille« mit parallelem Zigarettenkonsum aufklärt (Bundesgerichtshof 2005). Eine wesentliche Schadensquelle liegt bei der Arzneitherapie zudem in der Nichtbeachtung von Kontraindikationen des Präparates.
125 Prävention und Eigenverantwortung
Bei einigen Arzneimitteln besteht zudem die Gefahr des Missbrauchs und der Suchtentwicklung. Nicht zuletzt können Schäden auch Folge von Qualitäts- und Verpackungsmängeln oder einer unzureichenden Kennzeichnung des Arzneimittels sein. Im Übrigen ist hervorzuheben, dass auch die Unwirksamkeit bzw. die unerwartet ausbleibende Wirkung eines Arzneimittels Schäden verursachen kann. In diese Gruppe sind zugleich die Fälle einzuordnen, in denen die Wirkungslosigkeit des Medikaments auf einem Anwendungsfehler beruht (z.B. falsche Dosierung). Die Tragweite dieser Schadensquelle kann veranschaulicht werden anhand der Folgen des Wirkungsausfalls von Antibiotika, Impfungen oder Kontrazeptiva. Hinsichtlich des Ausmaßes der Arzneimittelschäden wurde die öffentliche Wahrnehmung und die Arzneimittelgesetzgebung in Deutschland wesentlich durch zwei Großschadensfälle geprägt (Contergan® und HIV-infizierte Blutprodukte). Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan® führte vor allem zu schweren Missbildungen bei Neugeborenen (Phokomelie). Die Zahl der Betroffenen wird auf 6.000 geschätzt, davon 2500 Todesfälle. In den 80er Jahren entwickelte sich dann der Großschadensfall um HIV-verseuchte Blutprodukte, dem mindestens 6.000 Hämophilie-Patienten zum Opfer fielen (Wille, Schönhöfer 2002). Arzneimittelschäden machen sich aber nicht nur durch Großschadensfälle bemerkbar. Auch das Schadenspotential der laufenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen verdient Beachtung. So gehen Schätzungen von ca. jährlich 5.000–16.000 Todesfällen und 200.000 Krankenhausaufnahmen infolge von Arzneimittelschäden aus (Wille, Schönhöfer 2002; Grandt, Friebel, Müller-Oerlinghausen 2005). Eine genaue Ziffer lässt sich hierzu nur schwerlich konkretisieren. Der volkswirtschaftliche Schaden wäre auch bei den konservativen Schätzungen beachtlich. Diese Gruppe der Arzneimittelschäden hat unterschiedlichste Ursachen. Die Spannweite reicht von produktbezogenen Fehlern, Informationsfehlern, Fehlern bei der Herausgabe des Medikaments in der Apotheke bis hin zu Anwendungsfehlern (Koyuncu 2004). Diese Aufzählung lässt erahnen, dass Arzneimittelschäden häufig nicht eindeutig kausal zuzuordnen sind. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele Fälle tatsächlich auch kumulativ kausal bedingt sind, so dass im Ergebnis mehrere Akteure verantwortlich sind. Aus dem Vorgenannten wird deutlich, dass auch die Prävention von Arzneimittelschäden ein Zusammenwirken aller beteiligten Akteure erfordert.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Hierbei lassen sich die drei Stadien der Prävention ohne Weiteres auf Arzneimittelschäden anwenden, denn auch bei ihnen gilt es, ihrer Entstehung vorzubeugen (primäre Prävention), entstandene Schäden möglichst frühzeitig aufzudecken und in den Entstehungsprozess einzugreifen (sekundäre Prävention). Schließlich müssen auch bei Arzneimittelschäden Maßnahmen ergriffen werden, um ihrer Verschlimmerung oder Folgeerkrankungen vorzubeugen (tertiäre Prävention). In all diesen Stadien spielt die Eigenverantwortung des Patienten eine große Rolle.
III. Die Eigenverantwortung des Patienten bei der Arzneitherapie 1. Die Rolle des Patienten bei der Arzneitherapie Bei der Arzneitherapie ist ein höheres Maß an Mitwirkung und Eigenverantwortung des Patienten einzufordern. Auch hierin unterscheidet sie sich erheblich von den operativen Behandlungsmethoden. Die Unterschiede resultieren aus den Besonderheiten des Produkts und vor allem aus der nahezu vollständig dem Patienten überlassenen Therapiedurchführung. Die Rolle des Patienten ist bei der Arzneimitteltherapie eine viel eigenständigere, denn die praktische Therapieumsetzung liegt nahezu gänzlich bei ihm. Dies gilt insbesondere für die ambulante Arzneitherapie, aber nicht nur. Da die Therapiedurchführung und die therapieflankierenden Maßnahmen, wie z.B. das Einhalten einer Diät (und damit das Stadium der Schadensentstehung bzw. -vermeidung) in der Hand des Patienten liegen, hat der Arzt entsprechend weniger Einfluss auf die Umsetzung und den Erfolg der Behandlung. Daher ist bei der Arzneimitteltherapie nicht nur rechtlich, sondern auch bei der Diskussion um Prävention im Hinblick auf die Eigen- und Mitverantwortlichkeit des Patienten eine differenziertere Betrachtung geboten. Die Rollenverteilung bei der Arzneitherapie mit der dominierenden Rolle des Patienten birgt ein beträchtliches Schadenspotential, indem der Patient bei der Therapieumsetzung Fehler macht oder ärztliche Anweisungen missversteht, vergisst oder schlichtweg nicht befolgt. Hier ist die Mitarbeit des Patienten, d.h. seine Compliance, für eine sichere und wirksame Arzneitherapie unerlässlich. Die Schadensfolgen der Non-Compliance gehen aus zahlreichen Studien hervor (Heilmann 1994, Heuer, Heuer, Lennecke 1999, weitere Nachweise bei Koyuncu 2004).
127 Prävention und Eigenverantwortung
Bei der Arzneitherapie kommt für das Stadium nach der Schadensentstehung (tertiäre Prävention) hinzu, dass Arzneimittelschäden nicht immer leicht zu erkennen sind und dass es auch im Schadensfall der Patient ist, der dem Schaden am nächsten steht und ihn als erster feststellen und Schadensminderungsmaßnahmen in die Wege leiten lassen kann. Der Patient hat somit bei der Umsetzung der Arzneimitteltherapie sowohl vor als auch nach der Entstehung eines Schadens, d.h. in allen drei Stadien der Prävention, eine dominierende Rolle. Bereits aufgrund dieser Aspekte drängt sich die Frage nach der Eigen- und Mitverantwortung des Patienten an den Arzneimittelschäden und ihrer Prävention auf. 2. Der Rollenwandel im Arzt-Patienten-Verhältnis und das gewandelte Patientenbild Für die Frage nach der Eigen- und Mitverantwortung des Patienten ist zudem das gewandelte Patientenbild zu berücksichtigen, das sich mit dem Rollenwandel im Arzt-Patienten-Verhältnis entwickelt hat. Der »mündige Patient«, der selbst- und rechtsbewusst seine gesundheitlichen Interessen wahrnimmt, hat sich als Leitbild der rechtsdogmatischen und politischen Diskussion durchgesetzt. Dieses Bild mag angesichts der Realität des unmittelbaren Behandlungsgeschehens und der dortigen Schwächelagen, in denen sich der Patient mitunter wiederfindet, euphemistisch anmuten. Dennoch ist es der folgenden Untersuchung zugrunde zu legen, denn das Konzept des partnerschaftlich agierenden Patienten ist die Leitschnur, an der sich das gesamte Gesundheitswesen ausrichtet. Das belegt auch die Zunahme der Patientenbeteiligung in verschiedenen Gremien des Gesundheitssystems (z.B. im Gemeinsamen Bundesausschuss). Auch aus Public Health-Publikationen ist das Konzept des »SharedDecision-Making« zwischen Arzt und Patient nicht mehr wegzudenken. Diese Konzepte basieren ebenfalls auf dem Gedanken, dass der Patient dem Arzt nunmehr als selbstbestimmter Partner gegenübertrete. Besonders nachdrücklich sind die folgenden Ausführungen (BMGS 2003): »Die Rolle des Patienten im Gesundheitswesen ist einem zunehmendem Wandel unterworfen. Patienten werden mittlerweile als wichtige »Koproduzenten« und Experten für ihre eigene Gesundheit entdeckt.« Auch die Gesundheitsreform 2004 verfolgte als ein wesentliches Ziel die Stärkung der Patientensouveränität. So sind mit dem GKV-Modernisierungs-
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
gesetz die Versicherten stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden worden. Ihre Beteiligungsrechte korrespondieren mit entsprechenden Informationsrechten (Deutscher Bundestag 2004). Diese Entwicklungen können in der Diskussion um Eigenverantwortung des Patienten bei der Prävention nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn der Patient dem Arzt als selbstbestimmter Partner gegenübertritt und seine Belange autonom wahrnehmen soll, dann muss er sich auch daran festhalten lassen. Denn die Kehrseite der privatautonomen Selbstbestimmung ist die Selbstverantwortung. Nicht zuletzt wurde auch die Zielsetzung des Präventionsgesetzes damit umschrieben, »auf der Grundlage der Eigenverantwortung jedes und jeder Einzelnen« den »verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit« zu stärken (Deutscher Bundestag 2005b). Die Feststellungen zum neuen Rollenverständnis des Patienten sind im weiteren Verlauf dieser Analyse zu berücksichtigen. Dies gilt besonders für das Verhältnis des Patienten gegenüber seinem Arzt, aber auch gegenüber dem Pharmaunternehmer oder dem Apotheker. In diesen geflechtartigen personalen Gefügen ist die Ausarbeitung und Abgrenzung von Patientenpflichten und -obliegenheiten nur durch eine differenzierte Abwägung möglich. Diese Abwägung lässt die Rechtsprechung häufig (zu Lasten des Arztes) vermissen (vgl. als Beispiel das Urteil Bundesgerichtshof 2005 sowie Koyuncu 2005b und Koyuncu 2005c). Die Gerichte zögern offenkundig, den »sonst als mündig gepriesenen Patienten« für den Behandlungsverlauf als mitverantwortlich zu betrachten und sind zurückhaltend, wenn es darum geht, den Umfang der ärztlichen Schadensersatzpflicht aufgrund eines Patientenmitverschuldens zu kürzen (Taupitz, Jones 2002). Die Eigen- und Mitverantwortungssphäre des Patienten bei der Arzneitherapie lässt sich nicht isoliert betrachten. Da bei dieser Therapie ein Beziehungsgeflecht zwischen den Hauptakteuren Pharmaunternehmen, Arzt und Patient besteht, bedarf es stets der Gesamtschau des Pflichtengefüges zwischen diesen Beteiligten sowie einer Reihe von Nebenakteuren. Vor allem Pharmaunternehmen, Arzt und Patient bilden eine Risikoverantwortungsgemeinschaft (Koyuncu 2004). Für die Beurteilung der Rolle des Patienten ist daher zunächst kurz auf die bereits weitgehend etablierten Verantwortungssphären der anderen Akteure einzugehen, wobei der Schwerpunkt auf dem Arzt und dem Pharmaunternehmer liegt.
129 Prävention und Eigenverantwortung
3. Die Verantwortung des Pharmaunternehmers bei der Arzneitherapie Der Pflichtenkreis des Pharmaunternehmers kann als etabliert angesehen werden. Er ist vor allem durch das Arzneimittelgesetz vorgegeben. Für das Verständnis des Arzneimittelgesetzes und seiner sicherheitsrechtlichen Vorgaben ist es wichtig zu wissen, dass dieses Gesetz maßgeblich auf die Contergan®Katastrophe zurückgeht. Die gesamte Ausrichtung des deutschen Arzneimittelgesetzes besteht im Schutz des Patienten (Verbraucherschutzrecht). Das Arzneimittelrecht ist in seinen originären Anteilen präventives Sicherheitsrecht, d.h. Präventionsrecht. Das gilt sowohl für die Rechtsvorschriften, die sich mit zugelassenen Medikamenten befassen, als auch für die Gesetzesnormen, die sich den Arzneimitteln in der klinischen Forschung widmen (vgl. Koyuncu 2005a). Hinzu kommen ergänzende Pflichten, die der Bundesgerichtshof im Wege der Rechtsprechung entwickelt hat (sog. Verkehrssicherungspflichten). Eine vertiefte Darstellung der Pflichten des Pharmaunternehmers würde diesen Rahmen sprengen, daher seien nur die Eckpfeiler kurz beleuchtet. In die Verantwortungssphäre des Pharmaunternehmers fällt einerseits die auf das Produkt bezogene Arzneimittelsicherheit, die eine sichere und qualitätsgerechte Entwicklung und Herstellung erfordert. Der Pharmaunternehmer hat auch für einen sicheren Vertrieb seiner Produkte zu sorgen. Daneben muss er durch eine arzneimittelbezogene Aufklärung und Information der Anwender zu dem sicheren Einsatz beitragen (Hart 2003). Im Arzneimittelgesetz ist zudem vorgesehen, dass der Pharmaunternehmer seine vermarkteten Arzneimittel auf ihre »praktische Bewährung« hin beobachtet. Er muss ein Meldesystem für Schadensfälle einrichten und der Arzneimittelbehörde Bericht erstatten. Bei entsprechenden Gefahren hat er außerdem Warn- und Reaktionspflichten. Diese Pflichtenkreise haben in der industriellen Arzneimittelhaftung eine gleichrangige Bedeutung. Aus dieser Konstellation heraus wird verständlich, dass der pharmazeutische Unternehmer auch als der sicherheits- und haftungsrechtliche »Fiduziar der Arzneimittelsicherheit« bezeichnet wird (Hart 2003). Der Beitrag des Pharmaunternehmers für die Prävention bei der Arzneitherapie ist somit aufgeteilt in die verschiedenen Organisationssphären seines Betriebes und erfasst die Phase der Forschung und Entwicklung am Produkt, die Produktion sowie die Phase der Vermarktung. Gerade bei der letzteren hat er spezifische Pflichten zur Information über das Arzneimittel. Die Arzneimittelinformation ist zugleich ein Eckpfeiler für die Prävention vor Arzneimittelschäden, denn sie dient der Sicherheit der Arzneimittelanwendung (Hart 2003, Koyuncu 2004). Die
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Arzneimittelanwendung wiederum fällt auch in die Verantwortungssphäre des Patienten und des Arztes. 4. Der Verantwortungsbereich des Arztes Der Arzt hat eine herausragende Bedeutung bei der Gewährleistung der Arzneimittelanwendungssicherheit. Rechtlich haftet der Arzt für Behandlungsund Aufklärungsfehler. Dabei hat der Bundesgerichtshof ein System von Haftungstatbeständen und Beweisregeln entwickelt, durch das die Arzthaftung zu einem regelrechten Sonderhaftungsrecht geworden ist (Koyuncu 2004). Wegen seines Fachwissens wird der Kern der ärztlichen Verantwortungssphäre durch diejenigen Pflichten gebildet, bei denen es besonders auf das medizinische Wissen ankommt. Das sind vor allem die Pflichten bis zur Diagnosefindung und Therapieverordnung. Im Einzelnen sind die Pflichten zur Anamnese, zur Diagnostik, zur Vorbereitung der Therapieentscheidung (Arzneimittelauswahl), zur Therapieplanung und zur Festsetzung von Verlaufsbeobachtungsterminen anzuführen. Hierhin gehört auch die Pflicht zur Aufklärung des Patienten über seine Krankheit, deren Therapie und die Risiken. Auch ist der Patient vor der Arzneitherapie über die Behandlungsrisiken aufzuklären (Koyuncu 2005c). Ein alleiniger Verweis auf die Packungsbeilage reicht in der Regel nicht aus (Koyuncu 2005c und 2005d, Bundesgerichtshof 2005). Nachdem der Patient aber die Praxis mit einem Rezept verlassen hat, schwindet der Einfluss des Arztes. Insbesondere hat er nur wenig Einfluss auf die praktische Umsetzung der Therapie. Daher beschränkt sich sein Anteil an der Verhinderung von Arzneimittelschäden ab diesem Zeitpunkt hauptsächlich auf die Kontrolle und Verlaufsbeobachtung, ggf. Therapieumstellung sowie die Nachsorge. Wenn ein Gesundheitsschaden aufgetreten ist, wird der Arzt zur sekundären und tertiären Prävention wieder vermehrt gefordert, da seine Pflichten nun auf die Erkennung und Behandlung des Schadens abzielen. Wenn sich der Patient mit Beschwerden infolge des Arzneimittelschadens bei ihm vorstellt, treffen den Arzt letztlich die gleichen Pflichten, wie in der Situation, in der sich der Patient erstmals vorstellt. Es wird deutlich, dass die Therapiedurchführung die zentrale Grenzlinie der drei Verantwortungssphären zwischen Arzt, Patient und Pharmaunternehmen bildet (Koyuncu 2004). Diese drei haben (zusammen mit den Nebenakteuren) die Arzneimittelanwendungssicherheit zu gewährleisten.
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5. Nebenakteure an der Arzneimitteltherapie Als Nebenakteure am Dreieck Pharmaunternehmen – Arzt – Patient ist hinzuweisen auf die Apotheker, die Arzneimittelbehörde, die Krankenkassen, die Krankenhäuser, den Gemeinsamen Bundesausschuss und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Auch die Patientenbeauftragte der Bundesregierung sowie die Patientenvertreter sollten als neue Akteure (seit der Gesundheitsreform 2004) angesprochen werden. Die Nebenakteure haben unterschiedlich enge Verbindungen und Berührungspunkte zu den Hauptakteuren. Vor diesem Hintergrund haben sie auch einen jeweils unterschiedlichen Einfluss auf die Prävention von Arzneimittelschäden. Während die Apotheker und Krankenhäuser eine unmittelbare Kommunikations- und Interaktionsbeziehung zu den Patienten unterhalten, üben die anderen Nebenakteure eine eher steuernde Funktion aus. Dennoch sollte ihre Bedeutung für die Prävention nicht unterschätzt werden. Dies gilt insbesondere angesichts des steigenden Wirtschaftlichkeitsdrucks im Gesundheitswesen. Der HIV-Blutprodukte-Skandal sollte an dieser Stelle mahnendes Beispiel sein, da dieser Schadensfall in seinem Ausmaß erst durch das Zusammenwirken der Versäumnisse nahezu aller Akteure verursacht wurde. Das gilt auch für das damalige Bundesgesundheitsamt und die Krankenkassen (Wille, Schönhöfer 2002). Ein Teil der Krankenkassen hatte sich in der Zeit nach 1981 trotz der bekannten Infektionsgefahren gegen die Verwendung der sichereren hitzeinaktivierten Faktor-VIII-Präparate ausgesprochen, weil sie teurer waren als die potenziell HIV-infizierten Präparate (Landgericht Kleve 1991, Koyuncu 2005e). Diese Ausführungen können zum Großteil auch auf den Gemeinsamen Bundesausschuss übertragen werden, da sich die Interessenlagen dieser Institutionen zu einem nennenswerten Anteil überschneiden (Stichwort: Wirtschaftlichkeitsgebot). Den Arzneimittelbehörden kommt weiterhin große Bedeutung bei der Vorbeugung von Arzneimittelschäden zu, denn sie entscheiden über die Zulassung des Arzneimittels, so dass Ihnen Nachweise zur Produktverträglichkeit vorzulegen sind. Zugleich sind sie in die Produktsicherheitsbeobachtung eingebunden (Stufenplanverfahren). Die Bedeutung der Patientenvertreter, der Patientenbeauftragten und des IQWiG bei der Prävention von Arzneimittelschäden ist derzeit noch nicht sicher abschätzbar. Auf die Nebenakteure und ihre Rollen und Verantwortlichkeiten bei der Arzneitherapie und der Prävention vor Arzneimittelschäden kann hier aus
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Platzgründen nicht weiter eingegangen werden (vgl. weiterführend Koyuncu 2004). Es kann aber festgehalten werden, dass sie die Verantwortlichkeiten zwischen den drei Hauptakteuren Pharmaunternehmen, Arzt und Patient nicht wesentlich modifizieren. Daher kann sich die Untersuchung nunmehr dem dritten Hauptakteur, nämlich dem Patienten und seiner Eigenverantwortungssphäre annehmen.
IV. Die Eigenverantwortungssphäre des Patienten bei der Arzneitherapie 1. Obliegenheiten als rechtliches Instrument der Verantwortungszuteilung Es wurde bereits dargelegt, dass die Prävention von Arzneimittelschäden einen Bereich darstellt, bei dem es besonders auf die aktive Mitwirkung des Patienten ankommt. Den Umfang dieser Mitwirkungslast des Patienten gilt es im Folgenden abzugrenzen und damit seine Verantwortungssphäre darzustellen. Das rechtliche Instrument zur Darstellung und Zuweisung von Risikound Verantwortungssphären zwischen mehreren Parteien sind die sogenannten Obliegenheiten. Sie sind definiert als Rechtspflichten minderen Grades, die der einzelne im eigenen Interesse wahrzunehmen hat und bei deren Verletzung er eine eigene ihm günstige Rechtsposition einbüßt. Das bedeutet, dass ein Patient, der gegen eine Obliegenheit verstößt und damit einen Arzneimittelschaden schuldhaft mitverursacht, gegenüber dem beklagten Arzt eine Kürzung seines Anspruchs hinnehmen muss. Die Verletzung seiner Obliegenheit wird ihm als ein Mitverschulden vorgehalten (Koyuncu 2004). 2. Die Stadien der Arzneitherapie Die Obliegenheiten des Patienten bei der Arzneitherapie lassen sich durch Aufteilung der Arzt-Patienten-Interaktion in drei Stadien veranschaulichen: 4 Das Stadium 1 der Arzt-Patienten-Interaktion bei der Arzneitherapie beginnt, wenn der Patient die Arztpraxis aufsucht und endet mit dem Verlassen der Praxis mit einem Rezept und/oder einem Arzneimittel. 4 Das Stadium 2 ist das Stadium der Arzneimitteleinnahme. Es beginnt damit, dass der Patient die Arztpraxis mit einem Rezept verlässt und erfasst den gesamten Zeitraum der Einnahme des verordneten Medikaments. Im
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Stadium 2 ist noch keine arzneimittelbedingte Gesundheitsstörung aufgetreten. 4 Das Stadium 3 setzt mit dem Eintritt eines Arzneimittelschadens ein. Dabei kommt es nicht darauf an, wie weit der Schaden fortgeschritten ist und wie lange er schon besteht. Diese Einteilung der Arzt-Patienten-Interaktion gibt bei der Herausarbeitung der Patientenobliegenheiten die Möglichkeit, die Aufteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention zu berücksichtigen. 3. Die Patientenobliegenheiten im Stadium 1 Es ist anerkannt, dass der Patient im eigenen Interesse die abstrakte Obliegenheit hat, an den Heilungsbemühungen des Arztes mitzuwirken. Dies gilt für alle Behandlungsformen. Da bei der Arzneimitteltherapie seine Mitwirkung ganz besonders erforderlich ist, treffen ihn bei ihr gesteigerte Obliegenheiten. Zunächst trifft ihn in allen Stadien der Arzt-Patienten-Interaktion und bei allen Behandlungsformen die Obliegenheit zur Befolgung der ärztlichen Anweisungen. Der Patient muss im eigenen Interesse die ihm erteilten ärztlichen Anweisungen befolgen, denn diese konkretisieren seine oben genannte abstrakte Mitwirkungsobliegenheit. Die vom Arzt aufgegebenen Anweisungen führen inhaltlich ihrer Rechtsnatur nach zu Patientenobliegenheiten. Dies gilt wegen des ärztlichen Fachwissens und seines Informationsund Wissensvorsprunges gegenüber dem Patienten. Aufgrund dieses Vorsprunges hat der Arzt die Einschätzungsprärogative bezüglich der Erforderlichkeit einer medizinischen Maßnahme (Koyuncu 2004). Von diesen ärztlichen Anweisungen darf ein Patient nicht eigenmächtig bzw. ohne Rücksprache abweichen. Im Stadium 1, vor Beginn der Arzneitherapie, hat der Patient Obliegenheiten zur Schadensfernhaltung zu beachten. Darunter fällt zunächst die Obliegenheit zur korrekten und vollständigen Beantwortung der Anamnesefragen. Außerdem hat der Patient im Stadium 1 die Obliegenheit, den Arzt von sich aus auf besondere persönliche Umstände hinzuweisen, die für die Therapieentscheidung von Bedeutung sind (Hinweis- und Warnobliegenheit). Aus der Rechtsprechung ist anerkannt, dass zu diesen besonderen Umständen konstitutionelle körperliche oder medizinische Besonderheiten gehören. Unter diese Besonderheiten dürfte auch die laufende Begleitmedikation des Patienten fallen, über die der Patient den Arzt von sich aus zu informieren hat.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Im Übrigen muss er im Stadium 1 bei den ärztlich vorgeschlagenen Diagnosemaßnahmen mitwirken. Diese Mitwirkungsobliegenheit gilt auch bei der Therapieauswahl. Eine Sonderrolle nimmt im Stadium 1 die Aufklärung vor der Arzneitherapie ein. Der Patient hat auch die Obliegenheit, an der Aufklärung mitzuwirken. Er muss dem Arzt zunächst seinen Aufklärungsbedarf korrekt darstellen und kein falsches Bild über seine eigene (vermeintliche) Informiertheit abgeben. Noch bei der ärztlichen Aufklärung trifft ihn eine eingeschränkte Nachfrageobliegenheit zu Sachverhalten, die ihn persönlich betreffen. Diese Obliegenheit wird deshalb als »eingeschränkte« Nachfrageobliegenheit bezeichnet, weil an den Patienten als medizinischen Laien bei der Nachfrage nach bestimmten medizinischen Inhalten nicht zu hohe Ansprüche gestellt werden können. Da die Packungsbeilage der schriftlichen Aufklärung durch den pharmazeutischen Unternehmer mit der Festlegung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Arzneimittels entspricht, hat der Patient diese zu seiner eigenen Information über die Anwendung, über die Risiken und zur weiteren Instruktion zu lesen und zu beachten (Koyuncu 2005e). Die Packungsbeilage hat auch eine Haftungsausschlussfunktion. Der Patient hat die Obliegenheit zur Beachtung der Packungsbeilage. Der Patient hat zudem die Obliegenheit, nach der Packungsbeilagenlektüre aufgetretene oder verbliebene Ungereimtheiten durch Rückfragen beim Arzt oder Apotheker oder bei den Informations-Hotlines des Pharmaunternehmers abzuklären. Wird er durch die unkritische Einnahme des Arzneimittels verletzt, obwohl sich ihm aus der Packungsbeilage oder der Arzneimittelkennzeichnung Zweifel an der Richtigkeit hätten aufdrängen müssen, ist ihm dies als ein Verstoß gegen die Gebote des eigenen Interesses und der Schadensprävention anzulasten. Auch dies entspricht juristisch einem Mitverschulden des Patienten. 4. Die Patientenobliegenheiten im Stadium 2 Im Stadium 2 ist die zuvor ausgewählte Therapie durchzuführen. Hier kommt es nunmehr entscheidend darauf an, dass der Patient die Arzneimittel gemäß den Anweisungen von Arzt und Packungsbeilage einnimmt (Laufs, Uhlenbruck 2002, Deutsch, Spickhoff 2003, Koyuncu 2004). Der Verstoß gegen die Einnahmeanweisungen des Arztes durch den Patienten ist nicht nur durch zahlreiche Studien belegt, sondern als Problem der Arzneitherapie schon seit Hippokrates bekannt, der seine Kollegen im Corpus Hippocraticum (zitiert aus Dierks 1996) wie folgt warnte:
135 Prävention und Eigenverantwortung
»Passt auf die Fehler der Patienten auf, deren viele häufig hinsichtlich des Einnehmens von verordneten Mitteln schwindeln: sie nehmen die verhassten Heiltränke, weder Arzneien noch sonstige der Behandlung dienenden Mittel nicht ein und sterben. Und solch Geschehnis wird dann dem Arzt in die Schuhe geschoben.« Auf die Gefahren aus der mangelnden Compliance wurde bereits einleitend hingewiesen. Somit ist bereits zu Beginn der Obliegenheiten im Stadium 2 der Arzneitherapie die grundlegende Patientenobliegenheit zur Compliance hervorzuheben. Zur Compliance, die definiert werden kann als die Übereinstimmung des Patienten mit einem medizinischen Rat (Bauer 1983), gehört die anweisungsgemäße Arzneimitteleinnahme. Der Patient darf die Therapie nicht eigenmächtig abbrechen. Unter die Compliance fällt auch die anweisungsgemäße therapiebegleitende Lebensführung und insbesondere das Unterlassen einer eigenmächtigen zusätzlichen Selbstmedikation. Die Non-Compliance ist die wesentliche Schadensquelle bei der Arzneitherapie und ist in den meisten Fällen dem Patienten als Mitverschulden anzulasten (Koyuncu 2004). Interessanterweise wird ihre Bedeutung in der Rechtsprechung und der juristischen Literatur unterschätzt. Die Compliance des Patienten ist als eines der wesentlichen Elemente zur Prävention von Arzneimittelschäden anzusehen. Dass der Patient die Therapieanweisungen einzuhalten hat, ist nicht nur eine medizinische Selbstverständlichkeit, sondern auch juristisch angemessen. Genauso wie es in die Verantwortungssphäre des Pharmaunternehmers und des Arztes fällt, dem Patienten sachgerechte Anweisungen zur Therapiedurchführung zu geben, fällt es umgekehrt in die Verantwortungssphäre des Patienten, die Arzneimittel auch anweisungsgemäß einzunehmen und sein Therapiebegleitverhalten anzupassen. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass Arzneimittel ein erhöhtes Konsumrisiko aufweisen und es wohl kein wirksames Arzneimittel gibt, das nicht auch schädliche Nebenwirkungen haben kann. Durch seine Compliance gewährleistet der Patient, dass die Therapie möglichst wirkungsvoll und sicher verläuft. Der Patient hat im Stadium 2 ferner die Obliegenheit zur Einhaltung von Nachsorge- und Kontrollterminen, und zwar ohne dass ihn der Arzt an Termine erinnern oder ihm etwa hinterher telefonieren muss. Es ist Sache des Patienten, seine eigenen höchstrangigen Rechtsgüter mitzubeschützen. Dass der Patient zudem die Obliegenheit zur Beachtung der Hinweise aus der an ihn gerichteten Packungsbeilage hat, wurde bereits ausgeführt.
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
5. Die Patientenobliegenheiten im Stadium 3 Im Stadium 3 treffen den Patienten Schadensminderungsobliegenheiten. Hier muss die eigenverantwortliche tertiäre Prävention durch den Patienten beginnen. Nachdem eine arzneimittelinduzierte Gesundheitsschädigung eingetreten ist, hat der Patient im eigenen Interesse zur Schadensfeststellung beizutragen. Zu diesem Zweck trifft ihn eine eingeschränkte Selbstbeobachtungsobliegenheit. Das bedeutet, dass er auf körperliche, gesundheitliche und andere neu aufgetretene Auffälligkeiten achten und bei ihrer Feststellung reagieren und sie medizinisch abklären lassen muss. Auch diese Obliegenheit wird deshalb als »eingeschränkte« Selbstbeobachtungsobliegenheit bezeichnet, weil an den Patienten bei ihr nicht so hohe Anforderungen gestellt werden können wie z.B. bei der (uneingeschränkten) Obliegenheit zur Compliance. Dennoch kann von dem Patienten verlangt werden, dass er zumindest auf Auffälligkeiten reagiert und sie durch Rückfragen beim Arzt oder auch beim Apotheker abklären lässt. Wenn eine arzneimittelbedingte Gesundheitsschädigung festgestellt worden ist, hat der Patient im Interesse seiner Leistungsfähigkeit auch zumutbaren Schadensminderungsmaßnahmen zuzustimmen. Mithin treffen ihn Schadensminderungsobliegenheiten. Zu den jetzt gebotenen Maßnahmen der tertiären Prävention gehören neben der Behandlung des Schadens auch flankierende Maßnahmen, wie z.B. die volkswirtschaftlich sehr relevanten Erwerbs- und Umschulungsobliegenheiten des Patienten. Gerade die letzteren spielen wegen der finanziellen Bedeutung einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in Arztund Pharmahaftungsfällen regelmäßig eine bedeutende Rolle. Auch eine frühzeitige Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen ist ein Baustein der tertiären Prävention. Die Patientenobliegenheiten im Stadium 3 erfordern erneut eine Abstimmung zwischen Arzt und Patient, die zu einer erneuten Diagnostik- und Behandlungssituation führt. Daher werden ab diesem Punkt auch die im Stadium 1 bereits beschriebenen Obliegenheiten anwendbar sein. Zudem hat der Patient mitunter auch im Stadium 3 etwaige Nachsorge- und Kontrolltermine einzuhalten. Aufgrund der enormen Bedeutung sei abschließend erneut hervorgehoben, dass der Patient in allen Stadien der Arzt-Patienten-Interaktion in seinem eigenen Interesse die fundamentale Obliegenheit hat, die ärztlichen Anweisungen zu befolgen.
137 Prävention und Eigenverantwortung
6. Zusammenfassung Die Aufteilung der dargelegten Obliegenheiten in die Stadien vor und nach Schadensentstehung trägt einerseits der Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention Rechnung. Sie entspricht zudem auch der haftungsrechtlich bedeutsamen Rechtsvorschrift § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuches (Mitverschulden des Geschädigten), wo zwischen Obliegenheiten zur Schadensfernhaltung und zur Schadensminderung unterschieden wird. Zusammenfassend dienen die Patientenobliegenheiten in den Stadien 1 und 2 der primären Prävention. Hingegen zielen die Obliegenheiten im Stadium 3 auf die Schadensentdeckung, die Schadensbegrenzung und die Schadensminderung ab. In der Gesamtschau korrespondieren die Patientenobliegenheiten mit den Pflichten des Pharmaunternehmens und des Arztes. Auch sie bilden ein System aufeinander abgestimmter Verhaltensgebote. Rechtlich können sich sowohl der Arzt als auch der Pharmaunternehmer auf die schuldhafte Verletzung dieser Obliegenheiten berufen, da dieser Befund ein Mitverschulden des Patienten darstellt. Im Haftpflichtprozess führt das Mitverschulden zu einer Kürzung (bis hin zum Wegfall) des Anspruchs des Patienten auf Schadensersatz. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass mehrere dieser Obliegenheiten nicht spezifisch für die Arzneimitteltherapie sind. Vielmehr sind viele von ihnen auch bei anderen Behandlungsformen sowie im Umgang mit Medizinprodukten anwendbar. Daher kann ihre Beachtung auch in diesen Fällen eine wichtige präventive Wirkung entfalten. Nicht zuletzt kann die Verletzung der Obliegenheiten auch in Haftungsfällen aus anderen Therapieformen und in Produkthaftungsfällen bei Medizinprodukten als Mitverschulden des Patienten vor Gericht eingewandt werden.
V. Schlussbemerkung und Ausblick Die oben aufgezeigten Verhaltensgebote des Patienten bei der Prävention konkretisieren seine Eigenverantwortungssphäre. Diese Obliegenheiten sind als angemessen anzusehen. Dies gilt insbesondere im Lichte der Verantwortungssphären der anderen Beteiligten. Die Obliegenheiten konkretisieren die korrespondierende Eigenverantwortung des Patienten in allen Stadien der Arzneitherapie. Zu berücksichtigen ist hierbei auch der Rollenwandel im Arzt-
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A · Konzeptorientierte Aspekte der Prävention
Patienten-Verhältnis. Der privatautonome und mündige Patient ist heute das Leitbild im Medizin-, Pharma- und Sozialrecht. Aber Privatautonomie ist nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch Selbstverantwortung. Die Prävention von Arzneimittelschäden stellt einen umschriebenen Bereich dar. Die Eigenverantwortung des Patienten ist genauso gefordert, wenn es um andere Behandlungsformen geht. Sie betrifft letztlich die gesamte Lebensführung. Als Einzelpunkte sind exemplarisch die Ernährung, die Einnahme von Genussmitteln und Drogen, körperliche Bewegung und die Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen zu nennen. Hinsichtlich der oben entwickelten Patientenobliegenheiten kann auch festgestellt werden, dass sie nicht auf die Arzneitherapie begrenzt, sondern durchaus auch auf andere Behandlungsformen anwendbar sind. Insgesamt gelten die meisten Obliegenheiten für die gesamte Arzt-Patienten-Interaktion. Die Diskussion um die Eigen- und Mitverantwortung des Patienten betrifft das gesamte Gesundheitswesen. Die Patientenobliegenheiten unterstreichen die Eigenverantwortung des Patienten. Die Beachtung dieser Obliegenheiten durch den Patienten kann einen großen Beitrag für die Prävention von Arzneimittelschäden leisten. Das entspräche einem klassischen Fall der Prävention durch Eigenverantwortung.
Literatur 1. Bauer A: Was ist Compliance? Deutsches Ärzteblatt 80, (39) 1983: 46–50 2. Bundesgerichtshof (2005), Urteil vom 15.3.2005 – Az.: VI ZR 289/03, veröffentlicht in: GesundheitsRecht 2005: 257–258 (auch abrufbar unter: www.bundesgerichtshof.de) 3. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): gesundheitsziele.de – Forum zur Entwicklung und Umsetzung von Gesundheitszielen in Deutschland; Berlin 2003 4. Deutsch E, Spickhoff A: Medizinrecht – Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht; 5. Auflage, Berlin/Heidelberg 2003 5. Deutscher Bundestag (2004), Bundestags-Drucksache 15/4135 6. Deutscher Bundestag (2005a) Bundestags-Drucksache 15/5214 7. Deutscher Bundestag (2005b), Bundestags-Drucksache 15/4833 8. Dierks C: Arzneitherapie und Recht – Verordnung, Haftung und Regreß; Stuttgart 1996 9. Grandt D, Friebel H, Müller-Oerlinghausen B: Arzneitherapie(un)sicherheit, Deutsches Ärzteblatt 102, (8) 2005: 509–515 10. Hart D: Arzneimittelinformation zwischen Sicherheits- und Arzthaftungsrecht – Fachund Gebrauchsinformation, ärztliche Aufklärung und Pflichtverletzung; Medizinrecht 2003: 603–609 11. Heilmann K: Medikament und Risiko; Stuttgart 1994
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12. Heilmann K: Arzneimittel-Sicherheit, Die Rolle des Patienten; Köln 1988 13. Heilmann K, Herrmann M: Patient und Medikament. Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung bei Patienten. Infratest Gesundheitsforschung, München 1990 14. Heuer HO, Heuer SH, Lennecke K: Compliance in der Arzneitherapie. Von der Non-Compliance zu pharmazeutischer und medizinischer Kooperation., Stuttgart 1999 15. Jahn W, Kümper HJ: Aus der Praxis eines Haftpflichtversicherers: Der Medizinschaden aus rechtlicher und medizinischer Sicht; Medizinrecht 1993: 413–417 16. Koyuncu A (2005a): Haftungs- und Versicherungsfragen in der Medizinischen Forschung – Unter besonderer Berücksichtigung der Probandenversicherung und der Haftung der Ethikkommissionen, PHi – Haftpflicht international (3) 2005: 86–91 17. Koyuncu A (2005b): Das Mitverschulden des Patienten in der Arzneimittelhaftung, Pharma Recht (7) 2005: 289–297 18. Koyuncu A (2005c): Die Aufklärung des Patienten vor der Arzneitherapie durch Arzt und pharmazeutischen Unternehmer, Krankenhaus & Recht (4) 2005: 75–81 19. Koyuncu A (2005d): Die Rechtsnatur der Packungsbeilage, Gesundheitsrecht (7) 2005: 289–295 20. Koyuncu A (2005e): Haftung für Arzneimittelschäden, Recht und Politik im Gesundheitswesen (3) 2005: 69–75 21. Koyuncu A (2004): Das Haftungsdreieck Pharmaunternehmen – Arzt – Patient. Verschulden und Mitverschulden bei der Haftung für Arzneimittelschäden. Berlin/Heidelberg, 2004 22. Landgericht Kleve, Urteil vom 25.10.1990 – Az.: 40211/89, veröffentlicht in: Neue Juristische Wochenschrift 1991: 761–762 23. Laufs A, Uhlenbruck, W: Handbuch des Arztrechts; 3. Auflage, München 2002 24. Roche Lexikon der Medizin, 2. Auflage, München, Wien, Baltimore 2003 25. Taupitz J, Jones E: Das Alles oder Nichts-Prinzip im Arzthaftungsrecht – Quotenhaftung, in: Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwälte im Medizinrecht (Hrsg.): Waffen-Gleichheit – Das Recht in der Arzthaftung; Berlin/Heidelberg, (2002): 67–83 26. Wille H, Schönhöfer PS: Arzneimittelsicherheit und Nachmarktkontrolle. Entwicklungen seit der Reform des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1978; Der Internist 43(4) 2002: 469– 481
B Prävention und Lebenswelten Mehr Gesundheit für alle – ein Programm zur Reduzierung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen durch Prävention in Lebenswelten – 143 Michael Bellwinkel, Alfons Schröer
Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation in der lebensweltorientierten Primärprävention – 157 Michael T. Wright, Martina Block
Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte: Das Beispiel der schulischen Suchtprävention und Skillförderung – 173 Uwe H. Bittlingmayer, Klaus Hurrelmann
Übergewicht bei Migrantenkindern – methodisch– epidemiologische Stolpersteine – 193 Liane Schenk, Anja Kroke, Anette E. Buyken, Nadina G. Karaolis-Danckert N, Anke L. B. Günther, Sally Meerkamm, Oliver Razum
Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst – 219 Bertram Szagun, Klaus Walter
Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen – 243 Walter Brehm
Gesundheitssport in Turn- und Sportvereinen – ein Beitrag zur Förderung der öffentlichen Gesundheit – 267 Michael Tiemann
Herausforderungen der Zukunft – Entwicklung des Turn- und Sportvereins als gesunder Lebensort – 291 Karin Fehres, Pia Pauly
Struggle over Tobacco Control in Serbia: Transnational Tobacco Companies vs. Public Health – 299 Andjelka Dzeletovic, Sanja Matovic Miljanovic, Ulrich Laaser
143 Mehr Gesundheit für alle
Mehr Gesundheit für alle – ein Programm zur Reduzierung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen durch Prävention in Lebenswelten Michael Bellwinkel*, Alfons Schröer
Abstract Der BKK Bundesverband zeigt mit seinem Programm »Mehr Gesundheit für alle«, wie Sozialversicherungsträger ohne Reglementierungen durch die Politik (wie im Präventionsgesetz der SPD/Die Grünen Regierung geplant) einen sozialkompensatorischen Ansatz in der Gesundheitsförderung durchführen können. Dieser Ansatz genießt im In- und Ausland großes Ansehen und kann Modellcharakter haben. Schlüsselworte: Primärprävention, Lebenswelt, Arbeitslosigkeit, Migration,
soziale Ungleichheit
I. Einleitung Der von Bund und Ländern gemeinsam vorgelegte, durch die vorgezogene Bundestagswahl nun aber gestoppte Entwurf eines Präventionsgesetzes sah einen starken Soziallagenbezug für die primäre Prävention in Deutschland vor. Dieser findet sich schon im § 20 Abs. 1 SGB V in der seit dem Jahr 2000 gültigen Fassung, wonach Krankenkassen insbesondere zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen einen Beitrag leisten sollen. Auf dieser Grundlage haben die BKK-Verbände im Sommer 2002 beschlossen, die Prävention zu stärken und zu diesem Zweck jeweils 5% des gesetzlichen Richtwertes * e-mail:
[email protected]
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B · Prävention und Lebenswelten
nach § 20 Abs. 3 SGB V zur Prävention für sozial Benachteiligte auf der Bundesund Landesebene zur Verfügung zu stellen. Die Notwendigkeit eines solchen Engagements wird durch eine aktuelle Studie des Institutes für Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Duisburg–Essen (7,9) nachdrücklich bestätigt. In der Studie mit mehr als 300.000 Probanden wurde das Risiko der Frühberentung untersucht und festgestellt, dass es eine sehr starke inverse, lineare Beziehung zwischen verschiedenen Sozialschichtindikatoren wie Qualifikation, Einkommen und Prestige gibt. So ist etwa das Risiko eines Arbeiters aus dem untersten Lohnsegment, vor dem Erreichen der Altersgrenze aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit aufgeben zu müssen, um rund das fünffache höher als bei einem männlichen Hochschulabsolventen und zwar auch dann, wenn wesentliche Belastungen aus der Arbeitswelt kontrolliert werden. Soziale Ungleichheit von Gesundheit ist jedoch keineswegs ein Thema von sozialen Randgruppen allein (bei denen es naturgemäß noch stärker ausgeprägt ist), sondern ein Thema, das weite Teile der sogenannten Normalbevölkerung betrifft. Maßnahmen der Prävention, die dies nicht reflektieren, verstärken ungewollt die gesundheitliche Ungleichheit in der Bevölkerung. In der Regel gehen höhere Belastungen in der Arbeitswelt oder auch höhere Belastungen durch ungewollte Arbeitslosigkeit nicht nur mit einem gesundheitlich riskanteren Lebensstil, sondern auch mit einer deutlichen Abstinenz gegenüber präventiven Angeboten der Krankenkassen einher. Der gering verdienende Arbeiter, der Migrant aus der Türkei oder auch die einfache Kassiererin im Lebensmittelladen an der Ecke werden durch die klassischen Präventionskursangebote nicht erreicht (vgl. u. a. 11, 13, 14). Der bisherige gesellschaftliche Wertewandel, der mehr Gesundheit propagiert und auch vom einzelnen fordert, erreicht diese Gruppen bislang nicht. Deshalb muss das »Mehr Gesundheit« durch den Zusatz »für alle« ergänzt werden – mit anderen Worten: Im Fokus dieser Initiative der Betriebskrankenkassen stehen diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die durch die traditionellen Angeboten noch nicht erreicht werden konnten, deren Bedarf an gesundheitlicher Prävention besonders hoch ist.
II. Das BKK-Programm »Mehr Gesundheit für alle« Vor diesem Hintergrund fördert der BKK Bundesverband im Rahmen seiner Initiative »Mehr Gesundheit für alle« seit Anfang 2003 über 30 Projekte (Maß-
145 Mehr Gesundheit für alle
nahmen und Strukturen), für die er in den Jahren 2003, 2004 und 2005 mehr als 4,5 Mio. € Fördermittel aus seiner Verbandsumlage zur Verfügung gestellt hat (1). Weitere 4,5 Mio. € investierte die Betriebliche Krankenversicherung in der gleichen Zeit in die hiermit in Beziehung stehende Selbsthilfeförderung (2). Die Initiative »Mehr Gesundheit für alle« basiert auf drei Säulen: 4 Die Verbesserung der Erkenntnis- und Wissensbasis durch wissenschaftliche Expertisen und den breiten Diskurs mit Experten und Praktikern. 4 Die Weiterentwicklung von Strukturen, um die Voraussetzungen zur Durchführung und Verbreiterung von Gesundheitsförderungs-Ansätzen zu verbessern. 4 Die Projektförderung zur Erprobung innovativer, praxistauglicher Ansätze in enger Kooperation mit kompetenten Partnern, die bei entsprechender Eignung den BKK zur Nachahmung empfohlen werden. Verbesserung der Erkenntnis- und Wissensbasis
Erster Schritt der Initiative »Mehr Gesundheit für alle« war der Start eines intensiven fachlichen Austausches mit Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen: Hierzu wurden u. a. Gutachten als Grundlage für die weitere Arbeit in Auftrag gegeben. Diese liegen vor und wurden auf Workshops mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis diskutiert und sind in der BKK-Buchreihe »Gesundheitsförderung und Selbsthilfe« beim Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, veröffentlicht (8, 10, 12, 13). Das zentrale Gutachten »Primäre Prävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen«, das den Krankenkassen Hinweise zur guten Umsetzung des § 20 Abs. 1 SGB V gibt, wurde bei Prof. Rolf Rosenbrock in Auftrag gegeben (13). Rosenbrock hat seine Untersuchung in 13 Befunde und Empfehlungen zusammengefasst, die auch in komprimierter Form als Broschüre veröffentlicht wurden (4). Kernaussagen aus diesem Gutachten sind: Analysen der epidemiologischen Makrotrends in reichen Ländern weisen ebenso wie Ergebnisse erfolgreicher Interventionen und historische Erfahrungen darauf hin, dass der schwerpunktmäßige Auf- und Ausbau von Primärprävention eine der zentralen gesundheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist. Die gesellschafts- und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung des § 20 Abs. 1 SGB V sind durch die Zunahme
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B · Prävention und Lebenswelten
der Bezugsprobleme und eine hohe programmatische Dynamik gekennzeichnet: Die Gründung des Deutschen Forums für Prävention und Gesundheitsförderung, die Vorbereitungen für ein – allerdings politisch glückloses, weil an zahlreichen Widersprüchen und bürokratischen Entgleisungen letztlich gescheitertes – Bundesgesetz für Prävention sowie zahlreiche politische Stellungnahmen und Bekenntnisse zur Prävention verweisen auf eine für das Thema günstige politische Konjunktur. Der diesbezügliche Auftrag an die GKV im § 20 Abs. 1 SGB V trifft auf Institutionen, die in den vergangenen Jahren ihre fachliche und organisatorische Kompetenz zur Entwicklung und Umsetzung moderner Prävention unter Beweis gestellt haben. Die Institutionen der GKV sollten nach Rosenbrock gerade jetzt der Erfüllung des im § 20 Abs. 1 SGB V enthaltenen Auftrags, einen wesentlichen Beitrag zum Auf- und Ausbau primärer Prävention in Deutschland zu leisten und dazu Primärprävention als Entwicklungsaufgabe und als neues und eigenständiges Aufgabenfeld der GKV zu gestalten, eine hohe politische und organisatorische Priorität einräumen und die für das Thema günstige politische Konjunktur nutzen. Dies impliziert sechs Aufgaben für Selbstverwaltung, Management und Mitarbeiter der Kassen: 4 Erarbeitung und Nutzung des gesundheitswissenschaftlichen Kenntnisstandes zur Primärprävention und qualitätsgesicherten Umsetzung in enger Zusammenarbeit mit Vertretern und Institutionen der Gesundheitswissenschaften, 4 Berücksichtigung der politischen und institutionellen Gegebenheiten sowie der Dynamik der Interventionsfelder, 4 Kriteriengeleitete Auswahl geeigneter Zielgruppen, Interventionsfelder und Interventionsformen, 4 Definition geeigneter Verfahren der Umsetzung, 4 Aufbau entsprechender Strukturen und Kooperationen, 4 Beseitigung von Fehlanreizen aus der Kassenkonkurrenz . Die Institutionen der GKV sollten die Umsetzung des in § 20 Abs. 1 SGB V enthaltenen Auftrags, einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen zu leisten, als unverzichtbar notwendigen Bestandteil des Auf- und Ausbaus wirksamer Primärprävention verstehen und betreiben. Die Kassen sollten sich dabei auf Interventionen mit den und für die sozial und gesundheitlich besonders benachteiligten Gruppen konzentrieren,
147 Mehr Gesundheit für alle
ohne die sozialstrukturellen Ursachen der die gesamte Gesellschaft durchziehenden Chancenungleichheit aus den Augen zu verlieren oder zu dethematisieren. Nicht im Sinne einer trennscharfen Definition, sondern eher als Aufgreifkriterium sowie zur Bestimmung von Clustern kommen nach Rosenbrock als Zielgruppen dabei insbesondere in Betracht: 4 Personen mit sehr niedrigem Einkommen, 4 Personen mit sehr niedrigem sozialen Status, 4 Personen mir sehr niedriger Schulbildung, 4 Personen mir anderen sozialen Benachteiligungen. Zum Thema »Arbeitslosigkeit und Gesundheit« haben Prof. Thomas Elkeles und Dr. Wolf Kirschner ein Gutachten erstellt, das am 15.06.2004 auf einem Workshop in Berlin vorgestellt und diskutiert wurde (8). Elkeles und Kirschner empfehlen darin eine stärkere Ausrichtung auf Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen, da bei bis zu 60% der Langzeitarbeitslosen erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen bestehen, die dringend diagnostische und therapeutische Versorgung brauchen. Zugleich sind auch Kontraindikationen, einer entsprechenden Gesundheitsförderung zu prüfen. Dabei wird zwischen einem umfassenden Gesundheitsmanagement (Therapie, Rehabilitation) und Gesundheitsförderung (nach § 20 SGB V) unterschieden. In einer entsprechenden Strategie sollen Angebote wie z. B. Stressbewältigung, Ernährung etc. zusammengestellt, die Wirksamkeit überprüft und eine Klärung der Akzeptanz geleistet werden. Ein weiteres Gutachten wurde an Prof. Dr. Michael Kastner von der Universität Dortmund vergeben (10). Inhalt dieses Gutachtens und der folgenden »Feldversuche« mit Arbeitslosen und Beschäftigten in Betrieben mit drohendem Arbeitsplatzabbau war die Anpassung des von Kastner geforderten gesundheitlichen Selbstmanagementansatzes auf diese Zielgruppen. Modelle zum Selbstmanagement liegen zwar in unterschiedlichen Fragmenten vor, aber ein in sich geschlossenes Konzept mit Theorie auf dem neuesten Wissensstand, Hinweisen zu den erwünschten Lehr- und Lernprozessen sowie zur praktischen und vor allen Dingen nachhaltigen Umsetzung des erwünschten Verhaltens und Erlebens stand zumindest für die genannten Zielgruppen im Hinblick auf deren zentrale Probleme bislang aus. Ziel dieses Ansatzes ist es, den Entwertungsprozess durch Arbeitslosigkeit in einen Wertschöpfungsprozess zu transformieren, in dem die Beschäftigungsfähigkeit von (Langzeit-)Arbeitslosen erhalten oder verbessert wird, indem ihr
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B · Prävention und Lebenswelten
Gesundheitszustand durch Stärkung der gesundheitlichen Ressourcen verbessert oder zumindest stabilisiert wird. Von der Universität Duisburg-Essen wurde ein Gutachten zur Identifizierung von Programmen und Erarbeitung von Konzepten zur Gesundheitsförderung für übergewichtige und adipöse Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen angefertigt (12). Es hat sich gezeigt, dass weder in der Literatur noch in der deutschen Gesundheitsförderungslandschaft das Thema soziale Ungleichheit im Hinblick auf Vorraussetzungen für ein zielgruppenspezifisches Adipositas-Interventionsprogramm und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten berücksichtigt wird. Als Fazit wird von den Autoren festgehalten, dass 4 Maßnahmen der Prävention des Übergewichts die größten Umsetzungschancen zur Bekämpfung des Übergewichts zugesprochen werden, 4 die Mehrzahl der methodischen Ansätze dem Spektrum der Aufklärungsangebote zuzuordnen ist, 4 eher wenige Projekte explizit darauf abzielen, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in ihren Fähigkeiten zu stärken und eigene Ressourcen im Umgang mit ihrer Gesundheit zu entwickeln, 4 eine gezielte und aufeinander abgestimmte methodische Kombination von Aufklärung, Beratung, praktischem Üben und Verstetigung des neuen Wissens bzw. Verhaltens und deren Management im Alltag unzureichend praktiziert wird, 4 betroffene Kinder und Jugendliche bzw. Familien nicht aktiv in die Planung und Durchführung der Interventionsmaßnahmen einbezogen werden, 4 nur wenige der hier identifizierten Projekte im Hinblick auf theoretische Fundierung sowie Effektivität und Nachhaltigkeit wissenschaftlich fundiert evaluiert werden und nur selten eine Überprüfung der Maßnahmen auf unerwünschte Wirkungen sowie eine Überprüfung der Prozessqualität erfolgt. Dieses Gutachten wurde Grundlage u. a. für das Projekt »Fit von klein auf«, in dem sich der BKK Bundesverband intensiv mit der Gesundheitsförderung in Kindergärten beschäftigt und dort die Prävention von Übergewicht bearbeitet. Weiterhin findet dieses Gutachten Eingang in Vorhaben des Landesverbandes der Betriebskrankenkassen NRW, wo im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes mit dem Landessportbund NRW für übergewichtige Kinder und Jugendliche spezielle Angebote in Sportvereinen gemacht werden.
149 Mehr Gesundheit für alle
Grundsätzlich bilden die vorgestellten Gutachten die Grundlage für die vielfältigen Projekte, die der BKK Bundesverband in Kooperation mit seinen Landesverbänden, einzelnen BKK und Unternehmen sowie kompetenten Partnern aus dem jeweiligen Setting initiiert hat. Strukturentwicklung Die Entwicklung von Strukturen zur Verbreitung von Gesundheitsförderung hat im BKK System eine lange Tradition. Der BKK Bundesverband ist bereits seit Anfang der 90er Jahre WHO-Collaborating Centre, Nationale Kontaktstelle im Europäischen Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung und in dieser Funktion auch Initiator des Deutschen Netzwerks Betriebliche Gesundheitsförderung (DNBGF). Zudem hat er in den letzten Jahren eine Reihe von weiteren Netzwerken ins Leben gerufen oder sich daran beteiligt. Diese Aktivitäten begründen auch das Interesse an dem von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) initiierten Projekt »Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte«, in dem ein Ziel der Aufbau von Regionalen Knoten zur Verbreitung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten ist. Aufgaben dieser Regionalen Knoten sind u. a.: 4 Vernetzung von Akteuren, Initiierung bedarfsorientierter regionaler Strukturen und Aktivitäten sowie deren Koordination und Unterstützung. 4 Ermittlung von Good-Practice-Projekten, um zu ähnlichen Projekten anzuregen und die Qualitätsorientierung bei der Projektarbeit weiterzuentwickeln. 4 Ausbau und Pflege der bundesweiten Projektdatenbank, in die derzeit rd. 2700 Projekte zur Prävention bei sozial Benachteiligten eingetragen sind. Von den 10 aktuell bestehenden Regionalen Knoten fördert der BKK Bundesverband seit Mitte 2004 vier Knoten (in NRW, Berlin, Sachsen und SachsenAnhalt). Bei zwei dieser Knoten ist das Engagement nicht nur auf die finanzielle Unterstützung beschränkt. Diese beiden Knoten in Nordrhein-Westfalen und in Berlin werden von Mitarbeiterinnen des Instituts für Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Duisburg-Essen (IPG) geleitet, das in 2003 als Gemeinschaftsinitiative des BKK Bundesverbandes und der Universität gegründet wurde. Die Regionalen Knoten haben gerade für Krankenkassen als Kompetenzzentren für die Prävention bei sozial Benachteiligten Beratungs-, Vermittlungs- und Vernetzungsfunktion.
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B · Prävention und Lebenswelten
Eine weitere Struktur, auf die das BKK-System künftig noch stärker aufbauen will, ist das Quartiersmanagement im Rahmen der Bund-Länder-Initiative »Soziale Stadt«. Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte Programm »Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten« (E&C) fungiert als Partnerprogramm der Bund-Länder-Initiative »Die Soziale Stadt«, kooperiert ebenfalls mit der BZgA und konzentriert sich auf die besonderen Bedingungen von Kindern und Jugendlichen in bundesweit rd. 363 sozial benachteiligten Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf. Gute Beispiele von Quartiersmanagement kommen in vieler Hinsicht den Idealvorstellungen von stadtteilbezogener Gesundheitsförderung sehr nahe. Deshalb setzt das BKK-System auf die Kompetenz des Quartiersmanagements in den benachteiligten Stadtteilen. Denn dieses kennt den Zugang zu den Zielgruppen, kann vernetzen, trifft den richtigen Ton und ist dadurch in der Lage, auch Themen – z. B. mehr Bewegung, gesündere Ernährung – zu transportieren, und zwar besser als dies die klassischen Gesundheitsförderer können. Ziel ist, dass beide Gruppen – Quartiersmanagement und Gesundheitsförderer – voneinander lernen. Im Juli 2004 wurde gemeinsam mit der Regiestelle E&C eine erste Konferenz in den Räumen des BKK Bundesverbandes mit 150 Teilnehmern durchgeführt, im November 2004 mit der Regiestelle E&C und der Landesvereinigung für Gesundheit in Niedersachsen eine regionale Veranstaltung in Hannover. Perspektivisch sollen die Strukturen der Initiative »Soziale Stadt« für weitere Projekte durch den BKK Bundesverband, aber auch durch andere Krankenkassen besser nutzbar gemacht werden. Mit dem Projekt »Gesund älter werden im Stadtteil« ist dies bereits gelungen. Ältere, sozial benachteiligte Menschen, die bisher nicht durch Angebote der Gesundheits- und Bewegungsförderung erreicht wurden, sollen in ihrem Lebensumfeld (Stadtteil) sensibilisiert und zu gesundheitsförderlicher Lebensweise aktiviert werden, um so zu einem möglichst langen Erhalt von Selbständigkeit und Beschwerdefreiheit beizutragen. Mittel wie Ziel ist dabei die Aktivierung zu mehr altersgerechter Bewegung und weiterer gesundheitsförderlicher Lebensweisen und die Schaffung und Unterstützung hierzu notwendiger Strukturen und Angebote im Stadtteil. Dabei soll die Entwicklung der Interventionsstandorte hinsichtlich Vernetzung und Maßnahmen koordiniert und unter den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen dokumentiert und evaluiert werden, um Bedingungen zu ermitteln, unter denen dieser Ansatz über dieses Projekt hinaus übertragbar wird.
151 Mehr Gesundheit für alle
Darüber hinaus setzen natürlich auch die meisten der vom BKK Bundesverband geförderten Projekte strukturpolitische Akzente. Beispielhaft seien hier die Projekte zur Arbeitsmarktintegration und Gesundheitsförderung sowie die Förderung von OPUS (Offenes Partizipationsnetz und Schulgesundheit) in NRW genannt. Projektförderung Die vom BKK Bundesverband geförderten Projekte sind inhaltlich so konzipiert, dass sie sich grundsätzlich einer der folgenden vier Zielgruppen zuordnen lassen: 4 Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen, 4 alte Menschen, 4 Migrantinnen und Migranten, 4 Arbeitslose bzw. von Arbeitslosigkeit Bedrohte. Über 30 konkrete Praxisprojekte fördert der BKK Bundesverband in diesem Kontext, von denen bereits eine größere Anzahl auf verschiedenen Veranstaltungen vorgestellt wurde. Interessenten finden auf der BKK-Internet-Seite (www.mehr-gesundheit-fuer-alle.de) Kurzbeschreibungen sowie Verweise zu weitergehenden Informationen für alle Projekte. Zudem sind die wichtigsten Projekte in der Sonderbeilage »Mehr Gesundheit für alle« zur Verbandszeitschrift »Die BKK«, Heft 12/2004, dargestellt (1). Für die Zukunft ist geplant, den Förderschwerpunkt um die Zielgruppen Arbeitnehmer aus unteren Einkommensgruppen und chronisch Kranke zu erweitern. Auf beiden Feldern verfügt der BKK Bundesverband über langjährige Erfahrungen. Projektbeispiele für diese Zielgruppen finden sich wiederum in Sonderbeilagen zur Verbandszeitschrift »Die BKK«: In Heft 11/2004 die Sonderbeilage »BKK und Selbsthilfe« (2) und in Heft 8/2004 die Sonderbeilage »Gute Praxis BKK« (3). Alle Projekte werden dokumentiert, evaluiert und für die künftige Nutzung durch Dritte als Beratungskonzept aufbereitet. Darüber hinaus werden für einzelne Projekte spezifische Materialien entwickelt, die von künftigen Akteuren der Projekte direkt genutzt werden können, beispielsweise eine Umsetzungsanleitung für das Projekt »Kiez-Detektive« (5) oder ein türkisches Kochbuch und ein Kursleitermanual aus dem Projekt »Migrantinnen als Gesundheitsmanagerinnen der Familie« (6).
152
B · Prävention und Lebenswelten
Mit all diesen Projekten wird grundsätzlich die Strategie verfolgt, Strukturveränderungen anzuregen sowie neue Zugangswege und Ansätze zu erproben. Aufgrund dieser Strategie werden je nach Zielgruppe spezifische Ziele verfolgt: 4 Unterstützung strukturbildender Maßnahmen in Settings für Kinder und Jugendliche: Verbesserung der Gesundheit bezogen auf die Gesundheitsrisiken Adipositas und Rauchen. 4 Verbindung von Arbeitsmarktintegration und Gesundheitsförderung mit dem Schwerpunkt psychische Stabilisierung und Förderung des Gesundheitsbewusstseins von Arbeitslosen bzw. von Arbeitslosigkeit Bedrohten. 4 Gesundheitsförderung und Integration von Migrantinnen und Migranten durch Mediatoren und Multiplikatoren zur Kompetenzsteigerung durch Teilhabe, u. a. durch Vermittlung des deutschen Gesundheitswesens. 4 Aktivierung zum langfristigen Erhalt von Selbständigkeit und Gesundheitspotenzialen älterer Menschen insbesondere durch Stärkung der Ressourcen Bewegung und Begegnung. 4 Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen in der Bevölkerung, insbesondere auch von sozial schwachen chronisch Kranken. 4 Reduzierung vor allem der körperlichen und psychischen Belastungen bei Beschäftigten aus unteren Einkommensgruppen und Stärkung der Bewältigungspotenziale.
III. Brauchen wir ein Präventionsgesetz? Die rot-grüne Bundesregierung wollte mit dem Präventionsgesetz die gesundheitliche Prävention stärken und zur vierten Säule des Gesundheitswesens neben Kuration, Rehabilitation und Pflege ausbauen. Dieses Anliegen wird einhellig von allen Experten quer durch die politischen Lager grundsätzlich begrüßt. Dies gilt auch für die Feststellung, dass gesundheitliche Prävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein muss, an der sich alle relevanten Kräfte zu beteiligen haben. Gerade Krankenkassen haben durch ihr Engagement für Prävention und Gesundheitsförderung in den vergangenen Jahren hier bereits deutlich Flagge gezeigt, seitdem der § 20 SGB V ihnen im Jahr 1989 dazu erstmals die Möglichkeit gab. Der Gesetzentwurf sah vor, dass alle Maßnahmen der gesundheitlichen Prävention danach auszurichten sind, dass sie »insbesondere zum Abbau sozial
153 Mehr Gesundheit für alle
bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen«. Diese bereits im § 20 Abs. 1 SGB V seit dem Jahr 2000 angelegte Regelung sollte durch das Präventionsgesetz grundsätzliche Bedeutung für alle Präventionsbereiche erhalten. Damit wurde dem unterschiedlichen Bedarf nach Präventionsleistungen bei den Zielgruppen Rechnung getragen. Eine Vielzahl der im Entwurf zum Präventionsgesetz angelegten Forderungen an die Krankenkassen, z. B. die Fokussierung auf Setting- bzw. Lebensweltprojekte, werden – wie dargestellt – mit der BKK-Initiative »Mehr Gesundheit für alle« bereits erfüllt. Der BKK Bundesverband hat mit der Förderung der Regionalen Knoten und des Quartiersmanagements im Rahmen von »Soziale Stadt« aber auch mit Projekten in verschiedenen Lebenswelten wichtige Impulse zur Strukturentwicklung gesetzt, die noch ausgebaut werden sollten. Denn die Weiterentwicklung solcher Strukturen, über die unterstützt, informiert, Wissen transportiert und organisiert werden kann, bildet die zentrale Voraussetzung für den Erfolg der Prävention. In zahlreichen Setting-Projekten wurden gemeinsam mit BKK und kompetenten Trägern in den Regionen innovative Ansätze erprobt und zwar jeweils dort, wo der Bedarf besonders hoch ist. Erprobte Ansätze werden nun in vielen Regionen durch die Einbindung weiterer BKK verbreitet, um sie dann auch als Präventionsleistung in Settings durch diese BKK eigenverantwortlich weiterzuführen. Ziel muss sein, dass Krankenkassen Prävention nicht nur finanzieren, sondern aktiv initiieren, begleiten und bewerten und dass diese Aufgaben nicht neu zu schaffenden Bürokratien übertragen werden. Unabhängig von den Plänen des Gesetzgebers, ein Präventionsgesetz zu schaffen, haben die GKV-Spitzenverbände bereits ab 2003 ausgearbeitete Vorschläge für die Intensivierung der Prävention vorgelegt und hierbei auch die Gründung einer von der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger getragenen Stiftung vorgeschlagen. Nicht zuletzt auf Anraten der Politik, auf eine solche Initiative im Hinblick auf die Pläne der Bundesregierung zu verzichten, haben die GKV-Spitzenverbände dieses Vorhaben zunächst zurückgestellt. Der vorliegende Entwurf des Präventionsgesetzes ist letztlich aus zwei Gründen gescheitert. Jenseits der von allen Seiten gelobten Absicht – Prävention zu stärken – war der Entwurf auch von dem Gedanken geprägt, den Sozialversicherungsträgern Handlungsspielraum zu entziehen und die leeren öffentlichen Kassen verfassungswidrig durch die Beitragsmittel der Versicherten und der
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B · Prävention und Lebenswelten
Arbeitgeber zu füllen. Auch hätte das Gesetz zusätzliche und überflüssige Strukturen auf der Bundes- und der Landesebene errichtet und bewährte Initiativen der etablierten Träger, insbesondere der Krankenkassen, gehemmt. Ist damit ein Präventionsgesetz überflüssig oder sogar schädlich? Diese Frage kann mit einem entschiedenen »Nein« beantwortet werden. Ein Präventionsgesetz ist dann hilfreich, wenn es 4 zentrale Begriffe in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern kongruent definiert und dabei auch andere gesetzliche Regelungen außerhalb der Sozialgesetzbücher berücksichtigt, 4 Rahmenbedingungen, wie z. B. Präventionsziele, Qualitätsstandards oder Anforderungen für den Wirksamkeitsnachweis, klar formuliert, 4 das Zusammenwirken der Akteure aus den unterschiedlichen Ressorts und Disziplinen auf allen Ebenen organisiert, 4 die dahin siechenden Strukturen von Bund, Ländern und Gemeinden (mit staatlichen Mitteln) dem vorhandenem Bedarf anpasst (gute Beispiele gibt es, z. B. die Gesundheitskonferenzen in NRW), 4 Prävention wirklich als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe definiert und die finanziellen Lasten auf alle Schultern verteilt einschließlich öffentlicher Hand, Arbeitslosenversicherung und privater Versicherung, 4 klar trennt zwischen gesellschaftlichen Aufgaben, z. B. die Durchführung von bevölkerungsbezogenen Aufklärungskampagnen, die aus Steuermitteln finanziert sinnvollerweise von der BZgA durchgeführt werden, und Aufgaben der Sozialversicherung und anderer Akteure. Ein solches Präventionsgesetz, von wem auch immer vorgelegt, würde von der betrieblichen Krankenversicherung nachdrücklich unterstützt.
IV. Resümee Die Betriebskrankenkassen wünschen sich von einer neuen Bundesregierung, die Prävention in Deutschland zu stärken. Dazu bedarf es weiterhin großer Anstrengungen. Hierbei sollte die Eigenständigkeit der Akteure geachtet, aber über verbindliche Ziele und mehr Kooperation eine größere Effizienz erreicht werden.
155 Mehr Gesundheit für alle
Literatur 1. BKK Bundesverband (Hg.): Mehr Gesundheit für alle, Sonderbeilage in: Die BKK, Heft 12/2004 2. BKK Bundesverband (Hg.): BKK und Selbsthilfe, Sonderbeilage in: Die BKK, Heft 11/2004 3. BKK Bundesverband (Hg.): Gute Praxis BKK, Sonderbeilage in: Die BKK, Heft 8/2004 4. BKK Bundesverband (Hg.): Primäre Prävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen, 13 Befunde und Empfehlungen, Berlin, August 2004 5. BKK Bundesverband, Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Gesundheit Berlin e.V. (Hg.): Kiezdetektive – Kinderbeteiligung für eine gesunde und zukunftsfähige Stadt, ein Umsetzungsleitfaden, Essen/Berlin 2004 6. BKK Bundesverband, Gesundheit Berlin e.V. (Hg.): Gesund essen mit Freude, 3. Auflage, Essen/Berlin 2005 7. Bödecker, Friedel, Friedrichs, Röttger, Schröer: Kosten der Frühberentung, Forschungsvorhaben Nr. 1764 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Dortmund, Essen 2004 8. Elkeles, Kirschner: Arbeitslosigkeit und Gesundheitsförderung, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven 2004 9. Friedel, Heiko: Frühberentung und soziale Schichtung, Forschungsprojekt des Instituts für Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Duisburg–Essen, Essen 2005 10. Kastner, Michael: Selbstmanagement für unsicher Beschäftigte und Arbeitslose, Wirtschaftsverlag NW Bremerhaven, Bremerhaven 2005 11. Mielck, Andreas: Soziale Ungleich und Gesundheit – Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten, Verlag Hans Huber, Bern 2000 12. Möbus, Hoffmann, Merkel-Jens (Hg.): Adipositasprogramme – (k)eine Hilfe für sozial benachteiligte Jugendliche, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven 2005 13. Rosenbrock, Bellwinkel, Schröer (Hg.): Primäre Prävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven 2004 14. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Gutachten 2005 – Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, Bonn 2005
157 Partizipative Qualitätssicherung
Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation in der lebensweltorientierten Primärprävention Michael T. Wright*, Martina Block
Abstract
Der dezentralisierte, lokal bedingte Charakter der Primärprävention für sozial Benachteiligte stellt eine große Herausforderung für Qualitätssicherung und Evaluation dar, weil deren Bestandteile von Kommune zu Kommune je nach Bedarf der Zielgruppen und vorhandenen Ressourcen stark variieren können. Dennoch müssen nach den gesetzlichen Bestimmungen – möglicherweise im Rahmen eines Präventionsgesetzes – auch in diesem Bereich Qualitätssicherung und Evaluation gewährleistet werden. Der scheinbare Konflikt zwischen den Ansprüchen der Qualitätssicherung und den Zielen und Strukturen der Primärprävention für sozial Benachteiligte löst sich auf, wenn in der Konzipierung und Durchführung Qualität sichernder Maßnahmen das gleiche Prinzip der Partizipation wie bei der Gestaltung der Interventionen berücksichtigt wird. In diesem Artikel wird auf Grundlage der internationalen Diskussion über Aktionsforschung in der Gesundheitsförderung (participatory action research) der Ansatz der partizipativen Qualitätssicherung und Evaluation vorgestellt. Anhand der ersten Ergebnisse eines Kooperationsprojekts zwischen den Autoren und der Deutschen AIDS-Hilfe werden konkrete Umsetzungsmöglichkeiten für die überregionale Anwendung des Ansatzes verdeutlicht. Schlüsselworte: Primärprävention, partizipative Qualitätssicherung und Evaluation, sozial Benachteiligte, Aktionsforschung
* e-mail:
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158
B · Prävention und Lebenswelten
Qualitätssicherung und die Primärprävention für sozial Benachteiligte Das zunehmende wissenschaftliche und politische Bewusstsein für das Verhältnis zwischen sozialer Benachteiligung und Gesundheitsproblemen jeglicher Art hat in mehreren Ländern zufolge, dass vor allem im Bereich der Primärprävention ein größeres Gewicht auf Maßnahmen für marginalisierte Anteile der Bevölkerung (Arme, Migranten, Alleinerziehende etc.) gelegt wird. In Deutschland wurde diese Tendenz, beispielsweise in der Diskussion um das vorerst gescheiterte Präventionsgesetz, das eine »lebensweltorientierte« Primärprävention gefördert hätte, erkennbar (Walter 2005). Ein zentrales Merkmal lebensweltorientierter (oder Setting-)Projekte in der Primärprävention ist die Partizipation der Zielgruppe an der Gestaltung und Durchführung von Interventionen, die auch im unmittelbaren Umfeld der Zielgruppe realisiert werden. Um dies zu ermöglichen, werden Träger beauftragt, niedrigschwellige Angebote zu organisieren, welche die Selbstorganisation und Eigeninitiative der Zielgruppe fördern. Diese Form der Prävention ist keine Gesundheitserziehung, sondern die Befähigung betroffener Menschen, ihre Problemlage selbst zu definieren und eigene Lösungsstrategien herauszuarbeiten. Dementsprechend sind die daraus resultierenden präventiven Handlungen keine standardisierten Vorgänge, sondern vielschichtige Strategien, die notwendigerweise an lokale Bedingungen und Problemstellungen angepasst sind (siehe Praxisbeispiele in Wright 2004). Der dezentralisierte, lokalbedingte Charakter der Primärprävention für sozial Benachteiligte stellt eine große Herausforderung für Qualitätssicherung und Evaluation dar, weil deren Bestandteile von Kommune zu Kommune je nach Bedarf der Zielgruppen und vorhandenen Ressourcen stark variieren können. Dennoch müssen nach den gesetzlichen Bestimmungen – möglicherweise im Rahmen eines Präventionsgesetzes – auch in diesem Bereich Qualitätssicherung und Evaluation gewährleistet werden. Der scheinbare Konflikt zwischen den Ansprüchen der Qualitätssicherung und den Zielen und Strukturen der Primärprävention für sozial Benachteiligte löst sich auf, wenn in der Konzipierung und Durchführung Qualität sichernder Maßnahmen das gleiche Prinzip der Partizipation wie bei der Gestaltung der Interventionen berücksichtigt wird. Mit anderen Worten: nicht nur die Angebote selbst sondern auch deren Entwicklung, Steuerung und Überprüfung werden »von unten nach oben« aufgebaut.
159 Partizipative Qualitätssicherung
Partizipation in der Qualitätssicherung und Evaluation Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation beruht auf Methoden der Handlungsforschung, die den Grundgedanken vertritt, eine möglichst starke Teilnahme und Teilhabe der Projektmitarbeiter1 und vor allem der Zielgruppen an allen Aspekten der Planung, Durchführung, Steuerung und Auswertung einer präventiven Maßnahme zu gewährleisten. Dieser Ansatz – der auf die Arbeit des Deutsch-Amerikaners Kurt Lewin in den 1930er-Jahren zurückgeht – wird im Gesundheitsbereich vor allem im angloamerikanischen Raum, in Skandinavien sowie in der Entwicklungsarbeit explizit thematisiert und erfolgreich umgesetzt. In der internationalen Literatur läuft diese Diskussion hauptsächlich unter dem Begriff participatory action research. In Deutschland wird Partizipation in diesem Sinne in drei Zusammenhängen implizit diskutiert. Der erste beruht in Theorie und Praxis auf der Selbstevaluation, welche Einzelaspekte des partizipativen Ansatzes enthält (7 unten). Die beiden anderen Zusammenhänge sind in den Praxisbereichen gesundheitsfördernde Schule (vgl. Paulus 2003, Barkholz u. a. 1997) und betriebliche Gesundheitsförderung zu finden (vgl. Pfaff 1999, Noack 1999). Ziel der partizipativen Qualitätssicherung und Evaluation ist es, Projekte zu befähigen, in einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Zielgruppe, Zuwendungsgeber und Wissenschaft kontinuierlich relevante Daten über ihre eigene Arbeit zu erheben und als Grundlage für die ständige Verbesserung der geleisteten Maßnahmen einzusetzen. Diese Zusammenarbeit wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet (in Anlehnung an INCBR 2000; vgl. Israel u. a. 1998): Aufbau von Kapazität (capacity building): Mitarbeiter von Projekten werden
dazu befähigt, Informationen über ihre Arbeit systematisch zu erheben und auszuwerten. Ziel ist der Aufbau einer langfristigen Kompetenz zur Selbstreflexion sowie zur selbstgesteuerten Weiterentwicklung. Mitbestimmung: Alle wesentlichen Aspekte der Qualitäts- und Evaluationsmaßnahmen werden von allen Akteuren (Projekt, Zielgruppe, Wissenschaft, Kostenträger) mit entschieden, z. B. ethische Fragen, der Umgang mit Daten sowie die Verwendung und Veröffentlichung der Ergebnisse. 1
Im Interesse der Lesbarkeit wird im Text ausschließlich die männliche Form verwendet. Gemeint sind männliche und weibliche Personen.
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B · Prävention und Lebenswelten
Gleichstellung: Qualitätssicherung und Evaluation nach einem partizipativen Ansatz erfordern ein besonderes Verhältnis zwischen den Beobachtern und den Beobachteten, da die »Probanden« auch an der Analyse ihres kollektiven Zustandes teilnehmen. Alle Akteure müssen sich deshalb als gleichberechtigte Partner verstehen, damit die Zusammenarbeit so ausgehandelt werden kann, dass sich Respekt, Selbstbewusstsein und Empowerment entwickeln können. Zugang: Da Qualitätssicherung und Evaluation nach einem partizipativen An-
satz eine Form von Weiterbildung für die beteiligten Projekte und Zielgruppen darstellt, sollten Sprache und Methode allgemein verständlich sein, um den optimalen Zugang für alle Akteure zu gewährleisten. Empowerment: Der Prozess der Qualitätsentwicklung und der Evaluation sowie die dadurch gewonnenen Daten und Erkenntnisse sind das Eigentum der beteiligten Projekte und deren Nutzer und müssen als solche von anderen Akteuren (Kostenträgern, Wissenschaftlern) anerkannt und respektiert werden. Die Projekte und deren Nutzer sollen dahingehend unterstützt werden, die Ergebnisse der Qualitäts- und Evaluationsverfahren so zu nutzen, dass die Zielgruppe zum Thema Gesundheit stärker mobilisiert wird, um ihren gesundheitlichen Zustand durch individuelles und kollektives Handeln selbständig verbessern zu können. In der Evaluationsforschung wird u. a. zwischen internen und externen Evaluationen unterschieden. Eine interne Evaluation wird von Projektmitarbeitern selbst durchgeführt, eine externe Evaluation von Außenstehenden (z. B. vom Kostenträger oder von beauftragten Wissenschaftlern). Es wird weiterhin zwischen Selbstevaluation und Fremdevaluation differenziert: Von Selbstevaluation sprechen wir, wenn die Auswertung der eigenen Arbeit, von Fremdevaluation, wenn die Auswertung der Arbeit anderer vorgenommen wird. Die Selbstevaluation, die in Deutschland vor allem in der Sozialarbeit und Pädagogik bekannt ist, sieht vor, dass Praktiker ihre eigene Arbeit routinemäßig und systematisch überprüfen und die Ergebnisse schriftlich festhalten. Sie erfolgt freiwillig und dient der Entwicklung der eigenen Praxiskompetenzen (z. B. König 1998, Heiner 1994). Der partizipative Ansatz basiert auf einer Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren und stellt deshalb eine Verbindung von interner und externer Evaluation dar: Auch wenn Projektmitarbeiter zunächst alle Daten erheben, werden diese Daten zusammen mit den anderen Akteuren ausgewertet. Die Selbstevaluation bildet den Kern des partizipativen Ansatzes. Da alle
161 Partizipative Qualitätssicherung
verwendeten Evaluationsmaßnahmen in der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren ausgehandelt werden, ist jedoch ein gewisser öffentlicher Aspekt, der eher einer Fremdevaluation ähnelt und in dieser Hinsicht vom selbstbestimmten Charakter des ursprünglichen Selbstevaluationskonzepts abweicht, immer vorhanden. Solange die oben geschilderten Kernmerkmale berücksichtigt werden, ist der partizipative Ansatz im Grunde mit verschiedenen Qualitätsmodellen vereinbar. Nicht nur das Konzept des Total Quality Management, das in der deutschen Diskussion zur Qualität im Gesundheitswesen momentan Hochkonjunktur hat, sondern auch andere Konzepte, wie etwa das Innovationsmanagement, das der Lernenden Organisation oder das Change Management könnten mit dem partizipativen Ansatz kombiniert werden, um Qualitätssicherungsprozesse zu unterstützen. Die folgende Darstellung in Anlehnung an die Arbeit von Springett (2003) verdeutlicht einige wichtige Unterschiede zwischen dem üblichen expertengeleiteten Ansatz und einem partizipativen Ansatz in der Evaluation (. Tabelle 1): Für die Anwendung des partizipativen Ansatzes in der Qualitätssicherung und Evaluation primärpräventiver Maßnahmen insbesondere durch Projekte, die nach einem Settingansatz arbeiten und deshalb eine möglichst starke Einbeziehung der Zielgruppe anstreben, sprechen viele Argumente: Verstärkung des Empowerment-Effekts: Wie in der Ottawa-Charta der WHO
(1986) verdeutlicht und mittlerweile auch durch diverse andere wissenschaftliche, politische und praxisorientierte Veröffentlichungen bestätigt (vgl. Sachverständigenrat 2000/2001, Stark 2003), besteht ein wesentlicher Aspekt der Gesundheitsförderung in der Stärkung des kollektiven und individuellen Handelns der von Krankheit gefährdeten Bevölkerungsgruppen, damit sich diese vor Gesundheitsproblemen besser schützen können (Empowerment). Die beste Voraussetzung für die Gesundheitsförderung ist die Partizipation (Teilhabe) dieser Gruppen an der Konzipierung, Gestaltung und Durchführung aller präventiven Maßnahmen. Der partizipative Ansatz in der Qualitätssicherung und Evaluation weitet diesen Partizipationsbegriff auf alle Phasen der Angebotsentwicklung einschließlich der Auswertung aus. Nach der Logik der Gesundheitsförderung liegt der Vorteil eines partizipativen Ansatzes darin, dass die Angebote der Projekte von den Nutzern nicht in erster Linie als Dienstleistungen mit der damit verbundenen passiven Verbraucherhaltung betrachtet werden, sondern als eigenes Produkt, dessen Nutzen vor allem durch eine aktive, längerfristige Mitge-
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. Tabelle 1. Die Unterschiede zwischen einer konventionellen und einer partizipativen Evaluation
partizipative Evaluation
Veranstalter
externe Experten
Vertreter aus der Zielgruppe, Projektmitarbeiter
Erfolgskriterien
im Voraus festgelegte Maßstäbe der Effizienz und des erzielten Gesundheitseffekts
durch Zusammenarbeit ausgehandelte Kriterien, die einen direkten Bezug auf selbst definierte Bedürfnisse der Zielgruppe nehmen
Methode
im Voraus festgelegte Methoden, die nur durch wissenschaftlich ausgebildete Mitarbeiter angewendet werden können; wissenschaftliche Kriterien der Datenqualität stehen im Vordergrund
durch Zusammenarbeit ausgehandelte Methoden, die auch von Praktikern bzw. Zielgruppenmitgliedern angewendet werden können; Handhabbarkeit und Praxisrelevanz der Methoden stehen im Vordergrund
Berichterstattung
Ergebnisse werden erst nach dem Abschluss der Evaluation bekannt; Analyse wird allein vom Wissenschaftler durchgeführt; eingeschränkter Zugang zu Daten
Ergebnisse werden kontinuierlich allen Kooperationspartnern mitgeteilt; Analyse wird in Kooperation mit allen Partnern durchgeführt; offener Zugang zu Daten für alle Kooperationspartner
Zeitraum
punktuell, üblicherweise nach der Durchführung der Intervention
fortdauernd im Sinne des Monitoring
Ziel
Wirksamkeit einer Intervention zu überprüfen, üblicherweise im Rahmen einer Entscheidung zur weiteren Finanzierung
Projektmitarbeiter und Zielgruppen zu ermöglichen, Gesundheitsprobleme längerfristig zu beobachten und angemessene Interventionen zu entwickeln und zu verbessern (Empowerment)
In Anlehnung an Springett (2003)
B · Prävention und Lebenswelten
konventionelle Evaluation
163 Partizipative Qualitätssicherung
staltung zu realisieren ist. Das begünstigt die Entstehung der erwünschten Empowerment-Effekte. Lokale Bedingungen im Mittelpunkt: In der Entwicklung primärpräventiver
Maßnahmen werden üblicherweise Gesundheitsprobleme sowie Methoden zu deren Vorbeugung (z. B. standardisierte Interventionen) von Experten ohne Bezug auf einen bestimmten Ort allgemein definiert. Diese allgemein formulierte Darstellung des Problems und dessen Lösung wird dann von anderen Experten (z. B. Projektplaner und Praktiker) vor Ort umgesetzt. Die Anpassung der allgemeinen Erklärungen und Methoden an die konkreten Gegebenheiten vor Ort stellt ein zentrales Problem für die Praxis dar. Im Gegensatz zu diesem Verfahren beginnt der partizipative Ansatz mit einer Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren in einem bestimmten Setting, um so ein Gesundheitsproblem in dem spezifischen Zusammenhang zu definieren und dessen Lösung gemeinsam zu erarbeiten. Die wissenschaftlichen, epidemiologischen und anderen Informationen »von außen« sind wichtige Ressourcen für diesen kooperativen Prozess, bestimmen aber nicht dessen Inhalt. In diesem Sinne umfasst der partizipative Ansatz den Aufbau primärpräventiver Maßnahmen von unten nach oben (Bottom up), während herkömmliche Herangehensweisen einen Aufbau von oben nach unten (Top down) verfolgen. Die lokale Problemstellung und -lösung verlangt ein stärkeres Engagement aller Akteure, um die Besonderheiten eines spezifischen Settings an einem bestimmten Ort zu berücksichtigen und somit »maßgeschneiderte« Interventionen zu entwickeln. Gesundheitsprobleme werden handhabbar: Gesundheitliche Probleme sind
bekanntlich komplex, ihre Ursachen vielfältig und durch Wechselwirkungen gekennzeichnet. Durch die Schwerpunktsetzung auf lokale Erklärungen und Interventionsstrategien wird diese Komplexität durch die Zusammenarbeit aller Akteure auf die für das spezifische Setting wesentlichen Aspekte reduziert. Dieses Vereinfachen ermöglicht Zielsetzungen, die der konkreten Problemlage und gleichzeitig auch den Interessen aller Beteiligten entsprechen. Dadurch wird das komplexe, abstrakte Gesundheitsproblem zu einer handhabbaren, praktischen Angelegenheit dem somit gemeinsam begegnet werden kann. Verbesserung des Informationsflusses: Alle Akteure im Gesundheitswesen
beklagen die mangelhafte Verbreitung der Informationen über vorhandene Präventionsmodelle und deren Umsetzung. Vor allem wird die Kluft zwischen
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B · Prävention und Lebenswelten
Wissenschaft, Politik und Praxis in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern als besonders ausgeprägt erlebt. Durch die Einbeziehung aller Beteiligten – nicht zuletzt auch von Vertretern der Zielgruppen – wird in einem spezifischen Setting insbesondere die Kommunikation verbessert. Um spezifische Gesundheitsprobleme durch eine dauerhafte Zusammenarbeit gemeinsam zu lösen, müssen die verschiedenen Sichtweisen und Informationsquellen zusammengebracht werden. Förderung der systematischen Selbstreflexion: Durch die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren und durch die routinemäßige Erhebung relevanter Daten wird eine systematische Selbstreflexion hinsichtlich der durchgeführten Interventionen gefördert. Im Gegensatz zu einer von außen gesteuerten Leistungskontrolle, die oft als Bedrohung empfunden wird, bietet der partizipative Ansatz in der Qualitätssicherung und Evaluation die Möglichkeit, Verfahren zu entwickeln, die von allen Seiten für relevant und umsetzbar gehalten werden. Die Motivation, an solchen Prozessen teilzunehmen, wird durch den deutlichen Nutzen für die Beteiligten verstärkt. Effekte, die über das ursprüngliche Problem hinausgehen: Obwohl der par-
tizipative Ansatz in der Regel zur Bekämpfung eines bestimmten Gesundheitsproblems (z. B. Adipositas, Rauchen, Drogensucht) herangezogen wird, liegt der große Vorteil darin, dass eine gelungene Zusammenarbeit zwischen den Akteuren einen Prozess in Gang setzt, der über das ursprüngliche Problem hinausgeht. Wenn eine Gruppe im Interesse ihrer eigenen Gesundheit mobilisiert worden ist, will sie sich für grundsätzliche Verhaltens- und Verhältnisänderungen engagieren, die ihrerseits wiederum Wirkungen auf andere Gesundheitsprobleme haben. Der Problem-Fokus wird zu einer zukunftsorientierten Perspektive, die im Sinne des Empowerment eine Eigendynamik entwickelt. Das wichtigste Ergebnis einer gelungenen Umsetzung des partizipativen Ansatzes ist also nicht die Entwicklung spezifischer Interventionen, sondern die strukturelle Etablierung einer nachhaltigen Problemlösungsstrategie, die von den Zielgruppen gesteuert und weiter ausgebaut wird.
165 Partizipative Qualitätssicherung
Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation am Beispiel der primärpräventiven Arbeit der AIDS-Hilfen Mit dem Auftreten von Aids ergab sich die Frage, ob traditionelle Methoden der Seuchenkontrolle angewendet werden sollten. Gegenüber Aids war die Medizin machtlos und die Prognosen für die weitere Ausbreitung der Krankheit katastrophal. In der Bundesrepublik kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen den so genannten Maximalisten und Minimalisten (Frankenberg 1994). Die Maximalisten argumentierten für Sanktionen und staatliche Kontrolle gegenüber Betroffenen – die Vollstreckung der schärfsten Bestimmungen der Seuchenkontrolle mit allen damit verbundenen Einschränkungen von Bürgerrechten. Die Minimalisten sprachen sich für einen anderen Weg aus, nämlich für Sexualaufklärung (vor allem durch soziales Lernen), Forschung und Selbsthilfe. Die Minimalisten setzten sich in Deutschland wie auch in den meisten anderen betroffenen Ländern durch – mit dem Ergebnis, dass bisher noch wenig verbreitete primärpräventive Strategien auf den höchsten politischen Ebenen unterstützt wurden und der Aufbau der AIDS-Hilfe beginnen konnte. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte spielten Nichtregierungsorganisationen eine führende Rolle in der Bekämpfung einer Krankheit. Die AIDS-Hilfe-Bewegung hat nicht alles neu erfunden, sondern griff schon existierende aber bisher eher untergeordnete Theorien und Methoden auf. Im Mittelpunkt standen und stehen Gesundheitsförderung sowie das Lebensweisenkonzept der WHO (WHO Ottawa-Charta 1986), die in Deutschland vor allem im Konzept der strukturellen Prävention ihren Ausdruck finden (DAH 1998). Konkret bedeutet dies eine Integration von Verhaltens- und Verhältnisprävention, die durch folgende partizipative Merkmale gekennzeichnet ist: 4 eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Nichtregierungsorganisationen und Gesundheitsbehörden, 4 Unterstützung der Selbsthilfestrukturen von betroffenen Gruppen und Förderung der Teilnahme dieser Gruppen an der Planung und Durchführung von Bekämpfungsmaßnahmen, 4 Interventionen vor Ort, die Lebensweisen und Umfeld der Zielgruppen direkt einbeziehen und 4 Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation der Zielgruppen, um sozialstrukturelle Ursachen des erhöhten Risikos (wie Diskriminierung und Verelendung) entgegenzuwirken.
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B · Prävention und Lebenswelten
Auf Grund der über zwanzigjährigen Erfahrung mit partizipativen Konzepten der Primärprävention – vor allem in der Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen – stellen die Ergebnisse der Arbeit der AIDS-Hilfen2 wichtige Erkenntnisse für den Aufbau primärpräventiver Angebote zur Bekämpfung anderer Krankheiten unter diesen Gruppen bereit. In diesem Sinne arbeiten die Autoren mit der Deutschen AIDS-Hilfe zusammen – gefördert durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung –, um Strukturen für Qualitätssicherung und Evaluation aufzubauen, die an die besonderen Bedingungen der lebensweltorientierten Präventionsarbeit angepasst sind. In der im Jahr 2005 abgeschlossenen ersten Phase dieser Zusammenarbeit wurde eine Bestandsaufnahme der bestehenden Aktivitäten zu Evaluation und Qualitätssicherung in der Primärprävention der AIDS-Hilfen durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme und die daraus empfohlenen Strukturen werden hier dargestellt, um anhand eines konkreten Beispiels die Möglichkeiten des partizipativen Ansatzes zu verdeutlichen (für eine detaillierte Darstellung der Ergebnisse siehe Wright & Block 2005, Block 2005). Zwei Datenquellen dienten als Grundlage für die Bestandsaufnahme: eine Totalerhebung aller 119 Mitgliedsorganisationen der Deutschen AIDS-Hilfe mittels eines selbstentwickelten Fragebogens und Projektbesuche bei 12 AIDSHilfen, die ausgewählt wurden, um die Vielfalt der primärpräventiven Arbeit abzubilden. Auf der Grundlage der Totalerhebung konnten ein Überblick über grundsätzliche Einstellungen zum Thema Qualitätssicherung und Evaluation sowie Basisinformationen über bisherige Erfahrungen aus diesem Bereich im gesamten Verband gewonnen werden. In Verbindung mit der Sichtung von Dokumentationen und Interviews mit Mitarbeitern gestatten die Projektbesuche einen differenzierteren Einblick in die heutige Praxis der Qualitätssicherung und Evaluation. Die große Mehrheit der AIDS-Hilfen hält klare Kriterien für die Überprüfung der Wirksamkeit ihrer Arbeit auf der Grundlage von Leitlinien und Zielen (auch unter Berücksichtigung der Neuinfektionsrate) für wichtig. Weit verbreitet ist jedoch die Meinung, dass sich die Präventionsarbeit nur schwer messen 2
Mit dem Begriff »AIDS-Hilfe« sind nicht nur die Einrichtungen gemeint, die »AIDS-Hilfe« in ihrem Namen haben, sondern alle sozialen Projekte, die innerhalb und außerhalb des Dachverbandes der Deutschen AIDS-Hilfe HIV-Primärprävention nach dem Ansatz der strukturellen Prävention leisten.
167 Partizipative Qualitätssicherung
lässt. Dadurch wird in Frage gestellt, ob eine aussagekräftige Überprüfung der Ergebnisqualität dieser Arbeit überhaupt möglich ist. Aus der Sicht der Projekte scheitert die Messbarkeit daran, dass sich die Infektionszahlen nicht direkt auf spezifische Interventionen zurückführen lassen. Hinzu kommt das Problem, dass bisher im Rahmen von Leistungsvereinbarungen ausschließlich quantitative Indikatoren festgelegt wurden, obwohl sich wesentliche Aspekte der geleisteten Angebote eher qualitativ erfassen lassen. Ein dritter Aspekt des Problems der Messbarkeit ist mit der Dynamik der aufsuchenden Arbeit und mit den Szenen, in denen diese Arbeit geleistet wird, verbunden. Die Fluktuation in den Szenen, die Unangemessenheit formaler Befragungen an vielerlei Orten der Szene sowie erschwerte Kommunikationsbedingungen beschränken die Möglichkeit, Informationen über die Zielgruppe und über die Wirkung der Präventionsarbeit systematisch zu erheben, erheblich. Das größte Hemmnis in der Entwicklung und Durchführung von angemessenen Qualitätsmaßnahmen besteht im Mangel an Ressourcen. Vor allem in kleinen Einrichtungen mangelt es an personeller Kapazität, um die Präventionsarbeit überhaupt zu leisten, geschweige denn Qualität fördernde Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Aber auch in größeren Projekten scheitern die meisten Versuche der Qualitätssicherung und Evaluation daran, dass die Mitarbeiter keine Zeit für deren konsequente Anwendung aufbringen können. Unsicherheit bei der Handhabung von Qualitätssicherungsmethoden stellt ein weiteres Hemmnis dar. Nachgewiesen existiert ein ausgeprägter Bedarf nach Unterstützung für den (weiteren) Aufbau der Qualitätssicherung und Evaluation in den AIDS-Hilfen. Die besuchten Projekte formulierten Anforderungen an Unterstützungsangebote, die ihnen bei Fragen in der Qualitätssicherung und Evaluation helfen sollen. Diese Unterstützung soll den Projekten ermöglichen, Formen der Qualitätssicherung und Evaluation zu entwickeln, die: 4 zeitlich im Verhältnis zum Angebot stehen, d. h. nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, die in die Präventionsarbeit investiert werden könnte, 4 an die konkreten Angebote und Praxisstrukturen der Einrichtung angepasst sind, 4 praktikabel (d. h. unter anderem – nicht zu umfangreich) sind, 4 routinemäßig in die alltägliche Arbeit eingebaut werden können, 4 wissenschaftlich abgesichert sind, 4 qualitative Aspekte der Arbeit (subjektive Betrachtungen sowohl der Mitarbeiter als auch der Nutzer) berücksichtigen,
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B · Prävention und Lebenswelten
4 ein übersichtliches, leicht zu bedienendes Dokumentationssystem verwenden, 4 die Meinungen der Nutzer einbeziehen (hinsichtlich Bedarf und Reaktion auf Angebote), 4 einen kritischen Blick von außen auf die Präventionsarbeit ermöglichen. Die fachliche Unterstützung von außen soll vor allem der Entwicklung eines entsprechenden Instrumentariums dienen, das Informationen über den Ablauf und die Ergebnisse der Arbeit liefert. Wichtig dabei ist, dass die erarbeiteten Instrumente und deren Anwendung: 4 die Erfahrungen und Meinungen der verschiedenen »Szenen« (Settings) abbilden können, 4 arbeitsbereichspezifische Aspekte berücksichtigen (d. h. beispielsweise nicht die gleichen Fragebögen und Vorgehensweisen für Veranstaltungen in der JVA wie für Veranstaltungen in Schulen verwenden, auch wenn beide Aufklärungsveranstaltungen sind), 4 Vergleiche zwischen Einrichtungen, die ähnliche Präventionsarbeit leisten, ermöglichen. Auf der Basis der durch die Untersuchung aufgezeigten Einstellungen, Erfahrungen und Bedarfe der AIDS-Hilfen hinsichtlich der Qualitätssicherung und Evaluation im Bereich der Primärprävention wird empfohlen, dass die Deutsche AIDS-Hilfe als Dachverband sich hinsichtlich der mangelnden Ressourcen für die Primärprävention politisch engagiert. Als Grundlage für politische Forderungen nach verstärkten Investitionen in die Primärprävention wäre die Festlegung fachlich begründeter Mindeststandards für eine ausreichende Finanzierung nützlich. Für die personelle Grundausstattung der Präventionsarbeit sind Maßstäbe zu diskutieren, die Bedarf, Größe des Einzugsgebiets, Art der Primärprävention, epidemiologische Situation und Größe der Zielgruppe berücksichtigen. Bei der Definition von Mindeststandards sollten auch die Kosten für die Entwicklung und Durchführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen beachtet werden – möglicherweise der Empfehlung der WHO entsprechend, die eine zusätzliche finanzielle Förderung von Qualitätssicherung und Evaluation in der Höhe von 10% der Projektkosten vorsieht (WHO/Health Canada/CDC 1998, siehe auch Rosenbrock 2004). Eine weitere fachliche Unterstützung der AIDS-Hilfen bei Verhandlungsgesprächen mit Zuwendungsgebern, in denen die Quantifizierung von Bedarf und Dienstleistung eine immer
169 Partizipative Qualitätssicherung
wichtigere Rolle spielt, wären klar formulierte Aussagen zu diesbezüglichen Fragen auf Bundesebene. Außerdem wird empfohlen, dass die AIDS-Hilfen durch ein Baukastensystem von Vorgehensweisen zur Weiterentwicklung von Qualitätssicherungsund Evaluationsverfahren unterstützt werden. Wegen der Vielfältigkeit der AIDS-Hilfen bedarf es hierbei eines flexiblen Modells hinsichtlich der Unterstützungsangebote zum Thema Qualitätssicherung und Evaluation. Gleichzeitig müssen Angebote systematisch aufgebaut und inhaltlich übersichtlich sein. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wird ein Baukastensystem empfohlen, das aus den folgenden fünf Elementen besteht: 1. Workshops zu Methoden der Qualitätssicherung und Evaluation bieten die Möglichkeit, Kenntnisse über spezifische Methoden der Qualitätssicherung und Evaluation in einem bestimmten Arbeitsfeld zu vertiefen. Der Schwerpunkt sollte auf der konkreten Handhabung in der eigenen Praxis liegen. Denkbare Themen wären beispielsweise: die Feststellung von Nutzerzahlen in der niedrigschwelligen Arbeit, die Befragung von Zielgruppen in Schwulenszenen, die Anwendung von Fragebögen in der Aufklärungsarbeit mit Jugendlichen oder die Erfassung von Ergebnissen in der Beratungspraxis. Die Inhalte der Workshops sollen gleichzeitig die Basis für die entsprechenden Seiten eines Handbuchs darstellen. 2. Das »interaktive Handbuch«, das über das Internet zur Verfügung gestellt wird, soll einen Überblick über Qualitätssicherung und Evaluation für die verschiedenen Arbeitsfelder der Primärprävention (z. B. Jugendarbeit, Haft, aufsuchende Arbeit in Drogenszenen, Vor-Ort-Arbeit in Schwulenszenen) geben. Jedem Arbeitsfeld wird eine eigene Internetseite gewidmet, auf der folgende Inhalte präsentiert werden: 5 Ein Überblick zur Qualitätssicherung und Evaluation für das Arbeitsfeld 5 Ressourcen 5 Veranstaltungskalender 5 Ein Forum für einen Austausch zwischen Nutzern 5 Ein Verzeichnis von Einrichtungen, die im Arbeitsfeld tätig sind (mit einem Verweis auf Ansprechpartner) Der Überblick wird die Kernthemen der Qualitätssicherung und Evaluation im Arbeitsfeld darstellen. Unter »Ressourcen« werden die AIDS-Hilfen In-
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B · Prävention und Lebenswelten
strumente sowie Konzeptpapiere und Hinweise auf weiterführende Literatur zum Herunterladen finden. Ein Veranstaltungskalender wird Nutzer auf relevante Termine zum Thema Qualitätssicherung und Evaluation innerhalb und außerhalb des Dachverbandes aufmerksam machen. Um den Austausch zu Problemen in der Qualitätssicherung und Evaluation zwischen Praktikern im gleichen Arbeitsfeld zu fördern, werden ein Forum sowie ein Projektverzeichnis mit Ansprechpartnern eingerichtet. Dieses interaktive Handbuch wird fortlaufend ergänzt und aktualisiert. 3. Die individuelle Beratung sollte über eine intensive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Mitarbeitern die Entwicklung einer »maßgeschneiderten« Qualitäts- und Evaluationsstrategie für jede einzelne AIDSHilfe ermöglichen. Der Schwerpunkt wird darauf liegen, Konzepte und Methoden zu finden, die der Zielsetzung, den Projektstrukturen, den Interventionsformen und den Ressourcen des betreffenden Projekts entsprechen. Die daraus resultierende Strategie wird durch konkret ausgewiesene Handlungsanleitungen umgesetzt, damit jedes Projekt relevante Daten im Projektalltag dokumentieren und für die Weiterentwicklung der eigenen Arbeit verwenden kann. Die Erarbeitung lokaler Theorien und ortspezifischer Ziele bilden eine wichtige Grundlage für diese Arbeit. 4. Die Unterstützung in der Verwendung epidemiologischer Daten wird es den einzelnen AIDS-Hilfen ermöglichen, die für ihr Einzugsgebiet relevanten Neuinfektionszahlen in ihrer Arbeit effektiver zu nutzen. Konkrete Hilfestellungen zur Dateninterpretation und zur Anwendung epidemiologischer Zahlen in Projektplanung und Steuerung werden angeboten. 5. Das Peer-review-Verfahren soll Projekten ermöglichen, auf systematische Weise kritische Rückmeldungen zu ihrer bestehenden Praxis oder zu geplanten Interventionen von Kollegen aus anderen Einrichtungen einzuholen. Die Präventionsstrategie in einem spezifischen Projekt wird von Peers – d. h. Fachleuten aus dem gleichen Arbeitsfeld – ausgewertet. Nach festgelegten Plausibilitätskriterien werden Angemessenheit und Wirksamkeit der Strategie beurteilt und Vorschläge zu deren Verbesserung erarbeitet. Das Ziel des Peer-review-Verfahrens soll nicht die Verbreitung standardisierter Interventionen, sondern die Erarbeitung von Maßstäben für lokal entwickelte und gesteuerte Strategien sein. Demnach hat das Verfahren eine »diagnostische« Funktion, um Rückmeldungen zu Stärken und Schwächen der vorgestellten Präventionsarbeit zu geben und Empfehlungen für die Verbesserung von Maßnahmen zu formulieren.
171 Partizipative Qualitätssicherung
Ausblick Der partizipative Ansatz bietet eine viel versprechende Grundlage für Qualitätssicherung und Evaluation in der Primärprävention für sozial Benachteiligte. Die Ergebnisse aus der Bestandsaufnahme der Arbeit der AIDS-Hilfen deuten auf konkrete Möglichkeiten für eine wirksame Umsetzung dieses Ansatzes hin. In den nächsten Projektschritten werden die Autoren gemeinsam mit der Deutschen AIDS-Hilfe und den teilnehmenden Projekten versuchen, die empfohlenen Strukturen für eine nachhaltige und transparente Qualitätssicherung und Evaluation in der primärpräventiven Arbeit zu realisieren. In einem zweiten Vorhaben, das in Kooperation mit Gesundheit Berlin e. V. und mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführt wird, wird der partizipative Ansatz in der Qualitätssicherung und Evaluation auf Grund der Erfahrungen im Aidsbereich auf Projekte übertragen, die zu diversen Gesundheitsthemen primärpräventive Angebote für sozial Benachteiligte durchführen. Literatur Barkholz, U; Israel, G; Paulus, P; Posse, N (1997) Gesundheitsförderung in der Schule. Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Soest: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Block, M (2005) Evaluation und Qualitätssicherung in der Primärprävention deutscher AIDSHilfe-Organisationen. Unveröffentlichte Magisterarbeit im Studiengang Gesundheitswissenschaften/ Public Health an der Technischen Universität Berlin Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) (1998) Strukturelle Prävention: Ansichten zum Konzept der Deutschen AIDS-Hilfe. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe Frankenberg, G (1994) Deutschland: Der verlegene Triumph des Pragmatismus. In: D Kirp; R Bayer (Hg.) Strategien gegen AIDS: Ein internationaler Politikvergleich. Berlin: Edition Sigma: 134–172 Heiner, M (1994) (Hg.) Selbstevaluation als Qualifizierung in der Sozialen Arbeit. Fallstudien aus der Praxis. Freiburg: Lambertus International Network for Community-Based Research on HIV/AIDS (INCBR) (2000) Communities creating knowledge: A consensus statement on community-based research. INCBR Israel, BA; Schulz, AJ; Parker, EA; Becker, AB (1998) Review of community-based research: Assessing partnership approaches to improve public health. Ann. Rev. Public Health, 19: 173–202 König, J (1998) »Wie gut sind wir eigentlich?« Kleiner Praxisleitfaden zur Selbstevaluation in der Sozialen Arbeit. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 30 (2/3): 181–200 Noack, RH (1999) Evaluation betrieblicher Gesundheitsförderung. In: B Badura; W Ritter; M Scherf (Hg.) Betriebliches Gesundheitsmanagement. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin: edition sigma: 168–174
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B · Prävention und Lebenswelten
Paulus, P (2003) Schulische Gesundheitsförderung. In: P Franzkowiak u. a. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. In der Reihe »Blickpunkt Gesundheit«, Band 6, Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hg.). Schwabenheim a. d. Selz: Fachverlag Peter Sabo: 200–202 Pfaff, H (1999) Organisationsdiagnose im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. In: B Badura; W Ritter; M Scherf (Hg.) Betriebliches Gesundheitsmanagement. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin: edition sigma: 135–139 Rosenbrock, R (2004) Evidenzbasierung und Qualitätssicherung in der gesundheitsbezogenen Primärprävention. Zeitschrift für Evaluation, 1: 71–80 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft Springett, J (2003) Issues in participatory evaluation. In: M Minkler; N Wallerstein (Hg.) Community-based participatory research for health. San Francisco: Jossey-Bass: 263–288 Stark, W (2003) Empowerment. In: P Franzkowiak u. a. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. In der Reihe »Blickpunkt Gesundheit«, Band 6, Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hg.). Schwabenheim a. d. Selz: Fachverlag Peter Sabo: 28–31 Walter, U (2005) Auf dem Weg zu mehr Prävention. Public Health Forum, 45(12): 2–4 World Health Organization (WHO) (1986) Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung. Genf: WHO WHO/Health Canada/CDC (1998) Health promotion evaluation: Recommendations to policymakers. Kopenhagen: WHO Regional Office Wright, MT (2004) Partizipative Qualitätssicherung und Evaluation für Präventionsangebote in Settings. In: R Rosenbrock; M Bellwinkel; A Schröer (Hg.) Primäre Prävention im Kontext sozialer Ungleichheit. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW für Neue Wissenschaft: 297– 346 Wright, MT; Block, M (2005) Bestandsaufnahme der Aktivitäten der AIDS-Hilfen zu Evaluation und Qualitätssicherung in der Primärprävention. Discussion Paper der Forschungsgruppe Public Health, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Berlin
173 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte: Das Beispiel der schulischen Suchtprävention und Skillförderung*
Uwe H. Bittlingmayer**, Klaus Hurrelmann
Abstract Der vorliegende Beitrag präsentiert Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung des verhaltenspräventiven außercurricularen Unterrichtsprogramms »Erwachsen werden« von Lions Quest, das an deutschen Schulen weit verbreitet ist. Ausgelotet werden Potenziale und schulstrukturelle Grenzen dieses verhaltenspräventiven Programms. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die deutsche Schulformhierarchie auch auf die Programmakzeptanz in Form eines »Präventionsdilemmas« niederschlägt. Wir plädieren deshalb für die stärkere Einbettung von verhaltenspräventiven Maßnahmen in die Verhältnisprävention. In Hinblick auf schulpräventive Strategien bedeutet vernünftige Verhältnisprävention die Abschaffung der deutschen Schulformhierarchie. Schlüsselworte: schulische Prävention; Verhaltens- und Verhältnisprävention; Präventionsdilemma; soziale Ungleichheit.
1. Die wachsende Bedeutung der Verhaltensprävention Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass Konzepte und Programme, die im Rahmen von Verhaltensprävention auf Aspekte der alltäglichen Lebensführung zielen, Konjunktur haben. Das Angebot verhaltensbezogener Prävention umfasst dabei mittlerweile neben den schulischen Einrichtungen auch die Erwachsenenbildung durch den Boom von so genannten Elternbildungskursen (Bauer/Bittlingmayer 2005) sowie den betrieblichen Alltag, indem Kurse zur Gesundheitserziehung immer stärker Einzug in die Angebotstruktur von mittleren und großen Betrieben finden (Puls et al. 2002; SVR 2005: 35f.). * Wir danken Dominik Ose für hilfreiche Kommentare. ** e-mail:
[email protected]
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B · Prävention und Lebenswelten
Gründe für die Konjunktur der Verhaltensprävention Die Konjunktur der Verhaltensprävention resultiert aus einer Reihe ganz verschiedener Ursachen: Erstens aus dem Versuch, die Subjekte stärker als bislang für die Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit zu sensibilisieren und in die Pflicht zu nehmen. Seit gut einem halben Jahrhundert gibt es eine sichtbare Verschiebung von akuten Krankheiten zu chronischen Krankheiten. Das Besondere an chronischen Krankheiten ist zunächst, dass der alltägliche individuelle Umgang des Patienten mit den chronischen Erkrankungen stärker in den Vordergrund tritt, weil eine vollständige Heilung der Krankheit außer Reichweite liegt. Das Gesundheitsverhalten des oder der Einzelnen rückt also bereits deshalb notwendig in den Mittelpunkt, weil ein Wandel im objektiven Krankheitsspektrum der Bevölkerung zu verzeichnen ist (Hurrelmann 2003: Kap. 1). Zweitens sind durch präventive Strategien der Gesundheitsförderung enorme Kosteneinsparungen möglich. Dieser Aspekt ist in Zeiten des angeschlagenen beitragsfinanzierten Gesundheitssystems nicht zu unterschätzen (BMBF 2005). Aus der Perspektive des Gesundheitssystems ist eine Bevölkerung, die für Gesundheit sensibilisiert ist und die alltägliche Lebensführung auf die Aufrechterhaltung von Gesundheit aktiv abstimmt, natürlich wünschenswerter als eine, die aufgrund von Bewegungsmangel, Fehlernährung und dem Konsum psychoaktiver Substanzen gewissermaßen passiv darauf wartet, den Zustand der Gesundheit zu verlieren (BMGS 2005a). Deshalb werden verhaltenspräventive Programme auch maßgeblich vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung oder vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt und teilweise selbst installiert (BMGS 2005b). Drittens schließlich begegnen verhaltenspräventive Angebote dem »kurativen Blick« der medizinischen Versorgung, indem die Subjekte als eigentliche Adressaten von Gesundheit gestärkt werden sollen. Damit wendet sich die Verhaltensprävention explizit gegen die in der Literatur häufig kritisierte medizinische Verengung von Krankheit auf biochemische körperliche Fehlfunktionen und bringt stärker »den ganzen Menschen« mit seinen Lebensgewohnheiten, Präferenzmustern und Handlungsroutinen ins Bewusstsein.1 Der zunehmende Bedeutungszuwachs erfolgt vor dem Hintergrund einer veränderten Patientenrolle (Hurrelmann 2003: 124–132; Schaeffer 2004). Verhaltensprävention und eine aktive Patientenrolle sollen die jeweiligen Anteile der Arzt-Patienten-Kommunikation zugunsten der Patien1
Zur Kritik am »medizinischen Blick« vgl. die klassische Studie von Foucault 1988. Vgl. hierzu auch Horn et al. 1983.
175 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
ten verschieben. Durch die breitenwirksame Aufklärung darüber, dass das eigene individuelle Gesundheitsverhalten unmittelbare Konsequenzen dafür hat, soll sich gleichzeitig das Selbstbewusstsein der Patienten erhöhen, mit dem sie in die Arzt-Patienten-Interaktion eintreten. Genau an diesem Punkt setzen etwa Empowerment-Strategien oder Strategien der Patienten-Education an (SVR 2003a, 2003b; insgesamt kritisch hierzu Bauer et al. i. E.). Verhältnisprävention: Eine antiquierte Vorstellung? Der Aufstieg der Verhaltensprävention ist so nachhaltig, dass sich die Frage stellt, warum überhaupt noch verhältnispräventive Maßnahmen und Programme aufgelegt werden sollen. Die soziologische Grundlegung der Verhaltensprävention liegt insbesondere in der Vorstellung, dass unsere Gegenwartsgesellschaften sich mittlerweile durch einen Individualisierungsschub auszeichnen, der den Individuen enorme Freiheitsgewinne beschert und der mit einem Bedeutungsanstieg des Freizeitverhaltens einhergeht. Die traditionellen gesellschaftlichen Konfliktlinien sind ebenso rückläufig wie die soziale Prägung etwa durch das Elternhaus. Damit sind gesellschaftliche Strukturen auch nicht mehr so zentral für Präventionsstrategien. Wenn sich einerseits soziale Verhältnisse in Form von Gesellschaftsstrukturen immer weniger auffinden lassen und sich andererseits diese Strukturen, sofern sie noch identifizierbar sind, immer weniger Einfluss haben sollen auf die individuellen Verhaltensweisen, die alltägliche Lebensführung, auf die Freizeitgestaltung, kurz: auf die umfassenden individuellen Lebensstile, dann sind Strategien, die auf Verhältnisprävention zielen antiquiert. Wenn also das Gesundheitsverhalten immer weniger Ausdruck einer sozialstrukturellen Lage ist, sondern unmittelbarer als früher individuell entscheidungsabhängiger geworden ist, dann produziert selbst eine Veränderung von Rahmenbedingungen nicht zwingend die erwünschten präventiven Erfolge. Viel versprechender sind nach dieser Argumentationslogik Ansätze, die direkter auf das konkrete Verhalten der Individuen abzielen und die sich weniger um die Rahmenbedingungen des individuellen Handels kümmern. Die Verhaltensprävention ersetzt damit – zumindest bis zu einem bestimmten Punkt – die Verhältnisprävention. Individuelles Gesundheitsverhalten und Kompetenzen Komplementär zum Bedeutungsanstieg der Verhaltensprävention haben soziologische und sozialpsychologische Theoriemodelle Konjunktur, die die konkreten Individuen, die Personen in den Mittelpunkt des analytischen Blickes
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B · Prävention und Lebenswelten
stellen. Wenn im Rahmen des oben skizzierten Individualisierungsgedankens die alltägliche Lebensführung und die Handlungsroutinen von Subjekten im Mittelpunkt stehen, dann richtet sich der Blick zunächst auf die Ressourcen, die die Subjekte in der Bewältigung ihrer Handlungsanforderungen zur Verfügung haben. Der Begriff der individuellen Kompetenz bündelt als theoretischer Bezugsrahmen die unterschiedlichen individuellen Handlungsressourcen und besitzt in der Verhaltensprävention im Augenblick eine herausgehobene Bedeutung. »Personengebundene Kompetenzen sind aus der Perspektive der Verhaltensprävention das zentrale Steuerungsmedium zur Erhaltung der individuellen, die gesundheitliche Balance bewahrenden Stabilität« (Bauer 2005: 24). Zu den personengebundenen Kompetenzen zählen internale Kontrollüberzeugungen, ein »gesundes« Selbstvertrauen, realistische Selbstwirksamkeitserwartungen, aber auch ganz allgemeine Handlungskompetenzen, die unter dem Label life skills firmieren. Die grundlegende Überlegung einer kompetenzorientierten Verhaltensprävention lautet, dass mit der Verfügbarkeit von Handlungskompetenzen die individuelle Anfälligkeit für gesundheitsschädigende Verhaltensweisen sinkt: Je höher die Kompetenzen, desto höher die Gesundheitswahrscheinlichkeit. Der Zusammenhang von Kompetenzen und sozialen Ungleichheitsstrukturen Wenn mit der Ausbildung von Lebenskompetenzen oder Gesundheitserhaltungskompetenzen eine vernünftige Alltagsbewältigung und ein produktiver Umgang mit den alltäglichen Anforderungen wahrscheinlich wird, dann scheint es sinnvoll, so früh wie möglich in der individuellen Biografie mit einer planvollen Kompetenzentwicklung zu beginnen (M. Richter 2004: 310; kritisch hierzu Quensel 2004: 55–69). Das ist die positive Wendung von Befunden aus der sozialwissenschaftlichen Sozialisations-, Bildungs- und Ungleichheitsforschung, nach denen einmal habitualisierte Verhaltensweisen bereits im Jugendalter nur sehr schwer zu verändern sind. Sie sind mit einem so genannten Trägheitseffekt ausgestattet, der Handlungsroutinen selbst dann noch aufrecht erhält, wenn sie bereits mit offensichtlichen kontraproduktiven Wirkungen einhergehen. Wenn beispielsweise ein dreizehnjähriger Jugendlicher infolge von Fehlernährung und Bewegungsmangel unter Adipositas leidet, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass er in den nächsten Jahren zu einer sportund bewegungsorientierten Freizeitgestaltung findet, um den Einschränkungen aktiv zu begegnen.
177 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
In der konkreten empirischen Verteilung von derartigen Krankheitsbildern im Jugendalter stoßen wir auf einen in den Gesundheitswissenschaften lange unterbelichteten Bereich der sozialen Ungleichheit unserer Gegenwartsgesellschaften, der den Einbezug einer sozialwissenschaftlichen Perspektive zwingend nahelegt. Es ist in der gesundheitswissenschaftlichen und sozialepidemiologischen Forschung mittlerweile gut belegt, dass die soziale Lage bzw. die Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu einen zentralen Erklärungsfaktor des Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen darstellt. Das Ernährungsverhalten, etwa die regelmäßige Zunahme von Obst und Gemüse sowie die Vermeidung von Fast Food, variiert eindeutig schichtspezifisch (Lampert/Schenk 2004: 77f.; A. Richter 2005). Ebenso die Wahrscheinlichkeit, im Kindes- und Jugendalter an Übergewicht oder Adipositas zu leiden (Zubrägel/Settertobulte 2003; Kolip 2005). Die Feststellung ist kaum übertrieben, dass Angehörige unterer sozialer Lagen und Milieus ein riskanteres Gesundheitsverhalten praktizieren als Angehörige mittlerer und oberer Lagen und Milieus. Bereits an dieser Stelle der Argumentation müssen wir also vor einer Überschätzung der oben dargestellten Individualisierungstendenzen in Gegenwartsgesellschaften warnen. Die empirischen Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage, dem Gesundheitsverhalten, dem Bildungserfolg und der wahrscheinlichen individuellen Laufbahn sind – Tendenz seit zehn Jahren zunehmend – sehr stabil (Vester et al. 2001; Geißler 2002) und legen nahe, dass die prinzipielle Berücksichtigung verhältnisbezogener Prävention nicht vorschnell über Bord gekippt wird. Das »Präventionsdilemma« in der Verhaltensprävention Die Forderung aus der Verhaltensprävention, dass zur Erlangung einer befriedigenden Gesundheitsbalance Lebenskompetenzen und Gesundheitserhaltungskompetenzen gestärkt werden sollen, erhält vor dem Hintergrund der Berücksichtigung der Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung noch einmal eine spezifische Konkretisierung. Da insbesondere diejenigen Gruppen überdurchschnittlich von Krankheitsrisiken betroffen sind, die ohnehin mit den geringsten Handlungsressourcen ausgestattet sind, liegt es nahe, benachteiligte soziale Milieus zum vorrangigen Adressaten von Verhaltenspräventionsprogrammen zu bestimmen. Weil sich die alltäglichen Belastungen in unterprivilegierten Milieus häufig mit Handlungsstrategien verbinden, die der Gesundheitserhaltung am wenigsten zuträglich sind, sollten gerade diese
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B · Prävention und Lebenswelten
Gruppen beim Erwerb von Handlungskompetenzen, von life skills, im Vordergrund stehen. Andernfalls besteht das Risiko, aufwendige Programme für soziale Gruppen durchzuführen, die sie gar nicht oder kaum benötigen. Das Resultat wäre im schlechtesten Fall ein »Preaching to the saved« (Bauer/Hurrelmann i.E.; ausführlicher hierzu Bauer 2005: 163–170). Doch die akademische Einigung darauf, dass aus Gründen einer vernünftigen Präventionspolitik die sozialen Gruppen im Vordergrund stehen sollten, die Gesundheitsförderung am nötigsten haben, sieht sich in der Präventionspraxis nachhaltigen Schwierigkeiten gegenüber. Es ist eine weithin bekannte und unbestrittene Tatsache, dass sich die aus der Sicht der Gesundheitsförderung besonders Bedürftigen nur sehr schwer mit Präventionsprogrammen erreichen lassen. Die Wahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter (U1– U9) etwa ist mit steigendem Alter der Kinder dermaßen sozial selektiv, so dass sich das Bundesland Hamburg entschlossen hat, diese Untersuchungen mit einem obligatorischen Status zu versehen (Altenhofen 2002; Langness 2004). Dieses Phänomen der schwierigen Erreichbarkeit der Bedürftigen wird in der Literatur als »Präventionsparadox« (Hurrelmann 2003: 118f.) oder als »Präventionsdilemma« (Bauer 2005) bezeichnet. Um die Erreichbarkeit von unterprivilegierten sozialen Gruppen zu steigern, werden verstärkt Ansätze favorisiert, die sich auf die sozialen Settings konzentrieren, also auf die zentralen Lebenskontexte der Kinder und Heranwachsenden abzielen. Dahinter steht die Einsicht, dass präventive gesundheitsfördernde Strategien vor allem da erfolgreich sind, wo sie mit der lebensweltlichen Umgebung vernetzt werden können. In der einprägsamen Formulierung der WHO (2000: 15): »Health is created and lived by people within the settings of their everyday life: where they learn, work, play, and love.« Unzweifelhaft ist die Schule einer der wichtigsten Bestandteile der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Ein Programm zur allgemeinen Gesundheitsförderung, das in der Schule implementiert ist, hätte demnach einen doppelten Vorteil: es ist eingebettet in die Lebenswelt Heranwachsender und es erreicht durch die Schulpflicht prinzipiell alle sozialen Schichten. Wir möchten in den folgenden Abschnitten mit dem Programm »Erwachsen werden« ein Beispiel für die Möglichkeiten einer solchen Strategie der verhaltensbezogenen Primärprävention vorstellen.
179 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
2. Verhaltensprävention am Beispiel der schulischen Gesundheitsförderung Das Programm »Erwachsen werden« der gemeinnützigen Stiftung Lions Quest ist im Augenblick das verbreitetste außercurriculare Angebot zur schulischen Primärprävention und Förderung allgemeiner Lebenskompetenzen. »Erwachsen werden« ist konzipiert für die Sekundarstufe I, insbesondere für die 5. bis 7.-Klässler, also vor allem für die zehn- bis dreizehnjährigen Schülerinnen und Schüler. In der Regel werden die Unterrichtsstunden vom Klassenlehrer eine Schulstunde pro Woche auf der Grundlage eines Lehrerhandbuchs durchgeführt. Das aus Amerika stammende Konzept wurde Mitte der neunziger Jahre für Deutschland adaptiert und findet seither eine stetig zunehmende Akzeptanz an Schulen (H. Wilms/E. Wilms 2002). Seit Mitte der neunziger Jahre wird das Programm von der Fakultät für Gesundheitswissenschaft der Universität Bielefeld evaluiert, so dass – anders als bei vielen anderen Programmen und Maßnahmen – in diesem Fall auf Befunde wissenschaftlicher Begleitforschung zurückgegriffen werden kann (Kähnert 2002, 2003). Ziele und Bestandteile von »Erwachsen werden« Im Zentrum der notenfreien Unterrichtsstunden steht die individuelle Entwicklung von sozialen Kompetenzen (z.B. Gruppendynamik, Gruppendruck), von selbstbezogenen Kompetenzen (z.B. Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen) und Handlungskompetenzen im Umgang mit alltäglichen Konflikten (peer-Konflikte, Elternkonflikte). Das Programm soll insgesamt dazu führen, den Blick für selbst- und fremdschädigendes Verhalten zu schärfen und Formen alternativer Handlungsoptionen anzuzeigen. Weil »Erwachsen werden« ursprünglich aus der Suchtprävention stammt, findet sich noch ein expliziter Abschnitt, der neben der Förderung von life skills spezieller die suchtpräventive Komponente abdeckt (zusammenfassend zum Programm E. Wilms 2004). Die einzelnen Bestandteile zur allgemeinen und spezifischen individuellen Kompetenzbildung der Schülerinnen und Schüler im Rahmen von »Erwachsen werden« sind in der . Tabelle 1 abgebildet. Wie in der Tabelle ersichtlich zielt »Erwachsen werden« programmatisch bei Jugendlichen vor allem auf die Verstärkung des Selbstbewussteins, der sozialen und kommunikativen Handlungskompetenzen sowie auf die Entwicklung von Handlungsressourcen in Situationen sozialen Drucks (E. Wilms 2004: 103).
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B · Prävention und Lebenswelten
. Tabelle 1. Die inhaltlichen Bestandteile von »Erwachsen werden«2
Titel und Inhalt des Moduls
vorrangiger lebensweltlicher Bereich
Auswahl vermittelter Kompetenzen
Ich und meine (neue) Gruppe
eigene Person; Klassenverband
Reflexivität; soziales Vertrauen
Stärkung des Selbstvertrauens
eigene Person; Klassenverband
Reflexivität; Selbstvertrauen
Mit Gefühlen umgehen
eigene Person; peer-Gruppe; Familie
Reflexivität; Rollenübernahme; Ambiguitätstoleranz;
Die Beziehungen zu meinen Freunden
peer-Gruppe
Selbstsicherheit; soziales Vertrauen; Konfliktmanagement
Mein Zuhause
Familie
familiale Interaktionskompetenzen; Konfliktmanagement
Es gibt Versuchungen: Entscheide Dich
eigene Person; peer-Gruppe
Selbstsicherheit; Selbstvertrauen
Ich weiß, was ich will
eigene Person; peer-Gruppe
Selbstvertrauen; internale Kontrolle
Positive Effekte von »Erwachsen werden« bei den Schülerinnen und Schülern Die Evaluation von »Erwachsen werden« zeigt eine Reihe von positiven Effekten auf unterschiedlichen Ebenen: bei Schülern, bei Lehrern und bei den Eltern.3 Zunächst findet sich unter den Schülern schulformunspezifisch ein sehr
2
3
Zusammengestellt und konzeptionell ergänzt nach H. Wilms/E. Wilms 2002 und E. Wilms 2004. Die folgenden Befunde sind entnommen aus Kähnert 2002, 2003 und Bauer 2004, 2005. In diesen Publikationen finden sich die differenzierten Angaben über das empirische Design, die Stichprobengröße, die verwendeten Instrumente etc. Wir können aus Platzgründen die Daten hier nicht en detail präsentieren, weil es uns in diesem Artikel um allgemeinere Fragestellungen, um das Zusammenspiel von Verhaltens- und Verhältnisprävention geht. Wir verweisen deshalb an dieser Stelle ausdrücklich auf die o.g. vorliegenden Studien.
181 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
hohes Maß der Akzeptanz der »Erwachsen werden«-Unterrichtsstunden. Im Verlauf der »Erwachsen werden«-Unterrichtsstunden lässt sich ein positiver Effekt auf die Entwicklung des durchschnittlichen individuellen Selbstwertgefühls nachweisen (n=750; Selbstwert-Summenscore der benutzten Items). Insbesondere bei Mädchen lässt sich ebenfalls ein Anstieg der sozialen Kompetenz abbilden (Kähnert 2002: 86–90). Überhaupt scheinen Mädchen noch stärker von den das eigene Selbst stärkenden Programmelementen angesprochen zu werden, so dass die uns zur Verfügung stehenden Daten indirekt auch als Nachweis einer nach wie vor präsenten geschlechtsspezifischen Sozialisation interpretiert werden können. Weiter differenziert wurde die Wirksamkeitsüberprüfung durch einen Schulformvergleich. Bezogen auf die Schulformspezifizität konnten bei der Schülerbewertung des Programms »Erwachsen werden« einige bemerkenswerte Unterschiede festgestellt werden. In einem »Extremgruppendesign«, das Gymnasiasten mit Hauptschülern vergleicht, zeigen sich erwartbare Differenzen hinsichtlich des Programmwissens und des Programmverständnisses, die ein Kompetenzgefälle der deutschen Schulformhierarchie abbilden. Gymnasiasten liegen hier in den Mittelwerten bei den Einzelitems durchgängig über denen der Hauptschüler und weisen auch insgesamt ein höheres Programmverständnis auf (Bauer 2005: 144–148). Bei der allgemeinen Programmbewertung und der individuellen Programmumsetzung zeichnet sich aber ein entgegen gesetzter Trend ab. Hauptschüler haben sowohl bei den Angaben über die individuelle Motivation bei den »Erwachsen werden«-Unterrichtsstunden als auch bei den Angaben über die subjektive Steigerung der individuellen Kompetenzen bei der Alltagsbewältigung höhere Werte als die Gymnasiasten. Es muss nach den Daten davon ausgegangen werden, dass Hauptschüler vom »Erwachsen werden«-Unterricht bei der individuellen Kompetenzentwicklung stärker profitieren als Gymnasiasten (Bauer 2005: 148–151). Neben diesen allgemeinen positiven Kompetenzentwicklungen verzeichnet »Erwachsen werden« ferner Effekte im Bereich der klassischen Suchtprävention. Nach den Daten von Kähnert (2002: 91–97) wirkt das Programm sowohl primär- als auch sekundärpräventiv beim Tabakkonsum, so dass es neben der Stärkung allgemeiner Kompetenzen weiterhin als schulische Suchtprävention fungiert. Nach den bisherigen Erkenntnissen lässt sich festhalten, dass durch das außercurriculare schulische Präventionsprogramm »Erwachsen werden« »zentrale Einstellungs- und Handlungsmuster Heranwachsender [...] positiv beeinflusst werden können« (Bauer 2004: 117).
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B · Prävention und Lebenswelten
Positive Effekte von »Erwachsen werden« bei den Lehrerinnen und Lehrern »Erwachsen werden« basiert auf einer relativ umfangreichen, zweieinhalb-tägigen Fortbildung der Lehrkräfte, in der in das verfügbare Unterrichtsmaterial eingeführt wird, und weiteren Aufbauseminaren, die einzelne Themen und Methoden vertiefen. Es ist dadurch ein integraler Bestandteil der häufig geforderten Weiterbildung des schulischen Lehrkörpers. Im Augenblick wird die Weiterbildung der Lehrerschaft durch eine so genannte Praxisbegleitung verstetigt, in der etwa themenspezifische Vertiefungen (z.B. schulische Elternarbeit) erarbeitet werden. Die Praxisbegleitung ist dabei vielfältig mit der institutionellen Schulstruktur verzahnt, etwa durch die direkte regierungsbezirkliche Zusammenarbeit oder in der Kooperation mit der staatlichen Lehrerfortbildung. Nach Befunden einer Befragung der Lehrerinnen und Lehrer (Kähnert 2002: 14–70), die zumindest an dem Grundseminar teilgenommen haben, verbessern sich deren Methodenkenntnisse. Die Selbstreflexivität der Lehrerschaft wird ebenso erhöht wie das Verständnis für die aktuellen Problemlagen der Heranwachsenden bei den Lehrerinnen und Lehrer geschärft wird. Die Durchführung von »Erwachsen werden« verbessert nach Angaben der Lehrer das Klassenklima und die allgemeine Lernatmosphäre in der Klasse. Positive Effekte von »Erwachsen werden« bei den Eltern Das im Augenblick in der gesundheitspolitischen Diskussion wichtige Thema Elternarbeit ist integraler Bestandteil des Unterrichtsprogramms. So ist einerseits die Durchführung von Elternabenden vorgesehen, andererseits werden Elternmaterialien zur Verfügung gestellt, die unterrichtsbegleitend die Eltern informieren (Bauer/Bittlingmayer 2005). Hierbei handelt es sich um ein 48-seitiges umfassenderes Elternheft sowie ein- bis zweiseitige so genannte Elternbriefe, in denen die Ziele der jeweiligen Unterrichtseinheit (. Tabelle 1) zusammengefasst sind.4 »Erwachsen werden« kann durch die relativ frühe und systematische Berücksichtigung von Elternarbeit als ein in diesem Punkt innovatives schulbezogenes Präventionsprogramm bezeichnet werden, das im heute erst populärer werdenden Setting-Ansatz situiert ist (SVR 2005: 25–27). Der Setting-Ansatz bezeichnet dabei vor allem Präventionsstrategien, die auf eine »kontextorientierte Verhaltensprävention« (SVR 2005: 25) abheben, das heißt, die versuchen, die lebensweltlichen Bestandteile der Interventionssubjekte – 4
Für das Elternheft liegt zudem eine türkische und eine russische Übersetzung vor.
183 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
. Abb. 1. Allgemeine Bewertung der Elternratgeber und subjektive Kompetenzsteigerung5
also neben der Schule vor allem die Familie und die peer-Gruppe – prinzipiell mit in den Blick zu nehmen. Interessant sind in diesem Zusammenhang Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass die Elternschaft der Hauptschulen gespalten ist. Zum Teil müssen sie als schwer oder gar nicht erreichbare Gruppe verstanden werden, die über schulbegleitende Programme kaum zu erreichen sind. Diejenigen Eltern von Hauptschülern, die sich andererseits durch die Elternarbeit im Kontext von »Erwachsen werden« angesprochen fühlen, geben im Vergleich zu Eltern von Gymnasiasten an, dass sie von den Materialien und Veranstaltungen im Rahmen von »Erwachsen werden« ganz besonders profitieren (. Abbildung 1). Danach existieren – entgegen der häufig anzutreffenden Einschätzung – offenbar auch in der Gruppe der Hauptschuleltern Kompensationspotenziale für universal ausgerichtete Elternbildungsangebote (Bauer/Bittlingmayer 2005). Die hier nur knapp referierten Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zeigen, dass verhaltensbezogene Programme wie »Erwachsen werden« wirksam sind und Heranwachsende und Lehrer im gemeinsamen Sozialisationsprozess unterstützen. Insofern ist der oben skizzierte allgemeine Bedeutungszuwachs der Verhaltensprävention vor dem Hintergrund dieser Befunde nachvollziehbar. Doch selbst ein derart wirksames verhaltensbezogenes Programm wie »Erwachsen werden« sieht sich verhältnisbezogenen schulinstitutionellen Grenzen gegenüber. Die deutsche Schule als Ausdruck sozialer Strukturen Die Bundesrepublik Deutschland gilt als besonders konservatives Land, wenn es um die Beschreibung der schulischen (und universitären) institutionellen
5
Quelle Bauer 2005: 162; Positivurteile zusammengezogen; n = 155–159.
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B · Prävention und Lebenswelten
Strukturen im internationalen Vergleich geht. Insbesondere das deutsche Schulwesen ist durch eine starre Schulformhierarchie gekennzeichnet, die wenig Durchlässigkeit zulässt. Das haben empirische Studien zur Bildungsmobilität immer wieder herausgestellt (vgl. zusammenfassend Deutsches PISA-Konsortium 2001). Insofern werden in Deutschland die Weichen zur sozialen Selektion in der individuellen Biografie bereits sehr früh gestellt. Der Wechsel in der fünften (oder in einigen Bundesländern in der siebten Klasse) auf eine Hauptschule geht nur in den allerseltensten Fällen mit einem späteren sozialen Aufstieg einher. Zumeist verbleiben den Hauptschülerinnen und Hauptschülern nur unsichere berufliche Perspektiven und Lebensbedingungen, die mit hohem individuellem Druck und systematischen Belastungen zusammenhängen. Doch Deutschland besitzt nicht nur ein international vergleichsweise selektives System der Schulformhierarchie, das mit systematisch ungleichen Lebenschancen im Verlauf der weiteren Biografien verschränkt ist. Das deutsche Schulsystem hat auch im internationalen Maßstab einen der höchsten Anteile sozialer Vererbung (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Das bedeutet nicht, dass an den unterschiedlichen Schulformen in Deutschland homogene soziale Gruppen beschult werden. Wie die Befunde um die Elternarbeit zeigen, wäre das eine verkürzte Sicht (Bauer/Bittlingmayer 2005). Das bedeutet aber, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit formal gering gebildeten Eltern wieder eine Schule besucht, die in der unteren Schulformhierarchie steht, in Deutschland wesentlich höher ist als in vielen anderen hoch industrialisierten Ländern. Insofern spiegelt die deutsche Schulformhierarchie eine soziale Hierarchie wider. Wenn also gemäß der eingangs skizzierten Logik verhaltenspräventive Maßnahmen vor allem bei denjenigen ansetzen sollte, die es aufgrund ihrer Lebensbedingungen, Gestaltungsspielräume und Handlungsrestriktionen besonders nötig haben, dann sollte im Rahmen dieser Präventionslogik schulische Verhaltensprävention mit einem besonderen Schwerpunkt an den Hauptschulen implementiert werden. Implementierung von »Erwachsen werden« in Bielefeld Die von uns hier präsentierten positiven Aspekte des Programms »Erwachsen werden« treffen in der konkreten Implementierungspraxis auf Schwierigkeiten, die weiter oben bereits als Präventionsparadox bzw. Präventionsdilemma bezeichnet worden sind. Obwohl nach unseren Daten insbesondere Hauptschüler sowie ein Teil der Hauptschuleltern nach eigenen Angaben von
185 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
. Abb. 2. Implementierung von Lions Quest an Bielefelder Schulen (n=36) nach Bauer 2005: 126
den Unterrichtsstunden besonders profitieren, ist die konkrete Verteilung der Implementierung von »Erwachsen werden« nach Daten für die Stadt Bielefeld beinahe polarisiert (. Abbildung 2). An der Spitze liegen die Gymnasien, die zu 60% das Programm aufgenommen haben und im Schulalltag durchführen. Im Mittelfeld mit 40%, aber nicht dramatisch abweichend liegen die Realschulen und die integrierten Gesamtschulen. Am unteren Ende des tatsächlichen Programmeinsatzes mit lediglich 18% befinden sich die Hauptschulen, die auf den Einsatz von »Erwachsen werden« offenbar nur selten zurückgreifen. Ausgerechnet Hauptschulen also, die aufgrund der wenig progressiven nordrheinwestfälischen Schulpolitik häufig eine Art Restschule bilden, die in erster Linie Schülerinnen und Schüler mit sozial benachteiligenden Hintergrundstrukturen beschulen, nutzen das schulbezogene Präventionsangebot, das ihrer Klientel bei der Kompetenzentwicklung Unterstützung bieten könnte, deutlich weniger als die anderen Schulformen mit ihrer ohnehin weniger problematischen Schülerschaft. Implementierung von »Erwachsen werden« in Hamburg Diese Totalerhebung an Bielefelder Schulen ist natürlich zu explorativ, um eine gesicherte Grundlage für die Nachzeichnung eines derartigen »schulischen
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B · Prävention und Lebenswelten
. Abb. 3. Implementierung von »Erwachsen werden« an Hamburger Schulen (n=155)
Präventionsdilemmas« zu bilden.6 Eine Befragung an Hamburger Schulen der Sekundarstufe I liefert allerdings Ergebnisse, die in eine ähnliche Richtung weisen. Hamburg kann gegenüber Nordrhein-Westfalen als bildungspolitisch eher progressives Bundesland verstanden werden, das eine starre dreigliedrige Schulformhierarchie zugunsten einer prinzipiell zweigliedrigen zurückgefahren hat. In Hamburg existieren in der Regel Haupt- und Realschulzentren – zumeist mit integrierten Grundschulen – einerseits und Gymnasien andererseits, so dass die Hauptschulen anders als in Nordrhein-Westfalen nicht so stark als stigmatisierte Räume fungieren, die eine benachteiligte Population beschulen. Die Schulstruktur wird komplettiert durch integrierte Gesamtschulen, die in Hamburg aufgrund der progressiveren Schulpolitik einen stärker integrativen Charakter aufweisen und auch hier anders als in Nordrhein-Westfalen weniger als Auffangbecken schwierig zu beschulender Kinder und Heranwachsender, sondern vielmehr als progressive Akteure in der Schullandschaft zu betrachten
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Zudem dürften die absoluten Zahlen der Implementierung von »Erwachsen werden« über dem Landesdurchschnitt liegen, weil die Universität Bielefeld eng mit den Schulen vor Ort kooperiert, so dass hier weitere Verzerrungen zu erwarten sind.
187 Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte
sind. Die . Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Implementierung an Hamburger Schulen.7 Auffällig ist, dass auch in Hamburg ein Präventionsdilemma, wenn auch nicht so ausgeprägt, existiert. So ist der Implementierungsgrad von »Erwachsen werden« in Hamburg in den unteren und mittleren Bereichen der Schulformhierarchie lediglich halb so hoch wie an den Gymnasien. Die progressiven Hamburger Gesamtschulen liegen sogar noch etwas über den Gymnasien. Auch in Hamburg gilt also prinzipiell, dass diejenigen Schüler, die eine besondere Förderung ihrer allgemeinen Lebenskompetenzen am nötigsten hätten, deutlich weniger in den Genuss des Unterrichtsprogramms »Erwachsen werden« gelangen als die Gymnasien oder die integrierten Gesamtschulen. Die vorliegenden Daten liefern Hinweise auf strukturelle Grenzen von sinnvollen verhaltensbezogenen schulischen Präventionsprogrammen. Es kann hier nicht um eine detailliertere Beschreibung der Ursachen gehen, warum die Schulen an der unteren Schulformhierarchie scheinbar auf sie zugeschnittene Angebote nicht nutzen (vgl. hierzu Bauer i.E.). Wir wollen aber abschließend wenigstens andeutungsweise ausführen, welche Implikationen und Konsequenzen diese Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung für schulpräventive Programme beinhalten.
3. Plädoyer für eine Verschränkung von Verhaltensund Verhältnisprävention Die folgenden Ausführungen verstehen sich weniger als ein unmittelbares gesundheits- oder bildungspolitisches Plädoyer, sondern extemporieren einige Argumente aus den dargestellten Befunden. Der Ausgangspunkt ist das skizzierte Präventionsdilemma, dass diejenigen, die am meisten von einer präventiven Intervention profitieren würden, gleichzeitig am seltensten in den Genuss einer Maßnahme kommen. Dieser Sachverhalt bezeichnet einen ganz allgemeinen Zusammenhang und ist keineswegs allein auf den Gesundheitsbereich oder auf das hier vorgestellte Setting der Schule beschränkt. Er findet sich in so un7
Hierbei handelt es sich nahezu um eine Totalerhebung. Auch wenn die Informationen aus den einzelnen Stellen des Schul- und Kultussenats nicht einheitlich waren, beschulen in etwa 190 Schulen die Hamburger Kinder und Heranwachsenden in der Sekundarstufe I. Mit n=155 liegen von über 80% der Hamburger Schulen Daten vor.
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B · Prävention und Lebenswelten
terschiedlichen Bereichen wie der freiwilligen Teilnahme von Erwachsenen an qualifizierenden Fortbildungen, der Ansprechbarkeit von problembehafteten Familien durch professionelle Berater, Streetworker oder Sozialarbeiter oder der Wahrnehmung von kostenlosen medizinischen präventiven Versorgungsangeboten.8 Im Falle einer schulpräventiven Maßnahme liegt das Präventionsdilemma allerdings noch auf einer anderen Ebene. In den genannten Beispielen sind Individuen durch entsprechende Kommunikationsangebote nicht zu erreichen. Im Falle des Programms »Erwachsen werden« sind Schulen bzw. Schulleitungen je nach dem Status in der Schulhierarchie unterschiedlich offen für gesundheitsfördernde Angebote. Das Präventionsdilemma stellt sich also nicht in der Weise, dass besonders benachteiligte Individuen nicht durch verhaltenspräventive Maßnahmen erreicht werden können, sondern die Barrieren liegen hier im schulinstitutionellen Bereich selbst. Wie wir zeigen konnten, profitieren nach eigenen Angaben Hauptschüler noch stärker als Gymnasiasten von den »Erwachsen werden«-Unterrichtsstunden. Hauptschülern werden in Deutschland durch die Schulformhierarchie institutionelle Grenzen ihrer Kompetenzentwicklung gesetzt. Im Falle des bildungsprogressiven Stadtstaates Hamburg sind die Effekte etwas abgeschwächt, denn der Abstand zwischen den Gymnasien und den integrierten Haupt- und Realschulen ist nicht mehr ganz so dramatisch wie in Bielefeld. Prävention durch zielgruppenspezifische Kommunikationsangebote Die hier vorgestellten Befunde können nun in zweifacher Weise präventive und gesundheitsfördernde Strategien anleiten. Erstens ist zu überlegen, auf welche Weise Schulen, die am unteren Ende der deutschen Schulformhierarchie angesiedelt sind, anzusprechen sind, um ihre Schülerschaft von den bereits bestehenden Präventionsangeboten auch stärker als bislang profitieren zu lassen. Das würde auf eine Strategie zielgruppenspezifischer Kommunikationsangebote hinauslaufen. Derartige Strategien unterschätzen allerdings häufig, dass die Nichterreichbarkeit spezifischer benachteiligter Gruppen nicht ausschließlich, zum Teil nicht einmal vorrangig ein Kommunikationsproblem bezeichnet. Das gilt für Individuen und dürfte für Hauptschulen ganz analog gelten. Die Kenntnis des Programms »Erwachsen werden« ist in den Hauptschulleitungen ver8
In der Erwachsenenbildung beispielsweise wird dieser Zusammenhang als »Mätthäus-Effekt« wahrgenommen (Bolder/Hendrich 2000; Bremer 2004).
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breiteter als die Bereitschaft, Lehrer in eine entsprechende Ausbildung zu entsenden. Die Begründungen für den Verzicht gehen häufig in die Richtung, dass solche Programme nichts an der Situation und an den arbeitsmarktbezogenen Zukunftschancen ihrer Schüler ändern (Bauer i.E.). Nach unserer Perspektive dürfte mithin die Reichweite veränderter und zielgruppenspezifischer Kommunikationsstrategien in diesem Fall sehr begrenzt sein. Prävention durch Veränderung der Rahmenbedingungen Der konkrete Vergleich der Daten zwischen Bielefeld und Hamburg lässt noch eine andere, zweite primärpräventive Strategie zu. Die Unterschiede in den Daten lassen sich – bei aller Vorsicht aufgrund des explorativen Charakters der Befunde – in der Weise interpretieren, dass eine weniger selektive, progressivere Schulpolitik und eine abgeschwächte Schulformhierarchie sich positiv auf die Bereitschaft von Schulen auch mit schwierigerer Klientel auswirken, sich schulpräventiven Programmen zu öffnen. Diese Interpretation steht analog zu den Befunden der angloamerikanischen Sozialepidemiologie, die einen teils direkten, teils indirekten Zusammenhang zwischen einer sozialstrukturellen Polarisierung bzw. der sozialen Kohäsion und dem durchschnittlichen Gesundheitszustand der Bevölkerung aufzeigen kann (Wilkinson 1996; Borgers/Abholz 2001). In das eigentliche Zentrum rückt dann eine verhältnispräventive Strategie – nach unserer Vorstellung eine unabdingbare Voraussetzung für eine sinnvolle und setting-bezogene Verhaltensprävention (Rosenbrock/Kühn 1994; SVR 2005: 25, 43–44; Hurrelmann 2003: 95–101) –, die versucht, sozialstrukturellen Polarisierungstrends entgegenzuwirken. Im Kontext schulischer Verhaltensprävention wäre das aus der Perspektive der Gesundheitsförderung ein deutliches Votum für eine integrierte Gemeinschaftsschule in den Schulklassen 1 bis 10. Es wäre höchst wahrscheinlich, dass eine solche Schulstruktur verhaltensbezogene schulpräventive Unterrichtsprogramme deutlicher und nachhaltiger unterstützen würde als das gegenwärtig insbesondere in den unteren Etagen der Schulformhierarchie der Fall ist. Denn bei aller Wirksamkeit der schulischen Verhaltensprävention ist auch immer mit der Gefahr zu rechnen, ausgerechnet den nicht erreichten Gruppen die Schuld für das anschließend wenig gesundheitsfördernde Verhalten zuzurechnen, also ein »blaming the victim« zu riskieren. Es ist an der Zeit, im Sinne des Mottos der Ottawa-Charta der WHO, »make the healthier way the easier choice«, wieder stärker als augenblicklich über geeignete gesellschaftliche und strukturelle Rahmenbedingungen nachzudenken, die sinnvolle verhaltensbezogene schulpräventive Maßnahmen
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als selbstverständliche Ergänzung des schulischen Curriculums werden lassen. Sonst wird bei aller Qualität der einzelnen verhaltensbezogenen Maßnahmen das Präventionsdilemma auf Dauer gestellt. Resümee Wir haben im vorliegenden Beitrag Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung von Lions Quest »Erwachsen werden« präsentiert, die die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit schulpräventiver Unterrichtsprogramme bezeugen. Gleichzeitig haben wir gezeigt, dass sich selbst allgemeine schulpräventive Programme zur Förderung von life skills in einem Präventionsdilemma befinden. Diejenigen Schulen am unteren Ende der deutschen Schulformhierarchie, deren Kinder die Förderung von Lebenskompetenzen am nötigsten hätten, nutzen das Unterrichtsangebot mit Abstand am seltensten. Auf der anderen Seite integrieren diejenigen Schulen, die eine leistungsstarke und wenig problematische Schülerschaft beschulen das Unterrichtsprogramm mühelos in den Schulalltag. Auf der Grundlage dieser Befunde wird die eingeschränkte Reichweite selbst besonders wirksamer verhaltensbezogener Präventionsprogramme sichtbar. Wir plädieren deshalb dafür, durch eine Veränderung der deutschen Schulstruktur dieses Präventionsdilemma zu durchbrechen und fordern aus der Perspektive einer verhältnispräventiven Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen die Einführung eines integrierten Gesamtschulsystems, um auch sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler systematischer durch sinnvolle Programme zu betreuen.
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193 Übergewicht bei Migrantenkindern
Übergewicht bei Migrantenkindern – methodisch-epidemiologische Stolpersteine Liane Schenk*, Anja Kroke, Anette E. Buyken, Nadina G. KaraolisDanckert, Anke L.B. Günther, Sally Meerkamm, Oliver Razum
Abstract Migranten sind eine heterogene und oft sozioökonomisch benachteiligte Zielgruppe mit hohem Präventionsbedarf. In diesem Beitrag zeigen wir anhand von Beispielen aus der Praxis methodische Probleme bei der Definition der Zielgruppe, der Konstruktion von Erhebungs- bzw. Messinstrumenten sowie Möglichkeiten und Grenzen einer migrantensensiblen Datenanalyse. Den thematischen Rahmen bilden hierbei die Analyse des Übergewichts bei Migrantenkindern und in diesem Zusammenhang relevante Einflussfaktoren. Darüber hinaus diskutieren wir, warum Migranten immer noch nicht regelmäßig in Präventionsstudien eingeschlossen werden und wie dies geändert werden kann. Schlüsselworte: Migrantenkinder, Übergewicht, methodische Probleme
Einleitung Migrantenkinder tragen ein höheres Risiko übergewichtig zu sein als Kinder ohne Migrationshintergrund. Hinweise darauf geben internationale wie auch nationale Studien. In Deutschland berichten vor allem Schuleingangsuntersuchungen eine stärkere Betroffenheit von Übergewicht und Adipositas bei Kindern aus Migrantenfamilien [1–7]. Bevölkerungsweite Daten fehlen gänzlich. Es können derzeit keine zuverlässigen Aussagen zum Ausmaß und zur
* e-mail:
[email protected]
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B · Prävention und Lebenswelten
Verteilung von Übergewicht innerhalb der Migrantenpopulation getroffen werden. Über die Ursachen einer ethnischen Ungleichheit von Übergewicht und Adipositas liegen ebenso wenig gesicherte Erkenntnisse vor. Eine wirksame Adipositasprävention, die auch Migranten erreichen will, benötigt nicht nur differenzierte Risikogruppenbeschreibungen. Es müssen kulturelle und migrationsbedingte Besonderheiten der Verursachung von Übergewicht in der konkreten Gestaltung präventiver Maßnahmen berücksichtigt werden. Dies setzt eine Verbesserung der Datenlage voraus. Welche methodischen Probleme es dabei zu lösen gilt, umreißen die folgenden Beiträge. Erste Schwierigkeiten ergeben sich bereits bei der Definition der Zielpopulation. Müssen Migranten selbst zugewandert sein? Nach wie vielen Einwandergenerationen ist jemand kein Migrant mehr? Zählen zu Migranten nur diejenigen, die über einen ausländischen Pass verfügen? Razum diskutiert die Definition der interessierenden Zielgruppe und eines geeigneten Vergleichsstandards (Bevölkerung des Herkunftslandes oder Deutschlands?). Daran schließt sich die analoge Frage nach der geeigneten Referenzkurve zur Bewertung von Übergewicht bei Migrantenkindern an. Dieses und weitere Probleme bei Definition und Messung von Übergewicht erörtern Karaolis-Danckert et al. Günther et al. gehen der Frage nach, ob sich kulturspezifische Ernährungsgewohnheiten auch in der Gestaltung von Erhebungsinstrumenten niederschlagen müssen und zeigen Wege, wie sich eine solche Kulturspezifik in gängige Methoden integrieren lässt. Schenk demonstriert abschließend anhand des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), wie groß die methodisch-epidemiologischen Stolpersteine in der Praxis sind und welche Anstrengungen unternommen werden müssen, bis valide Daten zum Übergewicht von Migrantenkindern und dessen Verursachung vorliegen.
»Migranten« – Methodische Probleme bei der Definition der Zielgruppe 1 Das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland war auf Grund der geografischen Lage im Zentrum Europas schon immer ein Ein- und Durchwanderungsland. Dabei waren und sind die Motive für eine Migration sehr unter1
Bearbeiter: O. Razum, Universität Bielefeld, AG Epidemiologie & International Public Health, Fakultät für Gesundheitswissenschaften
195 Übergewicht bei Migrantenkindern
schiedlich und wechseln im Laufe der Zeit. Auch die Gruppe der Migranten selbst zeichnet sich durch eine große Heterogenität aus [8], so dass eine klare Definition dieser Zielgruppe schwierig ist. Sowohl epidemiologische Studien als auch eine Gesundheitsberichterstattung (GBE) für Migranten erfordern aber eine eindeutige Definition und statistische Erfassung. Andernfalls werden Krankheits- bzw. Todesfälle unter Migranten nicht korrekt zugeordnet und/ oder es wird die Bezugsbevölkerung (Denominator) ungenau bestimmt, woraus erhebliche Verzerrungen z.B. der berechneten Erkrankungs- bzw. Sterberaten resultieren können. Auch ist bei uneinheitlicher Zielgruppendefinition die Vergleichbarkeit verschiedener Datenquellen stark eingeschränkt. Die in Deutschland bislang meist angewandte Definition der Zielgruppe stützt sich allein auf die Staatsangehörigkeit. Hierbei wird zunächst unterschieden zwischen »deutsch« und »nicht-deutsch« bzw. »ausländisch«. In der amtlichen Statistik wird teilweise eine weitere Untergliederung nach einzelnen Nationalitäten oder Ländergruppen (z.B. EU-Mitgliedsstaaten) vorgenommen; als Besonderheit ist zu beachten, dass nur solche ausländische Staatsbürger einbezogen werden, die in Deutschland gemeldet sind. Prinzipiell erlaubt die Variable »Nationalität« direkt oder indirekt Aussagen zum rechtlichen Aufenthaltsstatus der betreffenden Gruppe, der ethnischen Herkunft, dem gesellschaftlichen, ökonomischen und gesundheitlichen Entwicklungsstand [9]. Im täglichen Sprachgebrauch und zur Vermeidung des möglicherweise negativ belegten Terminus »Ausländer« wird häufig von »Migranten« gesprochen. Die Definition von »Migrant« als Zuwanderer, der nicht in Deutschland geboren ist, überschneidet sich allerdings mit der von »Ausländer« als einer Person mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit; sie ist aber keineswegs mit ihr identisch. Daher führt eine Definition der Zielgruppe allein nach Staatsangehörigkeit zu mangelnder Trennschärfe und logischer Inkonsistenz. Die Gruppe der in Deutschland ansässigen Ausländer umfasst Ausländer (nach Pass), im Ausland Geborene mit deutschem Pass, Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen einer Nationalität, Migranten der ersten Generation, die Folgegenerationen ihrer hier geborenen und/oder aufwachsenden Kinder sowie anerkannte Asylbewerber. Hingegen werden einige Migranten der ersten Generation in keiner Statistik mehr als Ausländer ausgewiesen, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Der Begriff »Migrant« hilft aber auch nicht weiter: viele »Migranten« der zweiten Generation sind in Deutschland geboren; sie sind also nie migriert, haben aber einen ausländischen Pass und werden in Statistiken als Ausländer geführt (im deutschen Ausländerrecht sind deutsche
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B · Prävention und Lebenswelten
Vorfahren ausschlaggebend für die Zuschreibung deutscher Nationalität, nicht der Geburtsort Deutschland). Mit Einführung der (wenn auch zeitlich begrenzten) Möglichkeit einer 2. Staatsbürgerschaft kompliziert sich die Situation weiter. Ein Sonderfall sind die Spätaussiedler, die migriert sind, jedoch in der Statistik in der Regel als Deutsche geführt werden. Die Gruppe der sogenannten »Illegalen« bleibt schließlich in den vorhandenen Datenquellen völlig unberücksichtigt. Zu beachten ist ferner, dass »gleiche Staatsangehörigkeit« nicht »gleiche Ethnie« bedeutet. Innerhalb einer Gruppe gleicher Nationalität bestehen u. U. große Unterschiede hinsichtlich gesundheitlich bedeutsamer Faktoren. So wird z.B. vermutet, dass Türken aus Zentral- und Ostanatolien aufgrund ihrer genetischen Konstellation einen erniedrigten HDL-Wert und damit ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko haben [10] . Eine nationalitätenspezifische Betrachtung ist daher nur eine erste Annäherung an den Komplex »Gesundheit von Migranten«. Eine weitere Differenzierung nach Migrationsstatus, legalem Status, eigener Einschätzung der Gruppenzugehörigkeit, Ethnie, Aufenthaltsdauer und sozio-ökonomischem Status könnte je nach spezifischer Fragestellung erforderlich werden. Eine Stratifizierung der GBE nach der Variable »Migrant« (operationalisiert z.B. durch Nationalität, Geburtsland, Zuwanderungsgrund oder Ethnie) beinhaltet implizit eine Abgrenzung dieser Gruppe von der Mehrheitsbevölkerung. Bevor eine solche Stratifizierung vorgenommen wird, sind mögliche Folgen zu bedenken: Ist es hilfreich und politisch erwünscht, eine Untergruppe der Bevölkerung zu definieren und dann Aussagen über deren möglicherweise schlechten Gesundheitszustand zu machen? Erschwerend kommt hinzu, dass die gängigen Wege der Operationalisierung des Begriffs »Migrant« im Alltagsgebrauch mit Vorurteilen belegt sind, z.B. nicht-deutsche Nationalität (»Ausländer«) oder Geburtsland (z.B. »Türke«). Dies kann im ungünstigsten Fall Anlass zu populistischen oder rassistischen Aussagen bieten wie »Die Ausländer sind kränker und stellen eine finanzielle Belastung für unser Gesundheitssystem dar«. Ziel ist, epidemiologische Studien und eine GBE für Migranten so anzulegen, dass sie nicht zu einer Diskriminierung oder Ausgrenzung führen. Ein häufig vorgebrachtes Argument für eine Aufnahme von Migranten in epidemiologische Studien bzw. für eine Stratifizierung der GBE nach der Variable »Migrant« ist, dass dadurch die gesundheitlichen Folgen der sozio-ökonomischen Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppe aufgezeigt werden könnten. So ist aus England und den USA bekannt, dass Menschen mit niedrigem
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Einkommen oder niedrigem Sozialstatus sowie Angehörige von Minoritäten eine höhere Sterblichkeit haben als die Mehrheitsbevölkerung. Entsprechendes könnte man auch für die ausländische Bevölkerung in Deutschland erwarten. Das Gegenteil ist aber der Fall: deren beobachtete Sterblichkeit (und in einigen Fällen auch deren Morbidität) liegt deutlich niedriger als die der Deutschen [11, 12] – ähnliche Beobachtungen gibt es unter Migranten in vielen anderen Ländern (»healthy migrant effect«). Dieses Phänomen erfordert zunächst eine wissenschaftliche Klärung; für die GBE schafft es beim derzeitigen Kenntnisstand die Gefahr von Fehlinterpretationen und unhaltbaren Aussagen wie »Für Migranten sind keine besonderen gesundheitlichen Anstrengungen erforderlich«. »Migranten« sind eine hinsichtlich Herkunftsland, Sozialstatus, Aufenthaltsdauer, Akkulturation etc. sehr inhomogene Gruppe. Gleichzeitig sind Migranten regional sehr unterschiedlich stark in der Bevölkerung vertreten. Es ist also davon auszugehen, dass auch Gesundheitsprobleme von Migranten und Zugangsbarrieren zu Gesundheitsdiensten lokal bzw. regional sehr unterschiedlich sind. Epidemiologische Studien oder eine GBE, die sich allein auf bundesweite Daten stützen, können daher zur Identifikation und Lösung lokaler Probleme wenig beitragen. Ferner besteht die Gefahr, dass Aussagen über Mehrheiten in der sehr heterogenen Gruppe der »Migranten« für Minderheiten in der Gruppe nicht zutreffend sind. Der Datenschutz in Deutschland setzt jedoch zumindest bei der Sekundäranalyse von Daten einer Desaggregation nach Nationalität und Wohnort vielfach enge Grenzen. Der Gesundheitsstatus einer Gruppe ist (von eindeutigen Fällen wie Neugeborenen- oder Müttersterblichkeit abgesehen) nicht aus gemessenen Absolutwerten ablesbar; vielmehr werden erhobene Messwerte in aller Regel erst durch Vergleiche mit den entsprechenden Werten in anderen Bevölkerungsgruppen interpretierbar. Es stellt sich die Frage, welches der geeignete Standard für Vergleiche sein soll: Gesundheitsdaten aus dem Herkunftsland oder aus Deutschland? Entscheidet man sich für das Herkunftsland, so lassen sich Gesundheitsprobleme wie z.B. ein evtl. höheres Risiko für Übergewicht bei türkischen Kindern (mit-) erklären; Zielvorgabe könnte hier eine mit der Aufenthaltsdauer zunehmend niedrigere Prävalenz als in der Türkei sein. Eine wirkliche »Gerechtigkeit«, also ein gleiches Risiko wie bei Deutschen, kann nicht bei allen Gesundheitsproblemen erreicht werden, daher eignen sich die entsprechenden Werte bei Deutschen nicht als Zielvorgabe. Durch die Wahl des Herkunftslandes als Vergleich besteht aber die Gefahr, in Deutschland bestehende gesundheitliche Ungleichheiten zu relativieren: tür-
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B · Prävention und Lebenswelten
kische Frauen in Deutschland haben weniger als ein Zwanzigstel (!) des Risikos eines mütterlichen Todesfalles von Frauen in der Türkei. Überspitzt gesagt gibt es nur wenige Interventionen, die mit einem solch massiven epidemiologisch messbaren Gesundheitsgewinn auf bestimmten Gebieten einhergehen wie eine Migration nach Deutschland (für andere Länder gilt das in noch stärkerem Maße als für die Türkei). Gleichzeitig haben türkische Frauen in Deutschland jedoch ein fast doppelt so hohes altersadjustiertes Risiko eines mütterlichen Todesfalles wie deutsche Frauen [13]. Wählt man dagegen entsprechende Daten aus Deutschland zum Vergleich, so stellt sich die Frage, ob man Vergleichswerte aus dem Bevölkerungsmittel oder vielmehr aus solchen Sozialschichten heranziehen sollte, die von Einkommen und Ausbildung her den Migranten vergleichbar sind. In letzterem Falle würden viele gesundheitliche Unterschiede zwischen Migranten und Deutschen wahrscheinlich nicht mehr nachweisbar sein. An der Frage des Standards wird besonders deutlich, wie stark Vorentscheidungen die Aussage einer epidemiologischen Studie oder einer GBE für »Migranten« beeinflussen können. Es besteht somit die Gefahr, dass die Wahl des Standards z.B. von politischen Interessen geleitet wird.
Übergewicht bei Kindern mit Migrationshintergrund – Probleme bei Definition und Messung 2 Die derzeitige Diskussion über die steigende Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern bezieht sich sowohl auf die möglichen Ursachen als auch auf das aktuelle Ausmaß und die Dimension des Problems. Prävalenzschätzungen für Adipositas weisen einen beträchtlichen Grad an Unsicherheit auf und reichen für deutsche Kinder von 7–25% [14–20]. Eine vergleichbare Unsicherheit besteht für Schätzungen von Übergewicht und Adipositas bei Kindern von in Deutschland lebenden Migrantenfamilien. Die meisten Studien berichten höhere Prävalenzraten im Vergleich zu deutschen Kindern, die von 5–15% reichen [17, 18, 21, 22]. Es fehlen jedoch genaue Schätzungen. Einer der wichtigsten Gründe für die Ungenauigkeit der Prävalenzschätzungen ist in beiden Fällen die Vielzahl von Definitionen für Übergewicht und Adipositas. Einerseits 2
Bearbeiterinnen: N. Karaolis-Danckert, A.E. Buyken, A. Kroke; Forschungsinstitut für Kinderernährung.
199 Übergewicht bei Migrantenkindern
betrifft dies die Wahl der Referenz-Wachstumskurve, mit der das Gewicht, die Größe und der Body Mass Index (BMI, kg/m2) eines Kindes beurteilt werden, andererseits können die Grenzwerte für die Definition von Übergewicht und Adipositas zu einer signifikanten Fehlklassifikation bzw. fehlerhaften Einschätzung führen. Die Beurteilung des Gewichts- und Längenwachstums von Kindern mit Migrationshintergrund ist besonders problematisch, da sie zudem die Frage aufwirft, welche Referenzkurve angemessen ist. Sollte die Referenzkurve der Nation, in der das Kind lebt, eingesetzt werden, oder eine aus dem jeweiligen Herkunftsland der Familie? In einem Land wie Deutschland, in dem ca. 9% der Bevölkerung eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit hat, ist diese Frage von zunehmendem Interesse und Wichtigkeit, wenn zuverlässige Zahlen zum Gesundheitszustand und Ernährungsstatus dieser Bevölkerungsgruppe generiert werden sollen. Zur Zeit gibt es kein allgemein akzeptiertes System zur Klassifikation von Übergewicht in der Kindheit. Übergewicht bzw. Adipositas sind durch ein Übermaß an Körperfettmasse charakterisiert. Zwar gibt es Methoden zur Bestimmung der Körperfettmasse, doch sind diese so aufwendig und teuer, dass sie für große bevölkerungsbasierte Studien oder den klinischen Alltag nicht geeignet sind. Daher wurde ein BMI-basierter Ansatz, bei dem der BMI als ungefähres Maß für die Fettmasse eingesetzt wird, als Alternative vorgeschlagen3 [25]. Für Kinder wird die geschlechts- und altersspezifische Verteilung des BMI in Form von Perzentilkurven dargestellt. Die World Health Organization (WHO) und die International Obesity Task Force (IOTF) empfehlen unterschiedliche Referenzkurven mit verschiedenen Grenzwerten für die Klassifikation von Adipositas in der Kindheit [26, 27]. Zusätzlich verfügen die meisten Länder über ihre eigenen nationalen Referenzkurven. Obwohl diese am geeignetsten für den nationalen Gebrauch sein könnten, sind sie mit einer Reihe von Problemen belastet. Erstens erfordert die Schaffung solcher Wachstumsreferenzkurven sorgfältig gesammelte, vorzugsweise longitudinale Wachstumsdaten von repräsentativen Stichproben aus der jeweiligen Bevölkerung. Im Fall von Deutschland und Frankreich stammen die Stichproben jedoch aus nicht repräsentativen Querschnittsuntersuchungen von Kindern [28, 29]. Zweitens 3
Zwar hat sich gezeigt, dass der BMI gut mit dem Körperfettanteil korreliert (r=0,6–0,9) [23], dies gilt aber nicht für alle ethnischen Gruppen [24]. Diese Gruppen stellen jedoch nur einen kleinen Teil der Migranten in Deutschland dar; eine detailliertere Diskussion dieser Thematik würde jedoch den Rahmen dieses Artikels übersteigen.
200
B · Prävention und Lebenswelten
geben Referenzkurven Einblicke in die Verteilung von Wachstumsparametern einer bestimmten Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die französischen Referenzkurven beispielsweise basieren auf Wachstumsdaten, die zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1980er-Jahre gesammelt wurden. Wenn Wachstumskurven nicht regelmäßig aktualisiert werden, wie es in den USA praktiziert wird [30], spiegeln sie säkulare Veränderungen im Wachstum, die möglicherweise stattgefunden haben, nicht wider. Dies kann ein Vor- oder ein Nachteil sein, je nach Ziel des Vergleichs. Eine Trendanalyse oder eine Schätzung der aktuellen Adipositasprävalenz wird zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, wenn heutige Kinder entweder mit Gleichaltrigen aus den 1960ern und 1970ern oder mit Kindern ihrer Generation verglichen werden. Generell ergeben Vergleiche mit Referenzsystemen, die vor dem Anstieg der Adipositasprävalenz seit Mitte der 1980er-Jahre erstellt wurden, höhere Schätzungen der Übergewichtsprävalenz als solche mit neueren Referenzkurven. Sowohl in Deutschland [15, 19, 20, 31] als auch andernorts [32–36] konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden, dass Diskrepanzen zwischen den Beurteilungen der Körpermasse einer Gruppe von Kindern auftreten können, wenn diese mit den diversen verfügbaren Wachstumskurven verglichen werden. Neben Problemen in Bezug auf die Kurven selbst sind die willkürlich gesetzten Grenzwerte zur Abgrenzung von Normal- und Übergewicht ein weiterer verkomplizierender Faktor. Zwischen den verschiedenen nationalen Referenzkurven bestehen z. T. nicht unerhebliche Unterschiede in den Grenzwerten für Übergewicht und Adipositas: Deutschland, Frankreich, Belgien und die Niederlande verwenden die 90. und 97. Perzentile, wohingegen die USA die 85. und 95. und Großbritannien die 91. und 98. Perzentile verwenden [37]. Ideale Grenzwerte sollten eine Spanne berücksichtigen, in der das Risiko für von Adipositas abhängige Krankheiten steigt, wie im Fall der Grenzwerte für Erwachsene von 25 kg/m2 (Übergewicht) und 30 kg/m2 (Adipositas) [25]. Es ist jedoch schwierig, solche Grenzwerte für Kinder zu finden, da sie weniger mit Adipositas assoziierte Erkrankungen aufweisen als Erwachsene, und die Dosis-Wirkungs-Kurve, die Adipositas mit dem Auftreten von Erkrankungen verbindet, über ein weites Spektrum von Fettleibigkeit linear ist [38]. Die IOTF hat versucht, einige dieser beschriebenen Limitationen durch Schaffung eines anderen Klassifikationssystems zu beheben [27]. Unter Verwendung von Messdaten aus 6 verschiedenen Ländern (Brasilien, Hong Kong, USA, Großbritannien, Niederlande, Singapur) legte sie Grenzwerte für Übergewicht und Adipositas bei Kindern fest, die den akzeptierten Grenzwerten bei
201 Übergewicht bei Migrantenkindern
den Erwachsenen entsprechen (25 kg/m2 und 30 kg/m2). Dies wurde durch einen Prozess rückwärts gerichteter Extrapolation auf die geschlechtsspezifischen BMI-Perzentilkurven erreicht. Dadurch wurde nicht nur eine Definition von Adipositas für Kinder und Jugendliche gefunden, die konsistenter mit der von Erwachsenen ist, sondern zudem auch ein internationaler Vergleich von Übergewichts- und Adipositasprävalenzen ermöglicht. Zusätzlich zu den zuvor skizzierten Problemen und Diskussionspunkten stellt das Wachstumsmonitoring von Kindern mit Migrationshintergrund ein zusätzliches Dilemma dar. Gesichert ist, dass ethnische Unterschiede hinsichtlich Wachstumsmustern, Geschwindigkeit der körperlichen Entwicklung und Körperfettverteilung sowie auch hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem Erkrankungsrisiko bestehen [24, 39]. Es erscheint daher ratsam, die Referenzkurven des jeweiligen Ursprungslandes des Kindes zu wählen, sofern diese bestehen. Doch auch hier können sich Probleme ergeben, wie sich an Hand der deutschen Migrantenpopulation erläutern lässt. Die größte Migrantenpopulation in Deutschland ist türkischer Herkunft (1,88 Mio. oder 25,6% der Migranten) [40]. Zwar sind Referenzkurven aus der Türkei verfügbar, aber diese wurden aus Daten von Bevölkerungsstichproben in verschiedenen Teilen der Türkei zu verschiedenen Zeitpunkten gebildet [41]. Die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten in Deutschland kommen aus Anatolien, wo sich der ethnische Ursprung sowie die sozioökonomischen Bedingungen von denen in anderen Teilen des Landes unterscheiden [41]. Es ist daher wahrscheinlich, dass die existierenden Wachstumskurven nicht für diese bestimmte Migrantengruppe repräsentativ sind. Zusätzliche Störfaktoren, einschließlich säkularer Trends im Wachstum, Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Ernährungsstatus, Ehen zwischen Zugewanderten und Einheimischen sowie neuer Immigration bedeuten, dass sich die Zusammensetzung der Migrantenpopulation ständig verändert. Der säkulare Trend in Richtung zunehmender Körpergröße in nachfolgenden Generationen tritt zudem in verschiedenen Migrantenpopulationen in unterschiedlichem Ausmaß auf. So könnte es sein, dass dieser Trend bei türkischstämmigen Migranten in Deutschland langsamer verläuft, weil sowohl das Heiratsverhalten als auch der Lebensstil immer noch sehr auf die Gemeinschaft gerichtet sind. Hieraus ergibt sich die bisher unbeantwortete Frage, ob genetische oder Umweltfaktoren den größeren Einfluss auf das Wachstum eines Kindes haben. Klar ist, dass beide berücksichtigt werden müssen, insbesondere in Deutschland, wo Migrantenfamilien bereits in der dritten Generation leben.
202
B · Prävention und Lebenswelten
In der Praxis kann die Beurteilung von Wachstum und Ernährungsstatus bei Kindern des Weiteren durch Probleme erschwert werden, die mit der Ausführung der Messungen zusammenhängen. Idealerweise sollten die Kinder so ruhig wie möglich stehen oder liegen und sollten nur Unterwäsche tragen und barfuß sein. Die erste Bedingung kann besonders bei jüngeren Kindern schwer zu erfüllen sein, wohingegen die letzteren mit zunehmendem Alter der Kinder schwieriger werden. Insbesondere mit dem Beginn der Pubertät sind sowohl Jungen als auch Mädchen unwilliger sich in Gegenwart eines Fremden auszuziehen, und im besonderen Fall von Migrantenkindern kann dies z. B. auch aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht angemessen sein. Ein gewisser Grad an Sensibilität für diese Belange ist im Umgang mit Kindern wünschenswert. Nur eine sehr begrenzte Anzahl an Studien wurde veröffentlicht, die das Wachstum von Migrantenkindern ermittelt haben [16–18, 21, 22, 42–45]. In Deutschland liegt dies überwiegend daran, dass die größten Wachstumsstudien, die durchgeführt wurden – die Datensammlung der Arbeitsgemeinschaft »Adipositas im Kindes- und Jugendalter« (AGA) eingeschlossen – entweder ausschließlich Individuen deutscher Nationalität berücksichtigt haben, oder dass Nationalität bzw. ethnischer Hintergrund in den Erhebungen überhaupt nicht ermittelt wurde. Die in Deutschland oder andernorts durchgeführten Studien zeigen jedoch grundsätzlich eine höhere Prävalenz von Übergewicht und Adipositas unter Kindern mit Migrationshintergrund, und zwar sowohl im Vergleich zu ihren deutschen Altersgenossen als auch zu Gleichaltrigen ihres Heimatlandes. Trotz des Mangels an verfügbaren Daten weist die Konsistenz der Ergebnisse darauf hin, dass weitere Erhebungen und Interventionen auf Migranten ausgerichtet werden sollten. Was bedeutet dies alles letztendlich für Schätzungen der Prävalenz von Übergewicht bzw. Adipositas bei Migrantenkindern? Die oben diskutierten Probleme legen nahe, dass solche Schätzungen wahrscheinlich noch weniger akkurat als bei deutschen Kindern sind. Daher erscheint es ratsam, ungeachtet der Wahl der Referenzkurve stets die Grenzwerte der IOTF mit einzubeziehen, um ein gewisses Maß an internationaler Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass die Auswahl einer Wachstumsreferenzkurve grundsätzlich in zwei unterschiedlichen Situationen notwendig ist: Zur Wachstumsbeurteilung eines individuellen Kindes oder bei allgemeineren Vergleichen von Prävalenzschätzungen für Übergewicht und Adipositas auf Bevölkerungsebene. Da sich die Ziele und Konsequenzen dieser beiden Situationen unterscheiden, sollte vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen
203 Übergewicht bei Migrantenkindern
von Fall zu Fall entschieden werden, welche Vorgehensweise als die angemessenste erscheint.
Müssen Ernährungserhebungsinstrumente kulturspezifisch sein? 4 Die Bedeutung von Essen und Trinken geht weit über die der reinen Nährstoffaufnahme hinaus. Dementsprechend wird das Ernährungsverhalten eines Menschen nicht nur von Hunger- oder Sättigungsgefühl, sondern unter anderem auch von seinem kulturellen Hintergrund beeinflusst. Zum einen betrifft dies die Auswahl, Produktion und Zubereitung von Lebensmitteln. Hier spielen z.B. unterschiedliche religiöse Vorstellungen (z.B. der Verzicht auf Schweinefleisch im Judentum oder im Islam), aber auch äußere Bedingungen wie die Verfügbarkeit von Lebensmitteln eine bedeutende Rolle [46]. Zum anderen besitzt die Ernährung in verschiedenen Kulturen einen unterschiedlichen Stellenwert, weshalb von Kultur zu Kultur unterschiedliche Mahlzeitenstrukturen und Gestaltungen der Essgemeinschaften vorzufinden sind [47; 48]. Auf dem Hintergrund eigener Daten wissen wir, dass in Deutschland lebende Migrantenfamilien auch in der zweiten und dritten Generation ein kulturspezifisches Ernährungsverhalten aufweisen. Die vielfältigen kulturellen Einflüsse auf das Ernährungsverhalten sind daher bei Ernährungserhebungen zu berücksichtigen, um eine ausreichende Datenqualität und adäquate Interpretation zu gewährleisten. Jedoch mangelt es in Deutschland an geeigneten Ernährungserhebungsinstrumenten, um diesem Anspruch gerecht werden zu können. Nicht zuletzt aus diesem Grunde existieren bisher auch nur wenige Studien zur Gesundheits- bzw. Ernährungssituation der hier lebenden Personen mit Migrationshintergrund [49–51], obwohl ihre Anzahl inzwischen auf über 14 Millionen angewachsen ist [52] und die Aufenthaltsdauer von in Deutschland lebenden Migranten zu großen Teilen bereits mehr als ein Jahrzehnt beträgt [53]. Der Bedarf an validen Daten zu ihrem Ernährungsverhalten ist immens, da sich andeutet, dass Personen mit Migrationshintergrund zunehmend an ernährungsassoziierten Gesundheitsstörungen leiden [54–56]. Insbesondere ist die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern 4
Bearbeiterinnen: A.L.B. Günther, S. Meerkamm*, A. Kroke; Forschungsinstitut für Kinderernährung, * Fachhochschule Münster.
204
B · Prävention und Lebenswelten
aus Migrationfamilien nach den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen noch höher als bei ihren deutschen Altersgenossen [57–59]. Im Vergleich zu Deutschland kann in den USA auf deutlich mehr Erfahrungen in der Entwicklung kulturspezifischer Ernährungserhebungsinstrumente zurückgegriffen werden [60–63]. Diese zeigen, dass eine »kulturell kompetente« [64] Vorgehensweise bei der Erfassung der Ernährungssituation verschiedener Ethnien in Abhängigkeit von den eingesetzten Ernährungserhebungsinstrumenten mit unterschiedlichem Aufwand realisierbar ist. Im Folgenden sollen daher anhand dreier im Rahmen großer Stichproben einsetzbarer Instrumente Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie der derzeitige Mangel an kulturspezifischen Ernährungserhebungsmethoden und damit auch an Daten zur Ernährungssituation von Migranten in Deutschland effizient behoben werden könnte. Bei Einsatz eines 24-h Erinnerungsprotokolls (»24-h Recall«) werden im Rahmen eines Interviews alle am Vortag verzehrten Lebensmittel möglichst genau und einschließlich Portionsgröße erfasst. Die Vorteile dieser Methode liegen unter anderem in der geringen Belastung des Befragten sowie dem vergleichsweise niedrigen Aufwand [65, 66], so dass sie bei wiederholtem (d.h. mindestens zweimaligem) Einsatz zur Erfassung des Ernährungsstatus großer Gruppen geeignet ist [67]. Da es sich beim 24-h Recall um ein offenes Ernährungserhebungsinstrument handelt, ist seine Kulturspezifität vergleichsweise gering [66]. Insbesondere durch ein individualisiertes Vorgehen während der Befragung lässt sich Sensibilität bezüglich kultureller Unterschiede (z.B. im Bereich von Portionsgrößen) leicht ermöglichen [68, 69]. Voraussetzung für einen uneingeschränkten Zugang zur Zielgruppe sind jedoch die Übersetzung des Instrumentes in verschiedene Sprachen und/oder entsprechende Fähigkeiten seitens des Interviewers. Darüber hinaus ist im Idealfall auch zu gewährleisten, dass Interviewer und Proband einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund aufweisen, um Fehlkommunikation auszuschließen [64]. Zur adäquaten Auswertung der mittels einem 24-h Recall erhobenen Daten ist es schließlich notwendig, Zugang zu Nährstoffdatenbanken zu haben, in denen kulturspezifische Lebensmittel aufgelistet sind, oder den Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) als dem Standardinstrument zur Auswertung ernährungsepidemiologischer Erhebungen in Deutschland um kulturspezifische Lebensmittel hier lebender Migrantengruppen zu erweitern. Dafür sind auch Kenntnisse über Zubereitungstechniken und Rezepturen nötig. Aufgrund des relativ leicht zu verwirklichenden Einsatzes des 24-h Recalls bei kulturell unterschiedlichen Gruppen eignet er sich als Ausgangspunkt für
205 Übergewicht bei Migrantenkindern
die Identifikation der für die jeweilige Kultur spezifischen Lebensmitteln. Dies könnte dann die Grundlage für die Entwicklung eines validen kulturspezifischen Ernährungserhebungsinstrumentes darstellen, welches sich durch die Erfassung der üblichen Ernährung in höherem Maße für komplexere Fragestellungen (z.B. Zusammenhänge zwischen Nahrungsfaktoren und diversen Erkrankungen) eignet. Ein solches, im Rahmen bevölkerungsweiter Untersuchungen einsetzbares Instrument zur Erhebung von Ernährungsgewohnheiten stellt die Ernährungssoftware DISHES 98 (Dietary Interview Software for Health Examination Studies) des Robert-Koch Instituts dar, die auf einer vereinfachten »Diet History« beruht. Mittels der Diet History-Methode, die eine Kombination verschiedener Erhebungsinstrumente darstellt, ist es möglich, die Ernährung während eines längeren, vorausgegangenen Zeitraums zu ermitteln [65]. Zur Erfassung der üblichen Ernährung der letzten vier Wochen wird der Proband beim DISHES 98-Interview in standardisierter Form durch die täglichen Mahlzeiten geführt, wobei die jeweils konsumierten Lebensmittel sowie Verzehrshäufigkeit und -menge erfasst werden [70, 71]. Durch die Verknüpfung mit dem Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) ist auch die Auswahl von seltener verzehrten Lebensmitteln möglich, die Anzahl der abgefragten Lebensmittel muss also nicht standardisiert werden, wodurch sich grundsätzlich die Möglichkeit der kulturspezifischen Modifikation ergibt. Dazu wären ebenfalls die sprachliche Anpassung des Programms sowie die Erweiterung des BLS um kulturspezifische Lebensmittel Voraussetzung, um die Auswahl kulturtypischer, jedoch nicht im BLS enthaltener Lebensmittel durch den Probanden zu ermöglichen. Das im Rahmen großer epidemiologischer Studien am häufigsten eingesetzte Ernährungserhebungsinstrument, der Verzehrshäufigkeitsfragebogen (»Food Frequency Questionnaire«, FFQ), stellt bezüglich des Einsatzes bei kulturell unterschiedlichen Gruppen auf Grund seiner geschlossenen Lebensmittelliste die größte Herausforderung dar. Durch seine Eignung für langfristige Untersuchungen von Ernährungsgewohnheiten wird er insbesondere bei analytischen Fragestellungen eingesetzt. Deshalb handelt es sich bei der Entwicklung kulturspezifischer FFQ’s zwar um ein für erste deskriptive Bestandsaufnahmen nicht vorrangiges, jedoch langfristig erstrebenswertes Ziel. Mittels der Methode des FFQ werden Verzehrshäufigkeiten einer gegebenen Lebensmittelliste während eines bestimmten Zeitraumes (z.B. im vergangenen Jahr) abgefragt; die zusätzliche Berücksichtigung von Portionsgrößen ist möglich [72]. Voraussetzung für den Einsatz bei kulturell unterschiedlichen
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B · Prävention und Lebenswelten
Gruppen ist daher, dass kulturspezifische Lebensmittel identifiziert werden, aber auch kulturelle Definitionen von Lebensmittelgruppen und Portionsgrößen Eingang in die Entwicklung des Fragebogens finden. Als nicht ausreichend wird es angesehen, Probanden lediglich die Möglichkeit zu geben, an bestimmten Stellen des FFQ so genannte »weitere« Lebensmittel einzutragen [64]. Ein für Deutsche entwickelter FFQ kann und sollte daher nicht einfach auf Personen mit Migrationshintergrund übertragen werden. Vielmehr gilt es, die Entwicklung und Validierung eigener, kulturspezifischer Fragebögen voranzutreiben, um verlässliche Daten zu erhalten. Neben der Bestimmung kulturspezifischer Lebensmittel, Zubereitungsarten, Lebensmittelgruppen und Portionsgrößen (z.B. über wiederholte Befragungen mittels 24-h Recalls) gilt selbstverständlich auch hier, dass die Anpassung von Nährstoffdatenbanken sowie der sprachliche Zugang zur Zielgruppe gegeben sein müssen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch die vielfältigen Einflüsse von kulturellen Geflogenheiten auf die Ernährung auch die Instrumente zu ihrer Erfassung kulturspezifisch sein müssen. Dadurch ist es möglich, die Compliance und Effizienz einer Erhebung zu steigern und zu adäquateren Daten zu gelangen. Die obige Darstellung zeigt jedoch, dass es von der Wahl des Erhebungsinstrumentes – welche sich wiederum aus den zu Grunde liegenden Fragestellungen einer Untersuchung ergibt – abhängt, mit welchem Aufwand kulturell kompetentes Vorgehen ermöglicht werden kann. Für einen ersten, deskriptiven Zugang zu in Deutschland lebenden Migranten bietet sich mit dem 24-h Recall der Einsatz eines rasch anpassbaren Instrumentes an, um den derzeitigen Datenmangel zügig zu beheben. Dabei kann es äußerst hilfreich sein, auf Erfahrungen anderer Einrichtungen im Umgang mit kulturell unterschiedlichen Zielgruppen zurückzugreifen. Als Beispiel sei die Expertise des Zentrums für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen im Bereich von Projekten zur Migrations- und Integrationsforschung in Deutschland genannt. Das langfristige Ziel sollte sein, validierte kulturspezifische Instrumente zu entwickeln, die auch für analytische Fragestellungen gut geeignet sind. Auf Grund der zunehmenden Häufigkeit ernährungsassoziierter Gesundheitsstörungen wie dem Übergewicht bei Personen mit Migrationshintergrund sind diese Investitionen in die Erhebungsmethodik dringend notwendig.
207 Übergewicht bei Migrantenkindern
Möglichkeiten und Grenzen einer migrantensensiblen Datenanalyse von Übergewicht in KiGGS 5 Eine migrantensensible Datenanalyse setzt voraus, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in ausreichendem Maße an einer Studie beteiligt werden und dass ihre Identifikation im Datensatz möglich ist. Nationale und internationale Erfahrungen zeigen, dass eine adäquate Einbindung von Migranten in bevölkerungsweite Gesundheitssurveys kein leichtes Unterfangen ist [73–76]. Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), mit dessen Durchführung das Robert Koch-Institut vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung beauftragt wurde, unternimmt besondere Anstrengungen, um Migrantenkinder entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung zu beteiligen [77]. In insgesamt 167 repräsentativ für Deutschland ausgewählten Orten werden bis April 2006 etwa 17- bis 18.000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 0 und 18 Jahren untersucht [78]. Die Kinder und Jugendlichen werden in jedem Ort nach einem statistischen Zufallsverfahren aus dem jeweiligen Einwohnermelderegister gezogen und in ein Studienzentrum eingeladen. Im Rahmen dieser Stichprobenziehung wird eine überproportionale Stichprobe von Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit realisiert, um die unter Migranten höhere Quote stichprobenneutraler Ausfälle (z.B. falsche bzw. nicht mehr aktuelle Adresse, Zielperson zu alt) zu kompensieren. Zusammen mit den deutschen Einladungsschreiben werden übersetzte Anschreiben versandt, um auch Probanden mit weniger guten Deutschkenntnissen zu erreichen. Flankiert werden die Anstrengungen, die Response unter Migranten zu erhöhen, durch eine migrantenspezifische Öffentlichkeitsarbeit. Im Studienzentrum, wo eine schriftliche Befragung, eine medizinische Untersuchung sowie ein ärztliches Interview durchgeführt werden, werden in sechs verschiedene Sprachen übersetzte Fragebögen angeboten. Zur einheitlichen Messung von Körpergewicht und -größe werden die Probanden gebeten, ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche abzulegen. Dabei sind vor allem bei Mädchen kulturell verschieden geprägte Schamgrenzen zu beobachten, insbesondere muslimische Probandinnen unterliegen der Norm des tabuisierten Intimbereichs. Dem tabuisierten Körperkontakt zwischen fremden Männern und Frauen wird dahingehend Rechnung getragen, dass in jedem 5
Bearbeiterin: L. Schenk, Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung.
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Team die Untersucherin eine Frau ist. Zur Entwicklung ihrer interkulturellen Kompetenzen im Umgang mit Migranten wurden die Teammitglieder im Vorfeld der Studie geschult. Neben zahlreichen anderen Aspekten der Gesundheit steht das Übergewicht im Zentrum des Forschungsinteresses von KiGGS [79]. Übergewicht wird durch eine Vielzahl von sozialen, psychologischen, biologischen und auch kulturellen Faktoren beeinflusst. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, werden in KiGGS nicht nur Körpermesswerte ermittelt, die für eine differenzierte Bestimmung von Übergewicht erforderlich sind (Körpergröße und Gewicht, Taillen- und Hüftumfang sowie Hautfaltendicke). Es werden auch potenzielle Einflussfaktoren wie Gewichtzunahme der Mutter während der Schwangerschaft, Stilldauer, Geburtsgewicht des Kindes, Körperbild, Ernährungsgewohnheiten, Bewegungs- und Freizeitverhalten des Kindes sowie Angaben zur Schichtzugehörigkeit und zum Migrationshintergrund erfasst. Die umfassenden Informationen zum Migrationshintergrund ermöglichen, Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, aber auch eingebürgerte und Kinder mit doppelter Staatsangehörigkeit sowie (Spät-)Aussiedler zu identifizieren. Es kann außerdem nach Herkunftsland, Aufenthaltsdauer, Einreisealter, erster und zweiter Einwanderergeneration sowie verfestigtem/unsicherem Aufenthaltsstatus differenziert werden. Damit sind in KiGGS prinzipiell die Voraussetzungen für eine migrantensensible Datenanalyse gegeben. Wie aussagekräftig die Daten letztlich sein werden, wird u. a. von Repräsentativität und Größe der Substichprobe der Migranten, von der jeweiligen Effektgröße, Item-Response und der interkulturellen Äquivalenz der Erhebungsinstrumente abhängig sein. Was heißt das im Einzelnen? Insbesondere Prävalenzschätzungen für die Gesamtpopulation erfordern die Repräsentativität einer Stichprobe. Zur Bestimmung von Differenzen zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern und zur Berechnung möglicher Verzerrungen wird in KiGGS ein – ebenfalls in verschiedene Sprachen übersetzter – Kurz-Fragebogen eingesetzt, der soziodemographische und gesundheitsbezogene Basisinformationen auch von Nicht-Teilnehmern festhält. Diese umfassen u. a. die Staatsangehörigkeit, Schulbildung und berufliche Situation von Vater und Mutter, die Einschätzung des Gesundheitszustandes des Kindes sowie Angaben zu Körpergröße und -gewicht des Kindes. Während der laufenden Datenerhebung wird die Repräsentativität zeitnah überprüft, um ggf. gezielt auf die Teilnahmebereitschaft bestimmter Personengruppen einwirken zu können. Nach 2 Untersuchungsjahren zeichnen sich in der Migrantenpopulation die
209 Übergewicht bei Migrantenkindern
folgenden Differenzen zwischen Teilnehmern (TN) und Nichtteilnehmern (NTN) ab: Der Anteil an Personen mit einer niedrigeren Schulbildung ist unter den Nichtteilnehmern höher als unter den Teilnehmern. (TN: 41,9% vs. NTN: 54,5%). Ebenso der von Personen, die den Gesundheitszustand ihrer Kinder mit »sehr gut« einschätzen (TN: 37,8% vs. NTN: 45,5%). Diese beiden Effekte sind auch für die deutsche Bevölkerung bekannt. Weiterhin differiert die Teilnahmebereitschaft je nach Staatsangehörigkeit. Leicht unterrepräsentiert sind Personen aus den ehemaligen Gastarbeiterländern wie Jugoslawien, Italien und der Türkei, überrepräsentiert sind Teilnehmer aus Russland, Polen und Afghanistan. Ansonsten lassen sich bislang keine Verzerrungen feststellen, auch hinsichtlich des Body-Mass-Index nicht. Dennoch müssen Prävalenzschätzungen mögliche Zusammenhänge zwischen den verzerrten Merkmalen und dem Übergewicht berücksichtigen. Ein Maß, das die Aussagekraft von statistischen Analysen beschreibt, ist die Power. Die Power der zu erwartenden Migrantenstichprobe lässt in jedem Falle Vergleiche zwischen Migranten und Nicht-Migranten zu. Das Risiko übergewichtig zu sein, ist jedoch auch innerhalb der Migrantenpopulation ungleich verteilt. Inwieweit Analysen in differenzierten Untergruppen (z. B. hinsichtlich Geschlecht, Altersgruppen, Herkunftsländer, Aufenthaltsdauer, soziale Lage) möglich sein werden, ist vor allem von der Größe des Unterschieds zwischen den verschiedenen Gruppen (Effektgröße) und vom Umfang der Teilstichproben abhängig. Das folgende Beispiel, das übergewichtige sowie adipöse Kinder und Jugendliche betrachtet, illustriert die durch die Power gesetzten Limitationen. Die Schätzungen gehen dabei von Prävalenzen aus, so wie sie sich nach den ersten 27 von insgesamt 50 Runden des laufenden Surveys darstellten. Es können sich also Modifikationen in den jeweiligen Ausprägungen nach Einbeziehung aller Erhebungspoints und vor allem im Zuge der Gewichtung ergeben. Der Anteil an Migrantenkindern (Kinder, die entweder selbst oder deren Eltern zugewandert sind) beträgt in der derzeitigen KiGGS-Stichprobe 14%. Bei einer konservativ geschätzten Stichprobengröße von 17.000 Kindern und Jugendlichen kann dann eine Substichprobe von 2380 Migrantenkindern zugrunde gelegt werden. Die folgenden Powerbetrachtungen werden, stratifiziert nach Geschlecht, für den Vergleich Nicht-Migranten (n1=7310) vs. Migranten (n2=1190) sowie Nicht-Migranten (n1=7310) vs. die Untergruppen der türkischstämmigen (n2=425) und russlanddeutschen Kinder und Jugendliche (n2=221) vorgenommen. Es wird vereinfachend davon ausgegangen, dass der
210
B · Prävention und Lebenswelten
. Tabelle 1. Powerberechnung für die erwartete Stichprobe (Übergewicht/ Adipositas, getrennt nach Geschlecht) Vergleich
Variable
n1
n2
p1
p2
Power
Deutsche vs. Migranten
Adi90
7310
1190
16.4
19.8
80.0640
Deutsche vs. Türken
Adi90
7310
425
16.4
22.5
85.9066
Deutsche vs. Russlanddeutsche
Adi90
7310
221
16.4
14.7
9.6657
Deutsche vs. Migranten
Adi97
7310
1190
7.1
9.1
64.4532
Deutsche vs. Türken
Adi97
7310
425
7.1
11.8
87.5798
Deutsche vs. Russlanddeutsche
Adi97
7310
221
7.1
6.6
4.4813
Anteil an Mädchen bzw. Jungen jeweils 50% beträgt. Die Prävalenzangaben zum Übergewicht basieren auf dem von Krohmeyer-Hauschild (2001) erarbeiteten Referenzsystem. Bei einem Alpha-Fehler von 5% wird eine Power von mindestens 80% als ausreichend angesehen, um Differenzen zwischen Subpopulationen abbilden zu können. . Tabelle 1 verdeutlicht, dass bei einer erwarteten Prävalenz von 16,4 % übergewichtigen deutschen Kindern (p1) und 19,8% übergewichtigen Migrantenkindern (p2) die Substichprobe der (weiblichen oder männlichen) Migranten groß genug wäre, um eine Power von mindestens 80% für einen Vergleich der Prävalenzen von Übergewicht (Adi90) zu erreichen. Das gleiche trifft auf einen Vergleich von Nicht-Migranten mit türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen zu. Zwischen türkischstämmigen Jugendlichen und Nicht-Migranten können auch auf Adipositas (Adi97) bezogene Prävalenzunterschiede erklärt werden. Die Power ist dagegen zu gering, um Aussagen über Unterschiede in der Prävalenz von Übergewicht oder Adipositas zwischen Russlanddeutschen und Nicht-Migranten zu treffen. Bei den ohnehin kleineren Fallzahlen einer Substichprobe ist eine hohe Ausfüllgüte um so wichtiger. Viele relevante Informationen, die für die Erklärung von Übergewicht von Bedeutung sind, liefert der Fragebogen. Die Ergebnisse der Pilotphase von KiGGS haben gezeigt, dass die Missingrate in einigen
211 Übergewicht bei Migrantenkindern
Fragebogenbereichen unter Migranten deutlich über der von Nicht-Migranten lag [80]. Diese Bereiche betrafen u. a. Essstörungen, den Konsum von Speisen und Getränken sowie Selbstauskünfte zum Gewicht der Eltern. Die Gründe für diese niedrigere Item-Response waren vielfältig. Sprachbezogene Schwierigkeiten bestanden – selbst bei guten Deutschkenntnissen – vor allem bei Wörtern und Redewendungen, die der Umgangssprache entlehnt waren, sowie bei fachsprachlichen Begriffen (z. B. »vegetarisch«, »probiotisch«). Darüber hinaus resultierten Verständnisprobleme aus dem Umstand, dass sich die hiesige Angebotspalette an Lebensmitteln von anderen Ländern unterscheidet und sich der Kenntnis aufgrund divergierender Ernährungsgewohnheiten entzieht. Dies ist vor allem für Probanden relevant, deren Einreise noch nicht lange zurückliegt. Zur Erfassung der Ernährungsgewohnheiten wurden die Probanden u. a. gebeten die Angabe zu machen, wie häufig ihre Kinder welche Nahrungsmittel verzehrten. Lebensmittel, die den Probanden nicht vertraut waren, sind bspw. Kuhmilchersatz, verschiedene Brotsorten, Schoko-Pops und Smacks, Frischkornbrei, Fertiggerichte, Light- und probiotische Produkte sowie Milch mit unterschiedlichem Fettgehalt. Eine kulturelle Anpassung ist damit auch für Ernährungserhebungsinstrumente erforderlich, die in Gesundheitssurveys eingesetzt werden können. Zu beobachten war weiterhin ein kulturspezifischer Umgang mit Daten, wie z.B. Körpermesswerten. Während die Kinder und Jugendlichen vermessen werden, beruhen die Werte der Eltern auf Selbstangaben. Diesen äußeren Merkmalen der Identität wird nicht überall die gleiche Bedeutung beigemessen. So lachte ein Mann aus Mosambik über die Frage nach den Größenangaben der Eltern: »Woher soll ich wissen, wie groß ich bin? Mann, und woher soll ich wissen, wie groß meine Frau ist!« KiGGS demonstriert abschließend noch einmal, wie vielschichtig die methodisch-epidemiologischen Stolpersteine in der Praxis sind und welche Anstrengungen unternommen werden müssen, um valide Daten zum Übergewicht von Migranten produzieren zu können. Die Aktivitäten erstrecken sich auf die Beteiligung von Migranten, die Erfassung des Migrationshintergrundes, eine kulturspezifische Schulung der Interviewer, Repräsentativitäts- und Powerbetrachtungen sowie Konsistenzanalysen. Welche Erkenntnisse zum Zusammenhang von Migration und Übergewicht gewonnen werden können, entscheiden letztlich die gewonnenen Daten. Diese werden wiederum neue Aufschlüsse über Möglichkeiten und Grenzen einer migrantensensiblen Analyse geben.
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B · Prävention und Lebenswelten
Ausblick Die Beiträge präsentieren lediglich einen Ausschnitt der zu diskutierenden epidemiologisch-methodischen Probleme, die sich mit der Untersuchung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stellen. Allein dieser Ausschnitt verdeutlicht die Vielfalt der Fragen, die u. a. die Definition der Ziel- und Vergleichsgruppe, Messmethoden von Übergewicht und die Wahl einer angemessenen Referenzkurve, die interkulturelle Äquivalenz von Ernährungserhebungsinstrumenten sowie Besonderheiten bei der praktischen Durchführung einer Studie und bei der Datenanalyse betreffen. Bis zu einer (einheitlichen) Beantwortung der Fragen werden noch weitere Forschung und ein konstruktiver wissenschaftlicher Diskurs erforderlich sein.
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B · Prävention und Lebenswelten
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219 Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst
Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst Bertram Szagun*, Klaus Walter
Abstract Die Vermeidung von Erkrankungen und Förderung der Gesundheit sind die traditionellen Arbeitsaufträge an den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Seine konkreten Schwerpunktaufgaben haben sich jedoch den jeweils vorherrschenden Problemstellungen angepasst. Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsberichterstattung stehen heute in vielen Bundesländern gleichwertig neben Hygiene, Seuchenbekämpfung, amtsärztlichen Gutachten und den jugendärztlichen Aufgaben wie Schuluntersuchung und Zahngesundheit. Viele Aufgaben des ÖGD in der Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsberichterstattung konnten – im Gegensatz zu bisher schon bundesweit geregelten Aufgaben wie etwa der AIDS-Prävention – durch die zuständigkeitsbedingte regionale Diversifizierung zwar keine Standards hervorbringen, jedoch vielfach aufzeigen, wo die originären Stärken des ÖGD in diesen Feldern liegen. Speziell die Kompetenz des ÖGD zur Identifikation und Erreichung gesundheitlich und sozial benachteiligter Menschen und Lebenswelten kann die bisherige Mittelschichtsorientierung der Prävention und Gesundheitsförderung verringern helfen, seine Moderationsfunktion zur Bündelung lokaler Ressourcen beitragen. Eine Neuregelung der Gesetzgebung zur Prävention birgt die große Chance, durch qualitative Standards für förderungswürdige präventive Maßnahmen die Stärken des ÖGD zu fördern – sowie einzufordern. Die zukünftig stärkere Nutzung seiner multiprofessionellen Teams und der Verankerung des ÖGD in Kreisen und Städten wird maßgeblich dafür sein, ob es gelingen wird, Gesundheitsförderung und Prävention in Zukunft das notwendige höhere Gewicht zu verleihen.
* e-mail:
[email protected]
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B · Prävention und Lebenswelten
Schlüsselworte: Öffentlicher Gesundheitsdienst, Prävention, Gesundheitsförderung, Gesundheitsberichterstattung, Präventionsgesetz
Einleitung Prävention ist seit jeher die zentrale Aufgabenstellung des öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Die Verhütung von Erkrankungen ist praktisch der historische Gründungszweck des ÖGD gewesen, als die gesundheitlichen Probleme der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Verstädterung eine kritische Relevanz erlangten, die rein individualmedizinisch nicht zu bewältigen schien (1). Gesundheitsförderung und Prävention sind daher Schwerpunktaufgaben des ÖGD und in fast allen seinen Aufgabenfeldern hat der ÖGD einen präventiven Auftrag. Genannt seien hier nur der kinder- und jugendärztliche Gesundheitsdienst, die AIDS- und Tuberkuloseberatung oder das breite Feld des infektionsund umweltbezogenen Gesundheitsschutzes. Innerhalb der letzten 50 Jahre hat sich der Kenntnisstand im Feld der Krankheitsvermeidung jedoch deutlich weiterentwickelt. Das sehr risiko- und vulnerabilitätsbezogene gesundheitspsychologische »health belief model« dominierte präventive Maßnahmen seit den 50er-Jahren, zeigte jedoch nicht die erhoffte Wirksamkeit und Nachhaltigkeit. Es entwickelten sich Gegenmodelle, die menschliche Ressourcen in den Mittelpunkt präventiver Arbeit stellten und damit den Paradigmenwechsel zur Gesundheitsförderung einleiteten. Genannt sei hier speziell das Konzept der »self efficacy« von Bandura und in ganz besonderer Weise Antonovskys Salutogenese-Konzept mit dem im Mittelpunkt gesundheitsförderlicher Arbeit stehenden »sense of coherence« (2, 3). Diese gänzlich neuen Denk- und Arbeitsansätze erweiterten – auch durch ihre Aufnahme in die Programmatik der WHO – das Verständnis von Gesundheit und Krankheit ganz erheblich. Sie etablierten sich bedauerlicherweise aber in einer auch heute noch währenden interdisziplinären und wissenschaftlichen Konkurrenz teils eher neben – anstatt ergänzend innerhalb von – bestehenden Arbeitsstrukturen. Dies gilt auch und vielleicht sogar in besonderem Maße für den öffentlichen Gesundheitsdienst, dessen Interdisziplinarität eine seiner potenziellen Stärken darstellt und die zwanglose Integration präventiver und gesundheitsförderlicher Arbeitsansätze ermöglichen könnte. Auf wissenschaftlicher Ebene vollzieht sich letztere Integration etwa im sozial-kognitiven Prozessmodell von Schwarzer, welches Ressourcen wie der Selbstwirksamkeitserwartung
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und der Risikowahrnehmung synergistische Funktionen zuweist und eine Versöhnung der »verfeindeten Schwestern« Prävention und Gesundheitsförderung geradezu zwingend macht (4). Auf praktischer Ebene scheitert dies häufig an der unterschiedlichen beruflichen und wissenschaftlichen Biografie eher medizinisch und eher sozialwissenschaftlich orientierter Disziplinen, dies nicht nur, aber auch im traditionell medizinisch dominierten ÖGD. Bei der Bewältigung der durch Infektionskrankheiten hervorgerufenen Probleme hat der ÖGD einen wichtigen Beitrag geleistet und seine diesbezügliche Kompetenz stellt er bei heutigen Gefahrensituationen, wie zuletzt durch das Schwere Akute Atemnotsyndrom (SARS) entstanden, regelmäßig unter Beweis. Diese klassischen Präventionsaufgaben des ÖGD liegen allerdings großteils im Bereich des Gesundheitsschutzes, fokussieren auf bekannte Gesundheitsrisiken, sie liegen insofern im Feld traditioneller öffentlicher Gesundheit oder »Old Public Health«. Und sie sind – anders als viele heute im Mittelpunkt stehende präventive Aufgaben – bundesgesetzlich geregelt und somit vereinheitlicht bzw. standardisiert. Prävention von chronischen Erkrankungen und die Arbeit nach gesundheitsförderlichen Ansätzen erfordern weitergehende Methoden und Kompetenzen. So stellt etwa eine ressourcenorientierte Gesundheitsförderung nach dem Setting-Ansatz ein für den ÖGD relativ neues Arbeitsfeld dar und bildet eine Schnittstelle zu den Feldern internationaler Public-Health-Aktivitäten. Prävention und Gesundheitsförderung sind insofern einerseits traditionelle Aufgabengebiete des ÖGD, andererseits aber auch die Kristallisationspunkte für Konflikte zwischen Tradition und Moderne im ÖGD. Klassisches ärztlich-individualmedizinisch geprägtes Denken in einem nach der Diskreditierung bevölkerungsmedizinischer Perspektiven im dritten Reich stark gutachterlich orientierten ÖGD trifft hier auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Konzepte unter Verwendung sozialepidemiologischer und -wissenschaftlicher Methoden. Innerhalb des ÖGD gilt Prävention und Gesundheitsförderung in diesem weiteren Verständnis teils noch als so genannte »weiche« Aufgabe gegenüber bundesgesetzlich geregelten oder im originären Interesse von Stadt oder Kreis liegenden Aufgabenbereichen wie dem Gutachtenwesen oder Infektionsschutz. In Zeiten chronischer Mittelknappheit ist dieser Status fatal und verhindert den Aufbau flächendeckender Strukturen bzw. gefährdet existierende. Daher bestehen große Hoffnungen im Hinblick auf das Präventionsgesetz, damit die ohne Zweifel bestehenden Stärken des ÖGD in diesem Arbeitsfeld genutzt werden können (5). Im Rahmen der lokalen Umsetzung eines Präventionsgesetzes
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B · Prävention und Lebenswelten
könnten durch qualitative Standards, an die eine Projektförderung gebunden wird, bisherige Problemfelder beseitigt und Modelle guter Praxis verbreitet werden.
Längeres Leben durch gute öffentliche Gesundheit Nach Aussagen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC hat die Lebenserwartung zwischen 1900 und 1999 um 30 bis 35 Jahre zugenommen. Nur ein kleiner Teil davon wird der klinischen Medizin zugeschrieben, der weitaus größere Teil dieser gewonnen Lebensjahre wird auf eine verbesserte soziale Lage, Erfolge bei der Trinkwasserversorgung, der Gesundheitserziehung, der Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe und anderen Fortschritten auf dem Gebiet der Hygiene und der öffentlichen Gesundheit zurückgeführt (6, 7). Auch in Deutschland ist der ÖGD heute noch in wechselnder Intensität auf den genannten Gebieten tätig. Um die gute Infrastruktur in Deutschland zu erhalten, sind ständige Bemühungen notwendig. Diese wichtigen, aber wenig spektakulären Aufgaben muss der ÖGD weiter auf hohem Standard betreiben. Gutes und sauberes Trinkwasser, hygienische Lebensverhältnisse in allen Bereichen unseres Lebens und präventive Maßnahmen wie Impfungen sind die Eckpunkte der Tätigkeit der Gesundheitsämter in Deutschland. Das Wiederauftreten der Pocken oder eine Influenza-Pandemie könnten die Massenimpfungen vergangener Tage wieder aufleben lassen. Die tägliche Arbeit der Gesundheitsämter enthält viele präventive Elemente. Im folgenden werden die wichtigsten Beispiele aus der Arbeit der Gesundheitsämter in ihrer präventiven Bedeutung vorgestellt.
AIDS-Prävention Ein Beispiel für den zielgerichteten und erfolgreichen Einsatz von Prävention und Gesundheitsförderung ist die AIDS-Prävention, die in den achtziger Jahren entscheidend im öffentlichen Gesundheitsdienst an den Gesundheitsämtern in Deutschland umgesetzt wurde. Das Beispiel zeigt, dass mit bundesweit einheitlicher Vorgehensweise und gezieltem Einsatz von Ressourcen eine gute Wirkung erzielt werden kann (8). Jedes Gesundheitsamt in Deutschland erhielt eine zusätzliche Arzt- oder Sozialpädagogenstelle, deren einzige Aufgabe die AIDS-
223 Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst
Prävention war. Zusätzlich unterstützt wurde dies durch Schulung und Fortbildung der Präventionskräfte. Wie hatte sich diese Situation damals entwickelt? Eine neue Krankheit war erst wenige Jahre bekannt, der Erreger schon bald als Virus identifiziert und die Übertragungswege der neuen Viruskrankheit wurden rasch deutlich. Eine ursächliche Behandlung war nicht möglich. Ebenso war kein Impfstoff in Sicht, ein Zustand, der sich im Übrigen bis heute nicht geändert hat. Es bestand eine große Angst vor Ansteckung, Infizierte wurden wie Aussätzige behandelt. Einzige Möglichkeit der Intervention war die Prävention durch Information und Aufklärung. Um diese Aufklärung gezielt und konsequent umsetzen zu können, wurde den Gesundheitsämtern Personal zur Verfügung gestellt. Hauptaufgabe war die Kommunikation der Übertragungsrisiken in geeigneter Form wie bei Vorträgen und Workshops. Ungewöhnliche Situationen erforderten ungewöhnliche Maßnahmen, so wurde zur praktischen Erläuterung der richtigen Anwendung eines Kondoms eine sog »Condomerie« mit Penis-Attrappen verwendet. Wenn auch schon die Sexwelle über Deutschland hinweg gerollt war, war ein gänzlich unbefangener Umgang mit all den jetzt zu behandelnden Fragen eine gewisse Herausforderung. Die Bemühungen der zusätzlichen Fachkräfte vor Ort in Schulen, Vereinen, bei der Polizei oder Feuerwehr wurde durch eine bundesweite Werbekampagne zur Vermeidung von AIDS und zum Umgang mit Infizierten begleitet. Diese Werbekampagne tat das ihrige, um die Situation zu verbessern und zu normalisieren. Ein besonders nettes Beispiel war ein Werbespot, bei dem ein schüchterner Jüngling im Supermarkt Kondome kaufen will. Er steht an der Kasse und weiß den Preis nicht, aber sämtliche Umstehenden – bieder aussehend und meist im fortgeschrittenen Alter – können mit Ratschlägen aushelfen und tun dies auch lautstark quer durch den ganzen Supermarkt. Kondome wurden salonfähig. Zur heutigen Situation in Deutschland ist leider zu sagen, dass für viele das Thema AIDS als gelöst angesehen wird. Es hat sich eine gewisse Sättigung eingestellt und das Thema ist für Medien nicht mehr interessant. Neue Sensationen haben AIDS verdrängt. Es zeigt sich allerdings, dass durch die nachlassende Präsenz in den Medien und auch durch nachlassende Bemühungen der Wissensstand bei der wichtigsten Zielgruppe, den Jugendlichen vor der Aufnahme von sexuellen Aktivitäten, bei weitem nicht so ist, wie es wünschenswert oder notwendig wäre. Das Thema AIDS muss mit verstärkter Intensität weiter in der Prävention behandelt werden, weil immer neue Jahrgänge von Jugendlichen heranwachsen, die mit dem Thema konfrontiert werden müssen.
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B · Prävention und Lebenswelten
Die Wirksamkeit der AIDS-Prävention ist bewiesen, es gibt deutliche Unterschiede bei den Inzidenzen in Ländern, in denen eine konsequente Aufklärung zum Thema AIDS und Verhütung, durchgeführt wurde und den Ländern, die sich dem Thema nicht gewidmet haben. In diesen Ländern sind die Zahlen an neu Infizierten um ein vielfaches höher als bei uns.
Zahnprophylaxe als Erfolgsmodell Prävention muss evaluiert werden. Hierin besteht eine bekannte Schwierigkeit, denn kurzfristige Erfolge sind bei vielen präventiven Ansätzen nicht unmittelbar zu erwarten und auch dann oft nicht konkret messbar. Eine erfreuliche Ausnahme bildet die Zahngesundheit und die Zahnprophylaxe. Kranke, kariöse, gefüllte oder gar fehlende Zähne sind im Milchgebiss wie auch im bleibenden Gebiss leicht festzustellen. Ebenso sind den Krankenkassen die Kosten bekannt, die für Zahnbehandlung aufgewendet werden müssen. Zahnbehandlung ist eine wesentlicher Kostenfaktor im Gesamthaushalt der Aufwendungen für unsere Gesundheit. Erfolgreiche und sinnvolle Prävention setzt mehrere Faktoren voraus. Erstens eine Krankheit oder ein Zustand, der Leiden und Kosten verursacht. Zweitens muss eine Intervention möglich sein, die geeignet ist, eintretende Schäden oder die Krankheit sicher – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit – zu vermeiden. Bei der Zahngesundheit ist beides der Fall. Zahnpflege und zahngesunde Ernährung sind die Eckpfeiler einer guten Zahnprophylaxe. Dafür muss in Kindergärten und Schulen vor Ort geworben werden, dazu muss erzogen werden. Zur Umsetzung wurden auf Stadt- und Kreisebene Arbeitsgemeinschaften Zahngesundheit gegründet, in denen der ÖGD und die gesetzlichen Krankenkassen zusammen arbeiten (Umsetzung des §21 SGB V). Die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren diese Arbeitsgemeinschaften Zahngesundheit, deren Aufgabe die Förderung der Zahngesundheit in Schulen und Kindergärten ist. Üblicherweise werden dazu Pädagoginnen oder Zahnarzthelferinnen eingestellt. Der ÖGD bringt in diese Arbeitsgemeinschaft das zahnärztliche Personal ein. Bei den zahnärztlichen Untersuchungen werden die Schulen oder Brennpunkte mit besonders schlechten Zähnen deutlich. Hier müssen die Bemühungen intensiviert werden. Somit wird eine flächendeckende, regelmäßige und zielgerichtete Präventionsarbeit möglich.
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Die Erfolge, die durch dieses Modell erzielt wurden, sind beachtlich. In den Regionen, in denen solche Arbeitsgemeinschaften existieren, sank die Häufigkeit von kariösen und unbehandelten Zähnen bei Kindern und Jugendlichen deutlich, im Gegenzug verbesserte sich der Gebisszustand insgesamt und auch die Anzahl der naturgesunden Gebisse ist gestiegen. Partnerschaften wie im Bereich der Zahngesundheit können geeignete Modelle der Finanzierung von notwendigen Aufgaben sein, die verstärkt auch in anderen Feldern zur Anwendung kommen und erprobt werden sollten. Bei der zahnärztlichen Gruppenprophylaxe wird dieses Modell in Deutschland seit Jahren erfolgreich praktiziert.
Infektionsschutz In der täglichen Arbeit der Gesundheitsämter steht die Verhütung und Prävention von Infektionskrankheiten an erster Stelle. Nach dem Infektionsschutzgesetz müssen eine Vielzahl von Infektionskrankheiten gemeldet werden. Rein mengenmäßig spielen Magen– Darmerkrankungen (Enteritiden) die größte Rolle, von der Bedeutung her sind andere Infektionskrankheiten wie z.B. die Hirnhautentzündungen (Meningitiden) allerdings höher einzustufen, weil sie wesentlich schwerer, komplikationsreicher und häufiger als Enteritiden tödlich verlaufen. Meningitiden können oft erfolgreich durch eine rasche Reaktion im Sinne einer Umgebungsprophylaxe eingedämmt werden und weitere Komplikationen und Folgeerkrankungen können verhindert werden. Das Ziel der Bemühungen des ÖGD ist nicht nur der Schutz des Einzelnen, sondern auch der Schutz der Bevölkerung als Ganzes. Infektionsketten sollen erkannt und unterbrochen werden.
Bei den Top Ten der Prävention der WHO – die Impfungen Die WHO rechnet die Vermeidung von Infektionskrankheiten durch Impfungen zu den Top Ten der Vorsorgemaßnahmen. In Deutschland sind wir auf einem allenfalls befriedigenden Stand, weitere Bemühungen um hohe und damit für die Gesamtbevölkerung sichere Durchimpfungsraten sind dringend notwendig. Nur hohe Durchimpfungsraten können vor größeren Krankheitsausbrüchen schützen. Die Masernausbrüche der letzten Monate müssen eine deut-
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liche Warnung sein, sie waren ohne Ausnahme auf ungenügende Impfraten in der Bevölkerung bzw. bei den betroffenen Kindern zurückzuführen. Der öffentliche Gesundheitsdienst impft heute nicht mehr im gleichen Umfang wie noch vor Jahren. Die Ursache liegt darin, dass die Impfungen aus Kostengründen überwiegend den niedergelassenen Ärzten überlassen werden, da es sich um eine Pflichtleistung der Krankenkassen handelt. Nun erreichen aber die niedergelassenen Ärzte nicht alle Kinder, so dass Impflücken unvermeidlich sind. Auch sind einige Prozent – es werden Zahlen zwischen 2 bis 7 Prozent genannt – der Bevölkerung Impfgegner. Der öffentliche Gesundheitsdienst sollte hier Überzeugungsarbeit leisten und versuchen, die bestehenden Lücken zu schließen. Dies muss nicht an den Finanzen scheitern. In den letzten Jahren wurden in mehreren Bundesländern Vereinbarungen mit den gesetzlichen Krankenkassen zur Übernahme von Impfstoffkosten getroffen, wenn der ÖGD die Impfungen vornimmt. Privat Versicherten wurden die Impfungen bzw. der Impfstoff privat in Rechnung gestellt. Es handelt sich um eine ausgesprochene win-win-Situation, denn die Krankenkassen bekommen eine Leistung zu einem sehr niedrigen Preis, die Durchimpfungsraten werden verbessert und die niedergelassenen Ärzte sind ebenfalls beteiligt. Vor der Impfaktion durch den ÖGD findet üblicherweise eine schriftliche Werbeaktion für die Impfungen statt und die Kinder oder Jugendlichen werden aufgefordert, sich beim Hausarzt oder ihrem Kinder- und Jugendarzt impfen zu lassen. Denen, die dieser Aufforderung nicht nachgekommen sind, wird die Impfung durch den ÖGD angeboten. Gesundheitsämter, die aus personellen Gründen keine eigenen Impfungen anbieten können, führen Werbeaktionen für vollständige Impfungen in Schulen und Kindergärten durch, z.B. in Verbindung mit einer Werbung für die Jugendschutzuntersuchung (J 1).
Prävention und Hygiene Der ÖGD wacht auch darüber, dass die Anforderungen der Hygiene eingehalten werden. Er soll Hygieneaufsicht ausüben über z.B.: Krankenhäuser, Altenund Pflegeheime, Kindergärten, Asylantenunterkünfte, Tatoo- und PiercingStudios oder Fußpflegepraxen. Waren früher z.B. zur Krankenhaushygiene große Begehungen üblich, bei denen das ganze Krankenhaus besichtigt wurde, steht heute die Zusammenarbeit mit Hygienefachkräften und Mitarbeit in den Hygienekommissionen der Einrichtungen auf der Tagesordnung. Durch die
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gemeinsame Erarbeitung und Durchsetzung von Standards wird eine gleich bleibende und dauerhafte Einhaltung der Hygiene erzielt. Dann werden auch Situationen vermieden, die der frühere Präsident des Landesgesundheitsamts Baden-Württemberg, Prof. Walter Steuer, gerne als Anekdote erzählte: eine Krankenhausbesichtigung musste kurzfristig abgesagt werden. Der Chefarzt rief erbost an und beschwerte sich heftig, denn »schließlich haben wir die ganze Nacht geputzt, und jetzt kommen Sie nicht!« Hygiene in Betrieben, die keinen professionellen Beauftragten haben, ist schwieriger zu etablieren. Aber gerade bei Piercing-Studios oder Tätowierern ist eine Infektionsgefahr gegeben, besonders dann, wenn die Tätigkeit, wie es gelegentlich zu beobachten ist, im Rahmen von Märkten oder Ausstellungen stattfindet. Deshalb wird zum einen in den Betrieben auf hygienische Verhältnisse hingewirkt, zum anderen die Klienten durch Merkblätter oder Informationen im Internet auf die Risiken und wie man sie vermeiden kann, aufmerksam gemacht.
Prävention und Katastrophenschutz Nach den Ereignissen des 11. September 2001 in New York wurden Prioritäten in den Aufgaben der Gesundheitsämter neu geordnet, der Katastrophenschutz wurde schlagartig wieder wichtig. In früheren Jahren war es eine Selbstverständlichkeit, dass Ärztinnen und Ärzte beim Eintritt in den ÖGD einen Lehrgang in Katastrophenmedizin absolvieren mussten. In den letzten Jahren war angesichts der politischen Entspannung eine Reduktion gegen Null erfolgt. Katastrophenschutz stand nicht mehr auf der Agenda. Als sich dies 2001 änderte, wurden in Fortbildungen zum Katastrophenschutz mögliche Bedrohungen durchgespielt, die weit über bisher angedachte Katastrophen-Szenarien hinausgingen. Man wollte auf möglichst viele und neue Varianten von Katastrophen vorbereitet sein. Ein weiteres Thema war die logistische Vorbereitung von Pockenimpfungen, da die weltweite Gefährdungslage durch Kriegshandlungen der letzten Zeit neu bewertet und eingeschätzt wurde. Alle diese Vorbereitungen waren eine exzellente Übung für den Ernstfall, der kurze Zeit später eintrat, als die Lungenkrankheit SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome – Schweres akutes Atemnotsyndrom) eine akute Bedrohung darstellte. Die Herausforderung durch die Lungenkrankheit SARS war in der Tat gewaltig. Noch nie in der Geschichte der Medizin war eine Krankheit so schnell
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identifiziert, noch nie konnten Gegenmaßnahmen so rasch und zielgerichtet eingeleitet werden. Wie war dies möglich? Es wurden national und international gezielt Informationen gesammelt, in Deutschland durch das Robert Koch-Institut ausgewertet und der Allgemeinheit bzw. der Fachöffentlichkeit per Internet aktuell zur Verfügung gestellt. Die Erkrankungszahlen, die nachgewiesenen Fälle, die betroffenen Länder, die aktuellen Empfehlungen und Informationen wurden im Stundentakt aktualisiert. So konnten die Gesundheitsämter kompetent Auskunft geben und alle Anfragen aus der Bevölkerung und vor allem von Firmen korrekt beantworten. Man staunt, wie viele Firmen Kontakte zu China pflegen, Mitarbeiter dorthin entsenden oder von dort empfangen. Und alle hatten sie viele Fragen, die rasch beantwortet werden wollten. Der ÖGD hat eine wichtige Rolle bei der Prävention dieser Infektionskrankheit gespielt und sich bei der Bewältigung der Krise um SARS als ein kompetenter und verlässlicher Partner erwiesen (9).
Sauberes Trinkwasser Sauberes Trinkwasser ist ein Luxus, den nicht viele Länder auf der Welt ihren Bürgerinnen und Bürgern bieten können. Erreicht wird dies in Deutschland durch eine gute und ständig kontrollierte Infrastruktur bei Gewinnung, Aufbereitung und Transport des Trinkwassers. Trinkwasser gilt in Deutschland als das am besten kontrollierte und überwachte Lebensmittel. Die Grenzwerte der Inhaltsstoffe sind streng und auf einen ständigen und lebenslangen Genuss dieses wichtigen Nahrungsmittels ausgelegt. Trinkwasser ist frei von Krankheitserregern, bei einer Abweichung von diesem Zustand wird sofort interveniert, um diesen nicht nur wünschenswerten, sondern notwendigen Zustand wieder herzustellen. Besonders öffentliche Trinkwasseranlagen sind auf einem qualitativ hohen Stand, sog. Einzelwasserversorgungen, also z.B. ein Brunnen für ein Gehöft, das (noch) nicht an das öffentliche Wassernetz angeschlossen ist, bilden gelegentliche Ausnahmen. Aber auch hier wird auf eine hohe Qualität geachtet und die gleichen Standards sind einzuhalten. Ziel ist es, eine Wasserversorgung mit stets einwandfreiem Trinkwasser flächendeckend für alle Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
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Prävention und Schuluntersuchung Der Wandel von einer Reihenuntersuchung zur individualisierten Untersuchung ist seit vielen Jahren vollzogen (10). Die Untersuchungen werden von einem Team aus Ärztin/Arzt und Krankenschwester flächendeckend für alle Kinder eines Jahrganges durchgeführt. Es ist somit die in Deutschland einzige vollständige Untersuchung einer gesamten Kohorte. Viele Ämter führen neben der Untersuchung der Schulanfänger weitere Untersuchungen in den vierten und/oder achten Klassen durch. Die Ergebnisse der Schuluntersuchung ergeben ein gutes Bild über den Gesundheitszustand unserer Kinder und ermöglichen gezielte Interventionen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen auch, dass bei vielen Kindern ein Förderbedarf bei den Fähigkeiten besteht, die zu einem erfolgreichen Schulbesuch notwendig sind. Neben Seh-, Hör- und Sprachproblemen bestehen sehr oft Defizite in der psychosozialen Entwicklung. Durch die Untersuchungen wird der Förderbedarf festgestellt und mit den Eltern bzw. den Erziehungsberechtigten besprochen. Dadurch werden Fördermaßnahmen eingeleitet, die die Entwicklung der Kinder verbessern sollen, und spätere – dann meist aufwändigere – Interventionen verhindern helfen. Bei der Untersuchung werden auch der Impfstatus der Kinder dokumentiert und individuelle Empfehlungen zur Vervollständigung des Impfschutzes gegeben.
Gesundheitsförderung Parallel zur aktiven Aufnahme und gemeinwesenbezogener Weiterentwicklung gesundheitspsychologischer und salutogenetischer Konzepte durch die WHO entwickelte sich auch im ÖGD das Arbeitsfeld Gesundheitsförderung. Es stellt insofern ein relativ neues Arbeitsfeld dar, dessen Etablierung sich häufig nicht innerhalb bestehender Strukturen, sondern in Form einer neuen, oftmals stabsstellenähnlich organisierten Arbeitseinheit vollzog. Dies war einerseits notwendig, um dem Ressourcenansatz im traditionell risikoorientierten ÖGD überhaupt eine Chance einzuräumen, führte jedoch andererseits zu einer bisher häufig isolierten Entwicklung der Gesundheitsförderung im ÖGD. Das bringt nicht unerhebliche Probleme mit sich, da sich ressourcen- und risikobezogene Experten und Expertinnen des ÖGD nicht selten in gewisser Konkurrenz gegenüber stehen, statt die sinnvolle – da meist effektivste – Integration ihrer
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. Abb. 1. Public-Health-Action-Cycle: Der Planungszyklus beschreibt das idealtypische Zusammenwirken von Gesundheitsberichterstattung und Prävention bzw. Gesundheitsförderung im Sinne eines kontinuierlichen Qualitätsmanagements. Assessment und Evaluation stellen zentrale Elemente jeder Public-Health-Maßnahme dar
Arbeitsansätze voranzutreiben. Teilweise erwächst aus der unzureichenden Integration auch eine Abgrenzung gegen – eigentlich verwandte, da ebenfalls stark auf WHO-Konzepten basierende – qualitätssichernde gesundheitswissenschaftliche Konzepte, etwa die Etablierung einer Gesundheitsberichterstattung im ÖGD (. Abbildung 1). Das theoretisch schwer wiegende Potenzial einer interdisziplinären Arbeitsstruktur wird dadurch noch deutlich zu wenig genutzt. Dies hängt leider nicht selten auch mit Abgrenzungsstrategien von Berufsgruppen zusammen. Ein Präventionsgesetz sollte hier Fortschritte bringen, indem es das Nebeneinander risiko- und ressourcenbezogener Arbeitsansätze etwa bei der Schaffung gesundheitsförderlicher Settings nicht nur anregt, sondern festschreibt. Ein weiteres Problem ist das bisherige Fehlen von Standards. Die Gesundheitsförderung hat zwar Eingang in einen Großteil der bestehenden ÖGD-Gesetze gefunden, jedoch in ganz unterschiedlichem Umfang, so dass die vorgehaltenen Strukturen und damit auch die Maßnahmenqualität extrem variieren. Zu guter
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Letzt kämpft die Gesundheitsförderung in Zeiten knapper Kassen als vergleichsweise junge – und eben nicht bundesgesetzlich geregelte – so genannte »weiche« Aufgabe nicht selten um ihre Existenz. Dennoch gibt es genügend Modelle guter gesundheitsförderlicher Praxis. Diese wachsen abhängig von lokalen Strukturen und Personen meist dort, wo es gelingt, die Kräfte des ÖGD zu bündeln. Auslösend ist oft die Orientierung an integrierenden WHO-Konzepten (etwa »Gesunde-Städte-Netzwerk«), die präventive Elemente bei lokalen Planungsvorhaben, partizipative gesundheitsförderliche Strukturen und quantitative Analysen der Gesundheitsberichterstattung parallel in ihren Kriterienkatalogen ausweisen und damit die oftmals zu gering ausgeprägte präventive »Corporate Identity« nicht nur der jeweiligen Region, sondern auch des dortigen ÖGD entscheidend befördern können (11, 12). Eine entscheidende Bedeutung kommt hierbei der Gesundheitsberichterstattung zu, die einerseits zu verbesserter Qualität, andererseits zu verbesserter Implementierung der Maßnahmen vor Ort führt (13).
Daten für präventive Taten – die Gesundheitsberichterstattung Gesundheitsberichterstattung (GBE) dient der Beschreibung der gesundheitlichen Lage einer Region und ermöglicht damit eine rationale gesundheits- und sozialpolitische Schwerpunktsetzung (14). Sie dient dabei einerseits der Verbesserung der gesundheitlichen Situation bzw. Versorgungssituation, andererseits auch einer optimierten Ressourcensteuerung. Für eine zukünftig verbesserte Qualität von Prävention und Gesundheitsförderung ist die GBE von zentraler Bedeutung. Die kommunale GBE stellt einerseits eine der neuesten Aufgaben des ÖGD dar, andererseits verdeutlicht sie in besonderer Weise das große Manko der hier betrachteten ÖGD-Aufgabenbereiche, nämlich die regional stark differierende Wahrnehmung auf Grund unterschiedlicher Ländergesetzgebungen. So ist die Gesundheitsberichterstattung in einigen Bundesländern seit vielen Jahren ÖGD-Aufgabe (15–17), während sie in anderen Ländern nicht zum Aufgabenkatalog des ÖGD gehört. Die ÖGD-Gesetze wiederum unterscheiden sich erheblich in ihrer Ausgestaltung, so dass auch in Ländern mit gesetzlich verankerter Gesundheitsberichterstattung deren Etablierung und Ausgestaltung höchst unterschiedlich ausfällt.
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Eine Bestandsaufnahme der regionalen Gesundheitsberichterstattung fällt aus vielerlei Gründen gemischt aus (18–20). Dennoch ist eine Vielzahl von kommunalen Gesundheitsberichten veröffentlicht worden, die wiederum diverse regionale gesundheitspolitische Aktivitäten angestoßen haben (21). Nicht selten hat die Gesundheitsberichterstattung zu einer neuen Profilbildung des ÖGD vor Ort beigetragen und ist damit prägend für Außenansicht wie Identität eines die lokale Gesundheitspolitik initiierenden ÖGD geworden (13). An Modellen guter Praxis extern wie intern qualitätsanstoßender sowie lokaler Gesundheitspolitik mit gestaltender Gesundheitsberichterstattung herrscht insofern kein Mangel. Die Ansiedlung der Gesundheitsberichterstattung am ÖGD ist aus verschiedenen Gründen konzeptionell stimmig und zukunftsträchtig (22). Der ÖGD hat einerseits vergleichsweise guten Zugang zu Informationen des Gesundheitswesens, er ist andererseits als eine neutrale lokale Größe institutionell gut geeignet für die objektivierende und moderierende Steuerungsfunktion, die der Aufgabe innewohnt. Keine andere Institution kann auf Kreis- oder Stadtebene diese Funktion einnehmen, da betriebswirtschaftliche Interessen einer gemeinwohlorientierten bzw. volkswirtschaftlichen Perspektive entgegenstehen. Wichtige Entwicklungslinien für die Gesundheitsberichterstattung ergeben sich einerseits aus neueren gesetzlichen Vorgaben, andererseits aber aus gesellschaftlichen Entwicklungen mit Einfluss auf die Regionalpolitik. Die sicher wichtigste aktuelle Gesetzgebung, die einerseits potenziell Einfluss auf die Gesundheitsberichterstattung nehmen, andererseits ihr Potenzial bestmöglich einbinden sollte, ist das geplante Präventionsgesetz (5). Als Bundesgesetz würde dieses Gesetz zwar keinen direkten Einfluss auf den durch Landesgesetze geregelten ÖGD nehmen. Indirekt würden jedoch eine große Zahl begrüßenswerter Qualitätskriterien für die zukünftige Prävention und Gesundheitsförderung entstehen, die über den sanften Druck der Fördermittel auch lokale Strukturen verändern könnten. So erhielte einerseits die Zielsetzung im Sinne der Planungsqualität, andererseits aber auch die Zielerreichung im Sinne der Ergebnisqualität deutlich mehr Gewicht als in der Vergangenheit. Nahe liegend wäre es, die heute schon im ÖGD entwickelten Instrumente der Gesundheitsberichterstattung für diese Zwecke einzusetzen. In Frage käme hier beispielsweise die kleinräumige Analyse der Einschulungsuntersuchungen, die mit aussagekräftigen, validierten Indikatoren zur gesundheitlichen und sozialen Lage ein ideales Werkzeug zur Identifikation vorrangiger Settings oder Re-
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gionen darstellt und im Rahmen ihrer Monitoring-Funktion gleichzeitig Teilbereiche der Ergebnisevaluation unterstützen könnte (23). Alle Instrumente dafür stehen zur Verfügung, ihre flächendeckende Einführung scheiterte jedoch bisher am Fehlen überregionaler Leitlinien. Wenn tatsächlich wichtige Zielgruppen etwa im Kindes- und Jugendalter – und speziell sozial und gesundheitlich Benachteiligte – erreicht werden sollen, muss ein Präventionsgesetz hier Änderungen herbeiführen.
Zukunft der Prävention im ÖGD Soll Prävention zukünftig höheres Gewicht bekommen, wird es notwendig sein, die Stärken des ÖGD einerseits zu fördern, sie andererseits aber auch einzufordern. Diese Stärken des ÖGD sind teils fachlicher, teils struktureller Natur. Fachliche Stärken bestehen durch die langjährige Kompetenz des ÖGD etwa im Bereich der Kinder- und Jugendgesundheit, die dem ÖGD einerseits einen guten Überblick über die regional vorherrschenden Probleme, andererseits traditionell gute Zugangswege etwa in Kindergärten und Schulen verschafft. In bestimmten Settings ist der ÖGD als Partner gemeinschaftlicher Projekte daher unerlässlich, wenn eine Bündelung der regionalen Kräfte erfolgen soll. Regional einzigartige Qualitäten des ÖGD liegen auch in seiner interessenneutralen und gemeinwohlorientierten Position bei gleichzeitiger Nähe zur Kommunalpolitik begründet. Oft ist es gerade die neutrale und moderierende Initiierungs- und Koordinationsfunktion des ÖGD, die schon heute gemeinschaftliche Aktionen im konfliktreichen Gesundheitsbereich möglich macht. Betrachtet man die potenziellen Funktionen des ÖGD unter dem zentralen Aspekt der Qualitätssteigerung zukünftiger Maßnahmen, ist eine Einbindung auf verschiedenen Ebenen sinnvoll (. Abbildung 2). Auf der Ebene der Planungsqualität liegen wahrscheinlich die größten Potenziale des ÖGD, da er anders als sonstige lokale Akteure von jeher über einen präventiven Auftrag, eine gemeinwohlorientierte Zielsetzung und gleichzeitig über notwendige informationelle Grundlagen verfügt. Diese gilt es in moderierender und koordinierender Form zu nutzen, speziell unter dem nach dem bisherigen §20 SGB V vernachlässigten Aspekt der gesundheitlichen Chancengleichheit. Sinnvoll – und ganz im Sinne ressourcenbetonter Ansätze und der WHO – wäre die Schaffung partizipativer Planungs- und Entscheidungsstrukturen
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. Abb. 2. Die potenzielle Rolle des ÖGD in der Prävention und Gesundheitsförderung, modifiziert nach (27) . Dargestellt wird, an welchen Stellen die Qualität zukünftiger Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung durch ÖGD-Kompetenzen profitieren kann, GBE = Gesundheitsberichterstattung (detailliert siehe Text)
unter Bürger- und Patientenbeteiligung, die eng mit der lokalen Sozial- und Gesundheitsberichterstattung zusammenarbeiten (24, 25). Partizipative Gremien erfordern zwar etwa aufgrund der Informationsasymmetrie einen höheren Moderationsaufwand, ihnen gelingt es aber einerseits besser, trotz der häufig starken Partikularinteressen einzelner Akteure zu einer gemeinwohlorientierten Zielsetzung zu kommen, andererseits ermöglichen sie eine Bündelung diverser, auch ehrenamtlicher Kräfte, was einen Mehrwert an Akzeptanz und Effizienz bedeutet (13, 26). Auf der Ebene von Konzeption und Umsetzung der Maßnahmen hat der ÖGD aktuell sicher nicht die Ressourcen, um sich in jede Maßnahme einzubringen. Sinnvoll erscheint dies jedoch einerseits dann, wenn er im jeweiligen Setting über besondere Erfahrungen oder Zugangswege verfügt, es kann darüber hinaus erfahrungsgemäß auch dann sinnvoll sein, wenn eine interdiszipli-
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när und partizipativ aufgebaute Planungsgruppe nur durch neutrale Moderation ihre Aufgabe erfüllen kann. Aufgrund der Informationsgrundlagen, über die der ÖGD in bestimmten Settings verfügt, kann er auch auf der Ebene der Evaluation einen Beitrag leisten, etwa durch kontinuierliche Surveillance im Rahmen der Sozial- und Gesundheitsberichterstattung.
Konkrete Einbindung des ÖGD in ein Präventionsgesetz Aufgrund dieses Profils ist es sinnvoll, den ÖGD auf verschiedenen Stufen der konkreten Maßnahme in zentraler Funktion zu beteiligen nämlich bei Zielsetzung, Planung, Durchführung und Evaluation von Maßnahmen. Welche Funktionen und Aufgaben der ÖGD im Rahmen auf Basis des Entwurfs eines Präventionsgesetzes vom Februar 2005 erfüllen sollte, ist . Abbildung 3 zu entnehmen (5, 28). Zielsetzung und Planung: Modelle guter koordinierender Praxis bestehen etwa in vielen Gesundheitskonferenzen Nordrhein-Westfalens wie auch in den
. Abb. 3. Konzept zur Rolle des ÖGD bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes, weiterentwickelt nach (28)
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ähnlich strukturierten regionalen Arbeitsgemeinschaften für Gesundheit Baden-Württembergs. Erfolgreich sind diese Modelle vor allem im engen Kontext mit Sozial- und Gesundheitsberichterstattung und Besetzung der Gremien über den engeren Kreis der Akteure des Gesundheitswesens hinaus (20). Kreis oder Stadt bzw. dem ÖGD sollte die Moderation des Gremiums obliegen, in dem die konkrete Zielsetzung innerhalb der überregional gesetzten Zielkorridore erfolgt, §6, Abs. 3 des Gesetzentwurfs konkretisierend (5). Besonderes Augenmerk sollte dabei die gesundheitliche Chancengleichheit erhalten, d.h. lokale Brennpunkte, etwa Schulen oder Kindergärten, müssten im Rahmen der GBE identifiziert und bei der Antragstellung bevorzugt werden. Als Instrument zur kleinräumigen Entdeckung besonderer Bedarfslagen liegt es etwa nahe, die Ergebnisse der Schuluntersuchungen zu nutzen, sinnvoller Weise auch in Kooperation mit Informationen der im Jugendhilfebereich tätigen Akteure. Schulen und Kindergärten in weniger benachteiligten Gebieten werden aufgrund ihrer strukturellen und personellen Vorteile mit höherer Wahrscheinlichkeit Förderanträge stellen als Institutionen benachteiligter Regionen. Wird der Aspekt gesundheitlicher Chancengleichheit nicht auf der Ebene von Kreis bzw. Stadt organisiert, ist zu befürchten, dass sich die Mittelschichtsorientierung bisheriger Bemühungen im Feld Gesundheitsförderung und Prävention zukünftig auf Settingebene, d.h. auf der Ebene der Lebenswelten, in denen die Betroffenen einen Großteil ihres Lebens verbringen, fortsetzt. Dem ÖGD sollte es darüber hinaus im Rahmen seiner koordinierenden Tätigkeit obliegen, einerseits die überregionalen Zielprogramme, andererseits auch die lokalen Zielsetzungen zu kommunizieren. Auch hier gilt es, insbesondere benachteiligte Settings zu informieren und zu Maßnahmen zu motivieren. Durchführung: Auf der Maßnahmenebene ist es sinnvoll, dass der ÖGD in
bestimmten, ihm traditionell nahe stehenden Settings (Lebenswelten), aktiv beteiligt wird. Beispielhaft hierfür sind die Settings Schule und Kindergarten zu nennen. Hier sollte der ÖGD als Prozessbeteiligter seine Informationen zur gesundheitlichen Lage (etwa auch zur Lehrergesundheit), sein präventives Know-how und wenn irgend möglich auch moderierende Kompetenz einbringen. Dies muss interdisziplinär unter Nutzung pädagogischer und medizinischer Kompetenz erfolgen, da nur so positive Entwicklungen in diesen zuletzt von Innovationen überfrachteten Settings möglich sind. Im Sinne der zukünftig angestrebten Evidenzbasierung auch von Setting-Maßnahmen gilt es hier spe-
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ziell Modelle guter Praxis in benachteiligten Settings zu identifizieren und zu verbreiten. Vielerorts hat der ÖGD auch in diversen anderen lokalen Settings, etwa in Stadtteilen oder Betrieben erhebliche Kompetenz aufgebaut, die je nach lokalen Schwerpunkten genutzt werden müssen. Darüber hinaus ist es erfahrungsgemäß in vielen Fällen gewinnbringend, durch neutrale Moderation Gemeinschaftsaktionen von Experten, Bürgern und ggf. Patienten zu ermöglichen – eine Funktion, die je nach lokalem Profil sinnvoll beim ÖGD angesiedelt werden kann (13). Evaluation: In traditionellen ÖGD-Settings wie Kindergärten und Schulen ist
es nahe liegend, die bestehenden Instrumente zur Bedarfsanalyse auch für die Zielverfolgung bzw. Ergebnisevaluation zu nutzen. Hier ist in erster Linie an die Schuluntersuchungen als einzige Querschnittsuntersuchung einer Gesamtkohorte zu denken. Lokal existieren aber je nach Schwerpunkt der GBE auch im Feld der Evaluation teils weit darüber hinaus gehende Kompetenzen, die einerseits für die Evaluation in weiteren Settings, andererseits für Beratungstätigkeiten zur Evaluation genutzt werden sollten.
Weiterentwicklung des ÖGD Der ÖGD ist aufgrund der Abhängigkeit von Ländergesetzgebung und kommunaler Schwerpunktsetzung gerade in den beschriebenen Feldern der Gesundheitsförderung und Gesundheitsberichterstattung sehr unterschiedlich aufgestellt. Nicht alle im letzten Abschnitt benannten potenziellen Aufgaben werden vom ÖGD bisher flächendeckend erfüllt, da heute vielerorts andere Prioritäten gesetzt werden. Jedoch bestehen für jede der oben genannten Aufgaben vielfältige Modelle guter Praxis, an denen einerseits die konkrete Machbarkeit, andererseits aber auch die Strukturvorteile deutlich werden, die gerade den ÖGD für diese Aufgaben prädestinieren. In einigen Bereichen wie etwa bei den Schuluntersuchungen existieren flächendeckende Ressourcen, die mit sehr überschaubarem Aufwand die notwendigen kleinräumigen Analysen ermöglichen würden. Notwendig wäre einzig die Standardisierung – in diesem Fall durch den weichen Druck von Förderkriterien nach einem Präventionsgesetz – und die darauf folgende flächendeckende Etablierung bestehender Modelle guter Praxis, in denen heute
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schon gesundheitlich benachteiligte Kinder und Settings identifiziert und spezifisch gefördert werden. Eine wichtige – und bisher nur zum Teil erledigte – Aufgabe liegt darin, den ÖGD für die zur lokalen Zielsetzung zentrale Koordinationsfunktion zu befähigen. Wo dies gelingt, liegt dies nicht nur an geeigneten lokalen Strukturen, sondern auch entscheidend am Kompetenzprofil der Akteure vor Ort. Dieses muss durch geeignete Fortbildung, Integration in die Weiterbildung oder aber Nutzung solcher Kompetenzen in unterschiedlichen Disziplinen ausgebaut werden (29). Teilweise sind es nicht institutionell bedingte, sondern in interdisziplinären Arbeitsfeldern übliche Problemstellungen, die überwunden werden müssen. Aktuelle Modelle der Gesundheitswissenschaften wie auch Konzepte der WHO zielen auf eine Integration verschiedener Arbeitsansätze, etwa derjenigen der Prävention und Gesundheitsförderung, aber auch der Gesundheitsberichterstattung als Mittel zum Zwecke guter Präventionspraxis. Auch hier ruhen Hoffnungen auf der aktuellen Gesetzgebung, die zur Begriffsklärung beiträgt und durch die konkreten Förderkriterien integrierend wirken kann. An dieser Stelle sind auch die Gesundheitswissenschaften gefragt, sich stärker praxisbezogen und das heißt auch integrativ einzubringen: In der Wissenschaft liegt oft in der Abgrenzung mehr Potenzial als in der Verknüpfung, im Praxisfeld schwächt eine Identitätsbildung über Abgrenzung jedoch in aller Regel. Der ÖGD ist ein wichtiges Feld gesundheitswissenschaftlicher Praxis, daher wird sein häufig angemahntes Theoriedefizit zwangsläufig immer etwa gleich groß sein wie das Praxisdefizit der Gesundheitswissenschaften (30).
Resümee Im ÖGD existieren eine präventive Tradition und wesentliche Kompetenzen, um Prävention und Gesundheitsförderung zukünftig das notwendige höhere Gewicht zu verleihen. In über den Gesundheitsschutz hinausgehenden Aufgaben besteht jedoch trotz erfolgreicher Beispiele in der AIDS-Prävention und Kariesprophylaxe ein schmerzliches Defizit übergeordneter Regelungen und damit Standards. Dadurch gibt es zurzeit keine flächendeckende gemeinschaftliche Erbringung von präventiven oder gesundheitsförderlichen Leistungen. Auch werden Instrumente zur Optimierung der Planungs- und Ergebnisqualität wie die Gesundheitsberichterstattung bisher nur unzureichend genutzt. Teils
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verringern interdisziplinäre Probleme zwischen ärztlichen, sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Ansätzen die Effizienz der lokalen Maßnahmen. Nicht selten herrscht auch heute noch ein reduzierter Präventionsbegriff vor, der sich auf individuelle Beratung und konkrete medizinische Leistungen wie etwa Impfungen beschränkt. Eine große Menge an Modellen guter Praxis verdeutlicht jedoch andererseits das sehr hohe Potenzial des ÖGD. Er kann einen zentralen und durch keinen anderen Akteur in dieser Weise zu erbringenden Beitrag zur Qualität zukünftiger gesundheitsförderlicher und präventiver Maßnahmen leisten. Speziell ihre Planungsqualität ist in hohem Maße davon abhängig, inwieweit ÖGDKompetenzen genutzt werden. Ein Präventionsgesetz müsste diese Kompetenzen über die maßnahmenspezifischen Förderkriterien fordern und damit fördern. Gesundheitsförderung, Prävention und die qualitätssichernde Gesundheitsberichterstattung stehen durch Landesgesetzgebung und kommunale Interessenlagen in Konkurrenz zu anderen, stärker individualmedizinisch geprägten Aufgabenfeldern des ÖGD. Es wäre begrüßenswert, wenn sich dies durch das Präventionsgesetz zukünftig ändern würde, da überregionale gesetzliche Standards in anderen Aufgabenfeldern des ÖGD beste Ergebnisse zeigen. Wenn dies gelänge, würde der ÖGD auf Grund seiner Stärken einer der wichtigsten lokalen Akteure und Wegbereiter einer gestärkten Prävention und Gesundheitsförderung sein, womit gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag auch der öffentlichen Hand zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe Prävention gewährleistet werden könnte. Die zur Verfügung stehenden Projektförderungsmittel würden dazu führen, dass sich ein lokaler Druck für die Einhaltung gewisser Standards aufbaut. Die konkrete Ausgestaltung der Förderrichtlinien (nach dem Gesetzentwurf von 2/2005 weitgehend der Landesebene vorbehalten) wird insofern zentrale Bedeutung dafür haben, ob Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin als »weiche«, oder aber als »harte« Aufgabe des Gesundheitsdienstes der Kreise und Städte angesehen wird. Stärken des ÖGD, die im Sinne einer qualitativ aufgewerteten Gesundheitsförderung und Prävention genutzt werden müssten, sind einerseits sein traditionell guter Zugang zu bestimmten Settings wie etwa Schulen und Kindergärten, die potenziellen Informationsgrundlagen über die regionale gesundheitliche Lage und die strukturell bedingte Neutralität und Gemeinwohlorientierung, die ihn für eine Koordinationsfunktion prädestiniert. In all diesen Bereichen liegen vielfache für zukünftige Regelungen nutzbare Erfahrungswerte vor. Im Sinne eines umfassenden Qualitätsmanagements zukünftiger Prävention sind diese
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ÖGD-Funktionen auf regionaler Ebene durch keine andere Institution leistbar (siehe Abbildung 2). Hervorzuheben sind die Kompetenzen des ÖGD, gesundheitlich benachteiligte Zielgruppen zu identifizieren und zu erreichen. Wenn diese lokale Kompetenz des ÖGD im Rahmen eines künftigen Präventionsgesetzes nicht genutzt wird, muss eine Fortschreibung der bisherigen Mittelschichtsorientierung von Prävention und Gesundheitsförderung – nur zukünftig im Setting-Ansatz – befürchtet werden.
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241 Prävention durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst
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243 Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen
Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen Walter Brehm*
Abstract Körperliche Inaktivität mit ihren negativen Auswirkungen wird immer häufiger als das zentrale Gesundheitsproblem des dritten Jahrtausends angesehen. Ausgehend von dem bereits in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung 1986 verankerten Grundgedanken, dass nachhaltige Intervention – gegebenenfalls parallel zu einer medizinischen Behandlung – am Verhalten und den Verhältnissen anzusetzen habe, wurde in Deutschland ein Konzept von Gesundheitssport entwickelt. Dieses Konzept hat sich zwischenzeitlich, u.a. durch Kooperationen mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen sowie mit den Sportverbänden insbesondere dem deutschen Turnerbund – deutschlandweit etabliert. Das Konzept ist am Prozess einer Verhaltensänderung orientiert mit dem Ziel einer regelmäßig ausgeübten gesundheitssportlichen Aktivität. Daraus resultierend sollten weitergehende Gesundheitseffekte (u.a. Stärkung der Fitness, Minderung von Risikofaktoren) erreichbar sein. Im Beitrag wird das Konzept von »Gesundheitssport« ausgeführt, indem zunächst eine knappe Abgrenzung von den Gesundheitspotenzialen von Bewegung und Sport vorgenommen wird. Im Weiteren werden Kernziele, Zielgruppen sowie der Stand der Programmentwicklung umrissen und es wird auf das Problem einer Evidenzsicherung eingegangen. Schlüsselworte: Gesundheitssport, Gesundheitsverhalten, Gesundheitssport-
programme, Qualitätssicherung
1 Einleitung Zu Beginn des dritten Jahrtausends erscheint unstrittig, dass körperliche Aktivität – einschließlich sportlicher Aktivität – zu den zentralen Faktoren der Er* e-mail:
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B · Prävention und Lebenswelten
haltung sowie der Wiederherstellung der physischen und der psychosozialen Gesundheit gehört. In Befragungen geben etwa 60% der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland an, sie seien sportlich aktiv, allerdings erreichen in den hoch industrialisierten Ländern nur maximal 10% bis 20% der Bevölkerung eine gesundheitlich relevante Minimalbeanspruchung im Hinblick auf Regelmäßigkeit, Intensität sowie Orientierung der Aktivitäten (Woll, Tittlbach, Bös et. al, 2003). Die Folgen für die individuelle Gesundheit sowie für die Volkswirtschaft sind hinreichend bekannt und beklagt. Steven Blair vom »Cooper Institute for Aerobics Research« in Dallas (USA) bezeichnet körperliche Inaktivität sogar als das zentrale Gesundheitsproblem des dritten Jahrtausends (Blair, 2000). Versuche, den Gesundheitsstatus durch Sport und allgemeiner durch körperliche Aktivität systematisch zu erhalten und zu verbessern ziehen sich durch die Geschichte der Entwicklung von Gymnastik, Turnen und Sport ebenso, wie durch viele medizinische Ratgeber z.B. über eine gesunde Lebensweise oder über »ganzheitliche« Heilmethoden. In neuerer Zeit beeinflusste die Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung (1986) die Entwicklung von Konzepten für eine gesundheitsförderliche körperliche Aktivität sowie weitergehend für einen Gesundheitssport entscheidend. Der Deutsche Turnerbund und der Deutsche Sportbund reagierten zunächst mit »Gesundheitspolitischen Konzeptionen« sowie mit »Arbeitsgruppen und Kommissionen«, später mit immer konkreteren und qualitativ höherwertigen Bausteinen eines Gesundheitssports wie »Kernzielen«, »Qualitätsgesicherten Programmen«, »Aus- und Fortbildungsbildungssystemen«, »Qualitätssiegeln«, »Qualitätsmanagementkonzepten für den Verein« etc. (DSB, 2000; DTB, 2003). Die Krankenkassen pendelten mit ihren Förderungen von »Bewegungsgewohnheiten« und »Sport« zwischen den Perspektiven qualitativ hochwertiger Gesundheitsförderung und Marketing – und kamen damit sowohl in Konflikt mit der Gesundheitspolitik wie auch der Sportpolitik. In der Folge wurde der § 20 im SGB V mehrfach neu bearbeitet – dies mit einem immer stärker werdenden Fokus auf einen qualitativ hochwertigen Gesundheitssport (AG der Spitzenverbände der Krankenkassen, 2003). Auch in die Wissenschaftsorganisationen kam mit der Diskussion um Gesundheitssport und gesundheitsförderliche körperliche Aktivität Bewegung. 1995 konstituierte sich eine Kommission Gesundheit in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, als verhaltens- und sozialwissenschaftliche Ergänzung zur bereits existierenden Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (Bös & Brehm, 1999).
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2 Abgrenzungen zwischen gesundheitsförderlicher körperlicher Aktivität, Sport und Gesundheitssport Das Konzept einer »gesundheitsförderlichen körperlichen Aktivität« (healthenhancing physical activity) hebt auf eine lebensweltliche Betrachtung von Bewegung (aktiver Lebensstil) ab, d.h. berücksichtigt körperliche Aktivität nicht nur im Kontext von Sport und Freizeit, sondern auch im Kontext von Beruf, Hausarbeit oder zum Transport. Bei der Bestimmung des gesundheitlichen Nutzens von körperlicher Aktivität orientiert sich das Konzept am zusätzlichen Kalorienverbrauch (gemessen in Metabolischen Äquivalenten – MET) und wählt damit einen (von mehreren möglichen) physiologischen Indikatoren eines präventiven Nutzens der Aktivitäten – hier insbesondere für Risiken im kardiologischen und metabolischen Bereich. Diese Perspektive wird traditionell von medizinisch orientierten Public Health-Ansätzen – und im Bewegungsbereich speziell von der Sportmedizin sowie den Exercise Physiologists vertreten. Mit dem Konzept wurde eine Aktivierung bisher inaktiver Bevölkerungsgruppen angestrebt. Neuere Studien zeigen jedoch, dass ein großer Anteil der Bevölkerungen Europas durch diese Kontexterweiterung bereits ohne zusätzliche Aktivität den Mindestempfehlungen nachkommt (Rütten & Abu-Omar, 2004a, b). Eine Modifikation dieser internationalen Public HealthEmpfehlungen wurde daher notwendig (vgl. im Überblick Blair, LaMonte & Nichaman, 2004). Ein weiteres Defizit im Konzept der »gesundheitsförderlichen körperlichen Aktivität« besteht in den z. T. widersprüchlichen Ergebnissen zur gesundheitlichen Wirksamkeit und damit in der unzureichenden Evidenzbasierung. Zwar wurde das Konzept in den 1990er Jahren auf der Grundlage einer ganzen Reihe von Studien entwickelt, die schon bei moderaten Formen körperlicher Aktivität einen gesundheitlichen Nutzen – operationalisiert über Mortalitätsraten oder subjektive Gesundheitswahrnehmung – nachgewiesen haben (vgl. u.a. AbuOmar, Rütten & Robine, 2004, Blair, Kohl & Gordon, 1992). Neuere Studien zeigen jedoch, dass der Aktivitätskontext – Bewegung z.B. als allgemeine Freizeitaktivität, als Haus- bzw. Berufsarbeit oder im Rahmen von Sport – eine bisher zu sehr vernachlässigte Dimension im Zusammenhang mit Studien zur gesundheitlichen Wirksamkeit zu sein scheint (vgl. Andersen, Schnohr & Schroll, 2000; Lawor, Taylor, Bedford et al., 2002). Hierbei zeigen sich durchaus Kovariation der körperlichen Aktivitäten mit der Gesundheit, gleichwohl ist die Varianzaufklärung insgesamt sehr gering. Das größte Gewicht kommt im Ver-
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B · Prävention und Lebenswelten
gleich ausgewählter Aktivitätsbereiche den sportlichen Aktivitäten zu (vgl. Tittlbach, S., Bös, K., Woll, A., et al., 2005). Dies scheint für eine große gesundheitliche Bedeutsamkeit von »sportlicher Aktivität« bzw. von »Sport« zu sprechen. Korrespondierend geben etwa dreiviertel der sportlich aktiven Erwachsenen in Deutschland »Gesundheit« als ihr zentrales Zugangsmotiv in eine sportliche Aktivität an. Gleichwohl ist der primäre Sinn von Sport nicht die Gesundheit, Sport umfasst vielmehr eine historisch-kulturell definierte Untermenge von körperlicher Aktivität, für die insbesondere die Zielbereiche »Leistungsvergleich im Wettkampf« (speziell im Wettkampfsport), »Fitnessverbesserung und Körperformung« (speziell im Fitness-Sport), »Freude an der Bewegung und Bewältigung der Natur« (speziell im Fun- und Natursport) kennzeichnend sind. Interventionsansätze zur Aktivierung sportlich Inaktiver – insbesondere der Sportverbände – vertrauten z.B. in den verschiedenen Kampagnen von »Sport für Alle« lange Zeit darauf, dass »Sport« schon allein durch seine Ausführung gesundheitswirksam sei – auch hier beruhten die Wirksamkeitserwartungen insbesondere auf den beim Sport verbrauchten Kalorien. Als Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme wurden Ergebnisse aus Querschnittstudien sowie aus epidemiologischen Längsschnittstudien herangezogen. Diese zeigen einerseits querschnittlich, dass »Sportler« in sehr unterschiedlicher Hinsicht »gesünder« sind als Nichtsportler (z.B. Bouchard, Shepard et al., 1994; Rütten & Abu-Omar, 2003; Stephens, 1988; WIAD, 1996; Sygusch, Brehm & Ungerer-Röhrich, 2003). Andererseits scheinen einige Studien längsschnittlich zu belegen, dass sportlich Inaktive eher gesundheitliche Probleme bekommen würden als sportlich Aktive (z.B. Farmer, Locke et al., 1988, Paffenbarger, 1991). Erst in neuerer Zeit wird deutlich, dass bei diesen Ergebnissen offensichtlich Selektionseffekte eine große Rolle spielen – es scheinen die ohnehin Fitten und Gesunden zu sein, die auch Sport treiben, d.h. ein Einfluss vom Sport auf die Gesundheit ist nicht unmittelbar belegt (z.B. Eichberg, 2003, Sygusch, Brehm & Ungerer-Röhrich, 2003; Woll, Tittlbach, Bös et al., 2003). Ein »Nichtzusammenhang« zwischen Sport und Gesundheit auf einer eher generellen Ebene zeigte sich auch in verschiedenen Meta-Analysen (z.B. Knoll, 1997; Schlicht, 1994). Diese machten jedoch weitergehend ebenso deutlich, dass Facetten sportlicher Aktivitäten im Hinblick auf spezielle Aspekte der physischen und psychischen »Gesundheit« dann relevant sein können, wenn die Durchführung dieses Sports entsprechend strukturiert ist, d.h., wenn beispiels-
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weise Ziele definiert (z.B. die Ausdauer stärken) und darauf bezogene methodische Kenntnisse bei der Intervention (z.B. Belastungsdosierung) berücksichtigt werden. »Gesundheitssport« (bzw. »gesundheitssportliche Aktivitäten«) bezieht sich dementsprechend weitergehend auf solche körperlichen bzw. sportlichen Aktivitäten, die hoch strukturiert auf gesundheitsförderliche Effekte bei Zielgruppen mit spezifischen Risiken, gesundheitlichen Problemen und Erkrankungen ausgerichtet sind. Gesundheitssport unterscheidet sich damit von den oben genannten anderen Feldern des Sports, aber auch von den angesprochenen Konzepten einer gesundheitsförderlichen körperlichen Aktivität. Im Gesundheitssport werden, mit speziellen Gesundheitssportprogrammen, bzw. mit spezifischen – individuell zugeschnittenen – gesundheitssportlichen Aktivitäten, gesundheitsrelevante Kernziele, Zielgruppen gerecht angesteuert. Eine Evidenzbasierung ist dabei auf die Input-Seite (z. B. Programme/Aktivitäten) wie auf die Output-Seite (z. B. Effekte des Programms) gerichtet. Mit einer solchen qualitätsorientierten Strukturiertheit ist Gesundheitssport ein Instrument der Gesundheitsförderung, das im Schnittbereich von Sport- und Gesundheitssystem von wesentlicher Bedeutung sein kann (vgl. z.B. Brehm, 1998a; Brehm, Bös, Opper et al., 2002; Brehm & Rütten, 2004, Brehm, Janke, Sygusch & Wagner, 2005, Brehm, Wagner, Sygusch, Hahn, Janke, 2005).
3 Die sechs Kernziele von Gesundheitssport Das »Health Promotion Paradigm« der Weltgesundheitsorganisation (WHO), postulierte mit der Ottawa Charta im Jahre 1986 eine Stärkung der Gesundheitsressourcen als zentrale Aufgabe jeder Gesundheitsförderung, insbesondere auch solcher Ressourcen, die das Gesundheitsverhalten sowie die Gesundheitsverhältnisse (bzw. Settings) betreffen (vgl. Kickbusch, 2003) Ein solcher Ansatz von Gesundheitsförderung führt die unterschiedlichen Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit zusammen und bündelt die Ziele einer Gesundheitsförderung auf drei Ebenen (vgl. Brehm 1998a): Auf der Ebene von Gesundheitswirkungen, womit gesundheitsförderliche Interventionen abzielen auf eine Stärkung der physischen sowie der psychosozialen Gesundheitsressourcen, verbunden mit einer Meidung und Minderung von Risikofaktoren sowie mit einer möglichst effektiven Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden;
248 B · Prävention und Lebenswelten
. Abb. 1. Kernziele von Gesundheitssport und ihre Wechselbeziehungen
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Auf der Ebene des Gesundheitsverhaltens, womit gesundheitsförderliche Interventionen einerseits abzielen auf die Befähigung des Einzelnen, selbst Kontrolle über die Gesundheit auszuüben und andererseits eine stabile Bindung aufzubauen an gesundheitsrelevante Verhaltensweisen. Auf der Ebene gesunder Verhältnisse, womit gesundheitsförderliche Interventionen abzielen auf Optimierung der ökologischen, bzw. systemischen Voraussetzungen für Gesundheitsverhalten sowie für Gesundheit in unterschiedlichen Settings. Diese drei Perspektiven für eine Gesundheitsförderung lassen sich über sechs Kernziele für einen »Gesundheitssport« begründet konkretisieren. Diese Kernziele bilden im Weiteren den Rahmen für strukturierte, zielgruppenbezogene Interventionsmaßnahmen (Gesundheitssportprogramme). . Abbildung 1 zeigt die sechs Kernziele und deren Ausdifferenzierung. Die Kernziele 1 bis 4 sind dabei auf die salutogenetischen und die präventiven Gesundheitsdimensionen ausgerichtet, die Kernziele 5 und 6 orientieren sich an den Verhaltenssowie Verhältnisdimensionen von Gesundheit. Weitergehend soll die Abbildung verdeutlichen, dass zwischen den Kernzielen spezifische Zusammenhänge bestehen. Dieses Konzept der »Kernziele« von Gesundheitssport wurde von den großen Sportverbänden in ihren Qualitätssiegeln ebenso übernommen (DSB, 2000, DTB, 2003) wie von den Spitzenverbänden der Krankenkassen zur Festlegung von Qualitätskriterien (AG der Spitzenverbände der Krankenkassen, 2003). Das Kernziel 1, Stärkung physischer Gesundheitsressourcen, steht im Gesundheitssport im Vordergrund. Eine systematische Aktivierung des Muskelsystems löst Anpassungsprozesse des gesamten Organismus aus und kann so dazu beitragen, diesen widerstandsfähig und gesund zu halten. Dies gilt neben dem Herz-Kreislaufsystem auch für den Halte- und Bewegungsapparat ebenso wie für das Zentralnervensystem sowie für die meisten anderen inneren Organe und physischen Funktionsbereiche. Durch die Akzentuierung von Reizsetzungen können dabei spezifische Effekte erzielt werden. Unstrittig ist, dass solche Akzentuierungen unter einer fünffachen Perspektive erfolgen sollen: Ausdauer und Kraft sowie Dehn-, Koordinations- und Entspannungsfähigkeit. Diese körperlichen Fähigkeiten werden häufig unter dem Begriff der »Fitness« zusammengefasst. Die benannten Fitnesskomponenten sind über die gesamte Lebensspanne durch entsprechend gezielte Anforderungen trainierbar, d.h. die Körpersysteme passen sich bis in das hohe Lebensalter funktionsbezogen den Anforderungen an.
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B · Prävention und Lebenswelten
Besser als ein Training nur eines einzelnen Fähigkeitsbereichs erscheint langfristig ein »Training im Kontext« (z.B. in einer Übungseinheit), da dadurch gesundheitsrelevante gegenseitige Ergänzungen bzw. Verstärkungen genutzt werden können – bzw. die körperliche Fitness umfassend gestärkt wird. Bezüglich der Intensität reicht ein »sanftes Training« aus, d.h. die Fähigkeitsbereiche können bei einer subjektiv »mittleren Anstrengung« bereits effektiv entwickelt werden. Als absolutes Minimum im Hinblick auf präventive Effekte ist eine einmalige Beanspruchung der vier Fähigkeitsbereiche pro Woche anzusehen. Bei einer Addition der notwendigen Zeiteinheiten sind für ein solches »Einmaltraining« 90 Minuten anzusetzen. Dies entspricht einem Energieverbrauch von etwa 600 kcal. Mittel- und längerfristig sind allerdings etwa die doppelten Zeitaufwendungen und Verbrauchsumfänge anzustreben (Ainsworth, Jacobs & Leon, 1993; Amisola & Jacobson, 2003; Blair & Connelly; 1996; Blair, LaMonte, & Nichaman, 2004; Carrol & Dudfield, 2004). Sowohl für die salutogenetischen als auch für die präventiven Wirkungen eines systematischen Fitnesstrainings können zahlreiche Befunde sowohl aus epidemiologischen Untersuchungen als auch aus kontrollierten Laborstudien herangezogen werden. Selten sind dagegen bislang kontrollierte Längsschnittstudien im Feld – insbesondere mit Personen mit geringer Fitness, bzw. mit Bewegungsmangel (grundlegend vgl. z.B. American College of Sports Medicine, 1998, 975 – 991; Bouchard, Shepard & Stephens, 1994, part I und II; Bös & Brehm, 1998, 135 – 187; Carrol & Dudfield, 2004, Dunn, Marcus, Kampert et al., 1999; Vuori, 1995; zur methodischen Durchführung eines Trainings der Fitnesskomponenten vgl. z.B. Boeckh-Behrens & Buskies, 2002). Dem Kernziel 2, Verminderung von Risikofaktoren, liegt zunächst die Erkenntnis zugrunde, dass beim Ausbleiben von Anforderungen an die skizzierten physischen Gesundheitsressourcen Ausdauer-, Kraft-, Dehn-, Koordinations- und Entspannungsfähigkeit relativ schnell der Prozess einer negativen Anpassung an diese Unterforderungen einsetzt. In der Folge degenerieren nicht nur die Muskeln, sondern auch andere Organe und Körpersysteme. »Körperliche Inaktivität« bzw. »Bewegungsmangel« wird damit – über eine Reduktion des Fitness-Status – zu einem »Risikofaktor« für die Gesundheit, der schnell weitere Risikofaktoren nach sich zieht: einerseits solche im metabolischen Bereich (z.B. Bluthochdruck, erhöhte Blutzuckerwerte, Störungen des Fettstoffwechsels), andererseits im muskulären Bereich (z.B. neuromuskuläre Dysbalancen). Im Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass eine gezielte Stärkung der physischen Ressourcen – praktisch als »Nebeneffekt« –
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zu einer Verminderung von Risikofaktoren beiträgt, insbesondere bei indikationsspezifischen Gewichtungen im Rahmen der Intervention. Für diese Annahme sprechen zahlreiche Befunde sowohl aus epidemiologischen Untersuchungen als auch aus kontrollierten Laborstudien (vgl. im Überblick z.B. Banzer, Knoll & Bös, 1998; Baumann, 2004; Bouchard, Shepard & Stephens, 1994; Bouchard & Després, 1995; Eichberg, 2003; Hollmann, Rost, Dufaux & Liesen, 1983; Blair & Connelly, 1996; Pate, Pratt et al., 1995; Sagiv, Ben-Sira & Sagiv, 2004). Befunde aus kontrollierten Längsschnittstudien im Feld liegen dagegen auch hier bislang nur wenige vor (Dunn et al., 1999). Offensichtlich besteht zwischen körperlicher Beanspruchung und Risikoreduktion allerdings keine lineare Beziehung. Am meisten profitieren die langfristig »Bewegungsabstinenten« und entsprechend »Unfitten« von einer moderaten körperlichen Aktivierung von zumindest 600 kcal pro Woche zusätzlicher Muskelarbeit. Oberhalb von ca. 3000 kcal zusätzlichen Kalorienverbrauchs pro Woche wurden in einigen Studien negative Folgen, u.a. eine erhöhte Mortalität, festgestellt (Baumann, 2004; Blair et al., 2004; Brehm, Janke, Sygusch & Wagner, 2005). Das Kernziel 3, Stärkung psychosozialer Gesundheitsressourcen, bezieht sich auf solche psychischen und sozialen Potenziale, durch die einerseits das subjektive Gefühl des Wohlbefindens entsteht und verstärkt wird und die andererseits helfen, Anforderungen unterschiedlicher Art besser zu bewältigen (z.B. Abele & Becker, 1994). Ähnlich wie bei den physischen gilt auch bei den psychosozialen Gesundheitsressourcen, dass ein »Ungleichgewicht« zwischen Ressourcen und Anforderungen – d.h. wenige Ressourcen bei hohen Anforderungen – zu vielfältigen Beschwerden und Krankheiten führen kann (z.B. Schwarzer, 1997, 267–478). Beispielsweise führt die Anforderung »langes und häufiges Sitzen am Bildschirmarbeitsplatz« dann mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Rückenproblemen, wenn das Wissen über »richtiges Sitzen« und »bewegtes Pausenverhalten« gering ist. Auch wenn die Diskussion hierzu nicht abgeschlossen ist, so haben sich doch folgende Ressourcen für den Bereich des Gesundheitssports als relativ unstrittig herauskristallisiert: 4 Positive Grundgestimmtheit als wesentliche Basis der psychischen Gesundheit. Stimmung umfasst alltägliche Gefühle wie gute Laune, Ruhe, Aktiviertheit, Erregtheit, Deprimiertheit oder auch Ärger. Stimmung ist insbesondere akut aber auch längerfristig (Grundgestimmtheit) durch adäquate sportliche Aktivitäten positiv beeinflussbar.
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B · Prävention und Lebenswelten
4 Konkretes und differenziertes Handlungs- und Effektwissen zur kompetenten Durchführung von gesundheitssportlicher Aktivität und zur Realisation eines gesundheitsförderlichen Verhaltens im Alltag. Unter Effektwissen sind solche Wissensbestandteile zusammengefasst, die sich auf die potenziellen Wirkungen sportlicher Aktivität beziehen. Dazu gehören z.B. Kenntnisse über die Wirkungen eines Ausdauertrainings auf das Herz-Kreislaufsystem. Handlungswissen umfasst solche Wissensbestandteile, die sich auf die Realisierung sportlicher Aktivitäten beziehen, wie z.B. Kenntnisse zur »richtigen Belastung«. Sowohl die Ausbildung von Handlungs- als auch von Effektwissen erfordern systematische Verknüpfungen von Informationen mit Erfahrungen. 4 Konkrete und differenzierte Konsequenzerwartungen, um die gesundheitssportliche Aktivität auf der Grundlage von realistischen und erreichbaren Handlungszielen zu realisieren. Konsequenzerwartungen geben dem Handeln Orientierung und Sinn und sind damit wesentliche Bestandteile der Handlungs-Motivation und der Handlungs-Steuerung. Realistische Konsequenzerwartungen im Gesundheitssport können z.B. sein: »15 Minuten am Stück walken können«, »nach zwei Treppenabsätzen noch nicht schneller atmen«. 4 Allgemeine Kompetenzerwartungen (Selbstwirksamkeit) zum selbstsicheren Umgang mit den Barrieren, die im Alltag einer regelmäßigen Ausübung gesundheitssportlicher Aktivitäten entgegenstehen (z.B. Umgang mit der »Zeit-Barriere«, d.h. der Wahrnehmung, keine Zeit für eine gesundheitssportliche Aktivität zu haben). Aus der subjektiven Sicht der Teilnehmer ist eine (Wieder-) Aufnahme von gesundheitssportlichen Aktivitäten immer auch durch schwer abschätzbare körperliche Belastungen und unbekannte Anforderungen gekennzeichnet. 4 Positive Einstellungen zum Körper, um mit sich selbst besser klar zu kommen und um eine positive emotionale Beziehung zum eigenen Körper aufzubauen. Das Körperkonzept, d.h. die Wahrnehmungen und die Bewertungen des eigenen Körpers (z.B. Aussehen, körperliche Leistungsfähigkeit), beeinflusst in jedem Alter das Selbstwertgefühl und damit auch das Wohlbefinden und die Gesundheit. 4 Erfahrung von sozialer Unterstützung und Einbindung, um sich in der Gruppe wohl zu fühlen, aber auch um mehr Sicherheiten im Umgang mit anderen zu bekommen. Sportliche Aktivitäten in Gruppen stellen eine günstige Voraussetzung dar zur Förderung und Erfahrung von sozialer Unterstützung und Einbindung – wenn diese Aktivitäten adäquat gestaltet werden.
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Die bislang vorliegenden Studien legen nahe, dass eine kompetente Stärkung der benannten emotionalen, kognitiven und sozialen Gesundheitsressourcen durch (gesundheits-)sportliche Aktivität beiträgt 4 zu einer Verbesserung der subjektiven Lebensqualität (Wohlbefinden, Körper-, evtl. auch Lebenszufriedenheit), 4 zur Bewältigung von gesundheitlichen Problemen (Beschwerden, Missbefinden, Alltagsbelastungen), 4 insbesondere aber zum Aufbau von Bindung an gesundheitssportliche Aktivität und damit zu einer präventiven Verhaltensänderung. (vgl. die Beiträge in Bös & Brehm, 1998, 199–240; zur methodischen Umsetzung vgl. Brehm, Pahmeier, Tiemann et al., 2002) Das Kernziel 4, Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden, bezieht sich sowohl auf direkte und indirekte Lösungen solcher gesundheitlicher Probleme als auch insbesondere auf die Befähigung, selbst auf solche Lösungen hinzuarbeiten. Grundsätzlich werden zwei sich ergänzende Strategien unterschieden: (a) Eine problembezogene Bewältigung zielt auf eine Linderung von physisch bedingten Beschwerden wie auch den Abbau bzw. die Verbesserung von psychosomatisch bedingten Missbefindenszuständen. So kann beispielsweise eine systematische Kräftigung und Mobilisierung der Haltemuskulatur – insbesondere des Rückens und des Bauches – entscheidend zur Reduktion von Rückenproblemen beitragen. (b) Bei der emotionsbezogenen Bewältigung sind die Aktionen und Maßnahmen eher auf die Regulation der mit einer stressreichen Situation einhergehenden Emotionen gerichtet. Eine Stimmungsverbesserung kann bei einer gesundheitssportlichen Aktivität zwar ein ursächliches Problem, z.B. Gliederschmerzen, nicht lösen, die betroffene Person kann sich nach einer sportlichen Aktivität dennoch wohler fühlen und ihren gesundheitlichen Zustand positiver bewerten. Der bisherige Forschungsstand zeigt zusammenfassend, dass durch eine sportliche Aktivierung, die systematisch auf eine Stärkung der physischen sowie der psychosozialen Gesundheitsressourcen ausgerichtet ist, bei der Gruppe der durch Beschwerden und psychophysischen Missbefinden (u.a. Stress, Ängste, depressive Zustände) belasteten Personen gleichzeitig eine Verminderung dieser Gesundheitsprobleme – insbesondere durch deren Bewältigung – erreicht werden kann. Herauszustellen ist hier die wichtige Funktion der Entspannung, insbesondere zur Stressbewältigung (z.B. Herrmann, 2002). Auch im Hinblick
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B · Prävention und Lebenswelten
auf die Erreichbarkeit dieses Kernziels sind längsschnittliche Evaluationsstudien über Zeiträume von mehr als sechs Monate bislang allerdings die Ausnahme (vgl. im Überblick z.B. Cochrane Library, 2003; Fuchs,2003, 85–95; Pahmeier & Brehm, 1998). Das Kernziel 5, Bindung an gesundheitssportliches Verhalten, bezieht sich auf die regelmäßige Durchführung von gesundheitssportlichen Aktivitäten sowie das langfristige Dabeibleiben. Gesundheitssportliche Aktivität soll auf diese Weise zu einem gesicherten Element eines Gesundheitsverhaltens bzw. eines gesunden Lebensstils werden. Bindung ist eine notwendige Voraussetzung für eine Stärkung der physischen sowie auch der psychosozialen Ressourcen (Kernziele 1+2). Ein adäquates Training der körperlichen Fähigkeiten nimmt lange Zeiträume in Anspruch und der Erhalt eines gesundheitlich günstigen Fitness-Status erfordert eine regelmäßige Fortführung des Trainings. Ähnliches gilt für den Aufbau und den Erhalt einer positiven Grundgestimmtheit sowie positiver Einstellungen zum Körper. Da eine Prävention von Risikofaktoren (Kernziel 2) sowie eine problemzentrierte Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden (Kernziel 4) unmittelbar mit dem Prozess der Ressourcenstärkung verbunden ist, ist auch zur Sicherung dieser Ziele Bindung an gesundheitssportliche Aktivitäten Voraussetzung. D.h. Bindung ist als die zentrale Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der durch Kernziel 1–4 umrissenen erwünschten Gesundheitseffekte. Modellvorstellungen zum Aufbau von Bindungen an Gesundheitsverhaltensweisen rückten in den letzten Jahren vor allem deshalb immer mehr in den gesundheitswissenschaftlichen Blickpunkt, da festgestellt wurde, dass bei vielen Gesundheitsförderungsmaßnahmen die Drop-Out-Raten sehr hoch liegen. So sind bei entsprechenden Maßnahmen auch im Sport fünfzigprozentige Ausfallquoten eher die Regel als die Ausnahme. Als besonders kritisch für einen Ausstieg gelten das erste halbe Jahr der Teilnahme sowie der Zeitpunkt des Abschlusses eines Programms (Fuchs, 2003, 27–31; Pahmeier, 1999; Rampf, 1999; Wagner, 2000, 6–10). Als eine Quintessenz aus den bisher vorliegenden Forschungen (vgl. Brehm & Eberhardt, 1995; Dishman, 1994; Dishmann & Sallis; 1994; Dunn et al., 1999; Fuchs, 1997, 2003, 120 – 145; Pahmeier, 1994b, 1998, 1999; Rampf, 1999; Titze, 2003; Wagner, 2000) ist festzustellen, dass Bindung kein »Alles-oder NichtsPhänomen« ist, sondern ein langer Prozess (Zeitaspekt), der zudem von einer Vielzahl an Merkmalen beeinflusst wird (Merkmalsaspekt). Im Kontext der Bindung an gesundheitssportliche Aktivität wird derzeit zumeist von vier Pha-
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sen der Verhaltensänderung ausgegangen (z.B. Sallis & Hovell, 1990; Pahmeier, 1999): 4 Die erste Phase kann mit »Nachdenken« etikettiert werden. Zentral in dieser Phase ist die Beschäftigung mit dem Thema körperliche Aktivität und Gesundheit. Häufig erfolgt dies in der Folge von kritischen Ereignissen, z.B. der Feststellung von Risikofaktoren bei einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung, bei wiederkehrenden Beschwerden oder bei einer gravierender werdenden Unzufriedenheit mit dem Körper oder dem Gewicht. Diese Phase kann nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand unter Umständen mehrere Jahre dauern. 4 Die zweite Phase kann mit »Vorbereiten« bezeichnet werden. Jetzt wird der eigene bewegungsarme Lebensstil zunehmend kritisch hinterfragt und man sucht nach Möglichkeiten, diesen konkret zu verändern. Diese Phase dauert häufig bis zu sechs Monaten. 4 In der dritten Phase wird das neue Verhalten erprobt und erworben (»Ausprobieren«). Jetzt erfolgt der konkrete Einstieg in eine gesundheitssportliche Aktivität. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand kann davon ausgegangen werden, dass diese Phase zumindest etwa ein Jahr dauert. 4 In der vierten Phase – umschrieben mit »Stabilisieren« – wird eine längerfristige Bindung an das neue Verhalten sportliche Aktivität aufgebaut oder es erfolgt ein Drop-Out. Diese Phase ist entscheidend für die Nachhaltigkeit aller Interventionsmaßnahmen in den Phasen davor. Die Aufgabe des neuen Verhaltens findet sehr häufig im Verlauf des ersten halben Jahres statt, jedoch kann es auch später noch zu einem Ausstieg kommen. In dieser Phase der Stabilisierung (oder des Drop-Outs) scheinen Hilfen bei der Routinebildung besonders wichtig – diese können im Durchführungssetting (z.B. Verknüpfung von Kursen mit Dauerangeboten) ebenso realisiert werden wie im Lebenskontext (z.B. soziale Unterstützung durch Partner). Unklar ist derzeit auch noch, wann das Ziel einer gesundheitsrelevanten Bindung erreicht ist. In der internationalen Public Health Diskussion werden – neben körperlicher Alltagsaktivität – zusätzlich zwei Stunden gesundheitssportliche Aktivitäten empfohlen (American College of Sports-Medicine, 2000). Das Kernziel 6, Schaffung und Optimierung unterstützender Settings bzw. von gesundheitsförderlicher Verhältnisse, ist bezogen auf die Schaffung günstiger Voraussetzungen zur Umsetzung der Kernziele 1 bis 5. So ist z.B. eine
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B · Prävention und Lebenswelten
Stärkung der physischen sowie der psychosozialen Ressourcen im skizzierten Sinne unmöglich, wenn keine entsprechend qualifizierten ÜbungsleiterInnen oder SportlehrerInnen vorhanden sind. So kann z.B. die Wahrscheinlichkeit einer Bindung an gesundheitssportliche Aktivität deutlich erhöht werden, wenn in den Phasen 1 und 2 eine systematische Unterstützung und Heranführung durch Ärzte oder Krankenkassen erfolgt. In den Phasen 3 und 4 ist z.B. zur Sicherung der Nachhaltigkeit wesentlich, dass ein Einstiegsprogramm in ein Dauerangebot möglichst innerhalb derselben Institution überführt. D.h. spezielle, konkretisierende Zielsetzungen beziehen sich hier auf die personalen und materiellen Voraussetzungen einerseits sowie die systemischen Bedingungen andererseits. In Deutschland haben sich insbesondere die Sportverbände an der Diskussion um eine Optimierung der Verhältnisse für die Durchführung von Gesundheitssport beteiligt. Seit etwa 1998 erfolgt dabei eine einheitliche Ausrichtung der Qualitätsverbesserungen an den oben skizzierten »Kernzielen von Gesundheitssport«. Als Bausteine des Qualitätsmanagements führten der DSB und DTB u.a. »Qualitätssiegel« auf nationaler Ebene sowie »Qualitätszirkel« auf regionaler und kommunaler Ebene ein. Weitergehend wurden die Richtlinien für die Ausbildung von Übungsleitern für den Gesundheitssport mehrfach verändert. Auf kommunaler und regionaler Ebene existieren ebenfalls eine Reihe von Versuchen und Projekten, z.B. in Kooperation von Krankenkassen, Ärzten, Sportvereinen oder kommerziellen Sportanbietern (z.B. FitnessStudios), Gesundheitssport institutionell zu verankern und den Zugang insbesondere für gesundheitlich gefährdete Bevölkerungsgruppen zu erleichtern. Eine solche Möglichkeit stellt u.a. das »Kooperative Konzept Gesundheitssport zur Förderung der öffentlichen Gesundheit« dar, das seit 1998 in WestfalenLippe erfolgreich in der Fläche realisiert wird (vgl. Tiemann, Brehm & Sygusch, 2003). Schließlich ist hier auf die Bemühungen der Spitzenverbände der Krankenkassen zu verweisen, im Rahmen ihres Setting-Ansatzes u.a. auch zur Qualitätsverbesserung im »Handlungsfeld Bewegungsgewohnheiten« beizutragen (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen, 2003). Neben der Umgrenzung von Zielgruppen sowie der Festlegung auf die oben skizzierten Kernziele von Gesundheitssport, beschreibt der Leitfaden der Krankenkassen zur Umsetzung der Präventionsanforderungen des Gesetzgebers (§ 20, SGB V) notwendige inhaltliche Module von Gesundheitssportprogrammen, bzw. von Übungsleitermanualen sowie Anforderungen an die Anbieterqualifikation.
257 Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zur Optimierung unterstützender Settings u.a. profilierte Gesundheitssportprogramme, qualifizierte LeiterInnen, adäquate Räumlichkeiten und Geräte, kommunale und regionale Vernetzungen sowie Kooperationen von Institutionen des Sports und des Gesundheitswesens sowie kontinuierliches Qualitätsmanagement gehören.
4 Zielgruppen und Gesundheitssportprogramme Ausgehend von der großen Prävalenz des Risikofaktors körperliche Inaktivität und der mit diesem Risikofaktor verbundenen weiteren Risiken und Beschwerden lassen sich zwei große Zielgruppen für Interventionen durch Gesundheitssport differenzieren: 1. Gesunde Personen mit Bewegungsmangel, Bewegungseinsteiger und Widereinsteiger. 2. Personen mit speziellen Risiken im Bereich des Muskel-Skelettsystems, im Bereich des Herz-Kreislaufsystems und des metabolischen Bereichs, im psycho-somatischen Bereich. Ausschlusskriterium sind behandlungsbedürftige Erkrankungen. Für beide Zielgruppen besteht ein großer Bedarf. So ist davon auszugehen, dass bis zu 80% aller Erwachsenen in Deutschland vom Risikofaktor Bewegungsmangel betroffen sind – häufig verbunden mit »multiplen Risiko- und Beschwerdebildern« (Pahmeier & Brehm, 1998; Woll, Tittlbach, Bös, & Opper, 2003). Im Hinblick auf die »speziellen Risiken« der zweiten Zielgruppe sind insbesondere Rückenprobleme aus dem Bereich »Probleme des MuskelSkelettsystems« gravierend. In Deutschland leiden etwa 40% der erwachsenen Bevölkerung unter Rückenschmerzen (Punktprävalenz). Betrachtet man den Zeitraum eines Jahres (Periodenprävalenz) sowie die gesamte Lebensspanne (Lebenszeitinzidenz), sind sogar 70% bzw. 80% der Menschen von Rückenschmerzen betroffen. Aus dem Bereich »Probleme des Herz-Kreislaufsystems« ist Hypertonie, aus dem »psychosomatischen Problembereich« ist Übergewicht jeweils ein weiteres Beispiel für »Volkskrankheiten«, bei denen zielgruppenbezogen zu intervenieren ist (z.B. Tiemann, Brehm & Sygusch, 2003). Die AG der Spitzenverbände der Krankenkassen hat in ihren Leitlinien zur Umsetzung von §20 Abs. 1 und 2 SGB V im Jahre 2003 diese Differenzierung
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B · Prävention und Lebenswelten
von zentralen Zielgruppen übernommen. Davon ausgehend können für einzelne Gesundheitssportprogramme Zielgruppen weitergehend konkretisiert werden, auch über Einbeziehung weiterer Merkmale wie z.B. Alter, Geschlecht oder Vorerfahrungen. Die im Hinblick auf Effizienz notwendige hohe Strukturiertheit von Gesundheitssportprogrammen kann – im Rahmen des bislang umrissenen Konzepts der Qualitäten von Gesundheitssport – durch Vorgaben, bzw. durch Module erreicht werden 4 die auf die Voraussetzungen der Teilnehmer (Zielgruppen) bezogen sind; 4 die konsistent an den Kernzielen von Gesundheitssport ausgerichtet und entsprechend strukturiert sind; 4 deren Implementierung und Durchführung, vor allem durch eine spezifische Ausrichtung auf Institutionen und deren Vernetzung, erleichtert ist; 4 die auf ihre Durchführbarkeit und ihre Wirksamkeit hin überprüft worden sind. Die Vorgaben und Module müssen im Regelfall als (Übungsleiter)Manual publiziert sein, damit sie für den Übungsleiter, bzw. den Sportlehrer oder den Sporttherapeuten ein Rahmenkonzept für seine individuelle Arbeit mit Gruppen darstellen. (Vgl. Brehm, Bös, Opper & Saam, 2002, 26/27) Wie eine Analyse im Auftrag des Deutschen Sportbundes zeigte (Brehm, Bös, Opper & Saam, 2002), gab es bis zum Jahr 2000 in Deutschland allerdings nur relativ wenige Gesundheitssportprogramme, die die genannten inhaltlichen Anforderungen erfüllten. Zieht man weitergehend die Forderung nach einer Sicherung der Gesundheits- und Verhaltens-Effekte des Programms mit ein, dann reduziert sich die Zahl an »qualitätsgesicherten Gesundheitssportprogrammen« bis heute auf wenige (vgl. auch Mühlig & Tempel, 2004). Ein Beispiel für ein Programm, das die obigen Anforderungen erfüllt und umfassend evaluiert ist, ist das Programm »Gesund und Fit« (Brehm, Pahmeier & Tiemann, 2001, Brehm, Janke, Sygusch Wagner, 2005; Brehm, Wagner, Sygusch, Hahn, Janke, 2005).
5 Qualitätssicherung und Evidenzbasierung Was die Qualitätssicherung anbelangt, so gelten für den Bereich des Gesundheitssports grundsätzlich dieselben Qualitätsanforderungen, wie für das Ge-
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sundheitssystem insgesamt (vgl. dazu z.B. Badura, Grande, Janßen & Schott, 1995; BZgA, 2001; Huber & Baldus, 1999; v. Troschke, 2001): Ergebnisqualität: Hier sind insbesondere Ziele festzulegen und zu begründen (s.o. Kernziele); weiterhin gilt es Zielgruppen zu umreißen sowie – falls möglich – Standards zur Konkretisierung von Zielen und Zielgruppen zu definieren. Im Gesundheitssport sind damit beispielsweise Angaben zum Umfang der Verbesserungen bei der Fitness gemeint oder Angaben zu den Einschluss- und Ausschlusskriterien bei den Zielgruppen. Prozess- und Strukturqualität: Mit Qualitätsanforderungen im Hinblick auf Prozesse und Strukturen soll die Zielrealisation bestmöglich gesichert werden. Dies bedeutet im Gesundheitssport beispielsweise die Festlegung von zielgruppenadäquaten Methoden und Inhalten; die Verschriftung von zentralen Programmbausteinen in Manualen für den Übungsleiter, bzw. den Sportlehrer oder Therapeuten; eine adäquate räumliche und sächliche Ausstattung; bestqualifizierte Übungsleiter mit spezieller Programmeinweisung; Vernetzungen von Gesundheitssportprogrammen mit andern Angeboten innerhalb der Institution oder außerhalb, bzw. auch mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens; ein aktivierungsrelevantes Marketing der Angebote; die Einrichtung von Qualitätszirkel. Evaluationsqualität: Auf dieser Ebene der Qualitätsanforderungen sind Studi-
en zu realisieren, um den wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, dass die Ziele mit Hilfe eines daran orientierten Gesundheitssportprogramms, bzw. im Rahmen weiterer definierter Prozesse und Strukturen erreicht werden können. Aus dem medizinischen Bereich wird an den Gesundheitssport in den letzten Jahren weitergehend die Forderung nach einer Evidenzbasierung insbesondere der Gesundheitssportprogramme herangetragen. Vergleicht man die skizzierten Anforderungen einer Qualitätssicherung mit jener einer Evidenzbasierung (z.B. Arbeitsgemeinschaft Cochrane Collaboration Schweiz, 1995; McQueen, 2002; Oxford Center for Evidence Based Medicine, 2003), so lassen sich Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede feststellen: 4 Übereinstimmend ist die Forderung nach bestmöglicher Ergebnis-, Prozess und Strukturqualität – für den Evidenzansatz kann hier auch von Income (oder Input-) Evidenz gesprochen werden. Dazu zählt eine klare Problem-
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B · Prävention und Lebenswelten
definition, eine eindeutige Festlegung und zwingende Begründung von Zielen, eine Festlegung und Begründung des Interventionskonzeptes (bzw. seiner Module, Strukturen, Konzepte). 4 Übereinstimmend ist auch die Forderung nach bestmöglicher Evaluation der Maßnahmen. 4 Unterschiedlich ist, dass im Rahmen einer evidenzbasierten Medizin eindeutige Standards zur Bewertung der Güte der erreichten (Outcome- bzw. Output-) Evidenz festgelegt sind (vgl. z.B. Oxford Center for Evidence Based Medicine, 2003). Die fünf Evidenzstufen beginnen auf einer untersten Stufe V, auf der Konsensuskonferenzen, Expertenmeinungen oder narrative Übersichten als Maßnahmen zur Evaluation genügen. Auf der obersten Stufe I werden zumindest einzelne randomisierte und kontrollierte Untersuchungen gefordert, besser systematische Reviews solcher Studien. Bei kritischer Betrachtung können für den Bereich des Gesundheitssports – in dem es auch um Verhaltens- bzw. Verhältnisintervention geht – Evidenzen maximal auf der Stufe IIa (nicht randomisierte, kontrollierte Studien hoher Qualität und Reviews solcher Studien) erreicht werden. Untersuchungen von Verhaltensänderungen sind in randomisierten Gruppen – insbesondere wegen der langen Zeitspannen – ethisch nicht vertretbar und auch technisch kaum durchführbar. Zur Sicherung der Qualität haben die großen Sportverbände DSB und DTB für ihren Gesundheitssport Qualitätsanforderungen formuliert, die durch die Vergabe von Qualitätssiegeln (DSB 2000; DTB 2003) bestätigt werden. Allerdings sind diese Qualitätsanforderungen – auch im Hinblick auf die IncomeEvidenz – als relativ niedrig zu bewerten.
6 Ausblick Der Beitrag sollte mögliche Strukturen eines Gesundheitssports verdeutlichen, der effizient auf gesundheitsförderliche Effekte bei Zielgruppen mit spezifischen Risiken und gesundheitlichen Problemen ausgerichtet ist. Präventiv zentral erscheint dabei die große Gruppe von Personen mit dem Risikofaktor Bewegungsmangel. Speziellere Zielgruppen von Gesundheitssport ergeben sich vor dem Hintergrund von Risiken im Bereich des Muskel-Skelettsystems, im Bereich des Herz-Kreislaufsystems und des metabolischen Bereichs sowie im
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psycho-somatischen Bereich. Wie die Ausführungen zu den Kernzielen verdeutlichen sollten, kann begründet davon ausgegangen werden, dass durch Gesundheitsport nur dann nachhaltige Gesundheitswirkungen erzielt werden können, wenn durch das Verhalten und die Verhältnisse entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden. Weitergehend wurden spezifische Abhängigkeiten herausgestellt zwischen der Minderung von Risikofaktoren und der Stärkung von physischen Gesundheitsressourcen (Fitnessfaktoren) einerseits sowie der Bewältigung von Beschwerden und der Stärkung psychosozialer Ressourcen andererseits. D.h. das – bislang häufig noch übliche – Heranziehen der bei sportlicher Aktivität verbrauchten Kalorien als Qualitätsmerkmal von Interventionen greift in dreifacher Weise zu kurz: 4 Es ist einseitig am Modell der Risikofaktoren (des Herz-Kreislauf-Systems) orientiert. 4 Der Aspekt der Lebensqualität und des Wohlbefindens kommt zu kurz. 4 Es berücksichtigt nicht die Notwendigkeit des Aufbaus von Bindung als Voraussetzung einer Stärkung von physischen Gesundheitsressourcen – und damit auch einer Minderung von Risikofaktoren. Effizienter Gesundheitssport setzt Professionalität in medizinischer, in Verhaltens- und in Sportbezogener Hinsicht voraus; ebenso eine Qualitätssicherung auf hohem Niveau. Literatur Abele, A. & Becker, P. (Hrsg.) (1994). Wohlbefinden – Theorie, Empirie, Diagnostik (2.Aufl.). Weinheim: Juventa Abu-Omar, K., Rütten, a. & Robine, J.-M. (2004). Self-rated health and physical activity in the European Union. Sozial- und Präventivmedizin, 49, 235–242 AG der Spitzenverbände der Krankenkassen (2003). Gemeinsame und einheitliche Handlungsfelder und Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 1 und 2 SGB V (in der Fassung vom 12.09.2003) Ainsworth, B. E., Jacobs, D.R. & Leon, A.S. (1993). Validity and reliability of the self-reported physical activity status. Medicine and Science in Sports and Exercise, 25, 92–98 American College of Sports Medicine (1998). The recommended quantity and quality of exercise for developing and maintaining cardiorespiratory and muscular fitness and flexibilty in healthy adults. Medicine and Science in Sports and Exercise., 30, 975–991 American College of Sports Medicine (2000). ACSM´S guidelines for exercise testing and prescription (6th Ed.). Philadelphia etc: Lippincatt Williams & Wilkins Amisola, R. V. & Jacobson, M. S. (2003). Physical activity, exercise, and sedentary activity: Relationship to the Causes and Treatment of Obesity. Adolescent Medicine, 14:1, 23–35
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267 Gesundheitssport in Turn- und Sportvereinen
Gesundheitssport in Turnund Sportvereinen – ein Beitrag zur Förderung der öffentlichen Gesundheit Michael Tiemann* Abstract Die Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit sind nicht nur elementare individuelle Anliegen, sondern auch in vielerlei Hinsicht bedeutsame gesellschaftliche und sozialpolitische Ziele. Angesichts der dramatischen, für die öffentliche Gesundheit (Public Health) lange Zeit unterschätzten Folgen von Bewegungsarmut und körperlicher Inaktivität werden seit einiger Zeit von verschiedenen Institutionen und Organisationen verstärkt Anstrengungen zur Steigerung der körperlichen bzw. sportlichen Aktivität in der Bevölkerung unternommen sowie weitergehend spezifische Gesundheitssportprogramme für verschiedene Zielgruppen entwickelt und umgesetzt. In diesem Kontext spielen nicht zuletzt die Sportverbände sowie die fast 89 000 Turn- und Sportvereine, in denen rund 27 Millionen Menschen aus allen Altersgruppen organisiert sind, eine wichtige Rolle. Der Beitrag fokussiert zunächst auf grundsätzliche Potenziale körperlicher und (gesundheits-)sportlicher Aktivitäten zur Förderung der öffentlichen Gesundheit. Vor diesem Hintergrund werden dann Meilensteine der Entwicklung des Gesundheitssports im organisierten Sport seit Beginn der 1970er-Jahre nachgezeichnet, wichtige Maßnahmen zum Qualitätsmanagement beschrieben sowie insbesondere Bedeutung und Rolle der Turn- und Sportvereine in einem »Netzwerk Gesundheitssport« erörtert. Ferner wird auf den Ansatz der Lebenswelten orientierten Gesundheitsförderung (Setting approach) und den diesbezüglichen Beitrag der Turn- und Sportvereine als »gesunde Lebensorte« eingegangen.
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268
B · Prävention und Lebenswelten
Schlüsselworte: Sportvereine, Gesundheitssport, Public Health, Qualitäts-
management, Settingansatz
1 Einleitung Die Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit sind nicht nur elementare individuelle Anliegen, sondern auch in vielerlei Hinsicht bedeutsame gesellschaftliche und sozialpolitische Ziele (Schwartz 2003). Ein zentrales, nach Blair (2000) sogar das zentrale Gesundheitsproblem unserer Zeit, mit dem viele der heute vorherrschenden Krankheiten (z.B. Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes, psychische/psychosomatische Krankheiten) direkt oder indirekt zusammenhängen, stellt die zunehmende körperliche Inaktivität weiter Teile der Bevölkerung dar. In Deutschland sind – ebenso wie in anderen Industrieländern – mittlerweile etwa 80% bis 90% aller Erwachsenen (Woll 1998; Woll u. Tittlbach 1999) sowie bereits bis zu 20% der Kinder und Jugendlichen (Bös 2003; Bös et al. 2002; Kurz u. Tietjens 2000) von Bewegungsmangel betroffen. Angesichts dieser dramatischen, hinsichtlich ihrer Folgen für die öffentliche Gesundheit lange Zeit unterschätzten Entwicklung werden nunmehr von verschiedenen Institutionen und Organisationen verstärkt Anstrengungen zur Steigerung der körperlichen bzw. sportlichen Aktivität in der Bevölkerung unternommen sowie spezifische Gesundheitssportprogramme für verschiedene Zielgruppen entwickelt und umgesetzt. In diesem Kontext spielen nicht zuletzt die Sportverbände, mit dem Deutschen Sportbund (DSB) als Dachverband an der Spitze, sowie die fast 89 000 Turn- und Sportvereine, in denen rund 27 Millionen Menschen aus allen Altersgruppen organisiert sind, eine wichtige Rolle (Banzer u. Bürklein 2003; Hartmann et al. 2002). Der vorliegende Beitrag fokussiert zunächst auf Potenziale körperlicher und (gesundheits-)sportlicher Aktivität zur Förderung der öffentlichen Gesundheit (Kap. 2). Vor diesem Hintergrund werden dann die Entwicklung des Gesundheitssports im organisierten Sport seit Beginn der 1970er-Jahre (Kap. 3), wichtige Maßnahmen zum Qualitätsmanagement (Kap. 4) sowie Bedeutung und Rolle der Turn- und Sportvereine in einem »Netzwerk Gesundheitssport« beschrieben (Kap. 5). Danach wird auf den Ansatz der Lebenswelten orientierten Gesundheitsförderung und den diesbezüglichen Beitrag der Turn- und Sport-
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vereine als »gesunde Lebensorte« eingegangen (Kap. 6) sowie ein kurzes Resümee gezogen (Kap. 7).
2 »Gesundheitssport« als Element eines New Public Health-Ansatzes Lange Zeit wurden populationsbezogene Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung von einem medizinischen Public Health-Modell dominiert. Dieses stellt Krankheiten in den Mittelpunkt der Betrachtung und sucht die Ursachen für Gesundheitsstörungen hauptsächlich im mikrobiologischen Bereich der Individuen. Demzufolge beziehen sich die präventiven Maßnahmen in erster Linie auf die Identifizierung und Beeinflussung einzelner Risikofaktoren. Dieses Modell der öffentlichen Gesundheit erscheint jedoch in zunehmendem Maße als ineffizient und wird immer mehr infrage gestellt: »Einer Maximierung von Kosten steht eine Minimierung von Wirkungen gegenüber; die verfügbaren Ressourcen werden auf das Kurieren von Symptomen konzentriert, während die Ursachen aktueller Gesundheitsprobleme weitgehend unberührt bleiben« (Rütten 1998a, S. 6). Angesichts der deutlich zu Tage tretenden Grenzen des medizinischen Public Health-Modells werden seit Beginn der 1970er-Jahre alternative Ansätze zur Förderung der öffentlichen Gesundheit erarbeitet und auf die gesundheitspolitische Agenda gesetzt. Einen Meilenstein für die Entwicklung eines neuen Modells von Public Health stellte die Ottawa Charta für Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1986 dar. Darin wurde ein positives Verständnis von Gesundheit – als Ressource für erhöhte Lebensqualität – in den Vordergrund gerückt und insbesondere die Bedeutung einer gezielten Förderung physischer, psychischer und sozialer Gesundheitsressourcen sowie die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten hervorgehoben (vgl. Troschke et al. 1996, S. 182). Anders als beim »alten«, medizinischen Modell der öffentlichen Gesundheit steht beim New Public Health-Ansatz damit nicht mehr (nur) die Krankheitsverhütung, sondern die Gesundheitsförderung im Zentrum aller Bemühungen. Folgerichtig betrachtet dieses neue, gesellschaftliche Modell von öffentlicher Gesundheit auch nicht isoliert einzelne Risikofaktoren, sondern fokussiert auf komplexe gesundheitsrelevante Verhaltensmuster in der Bevölkerung, die mit verschiedenen – ökonomischen, ökologischen, sozialen, politischen und kultu-
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B · Prävention und Lebenswelten
rellen – Kontexten in Beziehung gesetzt werden (McQueen 1989a, b, 1996). Diese grundlegende Neuorientierung in der Förderung der öffentlichen Gesundheit hat Breslow (1999) auch als die dritte Public Health-Revolution – nach der Bekämpfung der Infektionskrankheiten und der Prävention von Risikofaktoren – bezeichnet. Heute ist unstrittig, dass körperliche und (gesundheits-)sportliche Aktivität ein großes gesundheitsförderliches Potenzial beinhalten und ein wichtiges Element einer Förderung der öffentlichen Gesundheit im Sinne der Paradigmen des New Public Health-Ansatzes darstellen können. Allerdings lassen sich auf der Grundlage vorliegender Meta-Analysen (Knoll 1997; Schlicht 1994, 2003) keine generellen Zusammenhänge zwischen sportlicher Aktivität und der physischen sowie der psychischen Gesundheit nachweisen. Ähnliches gilt vermutlich für viele körperliche Alltagsaktivitäten, wie z.B. solchen am Arbeitsplatz (Brehm u. Rütten 2004). D.h., Gesundheit stellt sich weder bei allgemein körperlicher noch bei sportlicher Aktivität »automatisch« ein. Gesundheitseffekte sind vielmehr abhängig von den Qualitäten der körperlich-sportlichen Aktivitäten bzw. auch von den Qualitäten der Verhältnisse, unter denen die Aktivitäten realisiert werden (z.B. im Rahmen eines angeleiteten, profilierten Gesundheitssportprogramms). Ferner zeigen längsschnittlich realisierte Evaluationen von Gesundheitssportprogrammen, dass eine nachhaltige Gesundheitswirksamkeit nur erreicht werden kann, wenn in das Interventionskonzept – wie für moderne Gesundheitsförderungsmaßnahmen generell gefordert – das Verhalten sowie die Verhältnisse einbezogen werden (Abele et al. 1997; Bös u. Brehm 1998, 2003; Bouchard et al. 1994; Brehm, Bös et al. 2002; Brehm et al. 2005; Wagner et al. 2004). Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse haben etwa seit Mitte der 1990erJahre Konzepte zur »Gesundheitsförderlichen körperlichen Aktivität« (vgl. hierzu den Beitrag von Brehm in diesem Band) sowie zum »Gesundheitssport« immer mehr an Bedeutung gewonnen. Das Konzept von Gesundheitssport bezieht sich dabei – im Unterschied zum praktisch alle muskulären Beanspruchungen umfassenden Konzept einer gesundheitsförderlichen körperlichen Aktivität – ganz gezielt »auf solche körperlichen Aktivitäten, die hoch strukturiert auf gesundheitsförderliche Effekte bei spezifischen Zielgruppen ausgerichtet sind« (Brehm u. Rütten 2004, S. 92). Gesundheitssport unterscheidet sich damit auch wesentlich von anderen, traditionell auf den Leistungsvergleich im Wettkampf ausgerichteten, Feldern des Sports und stellt einen genau umrisse-
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nen Ausschnitt aus gesundheitsförderlicher Aktivität im Schnittbereich von Sport- und Gesundheitssystem dar. Das aus den Forderungen der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung (WHO 1986) und der New Public Health-Diskussion abgeleitete »Konzept des Gesundheitssports« ist – insbesondere von Mitgliedern der Kommission Gesundheit der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) – sukzessive immer weiter ausdifferenziert und über sechs Kernziele konkretisiert und begründet worden (Bös u. Brehm 1998; Brehm 1997; Brehm et al. 1997; Brehm, Bös et al. 2002): 1. Stärkung physischer Gesundheitsressourcen, 2. Verminderung von Risikofaktoren, 3. Stärkung psychosozialer Gesundheitsressourcen, 4. Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden, 5. Bindung an gesundheitssportliches Verhalten, 6. Schaffung und Optimierung unterstützender Settings bzw. gesundheitsförderlicher Verhältnisse (ausführlich hierzu vgl. auch den Beitrag von Brehm in diesem Band). Kennzeichnend für das »Konzept von Gesundheitssport« sind weiterhin verschiedene Initiativen zur Verbesserung der Evidenzbasierung entsprechender Interventionen auf der Income- (Programme/ Aktivitäten) ebenso wie auf der Outcome-Seite (Effekte) (Brehm u. Bös 2003; Brehm u. Rütten 2004). In neuerer Zeit wurde dieses »Konzept von Gesundheitssport« sowohl von den großen deutschen Sportverbänden (DSB 2000; DTB 2003) als auch von den Spitzenverbänden der Krankenkassen (AG SpiK 2003) aufgegriffen und für ihre jeweiligen Qualitätsinitiativen verwendet.
3 Entwicklung des Gesundheitssports im organisierten Sport Obwohl Körperübungen bereits seit dem Altertum gesundheitsförderliche Wirkungen zugeschrieben werden (Krüger 1998; Lüschen 1998) und »Gesundheit« für drei Viertel aller Erwachsenen das zentrale Zugangsmotiv zu körperlicher bzw. sportlicher Aktivität darstellt (Woll et al. 2004), ist Prävention und Gesundheitsförderung im Sportsystem lange Zeit nur eine nachrangige Bedeutung beigemessen worden. Primäres Ziel des organisierten Sports ist traditionell der Leistungsvergleich im Wettkampf, für dessen erfolgreiches Bestehen nicht selten sogar Gefährdungen der Gesundheit toleriert und bewusst in Kauf genommen werden. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat sich das Angebotsspektrum der Vereine jedoch immer mehr erweitert und ausdifferenziert und umfasst heute
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B · Prävention und Lebenswelten
– neben den traditionellen Sportarten wie Ballspielen, Gerätturnen, Leichtathletik und Schwimmen – eine große Vielfalt an unterschiedlichsten Bewegungsformen. Einen wahren Boom erleben dabei seit Mitte der 1980er-Jahre gesundheitsorientierte Angebote, die bereits in vielen Turn- und Sportvereinen – besonders den Großvereinen – zum Standard gehören und zu einer wichtigen Säule des organisierten Sports geworden sind. Breuer (1999) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Zeit des Umbruchs des Sportsystems von der leistungs- zur gesundheitssportlichen Orientierung. Nach Hartmann et al. (2002) entwickelt sich durch die steigende Nachfrage nach Gesundheitssportangeboten im Verein allmählich ein »eigenständiges Gesundheitssystem im Sportsystem« (S. 43). Exakte Zahlen, wie viele Vereine bundesweit Gesundheitssport anbieten und wie viele gesundheitsorientierte Sport- und Bewegungsangebote es insgesamt gibt, liegen bislang allerdings (noch) nicht vor (Brehm, Bös et al. 2002). Erste Ansätze zur Erweiterung des traditionellen, am Wettkampfgedanken orientierten Sportverständnisses und zur Öffnung der Sportvereine für breite Bevölkerungsschichten stellen das im Jahr 1972 vom DSB-Bundestag verabschiedete Programm »Sport für alle« sowie die von 1970 bis 1994 durchgeführten Trimm-Aktionen des DSB dar. Hauptziel dieser Initiativen war, in der Bevölkerung ein verstärktes Bewusstsein zu entwickeln, dass Sport mehr ist als Wettkampfsport und möglichst jeder in seiner Freizeit sportlich aktiv sein sollte. Weiterhin sollten vermehrte und differenzierte Voraussetzungen zur Sportbetätigung geschaffen werden, um einen Sport für alle zu verwirklichen (DSB 1971). Der Erfolg der Trimm-Aktionen wird allerdings, je nach Standpunkt und Blickwinkel, unterschiedlich bewertet. Auf der einen Seite weisen Vertreter des DSB sowie andere Befürworter der Aktionen darauf hin, dass diese zu einem deutlichen Anstieg der Mitgliederzahlen und der Sportaktivität sowie zu einer Öffnung der Vereine für verschiedene, bis dahin nicht oder kaum erreichte Zielgruppen geführt haben (zusammenfassend Mörath 2005). Demgegenüber machen Experten insbesondere aus dem Bereich der Sportwissenschaft (z.B. Rütten 2004) deutlich, dass die Mitgliederentwicklung des DSB bereits in den fünf Jahren vor Beginn der Trimm-Aktion vergleichbare Zuwächse aufwies. Mörath (2005) kommt in ihrer umfangreichen Studie zu folgendem Resümee: »Tatsächlich lässt sich kaum quantifizieren, wie viele Menschen unmittelbar durch die Trimm-Aktionen zu vermehrter sportlich-körperlicher Aktivität angeregt wurden, inwieweit auch nichtaktive Bevölkerungsgruppen und nicht nur
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die ohnehin Aktiven im Verlauf der Trimm-Aktionen angesprochen und motiviert wurden. Die jährlichen EMNID-Untersuchungen zwischen 1970 bis 1984 lassen aufgrund ihres (zudem uneinheitlichen) Forschungsdesigns diesbezüglich nur vage Aussagen zu. Als gesichert kann gelten, dass die Trimm-Aktionen einen hohen Bekanntheitsgrad erreichten, der sich aber – wenn überhaupt – nur in einer mäßig erhöhten sportlichen Aktivierung der Bevölkerung niederschlug« (S. 71f.). Weitgehender Konsens besteht hingegen darüber, dass die Trimm-Aktionen die bis dahin vorherrschende Ausrichtung des organisierten Sports auf den Wettkampf- und Leistungssport relativiert und ein weiter gefasstes Sportverständnis ermöglicht haben (Fuchs 2003; Hartmann et al. 2002; Wopp 1995). Insofern können die Trimm-Aktionen, trotz ihrer wohl eher bescheidenen Auswirkungen auf das reale Sportverhalten der Bevölkerung, in gewisser Weise durchaus als Wegbereiter und »Katalysator« des Gesundheitssports angesehen werden. Einen ersten – verbandspolitischen – Meilenstein in der Entwicklung des Gesundheitssports im organisierten Sport stellt die im Dezember 1995 vom Hauptausschuss des DSB verabschiedete »Gesundheitspolitische Konzeption« dar (DSB 1995). Mit dieser Konzeption haben der DSB und seine Mitgliedsorganisationen den Bereich »Sport und Gesundheit« zu einer zentralen Zukunftsaufgabe der Verbände und Vereine erklärt. Auf der Grundlage der Forderung aus der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung der WHO (1986), möglichst alle Menschen zu befähigen, ihr Gesundheitspotenzial so gut wie möglich auszuschöpfen, wurde die Verpflichtung eingegangen, mittelfristig eine entsprechende Qualität der Angebote und der Ausbildung zu sichern. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Verabschiedung von »Qualitätskriterien zur Durchführung gesundheitsorientierter Angebote im Sportverein« durch den Bundesvorstand Breitensport des DSB im Januar 1996 (DSB 1996). Diese Kriterien bezogen sich dabei auf sechs Aspekte: 1. Zielsetzung der Angebote, 2. zielgruppengerechte Inhalte, 3. Qualifikation der Leiter, 4. Räumlichkeiten/Personenzahl, 5. Gesundheitsvorsorgeuntersuchung sowie 6. weiterführende Programmangebote. Ausgehend von diesen Grundlagen wurde die Zielsetzung, qualitativ hochwertige gesundheitsorientierte Sportprogramme flächendeckend in Deutschland über die Verbände und Vereine anzubieten, mit den DSB-Leitlinien »Gesundheitsprogramme im Sportverein« vom Dezember 1997 weiter konturiert (DSB 1997). Diese Leitlinien betonen insbesondere die Notwendigkeit eines einheitlichen Profils gesundheitsorientierter Sportprogramme (u.a. durch eine
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B · Prävention und Lebenswelten
Orientierung an Kernzielen) sowie einer Sicherung der Qualität der Angebote. Bei der Formulierung dieser Leitlinien konnte auf Erfahrungen des DTB mit seinem »Schwerpunktprogramm Gesundheitssport« und das hierzu 1996 vorgelegte Konzept »Gesundheitsförderung und Gesundheitssport im DTB« zurückgegriffen werden (DTB 1996). In diesem Konzept wurden als Gestaltungsschwerpunkte im gesundheitsorientierten Sport bereits in ähnlicher Weise u.a. eine differenzierte Bewertung vorhandener Angebote sowie eine schrittweise Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung gefordert. Von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung und Verbreitung des Gesundheitssports waren und sind ferner verschiedene Initiativen zur Verbesserung der Verhältnisse für die Durchführung von Gesundheitssport bzw. zum Aufbau eines entsprechenden Qualitätsmanagements. Wesentliche Schritte waren dabei die einheitliche Orientierung an »Kernzielen von Gesundheitssport« (vgl. Kap. 2; etwa seit 1998), die Einführung der Qualitätssiegel »Pluspunkt Gesundheit.DTB« (1994) und »SPORT PRO GESUNDHEIT« (2000), mehrmalige Modifikationen der Rahmenrichtlinien für die Übungsleiteraus- und -fortbildungen sowie die Einführung von Qualitätszirkeln für Übungsleiter im Gesundheitssport (2001). Auf diese wichtigen Bausteine des Qualitätsmanagements von Gesundheitssport wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen. Zusammenfassend sind wichtige (ausgewählte) Meilensteine in der Entwicklung des Gesundheits- bzw. des gesundheitsorientierten Sports in Tabelle 1 nochmals im Überblick dargestellt.
4 Qualitätsmanagement von Gesundheitssport im organisierten Sport Im Kontext der allgemeinen Anstrengungen zur Qualitätssicherung der Prävention und Gesundheitsförderung haben die Sportverbände vor einigen Jahren begonnen, qualitätssichernde Maßnahmen für Angebote im Gesundheitssport einzuführen. Neben dem DSB und einigen größeren Landessportbünden ist hier insbesondere der DTB1 zu nennen, der – neben zahlreichen weiteren Maßnahmen – im Jahr 2000 eigens für den Gesundheitssport einen wissenschaftlichen Beirat eingerichtet hat, dem führende Persönlichkeiten aus der Sportwissenschaft und dem Public Health-Bereich angehören2.
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. Tabelle 1. Wegbereiter und Meilensteine in der Entwicklung des Gesundheitssports 1972
DSB: Programm »Sport für alle«.
1970–94
DSB: »Trimm-Aktionen« – »Trimm Dich durch Sport« (1970–74); »Ein Schlauer trimmt die Ausdauer« (1975–78); »Spiel mit – da spielt sich was ab« (1979–82); »Trimming 130 – Bewegung ist die beste Medizin« (1983–86); »Im Verein ist Sport am schönsten« (1987–94).
1993
DTB: Beginn des »Schwerpunktprogramms Gesundheitssport«.
1994
DSB: »Leitfaden Sport und Gesundheit für Fachverbände und Landessportbünde«; Rahmenrichtlinien für den Ausbildungsgang »Sport in der Prävention und Rehabilitation«. DTB: Qualitätssiegel »Pluspunkt Gesundheit.DTB«.
1995
DSB: »Gesundheitspolitische Konzeption« – Verpflichtung, auf der Grundlage der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung (WHO 1986) die Qualität der Angebote und der Ausbildung zu verbessern und zu sichern. DSV: Qualitätssiegel »Gesund & fit im Wasser«.
1996
DSB: »Qualitätskriterien zur Durchführung gesundheitsorientierter Angebote im Sportverein«; WIAD-Studie »Sport und Gesundheit« – Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Ärzte Deutschlands im Auftrag des DSB. DTB: Konzept »Gesundheitsförderung und Gesundheitssport im DTB«.
1997
DSB: Leitlinien »Gesundheitsprogramme im Sportverein«; Rahmenrichtlinien zur Aufteilung der Ausbildungsgänge in Übungsleiter »Sport in der Prävention« und »Sport in der Rehabilitation«.
1997–98
Expertise »Gesundheitsorientierte Sportprogramme im Verein« (Bös, Brehm, Opper u. Saam) im Auftrag des DSB – Veröffentlichung 2001: Gesundheitssportprogramme in Deutschland. Hofmann, Schorndorf.
6
1
2
Der DTB, mit über 5 Millionen Mitgliedern der zweitgrößte Fachverband des Sports, hat seit den 1990er-Jahren die Verbreitung von Gesundheitssport zu einem Schwerpunkt seiner Verbandsarbeit erklärt. Zur Unterstreichung dieser Schwerpunktsetzung hat sich der Verband 1992 umbenannt in »DTB – Verband für Leistungs-, Freizeit- und Gesundheitssport«. Dem wissenschaftlichen Beirat‚ »Gesundheitssport« des DTB gehören zurzeit (2005) an: Prof. Dr. K. Bös (Universität Karlsruhe), Prof. Dr. W. Brehm (Universität Bayreuth), Prof. Dr. C. Breuer (Deutsche Sporthochschule Köln), Prof. Dr. I. Pahmeier (Universität Vechta), Dr. H.-J. Schulke (Bundesvereinigung für Gesundheit), Dr. M. Tiemann (DTB) und Prof. Dr. J. v. Troschke (Universität Freiburg).
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B · Prävention und Lebenswelten
. Tabelle 1. Fortsetzung 1999
DSB: Politische Vertretung der Sportorganisationen bei der Formulierung des »Leitfadens der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 SGB V«.
1999– 2002
Forschungsprojekt des Instituts für Sportwissenschaft der TU Darmstadt »Qualitätsmanagement von Gesundheitssport im Verein« (Hartmann, Opper u. Sudermann) im Auftrag des DTB (mit finanzieller Unterstützung des DSB).
2000
DSB: Bundeseinheitliches Qualitätssiegel »SPORT PRO GESUNDHEIT« – gemeinsam mit der Bundesärztekammer in Abstimmung mit dem DTB, dem DSV und den Landessportbünden. DTB: Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats‚ »Gesundheitssport«.
2001–02
DTB: 20 Modell-Qualitätszirkel für »Pluspunkt«-Übungsleiter; Neukonzeption der Übungsleiterausbildung – insbesondere »Stärkung psychosozialer Ressourcen« (Brehm, Pahmeier, Tiemann, Ungerer-Röhrich, Wagner u. Bös 2002).
2003
DSB: Qualitätssiegel »SPORT PRO REHA« – in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer, dem Deutschen Behindertensportverband und dem DTB.
2004
DSB: »Praxisleitfaden Qualitätszirkel«.
Drei wesentliche, im Folgenden etwas weiter ausgeführte Module des Qualitätsmanagements von Gesundheitssport im Bereich des organisierten Sports sind »Qualitätssiegel« (Kap. 4.1), »Qualitätsgesicherte Programme« (Kap. 4.2) und »Qualitätszirkel« (Kap. 4.3).
4.1 Qualitätssiegel für gesundheitsorientierte Sportangebote Seit Mitte der 1990er-Jahre existieren Qualitätssiegel im Gesundheitssport, mit denen Sportverbände bestimmte Angebote (nicht Vereine) auszeichnen. Als erster Fachverband hat der DTB im Jahr 1994 mit dem »Pluspunkt Gesundheit. DTB« ein solches Qualitätssiegel für gesundheitsorientierte Sport- und Bewegungsangebote im Verein entwickelt (DTB 1996). Es folgte der Deutsche
277 Gesundheitssport in Turn- und Sportvereinen
Schwimm-Verband (DSV), der seine gesundheitsorientierten Angebote seit 1995 mit dem Siegel »Gesund & fit im Wasser« auszeichnet. Im Jahr 2000 hat dann der DSB, gemeinsam mit der Bundesärztekammer sowie in Abstimmung mit dem DTB, dem DSV und den Landessportbünden, mit »SPORT PRO GESUNDHEIT« eine Dachmarke für Qualitätssiegel im Gesundheitssport eingeführt (DSB 2000). Mit diesen Qualitätssiegeln soll einerseits nach außen deutlich gemacht werden, dass Turn- und Sportvereine über qualitativ hochwertige gesundheitsorientierte Sportangebote verfügen. Darüber hinaus sollen die Siegel andererseits eine Orientierungshilfe für alle diejenigen darstellen, die an Gesundheitssport interessiert sind und ein passendes Angebot für sich suchen. Die zertifizierten gesundheitsorientierten Angebote können im Internet unter www. pluspunkt-gesundheit.de und www.sportprogesundheit.de abgerufen werden. Die Zertifizierung der Angebote orientiert sich an folgenden acht Qualitätskriterien (ausführlich vgl. DSB 2000, 2002; DTB 2003): (1) Die Angebote sollen eine ganzheitliche Zielsetzung aufweisen, d.h. an den Kernzielen von Gesundheitssport (Stärkung von physischen Gesundheitsressourcen, Verminderung von Risikofaktoren, Stärkung von psychosozialen Ressourcen und Wohlbefinden, Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden, Herausbildung eines gesunden Lebensstils; vgl. hierzu auch den Beitrag von Brehm in diesem Band) orientiert sein. (2) Zu den Angeboten soll eine spezifizierte Maßnahmenplanung mit einer genauen Beschreibung der Inhalte, Zielgruppe und Belastungsvorgaben vorliegen. (3) Die Angebote sollen von qualifizierten Übungsleitern mit einer Ausbildung auf der zweiten Lizenzstufe »Sport in der Prävention« oder »Sport in der Rehabilitation« durchgeführt werden. (4) Fortlaufende ebenso wie zeitlich begrenzte Angebote sollen durch einheitliche Organisationsstrukturen gekennzeichnet sein. So sollen Kursangebote z.B. wenigstens 12 Einheiten umfassen und mindestens einmal wöchentlich durchgeführt werden. (5) Teilnehmern – insbesondere Neu- und Wiedereinsteigern – über 35 Jahre soll die Teilnahme an Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen empfohlen werden. (6) Die Übungsleiter sollen den Teilnehmern Informationen und Rückmeldungen zum Kurs (z.B. über Zusammenhänge zwischen sportlicher Aktivität und Gesundheit) und zu ihren persönlichen Fortschritten geben.
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B · Prävention und Lebenswelten
(7) Weiterhin sollen die Übungsleiter Maßnahmen zur Qualitätssicherung, Dokumentation und Evaluation des Angebots (z.B. Ausfüllen eines Dokumentationsfragebogens, Befragung der Teilnehmer) durchführen. (8) Die Vereine sollen eine Vernetzung mit anderen kommunalen Akteuren und Einrichtungen (z.B. niedergelassenen Ärzten, Krankenkassen, Schulen, Kindergärten, Gesundheitsämtern, Kommunen) anstreben. Seit der Einführung des ersten Qualitätssiegels für gesundheitsorientierte Sportangebote – des »Pluspunkt Gesundheit.DTB« – im Jahr 1994 wurden weit über 30 000 Angebote zertifiziert. Dazu ist allerdings kritisch anzumerken, dass letztlich nur die Übungsleiterqualifikation ein »hartes«, weil nachzuweisendes Kriterium darstellt. Die Erfüllung aller anderen Kriterien wird mittels eines Antragsbogens lediglich abgefragt, aber nicht weiter überprüft. Objektiv betrachtet, sind die Anforderungen der Qualitätssiegel somit als relativ niedrig zu bewerten. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Spitzenverbände der Krankenkassen Angebote mit dem Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT nur dann als erstattungsfähige Leistungen im Rahmen der Primärprävention (§ 20 Abs. 1 SGB V) anerkennen, wenn diese weiterhin auch alle anderen im GKVLeitfaden (AG SpiK 2003) genannten Kriterien (insbesondere Vorliegen von Trainermanual und Teilnehmerunterlagen, Nachweis der Wirksamkeit des Programms im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation) erfüllen.
4.2 Qualitätsgesicherte Programme Wie bereits ausgeführt (vgl. Kap. 2), ist Gesundheitssport ein hoch strukturiert auf gesundheitliche Effekte ausgerichteter Ausschnitt aus gesundheitsförderlicher körperlicher Aktivität im Schnittbereich von Sport- und Gesundheitssystem. Gesundheitssportprogramme umfassen dabei spezifische Interventionskonzepte, mit denen die Kernziele von Gesundheitssport Zielgruppen gerecht und möglichst weitgehend evidenzbasiert auf der Income- (Programme/Aktivitäten) und der Outcome-Seite (Effekte) angesteuert werden. Die Income- (oder Input-)Evidenz von Gesundheitssportprogrammen kann insbesondere gesichert werden durch: 4 einen stringenten Zielgruppenbezug. 4 eine schriftliche Fixierung des Programms (im Normalfall als Trainermanual).
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4 Vernetzung und adäquate institutionelle Bedingungen. 4 Aus- und Fortbildung der Kursleiter. Die Outcome- (oder Output-)Evidenz der jeweiligen Programme kann sichergestellt werden insbesondere durch: 4 die praktische Erprobung ihrer Durchführbarkeit und 4 die Evaluation ihrer (Gesundheits- und Verhaltens-)Effekte (im Idealfall durch kontrollierte Längsschnittstudien mit parallelisierten Interventionsund Kontrollgruppen) (AG SpiK 2003; Brehm u. Bös 2004; vgl. auch Brehm in diesem Band). Zur möglichst lückenlosen Erfassung aller in Deutschland publizierten bzw. zugänglichen Gesundheitssportprogramme hat der DSB im Jahr 1997 die Expertise »Gesundheitsorientierte Sportprogramme im Verein« bei unabhängigen Sportwissenschaftlern (Brehm, Bös, Opper u. Saam) in Auftrag gegeben. Im Rahmen dieser Erhebung wurde zunächst eine umfassende Literatur- und Internetrecherche durchgeführt. Um darüber hinaus auch (bislang) nicht veröffentlichte Programme in die Analyse einbeziehen zu können, erfolgte weitergehend eine schriftliche Befragung der Sportverbände sowie weiterer Institutionen (Krankenkassen, sportwissenschaftliche Institute etc.), die potenziell als Anbieter, Träger bzw. »Urheber« von gesundheitsorientierten Sportprogrammen auftreten (N=699). Zudem wurden auch die »Vereine des Freiburger Kreises« (N=158), d.h. die größeren deutschen Sportvereine, in die Erhebung einbezogen (Brehm, Bös et al. 2002). Diese Ende 2000 abgeschlossene Studie hat ergeben, dass es in Deutschland nur relativ wenige Programme gibt, die die oben genannten Anforderungen allein im Hinblick auf eine »Income-Evidenz« durchgängig erfüllen. Legt man darüber hinaus das Kriterium der »Outcome-Evidenz« – d.h. eines Wirksamkeitsnachweises des Programms in Bezug auf Gesundheits- und Verhaltensparameter – als Qualitätsmaßstab an, dann verringert sich die Zahl der Programme noch einmal erheblich (Brehm, Bös et al. 2002; vgl. auch Mühlig u. Tempel 2004). In diesem Kontext ist das Engagement des DTB hervorzuheben, der sich zusammen mit seinem wissenschaftlichen Beirat »Gesundheitssport« um eine Verbesserung der Situation durch die Herausgabe von Trainermanualen in einer eigenen Buchreihe (Verlag Meyer & Meyer) bemüht.
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4.3 Qualitätszirkel Qualitätszirkel sind ein elementarer Baustein eines modernen, umfassenden Qualitätsmanagements. Als Instrument zur internen Qualitätssicherung sind sie in der industriellen Produktion schon lange bekannt und erfolgreich angewandt worden (Bungard 1992; Deppe 1992). Seit einigen Jahren finden Qualitätszirkel zunehmend auch in vielen Bereichen der Medizin und des Gesundheitswesens Anwendung, um die Qualität der jeweiligen Interventionen zu steigern bzw. zu sichern (Ollenschläger 2001). In erster Linie geht es bei Qualitätszirkeln »um eine kritische Selbstüberprüfung des eigenen Handelns und der das Handeln beeinflussenden Rahmenbedingungen, um Selbstentwicklung, gegenseitige Entwicklung, Kontrolle und Entwicklung des Arbeitsgebietes und um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Sinne des Qualitätsmanagements« (Schalnus et al. 2004, S. 5). Im Bereich des Gesundheitssports wurde das Instrument der Qualitätszirkel erstmals durch den DTB eingesetzt, der im Jahr 2001 bundesweit 20 ModellQualitätszirkel für »Pluspunkt«-Übungsleiter einrichtete und durch das Institut für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt evaluieren ließ. Aufgrund der positiven Ergebnisse dieser Studie (vgl. hierzu Hartmann et al. 2002) wurde seitens des DTB und des DSB fortan mit dem Aufbau und der dauerhaften Einrichtung von bundesweiten Qualitätszirkeln für Übungsleiter im Gesundheitssport begonnen. Anders als bei der traditionellen Aus- und Fortbildung der Übungsleiter – die in den letzten Jahren mehrfach modifiziert und an neue Entwicklungen im Bereich des Gesundheitssports, z.B. die stärkere Betonung psychosozialer Ressourcen, angepasst wurde – stehen bei Qualitätszirkeln der Austausch von Wissen und Erfahrungen sowie das gemeinsame Erarbeiten von Problemlösungen im Vordergrund. Im Einzelnen ergeben sich insbesondere folgende zentrale Zielsetzungen für die Qualitätszirkel-Arbeit im Gesundheitssport (Hartmann et al. 2002, S. 146; vgl. auch Hartmann u. Opper 2000; Schalnus et al. 2004): 4 Sicherung der Kommunikation zwischen Verband, Vereinen und Übungsleitern. 4 Beschreibung, Rekonstruktion und Bewusstmachung des alltäglichen Handelns in der Übungspraxis. 4 Übungsleiter-Fortbildung im Sinne von Kompetenzschulung (vor allem Fach- und Sozialkompetenz).
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4 Hilfen für die Übungsleiter bei individuellen Schwierigkeiten und Problemen. 4 Unterstützung der Vereine bei der Entwicklung neuer Programme und beim Aufbau neuer Gruppen. 4 Kooperation und Vernetzung mit anderen Feldern der Gesundheitsförderung auf kommunaler Ebene. Da die Teilnehmer eines Qualitätszirkels einen ähnlichen Erfahrungshorizont haben und in vergleichbaren Situationen und Tätigkeiten stehen, erleben sie ähnliche Probleme. Die von Moderatoren geleiteten Zirkel verlaufen aus diesem Grund in der Hauptsache erfahrungsbezogen, d.h., die Qualitätszirkel-Teilnehmer sind als Experten anzusehen, die sich selbst und ihr Handeln in die Gespräche einbringen. Zudem wird in Qualitätszirkeln themenzentriert, zielgerichtet, systematisch und kontinuierlich gearbeitet (Bahrs 2001; Hartmann et al. 2002).
5 Turn- und Sportvereine als wichtige Partner in einem »Netzwerk Gesundheitssport« Im Sinne der Paradigmen des New Public Health-Ansatzes wird seit Beginn der 1990er-Jahre vermehrt gefordert, dass Gesundheitssport und Gesundheitssportprogramme – über rein verhaltensbezogene Maßnahmen hinaus – auch verhältnisbezogene Interventionen zu umfassen haben (z.B. Kolb 1995; Rütten 1993, 1998a, b). Deshalb stellt auch die »Schaffung und Optimierung unterstützender Settings bzw. gesundheitsförderlicher Verhältnisse« eines von insgesamt sechs Kernzielen des Gesundheitssports dar (vgl. Kap. 2 sowie den Beitrag von Brehm in diesem Band). Wichtige Elemente gesundheitsförderlicher Bewegungsverhältnisse sind entsprechend profilierte Gesundheitssportprogramme, qualifizierte Übungsleiter und Trainer, adäquate Räumlichkeiten und Geräte, Maßnahmen und Verfahren zur Qualitätssicherung und wissenschaftlichen Evaluation sowie – worauf hier etwas näher eingegangen werden soll – kommunale und regionale Vernetzungen und Kooperationen zwischen verschiedenen im Gesundheitssektor tätigen Akteuren und Institutionen (Brehm, Bös et al. 2002). In den letzten Jahren hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Gesundheitsförderung und Prävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
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B · Prävention und Lebenswelten
darstellen, die nur gemeinsam von einer Vielzahl von Akteuren, wie der Ärzteschaft, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, der Gesetzlichen Unfallversicherung, der Gesetzlichen Krankenversicherung etc., zu leisten ist. Die Turn- und Sportvereine sind dabei bislang noch wenig wahrgenommen und »die herausragenden Möglichkeiten dieser Species von Organisation [...] kaum verortet, erkannt oder gewürdigt worden« (Hartmann 1997, S. 13). Gleichwohl besitzen die Vereine ein großes gesundheitsförderliches Potenzial für die öffentliche Gesundheit, das Schulke (1998) wie folgt umreißt (vgl. auch Hartmann et al. 2002; Opper 2003): » 4 Ihre Popularität und soziale Akzeptanz erleichtert nahezu allen Bevölkerungsgruppen einen niedrigschwelligen Zugang zu den Angeboten. 4 Die in den Vereinen organisierte Bewegungs- und Sportaktivität ist den Menschen ›leibhaftig‹; Sport ist einer der großen Diskurse in der heutigen Gesellschaft und ermöglicht insofern thematisch viele Zugänge zur Gesundheit und gesunden Lebensführung. 4 Die Vereine als gemeinnützige Einrichtungen sind im Vergleich mit anderen Anbietern von gesundheitsfördernden Maßnahmen kostengünstig bzw. niedrigpreisig. 4 Die im Deutschen Sportbund organisierten Vereine bilden in den Städten wie in ländlichen Gemeinden ein flächendeckendes System. 4 Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft gewährleistet bedarfsgerechte Angebote. Die flexiblen Strukturen (sportart- und altersübergreifend) sichern ein rasches Eingehen auf neue gesundheitsbezogene Bedürfnisse und Motive. 4 Sie verstehen sich aufgrund ihrer Tradition und der gesundheitlichen Motive bei ihren Mitgliedern zumindest im weiteren Sinne bzw. unspezifisch als gesundheitsfördernde Einrichtungen. 4 In den Vereinen hat sich über 150 Jahre eine hohe Kompetenz für motorisches und soziales Lernen sowie eine große Organisationserfahrung angesammelt. 4 Ein in allen Regionen praktiziertes fachlich differenziertes und mehrstufiges Ausbildungssystem zur Laienkompetenz leistet ein hohes (oft semiprofessionelles) Niveau auch bei den gesundheitssportorientierten Angeboten, das durch hauptamtliche Kräfte in spezifischen Angeboten und Schlüsselfunktionen stabilisiert wird. 4 Die unterschiedlichen Angebotsformen von dauerhaften Sportgruppen und zeitlich befristeten Kursinhalten mit spezifischen Themen ermöglichen
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den unkomplizierten Wechsel zwischen Angeboten für aktuelle gesundheitliche Gefährdungen und solchen mit langfristigen sozialen Bindungen« (S. 136f.). Bei aller Heterogenität und dem nach wie vor bestehenden »Leistungsgefälle« im Bereich gesundheitsorientierter Sport- und Bewegungsangebote (Hartmann 1997), spricht also vieles für eine stärkere Nutzung des präventiven Potenzials der Turn- und Sportvereine und deren systematische Einbindung in ein »Netzwerk Gesundheitssport«. Als beispielgebend kann in diesem Zusammenhang das »Kooperative Konzept Gesundheitssport zur Förderung der öffentlichen Gesundheit« (KoKoSpo) genannt werden, das seit 1998 in Nordrhein-Westfalen (Landesteil Westfalen-Lippe) erfolgreich in der Fläche realisiert wird. Dieses kooperative Konzept sieht eine enge Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen (im konkreten Fall der AOK Westfalen-Lippe), niedergelassenen Ärzten sowie auf dem Gebiet des Gesundheitssports besonders engagierten Sportvereinen und Fitness-Studios vor. Ein besonderes Kennzeichen dieses Ansatzes ist die präzise Festlegung und Umgrenzung der jeweiligen – systematisch aufeinander abgestimmten – Aufgaben der Mitglieder des Netzwerkes sowie die genaue Beschreibung der einzelnen Schritte der Interventionsmaßnahmen (Tiemann et al. 2003a). Die spezifischen Aufgaben der Ärzte im Rahmen von »KoKoSpo« sind: 4 Diagnose und Zuordnung der in Frage kommenden Patienten zu den Programmen. 4 Information und Beratung der Patienten über die Gesundheitssportprogramme sowie über die physischen und psychischen Wirkungen einer Teilnahme an den Programmen. 4 Empfehlung und Motivation zur Teilnahme an den Programmen. 4 Soziale Unterstützung der Patienten vor und – wenn möglich – auch während der Kursteilnahme (z.B. durch interessierte Nachfragen). Die Krankenkassen (hier die AOK Westfalen-Lippe) haben im Rahmen dieses Konzepts insbesondere folgende Aufgaben: 4 Information der Ärzte über die Zielsetzung der Kooperation, die Teilnahmevoraussetzungen und Zielgruppen (Indikationen und Kontraindikationen), Struktur, Ziele und Inhalte der Programme, Maßnahmen zur Qualitätssicherung sowie ihre spezifischen Aufgaben.
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B · Prävention und Lebenswelten
4 Institutionalisierung und regelmäßige Durchführung der – als Einstiegsangebote konzipierten – Gesundheitssportprogramme (ggf. in Kooperation mit Turn- und Sportvereinen). 4 Sicherung der Qualität der Gesundheitssportprogramme und ihrer Durchführung. 4 Vernetzung/Kooperation mit Turn- und Sportvereinen zur Erleichterung bzw. Sicherstellung des Übergangs der Teilnehmer vom Kursangebot in ein adäquates Folge- bzw. Dauerangebot (Ziel: Aufbau von Bindung, Sicherung der Nachhaltigkeit). Den Turn- und Sportvereinen kommt insbesondere im Hinblick auf den Aufbau von Bindung an gesundheitssportliche Aktivitäten eine Schlüsselrolle zu. Ihre konkreten Aufgaben im Kontext von »KoKoSpo« sind: 4 Durchführung langfristiger Folgeangebote für die Teilnehmer an den Einstiegsprogrammen, im Idealfall mit den bestehenden Gruppen und ohne zeitliche Verzögerung (direkter Übergang vom Kurs- in ein Folgeangebot). 4 Integration von Angeboten und Teilnehmern in den Verein. 4 Sicherung der Qualität der Vereinsangebote durch entsprechende Programme, qualifizierte Übungsleiter, adäquate Räumlichkeiten und Rahmenbedingungen sowie ein kontinuierliches Qualitätsmanagement. Beim Übergang von den zeitlich befristeten Einsteigerprogrammen in entsprechende Folgeangebote kommt es dabei entscheidend darauf an, dass bekannte Barrieren (Orts-, Termin- oder Übungsleiterwechsel) möglichst konsequent vermieden werden. Deshalb werden die Einstiegsprogramme in der Regel bereits dort durchgeführt, wo auch entsprechende Fortsetzungsangebote vorgehalten werden. Des Weiteren wird versucht, Einstiegs- und Folgeprogramme so zu terminieren, dass sie am gleichen Wochentag und möglichst auch zur gleichen Uhrzeit stattfinden. Wenn der Übergang in ein Folgeangebot mit einem Übungsleiterwechsel verbunden ist, soll der Übungsleiter des Fortsetzungsangebotes an einer der letzten Einheiten des Einstiegsprogramms teilnehmen und sich auf diese Weise frühzeitig bei den Teilnehmern bekannt machen. Dadurch soll die Unsicherheit in Bezug auf die neue Übungsleitung abgebaut und diese potenzielle Hürde bereits während des noch laufenden Einstiegsprogramms überwunden werden. Die Evaluation des »kooperativen Konzepts« (Tiemann et al. 2002, 2003a, b) zeigt, dass dieses greift und erfolgreich in der Praxis umgesetzt werden kann. So
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ist es beispielsweise gelungen, in Westfalen-Lippe im Zeitraum von 1998 bis 2003 Kooperationen mit über 1000 niedergelassenen Ärzten aufzubauen und die Gesundheitssportprogramme dort flächendeckend zu institutionalisieren. Ferner konnten mit diesem Ansatz auch und vor allem solche Personengruppen erreicht werden, die einerseits gesundheitlich besonders gefährdet bzw. belastet, andererseits aber nur schwer zu erreichen und in Gesundheitssportprogrammen ansonsten deutlich unterrepräsentiert sind (z.B. Arbeiter und Handwerker, Arbeitsunfähige, Erwerbslose). Damit leistet das »kooperative Konzept Gesundheitssport« – dem Grundgedanken des New Public Health-Ansatzes entsprechend – nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen.
6 Turn- und Sportvereine als »gesunde Lebensorte« Moderne Ansätze zur Prävention und Gesundheitsförderung haben die Bedeutung der Lebenswelten von Menschen für die Entwicklung, Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit erkannt (Setting approach). Gemäß der Maxime, dass Gesundheit im Alltagskontext hergestellt wird, werden gesundheitsfördernde Maßnahmen deshalb an wichtigen Lebensbereichen ausgerichtet. Turn- und Sportvereine sind Lebenswelten mit einer langen Tradition, in denen Menschen aller Lebensalter nicht nur körperlich aktiv sind, sondern auch ihre psychosozialen Ressourcen entwickeln können. Als originärer Knotenpunkt befindet sich der Turn- und Sportverein in einem kommunalen Netzwerk mit unterschiedlichen Institutionen und Settings, die sich gegenseitig auch in der Entwicklung von gesunden Lebensstilen beeinflussen. Dabei kann der Verein auf einige Rahmenbedingungen von Gesundheit Einfluss nehmen: 4 Speiseangebote im Clubhaus oder am Getränkeautomaten verhindern oder ermöglichen die Auswahl gesundheitsfördernder Nahrungsmittel. 4 Mit der Architektur wird – u.a. durch Beschallung und Beleuchtung, Raumgröße und Farbgebung – auch das Wohlbefinden beeinflusst. 4 Ökologische Aspekte wie die Begrünung einer Anlage, schadstofffreie Baumaterialien, funktionierende Frischluftzufuhr können positive Auswirkungen auf die »Ökologie des Körpers« haben. 4 Sanitäre Einrichtungen wie komfortable Duschen, Entmüdungsbecken, Sauna und Ruheräume können den Gesundheitsgewinn intensivieren.
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Neben diesen Rahmenbedingungen, die in einem »Gesundheits-Audit« zusammengefasst und z.B. durch einen Vorstandsbeauftragten weiterentwickelt werden können, verfügt der Verein häufig über zahlreiche Kontakte mit gesundheitsfördernder Relevanz. So können z.B. durch die Zusammenarbeit mit Kinderärzten und Kindergärten frühzeitig Angebote für Kinder mit motorischen Dysbalancen gemacht, über Krankenkassen eher vereinsferne Zielgruppen angesprochen (vgl. Kap. 5), durch die Kooperation mit Schulen oder karitativen Einrichtungen die Fortsetzung von gesundheitsförderlichen Sportangeboten in den jeweiligen Einrichtungen sichergestellt werden (Bös et al. 2005).
7 Resümee Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das flächendeckende Angebot an Turn- und Sportvereinen in Deutschland ideale Voraussetzungen für eine – bewegungszentrierte – Förderung der öffentlichen Gesundheit im Sinne der Paradigmen des New Public Health-Ansatzes sowie moderner Konzepte der Lebenswelten orientierten Gesundheitsförderung bietet. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Ansätze zur Qualitätsentwicklung und -sicherung der Angebote des Gesundheitssports weiter entwickelt und strukturell noch mehr in den Sportverbänden und –vereinen verankert werden. Besonders wichtig sind in diesem Kontext die systematische Prüfung von Gesundheitssportprogrammen sowie deren flächendeckende Institutionalisierung und Umsetzung.
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291 Herausforderungen der Zukunft
Herausforderungen der Zukunft – Entwicklung des Turn- und Sportvereins als gesunder Lebensort Karin Fehres, Pia Pauly*
Abstract Der DTB verfügt – nach mehr als 10 Jahren intensiver Aufbauarbeit – über ein Qualitätsmanagementkonzept (mit Struktur-, Programm-, Prozess- und Ergebnisqualitäten), das auf die Verbands- und Vereinsarbeit zugeschnitten ist. Allein der Aufbau von durchgehenden Verbandsstrukturen, die Organisationsentwicklung und damit die einhergehende Personalentwicklung, hat viel Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Im Beitrag werden nun, ausgehend vom beschriebenen Status Quo, neue Herausforderungen und Aufgaben zur Entwicklung des Turn- und Sportvereins als gesunden Lebensort aufgezeigt. Dabei geht es um die systematische Entwicklung von qualitätsgesicherten Programmen, deren Prüfung und Bewertung und das Beeinflussen von Rahmenbedingungen für Turn- und Sportvereine zur Entwicklung zu einem gesunden Lebensort. Schlüsselworte: Turn- und Sportvereine, Gesundheitssport, Qualitätsgesicher-
te Programme, Akkreditierungsagentur, Setting, »Gesunder Turn- und Sportverein«
1 Einleitung Gesundheitssport ist im letzten Jahrzehnt zu einem der bedeutendsten Sektoren des Vereinssports herangewachsen und gehört im Deutschen Turner-Bund (DTB) und seinen Vereinen zu den stärksten Wachstumsfeldern. Als erste Sportorganisation hat der DTB bereits 1994 das Qualitätssiegel »PLUSPUNKT * e-mail:
[email protected]
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GESUNDHEIT. DTB« für präventive Gesundheitssport-Angebote im Verein geschaffen, das bisher bereits über 30.000 Mal verliehen wurde, wenn die Erfüllung bestimmter Qualitätskriterien nachgewiesen werden konnte. Eine große Hilfe bei der Entwicklung des Gesundheitssports im Verein war dabei die Definition der sechs Kernziele von Gesundheitssport von BREHM/ BÖS1 und die damit verbundene Entwicklung von qualitätsgesicherten Kursprogrammen für die inhaltliche Arbeit in den Vereinen und natürlich für die Konzeptentwicklung und konsequente Umsetzung der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen der Übungsleiter/innen und Trainer/innen in diesem Arbeitsfeld im DTB. Der DTB verfügt – nach mehr als 10 Jahren intensiver Aufbauarbeit – über ein Qualitätsmanagementkonzept (mit Struktur-, Programm-, Prozess- und Ergebnisqualitäten), das auf die Verbands- und Vereinsarbeit zugeschnitten ist. Allein der Aufbau von durchgehenden Verbandsstrukturen, die Organisationsentwicklung und damit die einhergehende Personalentwicklung, hat viel Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Der vorliegende Beitrag will nun vom beschriebenen Status Quo (siehe TIEMANN) neue Herausforderungen und Aufgaben aufzeigen, die zur Weiterentwicklung des Gesundheitssports im Verband und Verein beitragen und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit eines jeden Einzelnen liefern können.
2 Qualitätsgesicherte Programme In Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat »Gesundheitssport im DTB« hat der DTB in den vergangenen Jahren Gesundheitssportprogramme entwickelt. Diese Programme sind ausgerichtet auf spezifische Zielgruppen und setzen die Kernziele von Gesundheitssport möglichst zielgruppengerecht und weitgehend evidenzbasiert um. (vgl. Beitrag TIEMANN, Kap.4.2,). Zur Zeit verfügt der DTB über folgende qualitätsgesicherte Programme (siehe Tiemann, i.d.B.), für die auch die Anerkennung zur Förderung über den § 20 SGB V vorliegt: 4 Cardio Fit – Herz-Kreislauf-Training/indoor 4 Rücken Fit – Rückentraining 1
Siehe Beitrag BREHM »Gesundheitssport – Kernziele, Programme, Evidenzen«; i.d.B.
293 Herausforderungen der Zukunft
4 Gesund und Fit – Ganzheitliches Training 4 Walking – Herz-Kreislauf-Training/outdoor 4 Rückentraining – sanft und effektiv Die Herausforderung der nächsten Jahre definiert sich nun darin, die Entwicklung von qualitätsgesicherten Programmen systematisch in Hinblick auf spezifische Ziel- und Altersgruppen auszubauen und dabei auch spezifische Risikofaktoren zu berücksichtigen. Dabei müssen systematisch Zielgruppen identifiziert werden, die den Weg zum Sport noch nicht gefunden haben und/oder mit bestimmten Risikofaktoren behaftet sind. So steht es außer Frage, dass die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas gerade unter Kindern deutlich zunimmt. Zum Ausmaß und zu den Ursachen gibt es jedoch keine übereinstimmenden Befunde. Eine weitere wichtige Zielgruppe sind die Frauen. Der DTB hat zwar durch seine Sportarten Turnen und Gymnastik und der Schwerpunktsetzung auf den Gesundheitssport einen guten Zugang zu den Frauen – immerhin sind 70% der DTB-Mitglieder weiblich. Im organisierten Sport jedoch ist das Verhältnis im Organisationsgrad zwischen Männern und Frauen genau umgekehrt. Hier liegt ein großes Potenzial, das aufzuarbeiten ist – auch unter dem Aspekt der Migration. Ebenso sind qualitätsgesicherte Programme für ältere Menschen über 70 Jahre zu entwickeln, bei denen es um die Erhaltung und Sicherung der Selbständigkeit geht. Wer sich im Alter zu wenig bewegt, wird automatisch schwächer, unbeweglicher und unsicherer. Gezielte Bewegung hilft die Selbständigkeit im Alltag zu erhalten und Pflegebedürftigkeit zu verhindern bzw. hinauszuschieben. Die Entwicklung von qualitätsgesicherten und praxiserprobten Programmen ist daher dringend geboten und eine große Herausforderung für die nächsten Jahre. Diese Aufgabe mit der dazugehörigen Evaluation ist nicht nur langwierig, sondern auch kosten- und personalintensiv, so dass eine Sportorganisation allein damit überfordert ist. Hier gilt es in Zukunft, Modelle und Förderungsmöglichkeiten zu finden und Netzwerke auf allen Ebenen zu knüpfen, um effektiv und ökonomisch arbeiten zu können.
294
B · Prävention und Lebenswelten
3 Prüfung und Bewertung von qualitätsgesicherten Programmen Die Prüfung und Bewertung der oben genannten Gesundheitssportprogrammen im Hinblick auf ihre Evidenzbasierung ist an Voraussetzungen gebunden. Eine Mindestanforderung ist die Erfüllung einer ausreichend hohen Strukturqualität (Input-Evidenz), die u.a. eine konsequente Orientierung und inhaltliche bestmögliche Umsetzung der Kernziele voraussetzt. Die maximale Forderung ist der – zumindest exemplarisch erbrachte – Nachweis der Ergebnisevidenz (Output-Evidenz) in einer randomisiert kontrollierten Studie. Solche Studien können nur von unabhängigen wissenschaftlichen Institutionen durchgeführt werden. Für den Deutschen Turner-Bund ist es unerlässlich, geeignete, praxiserprobte und evidenzgesicherte Programme zu finden und/oder selbst zu entwickeln. Nur – wer prüft und bewertet diese Programme? Der DTB selbst, der sie dann als ›geprüft und für gut befindet‹ anpreist? Der seine Arbeit somit selbst prüft und auszeichnet? Oder ist es in diesem Falle nicht sinnvoller, eine unabhängige übergreifende Qualitätssicherungsinstitution einzurichten, die eine unabhängige und faire Bewertung angebotener Präventionsprogramme ermöglicht und damit zur Qualitätssicherung beiträgt? Eine solche Institution könnte wie eine Akkreditierungsagentur agieren und folgende Aufgaben erfüllen: 4 Die Entwicklung und Evaluation von Standards für Gesundheitssportprogramme, 4 Die Festlegung der Qualität von Gesundheitssportprogrammen auf der Grundlage transparenter Standards betreiben (Programmzertifizierung), 4 Hilfestellung leisten bei der Strukturentwicklungen in der Gesundheitsförderung durch Gesundheitssport (u.a. Ausbildungskonzepte). Mit Beiträgen zur Lösung dieser Aufgaben kann auf Forderungen aus dem Gesundheitswesen an einen qualifizierten Gesundheitssport reagiert werden. Die Bemühungen von Institutionen des Gesundheitswesens – insbesondere der Krankenkassen sowie unterschiedlicher ärztlicher Vereinigungen – zur Entwicklung eines qualitätsgesicherten Gesundheitssports können damit ebenso unterstützt werden, wie auch die zur Institutionalisierung eines Gesundheitssports notwendigen Kooperationen zwischen den Institutionen des Gesundheitswesens und des organisierten Sports. Die Arbeit dieser Akkreditierungsoder Zertifizierungsagentur könnte sich gerade auch als notwendige Ergänzung
295 Herausforderungen der Zukunft
zu den Bemühungen des DTB zur Verbesserung der Qualität im Gesundheitssport verstehen.
4 Turn- und Sportvereine als gesunder Lebensort Präventionsprogramme wie Gewichtsreduzierungskurse, Rückengymnastik oder Anti-Raucher-Angebote zielen auf die Veränderung individueller Verhaltensweisen. In der Gesundheitsförderung ist hinlänglich bekannt, dass maßgeblich für die dauerhafte Veränderung des Verhaltens entsprechende soziale Unterstützung in den jeweiligen Lebenswelten ist; die soziale und institutionelle Unterstützung im alltäglichen Leben ist hochwirksam für die Entwicklung eines gesunden Lebensstils. In aktuellen Überlegungen wird das Schwergewicht auf die Ausgestaltung von Settings (»gesunde Lebensorte« nach der WHO) gelegt, also kontinuierlich bestehende zusammenhängende Lebenswelten wie Familie, Kindergarten, Schule, Betrieb oder Wohngemeinde. Auch die Turn- und Sportvereine sind als »gesunde Lebensorte« benannt. Tatsächlich hat das Setting Turn- und Sportverein erhebliche Potentiale für eine umfassende Gesundheitsförderung, die nicht hinter Einrichtungen mit längerer Aufenthaltsdauer zurückstehen muss (Schulke, 1998): 4 Es gibt 89.000 Vereine in Deutschland mit rund 27 Millionen Mitgliedern, verteilt über das ganze Land. In jedem Ort in Deutschland gibt es mindestens einen Verein mit Bewegungsangeboten. 4 Sporttreiben ist die einzige Möglichkeiten der Selbstvergewisserung durch Bewegung,. Durch eigenes Erleben der Bewegung ist unmittelbar erfahrbar, was der Einzelne leisten kann; wer er ist! Und nicht nur, aber gerade für ältere Menschen gehört die wöchentliche Bewegungszeit oft zu den wichtigsten Stunden, auf die sie sich freuen. Jugendliche nehmen Ratschläge von ihren Trainern und Übungsleitern ernster als viele andere Verhaltensregeln von Eltern und Lehrern. 4 Die Mitgliedschaft in einem Turn- und Sportverein ist freiwillig. Die Handlungsalternative sich frei für die Gemeinschaft des Sports im Verein zu entscheiden, bürgt für eine sehr hohe Motivation und unterstützt das Anliegen Bewegung und Sport in den jeweiligen Lebensstil mit aufzunehmen. 4 Vereinsleben ist aufgrund seiner demokratischen Grundstruktur (alle Mitglieder sind gleichberechtigt) ein Ort offener sozialer Kommunikation auch
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4
4
4
4 4
B · Prävention und Lebenswelten
mit Themen, die über den Sport hinausgehen. In den Vereinen wird soziale Unterstützung organisiert, die gesundheitsstabilisierende Wirkung hat. Anders als z.B. im Kindergarten oder in der Schule sind Sportvereine generationenübergreifend, das heißt Familien mit Eltern und Kindern oder Großeltern und Enkeln kommen zusammen, Jüngere treffen Ältere oder neuerdings sogar Hochbetagte. Der Verein ist Ort des Austausches und der Bewertung unterschiedlicher Lebenserfahrungen. Als soziale Organisationseinheit bietet der Verein stabile Bewegungszeiten und Räume an, die verlässlich genutzt werden können und somit eine ständige Wiederholung der (gesundheitsfördernden) Bewegungsangebote ermöglichen. Diese bestehen – bei flexibler Anpassung – häufig über Jahre und Jahrzehnte. Durch die Zugehörigkeit zu einer festen Übungs- und/oder Trainingsgruppe steigt die Verbindlichkeit zur regelmäßigen Teilnahme. Und die dabei entstehenden gruppendynamischen Prozesse fördern auch psychosoziale Ressourcen. Der Verein verfügt in der Regel über eine räumliche Infrastruktur wie Clubhaus, Jugendraum, feste Treffpunkte im Freien (z. B. Lauftreffs), mit denen eine kontinuierlich soziale Kommunikation erleichtert wird. Neben den wöchentlichen Angeboten werden Ausflüge und Exkursionen organisiert und durchgeführt . Dies sind durchaus Gelegenheiten für neue Erfahrungen bei Ernährung, Hygiene, Kultur und körperlicher Belastung.
Insgesamt ist der Verein damit mehr als der Anbieter von Sportprogrammen im Gesundheitssport, Leistungssport und Freizeitsport (mit fließenden Übergängen zwischen diesen Bereichen). Er befindet sich als originärer Knotenpunkt in einem kommunalen Netzwerk mit unterschiedlichen Institutionen und Settings, die sich gegenseitig auch in der Entwicklung von gesunden Lebensstilen beeinflussen. Dabei kann der Verein auf bestimmte Rahmenbedingungen direkt Einfluss nehmen. (vgl. Beitrag TIEMANN, Kap. 6, i.d.B.). Darüber hinaus ergeben sich jedoch aus der Herausforderung »Turn- und Sportvereine als gesunde Lebensorte« auch neue Ansprüche an die Sportstätten. Rauchverbote an Schulen – wie sie jetzt in einzelnen Ländern eingeführt wurden - gelten auch in kommunalen Turn- und Sporthallen und zu Zeiten, in denen diese von Vereinen genutzt werden. Die den Sportstätten angegliederten Gastronomie-Einrichtungen sind den Maßgaben einer gesunden Lebenswelt anzugleichen. Die Infrastruktur von Sporteinrichtungen insgesamt und nicht
297 Herausforderungen der Zukunft
nur das reine Programmangebot sollte sich daher qualitativ hin zu gesunden Lebensorten entwickeln. Dies hat entsprechende Konsequenzen bei Planung und Bau von Sportstätten zur Folge, die nicht nur neue Anforderungen an die vereinseigenen Sportstätten, sondern auch an die Kommunen stellen. Hier müssen Anforderungen formuliert und Konzepte erstellt werden. Es müssen ganz neue Netzwerke geschaffen sowie adäquate Formen einer interdisziplinären Zusammenarbeit gefunden und erprobt werden.
5 Resümee Gesundheitssport hat sich im Deutschen Turner-Bund zu einer eigenständigen vierten Säule – neben dem Leistungs-, Breiten- und Freizeitsport – entwickelt. Die Strategie der schrittweisen Entwicklung eines Qualitätsmanagementkonzeptes hat sich bewährt und muss weiterhin ausgebaut werden. Dazu gehört die Identifizierung von »lohnenden« Feldern oder Themenstellungen und das Entwickeln und Evaluieren von Programmen für die Vereinsarbeit und als unverzichtbares Element der Qualitätssicherung eine darauf abgestellte Aus-, Fort- und Weiterbildung. Hierbei ist die enge Verzahnung von Wissenschaft, Gesundheitswesen und Verbands-/Vereinsarbeit unerlässlich. Eine Akkreditierungsagentur Gesundheitssport könnte einen weiteren Qualitätsschub herbei führen und die Weiterentwicklung des Gesundheitssports – nicht nur im Turn- und Sportverein –positiv und nachhaltig beeinflussen. Denn von heute auf morgen ist das Setting »der gesunde Turn- und Sportverein« nicht flächendeckend zu verwirklichen. Die bereits vorliegenden Konzepte müssen gebündelt und auf ihre Umsetzung in der Praxis überprüft werden. Zudem sind über die qualitätsgesicherten Programme hinaus die vorhandenen Rahmenbedingungen zu überprüfen und gemeinsam mit allen Partnern, auch auf der kommunalen Ebene, weiterzuentwickeln. Dabei werden u. a. im Sportstättenbau und durch die notwendige interdisziplinäre Vernetzung mit anderen Trägern im Gesundheitswesen neue Konzepte entstehen müssen. Wesentliche Zukunftsaufgaben des DTB liegen darin, diese Aktivitäten zu koordinieren, zu kommunizieren und im Sinne von »best practice«-Modellen den Vereinen zur Verfügung zu stellen.
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B · Prävention und Lebenswelten
Literatur Brehm W., Janke, A., Sygusch R. & Wagner P. (2005) Gesund durch Gesundheitssport – Zielgruppenorientierte Konzeption, Durchführung und Evaluation von Gesundheitssportprogrammen. Weinheim und München: Juventa Verlag. DTB (Deutscher Turner-Bund) (Hrsg) (1996) Gesundheitsförderung und Gesundheitssport im Deutschen Turner-Bund. Deutscher Turner-Bund, Frankfurt am Main DTB (Deutscher Turner-Bund) (Hrsg) (2003) Pluspunkt Gesundheit.DTB. Das Gütesiegel des Deutschen Turner-Bundes für gesundheitsorientierte Vereinsangebote. Deutscher Turner-Bund, Frankfurt am Main: Hartmann H. (1997) Die Bedeutung von Turn- und Sportvereinen im Hinblick auf die Entwicklung einer New Public Health in Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart. In: Schulke H.-J., Troschke J.v., Hoffmann A. (Hrsg) Gesundheitssport und Public Health. Deutsche Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften, Universität Freiburg i.Br., S 13–16 Hartmann H., Opper E. (2000) Adel verpflichtet! Die Qualitätszirkel der Pluspunkt-Übungsleiter/innen vor dem Start. Pluspunkt Gesundheit.DTB – Das Magazin 1 (4); 6–7: Hartmann H., Opper E., Sudermann A. (2002) Qualitätsmanagement von Gesundheitssport im Verein. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt, Institut für Sportwissenschaft der TU Darmstadt: Schulke H.-J. (1998) Zur Differenzierung von Public Health und Sport – Über die Vernachlässigung der Integrationspotentiale zweier gesellschaftlicher Praxisfelder in der Gesundheitsförderung. In: Rütten A (Hrsg) Public Health und Sport. Naglschmid, Stuttgart, S 131–155
299 Struggle over Tobacco Control in Serbia
Struggle over Tobacco Control in Serbia: Transnational Tobacco Companies vs. Public Health Andjelka Dzeletovic, Sanja Matovic Miljanovic*, Ulrich Laaser*
Abstract Serbia as one of the former Yugoslav countries and post communist countries had a hard time and developments during the last decade. Disintegration of former Yugoslavia and wars in Croatia and Slovenia in 1991 and Bosnia and Herzegovina in 1992 with a huge number of refugees which came to Serbia affected the health of the population of Serbia to a large extent. Additionally, the hyperinflation crisis with inflation rate of 1% per hour or 1 billion % per year together with economic sanctions of the EU council and the Kosovo crisis in 1998, which resulted in air strikes of Serbia and Montenegro, in 1999 caused the complete paralysis of everyday life and breakdown of economic activities in Serbia. As the result of such circumstances, with huge population migration, unemployment and poverty, unhealthy life style such as smoking, alcohol consumption and drug abuse increased in the last decade. Keywords: smoking, tobacco industry, tobacco control, transition countries,
public health
Smoking prevalence in Serbia Today, smoking in Serbia is one of the leading single risk factors for the development of the most common non-communicable chronic diseases (cardiovascular, respiratory and numerous malignant diseases).
* e-mail:
[email protected] *
[email protected]
300
B · Prävention und Lebenswelten
. Table 1. Smoking Prevalence in some of the European Countries in the period 1988– 2003
COUNTRY
Adults (%)
Youth (%)
Male
Female
Male
Female
Serbia and Montenegro
48.0
33.6
12.5
16.3
Bulgaria
43.8
23.0
28.7
26.4
Greece
46.8
29.0
13.5
14.1
Russian Federation
63.7
9.2
17.6
26.2
Turkey
62.2
24.3
17.6
11.2
Albania
60.0
18.0
No data available
No data available
United Kingdom
28.0
26.0
20.3
27.4
Finland
27.0
20.0
28.3
32.2
Germany
40.3
32.2
32.2
33.7
Smoking prevalence in Serbia is among the highest in Europe, with 48% of men and 33.6% of women being active smokers [1]. Rates of smoking among youth are also high: 40% of teenagers have already smoked a cigarette by the age of 15 years [2], while 27% of girls and 26.5% of boys state that they are daily smokers. Exposure of young people to the second – hand smoke is a serious problem, as indicated in the recent Global Youth Tobacco Survey. Almost 9 of 10 said that they are exposed to the smoke in public places [3]. Although medical staff should play a key role in smoking prevention and cessation, the frequency of smoking among health workers is high. According to a study carried out in 2001, 37% of doctors and more than one-half (52%) of nurses at the Clinical Centre of Serbia are smokers [4]. According to one of few international comparisons in which data for Serbia and Montenegro are presented, the prevalence of smoking in the Republic of Serbia is similar to other countries in transition where smoking is culturally accepted and very widespread (. Table 1) [5]. The influence of smoking to mortality by various causes in Serbia is processed in the study on Burden of Disease and Injuries in Republic of Serbia,
301 Struggle over Tobacco Control in Serbia
. Table 2. The mortality burden attributable to tobacco use by disease for Serbia, in year 2000.
Disease
Serbia Attributable Deaths
Oral Cavity Cancer
Attributable YLL*
363
4,276
4,101
47,781
Oesophageal Cancer
173
1,851
Pancreatic Cancer
158
1,708
Bladder Cancer
61
1,149
Cervical Cancer
45
725
Ischemic Heart Disease
2,082
24,127
Stroke
1,816
19,891
COPD **
1,390
9,676
Lung Cancer
Total
10,187 (9.8%)
111,196 (13.7%)
* YLL – Years of life lost ** Chronic Obstructive Pulmonary Disease
conducted in 2003 [6]. Tobacco is cited as the risk factor associated with the greatest number of health problems and is responsible for 13.7% of the total years of life lost (YLL) due to mortality (18% for males; 7.9% for females) [6]. Most of the tobacco-related morbidity and mortality is due to lung cancer, ischemic heart diseases, heart attacks and chronic obstructive pulmonary diseases (. Table 2). The study also indicated that burden is greatest in lower ages and declines with an increase in age.
Market for tobacco products in Serbia With a large population of smokers and cigarettes smoked per capita, Serbia poses a promising but limited market. The rate of cigarettes smoked annually in
302
B · Prävention und Lebenswelten
Serbia is estimated to approximately 20 million kilograms. Tobacco production barely covers 50% and is estimated to 10 million kilograms [7]. In the last decade the illegal sales of cigarettes became a source of profit for individuals closely tied to the regime. Due to economic sanctions foreign brands were not allowed to be legally imported, thus enabling individuals to gain large profit by smuggling cigarettes. The illegal sale of smuggled cigarettes in retail stores and on the streets was not prosecuted. During 2001, the new government began to address illegal imports. In that year, approximately 400,000 packs of cigarettes were seized during police/customs raids. The volume of seized contraband doubled during the following year [7]. As in many other post communist, and now transition countries, in Serbia the process of the privatisation includes the tobacco industry. The domestic tobacco companies, previously shaken by cigarette smuggling, through privatisation gained the opportunity to obtain a strong investment partner, thus repositioning themselves on the Balkans as well. There are two major Serbian cigarette producers in the republic. DIN is Serbia’s leading cigarette producer, accounting for 54% of the local market. In 2002, the company sold 11.3 billion cigarettes. Serbia’s second-largest cigarette maker DIV sold 1.6 billion cigarettes in 2002. [8]. In September 2003, the Serbian Privatisation Agency and Phillip Morris signed a €518 million strategic partnership agreement between the Serbian tobacco company Tobacco Industry Nis (DIN) and Philip Morris [9]. Philip Morris Holland B.V., a unit of Altria Group Inc., is the world’s largest cigarette producer. Its leading cigarette brands include Marlboro, L&M, Parliament and Eve. In 2002, Altria Group reported $80.4 billion in net revenues, with cigarette sales accounting for $47 billion of the sum. The Government also reached an agreement with British American Tobacco for the sale of DIV. British American Tobacco Serbia is part of British American Tobacco. BAT manages 84 cigarette plants in 64 countries worldwide, with annual cigarette sales of 777 billion units. In 2002, the group posted net revenues of €15.1 billion. Its top cigarette brands include Lucky Strike, Pall Mall, Dunhill, Rothmans, Lord and Kent [9]. Today, the cigarette market in the Republic of Serbia is supplied by a wide range of domestic and foreign brands. Almost 120 foreign brands are available in Serbia. Some are from neighbouring countries (Macedonia, Bosnia & Herzegovina, Croatia) while others are manufactured by the major multinational companies (BAT, PhM, Reemstma, JTI, European Tobacco).
303 Struggle over Tobacco Control in Serbia
Prior to year 2002, any legal entity could obtain a licence to import cigarettes. The new law requires a special permit for the production and importation of cigarettes [10].
Political and economic changes as incentives for tobacco expansion in Serbia Transnational tobacco companies (TTCs) holds approximately 40% of the world’s cigarette market [11]. New market economies in the post communist countries present almost perfect ground for expanding their markets. Usually pressed for economic capital, these countries urgently needed foreign investments, which put TTCs in advantageous negotiating positions. In the race for more profits, TTCs are looking to increase sales by expanding their markets. New market economies, emerged after ideological walls tumbled down in the 1990s presented almost perfect ground for such development. Furthermore, faced with difficulties in holding their present status in the western countries, TTCs are largely moving their production capacities to countries with more flexible tobacco regulations in order to avoid import taxes and lower production and transportation costs [12]. Research indicates that the post-privatization period, which generally coincides with the entry of TTCs, is usually followed by increased tobacco consumption, which, in turn, leads to increases over time in tobacco-related morbidity and mortality in affected countries [13,14]. In many cases, privatization agreements provided TTCs with significant concessions, such as being exempted from profit taxes (e.g. Hungary, Kyrgyzstan and Ukraine) or receiving favourable conditions for the withdrawal of dividends [14]. In Serbia low taxes and custom rates were in favour of international tobacco companies. TTCs use their considerable economic and political influence to create an environment that encourages the continued consumption of tobacco [15]. They influence the political process at the local and national levels, focusing on taxation and regulation and maintaining marketing freedoms and social acceptability of smoking. Tobacco companies have lobby legislators and officials in finance ministries to keep tobacco prices low and to adapt laws that can encourage consumption of tobacco [16].
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B · Prävention und Lebenswelten
In addition, low taxes and custom rates were in favour of international tobacco companies. Those taxes and rates were agreed in accordance to trade treaties signed between the former Yugoslav countries and the EU. The weaknesses in the implementation of existing laws allow the industry to promote tobacco products to a broad range of population groups and through a variety of media. While in Hungary advertising regulation left the definition of advertising unclear and opens to interpretation, in Serbia law, which regulate the advertising and marketing, says that advertising of tobacco products is banned if the slogan used includes the words »cigarette«, »tobacco« or »smoking«, or their synonyms. The law states that »the advertising of tobacco and tobacco products is restricted in the press, radio and television, movies, billboards, stickers, in public places, in books, magazines, calendars and clothes...« [17]. However, in practice, there are ways of circumventing this regulation like indirect advertising techniques: Fast cigarettes (»Fast-internet«, »Buy it in the kiosk but it’s not a newspaper«), Lucky Strike (»I choose«); Davidoff (»The more you now«), President (»Taste freedom«); West (»The power Brand«, »Test it«); and Gauloise (»Liberty«) etc. In the last three years advertising has become more aggressive, engaging several youth celebrities in promotional campaigns. In the recent Global Youth Tobacco Survey conducted in Serbia results showed that almost 9 in 10 students (89.8%) said that they had been exposed to pro-tobacco messages on TV. Just over 8 in 10 students (80.4%) stated that they had been exposed to pro-tobacco messages in newspapers or magazines; 70.7% on billboards; and 61.7% at social events [3]. Another law (first enacted in 1988, revised in 1991, and revised for a second time in 1995) regulates smoking in public places. Under this legislation, smoking is banned in all public places (schools, health institutions, official buildings). This law is however impossible to enforce in practice and is not obeyed. There is probably not a single person who was charged for not obeying the law. Smoking has been banned in buses for almost 30 years. The national airline (JAT) banned smoking on all flights starting in 2002. Nonetheless, there is no smoking ban in airports, train stations or bus stations. Smoke free area does not exist in the streets, restaurants and in most of the working places so exposure to passive smoking at the workplace is very high. In March 2003 a new Law on Tobacco Production and Sale was passed by the Republic of Serbia’s Parliament [10]. It brought several major changes to the
305 Struggle over Tobacco Control in Serbia
manner in which tobacco products are manufactured and sold. It includes a provision for banning the sale of tobacco products to persons below 18 years of age; cigarettes package and advertising must also carry a health warning. Stickers showing a red circle and a diagonal line across a package of cigarettes have been posted in all kiosks, to remind consumers and retailers about the age limit for the sale of tobacco. But the regulation remains largely ignored. Opposed to some other countries (i.e. in Poland), where donations by tobacco companies to political parties are banned, in Serbia Cultural and sporting events continue to be sponsored by tobacco companies (Lucky Strike Hot Summer Cool Jazz Festival; Lucky Strike Urban Experience, Winston as sponsor of the Yugoslav National Basketball League as Winston YUBA League, etc.). Action to ensure full implementation of existing anti-tobacco legislation is therefore a priority in achieving adequate regulation of the industry. Although an multi-sectoral Tobacco Agency has been established, it is only responsible for agricultural production and trade aspects of the industry and has no role in issues relating to control of tobacco consumption. The tobacco industry also uses economic arguments to persuade governments, the media and the general population that smoking benefits the economy. It claims that, if tobacco control measures are introduced, tax revenues will fall, jobs will be lost and there will be great hardship to the economy, but they never mention the economics costs which tobacco inflicts upon every country [16]. A study on the economics of tobacco use in Serbia supported by the World Bank estimated that 2.4% of all costs paid by the Health Insurance Fund for primary health care services, hospital episodes and drugs is attributable to cigarette smoking [7]. However, the study authors caution that the costs are very much undervalued. The actual costs to the health care system and the society could be 10 times higher, as the calculation did not take into consideration outof-pocket expenses for health services and drugs and the economic losses due to sick leave related to tobacco-related illness and the decline in economic productivity. The impact of smoking on other diseases, such as low birth weight and premature births, respiratory diseases (emphysema, bronchitis, TB) was also not included. The costs also did not include all costs attributable to long-term and home care for people suffering from smoking-related diseases and the lost wages and productivity for both ill persons and the provider of care.
306
B · Prävention und Lebenswelten
Public health responds on tobacco The globalization of tobacco manufacturing, trade, marketing and industry influence poses a major threat to public health worldwide. The WHO FCTC was developed in response to the current globalization of the tobacco epidemic [18]. This global epidemic constitutes one of the major public health disasters of the 20th century. Currently, in the 21st century, the epidemic of tobacco addiction, disease and death is rapidly shifting to developing and transitional market countries. The existence of a global tobacco epidemic is now accepted as a fact by health professionals around the world. In order to strengthen and coordinate global responses to the tobacco epidemic, the World Health Assembly adopted, on 24 May 1999, a resolution to pave the way for accelerated multilateral negotiations on a WHO framework convention on tobacco control and possible related protocols [19]. In order to sustain progress, it is essential that countries capacities for tobacco control be strengthened and sustained, particularly in developing countries and countries in transition, to enable them to meet key obligations in the WHO FCTC and to implement related policies and programmes. The activities conducted in Serbia in recent decades were mostly finished by futile attempts made by the Ministry of Health to partially solve the problem of tobacco control, either by conducting the short term health promotion campaigns, or by attempts to legally cover certain aspects of tobacco control. These activities failed to have meaningful effect due to two principal causes: the lack of strategic approach in problem solving and poor recognition of the key role of government in supporting the multisector activities as a basic prerequisite for the successful realization of a strategic model. Within the European Strategy for Tobacco Control (ESTC) [20] a number of indicators are identified that may be used to assess the current status of a country or region in respect of tobacco control policies. . Table 3 below shows the current status of these indicators in Serbia. The Ministry of Health of Serbia within the ongoing health sector reform through the policy document »Better Health for All in the Third Millennium«, [21] gives a new contribution to the public health. The National Commission for Smoking Prevention was also appointed by the ministry. The mandate of the National Commission for Smoking Prevention was to prepare a National Programme for smoking prevention and to imple-
307 Struggle over Tobacco Control in Serbia
. Table 3. ESTC Indicators and Current Status in Serbia
Indicator
Status in Serbia
Legislation for smoke free public/working space
Legislation exists but implementation is weak or non-existent
Availability of nicotine replacement therapy without prescription
Available without prescription
Established intersectoral coordinating committee
Does not exist
Existence of a national action plan
Draft produced by National Smoking Prevention Commission in 2004
Partial/total bans on direct/indirect advertising of tobacco products
Total ban exists but implementation is weak or non-existent
Sustainable and gender-based public information campaigns
Public information campaigns undertaken on annual basis funded by Ministry of Health and/or international donors; no specific gender element
Earmarking of taxation from tobacco products
None
Restricting access to tobacco products for under 18s
Legislation exists, implementation weak or non-existent
Reimbursing of costs of treatment of tobacco dependency
Provision of support for smoking cessation is limited. Counselling is free, NRT & Bupropion available but cost is not reimbursable.
Publication of comprehensive national reports on tobacco control
No
Health warnings on tobacco products
A specific warning must be displayed, but the size is not legally defined, does not meet EU norms
Regulation of tar, nicotine and carbon monoxide levels in tobacco products
Limits exist in law but allow higher levels than EU norms
308
B · Prävention und Lebenswelten
ment and co-ordinate all activities related to smoking prevention and cessation. Membership of the Commission is drawn from the Ministry of Health, staff working in primary health care and hospital facilities, members of the public health profession and the pharmaceutical industry, and relevant non-government organisations. The Ministry of Health and the National Commission for Smoking Prevention undertaken a number of actions in relation to reducing the supply of and demand for tobacco products (anti-smoking campaigns; two national conferences for staff from health institutions involved in tobacco control; support for and development of a national network of counselling services for smoking cessation; implementation of the Global Youth Tobacco Survey during 2003; national road-show tobacco debate in 2004 visiting five cities around the country and involving health, education and media personnel as well as members of the public in the discussion). The National Commission for Smoking Prevention, in 2004, drafted the National Tobacco control Strategy and Action plan 2005–2010 [22]. Serbian Tobacco Control Strategy draws on European and international experience over the last decade, building upon the lessons learnt during their efforts to address issues of tobacco control [20]. Action in relation to tobacco control is an important aspect of the harmonisation of Serbia with the countries of the European Union, which has the eventual goal of membership. The Tobacco Control Strategy identifies the key steps to be taken in moving towards this goal [22]. The overall goal of the Serbian Tobacco Control Strategy is to provide a framework for the implementation of tobacco control measures to ensure the future health and wellbeing of the citizens of Serbia and protect them from the harmful effects of smoking and exposure to tobacco smoke. Numerical targets are set for three aspects [22]: 4 To reduce smoking prevalence in minors by 1% and in the general population by 2% annually (from the date of strategy adoption); 4 To increase rates of cessation among the smoking population by 2% annually (from the date of strategy adoption); 4 To increase the number of smoke-free workplaces by 5% annually (from the date of strategy adoption).
309 Struggle over Tobacco Control in Serbia
The immediate objectives of the Strategy are as follows [22]: 1. To prevent the future initiation of smoking behaviour, especially among young people; 2. To reduce levels of tobacco use across all population groups by encouraging and supporting smokers to stop and providing cessation services; 3. To protect the health of the population by reducing exposure to environmental tobacco smoke; 4. To educate the public concerning the harmful health effects of smoking and exposure to tobacco smoke; 5. To ensure adequate regulation of the tobacco industry with regard to the production, advertising and sale of tobacco products. This strategic framework identifies the areas in which action must be taken to strengthen tobacco control. The specific actions in relation to each item, with responsible bodies and deadlines for achievement are detailed in the Action Plan for 2005 to 2010. Additionally, on June, 28th 2004 the Serbia and Montenegro took a significant step in tobacco control by signing the WHO Framework Convention on Tobacco Control and becoming one of the 168 signatory countries. Other neighbouring countries that signed the FCTC are: Slovenia, Croatia, Hungary, Romania, Bulgaria, Greece and Italy. Until now, only Hungary ratified this Convention. By becoming a signatory to the FCTC, the government clearly indicated that this is a priority for action, giving fresh impetus to the development of a national Tobacco Control Strategy. The government of Serbia has taken an important step towards effective control of the tobacco industry with the establishment of the Tobacco Agency in 2003 [10]. The Tobacco Agency has responsibility to control the agricultural production and sales distribution aspects of the tobacco industry in Serbia. By now most of the potential barriers which protected tobacco sales and even encouraged smokers in the Serbian society have been removed by introducing a National Tobacco Control Strategy, by developing guidelines on nonsmoking and last not least by opening advanced training facilities in the new Centre-School of Public Health at the Medical Faculty in Belgrade which started its first Master of Health Programme February 28, 2005. However, some research questions have still to be answered specifically for the Serbian environment, e.g. by a national research programme. Of special
310
B · Prävention und Lebenswelten
relevance is to explore further what attitudes and beliefs relevant to smoking Serbian people have. This would pertain the most to the specific cost-effectiveness of non-smoking campaigns in Serbia and therefore to priority setting for interventions. The tobacco control in Serbia, as an important portion of Public health is a significant aspect in the harmonization process with the EU countries, with joining to the EU as an ultimate goal. It is yet to be seen whether public health will overcome tobacco industry and gain the real control over tobacco market.
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311 Struggle over Tobacco Control in Serbia
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C Arbeitswelt und betriebliche Prävention Positionpapier Zukunft der Arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung Position der Vorstände der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. und des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (21.10.04) – 315
Klaus Scheuch, Wolfgang Panter
Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement – betriebswirtschaftlicher Nutzen aus Unternehmersicht – 325 Gudrun Eberle
Prävention in den Gesundheitsberufen und in Gesundheitseinrichtungen – 339 Ulrich Stößel, Holger Pfaff
Ganzheitliche Prävention (GATE) auf einem internationalem Flughafen (Fraport AG) – Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens? – 359 Walter Gaber
315 Zukunft der Arbeitsmedizinischen Prävention
Positionpapier Zukunft der Arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung Position der Vorstände der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. und des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (21.10.04)
Klaus Scheuch*, Wolfgang Panter
Vorbemerkung Menschen ändern und entwickeln Arbeit, die Arbeit entwickelt und beeinflusst den Menschen. In einem atemberaubenden Tempo wandeln sich Inhalt, Organisation, Anforderungen und Bedingungen der Arbeit, die Arbeit wird besser, die Prozesse schneller, die Anforderungen komplexer. Die Gesundheit spielt für den Einzelnen und die Gesellschaft eine immer größere Rolle. Die Politik will die Prävention zur vierten tragenden Säule im Gesundheitssystem neben der kurativen Medizin, der Rehabilitation und der Pflege entwickeln. Der Arbeitsschutz wird vom passiven Bewahrer der Gesundheit zum aktiven Gestalter einer menschengerechten Arbeit. Die Anforderungen an die Qualifizierung, die Aus-, Weiter- und Fortbildung in allen Berufszweigen steigen, besonders auch bei medizinischen Berufen. Das Tempo der Entwicklung ist atemberaubend, eingebettet in traditionelle Formen von Arbeit, die es auch noch Jahrhunderte geben wird. Die Arbeitsmedizin wirkt an der Nahtstelle zwischen Arbeit und Mensch und ist deshalb unmittelbar von diesen Entwicklungsprozessen und -geschwindigkeiten betroffen und gefordert. Wie alles in einer sich so schnell entwickelnden Gesellschaft steht auch sie auf dem Prüfstand, Gegenstand und Methoden
* e-mail:
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
sind den neuen Anforderungen anzupassen. Es gibt kaum ein medizinisches Fachgebiet, was in dieser Brisanz gefordert wird. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen empfehlen die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) und der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) eine Neuausrichtung der Arbeitsmedizinischen Vorsorge zur Arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung. Es wurde ein Positionspapier beschlossen, dass deutlich machen soll, welche Potenzen in der betriebsärztlichen Tätigkeit und bei den hochqualifizierten arbeitsmedizinisch tätigen Ärzten für die Entwicklung der Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmern in unserer Gesellschaft liegen. Arbeitsmedizinische Prävention und Gesundheitsforschung kann ein wesentlicher Teil des integrierten Versorgungssystems zum Nutzen der Gesundheit der Menschen wie auch der Kosten im Gesundheitssystem werden. Unsere Empfehlungen stützen sich auf Erfahrungen aus erfolgreichen Modellprojekten zur betrieblichen Prävention und auf umfangreiche Ergebnisse der Arbeits- und Gesundheitssystemforschung zu dieser Thematik. Darüber hinaus berücksichtigen sie die aus dem europäischen Arbeitsschutzrecht abgeleiteten erweiterten Präventionsziele und die Empfehlungen des Abschlussberichtes der »Expertenkommission Betriebliche Gesundheitspolitik« der Bertelsmann-Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung. Eingegangen sind auch Empfehlungen internationaler Organisationen (WHO, ILO, NIOSH, europäischer Institutionen) zur betrieblichen Gesundheitsförderung.
1. Arbeitsmedizinische Prävention beinhaltet das Gesamtspektrum arbeitsmedizinischer Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention sowie der betrieblichen Gesundheitsförderung. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Gefährdungsbeurteilung. Arbeitsmedizinische Prävention gewährleistet die Einheit von Verhältnis- und Verhaltensprävention Die ärztliche Erfahrung belegt, dass ein ausgewogenes Verhältnis von gesundheitsförderlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, Gefährdungsminimierung, arbeitsplatznaher medizinischer Betreuung und einem verantwortlichem Umgang der Beschäftigten mit ihrer Gesundheit Voraussetzung erfolgreicher betrieblicher Prävention ist.
317 Zukunft der Arbeitsmedizinischen Prävention
Arbeitsmedizinische Prävention stellt ein zentrales Element des Gesundheitsschutzes in einer modernen Leistungsgesellschaft dar, die sich wesentlich über die Arbeit definiert. Sie dient der frühzeitigen Erkennung und Vermeidung arbeitsbezogener oder individueller gesundheitlicher Risiken und erlaubt die Zusammenführung und abgestimmte Analyse von Arbeitssituation und Gesundheit. Sie orientiert sich sowohl an der Vermeidung gesundheitlicher Risiken als auch an der Stärkung gesundheitlicher Ressourcen. Ziele der Arbeitsmedizinischen Prävention sind der Schutz, die Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit. Bei der Verfolgung dieser Ziele handeln Arbeitsmediziner in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Vertretern der für den Arbeits- und Gesundheitsschutz relevanten Nachbardisziplinen. Die Auswertung arbeitsmedizinischer Untersuchungsergebnisse mit epidemiologischen Methoden erlaubt die Beurteilung der Gesundheit von Arbeitnehmergruppen mit Bezug auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Nur so können Erkrankungshäufungen zuverlässig identifiziert, ihre Ursachen untersucht, gezielte Präventionsmaßnahmen abgeleitet, umgesetzt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf die Gesundheit bewertet werden. Auch die Ableitung angemessener betriebs- oder branchenbezogener »Gesundheitsziele«, z.B. einer definierten Senkung der Häufigkeit bestimmter Erkrankungen, und die Bewältigung der demographischen Herausforderung können erst auf diese Weise eine realistische Grundlage erhalten.
2. Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Erkrankungen und Gefährdungen, jedoch auch zur individuellen Prävention und zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit sind zentraler Baustein der arbeitsmedizinischen Prävention Sie können wesentliche Beiträge zur individuellen Prävention leisten, wenn die Beurteilung der Arbeitsbedingungen allein bereits Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung ergeben haben. Umgekehrt können oft erst die Ergebnisse arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen eine wesentliche Beurteilungsgrundlage für die Gefährdungsermittlung bieten. Um das präventive Potenzial arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen auszuschöpfen, sollten sie sowohl als »präventives Basisprogramm« allge-
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
meinpräventive Untersuchungsparameter als auch gefährdungsorientierte Untersuchungselemente (z.B. das Biomonitoring) enthalten: 4 Arbeitsmedizinische Basisuntersuchung sowohl für die Früherkennung allgemeiner und spezieller gesundheitlicher Risiken am Arbeitsplatz als auch zur Identifikation gesundheitlicher Risiken für »Volkskrankheiten« und arbeitsbezogene Erkrankungen mit dem Ziel, notwendige Maßnahmen der Prävention, der Gesundheitsförderung oder der Rehabilitation einzuleiten 4 Ergänzungsuntersuchungen im Hinblick auf mögliche oder nachgewiesene gesundheitliche Gefährdungen am Arbeitsplatz (durch chemische, physikalische, arbeitsorganisatorische oder psychomentale Belastungen) 4 Ergänzungsuntersuchungen im Hinblick auf individuelle Risiken (Jugend, Alter, Schwangerschaft, chronische Erkrankung oder Behinderung) 4 Ergänzungsuntersuchungen zum Abgleich tätigkeitsbezogener Anforderungen und dem individuellen Gesundheitszustand (z.B. im Rahmen von Eignungsuntersuchungen, der betrieblichen Wiedereingliederung).
3. Arbeitsmedizinische Prävention geht über die Vermeidung von »Versicherungsfällen« hinaus Zentrale Aufgaben der Arbeitsmedizin sind die Beurteilung möglicher Gesundheitsgefährdungen im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes und die Ableitung angemessener, wirksamer Präventionsmaßnahmen. Sowohl bei einer ersten Bestandsaufnahme als auch bei jeder gesundheitsrelevanten Veränderung von Arbeitsbedingungen nehmen Arbeitsmediziner die Gefährdungsbeurteilung in Zusammenarbeit mit Fachkräften für Arbeitssicherheit und ggf. Vertretern weiterer präventiv orientierter Disziplinen wahr. Das Spektrum angemessener Maßnahmen umfasst die Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsumfelds, die Verwendung geeigneter persönlicher Schutzausrüstung, spezielle arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen und auch gezielte Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung. Sowohl hinsichtlich der Auswahl der Maßnahmen, ihrer voraussichtlichen Wirksamkeit, der Erreichung von Gesundheitszielen und des Angebots individueller Maßnahmen an besondere Mitarbeitergruppen ist arbeitsmedizinische Expertise unverzichtbar. Auf der Grundlage primär unfallversicherungsrechtlichen Denkens findet sich in zahlreichen Rechtsnormen zu arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersu-
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chungen noch die Vorgabe einer Pflichtmitteilung eventueller »gesundheitlicher Bedenken« gegen die Aufnahme bzw. Fortsetzung der jeweiligen »gefährdenden« Tätigkeit. Derartige Festlegungen haben zu einem verkürzten Verständnis und einer oft zu Recht kritisierten Praxis überwiegender »Eignungsuntersuchungen« ohne Nutzung des präventiven Potenzials arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen beigetragen. Sie sollten deshalb in allen allgemeinen Regelungen zur arbeitsmedizinischen Vorsorge entfallen. Ob für bestimmte Arbeitnehmergruppen Pflichtuntersuchungen oder Angebotsuntersuchungen festzulegen sind, sollte einerseits unter Berücksichtigung einer Selbst- oder Fremdgefährdung entschieden werden; andererseits sollte geprüft werden, ob die Gefährdung für die Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen erkennbar ist. Somit sollten die Fragen der Eignungsmitteilung an den Arbeitgeber und einer eventuellen Untersuchungspflicht unabhängig voneinander beurteilt und entschieden werden.
4. Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen bieten ein wesentliches Potenzial zur Prävention chronischer Erkrankungen Zunehmend wird erkannt, dass chronische Erkrankungen maßgeblich zu betrieblichen Gesundheitskosten (Arbeitsunfähigkeit, krankheitsbedingte Fluktuation und nachlassende Leistungsfähigkeit), aber auch zu beträchtlichen volkswirtschaftlichen Belastungen beitragen (Frühberentungen wegen Erwerbsunfähigkeit, Erwerbslosigkeitsrisiko chronisch Kranker). Die allgemeinpräventiven Angebote der gesetzlichen Krankenversicherungen erreichten im Jahr 2003 allerdings lediglich 0,5% (350 000) der Versicherten im Jahr. Demgegenüber bietet die Integration weitergehender präventivmedizinischer Diagnostik und Beratung (z.B. Früherkennung von Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit, Beratung zu Ernährung und Bewegung, Raucherentwöhnung) in die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen bei jährlich über 5 Millionen untersuchten Beschäftigten die derzeit einzige realistische Möglichkeit, eine relevante Früherkennungsrate beeinflussbarer gesundheitlicher Risiken für große Teile der Bevölkerung zu erreichen. Diese ist die Voraussetzung für effektive, frühzeitige Interventionen zur Förderung der Gesundheit unter Berücksichtigung der Arbeitssituation. Das gilt insbesondere auch für Arbeitnehmer, die nicht einen Arzt aufsuchen oder sich Gesundheitsprogram-
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
men anschließen sowie auch für sozial Benachteiligte, die allein der Betriebsarzt ärztlich erreicht. Die arbeitsmedizinische Prävention hat zur Aufdeckung möglicher arbeitsbedingter Einflüsse auf chronische Erkrankungen sowie zur präventiven Umsetzung dieser Erkenntnisse im Rahmen betrieblicher Strukturen beizutragen. Aus arbeitsmedizinischer Sicht sollte hier von »arbeitsbezogenen Erkrankungen« (work related diseases) gesprochen werden; darunter verstehen wir alle multifaktoriell verursachten Erkrankungen, deren Entwicklung, Manifestation, Beschwerdeintensität oder Behandlungsbedürftigkeit nachweislich von Art und Intensität bestimmter arbeitsbedingter Belastungen oder Gesundheitsgefährdungen abhängig sind. Aus der Interessenlage sowohl der Unternehmen, als auch der Arbeitnehmer muss hier wegen der beträchtlichen Häufigkeit derartiger Erkrankungen ein Schwerpunkt der arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung gesetzt werden. Dass chronische Erkrankungen unter anderem mit einem deutlich erhöhten Risiko der Erwerbslosigkeit verbunden sind, unterstreicht neben den betriebswirtschaftlichen Aspekten auch die volkswirtschaftliche Bedeutung von Gesundheit und Krankheit jenseits der Lohnnebenkosten-Thematik. Eine Stärkung der allgemeinpräventiven Aktivitäten der Arbeitsmedizin dient insbesondere auch der Realisierung einer integrierten medizinischen Versorgung im Sinne des SGB IX.
5. Arbeitsmedizinische Prävention ist mehr als eine kundenorientierte Dienstleistung: Sie dient dem Grundanliegen jedes Unternehmens und jedes Arbeitnehmers, sie ist unabhängig und unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht Eine enge und systematische Abstimmung aller präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen mit den betrieblichen Entscheidungsträgern, Fachkräften für Arbeitssicherheit, ggf. Vertretern weiterer präventiver Disziplinen und den Sozialpartnern ist eine wesentliche Erfolgsbedingung arbeitsmedizinischer Prävention. Hierfür eignet sich insbesondere – soweit vorhanden – die Institution »Arbeitsschutzausschuss« als eine etablierte Plattform mit hoher Autorität, Entscheidungskompetenz und Beteiligung ggf. zusätzlicher Partner. Für Gewerbe mit dominierender Kleinbetriebsstruktur haben sich branchenorientierte überbetriebliche Präventionskonzepte, Kompetenzzentren, Kom-
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munikations- und Abstimmungsstrukturen mit den gleichen Zielsetzungen, z.B. auf Innungsebene, bewährt. Ein hoher Wirkungsgrad arbeitsmedizinischer Prävention ist durch die direkte Anbindung des Arbeitsmediziners, ggf. des leitenden Betriebsarztes an die Unternehmensleitung, die Einbindung in betriebliche Entscheidungsprozesse und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern in besonderem Maße gewährleistet. Bei überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Diensten gilt dieses für die direkte Beratung des Unternehmers bzw. Betriebsleiters in vergleichbarer Weise. Arbeitsmedizinische Prävention richtet sich an alle Beschäftigten – selbstverständlich auch an die Person des Unternehmers. Der Erfolg arbeitsmedizinischer Prävention hängt letztlich davon ab, wie gut die aktive Beteiligung und Mitarbeit der Belegschaften bei der Umsetzung der Prävention im Betrieb gelingt; dieses gilt für die Akzeptanz individualpräventiver Maßnahmen ebenso, wie für die Gestaltung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Hier können Arbeitsmediziner gleichzeitig ihre ärztliche Erfahrung und ihre Betriebskenntnis einbringen und so erfahrungsgemäß gute Akzeptanz- und Teilnahmeraten bei Arbeitsschutz- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen – aber auch zahlreiche Anregungen für die Verhältnisprävention erhalten. Die Unabhängigkeit des ärztlichen Handelns im Betrieb ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit. Die ärztliche Schweigepflicht untermauert die Unabhängigkeit des Betriebsarztes und ist Voraussetzung für das Vertrauen der Mitarbeiter. Damit hat der Betriebsarzt eine besondere Rolle in der betrieblichen Sphäre.
6. Die betriebliche Gesundheitsförderung ist eine wichtige Aufgabe der Arbeitsmedizin. Arbeitsmedizinische Prävention und betriebliche sowie individuelle Gesundheitsförderung sind nicht zu trennen Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen sind derzeit das einzig zuverlässig geeignete Instrument zur Bewertung der Ergebnisqualität präventiver Maßnahmen sowohl in der Verhältnisprävention, als auch in der Verhaltensprävention und Gesundheitsförderung. Deshalb sollte die Zuordnung von Arbeitnehmern zu bestimmten Vorsorgeprogrammen neben der Berücksichtigung
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
möglicher spezieller Gesundheitsgefährdungen immer unter Einbindung in ein betriebsspezifisches Gesamtkonzept zur Prävention und Gesundheitsförderung erfolgen. Die Erarbeitung betriebsspezifischer Gesundheitsziele und umfassender Gesundheitsförderungsprogramme in Abstimmung mit den betrieblichen Partnern gehört zu den arbeitsmedizinischen Kernaufgaben. Wesentliche Chancen zur Reduzierung der Häufigkeit chronischer Erkrankungen sowie zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit bei einer zunehmenden Lebensarbeitszeit bestehen in der verstärkten Nutzung der arbeitsmedizinischen Prävention in einem flächendeckend wirksamen integrierten Gesundheitsversorgungssytem. Bisher wird die Gesundheitsförderung überwiegend als zusätzliches Angebot neben medizinischer Diagnostik und Therapie sowie der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention gesehen. Eine »salutogenetisch orientierte Medizin« setzt demgegenüber voraus, dass jede individuelle Maßnahme zur Behandlung, zum Schutz oder zur Wiederherstellung der Gesundheit von einem Gesundheitsförderungsangebot begleitet wird. So sollte z.B. die Betreuung eines Diabetikers –neben der Einbindung in ein qualitätsgesichertes Behandlungsprogramm- immer auch eine Überprüfung der Arbeitssituation und begleitende individuelle Beratung zur Gesundheitsförderung umfassen, da ein kompetenter, selbstsicherer Umgang der Erkrankten mit den Bedingungen und Folgen seiner Erkrankung entscheidend für seine gesundheitliche Zukunft ist. Dahinter steht die Vision einer konsequenten Befähigung der Menschen zu einem kompetenten und verantwortlichen Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit.
7. Arbeitsmedizinische Prävention ist das Kernelement des betrieblichen Gesundheitsmanagements und Modell für ein präventionsorientiertes Gesundheitssystem Das besondere Potenzial der arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung beruht auf der Erfassung und Beeinflussung der Arbeitssituation einschließlich eventueller Gefährdungen einerseits und der Gesundheit der Beschäftigten andererseits. Die Nutzung dieses Potenzials setzt somit voraus, dass Arbeitsmediziner – neben der Untersuchung und Beratung der Beschäftigten – wesentliche Teile ihres Aufgabenspektrums im Betrieb bzw. an den Arbeitsplätzen erfüllen. Modelle und Regelungen zur zukünftigen arbeitsmedi-
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zinischen Prävention sind deshalb maßgeblich daran zu messen, ob die Bedingungen hierfür berücksichtigt und vorgesehen sind. Das gleiche gilt entsprechend für die zu begrüßende Initiative des Gesetzgebers zur Stärkung der Prävention im Rahmen eines »Präventionsgesetzes«: Die allseits beklagten Misserfolge mancher »Präventionsangebote« sprechen aus der Sicht von DGAUM und VDBW für eine enge Einbindung und Steuerung durch die betrieblichen Sozialpartner und Präventionsfachleute. Unter den verschiedenen »Settings« für die Prävention weist die Arbeitswelt die günstigsten Bedingungen auf, da eine vorhandene Infrastruktur und die Möglichkeit der Integration der Gesundheitsförderung und aller Präventionsansätze – einschließlich der Primärprävention – gegeben sind. Betriebliches Gesundheitsmanagement als »Systematische Bewertung und Weiterentwicklung der Arbeitsgestaltung und aller weiteren gesundheitsrelevanten betrieblichen Gegebenheiten und Regelungen mit dem Ziel des Schutzes und der Förderung der Gesundheit der Beschäftigten« setzt eine im Betrieb effektiv und kompetent beratende und mitgestaltende Funktion der Arbeitsmedizin voraus, wie sich an zahlreichen Positivbeispielen zeigen lässt. Dabei gehen die zu erzielenden Präventionsergebnisse weit über die oft heute noch im Vordergrund stehende Vermeidung von Risiken und Verbesserung der Anwesenheit hinaus; vielmehr rücken zunehmend die Auswirkungen der Gesundheit der Belegschaften auf ihre Produktivität, Beschäftigungs- und Erwerbsfähigkeit in den Fokus. Das notwendige synergistische Zusammenwirken der verschiedenen Sektoren medizinischer Betreuung mit einer umfassenden arbeitsmedizinischen Prävention und Gesundheitsförderung setzt allerdings Überlegungen zu den Formen und Quellen einer angemessenen Finanzierung der arbeitsmedizinischen Tätigkeit ebenso voraus, wie attraktive Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten für junge, engagierte Ärztinnen und Ärzte, die in diesem zukunftsträchtigen Fachgebiet eine Herausforderung suchen. Das gleiche gilt für Arbeitswissenschaftler, Natur- und Sozialwissenschaftler, die sich der Herausforderung »Betriebliche Prävention« stellen wollen. Gerade die erforderliche interdisziplinäre Arbeit setzt eine betriebsinterne oder betriebsnahe Struktur bzw. Organisationseinheit voraus, die mit den arbeitsmedizinischen Diensten mehrheitlich bereits existiert. Auf der Grundlage der genannten Zielsetzungen könnte die Arbeitsmedizin mit ihren Erfahrungen, ihrer Fachkompetenz und ihren heute bereits vorhandenen Strukturen und Vernetzungen ein geeigneter Kristallisationskern für ein
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
zukunftsfähiges, integriertes Gesundheitssystem mit präventivem Schwerpunkt sein. DGAUM und VDBW bieten an, ihre Kompetenz und Erfahrung bei der Gestaltung und Umsetzung des Präventionsgesetzes zur Schaffung der vierten Säule »Prävention« neben der Behandlung, Rehabilitation und Pflege in unserem Gesundheitssystem einzubringen.
325 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement – betriebswirtschaftlicher Nutzen aus Unternehmersicht Gudrun Eberle* Abstract Die breite gesellschaftliche Debatte in Deutschland zu einer neuen Qualität der Arbeit hat eine lange Tradition und ist eine Konsequenz brisanter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen. Da Unternehmen, die die Gesundheit ihrer Mitarbeiter fördern, zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern, aber auch zur finanziellen Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme beitragen, kommt der Arbeitswelt bei der Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung eine herausragende Bedeutung zu. Die gesetzlichen Krankenkassen engagieren sich seit vielen Jahren, betriebliches Gesundheitsmanagement als anerkanntes Erfolgskonzept in möglichst vielen Betrieben zu etablieren. Dass sich dieses anspruchsvolle Konzept lohnt – sowohl für die Belegschaft als auch für das Unternehmen selbst – zeigen Ergebnisse einer Befragung von 131 Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen, die in Kooperation mit der AOK entsprechende Gesundheitsförderungsprozesse erfolgreich eingeführt und umgesetzt haben. Die befragten Unternehmen bestätigen dabei eindrucksvoll die wissenschaftlich längst bekannten Erfolgsfaktoren, u.a. die Partizipation der Mitarbeiter. Gerade wegen dieser und anderer Erfolge, die zeigen, dass betriebliches Gesundheitsmanagement wirkt, bleibt zu wünschen, dass künftig deutlich mehr Unternehmensleitungen als bisher im Bewusstsein ihrer Verantwortung und Möglichkeiten diesen ermutigenden Beispielen Folge leisten und das Thema Gesundheit dauerhaft im eigenen Haus integrieren.
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Schlüsselworte: Gesundheitsförderung als Bestandteil der Unternehmensentwicklung, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Wirtschaftlicher Nutzen, Wirkungsketten, Partizipation der Mitarbeiter, Eigeninitiative von Unternehmen
1 Gesundheitsförderung – ein Thema moderner Unternehmensentwicklung Die breite gesellschaftliche Debatte in Deutschland zu einer neuen Qualität der Arbeit hat eine lange Tradition und kommt nicht von ungefähr: Arbeit ist die Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstandes. Die nationalen wie internationalen Märkte sind durch einen permanenten und zunehmend rasanteren Wandel gekennzeichnet. Globalisierung und Standortwettbewerb, neue Informationstechnologien und Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse, erhöhter Rationalisierungs- und Zeitdruck bestimmen den Betriebsalltag von Unternehmen. Die Veränderungen sind oft mit erhöhtem Stress und gesundheitlichen Beeinträchtigungen für Management und Beschäftigte verbunden. Andererseits verlangen gerade Schnelligkeit und Dynamik der Veränderungen flexible, motivierte und vor allem gesunde Mitarbeiter. Unternehmen, die im Wettbewerb erfolgreich bestehen wollen, benötigen eine physisch und psychisch leistungsfähige Belegschaft. Sozialpolitik muss die laufende Anpassung der Menschen an den Wandel unterstützen. Längst wurde erkannt, dass zwischen Arbeitsplatzqualität und Arbeitsproduktivität enge Beziehungen bestehen. Inzwischen hat dieses Thema auf Europa-Ebene politische Priorität. Ziel der Europäischen Sozialagenda ist u.a. eine neue Gemeinschaftsstrategie für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, die vom globalen Konzept des Wohlbefindens bei der Arbeit ausgeht, auf einer Kultur der Prävention der Risiken beruht und zeigt, dass Sozialpolitik ein Wettbewerbsfaktor ist (1). Für Deutschland kam die Expertenkommission der Bertelsmann- und der Hans-Böckler-Stiftung, die Vorschläge zu einer zukunftsfähigen betrieblichen Gesundheitspolitik erarbeitet hat, zu dem Ergebnis, dass sich hohe Leistungen und internationale Wettbewerbsfähigkeit ohne ausreichende Investitionen in das Sozial- und Humankapital auf Dauer nur auf Kosten von Wohlbefinden und Gesundheit der Erwerbstätigen und durch Überwälzung der entstandenen Schäden auf die Sozialversicherungssysteme mit der Folge steigender Lohnnebenkosten erbringen lassen (2). Zudem stellt
327 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
der demografische Wandel Herausforderungen an das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem, die – angesichts eines effektiven Renteneinstiegsalters in Deutschland1 von 60,2 Jahren (2003) – ebenfalls nur durch eine Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung zu bewältigen sein werden. Der Arbeitswelt kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Denn Unternehmen, die die Gesundheit ihrer Mitarbeiter fördern, verbessern zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit. Sie tragen zudem zur Vermeidung von Sozialversicherungsfällen (Unfälle, Behandlung, Arbeitsunfähigkeit, Berentung, Arbeitslosigkeit) und damit zur finanziellen Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme bei, was ihnen selbst wiederum zugute kommt. Dass betriebliche Gesundheitspolitik neben Wohlbefinden und Gesundheit der Beschäftigten nachweislich auch betriebliche Dienstleistungs- und Produktivitätsziele eines Unternehmens unterstützt, lässt sich inzwischen durch Praxisbeispiele (vgl. Punkt 4) eindrucksvoll belegen.
2 Betriebliches Gesundheitsmanagement als Erfolgskonzept Gezielte, betriebsspezifisch zugeschnittene Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung können Gesundheit, Motivation, Arbeitskraft und Lebensqualität der Beschäftigten und damit zugleich das Betriebsergebnis verbessern, wenn sie zum festen Bestandteil des betrieblichen Managements werden. Beim betrieblichen Gesundheitsmanagement geht es darum, die einzelnen Bausteine und Ansätze von betrieblicher Gesundheitsförderung aufzugreifen, auf einander abzustimmen und in die Arbeits- und Managementprozesse des Unternehmens zu integrieren. Dabei sind klare Ziele zu definieren und zu controllen, notwendige Ressourcen bereitzustellen und soziale Verantwortung wahrzunehmen. Betriebliches Gesundheitsmanagement umfasst ausdrücklich auch Bereiche wie Organisations- und Personalentwicklung. Denn es geht nicht nur um das persönliche Gesundheits- und Risikoverhalten, sondern auch um Arbeitsinhalte, betriebliche Strukturen und Rahmenbedingungen sowie um die Frage der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Zentraler Erfolgsfaktor ist, dass dieser Prozess als Führungsaufgabe wahrgenommen und nicht nur von nachgeordneten Fachabteilungen bearbeitet wird, sowie unter Einbeziehung der Betroffenen praktiziert und nicht nur »top-down« verordnet wird. Ziel des betrieblichen Gesundheits1
unter Berücksichtigung von Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
managements ist es, zu einer gesundheitsgerechten Gestaltung von Arbeit und Organisation beizutragen und die Beschäftigten zu gesundheitsförderndem Verhalten zu befähigen, um arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Erkrankungen nachhaltig zu reduzieren und Gesundheitspotenziale zu stärken. Von daher engagieren sich alle gesetzlichen Krankenkassen seit vielen Jahren, um in gemeinsamem Bemühen mit Unternehmensleitungen, Arbeitnehmervertretungen, Betriebsärzten, Sicherheitsfachkräften und Berufsgenossenschaften betriebliches Gesundheitsmanagement in immer mehr Unternehmen zu etablieren.
3 AOK-Service Gesunde Unternehmen – Hilfestellung zu eigenverantwortlicher Umsetzung Seit rund 25 Jahren engagiert sich die AOK in Betrieben vieler unterschiedlicher Branchen und Größen und bietet Unterstützung bei der Einführung und Umsetzung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements an. Der AOK-Service Gesunde Unternehmen reicht von der Bereitstellung einzelner Bausteine (z.B. Analyseinstrumente, Seminare) über die Umsetzung von Maßnahmen, die den von der GKV gemeinsam festgelegten Wirksamkeits- und Qualitätsanforderungen entsprechen (3), bis hin zur Prozessbegleitung und Evaluation eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements. Rund 200 qualifizierte AOK-Fachkräfte verfügen über Praxiserfahrungen mit mehr als 2000 Partnerbetrieben. Sie beraten individuell und arbeiten eng mit den betrieblichen Akteuren und Experten (z.B. mit Sicherheitsfachkräften und Arbeitsmedizinern) sowie mit weiteren Partnern, wie z.B. den Berufsgenossenschaften, zusammen (4). Im Jahr 2003 belief sich das Ausgabenvolumen der AOK bundesweit allein für die Lebenswelt Betrieb auf 16,4 Millionen €. Die AOK verfolgt dabei die Strategie, Unternehmensleitung, Führungskräfte und Belegschaften zu einem selbstgesteuerten erfolgreichen Gesundheitsförderungsprozess zu befähigen und Hilfestellung zu leisten, soweit das Unternehmen Bedarf hat. Es geht darum an erfolgreichen Praxismodellen zu demonstrieren, dass betriebliches Gesundheitsmanagement zu einer WinWin-Situation führt und gerade auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als ein wichtiger Produktivitäts- und Wettbewerbsfaktor zu werten ist.
329 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
. Abb. 1. Branchenschwerpunkte der befragten Unternehmen
. Abb. 2. Betriebsgröße der befragten Unternehmen
330 C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Abb. 3. Bedeutung unterschiedlicher Kategorien wirtschaftlichen Nutzens
331 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
4 Wirtschaftlicher Nutzen aus Sicht von Unternehmen Ergebnisse einer Befragung Die Anforderungen an ein Unternehmen, das einen nachhaltigen Gesundheitsförderungsprozess in Gang setzen will, sind durchaus anspruchsvoll, aber sie lohnen sich – sowohl für die Belegschaft als auch für das Unternehmen selbst. Das zeigen Ergebnisse einer Befragung von 131 Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen (. Abbildungen 1 und 2) aus den Jahren 2003 und 2004 (5), die in Kooperation mit der AOK vor Ort entsprechende Gesundheitsförderungsprozesse – zumeist seit einigen Jahren – erfolgreich eingeführt und umgesetzt haben. Die beteiligten Unternehmen wurden als »models of good practise« ausgewählt und bewerteten auf der Grundlage ihrer eigenen Erkenntnisse anhand vorgegebener Kategorien wirtschaftlichen Nutzens die Bedeutung eines konsequenten betrieblichen Gesundheitsmanagements für das eigene Unternehmen bzw. ihr Betriebsergebnis. . Abbildung 3 zeigt den jeweiligen Anteil der Unternehmen, die die einzelnen Kategorien in ihrer Bedeutung für den wirtschaftlichen Nutzen mit »hoch bzw. sehr hoch« und »gering bzw. sehr gering« bewertet haben sowie den Anteil der Betriebe, die die Bedeutung einer Kategorie als »nicht zutreffend« eingeschätzt haben.
4.1 Interventionen und ihre Wirkungsketten Ungestützt beschrieben die befragten Unternehmen darüber hinaus den von ihnen selbst erlebten Zusammenhang zwischen konkreten Veränderungen, die durch den Gesundheitsförderungsprozess angestoßen wurden, und Verbesserungen des Betriebsergebnisses. Im Verlauf dieser Prozesse haben die Unternehmen in der Regel an mehreren Zielen gearbeitet, am häufigsten an der »Vorbeugung und Reduzierung arbeitsbedingter körperlicher Belastungen«, an der »ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsumfeld« und an der »Verbesserung des Betriebsklimas und der Mitarbeiterzufriedenheit« (vgl. . Abbildung 4). Betriebliches Gesundheitsmanagement hat nach den Erfahrungen der befragten Unternehmen einen positiven Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Gesundheit, Motivation und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter und verbes-
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Abb. 4. Schwerpunkte betrieblicher Gesundheitsförderungsprozesse
sert die Kommunikation auf allen betrieblichen Ebenen durch die intensive Partizipation der Mitarbeiter und Führungskräfte an den Prozessen. Alle diese Veränderungen führten über jeweils unterschiedlich erfahrene »Wirkungsoder Kausalketten« zu einem verbesserten wirtschaftlichen Ertrag der Unternehmen. Dabei betonten die meisten Unternehmen, dass es komplexe Wechselwirkungen gibt, die gleichermaßen zu sozialen und wirtschaftlichen Verbesserungen führen. Deutlich zeigte sich in den Praxisbeispielen die Wechselwirkung zwischen sogenannten »weichen« sozialen Faktoren (z.B. die Verbesserung der betriebsinternen Kommunikation und Motivationssteigerung) und der positiven Entwicklung des Betriebsergebnisses. Die aus den Beschreibungen der Unternehmen ermittelten engen Zusammenhänge lassen sich beispielhaft anhand folgender ausgewählter Wirkungsketten darstellen: Als besonders bedeutend für wirtschaftlichen Nutzen werteten die befragten Unternehmen die »Ergänzung und damit Optimierung von Arbeitsschutzstrukturen und Arbeitsschutzmaßnahmen«, die durch den Prozess der betrieblichen Gesundheitsförderung unterstützt wird. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere der Aufbau von Kommunikationsstrukturen, Hilfestellungen beim lösungsorientierten Vorgehen und die Partizipation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei Verbesserungsvorschlägen als maßgeblich für die
333 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
. Abb. 5. Kostensenkung durch Optimierung des Arbeitsschutzes
erlebte Optimierung beurteilt, wodurch wiederum Unfälle und Krankenstände reduziert und damit Kosten gesenkt werden konnten: Auch die gesundheitsgerechte Gestaltung betrieblicher Rahmen- und Arbeitsbedingungen führte nach den Erfahrungen der Unternehmen zunächst zu positiven Auswirkungen auf sogenannte »weiche« Faktoren wie z.B. Betriebsklima und Motivation, im weiteren zu einem Rückgang der Arbeitsunfähigkeit und Fluktuationsrate. Die damit verbundene erhöhte Anwesenheitsquote der Beschäftigten senkte entsprechend die Belastungen durch Mehrarbeit bei den
. Abb. 6. Produktivitätssteigerung durch verbesserte Arbeitsbedingungen
334
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Abb. 7. Erhöhte Kundenzufriedenheit durch bessere Kommunikation im Betrieb
anwesenden Mitarbeitern, verbesserte die Planbarkeit der Prozesse, senkte Fehlerquoten und Nachbesserungsbedarf und erhöhte somit insgesamt die Produktivität. Vor allem in der Branche »Dienstleistungen«, in der im wesentlichen 40 Unternehmen des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitswesens dargestellt sind, wird der Kategorie »erhöhte Kundenzufriedenheit« zentrale Bedeutung für die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und die Unternehmenssicherung eingeräumt. Auch in der Branche »Handel, Gastgewerbe, Verkehr« haben die Unternehmen intensiven Kundenkontakt, so dass Kundenzufriedenheit auch hier von hoher Bedeutung für den Unternehmenserfolg ist. Gesundheitsförderung steigerte nach den Erfahrungen dieser Unternehmen über verbesserte innerbetriebliche Kommunikationsprozesse und insbesondere über ein besseres Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, die sich ihrerseits positiv auf den Umgang mit Kunden sowie die Dienstleistungs- und Beratungsqualität auswirkte, was wiederum die Kundenzufriedenheit erhöhte.
4.2 Beispiele für messbaren wirtschaftlichen Nutzen Zusätzlich wurde nach konkreten Zahlen gefragt, aus denen sich ein monetärer Erfolg ableiten lässt. Gefragt wurde z.B. nach Einsparungen bei der Lohnfort-
335 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
. Tabelle 1. Beispiele für Einsparungen bei der Lohnfortzahlung pro Jahr
Branche
Betriebsgröße
Einsparung
5 5 5 5
4.000 Mitarbeiter 2.000 Mitarbeiter 550 Mitarbeiter
1.000.000 Euro 1.000.000 Euro 600.000 Euro
420 Mitarbeiter 420 Mitarbeiter 270 Mitarbeiter 160 Mitarbeiter 152 Mitarbeiter
70.000 Euro 320.000 Euro 150.000 Euro 85.000 Euro 100.000 Euro
5 5 5 5
Öff. Verwaltung Automobilzulieferer Chem. Industrie Herstellung v. Metallerzeugnissen Ernährungsindustrie Elektroindustrie Textilindustrie Gesundheitswesen
zahlung, nach durch Produktivitätssteigerungen erzielten Gewinnen und nach einer Einschätzung der Kennzahl »Return on Investment« (ROI). Dabei wurde deutlich, dass die Einsparmöglichkeiten und Produktivitätssteigerungen aufgrund von Gesundheitsförderungsprozessen in den Unternehmen vielfach noch nicht konsequent berechnet werden. Nur knapp 10 % der befragten Unternehmen äußerten sich zu konkreten Einsparungen bei der Lohnfortzahlung (vgl. . Tabelle 1). Als beachtliches Ergebnis eines Unternehmens der Ernährungsindustrie mit über 400 Beschäftigten wurden z.B. 1,6 Millionen € Einsparungen an Lohnfortzahlungen durch eine Senkung der Arbeitsunfähigkeitszeiten in einem Zeitraum von fünf Jahren angegeben. Im Durchschnitt sind dies pro Jahr 320.000 € weniger Lohnfortzahlungen. Maßnahmen, die diesen Erfolg mitbegründeten, waren beispielsweise die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze, die Anschaffung technischer Hilfen, wiederholte Schulungen der Mitarbeiter zu gesundheitsbewusstem Verhalten am Arbeitsplatz, die Einführung der jährlichen Grippeschutzimpfung und eine Umstellung des Schichtsystems. Die von einem Automobilzulieferer mit etwa 2000 Beschäftigten angegebene Einsparung bei der Lohnfortzahlung von circa einer Million € konnte durch eine deutliche Verbesserung der Mitarbeiterzufriedenheit und der internen Kommunikation sowie durch eine Senkung der Arbeitsunfälle erreicht werden. In offenen Fragen ergänzten 16 % der befragten Unternehmen das Thema »Senkung der Lohnfortzahlung« durch zahlenmäßige Angaben zu Kranken-
336
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
standssenkungen (pro Jahr oder im Projektzeitraum). Diese Unternehmen hatten einen vergleichsweise hohen Ausgangs-Krankenstand zwischen 7,6 % und 11 % und konnten Rückgänge zwischen rund 3 und 5 Prozentpunkten erzielen. Z.B. gab ein Automobilzulieferer mit rund 1500 Beschäftigten an, über den Zeitraum von 10 Jahren, in denen das Unternehmen betriebliche Gesundheitsförderung durchführt, den Krankenstand um insgesamt 5 Prozentpunkte gesenkt zu haben und nun einen für diese Branche konstant niedrigen Krankenstand zu halten. Zwei kleinere Unternehmen mit über 100 (Großhandelsunternehmen) bzw. 160 Beschäftigten (Textilgewerbe) gaben 3 bzw. 3,5prozentige jährliche Produktivitätssteigerungen an. Nur drei Unternehmen hatten die für Gesundheitsförderung aufgewendeten Investitionen mit dem erreichten wirtschaftlichen Nutzen in Beziehung gesetzt und konnten als Kennziffer für ihre Rendite einen Return on Investment von 1:3 (Stadtverwaltung mit 8500 Beschäftigten) bzw. 1:4 (Krankenhaus mit 150 Beschäftigten und ein Betrieb aus der Branche Maschinenbau mit 2100 Beschäftigten) ausweisen. Ein Textilwerk gab den Zeitraum, nach dem sich seine Investitionen amortisiert haben, mit einem Jahr an.
4.3 Zentrale Erfolgsfaktoren In den offenen Fragen bot sich den befragten Unternehmen die Möglichkeit, die aus ihrer Sicht zentralen Erfolgsfaktoren für das Gelingen von betrieblichem Gesundheitsmanagement zu benennen. Zusammenfassend ergeben sich eine Reihe sozialer Faktoren, die aus Sicht der Unternehmen Vorbedingung für wirtschaftlichen Erfolg sind. Als wirtschaftlicher Nutzen werden je nach Unternehmen Kostensenkungen, Produktivitätssteigerungen und Erhöhung der Kundenzufriedenheit genannt, allesamt wichtige Voraussetzungen zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Betriebliches Gesundheitsmanagement führt in der Einschätzung der auf diesem Gebiet erfahrenen Unternehmen zu 4 verbesserter Kommunikation und zu verbesserten Kommunikationsstrukturen, 4 verbesserten Problemlösungen, 4 Übergabe/Übernahme größerer Verantwortung für ein gesundes Unternehmen, 4 erhöhter Sensibilisierung für die eigene Arbeit und Gesundheit,
337 Erfolgsfaktor Betriebliches Gesundheitsmanagement
4 Verbesserung von Motivation, Mitarbeiterzufriedenheit und Betriebsklima, 4 einer größeren Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen. Als Erfolgsfaktoren nannten die befragten Unternehmen 4 Partizipation der Mitarbeiter, 4 Beteiligung aller Ebenen, 4 Engagement der Führungskräfte, 4 Kooperation mit externen Experten, 4 Gesundheitszirkel, 4 schnelle Umsetzung von Maßnahmen, 4 Nachhaltigkeit. Über alle Branchen hinweg wurde eine positive Bewertung der Beratungsleistungen der AOK abgegeben. Insbesondere wurde die verlässliche und kompetente Unterstützung durch einen externen und damit »betriebsneutralen« Moderator von den Unternehmen als Grundlage für die erfolgreiche Entwicklung ihrer eigenen Ressourcen beschrieben.
5 Perspektiven Aus den Ergebnissen der vorliegenden Befragung von Unternehmen, die selbst – meist langjährig – einen vom Management getragenen Prozess betrieblicher Gesundheitsförderung durchführen, lässt sich die generelle Schlussfolgerung ziehen: Betriebliches Gesundheitsmanagement wirkt! Die von den Unternehmen beschriebenen, im eigenen Arbeitsumfeld erlebten Wirkungsketten machen die Vorteile betrieblicher Gesundheitsförderung sowohl für die Belegschaft als auch für den Unternehmenserfolg sehr konkret und nachvollziehbar. So bleibt zu wünschen, dass solche erfolgreichen Praxismodelle weiter Schule machen und zunehmend Unternehmensleitungen – im Bewusstsein ihrer Verantwortung und ihrer Möglichkeiten – daran gehen, gemeinsam mit ihrer Belegschaft und ihrem Führungsstab das Thema Gesundheit dauerhaft im eigenen Haus zu integrieren. Denn noch gibt es angesichts des gewaltigen Potenzials von rund drei Millionen steuerpflichtigen Betrieben in Deutschland (6, 2003) noch viel zu wenige solcher ermutigenden Beispiele. Die Expertenkommission der Bertelsmann Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung hat seinerzeit konstatiert, dass insbesondere Kranken- und Unfallversiche-
338
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
rung die betriebliche Gesundheitspolitik in der Vergangenheit mit geprägt haben. Sie werden auch in Zukunft ihre Zusammenarbeit weiter ausbauen und ungeachtet des Scheiterns des neuen Präventionsgesetzes (7) ihren Auftrag engagiert wahrnehmen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass den Krankenkassen grundsätzlich nur begrenzte Mittel zur Unterstützung von Partnerbetrieben beim Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements zur Verfügung stehen. Die notwendige und vielbeschworene Stärkung der betrieblichen Gesundheitspolitik wird sich daher vor allem aus der Eigeninitiative von Unternehmen entwickeln müssen, die begriffen haben, dass betriebliches Gesundheitsmanagement ein Erfolgsfaktor für wirtschaftliches Überleben ist. Pragmatische Hilfen zur Selbsthilfe stellt neben anderen Akteuren und Netzwerken auch die AOK interessierten Unternehmen u.a. im Internet zur Verfügung (8).
Literatur 1. 2.
3.
4. 5.
6. 7. 8.
Karl Kuhn: Förderung der Qualität bei der Arbeit in der EU. In: Arbeit, Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Heft 3/2004, S. 228–235 Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik. Vorschläge der Expertenkommission. Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2004 Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen (Hrsg.): Gemeinsame und einheitliche Handlungsfelder und Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 1 und 2 SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 9. Mai 2005 AOK-Bundesverband (Hrsg.): AOK-Service Gesunde Unternehmen: Betriebliches Gesundheitsmanagement. Bad Homburg, August 2004 AOK-Bundesverband (Hrsg.): Wirtschaftlicher Nutzen Betrieblicher Gesundheitsförderung aus Sicht von Unternehmen. Dokumentation einer Befragung. Bonn, Stand April 2005 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland: Öffentliche Finanzen – Steuerpflichtige, ...www.destatis.de Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/4833 vom 15.02.2005 Unter www.aok-business.de und www.aok-gesunde-unternehmen.de finden Unternehmer und Arbeitnehmer Hintergrundinformationen, praktische Tipps und Arbeitsvorlagen (z.B. Werkzeugkasten Gesunde Unternehmen, Checklisten, Muster-Betriebsvereinbarungen etc.), die individuell und betriebsspezifisch einsetzbar sind
339 Prävention in den Gesundheitsberufen
Prävention in den Gesundheitsberufen und in Gesundheitseinrichtungen Ulrich Stößel*, Holger Pfaff
Abstract Prävention zum Thema von Gesundheitsberufen und von Gesundheitseinrichtungen aus der Perspektive der dort Beschäftigten zu machen, ist ein nicht erst heute diskutiertes Thema. Gleichwohl erlangt es angesichts des zahlenmäßigen Umfangs der Gesundheitsberufe auf der einen Seite und der vielfältigen gesundheitlichen Risikosituationen und -konstellationen der verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitssystem eine nicht mehr zu leugnende Dringlichkeit. Ohne den Präventionsbedarf anderer Berufsgruppen verleugnen zu wollen, konzentrieren wir uns in dieser Abhandlung auf die beiden größten Gruppen: Pflegende und Ärzte. Unser Beitrag will zunächst mit einigen epidemiologischen Daten umreißen, welches Gefährdungspotenzial für diese beiden Berufsgruppen gegeben ist. Vor diesem Hintergrund sollen Überlegungen darüber angestellt werden, welche Präventionsansätze erfolgversprechend für diese Zielgruppen sein können. Die Ausführungen zur Prävention widmen sich dem Versuch, einen Überblick über die Präventionsangebote zu geben. An Beispielen werden die Vorgehensweisen sichtbar gemacht, die in der Prävention und Gesundheitsförderung für Gesundheitsberufe und Gesundheitseinrichtungen zu beachten sind. Dabei werden sowohl bedarfsorientierte Präventionsansätze als auch arbeitspsychologisch orientierte und organisationssoziologisch begründete Ansätze vorgestellt. Angesichts der Herausforderungen und Umwälzungen, vor denen die Gesundheitsberufe und -einrichtungen in den kommenden Jahren nicht zuletzt aufgrund ökonomischer, sozialpolitischer, medizinisch-technischer und demographischer Veränderungen stehen, darf sich Gesundheitsförderung für diese
* e-mail:
[email protected]
340
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Berufe nicht darauf beschränken, nur sekundär-präventiv und reaktiv vorzugehen. Deswegen ist für alle Ausbildungsgänge im Bereich der Gesundheitsberufe zu fordern, dass sich ihre Curricula nicht nur theoretisch, sondern projektund erprobungsbezogen damit beschäftigen, personen- und strukturbezogen Gesundheitsförderung für sich selbst erfahrbar zu machen. In der deutschen Präventionslandschaft für Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsberufe mangelt es mittlerweile nicht an wissenschaftlichen Grundlagen, epidemiologischen Daten oder Instrumenten der Erfolgskontrolle. Es bedarf vielmehr des wissenschaftlich begleiteten Transfers dieses Wissens in die Praxis. Schlüsselworte: Prävention, Gesundheitsförderung, Gesundheitsdienst, Ge-
sundheitsberufe
Einleitung Prävention zum Thema von Gesundheitsberufen und von Gesundheitseinrichtungen aus der Perspektive der dort Beschäftigten zu machen, ist ein nicht erst heute diskutiertes Thema. Gleichwohl erlangt es angesichts des zahlenmäßigen Umfangs der Gesundheitsberufe auf der einen Seite und der vielfältigen gesundheitlichen Risikosituationen und -konstellationen der verschiedenen Berufsgruppen wie Ärzte, Pflegende, Laborberufe, med. Assistenzpersonal in ambulanten und stationären Einrichtungen eine nicht mehr zu leugnende Dringlichkeit (Müller&Stößel 1998; Hasselhorn et al. 1999; BGW 2003; Pfaff 2004a). Dabei sind es weniger die ›klassischen‹ Indikatoren für eine berufsbedingte Gesundheitsgefährdung wie Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten, sondern mehr und mehr die aus den Anforderungen der Arbeitsaufgaben im Gesundheitsdienst resultierenden psychosozialen Belastungen und Beanspruchungen, die in den letzten Jahren die Präventionsdiskussion bestimmt haben. Dies kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor auch klassische Präventionsthemen wie Infektionsprophylaxe und Schutzimpfungen ein nicht zu unterschätzendes Präventionsthema im Gesundheitsdienst sind. Fraglos den breiteren Raum nehmen aber mittlerweile Themen ein, die sich mit der Prävention psychosozialer Belastungen auf der Ebene der handelnden Subjekte wie auch im Setting der jeweiligen Gesundheitseinrichtung (z.B. Krankenhaus, Pflegeheim) beschäftigen (Müller et al. 1997; Dietscher 2000; Scheuch 2001; Pfaff 2004a).
341 Prävention in den Gesundheitsberufen
Statistisches Bundesamt 2005.01.0232
. Abb. 1. Beschäftigte im Gesundheitswesen 2003 nach Berufsgruppen
Unser Beitrag will deshalb zunächst mit einigen epidemiologischen Daten umreißen, welches Gefährdungspotenzial für die Berufsgruppen Ärzte und Pflegende in den verschiedenen Berufsfeldern gegeben ist. Vor diesem Hintergrund sollen Überlegungen darüber angestellt werden, welche Präventionsansätze Erfolg versprechend für diese Zielgruppen sein können. Da die Ärzte und Pflegekräfte zahlenmäßig, wie . Abbildung 1 deutlich macht, das Gros der Gesundheitsberufe stellen, wollen wir sie hier in das Zentrum stellen. Dabei sind wir uns bewusst, dass nicht nur bei diesen beiden Berufsgruppen Präventionsbedarf herrscht.
342
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Zur Epidemiologie gesundheitlicher Risiken in den Gesundheitsberufen International gibt es eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit den spezifischen Risiken und Gefährdungspotenzialen im Gesundheitsdienst und bei Gesundheitsberufen beschäftigen. Skandinavische und nordamerikanische Untersuchungen (z.B. Arnetz 1999; Bast-Pettersen et al. 1995; Eliovainio&Kivimäki 1998; Lindstöm 1993; Kmietovicz 2002; Felton 1998; Fields et al. 1995; Frank 1995; Tyssen 2001; Tyssen et al. 1998; Linzer et al. 2002; Hagberg et al. 1993, 1995, 1999) liefern eine umfangreiche Material- und Problemsammlung zu diesem Belastungsgeschehen. Stärker in den Fokus sind international auch die nicht in Krankenhäusern tätigen Ärzte gerückt (Bovier et al. 2005; Karazmann et al. 1994). Eine epidemiologische Betrachtung der gesundheitlichen Risiken mit Präventionspotenzial in den Gesundheitsberufen und -einrichtungen in Deutschland kann auf verschiedenen Datenquellen aufbauen. In den letzten Jahren haben vor allem das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (Badura et al. 2004) und die Deutsche Angestelltenkrankenkasse (DAK) auf der Basis der amtlichen Statistiken etwa zur Arbeitsunfähigkeit versucht, die Arbeitsbedingtheit der Fehlzeiten und deren Berufsgruppenspezifität zu ermitteln. Während der AOK-Fehlzeitenreport 2004 (bezogen auf das Jahr 2003) überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten etwa für Krankenhäuser (5,3%) und Altenpflegeeinrichtungen (5,8%) bei durchschnittlich 4,9% Fehlzeitenquote für alle Branchen ausweist, differenziert der Report die Unterschiede aber dahingehend, dass Ärzte (n=6.500; 5% aller deutschen Klinikärzte) mit 1,8% Fehlzeitenquote deutlich seltener zu den Verursachern dieser Fehlzeiten gehören als beispielsweise Labor-, Pflege- und Reinigungspersonal. Dass bei solchen Vergleichen immer auch Selektionseffekte berücksichtigt werden sollten, machen die Ergebnisse des DAK-Gesundheitsreports 2004 deutlich. Hier rangiert entsprechend dem starken Anteil der Gruppe der Angestellten unter den Versicherten allgemein die Wirtschaftsgruppe ‚Gesundheitswesen’ an zweithöchster Stelle der AU-Statistik (mit 3,9%), nur übertroffen von der öffentlichen Verwaltung. Die (für das Versichertenkollektiv der DAK) relativ hohen Ausfallzeiten können – so die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW 2003) – auf die belastenden Arbeitsbedingungen insbesondere in der Altenpflege zurückgeführt werden. In diesem Teilkollektiv sticht die weit
343 Prävention in den Gesundheitsberufen
überdurchschnittliche Arbeitsunfähigkeit verursacht durch Muskel-SkelettErkrankungen und psychische sowie Verhaltensstörungen ins Auge. Diese Krankheitsursachen verzeichnen insgesamt eine Zunahme unter den AU Ursachen. Die Statistik des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG 2004) vermittelt allerdings ein anderes Bild. Danach ist die Zahl der Verdachtsanzeigen der Berufskrankheit (BK) 2108 seit ihrer Aufnahme in die Berufskrankheiten-Liste im Jahre 2000 rückläufig. Dies kann allerdings nicht durch einen Rückgang der beruflichen Belastung erklärt werden. Diese einfache Begründung verkennt die Mechanismen einer relativ rigiden Begutachtungspraxis bei dieser BK. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Zuhilfenahme der Daten aus AU-Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherer eine gute Annäherungsmöglichkeit an die Problemdimensionen darstellt. Gleichwohl ist besonders der Gesundheitsdienst stärker als andere Branchen von einem Verhaltensmuster geprägt, dass zumindest bei Ärzten und Pflegenden erst sehr viel später eine Symptomwahrnehmung zulässt, die zu (Behandlungs-)Konsequenzen mit AURelevanz durch andere Behandelnde führt. Der Anteil derjenigen, die aufgrund ihres leichteren Zugangs zu medizinischer Hilfe und medikamentöser Behandlung zur Behandlung durch Selbstmedikation oder aber durch Berufskollegen tendieren, dürfte einen großen Teil der Dunkelziffer in den amtlichen AU-Statistiken erklären. Andere amtliche Statistiken wie die Strukturerhebung des BIBB/IAB (1998/99) tragen durch ihre Repräsentativität hinsichtlich der befragten Berufsgruppen dazu bei, das möglicherweise erhöhte gesundheitliche Gefährdungspotenzial von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen in den Maßstab der gesamten Erwerbstätigen zu stellen. So tendieren Pflegekräfte häufiger aus gesundheitlichen Gründen zu einem Ausstieg aus Ihrem Beruf (Hasselhorn et al. 2003). Pflegende klagen auch deutlich stärker über fast alle Beschwerden, die mit dem Muskel-Skelett-System und dem Bewegungsapparat assoziiert sind (vgl. u.a. Nübling et al. 2001). Ärzte zeigen in dieser Vergleichsuntersuchung hingegen ein überdurchschnittliches Belastungsempfinden bei psychosomatischen Erscheinungen wie Müdigkeit, Mattigkeit, übermäßiges Schlafbedürfnis, Nervosität und Reizbarkeit sowie Niedergeschlagenheit, wie es bereits Herschbach (1991) festgestellt hatte. Lauter werden mittlerweile auch die Stimmen aus den betroffenen Berufsgruppen selbst, die mittlerweile nicht nur Gehör in ihren eigenen Standesorga-
344
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
nen, sondern auch zunehmend in der wissenschaftlichen Fachwelt finden. In zahlreichen Landesärztekammern sind bereits eigene Befragungen bei Mitgliedsärzten organisiert worden, die das unterschiedliche Belastungserleben von Krankenhaus- und niedergelassenen Ärzten beschreiben (Kaiser 2002; Dornier System Consult 1998; Hofmann-Preiß 2003; Goesmann et al. 2002). Die Ergebnisse dieser vor allem Aspekte des Wohlbefindens und der Gesundheit von Ärzten thematisierenden Untersuchungen decken sich oft mit Erkenntnissen, die aus anderen wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgegangen sind (Bergner 2004; Enzmann&Kleiber 1989; Jurkat&Reimer 2001; Mäulen 2005; Petru&Angerer 2005; Reimer et al 2001; Resch&Hagge 2003; Weber 1996; Wegner 2002). Selbst das angesehene British Medical Journal (Smith 2001; Edwards et al.2001) hat sich unter der Frage ‚Why are doctors so unhappy?’ daran gemacht, die Faktoren in der Wahrnehmung der Ärzte nicht nur im Nationalen Gesundheitsdienst Englands, sondern unter der weltweiten Leserschaft des BMJ zu eruieren. Die gewichtigsten Faktoren wurden in Überarbeitung, Unterbezahlung, inadäquater Unterstützung und abnehmenden Kontrollmöglichkeiten gesehen. Demgegenüber wurden Aspekte wie die Versprechungen der modernen Medizin, fehlendes Training, fordernde (schwierige) Patienten, ständiger Wandel in der Medizin, Zunahme von Verantwortung oder Unterbrechung der Patientenkontakte als nicht so gewichtig angesehen. Insgesamt lassen sich aus diesen Ergebnissen der Belastungsforschung Problemschwerpunkte im Bereich der Gratifikation und der sozialen Unterstützung herauslesen. Zunehmend wird auch der Zusammenhang zwischen Überarbeitung der Ärzte und Patientensicherheit thematisiert. Die von vielen Forschern vertretene These, dass Überstunden zu einer höheren Zahl von Behandlungsfehlern führen, hat deutlich gemacht, dass das Thema psychosoziale Belastungen auch aus Gründen der Patientensicherheit weiterhin auf der Tagesordnung stehen sollte (Pfaff 2004b). Dabei wird zunehmend die Frage untersucht, welche Faktoren es in einem Krankenhaus ermöglichen, trotz hoher Belastung eine gute Qualität in der Krankenversorgung zu garantieren. Als Kompensationsfaktoren werden dabei unter anderem Faktoren wie »Vertrauenskultur«, »Sozialkapital« und »Risikomanagement« genannt und z.Tl. bereits untersucht (Pfaff et al. 2005a,b; Pfaff 2004b). Die Public Health-Studie von Stern (1996) hat nicht unmaßgeblich dazu beigetragen, dass vermehrt Studien über berufsbedingte gesundheitliche Belas-
345 Prävention in den Gesundheitsberufen
tungen psychosozialer Art angestoßen wurden. Im Ergebnis hat dies mit dazu geführt, dass Gesetzgeber, Berufsverbände, Unfallversicherer, Ärztekammern und Betroffene intensiver darüber nachdenken, welche Präventionsstrategien in den jeweiligen Settings und Strukturen der verschiedenen Gesundheitsberufe entwickelt werden können bzw. notwendig sind, um arbeitsbedingte Erkrankungen und Berufskrankheiten zu vermeiden. Wie schon eine internationale Sammelarbeit über die gesundheitlichen Gefährdungen bei der Arbeit in Gesundheitseinrichtungen im Auftrag der ILO (1997) hat deutlich werden lassen, lässt sich das Gefährdungspotential nicht auf einzelne Faktoren reduzieren, sondern besteht besonders im Gesundheitsdienst darin, dass sich chemische, physikalische, infektiologische und psychosoziale Gefährdungen unter den je spezifischen Bedingungen der Gesundheitseinrichtung (z.B. Krankenhaus, Rehabilitationseinrichtung, Arztpraxis etc.) zu tatsächlichen Beeinträchtigungen der Gesundheit der Mitarbeiter dieser Einrichtungen entwickeln und aufschaukeln können. Hofmann et al. (2005) haben bereits vor rund zwanzig Jahren den Gesundheitsdienst als Zielgruppe entdeckt. Sie haben im deutschsprachigen Raum gezielt für das im Arbeits- und Gesundheitsschutz in Gesundheitseinrichtungen tätige Personal Fortbildungen organisiert. Auf diesen Fortbildungen wurde die ganze Bandbreite dieser Gefährdungsmöglichkeiten in Epidemiologie und Präventionspraxis beleuchtet. Mittlerweile haben sich eine ganze Reihe von Aktivitäten herausgebildet, die sich unter das allgemeine Ziel stellen, eine wirkungsvolle und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung für diejenigen zu organisieren, die eigentlich für die Gesundherhaltung anderer Menschen da sind.
Prävention und Gesundheitsförderung für Gesundheitsberufe und -einrichtungen Die nachfolgenden Ausführungen widmen sich dem Versuch, einen Überblick über die mittlerweile vielzähligen Präventionsangebote zu geben, ohne den Anspruch zu erheben, sie vollständig abzubilden. An Beispielen sollen Vorgehensweisen sichtbar gemacht werden, die in der Prävention und Gesundheitsförderung für Gesundheitsberufe und Gesundheitseinrichtungen zu beachten sind. Befragungen bei Krankenhausbeschäftigten allgemein (Kaluza et al. 1998), aber auch ausschließlich bei Krankenhausärzten (Resch&Hagge 2003) lassen
Gesamt
Ärzte
Pflege
n=1280
n=338
n=421
Med. Technik n=197
Verwalt.
Wirtsch.
n=124
n=81
Haustechnik n=49
Rangplatz der Antwort »sehr wichtig« Rückenschule
1
1
1
1
1
1
1
Teamgespräche
2
2
2
2
3
2
2
Entspannungs-/Stressbewältigungskurse
3
3
3
2
2
5
4
Konfliktberatung am Arbeitsplatz
4
6
4
4
4
3
9
Beratung zur Arbeitsorganisation
5
4
5
8
5
4
5
Fachberatung zur Arbeitsplatzgestaltung
6
7
6
7
6
7
7
Fitness- und Ausdauertraining
7
5
7
5
7
9
3
Kurse zur gesunden Ernährung
8
9
10
6
8
6
9
Gymnastikkurse
9
11
8
9
9
10
12
Beratung im Umgang mit Suchtproblemen
10
10
9
10
10
8
6
Raucherentwöhnung
11
8
11
11
11
11
7
Organisation von Mannschaftssport
12
12
12
12
12
12
11
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Wichtigkeit bestimmter Angebote
346
. Tabelle 1. Interesse an unterschiedlichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bei Beschäftigten verschiedener Funktionsbereiche des Universitätsklinikums Marburg (geordnet nach Rangplätzen für die Antwort »sehr wichtig«) (Quelle: Kaluza et al. 1998, S. 65)
347 Prävention in den Gesundheitsberufen
erkennen, dass die Beschäftigten nicht nur eine klassische Form der Prävention erwarten, sondern auch darüber hinaus gehende Maßnahmen. Resch&Hagge entdeckten im Rahmen ihrer Untersuchung bei einer kleinen Befragtengruppe vor allem Aspekte der Struktur- bzw. Verhältnisprävention (Arbeitsorganisation, Arbeitszeitregelung) neben Maßnahmen zum Selbstmanagement und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie als besonders wichtig. Kaluza et al. (1998) erstellten für ein größeres Universitätsklinikum eine Interessensrangliste zur Gesundheitsförderung bei verschiedenen Beschäftigtengruppen (vgl. . Tabelle 1). Diese Übersicht, die sich häufig auch aus der Arbeit in Gesundheitszirkeln ergibt (vgl. z.B. Vogt 1998; BGW 2004) macht auf sehr anschauliche Weise deutlich, dass es jenseits gemeinsamer und höher gewerteter Interessen auch eine Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse zwischen den Berufsgruppen gibt. Während Rückenschulen und Teamgespräche zur Verbesserung der Zusammenarbeit von allen Gruppen für die am stärksten interessierenden Angebote gehalten wurden, werden z.B. Raucherentwöhnungsprogramme oder Sport- und Gymnastikangebote unterschiedlicher, in der Tendenz aber als deutlich weniger interessant eingeordnet. Das Resumee der Autoren, dass Interessen einerseits und die tatsächliche Nachfrage und Beteiligung an solchen Angeboten andererseits zwei verschiedene Dinge seien, die die Gesundheitsförderung im Krankenhaus noch nicht als Erfolgsgeschichte beschreibbar machten, hat vermutlich auch heute noch einige Geltung. Erhebungen wie diese am Universitätsklinikum in Marburg sind auch an anderen Einrichtungen durchgeführt worden, wobei in den letzten Jahren zusehends die Frage an Bedeutung gewonnen hat, mit welcher Untersuchungsmethodik und zu welchem Zweck solche Erhebungen durchgeführt werden. Als Teil einer Gefährdungsanalyse durch die Mitarbeiter des Arbeitsschutzes (Technische Aufsichtsbeamte der Berufsgenossenschaften, Betriebsärzte) haben solche Erhebungen einen anderen Stellenwert als die mittlerweile als ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ z.B. von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) angebotenen Befragungs- und Analyseinstrumente (Gregersen 2003) zur Mitarbeiterbefragung. Davon zu unterscheiden sind wissenschaftlich getestete Befragungsinstrumente wie der COPSOQ (Copenhagen Psychosocial Questionnaire)(vgl. Nübling et al. 2005; Kirby et al. 2003; Petterson&Arnetz 1997) und der Mitarbeiter-Kennzahlenbogen (MIKE), der reliable und valide Instrumente zur Erfassung von Stressoren und Ressourcen im Krankenhaus enthält (Pfaff et al. 2004) Diese Art von Selbst-Monitoring
348
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Tabelle 2. Interventionen zum Stressabbau mit dem Ziel: Bessere Patientenversorgung (individuelle Ebene) (n. Firth-Cozens 2001, S. 220) primärpräventiv
reaktiv
5 Auswahlverfahren. 5 Gute Berufslaufbahnberatung zu verschiedenen Ausbildungsabschnitten 5 Beachtung eigener Gefühlslagen& Selbstkritik als Student 5 Kognitive Restrukturierung für Selbstkritik: Einzel- und Gruppentraining 5 Coping-Strategien (z.B. gegen die Gefahr der Verleugnung, Alkohol-Abusus etc.) 5 Wahrnehmung psychologischer Probleme 5 Obligatorisch, einen eigenen Vertrauensarzt zu haben und Verbot der Selbst-Verschreibung von Medikamenten 5 Verbesserung von Kommunikations-Kompetenzen zum besseren Umgang mit Beschwerden 5 Entwicklung eines besseren Verständnisses der persönlichen Anteile am Stress
5 Erleichterung der Wege des Hilfesuchens 5 Frühe Aufmerksamkeit für (mögliche) Schwierigkeiten 5 Beratung und Psychotherapie 5 Unterstützung bei Schadensregulierungen und Kündigungsverfahren 5 Medikation 5 Aufnahme der Regelung von Rechtsstreitigkeiten in das Arbeitsrecht
stellt eine wichtige Grundlage für eine adressaten- und zielgerechte Interventionsplanung dar. Vor dem Hintergrund, dass vor allem in den patientenbezogenen Berufen der Ärzte und Pflege (vgl. hierzu Zimber 2003) der Umgang mit Stress und das Erlernen von Entspannungstechniken nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern auch der Qualität der Patientenversorgung dienen sollen, bietet die Arbeitspsychologie eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten an, wie sie hier beispielhaft aus einer Übersicht von Firth-Cozens (2001) zusammengestellt sind (. Tabellen 2 und 3)(vgl. auch Ulich 2003).
349 Prävention in den Gesundheitsberufen
. Tabelle 3. Interventionen zum Stressabbau mit dem Ziel: Bessere Patientenversorgung (organisatorische Ebene) (n. Firth-Cozens 2001, S. 220)
primärpräventiv
reaktiv
5 Regelmäßige Beobachtung organisatorischer Risiken, einschließlich aller Unfälle 5 Verbesserung des Management-Stils: Kommunikation, Ermutigung zu einer lernenden, nicht abwertenden Organisation, 5 Einbezug von Klinikern in das Management, 5 Klare Botschaften über akzeptierte Vorgehensweisen; 5 Verbesserung der ManagementFertigkeiten für ältere Ärzte, 5 Bessere Supervisions-Techniken; 5 Wahrnehmung von Risiken; 5 Nutzen eines Audit-Systems; 5 Team-Führung; 5 Steigerung der Durchschlafdauer; 5 Reduktion unnötiger Aufgaben im Nachtdienst; 5 Bereitstellung sicherer Möglichkeiten der 5 Wahrnehmung und Diskussion von kollegialen Belangen; 5 Mehr Gebrauch machen von Protokollen. 5 Der Unordnung einen Riegel vorschieben; 5 Rund um die Uhr geöffnete Kantinen; 5 Gemeinsame Ausbildung von Ärzten und Schwestern in frühen Jahren zur Verbesserung der Qualität interdisziplinärer Teamarbeit
5 Bereitstellung von Beratungsdiensten& Verbindung zu ehrenamtlichen Vereinigungen wie z.B. den Anonymen Alkoholikern 5 Nutzbarmachen von Beschwerden und widrigen Ereignissen als Lernchance für eine bessere Patientenversorgung 5 Verbesserung der Kommunikation mit Patienten bei der Behandlung von Beschwerden 5 Unterstützung für Ärzte, die gefährdet sind, die von chadensvorwürfen oder Kündigung bedroht sind 5 Forschung
Firth-Cozens differenziert ihr Maßnahmeangebot dabei bewusst in solche Angebote, die sich an die individuelle Person richten, und solche, die eher die Organisation betreffen. Die Erhöhung der Sensibilität der Gesundheitsberufe und das Bewusstmachen der möglichen Gesundheitsrisiken durch den Beruf schon in der Ausbildung gehören sicherlich zu den Forderungen, die sich unabhängig von der (national unterschiedlichen) Organisation des Gesundheitssystems stellen lassen.
350
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Tabelle 4. Ansatzpunkte, Funktionen und Ziele von Supervision (Wittich 2003)
Ansatz
Funktion
Zielsetzung
Konfliktursachen beseitigen Konflikte bewältigen Emotional entlasten
Korrektiv/Restaurativ
Beeinträchtigungslosigkeit – Psychosoziales Wohlbefinden
Informationen u. Wissen vermitteln
Normativ
Wissenserweiterung
Fähigkeiten u. Ressourcen stärken
Formativ/Integrativ
Kompetenzförderung
Belastungen vermeiden
Präventiv
Schädigungsfreiheit – Gesundheitsförderung
Zahlreiche Angebote wie z.B. Supervisionsgruppen besitzen noch nicht die Niedrigschwelligkeit und das Vertrauen aller Berufsgruppen im Krankenhaus, so dass hier häufiger das Pflegepersonal überrepräsentiert scheint und Ärzte sich eher avers gegenüber solchen Angeboten verhalten (vgl. z.B.Wirsching et al. 1998). Gleichwohl kann in solchen Gruppenangeboten zur Förderung von Teamfähigkeit und berufsgruppenübergreifender Kooperation ein wichtiger Beitrag dann gesehen werden, wenn diese Angebote nach bestimmten Regeln und im Bewusstsein ihrer Funktionalität gestaltet werden (vgl. Wittich 2003; . Tabelle 4). Den wohl umfassendsten Ansatz für das Setting Krankenhaus stellen Bemühungen dar, die die Gesundheitsförderung als Teil einer Organisationsentwicklung auffassen. Hierzu liegen mittlerweile vielfältige Erfahrungen im nationalen wie internationalen Rahmen vor, die regelmäßig ausgetauscht und diskutiert werden auf den Konferenzen der Netzwerke gesundheitsfördernder Krankenhäuser (Dietscher 2000). Diese seit Ende 1980 beobachtbare Entwicklung hat eine Vielzahl von Erfahrungen bereitgestellt, die auch Eingang in eine Reihe von Projekten und Interventionen im deutschen Raum gefunden haben. Besondere Erwähnung verdient hier das Projekt von Müller et al. (1997), weil in ihm in beispielhafter Weise versucht wurde, über die systematische Bestimmung der Ausgangslage Instrumente für interventive Maßnahmen zu entwickeln und zu erproben und dabei auch die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen mitbedacht wurde.
351 Prävention in den Gesundheitsberufen
Insbesondere das in diesem Projekt eingesetzte Element der Gesundheitszirkel hat mittlerweile auch in Gesundheitseinrichtungen eine gewisse Verbreitung gefunden, auch wenn die von diesem Ansatz ausgehende Nachhaltigkeit regelmäßig dann in Gefahr ist, wenn an den eigentlich als krankheitsauslösend erlebten Strukturen und Prozessen im Krankenhaus keine Veränderungen möglich scheinen (vgl. auch Vogt 1998). Im Zusammenhang mit der Umsetzung eines offenen Konzepts der Erfassung und Prävention psychischer Belastungen im Krankenhaus haben Kuch&Pfaff (2003) Erfolgsbedingungen der Kooperation zwischen Klinik, Krankenkassen und Berufsgenossenschaften zum Zwecke der Optimierung der Prävention untersucht. Dieses Vorgehen stellt eine prinzipiell neue Herangehensweise im Setting-Ansatz dar. Verschiedene Ausgangsprobleme erschweren die Umsetzung von Vorhaben im Rahmen der Prävention psychischer Fehlbelastung im Krankenhaus. Zur Behebung eines Teils dieser Probleme wurden von der Universität Köln gemeinsam mit Vertretern von Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Staatlichem Arbeitsschutz, Berufsverbänden und Krankenhausgesellschaft zwei sich ergänzende Lösungsmodelle erarbeitet. Der »Aktionsplan Prävention« dient als Instrument der zielgerichteten Planung des Abbaus psychosozialer Belastungen vor Ort, indem festgestellt wird, ob Handlungsbedarf besteht und – falls ja – wo. Das Verfahren »Kooperation Pro Prävention« unterteilt die Organisationen in verschiedene Grade der »Präventionsreife« und ordnet jeder »Reifestufe« eine adäquate Präventionsstrategie zu, die jeweils einen unterschiedlichen Einbezug der externen Unterstützungsmöglichkeiten durch die Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und staatlichem Arbeitsschutz vorsieht. Der »Aktionsplan Prävention« wurde mit dem Ziel entwickelt, die Präventionsplanung zu vereinfachen. Basierend auf objektiven statistischen Verfahren (Korrelationsanalyse zwischen Stressoren und Ressourcen einerseits und psychischer Gesundheit andererseits) ermöglicht er eine fragebogenunabhängige Identifikation des Handlungsbedarfs in Bezug auf die Reduktion bestehender psychischer Fehlbelastung. Dabei basiert die Festlegung des Handlungsbedarfs allein auf der objektiven statistischen Verarbeitung der subjektiven Angaben der Befragten (Pfaff & Kuch 2004). Wurde Handlungsbedarf festgestellt, so stellt sich die Frage, wie die Unternehmen bei der Bekämpfung der psychischen Belastungen unterstützt werden können. Das Instrument »Kooperation Pro Prävention« ermöglicht ein diffe-
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
rentielles, auf die spezifischen Erfordernisse des einzelnen Unternehmens abgestimmtes Präventionsvorgehen aller potentiellen Unterstützer (Krankenkasse, Berufsgenossenschaften, staatlicher Arbeitsschutz). In diesem Rahmen wurden die Voraussetzungen und Erfolgsbedingungen für Kooperationsprojekte zwischen Krankenhaus und externen Krankenkassen und für die Präventionsroutine definiert und – je nach Präventionsreife des Unternehmens – drei Kooperationsverfahren differenziert. Präventionsstufe A kennzeichnet ein Krankenhaus, das alle Infrastrukturen für Gesundheitsförderung und Prävention besitzt und bei der auf oberster Ebene der Wille gezeigt wird, Fehlbelastungen zu bekämpfen. Für diesen Fall sieht das Kooperationsmodell vor, dass die mitgliederstärkste Krankenversicherung des Krankenhauses sowie die zuständigen Unfallversicherungsträger vom Krankenhaus (z.B. Arbeitskreis Gesundheit) angesprochen werden. Gemeinsam wird von diesen ein Kooperationsvertrag geschlossen. Die Präventionsstufe B zeichnet sich dadurch aus, dass das Krankenhaus die Infrastrukturvoraussetzungen für die Prävention nicht oder nur zum Teil erfüllt, es jedoch auf den Ebenen des obersten und/oder mittleren Managements mindestens eine Person gibt, die Präventionswillen besitzt und zeigt. Für diesen Fall wird empfohlen, dass ein von einem präventionswilligen Führungsmitglied des Krankenhauses angesprochener Kooperationspartner (z.B. Krankenkasse oder Unfallversicherungsträger) berät und nach Zustimmung des Trägers andere Kooperationspartner um Unterstützung anfragt. Schließlich wird auch hier gemeinsam ein Kooperationsvertrag erarbeitet, wobei neben dem spezifischen Unterstützungsbedarf eine Beratung zum Aufbau einer geeigneten Präventionsinfrastruktur erfolgt. Auf Präventionsstufe C besitzt das Krankenhaus weder die Präventionsinfrastruktur noch zeigt jemand auf der Ebene des obersten und/oder mittleren Managements Willen zur Prävention. Hier analysiert der Staatliche Arbeitsschutz – z.B. auf Anfrage oder Beschwerde eines Mitarbeiters – das Problem und informiert die Beteiligten im Krankenhaus über die Unterstützungsangebote der Kooperationspartner (Krankenkasse und Berufsgenossenschaft). Nach Wunsch kann ein Kooperationsverfahren der Präventionsstufe B angeschlossen werden. Zwischen Krankenhaus und Staatlichem Arbeitsschutz wird eine Zielvereinbarung erarbeitet, über deren Umsetzung Feedback gegeben wird (Kuch & Pfaff 2003). Für den Bereich der Krankenpflege in den verschiedenen Pflegesettings hat Michaelis (2005) (vgl. auch Zimber 2003) den Stand der Ansatzmöglichkeiten
353 Prävention in den Gesundheitsberufen
für eine gleichermaßen verhältnis- wie verhaltensbezogene Prävention in dieser Berufsgruppe beschrieben. Spezifisch arbeitszeitbezogene Ansätze hat Höfflin (1998) herausgearbeitet. Einen integrierten Ansatz stellt z.B. das österreichische Projekt »Pflegefit« dar (Hallström 2005). Auch bei Ulich (2003) finden sich einige krankenpflegespezifische Ansätze beschrieben. Die Ergebnisse der mit Unterstützung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin durchgeführten Forschung in den letzten Jahren lassen erkennen, dass bei dieser Berufsgruppe – auch angesichts der bei ihr feststellbaren Fluktuation und Berufsausstiegsneigung – ein erhöhter Präventionsforschungsbedarf gegeben ist.
Aus dem Beschlussprotokoll des 108. Deutschen Ärztetages vom 3.–6. Mai 2005 3. »Burn-Out« niedergelassener Ärzte verhindern Auf Antrag von Dr. Gadomski und Frau Dr. Goesmann (Drucksache II-03) fasst der 108. Deutsche Ärztetag folgende Entschließung: Ein zunehmender Anteil niedergelassener Ärztinnen und Ärzte beklagt sich über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen, die zu einer Gefährdung ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit führen. Das Phänomen des »Ausgebranntseins« findet sich inzwischen nicht mehr nur in anderen so genannten Helfer-Berufen, sondern auch bei Ärztinnen und Ärzten und führt im niedergelassenen Bereich vermehrt zu vorzeitiger Praxisaufgabe. Wo bis vor kurzem noch intensiv gegen die 68iger Regelung gekämpft wurde, zeigt sich jetzt die Tendenz, die vorgezogene Altersrente so früh wie möglich anzutreten oder ganz andere Berufswege zu wählen. Der 108. Deutsche Ärztetag fordert daher: 1. Der Gesetzgeber möge bei allen Regelungen vertragsärztlicher Tätigkeit berücksichtigen, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte langfristig nicht über ihre körperlichen und psychischen Grenzen hinaus belastet werden. 2. Der Gesetzgeber wird aufgefordert, im Vertragsarztwesen zur Entlastung der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen umfangreichere Vertretungsmöglichkeiten wie z. B. ein Sabbatquartal/Sabbatjahr zuzulassen. 3. Die Ärztekammern der Länder sollen für ihre Mitglieder Informationen, Seminare, anonyme Hotlines und Beratungsangebote zum Umgang mit Stress und zur Prävention und Behandlung des Burn-Out entwickeln und anbieten.
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Nicht nur das Setting Krankenhaus, sondern auch die Praxis des niedergelassenen Arztes gerät zunehmend in den Fokus der Präventionsforschung. Die berufsständischen Vertretungen organisieren – in Anlehnung an vor allem US-amerikanische Erfahrungen zusehends Hilfsangebote für niedergelassene Ärzte. Dies soll hier abschließend kurz beschrieben werden. Erstmalig hat in diesem Jahr der 108. Deutsche Ärztetag eine Entschließung gefasst, die dem Burnout bei Ärztinnen und Ärzten durch gezielte Angebote seitens der Ärztekammern und ihrer Untergliederungen begegnen will. Dabei haben einige Ärztekammern schon vor ein paar Jahren begonnen, entsprechende Beratungsangebote, die sich am Beispiel der Ombudseinrichtung (Schoeller 2005) orientieren, aufzubauen. Sie stehen gleichermaßen niedergelassenen wie stationär tätigen Ärztinnen wie Ärzten offen. Gute Beispiele für von der Ärzteschaft organisierte Beratungs- und Hilfsangebote liefern auch amerikanische Beispiele (z.B. Vanderbilt University 2003; Ontario Medical Association 2003).
Fazit Angesichts der Herausforderungen und Umwälzungen, vor denen die Gesundheitsberufe und -einrichtungen in den kommenden Jahren nicht zuletzt aufgrund ökonomischer, sozialpolitischer, medizinisch-technischer und demographischer Veränderungen stehen, darf sich Gesundheitsförderung für diese Berufe nicht darauf beschränken, nur sekundär-präventiv und reaktiv vorzugehen. Präventionsangebote erst dann anzubieten, wenn eine überlastungsbedingte Suchterkrankung oder das Burnout aufwändige Hilfe erforderlich macht, ist nicht der Königsweg. Deswegen ist für alle Ausbildungsgänge im Bereich der Gesundheitsberufe zu fordern, dass sich ihre Curricula nicht nur theoretisch, sondern projekt- und erprobungsbezogen damit beschäftigen, personen- und strukturbezogen Gesundheitsförderung für sich selbst erfahrbar zu machen. Das neue Curriculum der ärztlichen Ausbildung bietet nach der Änderung der Approbationsordnung einige Möglichkeiten, Medizinstudierende ihre eigene Gesundheit thematisieren und unter Präventionsgesichtspunkten erörtern zu lassen. Der neue Querschnittsbereich Prävention und Gesundheitsförderung im zweiten (klinischen) Studienabschnitt, aber auch die verhaltenswissenschaftlichen Grundlagenfächer Medizinische Soziologie und Medizinische Psychologie sowie eigens gestaltbare Wahlfächer im ersten und
355 Prävention in den Gesundheitsberufen
zweiten Studienabschnitt (z.B. in der Sozialmedizin) sollten hierzu herangezogen werden. In der deutschen Präventionslandschaft für Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsberufe mangelt es mittlerweile nicht an wissenschaftlichen Grundlagen, epidemiologischen Daten oder Instrumenten der Erfolgskontrolle. Es mangelt allerdings an Umsetzungskonzepten. Es muss daher in Zukunft das Ziel sein, dieses Wissen nicht nur in der medizinischen Ausbildung anzuwenden, sondern auch in der konkreten Praxis der Gesundheitsorganisationen.
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359 Ganzheitliche Prävention
Ganzheitliche Prävention (GATE) auf einem internationalem Flughafen (Fraport AG) – Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens? Walter Gaber*
Abstract Die Rahmenbedingungen für gesundheitliche Betreuung der Mitarbeiter haben sich gravierend verändert. Die Tätigkeit des betrieblichen Gesundheitsschutzes muss sich an den Problemen der heutigen Arbeitswelt orientieren und die veränderten Rahmenbedingungen berücksichtigen. All dies muss zielgruppen- und problembezogen geschehen. »Hauptkunden« sind dabei die Arbeitnehmer. Gesundheitsmanagement am Beispiel GATE (Gesund und Anwesend – das Tor zum Erfolg) sind die systematisch aufeinander bezogenen Maßnahmen, die den Erhalt und die Förderung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit und die dazu benötigte Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter gewährleisten. Gesundheitsmanagement im Unternehmen ist ein ständiger, der regelmäßigen Erfolgskontrolle und permanenten Fortentwicklung unterliegender Prozess – also keine einmalige und punktuelle Aktion, in welche einzelne Mitarbeiter und deren konkrete Arbeitssituation ebenso wie das gesamte Unternehmen, die Produkte und das Unternehmensfeld einbezogen werden. Es darf weder auf die Zuständigkeit einer bestimmten Fachabteilung reduziert, noch der einzelne Mitarbeiter aus seiner Mitverantwortung für seine Gesundheit entlassen werden. Gesundheitsmanagement muss integraler Bestandteil der Personalpolitik sein und soziale sowie wirtschaftliche Ziele verfolgen. Primäres Ziel eines Industrieunternehmens ist es nicht, Gesundheit zu produzieren. * e-mail:
[email protected]
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Ziel ist die Verhaltensbeeinflussung, Förderung des Gesundheitsbewusstseins, Reduzierung von gesundheitlichen Risikofaktoren und die aufsteigende allgemeine Fitness, um mit leistungsfähigen und leistungsbereiten Mitarbeitern den Wettbewerb der Unternehmen erfolgreich zu bestehen. Im Rahmen des GATE-Projektes konnte nachgewiesen werden, dass Wirtschaftlichkeit und Gesundheitsmanagement nicht im Widerspruch stehen, sondern bei Einbindung aller am Prozess Beteiligten sehr wohl zu einem Erfolg führen können und somit letztendlich auch einen wesentlichen Beitrag zur Arbeitsplatzsicherung beitragen. Schlüsselworte: Betrieblicher Gesundheitsschutz, Betriebsarzt, Gesundheits-
management, Verhaltensbeeinflussung, Personalpolitik (Im Folgenden wird der Begriff Arbeitnehmer stellvertretend für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verwendet.) Der Betriebsarzt erreicht Akzeptanz für seine Tätigkeit nur, wenn er sich in die betrieblichen Prozesse einbringt, wenn er gestaltend daran mitwirkt. Veränderungsprozesse im Betrieb müssen auch vom betrieblichen Gesundheitswesen mit getragen werden. Das betriebliche Gesundheitswesen darf sich Themen wie Total Quality Management, KVP, Wissensmanagement und Change Management nicht verschließen. Hierzu gehört auch die Bereitschaft, sich mit neuen Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Allerdings darf Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb weder Anbiedern an den Zeitgeist noch Politisierung oder Ideologisierung bedeuten. Die Arbeits- und Gesundheitsschutz hat sich zu lange auf ihre klassischen Tätigkeitsfelder konzentriert (Verhütung von Berufskrankheiten und Unfällen) und nur zögerlich zur Kenntnis genommen, dass sich die Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Betreuung der Mitarbeiter gravierend verändert haben. Die klassischen Tätigkeitsbereiche müssen kritisch überprüft und – wo dies erforderlich ist – konzeptionell und instrumentell erweitert und um neue Tätigkeitsfelder ergänzt werden. Die Tätigkeit des betrieblichen Gesundheitsschutzes muss sich an den Problemen der heutigen Arbeitswelt orientieren und die veränderten Rahmenbedingungen berücksichtigen (problemorientiertes Handeln statt berufskrankheitsbezogenem). All dies muss zielgruppen- und
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problembezogen zeitgerecht geschehen. »Hauptkunden« sind dabei die Arbeitnehmer. Unser Betriebsarzt muss sich für alles, was sich um den Themenkomplex »Krankheit und Gesundheit im Betrieb« bewegt, zuständig fühlen.
Warum GATE (Gesund und Anwesend – das Tor zum Erfolg) im Unternehmen? Für ein medizinisches Gesundheitsmanagement im Betrieb gibt es mehrere Gründe: Erfüllung (nationaler und internationaler) Rechtsvorschriften Optimale Erfüllung der Rechtsvorschriften im Arbeits- und Gesundheitsschutz (zum Beispiel Arbeitsschutzgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz, Unfallverhütungsvorschriften, Biostoffverordnung u.a.m.). Ökonomische Notwendigkeit Die Fraport AG, welche im Wettbewerb erfolgreich bestehen will, benötigt Mitarbeiter, welche selbständig und eigenverantwortlich, gleichsam als »Unternehmer vor Ort«, agieren. Diese Mitarbeiter müssen qualifiziert, kreativ und engagiert sein. Der wirtschaftliche Erfolg unseres Unternehmens hängt heute mehr denn je von der optimalen Nutzung und nachhaltigen Pflege seines Humankapitals ab. Eine umfassende gesundheitliche Betreuung der Mitarbeiter durch die Experten der medizinischen Dienste, Arbeitssicherheit, Personalabteilung und den Fachbereichen sowie insbesondere der Psychologen, Gesundheitsberater, Ergonomen und Personalbetreuer trägt darüber hinaus zur Erhöhung der Unternehmensattraktivität bei. Damit gelingt es eher, qualifizierte Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu gewinnen und dauerhaft an ein Unternehmen zu binden. Moralische Verpflichtung Schutz und Förderung der Gesundheit der Mitarbeiter haben für uns eine ethische Dimension. Sie sind eine moralische Verpflichtung.
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Unternehmenskultur In der gesundheitlichen Betreuung der Mitarbeiter drückt sich ein Stück Unternehmenskultur aus. Verbesserung der Employability Gesundheitsmanagement leistet einen wertvollen Beitrag zum Erhalt und zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter. Wandel der Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Betreuung der Mitarbeiter haben sich tiefgreifend gewandelt (zum Beispiel Belastungswandel, Anspruchswandel, demographische Entwicklung, neue Arbeitsformen und Produktionskonzepte). Verbunden damit sind neue Anforderungen an den Gesundheitsschutz im Betrieb.
Was ist Gesundheitsmanagement? Gesundheitsmanagement am Beispiel von GATE (Gesund und Anwesend – das Tor zum Erfolg) lässt sich definieren als Gesamtheit der systematisch aufeinander bezogenen Maßnahmen im Unternehmen, 4 die dem Erhalt und der Förderung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit (Können) und der Leistungsbereitschaft (Wollen) der Mitarbeiter dienen 4 und die dazu notwendigen Voraussetzungen gewährleisten. Ein so verstandenes Gesundheitsmanagement beinhaltet sowohl den Schutz vor (Berufs-) Krankheiten und Unfällen und den Abbau von Gesundheitsrisiken als auch die Schaffung und Stabilisierung gesundheitsförderlicher Ressourcen. Gesundheitsmanagement in unserem Unternehmen ist ein ständiger, der regelmäßigen Erfolgskontrolle und permanenten Fortentwicklung unterliegender Prozess – also keine einmalige und punktuelle Aktion. In diesen Prozess ist der einzelne Mitarbeiter und dessen konkrete Arbeitssituation ebenso einbezogen wie das gesamte Unternehmen, die Produkte und das Unternehmensumfeld. Gesundheitsmanagement schließt sowohl das Management und den Betriebsrat als auch die Fachabteilungen, die Vorgesetzten und jeden einzelnen Mitarbeiter ein. Es darf weder auf die Zuständigkeit einer bestimmten Fachab-
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teilung reduziert, noch darf der einzelne Mitarbeiter aus seiner Mitverantwortung für seine Gesundheit entlassen werden. Gesundheitsmanagement muss integraler Bestandteil der Personalpolitik sein. Schutz und Förderung der Gesundheit der Mitarbeiter müssen ein gemeinsames wichtiges Anliegen von Management und Betriebsrat sein.
Ziele und Grundsätze des Fraport Gesundheitsmanagements Neben der Erfüllung arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften zielt unser Gesundheitsmanagement darauf ab, 4 die Gesundheit der MitarbeiterInnen zu schützen und zu fördern 4 die bei den Mitarbeitern vorhandenen Kompetenz zu nutzen und weiterzuentwickeln 4 die Qualität zu verbessern 4 den Gesundheitsstand im Betrieb zu erhöhen und auf hohem Niveau zu stabilisieren 4 und die Wirtschaftlichkeit zu verbessern Mit Gesundheitsmanagement werden also soziale und wirtschaftliche Ziele verfolgt. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es nicht primäres Ziel (Hauptaufgabe) eines Industrieunternehmens ist, Gesundheit zu produzieren. Bei der Verfolgung der Ziele orientieren wir uns an drei Grundsätzen: Eigenverantwortung: Jeder Einzelne ist für seine Gesundheit selbst mit verantwortlich. Subsidiarität: Derjenige, der selbst handeln und sich selbst helfen kann, ist hierzu auch verpflichtet. Selbsthilfe hat grundsätzlich Vorrang vor Fremdhilfe. Solidarität: Die Fraport AG bietet den Mitarbeitern einen Sicherheit gewährenden Rahmen und wird dort tätig, wo der Einzelne an die Grenzen des Zumutbaren stößt.
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C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Diese drei Grundsätze entsprechen dem Leitbild vom Mitarbeiter als selbstständig und eigenverantwortlich handelndem »Mitunternehmer«. Die Mitarbeiter sollen nicht bevormundet oder entmündigt werden.
Aufbau und Elemente des Gesundheitsmanagements Unser Gesundheitsmanagement im Unternehmen ist modulartig aufgebaut, um problem- und zielgruppenbezogenes Agieren zu ermöglichen. Neben Grundmodulen sind situationsspezifisch einsetzbare Zusatzmodule enthalten. Grundmodule sind – neben einer bedarfsorientierten medizinischen Betreuung – Arbeitsgestaltung, Mitarbeiterbeteiligung und Information/ Kommunikation. Diese Zusatzmodule haben ergänzenden, unterstützenden Charakter.
Grundmodule Die gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt (Gestaltung der Situation), die zu den klassischen Aufgaben des betrieblichen Gesundheitsschutzes gehört, ist der wirksamste Weg, die Gesundheit unserer Mitarbeiter zu schützen und zu fördern. Sie haben grundsätzlich Vorrang vor personen- und verhaltensbezogenen Maßnahmen. Gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt umfasst mehr als ergonomische Arbeitsplatzgestaltung. Innovative Arbeitszeitmodelle, neue Formen der Arbeitsorganisation, die Abflachung von Hierarchien, persönliche Entwicklungspläne und der Schutz vor Mobbing und Diskriminierung gehören ebenso dazu. Die Mitarbeiter sollten an allen Dingen, die ihre Gesundheit direkt oder indirekt berühren, so weit wie möglich aktiv beteiligt werden. Formen der Beteiligung sind u.a. systematische, erweiterte Arbeitsplatzbegehungen, spezielle Workshops, Gesundheitszirkel, Mitarbeiterbefragungen, das »Try-out«-Verfahren, das Ideenmanagement, das Arbeitsmedizinische Lastenheft und Gruppenarbeit. Information und Kommunikation sind zentrale Elemente des Gesundheitsmanagements. Sie umfassen unterschiedliche Ebenen und beziehen sich auf das Unternehmen selbst und auf das Unternehmensfeld.
365 Ganzheitliche Prävention
Innerhalb des Unternehmens sind dabei von besonderer Bedeutung: 4 allgemeine Mitarbeitergespräche; sie gehören zu den originären Betreuungsaufgaben eines jeden Vorgesetzten 4 fürsorgliche Rückkehrgespräche 4 eine kontinuierliche Gesundheitsstand-Berichterstattung 4 das Angebot von Beratungsgesprächen im betrieblichen Gesundheitswesen
Außerhalb des Unternehmens sind besonders wichtig 4 4 4 4
der Dialog mit Haus- und Fachärzten die Kommunikation mit den Sozialversicherungsträgern der Wissensaustausch innerhalb des Unternehmens der Wissensaustausch extern mit Experten der unterschiedlichen Disziplinen
Mögliche Zusatzmodule Um unsere Ressourcen gezielt einsetzen zu können, ist eine kontinuierliche Analyse des Ist-Zustandes erforderlich. Die im Unternehmen vorhandene belastungs- und gesundheitsbezogene Situation muss analysiert und dokumentiert werden. Als Instrument hierzu bietet sich unsere betriebliche Gesundheitsberichterstattung sowie die interne arbeitsmedizinische Datenbank an. Hierbei müssen die Grenzen der Aussagefähigkeit von bestimmten Datenauswertungen beachtet werden. Mit Gesundheitscoaching-Programmen stehen ganzheitlich ausgerichtet gesundheitliche Betreuungsprogramme zur Verfügung. Diese Programme bestehen aus mehreren Stufen und umfassen sowohl einen Gesundheits-Check-up als auch Trainingsangebote und individuelle Coachingangebote (mentales Coaching). Problem- und zielgruppenorientierte Gesundheitsförderungsprogramme sind ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitsmanagement. Sie zielen ab auf Verhaltensbeeinflussung, Förderung des Gesundheitsbewusstseins, Reduzierung von gesundheitlichen Risikofaktoren und auf die Steigerung der allgemeinen Fitness. Im Bereich Aufklärung und Beratung können den
366
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
Mitarbeitern verschiedene Angebote unterbreitet werden. Beispiele hierfür sind: Psychosomatische Beratung, Herzinfarktrisikobewertung, Suchtberatung, psychologische Beratung, Ernährungsberatung, Sportberatung. Diese Angebote werden auf unterschiedlichen Wegen an die Mitarbeiter herangetragen: zum Beispiel durch spezielle Sprechstunden, Aktionstage, Vorträge, Broschüren, durch Beiträge in der Werkzeitung und durch das Intranet. Für Mitarbeiter, welche nach längerer Krankheit oder nach einem Unfall wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren, wird im Rahmen des Gesundheitsmanagements – gemeinsam mit allen zuständigen Stellen – ein individueller Rehabilitationsplan erarbeitet. Das Projekt »Arbeit Light« bietet Mitarbeitern die Möglichkeit – in Abstimmung mit den Krankenkassen –, frühzeitig auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz im Unternehmen zurückzukehren. Ziel ist eine systematische und möglichst frühzeitige Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Das Maßnahmenbündel, das hierbei zur Verfügung steht, reicht von der stundenweisen Arbeitserprobung über gezielte Versetzungen und Umgestaltungen des Arbeitsplatzes bis hin zum möglichen unternehmenseigenen Rehabilitationszentrum.
Kosten und Nutzen von Gesundheitsmanagement Kosten-Nutzen-Aussagen sind im Bereich des Gesundheitsmanagements besonders schwierig, dennoch ist es uns gelungen diesen Nachweis nachhaltig über Jahre hinweg zu führen. Ungeachtet aller Mess- und Bewertungsprobleme zeigen die Erfahrungen bei Fraport, dass sich Gesundheitsmanagement wirtschaftlich positiv auswirkt. So hat sich zum Beispiel die durchschnittliche Krankheitshäufigkeit der Studienteilnehmer durch 4 Einsatz von Rückenstützbandagen 4 GATE-Projekt 4 AOK-Rückentraining nachweislich um bis zu 50 % bei regelmäßiger Teilnahme an Trainingsprogrammen reduziert.
367 Ganzheitliche Prävention
Exemplarisch für die unterschiedlichen Maßnahmen im Unternehmen wird nachfolgend das Projekt GATE vorgestellt: Die Fraport AG hat sehr frühzeitig eine Business Mission verabschiedet mit dem Ziel, zu den drei leistungsstärksten und renditestärksten Airport-Konzernen weltweit zu gehören. Dies ist ohne motivierte, gesunde Mitarbeiter nicht zu erreichen. Resultierend aus dieser Erkenntnis hat die Geschäftsleitung – in Ergänzung zu den bereits bestehenden, etablierten Maßnahmen – unter Leitung des Arbeitsdirektors unterschiedliche, differenzierte Ziele für das Unternehmen definiert. Hieraus resultiert u.a. das Projekt GATE mit den Zielen 1. Kosten/Fehlzeiten zu reduzieren 2. Gesundheit der Fraport Mitarbeiter zu fördern. In enger Abstimmung mit den Arbeitnehmervertretern wurde auf Basis des Mittelwertes der Fehlzeiten der letzten zehn Jahre ein Vergleichswert als Grundlage für GATE definiert mit dem klaren Ziel, mindestens 1 % Punkt binnen 12 Monate gemeinschaftlich zu reduzieren. Die Reduktion um 1 % Punkt bedeutet für das Unternehmen eine Einsparung um
6.400.000 Euro Nicht berücksichtigt wurden hierbei die durch Fehlzeiten bedingte Mehrbelastung/Mehrbeanspruchung der verbleibenden Mitarbeiter, welche im Regelfall den fehlenden Kollegen im Team ersetzen müssen. Um diese Reduktion zu erreichen, wurden von einem Kernteam weit über 30 unterschiedliche Maßnahmen definiert, welche zu einer möglichen Reduktion von Fehlzeiten beitragen könnten. Hieraus wurden einige wenige selektiert und Teilprojekte initiiert. Aus einer Vielzahl von Projektvorschlägen hat sich das Kernteam unter Leitung des Arbeitsdirektors für die folgenden Teilprojekte entschieden, welche in Teilen nachfolgend exemplarisch vorgestellt werden.
Gesundheitsfördergespräche 4 Gesundheitsfördergespräche sollen klären, ob die Arbeitssituation des Mitarbeiters ursächlich für dessen Abwesenheit ist.
368
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
. Abb. 1
369 Ganzheitliche Prävention
. Abb. 2
. Abb. 3
370
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
4 Verbindlicher Handlungsrahmen, Gesprächsleitfaden, Nachverfolgung und Einweisung 4 Gespräche finden zwischen Führungskraft und Mitarbeiter statt, ggf. auch mit Personalvertretern, Betriebsrat bzw. höherem Vorgesetzten. 4 Gesundheitsfördergespräche werden dokumentiert. Die Gesundheitsfördergespräche werden unternehmensweit nach einem identischem Verfahren von den Führungskräften durchgeführt und regelmäßig an das Steuergremium berichtet, wobei in den ersten Monaten regelmäßige Treffen der Führungskräfte genutzt wurden, um Erfahrungen auszutauschen und die Verfahren – sofern notwendig – zu modifizieren. Primäre Zielsetzung ist hierbei, die Mitarbeiter und Führungskräfte zu sensibilisieren – ...»we do care«... – d.h. Hilfestellung anzubieten, um die frühzeitige Reintegration in den betrieblichen Prozess zu fördern unter der Devise ...»wer krank ist, den gilt es zu unterstützen«....; wer das System nutzt oder aber gar missbraucht, denjenigen gilt ebenfalls die volle Aufmerksamkeit des Unternehmens.
Erweiterte Eingangsuntersuchung Alle Mitarbeiter – unabhängig von ihrem Status – durchlaufen eine arbeitsmedizinische Einstellungsuntersuchung, wobei verstärkt auf den Bereich muskuloskelettale Erkrankungen geachtet wird und seit einigen Jahren Urindrogenscreening ebenfalls fester Bestandteil dieser Untersuchung ist. Ca. 14% der Bewerber müssen für das Unternehmen abgelehnt werden aus primär orthopädischen Gesichtspunkten. Bei weiteren ca. 7% per anno musste eine Einstellung verneint werden, da wir illegale Drogen im Urin nachweisen konnten.
AU Datenanalyse In enger Kooperation mit unserer »Hauskrankenkasse« der AOK Hessen, gleichen wir immer wieder die Daten der AOK Hessen mit unseren eigenen Daten ab bzw. die AOK erstellt für unser Unternehmen einen eigenen Gesundheitsbereich, welcher wiederum bis auf Teilorganisationen differenziert wird. Resultierend aus diesen Erkenntnissen werden bereichsbezogene Maßnahmenkataloge erstellen. Oberste Priorität haben die sog. muskulo-skelettalen Erkrankun-
371 Ganzheitliche Prävention
gen in unserem Unternehmen mit sehr hohen Fehlzeiten in den unterschiedlichen Alterstufen. Unser Maßnahmenkatalog: 4 »Strenge« Einstellungsuntersuchungen 4 Pflichtunterricht Hebe- und Tragetraining in den ersten 3 Monaten nach Einstellung sowie regelmäßige Refresher-Kurse 4 Einsatz von Rückenstützbandagen (evaluiert) 4 Computergestütztes Krafttraining (evaluiert) 4 Erstellung eines individuellen Gesundheitspasses 4 Arbeitsplatzgestaltung (Hebebühnen, Kippstationen u.a.m.) 4 Arbeitsplatzanalysen (in Kooperation mit der Hochschule Darmstadt) 4 Analyse von Arbeitsunfällen 4 Individuelle Arbeitsplatzberatung 4 »Arbeit light« 4 Stufenweise Wiedereingliederung nach Unfällen u.o.a. Operationen 4 Einrichtung von Schonarbeitsplätzen 4 Betreuung von Langzeitkranken (Hausbesuche u.a.m.) 4 Angebote der Fort- und Weiterbildung (Q-Card) 4 Mitarbeiterbefragungen (regelmäßig) 4 U.a.m.
Jokertage Ein Grossteil unserer Mitarbeiter – insbesondere im Bereich der Bodenverkehrsdienste – pendeln im Schichtdienst bis zu 100 km täglich. Durch die Einführung der Jokertage erhält jeder Mitarbeiter die Möglichkeit, zusätzlich zu seinen geplanten, abgestimmten »Freitagen« additiv auch kurzfristig Urlaubstage zu beantragen auch gegen betriebsinterne Bedenken. Eines der Ziele ist u.a. eine Reduktion von kurzfristigen Fehltagen durch Krankschreibungen bei Ablehnung von kurzfristigen Anträgen.
Arbeit Light Mitarbeiter werden gezielt durch Vorgesetzte angesprochen, ob sie – auf freiwilliger Basis –in enger Abstimmung mit dem Hausarzt und der Krankenkasse auf
372
C · Arbeitswelt und betriebliche Prävention
einem leidensgerechten Arbeitsplatz wieder frühzeitig in den Arbeitsprozess eingebunden werden können. Beispiel: Ein Lademeister mit einer Schnittverletzung an der Hand kann seine originäre Tätigkeit mit schwerer körperlicher Belastung nicht ausüben, kann jedoch ohne Probleme seine Tätigkeit als Personalfahrer u.o.a. im Innendienst verrichten. Die Akzeptanz auf freiwilliger Basis war erstaunlich hoch.
LEA Grundkomponente Nach langer betriebsinterner Diskussion hat man sich entschieden, eine transparente, monetäre individuelle Anwesenheitsprämie einzuführen mit dem Ziel, einen bewussten Umgang mit Fehlzeiten zu initiieren.
Linienverantwortlichkeit Da sich das Projekt unter Leitung des Arbeitsdirektor inhaltlich wie auch wirtschaftlich erfolgreich bewährt hat, wurde im Rahmen eines Symposiums im November 2003 entschieden, die bestehenden Projekte unter Leitung der Personalabteilung in die Linie zu überführen. Im Rahmen des FGM (Fraport Gesundheits Managements) werden die Experten des Unternehmens die Teilprojekte fortführen, neue Projekte initiieren und evaluiert an den Vorstand regelmäßig berichten.
Kosten – Nutzen Jede Maßnahme wird in unserem Unternehmen unter dem Gesichtspunkt der Inhaltlichkeit wie auch der Wirtschaftlichkeit überprüft. Am Beispiel des GATE-Projektes konnten wir dem Vorstand über einen Wertbeitrag von immerhin 3,18 berichten.
373 Ganzheitliche Prävention
Resümee Unternehmen, welche im internationalen Wettbewerb erfolgreich bestehen wollen, brauchen leistungsfähige und leistungsbereite Mitarbeiter. Unser Gesundheitsmanagement leistet hierzu einen wichtigen – auch wirtschaftlich messbaren – Beitrag. Dem Betriebsarzt kommt dabei keine Monopol-, wohl aber eine Schlüsselstellung zu. Gesundheitsmanagement muss immer auch unter Kostenaspekten gesehen und hinsichtlich seines Beitrags zur Erhöhung der Wertschöpfung bewertet werden. Das Gesundheitsmanagement darf aber nicht auf reine Wirtschaftlichkeitskalküle reduziert und keinem ständigen wirtschaftlichen Rechtfertigungszwang ausgesetzt werden. Schutz und Förderung der Gesundheit der Mitarbeiter sind vor allem auch eine soziale Verpflichtung.
D Medizinische Versorgung und Prävention Hausärztliche Präventivmedizin in kommunaler Kooperation – Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell – 377 Armin Wiesemann, Erika Weih, Wolfgang Braunecker, Reginald Scheidt
Hausärztliche Quartiärprävention am Beispiel der Reduzierung unnötiger Antibiotikaverordnungen bei akutem Husten – 399 Attila Altiner, Silke Brockmann
Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik – eine qualitätsorientierte Bestandsaufnahme – 409 Thomas Kliche, Christina Krüger, Cornelia Goldapp, Reinhard Mann, Jürgen Töppich, Uwe Koch
Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen – 429 P. Bramlage, W. Böcking, W. Kirch
376
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Die Prävention psychischer Erkrankungen und die Förderung psychischer Gesundheit – 443 Reinhold Kilian, Thomas Becker
3 Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen und Einnahme von Sexualhormonen bei Frauen – Ergebnisse der Study of Health in Pomerania (SHIP) – 473 Sabine Schwarz, Henry Völzke, Dietrich Alte, Wolfgang Hoffmann, Ulrich John, Martina Dören
Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen: Zum wechselseitigen Einfluss von Strategien der Krankheitsbewältigung, Depression und Sozialer Unterstützung – 495 Eike Fittig, Johannes Schweizer, Udo Rudolph
Prävention mit Arzneimitteln – Möglichkeiten und Grenzen – 521 Ulf Maywald, Isabel Hach
Telemedizin in der Tertiärprävention: Wirtschaftlichkeitsanalyse des Telemedizin-Projektes Zertiva bei Herzinsuffizienz-Patienten der Techniker Krankenkasse – 531 Heinen-Kammerer, Tatjana; Kiencke, Peter; Motzkat, Kerstin; Liecker, Bodo; Petereit, Frank; Hecke, Torsten; Müller, Hardy; Rychlik, Reinhard
377 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
Hausärztliche Präventivmedizin in kommunaler Kooperation – Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell Armin Wiesemann*, Erika Weih, Wolfgang Braunecker, Reginald Scheidt
Abstract Hintergrund: In einigen europäischen und nordamerikanischen Regionen wird an der Schnittstelle zwischen hausärztlicher Primärversorgung und typischer Public Health eine neue medizinische, überwiegend präventiv orientierte kooperative Versorgungseinrichtung erprobt, die Gemeindemedizin. Als Konsequenz eines erfolgreichen Ansatzes im Rahmen der Deutschen Herz-KreislaufPräventionsstudie (DHP, 1984–91) konnte 1991 das gemeindemedizinische Östringer Modell im Sinne einer hausärztlich verantworteten kommunalen Prävention mit dem Ziel einer besseren »Stadtgesundheit« implementiert werden. Methodik: Ärzte der Primärversorgung kooperieren untereinander und mit (Sport-)Vereinen, Schulen und Betrieben der lokalen Bevölkerung, indem sie nach der Drei-Ebenen-Strategie vorgehen. Das heißt, dass die individuelle (konventionelle) Sprechstundentätigkeit (1. Ebene) um Gruppenarbeit in der Praxis (2. Ebene) und im Gemeinderahmen (3. Ebene) erweitert wird. Dabei werden gesundheitsfördernde Interventionsmaßnahmen, z.B. ernährungsbewusste Gymnastikgruppen oder Rücken- und Laufgruppen von einer Arbeitsgemeinschaft initiiert und mittels ausgewählter Gesundheitsindikatoren im Rahmen von Querschnittserhebungen evaluiert (Datenpooling von sechs Praxen gemäß WHO-Empfehlung). * e-mail:
[email protected]
378
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Ergebnisse: Von 1992–1999 konnten aufgrund einen hohen Akzeptanz in der Kleinstadt Östringen (13.000 Einwohner) sechs Erhebungen in Form von Praxisstichproben mit jeweils ca. 1000 Personen durchgeführt und 22 Übungsgruppen evaluiert werden. Die Zahl der Raucher und Hypertoniker konnte um 15–65% reduziert werden, während die Adipositas-Prävalenz unverändert blieb. Zwar ließ sich infolge der »Gesundheitsberichterstattungen« das Gesundheitsklima verbessern und die qualifizierten ÜbungsleiterInnen und beratenden Ärzten sind unverändert mit 350 Teilnehmern aktiv, die Teilnehmer sind allerdings ganz überwiegend weiblich (ca. 80%), Männer mit Risiken sind deutlich unterrepräsentiert. Schlussfolgerungen und Aussicht: Das preisgünstige präventive Gesundheits-
angebot (35 €/18 Abende) vor der Haustür hat sich bewährt und wird trotz nachlassender Ressourcen unverändert von der Gemeindeverwaltung mitgetragen. Zurzeit wird eine erneute Erhebung durchgeführt, die nicht nur den weiteren Verlauf erfassen soll sondern sich auch gezielt an die Risikogruppe männlicher Teilnehmer mittleren Alters richtet. Dabei ist eine Kooperation mit der Nachbargemeinde Bad Schönborn vorgesehen. Schlüsselworte: hausärztliche Versorgung, Präventivmedizin, kommunale
Kooperation
Hintergrund und Ziel ärztlich verantworteter kommunaler Prävention Nachdem die Prävention (von Krankheiten) bereits in einer Gesetzesvorlage erschienen war, ist das Bestreben der Gesellschaft, die gesundheitliche Verantwortung in jeder Hinsicht zu stärken, noch deutlicher geworden [32]. Dass es sich um eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft und nicht nur der Medizin oder der Sozialwissenschaften oder des Individuums allein handelt, ist allgemeiner Konsens [16]. An Appellen [15], Erklärungen (WHO), Beobachtungs- oder Interventionsstudien hat es in den letzten 50 Jahren nicht gefehlt [11, 13], wohl aber an einer praktisch-relevanten dauerhaften Umsetzung in den verschiedenen Lebensbereichen [15]. Dafür steht der Begriff Kommunale Prävention, der aber nur in geringem Umfang bisher mit Leben erfüllt wurde. Unter anderem haben einige Gemeinden in Baden-Württemberg im Zusammenhang mit
379 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
WHO-Initiativen (CINDI) und der Deutschen Herz-Kreislaufpräventionsstudie (DHP) hier Pionierarbeit geleistet (Eberbach, Wiesloch, Karlsruhe, Östringen) [3, 12, 19]. Dabei spielten (und spielen weiterhin) die Ärzte, insbesondere die Hausärzte und Hausärztinnen als Motoren bürgernahe Arbeitsgemeinschaften eine bedeutende Rolle: präventivmedizinische Zielsetzungen werden vor allem als Verhaltensmedizin zentraler Bestandteil einer umfassenden kommunalen Prävention. In der Präambel der WHO-WONCA- Konferenz 1994 in Ontario wird nicht nur explizit auf die zentrale Rolle des Hausarztes in allen Gesundheitssystemen hingewiesen, sondern auch auf seine besondere Verantwortung in der Gemeinde/community (steht vor allem für geographische Gemeinde, Stadt (-teil), Allgemeinheit aber auch unterschiedliche Gruppen-Gemeinschaften, wie z. B. Senioren, Frauen): »...the general practitioner/family physician must be highly competent in patient care and must integrate individual and community health care« (Working paper of WHO and WONCA, Ontario 1994). In der offiziellen WHO-Publikation von 1998 wird ebenfalls die besondere Rolle der Hausärzte für Prävention und Gemeinde-Orientierung hervorgehoben [4]. Auch in der Europäischen Definition (WONCA Europe, 2002) heißt es: sie (die Allgemeinmedizin) trägt eine spezifische Verantwortung für die Gesundheit der Allgemeinheit. Dementsprechend arbeiten in einigen Ländern, z. B. in Großbritannien, die Public Health Abteilungen der Universitäten eng mit den Abteilungen für Allgemeinmedizin zusammen. Im Vorwort des Oxford Core Texts ›Health and Illness in the community‹ schreibt D.L. Southgate, Professor of General Practice and Medical Education, Präsident des Royal College of General Practitioners, UK »... Good Medical Practice, which includes a recognition of the tension between providing care for individuals, and seeking to improve the overall health and well being of populations« (2003).
Zum Verständnis von Präventivmedizin und Prävention Unterzieht man die Bezeichnungen Gesundheitsförderung, Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention, Kurative Medizin und Rehabilitation einer begrifflichen Analyse, so wird klar, dass es zu unterschiedlichen Bewertungen und Überschneidungen kommen muss, je nach Profession (Arzt, Soziologe, Psychologe, Pädagoge, Sportwissenschaftler, Ernährungsfachkraft u.a.) und vorbeugendem
380
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Charakter der Tätigkeit (kurative ärztliche Behandlung einer Hypertonie ist gleichzeitig eine präventivmedizinische Maßnahme im Hinblick auf den Schlaganfall, im Falle einer rein sport- und ernährungstherapeutischen Intervention wäre es dann »Prävention ohne Medizin«). Daher dient der Begriff Präventivmedizin auch nur zur Kennzeichnung, dass es sich um präventive Aufgaben und Maßnahmen handelt, die vorwiegend ärztlich wahrgenommen und/oder verantwortet werden. Weitere Differenzierungen sind nicht sachdienlich. Die einzelnen Gesundheitsziele von Gemeinden [33] unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Individuen, Familien oder einer ganzen Nation; sie betreffen in den entwickelten Ländern u.a. (nach US-Department of Health & Human Services, 2002; Gesundheitsziele für die Schweiz 2003 [34]): Körperliche Aktivität (gesundheitsfördernde Steigerung), Übergewicht (Reduktion), Rauchen (Verzicht, Aufgabe), Substanz-Missbrauch/Drogen/Alkohol, (Verzicht, bzw. verantwortlicher Umgang), Sexuell übertragbare Infektionen (Schutz), Psycho-mentale Gesundheit (Vorsorge, Stressbewältigung, Rehabilitation), Unfälle und Gewalt (spezielle Programme zur Prävention, Sturzprophylaxe Älterer), Umweltqualität (Allergien, Lärm, Schadstoffe, Naherholung), Impfstatus (Versorgung), Zugang zu Gesundheitseinrichtungen (gleicher Zugang für alle, auch Rehabilitationsleistungen für Ältere), Häusliches Umfeld Betagter (über 80 Jahre) inkl. Wohnberatung, Hilfsbedarf (Seh- und Hörhilfen) und soziale Beziehungen Betagter, Präventive Hausbesuche, Häusliche Rehabilitation.
Zur Rolle der (Haus-)Ärzte in der kommunalen Prävention Während die Auswirkungen von aufklärenden Kampagnen (z. B. der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) und reinen Public Health-Ansätzen (z. B. Healthy Cities der WHO) nicht einfach zu evaluieren sind, kann bei aktiver Mitarbeit von Hausärzten der Gesundheitszustand der lokalen Bevölkerung problemlos über anonymisierte Praxisdaten vergleichend ermittelt werden [24]. Außerdem ist so ein Ressourcen schonender Einsatz und die Anpassung von Gesundheitsindikatoren und Versorgungsstrukturen möglich. Hausärzte sind auch deshalb für präventive Interventionen geeignet, 4 weil sie die Lebensbedingungen ihrer Patienten über lange Zeit hinweg kennen und im unmittelbaren Umfeld – dem gemeinsamen Biotop – gesundheitsfördernden Einfluss ausüben können (. Abbildung 1: Einrichtung von
381 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
. Abb. 1. Kommune und Prävention (Kooperation in gesundheitsrelevanten Lebensbereichen)
4
4 4
4
gesundheitsfördernden Übungsgruppen, von Wander- und Jogging-Strecken, Informationsveranstaltungen, Erörterung von Umweltproblemen, Naherholung, betriebliche Gesundheitsförderung), weil sie einen Vertrauensvorschuss haben und leicht gesundheitsfördernde Koalitionen bilden können, mit KollegInnen und v.a. mit kommunalen Einrichtungen (Setting-Ansatz in Schulen, Betrieben, Sportvereinen [15, 19]), weil sich die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, Lehrern, Betriebsärzten, Pflegeeinrichtungen, Beratungsstellen und Sportvereinen ohnehin oft ergibt (. Abbildung 1), weil sie aufgrund ihrer Position und unmittelbaren Nähe nicht nur in ihrer Praxis sondern auch praxisübergreifend und auf Gemeindeebene mitwirkend erfolgreich Gruppenschulungen anbieten können (DiabetikerSchulung, Walking-Treff), weil sie auch die salutogenetischen Ressourcen ihrer Patienten und die der lokalen Bevölkerung fördern können (Empowerment und Partizipation durch Gruppenarbeit in Praxis und Gemeinde), anstatt nur Risiken zu kommunizieren, die nicht selten industriellen Interessen Vorschub leisten,
382
D · Medizinische Versorgung und Prävention
4 weil sie aufgrund ihrer Tätigkeit ohnehin sehr vertraut sind im Umgang mit »gesunden Patienten« und chronisch Kranken (geringe Prävalenz ernsthafter, dringlicher Erkrankungen), 4 weil Behandlungsprogramme für die Volkskrankheiten, z.B. DMP (Disease Management Programme) möglichst wohnortnahe Einrichtungen für Gruppenschulungen bereitstellen müssen, damit sich Verhalten, gegebenenfalls auch die lokalen Verhältnisse ändern können (gemeindenahe Schulungs- und Übungsgruppen), 4 weil der informierte Patient und Bürger in Zukunft zwar eine große Auswahl an Gesundheitsleistungen hat, auch via Internet, Einrichtungen am Wohnort jedoch ein höheres Maß an Lebensqualität bieten. 4 weil viele Hausärzte mit den Anforderungen wiederholter, zeitraubender, qualifizierter motivierender Gesundheitsberatungen im Rahmen der Sprechstunde überfordert sind und im Rahmen der Gemeindemedizin eine die individuelle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient stützende Entlastung möglich ist [26].
Vorgeschichte und Konzeption des Östringer Modells Das Östringer Modell wurde aus den Erkenntnissen der Eberbach-Wiesloch-Studie [3] und der ärztlich verantworteten Variante der DHP (Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie) heraus entwickelt [10] und mit der Drei-Ebenen-Strategie praktisch umgesetzt [22,27]. Die Drei-Ebenen-Strategie beschreibt die verhaltensmedizinisch orientierten Tätigkeitsfelder der Ärzte, wobei auf der 2., entscheidend aber auf der 3. Ebene Kooperationsformen für präventive Maßnahmen zum Kernstück dieser Art kommunaler Prävention gehören (. Abbildung 2). In Konsequenz führt dieses Modell zu einem lokalen Informationssystem, mögliche Grundlage für eine Gesundheitsberichtserstattung. Die Zusammenarbeit einer Arbeitsgemeinschaft (Arbeitsgemeinschaft Gesundheitsförderung Östringen) mit einer Koordinationspraxis hat sich bewährt. Um die ärztliche Verantwortung in diesem Modell einer kommunalen Prävention hervor zu heben, sprechen wir von Gemeindemedizin. Damit ist auch gemäß CINDI (Countrywide Integrated Noncommunicable Diseases Intervention Programme of WHO) die Evaluation von Interventionsmaßnahmen verbunden [29], die den Gesundheitszustand der lokalen Bevölkerung verbessern sollen.
383 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
. Abb. 2. Das Östringer Modell (nach A. Wiesemann
Methodische Elemente der Östringer Gemeindemedizin 4 Bevölkerung: Gemeinde Östringen mit 13.000 Einwohnern 4 Intervention Ansatz: Drei-Ebenen-Strategie der Praxisärzte mit Koordinationspraxis und bürgernaher Arbeitsgemeinschaft (kommunale Prävention) auf der 3. Ebene, d.h. vorrangig Arbeit mit Gruppen (oft Kurscharakter): Einrichtung von Übungsgruppen (22 Übungsgruppen in den 4 Ortsteilen mit den Gesundheitszielen Bewegung, Stresskontrolle, Ernährung/Gewichtsreduktion, Gesundheitswissen, Risikokommunikation), Gesundheitsförderung an Schulen, Gesundheitsführer (Motivation zur Teilnahme an den Gruppenangeboten, jährliches Update), Informationen (Stadtanzeiger) Gesundheitstage, Symposien (z. B. zum präventivmedizinischen Paradox) 4 Monitoring, Erhebungen (seit 1992): Erhebungen zum allgemeinen Gesundheitszustand sowie einzelner Risikofaktoren bzw. Gesundheitsindika-
384
D · Medizinische Versorgung und Prävention
toren wie Rauchen, Körpergröße, Gewicht, Cholesterin, in Abständen von 1–5 Jahren mittels Fragebogen und Untersuchung in den hausärztlichen Praxen (. Abbildung 3) 4 Evaluation: Von 1992–99, erneut in 2005 Querschnittsuntersuchungen an Praxispatienten (n = jeweils ca. 1000), die sich aufgrund von Vergleichen mit der Population der DHP als nicht gravierend unterschiedlich zur Normalbevölkerung erwiesen hatten. 100 Männer und 100 Frauen (>16 Jahre) wurden in jeder Praxis befragt und untersucht, so wie sie zufällig die Praxis aufsuchten (10%-Zufallsstichprobe). Außerdem erfolgt eine entsprechende Erhebung in den Gesundheitsgruppen (Übungsgruppen). Die gepoolten Praxisdaten geben Hinweise auf den »Gesundheitszustand« der Östringer Bevölkerung! 4 Statistische Verfahren Die einzelnen Übungsgruppen wurden deskriptiv analysiert, für die vergleichenden Querschnittsanalysen der Praxisstichproben wurden Gewichtungsfaktoren nach dem Verfahren der direkten Standardisierung auf der Basis der Altersverteilung 1992 berechnet. Der Unterschied sich ergebender jährlicher Prävalenzen der über alle Praxen gepoolten Daten wurde mittels Vier-Felder-Tafel getestet (Prüfgröße in der Regel Chi-Quadrat). Präventionsmaßnahmen kommen also in den Arztpraxen (z. B. Diabetikerschulung/DMP oder Rückenschule) und auf Gemeindeebene zur Geltung (z. B. Arthrose-Gruppe, Jogging-Treff, Osteoporoseprävention, Seniorengymnastik, Informationsveranstaltungen u.a.). Der Zugang zu den Übungsgruppen erfolgt über die hausärztliche Empfehlung oder direkt über die Informationen aus dem Gesundheitsführer (Folder). Die Übungsstätten stellt die Gemeinde kostenlos zur Verfügung, die geschulten ÜbungsleiterInnen werden von den Teilnehmern bezahlt (zur Zeit €35/Halbjahr mit 18 Zeitstunden pro Kurs). Bewegung steht im Mittelpunkt. Fallbeispiel: Die 43jährige Lehrerin kommt erneut wegen Rückenschmerzen in
die hausärztliche Sprechstunde. Sie erhält die Empfehlung zur Teilnahme an einer Rückenschule, einem Angebot der Arbeitsgemeinschaft Gesundheitsför-
. Abb. 3. Dokumentation zur Prävention/Gemeindemedizin (Dokumentationsblatt 2005)
386
D · Medizinische Versorgung und Prävention
derung (AGFÖ), das regelmäßig in einer Schulsporthalle durchgeführt wird. Da sie von diesem Angebot und dem damit für sie verbundenen Erfolg begeistert ist, regt sie an, eine derartige Rückenschule auch den Schulkindern (bzw. ihren Eltern) anzubieten. Auch die daraufhin eingerichtete Kinder-Rückenschule wird erfolgreich für die 10–13jährigen durchgeführt. AGFÖ und Schule kooperieren, »kommen in Bewegung« – ohne Medikalisierung.
Fall-Beispiel einer Gruppenstunde (meist 60 –75 Minuten) für Patienten/BürgerInnen mit Übergewicht und Hypertonie in einem Raum des Schulzentrums: 1. Beginn mit einem »Blitzlicht«: TeilnehmerInnen berichten kurz über Erfahrungen, Übungen und Beschwerden aus der letzten Woche, nachdem sie sich bereits in der ersten Stunde mittels Partnerinterview vorgestellt hatten, 2. Gruppenleiter (Übungsleiter) und Ärztin kommentieren und geben einen kurzen Überblick über Ziel und Aufgaben bzw. medizinische Hintergründe der kommenden Stunde (Zusammenhang von Gewicht und Bluthochdruck, von Gewicht und Beschwerden und Bewegungsapparat, von Bluthochdruck und Stress), »Erleichterung« durch Gewichtsreduktion, Bewegung (Walking) [2], 3. Ärztin erläutert das Entspannungsverfahren der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobsen und gibt Unterlagen zur Anleitung aus, Blutdruck und Körpergewicht werden gemessen, 4. Ärztin verlässt die Gruppe, Übungsleiterin beginnt mit den Übungen (Gymnastik: Bewegung ohne Belastung, Muskelkräftigung, Erläuterung zum Walking), 5. Feedback der Teilnehmerinnen zu den Übungen, 6. Erste Entspannungsübung wird unter Anleitung der Übungsleiterin durchgeführt, 7. Feedback der Teilnehmerinnen zur Muskelentspannung, 8. »Hausaufgaben«: Ernährungsprotokoll, Blutdruckselbstkontrolle, 9. Verabschiedung, Hinweis auf AOK-Veranstaltung zum Thema Ernährung und Normalgewicht.
387 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
Ergebnisse Da die Gemeindemedizin unserer Prägung im Rahmen einer kommunalen Kooperation neben einzelnen Aktionen v.a. gesundheitsfördernde zielgruppenorientierte Angebote »vor der Haustür« liefert und deren Akzeptanz, Erfolg und mögliche Auswirkung auf den »Gesundheitszustand der gesamten Gemeinde« untersucht, beziehen sich die folgenden, aus den 3 Kollektiven Übungsgruppen (Gesundheitsgruppen), Praxispatientenstichproben und Schüler ausgewählten Ergebnisse auf diese vielfältigen Blickwinkel.
. Abb. 4. (Übungsgruppenkollektiv) Gruppenerfolg: Osteoporosegruppe
. Abb. 5. (Übungsgruppenkollektiv) Kardiovaskuläre Risikofaktoren der Gruppenteilnehmer (1991–1997): Vergleich zu Beginn der Schulung mit nicht-teilnehmenden Patienten der Praxisstichprobe
388
Steigerung der körperlichen Fitness
Erfolg
Bessere Stresskontrolle
Erfolg
Entspannungsmethoden lernen
Erfolg
Gesunde Ernährung lernen
Erfolg
82,0
73,5
71,2
52,0
74,2
66,0
58,1
37,3
teils
7,0
18,5
20,4
34,6
20,9
18,8
31,1
32,7
nein
11,0
8,0
8,4
13,4
4,9
15,2
10,8
29,0
ja
. Tabelle 2. zeigt den Umfang der bisherigen Patienten-Stichproben aus den 5 Hausarztpraxen. 1992 N
1993 %
N
1994 %
N
1995 %
N
1997 %
N
1999 %
N
%
Männer
572
48,6
479
45,3
651
47,1
608
48,0
508
49,8
538
44,9
Frauen
604
51,3
578
54,7
730
52,9
659
52,0
512
50,2
661
55,1
Gesamt
1176
1057
1381
1267
1020
1199
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 1. (Übungsgruppenkollektiv) informiert über die Ziele und subjektive Erfolge der Teilnehmer in den Gesundheitsgruppen (N=600, Angaben in %).
389 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
a) Übungsgruppen (Ergebnisbeispiele in . Tabelle 1, . Abbildungen 4 und 5 [20]) Teilnehmer von 1991–2004: N=800 Personen, 3/4 davon mehrfach, bzw. über mehrere Jahre, ca. 80% Frauen in 21 Gesundheitsgruppen. Pro Halbjahr nehmen ca. 400 Personen teil, die meisten also über einen längeren Zeitraum (Motivation männlicher Teilnehmer in 2005!). . Abbildung 4 zeigt den hohen Nutzen der Maßnahme für die 59 Teilnehmer, obwohl sich die Schmerzen bei 22% nicht gebessert hatten. Das Durchschnittsalter betrug 65 Jahre, der Frauenanteil in den 6 Gruppen lag bei 83,3%. . Abbildung 5 zeigt, dass die Teilnehmer an Gesundheitsangeboten (N=600) bereits primär weniger kardiovaskuläre Risiken hatten als die Praxispatienten (N=1167, Angaben in %). b) Praxisstichproben
Praxispatienten: N=1020 –1381, (Ergebnisbeispiele in . Tabelle 2, . Abbildungen 6 und 7) . Abbildung 6 zeigt die Anzahl der Raucher in der für die gesamte Östringer Bevölkerung weitgehend repräsentativen Praxispatientenstichproben von 1992–1999 (N entspricht jeweils nahezu vollständig den Angaben in . Tabelle 2). . Abbildung 7 zeigt die Hypertonie-Prävalenz im zeitlichen Verlauf (N . Tabelle 2 und . Abbildung 6). Erhöhte Blutdruckwerte wurden um 65%
. Abb. 6. Raucher-Prävalenz
390
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 7. Hypertonie-Prävalenz
reduziert! Für BMI und Cholesterin ergab sich ein günstiger Trend. Die Prävalenzen wurden nach externem Standard gewichtet. c) Schüler
Von 1996–98 wurden alle Schüler der Stadt Östringen ab einem Alter von 8 Jahren mit altersadaptierten Instrumenten zu ihren Gesundheitseinstellungen im Rahmen von Gesundheitstagen in den Schulen befragt (Ergebnisbeispiel in . Tabelle 3 [7, 21]).
Besondere Projekte: 1. Zusammenhang von Risikofaktoren, soziökonomischem Status (N=1020 Praxispatienten, 1997) und privat finanzierter Gesundheitsvorsorge. In diesem Projekt konnte z.B. gezeigt werden, dass sich erhöhte Blutdruckwerte mit höherem Bildungsgrad weniger häufig finden (minus 25%), vor allem aber, dass Schulungsmaßnahmen sich günstig auf Umfang und Art einer weitgehend akzeptierten privaten Gesundheitsvorsorge (inklusive finanzieller Aufwendungen) auswirken [25]. 2. Untersuchung zur Motivation zu gesunder Lebensführung (N=1199 Praxispatienten, Stichprobe 1999)
Alter < 13
Alter ab 16
Alter 13 –15
a) Mädchen
Ersterheb. n=456
Nacherheb. n=67
Ersterheb. n=299
Nacherheb. n=72
Ersterheb. n=136
Nacherheb. n=51
Ich bin Raucher
18%
1%
18%
3%
24%
31%
Ich habe schon mal Drogen probiert
1%
5%
17%
18%
26%
39%
Ich achte auf meine Ernährung
71%
82%
66%
78%
78%
90%
Ich habe seit dem Gesundheitsprojekt mehr auf die Gesundheit geachtet.
15%
10%
2%
Ich kann mich an den Fragebogen von 1996 zum Thema Gesundheit erinnern
45%
74%
55%
Ersterheb. n=482
Nacherheb. n=76
Ersterheb. n=259
Nacherheb. n=46
Ersterheb. n=111
Nacherheb. n=38
Ich bin Raucher
19%
1%
12%
7%
32%
26%
Ich habe schon mal Drogen probiert
1%
8%
15%
13%
39%
37%
Ich achte auf meine Ernährung
63%
76%
45%
78%
50%
73%
Ich habe seit dem Gesundheitsprojekt mehr auf die Gesundheit geachtet.
7%
11%
3%
Ich kann mich an den Fragebogen von 1996 zum Thema Gesundheit erinnern
46%
65%
57%
391
b) Jungen
Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
. Tabelle 3. Schüler der Stadt Östringen (1996–98): N=1961, zeigt die Gesundheitseinstellungen getrennt für 4a) Mädchen und 4b) Jungen im zeitl. Verlauf
392
D · Medizinische Versorgung und Prävention
In diesem Projekt konnte z.B. aufgedeckt werden, dass 72% der Befragten angaben, aktiv etwas für die eigenen Gesundheit zu tun und 66% bzw. 88% dieser Personen dies aus Gründen der persönlichen Lebensziele bzw. Fitness taten, 63% aber auch aus Sorge wegen (drohender) Krankheit (Mehrfachantworten möglich) [23]. Vor allem die Motivation zum gesundheitsfördernden Lebensstil ist und bleibt voraussichtlich ein Problem, da gerade die männliche soziale Unterschicht aufgrund verschiedener Barrieren [23] kaum mit Gesundheitsangeboten erreicht wird, während es überwiegend die ohnehin gesund Lebenden sind, die kommunale und andere Präventionsangebote nutzen [18]. In der Erhebung von 2005 (. Abbildung 3, Frage im unteren Kasten) wird dieser Problematik vorrangig Rechnung getragen.
Diskussion Konzeption Da eines der größten Probleme präventiver Maßnahmen die Beurteilung der Effektivität und Effizienz mangels Evaluation ist, wurde dieses Problem weitgehend dadurch gelöst, dass Ärzte der Primärversorgung ihre anonymisierten Patientendaten zur Verfügung stellen. Diese Möglichkeit der Ergebnisorientierung ist ein klarer Vorteil der Drei-Ebenen-Strategie. Dazu kommt die in jeder Hinsicht nützliche ärztliche Präsenz im »gleichen Biotop«. Dagegen wird verständlicherweise bei Ärzten bisher ganz überwiegend von rein individueller Präventionsarbeit nach Inanspruchnahme ausgegangen (medizinische »Komm-Struktur« im Gegensatz zur soziologischen »Zugeh-Struktur«) [1, 15]. Intervention Die bürgernahe Drei-Ebenen-Strategie der Praxisärzte wird im Rahmen einer kommunalen Arbeitsgemeinschaft mit Hilfe der Stadtverwaltung und einer Koordinationspraxis auf Gemeindeebene praktisch umgesetzt, das bedeutet, dass die Arbeitsgemeinschaft Maßnahmen wie z.B. Art und Ort von bewegungsorientierten Übungsgruppen oder Gesundheitstage in Schulen anregt und mit ärztlichem Rat unter Mitarbeit weiterer engagierter Bürger auch für die Durchführung derartiger Veranstaltungen sorgt. Die Erwartung an die kommunalen Zuständigkeiten (»Administration der Gesundheit« in der DHP)
393 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
scheint wenig erfolgversprechend. Die ehrenamtliche Tätigkeit der BürgerInnen und Ärzte gewährleistet zwar zurzeit niedrige Kosten, langfristig ist aber hier eine Finanzierung erforderlich. Die Stadtverwaltung beansprucht eine geringe Beteiligung an den Verwaltungs- und Übungsstättenkosten, allein die ÜbungsleiterInnen werden adäquat von den Teilnehmern bezahlt, was teilweise auch von den Sportvereinen verantwortet wird. Es gibt offene Treffs und halbjährliche Kurse, die alle eine ähnliche Struktur (7 o. Beispiel Gruppenstunde) unter Verwendung folgender Module aufweisen: Gesundheitswissen, Krankheitswissen, Bewegung, Ernährung, Stresskontrolle/Entspannung. Die geschulten ÜbungsleiterInnen berücksichtigen diese Module, die durch ärztliche Beiträge im Rahmen von Gruppenbesuchen zielorientiert bereichert werden. Auch Informationen in den Stadtnachrichten werden zur Steigerung der Inanspruchnahme einzelner Interventionsangebote eingesetzt. Es scheint keine Alternative zu derartigen kooperativen Interventionen zu geben [6, 14]. Monitoring Von 1992–99 wurden in 6 Erhebungen lebensstil-relevante Daten in allen Praxen und Übungsgruppen erfasst. Von 2000 – 2004 konnte dies aufgrund der hohen gesundheitssystem-bedingten bürokratischen Belastung der Ärzte leider nicht mehr gewährleistet werden. Im Sommer 2005 wird erneut ein standardisiertes Monitoring in den Übungsgruppen durchgeführt (7 Monitoring-Bogen), dazu kommt die Erfassung der Daten in den hausärztlichen Praxen (Praxispatientenstichprobe mit dem gleichen Erhebungsinstrument). Es ist eine Grundbedingung für die Beobachtung bzw. Erfassung von lebensstil-orientierten Daten, die Menge möglichst gering zu halten, weil sonst die Beteiligung zu schwach und die Auswertung zu aufwändig wird. Umfangreiche Erfassungsinstrumente können gelegentlich im Rahmen aufwändiger Studien Verwendung finden, eignen sich aber nicht für eine kontinuierliche realisierte lokale Gesundheitsförderung [18]. Offen bleibt bisher leider auch die Finanzierung eines solchen Monitorings! Evaluation Die 6 von 1992–99 durchgeführten Praxisstichproben (Querschnittsuntersuchungen an jeweils ca. 1000 Praxispatienten, entsprechend ca. 10% der Bevölkerung>16 Jahre) und die entsprechenden Untersuchungen in den Gesundheitsgruppen (Übungsgruppen) repräsentieren mit Einschränkung die Einschätzung des Gesundheitszustandes und der kardiovaskulären Risikofaktoren der Bevölkerung, wie dies im Vergleich mit den DHP-Daten der Normalbevöl-
394
D · Medizinische Versorgung und Prävention
kerung nachgewiesen werden konnte [22]. Das hängt u.a. damit zusammen, dass mehr als 80% der Bevölkerung einmal im Jahr den Hausarzt aufsuchen, davon ca. 15% ohne »krank« zu sein! Die kombinierte Erfolgsbeurteilung von subjektiven Aussagen und wenigen biomedizinischen Parametern fördert die Aussicht auf eine valide Evaluation, dem aufwändigsten und anfälligsten Bestandteil jeder bevölkerungsrelevanten Präventionsmaßnahme (außerhalb großer fremdfinanzierter Studien) [6, 17].
Ergebnisse Zwar ließen sich keine positiven Veränderungen bei Übergewicht und Cholesterinspiegel erreichen (BMI>30 unverändert bei ca. 18% , Cholesterin >250 bei ca. 22%), es konnten aber die wichtigen Risikofaktoren Rauchen und Hypertonie signifikant gesenkt werden, und das bei relativ niedrigem Ausgangsniveau zum Ende der DHP. Dazu kommen die Erfolge in den Übungsgruppen, wobei hier auch die subjektiv positiven Erfahrungen zählen. Die Ergebnisse sind mit geringer Einschränkung (Praxisstichproben) für die Bevölkerung der Kleinstadt Östringen repräsentativ. Kritisch ist zu bewerten, dass unverändert eine Gruppe mit risikoreichem Lebensstil nur in geringem Umfang bisher erreicht werden konnte: die Männer, insbesondere in den Alterklassen von 30–60 Jahren; daher spricht die Erhebung von 2005 insbesondere diese Gruppe an (. Abbildung 3). Die Kosten der Maßnahmen sind sozialverträglich [25], die möglichen Barrieren [23] sollen in 2005 und 2006 weitgehend ausgeräumt werden, so dass eine weitere Zielgruppenorientierung erfolgversprechend wird. Die Ergebnisse unseres praxis-basierten gemeindemedizinischen Ansatzes lagen über dem DHPDurchschnitt [27]. Trotzdem ist insgesamt der Erfolg jeglicher, auch primärärztlich verantworteter Prävention bisher unbefriedigend [9, 18], wobei insbesondere die Bürokratie und die mangelnde Finanzierung viele Hausärzte demotiviert.
Ausblick Da es in Europa aufgrund der kostenintensiven demographischen und medizinischen Entwicklung eine Bewegung hin zu Primary Care Teams gibt, die prä-
395 Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Östringer Modell
ventive Maßnahmen im Gemeinderahmen intensivieren sollen [17], auch das diskutierte (aufgeschobene) deutsche Präventionsgesetz als entsprechendes Signal zu verstehen ist [31], dürften derartige kooperative Initiativen wie das Östringer Modell hohe Zukunftschancen haben. In 2005 kommt es – ganz im Sinne der Nutzung vorhandener Ressourcen und synergistischer Effekte- zur Zusammenarbeit mit der Nachbargemeinde Bad Schönborn, die mit ihrem sportwissenschaftlichen Ansatz (Gesundheit zum Mitmachen) und WalkingFestivals ebenfalls ein gesundheitsförderndes kommunales Klima schaffen konnte [5]. Ein gemeinsames Projekt wird sich mit der unterschiedlichen Geschlechterrolle in der Prävention und dem Aufbau von Risikogruppen für Männer beschäftigen. Eine vernünftige Kooperation aller Akteure im Gesundheitswesen ist entscheidend, um den zunehmenden Stellenwert der ambulanten Medizin mit dem erforderlichen Nutzen für die lokale Bevölkerung zu verbinden. Integrierte Versorgung und dafür geeignete Praxisnetze werden voraussichtlich nur mit zusätzlichen gemeindenahen (gemeindemedizinischen) Strukturen den beabsichtigten Benefit erzielen. Der Allgemeinarzt ist in seiner Praxis zwar primär dem Individuum verpflichtet, behandelt aber auch eine Gesamtheit von Patienten, die im Wesentlichen dem normalen Bevölkerungsquerschnitt entspricht, wenngleich mit häufigeren Kontakten zu chronisch Kranken; daher lassen sich durch (anonymisierte) Gesundheitsdaten aus den Praxen Informationen über den Gesundheitszustand nicht nur der Praxispopulation sondern auch einer ganzen Gemeinde gewinnen [20, 28] . Auf diese Art und Weise können Hausarzt-Praxisnetze nicht nur ein kommunales Gesundheitsklima schaffen und in Community Medicine ausbilden [8], sondern auch – in Verbindung mit Public Health – im Sinne eines »lokalen Gesundheitsinformationssystems« zur Gesundheitsberichterstattung beitragen. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die »neutralisierende« Stadtverwaltung, da es ohne ihre Beteiligung leicht zu Konflikten und unnötigem Ressourcenverbrauch unter den unterschiedlichen Akteuren kommt (Sportvereine, Ärzte, Krankenkassen, Kommerzielle Fitnessstudios). Da außerdem die Globalisierung der informierten Gesellschaft jetzt schon den Mitgestaltungswillen der Bürger/Patienten an der medizinischen Versorgung deutlich macht (Internet, »Benchmarking von Gesundheitsanbietern«), wird es zunehmend Aufgabe der Allgemeinärzte sein, die lebensstilorientierte ärztliche Primärversorgung der Bevölkerung im kulturell-lokalen Rahmen zu
396
D · Medizinische Versorgung und Prävention
verbessern und zu evaluieren. Dieser »Public Health-Rezeptor der Hausarztpraxis« sollte auch in Deutschland weiter entwickelt werden, damit im Verlaufe von Jahren valide überprüft werden kann, ob die Gemeinde ihren Gesundheitszielen einen Schritt näher gekommen ist.
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399 Hausärztliche Quartiärprävention
Hausärztliche Quartiärprävention am Beispiel der Reduzierung unnötiger Antibiotikaverordnungen bei akutem Husten Attila Altiner*, Silke Brockmann Abstract In allen europäischen Ländern liegt die durchschnittliche Verschreibungsrate von Antibiotika bei akutem Husten weit höher, als es aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz nötig und richtig wäre. Dies schadet aber nicht nur den Patienten (z.B. durch Nebenwirkungen), sondern trägt auch zur Zunahme von resistenten Bakterien bei und verursacht unnötige Ausgaben. Neben Gründen wie Gewohnheit oder der Angst schwere bakterielle Infektionen zu übersehen, fühlen sich Ärzte häufig von Patienten unter Druck gesetzt, Antibiotika zu verordnen. Tatsächlich erwartet aber nur eine Minderheit von Patienten wirklich Antibiotika. Der »Teufelskreis« dieses Missverständnisses wird durch das NichtAnsprechen von Arzt und Patient unterhalten. Die Förderung einer rationalen Verschreibungsweise bzw. die Reduktion von Überversorgung mit Antibiotika ist daher eine bedeutende Aufgabe hausärztlicher Prävention. Dies gestaltet sich allerdings komplex. Es werden drei erfolgreiche Interventionsstudien aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland dargestellt, deren Ziel die Reduktion unnötiger Antibiotikaverordnungen bei akutem Husten bzw. akuten Atemwegsinfektionen war. Diesen Interventionen ist dabei gemein, dass sie sich der Kombination von aktiven EdukationsMethoden (multifacettierte Interventionen) bedienten, die sich einzeln bereits als erfolgreich erwiesen hatten. Außerdem waren die Interventionen gut an den speziellen medizinischen und kulturellen Kontext der jeweiligen Länder angepasst. Die relevante Verringerung unnötiger Antibiotikaverordnungen wurde jedoch in allen Studien nur mit großem Aufwand vor allem an »human * e-mail:
[email protected]
400
D · Medizinische Versorgung und Prävention
resources« erreicht. Die grosse Herausforderung besteht nun darin, die in den Studien gewonnenen Erkenntnisse auf einer breiteren Ebene in die Normalversorgung zu integrieren. Schlüsselworte: Antibiotika, unnötige Antibiotikaverordnungen, akuter
Husten, Interventionsstudien
Hintergrund Akute Atemwegsinfekte gehören mit zu den häufigsten Behandlungsanlässen im hausärztlichen Bereich. Ein entscheidender Anteil der Antibiotikaverschreibungen entfällt europaweit auf diese Diagnose. Insbesondere bei infektbedingtem Husten (syn. akute Bronchitis) werden besonders häufig Antibiotika verordnet. Bei deutschen Hausärzten liegt die durchschnittliche Verschreibungsrate bei etwa 50% [1]. Dies ist im europäischen Vergleich deutlich geringer als etwa in Südeuropa, Frankreich, Belgien und Grossbritannien mit Verordnungsraten von 60–80%, aber höher als beispielsweise in den Niederlanden und Skandinavien, deren Verordnungsraten unter 40% liegen [2]. Dennoch liegt in allen europäischen Ländern die durchschnittliche Verschreibungsrate von Antibiotika bei akutem Husten weit höher, als es aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz nötig und richtig wäre. Denn in allen Studien zur Wirksamkeit von Antibiotika bei akutem infektbedingtem Husten fand sich – unabhängig von vermuteter viraler oder bakterieller Genese – eine nur geringradige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs. Akuter Husten dauert durchschnittlich etwa zehn Tage. Unter Antibiotikatherapie wird der symptomatische Zeitraum durchschnittlich um etwa 12 Stunden verkürzt, dies ist als bestenfalls marginal anzusehen [3]. Die ungerechtfertigte Gabe von Antibiotika schadet aber nicht nur den Patienten (z.B. durch Nebenwirkungen), sondern trägt auch zur Zunahme von resistenten Bakterien bei und verursacht unnötige Ausgaben; sie ist damit auch ein Public-Health– und ein Kostenproblem. Die Förderung einer rationalen Verschreibungsweise von Antibiotika ist deshalb eine bedeutende Aufgabe hausärztlicher Prävention, deren Hintergründe und Umsetzungsstrategien hier veranschaulicht werden sollen.
401 Hausärztliche Quartiärprävention
Schutz vor Überversorgung Es geht hierbei zum einen darum, den Patienten auf individualmedizinischer Ebene von den Folgen unnötiger Antibiotikaüberversorgung zu bewahren. Dieser Schutz vor Überversorgung entspricht dem von Fischer geprägten Begriff der hausärztlichen Quartiärprävention [4]. Bei diesem Ansatz spielt – wie bereits im Kapitel »Hausärztliche Prävention« von Abholz erläutert – die Kontinuität hausärztlicher Versorgung eine wichtige Rolle: Aufgrund guter Kenntnis und Verständnis für das Patientenanliegen erscheint der Hausarzt hier als zentraler Akteur. Dies beinhaltet aber für den Hausarzt auch, dass er das jeweilige Patientenanliegen anlässlich einer Konsultation – so auch der wegen Hustens – durch eine genaue Exploration und Untersuchung jeweils neu bestimmen muss. Er muss die vorliegenden Sorgen und Erwartungen der Patienten verstehen, um adäquat – und nicht immer nur mit einer Verordnung – zu reagieren. Darüber hinaus geht es aber auch darum, die Bevölkerung auf PublicHealth-Ebene vor den Folgen übermässigen Einsatzes von Antibiotika – vor allem der weiteren Zunahme bakterieller Resistenzen – zu schützen (hier handelt es sich quasi auch um Primärprävention).
Das Antibiotika-Missverständnis Die Reduktion unnötiger Antibiotikaverordnungen in der täglichen Praxis gestaltet sich allerdings komplex. Es geht hierbei auch um die Frage des Wissens, der Motivation und der Krankheitskonzepte von Hausärzten zu diesem Thema. Denn es könnte ja sein, dass Hausärzte ein falsches Wissen bzw. Konzept vom Nutzen der Antibiotika haben. Viele Fortbildungs-Bemühungen zur Reduktion der Antibiotikaverordnungen in diesem Bereich unterstellen solche Wissenslücken. Entsprechende Studien aber haben gezeigt, dass ein unzureichendes Wissen über den fehlenden Nutzen von Antibiotika bei akutem Husten nicht annähernd als Hauptursache von zu hohen Verordnungsraten anzusehen ist. Daher lag die Vermutung nahe, dass – neben einer offenbar eingeschliffenen Verordnungsroutine – noch andere Bestimmungsfaktoren für das Handeln der Ärzte vorhanden sein müssen. Neben Gründen wie Gewohnheit, der Angst schwere bakterielle Infektionen zu übersehen, oder manchmal auch Wissensmängeln, wurde in verschiedenen Studien in Europa und den USA mehrfach
402
D · Medizinische Versorgung und Prävention
beschrieben, dass Ärzte sich häufig von ihren Patienten unter Druck gesetzt fühlen, Antibiotika zu verordnen. Sie denken, dass ihre Patienten dies erwarten [5]. Dieser »wahrgenommene Patientendruck« gilt dabei als starker unabhängiger Prädiktor für das Verhalten von Ärzten. Im Gegensatz zu dieser subjektiven Wahrnehmung der Ärzte zeigen Untersuchungen aber zugleich auch, dass nur eine Minderheit von Patienten – in einer eigenen Untersuchung ca. 12 % – wirklich Antibiotika bei akutem Husten erwarten [6]. Der Begriff »Patientenerwartungen/-druck« ist dabei allerdings nicht eindeutig und einheitlich definiert und lässt Raum für Interpretationen: Entweder drücken die Patienten ihre Nicht-Erwartung nicht deutlich genug aus, oder die Ärzte interpretieren kommunikative Signale in den Konsultationen als Druck auf sie, auch wenn die Patienten etwas ganz anderes meinen. Äusserungen von Patienten in Konsultationen werden – wie in einer eigenen Studie mit Tonbandmitschnitten von Konsultation bei »Husten« gezeigt wurde – oft als ein Wunsch nach Antibiotika missinterpretiert, wohingegen Patienten nur ihre Sorge über den Verlauf ihrer Erkrankung ausdrücken wollen [7]. Wenn Patienten mit Husten einen Arzt aufsuchen, so tun sie es, weil sie besorgt sind oder den Verlauf als aussergewöhnlich schwer empfinden. Die Miss-Interpretation (arztseitig) bzw. Miss-Aussendung (patientenseitig) von Kommunikationssignalen kann dann ein Missverständnis auslösen und damit einen »Teufelskreis« in Gang setzen. Zusätzlich mit der »Heilserfahrung« die mit dem verordnete Antibiotikum verbunden wird setzt sich der Teufelskreis in folgenden Konsultationen immer weiter fort [8]. Das Erlebnis, das der Patient mit einer auf einem »Missverständnis« basierenden Antibiotikaverordnung vermittelt bekommt, ist: »Es wurde dann besser (obwohl wir wissen, es wäre auch ohne Antibiotikum besser geworden), wenn ich wieder Husten haben sollte, brauche ich wieder ein Antibiotikum«. Der vom Arzt erlebte Druck von Seiten des Patienten bei der nächsten Konsultation wird stärker. Ärzte können gegen diesen »Teufelskreis» nur etwas tun, wenn sie ihren Patienten Rückkoppelung über die Harmlosigkeit der Symptomatik und des Verlaufs geben. Glaubwürdig kann dies nur geschehen, wenn sie sorgsam zuhören, sorgsam untersuchen und mögliche Ängste des Patienten ansprechen. Die Patienten selbst stehen der Verordnung von Antibiotika – zumindest in Deutschland – bemerkenswerter Weise ausgesprochen ambivalent gegenüber. In der Regel wird eine Antibiotikaverordnung nur dann gewünscht, wenn eine schwere Erkrankung vorliegt, die anders nicht behandelt werden kann. Andererseits gibt es einige Patienten, die – auf häufig implizite Art – vom Arzt Anti-
403 Hausärztliche Quartiärprävention
biotika einfordern, häufig verbunden mit dem Wunsch »sofortiger« Genesung. Möglicherweise überstrahlen diese wenigen Patienten die grosse Mehrheit der »Unentschlossenen«. Das beschriebene Antibiotika-Missverständniss kommt also auch dadurch (mit-)zustande, weil Patienten sich in der Konsultation zu wenig explizit artikulieren. So wie Ärzte zu wenig reden und fragen, so tun es aber auch die Patienten zu wenig. Daher stellt die Förderung der Patientenverantwortlichkeit (Patient-Empowerment) in diesem Zusammenhang einen wichtigen Baustein hausärztlicher Prävention dar. Um hier mehr Raum für die Partizipation des Patienten am Entscheidungsprozess zu schaffen, sollte neben der Vermittlung der jeweiligen medizinischen Hintergründe auch für den Patienten schlüssig das AntibiotikaMissverständnis sowie seine eigene Rolle als Patient hierbei vermittelt werden. Diese Informationen können den Patienten ermöglichen, gleichberechtigter mit dem Hausarzt zu sprechen und sogar selbst das beschriebene Missverständnis zu thematisieren. Auf dem geschilderten Hintergrund wird deutlich, dass es hier im Wesentlichen um eine arzt- und patientenseitige Verhaltensänderung geht; ein weiterer, auch primärpräventiver Aspekt wird deutlich. Nicht Wissensvermittlung oder die Implementierung eines technischen Algorithmus führen zu einer Veränderung, sondern ein Erkenntnisprozess muss in Gang gesetzt werden, der Kommunikation über eigene – des Patienten und des Arztes – Vorstellungen, Konzepte, Ängste und Wünsche beinhaltet. Auf dieser Basis und der Beantwortung der Frage »Was denken Sie?« wird dann ein geänderter Umgang mit therapeutischen Optionen möglich.
Interventionsstudien Wie kann nun ein solcher Erkenntnis- und Umdenkungsprozess in Gang gesetzt werden? An dieser Stelle sollen exemplarisch für die unterschiedlichen Ansatzpunkte im soziokulturellen Kontext der jeweiligen Länder (Niederlande, Belgien, Deutschland) Elemente von drei erfolgreichen randomisierten Interventionsstudien aus den Jahren 2000–2004 dargestellt werden. Diese Interventionen waren jeweils in der Lage, die Antibiotikaverordnungen bei akuten Atemwegsinfektionen bzw. Husten nachhaltig in einer Größenordnung von etwa 10% absolut zu senken. In den entsprechenden Studien wurden jeweils etwa 80–100 Praxen in Kontroll- und Interventionsgruppen cluster-randomi-
404
D · Medizinische Versorgung und Prävention
sert. Die Anzahl der im Rahmen der Studien in ihrer Behandlung dokumentierten Patienten lag jeweils deutlich über Tausend. In den Niederlanden setzte man auf die Veränderung des Verordnungsverhaltens durch Gruppensitzungen mit gemeinsamer moderierter Konsensusfindung der teilnehmenden Hausärzte [9]. Dies baute auf der unter anderem in Qualitätszirkeln gewonnenen Erkenntnis auf, dass die ärztliche Adhärenz zu einer Therapieempfehlung dann am grössten ist, wenn diese Empfehlung durch aktive Mitarbeit der Zielgruppe selbst entstanden ist. Dies kann für ein besonders hohes Identifikationspotential sorgen. Ebenfalls wurden im Rahmen der Gruppenschulung Kommunikationstechniken erläutert, die auf die bessere Exploration der Sorgen und Bedürfnisse der Patienten abzielten. Im Verlauf der Untersuchung erhielten die Teilnehmer dann Feedback-Informationen über ihre individuellen Verordnungsraten. Informationsmaterialien (Poster und Broschüren) zur Ausgabe an die Patienten wurden erstellt. Ausserdem wurde auch das nicht-ärztliche Praxispersonal in einer Gruppensitzung geschult. Zusätzlich hatten die Ärzte in beiden Gruppen ihren Patienten Fragebögen zur Zufriedenheit mit der Therapie ausgehändigt. Es gab in Bezug auf Zufriedenheit der Patienten – bei insgesamt hoher Zufriedenheit – keinen Unterschied zwischen der Kontrollgruppe und der Interventionsgruppe, in der im Verlauf signifikant weniger Antibiotika verordnet wurden. Ziel einer belgischen Studie war es, neue Leitlinienempfehlungen zu implementieren, die auf eine zurückhaltende Antibiotika-Verordnungsstrategie bei akutem Husten abzielten [10]. Neben der Senkung der Verordnungsrate von Antibiotika insgesamt, sollte auch in Richtung einer rationalen Auswahl antibiotischer Substanzen hin gewirkt werden. Nachdem die Leitlinie nach telefonischer Ankündigung versendet worden war, fand ein Gespräch eines Experten (Pharmazeut oder qualifizierter Pharma-Referent) mit dem Arzt in der Praxis statt. Hauptthema war neben einer Erinnerung an die Leitlinienempfehlungen die Diskussion möglicher Barrieren der Leitlinienumsetzung. Hier wurde auf den Umgang mit diagnostischen Unsicherheiten bei Husten fokussiert. Auch die beschriebenen Diskrepanzen zwischen Patientenerwartung und ärztlicher Wahrnehmung derselben wurden im Gespräch thematisiert. In Anlehnung an Methoden der Verhaltensbeeinflussung (Elaboration Likelihood Model), wurde von uns in Deutschland die multifacettierte, auf das hausärztliche Verordnungsverhalten abzielende Intervention CHANGE (Converting Habits of Antibiotic Prescribing in General Practice) entwickelt [11].
405 Hausärztliche Quartiärprävention
Diese bestand aus einem Peer-Praxis-Besuch in Kombination mit Informationsmaterialien. Mehrere Peers – alle erfahrene Hausärzte – wurden darin trainiert, bei ihren Praxisbesuchen semistandardisiert und an die jeweilige Motivationslage des besuchten Hausarztes anpassend, spezielle kommunikative Techniken anzuwenden. Wesentlicher Bestandteil des Gespräches in den Praxen der teilnehmenden Hausärzte war es, den beschriebenen Teufelskreis des Antibiotika-Missverständnisses zu thematisieren. Als mögliche Lösung wurde die stärkere Einbeziehung des Patienten in den Entscheidungsprozess dargelegt. Ausserdem wurden ein Praxisposter, Patientenbroschüren und »Flyer« entwickelt und den Interventions-Praxen zu Verfügung gestellt. Damit sollte es den Ärzten leichter gemacht werden, die Patienten auf das Thema anzusprechen und den Patienten offen signalisiert werden, dass die Ärzte in Sachen Antibiotika bereit waren, ihr Verhalten zu ändern. Im Rahmen der CHANGE-Studie wurde eine in ihrer Konzeption bisher in der deutschen Allgemeinmedizin neue Interventionsmethode verwandt. Entscheidend war hier der Ansatz, eine ärztliche Verhaltensänderung nicht durch Wissensvermittlung und auch nicht durch Techniken des Qualitätsmanagements zu bewirken, sondern bei den Ärzten eine erhöhte Aufmerksamkeit für ein Behandlungsproblem und ein Kommunikationsproblem zu erzeugen und damit eine Einstellungs- und Verhaltensänderung zu bahnen.
Charakteristika erfolgreicher Interventionen Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktive und komplexe Vermittlung neuer Informationen und Strategien insgesamt deutlich bessere Aussichten auf Erfolg hat, als eine reine Wissensvermittlung deren Inhalte nur passiv aufgenommen werden [12]. Aktive Edukationsmaßnahmen meint hier z.B. »educational outreach visits«, Einsatz von Meinungsbildnern und moderierte Diskussionsgruppen. Weiterhin kennzeichnet die geschilderten erfolgreichen Interventionen die Einbeziehung der Patienten im Sinne eines »Empowerment«, also einer schriftlichen oder mündlichen Ermunterung zur Teilhabe, Mitentscheidung bzw. Änderung ihres gewohnten Verhaltens. Erfolgreichen Interventionen ist dabei auch gemein, dass sie sich der Kombination von Methoden (multifacettierte Interventionen) bedienen, die sich einzeln bereits als erfolgreich erwiesen haben, und dass die Interventionen gut an den speziellen medizinischen und kulturellen Kontext angepasst werden. So hat sich die sachkun-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
dige und profunde Erhebung der spezifischen Kontextbedingungen als eine Grundanforderung erwiesen, die bei der Planung einer Intervention erfüllt werden muss.
Resümee Die Verringerung unnötiger Antibiotikaverordnungen bei akuten Atemwegsinfekten ist ein wichtige Aufgabe. Der hausärztlichen Prävention kommt dabei eine bedeutende, wenn nicht sogar die bedeutendste Rolle im Gesundheitssystem zu. Mittels komplexer Interventionen ist es möglich, dass hausärztliche Verordnungsverhalten nachhaltig in Richtung einer rationalen Verordnungspraxis zu beeinflussen. Die relevante Senkung der Antibiotikaverordnungen, die durch die dargestellten neuen Interventionsstudien erreicht werden konnte, stimmt dabei zuversichtlich. Der edukative Ansatz dieser Interventionen unterscheidet sich dabei fundamental von vielen bisherigen Bemühungen, das ärztliche Handeln zu beeinflussen und zu verändern (nämlich z.B.: Qualitätsmanagement, Bonus-Malus-Systeme). Bei allem berechtigten Optimismus ist die Durchführung und sind die Ergebnisse der bisherigen Interventionsstudien jedoch auch gleichsam kritisch zu reflektieren: Die Ergebnisse wurden – bei in der Größenordnung unbekanntem aber sicherlich vorhandenem SelektionsBias der teilnehmenden Praxen – mit großem Aufwand vor allem an »human resources« erreicht. Auch das steigende mediale Interesse an der Antibiotikaproblematik macht deutlich, dass die Zeit für eine nachhaltige Änderung des Umgangs mit Antibiotika in der ambulanten Versorgung reif zu sein scheint. Die große Herausforderung besteht nun darin, die in den Studien gewonnenen Erkenntnisse auf einer breiteren Ebene in die Normalversorgung zu integrieren [13].
Literatur 1 Altiner A., Wilm S., Haag H., Schraven C., Sensen A., Abholz H. H.: Verordnungen bei akutem Husten: 501 Medikamente für 356 Patienten. Z Allg Med 2002; 78: 287–90 2 Goossens H., Ferech M., Van der Stichele R., Elseviers M., for the ESAC-Project Group: Outpatient antibiotics use in Europe an association with resistance: a cross-national database study. The Lancet 2005; 365: 579–87 3 Smucny J., Fahey T., Becker L., Glazier R.: Antibiotics for acute bronchitis. Cochrane Library, Issue 4: 2003
407 Hausärztliche Quartiärprävention
4 Fischer G. C.: Schutz vor medizinischer Überversorgung, Z Allg Med 1996; 72: 1016–22 5 Little P., Dorward M., Warner G., Stephens K., Senior J., Moore M.: Importance of patient pressure and perceived pressure and perceived medical need for investigations, referral, and prescribing in primary care: nested observational study. BMJ 2004; 328: 444 6 Altiner A., Haag H., Schraven C., Sensen A., Wilm S., Sandquist S., Esser A., Schlipper, A., Abholz H. H.: Akuter Husten: was erwarten die Patienten? Z Allg Med 2002; 78: 19–22 7 Altiner A., Knauf A., Moebes J., Sielk M., Wilm S.: Acute cough: a qualitative analysis of how GPs manage the consultation when patients explicitly or implicitly expect antibiotic prescriptions. Fam Pract 2004; 21: 500–6 8 Butler C. C., Rollnick S., Kinnersley P., Jones A., Stott N.: Reducing antibiotics for respiratory tract symptoms in primary care: consolidating »why« and considering »how«. BJ Gen Pract. 1998; 48: 1865–70 9 Welschen I., Kuyvenhoven M. M., Hoes A. W., Verheij T. J.: Effectiveness of a multiple intervention to reduce antibiotic prescribing for respiratory tract symptoms in primary care: randomised controlled trial. BMJ 2004; 329: 431–36 10 Coenen S., Van Royen P., Michiels B., Denekens J.: Optimizing antibiotic prescribing for acute cough in general practice: a cluster-randomized controlled trial. J Antimicrob Chemother 2004; 54: 661–72 11 Altiner A., Brockmann S., Sielk M., Wegscheider K., Abholz H. H.: CHANGE: Studie über die Wirkung von Peer-Interventionen und schriftlichen Patienteninformationen in Hausarztpraxen zur Senkung der Verordnungsrate von Antibiotika bei akutem Husten durch die Verbesserung der Patienten-Arzt Kommunikation. Endbericht [Publikation in Vorbereitung] 12 Oxman A. D., Thomson M. A., Davis D. A., Haynes R. B.: No magic bullets: a systematic review of 102 trials of interventions to improve professional practice. CMAJ. 1995; 153: 1423–31 13 Campbell M., Fitzpatrick R., Haines A., Kinmonth A. L., Sandercock P., Spiegelhalter D., Tyrer P.: Framework for design and evaluation of complex interventions to improve health. BMJ 2000; 321: 694–696
409 Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche
Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik – eine qualitätsorientierte Bestandsaufnahme Thomas Kliche*, Christina Krüger, Cornelia Goldapp, Reinhard Mann, Jürgen Töppich, Uwe Koch
Abstract Adipositasprävention und –behandlung bei Kindern und Jugendlichen bilden eine zunehmend wichtige Versorgungsaufgabe. Das Universitätsklinikum Eppendorf (UKE, Hamburg) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, Köln) haben 2004–5 eine bundesweite Bestandsaufnahme einschlägiger Angebote für Kinder und Jugendliche durchgeführt. Der Fragebogen basierte auf einem generischen Qualitätssicherungssystem für Prävention und Gesundheitsförderung und umfasste neben Einrichtungsmerkmalen auch 14 zusammenfassende Qualitätsmerkmale aus den Leitlinien für die AdipositasVersorgung von Kindern und Jugendlichen, ausgewählt von einer Expertengruppe, die die BZgA zur Begleitung ihrer Aktivitäten in diesem Versorgungsfeld eingesetzt hat. Zentrale Versorgungszweige wurden exploriert, in Stichproben oder Gesamtbefragung erfasst und die Repräsentativität mit Nonresponder-Nachbefragungen kontrolliert. Die resultierende qualitätsbezogene Bestandsaufnahme und die Vergleiche von Einrichtungsarten und Versorgungsrahmen weisen auf deutliche Qualitätsdefizite hin. Durchschnittlich halten die Programme und Angebote nur rund 60% der abgefragten Qualitätsmerkmale ein. Die Kosten der Angebote differieren erheblich und korrelieren nur mäßig mit deren Qualität. Etwa zwei Drittel der Versorgung erfolgen ambulant, settings-bezogene Angebote fehlen jedoch fast völlig. Zur Qualitätsentwicklung des Versorgungsfeldes sind deshalb qualitätsbezogene Verzeichnisse
* e-mail:
[email protected]
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
der Behandlungsangebote und Programme, Unterstützung der Einrichtungen bei der gezielten Verbesserung ihrer Angebote, insbesondere im ambulanten Bereich, und die Neuentwicklung und Förderung von Settings-Projekten zu empfehlen. Schlüsselworte: Übergewicht, Adipositas, Prävention, Versorgung, Qualitäts-
sicherung
1 Ausgangslage und Zielsetzung Nach vorliegenden Schätzungen sind zwischen 5 und 17% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig sowie 1–8% von Adipositas betroffen (vgl. die Übersichtsarbeit von Goldapp & Mann, 2004). Vereinzelt werden auch höhere Zahlen berichtet (vgl. Böhler et al, 2003, S. 13). Auf der Basis von Daten der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) ist heute sogar jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche übergewichtig, 4–8% aller Schulkinder haben nach o.a. Definition eine Adipositas (Müller & Danielzik, 2005; Wabitsch, 2004). Reinehr und Wabitsch (2003, S. 758, in Anlehnung an Kromeyer-Hauschild et al., 2001) schätzen die Zahl adipöser Kinder und Jugendliche in Deutschland auf eine Million; eine Behandlung werde nur einem geringen Anteil von 0,7% zuteil. Vergleichsstudien weisen nämlich für die letzten Jahre einen Anstieg aus (vgl. Böhm, 2002; Kromeyer-Hauschild, 1999; von Kries, 2004; Wabitsch et al., 2002). Die Kieler Adipositaspräventionsstudie (KOPS) berichtet von einer Verdoppelung des Anteils adipöser Kinder zwischen Erstuntersuchung und Vier-Jahres-Nachuntersuchung (Czerwinski-Mast et al., 2003; Danielzik, 2003). Das CrescNet-Projekt (Keller, 2002, Kiess et al., 2001) berichtet bis 2001 einen kontinuierlichen Anstieg der Prävalenz von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen; vor allem liegen die 90. und 97. Perzentile der aktuellen Daten aus dem CrescNet-Programm deutlich höher, während die Unterschiede bei niedrigeren Perzentilen gering bleiben. Schuleingangsuntersuchungen in Bayern 1982–1997 zeigen eine Zunahme der Adipositas von 1,8% auf 2,8% und des Übergewichts von 8,5% auf 12,%, ebenfalls durch höhere Belastung der oberen Perzentile (von Kries, 2004). Befunde aus anderen OECD-Ländern zeigen, dass die Zunahme einen internationalen Trend spiegelt (z.B. D’Amicis et al., 2003; EC, 2000; Eurodiet, 2000; Galuska, 2003; Müller & Danielzik, 2005; Petkeviciene & Klumbiene, 2003; WHO, 2000, 2003).
411 Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche
Allerdings sind die unterschiedlichen Prävalenzschätzungen aus verschiedenen Studien noch klärungsbedürftig (Böhler et al., 2003, S. 13). Gründe für die Differenzen sind in unterschiedlichen Messmethoden und Definitionen, Erhebungsgruppen, Stichprobenbestimmungen und Referenzdaten – teilweise noch aus den 70er-Jahren – zu suchen, daneben möglicherweise auch in regional und sozial differenzieller Entwicklung der Prävalenzraten (vgl. Goldapp & Mann, 2004). Die meisten deutschen Befunde stützen sich auf die Beobachtung einzelner Regionen, Städte oder Länder und Jahrgänge bis 1999 (z.B. KromeyerHauschild & Wabitsch, 2004). Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas weist einen Sozialgradienten auf (Czerwinski-Mast et al., 2003, S. 729): Bei 18,5% der 5- bis 7-Jährigen in Familien mit niedrigem Sozialstatus wurde Übergewicht festgestellt (Langnäse et al., 2002), bei weiteren 3,5% in dieser Altersgruppe Adipositas (Danielzik et al., 2002). Die Health Behaviour in School-age Children-Studie der WHO (HBSC) bestätigt auch in der Bundesrepublik einen deutlichen Zusammenhang von Übergewicht und schwachem sozialen Status (Zubrägel & Settertobulte, 2003). Für Kinder übergewichtiger Eltern ist das Adipositas-Risiko besonders hoch (Böhm, 2001). Bei Kindern aus Minoritäten und Migrationsfamilien sind Übergewicht und Adipositas deutlich verbreiteter (7 Wabitsch, 2004). Die Belastungen durch Übergewicht und Adipositas interagieren mit weiteren Risikofaktoren und lückenhafter Inanspruchnahme bei sozial Benachteiligten, u.a. infolge kultureller und wirtschaftlicher Zugangshürden (G + G 2003; WHO, 2003). Im Gesamtbild zeigt sich also eine Zunahme der Prävalenz in jüngeren Kohorten bei höheren Werten der am stärksten betroffenen Personen und der sozial Benachteiligten, die ohnehin gesundheitlich höher belastet sind. Deshalb stellt die Versorgung übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher auch in der Bundesrepublik eine zunehmend wichtige gesundheits-, sozial- und verbraucherpolitische Aufgabe dar. Gleichwohl ist über die Versorgungsstrukturen bislang nur wenig bekannt, insbesondere unter dem Gesichtspunkt möglicherweise stark ansteigenden Versorgungsbedarfs. Aus diesem Grund war eine Bestandsaufnahme der realen Versorgungslage erforderlich. Hiermit beauftragte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2004 das Institut und Poliklinik für medizinische Psychologie am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE). Die bestehenden Angebote für übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche in Deutschland sollten erfasst und hinsichtlich grundlegender
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Struktur-, Konzept- und Prozessmerkmale beschrieben werden, um Zahl, Breite und Qualität der Versorgung einschätzen und gezielt aussagefähige Evaluationen durchführen zu können.
2 Instrument, Befragung, Datenbasis, Schätzfehler Zunächst wurde ein Kurzfragebogen entwickelt. Er integrierte mehrere Quellen: 1. eine Synopse vorliegender Qualitätskriterien der wichtigsten Fachgesellschaften und Gremien der Versorgungsträger, 2. Expertise und Einschätzungen des projektbegleitenden Fachkreises bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in dem u.a. führende Fachgesellschaften und der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen mitwirkten, 3. eine Bestandsaufnahme mit vergleichbarer Aufgabenstellung aus dem Jahr 2002 (Reinehr & Wabitsch, 2003), 4. langjährige Vorerfahrungen des durchführenden Instituts mit Qualitätssicherung und Versorgungsforschung im Auftrag verschiedener Träger auf Bundesebene, insbesondere für psychosoziale Versorgung und Rehabilitation (z.B. Kawski & Koch, 2004), 5. Qualitätssicherung-Prävention (QS-P), ein evidenzorientiertes Informationssystem von BZgA und UKE, das mit strukturierten Assessments die Qualitätsentwicklung für Prävention und Gesundheitsförderung unterstützt (Kliche et al., 2004). Der erstellte Fragebogen richtete sich an Einrichtungs-, Projekt- und Programmleitungen oder Durchführende. Er erfasste auf zwei DIN-A-4-Seiten 172 Variablen verschiedener Skalenniveaus. Die Fragen betrafen zentrale Struktur-, Konzept-, Prozess- und Ergebnismerkmale der Angebote: 4 Rahmenbedingungen des Angebots (Einrichtungsart, Programmeinbettung, Teilnehmerzahl, Behandlungsdosis, Angebotsdauer und –kosten, Abbruchquoten, jährliche Inanspruchnahme), 4 Merkmale der Behandlungsqualität, d.h. zentrale, unter Beratung des Fachkreises ausgewählte Qualitätskriterien der Behandlungsleitlinien und des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen.
413 Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche
Die wichtigsten Versorgungszweige (Kliniken, ärztliche Praxen, Beratungsstellen, Gesundheitsämter usw.) wurden durch Internet- und Literaturrecherchen sowie Vorgespräche exploriert und ihre Verzeichnisse dokumentiert. Für jeden Zweig wurden Stichproben bestimmt (Kliniken, Oecotrophologen, Diätassistenten, Ernährungs- sowie andere Beratungsstellen, Kinderärzte, Kinderund Jugendpsychotherapeuten und -psychiater, bereits bekannte Behandlungsprogramme, Vereine, Gesundheitsämter). Auf dieser Grundlage war es möglich, für jeden Versorgungszweig Grundgesamtheiten bzw. Stichproben zu definieren. Zweige mit überschaubarer Einrichtungszahl und hoher Angebotsdichte wurden in Vollbefragung erfasst, andere Zweige in Stichproben unterschiedlicher Größe. Von den ermittelten 4657 Anbietern erhielten 2.374 (= 51%) zwischen Februar bis Juli 2004 einen Fragebogen, Nonresponder wurden stichprobenweise nachbefragt. Dabei zeigten sich hohe Anteile ›unechter‹ Selbstankündigungen in einigen Zweigen (um 75%). Öffentliche Selbstmeldungen der Projekte sind also unzuverlässig, und nur wenige Angebotsverzeichnisse werden entsprechend geprüft und aktualisiert. Sie sind daher gerade für Betroffene eine unzulängliche Informationsquelle. Antworten von 1018 Versorgungseinrichtungen trafen ein. Dieser BruttoRücklauf (ohne Anschriftenkorrektur) auf die Gesamtbefragung liegt mit 42,9% deutlich über dem früherer Erhebungen. Zur Kontrolle der Repräsentativität wurde eine systematische Rücklaufkontrolle eingesetzt (Nachbefragung von Nichtantwortern per Mail und Telephon). Dadurch konnten Hochrechnungen der Versorgungslage erstellt werden. Zur Kontrolle von Angebotsfluktuationen wurde darüber hinaus im Februar–März 2005 eine stichprobenweise Nachbefragung durchgeführt, um den Umfang erloschener Angebote oder Einrichtungen abzuschätzen. Weiter wurde sichergestellt, dass die erfassten Angebote zielgruppenspezifisch arbeiten, d.h. für Übergewichtige und Adipöse konzipiert sind. Per Durchsicht und bedarfsweise telephonischer Nachklärung wurden dafür rein primärpräventive, gesundheitsfördernde Maßnahmen ohne klare Zielgruppendefinition adipöser oder übergewichtiger Kinder und Jugendlicher oder ihrer Familien ausgeschlossen. Die weitere beschreibende und inferenzstatistische, multivariate Auswertung erfolgte in mehreren Schritten: 1. Indikatorenbildung: Neben den in einzelnen Items erhobenen Qualitätskriterien wurden zusammengefasste Indikatoren für ganze Bereiche der Konzept- und Prozessqualität gebildet. So wurden z.B. die Einzelitems zur Di-
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2. 3.
4.
5.
6.
D · Medizinische Versorgung und Prävention
agnostik zusammengefasst. Der aggregierte Indikator »Leitliniengemäße Eingangs- und Abschlussdiagnostik« drückt aus, ob die vorgesehenen Tests, Messungen, Gespräche vor und nach der Maßnahme sowie in Katamnese erfüllt sind oder Lücken haben. Als übergreifender Indikator zur Angebotsbeschreibung dient die »Gesamtqualität«. Das ist der Prozentsatz der von den Angeboten eingehaltenen, leitlinienorientierten Qualitätskriterien in der Erhebung. Er integriert vierzehn zentrale Qualitätsmerkmale: Manualisierung, Ausschlusskriterien, vierfache Zielsetzung nach Leitlinien, eingegrenzte Altersgruppe, Eltern als Zielgruppe, ärztliche Ausschlussuntersuchung somatischer Erkrankung, Ausschlussdiagnostik psychischer Erkrankungen, Ermittlung der Änderungsmotivation zu Beginn, leitliniengemäße Eingangs- und Abschlussdiagnostik, multimodales Vorgehen, Elternarbeit in mind. einem Interventionsbereich, Erfassung von Abbruchquoten, multidisziplinäres Team, behandelnde Formen der Nachbetreuung. Sechs von diesen Qualitätsmerkmalen setzen sich bereits aus mehreren einzelnen Qualitätskriterien zusammen. Gesamtbeschreibung: Die Beschreibung der Angebote zeigt die aktuelle Versorgungslage und deren Qualität in der Bundesrepublik Deutschland 2004. Versorgungslage: Aufgrund der telephonischen Nachkontrolle von Nichtantwortern war es möglich, für jede Stichprobe die reale Versorgungsdichte zu errechnen (Angebote pro Einrichtung dieses Versorgungszweiges). Deren Hochrechnung auf die bundesweite Zahl der Einrichtungen ermöglicht eine Abschätzung des Gesamtangebots für 2004. Gruppenvergleiche der Einrichtungsarten: Ein Vergleich ambulanter, teilstationärer und stationärer Versorgung sowie der wichtigsten Anbieter (Kliniken – Beratungsstellen – andere Beratungsstellen) untersucht deren Stärken und Schwächen und prüft, welche davon auf den Angebotsrahmen zurückzuführen sind. Hintergrund dieser Schritte ist, dass nach Ansicht vieler Experten das Setting eines Angebots entscheidend den Rahmen für Konzeption, Gestaltung und Finanzierung der Maßnahmen prägt. Angebotsprofile: In einer multivariaten Typenbildung durch Clusteranalyse der Qualitätskriterien ließen sich die Einrichtungen verschiedenen Angebotstypen zuordnen, die signifikante Unterschiede aufweisen. Ein Vergleich der Typen zeigt deren Profile mit Stärken und Schwächen ihres Versorgungsbeitrags. Auf der Grundlage dieser Auswertungen wurden Folgerungen und Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Versorgungslage vorgeschlagen.
415 Adipositas-Prävention für Kinder und Jugendliche
Alle Mittelwerte wie auch die Hochrechnungen unterliegen einem Schätzfehler (Konfidenzintervall für Signifikanz von 0,05*) in beiden Richtungen vom jeweiligen Wert: für Aussagen über alle Angebote 4–5%, für die kleineren Besetzungen in Teilbereichen (z.B. Einrichtungsarten) 8–10%, für die Hochrechnung aufgrund der Kumulation der Schätzfehler über die verschiedenen Kontrollschritte 20–25%. Von den erfassten Einrichtungen der Ausgangserhebung 2004 hielten 417 Einrichtungen Behandlungsangebote bereit. Deren Daten sind im folgenden Bericht dargestellt.
3 Ergebnis 3.1 Umfang, Verteilung und Ansteigen des Angebots Im Schnitt nehmen pro Jahr 73 Kinder und Jugendliche an den Maßnahmen eines Anbieters teil; die in der Erst-Befragung dokumentierten 417 Angebote (ohne Hochrechnung) versorgen also eigenen Angaben zufolge jährlich rund 30.000 Kinder und Jugendliche. Das ist eine solide Grundlage für Extrapolationen. Die Hochrechnung – mit unterschiedlichen Angebotsdichten pro Anbieterzweig – ergibt bundesweit 708 Angebote, die schätzungsweise rund 44.000 Personen im Jahr erreichen. Dieses aktuell verfügbare Angebot steht Betroffenen für die gesamte Zeitspanne von zehn Jahren ihrer Kindheit und Jugend zur Verfügung. Bei konstanter Prävalenz können im bestehenden Versorgungssystem somit 44% der minderjährigen Übergewichtigen und Adipösen einen Behandlungsplatz erhalten (mit Schätzfehler: zwischen 33 und 55%). Wie jedoch einleitend erläutert, ist das nach den verfügbaren Trendbefunden eine optimistische Schätzung, weil die jüngeren Kohorten kontinuierlich stärker betroffen sind. Im regionalen Vergleich zeigt sich ein Gefälle zwischen relativ gut versorgten Gebieten, z.B. Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, und Regionen mit sehr wenigen Angeboten. Zu den Gebieten mit geringem Angebot gehören das Saarland, Bremen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Zwei Drittel der Anbieter arbeiten ambulant, 19% rein stationär, 11% mit Mischformen, und nur 4% arbeiten in anderer Form, insbesondere Settingsbezogen (z.B. in Kindergärten, Schulen, Vereinen). Lebensweltorientierte Setting-Projekte machen also einen verschwindend geringen Anteil der Maßnahmen aus.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Die Angebote von Kliniken erreichen ein Drittel, Ernährungsberatungsstellen und Gesundheitsämter je etwa ein Fünftel der behandelten Betroffenen. Niedergelassene Fachpraxen – ärztliche wie psychotherapeutische – leisten einen sehr geringen Versorgungsbeitrag. So bieten weniger als 10% der allgemeinärztlichen und psychotherapeutischen Praxen und nur etwa 17% der Pädiater eigene Adipositas-Maßnahmen, und diese bestehen i.d.R. aus Einzelfallbetreuung. Nur knapp ein Drittel der Angebote (31%) gibt an, nach einem festgelegten Interventionsprogramm zu arbeiten. Die häufigsten eingesetzten, bekannten Programme machen zusammen etwa die Hälfte davon aus: Power-Kids (14% der Angebote nach Programmen), Konsensusgruppe Adipositasschulung (11%), KIDS (9%), Moby Dick (8%) und FITOC (7%). In der anderen Hälfte der programmgestützten Angebote stufen viele Anbieter ihr eigenes Konzept ebenfalls als »Programm« ein; deshalb ist eine unübersichtliche Vielfalt von lokalen, nur in einzelnen Einrichtungen umgesetzten Interventionsprogrammen zu beobachten; nach einem übernommenen, eingeführten Programm arbeiten etwa 15% der Anbieter. Diese Heterogenität erschwert die Einschätzung der ›Programmtreue‹ hinsichtlich der angegebenen Qualitätskriterien, aber auch den Vergleich der Dosis und Merkmale von Interventionen für Wirkungsbeobachtungen. Zur Heterogenität trägt bei, dass die Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention in der Versorgungswirklichkeit schwer fällt und aus der Sicht der Anbieter offenbar nur eingeschränkt realistisch ist. Zwar wurden Angebote rein primärpräventiver Ausrichtung gezielt durch Auswertung zielgruppenbezogener Items und ggf. Nachbefragung von Zweifelsfällen ausgeschlossen. Trotz ihrer konzeptuellen Ausrichtung auf Sekundär- und Tertiärprävention sind aber 45% der Angebote grundsätzlich auch für Personen mit geringem oder gar keinem Übergewicht offen, also für primärpräventive Aufgaben. Das hat mehrere Ursachen, welche auch in den Telephonbefragungen bestätigt wurden: Aus wirtschaftlichen Gründen sind erstens die Anbieter gezwungen, möglichst alle Plätze in stattfindenden Maßnahmen zu besetzen. Zweitens vermischen sich die Teilnehmergruppen durch das Inanspruchnahmeverhalten. So sind auch primärpräventive Angebote zu etwa einem Drittel mit Personen besetzt, die schon eine deutliche Belastung aufweisen und damit sekundär- oder tertiärpräventiven Maßnahmen zugewiesen werden könnten; das belegt eine Analyse des Bundesgesundheitssurvey 1998 (Buhk, Zeikau und Koch, 2003). Den Teilnehmenden ist nämlich die einschlägige krankenversiche-
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rungsrechtliche Unterscheidung (§ 20 vs. § 43 SGB V) weder bekannt noch vorrangig wichtig, so dass heterogene Teilnehmergruppen zusammenkommen können. Da 46% der Angebote durch die Krankenkassen, 6% durch die Rentenversicherung, etwa 5% allein durch Teilnehmerbeiträge und 23% durch KV und Teilnehmer zusammen finanziert werden, ist die individuelle Teilnahmemotivation ein wichtiger Faktor bei der Besetzung der Plätze. Die vorgelegten Daten zum Gesamtumfang des Angebots lassen sich mit denen früherer Bestandsaufnahmen vergleichen, die etwa 10.000 Behandlungsplätze pro Jahr angeben (Reinehr und Wabitsch, 2003). Aus dieser Zahl und der Menge dort einbezogener ambulanter und stationärer Einrichtungen kann die durchschnittliche Platzzahl pro Einrichtung abgeleitet und mit den hier vorgestellten Befunden in Beziehung gesetzt werden. Danach hat sich die Zahl in Anspruch genommener Behandlungsplätze 2002–2004 stark erhöht, nämlich um etwa 70%. Die Zahl der Versorgungsangebote verschiedener Einrichtungen ist zudem ebenfalls deutlich gestiegen, und zwar um schätzungsweise 19%. Die stichprobenweise Stabilitätsbefragung nach knapp einem Jahr zeigte 2005 ein Erlöschen von etwa 15–20% der erfassten Angebote durch Einstellung des Programms, Umzug oder Auflösung der Einrichtung. 3.2 Versorgungsmerkmale und verbreitete Qualitätsdefizite Die einzelnen Angebote erfüllen durchschnittlich nur 58,5% der abgefragten vierzehn zentralen, zumeist aus mehreren Teilkriterien zusammengefassten Qualitätsmerkmalen. Mit anderen Worten, die Maßnahmen verfehlen durchschnittlich mehr als 40% von Struktur-, Konzept- und Prozessvorgaben, die die Wirksamkeit der Interventionen sicherstellen sollen. Damit ist die aktuelle Umsetzung evidenzgestützter, leitlinienbasierter Qualitätskriterien in der Versorgungswirklichkeit als stark lückenhaft einzuschätzen. Der Index der Gesamtqualität aus diesen vierzehn Merkmalen weist eine Normalverteilung auf: Der Übergang zwischen defizitären und guten Versorgungsangeboten verläuft also fließend, vor allem bei den zahlreichen Angeboten des ambulanten Bereichs. Klar abgrenzbare Klassen der Versorgungsqualität sind empirisch nicht zu finden, vielmehr gibt es zwischen den klar hochwertigen und den klar defizitären Angeboten ein breites Feld an ›mittelguten‹ Angeboten mit jeweils unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Überwiegend eingehalten werden etwa die Qualitätskriterien schriftliches Manual (73%), Eingangsuntersuchungen zum Ausschluss somatischer Erkrankungen (84%) und psychischer Störungen (67%), mehrfache Zielsetzungen auf
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
den Ebenen verbesserten Essverhaltens (92%), Bewegungsverhaltens (82%) und Lebensqualität (76%). Ernährungsphysiologische Interventionen sind in 90% der Angebote integriert, Sport-/ Bewegungsangebote, Gesundheitsinformation und Aufklärung, persönliche Beratung und psychoedukative Interventionen in je etwa drei Viertel, Interventionen zur Verhaltensmodifikation in etwa 60% der Angebote. Die meisten Anbieter stellen nach Abschluss der Behandlung Informationsmaterial zur Verfügung (82%) oder vermitteln Adressen oder Beratungen (je 60%). Verbreitete Defizite betreffen hingegen die Abschlussdiagnostik, etwa von Lebensqualität: Nur ein Viertel aller Anbieter gestaltet Ein- und Ausgangsuntersuchungen nach den Qualitätskriterien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter und des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen. Nachuntersuchungen finden nach durchschnittlich 12–17 Wochen statt, aber nur für maximal 40% der Angebote, und zwar für den BMI, während alle anderen Nachuntersuchungsdimensionen bei nur etwa 20–30% der Angebote geleistet werden. Auch ein vollständiger multimodaler Kombinationsansatz der Behandlung ist nur bei einem Viertel der Angebote zu finden, d.h. Programmbausteine für Ernährung, Bewegung, Verhaltensmodifikation und Aufklärung. Rund ein Drittel der Anbieter stellt ein komplettes interdisziplinäres Behandlungsteam nach Leitlinien-Kriterien (Ärzte, Therapeuten, Ernährungsfachkräfte und Bewegungstherapeuten). Die Einbindung des sozialen Umfelds ist bei etwa der Hälfte der Angebote problematisch: Nur 45% der Maßnahmen richten ihr Angebot ausdrücklich auch an die Eltern. Für sozial schwächere Bevölkerungsgruppen werden praktisch keinerlei spezifische Programme oder Maßnahmen angeboten. Folglich ist unwahrscheinlich, dass diese besonders belastete Gruppe von den vorhandenen Angeboten profitiert; denn für sie müssten soziokulturell geeignete Anspracheund Streuwege als auch Didaktiken und Materialgestaltung gewählt werden. Durch eine standardisierte Motivationsprüfung könnten sozial Benachteiligte eher noch aus dem Teilnehmerkreis weggefiltert werden, weil Unterschichten generell geringere Selbstwirksamkeitserwartung und damit Teilnahmemotivation und Inanspruchnahme zeigen. Durchschnittlich um 11% der Teilnehmer brechen die Maßnahme vorzeitig ab, und zwar im stationären Setting am wenigsten – im Mittel knapp 5%, sonst je nach Einrichtungsart 12–17%. Dies war der einzige Outcome-Indikator der Erhebung. Seine Größenordnung entspricht Befunden aus anderen Studien; das ist ein Indiz für Plausibilität und Aussagefähigkeit der Daten.
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3.3 Stationäre, ambulante und kombinierte Angebote Die mittlere Anzahl der Teilnehmer und Maßnahmen pro Jahr, der Behandlungsumfang und die Therapiefrequenz liegen bei stationären Anbietern signifikant höher. Stationäre und kombiniert ambulant-stationäre Angebote sind ambulanten Programmen im Mittel in wichtigen Dimensionen der Strukturund Konzept-, Diagnose- und Prozessqualität überlegen: 4 Manualisierung: Stationäre Anbieter arbeiten häufiger als andere nach einem schriftlichen Konzept. 4 Diagnostik: Ärztliche Ausschlussuntersuchung somatischer Erkrankungen, Ausschlussdiagnostik psychischer Erkrankungen und Ermittlung der Änderungsmotivation zu Beginn einer Maßnahme finden im stationären Rahmen häufiger statt als im ambulanten. Ähnliche Unterschiede zeigen die nach den Leitlinien bedeutsamen Einzelkriterien: Messung des BMI, der ernährungs- und gewichtsbezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen und der Lebensqualität. Die Gesamtzahl der sowohl zu Beginn wie zu Ende der Behandlung durchgeführten Untersuchungen und die leicht geringere Zahl von Diagnosen bei ambulanten Angeboten weisen hingegen keine signifikante Ausprägung auf; bemessen an den leitlinienorientierten Qualitätskriterien finden sich also in allen Behandlungssettings deutliche Defizite in der Diagnostik. 4 Multimodales Vorgehen: Im stationären Rahmen sind häufiger alle vier leitlinienorientierten Hauptinhalte in die Behandlung integriert als im ambulanten, d.h. Programmbausteine für Ernährung, Bewegung, Verhaltensmodifikation (verhaltenstherapeutische Elemente) und Gesundheitsinformation. 27% der ambulanten, 65% der stationären und 73% der kombiniert ambulant-stationären Angebote arbeiten mit einem leitlinienorientierten multimodalen Ansatz; die teilstationären Angebote weisen hierin also die höchste Qualität auf. 4 Interdisziplinäres Team: Im stationären Rahmen ist häufiger ein interdisziplinäres Team aus medizinischen, psychologisch-psychotherapeutischen, Ernährungs- und Bewegungsfachkräften für die Behandlung zu finden als im ambulanten. Indessen zeigten ambulante Angebote in jenen Versorgungsmerkmalen höhere Qualität, die eine größere Nähe zum Lebensfeld der Zielgruppen erfordern; die Eltern sind häufiger als Zielgruppe angesprochen und werden in mehr Interventionen einbezogen, die Nachbetreuung der behandelten Kinder dauert län-
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ger. Auch der Anteil einzelner inhaltlicher Schwerpunkte (Ernährungsphysiologische Maßnahmen, Gesundheitsinformation, persönliche Beratung, Psychotherapie und psychosoziale Maßnahmen) ist in ambulanten Maßnahmen größer. Die Inhalte der ambulanten Angebote erfüllen die Leitlinien seltener, weisen aber im Mittel größere inhaltliche Vielfalt auf. 3.4 Unterschiede der Einrichtungsarten in der präventiven Versorgung Die wichtigsten Einrichtungsarten hinsichtlich der Zahl der Angebote und der versorgten Personen sind Kliniken, Ernährungsberatungsstellen und andere Beratungsstellen (hierunter fielen z.B. Erziehungs- oder Familienberatung). Auch zwischen diesen Einrichtungsarten bestehen signifikante Unterschiede. Diese gelten unabhängig von den Unterschieden zwischen ambulanten, stationären und kombinierten Angeboten, denn viele Einrichtungen bieten Maßnahmen in unterschiedlichen Settings; z.B. gibt es in den Kliniken sowohl stationäre wie auch teilstationäre und ambulante Angebote. Die Unterschiede zwischen Einrichtungsarten erstrecken sich über alle Qualitätsbereiche (Struktur, Konzept, Zielgruppenauswahl, Diagnose, Behandlung). Sie ergeben aber kein eindeutiges Muster: Kliniken und Ernährungsberatungsstellen liegen in den meisten signifikant unterschiedlichen Qualitätskriterien vor anderen Beratungsstellen. In manchen Kriterien sind dabei die Kliniken überlegen, in anderen die Ernährungsberatungen; so berücksichtigen diese die Eltern als Zielgruppe deutlich stärker. In einem Kriterium (Definition klarer Altersgrenzen) liegen die Sonstigen Beratungsstellen vorn, die aber in ihrer Arbeit die persönliche Beratung in den Vordergrund stellen und darüber den multimodalen Ansatz ebenso vernachlässigen wie eine differenzierte Diagnostik. Die Höhe der Unterschiede wechselt von Kriterium zu Kriterium. Manche Unterschiede sind erheblich (z.B. multidiszplinäres Team, multimodaler Ansatz), andere sind weniger bedeutend (z.B. Definition von Ausschlusskriterien). Auch viele Angebote der Kliniken und Ernährungsberatungen verfehlen wichtige Qualitätsmerkmale. Infolgedessen haben die Unterschiede meist nur mittlere oder geringe Effektstärke. Somit kann keiner bestimmten Einrichtungsart ein generell höheres Qualitätsniveau zugeschrieben werden. 3.5 Kosten und Qualität Der Datensatz gestattet nur eingeschränkt vergleichende Aussagen zu gesundheitsökonomischen Aspekten, weil sich nicht alle Angebote auf gleiche Weise finanzieren und Fragen nach Finanzierung häufig ausgelassen wurden. Den-
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noch sind wenigstens in einem Item drastische, hochsignifikante Unterschiede nachweisbar: Der Kostenaufwand ist bei ambulanten Anbietern deutlich geringerer als im stationären Rahmen. Die Kosten für den Kostenträger pro Maßnahme bewegen sich im Mittel zwischen 583,6 € (ambulant) und 2052,5 € (stationär), die kombinierten Angebote liegen dazwischen (1337,5 €). Die Kosten für stationäre Angebote sind mithin etwa dreimal so hoch wie die für ambulante und ebenfalls deutlich höher als die Kosten für kombiniert ambulantstationäre Angebote. (Diese Angaben dürfen nicht auf bestimmte Einrichtungsarten übertragen werden, weil z.B. Kliniken neben stationären auch ambulante und kombinierte Maßnahmen durchführen. Die Kosten der verschiedenen Angebote divergieren dadurch stark auch innerhalb der Einrichtungsarten.) Die mittleren Kosten einer Maßnahme hängen statistisch nur mäßig mit der Qualität zusammen. Die Produkt-Moment-Korrelation zwischen mittleren Kosten und dem aggregierten Index für die Gesamtqualität eines Angebots liegt bei r = .290 (hochsignifikant). Fasst man die Angebote clusteranalytisch zu Typen mit bestimmten Versorgungsprofilen zusammen, steigt die Korrelation zwischen mittleren Kosten und mittlerer Gesamtqualität der Angebotstypen auf r = .358 (hochsignifikant). Teurere Angebote bieten also im Mittel in der Tat höhere Qualität. Allerdings ist die Effektstärke gering; der Determinationskoeffizient, der die geteilte Varianz für r = .290 angibt, beträgt 0,084: Nur 8% der Qualitätsunterschiede können auf unterschiedliche Finanzierung zurückgeführt werden! Dies liegt vor allem daran, dass auch die teureren (stationären) Typen keineswegs immer den größten Teil der abgefragten Qualitätskriterien einhalten, während ambulante Angebote eine ganze Reihe von Kriterien erfüllen können. Grob gesprochen: Es gibt sowohl billige Maßnahmen, die viele Qualitätskriterien realisieren, wie teure aber defizitäre Maßnahmen.
4 Diskussion und Folgerungen für die präventive Versorgung Die Bestandsaufnahme erbrachte schon in der ersten Befragungsstufe Daten zu 417 Angeboten und damit den bislang breitesten und mit 172 Items auch differenziertesten Datensatz für dieses präventive Versorgungsgebiet. Gleichwohl sollten vor einem abschließenden Urteil die Auswertungen der beiden Nachbefragungswellen 2004–05 abgewartet werden, in denen noch etwa ein Fünftel mehr Angebote erfasst sind.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Defizite und Optimierungsbedarf bestehen in allen Versorgungsbereichen (ambulante, stationäre und kombinierte Versorgung, Kliniken, Beratungsstellen aller Art, Praxen u.a. Anbieter). Überall treten deutliche Qualitätsspannen auf, überall zeigen sich deutliche Verbesserungsmöglichkeiten. Mit der Erhebung von Qualitätskriterien ist zwar noch keine Aussage über die Wirkung der Maßnahmen (dauerhafte Lebensstilveränderung, Übergewichtsreduktion usw.) gemacht. Doch begründen die besten metaanalytischen Befunde (Böhler et al., 2003) die Annahme, dass die erhobenen Kriterien Voraussetzungen für einen Interventionserfolg darstellen. Eine stichprobenweise Nachbefragung zur Angebotsstabilität zeigte eine Fluktuationsquote von 15–20% nach etwa einem Jahr. Demnach ist nach knapp drei Jahren etwa die Hälfte der erfassten Angebote erloschen. Eine Extrapolation dieser Entwicklung ist allerdings nur bedingt zuverlässig. Denn im Gefolge der starken Zunahme an Behandlungsplätzen und Anbietern könnte einerseits eine noch stärkere Fluktuation einsetzen, andererseits kann aber eine stärkere Nachfrage die bestehenden Anbieterstrukturen stabilisieren. Die zukünftige Entwicklung der Angebotslage wird vor allem von den Finanzierungsentscheidungen der Krankenkassen als wichtigstem Kostenträger abhängen. Zur Beobachtung der Entwicklung von Prävention, Gesundheitsförderung und Therapien zu Ernährung, Bewegung und Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist deshalb weitere qualitätsbezogene Versorgungsforschung über erforderlich. Eine auf einzelne herausragende Programme beschränkte Evaluation ist der aktuellen Versorgungslage nicht angemessen, da diese von starker Heterogenität der Angebote gekennzeichnet ist. Alle Einrichtungsarten und alle Versorgungsrahmen (ambulant, stationär und kombinierte) weisen breite Qualitätsspannen und deutliche, kontextspezifisch jeweils verschiedene Defizite auf. Das Argument, nur mit mehr Geld lasse sich auch angemessene Qualität gewährleisten, erweist sich als empirisch schwach: Auch kostengünstige Interventionen erreichen bei gut konzipierter Gestaltung und Durchführung viele Qualitätsstandards, während kostenintensive Maßnahmen nicht automatisch durchgängig hohe Versorgungsqualität garantieren. Als übergreifendes Merkmal fällt allerdings auf, dass besondere Angeboten und Ansprachewege für sozial Schwächere fehlen, obwohl diese Bevölkerungsgruppen erheblich höhere Prävalenzraten, eine generell höhere gesundheitliche Belastung sowie lückenhafte Inanspruchnahme präventiver Versorgung aufweisen.
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Es genügt unter diesen Voraussetzungen nicht, dem Versorgungsfeld pauschal höhere Mittel zuzuweisen. Erforderlich ist vielmehr eine gezielte Qualitätsentwicklung. In diesem Versorgungsbereich kommen, nach den vorgestellten Resultaten, die folgenden Ansatzpunkte in Frage: 1. Stationäre und ambulante Maßnahmen gehören besser aufeinander abgestimmt; dabei ist an ihren jeweils spezifischen Stärken und Schwächen anzusetzen. Stationäre Angebote weisen zwar im Mittel etwas bessere Qualität auf, können aber ambulante Angebote nicht ersetzen, da diese etwa zwei Drittel der Versorgung gewährleisten und ebenfalls hohe Qualitätsstandards zu erreichen vermögen. Ihnen fällt es z.B. leichter, den Zugang zu sozialem Umfeld und Eltern der Betroffenen zu bewerkstelligen. Ihre mittleren Kosten liegen deutlich niedriger. Daher kann ein Ausbau der Versorgung ökonomisch vorangebracht werden, wenn es gelingt, beide Sektoren durch gezielte Anreize besser zu vernetzen und zu hoher Qualität auszubauen. 2. Zur qualitätsorientierten Versorgungssteuerung ist die Kopplung der Finanzierung an Sets von Qualitätskriterien sinnvoll. Diese Sets müssen auf den Zweck des jeweiligen Angebots eingehen. So erfüllen z.B. niedrigschwellige, niedrig dosierte und lebensweltnahe Angebote andere Funktionen als stationäre klinische Behandlungen. Von ersteren kann keine dauerhaft stabile Verbesserung des BMI sowie des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens erwartet werden, wohl aber die Stabilisierung und Erhöhung der Motivation zur Teilnahme an Angeboten, die erfolgreiche Vermittlung in weiterführende Maßnahmen und ein erhöhtes Gesundheitsbewusstsein. 3. Während ambulante Einrichtungen vorrangig zur Definition von Ausschlusskriterien, zur Erfassung der Abbruchquoten und zur leitlinienorientierten Diagnostik angeregt werden sollten, ist im stationären Bereich die Erweiterung der Zielgruppenorientierung auf die Eltern anzuregen und auf die Erfordernisse einer differenzierten, leitlinienorientierten Diagnostik hinzuweisen, für deren Durchführung Kliniken gute strukturelle Voraussetzungen mitbringen. 4. Eine Verbesserung der Diagnostik kann durch einfache diagnostische Instrumente für Ernährungs- und Bewegungsverhalten oder Teilnahmemotivation erzielt werden, wie etwa Tests, strukturierte Interviews u.a., die leicht verfügbar und bekannt gemacht werden können (z.B. durch Internet in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden). 5. Ambulante Anbieter können durch Vernetzung befähigt werden, einen multimodalen Ansatz und ein multiprofessionelles Behandlungsteam zu
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verwirklichen. Hierfür könnten geeignete Akteure lokal oder regional zusammenwirken (z.B. Ernährungsberatung, ärztliche und psychotherapeutische Praxis, Klinik) und arbeitsteilig Diagnose und Intervention übernehmen. Unterstützungsmaßnahmen könnten in Web-Veröffentlichungen von best practices und der Einrichtung von Foren zur Vernetzung interdisziplinärer Behandlungsteams und multimodaler Behandlungselemente in Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften, Krankenkassen und Gesundheitsämtern sein. Hochwertige Angebote für verschiedene Zielgruppen können durch qualitätsgeprüfte öffentliche Anbieterverzeichnisse für die Zielgruppen und Multiplikatoren (Lehrerinnen, Arztpraxen usf.) transparent gemacht werden. Die Angebote erhalten dadurch einen Anreiz für Qualitätssteigerung. Die lebensweltliche Umsetzung und Stabilisierung von Verhaltensmodifikationen und verbessertem Gesundheitsstatus können durch zielgruppenspezifische und lebensweltorientierte Angebote besser abgestützt werden. Besonders für sozial schwächere Bevölkerungsgruppen sind neue Programme, Vermittlungsformen und Zugänge zu entwickeln. Aussichtsreiche Ansätze bieten die Kooperation mit Settings-Projekten (z.B. in Schulen) und niedrigschwellige Angebote, die »Zubringerfunktion« für strukturierte, umfassendere Maßnahmen erfüllen können. Auch die Bedeutung der Einbeziehung von Eltern und sozialem Umfeld in die Behandlung wird nicht hinreichend gewürdigt: Zwar eröffnen die meisten Maßnahmen die Möglichkeit, die Eltern zu irgendeinem Behandlungsthema (Ernährung, Bewegung usw.) wenigstens informativ anzusprechen. Ein Rahmen für die Elternarbeit ist also zumindest ansatzweise geschaffen. Doch über die Hälfte der Angebote fasst die Eltern nicht als wichtige Zielgruppe auf. Sie sind jedoch nicht nur Erziehungsberechtigte, sondern das familiäre System ermöglicht oder behindert Veränderungen in Bewusstsein, Ernährung, Verhalten und Lebensstil. Programme, die die Eltern nicht einbeziehen, sind daher »mit großer Wahrscheinlichkeit unwirksam« (Böhler et al., 2003, S. 37). Die Eltern müssen als Verantwortliche aktiv angesprochen, überzeugt, in die Programme eingebunden und als Motoren für eine nachhaltige Arbeit mit den Kindern gewonnen werden. Zur Bekanntmachung und Unterstützung der Teilnahmemotivation sind Kampagnen zur Bewusstseinsbildung und Gesundheitsinformation wichtig, z.B. zielgruppenorientiert in Zusammenarbeit mit der schulischen Gesund-
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heitsförderung und lokalen Sportvereinen an sozialen Brennpunkten (vgl. Wabitsch, 2004, S. 255). 10. Da die Outcomes der Maßnahmen allein anhand von Qualitätskriterien – auch bei guter metaanalytischer Fundierung – nicht abgeschätzt werden können, sind weitere Studien zur Sicherung der Wirksamkeit erforderlich. Eine Beobachtungsstudie hierzu im Auftrag der BZgA hat begonnen. Zusätzlich wären Untersuchungen über die Wirksamkeit niedrigschwelliger, lebenweltnaher Angebote und neuer settingsbezogener Programme und Interventionen wünschenswert.
5 Resumée Die Bestandsaufnahme erbrachte in der ersten Befragungsstufe Daten aus 417 Angeboten und Programmen zur präventiven Versorgung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Hochrechnungen auf dieser Grundlage zeigen, dass bundesweit etwa 700 Angebote für jährlich etwa 44.000 versorgte Personen zur Verfügung stehen. Im gesamten Kindes- und Jugendalter könnte mit diesen Behandlungsplätzen, am epidemiologisch geschätzten Bedarf bemessen, knapp die Hälfte aller Betroffenen tatsächlich versorgt werden. Vergleicht man diese Zahl mit den Befunden früherer Versorgungserhebungen, so ist in den letzten drei Jahren eine deutliche Zunahmen an Behandlungsplätzen und Anbietern zu beobachten. Allerdings liegt die jährliche Fluktuation der Angebote bei 15–20%. Und die Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention ist in der Versorgungswirklichkeit – gerade im ambulanten Bereich – nicht trennscharf. In allen Versorgungsbereichen sind deutliche Defizite der Versorgungsqualität zu beobachten, wenn man zentrale Merkmale der Struktur-, Konzeptund Prozessqualität mit den sekundär- und tertiärpräventiven Behandlungsleitlinien vergleicht; das gilt für ambulante, stationäre und kombinierte Versorgung, für Kliniken, Beratungsstellen aller Art, Praxen u.a.: Überall treten deutliche Qualitätsspannen auf. Da der Index für Gesamtqualität nur mäßig mit den Aufwendungen pro Maßnahme korreliert, scheint es nicht sinnvoll, das Feld durch pauschale Mehrfinanzierung zu fördern. Vielmehr sollte ein Maßnahmen-Mix zur differenzierten Qualitätsentwicklung entwickelt und in Kooperation aller Stakeholder umgesetzt werden: regelmäßige qualitätsorientierte Versorgungserhebungen und Dokumentation von Veränderungen (Monito-
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ring), Dissemination der Kriterien, Information über best practices, Zugänglichkeit von Hilfsmitteln (wie z.B. Tests oder Checklisten) zur Erreichung diagnostischer und konzeptioneller Standards, Hilfen bei der Vernetzung im ambulanten Bereich, Einführung von qualitätsbasierten Anbieterverzeichnissen u.a. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Entwicklung, Erprobung und Implementation niedrigschwelliger, lebensweltnaher Settings-Angebote, um gezielt auch auf soziale Ungleichheiten in der Prävalenz von Übergewicht einzugehen. Literatur Backhaus, K., Erichson, B., Plinke, W. & Weiber, R. (1996). Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung. Achte, verb. Aufl. Berlin etc.: Springer Böhler, T., Becker, E., Becker, R., Hoffmann, S., Hutzler, D., Laufersweiler-Lochmann, F., Radu, C., Alex, C. (2003). Bewertungskriterien für ambulante Programme nach § 43 Nr. 2 SGB V für adipöse Kinder und Jugendliche. Stellungnahme der Unterarbeitsgruppe »Adipositasprogramme für Kinder / Jugendliche« der AG M 11. Stand: Dezember 2003. Essen: Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) Böhm, A. (2001). Adipositas bei Einschülern: Ausmaß, Entwicklung und Zusammenhänge mit dem Sozialstatus. Psychomed – Zeitschrift für Psychologie und Medizin, 13 (4), 235–241 Bortz, J. (1993). Statistik für Sozialwissenschaftler. Vierte, vollständig überarbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg, New York: Springer Buhk, H., Zeikau, T., Koch, U. (2003). Präventivmedizinische Versorgung. Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz, 46 (8), 648–654 Czerwinski-Mast, M., Danielzik, S., Asbeck, I., Langnäse, K., Spethmann, C. & Müller, M.J. (2003). Kieler Adipositaspräventionsstudie (KOPS). Konzept und erste Ergebnisse der VierjahresNachuntersuchungen. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz, 46 (9), 727–731 D’Amicis, A., Romano, F., Villari, P. & Boccia, A. (2003). Does a National Epidemiological Network on Nutrition help to understand Obesity? European Journal of Public Health, 13 (4), Supplement, 12 Danielzik, S. (2003). Epidemiologie von Übergewicht und Adipositas bei Kindern in Kiel: Daten der ersten Querschnittsuntersuchung der Kieler Adipositas-Präventionsstudie (KOPS). Kiel: Universität (Dissertation) Danielzik, S., Langnäse, K., Mast, M. et al. (2002). Impact of parental BMI on the manifestation of overweight in 5–7 year old children. Eur J Nutr, 41, 132–138 EC (2000). European Commission. Directorate-General Health and Consumer Protection. Unit F3 – Health promotion, health monitoring, and injury prevention. Report on the state of young people’s health in the European Union. Luxembourg: European Commission, DirectorateGeneral Health and Consumer Protection, Unit F3 Eurodiet (2000). Eurodiet Core Report. Nutrition & Diet for Healthy Lifestyles in Europe. Science & Policy Implications. Co-ordinated by University of Crete, School of Medicine. http://eurodiet.med.uoc.gr (20.6.2003)
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429 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen P. Bramlage*, W. Böcking, W. Kirch
Abstract Der Anteil an Personen mit Übergewicht und Adipositas ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Aktuelle Daten aus den USA als auch aus Europa berichten von einer weiter steigenden Prävalenz mit Raten von bis zu 70 %. Dabei ist erhöhtes Körpergewicht keineswegs ein »Schönheitsfehler« sondern geht langfristig mit deutlich erhöhter Morbidität und Mortalität einher. Die in der Vergangenheit durch die Fortschritte in der Medizin und im öffentlichen Gesundheitswesen erreichte deutlich verlängerte Lebenserwartung könnte durch das Ansteigen der Adipositas assoziierten Folgeerkrankungen schon in wenigen Jahren zum Stillstand kommen. Daher ist die frühzeitige Intervention und gezielte Gesundheitserziehung bei diesen Patienten ein wichtiger Baustein zur Verhinderung der kardiovaskulären Folgeerkrankungen wie Hypertonie, Fettstoffwechselstörung, Diabetes mellitus sowie schwerwiegender Endorganschäden (Myokardinfarkt, Schlaganfall). Jedoch führen die notwendigen präventiven Maßnahmen wie eine Erhöhung der körperlichen Aktivität und die Umstellung der Ernährung häufig nicht oder nur kurzfristig zum gewünschten Erfolg. Eine Pharmakotherapie mit Antihypertensiva, Antidiabetika, Lipidsenkern und auch Medikamenten zur Reduktion des Körpergewichts wird notwendig. Schlüsselworte: Adipositas, kardiovaskuläre Erkrankungen, Hypertonie, Diabetes, Endocannabinoide
* e-mail:
[email protected]
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1. Einleitung Übergewicht und vor allem Adipositas steigen weltweit in ihrer Häufigkeit (4, 6, 13) und sind der gemeinsame Nenner für Folgeerkrankungen wie Dyslipidämie, Hypertonie, metabolisches Syndrom und Diabetes. Das erhöhte Körpergewicht ist genetisch determiniert, kommt aber erst unter den Rahmenbedingungen der heutigen Lebensweise (fehlende Bewegung, überwiegend sitzende Tätigkeit verbunden mit einem Überfluss und leichter Zugänglichkeit von hoch kalorischer Nahrung) zum tragen. Übergewicht und Adipositas ist heute so häufig, dass ihr Auftreten von der Umgebung und den behandelnden Ärzten häufig nicht erkannt (oder verdrängt) und auch in der Regel nicht behandelt wird (6). Langfristige Folgen, wie das vermehrte Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen (Myokardinfarkt, Schlaganfall) und die letztlich erhöhte Mortalität führen dazu, dass sich der Trend der letzten Jahrzehnte zu einer verlängerten Lebenserwartung in den kommenden Jahren umkehren könnte (33). Therapeutische Ansätze sind daher vor allem in der Prävention und nicht erst in der Therapie der Komplikationen und Folgeerkrankungen des erhöhten Körpergewichts zu sehen.
2. Prävalenz von Übergewicht und Adipositas Der Anteil übergewichtiger und adipöser Patienten in der Bevölkerung in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich an und liegt mittlerweile bei etwa 60% (4). Betroffen sind nicht mehr nur Erwachsene, sondern auch häufig schon Jugendliche und Kinder (18,30). Die Ursachen liegen vor allem in den veränderten Lebensbedingungen wie einem Überangebot von leicht zugänglicher hochkalorischer Nahrung bei gleichzeitig verminderter körperlicher Aktivität und einer Veränderung der beruflichen Anforderungen mit vorwiegend sitzenden Tätigkeiten (19). Nach den Ergebnissen des Bundesgesundheitssurvey 1998, einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung in Deutschland (4), liegt die relative Häufigkeit übergewichtiger Personen bei 39,4% und derjenigen mit Adipositas bei 20,3%. Auch in der primärärztlichen Versorgung in Deutschland ist der Anteil der übergewichtigen und adipösen Patienten hoch und entspricht im Wesentlichen den im Bundesgesundheitssurvey gefundenen Daten (6). In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Situation dagegen besonders prekär. Zwar sind im Vergleich
431 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
. Abb. 1. Anteil übergewichtiger und adipöser Patienten in der primärärztlichen Versorgung (nach Daten aus (6))
zu Deutschland etwas weniger Personen in der US Bevölkerung übergewichtig (NHANES 1999/2000: 34,0%), deutlich mehr Personen (30,5%) aber adipös (13).
3. Metabolische Konsequenzen der Adipositas Erst in den letzten Jahren wurde erkannt, dass Fettgewebe nicht nur ein passiver Energiespeicher, sondern ein aktives endokrines Organ ist. Übergewichtige und Adipöse weisen daher erhöhte Plasmaspiegel von verschiedenen Zytokinen und Hormonen auf, die von Adipozyten sezerniert werden. Diese Substanzen sind u. a. an der Regulation der Nahrungsaufnahme (Hormon Leptin), des sympathischen Nervensystem, des Herz-Kreislaufsystems und verschiedener Stoffwechselprozesse beteiligt. So beeinträchtigen die vom Fettgewebe abgegebenen freien Fettsäuren, die Hormone Leptin und Resistin sowie das Zytokin TNF-alpha die Insulinwirkung und fördern eine Glukoseintoleranz durch Insulinresistenz. Weiterhin exprimieren Adipozyten alle Komponenten des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS). Dieses System scheint sowohl bei der Differenzierung der Fettzellen als auch bei
432
D · Medizinische Versorgung und Prävention
der Entwicklung der Adipositas-assoziierten Hypertonie eine herausragende Rolle zu spielen. In den letzten Jahren wurde darüber hinaus erkannt, das das Endocannabinoid System and der Entstehung der Adipositas als auch der metabolischen Konsequenzen beteiligt ist. Endocannabinoide sowie deren Rezeptoren werden sowohl im zentralen Nervensystem als auch in der Peripherie in verschiedenen Organen exprimiert und regulieren die zentrale Steuerung der Nahrungsaufnahme sowie periphere metabolische Regelkreise. Für die Auswirkungen einer Blockade des CB1-Rezeptors sind zentrale und periphere Effekte verantwortlich. Es wurde nachgewiesen, dass Präadipozyten CB1-Rezeptoren exprimieren und dass deren Stimulation zur Differenzierung der Zellen in reife Adipozyten und zu einer erhöhten Aktivität der Lipoprotein-Lipase führt (9). Diese Effekte lassen sich durch die Gabe von CB1As umkehren. Unter ihnen kommt es auch zur erhöhten Expression von Adiponectin, zur Verbesserung der Insulin Sensitivität und der Oxidation von Fettsäuren, einer Reduktion des Körpergewichts und zu einer Verminderung der vaskulären Inflammation (3). Jedoch sind die molekularen Mechanismen, über die Endocannabinoide diese positiven metabolischen Effekte erzielen, noch weitgehend unbekannt und werden in den nächsten Jahren Gegenstand intensiver Forschung sein. In Folge der beschriebenen zellulären Veränderungen sind adipöse Patienten klinisch durch eine Reihe von metabolischen Risikofaktoren auffällig, die mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität einhergehen: 1) atherogene Dyslipidämie (Erhöhung der Serumtriglyzeride, des Apolipoprotein B (apo B), und der kleinen LDL Partikel, und niedrige HDLCholesterin Spiegel), 2) erhöhter Blutdruck, 3) erhöhte Glukosespiegel und Insulinresistenz und 4) eine ungünstige Konstellation prothrombotischer sowie proinflammatorischer Faktoren (1). Diese Konstellation wird häufig bei übergewichtigen, besonders häufig aber auch bei der Untergruppe der viszeral adipösen Patienten angetroffen.
4. Übergewicht und Bluthochdruck Eine der häufigsten Folgeerkrankungen der Adipositas ist die arterielle Hypertonie (2, 23). Diese Assoziation ist in zahlreichen Bevölkerungsstudien gut untersucht (5, 12, 21, 22). Der Blutdruck von adipösen Patienten ist über alle BMI Klassen hinweg höher als bei normalgewichtigen Patienten. Allerdings ist das
433 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
Verhältnis zwischen Adipositas und Bluthochdruck bidirektional, wie folgende Zahlen widerspiegeln: die Prävalenz der Hypertonie beträgt bei übergewichtigen und adipösen Patienten rund 50 %. Gleichzeitig sind beinahe 70 bzw. 30% der Hypertoniker übergewichtig bzw. adipös. In der Framingham Studie (20) und der Nurses’ Health Study (38) wurde zusätzlich nachgewiesen, daß diese Beziehung insbesondere für Jugendliche und Frauen gilt, im eingeschränkten Maß auch für Männer. Die Stärke der Assoziation zwischen Körpergewicht und Blutdruck ist ferner abhängig vom Alter und von ethnischen Gruppen (32). Insgesamt geht die Kombination von Übergewicht und Hypertonie bei den Patienten mit einem überadditiv erhöhten kardiovaskulären Risiko einher (11, 39). Die Folgen der Hypertonie sind weitreichend und es wurde in zahllosen Studien die unbestrittene Bedeutung einer normnahen Blutdruckeinstellung für die Reduktion der Folgen des hohen Blutdrucks beschrieben (7, 8, 11). Deren Therapie ist über alle Gewichtsklassen hinweg mit einer Reduktion des Risikos für einen Schlaganfall um 40% und für einen Myokardinfarkt um 15% verbunden (8). Dies gilt insbesondere für Patienten mit Übergewicht, bei denen neben der klassischen Folgen eines erhöhten Blutdrucks (Schlaganfall, linksventrikuläre Hypertrophie, Myokardinfarkt etc.) häufiger Arteriosklerose, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Herzinsuffzienz und Gicht gesehen werden (15). Daher ist die Blutdrucksenkung zentraler Bestandteil des kardiovaskulären Risikomanagements. Trotzdem ist die normnahe Blutdruckseinstellung dieser Patienten gegenüber normalgewichtigen Patienten erschwert. Darüber hinaus weisen die verschiedenen Substanzklassen Unterschiede in der Wirkung auf metabolische Faktoren (u.a. Insulinsensitivität, Blutfettwerte, Blutzucker) und damit auf die Senkung der kardiovaskulären Morbidität (u. a. Entwicklung eines Diabetes, Schlaganfall, Herzinfarkt, Nephropathie) und Mortalität auf (10, 25, 27, 34, 36, 37). Diese Effekte sind aber gerade bei Patienten mit Adipositas, die eine Reihe an metabolischen Veränderungen aufweisen, von großer Bedeutung.
5. Übergewicht und Diabetes Adipöse erkranken häufiger als schlanke Personen an einem Diabetes mellitus. Dies gilt insbesondere für Patienten mit stammbetonter, androider Adipositas. In der Nurses Health Study (28) konnte über 14 Jahre eine zunehmende Inzi-
434
D · Medizinische Versorgung und Prävention
denz des Diabetes beobachtet werden, die direkt in Bezug zum BMI der Personen stand. So war bei Übergewicht die Inzidenz auf das 15fache und bei Adipositas Grad II–III auf das 90fache erhöht. Als Ursache für den Diabetes wird eine gesteigerte hepatische Glukoneogenese als auch eine gesteigerte Insulinresistenz der Skelettmuskulatur diskutiert. In der Summe ist regelhaft eine Hyperinsulinämie zu messen. Die Frage, ob die erhöhte Aktivität des vasoaktiven Hormonsystems hierfür primär verantwortlich ist oder ob sie nur sekundär auf die Hyperinsulinämie eintritt, kann mit letzter Sicherheit nicht beantwortet werden. Eine zunehmende Bedeutung für die Diabetesentwicklung wird auch den im Fettgewebe gebildeten Hormonen Resistin und Adiponectin zugesprochen, die direkt in die Regulation der Insulinwirkung eingreifen. Die wichtigste therapeutische Maßnahme bei adipösen Diabetikern ist die Reduktion des Körpergewichtes. Bereits 5 kg Gewichtsreduktion führen zu einer deutlichen Verbesserung der Stoffwechsellage, und nicht selten kann eine eventuell vorbestehende Pharmakotherapie reduziert oder abgesetzt werden. Den größten Effekt erreicht man, wenn man die Gewichtsreduktion mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität verbindet. Der Patient muß auf jeden Fall auf diese Verhaltensänderung geschult werden. Bei Adipositas kann das Auftreten des Diabetes durch Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens um Jahre verzögert werden. Bei Studenten war bei einem Training von 1000 Kcal/Woche das Diabetes-Risiko nach 12 Jahren über 15% , bei intensivem Sport sogar über 50% reduziert (17). Bei adipösen Diabetikern konnte mit Metformin die beste Wirkung auf die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität nachgewiesen werden. Gewichtszunahmen wurden nicht beschrieben. Für die Glitazone als Insulinsensitizer liegen noch keine Endpunktstudien vor, Gewichtszunahmen werden in den Studien aber regelmäßig berichtet. Die größten Probleme bezüglich der Adipositas treten bei den insulinsekretionsfördernden Sulfonylharnstoffen und der direkten Insulinsubstitutionstherapie auf. Denn nicht selten steigt das Gewicht unter einer solchen Therapie stark und kontinuierlich an. Durch eine gut kontrollierte intensivierte Insulintherapie kann hier eine Besserung erreicht werden. Die Behandlung der Hypertonie bei diesen Patienten ist für die kardiovaskuläre Prognose von größter Bedeutung. Bei hypertensiven Diabetikern ist der Blutdruck nach JNC VII und ESC/ESH unabhängig von einer eventuellen Nephropathie sicher unter 130/80 mmHg einzustellen (7, 16). Die Auswahl der Antihypertensiva richtet sich nach den Begleiterkrankungen. Bei fehlenden Begleit- oder Folgeerkrankungen kann die Behandlung gleichwertig mit ACE-
435 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
. Abb. 2a. Überproportional hoher Anteil übergewichtiger und adipöser Patienten bei Hypertonie bzw. Diabetes im Vergleich zu Patienten ohne Begleiterkrankungen (nach Daten aus (6)
. Abb. 2b. Überproportional hoher Anteil übergewichtiger und adipöser Patienten bei multimorbiden Risikopatienten (nach Daten aus (6))
436
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Hemmer oder AT1-Blocker, Betablockern oder Diuretika eingeleitet werden. ACE-Hemmer oder AT1-Blocker bieten sich primär bei Patienten mit Nephropathie, Herzinsuffzienz oder ausgeprägter Linksherzhypertrophie an (24– 26,34). Diuretika gelten generell als optimale Kombinationspartner, besonders bei ACE-Hemmern oder AT1-Blockern. Eine Dyslipidämie ist streng zu therapieren, da sie bei Diabetikern das kardiovaskuläre Risiko wesentlich prägt. Serum-Triglyzeridwerte sind unter 150 mg/dl, LDL-Cholesterin je nach Risiko mindestens unter 100 mg/dl (niedriges Herz-Kreislaufrisiko) oder 70 mg/dl (hohes Herz-Kreislaufrisiko: > 20% in 10 Jahren) einzustellen. Das HDL-Cholesterin ist über 40 mg/dl anzuheben (NCEP Report 2004).
6. Folgeerkrankungen Der Zusammenhang zwischen Übergewicht und Adipositas, der Menge abdominalen Fettgewebes und dem Auftreten von Folgeerkrankungen wurde von Lean und Kollegen bei 5887 Männern zwischen 20 und 59 Jahren dokumentiert (23). Es zeigte sich, dass das Risiko für das Auftreten von Hypertonie, Typ-2-Diabetes mellitus, Atembeschwerden, einer reduzierten körperlichen Belastbarkeit (Steigen von Treppenstufen) und von funktionellen Beschwerden bei Patienten mit
. Tabelle 1. Risiko für Begleiterkrankungen nach WHO (40)
Klassifikation
BMI (kg/m2)
Risiko für Begleiterkrankungen
Untergewicht
< 18,5
niedrig (aber Risiko für andere klinische Probleme erhöht)
Normalgewicht
18,5–24,9
durchschnittlich
Übergewicht
25,0–29,9
leicht erhöht
Grad I
30,0–34,9
moderat erhöht
Grad II
35,0–39,9
stark erhöht
Grad III
≥ 40,0
sehr stark erhöht
Adipositas
437 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
. Tabelle 2. Anteil der übergewichtigen und adipösen Patienten bei den einzelnen Erkrankungen (nach (6)
Arztdiagnose
Prävalenz Gesamt (%)
Übergewicht (%)
Adipositas (%)
Übergewicht + Adipositas (%)
Keine Diagnose
28,55
31,34
12,08
43,42
Irgendeine Diagnose
71,15
41,66
22,96
67,62
Hypertonie
33,95
46,14
31,27
77,41
Diabetes
12,62
43,36
36,71
80,07
KHK
11,93
48,04
25,39
73,43
Linksherzhypertrophie
6,13
45,04
33,37
78,41
Herzinsuffizienz
7,36
44,46
27,58
72,04
Andere Herzerkrankungen
5,73
44,79
23,89
68,68
PAVK
4,36
47,82
24,78
72,60
Schlaganfall
1,81
49,74
22,11
71,85
Nephropathie
7,13
40,85
22,74
63,59
Retinopathie
2,30
43,65
32,40
76,05
Schilddrüsenerkrankungen
3,30
45,85
22,21
68,06
Amputation
0,35
52,35
22,15
74,50
einem Bauchumfang von > 102 cm im Vergleich zu Patienten < 94 cm deutlich und zum Teil mehrfach erhöht war. Diese Befunde spiegeln sich auch in einer Übersicht der WHO aus dem Jahr 2000 wieder (. Tabelle 1), die die Korrelation des Risikos für Begleiterkrankungen mit dem BMI dokumentiert (40). Auch in der HYDRA Studie, einer Stichtagserhebung an über 40.000 Patienten im niedergelassenen Bereich in Deutschland wurde für Patienten mit Übergewicht und Adipositas eine erhöhte Prävalenz von kardiovaskulären
438
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Folgeerkrankungen dokumentiert. Bei allen genannten Folgeerkrankungen ist der Anteil von übergewichtigen und adipösen Patienten besonders hoch.
7. Lebenserwartung Die beschriebenen metabolischen Veränderungen und die direkten (z. B. Bluthochdruck und linksventrikuläre Hypertrophie) und indirekten Folgeerkrankungen (z. B. Herzrhythmusstörungen (31)) führen häufig zu einer reduzierten Lebenserwartung und -qualität für übergewichtige und adipöse Patienten (14, 35). In der Nurses Health Study (29) wurde der Zusammenhang zwischen erhöhtem Körpergewicht und Mortalität für Frauen, in der Arbeit von Fontaine et al einige Jahre später auch für Männer belegt (14). In einer aktuellen Arbeit spekulieren Olhansky und Kollegen auf der Basis von verfügbaren Daten zum Einfluss von Übergewicht auf die Lebenserwartung und aktuellen Prävalenzschätzungen sogar, dass durch den anhaltenden Trend zu höherem Körpergewicht in den Industrienationen als auch in der dritten Welt, der Zuwachs an Lebenserwartung der letzten Jahre und Jahrzehnte aufgehalten, wenn nicht sogar ins Gegenteil verkehrt werden könnte (33).
8. Kardiovaskuläres Risikomanagement durch die Blockade des Endocannabinoid Systems Maßnahmen zur Verhinderung von langfristigen Konsequenzen der Adipositas setzen mit einer frühzeitigen Gesundheitserziehung an, die schon im Kindesund Jugendalter beginnt. Dabei stehen zunächst Maßnahmen mit dem Ziel einer Steigerung der körperlichen Aktivität bei gleichzeitiger Reduktion des Gewichts im Vordergrund. Richtig angewandt und konsequent umgesetzt führen sie zu einer substantiellen Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität. Jedoch wird dieses Ziel in der Regel nicht oder nur ungenügend erreicht. Daher wird bei den meisten Patienten eine begleitende medikamentöse Therapie notwendig. Sie umfasst neben Medikamenten zur Gewichtsreduktion (Sibutramin, Orlistat und neuere Entwicklungen) solche zum Management von Folgeerkrankungen und zur Senkung des kardiovaskulären Risikos. Wichtige Substanzklassen sind hier Lipidsenker, Antidiabetika, Thrombozytenaggregationshemmer und Antihypertensiva.
439 Übergewicht und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen
Eine Blockade des Endocannabinoid Systems stellt eine neue Möglichkeit dar, über eine Gewichtsreduktion hinaus eine deutliche Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren zu erreichen. Endocannabinoide sowie deren Rezeptoren sind sowohl im zentralen Nervensystem als auch in der Peripherie in verschiedenen Organen exprimiert und regulieren die zentrale Steuerung der Nahrungsaufnahme und die peripheren metabolischen Regelkreise. Im Kontext einer Steuerung der Nahrungsaufnahme ist der Cannabinoid Rezeptor 1 (CB1-Rezeptor) von zentraler Bedeutung. Seine Stimulation mit ∆9-Tetrahydrocannabiol (∆9-THC) oder Blockade mit Rimonabant sind klinisch bedeutsame therapeutische Ansätze zur Steuerung des Körpergewichts. Rimonabant ist der erste Vertreter einer neuen Gruppe von Medikamenten, die über eine Blockade des CB1-Rezeptors in das Endocannabinoid System eingreifen. Mit der in klinischen Studien gefundenen deutlichen Reduktion des Körpergewichts und des Taillenumfangs geht eine Verbesserung des kardiovaskulären Risikoprofils einher, die durch einen Anstieg des HDL-Cholesterins, einem Absinken der Serumtriglyzeride und eine verbesserte Insulinsensitivität gekennzeichnet ist. In Phase-III-Studien mit Rimonabant wurden vier Studien zur Gewichtsreduktion unter dem Akronym RIO durchgeführt (RIO-North America, -Europe, -Lipids und -Diabetes). In diese Studien wurden bis heute über 6000 Patienten eingeschlossen. Ziel ist die Untersuchung der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Rimonabant zur Gewichtsreduktion und Beeinflussung von metabolischen Risikofaktoren. RIO-Lipids und RIO-Diabetes erstrecken sich jeweils über 1 Jahr, RIO North America und RIO Europe über jeweils 2 Jahre. Es handelt sich jeweils um multinationale, multizentrische, randomisierte, doppelblinde und Plazebo kontrollierte Studien unter leicht hypokalorischer Diät. Die Studien sind abgeschlossen und wurden bislang aber nur auf Kongressen vorgestellt. Die 1-Jahres Ergebnisse der RIO Lipids Studie wurden 2005 in der Zeitschrift Lancet veröffentlicht (van Gaal). Fasst man die Ergebnisse vorläufig zusammen, ergibt sich eine deutliche Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren durch die Blockade des CB1-Rezeptors mit Rimonabant. Mit einer deutlichen Gewichtsreduktion und der Reduktion des Taillenumfangs geht eine Optimierung des kardiovaskulären Risikoprofils einher, die durch einen Anstieg des HDL-Cholesterin, einem Absinken der Serumtriglyzeride, einer verbesserten Insulinsensitivität und einem verbesserten Quotienten von kleinen zu großen LDL-Partikeln gekennzeichnet ist. Diese Ergebnisse lassen langfristig eine Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität erwarten.
440
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Zusammenfassung 4 Das kardiovaskuläre Risiko ist vor allem mit einem erhöhten Körperfettanteil, dem viszeralen Fett und der Dauer des bestehenden Übergewichts assoziiert 4 Die Herzkammern sind vergrößert, vor allem der linke Ventrikel 4 Die linksventrikuläre Masse ist häufig erhöht 4 Die diastolische und systolische Herzfunktion ist beeinträchtigt und kann sich potentiell in einer Herzinsuffizienz äußern 4 Die meisten kardiovaskulären Risikofaktoren sind bei übergewichtigen Personen erhöht 4 Herzinfarkt und Schlaganfall sind eine häufige Konsequenz 4 Die Gesamtsterblichkeit und die Häufigkeit eines kardiovaskulären Todes ist erhöht Literatur 1. Third Report of the National Cholesterol Education Program (NCEP) Expert Panel on Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Cholesterol in Adults (Adult Treatment Panel III) final report. Circulation 2002; 106: 3143–421 2. Assmann G., Schulte H. Relation of high-density lipoprotein cholesterol and triglycerides to incidence of atherosclerotic coronary artery disease (the PROCAM experience). Prospective Cardiovascular Munster study. Am J Cardiol 1992; 70: 733–7 3. Bensaid M., Gary-Bobo M., Esclangon A., et al. The cannabinoid CB1 receptor antagonist SR141716 increases Acrp30 mRNA expression in adipose tissue of obese fa/fa rats and in cultured adipocyte cells. Mol Pharmacol 2003; 63: 908–14 4. Bergmann K., Mensink G. Körpermaße und Übergewicht. Gesundheitswesen 1999; 61 Sonderheft 2: S115–20 5. Bramlage P., Pittrow D., Wittchen H., et al. High Body Mass Index is associated with an increased Prevalence and Lack of Control of Hypertension. Am J Hypertens 2004; 17: 904–10 6. Bramlage P., Wittchen H. U., Pittrow D., et al. Recognition and management of overweight and obesity in primary care in Germany. Int J Obes Relat Metab Disord 2004; 28: 1299– 308 7. Chobanian A. V., Bakris G. L., Black H. R., et al. The Seventh Report of the Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure: The JNC 7 Report. JAMA 2003; 289: 2560–71 8. Collins R., Peto R., MacMahon S., et al. Blood pressure, stroke, and coronary heart disease. Part 2, Short-term reductions in blood pressure: overview of randomised drug trials in their epidemiological context. Lancet 1990; 335: 827–38 9. Cota D., Marsicano G., Tschop M., et al. The endogenous cannabinoid system affects energy balance via central orexigenic drive and peripheral lipogenesis. J Clin Invest 2003; 112: 423–31
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443 Die Prävention psychischer Erkrankungen
Die Prävention psychischer Erkrankungen und die Förderung psychischer Gesundheit Reinhold Kilian*, Thomas Becker
Abstract Depressive Störungen bilden nach den Herz- Kreislauferkrankungen in Europa mittlerweile die zweitwichtigste Ursache für den Verlust gesunder Lebensjahre. Angesichts der mit dieser Entwicklung verbundenen sozialen und ökonomischen Konsequenzen muss der Förderung der psychischen Gesundheit und der Primär-, Sekundär- und der Tertiärprävention psychischer Erkrankungen in Zukunft ein besonderer Stellewert eingeräumt werden. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden die Grundlagen der Prävention psychischer Erkrankungen und der Förderung psychischer Gesundheit vorgestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Gesundheitsförderungsprogrammen diskutiert. An einem Entwicklungsmodell der Entstehung psychischer Erkrankung werden dabei die Ansatzpunkte präventiver und gesundheitsfördernder Strategien modellhaft dargestellt. In einer kritischen Bestandsaufnahme werden Ansätze der universellen, selektiven, indikativen, sowie der tertiären Prävention vorgestellt und hinsichtlich der vorliegenden Evidenz für ihre Wirksamkeit und Effizienz verglichen. Als Ergebnis dieser Bestandsaufnahme zeigen sich für viele Programme kurz- und mittelfristige Effekte auf einzelne Ergebnisparameter. Aufgrund kurzer Studiendauern und kleiner Untersuchungsstichproben konnten bislang allerdings kaum Belege für eine langfristige Reduzierung der Inzidenz und der Prävalenz psychischer Erkrankungen erbracht werden. Auch hinsichtlich der gesundheitsökonomischen Auswirkungen psychiatrischer Präventionsprogramme liegen bislang kaum aussagekräftige Ergebnisse vor. Es besteht deshalb auf allen Ebenen der Prävention psychischer Erkrankungen ein dringender Bedarf an Langzeitstudien zur Effektivität und zur KostenEffektivität präventiver Maßnahmen. * e-mail:
[email protected]
444
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Schlüsselworte: Prävention, psychische Krankheit, Modellprojekte, Evalua-
tion, Gesundheitsökonomie
Einleitung Seit das durch Krankheiten hervorgerufene Leid nicht mehr allein durch den vorzeitigen Tod sondern durch den Verlust von in Gesundheit verbrachten Lebensjahren definiert wird, hat sich die Wahrnehmung der Bedeutung psychischer Erkrankungen weltweit dramatisch verändert. Mit dem von der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank 1996 erstmals herausgegebenen Bericht zu den globalen Belastungen durch Krankheit (Murray & Lopez 1996) wurde deutlich, dass weltweit zwar die krankheitsbedingten Todesursachen weiterhin von den Herz- Kreislauferkrankungen, verschiedenen Infektionserkrankungen und Krebs angeführt werden, dass jedoch bei den Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre (DALY) die Depression weltweit nach Geburtskomplikationen, Atemwegserkrankungen und HIV an vierter Stelle liegt. Betrachtet man ausschließlich Europa, so liegt die Depression nach den HerzKreislauferkrankungen bereits an zweiter Stelle der Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre (World Health Organization 2002). Die Bedeutung des Konzeptes des Verlustes gesunder Lebensjahre resultiert jedoch nicht allein daraus, dass damit Beeinträchtigung der Lebensqualität abgebildet werden, sondern ebenso daraus, dass der Verlust gesunder Lebensjahre auch mit enormen volkswirtschaftlichen Kosten einhergeht (Andlin-Sobocki et al. 2005; World Health Organization 2003). Diese Kosten entstehen nicht ausschließlich durch die mit der Behandlung von Krankheiten verbundenen Aufwendungen, sondern zu einem fast gleich großen Anteil durch krankheitsbedingte Abwesenheit vom Arbeitsplatz oder vorzeitige Berentung (Andlin-Sobocki et al. 2005; Marcotte & Wilcox-Gök 2001; Roick et al. 2001). So lagen 2002 in Deutschland die durch die Behandlung psychischer Erkrankung verursachten Kosten nach Herz-Kreislauferkrankungen, den Erkrankungen des Verdauungssystems und den Erkrankungen des Bewegungsapparates an vierter Stelle bei ungefähr 22 Mrd. Euro und damit bei 10% der gesamten Gesundheitsausgaben (Statistisches Bundesamt 2004). Gleichzeitig lagen die Kosten der durch psychische Erkrankungen verursachten Fehlzeiten und vorzeitigen Berentungen bei ca. 19,4 Mrd. Euro, und damit bei 1% des Bruttoinlandsproduktes (Statistisches Bundesamt 2004). Nach den Verletzungsfolgen und den Erkrankungen des
445 Die Prävention psychischer Erkrankungen
Bewegungsapparates liegen psychische Erkrankungen nunmehr an dritter Stelle der ökonomischen Verluste durch Fehlzeiten und vorzeitige Berentungen. Während von 1994 bis 2002 bei nahezu allen körperlichen Erkrankungen ein Rückgang der Verluste durch Fehlzeiten und vorzeitige Berentungen zu verzeichnen war, stiegen diese bei den psychischen Erkrankungen im gleichen Zeitraum um 27% (Statistisches Bundesamt 2004). Dieser Anstieg spiegelt sich seit einigen Jahren auch in den Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherungsträger wider, die einen dramatischen Anstieg der Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen verzeichnen (Badura et al. 2005). Diese Entwicklung ist deshalb besonders auffällig, weil bei den meisten körperlichen Erkrankungen gleichzeitig ein leichter Trend zur Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten erkennbar ist (Badura et al. 2005). Eine ebenfalls besorgniserregende Entwicklung zeichnet sich dadurch ab, dass die direkten Kosten psychischer Erkrankungen bei der Gruppe der unter 15-jährigen Kinder und Jugendlichen mittlerweile nach den Kosten für Atemwegserkrankungen bereits an zweiter Stelle der Gesundheitsaufwendungen für diese Altersgruppe liegen (Statistisches Bundesamt 2004). Die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wird gegenwärtig auf 8%–15% geschätzt (Wittchen et al. 1998). Obwohl epidemiologische Daten zur Veränderung der Häufigkeit psychischer Erkrankungen fehlen, deuten Krankenversicherungsdaten darauf hin, dass zumindest bei einzelnen Krankheitsformen wie z.B. der hyperkinetischen Störung ein Anstieg zu verzeichnen ist (Schubert et al. 2004). Da psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit des Auftretens psychischer Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter einhergehen, könnte diese Entwicklung den allgemeinen Anstieg psychischer Erkrankungen in den kommenden Jahren verstärken. Die bislang wenigen Untersuchungen zu den langfristigen Konsequenzen psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen deuten darauf hin, dass hier ebenfalls erhebliche negative ökonomische Folgen drohen (Allsup et al. 2003; Rendu et al. 2002; Scott et al. 2001). Angesichts der aufgezeigten Entwicklungen wird deutlich, dass der Prävention psychischer Erkrankungen, sowohl im Hinblick auf die Erhaltung der Lebensqualität und die Vermeidung individuellen Leids als auch im Hinblick auf die Begrenzung krankheitsbedingter Kosten, zukünftig eine hohe Priorität in der Gesundheitspolitik eingeräumt werden muss.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Im folgenden sollen die Möglichkeiten und Grenzen einer derartigen Präventionspolitik vor dem Hintergrund vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse erörtert werden.
Die Grundlagen der Prävention psychischer Erkrankungen und der Förderung psychischer Gesundheit Im Public Health Verständnis beinhaltet Prävention alle Maßnahmen der Primär-, der Sekundär- und der Tertiärprävention (Adler et al. 1978). Die primäre Prävention umfasst alle Maßnahmen, die dazu dienen, die Entstehung psychischer Erkrankungen zu verhindern. Hierzu gehören sowohl Aktivitäten zur Reduzierung von individuellen und umweltbezogenen Risikofaktoren als auch solche zur Förderung von Ressourcen zur Risiko- und Problembewältigung. Die sekundäre Prävention umfasst Maßnahmen, die dazu dienen, psychische Erkrankungen in einem möglichst frühen Stadium zu entdecken, um durch eine frühzeitige Behandlung Schwere und Verlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen. Die tertiäre Prävention umfasst alle Maßnahmen, die dazu beitragen, den von einer psychischen Erkrankung betroffenen Menschen das Leben mit der Krankheit zu erleichtern, ihre Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen und selbst bestimmten Lebensführung möglichst lange aufrecht zu erhalten und ihnen eine weit reichende Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben zu ermöglichen. Neben dieser allgemeinen Differenzierung der verschiednen Ebenen der Prävention lassen sich primärpräventive Ansätze noch hinsichtlich ihrer jeweiligen Zielgruppe unterscheiden (Greenberg et al. 2001; National Advisory Mental Health Council Workgroup on Mental Disorder Prevention Research 2001; World Health Organization 2004). Als universell bezeichnet man dabei Präventionsansätze, die sich auf die Gesamtbevölkerung oder auf einen nur durch allgemeine Merkmale wie z.B. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit definierten Teil der Gesamtbevölkerung richten, ohne dabei spezielle, als Risikofaktoren identifizierte Merkmale im Blick zu haben. Demgegenüber richten sich selektive Präventionsansätze auf Bevölkerungsgruppen, die gegenüber der Gesamtbevölkerung ein erhöhtes Krankheitsrisiko aufweisen, ohne jedoch bereits Krankheitssymptome zu zeigen. Beispiele
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für derartige Gruppen mit einem erhöhtem Krankheitsrisiko können Menschen in problematischen sozioökonomischen Lebenslagen, Migranten aus bestimmten Regionen, Angehörige bestimmter Alters- oder Berufsgruppen oder Menschen mit einer familiären Vorbelastung sein (z.B. Kinder bei denen ein oder beide Elternteile bereits an einer psychischen Erkrankung leiden). Indikative Prävention richtet sich im Unterschied dazu auf Personen, die bereits so genannte Prodromalsymptome späterer psychischer Erkrankungen aufweisen, ohne aber bereits die diagnostischen Kriterien für spezifische Erkrankungen zu erfüllen. Hierunter fallen z.B. Kinder mit Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer späteren Krankheitsmanifestation verbunden sind (Greenberg et al. 2001). Die Differenzierung von universeller, selektiver und indikativer Prävention ermöglicht es, Präventionsmaßnahmen gezielt am vorhandenen Kenntnisstand über Einflussfaktoren psychischer Erkrankungen zu orientieren. In der Regel geht dabei die Erweiterung des Kenntnisstandes z.B. über die Risikofaktoren für die Entstehung bestimmter Erkrankungen mit einer Verschiebung des Fokus präventiver Maßnahmen von einer universellen zu einer indikativen Prävention einher. Hieraus ergibt sich der Vorteil, dass eine gezielte indikative Prävention in der Regel eine höhere Effektivität verspricht, als universalpräventive Maßnahmen (Cowen 2000). Dem steht allerdings die Gefahr gegenüber, dass tiefere Ursachen der Herausbildung von Risikomerkmalen (z.B. die Folgen ökonomischer oder sozialer Marginalisierung) unbeachtet bleiben. Langfristig könnte sich dadurch trotz der Effektivität präventiver Maßnahmen eine allgemeine Steigerung der Prävalenz psychischer Erkrankungen ergeben.
Ätiologie psychischer Erkrankungen Die Prävention psychischer Erkrankungen erfordert ein umfassendes Wissen über den Prozess der Krankheitsentstehung und die in diesem Prozess wirksamen Faktoren. Für verschiedene psychische Erkrankungen liegen zwar mittlerweile gesicherte empirische Belege für genetische Anteile bei der Krankheitsentstehung vor, eine eindeutige Identifikation prädisponierender Gene ist jedoch bislang nicht gelungen (Lesch 2003; Maier et al. 2003). Gleichzeitig deuten die vorliegenden Ergebnisse der psychiatrischen Genetik darauf hin, dass bei der Mehrzahl psychischer Erkrankungen kein monogener Erbgang vermutet werden kann, sondern dass es sich hier um polygene ätiologische Prozesse han-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
delt. Auch für eine ausschließlich genetische Verursachung wurden bisher keine Belege gefunden, vielmehr liegen für viele psychischen Erkrankungen Hinweise auf eine gleichzeitige Relevanz umweltbedingter Faktoren vor (Lesch 2003; Maier et al. 2003). Nach den gegenwärtig allgemein akzeptierten Modellvorstellungen (. Abbildung 1) erfolgt die Entwicklung der kognitiven und emotionalen Konstitution eines Menschen auf der Grundlage einer biologischen Disposition, die zum Teil genetisch vermittelt, zum Teil durch Einflüsse während der Schwangerschaft, der Geburt und der postnatalen Entwicklung bedingt wird (Gaebel 2003). Vor dem Hintergrund dieser biologischen Disposition entwickelt sich im Verlauf von Kindheit und Jugend eine mehr oder weniger stabile psychische Konstitution, d.h. relativ stabile spezifische Erlebens- und Verhaltensmuster, welche die Grundlage für die subjektive Interpretation von Umweltreizen und die psychische Bewältigung von Umweltanforderungen bilden (Felner et al. 2000; Schüssler 2003). Neuere Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung deuten darauf hin, dass diese Erlebens- und Verhaltensmuster eine weit reichende biologische Verankerung haben (Thome & Riederer 2003). Diese biologische Verankerung bedeutet jedoch nicht, dass hier eine einseitige biologische Determination vorliegt, sondern dass zwischen psychischen und biologischen Prozessen vielfältige Interaktionsbeziehungen existieren (Thome & Riederer 2003). Die Herausbildung der psychischen Konstitution eines Menschen wird dabei von den Merkmalen seiner sozioökonomischen und biophysikalischen Lebensbedingungen beeinflusst, welche entweder die Eigenschaft von Risikofaktoren oder von protektiven Faktoren einer gesunden Entwicklung aufweisen (Egle et al. 1997; World Health Organization 2004). Als Ergebnis dieser Entwicklung verfügt ein Mensch in seiner jeweiligen Lebensphase über eine spezifische adaptive Kapazität (Gaebel 2003), die es ihm ermöglicht, auf die Anforderungen seiner Umwelt in angemessener Form zu reagieren (Felner et al. 2000). Die psychische Konstitution bildet damit die zentrale interne Ressource zur Bewältigung von Umweltanforderungen. Neben dieser internen Ressource verfügen Menschen in unterschiedlichem Umfang über externe Ressourcen, wie z.B. soziale Beziehungen, finanzielle Mittel, materielle Güter, soziale Sicherheit, welche die Bewältigung von Umweltanforderungen unterstützen. Zwischen internen und externen Ressourcen und der Bewältigung von Umweltanforderungen bestehen Wechselbeziehungen. D.h. einerseits bildet die psychische Konstitution die zentrale Voraussetzung zur Bewältigung von Umweltanforderungen und damit auch für die Gewinnung externer Ressourcen, andererseits wirkt sich die
Die Prävention psychischer Erkrankungen 449
. Abb. 1. Modell der Entstehungsbedingungen und der Prävention psychischer Erkrankungen
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Bewältigung von Umweltanforderungen und damit die Verfügbarkeit externer Ressourcen auf die psychische Konstitution aus. Die Dynamik der Wechselwirkungen zwischen psychischer Konstitution, externen Ressourcen und der Bewältigung von Umweltanforderungen ist in starkem Maße altersabhängig. Ihre höchste Intensität entfaltet sie in den frühen Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend. Mit dem Erreichen des Erwachsenenalters zeigt sich die psychische Konstitution eines gesunden Menschen gegenüber äußeren Einflüssen eher gefestigt. Allerdings können sowohl der dauerhafte Verlust externer Ressourcen (z.B. Arbeitslosigkeit) als auch eine erhebliche Steigerung der Umweltanforderungen (z.B. traumatische Ereignisse) die psychische Konstitution auch im Erwachsenenalter beeinträchtigen. Psychische Erkrankung entsteht nach dem vorliegenden Modell dann, wenn interne und externe Ressourcen eines Menschen zu einer angemessenen Bewältigung der Anforderungen seiner Umwelt nicht ausreichen. Die Ursache dieser Diskrepanz kann entweder darin liegen, dass auf Grund von Beeinträchtigungen der psychosozialen Entwicklung die adaptive Kapazität nur unzureichend ausgebildet wurde, oder darin, dass eine den normalen Anforderungen genügende Kapazität durch eine gravierende Steigerung der äußeren Anforderungen überfordert wird. Nach allen gegenwärtigen Erkenntnissen sind diese Entstehungsbedingungen psychischer Erkrankungen nicht störungsspezifisch, d.h. einerseits kann sich eine bestimmte Form der Überforderung der adaptiven Kapazität in sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern manifestieren und andererseits können sehr unterschiedliche Formen der Überforderung die gleiche Erkrankung hervorrufen (Greenberg et al. 2001).
Risiko- und Schutzfaktoren psychischer Erkrankungen Als Risikofaktoren psychischer Erkrankung werden alle Merkmale eines Menschen oder seiner Lebenswelt betrachtet, die mit einem erhöhten Risiko einer späteren Manifestation psychischer Erkrankungen verbunden sind (Egle et al. 1997; Greenberg et al. 2001; Häfner et al. 2004; Werner 1989). Risikofaktoren müssen nicht zwangsläufig unmittelbar ursächlich mit einer späteren Erkrankung verbunden sein, sondern können sich auch mittelbar z.B. durch negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen auf die Krankheitsentstehung auswirken. Als Schutzfaktoren werden demgegenüber jene Merkmale verstanden, welche die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) eines Menschen gegenüber den negativen Auswirkungen von Risikofaktoren erhöhen. Diese protektive Wir-
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kung kann ebenfalls direkt durch die Veränderung des Risikos selbst oder indirekt, durch eine bessere Bewältigungskapazität zustande kommen (Egle et al. 1997; Greenberg et al. 2001) (World Health Organization 2002; World Health Organization 2004). Obwohl unter Experten weitgehende Einigkeit über die Bedeutsamkeit des Risiko- bzw. Schutzfaktorenkonzeptes besteht, existiert bislang kein einheitliches Klassifikationssystem. Während einige Autoren die Begriffe Risiko- oder Schutzfaktoren weitgehend auf Merkmale der Lebenswelt und der Sozialbeziehungen beschränken (Egle et al. 1997), beziehen andere auch individuelle biologische und psychische Merkmale ein (Greenberg et al. 2001; Häfner et al. 2004; World Health Organization 2002; World Health Organization 2004). Beide Formen der Klassifikation bergen sowohl Vor- als auch Nachteile. Während bei einer Beschränkung des Risiko- bzw. Schutzfaktorenbegriffs auf Umweltmerkmale die Gefahr besteht, dass z.B. biologisch bedingte Einflussfaktoren psychischer Erkrankung vernachlässigt werden, birgt die Einbeziehung individueller Faktoren die Gefahr der Vermischung von Ursachen und Wirkungen. So werden z.B. Faktoren wie soziale Inkompetenz, emotionale Beeinträchtigung oder mangelndes Selbstbewusstsein einerseits als Risikofaktoren andererseits jedoch auch bereits als Indikatoren oder sogar Prodromalsymptome psychischer Störungen betrachtet (Greenberg et al. 2001; Häfner et al. 2004; Häfner & an der Heiden 1999). Berücksichtigt man alle bislang als Risikofaktoren identifizierte Merkmale, so ergibt sich folgende Klassifikation: Risikofaktoren psychischer Erkrankung 1. Biologische Konstitution: geringes Geburtsgewicht, Perinatalkomplikationen, neurochemische Störungen, sensorische oder organische Schäden, physische Erkrankung 2. Psychische Konstitution: emotionale Unreife bzw. fehlende emotionale Kontrolle, geringes Selbstbewusstsein, 3. Familiäre Situation: psychische Erkrankung der Eltern, Missbrauch bzw. Misshandlung, frühe Schwangerschaft, familiäre Desorganisation, unsicheres Bindungsverhalten, niedriger sozioökonomischer Status, Drogen- oder Alkoholmissbrauch der Eltern, Aggression, Vernachlässigung, autoritäres Erziehungsverhalten, mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr, uneheliche Geburt, Verlust eines Elternteils, Kriminalität eines Elterteils, mangelnder Wohnraum 4. Soziale Beziehungen: gestörtes Kommunikationsverhalten, Isolation, Entfremdung, Ablehnung durch Gleichaltrige, Mobbing
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
5. Schulverhalten: mangelnde Leistungsfähigkeit, Lese- und Schreibschwäche, Aufmerksamkeitsdefizit, Schulversagen, aggressive Belästigung 6. Lebensumfeld: Armut, soziale Desorganisation, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Diskriminierung, soziale Benachteiligung, Gewalt, Kriminalität, beruflicher Stress, schlechte Ernährung, Mangel an Bildungsmöglichkeiten, schlechte Wohnbedingungen, schlechte Infrastruktur (Egle et al. 1997; Greenberg et al. 2001; Häfner et al. 2004; World Health Organization 2004) Schutzfaktoren psychischer Gesundheit 1. Psychische Konstitution: Autonomie, Sicherheitsgefühl, interne Kontrollüberzeugung, Selbstbewusstsein, Intelligenz, robustes, aktives kontaktfreudiges Temperament, 2. Fähigkeiten: Fähigkeit zur Stressbewältigung, Anpassungsfähigkeit, LeseSchreibfähigkeit, Konflikt- und Stressmanagementfähigkeit, Problemlösefähigkeit 3. Familiäre Situation: positive Eltern-Kind Interaktion, sicheres Bindungsverhalten, frühe intellektuelle Anregung, 4. Beziehungen zu Gleichaltrigen: Kontaktfreudigkeit, 5. Lebensumfeld: soziale Unterstützung, Empowerment, Integration ethnischer Minderheiten, gute zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Partizipation, soziale Verantwortung, Toleranz, soziale Dienste (Egle et al. 1997; Greenberg et al. 2001; Häfner et al. 2004; World Health Organization 2004).
Ansatzpunkte der Prävention psychischer Erkrankungen Nach dem vorliegenden Modell der Entstehung psychischer Erkrankungen ergeben sich Ansätze zur Prävention sowohl durch die Reduzierung von Risikofaktoren als auch durch die Förderung von Schutzfaktoren. In ihrer jeweils konkreten Form müssen sich präventive Maßnahmen dabei an den jeweiligen lebenslaufspezifischen Bedürfnissen und Problemen orientieren. Als Rahmen bietet sich dabei das Konzept einer so genannten Entwicklungsleiter an (. Tabelle 1), welches die allgemeinen lebensphasenspezifischen Rahmenbedingungen
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. Tabelle 1. Modell der Entwicklungsleiter nach Felner et al. 2000
Entwicklungsphase
Rahmenbedingungen gesunder psychischer Entwicklung und Ansatzpunkte universeller Präventionsstrategien
Pränatalphase bis Kleinkindalter 0–2 Jahre
Schwangerschaftsvorsorge, Geburtshilfe, Unterstützung angemessener Säuglings- und Kleinkindversorgung, Vorsorgeuntersuchung, Sicherstellung angemessener Ernährung, Förderung sicheren Bindungsverhaltens, Mutterschutz, Erziehungsurlaub, bedarfsgerechte Frühbetreuungsangebote, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, familienfreundliche Wohn- und Infrastrukturangebote
Kindergarten und Vorschulalter
familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, familien- und kinderfreundliche Wohn-, Freizeit- und Infrastrukturangebote, ausreichendes Angebot qualifizierter Kindergarten- und Vorschulangebote zur Unterstützung der körperlichen, sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung
Grundschulalter bis zur Pubertät
Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Wertvorstellungen, Vermittlung positiver Rollenmodelle durch altersgerechte Medienangebote, Förderung gesunder Ernährung und Lebensweise, schulische Angebote, welche die körperliche, soziale, kognitive und emotionale Entwicklung angemessen berücksichtigen und fördern, bedarfsgerechte außerschulische Betreuungsangebote, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, familien- und kinderfreundliche Wohn-, Freizeit- und Infrastrukturangebote
Sekundärschulalter und Adoleszenz
schulische Angebote, welche entwicklungs-, kultur- und geschlechtsspezifische Bedürfnisse angemessen berücksichtigen, Reduzierung der Belastungen bei Schulübergängen, bedarfsgerechte außerschulische Betreuungs-, Freizeit- und Qualifizierungsangebote, Gesundheitserziehung und Vermittlung positiver Rollenmodelle u.a. durch altersgerechte Medienangebote, angemessene Vorbereitung auf berufliche Anforderungen, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, familien- und kinderfreundliche Wohn-, Freizeit- und Infrastrukturangebote
Frühes Erwachsenenalter
angemessene Vorbereitung auf die Anforderungen des Berufslebens bzw. weiterführender Ausbildungen, Reduzierung von Übergangsproblemen, Förderung kontinuierlicher Lernbereitschaft, Förderung von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, integrationsfördernde Arbeitsplatzgestaltung, Förderung gesundheitsbewusster Lebensweise
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 1. Fortsetzung Familiengründungsphase und berufliche Entwicklungsphase
Erleichterung der Vereinbarkeit familiärer und beruflicher Anforderungen, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, familienfreundliche Gestaltung beruflicher Laufbahn, Erleichterung beruflicher Um- bzw. Neuorientierung, Unterstützung der Kapazität zur Bewältigung beruflicher, familiärer oder gesundheitlicher Probleme, familien- und kinderfreundliche Wohn-, Freizeit- und Infrastrukturangebote, Förderung ökonomischer Selbständigkeit, Förderung von Wohneigentum, Förderung gesundheitsbewusster Lebensweise
Lebensmitte
Erleichterung notwendiger beruflicher Um- bzw. Neuorientierung, Unterstützung der Kapazität zur Bewältigung beruflicher, familiärer oder gesundheitlicher Probleme, Förderung gesundheitsfördernder Lebensweise
Rentenalter
Erleichterung des Übergangs vom Berufsleben in den Ruhestand, Förderung der Aufrechterhaltung der sozialen Partizipation, Unterstützung der Kapazität zur Bewältigung des Verlustes körperlicher Fähigkeiten, sozialer Funktionen oder nahe stehender Personen, Erleichterung der Anpassung an Veränderungen der sozialen und materiellen Umwelt, Förderung gesundheitsfördernder Lebensweise
höheres Alter
Vermeidung von Isolation, Erhaltung von Selbständigkeit und Mobilität, bedarfsgerechte Unterstützungs- und Pflegeangebote, Erleichterung der Anpassung an Veränderungen der sozialen und materiellen Umwelt, Unterstützung der Kapazität zur Bewältigung des Verlustes körperlicher Fähigkeiten, sozialer Funktionen oder nahe stehender Personen, Förderung gesundheitsfördernder Lebensweise
einer gesunden psychischen Entwicklung darstellt (Felner et al. 2000). Diese allgemeinen Rahmenbedingungen bilden zum einen die Grundlage universeller Präventionsstrategien, zum anderen ermöglichen sie unter Berücksichtigung der oben dargestellten Risiko- und Schutzfaktoren die Definition von lebensphasenspezifischen Präventionsprogrammen für besondere Zielgruppen (Donovan & Spence 2000; Durlak 1998; Durlak & Wells 1997a; Durlak & Wells 1997b; Earls 2001; Greenberg et al. 2001).
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Universelle Präventionsstrategien Universelle Strategien zur Prävention psychischer Erkrankungen umfassen ein weites Spektrum gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen (Cowen 2000; Donovan & Spence 2000; Earls 2001; Greenberg et al. 2001; Herrman 2005). Vor dem Hintergrund des Entwicklungsleitermodels stehen am Beginn der kindlichen Entwicklung Maßnahmen der Schwangerschaftsvorsorge, der Geburtsvorbereitung, zur Reduzierung von Geburts- bzw. Postnatalkomplikationen sowie zur Unterstützung der Säuglingspflege. Neben medizinischen Maßnahmen kommt hierbei der Förderung des Gesundheitsverhaltens schwangerer Frauen eine besondere Bedeutung zu (Felner et al. 2000; World Health Organization 2004). Auf der Ebene der Lebenswelt sind vor allem Maßnahmen angesiedelt, die den Schutz schwangerer Frauen im unmittelbaren Lebensumfeld, insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch im Bereich der Gesundheitsversorgung betreffen. Außerdem sind hier Maßnahmen anzusiedeln, welche Rahmenbedingungen für eine angemessene Säuglings- und Kleinkindversorgung fördern wie z.B. Mutterschutz und Erziehungsurlaub, aber auch Einrichtungen der Frühbetreuung von Kindern berufstätiger Mütter (Felner et al. 2000). Im weiteren Verlauf der Entwicklung gewinnt die Förderung der familiären Erziehungskompetenz sowie der außerfamiliären vorschulischen und schulischen Erziehung zunehmend an Bedeutung. Die Förderung der ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen einer gesunden Entwicklung in der Familie spielt dabei eine zentrale Rolle. Eine familienfreundliche Gestaltung von Arbeitszeitregelungen sowie familien- und kinderfreundliche Wohn-, Freizeit- und Infrastrukturangebote gehören ebenso zu den universalpräventiven Maßnahmen wie die Schaffung außerfamiliärer Betreuungsangebote zur Erleichterung der Vereinbarkeit von elterlichen und beruflichen Verspflichtungen. Hinzu kommt insbesondere der Bereich der Frühförderung intellektueller und sozialer Kompetenzen in vorschulischen und schulischen Betreuungseinrichtungen (Felner et al. 2000; Greenberg et al. 2001; World Health Organization 2004). Im weiteren Entwicklungsverlauf von der Pubertät bis zur Spätadoleszenz, ergeben sich sowohl für Kinder als auch für Eltern besonderen Anpassungsanforderungen durch den Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulformen und aus der verzögerten Synchronisation körperlicher, psychischer und sozialer Entwicklungsprozesse während der Pubertät. Mit der allmählichen Ablösung von der Kernfamilie gewinnt für Kinder die gleichaltrige Bezugsgruppe (peer group) als soziales Bezugssystem an Bedeutung. Die Ver-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
einbarung unterschiedlicher, teilweise widersprüchlicher Verhaltenserwartungen verschiedener Bezugssysteme muss in angemessener Form bewältigt werden. Ansatzpunkte der universellen Prävention bilden in diesem Entwicklungsstadium neben der Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz und der Orientierung schulischer Angebote an den alters-, geschlechts-, und kulturspezifischen Bedürfnissen und Problemen insbesondere Maßnahmen zur Unterstützung altersadäquater sozialer Rollenorientierungen z.B. im Rahmen von Freizeit oder Medienangeboten (Felner et al. 2000; Greenberg et al. 2001). Mit dem Übergang von der Adoleszenz ins frühe Erwachsenenalter stellen sich insbesondere die Probleme des Eintritts ins Berufsleben oder in weiterführende Ausbildung sowie der räumlichen Trennung von der Herkunftsfamilie und des Eingehens von Partnerschaften. Während eine angemessene Vorbereitung auf diese Anforderungen bereits im Jugendalter einsetzen muss, kommt der Reduzierung von Übergangshürden wie z.B. der Jugendarbeitslosigkeit oder der Knappheit von Studienplätzen in dieser Entwicklungsphase eine wichtige Bedeutung zu (Felner et al. 2000). Mit der Gründung einer eigenen Familie treten für die jungen Erwachsenen wiederum die Probleme der Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Verpflichtungen in den Vordergrund. Der Beginn der beruflichen Laufbahn und die ersten Erfahrungen mit Elternschaft sind dabei häufig mit erheblichen Anforderungen an die physische, kognitive und psychische Leistungsfähigkeit verbunden. Maßnahmen zur Erleichterung der Vereinbarkeit von Berufsleben und familiären Verpflichtungen erweisen sich in dieser Lebensphase als besonders notwendig. Hinzu kommt die Sicherstellung von den Bedürfnissen und den finanziellen Möglichkeiten junger Familien angepassten Wohnangeboten. Der weitere Lebensverlauf ist für die meisten Menschen durch die immer häufiger wechselnden Anforderungen des Berufslebens und durch die sich mit dem Heranwachsen der Kindern sowie dem eigenen Alterungsprozess verbundenen Veränderungen des familiären und partnerschaftlichen Zusammenlebens geprägt. Ansatzpunkte der universellen Prävention psychischer Erkrankungen bieten sich während dieser Lebensphase im Bereich der Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz und in der Reduzierung extremer Belastungen wie z.B. durch Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Naturkatastrophen oder Krieg und deren sozioökonomischer Folgen. Mit dem Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand stellt sich das Problem des Verlustes von langjährigen sozialen Bezügen und Statuspositionen und damit die Gefahr der Verminderung sozialer Partizipation. Ansatzpunkte der
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universellen Prävention bilden hier Maßnahmen zur Vorbereitung des Übergangs in den Ruhestand und zur Förderung der aktiven Partizipation älterer Menschen an sozialen, politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen. Mit zunehmendem Lebensalter und der damit verbundenen Reduzierung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit verstärkt sich das Risiko des Verlustes sozialer Partizipationsmöglichkeiten, der Selbständigkeit und der Isolation. Neben der Förderung von Partizipationsmöglichkeiten bilden Maßnahmen zur Schaffung bedarfsgerechter Wohn-, Betreuungs- und Freizeitangebote Möglichkeiten zur Reduzierung dieser Risiken
Selektive Prävention Obwohl sich Experten weitgehend darüber einig sind, dass der universellen Prävention psychischer Erkrankungen angesichts der dargestellten komplexen ätiologischen Zusammenhänge eine zentrale Bedeutung bei der Reduzierung der Inzidenz psychischer Erkrankungen zukommt (Cowen 2000; Greenberg et al. 2001; World Health Organization 2004), wird gegenwärtig vor allem die Ausweitung selektiver und indikativer Präventionsangebote als vordringlich angesehen (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003; Cowen 2000; Herrman 2005; National Advisory Mental Health Council Workgroup on Mental Disorder Prevention Research 2001; World Health Organization 2004). Grund dafür ist die Tatsache, dass universelle Präventionsmaßnahmen in der Regel sehr viel mehr Ressourcen erfordern als selektive oder indikative Programme. Da sich universelle Präventionsmaßnahmen auch auf Personen richten, deren Risiko einer psychischen Erkrankung auch ohne Prävention gering wäre, ergibt sich für diese Programme zwangsläufig eine geringe Effektstärke. Maßgebliche Auswirkungen universeller Präventionsprogramme sind deshalb allenfalls langfristig zu erwarten (Cowen 2000). Da die für Präventionsprogramme verfügbaren Ressourcen begrenzt sind, wäre es ökonomisch nicht zu vertreten, diese vollständig für universelle Präventionsstrategien einzusetzen, da dann die Möglichkeit einer kurzfristig wirksamen Reduzierung der Inzidenz spezifischer Erkrankungen bzw. der Morbidität spezifischer Risikogruppen ungenutzt bliebe (Cowen 2000). Grundlage der selektiven Prävention ist die Identifizierung von Bevölkerungsgruppen, die ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
der Entwicklung psychischer Störungen aufweisen. Gleichzeitig müssen die Ursachen des erhöhten Risikos soweit bekannt und beeinflussbar sein, dass die Zielgrößen und Maßnahmen der Prävention eindeutig definiert werden können. Als Beispiel für eine erfolgreiche selektive Prävention von Störungen der frühkindlichen Entwicklung können Hausbesuchsprogramme (Home Visiting Programs) bei jugendlichen oder allein erziehenden Müttern, sowie Müttern mit problematischem sozioökonomischen Hintergrund angesehen werden (World Health Organization 2004). Kinder dieser Risikogruppen weisen ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich höheres Risiko einer späteren psychischen Erkrankung auf (Eckenrode et al. 2000; Felner et al. 2000; Olds et al. 1997; Olds et al. 2002; World Health Organization 2004). Als Ursache späterer psychischer Störungen wurden bei dieser Zielgruppe Risikoverhalten während der Schwangerschaft, fehlende soziale Unterstützung, fehlende Kompetenzen bei der Säuglings- und Kleinkindpflege sowie im Bereich der Eltern-Kind Interaktion identifiziert (Eckenrode et al. 2000; Felner et al. 2000; Olds et al. 1997; Olds et al. 2002; World Health Organization 2004). Als Ansätze zur Prävention wurden Hausbesuchsprogramme entwickelt, bei denen speziell ausgebildete Gemeindeschwestern oder Hebammen über einen Zeitraum von zwei Jahren regelmäßig Hausbesuche bei diesen Risikogruppen durchführten und dabei Informationen zur Säuglings- und Kleinkindpflege vermittelten und die Familien bei der Bewältigung spezifischer Problemsituationen unterstützten (Olds et al. 2002; World Health Organization 2004). Die Ergebnisse verschiedener Evaluationsstudien zeigen, dass derartige Programme sowohl das Risikoverhalten (Tabakkonsum) der Mütter während der Schwangerschaft als auch die Mutter/Kind Interaktion und die psychische Entwicklung des Kindes im Säuglingsalter günstig beeinflussen (Olds et al. 2002). Die Evaluation der Langzeiteffekte von Hausbesuchsprogrammen über einen Zeitraum von 15 Jahren zeigte darüber hinaus, dass Kinder in Familien, die an einem Hausbesuchsprogramm teilgenommen hatten, seltener von Missbrauch und Vernachlässigung betroffen waren, während die Mütter gleichzeitig in geringerem Umfang auf Wohlfahrtszahlungen angewiesen waren und geringere Kriminalitätsraten aufwiesen (Eckenrode et al. 2000; Olds et al. 1997). Kinder aus Familien geschiedener Eltern bilden eine weitere zentrale Risikogruppe für die Entwicklung psychischer Erkrankungen. Im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie konnten Wolchik et al. (Wolchik et al. 2002) zeigen, dass ein Gruppeninterventionsprogramm für Mütter und Kinder,
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welches auf der Grundlage lerntheoretischer und kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren die Verbesserung der Mutter Kind Beziehung, die Reduzierung von Konflikten zwischen den Elternteilen und die Verbesserung der Konfliktbewältigungskapazität fördert, zu einer signifikanten Reduzierung der Inzidenz psychischer Erkrankungen führt (Wolchik et al. 2002). Mittlerweile liegen eine Reihe weiterer Studien zu effektiven Präventionsstrategien für verschiede Risikogruppen und für unterschiedliche Entwicklungsstadien vor (Durlak & Wells 1997a; Durlak & Wells 1997b; Greenberg et al. 2001; Herrman 2005; World Health Organization 2004). In einer umfassenden Bestandsaufnahme der aktuellen Präventionsforschung kommt eine Arbeitsgruppe des National Institute of Mental Health (NIMH) jedoch zu dem Ergebnis, dass die epidemiologische Datengrundlage für eine umfassende Definition von Risikogruppen psychischer Erkrankungen bislang nicht ausreichend ist (National Advisory Mental Health Council Workgroup on Mental Disorder Prevention Research 2001). Als besonders problematisch wird das Fehlen von ausreichenden Daten zur Kombination und Interaktion genetischer und anderer biologischer, kultureller, geschlechts- und entwicklungsspezifischer Risikofaktoren sowie die fehlende Übertragung von Erkenntnissen der Grundlagenforschung in die Präventionsforschung angesehen (National Advisory Mental Health Council Workgroup on Mental Disorder Prevention Research 2001). Eine bislang im Rahmen der Präventionsforschung weitgehend vernachlässigte Risikogruppe bilden Kinder, bei denen ein oder beide Elternteile unter einer psychischen Erkrankung leiden. Kinder psychische kranker Eltern weisen ein erheblich höheres Risiko auf, selbst an einer psychischen Störung zu erkranken (Beardslee et al. 1998; Blanz et al. 1987) und bilden damit eine weitere wichtige Zielgruppe selektiver Präventionsprogramme (World Health Organization 2004). Obwohl mittlerweile relativ viel Informationen über die Mechanismen der nichtbiologischen Übertragung des Erkrankungsrisikos von Eltern auf ihre Kinder vorliegen (Beardslee et al. 1998; Brennan et al. 2003; Dawson et al. 2003; Edhborg et al. 2003; Hippwell et al. 2000), existieren im Vergleich zur Risikogruppe sozial deprivierter Mütter bislang nur wenig Evaluationsstudien zu Präventionsprogrammen. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Clarke et al. (Clarke et al. 2001; Clarke et al. 2002) und von Beardslee et al (Beardslee et al. 2003). Clarke et al untersuchten die präventive Wirksamkeit kognitiver Gruppentherapie bei jugendlichen Kindern von Eltern mit depressiven Erkrankungen. Allerdings wurden im Rahmen der bisher von den Autoren durchgeführten Studien nur Probanden einbezogen, die selbst bereits Symptome
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depressiver Störungen aufwiesen. Die Ergebnisse dieser Studien erweisen sich insofern als widersprüchlich, als die im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie (Clarke et al. 2001) nachgewiesene Wirksamkeit des Programms im Rahmen einer späteren Studie nicht repliziert werden konnte (Clarke et al. 2002). Eine der wenigen Untersuchungen zur Wirksamkeit von Präventionsprogrammen bei noch gesunden Kindern psychisch kranker Eltern bildet die Arbeit von Beardslee et al. (Beardslee et al. 2003). Die Autoren untersuchen die Wirksamkeit eines auf psychoedukativen und verhaltenstherapeutischen Elementen basierenden Einzel- sowie eines psychoedukativen Gruppenprogramms für Familien mit einem an Depression erkrankten Elternteil. Als Ergebnis finden die Autoren bei den untersuchten Kindern über einen Zeitraum von 2,5 Jahren eine Reduzierung subklinischer depressiver Symptome, wobei zwischen den Interventionsgruppen kleine Unterschiede der Symptomreduzierung zu verzeichnen waren (Beardslee et al. 2003). Da die Autoren keine Kontrollgruppe ohne Intervention in ihre Studie einbezogen haben, lässt sich die Reduzierung der Symptome nicht eindeutig auf die Intervention zurückführen (Beardslee et al. 2003). Bislang richtet sich die Mehrzahl der Maßnahmen zur selektiven Primärprävention psychischer Erkrankungen überwiegend an die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen. Für Menschen im Erwachsenenalter existieren demgegenüber kaum einschlägige Angebote. Beispiele für erfolgreiche Präventionsstrategien bilden Studien von Munoz et a. (Munoz et al. 1995), von Price et al. (Price et al. 1992) bzw. von Vinokur et al (Vinokur et al. 1995), die zeigen, dass zielgruppenorientierte Präventionsprogramme für spezifische Risikogruppen wie Arbeitslose oder Personen mit niedrigem Einkommen das Risiko depressiver Störung deutlich senken können (World Health Organization 2004).
Indikative Prävention Grundlage indikativer Prävention ist die frühzeitige Identifikation von subklinischen Anzeichen psychischer Störungen und die Durchführung von Interventionsmaßnahmen zur Verhinderung eines späteren Krankheitsausbruchs (Durlak & Wells 1998). Der Begriff der indikativen Prävention wird dabei in seiner Bedeutung weitgehend mit dem Begriff der Sekundärprävention gleichgesetzt (Durlak & Wells 1998). Die Abgrenzung zwischen selektiver und indikativer Prävention ist nicht immer eindeutig. So kommen Durlak & Wells in
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ihrer Metaanalyse von 130 Studien zur indikativen bzw. sekundären Prävention psychischer Erkrankungen zu dem Ergebnis, dass die Indikationsstellung für Präventionsmaßnahmen nur bei 38% der Studien mittels validierter Instrumente mit definierten cut-off Werten erfolgte, während bei den übrigen Studien zum Teil Kriterien herangezogen wurden, die ebenso als Kriterien für die Definition von Risikogruppen und damit für den Bereich der selektiven Prävention angewendet werden könnten (Durlak & Wells 1998). Hinsichtlich der für die indikative Prävention in Frage kommenden Problemgruppen wird allgemein zwischen externalisierten und internalisierten Anpassungsproblemen unterschieden. Externalisierte Probleme umfassen dabei insbesondere dissoziales, aggressives oder oppositionelles Verhalten, internalisierte Probleme umfassen subklinische Symptome von Angst oder Depression (Durlak & Wells 1998; Greenberg et al. 2001). In ihrer Metaanalyse finden Durlak und Wells, dass 38% der durchgeführten Studien im Bereich der internalisierten Probleme, 10% im Bereich der externalisierten Probleme und weitere 36% im Bereich der Kombination beider Symptomgruppen angesiedelt sind (Durlak & Wells 1998). Als Beispiel einer erfolgreichen indikativen Prävention zeigen McArdle et al. (McArdle et al. 2002), dass mit Hilfe einer zwölfwöchigen einstündigen Gruppentherapie die Inzidenz internalisierten und externalisierten Problemverhaltens bei verhaltensauffälligen Schülern über einen follow-up Zeitraum von 12 Monaten signifikant reduziert werden kann. In ähnlicher Form konnten Gillham et al. (Gillham et al. 1995) die Wirksamkeit eines kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierten zwölfwöchigen Gruppenprogramms zur Prävention depressiver Störungen bei Schülern mit erhöhten Werten auf einer kombinierten Depressions-Distress Skala demonstrieren. Im Rahmen eines prospektiven matched-pair Kontrollgruppendesigns können die Autoren zeigen, dass Kinder in der Experimentalgruppe über einen Zeitraum von 2 Jahren signifikant niedrigere depressive Symptomwerte aufwiesen als Kinder in der Kontrollgruppe (Gillham et al. 1995). Seligman et al. konnten die Wirksamkeit eines achtwöchigen Gruppenprogramms zur Prävention von Angststörungen und Depression bei Studenten mit negativen Attributionsstilen im Rahmen einer randomisierten kontrollierten follow-up Studie über 3 Jahre zeigen (Seligman et al. 1999). Neben diesen Beispielen liegen mittlerweile zahlreiche Belege für die Wirksamkeit indikativer Programme zur Prävention von internalisierten und externalisierten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen vor (Durlak & Wells 1998; Greenberg et al. 2001). Während insbesondere für den Bereich
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der Depression und der Angststörungen mittlerweile eine Reihe von bewährten Präventionsprogrammen vorliegen, erweist sich die Prävention psychotischer Erkrankungen bislang als deutlich schwieriger (Compton 2004). Ursache ist zum einen, dass einerseits wegen der relativ niedrigen Prävalenz von 1% Effekte universalpräventiver oder auch selektivpräventiver Strategien nicht nachweisbar sind (Cuijpers 2003), und dass andererseits für Maßnahmen zur indikativen Prävention bislang zu wenig Informationen über subklinische Risikoindikatoren mit einer entsprechend hohen Prädiktionsstärke und Möglichkeiten zu deren Beeinflussung vorliegen (Compton 2004; Häfner et al. 2004; Klosterkötter et al. 2001; McGrath 2003). In den letzten Jahren wurde deshalb die Forschung zur Früherkennung von Prodromalsymptomen schizophrener Erkrankungen intensiviert (Klosterkötter et al. 2001). Erste Versuche einer Frühbehandlung (early intervention) mit kognitiver Verhaltenstherapie oder niedrig dosierten atypischen Neuroleptika deuten zwar darauf hin, dass sich der Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung verzögern lässt (Häfner et al. 2004; Krstev et al. 2004; McGorry et al. 2002; Ruhrmann et al. 2005), wegen der relativ kurzen Dauer und der relativ geringen Fallzahlen der bisher vorliegenden Studien konnten bislang allerdings keine ausreichenden Belege für eine wirksame Reduzierung der Inzidenz oder der Prävalenz der Schizophrenie erbracht werden (Compton 2004; Häfner et al. 2004; Marshall & Lockwood 2003; Ruhrmann et al. 2005).
Tertiäre Prävention Die tertiäre Prävention zielt auf die Reduzierung der negativen Auswirkungen psychischer Erkrankungen. Durch die Fokussierung auf Menschen, bei denen bereits eine Erkrankung vorliegt, lässt sich die Tertiärprävention nur schwer vor der eigentlichen Behandlung trennen. Angesichts der häufig sehr gravierenden negativen Folgen psychischer Erkrankungen für die Lebensqualität und die berufliche bzw. die soziale Integration der Betroffenen kommt der Tertiärprävention im Gesamtkonzept der Prävention dennoch eine wichtige Rolle zu (Berger et al. 2004; Born & Becker 2004; Herrman 2005). In Abgrenzung von der Behandlung richtet sich die tertiäre Prävention insbesondere auf die langfristigen Folgen psychischer Erkrankungen. Im Mittelpunkt der tertiären Prävention müssen deshalb Maßnahmen stehen, die zu einer Reduzierung des Rückfall- und des Chronifizierungsrisikos beitragen und den Betroffenen bei
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der alltäglichen Bewältigung ihrer Erkrankung helfen. Vorrangig sind hierbei Maßnahmen zur Rückfallvermeidung bzw. zur sozialen und beruflichen Reintegration im Rahmen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung. Voraussetzungen einer wirksamen Tertiärprävention sind ein flächendeckendes wohnortnahes Angebot stationärer und ambulanter psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten, die Verfügbarkeit moderner therapeutischer Verfahren und Medikamente, ein flächendeckendes System abgestufter alltagspraktischer und psychosozialer Hilfsangebote und ein entsprechendes Angebot beruflicher Wiedereingliederungsmaßnahmen (Berger et al. 2004). Erfolgreiche Tertiärprävention ist allerdings nur dann gewährleistet, wenn die Inanspruchnahme psychiatrischer Maßnahmen für die Betroffenen und ihrer Familien keine stigmatisierende Wirkung nach sich zieht und wenn sowohl in der Bevölkerung als auch bei Arbeitgebern eine Bereitschaft zur Akzeptanz von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen besteht (Herrman 2005). Ein weiterer zentraler Aspekt der Tertiärprävention besteht in der engen Kooperation zwischen dem psychiatrischen bzw. psychosozialen Expertensystem und den betroffenen Patienten sowie ihren Familienangehörigen. Die im Rahmen der Rückfallprävention notwendige langfristige aktive Mitwirkung des Patienten am Behandlungsprozess lässt sich nur auf der Basis einer kooperativen Beziehung zwischen Arzt, Patient und Angehörigen dauerhaft gewährleisten. Maßnahmen zur Förderung des Krankheitsverständnisses und der individuellen bzw. familiären Möglichkeiten zur Rückfallprävention für Betroffenen und Angehörige haben sich als erfolgreich erwiesen und müssen feste Bestandteile des therapeutischen Angebots bilden. Eine wirksame Rückfallprophylaxe beginnt mit der Sicherstellung der Behandlungskontinuität an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Behandlung. Die Verbesserung der organisatorischen und administrativen Rahmenbedingungen dieses Übergangs bildet eine der zentralen Zukunftsaufgaben im Bereich der Tertiärprävention. Auch im Rahmen der Steigerung der tertiärpräventiven Effektivität kommt der Information der Allgemeinbevölkerung eine zentrale Funktion zu. So kann auch hier die Information über Anzeichen, Merkmale und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen zum Abbau von Unsicherheiten und Ängsten hinsichtlich der Inanspruchnahme von psychiatrischer Behandlung beitragen und dadurch die Rechtzeitigkeit und Kontinuität therapeutischer Maßnahmen fördern. Gleichzeitig kann eine derartige Aufklärung über psychische Erkrankungen in Verbindung mit Informationen über die Lebenssituation von betroffenen Menschen und ihren Familien die Toleranz und die Integrationsbereitschaft in der
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Allgemeinbevölkerung, aber auch bei Arbeitgebern und Arbeitskollegen erhöhen. Im Bereich der Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung müssen darüber hinaus neben den spezifischen Fähigkeiten und Ressourcen der Betroffenen insbesondere auch die wechselnden Anforderungen des Arbeitsmarktes berücksichtigt werden.
Schlussfolgerungen und Ausblick Angesichts der eingangs dargestellten Entwicklungen gehört die Intensivierung der Prävention psychischer Erkrankungen zu den zentralen sozial- und gesundheitspolitischen Zukunftsaufgaben (World Health Organization 2002; World Health Organization 2004; World Psychiatric Association 2003). Die vorliegenden Informationen zu den Einflussfaktoren der Entstehung psychischer Erkrankungen bilden eine sehr gute Grundlage für ein umfassendes Präventionskonzept, welches sowohl universelle als auch selektive, indikative und tertiärpräventive Maßnahmen umfasst (Felner et al. 2000; World Health Organization 2004). Die Ergebnisse einer großen Zahl von Evaluationsstudien bieten ein differenziertes Angebot von Interventionsprogrammen, deren zumindest kurzund mittelfristige Wirksamkeit gut belegt ist und die sowohl zielgruppen- als auch diagnosespezifische Präventionsansätze ermöglichen (Durlak & Wells 1997a; Durlak & Wells 1998; Greenberg et al. 2001; World Health Organization 2004). Trotz dieser optimistischen Ausgangssituation stehen der Umsetzung eines umfassenden Präventionskonzeptes noch eine Reihe von Hindernissen gegenüber, deren Abbau gegenwärtig eine wichtige Herausforderung für Politik und Wissenschaft bildet. Zu den wichtigsten Hindernissen einer Intensivierung der selektiven und auch der indikativen Prävention gehört zweifelsohne die Tatsache, dass gegenwärtig die epidemiologischen Grundlagen zur Bestimmung von Risikogruppen für spezifische Formen psychischer Erkrankung noch unzureichend sind. Zwar wurden mit der Erweiterung des Gesundheitssurveys von 1997 um die Erfassung psychischer Erkrankungen (Jacobi et al. 2004; Wittchen & Jacobi 2001) und mit der Beteiligung Deutschlands an der ESEMeD Studie (Alonso et al. 2004) wichtige Grundsteine zur Verbesserung des Wissens über die Verbreitung psychischer Erkrankungen in der deutschen Bevölkerung gelegt, für eine Eingrenzung von Zielgruppen z.B. für diagnosespezifische Präventionsmaßnahmen reichen diese jedoch nicht aus. Hierfür wären Langzeitstudien notwendig, wie es sie für den Bereich der Herz-Kreislauferkrankungen
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z.B. in Form der Framingham Studie seit mehr als 50 Jahren gibt. Vergleicht man die vorliegenden Erkenntnisse über die Risikofaktoren von Herz-Kreislauferkrankungen mit dem Kenntnisstand zur Depression, so zeigt sich, dass der Wert für den kombinierten Anteil bekannter Risikofaktoren am Erkrankungsrisiko (population attributable fraction) für Herz- Kreislauferkrankungen bei ca. 80%, für die Depression dagegen nur bei 5% liegt (Ezzati et al. 2003). Neben diesen Informationsdefiziten hinsichtlich der Risikofaktoren psychischer Erkrankungen kann allerdings auch das Wissen über die Wirkungen präventiver Maßnahmen keineswegs als ausreichend betrachtet werden. So wurde die Mehrzahl der bisher vorliegenden Evaluationsstudien zur Wirksamkeit von Präventionsprogrammen in den USA durchgeführt, gleichzeitig lag der Untersuchungszeitraum der meisten Studien bei weniger als drei Jahren (Greenberg et al. 2001). Es erscheint deshalb notwendig, die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen, die in den USA entwickelt und erprobt wurden, verstärkt auch in Deutschland bzw. im europäischen Kontext zu überprüfen. Weiterhin besteht ein Bedarf an Informationen über die langfristigen Wirkungen von Präventionsprogrammen auf die Entwicklung der Inzidenz und der Prävalenz psychischer Erkrankungen. Zur Gewinnung dieser Informationen wäre es notwendig, den zeitlichen Horizont von Evaluationsstudien gegenüber den bislang üblichen Studiendauern erheblich auszuweiten. Eine derartige Ausweitung der Untersuchungszeiträume würde es auch ermöglichen, die bislang weitgehend vernachlässigte gesundheitsökonomische Evaluation der Prävention psychischer Erkrankungen weiter voran zu treiben (Foster et al. 2003). Während für den Bereich der Prävention somatischer Erkrankungen mittlerweile eine Vielzahl von gesundheitsökonomischen Evaluationsstudien für alle Ebenen der Prävention vorliegen (Allsup et al. 2003; Field et al. 1995; Groer et al. 2003; Haddix et al. 2003; Leshno et al. 2003; Marks et al. 2003; Marshall & Rouse 2002; Pignone et al. 2004; Probstfield 2003; Rychlik et al. 2003), konzentriert sich die ökonomische Evaluation der Prävention psychischer Erkrankungen bislang weitgehend auf Programme zur Tabak-, Alkohol- und Drogenprävention (Clarke 2001; Crealy et al. 1998; Croghan et al. 1997; Fleming et al. 2000; Frei 2001; Kim et al. 1995; Mitchel et al. 1884; Plotnick 1994; Ranson et al. 2002; Secker-Walker et al. 1997; Song et al. 2002; Spoth et al. 2002; Stephens et al. 2002; Stevens et al. 2002; Tengs et al. 2001; Zarkin et al. 2001), wohingegen für andere ökonomisch ebenfalls sehr bedeutsame psychische Erkrankungen wie z.B. die depressiven Störungen allenfalls vereinzelte Beispiele (Valenstein et al. 2001) gesundheitsökonomischer Evaluationsstudien existieren. Neben der Intensivierung der
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epidemiologischen Forschung und der Analyse der Langzeiteffekte von Präventionsprogrammen bildet somit die gesundheitsökonomische Evaluation von Präventionsmaßnahmen einen dritten, zentralen Schwerpunkt der in naher Zukunft dringend notwendigen Forschungsaktivitäten.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
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473 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen und Einnahme von Sexualhormonen bei Frauen – Ergebnisse der Study of Health in Pomerania (SHIP)* Sabine Schwarz, Henry Völzke, Dietrich Alte, Wolfgang Hoffmann, Ulrich John, Martina Dören**
Abstract Hintergrund: In Deutschland besteht nach wie vor ein Mangel an evidenzbasierten Informationen auf dem Gebiet der Frauengesundheitsforschung in der Humanmedizin. Die vorliegende Untersuchung analysiert wichtige Charakteristika der Gesundheitsversorgung von Frauen anhand der Daten des Gesundheitssurveys »Study of Health in Pomerania« (SHIP). Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Inanspruchnahme gynäkologischer Behandlungen und Beratungen, die Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, die Lebenszeitprävalenz von gynäkologischen Operationen einschließlich Brustchirurgie und der Einnahme von Sexualhormonen. Material und Methoden: SHIP ist eine bevölkerungsrepräsentative Querschnittsstudie bei 20- bis 79-jährigen Frauen und Männern in Vorpommern. Im Rahmen eines computergestützten Interviews (CAPI) wurden 2186 Frauen bezüglich soziodemographischer Daten und spezifischen gesundheitlichen Bedingungen untersucht.
* Dieser Veröffentlichung liegt diese Publikation zugrunde:Schwarz S, Völzke H, Alte D, Hoffmann W, John U, Dören M (2005) Gynaecological health care utilization and use of sex hormones- the study of Health in Pomerania. HumReprod, im Druck, online publiziert: http://humrep.oxfordjournals.org/cgi/reprint/dei161v1 ** Martina.Dö
[email protected]
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Ergebnisse: An einer Krebsfrüherkennung nahmen 77,7% aller Frauen teil und 68,8% berichteten im letzten Jahr eine gynäkologische Praxis aufgesucht zu haben. Fast die Hälfte der Frauen hatte einen gynäkologisch-chirurgischen Eingriff. 67,7% der Probandinnen hatten jemals orale Kontrazeptiva (OC) angewendet. Der Anteil der Frauen über 40 Jahren, die im Laufe ihres Lebens menopausale Hormontherapie (MHT) einnahmen, lag bei 28,8%. In der Gruppe der OC-Anwenderinnen betrug die durchschnittliche Einnahmedauer 9 Jahre, in der der MHT-Anwenderinnen 5 Jahre. Diskussion und Schlussfolgerungen: Unsere Ergebnisse beschreiben bedeu-
tende Merkmale der medizinischen Versorgungssituation von Frauen in der Studienregion. Die Inanspruchnahme medizinisch – gynäkologischer Leistungen einschließlich Krebsfrüherkennung ist im internationalen Vergleich hoch. Auch die Anwendung von OC und MHT ist, ebenfalls im internationalen Vergleich, weit verbreitet. Schlüsselworte: Frauengesundheit, Krebsfrüherkennungsuntersuchung, orale Kontrazeption, menopausale Hormontherapie, gynäkologische Operationen
Angesichts wissenschaftlich nachgewiesener Risiken muss die Anwendung gerade von MHT kritisch betrachtet werden. Es wird deutlich, dass in Deutschland erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich frauenspezifischer Gesundheit und medizinischer Versorgung besteht. Gerade weil viele, auch ältere Frauen MHT einnehmen und dies über etliche Jahre, verlangen diese Anwendungsmuster eine Erklärung. Von großer Bedeutung wären hier populationsbasierte Studien, die das ganze Spektrum von gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Lebensphase von Frauen erfassen, die als »Wechseljahre« bezeichnet werden. Das alleinige Erfassen von Zeichen wie Hitzewallungen reicht hier sicher nicht aus. Nur wenn die Prävalenz häufiger gesundheitlicher Veränderungen in der Lebensphase ab dem etwa 50. Lebensjahr bekannt wäre und deren Auswirkungen für die gesundheitliche Lebensqualität, ließe sich eine belastbare Datenbasis gewinnen für wie viele Frauen z. B. eine Hormontherapie wegen Hitzewallungen sinnvoll sein könnte. Auch die Beweggründe von Gynäkologinnen und Gynäkologen, OC und MHT zu verschreiben sowie die Indikationsstellungen zu gynäkologischen Operationen sind zu hinterfragen.
475 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
Einleitung Obwohl in den zurückliegenden Jahren zunehmend Frauengesundheitsforschung in Deutschland betrieben wurde, gibt es noch immer Forschungsdefizite auf diesem Gebiet (BMFSFJ 2001). Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur in körperlich – biologischen Bedingungen, die die Gesundheit beeinflussen, sondern auch in ihrem Gesundheitshandeln sowie ihren Bedürfnissen an Versorgung bei Erkrankungen. Es gibt zuwenig evidenzbasierte Informationen über wichtige Aspekte der Gesundheitsversorgung von Frauen in Deutschland. Diese betreffen solche Bereiche wie die Inanspruchnahme medizinisch/gynäkologischer Versorgungseinrichtungen und Krebsfrüherkennung sowie die Anwendung von oralen Kontrazeptiva (OC) und menopausaler Hormontherapien (MHT). Bevölkerungsbezogene Angaben zur Anwendung von OC beschränken sich auf Auswertungen des Bundesgesundheitssurvey 1998 (Knopf u. Melchert 1999). Daten zur Einnahme von MHT sind auch im Rahmen der MONICA-Studie (Monitoring of Trends and Determinants in Cardiovascular Disease; Müller et al. 2002) und in einer multizentrischen europäischen Kohortenstudie [European Prospective Investigation into Cancer (EPIC); Banks et al. 2002] erhoben worden. Beide Studien wurden jedoch nicht für frauenspezifische Fragestellungen konzipiert. MONICA wurde ins Leben gerufen, um kardiovaskuläre Erkrankungen, vorwiegend bei Männern, zu untersuchen. Primäres Ziel von EPIC ist es, Zusammenhänge zwischen der Ernährung und der Entstehung von Krebs zu klären. Die vorliegende Untersuchung analysiert wichtige Charakteristika der Gesundheitsversorgung von Frauen anhand der Daten des Gesundheitssurveys »Study of Health in Pomerania« (SHIP) bezüglich (1) der Inanspruchnahme gynäkologischer Behandlungen und Beratungen sowie der Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, (2) der Prävalenz von gynäkologischen Operationen und (3) der Einnahme von OC und MHT.
Material und Methode Studiendesign SHIP ist eine populationsbezogene Querschnittsuntersuchung, durchgeführt in der Region Vorpommern mit dem Ziel, den Gesundheitszustand der Bevölkerung in Nordostdeutschland hinsichtlich bedeutsamer Krankheiten, potentiel-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
ler Risikofaktoren, möglicher Auswirkung chronischer Erkrankungen, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sowie sozialer und psychischer Faktoren repräsentativ zu erfassen. Für SHIP wurden 7008 Einwohner im Alter von 20 bis 79 Jahren aus den Datenbanken der Einwohnermeldeämter aus den Städten Greifswald, Stralsund und Anklam sowie aus 29 umgebenden Gemeinden zufällig ausgewählt. In den insgesamt zwölf 5-Jahres-Altersgruppen waren sowohl bei Frauen als auch bei Männern jeweils 292 Personen vertreten. Von den angeschriebenen Personen waren 615 verzogen, 126 bereits verstorben, und 1957 verweigerten die Teilnahme oder erschienen nicht zur Untersuchung. Somit nahmen von den 7008 Zielpersonen 4310 an der Studie teil. Sie wurden ausführlich über die Studie informiert und unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden nach Einholung eines positiven Votums der Ethik-Kommission der Universität Greifswald von Oktober 1997 bis Mai 2001 interviewt und medizinisch-diagnostisch untersucht. Eine detaillierte Beschreibung der Stichprobenziehung und der Erhebungsinstrumente ist bei John et al. (2001) zu finden. Studienpopulation, Erhebungsverfahren und untersuchte Variablen Insgesamt nahmen 2193 Frauen an SHIP teil. Der Altersdurchschnitt der Probandinnen betrug zum Untersuchungszeitpunkt 49,3 Jahre (SD = 16,2). Teil des jeweiligen Untersuchungsablaufes war ein computergestütztes Interview (CAPI). Bereiche des Interviews befassten sich mit soziodemographischen Merkmalen, Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen und Früherkennungsuntersuchungen, gynäkologischen Operationen, Menopausenstatus sowie der Einnahme von OC und MHT. Da sieben Frauen einer Teilnahme am Interview nicht zustimmten, konnten in der Analyse nur die Daten von 2186 Frauen berücksichtigt werden. In der Analyse wurden soziodemographische Faktoren anhand von Fragen zum Familienstand, Anzahl der lebenden Kinder, Dauer der Schulausbildung, Erwerbstätigkeit und des monatlichen Haushaltseinkommens ausgewertet. Die Anzahl der lebenden Kinder umfasst nicht nur die Anzahl leiblicher Kinder, sondern auch adoptierte und Pflegekinder. In Anlehnung an das ostdeutsche Schulsystem wurde die Dauer der Schulbildung in drei Gruppen eingeteilt: <10 Jahre, 10 Jahre und >10 Jahre. Die Variable Erwerbstätigkeit wurde anhand von vier Kategorien operationalisiert: erwerbstätig (Vollzeit oder Teilzeit), nicht erwerbstätig, dazu zählen hier auch Studierende, Personen mit Umschulungen und Berentungen / Pensionierungen sowie andere Formen von Erwerbstätig-
477 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
keit, z.B. Ausbildung, im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt oder Mutterschafts- bzw. Erziehungsurlaub. Das monatliche Haushaltseinkommen wurde in D-Mark erhoben und in Euro umgerechnet. Ein weiterer Auswertungsbereich beschäftigte sich mit dem Inanspruchnahme-verhalten medizinischer Leistungen. Die Probandinnen wurden gefragt, ob sie innerhalb der letzten 12 Monate eine gynäkologische Praxis aufgesucht haben. Zusätzlich wurde die Anzahl der ärztlichen Kontakte erhoben. Des weiteren wurde nach Teilnahme und Zeitraum (innerhalb der letzten 12 Monate) einer Krebsfrüherkennung gefragt. Im computerassistierten persönlichen Interview wurde anhand von Freitexten nach gynäkologischen Eingriffen und Operationen einschließlich Brustoperationen gefragt. Die selbstberichteten Angaben zu den gynäkologischen Operationen wurden post-hoc kategorisiert. Operationen, die den Uterus betreffen, z.B. die Entfernung von Myomen, Eingriffe an der Cervix, am Corpus, Konisationen, Kürettagen oder Entfernungen von Intrauterinpessaren, wurden unter der Kategorie Eingriffe an der Gebärmutter (ohne Hysterektomie) zusammengefasst. Die Kategorie Hysterektomie unterteilt sich in Operationen mit und ohne Adnexeingriff. In die Kategorie Adnexeingriffe (uni- oder bilateral) wurden Operationen an den Ovarien und / oder Tuben aufgenommen. Eine weitere Kategorie umfasst Operationen am Uterus, die im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft durchgeführt wurden. Diese unterteilt sich in vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft (Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt, Eileiter- und Bauchhöhlenschwangerschaften) sowie geburtshilfliche Operationen. Hierzu zählen Kaiserschnitt und vaginaloperative Entbindungen (Vacuumextraktion, Zangenentbindung). Brustoperationen wurden nach der Schwere bzw. Gutartigkeit der Erkrankung untergliedert. Weitere Kategorien betreffen vaginalchirurgische Eingriffe (Entfernung von Zysten oder Polypen), Sterilisation und Operationen mit unklaren selbstberichteten Diagnosen und nicht bezeichnetem Organ (Angaben umfassten Aussagen wie z.B. Unterleibsoperationen, Bauchspiegelung). Eine weitere Facette von Frauengesundheit betrifft die Erfassung des Menopausestatus und die Einnahme von Sexualhormonen wie OC und MHT. Grundlage zur Bestimmung des Menopausestatus war die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1996). Die WHO unterscheidet Frauen mit natürlicher und induzierter Menopause. Die natürliche Menopause wird definiert als permanentes Ausbleiben der Menstruation als Folge verminderter Hormonbildung in den Ovarien, d.h. es handelt sich hierbei um ein Ausbleiben der
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Regelblutung für mehr als 12 Monate ohne pathologischen oder physiologischen Grund. Das Ausbleiben der Menstruation, entweder bedingt durch eine chirurgische Entfernung der Eierstöcke oder durch andere ärztliche Maßnahmen, z.B. Chemotherapie, wird als induzierte Menopause bezeichnet. Für die vorliegende Untersuchung wurden auch Angaben zur Einnahme von OC und MHT sowie ihre jeweilige Anwendungsdauer untersucht. Die Analyse der Einnahmedauer von MHT beschränkt sich auf Frauen über 40 Jahre, unabhängig vom Menopausestatus. Statistische Analyse Die Ergebnisse werden deskriptiv dargestellt. Die Daten wurden mittels Gewichtung an die bekannte Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung angepasst (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 1999). Für metrische Variablen werden Median und Streuung (Minimum und Maximum) und für nominale Daten Prävalenzraten berichtet. Zur besseren Verständlichkeit und Interpretierbarkeit wurden die Daten nach 10-Jahres-Altersgruppen stratifiziert angegeben. Die Datenauswertung erfolgte mit der Statistiksoftware SPSS, Version 12 (SPSS GmbH Software, München).
Ergebnisse Soziodemographische Merkmale . Tabelle 1 gibt einen Überblick über soziodemographische Merkmale der befragten Frauen. Über 65% von ihnen waren zum Untersuchungszeitpunkt verheiratet. Ausnahmen bildeten die Frauen in der jüngsten Altersgruppe, 20–29 Jahre und die älteren Frauen >70 Jahre. Von den Unverheirateten lebten 28,8% mit einem Partner zusammen. Die Mehrheit der Frauen hatte zwei Kinder. Im Vergleich zu den älteren Frauen war die Zahl der kinderlosen Frauen bei den < 30jährigen besonders hoch. Nur 30,4% hatten Kinder. Die SHIP-Teilnehmerinnen gingen im Median zehn Jahre lang zur Schule. Die Dauer der Schulbildung war stark altersabhängig. Die jüngsten Frauen wiesen die höchste Schulbildung auf. 50,9% aller teilnehmenden Frauen waren in irgendeiner Form erwerbstätig. Unter den »Arbeitslosen« in der Altersgruppe 20–29 Jahre waren 49,5% Studenten. Fast alle Frauen über 60 Jahre bezogen Rente. Das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen lag zwischen 765 Euro und 2040 Euro, entsprechend der Ober- und Untergrenze der häufigsten Gruppe.
479 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
. Tabelle 1. Soziodemographische Charakteristika von 2186 Frauen (SHIP X/1997–V/2001)
a b c
d
einschließlich adoptierte und Pflegekinder arbeitslos: Studenten, Rentner, Umschüler und arbeitslose Personen andere Formen von Erwerbstätigkeit: Ausbildung, ABM sowie Mutterschafts- bzw. Erziehungsurlaub 1 DM entspricht 0.51 € (1500 DM = 765 € / 4000 DM = 2040 €)
Das Haushaltseinkommen lag bei den 30–39-Jährigen über dem Niveau der anderen Altersgruppen. Inanspruchnahme gynäkologischer Versorgung einschließlich Krebsfrüherkennungsuntersuchungen Über einen Besuch bei einer Gynäkologin / einem Gynäkologen im letzten Jahr berichteten 69,8% aller Probandinnen. Im Median gingen die Befragten einmal im Jahr in eine gynäkologische Praxis (. Abbildung 1). Betrachtet man nur die
480 D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 1. Besuch bei Gynäkologinnen und Gynäkologen und Anzahl der Arztkontakte innerhalb der letzten 12 Monate
481 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
Untergruppe der Frauen, die in den letzten 12 Monaten bei einer Frauenärztin / einem Frauenarzt waren (69,8% der Studienteilnehmerinnen), so suchten diese zweimal im Jahr die entsprechende Praxis auf. Über eine Teilnahme an irgendeiner Krebsfrüherkennungsuntersuchung, unabhängig vom Zeitpunkt, berichteten 77,7% der befragten Frauen; bei 72% der Frauen, die an mindestens einer Krebsfrüherkennung teilgenommen hatten, fand diese innerhalb des letzten Jahres vor der Befragung statt. Der Anteil von Frauen, die an einer Krebsfrüherkennung teilgenommen haben, war bei den 20–29jährigen und bei den ältesten Frauen besonders gering (. Abbildung 2). Gynäkologische Operationen Fast die Hälfte der Frauen wurde mindestens einmal gynäkologisch operiert (. Tabelle 2). Am häufigsten wurden Eingriffe am Uterus durchgeführt. Die . Tabelle 2. Prävalenzraten von selbstberichteten gynäkologischen Operationen einschließlich Brustoperationen
482 D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 2. Teilnahme an einer Krebsvorsorgeuntersuchung
483 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
niedrigste Prävalenzrate für eine Operation am Uterus lag in der Altersgruppe 20–29 Jahre (0,7%) vor und die höchste in der Altersgruppe 50–59 Jahre (19,3%). Keine Frau <30 Jahre berichtete über eine durchgeführte Hysterektomie. Bei fast 10% aller Frauen >50 Jahre wurde eine Hysterektomie mit oder ohne Entfernung der Adnexe durchgeführt. Besonders Frauen zwischen 50 und 59 Jahren waren davon betroffen (10,3%). Eine Operation wegen Mammakarzinom war besonders häufig bei Frauen >70 Jahre (5,1%). Eine Sterilisation wurde vor allem von Frauen in der Altersgruppe von 40–49 Jahren berichtet (15,6%). Bei den <30jährigen ließen 0,7% und bei den über 60-Jährigen nur 0,5% diese Operation durchführen. Orale Kontrazeptiva Die Mehrheit der Frauen (67,7%) nahm im Laufe ihres Lebens OC ein. Besonders beliebt ist »die Pille« bei Frauen <50 Jahren. (. Abbildung 3). In der Gruppe der OC-Anwenderinnen betrug der Median der Anwendung 9 Jahre (Minimum 1 Jahr, Maximum 34 Jahre). Der Median der Anwendung in der gesamten Studienpopulation betrug 5 Jahre. Im Altersgruppenvergleich wurde deutlich, dass Frauen zwischen 30–39 und 40–49 Jahren am längsten OC einnahmen (Median: 10 Jahre für beide Altersgruppen). Menopause und MHT Von den 1286 Frauen gaben 44,6% an, keine Regelblutungen zu haben, d.h. postmenopausal zu sein. Wie erwartet ist der Menopausetyp altersabhängig (. Abbildung 4). Das Menopausealter bei Frauen mit natürlicher Menopause betrug im Median 50 Jahre. In . Tabelle 3 ist die Anwendung von jeglicher Form der MHT bei Frauen >40 Jahren dargestellt. Am häufigsten und am längsten nahmen Frauen zwischen 50 und 59 Jahren MHT ein. MHT-Anwenderinnen >40 Jahre nahmen diese im Median 5 Jahre (Minimum 1 Jahr / Maximum 26 Jahre). Eine Einnahmedauer (jeweils Angaben zu jemaliger Anwendung) von 6–10 Jahren berichten 28,3% der Frauen in der Altergruppe 60–69 Jahre und eine Anwendung von MHT >10 Jahre 9,9%. In der Gruppe der >70-Jährigen nahmen 13,9% MHT für 6–10 Jahre und 8,3% schon >10 Jahre ein. Bei Frauen, die sowohl Erfahrung mit OC als auch mit MHT gemacht haben, betrug die mediane Einnahmedauer 9 Jahre (Minimum 1 Jahr, Maximum 40 Jahre).
484 D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 3. Anwendung von oralen Kontrazeptiva und Dauer der Anwendung
Krebsfrüherkennungsuntersuchungen 485
. Abb. 4. Menopausestatus (abhängig vom Alter)
486 D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 3. Anwendung von MHT und Dauer der Anwendung bei Frauen über 40 Jahren und älter (N = 1435)
487 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
Diskussion Unsere Ergebnisse liefern einen Überblick über die frauenspezifische medizinische Versorgung in der Studienregion. Mit den Ergebnissen können Aussagen zur Inanspruchnahme gynäkologischer Versorgungseinrichtungen und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sowie zur Anwendungshäufigkeit und Einnahmedauer von Sexualhormonen getroffen werden. Es wird deutlich, dass Frauen in Vorpommern eine hohe Lebenszeitprävalenz für gynäkologische Operationen einschließlich Mammachirurgie, OC und MHT haben. In Deutschland wird die medizinische Versorgung von Frauen hinsichtlich Krebsfrüherkennung, Verschreibung von OC und MHT sowie Schwangerschafts-vorsorge hauptsächlich von Gynäkologinnen und Gynäkologen übernommen (Hemminki u. Blondel 2001). Krebsfrüherkennungsuntersuchungen haben das Ziel, bösartige Erkrankungen möglichst früh zu entdecken, um eine effektive Therapie durchzuführen zu können; in Vorpommern nutzten über 70% der Frauen diese Möglichkeit. Obwohl die Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsmaßnahmen mit dem Alter abnimmt, ist die Bereitschaft der SHIP-Probandinnen an einer solchen Untersuchung teilzunehmen, im Vergleich zu anderen Studien, als hoch einzuschätzen. Schenck und Karsa (2001) berichten, dass 1996 in den neuen Bundesländern 47% der Frauen und in den alten Bundesländern 50% der Frauen an Früherkennungsuntersuchungen für das Cervixkarzinom teilnahmen. In der ehemaligen DDR stellten das Betriebsgesundheitssystem und die ambulanten Versorgungseinrichtungen, sogenannte Polikliniken, eine tragende Rolle für die medizinische Versorgung von erwerbstätigen Frauen dar. Betriebsärztliche Einrichtungen konnten auch gynäkologische Behandlungen durchführen. Das leicht zu nutzende Angebot an ärztlicher Versorgung und die Förderung präventiver Untersuchungen könnten eine Erklärung dafür sein, dass der Anteil der Frauen, die heute noch jährlich eine gynäkologische Praxis aufsuchen oder an einer Krebsfrüherkennungsuntersuchung teilnehmen, in der Studienregion besonders hoch ist. Die Datenlage zu gynäkologischen Operationen in Deutschland ist mangelhaft. Vergleichbare Angaben mit unserer Studie über die Wahrscheinlichkeit einer Hysterektomie, unabhängig von einem zusätzlichen Adnexeingriff, finden sich bei einer populationsbezogenen Studie aus Dänemark (Settness et al. 1997). In den Freitexten des computerassistierten Interviews fehlen in unserer Studie leider Informationen über mögliche Gründe, die zu einer Entfernung des Ute-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
rus und / oder der Ovarien / Tuben geführt haben. Es können daher keine Aussagen darüber getroffen werden, ob eine maligne oder benigne Erkrankung einer Hysterektomie vorausging. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Analyse betrifft die Anwendung von OC. Die Prävalenzrate der jemals stattgehabten Einnahme von OC (67,7%) ist in unserer Studienpopulation sehr hoch. Viele nationale und internationale epidemiologische Studien haben sich mit der Häufigkeit von OC-Anwendung befasst. Eine im Rahmen von MONICA in den Jahren 1993 und 1994 durchgeführte Studie zur Anwendungshäufigkeit von OC in 32 Studienpopulationen in 20 Ländern ergab, dass besonders in der ehemaligen DDR die Beliebtheit der »Pille« zur Verhütung hoch war (Lundberg et al. 2004). Es zeigte sich, dass in den neuen Bundesländern ein deutlich höherer Anteil der Frauen (63% der 25–34-Jährigen und 50% der 35–44-Jährigen) mit OC verhütete als in den alten Bundesländern und in anderen Ländern. Unsere Ergebnisse werden durch weitere Studien bestätigt. Eine Studie, die (1996/1997) in der Umgebung von Dresden durchgeführt wurde, ergab eine ähnlich hohe Prävalenzrate junger Frauen für OC (Hach et al. 2004). Auch Daten des Bundesgesundheitssurveys 1998 zur täglichen Anwendung ausgewählter Arzneimittelgruppen belegen, dass bei den Frauen im Alter zwischen 19 bis 45 Jahren OC das am häufigsten eingenommene Medikament ist. Unbestritten ist die OC-Einnahme eine verbreitete Methode der Kontrazeption. Gründe für die Beliebtheit der »Pille« sind in der vorliegenden Studie leider nicht erfragt worden. Die Anwendungshäufigkeit von MHT scheint nach den verfügbaren Vergleichsdaten bei unserer Studienpopulation höher zu sein als in anderen Bundesländern. Dabei muss beachtet werden, dass in unserer Studie nach ganz unterschiedlichen Hormonkombinationen gefragt worden ist. Aus einem Vergleich des Verordnungsspektrums geht hervor, dass Kombinationspräparate, d.h. Kombination von Östrogen mit einem Gestagen, die am meisten verschriebenen MHT-Präparate in Deutschland sind (Schwabe u. Rabe 2004). Eine Differenzierung nach Altergruppen in einem bevölkerungsbasierten Survey in Bremen ergab, dass bei 45–49-jährigen 9,5%, bei 50–54-jährigen 25,4%, bei 55–59jährigen 34,4%, bei 60–64-jährigen 32,3%, und bei 65–69-jährigen 20,9% der Frauen diese Kombinationspräparate einnahmen (Greiser et al. 2002). Niedrigere Prävalenzraten für Kombinationspräparate in den selben Altersgruppen (12,4%, 17,8%, 17,7%, 7,8% und 1,4%) wurden bei MONICA berichtet (Müller et al. 2002). In einer dritten Studie, EPIC, wurde die Anwendung aller systemischen MHT-Präparate bei etwa 53% bei Frauen im Alter zwischen 45 und
489 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen
64 Jahren festgestellt (Banks et al. 2002). Die Ergebnisse von EPIC weisen darauf hin, dass in Deutschland die Einnahmehäufigkeit von MHT im Vergleich mit sechs anderen europäischen Ländern am höchsten ist. Unsere vorgestellten regionalen Studienergebnisse zur Einnahme von MHT sind vergleichbar mit Studien aus Großbritannien, Schweden und Norwegen (Million Women Collaborators 2002, Li et al. 2000, Bakken et al. 2004) sowie mit amerikanischen Daten (Hersh et al. 2004). Demnach haben in der USA 33% aller Frauen zwischen 50 und 74 Jahren Erfahrung mit MHT. Neben der Erfassung der Häufigkeit der MHT-Anwendung ist auch die Einnahmedauer von MHT ein wichtiger Aspekt der medizinischen Versorgung der weiblichen Bevölkerung. In unserer repräsentativen Erhebung lag die mediane Einnahmedauer bei 5 Jahren in der gesamten Studienpopulation und bei Frauen, die vorher OC genommen haben, bei 9 Jahren. Die erhöhte Anwendungshäufigkeit von MHT in letzterer Gruppe ist durch eine Vielzahl von Studien belegt (Million Women Study Collaborators 2002, Müller et al. 2002, Bromley 2002). Unsere Ergebnisse zur Anwendungsdauer von MHT stimmen mit denen der Bremer Studie (5–6 Jahre bei Frauen zwischen 45 und 54 Jahren) sowie mit Daten aus Großbritannien und Norwegen überein (Million Women Study Collaborators 2002, Bakken et al. 2004). Im Rahmen der KORA-Studie (Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg) wird angegeben, dass 32,6% der aktuellen Anwenderinnen 5–9 Jahre und 42.9% sogar mehr als 10 Jahre lang MHT eingenommen haben (Löwel et al. 2003). Im Gegensatz dazu stehen Daten aus Schweden (Li et al. 2000). Aufgrund der Definition einer Langzeitanwendung sind die schwedischen Ergebnisse allerdings schwer mit Ergebnissen einer umfangreichen amerikanischen Kohortenstudie (Women’s Health Initiative Observational Study) zu vergleichen (Pradhan et al. 2004), in dieser Studie nahmen zwei Drittel aller Frauen MHT länger als 4 Jahre ein. Kenntnisse über die Häufigkeit, Intensität und Dauer sogenannter menopausaler Beschwerden, die oft als Grund für die Einnahme von MHT genannt werden, sind lückenhaft. In Deutschland fehlen repräsentative epidemiologische Studien zu diesem Thema. Vermutungen, dass die verbreitete Anwendung von MHT allein auf die Vorbeugung und Verminderung menopausaler Beschwerden zurückzuführen ist, sind letztendlich spekulativ. In der Vergangenheit wurde MHT nicht nur zur Prophylaxe von Osteoporose empfohlen, sondern sollte auch chronische Alterserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Morbus Alzheimer verhindern. Diese Hypothese wird durch steigende Verschreibungszahlen seit 1985 (Schwabe u. Rabe 2004) und durch
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
den Rückgang der Verordnungen nach Veröffentlichungen der Ergebnisse der WHI – und anderen wesentlichen Studien sowie der darauffolgenden neuen Therapieempfehlungen gestützt. Es ist außerdem möglich, dass Frauen, die eine gynäkologische Praxis aufgesucht haben, eine höhere Verordnungswahrscheinlichkeit für OC und MHT haben, als Frauen, die nicht bei einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen waren. Die Art der Aufklärung von Frauen über Nebenwirkungen und Risiken durch Ärztinnen und Ärzte beeinflussen die Verbreitung von MHT (Heitmann et al. 2005). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Frauen im Alter zwischen 20 und 79 Jahren in Vorpommern im Vergleich mit anderen europäischen Ländern einen hohen Anteil von OC- und MHT-Nutzerinnen aufweisen. Die SHIP-Probandinnen berichten zu fast 50% von gynäkologischen Operationen (Lebenszeitprävalenz). Die Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen liegt über dem Bundesdurchschnitt. Weitere Studien und Analysen sind notwendig, um Determinanten der OC- und MHT – Einnahme sowie Ursachen für chirurgisch-gynäkologische Eingriffe zu bestimmen. Obwohl in den letzten Jahren ein Umdenken im Gesundheitswesen hinsichtlich der Frauengesundheit zu beobachten ist, besteht Aufklärungsbedarf über Risiken und Nutzen von Sexualhormonen und zur Indikationsstellung gynäkologischer Operationen. Angesichts der hohen Anzahl an operativen Eingriffen stellt sich die Frage, ob im Vorfeld alle alternativen Behandlungsmethoden ausgeschöpft worden sind. Die Entscheidung für einen Eingriff kann durch Unkenntnis alternativer Behandlungsmöglichkeiten seitens der indikationsstellenden Ärztinnen und Ärzte bedingt sein oder dadurch, dass einer bestimmten Methode der Vorzug gegenüber einer anderen gegeben wird, sowohl seitens der Ärzteschaft als auch seitens der Patientinnen (Schaffer u. Word 2002). Anhand unserer Daten ist es leider nicht möglich, Aussagen über etwaige Behandlungen zu machen, die einer Operation vorausgegangen sein mögen. Laut Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland (BMFSFJ 2001) ist der Anteil von Krebsdiagnosen bei den meisten Eingriffen, mit Ausnahme der Brustoperationen, sehr gering. Unsere Ergebnisse legen nahe, die Versorgungsqualität gynäkologischer Erkrankungen eingehender als bisher zu analysieren, um die Durchführung von Operationen auf das erforderliche Minimum im Sinne von »best practice« zu reduzieren. Der ärztlichen Fortbildung kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu. Die Beliebtheit von OC als Verhütungsmethode in Vorpommern könnte sowohl durch die DDR-Vergangenheit bedingt als auch eine Folge der sozialen
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und wirtschaftlichen Veränderungen nach der Wende sein. Dass die Kinderlosigkeit sowohl in den alten und in den neuen Bundesländern nach der Wende zunahm, bestätigt eine Vielzahl von demographischen Analysen. Im Rahmen unserer Studie bleibt offen, welche Gründe die SHIP-Teilnehmerinnen für die Anwendung von OC und anderen Verhütungsmittel hatten. Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen Familienplanung und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren nicht Gegenstand unserer Studie. Die weit verbreitete Einnahme und oft lange Anwendungsdauer von MHT stellen aus unserer Sicht ein Problem für Public Health dar. Informationen aus populationsbezogenen Studien in Deutschland über die Häufigkeit von sogenannten Wechseljahrsbeschwerden wie Hitzwallungen und Schweißausbrüche, urogenitale Beschwerden oder andere (körperliche) Anzeichen, die mit Veränderungen in den Wechseljahren zusammenhängen, fehlen (Agency for Healthcare Research and Quality 2005). Dies bedeutet, das wir derzeit nicht erklären können, wie viele Frauen aufgrund von Wechseljahresbeschwerden MHT einnehmen, wie diese Gesundheit und Wohlbefinden beeinflusst, und welche Determinanten entscheidend sind, warum Frauen MHT anwenden oder nicht. Wir vermuten, dass die Verordnung von MHT nicht nur aufgrund von menopausalen Beschwerden wie Hitzewallungen erfolgt, sondern auch ein präventives Ziel im Sinne des »gesunden Alterns« verfolgt. Diese Thesen werden gestützt durch eine Befragung von Gynäkologinnen und Gynäkologen in Berlin (Jantke et al. 2003), der zufolge MHT nicht nur zur Linderung von vasomotorischen Symptomen und zur Prävention von Osteoporose verschreiben wurde, sondern auch um der Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit entgegenzuwirken, eine Inkontinenz zu verhindern und zur Verbesserung der Sexualität beizutragen.
Ausblick Es wird deutlich, dass in Deutschland erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich frauenspezifischer Gesundheit und medizinischer Versorgung besteht. Zu beantworten sind Fragen zu den Erwartungen von Frauen an OC und MHT gleichermaßen. Gerade weil viele, auch ältere Frauen MHT einnehmen und dies über etliche Jahre, verlangen diese Anwendungsmuster eine Erklärung und eine Untersuchung hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Auswirkungen. So erlangen
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
bekannte Risiken einer Hormonanwendung wie Brustkrebs im Kontext dieser hier dargestellten Ergebnisse eine neue Qualität, da die in Deutschland häufigste Anwendungsform, die Östrogen-Gestagen-Therapie, mit einem höheren Brustkrebsrisiko als die Östrogen-Monotherapie verbunden ist (Greiser et al. 2005). Dieses Risiko steigt mit der Länge der Anwendungsdauer. Von großer Bedeutung wären hier populationsbasierte Studien, die das ganze Spektrum gesundheitlicher Beeinträchtigungen in der Lebensphase von Frauen erfassen, die als »Wechseljahre« bezeichnet werden. Das alleinige Erfassen von Zeichen wie Hitzewallungen reicht hier sicher nicht aus (Melby et al. 2005). Nur wenn die Prävalenz häufiger gesundheitlicher Veränderungen in der Lebensphase ab dem etwa 50. Lebensjahr bekannt wäre, und deren Auswirkungen für die gesundheitliche Lebensqualität, ließe sich eine belastbare Datenbasis gewinnen für wie viele Frauen z. B. eine Hormontherapie wegen Hitzewallungen sinnvoll sein könnte. Auch die Beweggründe von Gynäkologinnen und Gynäkologen, OC und MHT zu verschreiben, sowie die Indikationsstellungen zu gynäkologischen Operationen sind zu hinterfragen, aus diesen Erkenntnissen ließen sich gezielte Fortbildungsmaßnahen ableiten. Maßnahmen zur Gesundheitsförderung von Frauen und Strategien zur Senkung der Anwendungshäufigkeit von MHT sind gefordert, die sowohl Fachärztinnen und Fachärzte, die weibliche Bevölkerung und die allgemeine Öffentlichkeit einschließen.
Danksagung Diese Veröffentlichung wurde gefördert vom Klinischen Forschungszentrum Frauengesundheit der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Sie ist entstanden in einer Kooperation mit dem Forschungsverbund Community-Medicine (FVCM) der Universität Greifswald. Er wird gefördert von dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (Förderkennzeichen ZZ9603), dem Kultusministerium und dem Sozialministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Der FVCM umfasst mehrere Projekte, die Daten aus einer Basisstudie, der Study of Health in Pomerania analysieren.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
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Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen: Zum wechselseitigen Einfluss von Strategien der Krankheitsbewältigung, Depression und Sozialer Unterstützung Eike Fittig, Johannes Schweizer, Udo Rudolph*
Abstract Wir wissen, dass chronisch erkrankte Patienten mit höherer Wahrscheinlichkeit an Depression leiden, und dass depressive Personen umgekehrt auch mit erhöhter Wahrscheinlichkeit chronisch erkranken. Auf der Basis eines gemeinsamen Projekts von TU Chemnitz und Klinikum Chemnitz untersuchen wir anhand von mehr als 400 chronisch erkrankten Patienten, worauf dieser Zusammenhang zurückzuführen ist. Insbesondere nehmen wir an, dass depressive Personen auf ungünstigere Formen der Krankheitsbewältigung zurückgreifen und subjektiv ein geringeres Ausmaß an sozialer Unterstützung erhalten. Aufgrund von Regressionsanalysen lässt sich innerhalb der vorliegenden Studie die kausale Bedeutung dieser verschiedenen Faktoren der Krankheitsbewältigung und sozialen Unterstützung erfassen. Die Ergebnisse bestätigen, dass die geringere Lebenszufriedenheit bei depressiven, chronisch erkrankten Patienten tatsächlich auf ungünstigere Formen der Krankheitsbewältigung und subjektiv geringere soziale Unterstützung zurückzuführen ist. Die Ergebnisse werden diskutiert im Hinblick auf zukünftige Maßnahmen zur Sekundärprävention, insbesondere (1) günstige Formen der Krankheitsbewältigung; (2) etwaige zukünftige Interventionen im medizinischen Bereich sowie (3) im sozialen Kontext von chronisch erkrankten Patienten. * e-mail:
[email protected] Wir danken Frau Eva-Maria Kuntz sehr herzlich für ihre Unterstützung bei der Datenerhebung.
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Schlüsselworte: Lebenszufriedenheit, chronische Erkrankungen, Depression,
Sekundärprävention
Einleitung In der vorliegenden Arbeit wird am Beispiel von koronaren Herzerkrankungen und Diabetes mellitus der negative Einfluss einer depressiven Symptomatik auf die subjektive Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen untersucht. Beide Arten chronischer Erkrankungen sind nicht nur in der Allgemeinbevölkerung hoch prävalent und kostenintensiv, sondern ein sehr hoher Anteil von Patienten1 mit koronaren Herzerkrankungen oder Diabetes mellitus ist zudem von einer depressiven Symptomatik betroffen.2 Obwohl die folgenschweren Auswirkungen einer Depression auf den Krankheitsverlauf, die Rehabilitation und die verminderte Lebensqualität bei Patienten mit besagten Erkrankungen als empirisch abgesichert gelten, existieren zum jetzigen Zeitpunkt keine Arbeiten, die diesen negativen Einfluss hinreichend erklären können. In der vorliegenden Arbeit soll daher die Hypothese geprüft werden, dass die von depressiven Patienten berichtete geringere subjektive Lebenszufriedenheit (a) auf die Nutzung ungünstiger Krankheitsverarbeitungsmechanismen3 sowie (b) auf ein geringeres Ausmaß und eine geringere Qualität wahrgenommener Sozialer Unterstützung zurückzuführen ist. Wir nehmen an, dass bei Patienten mit chronischen Erkrankungen Formen der Krankheitsbewältigung sowie das Ausmaß und die Qualität der wahrgenommenen sozialen Unterstützung als Mediatoren (kausal vermittelnden Variablen) zwischen Depressivität und subjektiver Lebenszufriedenheit fungieren (. Abbildung 1). Nach Angaben der World Health Organisation (WHO) starben im Jahr 2002 weltweit 7,22 Millionen Menschen an koronaren Herzerkrankungen (WHO, 2004). Somit sind koronare Herzerkrankungen die häufigste Todesur-
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Die Bezeichnung »Patienten« steht im Folgenden sowohl für männliche Patienten als auch weibliche Patienten. Die Begriffe »Krankheitsbewältigung«, und »Krankheitsverarbeitung« werden im Folgenden synonym verwendet. Die »Satisfaction with Life Scale« wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt dem Untersuchungsmaterial beigefügt, so dass für Berechnungen mit Werten dieser Skala lediglich ein Datensatz von N = 292 zu Grunde liegt.
497 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
. Abb. 1. Mediatormodell
sache in Europa und im Jahr 2000 für beinahe 2 Millionen Todesfälle verantwortlich (WHO, 2004). Das gleiche gilt für die USA, hier starben 2002 cirka eine halbe Million Menschen an koronaren Herzerkrankungen (American Heart Association, 2005). Allein die direkten Kosten für das Gesundheitssystem der Europäischen Union, die durch koronare Herzerkrankungen hervorgerufen wurden, beliefen sich dabei im Jahre 2003 auf 23 Milliarden Euro (British Heart Foundation, 2005). Für Diabetes mellitus berichtet die International Diabetes Federation (IDF) nicht weniger besorgniserregende Zahlen: 194 Millionen Menschen sind weltweit an Diabetes mellitus erkrankt (International Diabetes Federation, 2005). In den USA trifft die Diagnose Diabetes mellitus auf 16 Millionen Menschen und in Europa auf 48 Millionen Menschen zu (International Diabetes Federation, 2005). Diabetes mellitus ist damit weltweit die häufigste Stoffwechselerkrankung. Die Prävalenz von Depression liegt in den USA etwa bei 9.5 % (Blehar & Oren, 1997) und in Europa bei 7 % (Lépine, Gastpar & Mendlewicz, 1997). Im Jahre 2020, so Schätzungen der WHO, wird Depression weltweit die häufigste Erkrankung sein.
Depression in Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen Die Erforschung der Beziehung von Depressivität und Chronischen Erkrankungen hat eine lange Geschichte (Fuller, 1935; Malzberg, 1937). Mittlerweile belegen zahlreiche Studien die erhöhte Prävalenz von Depression sowohl bei koronaren Herzerkrankungen als auch bei Diabetes mellitus. Die Angaben zu Häufigkeiten für Depression bei Koronaren Herzerkrankungen liegen dabei zwischen 14 % und 47 % (Blumenthal et al., 2003; Lespérance, Frasure-Smith & Talajic, 1996; Frasure-Smith, Lespérance & Talajic, 1993; Schleifer et al., 1989).
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Bei Patienten mit Diabetes mellitus lassen sich ähnlich hohe Prävalenzen für Depression finden: Anderson et al. (2001) und Gavard et al. (1993) berichten in den von ihnen vorgelegten Metaanalysen von Prävalenzen zwischen 9 % und 60 %. Die hohen Bandbreite dieser Angaben lässt sich auf zwei Ursachen zurückführen: Einerseits berücksichtigen einige Studien nur schwere Depressionen, andere dagegen auch eine milde depressive Symptomatik, und andererseits lässt sich ein Einfluss der unterschiedlichen Diagnoseinstrumente belegen. Die Prävalenzen von Depression bei Patienten mit koronaren Herzerkrankungen beziehungsweise Diabetes mellitus liegen demzufolge um ein Vielfaches über denen der Normalbevölkerung. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese erhöhten Prävalenzen auf zwei Wegen zustande kommen: Zum einen ist (A) Depression sowohl für koronare Herzerkrankungen als auch für Diabetes mellitus ein Risikofaktor, zum anderen kommt es (B) zu einer erhöhten Inzidenz von Depression bei Patienten mit diesen Erkrankungen. Betrachten wir zunächst am Beispiel von Koronaren Herzerkrankungen und Diabetes mellitus die erhöhte Wahrscheinlichkeit depressiver Personen, eine chronische Erkrankung zu erleiden (Zusammenhang A): Jiang, Krishnan und O’Connor (2002) berichten in ihrem Überblicksartikel, dass das Risiko, eine koronare Herzerkrankung zu erleiden, bei Rauchern ähnlich hoch wie bei depressiven Personen sei. Das relative Risiko von Personen mit einer depressiven Symptomatik, an einer koronaren Herzerkrankung zu erkranken, liegt in den dreizehn vorliegenden Längsschnittstudien mit insgesamt 44032 Patienten zwischen 1.05 und 3.9 (Jiang et al., 2002). Die Zahl 3.9 bedeutet dabei, dass depressive Personen beinahe viermal häufiger eine koronare Herzerkrankung erleiden als nichtdepressive. Bei Patienten mit Diabetes mellitus wurde Depression in verschiedenen Längsschnittstudien ebenfalls als signifikanter Risikofaktor identifiziert (Everson-Rose et al., 2003; Kawakami, Tkatsuka, Shimuza, & Ishibashi, 1999; Eaton, Armenian, Gallo, Pratt & Ford, 1996). Die erhöhte Inzidenz von Depression bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ist ebenfalls unzweifelhaft belegt (Zusammenhang B): Bei koronaren Erkrankungen berichteten dies beispielsweise Frasure-Smith und Lesperance, (2003) sowie Lyness King, Conwell, Cox und Caine (2000). Weiterhin wiesen Palinkas, Barret-Connor und Wingard (1991) nach, dass Patienten mit Diabetes mellitus eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, eine depressive Symptomatik zu entwickeln. Die Autoren berichten eine 3.7 mal höhere Prävalenz von Depression bei Patienten mit einer schon länger zurück liegenden Diabetesmellitus-Diagnose im Vergleich zu einer erst kürzlich gestellten Diagnose.
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Diese Befunde wurden von Rajala, Keinaemen-Kuikaanniemi und Kivelae (1997) bestätigt.
Konsequenzen von Depression bei chronischen Erkrankungen Die Folgen von Depression in Zusammenhang mit koronaren Erkrankungen und Diabetes mellitus sind außerordentlich schwerwiegend. Bei Patienten mit koronaren Erkrankungen wird dies besonders in der erhöhten Mortalität von depressiven im Vergleich zu nicht-depressiven Patientengruppen deutlich. Jiang et al. (2002) listen in ihrem Überblicksartikel die Ergebnisse aus 11 Längsschnittstudien auf. Demzufolge liegt das relative Mortaliätsrisiko von depressiven im Vergleich zu nicht-depressiven Herz-Patienten zwischen 2.3 und 7.5. Auch hier können Schwankungen zum einen durch die verschiedenen Diagnose-Instrumente und zum anderen durch den unterschiedlich langen Betrachtungszeitraum erklärt werden. Depressive Patienten mit koronaren Erkrankungen kehren zudem seltener an ihren Arbeitsplatz zurück (Lloyd & Cawley, 1983) und haben generell größere Schwierigkeiten, in ihr vorheriges Leben zurück zu finden (Burg, Benedetto, Rosenberg & Soufer, 2000). Weiterhin zeigen Rehabilitationsprogramme bei depressiven Patienten nach koronaren Herzerkrankungen geringeren Erfolg als bei nicht nicht-depressiven Patienten (Glazer, Emery, Frid & Banyasz, 2002), was auf die geringere aktive Mitarbeit von depressiven Patienten während der Rehabilitation zurückgeführt wird (Wang et al., 2002). Im Rahmen der Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus wird immer wieder der ungünstigere HbA1c-Status depressiver Patienten (relativ zu nicht-depressiven Diabetes-Patienten) thematisiert. Der HbA1c-Wert gibt den prozentualen Anteil an glykiertem Hämoglobin an und ist somit der wichtigste Indikator für Therapieerfolg bei Patienten mit Diabetes mellitus. Lustman et al. (2000) berichten in ihrer Metaanalyse (auf der Basis von insgesamt 28 Studien) von kleinen bis mittleren Effekten für den Einfluss von Depression auf den HbA1c-Status bei Kontrolle sämtlicher Störvariablen. Außerdem stellt Depression ein stark erhöhtes Risiko für das Auftreten von mit Diabetes mellitus assoziierten Komplikationen, wie Makroangiopathie, Mikroangiopathie oder Retinopathie dar. (De Groot, Anderson, Freedland, Clouse & Lustmann, 2001; Black, 1999). Des Weiteren fanden sich übereinstimmend sowohl bei an koronaren Herzerkrankungen (Lane et al., 2001; Mayou, 2000; Steward et al, 1989) als auch bei
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an Diabetes mellitus Erkrankten (Talbot & Nouwen, 2000; Talbot, Nouwen, Gingras, Belanger & Audet, 1999; Connell, Davis, Gallant & Sharpe, 1994) eine konsistent niedrigere subjektive Lebensqualität beziehungsweise Lebenszufriedenheit für jene Patienten, die auch depressive Symptome aufwiesen. Die an dieser Stelle beschriebenen Zusammenhänge verdeutlichen auch, dass ein sehr hoher Anteil der Betroffenen von den negativen Folgen einer depressiven Symptomatik in Mitleidenschaft gezogen wird, und zwar noch über die an sich schon vorhandene Beeinträchtigung durch die chronische Erkrankung hinaus.
Ziele der vorliegenden Untersuchung Es gibt bislang zahlreiche Studien, die sich mit Auswirkungen einer depressiven Symptomatik bei Patienten mit Diabetes mellitus und koronaren Herzerkrankungen befassen – jedoch existiert nur eine geringe Anzahl an Studien, die den Versuch unternehmen, die genauen Wirkmechanismen von Depressivität bei Patienten mit chronischen Erkrankungen zu identifizieren. Aus dem medizinischen Bereich stammen einige Arbeiten, die sich mit biologischen Interaktionen von Depression und koronaren Herzerkrankung beziehungsweise Diabetes mellitus befassen; eine Übersicht geben Musselman, Evans und Nemeroff (1998) für koronare Herzerkrankungen sowie Musselman, Betan, Larsen & Phillips (2003) für Diabetes mellitus. Bisher wurden jedoch lediglich Hypothesen aufgestellt, deren Gültigkeit noch nicht hinlänglich untersucht ist. Auch wenn in der psychologischen Forschung verschiedene kausal wirksamen Faktoren (Mediatoren) postuliert werden, die die oben beschriebenen Auswirkungen auch erklären können (siehe etwa Carney & Freedland, 2003; Joynt, Whellan & O‹Connor, 2003; Kaholokula, Haynes, Grandinetti, & Chang, 2003), existieren hierzu bislang noch keine empirischen Studien. Um die Wirkung von Depression bei chronischen Erkrankungen besser zu verstehen, betrachten wir daher zunächst einige psychologische Auswirkungen einer depressiven Symptomatik. Wir wissen aus früheren, allgemein-psychologischen Forschungsarbeiten zur Depression, dass selbst eine milde depressive Symptomatik mit zahlreichen kognitiven und emotionalen Veränderungen einhergeht. Hierzu gehören ein negatives Selbstbild (Beck, 1974), eine negative Welt- beziehungsweise Zukunftssicht (Beck, 1974), unrealistische Überzeugungen und Erwartungen (Ellis, 1977), eine vermehrte Anzahl negativer im Vergleich zu positiven Gedanken
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(Lewinsohn, Larson & Munoz, 1982), und ein subjektiver Kontrollverlust (Seligmann, 1974). Weiterhin schreiben Depressive die Verantwortung für negative Ereignisse in höherem Maße sich selbst zu (Abramson, Seligman & Tesadale, 1978), bestrafen sich selbst mehr und belohnen sich weniger (Rehm, 1977), tendieren dazu, neutrale Ereignisse ins Negative zu verzerren (Werner & Rehm, 1977), und erinnern sich an unangenehme Ereignisse weit besser als an angenehme Erfahrungen (Teasedale, 1982). Von zahlreichen Autoren, so auch Beck (1974) und Seligman (1975), werden diese kognitiven Veränderungen als Ursache und nicht als Folge der Depression gesehen, obwohl die Kausalrichtung dieses Zusammenhangs auch bereits in Frage gestellt wurde (z. B. Brewin, 1985). Hautzinger (1983) hat jedoch in einer richtungweisenden Längsschnittstudie zu dieser Fragestellung gezeigt, dass die genannten kognitiven Veränderungen eben nicht die Ursache, sondern die Folge einer depressiven Symptomatik sind. Im Einklang mit diesen Befunden fanden Johnson, Metalsky und Rabkin (2000) in ihrer Längsschnittstudie zur Entstehung einer Depression bei Patienten mit HIV ebenfalls keinen Einfluss der genannten kognitiven Faktoren. Das von Hautzinger (1983) sowie Lewinsohn, Hoberman und Hautzinger (1985) entwickelte integrative Modell der Depression legt nahe, dass es neben den kognitiven auch zu emotionalen und interpersonalen Veränderungen sowie zu Änderungen im Verhalten kommt. Es gibt daher Grund zur Annahme, dass die eingangs von uns vorgeschlagenen Mediatoren (Formen der Krankheitsverarbeitung sowie Wahrnehmung von Ausmaß und Qualität sozialer Unterstützung) ebenfalls solchen Veränderungen unterlegen sind. Ein Nachteil der bislang vorliegenden Untersuchungen zu dieser Frage besteht darin, dass Depression in diesem Kontext, ähnlich wie bei den beschriebenen kognitiven Veränderungen, meist lediglich als abhängige und nicht als unabhängige Variable betrachtet wird. Es existiert zwar eine wachsende Anzahl von Arbeiten, die den Einfluss von Depressivität auf Formen der Krankheitsverarbeitung untersucht, jedoch verwenden diese Studien in den weitaus meisten Fällen ein Querschnittsdesign und sind somit nicht geeignet, Aussagen über kausale Wirkungsmechanismen zu treffen. Die wenigen zu dieser Fragestellung durchgeführten Längsschnittstudien belegen den Einfluss einer depressiven Symptomatik auf Formen der Krankheitsverarbeitung (Gunthert, Cohen & Armeli, 2002; Uehara, Sakado, & Sato, 2002; Coyne, Aldwin & Lazarus, 1981). Vergleichbare Erkenntnisse liegen für die Wahrnehmung sozialer Unterstützung vor: Gracia und Herrero (2004) so-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
wie Lewinsohn, Hoberman und Rosenbaum (1988) zeigen in ihren Längsschnittstudien, dass (bei Kontrolle des Depressivitäts-Eingangsniveaus) Depressivität einen Einfluss auf die Wahrnehmung sozialer Unterstützung hat. Sowohl (1) Formen der Krankheitsbewältigung als auch (2) die wahrgenommene soziale Unterstützung beeinflussen ihrerseits die subjektive Lebenszufriedenheit, was als weiteres Indiz für die Mediatorrolle dieser beiden Konstrukte angesehen werden kann. Als effektive Wege der Krankheitsbewältigung erweisen sich dabei aktive Formen der Krankheitsverarbeitung, wie Suche nach sozialer Einbindung, Informationssuche und (aktive) Bedrohungsabwehr. Negativ hingegen wirkt sich zurückgezogenes, grüblerisches Verhalten aus (Filipp, Ferring, Freudenberg & Klauer, 1988; Felton, Revenson & Hinrichsen, 1984). Zugleich ist zu beachten, dass der Erfolg der Mechanismen der Krankheitsbewältigung auch vom Zeitpunkt des Verhaltens im Krankheitsprozess abhängt (Cameron & Meichenbaum, 1982). Der positive Einfluss, den wahrgenommene soziale Unterstützung auf den Krankheitsverlauf und die Lebenszufriedenheit hat, wird durch zwei Metaanalysen untermauert, in die Ergebnisse aus weit über 100 Einzelstudien eingingen (Smith, Fernengel & Holcroft, 1994; Schwarzer & Leppin, 1991). Grundsätzlich wissen wir also, dass von einer depressiven Symptomatik betroffene, chronisch kranke Patienten übereinstimmend eine geringere subjektive Lebenszufriedenheit berichten. Weiterhin gibt es berechtigten Grund zur Annahme, dass das Ausbilden einer depressiven Symptomatik bei diesen Patienten einen Einfluss auf die Formen der Krankheitsbewältigung und wahrgenommene soziale Unterstützung hat, welche wiederum Einfluss auf die subjektive Lebenszufriedenheit ausüben. Zusammenfassend lautet die in der vorliegenden Arbeit zu prüfende Annahme daher folgendermaßen: Der negative Einfluss einer depressiven Symptomatik auf subjektive Lebenszufriedenheit wird durch zwei Mediatoren kausal vermittelt, dies sind die Mechanismen der Krankheitsbewältigung sowie das wahrgenommene Ausmaß und die Qualität der Sozialen Unterstützung (siehe zusammenfassend . Abbildung 1). Dabei nehmen wir an, dass sich aktive Formen der Krankheitsbewältigung sowie ein hohes Ausmaß an wahrgenommener Sozialer Unterstützung positiv auf die subjektive Lebenszufriedenheit auswirken. Dieser Zusammenhang sollte zudem sowohl über verschiedene Krankheitsbilder als auch über verschiedene soziodemographische Charakteristika generalisieren.
503 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
Methode Stichprobe Die Stichprobe von 405 Patienten (162 Frauen) des Klinikums Chemnitz setzte sich aus 262 Patienten mit Diabetes mellitus und 143 Patienten mit koronaren Herzerkrankungen zusammen. Das Alter der Patienten lag zwischen 16 und 82 Jahren (M = 54.74; SD = 15.63). 101 der Betroffenen waren ledig oder allein lebend; 304 Patienten waren verheiratet oder lebten in einer festen Beziehung. Einen Überblick über die soziodemographischen Kennwerte der Stichprobe(n) gibt . Tabelle 1. Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig und erfolgte jeweils im Rahmen eines Aufenthaltes im Klinikum Chemnitz. Messinstrumente Depressivität. Depressivität wurde mit der deutschen Adaptation (Hautzinger, 1988) der von Radloff (1977) vorgelegten »Center for Epidemiological Studies Depression Scale« (CES-D) ermittelt. Die CES-D Skala ist ein Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung von Depressivität in der Allgemeinbevölkerung. Depression wird dabei mittels 20 Items auf einer vierstufigen Skala gemessen. Ein CES-D-Wert von 18 Punkten und mehr darf aufgrund der vorliegenden Befunde (Radloff, 1977; Hautzinger, 1988) als auffällig bezeichnet werden. Die von Hautzinger berichteten inneren Konsistenzen liegen zwischen α = .85 und α = .91 und konnten in vorliegender Studie (mit einem Cronbachs α = .89) bestätigt werden. Formen der Krankheitsbewältigung. Zur Messung der Krankheitsverarbeitung
wurde der »Fragebogen zur Erfassung von Formen der Krankheitsbewältigung« (FEKB) von Klauer und Filipp (1987) verwendet. Der FEKB ermöglicht es, sowohl intrapsychische als auch aktionale Bewältigungsanstrengungen zu ermitteln (Klauer, Filipp & Ferring, 1989). Die 37 Items des Fragebogens werden auf einer sechsstufigen numerischen Selbstrating-Skala beurteilt. Folgende Skalen des Fragebogens wurden dabei für die vorliegende Arbeit genutzt: (1) Rumination (RU), (2) Suche nach sozialer Einbindung (SS), (3) Bedrohungsabwehr (BA) und (4) Suche nach Information und Erfahrungsaustausch (SI). Rumination (1) umfasst zurückgezogenes, grüblerisches und gedanklich in die Vergangenheit gerichtetes Verhalten. Die Skala Suche nach sozialer Einbindung (2) beinhaltet Items, in denen aktionale und ereigniszentrierte Bewältigungsstrategien mit hoher Beteiligung anderer Personen beschrieben
504
. Tabelle 1. Deskriptive Kennwerte soziodemographischer Daten und der verwendeten Skalen
Diabetes mellitus a
Koronare Erkrankungen a
Signifikanz
54.74 (15.63)
50.29 (16.04)
63.89 (10.04)
F (1, 403) = 76.45 (p < .001) χ2 = 26.12 (p < .001)
Geschlecht Männlich
243
134
109
Weiblich
162
128
34 χ2 = 7.56 (p < .01)
Familienstand ledig/allein
101
75
26
verheiratet/in Partnerschaft lebend
304
187
117
CES-D b
16.97 (8.96)
16.34 (9.21)
18.11 (8.40)
F (1, 403) = 3.59 (n.s.)
FEKB-RU c
2.99 (.92)
2.89 (.95)
3.16 (.85)
F (1, 403) = 8.19 (p < .01)
FEKB-SS d
3.92 (.84)
3.85 (.86)
4.05 (.81)
F (1, 403) = 5.38 (p < .05)
e
4.51 (.73)
4.39 (.76)
4.70 (.61)
F (1, 403) = 19.82 (p < .001)
3.62 (.98)
3.66 (.99)
3.56 (.97)
F (1, 403) = 1.05 (n.s.)
4.09 (.67)
4.06 (.67)
4.16 (.67)
F (1, 403) = 2.26 (n.s.)
22.47 (5.86)
22.2 (5.94)
22.97 (5.66)
F (1, 290) = .93 (n.s.)
FEKB-BA FEKB-SI SSUK
g
SWL h
f
Anmerkungen. a Mittelwerte (Standartabweichungen), Depressivität b, Rumination c, Suche nach sozialer Einbindung d, Bedrohungsabwehr e, Suche nach Information f, Soziale Unterstützung g, Subjektive Lebenszufriedenheit h
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Alter
Gesamtstichprobe a
505 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
werden. Items mit Verbalisierungen von intrapsychischem Bewältigungsverhalten schließlich, wie beispielsweise »positives Denken«, »Rationalisierung« und »Bagatellisierung« werden in der Skala Bedrohungsabwehr (3) gebündelt. Die Skala Suche nach Information und Erfahrungsaustausch (4) schließlich erfasst Verhaltensweisen, mittels derer Patienten versuchen, mehr über die eigene Krankheit und deren Behandlung zu erfahren. Die in vorliegender Untersuchung ermittelten inneren Konsistenzen lagen zwischen α = .77 und α = .86 und somit im Durchschnitt etwas höher als bei den jeweiligen Autoren der Skala (vermutlich auch aufgrund der großen Stichprobe). Soziale Unterstützung. Soziale Unterstützung wurde mit der deutschen Version (Ramm & Hasenbring, 2002) der »Illness-Specific Social Support Scale« (Revenson & Schaffino, 1990) erfasst. Die Skalen zur Sozialen Unterstützung bei Krankheit (SSUK) setzen sich aus den zwei Skalen Positive Unterstützung und Belastende Interaktion zusammen. Die Skala Positive Unterstützung misst subjektiv wahrgenommene Unterstützung in den Bereichen emotionaler, selbstwertbezogener, informationaler und praktischer Unterstützung, und zwar anhand von 15 Items auf einer fünfstufigen numerischen Selbstrating-Skala. Die Autoren berichten von einem Cronbachs-Alpha von α = .91. In der vorliegenden Untersuchung lies sich ein ebenso hoher Wert von α = .89 finden. Da die Subskala Belastende Interaktion für die vorliegende Fragestellung nicht von Bedeutung war, wurde sie nicht mit in die Analysen einbezogen. Lebenszufriedenheit2: Die subjektive Lebenszufriedenheit der Probanten,
wurde mit der deutschen Übersetzung der »Satisfaction with Life Scale« (SWLS«; Diener, Emmons, Larsen & Griffin, 1985) erhoben. Das eindimensionale, aus fünf siebenstufigen Items bestehende Selbstbeurteilungsinstrument wurde im Vorfeld der Untersuchung ins Deutsche übertragen. Die interne Konsistenz der deutschen Übersetzung liegt mit α = .86 nahezu exakt bei der von Diener (1985) berichteten internen Konsistenz von α = .87. Statistische Analysen: Zur Prüfung potentieller mediationaler Zusammenhänge stellten Baron und Kenny (1986) ein statistisches Verfahren vor, das im Folgenden erläutert werden soll. Demzufolge fungiert eine Variable dann als Mediator (also als kausaler Vermittler zwischen zwei Variablen), wenn nachstehende drei Prämissen erfüllt sind (. Abbildung 1):
506
D · Medizinische Versorgung und Prävention
(1) Änderungen in der Unabhängigen Variablen (hier: Depression) führen zu signifikanten Änderungen in der angenommen Mediatorvariable (hier: Bewältigungsstrategien); (2) Der Mediator seinerseits verursacht signifikante Variationen der Abhängigen Variablen (hier: Lebenszufriedenheit). (3) Wenn die Zusammenhänge 1 und 2 kontrolliert (statistisch herausgerechnet) werden, muss sich der vorher bestehende Zusammenhang zwischen Unabhängiger Variable (Depression) und Abhängiger Variable (Lebenszufriedenheit) signifikant verringern. Ein perfekter Einfluss eines einzigen Mediators besteht dann, wenn sich der Einfluss der unabhängigen Variable auf die abhängige Variable nach Einbeziehung des Mediators auf null reduziert. Da in den meisten Bereichen der Psychologie und Medizin multiple Ursachen für Phänomene vorherrschen, sollte realistischer Weise angenommen werden, dass der Einfluss der unabhängigen Variable auf die abhängige Variable signifikant reduziert wird. Diese drei postulierten Bedingungen sollten nach Baron & Kenny (1986) anhand von Regressionsanalysen überprüft werden. Regressionsanalysen geben Auskunft darüber, wie viel Prozent der Varianz in einer abhängigen Variablen durch eine oder mehrere unabhängige Variablen aufgeklärt wird. Um Formen der Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung als Mediatoren zwischen chronischer Erkrankung und Lebenszufriedenheit zu etablieren, müssen demnach folgende Regressionen durchgeführt werden: Erstens sollte das Ausmaß der Depressivität signifikant Formen der Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung vorhersagen (Pfad 1). Zweitens müsste in der zweiten Regression Depressivität signifikant Lebenszufriedenheit vorhersagen (Pfad 3). Drittens sollten in der letzten Regression die potentiellen Mediatoren Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung, unter Miteinbeziehung der Unabhängigen Variable Depressivität, die Abhängige Variable Lebenszufriedenheit signifikant vorhersagen (Pfad 2). Sind diese Bedingungen alle erfüllt, muss sich Einfluss von Depressivität auf Lebenszufriedenheit in der dritten Regression im Vergleich zur zweiten signifikant verringern (Pfad 3), um sicherzustellen, dass der negative Einfluss von Depressivität auf Lebenszufriedenheit durch Formen der Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung vermittelt wird. In diesem Falle würde gezeigt, dass ein Teil derjenigen Varianz der Lebenszufriedenheit, die durch Depression aufgeklärt wird, in Wirklichkeit kausal auf die Vermittlung des Mediators (unterschiedliche Bewältigungsstrategien) zurückzuführen ist. Um diesen indirekten Effekt einer Unabhängigen Variable anhand eines Mediators auf eine Abhängige Variable auf Signifikanz prüfen zu können, stell-
507 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
te Sobel (1982) einen entsprechenden Signifikanztest vor. Dieser Signifikanztest gibt Auskunft darüber, ob die Reduktion der Varianzaufklärung in der Abhängigen Variablen (Lebenszufriedenheit) durch den Mediator (Bewältigungsstrategien) tatsächlich signifikant ist.
Ergebnisse Deskriptive Befunde In . Tabelle 1 sind soziodemographische Daten und die Befunde der verwendeten Skalen sowohl für die gesamte Stichprobe als auch getrennt für Patienten (1) mit Diabetes mellitus und (2) mit koronaren Erkrankungen aufgeführt. Zudem ist der letzten Spalte der Tabelle zu entnehmen, ob sich die Patientengruppen hinsichtlich einer Variable signifikant unterscheiden. Demnach unterscheiden sich Patienten mit Diabetes mellitus signifikant von Patienten mit koronaren Erkrankungen hinsichtlich Alter (F (1, 403) = 76.45, p < .001), Geschlecht (χ2 = 26.12, p < .001) und Familienstand (χ2 = 7.56, p < .01) Patienten mit Diabetes mellitus sind jünger und leben häufiger in Partnerschaften. Außerdem finden sich bei Patienten mit Diabetes mellitus anteilig mehr Frauen als bei Patienten mit koronaren Erkrankungen. Patienten mit koronaren Erkrankungen geben für die Krankheitsverarbeitungsmechanismen Rumination (F (1, 403) = 8.19, p < .01), Suche nach sozialer Einbindung F (1, 403) = 5.38, p < .05) und Bedrohungsabwehr (F (1, 403) = 19.82, p < .001) signifikant höhere Werte an. Um die Hypothese zu prüfen, dass etwaige Mediatoreffekte über verschiedene Krankheitsbilder sowie über verschiedene soziodemographische Charakteristika generalisieren (und sich somit nicht auf die Konfundierung mit potentiellen Störvariablen zurückführen lassen), wird in sämtlichen folgenden Regressionen der Einfluss von Alter, Geschlecht, Familienstand und Art der Erkrankung statistisch kontrolliert. Der Einfachheit halber und zur besseren Verständlichkeit werden diese Faktoren in den Tabellen nicht mit abgebildet. Insgesamt erreichten 167 Patienten den von Hautzinger (1988) angegebenen kritischen Wert von 18 oder größer. Zum Untersuchungszeitpunkt waren also 41.2 % der befragten Patienten auffällig depressiv. Dabei erlangten 40.5 % (N = 106) der Patienten mit Diabetes mellitus und 42.7 % (N = 61) der Patienten mit koronaren Erkrankungen den beschriebenen kritischen Wert. Diese Prävalenzen stimmen sowohl für Patienten mit Diabetes mellitus (Blumenthal et al., 2003; Lespérance, Frasure-Smith & Talajic, 1996; Frasure-Smith, Lespérance &
508
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 2. Regressionsanalysen: Vorhersagen der potentiellen Mediatoren Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung durch die Unabhängige Variable Depressivität
Unabhängige Variable 1
CES
a
Abhängige Variable FEKB-RU
b
c
β
T
p
.52
12.31
< .001
– .22
– 4.34
< .001
2
CES
FEKB-SS
3
CES
FEKB-BA d
.01
0.16
4
CES
FEKB-SI e
.13
2.63
–.11
– 2.15
5
CES
SSUK a
f
b
n.s. <.01 < .05 c
Anmerkungen. Depressivität , Rumination , Suche nach sozialer Einbindung , Bedrohungsabwehr d, Suche nach Information e, Soziale Unterstützung f.
Talajic, 1993; Schleifer et al., 1989), als auch für Patienten mit koronaren Erkrankungen (Anderson et al., 2001; Gavard et al., 1993) mit den jeweils bereits publizierten Daten überein. Ergebnisse der multiplen Regressionen Im Folgenden soll nun anhand des vorgestellten Verfahrens (Baron & Kenny, 1986; siehe oben) anhand von Regressionsanalysen geprüft werden, ob Mechanismen der Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung als Mediatoren zwischen Depressivität und Lebenszufriedenheit vermitteln 1. Prämisse: Vorhersage von Krankheitsbewältigung und sozialer Unterstützung durch Depressivität. Es wird zunächst geprüft, ob das Ausmaß der
Depressivität die Formen der Krankheitsbewältigung und die Soziale Unterstützung vorher sagt. Diese Fragestellung entspricht dem Pfad a der . Abbildung 1. Sowohl Rumination (β = .52, T = 12.31, p < .001), Suche nach sozialer Einbindung (β = –.22, T = –4.34, p < .001) als auch Suche nach Information (β = T = p < .05) werden signifikant durch Depressivität vorhergesagt. Gleiches gilt für die Soziale Unterstützung (β = –.11 T = – 2.15, p < .05). Dabei deuten hohe Werte auf der Depressionsskala auf hohe Werte für die Faktoren Rumination und Suche nach Information hin. Für die Skala Suche nach sozialer Einbindung und Soziale
509 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
. Tabelle 3. Regressionsanalyse: Vorhersagen der Abhängigen Variable Lebenszufriedenheit durch die Unabhängige Variable Depressivität
Unabhängige Variable
Abhängige Variable
β
T
p
CES a
SWL b
– .39
– 7.17
< .001
Anmerkungen. Depressivität a, Subjektive Lebenszufriedenheit b.
Unterstützung gilt dies in umgekehrter Form. Bis auf die Skala Suche nach Information ist somit die Richtung des postulierten Zusammenhangs hypothesenkonform. Im Folgenden sollte also für diesen Krankheitsverarbeitungsfaktor darauf geachtet werden, wie sich der Einfluss auf Lebenszufriedenheit gestaltet. Nach Überprüfung der ersten Bedingung muss vorerst lediglich Bedrohungsabwehr als Mediator ausgeschlossen werden. Die Ergebnisse der hier berichteten insgesamt fünf multiplen Regressionen sind in . Tabelle 2 zusammengefasst. 2. Prämisse: Vorhersage von Lebenszufriedenheit durch Depressivität. Um auch die zweite Bedingung zu prüfen, wurde die Vorhersage des Ausmaßes der Depressivität auf die Lebenszufriedenheit analysiert. Dies entspricht Pfad 3 in . Abbildung 1. Eine multiple Regression zeigt, dass hohe Depressivität niedrige Lebenszufriedenheit hoch signifikant voraussagt (β = –.39,T = – 7.17, p < .001; siehe . Tabelle 3). 3. Prämisse: Der Einfluss von Depressivität auf Lebenszufriedenheit, wenn Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung in die Berechnungen
eingehen. In der letzten Regression werden sowohl die möglichen Mediatoren Mechanismen der Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung als auch die abhängige Variable Depressivität berücksichtigt. Sowohl Rumination (β = – .17, T = – 2.54, p < .02), Suche nach sozialer Einbindung (β = .15, T = 2.51, p < .02) sowie Soziale Unterstützung (β = .20, T = 3.70, p < .001) erklären in dieser Regression Lebenszufriedenheit signifikant (Pfad b in . Abbildung 1). Die Richtung des erklärten Zusammenhangs ist für die genannten Konstrukte hypothesenkonform. Zusätzlich zur Skala Bedrohungsabwehr muss demnach auch die Suche nach Information als Mediator abgelehnt werden, da sich hier kein Einfluss auf die Lebenszufriedenheit zeigt.
510
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 2. Mediatoren die zwischen Depressivität und Lebenszufriedenheit vermitteln
Während die Unabhängige Variable Depressivität in der zweiten Regression (Pfad 3 in . Abbildung 1) 15.28 % der Varianz in der Abhängigen Variable Lebenszufriedenheit erklärt, sind es nach Einbeziehung von Bewältigungsmechanismen und Sozialer Unterstützung nur noch 6.45 %, also nur noch 42.21 % der vormals aufgeklärten Varianz. Dieser aufgezeigte kausale Zusammenhang wird mittels Sobels Signifikanztest (1982) statistisch geprüft. Für die Krankheitsverarbeitungsmechanismen Rumination (z = 2.06, p < .05), Suche nach sozialer Einbindung (z = 2.19, p < .05) sowie für die subjektiv wahrgenommene Soziale Unterstützung (z = 2.81, p < .01) ist dieser Zusammenhang signifikant. Fazit Die Krankheitsverarbeitungsmechanismen Rumination und Suche nach Sozialer Einbindung sowie Soziale Unterstützung wirken als Mediatoren zwischen Depressivität und Lebenszufriedenheit (siehe zusammenfassend . Abbildung 2). Diese Befunde generalisieren zudem über die verschiedenen Krankheitsbilder und über verschiedene soziodemographische Daten, da diese in allen Regressionen berücksichtigt wurden.
Diskussion In der vorliegenden Arbeit haben wir geprüft, ob der negative Einfluss einer depressiven Symptomatik auf die subjektive Lebenszufriedenheit bei Patienten mit koronaren Herzerkrankungen und Diabetes mellitus durch (1) spezifische Formen der Krankheitsbewältigung und (2) dem Ausmaß und der Qualität wahrgenommener Sozialer Unterstützung vermittelt wird. Unsere Daten bele-
511 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
. Tabelle 4. Regressionsanalyse: Vorhersagen der Unabhängigen Variable Lebenszufriedenheit durch die Mediatoren Krankheitsbewältigung und Soziale Unterstützung unter Miteinbeziehung der Unabhängigen Variable Depressivität
Unabhängige Variable
Abhängige Variable
β
T
p
FEKB-RU
a
– .17
– 2.54
< .02
FEKB-SS
b
.15
2.51
< .02
.04
.70
n.s.
.08
1.40
n.s.
.20
– 3.70
< .001
–.25
–3.90
< .001
FEKB-BA c SWL g FEKB-SI d SSUK CES
f
e
Anmerkungen. Rumination a, Suche nach sozialer Einbindung b, Bedrohungsabwehr c, Suche nach Information d, Soziale Unterstützung e, Depressivität f, Subjektive Lebenszufriedenheit g.
gen, dass eine solche kausale Vermittlung im Falle der Krankheitsverarbeitungsmechanismen Rumination und Suche nach sozialer Einbindung zutrifft; Gleiches gilt für die subjektive Wahrnehmung Sozialer Unterstützung. Patienten mit einer depressiven Symptomatik neigen also in höherem Maße zu grüblerischem, zurückgezogenem und in die Vergangenheit gerichtetem Bewältigungsverhalten (Rumination). Des Weiteren zeigen diese Patienten in geringerem Maße aktionale und ereigniszentrierte Bewältigungsreaktionen, die eine hohe Beteiligung anderer Personen einschließen (Suche nach sozialer Einbindung). Und schließlich nehmen depressive Patienten ein geringeres Ausmaß und eine geringere Qualität an Sozialer Unterstützung wahr. Diese Unterschiede wirken sich, wie eingangs angenommen, negativ auf die subjektive Lebenszufriedenheit der Patienten mit chronischen Erkrankungen aus. Den Krankheitsbewältigungsmechanismen Bedrohungsabwehr und Suche nach Information kommt unseren Ergebnisse zufolge kein Mediatorstatus hinsichtlich der subjektiven Lebenszufriedenheit zu: So zeigt sich zum einen für die Suche nach Information kein Einfluss dieser Bewältigungsstrategie auf die Lebenszufriedenheit, andererseits unterscheiden sich depres-
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
sive Patienten hinsichtlich der Bedrohungsabwehr nicht von nicht-depressiven Patienten. Sämtliche soziodemographischen Daten wurden mit in die durchgeführten multiplen Regressionen aufgenommen. Somit kann klar festgehalten werden, dass die negativen Auswirkungen einer depressiven Symptomatik im Verlauf einer chronischen Erkrankung nicht auf die Konfundierung von Depressivität mit soziodemografischen Variablen zurückzuführen ist. Es sollte Gegenstand weiterer Forschung sein, ob der berichtete kausale Zusammenhang auch bei anderen chronischen Erkrankungen, wie Krebs oder multiple Sklerose, relevant sein könnte. Für diese Annahme spricht, dass sich hohe Prävalenzen von Depression bei anderen chronischen Erkrankungen ebenfalls finden lassen (siehe zum Beispiel Carney, 1998; Rodin & Voshart, 1986). Weiterhin spricht für eine Generalisierung der berichteten Mediatorzusammenhänge auf andere chronische Erkrankungen, dass der Einfluss der Art der Erkrankung (Koronare Herzerkrankung beziehungsweise Diabetes mellitus) in der vorliegenden Arbeit kontrolliert wurde und somit der Mediatorzusammenhang für beide – teils recht unterschiedlichen – chronischen Erkrankungen relevant ist. Des weiteren sollte in zukünftigen Studien untersucht werden, ob der negative Einfluss einer depressiven Symptomatik neben der Lebenszufriedenheit auch bei medizinischen und körperlichen Faktoren, wie dem Überleben bei koronaren Erkrankungen oder dem HbA1c-Status bei Diabetes mellitus, durch die aufgezeigten Mediatoren vermittelt wird. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die beobachteten Daten zwar mit dem angenommenen Mediatormodell erklärt werden können, dass dies jedoch unter der Prämisse des in der Einleitung beschrieben kausalen Zusammenhangs zwischen Depressivität und Formen der Krankheitsverarbeitung beziehungsweise der Wahrnehmung Sozialer Unterstützung geschehen ist. Zwar gibt es ausreichend empirische Evidenz für die Richtigkeit des zugrunde liegenden kausalen Wirkungsgefüges (vgl. Gunthert et al., 2002; Toru et al., 2002; Aldwin & Lazarus 1981; Gracia & Herrero, 2004; Lewinsohn et al, 1988), jedoch kann das dieser Arbeit zugrunde liegende Querschnittsdesign keinen weiteren Beitrag für dessen Richtigkeit erbringen. Ferner ist zu beachten, dass die genannten Bewältigungsmechanismen (Rumination, Suche nach sozialer Einbindung) sowie die wahrgenommene Soziale Unterstützung den Einfluss von Depressivität auf die subjektive Lebenszufriedenheit nicht gänzlich unterbinden, sondern nur reduzieren. Dieser Befund lässt sich auf zweierlei Art erklären: Zum einen mag Depression auch einen direkten Einfluss auf subjektive Lebenszufriedenheit
513 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
haben; zum anderen könnten weitere nicht identifizierte Wirkmechanismen bestehen. Hierfür kommen insbesondere biologische Wechselwirkungen zwischen Depression und körperlichen Faktoren in frage. Diese Fragestellung sollte in zukünftigen Arbeiten interdisziplinär untersucht werden. Die vorliegenden Erkenntnisse haben weit reichende praktische Implikationen hinsichtlich einer sekundären Prävention bei chronischen Erkrankungen, und sollten Niederschlag in der psychologischen Betreuung von Patienten mit chronischen Erkrankungen finden. Die Ergebnisse dieser Arbeit legen dabei zwei Ansatzpunkte nahe: Zum einen betrifft dies die Therapie der zugrunde liegenden depressiven Symptomatik, zum anderen ein direktes Training hinsichtlich der Strategien der Krankheitsbewältigung sowie Trainings zum Erwerb sozialer Kompetenzen. Idealer Weise sollte beides miteinander kombiniert werden, da nicht anzunehmen ist, dass sich bei weiter bestehender depressiver Problematik langzeitige Änderungen des Bewältigungsverhaltens oder sozialer Kompetenzen erzielen lassen. Betrachten wir zunächst die Behandlung der depressiven Symptomatik. Die Wirkung einer pharmakologischen Behandlung von Depression bei chronischen Erkrankungen ist zwar in einigen Arbeiten bestätigt; eine Übersicht geben Jiang et al. (2002) für koronare Herzerkrankungen sowie Carney (1998) für Diabetes mellitus. Die Gabe von Antidepressiva, insbesondere Trizyklischen Antidepressiva, ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da sich aus durch den Einsatz der Medikamente eventuelle Wechselwirkungen mit anderen für koronare Herzerkrankungen und Diabetes mellitus relevanten medizinische Faktoren ergeben (Jiang et al., 2002; Franco-Bronson, 1996; Goodnick, Clouse & Buki., 1995; Goodnick, Henry & Buki, 1995). Eher angezeigt erscheinen kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen für Patienten, die eine erhöhte depressive Symptomatik aufweisen. Bisher wurden jedoch nur sehr wenige kontrollierte Studien publiziert, die die Wirksamkeit von Psychotherapie bei chronisch erkrankten Patienten mit einer zusätzlichen depressiven Symptomatik untersuchen. So existiert nur eine kontrollierte Studie zur Therapie von Depression bei Patienten mit Diabetes mellitus (Lustmann, Kenneth, Freedland, Kissel & Clouse, 1998). Die Autoren fanden neben der Wirkung der Kognitiven Verhaltenstherapie auf die depressive Symptomatik zusätzlich Langzeiteffekte auf den Hb1Ac-Status der Patienten. Für Patienten mit koronaren Herzerkrankungen liegt mit der Studie zu »Enhancing Recovery in Coronary Heart Disease« (ENRICHD) die einzige kontrollierte Studie zur Wirksamkeit individueller Psychotherapie bei Patienten mit einer depressiven Symptomatik vor (ENRICHD
514
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Investigators, 2000). Die Therapie erwies sich als wirksam hinsichtlich der depressiven Symptome (Berkman et al., 2003); Langzeiteffekte auf die Sterblichkeit nach einer koronaren Erkrankung wurden jedoch nicht gefunden (Berkman et al., 2003). In beiden Arbeiten wird jedoch die subjektive Lebensqualität der Patienten nicht erfasst. Wir wissen nun aufgrund der vorliegenden Arbeit, dass die Mediatoren Krankheitsbewältigung und Wahrnehmung sozialer Unterstützung Einfluss auf die subjektive Lebenszufriedenheit ausüben. Außerdem konnte im Rahmen des ENRICHD-Projekts keine Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie auf Langzeitüberleben eines koronaren Zwischenfalls gezeigt werden (Berkman et al., 2003). Aus diesen beiden Tatsachen resultiert die Notwendigkeit eines direkten Trainings der Krankheitsbewältigung und sozialer Kompetenzen. Zudem wissen wir aus mehreren Studien (Gil et al., 2000; Kugler, Kruse & Pöhlau, 2000; Schwarz, 1999; Kole-Snijders et al, 1999) um den Erfolg verschiedener Trainings zur Krankheitsbewältigung bei chronisch Erkrankten, und zwar sowohl hinsichtlich der Änderung des Patientenverhaltens als auch hinsichtlich verschiedener abhängiger Variablen, wie Lebensqualität und medizinischer Parameter. Allerdings wurde bislang nicht untersucht, ob das Training sozialer Kompetenzen bei chronisch Erkrankten einem positiven Krankheitsverlauf und einer höheren Lebenszufriedenheit begünstigt. Unsere Daten legen nahe, dass dies der Fall sein sollte.
Resümee Wir empfehlen für die zukünftige Forschung die Entwicklung entsprechender Trainings- und Beratungsmodule, die auf chronisch erkrankte Patienten zugeschnitten sind. Diese sollten sowohl eine individuelle Behandlung einer eventuell zugrunde liegenden depressiven Symptomatik, als auch Trainingsmodule für die Verbesserung der Krankheitsbewältigung und sozialer Kompetenzen beinhalten.
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515 Lebenszufriedenheit bei chronischen Erkrankungen
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521 Prävention mit Arzneimitteln
Prävention mit Arzneimitteln – Möglichkeiten und Grenzen Ulf Maywald*, Isabel Hach
Abstract Krankheitsvorbeugung oder Krankheitsverhütung liegen auch in der Eigenverantwortung des Menschen. Die Primärprävention kann und sollte durch Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln, Ernährungsgewohnheiten usw. vom Patienten eigenständig erreicht werden. Eine medikamentöse Primärprävention darf nur nach genauer Nutzen-Risiko-Abschätzung in Betracht gezogen werden. Wie sinnvoll eine solche Prävention bei bestimmten Indikationen sein kann, aber auch welche Gefahren auf der anderen Seite von einer medikamentösen Prävention ausgehen können, beleuchtet der folgende Artikel. Schlüsselworte: Arzneimittel, Prävention, Nutzen, Risiko, Verhältnis
1 Einleitung 1.1 Allgemeines Die Prävention war in den letzten Monaten eines der vorrangigen gesundheitspolitischen Themen. Zu Beginn des Jahres wurde konsequenterweise der Entwurf eines Präventionsgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht (Deutscher Bundestag 2005). Dieser lässt die Prävention mit Arzneimitteln allerdings unbehandelt. Prävention hat immer mit Eigenverantwortung des Patienten zu tun. Schon seit langem heißt es deshalb auch im §1 des für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einschlägigen fünften Sozialgesetzbuches (SGB V):
* e-mail:
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522
D · Medizinische Versorgung und Prävention
»Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mit verantwortlich, sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden…« Kurz gefasst bedeutet Prävention Krankheitsvorbeugung oder Krankheitsverhütung, und wird oft auch mit dem Begriff »Vorsorge« wiedergegeben. Prävention hat demnach zum Ziel, eine gesundheitliche Schädigung durch gezielte Aktivitäten zu verhindern, weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern. Auch mit Arzneimitteln ist Prävention im Sinne dieser Definition zuweilen möglich, wenn auch in der Regel die Arzneimitteleinnahme nur als letzte Option nach z. B. Verhaltensänderung, Umstellung der Ernährungsgewohnheiten etc. in Betracht gezogen werden sollte, um eine »Medikalisierung« der Bevölkerung zu vermeiden. Auch die Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, die das im §12 des SGB V verankerte Wirtschaftlichkeitsgebot (der Krankenbehandlung) konkretisieren, führen hierzu aus: »Nicht jeder Krankheitszustand erfordert zur Behandlung die Anwendung eines Arzneimittels. Vor der Verordnung von Arzneimitteln soll der Vertragsarzt prüfen, ob entsprechend dem Gebot der Wirtschaftlichkeit ein vergleichbarer Behandlungserfolg durch andere Maßnahmen (z. B. hygienische, diätetische) erreicht werden kann.« Im Folgenden soll daher näher betrachtet werden, in welchen Fällen Prävention mit Arzneimitteln sinnvoll, in welchen möglich und in welchen unsinnig ist. 1.2 Arzneimittelbegriff und Prävention Im §2 des Arzneimittelgesetzes heißt es: »Arzneimittel sind Stoffe…die dazu bestimmt sind… Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen…«. In der Regel dienen Arzneimittel also der Heilung von Krankheiten oder der Linderung der Beschwerden bei chronischen Erkrankungen. Durch die Verwendung des Begriffes »verhüten« wird aber schon vom Gesetzgeber unterstellt, dass mit Arzneimitteln auch Prävention betrieben werden kann. Eine rein präventive Anwendung wird aber in der Regel gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot aus dem SGB V verstoßen, nämlich immer dann, wenn ein bestimmtes Ergebnis (z. B.
523 Prävention mit Arzneimitteln
Gewichtsreduktion) durch vermeintlich einfache Verhaltensänderungen (z. B. mehr Bewegung oder Ernährungsumstellung) ebenso bewirkt werden wie durch Arzneimitteleinnahme (z. B. von appetitzügelnden Medikamenten). Die Modifikation des Lebensstiles fällt vielen Betroffenen natürlich schwerer als die Arzneimitteleinnahme. Dennoch stellt sich im Bereich Prävention mit Arzneimitteln immer wieder die Frage, inwieweit es Aufgabe der Solidargemeinschaft sein kann, Arzneimittel zu finanzieren, deren Effekte vom einzelnen Individuum auch auf anderen, die Gemeinschaft nicht belastenden Wegen erreicht werden könnten. 1.3 Primär-, Sekundär und Tertiärprävention mit Arzneimitteln Grundsätzlich lassen sich in der Definition der Prävention drei Stufen unterscheiden, deren Abgrenzung für den Arzneimittelbereich allerdings meist nicht eindeutig zu treffen ist: Primärprävention hat zum Ziel, die Gesundheit zu fördern, zu erhalten und die Entstehung von Krankheiten zu verhindern. Maßnahmen der Primärprävention können Individuen ebenso betreffen wie ganze Personen- oder Bevölkerungsgruppen. Hierzu auch gehört die Vermeidung von Risikofaktoren, zum Beispiel durch Programme zur gesunden Ernährung oder zur körperlichen Aktivität. Ein Beispiel für die Primärprävention mit Arzneimitteln ist die Folsäureeinnahme vor und während der Schwangerschaft, um Neuralrohrdefekte beim Kind zu vermeiden. Ebenso erfolgte die Fluoridierung des Trinkwassers in der Schweiz als primärpräventive Maßnahme zur Kariesprophylaxe. Die Sekundärprävention soll das Fortschreiten eines Krankheitsfrühstadiums bzw. die eigentliche Erkrankung verhindern. Sie umfasst Maßnahmen zur frühzeitigen Entdeckung von Krankheiten (z. B. durch Screening-Untersuchungen, gesetzliche Krankheitsfrüherkennungsprogramm). Sekundärprävention mit Arzneimitteln ist z. B. die Gabe von Acetylsalicylsäure (ASS) zur Verhinderung eines Herzinfarktes oder Schlaganfalles bei Risikopatienten (z. B. Hypertonikern oder Hypercholesterämikern). Außerdem stellt jede Therapie der arteriellen Hypertonie gleichzeitig eine Form der Prävention dar, denn der Krankheitswert des Bluthochdrucks ergibt sich aus seinen Folgeerkrankungen, die durch mikro- und makrovaskuläre Organschäden verursacht sind. Hier sieht man die ungenaue Trennung der Präventionsarten bei der Arzneitherapie: definitionsgemäß wäre die weithin als Sekundärprävention bezeichnete Gabe von ASS nach Herzinfarkt oder Schlaganfall zur Vermeidung eines Reinfarktes bzw. Reinsultes eigentlich Tertiärprävention (7 u.).
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
Als Tertiärprävention wird die Vermeidung der Verschlimmerung von bereits manifest gewordenen Erkrankungen bezeichnet. Folgeschäden (Defekte, Behinderungen) einer eingetretenen Erkrankung sollen vermieden oder abgemildert werden, zum Beispiel ist die Behandlung eines fast immer bei Diabetes vorliegenden Bluthochdruckes mit Sartanen eine tertiärpräventive Maßnahme der drohenden diabetischen Nephropathie, da Sartane die Entwicklung der für das Krankheitsbild charakteristischen Proteinurie verzögern können. Es wird also deutlich, dass die strikte Trennung nach Primär-, Sekundärund Tertiärprävention im Arzneimittelbereich nicht durchgängig angewendet werden kann. Daher sollen im Folgenden die Möglichkeiten der Prävention mit Arzneimittel beispielhaft aufgezeigt und nach derzeit vorliegender Evidenz bewertet, aber nicht abschließend einer der drei Stufen zugeordnet werden.
2 Möglichkeiten der Prävention mit Arzneimitteln 2.1 Gesichert sinnvolle Indikationen Einer der wichtigsten und unzweifelhaft sinnvollen Maßnahmen zur Primärprävention der Fehlbildung ›Neuralrohrdefekte‹ ist die Einnahme von 0,4mg Folsäure täglich 4 Wochen vor bis 4 Wochen nach Konzeption (Besonderheit hierbei ist, dass die die Medikation anwendende Person und die Zielperson nicht identisch sind). Leider wird diese von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) empfohlene Prophylaxemaßnahme jedoch nur unzureichend umgesetzt. Nicht einmal 5% der schwangeren Frauen nahmen laut einer Studie im entsprechenden Zeitraum ausreichend dosierte Folsäurepräparate ein (Arbeitskreis Folsäure und Gesundheit 2004). Die Gründe für die Nichteinnahme lagen u.a. in mangelndem Wissen über die Wichtigkeit der Prophylaxe und Nicht-Bemerken der Schwangerschaft (Egen & Hasford, 2003). Zusätzlich wiesen rund ein Viertel der behandelnden Gynäkologen schwangere Frauen nicht auf die Notwendigkeit der Durchführung der Prophylaxe hin (vg. DGGG). Es wird des Weiteren empfohlen, Iodid zur Prophylaxe von Schilddrüsenerkrankungen bei Mutter und Kind in der gesamten Schwangerschaft in einer Dosierung von 0,2 mg täglich zuzuführen. Nur etwa die Hälfte der Frauen führt diese Prophylaxe durch (Hasford 2003). Die Behandlung des Bluthochdruckes, der an sich bei moderater Ausprägung keinen Krankheitswert hat, ist zur Vermeidung von Folgeschäden unbedingt notwendig. Der Bluthochdruck ist der weltweit wichtigste Morbiditätsfak-
525 Prävention mit Arzneimitteln
tor und steht in linearem Zusammenhang mit dem kardiovaskulären Risiko eines Patienten. In zahlreichen plazebo-kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass die antihypertensive Therapie das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse, wie z. B. Schlaganfall und Herzinfarkt, signifikant vermindert (z. B. ALLHAT Officers and Coordinators for the ALLHAT Collaborative Research Group 2002). Leider sind selbst in den Industrieländern die Diagnostik und Therapie der arteriellen Hypertonie nach wie vor unzureichend. Obwohl die Prävalenz der arteriellen Hypertonie mit zunehmendem Alter ansteigt, belegen aktuelle epidemiologische Daten, dass nur ungefähr die Hälfte der therapiebedürftigen Bluthochdruck-Fälle diagnostiziert wird. Von den diagnostizierten Fällen sind wiederum nur 50 % ausreichend therapiert. Hier besteht Verbesserungsbedarf und -potential (Wagner et al. 2003). Auch die Therapie der Hypercholesterinämie als Risikofaktor der koronaren Herzerkrankung ist notwendig und sinnvoll. Die Schlüsselstudien auf diesem Gebiet konnten eindrucksvoll die mortalitätssenkende Wirkung von Statinen in allen Endpunkten in der Primär- und Sekundärprävention unabhängig von Alter und Geschlecht zeigen (z. B. Scandinavian Simvastatin Survival Study 2004). Die ebenfalls sehr gut belegte tertiäre Prävention beim Mamma-Karzinom beinhaltet z. Z. eine effiziente Nachsorge sowie effiziente Medikamente. Die Leitlinie sieht z. Z. die adjuvante Therapie für hormonrezeptorpositive postmenopausale Patientinnen über 5 Jahre mit Tamoxifen vor. Alternativ können Aromatasehemmer bei Kontraindikationen gegen Tamoxifen eingesetzt werden. Eine Umstellung nach 5 Jahren Tamoxifen auf eine Therapie mit Aromatasehemmern ist mittlerweile ebenfalls evidenzbasiert (Deutsche Gesellschaft für Senologie 2004). Zur Primärprävention von Osteoporose dient die Änderung von Ernährungsgewohnheiten und Lebensstil. Bei beginnender Osteoporose bzw. zum Zeitpunkt des Auftretens von Risikofaktoren, wie z. B. verminderter Knochendichte ist die Wirksamkeit der Gabe von Calcium und Vitamin D als sekundärpräventive Maßnahme abgesichert. Zur Tertiärprävention (d.h. Vermeidung von Frakturen) schließlich ist die Behandlung mit Bisphosphonaten erfolgreich (Fassbender et al. 2003). Neben den hier skizzierten, im Vergleich relativ wenigen Indikationsbereichen, in denen der präventive Arzneimitteleinsatz unzweifelhaft wirksam ist, sollen im Folgenden auch einige Indikationsbereiche vorgestellt werden, bei denen der Nutzen einer vorbeugenden Arzneitherapie zwar möglicherweise
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D · Medizinische Versorgung und Prävention
existent, aber keinesfalls sicher belegt ist. Dies begründet sich zum Teil in den unscharfen Grenzen zwischen Prävention und Therapie. 2.2 Potentiell sinnvolle Indikationen In der kardiovaskulären Primärprävention verhindert Acetylsalicylsäure (ASS) bei Männern Herzinfarkte (relative Risikoreduktion 32 Prozent), aber keine Schlaganfälle – so lehrten es bisher fünf große Studien mit 55.000 überwiegend männlichen Teilnehmern. Demgegenüber zeigte die Women᾽s Health Study (mit fast 10.000 Patientinnen), das ASS Frauen nicht vor Herzinfarkten oder kardiovaskulären Ereignissen insgesamt schützt, dafür aber vor Schlaganfällen (Riker et al.). Wegen der immer noch heterogenen Datenlage und dem Risiko von Blutungskomplikationen stuft der aktuelle Chochrane-Review daher die primärpräventive Einnahme von ASS als nicht sinnvoll ein (Lip et al. 2004). (Der zweifelsfrei nachgewiesene Nutzen in der Sekundärprävention soll damit jedoch nicht in Zweifel gezogen werden.) Während auch der Nutzen der Statine in der Sekundärprävention eindeutig nachwiesen ist, wird der Einsatz dieser Substanzen in der Primärprävention kontrovers diskutiert (arznei-telegramm 2004). Allerdings ist die Abgrenzung von Primär- zu Sekundärprävention hier auch besonders schwierig, weil sich die koronare Herzkrankheit (KHK) als ein Kontinuum, vom (noch) asymptomatischen Hochrisikopatienten bis zur Angina pectoris und zum Myokardinfarkt präsentiert. Vergleicht man die Ergebnisse der Primärpräventionsstudien mit denen der Sekundärpräventionsstudien, zeigt sich, dass die absolute Risikoreduktion in den Primärpräventionsstudien etwas geringer ist und damit die Anzahl Patienten, die zu behandeln sind, um ein Ereignis zu vermeiden, höher ist. Hier sind sowohl die Kostenfrage als auch die Fragen der Sicherheit noch nicht ausreichend abgeklärt. Eine Empfehlung kann daher nicht ausgesprochen werden. Seit nunmehr zwei Jahren wird immer wieder um die so genannte »Polypill« diskutiert. Im Jahr 2003 schlugen Wald und Law in einem Artikel im British Medical Journal vor, mehrere Antihypertensiva (Betablocker, Diuretikum, ACEHemmer), ASS, ein Statin und Folsäure in einer Tablette zusammenzufassen und diese nicht nur Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen zu verabreichen, sondern allen Erwachsenen über 55. Basierend auf dieser Metaanalyse könnte das relative Risiko (nicht das absolute) von ischämischen Herzereignissen und Schlaganfällen zu 88 und 80 Prozent dramatisch gesenkt werden (Wald und Law 2003). Damit diese geschätzte Risikoreduktion zur Geltung kommen könnte,
527 Prävention mit Arzneimitteln
wäre ein sehr breiter, universeller präventiver Ansatz nötig, d.h. jeder Erwachsene müsste (auch im Falle kompletter Gesundheit) im Alter von 55 bis 64 Jahren diese aus sechs Komponenten zusammengesetzte Pille zwei Jahre lang einnehmen. Dieses unspezifische Vorgehen, das dazu führt, dass auch Patienten ohne oder mit nur geringem Risiko einer möglicherweise lebenslangen Arzneitherapie unterliegen, ist weder gewollt noch sinnvoll. Die Behandlung von Hochrisikopatienten mit den genannten Medikamenten ist nachweisbar kosteneffektiv, die von Patienten mit geringem oder gar keinem Risiko hingegen nicht.
3 Grenzen 3.1 Indikationen, in denen Prävention mit Arzneimitteln unsinnig bzw. gefährlich ist Die Applikation bzw. Einnahme eines wirksamen Arzneimittels ist immer auch mit dem Risiko des Auftretens von Nebenwirkungen verbunden. Gerade bei einem rein präventiven Behandlungseinsatz (in der Regel bei größeren Bevölkerungsgruppen) muss daher umso gründlicher der zu erwartende Nutzen gegen die möglichen Risiken abgewogen werden. Die präventiv angewandte Hormonersatztherapie ist ein eindrückliches Negativ-Beispiel: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geht davon aus, dass hierzulande ca. 5 Millionen Frauen Arzneimittel zur Hormontherapie bei Wechseljahrbeschwerden, zur primären und sekundären Prävention einer Osteoporose sowie zur Vorbeugung und Verzögerung der durch Östrogenmangel bedingten Rückbildungserscheinungen der Harn- und Geschlechtsorgane einnehmen. Genauere Angaben über den Verbrauch von östrogenhaltigen Arzneimitteln sind nicht vorhanden. Die präventiven Wirkungen der Hormonersatztherapie wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder proklamiert. Die Einnahme von Hormonen als Möglichkeit die Jugend zu verlängern und altersbedingten Abbauprozessen vorzubeugen erschien verlockend und logisch (»natürlicher« Stoff der bei Reduktion der körpereigenen Produktion einfach von außen zugeführt werden kann) zugleich. Am 9. Juli 2002 änderte ein Artikel der New York Times schlagartig die bis dato verbreitete Meinung, die Hormonersatztherapie eigne sich als »Allheilmittel«: In der in Amerika durchgeführten «Women’s Health Initiative (WHI)« waren unter einer kombinierten Hormonersatztherapie bei den behandelten Frauen Brustkrebs, Herzinfarkt und Schlaganfälle signifikant häufiger aufgetreten als bei den Frauen, die Plazebo erhalten
528
D · Medizinische Versorgung und Prävention
hatten. Das Data and Safety Monitoring Board (DSMB) empfahl daraufhin, diesen Studienarm der WHI vorzeitig abzubrechen (Writing Group for the Women’s Health Initiative Investigators 2002). Auch der Östrogen-Monotherapiearm der Studie wurde im Februar 2004 wegen des Auftretens von Sicherheitsproblemen vorzeitig beendet. Zwar hatte die Inzidenz von Darmkrebs und Osteoporose bei den mit reinem Östrogen behandelten Frauen wie erwartet abgenommen, im Gegenzug hatte bei diesen Frauen jedoch die Inzidenz von Brustkrebs und thromboembolischen Ereignissen deutlich zugenommen. Die Gruppe der behandelten Patientinnen zeigte folglich eine höhere Quote schwerwiegender Gesundheitsstörungen als die Gruppe der unbehandelten. Dementsprechend ist die Indikation der Hormonersatztherapie sehr eingegrenzt zu definieren, d.h. nur bei gravieren Wechseljahresbeschwerden und auch nur für einen umschriebenen Zeitraum sollen diese Medikamente angewandt werden. Ein rein präventiver Ansatz ist obsolet. 3.2 Nutzen-Risiko-Abwägung Das skizzierte Beispiel der Hormonersatztherapie macht deutlich, wie gefährlich eine unkritische und wenig zielgerichtete Anwendung von Arzneimitteln sein kann. Gerade seltene Arzneimittelrisiken werden häufig erst bei breiter Anwendung (d.h. viele behandelte Patienten) erkannt. Arzneimittelrisiken sind umso weniger akzeptabel, wenn kein zwingender Grund für eine Arzneimittelbehandlung vorliegt, wie bei der Behandlung der Frage der »Polypill« diskutiert. An die Nutzen-Risiko-Abwägung, die als Teil der Arzneimittelsicherheit bei jedem Medikament täglich aufs Neue vorgenommen werden muss, sind bei einem geplanten Einsatz in der Primärprävention sehr hohe Anforderungen zu stellen. Dies kann nicht allein von Ärzten, Krankenkassen oder Behörden entschieden werden. Ein primärpräventiver Einsatz von Medikamenten wird es in der Regel erfordern, breitere Gesellschaftsschichten bei der Konsensfindung mit in die Diskussion einzubeziehen.
4 Zusammenfassung Es wird deutlich, dass der Nutzen von Arzneimittel nur in der Sekundär- und Tertiarprävention gut belegt, der Einsatz daher sinnvoll ist. Hingegen sind Medikamente in der Primärprävention nur im Ausnahmefall indiziert (Grund: meist negative Nutzen Risiko-Bilanz).
529 Prävention mit Arzneimitteln
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531 Telemedizin in der Tertiärprävention
Telemedizin in der Tertiärprävention: Wirtschaftlichkeitsanalyse des Telemedizin-Projektes Zertiva® 1 bei Herzinsuffizienz-Patienten der Techniker Krankenkasse Tatjana Heinen-Kammerer*, Peter Kiencke, Kerstin Motzkat, Sandra Nelles, Bodo Liecker, Frank Petereit, Torsten Hecke, Hardy Müller, Reinhard Rychlik
Abstract Ziel: Es wurde die Wirtschaftlichkeit einer telemedizinischen Betreuung bei Patienten mit Herzinsuffizienz untersucht. Methodik: Es wurden Daten des Telemedizin-Projektes Zertiva® der Techniker
Krankenkasse ausgewertet. Die Wirtschaftlichkeit dieses Projektes wurde mittels Kosten-Effektivitäts-Analyse im Rahmen eines Markov-Modell berechnet. Vergleichsparameter waren der Erfolg und die Kosten der Behandlung mit und ohne telemedizinische Betreuung. Der Erfolg wurde als Vermeidung stationärer Aufenthalte über den gesamten Beobachtungszeitraum von sechs Monaten definiert. Zur Absicherung der statistischen Vergleichbarkeit wurden die Gruppen bezüglich des Schweregrades der Erkrankung (NYHA-Stadium) der Begleiterkrankung und der demographischen Variablen Alter und Geschlecht gematcht. Ergebnisse: Die Erfolgsrate lag in der Gruppe ohne Telemedizin bei 59 % und in der Telemedizin-Gruppe bei 75 %. In der Gruppe ohne telemedizinische Betreuung entstanden Gesamtkosten in Höhe von 3.746 €, in der telemedizi* e-mail:
[email protected] 1 Zertiva®: eingetragene Marke der Personal HealthCare Telemedicine Services GmbH (PHTS Telemedizin)
532
D · Medizinische Versorgung und Prävention
nisch betreuten Gruppe 2.292 €. Die effektivitäts-adjustierten Kosten lagen bei der Gruppe ohne Telemedizin bei 6.397 € und bei der Telemedizin-Gruppe bei 3.065 €. Aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung ist eine telemedizinische Betreuung herzinsuffizienter Patienten hinsichtlich des Therapieerfolgs und der Kosten einer Behandlung die bessere Alternative. Schlussfolgerungen: Durch den Einsatz kann eine Behandlung im Akutfall
früher durchgeführt werden. Somit ist die Prognose für den weiteren Verlauf der Erkrankung günstiger. Schlüsselworte: Herzinsuffizienz, Telemedizin, Kosteneffektivität
1 Bedeutung der Herzinsuffizienz Die Inzidenz und Prävalenz der Herzinsuffizienz nimmt in den westlichen Ländern deutlich zu. Zum einen ist dies durch die veränderte Altersstruktur, zum anderen durch die verbesserte Therapie der koronaren Herzkrankheit zu erklären. Die Prävalenz wird in der Gesamtbevölkerung auf 0,3–2,4%, in der Subgruppe der über 65-jährigen auf 3,0–13% geschätzt (Rickenbacher 2001). Die Letalität steht mit dem Stadium der Erkrankung (NYHA I–IV) und mit der durchgeführten Behandlung in Zusammenhang. Die 1-Jahres-Letalität lag zwischen 1990 und 1999 bei durchschnittlich 28 % (Levy u. Kenchaiah 2002). Die 2-Jahres-Letalität unter ACE-Therapie liegt zwischen 10 % in NYHA I und 40–50 % in NYHA IV (Pichler 1999). Seit 1968 ist eine Vervierfachung der Todesfälle zu verzeichnen (Hoppe u. Erdmann 2001). Nach der Hypertonie ist die Herzinsuffizienz der zweithäufigste kardiovaskuläre Grund für einen Arztbesuch (Mc Murray et al. 1998). Die Hospitalisierungsrate hat sich in verschiedenen europäischen Ländern in den letzten 10–15 Jahren verdoppelt (Rickenbacher 2001). Diese Fakten verdeutlichen die enorme sozioökonomische Bedeutung des Krankheitsbildes. Tatsächlich wird etwa 1–2 % des gesamten Gesundheitsbudgets in westlichen Ländern für die Herzinsuffizienz aufgewendet. Etwa zwei Drittel betreffen dabei die Kosten für stationäre Aufenthalte (Cowie et al. 1999) (Szucs 2000). Um diese Kosten mindern zu können, sind innovative Interventionen notwendig, die die Häufigkeit und Dauer stationärer Aufenthalte nachhaltig sen-
533 Telemedizin in der Tertiärprävention
. Abb. 1. Inzidenz der Herzinsuffizienz nach Alter und Geschlecht (Cowie et al. 1999) (Mc Murray et al. 1998) (Pichler 1999)
ken. Mit der Einführung der Telemedizin scheint jetzt eine viel versprechende Methode zur Verfügung zu stehen, die dem Patienten die Perspektive einer gesteigerten Lebensqualität bieten kann und darüber hinaus eine Kostensenkung ermöglicht (Stewart et al. 2002). Telemedizin ist als Sammelbegriff für die Anwendung medialer Kommunikations- und Informationstechnologien im Gesundheitswesen zu verstehen. Im Bereich der Kardiologie können bestimmte medizinische Parameter wie EKG, Blutdruck oder Puls zu definierten Zeitpunkten oder bei Auftreten von Beschwerden direkt an ein telemedizinisches Zentrum übermittelt werden. Der Patient erhält unmittelbar nach der Analyse eine individuelle medizinische Beratung, ggf. Therapieempfehlungen. Wenn nötig, können sofort (notfall) therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Zur Verbesserung des Umgangs mit der Krankheit werden die Teilnehmer zusätzlich durch ein Call-Center geschult.
534
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Entscheidend für die Prognose des Herz-Kreislauf-Patienten ist die Entscheidungszeit, d.h. die Zeit zwischen Auftreten der ersten Symptome und Therapiebeginn. Die Entscheidungszeit ist aufgrund von Fehldeutung und Verdrängung häufig zu lang (AWMF online 2000). Durch den Einsatz der Telemedizin kann die Entscheidungszeit bei Risikopatienten minimiert werden. So können der Bedarf an Arztbesuchen und die Anzahl der Notrufe teilweise ersetzt und die Versorgung optimiert werden. Gerade im Bereich der großen Volkskrankheiten wie der Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird angenommen, dass die Telemedizin zu einer effizienteren und qualitativ höherwertigeren Versorgung führt (Warda u. Noelle 2002). Die Auswertung erster Projekte konnte zeigen, dass durch Telemanagement Anzahl und Länge von stationären Aufenthalten verkürzt werden können (Benatar et al. 2003) (Riegel et al. 2002) (Jerant et al. 2001). Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene sollen daher die Voraussetzungen für eine flächendeckende Nutzung der Telemedizin geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur das medizinische Outcome bisheriger Studien interessant, sondern auch die Folgen für die Strukturen und die Ausgaben im Gesundheitswesen. Für die meisten Pilotprojekte steht der Nachweis der Kosteneffektivität noch aus (Whitten et al. 2002). Den neuen Ansatz der Telemedizin hat die Techniker Krankenkasse aufgegriffen und gemeinsam mit PHTS Telemedizin eine telemedizinische Betreuung für Herzinsuffizienz-Patienten implementiert. Die vorliegende Kosten-Effektivitäts-Analyse dient der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung der Telemedizin in der Kardiologie unter Routinebedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung.
2 Rationale Die chronische Herzinsuffizienz ist heute der häufigste Grund für vermeidbare stationäre Aufenthalte. Die Patienten sind häufig mit der Entscheidung, ab wann ein Arzt eingeschaltet werden sollte, überfordert. Die telemedizinische Betreuung senkt die Hospitalisierungsrate und verkürzt die Dauer der stationären Aufenthalte. Darüber hinaus werden auch unnötige Arztbesuche und Notarzteinsätze vermieden. Dies führt sowohl zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung als auch zur Kostensenkung. Hieraus ergibt sich die zentrale Fragestellung: Ist die telemedizinische Betreuung der Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz im Rahmen des Telemedizin-Projektes Zertiva® der Techniker Kran-
535 Telemedizin in der Tertiärprävention
kenkasse aus gesundheitspolitischer Perspektive kosteneffektiver als die Behandlung ohne telemedizinische Begleitung?
3 Methodik Zur Beantwortung der zentralen Fragestellung wurden Daten des TelemedizinProjektes Zertiva® ausgewertet. Die Daten gingen in ein gesundheitsökonomisches Markov-Modell ein, das dann für Deutschland berechnet wurde. Verglichen werden Versicherte der Techniker Krankenkasse mit und ohne telemedizinische Betreuung. Die Vergleichsparameter hierbei sind der Nutzen und die Kosten der betrachteten Therapiealternativen. Da die Therapiealternativen unterschiedlich hohe Effektivität aufweisen, wurde eine Kosten-Effektivitäts-Analyse durchgeführt (Rychlik 1999 A) (Hannoveraner Konsensus Gruppe 1999). Der Effektivitätsparameter wird in der vorliegenden Modellrechnung als Vermeidung stationärer Aufenthalte über den gesamten Beobachtungszeitraum definiert. Therapieerfolg ist demnach, wenn der Patient in Zusammenhang mit der Herzinsuffizienz nicht stationär eingewiesen wird. Ausgangspunkt dieser Modellrechung ist die Krankenhausentlassung des Patienten zu Beginn des Beobachtungszeitraumes. Es gehen die Kosten der Therapie und der Behandlung der Unerwünschten Ereignisse (UE) in die Berechnung ein. Sobald die Eintrittswahrscheinlichkeiten hinsichtlich des Therapieerfolges und der UE aus den Daten der Techniker Krankenkasse und der Literatur generiert und in einem Modell abgebildet sind, werden die einzelnen Maßnahmen mit Kosten bewertet. 3.1 Betrachtete Population In das telemedizinische Projekt Zertiva® der Techniker Krankenkasse wurden Versicherte einbezogen, die aufgrund von Herzinsuffizienz einen stationären Aufenthalt hatten und in eine telemedizinische Betreuung im Rahmen des Projektes Zertiva® einwilligten. Für die Vergleichsgruppe wurden Versicherte aus den Routinedaten der Techniker Krankenkasse selektiert, die in dem gleichen Zeitraum ebenfalls einen stationären Aufenthalt aufgrund ihrer Herzinsuffizienz hatten, aber nicht am Programm teilnahmen. Alle Patienten konnten theoretisch jede der beiden betrachteten Alternativen erhalten.
536
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Die Behandlung wird im vorliegenden Modell sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor betrachtet. 3.2 Betrachtungszeitraum Der Betrachtungszeitraum beginnt mit der Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus und wird in dieser Modellrechnung auf 180 Tage festgelegt. Die relevanten Kostenparameter werden für den gesamten Zeitraum erfasst. 3.3 Datenbasis Das auf der Studie Trans-European Network (Home Monitoring Study Telemonitoring for chronic Heart Failure, TEN-HMS)2 basierende Markov-Modell wurde mit den Daten der Techniker Krankenkasse aus dem Telemedizin-Projekt Zertiva® gerechnet. Für Daten, die für die Wirtschaftlichkeitsanalyse nicht zur Verfügung standen, wurde auf die Literatur zurückgegriffen. 3.4 Telemedizinisches Projekt Zertiva® Das telemedizinische Projekt Zertiva® der Techniker Krankenkasse wurde ab November 2003 durchgeführt. Zufällig ausgewählte Kliniken rekrutierten bundesweit Patienten, die in Zusammenhang mit der Herzinsuffizienz einen stationären Aufenthalt hatten, der nicht länger als 8 Wochen zurücklag. Das Programm Zertiva® umfasst eine Schulung und Betreuung via Telefon mit einer Erreichbarkeit des telemedizinischen Zentrums rund um die Uhr. Patienten in den Stadien NYHA III und IV erhalten zusätzlich Geräte zur telematischen Datenübertragung (Waage und Blutdruckmessgerät). Dieser Service verursachte pro Patient durchschnittliche Kosten in Höhe von 687,21 €, die vom NYHA-Stadium des Patienten abhängig sind. Die Daten des Zertiva®-Projekts wurden dem Institut für Empirische Gesundheitsökonomie zur Modellierung übermittelt. Nicht enthalten waren darin Informationen zu den ambulanten Leistungen, den Arzneimitteln und den Notarzteinsätzen. Hier musste auf Angaben aus der Literatur zurückggriffen werden. Die Zusammensetzung der zu vergleichenden Patientenkohorten im Zertiva®-Projekt war unterschiedlich. Die Patienten der Telemedizingruppe hatten eine deutlich bessere Prognose im NYHA-Stadium3, waren im Durchschnitt 2 3
Nach Angaben der Firma PHTS Telemedizin. Allgemein maßgebliche Einteilung von Herzkrankheiten in klinische Schweregrade I – IV der New York Heart Association (NYHA).
537 Telemedizin in der Tertiärprävention
. Tabelle 1. Übersicht über relevante Patientencharakteristika
Charakteristikum
Standard Kohorte (n=988)
Telemedizin Kohorte (n=164)
Gepaarte Stichprobe 2 x (n=111)
Kohorte
85,8 %
14,2 %
50% / 50 %
NYHA II
29,3 %
79,3 %
76,6 %
NYHA III
38,2 %
18,3 %
19,8 %
NYHA IV
32,6 %
2,4 %
3,6 %
Weiblich
27,9 %
15,9 %
10,8 %
4,3 %
1,8 %
1,8 %
Arterielle Hypertonie
82,3 %
75,6 %
73,9 %
COPD
20,7 %
28,7 %
8,1 %
Hyperthyreose
7,5 %
27,4 %
3,6 %
Anämie
5,1 %
23,8 %
1,8 %
Tod
Alter (Mittel ± Sd.)
71,7 ± 10,8
62,7 ± 9,1
64,1 ± 9,7 / 62,8 ± 9,1
9 Jahre jünger als die Patienten der Standardgruppe, verstarben in Relation zur Standardgruppe seltener und der Anteil der Männer war etwa doppelt so groß. Die Anteile der Begleiterkrankungen waren allerdings in der Telemedizingruppe bis auf die arterielle Hypertonie etwas höher als in der Standardgruppe. Um eine Vergleichbarkeit der Patientenkohorten bezüglich des Schweregerades der Herzinsuffizienz und der Demographie zu erreichen, wurden mit einer statistischen Prozedur (Matched-Pairs-Prozess) eine Stichprobe mit vergleichbaren Paaren aus beiden Behandlungsgruppen bezüglich des NYHA-Stadiums, des Geschlechts, des Überlebens, der vier Begleiterkrankungen und des Lebensalters gezogen. Daraus resultieren 111 vergleichbare Patientenpaare aus beiden Behandlungsgruppen. . Tabelle 1 enthält die prozentualen Anteile der Patientencharakteristiken vor und nach dem Matching.
538
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 2. Auswertungsergebnisse des Telemedizin-Projektes Zertiva®
Daten der ausgewerteten TKK-Patienten (für 180 Tage)
Standardgruppe
Telemedizin
Anzahl Patienten
111
111
Durchschnittliche Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage pro Patient
6,46
2,91
Anzahl Einweisungen
63
37
Anzahl Einweisungen pro Patient
0,5676
0,3333
Anzahl Patienten mit stationärem Aufenthalt
46
28
Summe Krankenhaustage
754
196
Durchschnittliche Krankenhaustage je Fall
11,97
5,3
Anzahl stationäre Rehabilitationen
28
3
Summe stationäre Rehabilitationstage
660
65
Durchschnittliche Rehabilitationstage pro Patient
5,95
0,59
Summe Krankenhauskosten (per DRG berechnet)
304.897 €
94.725 €
Summe Krankenhauskosten inkl. Rehabilitationen
370.031 €
101.329 €
Summe Rehabilitationskosten
65.134 €
6.604 €
Rehabilitationskosten pro Fall
2.326 €
2.201 €
Rehabilitationskosten pro Patient
587 €
59 €
Durchschnittliche stationäre Kosten inkl. Rehabilitation
5.873,50 €
2.739 €
Bezogen auf die ursprünglichen Daten, ist die »gematchte« Stichprobe durch ein niedrigeres NYHA-Stadium, einem höheren Anteil an Männern, weniger Begleiterkrankungen, einem niedrigeren Alter und einer geringeren Todesrate zu beschreiben.
539 Telemedizin in der Tertiärprävention
Da in beiden gematchten Gruppen mit 111 Patienten jeweils nur zwei Todesfälle im Beobachtungszeitraum auftraten, wurde die Letalität nicht weiter berücksichtigt. Die in . Tabelle 2 aufgeführten Daten der Auswertung des Telemedizin-Projektes Zertiva® wurden für die Modellrechnung verwendet. 3.5 Pilot-Studie »TEN-HMS« Die TEN-HMS4 wurde als randomisierte, prospektive Pilot-Studie (Evidenzstufe Ib) (Rychlik 1999 B) zum Effekt einer telemedizinischen Betreuung auf die Therapie der Herzinsuffizienz durchgeführt. Insgesamt wurden 418 Patienten mit einer chronischen Herzinsuffizienz eingeschlossen: 85 in der Standardtherapiekohorte ohne telemedizinische Begleitung, 170 in einer Study-NurseKohorte (in dieser Modellrechnung nicht betrachtet) und 163 in der Telemedizin-Kohorte. Die Beobachtungsdauer betrug 240 Tage. Eingeschlossen wurden Patienten, die 4 sich im Stadium NYHA II–IV befanden, 4 medikamentös mit Schleifendiuretika behandelt wurden, 4 unter einer links-ventrikulären Dysfunktion litten, 4 einen stationären Aufenthalt innerhalb der letzten sechs Wochen vor dem Beobachtungszeitraum aufgrund der Herzinsuffizienz hatten, 4 in den letzten 24 Monaten mindestens einen ungeplanten stationären Aufenthalt aufgrund kardiovaskulärer Probleme hatten 4 oder eine Ejektions-Fraktion < 25 % hatten 4 oder mindestens 100 mg Furosemide täglich bekamen. Auf die Daten der TEN-HMS wird bezüglich des Arzneimittelverbrauchs, der Leistungen im ambulanten Sektor und der Notarztkosten zurückgegriffen.
4 Markov-Modell Das Markov-Modell stellt ein quantitatives Modell von Krankheitsentwicklungen dar, das die Sequenz und Häufigkeit möglicher Entwicklungszustände unter verschiedenen therapeutischen Szenarien beschreibt und damit die Konsequenzen von Therapieentscheidungen hinsichtlich einer Prognose übersichtlicher macht (Rychlik 1999 A) (Rychlik 1999 B). 4
Nach Angaben der Firma PHTS Telemedizin.
540
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Abb. 2. Schematische Darstellung des Behandlungsmodells
Ausgangspunkt dieses Modells (. Abbildung 2, dargestellt für telemedizinisch betreute Patienten) ist eine chronische Herzinsuffizienz des Patienten, aufgrund derer ein stationärer Aufenthalt notwendig war. Im Modell wird die Entlassung aus dem Krankenhaus als Beginn gewählt. Innerhalb der weiteren Behandlung kann der Patient seinen Hausarzt oder Kardiologen aufsuchen. Bei Bedarf ist auch der Einsatz eines Notarztes oder ein erneuter stationärer Aufenthalt möglich. Der zeitliche Verlauf wird in Form von Intervallen dargestellt, deren Dauer anhand medizinischer und ökonomischer Gründe definiert wird. Die Zykluslänge muss über alle Zyklen einheitlich sein. Hier wurde für alle Therapiealternativen eine Zyklusdauer von 45 Tagen gewählt (ergibt bei 180 Tagen vier Zyklen). Die Behandlungsstationen können mehrere Zyklen hintereinander wiederholt durchlaufen oder auch in beliebiger Reihenfolge aufeinander folgen (. Abbildung 3).
5 Wahrscheinlichkeiten Die Erfolgswahrscheinlichkeiten der beiden Therapiealternativen ergeben sich aus den Daten der Techniker Krankenkasse. Als erfolgreich behandelt wird ein Patient ohne stationären Aufenthalt innerhalb von sechs Monaten definiert.
Telemedizin in der Tertiärprävention 541
. Abb. 3. Konzeption des Markov-Modells
542
D · Medizinische Versorgung und Prävention
In der Standard-Kohorte hatten 65 von 111 Patienten keinen stationären Aufenthalt (Erfolgswahrscheinlichkeit 0,586), in der telemedizinisch betreuten Kohorte 83 von 111 Patienten (Erfolgswahrscheinlichkeit 0,748). Die Übergangswahrscheinlichkeiten für das Markov-Modell ergeben sich zunächst aus den Daten der Techniker Krankenkasse und den Daten der TENHMS.
6 Kostenparameter Es werden die Kosten der Arzneimitteltherapie, der ärztlichen Leistungen, der Therapien der gegebenenfalls auftretenden UE und, soweit angefallen, die Kosten der telemedizinischen Betreuung einbezogen. Ferner werden die Kosten der Arbeitsunfähigkeit mit berücksichtigt. Bei den gematchten Patienten beträgt das durchschnittliche Alter der Standardtherapie-Patienten 64,1 Jahre und das der Telemedizin-Kohorte 62,8 Jahre. Trotz des relativ hohen Durchschnittsalters muss davon ausgegangen werden, dass sich unter den Patienten sowohl Arbeitnehmer, als auch Rentner befinden. Daher wird zur Berechnung der Punktzahl auf Grundlage der Daten des statistischen Bundsamtes von 65 % Arbeitnehmer und Mitversicherte und 35 % Rentner ausgegangen5. Bei den Therapien wird auf die Berücksichtigung der Eigenanteile der Patienten an den verordneten Arzneimitteln verzichtet. Zum einen werden einige Patienten nach § 62 SGB V von der Zuzahlung befreit sein. Zum anderen haben sich gerade in dem Beobachtungszeitraum die Zuzahlungsregelungen verändert. 6.1 Kosten im ambulanten Sektor Zu den Kosten des ambulanten Sektors gehören die ärztliche Leistungen von Hausarzt und / oder anderen Fachärzten und diagnostische Maßnahmen, die im Rahmen des EBM6 mit einem Punktwert von 0,0385 €7 berechnet werden, 5 6
7
http://www.destatis.de/basis/d/solei/soleitab1.htm. Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM): Stand: Oktober 2001; Dienstauflage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Punktwert auf Grundlage von eigenen Berechnungen, basierend auf den Angaben von 19 Kassenärztlichen Vereinigungen für März 2004.
543 Telemedizin in der Tertiärprävention
. Tabelle 3. Kosten pro Ereignis
Kostenparameter
Kosten pro Ereignis je Kohorte (€) Standard
Telemedizin
Hausarztbesuch
15,12
15,12
Facharztbesuch
17,57
17,57
Diagnostik
7,70
7,70
Arzneimittel pro Patient
243,09
247,83
stationärer Aufenthalt inkl. Reha*
5873,50
2738,61
Notfall
385,00
385,00
Arbeitsunfähigkeit pro Patient*
479,12
215,83
Monitoring (f. 180 Tage)*
0,00
687,21
* Werte entstammen der Auswertung des Telemedizin-Projektes Zertiva®.
sowie Arzneimittelkosten, die auf Basis der Roten Liste (Rote Liste 2004) ermittelt werden. Daten zu den Kosten können aus einer Kohortenstudie zur Wirksamkeit und Relevanz der Behandlung der Herzinsuffizienz entnommen werden (Rychlik et al. 2004). Demnach werden pro Besuch im Zusammenhang mit der Herzinsuffizienz beim Hausarzt durchschnittlich 15,12 €, für einen Facharztbesuch 17,57 € aufgewendet. Hinzu kommen durchschnittliche Kosten für diagnostische Leistungen in Höhe von 7,70 €, die bei jedem Arztbesuch – unabhängig davon, ob es sich um einen Hausarzt oder um einen Facharzt handelt – generiert werden. Für einen Hausbesuch entstehen Kosten in Höhe von 15,40 € für beide Kohorten. 6.1.1 Ärztliche Leistungen Lt. TEN-HMS fallen innerhalb von sechs Monaten pro Patient in der Standardkohorte durchschnittlich 1,05 Besuche beim Hausarzt, 0,37 Hausbesuche und 0,30 Facharztbesuche an. In der Telemedizin-Kohorte fallen innerhalb von
544
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 4. Verordnete Arzneimittel
Arzneimittelgruppe
Anteil Standard
Telemedizin
Schleifendiuretika
96,5 %
96,4 %
Kalium-sparende Diuretika
53,0 %
55,0 %
Thiazid-Diuretika
4,7 %
4,2 %
ACE-Hemmer
76,0 %
82,0 %
Beta-Blocker
55,0 %
56,0 %
Herz-Glykoside
47,0 %
41,0 %
sechs Monaten pro Patient 2,09 Hausarztbesuche, 0,75 Hausbesuche und 0,46 Facharztbesuche an. 6.1.2 Kosten für Arzneimittelverordnungen Bei der Berechnung der Kosten für die Arzneimittel werden jeweils die fünf verordnungsstärksten Präparate je Arzneimittelgruppe aus dem Arzneiverordnungsreport 2004 (Schwabe u. Paffrath 2004) berücksichtigt und daraus ein Durchschnittspreis errechnet. Die lt. TEN-HMS verordneten Arzneimittel und die sich daraus ergebenden Kosten werden in . Tabelle 4 und . Tabelle 5 dargestellt. 6.1.3 Kosten der zusätzlichen Betreuung der Patienten Den Teilnehmern steht ein telemedizinisches Call-Center rund um die Uhr für Fragen zur Verfügung. Patienten der NYHA-Stufe III und IV erhalten außerdem noch eine Waage und ein Blutdruckmessgerät. Diese Daten können dann per Telefon übermittelt werden.8 Die Kosten für diesen Service ergeben sich aus der Summe der Service-Preise für Zertiva®, gewichtet mit dem jeweiligen Anteil der Patienten mit Herzinsuffizienz NYHA-Stadien II bis IV9. Die Kosten betragen durchschnittlich pro Patient 687,21 € in sechs Monaten. 8 9
Wie hier beim Zertiva®-Programm der Firma PHTS Telemedizin GmbH. Angabe der Techniker Krankenkasse vom 21.01.05.
545 Telemedizin in der Tertiärprävention
. Tabelle 5. Kosten für Arzneimittel für sechs Monate pro Patient
Arzneimittelgruppe
Kosten Arzneimittel f. 180 Tage pro Patient (€) Standard
Telemedizin
Schleifendiuretika
68,96
68,89
Kalium-sparende Diuretika
78,99
81,97
Thiazid-Diuretika
1,87
1,67
ACE-Hemmer
28,75
31,02
Beta-Blocker
54,84
55,84
Herz-Glykoside
9,68
8,44
Summe
243,09
247,83
6.2 Kosten des stationären Sektors Kosten der stationären Aufenthalte werden mit Hilfe der Diagnosis related Groups (DRGs) ermittelt (DRG online 2004). Angaben zu Häufigkeit, Dauer und abgerechneten DRG-Ziffern der stationären Aufenthalte entstammen Daten der Techniker Krankenkasse. Hinzu kommen die Kosten der Rehabilitation mit einem durchschnittlichen Tagessatz von 98,95 €. Die 111 Patienten der Standardtherapie-Kohorte haben insgesamt 63 stationäre Aufenthalte mit einer durchschnittlichen Dauer von 12 Tagen, die insgesamt Kosten in Höhe von 304.897 € generieren. Die Kosten der Rehabilitation betragen in dieser Kohorte insgesamt 65.134 € für 660 Tage. Daraus ergeben sich durchschnittlich 5873,50 € pro stationärem Aufenthalt inklusive Rehabilitation. Es gibt in der telemedizinisch betreuten Kohorte insgesamt 37 Krankenhausaufenthalte mit einer durchschnittlichen Dauer von 5 Tagen und Kosten in Höhe von insgesamt 94.725 €. Die durchschnittlichen Kosten der Rehabilitation betragen 6.604 € für 65 Tage. Pro stationärem Aufenthalt inklusive Rehabilitation ergeben sich in der telemedizinisch betreuten Gruppe Kosten in Höhe von 2.738,61 €.
546
D · Medizinische Versorgung und Prävention
. Tabelle 6. Kosten der Arbeitsunfähigkeit je Ereignis
Arbeitsunfähigkeit
Standard
Telemedizin
durchschnittl. Tage pro Patient*
6,46
2,91
Kosten in €
479,12
215,83
* Werte entstammen der Auswertung des Telemedizin-Projektes Zertiva®.
Auf Basis der Daten der TEN-HMS treten in der Standard-Kohorte 8 und in der Telemedizin-Kohorte 31 Notfälle auf. Für den Einsatz eines Rettungswagens werden 385 € veranschlagt10. 6.3 Kosten der Arbeitsunfähigkeit Anhand der Daten der Techniker Krankenkasse (Tage pro Patient) werden die Kosten der Arbeitsunfähigkeit ermittelt. Dabei werden die Kosten pro Tag mit 74,17 € angesetzt.11
7 Gesamtkosten der Therapiealternativen Aus den ermittelten Kosten werden zunächst die Gesamtkosten der beiden Alternativen ermittelt, die innerhalb des Beobachtungszeitraumes pro Patient entstehen. Danach wurden die effektivitäts-adjustierten Kosten der jeweiligen Therapie berechnet, d.h. es werden die Kosten pro erfolgreich therapiertem Patient dargestellt. Therapieerfolg ist definiert als Vermeidung stationärer Aufenthalte über sechs Monate. Wie in der . Tabelle 7 zu sehen, ist die Therapiealternative mit telemedizinischer Betreuung sowohl hinsichtlich der Gesamtkosten (pro Patient innerhalb von 180 Tagen) als auch bezüglich der effektivitäts-adjustierten Kosten aus gesundheitspolitischer Sicht die kosteneffizientere Alternative. 10
Mittelwert der Kosten für den Einsatz eines Notarztes und Rettungswagens in der Stadt Köln und dem Oberbergischen Kreis. 11 Berechnet nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Bruttojahresentgelt für 2003. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 05.03.04.
547 Telemedizin in der Tertiärprävention
. Tabelle 7. Gesamtkosten und effektivitäts-adjustierte Kosten
Kohorte
Gesamt-Kosten (€)
Erfolgsrate (%)*
efektivitäts-ajustierte Kosten (€)
Standard
3.746
0,586
6.397
Telemedizin
2.292
0,748
3.065
* Werte entstammen der Auswertung des Telemedizin-Projektes Zertiva®.
Bereits bei den Gesamtkosten besteht ein Kostenvorteil der Telemedizin in Höhe von 1.454 € pro Patient. Dies ist in erster Linie auf die geringeren Kosten im stationären Sektor für telemedizinisch betreute Patienten zurückzuführen. Bei den Kosten pro erfolgreich therapiertem Patient beträgt dieser Vorteil 3.332 €. Um einen Patienten erfolgreich behandeln zu können, entstehen unter Standardtherapie mehr als doppelt so hohe Kosten als mit zusätzlicher telemedizinischer Betreuung. Um den Einfluss bestimmter Kostenfaktoren auf die Ergebnisse zu prüfen, werden Sensitivitätsanalysen durchgeführt. Da der stationäre Aufenthalt hohe Kosten verursacht, wird das Modell hinsichtlich durchschnittlicher Kosten und der Wahrscheinlichkeit eines stationären Aufenthalts variiert. So kann der Einfluss auf die Ergebnisse abgeschätzt werden. Auch bei einer Variation von Kostenhöhe und Wahrscheinlichkeit bleibt die Telemedizin die kosteneffektivere Alternative. Daher gilt das Modell als robust.
8 Zusammenfassung und Limitierungen Eine telemedizinische Betreuung verringert die Rehospitalisierungsrate und verkürzt die stationären Aufenthalte. Mit dieser Modellrechnung wird gezeigt, dass eine begleitende telemedizinische Betreuung von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz bei zusätzlichem Nutzen für die Patienten die kosteneffektivere Alternative ist. Die Gesamtkosten und die effektivitäts-adjustierten Kosten sind aus gesundheitspolitischer Sicht trotz zusätzlicher Systemkosten niedriger als ohne Telemedizin. Für Patienten mit telemedizinischer Betreuung wurden weniger
548
D · Medizinische Versorgung und Prävention
Krankenhausaufenthalte notwendig, die zudem kürzer waren. Dies führte bei der Abrechnung nach DRGs zu Abschlägen aufgrund der kurzen Verweildauer. Da für die ambulanten Leistungen und die Arzneimittelkosten keine Daten des gesetzlichen Krankenversicherers zur Verfügung stehen, werden hierfür andere Datenquellen berücksichtigt. Die Häufigkeiten der Hausarzt- und Facharztbesuche sowie der Notarzteinsätze entstammen der Studie TEN-HMS12. Bezüglich der Kosten der Arztbesuche wird die pharmakoökonomische Studie von Rychlik et al. (Rychlik et al. 2004) berücksichtigt. Durch den Einsatz der Matched-Pairs-Technik wurden die Voraussetzungen für eine statistische Vergleichbarkeit der Behandlungsgruppen gewährleistet. Die Hauptcharakteristika der verglichenen Patientengruppen sind NYHAStadium II (77%), Geschlecht männlich (89%) und die Begleiterkrankung arterielle Hypertonie (74%). Für diese Patienten konnte der Nutzen und die Kosteneffektivität einer Telemedizinischen Betreuung nachgewiesen werden.
9 Konklusion Es kann festgehalten werden, dass die hohen Erwartungen an die Telemedizin im Ergebnis noch übertroffen wurden. Der Einsatz der Telemedizin führt zwar zunächst zu einer erhöhten Inanspruchnahme von ambulanten Leistungen, bewirkt aber höhere Einsparungen im stationären Sektor. Dies stützt die These, dass bei telemedizinischer Betreuung eine frühere Behandlung erfolgt und so eine Progression der Herzinsuffizienz verlangsamt werden kann. Über die Herzinsuffizienz hinaus könnten Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen wie z.B. Diabetes oder weiteren Herzkreislauferkrankungen ebenfalls von der telemedizinischen Betreuung profitieren.
Literatur AWMF online. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Herz- und Kreislaufforschung http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF Benatar D., Bondmass M., Ghitelman J., Avitall B. (2003): Outcomes of chronic heart failure [In Process Citation]. Arch Intern Med; 163 (3): 347–52
12
Angaben der Firma PHTS Telemedizin.
549 Telemedizin in der Tertiärprävention
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E Prävention in der Zahn-, Mundund Kieferheilkunde Präventionsorientierte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – wichtige Krankheitsbilder und deren oralprophylaktischer Zugang – 553 Dietmar Oesterreich, Sebastian Ziller
Zahnverlust und Zahnersatz vor dem Hintergrund des demographischen Wandels – 575 Stellenwert der Prävention
Ursula Schütte, Michael Walter
553 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Präventionsorientierte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – wichtige Krankheitsbilder und deren oralprophylaktischer Zugang Dietmar Oesterreich, Sebastian Ziller* Abstract Zahnkaries und entzündliche Erkrankungen des Zahnhalteapparates sind die häufigsten Erkrankungen im Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich, deren NichtTherapie zum Zahnverlust führt. In Deutschland sind immer noch mehr als 95% der Erwachsenen von einer der beiden Erkrankungen betroffen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Zahnerkrankungen ist eindrucksvoll. Die Möglichkeiten der Prävention dieser epidemiologisch bedeutenden Erkrankungen sind sehr vielfältig und bedeutsam für die deutsche Präventionslandschaft. Erfolge sind in Deutschland vor allem für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu verzeichnen. Defizite existieren u.a. bei der prophylaktischen Betreuung so genannter Risikogruppen, u.a. bei pflegebedürftigen Senioren und bei Menschen mit Behinderungen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass präventive Strategien in der Zahnmedizin möglichst lebenslang, altersspezifisch und risikogruppenorientiert ausgerichtet sein sollten, damit es gelingt, sozial- und altersbedingte Ungleichheit von Mundgesundheitschancen zu verringern und die Eigenverantwortung des Einzelnen zu fördern, welche von zahnärztlichen individualprophylaktischen Betreuungskonzepten ergänzt und flankiert werden. Ziel ist es, langfristig den Umfang restaurativer Maßnahmen v.a. im jüngeren und mittleren Lebensalter zu reduzieren und die Lebensqualität durch den Erhalt der oralen Gesundheit in ihrer Wechselwirkung zum Gesamtorganismus positiv zu beeinflussen. Die präventionsorientierte Zahnmedizin wird dabei zukünftig wesentlich von Aspekten der Lebensqualitäts- und Versorgungsforschung, der Evidenz* e-mail:
[email protected]
554
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
basierung, der Qualitätsförderung sowie der Entwicklung der Versorgungslandschaft beeinflusst. Schlüsselworte: Mundgesundheit, orale Prävention, Prophylaxe, Risikogruppen, Mundgesundheitsziele
1. Einleitung Die Möglichkeiten der Prävention von epidemiologisch bedeutenden Erkrankungen im Bereich der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde sind sehr vielfältig und bedeutsam für die deutsche Präventionslandschaft. Die Entwicklung von der kurativen zur präventiven Zahnmedizin wird seit mehreren Jahren von zentralen Public Health-Forschungsfeldern wie Epidemiologie, Zieldefinitionen, Versorgungs- und Lebensqualitätsforschung, Evidenzbasierung und Qualitätsförderung begleitet. Zahnkaries und entzündliche Erkrankungen des Zahnhalteapparates (Parodontopathien) sind die häufigsten Erkrankungen im Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich, deren Nicht-Therapie zum Zahnverlust führt. In Deutschland sind immer noch mehr als 95% der Erwachsenen von einer der beiden Erkrankungen betroffen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Zahnerkrankungen ist eindrucksvoll. So gaben die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2003 für Zahnersatz und zahnärztliche Behandlung 11,8 Mrd. EUR aus. Dies entsprach etwa 8,2% ihrer gesamten Leistungsausgaben (BMGS 2004). Die Ausgaben konzentrierten sich überwiegend auf zahnerhaltende Maßnahmen und Zahnersatz. Erfolge bei der Prävention oraler Erkrankungen, sind in Deutschland vor allem für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu verzeichnen. Defizite existieren u.a. bei der prophylaktischen Betreuung sogenannter Risikogruppen, u.a. bei pflegebedürftigen Senioren und bei Menschen mit Behinderungen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass präventive Strategien in der Zahnmedizin möglichst lebenslang, altersspezifisch und risikogruppenorientiert ausgerichtet sein sollen. Ziel ist es, langfristig den Umfang restaurativer Maßnahmen v.a. im jüngeren und mittleren Lebensalter zu reduzieren und die Lebensqualität durch den Erhalt der oralen Gesundheit in ihrer Wechselwirkung zum Gesamtorganismus positiv zu beeinflussen.
555 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Abb. 1. Rückgang des Kariesbefalls bleibender Zähne (DMF-T) bei 12-Jährigen in Deutschland
2. Erfolge der zahnmedizinischen Prävention in Deutschland International vergleichende Querschnittsstudien zeigen in den industrialisierten Ländern Westeuropas und in den USA seit den 1970er-Jahren einen kontinuierlichen Rückgang der Prävalenzen von Zahnkaries, sog. caries decline (Chen et al. 1997, Arnljot et al. 1985). Bedingt durch fehlende gesundheitspolitische Anreize und sozialpolitische Richtungsentscheidungen war dieser Kariesrückgang in Deutschland (alte Bundesländer) erst relativ spät zu beobachten (. Abbildung 1). Besonders eindrucksvoll sind seit Ende der 1980er-Jahre die Erfolge bei der Entwicklung der Mundgesundheit bei den 12-Jährigen in Deutschland (DAJ 2005, IDZ 1999, DAJ 1998, IDZ 1991): Mit einem mittleren DMF-T Wert (decayed = kariöse, missed = fehlende, filled = gefüllte Zähne) von 1,21 im Jahr 2000 unterschreitet Deutschland den DMF-T – Grenzwert von 2, den die WHO als Zielvorgabe für das Jahr 2000 formuliert hat, deutlich und ist im internationalen Vergleich bei der Mundgesundheit in die Spitzengruppe aufgerückt (DAJ 2001, WHO 1979). Man kann also von einer wirklichen, in der deutschen Präventionslandschaft Vorbildcharakter besitzenden, Erfolgsstory der Präventionsbemühungen bei Kindern und Jugendlichen sprechen.
556
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Ursachen Bevölkerungs-, gruppen- und individualprophylaktische Maßnahmen, die verbesserte häusliche Zahnpflege (mit fluoridhaltigen Zahncremes) und die zahnärztliche Versorgung sind verantwortlich für die kontinuierliche Verbesserung der Mundgesundheit. Seit der Änderung der Sozialgesetzgebung im Jahre 1989 profitieren Kinder und Jugendliche vor allem von den Fluoridierungsmaßnahmen und Aufklärungsaktionen im Rahmen der Gruppenprophylaxe. Im letzten Jahrzehnt hat sich hier eine erfolgreiche Kooperation zwischen den Zahnärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, den gesetzlichen Krankenkassen, den Einrichtungen der öffentlichen Hand und den niedergelassenen Zahnärzten als wesentliche Träger dieser Aktivitäten vor Ort, etabliert. Diese positive Entwicklung der Mundgesundheit bei Kindern und Jugendlichen wurde durch die Einführung der Individualprophylaxe-Positionen in die GKV im Jahre 1991 (Erweiterung 1993) entscheidend verstärkt. Insbesondere die präventive Fissurenversiegelung der hinteren Backenzähne hat einen besonderen Beitrag zum Kariesrückgang geliefert (DAJ 2005, DAJ 2001, IDZ 1999). Die bestehenden gesetzlichen Regelungen der §§ 21, 22, 26 und 28 SGB V sind daher eine gute Basis für eine erfolgreich zu praktizierende zahnmedizinische Prävention im Kindes- und Jugendalter, denn hier werden die Grundlagen für einen eigenverantwortlichen Umgang mit der Mundgesundheit im Erwachsenenalter gelegt. Schließlich beeinflussen auch das zunehmende orale Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung und der wissenschaftliche Fortschritt auf dem Gebiet der Zahnmedizin in Diagnostik, Prävention und Therapie nachhaltig die oben beschriebene Verbesserung der Mundgesundheit.
3. Krankheitsbilder 3.1 Zahnkaries Die Karies ist ein Krankheitsbild, bei dem es durch das Zusammenwirken von Nahrung, Zahnbelag (Plaque) und Mikroorganismen über längere Zeit zur irreversiblen Zerstörung der Zahnhartsubstanz kommt. Der Zerstörungsprozess läuft um so schneller ab, je häufiger und länger zuckerhaltige Nahrungsmittel verzehrt werden und je seltener der bakterielle Belag mechanisch entfernt wird. Die Karies kann vor allem bei Kindern schnell voranschreiten. Neue
557 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Tabelle 1. Zahngesundheit (Karieserfahrung)
Alter in Jahren
Mittlere Zahl betroffener Zähne Gesamt DMF-T 1989*/1992**/1994***
1997*/2000**/2004***
6–7
2,89***
2,16***
9
1,5*
0,45**
12
2,44**
0,98***
35–44
17,5*
16,1*
65–74
–
23,6*
Quelle: IDZ-Surveys 1989, 1992, 1997; DAJ-Studien 1994, 2000, 2004.
kariöse Defekte treten besonders zwischen dem 0. und 2., dem 4. und 8. sowie zwischen dem 11. und 17. Lebensjahr auf, da in diesen Altersphasen viele neue Zähne durchbrechen und Defizite bei der Mundhygiene auftreten. Etwa ab dem 55. Lebensjahr wird die Karies an den Wurzeloberflächen zum Hauptproblem, weil diese durch alters- oder krankheitsbedingte Abbauvorgänge am Zahnhalteapparat immer mehr frei liegen. Verbreitung Für die statistische Erfassung der Karies wird üblicherweise der DMF-T- bzw. DMF-S-Index verwendet, bei dem die kariösen (decayed), fehlenden (missed) und gefüllten (filled) Zähne (teeth) bzw. Zahnflächen (surfaces) addiert werden. . Tabelle 1 zeigt bevölkerungsrepräsentative Daten zur Kariesverbreitung und Versorgung für Jugendliche, Erwachsene und Senioren in Deutschland, die auf den Deutschen Mundgesundheitsstudien (DMS), durchgeführt vom Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ), sowie auf den bundeslandbezogenen epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) basieren. Für Schulkinder im Alter von 6–7, 9 bzw. 12 Jahren reduzierte sich die Karieserfahrung im Vergleich zu den letzten Erhebungen eindeutig. Dem gegenüber fand sich bei den 35–44-Jährigen keine nennenswerte Verbesserung der Situation.
558
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Bei Kleinkindern kann die verlängerte, übermäßige Aufnahme von zuckeroder säurehaltigen Getränken (Instanttees, -Kakao, Honigmilch, Fruchtsäfte) über Nuckelgefäße zur zunächst kariösen Erkrankung an den Milchschneidezähnen des Oberkiefers und später an weiteren Zähnen führen. Dieser zahnschädigende Einfluss ist vielen Eltern immer noch nicht bekannt. Die daraus resultierende Saugerflaschen-Karies (Nursing-Bottle-Syndrom, Early-Childhood-Caries) tritt in Deutschland bei den 1 bis 6-Jährigen mit einer Häufigkeit zwischen 5% und 10% je Geburtsjahrgang auf (Wetzel 2002). In den letzten Jahren hat der Einfluss flächenhafter nicht-kariöser Zahnschädigungen vom Kleinkind- über das Jugend- bis in das Erwachsenenalter zugenommen. Die Zufuhr stark säure- und/oder zuckerhaltiger Getränke (Softdrinks, Limonaden, Cola, Fruchtsäfte, Fitnessgetränke) führt durch die Herauslösung von Mineralien aus dem Zahnschmelz primär zu Zahnschmelzerosionen. Erosionen und keilförmige Defekte traten im Jahre 1997 auch bei den 35–44-Jährigen mit einer Häufigkeit von 42,1% und bei den 65–74-Jährigen zu 46,3% auf. Der Karies-Sanierungsgrad, der aufzeigt in welchem Umfang die kariösen Defekte versorgt sind, ist sowohl bei den Erwachsenen (35–44-Jährige) als auch bei den Senioren (65–74-Jährige) mit über 90% insgesamt als sehr hoch einzuschätzen (IDZ 1999). In der im Jahr 2004 in allen Bundesländern durchgeführten DAJ-Studie wiesen 35%–60% der 6–7-Jährigen, und 51%–68% der 12-Jährigen naturgesunde bleibende Gebisse auf (DAJ 2005). Unter den 35–44jährigen fanden sich in der DMS III-Studie aus dem Jahr 1997 kaum Personen ohne Karieserfahrung (0,8%) (IDZ 1999). Bei Erwachsenen nimmt mit zunehmendem Alter die Karies an den Wurzeloberflächen deutlich zu. Die DMS III-Studie zeigte bei 11,8% der 35–44Jährigen und bei 15,5% der 65–74jährigen Untersuchten mindestens eine behandelte oder unbehandelte Wurzelkaries. Wurzelkaries wird ein zunehmendes Problem in der zahnmedizinischen Versorgung werden, da erstens der Anteil der Älteren in der Bevölkerung zunimmt, und da zweitens bei immer mehr Menschen die eigenen Zähne bis ins hohe Alter im Munde verbleiben (»teeth at risk«). 3.2 Gingivitis und Parodontitis Im Hinblick auf die Ursachen der Parodontopathien (entzündliche Erkrankungen des Zahnfleisches bzw. des Zahnhalteapparates) wird wissenschaftlich ein im Prinzip analoges Modell wie für die Kariesätiologie zu Grunde gelegt. Die
559 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
bakteriellen Zahnbeläge (Plaque) spielen die zentrale Rolle. Die Entzündungen werden durch Abbauprodukte (Toxine) aus der Plaque hervorgerufen. Der Organismus reagiert, indem sich zunächst das Zahnfleisch (Gingivitis) und später die tiefer liegenden Anteile des Zahnhalteapparates, einhergehend mit einem Kieferknochenabbau, entzünden (Parodontitis). Das Ausmaß der Entzündung wird von Menge und Zusammensetzung der Plaque bestimmt. Gingivitis und Parodontitis sind die häufigsten Formen der entzündlichen Parodontopathien. Ob sich aus einer Gingivitis eine Parodontitis entwickelt, hängt von der Art der vorhandenen Bakterien, der Reaktion des Immunsystems sowie genetischen Faktoren und speziellen Risikofaktoren wie dem Rauchen ab. Bei der Parodontitis entstehen durch Knochenverlust Zahnfleischtaschen zwischen Zahn und Zahnfleisch, die im fortgeschrittenen Stadium zur Zahnlockerung führen. Als Spätfolge droht ähnlich wie bei der unbehandelten Karies der Zahnverlust. Die Parodontitis setzt in der Mehrzahl der Fälle jenseits des 45. Lebensjahrs ein und kann jahrelang nur mäßig destruktiv sein. Es gibt auch rasch voranschreitende Verlaufsformen, die allerdings bei Kindern und Jugendlichen nur selten vorkommen. In der wissenschaftlichen Literatur häufen sich die Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen einer Parodontitis und dem Auftreten von Allgemeinerkrankungen wie Diabetes, Arteriosklerose, Lungenerkrankungen, Osteoporose und Frühgeburten. Stress wird als Co-Faktor diskutiert (Desvarieux et al. 2005, Wactawski-Wende 2001, Slavkin u. Baum 2000, AAP 1998, Beck 1998, Offenbacher et al. 1998). Verbreitung Die Schwere und das Ausmaß einer gingivalen oder parodontalen Erkrankung bei einzelnen Personen und auch innerhalb einer Bevölkerungsgruppe werden in international vergleichbaren Studien i.d.R. anhand des sog. CPI (Community Periodontal Index) beurteilt (WHO 1997). Die Parodontopathien werden hierbei je nach Schweregrad in fünf Stufen von Grad 0 (gesundes, entzündungsfreies Zahnfleisch und Zahnbett) bis Grad 4 (schwerste Form von Parodontitis mit Funktionsverlust der Zähne) eingeteilt. Parodontalerkrankungen des Grades 1 lassen sich noch durch eine verbesserte häusliche Mundhygiene beheben, bei Grad 2 und 3 muss der Zahnarzt zusätzlich zu den häuslichen Mundhygienemaßnahmen eine professionelle Zahnreinigung (PZR) in engmaschigem Recall durchführen. Grad 4 erfordert zusätzlich parodontalchirurgische Maßnahmen.
560
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Tabelle 2. Parodontalerkrankungen (CPI-Maximalwerte) bei Erwachsenen (35–44 Jährige)
Gesamt
Deutschland
Geschlecht
Ost
West
Männlich
Weiblich
n = 645
n = 136
n = 509
n = 329
n = 317
%
%
%
%
%
CPI = 0 (keine Blutung)
15,1
4,9
17,8
12,9
17,3
CPI = 1 (Blutung)
10,2
6,4
11,2
8,6
11,9
CPI = 3 (Taschentiefe von 4–5 mm)
32,2
45,2
28,7
31,2
33,1
CPI = 4 (Taschentiefe ≥ 6 mm)
14,1
31,3
9,5
17,9
10,1
Quelle: IDZ-Survey 1997.
In den Erhebungen des IDZ aus dem Jahr 1997 (. Tabelle 2) wiesen nach den Kriterien des CPI nur 15,1% der Erwachsenen in der Altersgruppe der 35–44-Jährigen völlig entzündungs- und destruktionsfreie parodontale Verhältnisse auf, bei den Senioren 5,7% (ohne Tabelle). Ein Drittel der Erwachsenen hatte bereits Zahnfleischtaschen mit Taschentiefen von 4–5 mm (CPI Grad 3). Schwere fortgeschrittene parodontale Destruktionen mit Zahnfleischtaschentiefen von 6 mm und mehr (CPI-Grad 4) zeigten sich bei 14,1% der erwachsenen und bei 24,4% der älteren (65–74 Jahre – ohne Abbildung) deutschen Bevölkerung. Geschlechtsspezifische Unterschiede waren am stärksten bei den tiefen Parodontaltaschen ausgeprägt (Grad 4): Fast doppelt so viele Männer wie Frauen zeigten diesen Befund. Noch deutlicher waren die regionalen Unterschiede nach dem CPI: In den neuen Bundesländern wurden schwere Parodontalerkrankungen dreimal so häufig diagnostiziert wie in den alten Bundesländern (IDZ 1999). Der Behandlungsbedarf der an einer mittleren bis schweren Parodontitis erkrankt Menschen wird deutlich höher eingeschätzt als die im Jahr 2003 über die GKV abgerechneten 720.000 Parodontalbehandlungsfälle. Die zukünftige
561 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Aufgabe der Zahnärzte wird es daher sein, sich hier um eine entsprechende Förderung des Mundgesundheitsbewusstseins in der Bevölkerung zu bemühen. Zahnkaries und entzündliche Parodontopathien sind natürlich nicht die einzigen präventablen Zielerkrankungen in der Zahnmedizin. Präventionsund Therapiebedarf bestehen auch bei Zahntraumata, Zahnstellungs- und Bisslagefehlern, den nicht kariös bedingten Zahnhartsubstanzveränderungen (Erosionen, Abrasionen), den Funktionsstörungen des Kiefergelenks (Craniomandibuläre Dysfunktionen) sowie bei dem bedeutenden Komplex der Mundschleimhaut- und oralen Tumorerkrankungen. Ausgehend von den unterschiedlichen Lebensphasen des Menschen, verteilen sich diese Erkrankungen über den gesamten Lebensbogen. Die Mundgesundheit wird zudem durch eine Vielzahl von somatischen, genetischen, psychosozialen und kognitiven Faktoren beeinflusst (7 Abschnitt 3.3). 3.3 Erkrankungsrisiken für orale Erkrankungen Neben dem Zusammenwirken von ungünstigen Ernährungsgewohnheiten sowie Zahnbelagsbildung und Bakterien (mangelnde Mundhygiene) für die Entstehung von Karies und Parodontopathien hat das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) eine Reihe von Erkrankungsrisiken biosozialer und verhaltensabhängiger Art aufgezeigt und dabei festgestellt, dass es im Hinblick auf die Prävention von zahnmedizinischen Erkrankungen und Allgemeinerkrankungen am Beispiel der Koronaren Herzkrankheit große Übereinstimmungen gibt (. Tabelle 3). So führen unter anderem die sozialen Umfeldrisiken (geringe Bildung, niedriges Einkommen) dazu, dass bspw. die Zahnkaries in Deutschland – wie in vergleichbaren Industrieländern (Thomson et al. 2000) – sowohl regional als auch sozial ungleich verteilt ist. Wie das Beispiel der 12-Jährigen für Deutschland zeigt, konzentriert sich die Hauptlast der beobachteten Karies auf eine verhältnismäßig kleine Personengruppe. Dieses sozialmedizinische Problem ist über alle Altersgruppen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. 1997 entfielen 61% aller DMF-Zähne der 12-Jährigen auf nur 22% der Kinder dieser Altersgruppe (IDZ 1999). Die . Tabelle 4 zeigt, welchen Einfluss die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten (hier: Schulbildung der Eltern) auf die Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Der Anteil naturgesunder Gebisse von Kindern und Jugendlichen der Oberschicht liegt deutlich über denen der unteren sozialen Schicht.
562
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Tabelle 3. Ausgewählte Erkrankungsrisiken für KHK und Karies/Parodontitis
Koronare Herzkrankheit
Karies / Parodontitis
Verhaltensrisiken
Rauchen Stress Ernährungsgewohnheiten (Fettzufuhr) Bewegungsmangel
schlechte Mundhygiene Ernährungsgewohnheiten (Zuckerzufuhr) Rauchen (Parodontitis) Stress
soziale Umfeldrisiken
niedriges Einkommen einfache Schulbildung
niedriges Einkommen einfache Schulbildung
somatische Risiken
genetische Ursachen Diabetes mellitus Übergewicht Gefäßanomalien Hypertonie unbehandelte Parodontitis
genetische Ursachen Diabetes (Parodontitis) verminderter Speichelfluss (NW durch Medikamente) Zahnstellung Zahnmorphologie Immunologische Erkrankungen
Quelle: IDZ 2003.
. Tabelle 4. Anteil naturgesunder Gebisse in Prozent bei 12-Jährigen in Abhängigkeit von der Schulbildung der Eltern
Jahr
Schulbildung der Eltern Niedrig
Mittel
Hoch
1989 (DMS I)
9,5%
13,0%
28,6%
1997 (DMSIII)
44,8%
34,3%
50,1%
Quelle: IDZ-Surveys 1989, 1997
Diese Erkenntnisse haben eine erhebliche präventions- und versorgungspolitische Bedeutung, da vor allem Kinder und Jugendliche der unteren Sozialschichten überproportional von dieser Kariespolarisierung betroffen sind. Eine Analyse im Rahmen der IDZ-Studie zeigte, dass Karies bei denjenigen Jugendlichen besonders häufig ist,
563 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
4 die keine Kontrolluntersuchungen beim Zahnarzt durchführen lassen, 4 die sich seltener als zweimal täglich nach dem Essen die Zähne putzen und 4 denen noch nie vom Zahnarzt gezeigt wurde, wie man Zähne putzt.
4. Ansatzpunkte präventiver Strategien In den vorangestellten Abschnitten wurde verdeutlicht, dass es in der Zahnmedizin durch das Zusammenwirken verschiedener Risikoeinflüsse zur Entstehung sowohl von Karies als auch von entzündlichen Zahnbetterkrankungen kommt, die durch äußere Einflussnahmen in ihrer Ausprägung und ihrem Verlauf positiv beeinflusst werden können. Die Mundhygiene, eine ausgewogene Ernährung und die Anwendung von Fluoriden sind die drei Eckpfeiler der zahnmedizinischen Prävention. Idealerweise beginnen präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen bereits im Kindesalter und setzen sich über den gesamten Lebensbogen, altersgruppenspezifisch und risikobezogen fort. 4.1 Mechanische Entfernung des Zahnbelags Die mechanische Entfernung der bakteriellen Zahnbeläge (Plaque) wird über zwei Wege erreicht. Einerseits durch die regelmäßig durchgeführte häusliche Mundhygiene (oral health self care) und zum anderen durch die individualprophylaktische Betreuung in der zahnärztlichen Praxis (professional health care) (Micheelis 2000). Die wichtigsten Maßnahmen der häuslichen Mundhygiene sind das tägliche Zähneputzen mit einer fluoridhaltigen Zahnpasta und die ergänzende Reinigung der Zahnzwischenräume mit Zahnseide oder Zahnzwischenraumbürsten. Regelmäßige zahnärztliche Kontrolluntersuchungen in einem halbjährlichen Rhythmus sind sinnvoll, um Risikofaktoren oder Frühstadien oraler Erkrankungen zu erkennen, da die Plaquekontrolle im Rahmen der häuslichen Mundhygiene in der Regel nur bedingt erfolgreich ist. In der zahnärztlichen Praxis werden primärpräventive (Aufklärung, Motivation, Kontrolle), sekundärpräventive (Früherkennung) und tertiärpräventive (Restauration) Strategien altersgerecht und risikoorientiert miteinander verknüpft. Individualprophylaktisch als sehr zweckmäßig haben sich die Professionelle Zahnreinigung sowie die Fis-
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
surenversiegelung der Backenzähne, v.a. bei Patienten mit erhöhtem Kariesrisiko, erwiesen (Hickel et al. 2004, Axelsson et al. 1991). 4.2 Ausgewogene Ernährung Insbesondere bei der Zahnkaries und den Erosionen handelt es sich um ernährungsmitbedingte Erkrankungen. Vor allem niedermolekulare Kohlenhydrate in Form verschiedener Zucker, die bakteriell innerhalb der Plaque zu Zahnschmelz schädigenden Säuren verstoffwechselt werden, sind kariesauslösend. Zahnerosionen entstehen durch einseitige, kontinuierliche Nahrungsübersäuerung (Fitnessgetränke, Säfte, Eistees, Cola, Limonaden) im Kindes- und Erwachsenenalter (Wetzel 2005). Empfehlungen für eine zahngesunde Ernährung zielen also immer auf eine Verhaltensänderung ab, wobei ernährungspsychologisch zu berücksichtigen ist, dass Reglementierungen oder gar generelle Verbote bestimmter Lebensmittel keine wirksame Erziehungs- und Aufklärungsstrategie darstellen. Es ist sinnvoller, den Konsum bestimmter zahnschädigender Lebensmittel zu reduzieren und im Sinne einer flexiblen Kontrolle zu liberalisieren sowie gleichzeitig mit entsprechenden häuslichen Mundhygienemaßnahmen zu verbinden (Pudel 2000). Hier spielt das gesamte zahnärztliche Team als Multiplikator in der Ernährungslenkung eine entscheidende Rolle. Neben der maßvollen/reduzierten Aufnahme säure- und zuckerhaltiger sowie klebriger und weicher Speisen ist eine kauaktive Ernährung mittels naturbelassener und ballaststoffreicher Nahrungsmittel unbedingt zu empfehlen, da dadurch die Speichelsekretion stimuliert wird und der vermehrte Speichelfluss zu einer verbesserten Selbstreinigung des Gebisses sowie der Verstärkung der Reparaturmechanismen an den Zähnen (Remineralisation) beiträgt. 4.3 Anwendung von Fluoriden Die Anwendung von Fluoriden stellt eine sehr effektive Maßnahme zur Kariesprävention dar. Die fluoridbedingte »Zahnschmelzhärtung« bietet einen wirksamen Schutz gegen bakterielle Säureangriffe. Die lokale Wirkung der Fluoride (Zahnpasten) ist der systemischen Wirkung (Tabletten) überlegen. Bei nicht erhöhtem Kariesrisiko ist die Verwendung fluoridhaltiger Zahnpasten in Kombination mit der Verwendung von fluoridiertem Speisesalz ausreichend. Bei erhöhtem Kariesrisiko und geringer Fluoridaufnahme durch die Nahrung (Fluoridanamnese!), ist eine gezielte zusätzliche lokale oder systemische Fluoridapplikation (Zahnlacke, -gele, Tabletten) zu empfehlen (FDI 2001,
565 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Alter
Geburt 0,5
Jodsalz mit Fluorid
Kinderzahnpasta Zahnpasta
Fluoridlack Fluoridgelee Fluoridlösung
Fluoridgelee Zahnspülung mit Fluorid
Fluoridtabletten
1
2
3
4
5
6 Jahre und älter
Basisprophylaxe für die ganze Familie
1× täglich, 500 ppm erbsengroßen Menge
2× täglich, 500 ppm erbsengroßen Menge
mindesten 2× täglich, 1000–1500 ppm Fluorid
Hohes Kariesrisiko Anwendung in Zahnartzpraxis
1× wöchentlich 1× täglich,
Hohes Kariesrisiko Empfehlung durch Zahnarzt oder Kinderarzt *
* Die Gabe von Fluoridtabletten ist sinnvoll, wenn im Haushalt kein fluoridhaltiges Speisesalz und ab dem ersten Milchzahn keine fluoridhaltige Kinderzahnpasta verwendet werden. . Abb. 2. Dosierungsempfehlungen zur Fluoridapplikation (nach Van Steenkiste 2000)
DGZMK 2000). Die aktuellen Dosierungsempfehlungen zur Kariesprophylaxe mit Fluoriden sind in der . Abbildung 2 dargestellt. Bei einer Fluoridanamnese sollten folgende Kriterien berücksichtigt werden: 4 Fluoridgehalt des örtlichen Trinkwassers 4 Fluoridgehalt des verwendeten Mineralwassers
566
4 4 4 4
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Ernährung mit bilanzierten Diäten Verwendung von fluoridiertem Salz Fluoridgehalt der Zahnpasta (Kinder- o. Erwachsenenpasta) Fluoridtabletten
4.4 Organisation der oralen Prävention Auf den Ebenen Bevölkerungs-, Gruppen- und Individualprophylaxe erfolgt die Organisation der Vorsorgemöglichkeiten oraler Erkrankungen. Staatlichinstitutionelle Vorgaben stehen bei der Bevölkerungsprophylaxe im Vordergrund, bspw. die Genehmigung der Speisesalzfluoridierung. Präventionseffekte lassen sich hier vor allem bei Risikogruppen erreichen. Kinder und Jugendliche werden bis zum 16. Lebensjahr über Aufklärungsaktionen im Rahmen der Gruppenprophylaxe betreut. Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, die gesetzlichen Krankenkassen, die Kommunen und die niedergelassenen Zahnärzte sind die wesentlichen Träger dieser Aktivitäten im Bereich der Kindergärten und Schulen. Die Individualprophylaxe ist auf die zahnärztliche Praxis ausgerichtet und verbindet individuelle Aufklärung und Motivation zur Mundgesundheit mit risikobezogenen zahnmedizinischen Maßnahmen, wie bspw. der professionellen Zahnreinigung oder der Fissurenversiegelung. Die gesetzlichen Regelungen sind eine ausreichende Basis für eine erfolgreich zu praktizierende zahnmedizinische Prävention. Im Kindes- und Jugendalter werden die Grundlagen für einen eigenverantwortlichen Umgang mit der Mundgesundheit im Erwachsenenalter gelegt (. Abbildungen 3). Wichtig ist, dass die drei präventiven Interventionsebenen verzahnt ineinander greifen und nicht isoliert und damit unkoordiniert ihrer Potenziale beraubt werden. 4.5 Ausgewählte Schwerpunkte oraler Prävention Sozioökonomische Risikogruppen
Spezielle Organisationskonzepte einer aufsuchenden Prophylaxe (sogen. Setting-Ansatz) versuchen zahnärztlich-präventive Maßnahmen in die sozioökonomischen sowie medizinischen Risikogruppen hinein zutragen (Butz et al. 2005), wobei die gesamtgesellschaftliche Dimension nicht außer Acht gelassen werden darf: Entscheidende Faktoren für die Akzeptanz von gesundheitsbewusstem Verhalten sind neben einer adäquaten Gesundheitsförderung und Aufklärung gute sozio-ökonomische Standards in Bildung und Lebensunterhalt der Menschen.
Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde 567
. Abb. 3. Aktuelle oralprophylaktische Betreuungsmöglichkeiten (Quelle: IDZ, 2004 nach SGB V, BGBL vom 19. November 2003, S. 2190)
568
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Medizinische Risikogruppen (z.B. alte Menschen, Menschen mit Behinderungen)
Aufsuchende Prophylaxe findet überwiegend auch im Rahmen der zahnärztlichen Betreuung von Senioren und von Menschen mit Behinderungen in Pflegeeinrichtungen statt (Patenzahnarzt-/Obleutemodell). Seit über 15 Jahren existieren in den Landeszahnärztekammern Referate und Arbeitskreise für Alterzahnheilkunde und zahnärztliche Behindertenbehandlung, die diese Bereiche koordinieren. Hier sind Informationen über Zahnarztpraxen (z. T. mit mobilen Behandlungseinheiten), über Fortbildungsmöglichkeiten und über Ansprechpartner in Universitätszahnkliniken sowie Broschüren erhältlich. Die Bundeszahnärztekammer erstellte das »Arbeitspapier für eine adäquate zahnärztliche Versorgung behinderter und immobiler Patienten und deren sachgerechte Vergütung«, einen Leitfaden für Zahnärzte zur Alterzahnheilkunde sowie ein »Handbuch der Mundhygiene für Angehörige der Pflegeberufe« (. Abbildungen 4 und 5). Restriktionen somatischer Art stellen eine der Herausforderungen an die zahnmedizinische Versorgung alter Menschen und Menschen mit Behinderungen dar und verlangen überwiegend auf diese Zielgruppe zugehende Betreuungs- und Versorgungskonzepte, die idealerweise in eine multidisziplinäre Gesamtbetreuung münden sollten (Pflegekräfte, Ärzte, Sozialarbeiter etc.). Wissenschaft und Berufspolitik sind darum bemüht, diese Themenfelder verstärkt in die Curricula für Aus-, Fort- und Weiterbildung des gesamten zahnärztlichen Teams zu integrieren und eine entsprechend angemessene Vergütungen dieser fachlich, personell und strukturell anspruchsvollen Tätigkeit zu erzielen (Kaschke und Jahn 2005, DGZMK 2004). Aus psychologischer und sozialmedizinischer Perspektive ist es notwendig, dass gerostomatologische Unterstützungssysteme schon im Vorfeld des Seniorenalters ansetzen. Durch eine frühzeitig im oralen Lebensbogen einsetzende primär- und sekundärpräventive Betreuung kann der Umfang des Zahnverlustes im Alter reduziert und dessen zeitliche Abfolge verzögert werden. Die Senioren selbst sind durch gezielte sozialpädagogische und psychologische Präventionsangebote, angepasst an die verschiedenen Lebensumwelten (Setting-Ansätze) und unter Berücksichtigung der sozialen Lebenslage der alten Menschen zu erreichen.
569 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Abb. 4. Leitfaden zur Alterszahnheilkunde der BZÄK
. Abb. 5. Handbuch der Mundhygiene der BZÄK
Wechselwirkungen zwischen oraler und allgemeiner Gesundheit
Die Mundgesundheit wird durch eine Vielzahl von somatischen Faktoren sowie von kognitiven und psychosozialen Aspekten beeinflusst. Andererseits existieren vielfältige Hinweise dafür, dass orale Störungen einen negativen Einfluss auf die Allgemeingesundheit ausüben können. (Slavkin und Baum 2000, Offenbacher et al. 1998). Zukünftig wird auch der Bereich der psychosomatisch assoziierten Erkrankungen eine wichtigere Rolle spielen. Darüber hinaus können altersphysiologische Abbausyndrome, Mangelerscheinungen, eine geschwächte Immunabwehr oder Medikamente Erkrankungen in der Mundhöhle auslösen (Kirch 2002). Im Rahmen der zahnärztlichen Aus- und Fortbildung müssen also verstärkt allgemeinmedizinische Aspekte betont werden. In diesem Zusammenhang bemüht sich die deutsche Zahnärzteschaft seit Jahren um eine Novellierung der Approbationsordnung Zahnärzte, um verstärkt präventionsorientierte und interdisziplinäre Ausbildungsinhalte zu vermitteln. Es wird die zukünftige Aufgabe der Zahn-, Mund- und Kieferkeilkunde sein, insbesondere für die sozial
570
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
schwächeren Patienten, die alten und kranken Alten wirkungsvolle Betreuungskonzepte zu entwerfen. Ernährungsberatung und Tabakprävention
Der Zahnarzt ist neben dem Hausarzt die am häufigsten von der Bevölkerung regelmäßig frequentierte und überwiegend kontrollorientiert in Anspruch genommene Facharztgruppe. Deshalb sind die zahnärztlichen Praxen besonders für gesundheitliche Aufklärung, für Informationsvermittlung zur gesundheitsförderlichen Verhaltensänderung und zur Früherkennung von Erkrankungen prädestiniert. Dieses Präventionspotential der Zahnmedizin gilt es zukünftig stärker zu nutzen. Über die Mundgesundheit hinaus wird sich das Spektrum der zahnmedizinischen Diagnostik und Prävention erweitern und die Aufklärung zu Nikotin- und Alkoholkonsum und zum Komplex der ernährungsmitbedingten Erkrankungen, werden stärker als bisher in die zahnärztliche Verantwortung rücken. Das Thema Mundgesundheit und Ernährung wird von der Bundeszahnärztekammer intensiv in die präventiven Bemühungen aufgenommen. Für die Aktivitäten auf dem Gebiet der Ernährungsberatung werden Kooperationspartner wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die Kinderärzte und die entsprechenden Landesministerien zu gewinnen sein, um das Thema Ernährung mit der Mundgesundheit fachlich und präventionspolitisch sinnvoll zu verknüpfen. Des Weiteren soll die Implementierung der Ernährungsthematik in die Arbeit der Gruppenprophylaxe intensiver verfolgt werden, da wissenschaftliche Studien auf lineare Zusammenhänge zwischen Körpergewicht (BMI) und Kariesprävalenz hinweisen (Willershausen et al. 2003). Für den Bereich der Tabakprävention verabschiedete die Bundeszahnärztekammer im Jahr 2002 ein »Policy Statement«, welches die Institutionen und Fortbildungsinstitute, die sich der Mundgesundheit widmen auffordert, tabakassoziierte Themen in ihre Fortbildung aufzunehmen, und diese insbesondere in die prophylaktischen Programme zu integrieren. Mundgesundheitsziele
In Anlehnung an die FDI-Vorgaben der »Global Goals for Oral Health 2020« erarbeiteten zahnmedizinische Wissenschaft und Berufsstand gemeinsam neue nationale Mundgesundheitsziele für Deutschland für das Jahr 2020, die im Frühjahr 2004 verabschiedet wurden (Oesterreich und Ziller 2005). Neben rein
571 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
zahnbezogenen Aussagen werden hier auch konkrete regionale Teilziele und versorgungspolitische Parameter berücksichtigt. Dabei wird von folgenden Überlegungen ausgegangen: 4 Mundgesundheitsziele bieten eine Plattform für den Berufsstand, um sowohl an der Verbesserung der Mundgesundheit als auch an der politischen Mitgestaltung des Gesundheitssystems aktiv teilzunehmen. 4 Mundgesundheitsziele definieren Aufgaben für die Zahnärzteschaft. Sie bieten die Möglichkeit, die zahnärztliche Tätigkeit sowie die gesundheitsund versorgungspolitischen Rahmenbedingungen zu evaluieren. 4 Mundgesundheitsziele verfolgen präventive Aspekte. Die vollständigen Mundgesundheitsziele für Deutschland für das Jahr 2020 sind im Internet abrufbar unter: www.bzaek.de.
5. Fazit Die Zahnmedizin hat in den letzten Jahren eine deutliche Erweiterung um sowohl krankheitsbezogene als auch gesundheitsförderliche und allgemeingesundheitliche Bereiche, im Sinne der Einheit von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention, erfahren. Das bedeutet erstens, dass auch die Diagnostik und nachfolgende Therapie immer präventionsorientiert ausgerichtet sind, denn sie beseitigen vorliegende Erkrankungsursachen und minimieren bzw. schließen das Risiko für eine (Wieder)Erkrankung aus. Die präventionsorientierte Zahnheilkunde reicht weit über die Förderung reiner primärpräventiver Ansätze hinaus. Im Vordergrund steht eine lebensbegleitende Prävention. Dieser Präventionsansatz wird umfassend im Konzept »Prophylaxe ein Leben lang« beschrieben (IDZ 1998). Nach allem, was bislang bekannt ist, führen Aufklärungsmaßnahmen über ein aktives Mundgesundheitsverhalten in einer Population in Verbindung mit dem medizinischen Fortschritt nur zu einer Verringerung oder einem Hinauszögern von oralen Erkrankungen, nicht aber zu ihrer vollständigen Verhinderung (»Kompression der Morbidität«) (Ziller und Micheelis 2002). Ziel ist es, langfristig den Umfang restaurativer Maßnahmen v.a. im jüngeren und mittleren Lebensalter zu reduzieren, und die Lebensqualität durch Erhalt der oralen Gesundheit in ihrer Wechselwirkung zum Gesamtorganismus positiv zu beein-
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
flussen. Dieses Ziel kann nur dann verwirklicht werden, wenn es gelingt, die Patienten von der Notwendigkeit ihrer Mitverantwortung als Co-Produzenten ihrer Gesundheit zu überzeugen und eine kontinuierliche Mitarbeit bei der Erhaltung der Mundgesundheit sicherzustellen (Verhaltensprävention, oral health self care). Zweitens stärken Prävention und Gesundheitsförderung im gesundheitspolitischen Spannungsfeld zwischen Versorgungspolitik und Gesundheitsökonomie vor allem die Gesundheitskompetenzen der Menschen. Einsparpotenziale im System, wie von der Politik häufig diskutiert, sind nicht belegt (Beske 2005). Als Herausforderung steht die altersspezifische, risikogruppenbezogene zahnmedizinische Prävention im Zentrum der Bemühungen, damit es gelingt, sozial- und altersbedingte Ungleichheit von Mundgesundheitschancen zu verringern (Verhältnisprävention: z.B. Bevölkerungs-, Gruppenprophylaxe, Setting-Ansätze) und die Eigenverantwortung des Einzelnen zu fördern (Verhaltensprävention: z.B. Ernährung, Mundhygiene), welche von zahnärztlichen individualprophylaktischen Betreuungskonzepten (professional health care) ergänzt und flankiert werden. Die präventionsorientierte Zahnmedizin wird dabei zukünftig wesentlich von Aspekten der Lebensqualitäts- und Versorgungsforschung, der Evidenzbasierung, der Qualitätsförderung sowie der Entwicklung der Versorgungslandschaft beeinflusst. Literatur Axelsson P., Lindhe J., Nyström B. (1991) On the prevention of caries and periodontal disease. Results of a 15-year-longitudinal study in adults. J Clin Periodontol 18: 182–189 AAP (American Academy of Periodontology, Hrsg) (1998) Periodontal disease as a potential risk factor for systemic diseases. J Periodontal 69: 841–850 Arnljot H., Barmes D., Cohen L., Hunter P., Ship I. (1985) Oral Health Care Systems: An International Collaborative Study. Quintessence Pub Co, World Health Organization, Genf Beck J. D., Offenbacher S., Williams R., Gibbs P., Garcia R. (1998) Periodontitis: A risk factor for coronary heart disease? Annals of Periodontology 3: 127–141 BMGS (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Hrsg) (2004) KV 45 BMGS Chen M., Andersen R. M., Barmes D. E., Leclercq M.-H., Lyttle C. S. (1997) Comparing oral healthcare systems – A second international collaborative study, World Health Organization, Genf Butz R. , Noack M., Micheelis W., Schwan A. (2005) Kooperation von niedergelassenen Zahnärzten mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zur Verbesserung der Zahngesundheit bei Kindern mit hohem Kariesrisiko im Kreis Wesel. Public Health Forum 46: 27–28 Beske F. (2005) Prävention – Ein anderes Konzept. Schriftenreihe IGSF, Bd 103, Kiel: S 7
573 Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
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574
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
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575 Zahnverlust und Zahnersatz
Zahnverlust und Zahnersatz vor dem Hintergrund des demographischen Wandels Stellenwert der Prävention
Ursula Schütte*, Michael Walter
Abstract Durch den Bevölkerungsrückgang und die zunehmende Lebenserwartung ist Deutschland in einem gravierenden Umstrukturierungsprozess begriffen, der auch im Bereich der Mundgesundheit erhebliche Auswirkungen haben wird. Für die Zukunft stellt der wachsende Anteil alter und sehr alter Patienten neben der steigenden Zahl von Zuwanderern und der Risikogruppe der sozial Schwächeren eine zunehmende Herausforderung an Gesundheitsmaßnahmen dar. Vornehmliches Ziel muss es sein, möglichst viele natürliche Zähne so lange wie möglich zu erhalten. Damit möchte man eine Kompression der oralen Morbidität erreichen, d. h. die Verlagerung schwerwiegender Beeinträchtigungen der Mundgesundheit in ein höheres Lebensalter, um auch im fortgeschrittenen Alter eine angemessene mundgesundheitsbezogene Lebensqualität zu gewährleisten. Auswertungen epidemiologischer Studien zur oralen Gesundheit haben gezeigt, dass über einen Prognosezeitraum von ca. 20 Jahren trotz umfangreicher Anstrengungen und Erfolge in der Prävention der Volkskrankheiten Karies und Parodontitis bisher keine Veränderung im Grundmuster des Zahnverlustes erkennbar ist. Es ist allerdings von einer Verschiebung in ein höheres Lebensalter auszugehen. Damit nimmt die Bedeutung von Zahnersatz vorerst nicht ab. Eine Verschiebung des Therapiespektrums in Richtung des festsitzenden, »komfortableren« Zahnersatzes unter der vermehrten Einbeziehung von Zahnimplantaten ist zu erwarten. Ob diese Anforderungen an die zahnärztliche Therapie im Rahmen der Gesetzlichen Krankenkassen mittelfristig zu finanzieren sind, ist äußerst fraglich. Eine weitere Polarisierung bei der Krankheitslast und eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten sind zu befürchten. Studien * e-mail:
[email protected]
576
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
mit Versorgungsforschungsansatz sind vermehrt notwendig, um bestehende Strategien der Prävention zu begleiten und zu deren Weiterentwicklung beizutragen. Schlüsselworte: Prävention, Demographie, zahnärztliche Prothetik, Mund-
gesundheit Behandlungsbedarf, Lebensqualität
1 Einleitung Bei der zahnärztlich-prothetischen Versorgung hängen Bedarf und Nachfrage unmittelbar mit der Prävalenz fehlender Zähne und der Inzidenz von Zahnverlust zusammen. Eine der wichtigsten Fragen ist es, wie diese Kenngrößen durch die zunehmende Präventionsorientierung und den demographischen Wandel beeinflusst werden. Der Begriff des demographischen Wandels wird für die prognostizierte Veränderung innerhalb Deutschlands verwendet, die hauptsächlich durch zwei Entwicklungen bestimmt wird: In fast allen Industrieländern findet ein gravierender Umstrukturierungsprozess statt, der im Gegensatz zum Wachstum der Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten zu einem deutlichen Bevölkerungsrückgang innerhalb dieser Länder führen wird. In Deutschland wird die Abnahme der Zahlen verursacht durch die Konstanz der Geburtenhäufigkeit bei durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau (Bestandserhaltungsniveau: 2,1 Kinder). Von Generation zu Generation werden weniger potentielle Mütter geboren. Eine beschleunigte Schrumpfung der jüngeren Bevölkerungsteile ist die Folge. Während zwischen 1991 und 2002 die Bevölkerung in Deutschland trotz rückläufiger Geburtenzahlen und dem daraus resultierenden Sterbefallüberschuss aufgrund von Zuwanderungen noch anstieg (Ausnahme 1998), rechnet das Statistische Bundesamt langfristig mit einem Bevölkerungsrückgang für Deutschland [1]. Bis 2050 wird die Bevölkerungszahl voraussichtlich auf das Niveau von 1963 sinken (ca. 75 Millionen Einwohner). Der Anteil der ausländischen Bevölkerung wird bis dahin vermutlich weiter zunehmen. Dem Gesundheitssystem wird dadurch zukünftig u.a. verstärkt die Aufgabe zukommen, trotz oft schwer überwindbarer Barrieren (Kommunikation, differierende Krankheitskonzepte, etc.) Migranten den Zugang zur Versorgung zu erleichtern, um auch ihnen eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten [2].
577 Zahnverlust und Zahnersatz
Neben der Prognose eines Bevölkerungsrückganges geht das Statistische Bundesamt für die Zukunft von einer weiteren Zunahme der Lebenserwartung aus. In seiner 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung spricht das Statistische Bundesamt von einer Steigerung der Lebenserwartung beider Geschlechter um rund 6 Jahre bis 2050 [1]. Zusammengenommen bedeutet dies, dass in Zukunft nicht nur der Einzelne älter wird, sondern dass die Gesellschaft insgesamt altert. Die Umwälzungen in der Bevölkerungsstruktur werden zahlreiche bedeutsame gesamtgesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen, so auch im Bereich der Mundgesundheit (Verschiebung des Bedarfsmusters, veränderte Anforderungen an das Therapiespektrum, komplexere Behandlungssituationen, u.v.m.). Eine steigende Nachfrage nach zahnmedizinischen Leistungen im Alter, die engere Zusammenarbeit von Allgemein- und Zahnmedizin (mehr ältere Patienten = mehr multimorbide Patienten) und der unübersehbare Gesellschaftstrend des zunehmend kritischen und selbstbewussten Patienten stellen drei wichtige Aspekte dar, mit denen sich der zahnärztliche Berufsstand zukünftig auseinander setzten muss. Die drohende Überalterung führt u.a. zu der Notwendigkeit, die Zähne über eine möglichst weite Spanne des Lebensbogens zu erhalten. Es stellt sich die Frage, welche präventiven Möglichkeiten in der Zahnmedizin bisher bestehen, ob derartige Präventionsstrategien in der Versorgungsrealität bislang Erfolge erzielen konnten (Versorgungsforschung) und wenn ja, ob sie den zukünftigen Anforderungen gerecht werden können. Nach einer Darstellung der Kenngrößen, die Einfluss auf die Nachfrage und den Bedarf an zahnärztlich-prothetischen Leistungen haben, sollen im zweiten Abschnitt dieses Beitrages die Auswirkungen des demographische Wandels auf den Bereich der Zahnersatz-Versorgung dargestellt und die Anforderungen, die sich daraus für präventive Interventionen ergeben, beleuchtet werden.
2 Epidemiologische Entwicklung Hauptursachen für Zahnverlust sind die Volkskrankheiten Karies (Zahnfäule) und Parodontitis (Zahnbetterkrankung). Kommt es zum Verlust eines Zahnes, muss der behandelnde Zahnarzt abwägen, ob und wenn ja mit welchen geeigneten zahnärztlich-prothetischen Mitteln der verloren gegangene Zahn ersetzt werden muss.
578
E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Zahnverlustursache Karies Zur Wahrung und Verbesserung der oralen Gesundheit richtete die Forschung ihr erstes Augenmerk auf die Reduktion der Karies [3]. Anhand erster Erkenntnisse wurden Gruppen- und Individualprophylaxeprogramme entwickelt, die in erster Linie auf die jungen und jüngsten Mitglieder der Gesellschaft abzielten. So ist die in den vergangenen 25 Jahren festzustellende Verbesserung der Mundgesundheit in Deutschland hauptsächlich auf den deutlichen Kariesrückgang (caries decline) bei Kindern und Jugendlichen zurückzuführen. Diese Entwicklung lässt sich anhand des DMFT-Index (Decayed-MissingFilled-Teeth-Index) nachvollziehen, der kumulativ die Anzahl der zerstörten, der fehlenden und gefüllten Zähne erfasst. Erzielte Erfolge zeigen sich in einem geringeren Index-Wert, bzw. an einem steigenden Prozentsatz naturgesunder Gebisse (Wert=0). Nahm der DMFT bei den 12-Jährigen 1980 einen Wert von über 7 an, verbesserte sich der Index-Wert im Jahr 1997 auf 1,7. Die Zahl für 1997 ist den Ergebnissen der dritten großen, bevölkerungsrepräsentativen Studie zum Mundgesundheitszustand und -verhalten (DMS III) des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) entnommen (. Tabelle 1) [4]. Laut Veröffentlichungen der Bundeszahnärztekammer hat sich der durchschnittliche DMFT-Wert im Jahr 2000 weiter auf 1,2 verbessert [5]. Damit ist Deutschland im internationalen Vergleich bei den 12-Jährigen in die Gruppe mit niedrigem Kariesbefall (1,2–2,6 DMFT) aufgestiegen und hat die von der World Health Organisation (WHO) für 2000 formulierte Zielvorgabe (Grenzwert = 2) deutlich unterschritten. Neben kollektiv-, gruppen- und individualprophylaktischen Maßnahmen werden auch eine verbesserte häusliche Zahn-
. Tabelle 1. DMFT-Werte nach Alter und Einzelkomponenten, Quelle IDZ Band 29
DMFT-Index mit Einzelkomponenten nach Alter Alter Daten für 1997 12 Jahre 35–44 Jahre 65–74 Jahre
DMFT-Index (gesamt) 1,7 16,1 23,6
Decayed
0,4 0,5 0,3
Missing
0 3,9 17,6
Filled
1,3 11,7 5,7
579 Zahnverlust und Zahnersatz
pflege, das erhöhte Angebot an Fluoriden und die zahnärztliche Versorgung für den Kariesrückgang bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich gemacht [6, 7]. Für die Erwachsenenaltersgruppe (35–44 Jahre) liegt der DMFT-Wert bei 16,1. Vergleiche mit vorangegangenen Studien (DMS I–II) zeigen, dass er sich in dieser Altersgruppe zwischen den Jahren 1989 und 1997 praktisch nicht verändert hat [8, 9]. Diese Aussage hat auch für die Kariesentwicklung bei den 65- bis 74-Jährigen Gültigkeit. Rückblickend ist in über fast 20 Jahren keine Veränderung der DMFT- Werte eingetreten. In der DMS III liegt er für das Alter von 65 bis 74 Jahren bei 23,6 (. Tabelle 1). Erst die Auftrennung des DMFT-Gesamtwertes in seine drei Einzelkomponenten ermöglicht es, aus den Werten eine weiter gehende Interpretation hinsichtlich der Zahngesundheit älterer Erwachsener abzuleiten. Dabei erkennt man, dass im Gegensatz zur jungen und mittleren Altersgruppe, bei der sich der DMFT-Wert vornehmlich aus kariösen und gefüllten Zähnen zusammensetzt, bei den 65–74-Jährigen die Missing(Zahnverlust)-Komponente deutlich dominiert. Im Durchschnitt fehlen mehr als die Hälfte der Zähne (17,6) (. Tabelle 1). Die Missing-Komponente stellt einen wichtigen epidemiologischen Indikator dar, wenn auch Mittelwerte nur ein grobes Maß sind. Weiterhin ist zu beachten, dass – trotz eindeutiger Erfolge in der Mundgesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen – hinsichtlich der Karieslast ein deutlicher Sozialschichtgradient vorliegt: 20% der 12-Jährigen vereinen 60% der Karies auf sich. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Kariespolarisierung. Bei den Betroffenen handelt es sich dabei meist um sozial schwache Bevölkerungsgruppen mit geringerer Bildung [4, 10, 11]. Ganz besonders trifft dies auf die Gruppe der ausländischen Kinder zu, die eine zweieinhalbfache Überhöhung der Kariesprävalenz im Vergleich zu deutschen Kindern aufweisen [12]. Diese Schieflage der Kariesverteilung setzt sich in den nächst höheren Altersgruppen fort [11, 13]. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sich dieser Trend aufgrund sozialer Veränderungen in den nächsten Jahren weiter verstärken. Ursächlich sind hierfür besonders folgende Faktoren: Vergrößerung der Arm-Reich-Schere, Zunahme der Arbeitslosigkeit, Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme einschließlich der gesetzlichen Krankenversicherung. Dadurch ergibt sich hier ein wichtiges Aktionsfeld für die Prävention. Bestehende Strategien müssen überdacht und modifiziert werden, um den Zugang zu den benachteiligten Bevölkerungsteilen – wenn überhaupt möglichzu verbessern.
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Insgesamt lässt sich festhalten, dass trotz Erfolgen in der Prävention noch nicht alle Bevölkerungsgruppen zufrieden stellend erreicht werden konnten. Um auch innerhalb der skizzierten Risikogruppen eine Verbesserung der Mundgesundheit erzielen zu können, müssen sich Konzepte und Prophylaxeprogramme zukünftig dieser Aufgabe verstärkt stellen. Zahnverlustursache entzündliche Zahnbetterkrankungen Ab dem 40. Lebensjahr stellen in Deutschland entzündliche Zahnbetterkrankungen die Hauptursache für Zahnverlust dar [14]. Die Anhäufung von Plaque (Zahnbelag) kann zu einer entzündlich bedingten Zerstörung der zahntragenden Knochen- und Faserstrukturen führen. Dadurch wird der Zahn locker und kann in letzter Konsequenz verloren gehen. Zur Beurteilung der Parodontalverhältnisse und daraus folgernd einer Behandlungsnotwendigkeit von Zahnfleischerkrankungen steht der so genannte Community Periodontal Index of Treatment Needs (CPITN) zur Verfügung. Mittels einer speziellen Messhilfe (WHO-Sonde) wird der Zustand des Zahnbettes in fünf verschiedenen Ausprägungen erfasst. Um für die Zahnarztpraxen eine schnelle orientierende Erstinformation über Erkrankungsgrad und Behandlungsbedarf im Rahmen der Kontrolluntersuchungen zu erhalten, wurde auf Basis des CPITN in den USA von der American Academy of Periodontology (AAP) zusammen mit der American Dental Association (ADA) der Parodontale Screening Index (PSI) entwickelt. Der PSI ist eine einfache Methode, bereits frühe Formen von Zahnbetterkrankungen zu erfassen und sie einer zielgerichteten Behandlung zuzuführen. Wie beim CPITN ist zwischen fünf verschiedenen Ausprägungen zu wählen. Die Werte reichen von 0 bis 4; je höher der Wert desto stärker ist das Parodont erkrankt. Bei einem Wert 3 liegt eine mittelschwere Erkrankung der Parodontien vor, bei Werten von 4 spricht man von einer schweren Parodontalerkrankung. Die Auswertungen der DMS III zeigen, dass bei 46,3% der Erwachsenen und sogar bei 64,1% der 65–74-Jährigen mindestens eine mittelschwere Zahnbetterkrankung vorliegt (. Tabelle 2; Werte beziehen sich auf den damals verwendeten CPITN). Es zeigt sich ein altersabhängiges Fortschreiten parodontaler Erkrankungen von den leichteren hin zu schwereren Ausprägungen. Entzündliche Zahnbetterkrankungen spielen in den mittleren und hohen Altersgruppen immer noch eine wichtige Rolle. Vergleiche mit früheren Untersuchungen (DMS I–II) lassen den Schluss zu, dass in der Reduktion der Parodontalerkrankungen bei Erwach-
581 Zahnverlust und Zahnersatz
. Tabelle 2. CPI-Werte in % nach Alter, Quelle IDZ Band 21
CPITN in % nach Alter CPITN Grad
CPI = 0 CPI = 1 CPI = 2 CPI = 3 CPI = 4
Alter 35–44
65–74
15,1% 10,2% 28,5% 32,2% 14,1%
5,7% 7,9% 22,4% 39,7% 24,2%
senen der mittleren und hohen Altersgruppen nur mäßige Erfolge erzielt werden konnten. Damit steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, aufgrund von Erkrankungen des Zahnbettes Zähne zu verlieren, wenn nicht sogar zahnlos zu werden. Epidemiologie des Zahnverlustes Auswertungen der DMS III zeigen, dass 24,8% der 65–74-Jährigen zahnlos sind. Bei der Berliner Altersstudie (BASE), einer breit angelegten inter- und multidisziplinären Studie mit Schwerpunkt auf dem hohen Alter (70–100 Jahre), waren 80% der 90-Jährigen ohne eigene Zähne [15]. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt eine bevölkerungsrepräsentative Querschnittsstudie aus Sachsen (. Abbildung 1) [16]. Die Auswertung der Daten zeigte, dass mit zunehmendem Alter im Mittel die Zahl der vorhandenen Zähne kontinuierlich abnimmt, mit einem auffälligen Sprung ab dem 65. Lebensjahr. Vollständige Zahnlosigkeit spielt erst ab dem Rentenalter eine nennenswerte Rolle. Zahnverlust ist also in den höheren Altersgruppen trotz aller Bemühungen in der Prävention immer noch ein vordringliches Problem, woraus sich gleichzeitig ein hoher prothetischer Behandlungsbedarf ergibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen bereits wichtige Etappenziele erreicht werden konnten, im Bereich der Prävention der Volkskrankheiten Karies und Parodontitis bei Erwachsenen unter besonderer Berücksichtigung von Risikogruppen wie Senioren, Migranten und sozial Schwächeren jedoch weiterhin Defizite bestehen. Die
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
. Abb. 1. Mittlere Zahnzahl kieferbezogen nach WHO-Altersgruppen
damit verbundene Zahnverlustrate hat bisher zu einer starken Nachfrage nach prothetischen Leistungen geführt. Im Weiteren soll beleuchtet werden, wie sich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung die Inzidenz beider Erkrankungsbilder in den nächsten Jahren entwickeln wird und welche Rolle dabei der Prävention zukommt.
3 Zukünftige Anforderungen an die prothetische Versorgung In der Bundesrepublik Deutschland leben zurzeit ca. 20 Millionen Menschen, die älter als 60 Jahre alt sind. 2050 werden es voraussichtlich 28 Millionen sein, die aufgrund der demographischen Entwicklung dann mehr als ein Drittel der prognostizierten Gesamtbevölkerung ausmachen werden [1]. Die bevorstehende Überalterung und die prognostizierte Steigerung der Lebenserwartung erfordern die verstärkte Einbeziehung der hohen Altersklassen in die Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung. Die Steigerung der Lebenserwartung erfordert eine Kompression der oralen Morbidität, d.h. eine Verlagerung schwerwiegender Beeinträchtigungen der Mundgesundheit in ein höheres
583 Zahnverlust und Zahnersatz
Lebensalter, um auch im fortgeschrittenen Alter eine angemessene mundgesundheitsbezogene Lebensqualität (MLQ) zu gewährleisten [20]. Die Frage nach der »Qualität« des Lebens ist aufgrund der deutlichen Steigerung der Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in das Interesse gerückt. Die Beschreibung von Lebensqualität (health-related quality of life) ist durch ein umfassendes und mehrdimensionales Konzept gekennzeichnet, welches u.a. »Gesundheit« als eine Dimension allgemeiner Lebensqualität umfasst [21]. Mundgesundheit hat jedoch nicht nur eine physische sondern auch eine ausgeprägte psychosoziale Dimension. Die positive Wirkung von Zähnen darf somit nicht allein in der eigentlichen Organfunktion gesehen werden. Gesundheit im Mundbereich bedeutet mehr als kauen und beißen zu können. Nach neuerer Definition ist Mundgesundheit »die Fähigkeit, ein breites Spektrum an Nahrungsmitteln zu zerkauen und zu essen, deutlich zu sprechen, ein sozial akzeptables Lächeln sowie ein entsprechendes dentofaziales Profil zu besitzen, sich im Mundbereich wohl zu fühlen, frei von Schmerzen zu sein und einen frischen Atem zu haben« [22]. Persönliche Lebensqualität ist folglich mit Fragen des Kausystems psychologisch eng verknüpft. Als Erfassungsinstrument für die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität (MLQ) hat der Oral Health Impact Profile (OHIP)-Fragebogen den höchsten Verbreitungsgrad erlangt. Er bietet Informationen, die komplementär zu den Angaben klinischer Indikatoren (z.B. Indices für Karies oder Parodontopathien) sind. Neben dem vom Patienten empfundenen Schweregrad und der Auswirkung von oralen Erkrankungen und den daraus entstehenden Funktionsstörungen und –einbußen werden die mit dem Kausystem in Zusammenhang stehenden physischen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen erfragt [21]. Mit der deutschen Version (OHIP-G) steht ein Ergebnismaß zur Verfügung, dass Lebensqualität als Zielkriterium für den Effektivitätsnachweis klinischer Interventionen quantifizierbar und reproduzierbar macht. Auswertungen verdeutlichen, dass auch bei höheren und hohen Altersgruppen die positive Wirkung von Zähnen (Zahnersatz) nicht allein in den Funktionen Kauen und Beißen gesehen wird. Auch im Alter haben Zähne einen starken positiven Einfluss auf Wohlbefinden, allgemeine Gesundheit, Aussehen (Chancen für soziale Anerkennung) und Selbstwertgefühl [21, 23]. Verknüpfung Allgemein- und Zahnmedizin Karies und die daraus resultierenden Folgen stellen nur einen Ausschnitt dar, wenn man über Mundgesundheit diskutiert. Die Prävention oraler Erkrankun-
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
gen lässt sich nicht auf das Zähneputzen allein reduzieren. Neben endogenen, genetisch determinierten und infektiologischen Faktoren spielen exogene Einflüsse (Gesamt-Fluorid-Angebot, Rauchen, Nahrungsmittel-Exposition) und Allgemeinerkrankungen eine Rolle [24]. Die zahnmedizinische Versorgung der in Zukunft zunehmenden Anzahl alter und sehr alter Menschen erfordert somit nicht nur ein erhöhtes Wissen um die Psychologie sondern auch um die Physiologie des Alterns. Es muss beachtet werden, dass das Kauorgan, wie der gesamte Organismus, einem irreversiblen Alterungsprozess unterliegt. Die Muskulatur atrophiert und verliert an Feinkoordination, die Schleimhäute zeigen verringerte Feuchtigkeit und Elastizität. Mit steigendem Alter nimmt die Adaptationsfähigkeit bei komplexen prothetischen Versorgungsformen stark ab [25]. Hinzu kommt, dass chronische Erkrankungen mit dem Alter zunehmen und damit verbunden auch die mittlere Medikamenteneinnahme [26]. Medikamente können Auswirkungen auf den Mundbereich haben (z.B. medikamenteninduzierte Mundtrockenheit, Schleimhautveränderungen) [27]. Andererseits zeigen viele Allgemeinerkrankungen Symptome im Mundbereich, so dass es nicht selten der Zahnarzt ist, der eine erste Verdachtsdiagnose stellt. Bei der Akromegalie zum Beispiel, einer seltenen Erkrankung, die zur Vergrößerung der Hände, Füße und bei Teilen des Gesichts führt, sind Veränderungen im Bereich des Kiefers und der Zahnstellung frühzeitige Symptome. So spielt der Zahnarzt in der Diagnosestellung eine wichtige Rolle [28]. Daneben wird der Einfluss von Zahnfleischentzündungen als Risikofaktor für allgemeinmedizinische Erkrankungen diskutiert [29]. Gesichert gilt dies bei Patienten, für die eine Bakteriämie ein Risiko darstellt [30]. Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht nur Diabestes Einfluss auf den Zustand des Zahnbettes hat, sondern dass sich eine parodontale Erkrankung auch nachteilig auf die Einstellung des Blutzuckerspiegels auswirken kann [31]. Weiterhin führen die Erfolge in der Prävention, die auf Dauer eine Verschiebung des Zahnverlustes in ein höheres Lebensalter bewirken werden, zu einer erhöhten Verweildauer der Zähne im Mund. Dies hat alters- und abnutzungsbedingte Zahnhartsubstanzverluste zur Folge, die nicht durch Karies verursacht sind (Abrasion, Erosion und Attrition). Die Patientengruppe der alten Menschen ist demzufolge aus medizinischer Sicht eine äußerst heterogene Gruppe mit eigenen Problemen und Erscheinungsbildern und verlangt einen höchst individuellen Umgang. Die oftmals vorliegende Multimorbidität lässt die zahnärztlichen Interventionen wesentlich
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komplexer werden. Ein interdisziplinärer Ansatz der Betreuung wird seit geraumer Zeit als notwendig erachtet und gewünscht [20, 32]. In einem Gutachten vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) mit dem Titel »Gesund Altern« wird die medizinische Versorgung der Senioren als ein spezielles Präventionsfeld benannt und die Integration der Seniorenzahnmedizin in die Gerontologie gefordert [33]. Als Gründungsmitglied des Deutschen Forums Prävention und Gesundheitsförderung (DFPG) ist die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) in die Arbeitsgruppe 3 »Gesund altern« integriert. Prävention Ein wesentliches Merkmal moderner Zahnheilkunde ist der Paradigmenwechsel vom kurativ-restaurativen zum präventiven Ansatz. Maßnahmen bei Kindern zeigten, dass durch Einflussnahme von außen Karies und Parodontitis positiv beeinflusst werden können. Innerhalb der Prävention unterscheidet man drei verschiedene Ebenen [17]: Primäre Prävention zielt darauf ab, das erste Auftreten von Gesundheitsstörungen zu verhindern. Es gilt, krankheitsauslösende Faktoren festzustellen und unwirksam zumachen, bevor es zu einer Gesundheitsstörung kommen kann. Hier sind z.B. die Speisesalz- und Trinkwasserfluoridierung und die Ernährungslenkung (zahnschonende Kost) zu nennen. Zur sekundären Prävention zählt man die kollektiven und individuellen Maßnahmen zur Früherkennung und Frühbehandlung von Krankheiten, zur Hemmung ihres Fortschreitens und zur Reduzierung der Prävalenz von Erkrankungen in einer Population. Sekundäre Prävention setzt also an Stadien zwischen Gesundheit und Krankheit an, in denen initiale aber noch reversible Symptome oraler Erkrankungen gesehen werden können. Bei der Tertiärprävention handelt es sich um rehabilitative Maßnahmen mit denen eine Verschlimmerung bereits eingetretener Erkrankungen verhütet, bleibende Funktionseinbußen verhindert und Folgeerkrankungen vorgebeugt werden soll, um ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität wiederherzustellen. Der Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin hat Auswirkungen sowohl auf die Primär-, die Sekundär- als auch auf die Tertiärprävention. Der verstärkt präventive Ansatz zieht eine Stärkung von Kollektiv-, Gruppen- und Individualprophylaxe nach sich, eine Intensivierung regelmäßiger Kontrolluntersuchungen mit professioneller Zahnreinigung, einfacher und erweiterter Fissurenversiegelung und bringt die Bevorzugung substanzschonender direkter Eingriffe
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
vor extensiven Restaurationen und die stärkere Nutzung heutiger Therapiemöglichkeiten für den Erhalt oraler Strukturen mit sich [18]. Das daraus resultierende verstärkte Angebot prophylaktischer Leistungen wurde bisher unterschiedlich angenommen. Während bei Kindern eine hohe Akzeptanz zu erkennen ist (Inanspruchnahme der 6–12-Jährigen = 60%; 7 o.), zeigen Untersuchungen zur Inanspruchnahme von präventiven Maßnahmen durch Erwachsene, dass gerade 24% der 33–55-Jährigen Individualprophylaxe in Anspruch nehmen, die 55-Jährigen nur zu 17% [19]. Diese Abnahme der Inanspruchnahme mag sich einerseits daraus erklären, dass die Krankenkassen bisher für Patienten bis zum 18. Lebensjahr entsprechende Abrechnungspositionen bezuschussen, während ältere Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer Vorsorge z.Z völlig eigenverantwortlich sind. Hinzu kommt ein mit dem Alter eher beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten bei zahnärztlichen Leistungen, das im hohen Lebensalter durch körperlich-motorische Einschränkungen und den Einfluss weiterer Erkrankungen (Multimorbidität) weiter verstärkt wird. Die regelmäßige Kontrolle beim Zahnarzt verliert mit zunehmendem Alter also immer mehr an Bedeutung. Am Beispiel der Inanspruchnahme prophylaktischer Leistungen zeigt sich, dass Gesundheitsvorsorge bei großen Teilen der Bevölkerung noch nicht den Stellenwert genießt, der ihr eingeräumt werden müsste. Die zunehmende Lebenserwartung macht jedoch den Erhalt möglichst vieler Zähne bis ins hohe Alter unerlässlich. Dabei sind Aufwand, der Gesundheitsgewinn für den Patienten und mögliche iatrogene Schäden stets gegeneinander abzuwägen. Durch den Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin hat sich im Therapiespektrum und in der Wahl der Mittel vieles geändert. Es gilt, Gewebe zu bewahren, das nach Zahnverlust –über den Zahn hinaus- gefährdet ist [18]. Aus sekundär-präventiver Sicht kommt der Versorgung mit Implantaten ein besonderer Stellenwert zu, da nur mit ihnen ein langfristiger Erhalt der knöchernen Strukturen realisierbar ist. Einer weiteren Verbreitung stehen jedoch die hohen Kosten entgegen, die im Rahmen der GKV nicht erbracht werden können. Verbunden mit dem präventiven Ansatz ist die Neuorientierung, nicht jeden verloren gegangenen Zahn, insbesondere im hinteren Backenzahnbereich, zu ersetzen. Die Frage nach der Behandlungsnotwendigkeit lässt sich gut am Konzept der verkürzten Zahnreihe (SDA-Konzept = shortened dental arch) darstellen, das von Käyser bereits vor Jahrzehnten vorrangig für die Betreuung von Risikopatienten formuliert wurde [34,35]. Es ist ein in der zahnärztlichen
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Prothetik gut dokumentiertes Konzept und basiert auf der Erkenntnis, dass die Notwenigkeit einer gegenseitigen Abstützung der Backenzähne (Prämolaren und Molaren) zur Vermeidung von Kiefergelenksproblemen lange Zeit überschätzt wurde. Gleichzeitig wurde die Fähigkeit des Körpers, auf Zahnverlust mit der Bildung eines neuen stabilen Gleichgewichtes zu reagieren, unterschätzt. Darauf aufbauend beinhaltet das Konzept die Forderung, dass Zähne nur dann ersetzt werden sollten, wenn sie erforderlich sind, um essentielle Funktionen wie Ästhetik, funktionellen Komfort und die Stabilität der Kauflächen zueinander wiederherzustellen. Einschränkend muss erwähnt werden, dass das SDA-Konzept nicht auf alle Patienten anwendbar ist (z.B. Vorliegen von Beschwerden/Schmerzen der Kaumuskulatur oder des Kiefergelenkes). Käyser unterscheidet innerhalb des Therapiekonzeptes drei unterschiedliche funktionelle Niveaus, die wiederum einzelnen Altersgruppen zugeordnet werden. Bei der Zuordnung handelt es sich jedoch nicht um klare scharfe Altersgrenzen, sondern um Altersgruppen mit erheblichen Überlappungen und Unschärfen [36]. Die Einteilung beruht auf der Anzahl der vorhandenen Zahnpaare, die sich aus dem Kontakt der Zähne des Ober- und Unterkiefers ergibt (= okkludierende Zahnpaare). Niveau 1 steht für das optimale Niveau mit 12 okkludierenden Zahnpaaren. Dieses Niveau wird meist dem jüngeren und mittleren Erwachsenenalter (20–50 Jahre) zugeordnet. Bei 10 Zahnpaaren handelt es sich um das suboptimale Niveau 2, das für 40–80-Jährige als geeignet angesehen wird. . Tabelle 3. Funktionelle Niveaus im Konzept der verkürzten Zahnreihe nach Käyser
Niveau
Bewertung
Zahl okkludierender Zahnpaare
Beispiel
Geeignete Altersgruppe
I
optimal
12
alle Frontzähne, kleine Backenzähne und erster großer Backenzahn
20–50
II
suboptimal
10
alle Frontzähne und kleine Backenzähne
40–80
III
minimal
8
alle Frontzähne und erster kleiner Backenzähne
≥ 70
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Niveau 3 steht mit 10 okkludierenden Zahnpaaren für das minimale Niveau. Die Patienten sollten mindestens 70 Jahre alt sein. Das SDA-Konzept stuft die Front- und Prämolaren als strategisch wichtiger als die Molaren ein [37]. Es ist erlaubt und erwünscht, sich auf den Erhalt einer definierten Anzahl von Zahnpaaren zu konzentrieren. Damit werden z.B. Zahnersatzkonstruktionen vermieden, die durch Einbeziehung risikobehafteter Molaren die Prognose bisher gut erhaltener Prämolaren gefährden (Konzentration auf prognostisch günstige Front- und Prämolarenzähne). Älteren, wenig belastbaren Patienten kann dadurch aufwendiger Zahnersatz, an den sie sich schwer oder gar nicht gewöhnen können, erspart werden. Die Formulierung derartig begrenzter Erhaltungs- und Therapieziele stellt unter geeigneten Voraussetzungen und mit Zustimmung des Patienten eine adäquate Option dar und trägt zur Prävention oraler Strukturen bei. Derartige Konzepte werden auf das Therapiespektrum und auf den Behandlungsbedarf zukünftig großen Einfluss haben, um das Ziel der hohen mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität über den gesamten Lebensbogen v.a. auch im Hinblick auf die zunehmende Lebenserwartung zu erreichen. Prothetischer Behandlungsbedarf Um die Funktion des Kausystems wiederherzustellen, werden kariöse Zähne gefüllt, Zahnbettbehandlungen durchgeführt und – wenn erforderlich – fehlende Zähne in der Regel durch funktionell hochwertigen und langlebigen Zahnersatz (Kronen, Brücken oder Prothesen, ggf. in Kombination mit Implantaten) ersetzt, um das Fortschreiten des Zahnverlustes zu verhindern. Zur Bestimmung des prothetischen Bedarfs ist es jedoch wichtig, zwischen Bedarf (need), Nachfrage (demand) und Inanspruchnahme einer Leistung zu unterschieden [26]. Die Nachfrage ist dabei eine subjektive Kategorie und steht in engem Zusammenhang mit dem subjektiv empfundenen Bedarf. Sie ist bestimmt durch das Krankheitsgeschehen, den individuellen Lebensstil, das eigene Gesundheitsbewusstsein sowie durch das Gesundheitssystem selbst, den Informationsgrad und den kulturellen Kontext. Der subjektive Bedarf allein ist normalerweise nicht entscheidend für Umfang und Eigenschaft einer erbrachten Leistung. Hinzu kommt das Urteil des Arztes (Leistungserbringer), der einen professionellen, »objektiven Bedarf« feststellt und daraus eine zahnärztlich angemessene Therapie nach dem gültigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ableitet und empfiehlt. Dass subjektiver und objektiver Bedarf dabei oft weit auseinander klaffen, zeigt die Studie von Walter et al. [16]. Innerhalb dieser
589 Zahnverlust und Zahnersatz
. Tabelle 4. DMFT-Index nach Alter und Jahr; Quelle IDZ Band 29
DMFT-Index gesamt nach Alter und Jahr Alter
1997
2020
12 Jahre 35–44 Jahre 65–74 Jahre
1,7 16,1 23,6
0,85 14,4 20,5
Studie lag der objektive Bedarf der Gesamtstichprobe für Zahnersatz (einschließlich Einzelkronen) bei 81%. Er nahm mit steigendem Lebensalter zu und erreichte bei der Altersgruppe der >74jährigen sogar 98%. Dem steht ein weitaus geringerer subjektiver Bedarf gegenüber: Auf die Frage, ob sie momentan die Anfertigung von Zahnersatz für notwendig hielten, wählten nur 12,9% die Antwort »Ja«. Mehr als die Hälfte (60,1%) sahen keine Notwendigkeit, obwohl in dieser Gruppe 75% nach objektiven Kriterien einer zahnärztlich-prothetischen Intervention bedurft hätten. Insgesamt darf sich die zahnärztliche Versorgungsstrategie also nicht allein auf medizinische, fachlich fundierte Einsichten stützten, sondern muss die subjektiven Präferenzen des Patienten und den erwarteten Gewinn an mundgesundheitsbezogener Lebensqualität, die beim Patienten einen immer höheren Stellenwert einnimmt, mit einschließen. Es stellt sich die Frage, ob aufgrund der Bevölkerungsschrumpfung auch von einem abnehmenden zahnärztlichen Behandlungsbedarf auszugehen ist. Prognosen zum zukünftigen Mundgesundheitszustand hat u.a. das IDZ veröffentlicht. Auf der Grundlage seiner drei großen, bevölkerungsrepräsentativen Studien zum Mundgesundheitszustand und -verhalten wurde ein Zukunftsbild für das Jahr 2020 entworfen [38]. Die . Tabelle 4 zeigt, dass eine Verbesserung der DMFT-Werte in allen Altersgruppen erwartet wird. Dies deckt sich mit Berechnungen eines für die Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde (DGZPW) erstellten Berichtes der I+G Gesundheitsforschung [18]. Auch hier wird epidemiologisch von einem allmählichen Häufigkeitsrückgang der wichtigsten Erkrankungen gesprochen, die zum Zahnverlust führen (Karies und Parodontitis). Für die Bestimmung des zahnärztlich-prothetischen Behandlungsbedarfs
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
(Zahnersatz) ist gesundheitsökonomisch gesehen jedoch die Anzahl der Zähne der wichtigste epidemiologische Indikator. Bis 2020 wird sich bei den Erwachsenen die Anzahl fehlender Zähne jedoch auch unter den günstigsten Bedingungen nur geringfügig verringern. Demzufolge wird der prothetische Behandlungsbedarf bis 2020 keine wesentliche Reduktion erfahren [18]. Weiterhin ist davon auszugehen, dass auch aus medizinischen Gründen (Erhalt oraler Strukturen, s.o.) festsitzende Restaurationen (Kronen, Brücken auf natürlichen Zähnen, Zahnimplantate) zunehmen werden [39]. Anforderungen an Versorgungsstrukturen/gesundheitsförderndes Umfeld Grundvoraussetzung für eine angemessene Behandlung ist, dass allen Altersgruppen der Zugang zur Versorgung möglich ist. Hierzu gibt die Bundeszahnärztekammer in ihrem Leitfaden zum Thema »Präventionsorientierte Zahnmedizin unter den besonderen Aspekten des Alterns«, der als ein Baustein des Gesamtkonzeptes »Prophylaxe ein Leben lang« zu verstehen ist, u.a. Tipps zur Organisation der zahnärztlichen Versorgung von Senioren [40]. Die Möglichkeit, den Zahnarztbesuches wahrzunehmen, hängt im Alter von bestimmten Voraussetzungen ab. Hier sind u.a. Aspekte zu nennen, wie breite Türen für Rollstuhlfahrer, die Vermeidung von Treppen und Schwellen als potentielle Stolperfallen sowie entsprechende Hilfsmittel im Sanitärbereich (Griff an der Wand, Klingel für den Notfall). Ein verständnisvolles Praxispersonal erkennt die Bedürfnisse des zunehmend älteren Patientenklientels (anbieten mehrer Konsultationstermine bei Rückenbeschwerden, geleiten ins Behandlungszimmer bei Patienten mit Arthrose, u.v.m.) [41]. Alt werden bedeutet in vielen Fällen auch, ein Pflegefall zu werden. Für den Bereich der Pflege geht man von einer in Zukunft zunehmenden Anzahl von älteren und pflegebedürftigen Bürgerinnen und Bürgern aus (verstärkte Institutionalisierung der Patienten) [42]. Der Mundpflegezustand in Alten- und Pflegeheimen ist vielfach jedoch unzureichend. Untersuchungen zeigen, dass der Zahn-, Mund- und Prothesenpflege oft wenig Zeit und Beachtung geschenkt wird. Bei einer Befragung in sächsischen Alten- und Pflegeheimen zeigte sich, dass bei 52,7% der Heiminsassen weniger als 2 Minuten Zeit auf die Mundpflege verwandt wurde. Die Säuberung des Zahnersatzes erfolgte meist chemisch mit Reinigungstabletten und nicht mechanisch [43]. Die enge Wechselbeziehung zwischen Allgemein- und Mundgesundheit und der damit verbundene hohe Stellenwert der Mundhygiene erfordert intensive Aufklärungsarbeit.
591 Zahnverlust und Zahnersatz
Beispielhaft seien hier zwei Initiativen der Zahnärzteschaft in der Altenund Behindertenbehandlung genannt. In Bayern haben sich die Stadt München, die Bayrische Landeszahnärztekammer und der Zahnärztliche Bezirksverband zur Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zusammengefunden, das helfen soll, die ältere Bevölkerung flächendeckend zahnärztlich zu versorgen. Ergebnis ist ein duales Modell, das einerseits die zahnmedizinische Versorgung in den Senioreneinrichtungen abdeckt und anderseits die Schulung und Fortbildung des Pflegepersonals in der Zahn-, Gebiss- und Mundpflege beinhaltet. Im Kreis Wesel wurde die Unterrichtseinheit für angehende Altenpfleger zum Thema Oralhygiene überarbeitet, so dass durch eine sinnvolle Verbindung theoretischer Wissensvermittlung mit praktischen Übungen ein stärkerer Praxisbezug in der Ausbildung erzielt wird. Das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium strebt an, dieses erweiterte Ausbildungskonzept bundesweit zu übernehmen. Auf Seiten der Berufsvertretung erstellte die Bundeszahnärztekammer im Rahmen ihres Konzeptes »Prophylaxe ein Leben lang« das »Handbuch der Mundhygiene für betagte Menschen, chronisch Kranke und Behinderte – Ein Ratgeber für das Pflegepersonal«, das für das Personal in Pflegeeinrichtungen eine wichtige Hilfe darstellt [44].
4 Schlussfolgerung Der demographische Wandel in Deutschland ist ein gesellschaftspolitisches Problem von herausragender Bedeutung. Gravierende Veränderungen sind zu erwarten. Im Bereich der Mundgesundheit bedeutet diese Entwicklung vornehmlich die zunehmende Versorgungsnotwendigkeit von Erwachsenen unter besonderer Berücksichtigung der Risikogruppen wie Senioren, Migranten und sozial Schwächeren. Neben einem Teil der unabhängig lebenden Senioren (Gogoes) muss für die weniger mobilen, hilfs- und pflegebedürftigen älteren Menschen (Slow-goes, No-goes) der Zugang zur zahnärztlichen Versorgung verbessert werden. Diese Chancengleichheit im Gesundheitsbereich gilt es auch für die Gruppe der Migranten und die der sozial Schwächeren stärker anzustreben. Auswertungen zeigen, dass innerhalb dieser Gruppen ein bisher ungedeckter Präventions- und Therapiebedarf besteht. Darüber dürfen die unbestrittenen Erfolge der Prävention bei Kindern und Jugendlichen nicht hinweg täuschen. Der zunehmend kritische und selbstbewusste Patient stellt gleichzeitig zusehends höhere Anforderungen an seine allgemeine und mundgesundheitsbezo-
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E · Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
gene Lebensqualität. Eine erhebliche Verschiebung des Behandlungsspektrums ist zu erwarten. Festsitzende Restaurationen (Kronen, Brücken auf natürlichen Zähnen, Zahnimplantate) werden zunehmen. Aktuelle epidemiologische Daten zeigen, dass trotz aller Erfolge der Prävention auch künftig durch die Volkskrankheiten Karies und Parodontitis und den damit verbundenen Zahnverlust ein hoher Behandlungsbedarf bei Zahnersatz bestehen bleiben wird. Es ist davon auszugehen, dass mittelfristig die veränderten Anforderungen an eine angemessene zahnärztliche Versorgung im Rahmen der GKV nicht mehr zu finanzieren sein werden. Eine weitere Polarisierung und Verstärkung von sozialen Ungleichheiten ist zu befürchten. Die verstärkte Überarbeitung bestehender Präventionsstrategien mit Mitteln der Versorgungsforschung kann helfen, die durch den demographischen Wandel entstehenden zukünftigen Herausforderungen im Bereich der zahnärztlich-prothetischen Versorgungsrealität zu meistern. Die Weiterentwicklung des präventiven und salutogenetischen Ansatzes in der Zahnmedizin stellt dabei eine der Schlüsselvoraussetzungen dar. Anders wird bei knapper werdenden Ressourcen keine weitere und nachhaltige Verbesserung der Mundgesundheit erzielbar sein.
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593 Zahnverlust und Zahnersatz
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
A Ablaufoptimierung 333 Abnehmen mit Genuss 46 Abrechnungsdaten 116 Abrechnungszweck 116 Abschlussbericht 99 ACE-Hemmer 434 Adiponectin 432, 434 Adipositas 85, 92, 97, 152, 177, 193, 194, 199–203, 210, 293, 429, 430, 432– 434, 436–438 – Prävalenz 200, 201, 378 – Prävention 194 – Versorgung 409 Adipozyten 431, 432 advertising 304 – regulation 304 Aids 165 – Hilfe 157 – Prävention 222 – – Werbekampagne 223 Airport-Konzern 367 Akkreditierungsagentur 294, 297 Akkulturation 197 Akteurkonstellation 8 Aktion Gesundheit 43 Aktionsfeld 42 Aktionsforschung 157 Aktionsplan 106 Aktionstag 366 Aktiv Gesundheit fördern 80 Aktiver, sportlicher 246 Aktivierung 246 Aktivität – gesundheitsförderliche körperliche 245 – gesundheitssportliche 247, 254, 255 – – Bindung 254
– körperliche 92–94, 101, 104–107, 244, 246, 255, 268, 270, 271, 278, 380, 429, 430, 434, 438 – physische 107 – sportliche 78, 81, 82, 268, 270–272, 277 Akutkrankenhaus 79 Akzeptanz 63 Alibiveranstaltung 53 Alkohol 78 Alkoholkonsum 78 Allgemeinerkrankung 584 Allgemeingesundheit 569 Allgemeinmedizin 379 Allianz, nationale 105 Allokation 114 Altenheim 590 Alter 115, 116 Altern, gesünderes 3 Altersgruppe 44, 57 Alterung der Gesellschaft – betriebliches Gesundheitsmanagement 35 Alterzahnheilkunde 568 Änderungsbereitschaft 79 Anerkennung 12 Angebot, gesundheitsorientiertes 273 Angebotsspektrum 48 Angebotsuntersuchung 319 Anpassungsproblem – externalisiertes 460 – internalisiertes 460 Anreiz, steuerlicher 50 Ansatz, gemeindemedizinischer 43, 50, 395 Ansprechbarkeit 62 Anspruchswandel 362 Antibiotikatherapie 400 Antibiotikaverordnung 399 Antidiabetikum 429, 430, 438
Antihypertensivum 429, 430, 434, 438 Anti-Raucher-Angebot 295 Anti-Rauch-Kampagne 104 anti-smoking campaign 308 anti-tobacco legislation 305 Anwesenheitsprämie 372 Anwesenheitsquote 333 AOK 331 – Bundesverband 47 – Gemeinschaft 44 – Kurs 46 – Rückentraining 366 – Service Gesundes Unternehmen 47, 328 Apolipoprotein B 432 Approbationsordnung 569 Arbeit 336 – Light 366, 369, 371 – niedrigschwellige 169 Arbeitgeber 49 Arbeitnehmer 359, 361 Arbeitnehmervertretung 328, 367 Arbeitsagentur 74 Arbeitsansatz 102 Arbeitsbedingung 49, 52, 316–318, 331, 333 Arbeitsdirektor 367, 372 Arbeitsförderung 74 Arbeitsform 362 Arbeitsgestaltung 364, 369 Arbeitsgruppe 106, 107 – Prävention 43 Arbeitsinhalt 327 Arbeitskraft 327 Arbeitsloser 151, 152 Arbeitslosigkeit 43, 144, 327 – Bedrohung 152 – und Gesundheit 147
597 Sachverzeichnis Arbeitsmarkt 361 Arbeitsmediziner 316, 318, 321–323, 328 Arbeitsorganisation 364 Arbeitspapier 103 Arbeitsplan 105 Arbeitsplatz Arbeitsplatz 16, 92, 100, 327, 331, 332, 335, 366, 372 – Analyse 371 – Begehung 364 – Beratung 371 – Gestaltung 364, 371 – Qualität 326 – Sicherung 360 Arbeitsproduktivität 326 Arbeitsprogramm 103 Arbeitsprozess 366, 372 Arbeitspsychologie 348 Arbeitsqualität 325, 326 Arbeitsschutz 36, 315, 317, 321, 330, 332, 333, 369 Arbeitsschutzgesetz 318, 361 Arbeitsschutzmaßnahme 332 Arbeitsschutzstruktur 332 Arbeitsschwerpunkt 103 Arbeitssicherheit 318, 320, 361, 369 Arbeitssicherheitsgesetz 361 Arbeitssituation 319, 322, 359, 367 Arbeitsumfeld 318, 331, 332, 337 Arbeitsunfähigkeit 319, 327, 333, 542, 546 Arbeitsunfähigkeitszeit 335 Arbeitsunfall 335, 371 Arbeitsverhältnis 47 Arbeitsweise, gemeinsame 105
Arbeitswelt 325, 327, 359, 360, 364 – salutogene Einflüsse 29 Arbeitszeitmodell 364 Arbeitszufriedenheit 331, 334 Arteriosklerose 433 Arzneimittel – Anwendungssicherheit 130 – Hypercholesterinämie 525 – Information 130 – Konsumrisiko 135 – Mammakarzinom 525 – Osteoporose 525 – Richtlinie 522 – Therapie 123 – – Mitverantwortlichkeit des Patienten 126 – – Stadien 132 – Bluthochdruck 524 – Kontraindikationen 125 – Missbrauch 125 – Neuralrohrdefekte 524 – Primärprävention 523 – Sekundärprävention 523 – sinnvolle Indikationen 524 – Suchtentwicklung 125 – Tertiärprävention 523 Arzneimittelbehörde 131 Arzneimittelgesetz 125, 129 Arzneimittelschaden 123 – Erscheinungsformen 124 – Prävention 126 Arzneiverordnungsreport 544 Arzt 48, 60, 278 Ärzteschaft 282 Arzthaftung 130 Arztkontakt 81
Arzt-Patienten-Beziehung 59, 60, 63 – Rollenwandel 127 Arzt-Patienten-Interaktion 122 Arztpraxis 64 Aspekt – allgemeinmedizinischer 569 – präventiver 571 – primärpräventiver 403 Asthmasymptomatik 80 Asthmatiker 80 Asylbewerber 195 AT1-Blocker 436 Atembeschwerden 436 Atemwegsinfekt 400 attitudinal survey 107 Attributionsstil 460 AU-Daten 37 Aufenthaltsdauer 197, 203, 208, 209 Aufgabe, gesamtgesellschaftliche 41 Aufgabenstellung des öffentlichen Gesundheitsdienstes – Prävention 220 Aufgabenverteilung 52 Aufklärung 6–8 – des Patienten 130 – gesundheitliche 570 Aufklärungsaktion 556 Aufklärungskampagne 50 Aufklärungsprogramm 81 Ausdauertraining 84 Ausgewogenheit der Ernährung 104 Ausgrenzung 196 Ausländer 195, 196 Austauschbeziehung 118 Auswirkung, negative 243
A
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Automobilzulieferer 335, 336 Autopilot 117 Autorität 60
B Balance 5, 10 Ballaststoff 102 Bandscheibenschaden 118 Bar 93 BASE 581 Baukastensystem 169 Beanspruchung, körperliche 251 Bedarf – objektiver 588, 589 – prothetischer 588 – subjektiver 588, 589 Bedarfsermittlung 73 Bedarfsplanung 72 Bedingung, salutogene 35 Bedrohungsabwehr 505, 511 Befindlichkeit, schlechtere 83 Befragungsinstrument 347 Begleiterkrankung 115 Behandlung 324, 327 – Kontinuität 462 – Kosten 47, 48 – qualitätsgesichertes Programm 322 Behandlungsbedarf 588, 592 – prothetischer 581, 590 – zahnärztlich-prothetischer 589 Behandlungsziel 84 Behindertenbehandlung, zahnärztliche 568 Behinderung 73, 74
Beifahrer 117 Beitragssatz 43 Belastung, körperliche 296, 331, 332 Belastungsabbau 13, 333 Belastungsempfinden 343 Belastungsforschung 344 Belastungsreduktion 86 Belastungswandel 362 Belegschaft 325, 326, 328, 337 belief system 13 Benchmarking 115 Beobachtungsstudie 378 Beratung 6–9 – ärztliche 17 – Leitfaden 85 – praxisrelevante 330 – psychosomatische 366 – Qualität 334 Beratungsgespräch 365 Beratungspraxis 169 Beratungsstelle 420 Bereich, stationärer 116 Berentung 327 Berichterstattung 50 Berliner Altersstudie (7 auch BASE) 581 Bertelsmann-Stiftung 326, 337 Berufsgenossenschaft 74, 328 Berufsgruppe – Ärzte 341 – Gefährdungspotenzial 341 – Pflegende 341 – Präventionsbedarf 339 Berufskrankheit 360 Beschäftigte 326 Beschäftigungsfähigkeit 362 Beschäftigungsverhältnis 326 Betablocker 436
Betrachtung, lebensweltliche 245 Betreuung – individualprophylaktische 563 – primärpräventive 568 – prophylaktische 553 – sekundärpräventive 568 Betreuungsprogramm 365 Betreuungszeitraum 65 Betrieb 10, 13, 14, 42, 45, 48, 295, 325 – rauchfreier 12 Betriebsalltag 326 Betriebsarzt 320, 321, 328, 360, 361, 373 Betriebsergebnis 47, 327, 331, 332 Betriebsgröße 329 Betriebsklima 331–333, 337 Betriebsleiter 321 Betriebsrat 362, 363, 370 Beurteilung, sozialmedizinische 72 Bevölkerung 7, 8, 15 – ausländische 197 Bevölkerungsgruppe 196, 197 Bevölkerungsprophylaxe 566, 572 Bevölkerungsrückgang 575, 576 Bevölkerungsschicht 102, 105 Bewältigung – emotionsbezogene 253 – problembezogene 253 Bewältigungskapazität 451 Bewältigungskompetenz 80 Bewältigungsreaktion 511 Bewegung 10, 79, 245, 383, 394 – soziale 17 – körperliche 91, 92, 95
599 Sachverzeichnis Bewegungsangebot 276, 295, 296 – gesundheitsorientiertes 283 Bewegungsarmut 48, 267 Bewegungsdefizit 48 Bewegungsfachkraft 419 Bewegungsmangel 5, 11, 48, 257, 268 Bewegungsparameter 94 Bewegungssensor 93 Bewegungsverhalten 94, 418, 434 Bewertung, gesundheitspolitische 14 Bewertungsmaßstab, einheitlicher 542 Bewusstseinsbildung 424 Bewusstseinswandel 47 Beziehung – soziale 452 – zu Gleichaltrigen 453 Bezugbevölkerung 195 Bildung 5 Bildungssektor 13 Bindung – gesundheitsrelevante 255 – soziale 283 Binnenmarkt 96 Biomonitoring 318 Biostoffverordnung 361 Bioterrorismus 96 Bisslagefehler 561 BKK 143 blueprint for action 98, 99 Blutdruck 84 – Einstellung 433 – Selbstkontrolle 82, 386 Bluthochdruck (7 auch Hypertonie) 104, 433, 438 BMBF 71 BMI 390, 419, 432, 434, 437 – Perzentilkurve 201
Bodenverkehrsdienst 371 Body Mass Index (7 auch BMI) 199, 209 Branchenschwerpunkt 329 breastfeeding 98 – protection, promotion and support 99 Breitensport 297 Breitenwirkung 41 Brennpunkt, sozialer 10, 14 Bronchitis, chronisch obstruktive 81 Brustkrebs (7 auch Mammakarzinom) 492 Brustkrebserkrankung 83 Bruttoinlandsprodukt 112 Budgetumverteilung, intersektorale 118 Bund 43, 49 Bundesärztekammer 276, 277 Bundesebene 50–52 Bundesgesundheitssurvey 92, 416, 430, 475, 488 Bundeslebensmittelschlüssel 204, 205 Bundesministerium – für Bildung und Forschung (7 auch BMBF) 71 – für Gesundheit 112 – für Gesundheit und soziale Sicherung 166 Bundesrat 50, 112 Bundesstiftung 51 Bundestag 112 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 166, 409, 411, 412, 425 Bündnis, aktionsorientiertes 105 Burnout 32, 33, 354 Business Mission 367
A–C
C Call-Center 533, 544 Cannabinoid-Rezeptor 1 439 capacity building 159 cardiovascular disease 104, 104 caries decline 578 CB1As 432 CB1-Rezeptor 432 Chancengleichheit 591 – gesundheitliche 236 Chancenungleichheit 147 CHANGE (7 auch Converting Habits of Antibiotic Prescribing in General Practice) 404 Change Management 161, 360 Check-up 57 Chemische Industrie 329, 335 Cholesterinspiegel 395 chronic disease 101 chronic obstructive pulmonary disease 301 Chronifizierung 72, 77 chronisch Kranker 44, 151 cigarette producer 302 Coachingangebot 365 Community Periodontal Index 559 – of Treatment Needs (7 auch CPITN) 580 complementary food 98 Compliance 126, 206 Computerspiel 92 Contergan 125 Converting Habits of Antibiotic Prescribing in General Practice 404 country in transition 300
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CPI (7 auch Community Periodontal Index) 559, 560 CPITN 580 Croatia 299 Curriculum des Studiengangs 106
D DALY 444 Dänische Krebsgesellschaft 100 DATA Food Networking Initiative 94 Daten, administrative 116 Datenbank, arbeitsmedizinische 365 Datenerhebung 93 Datenlage 194 D-DRG 114 Definitionsmacht 17 Denominator 195 Depression 86, 444 – Auswirkungen auf Krankheitsverlauf 496 – chronisch erkrankte Patienten 495 – chronische Erkrankung 495 – Einfluss auf HbA1c-Status 499 – Einfluss auf Krankheitsverarbeitung 501 – Folgen 499 – integratives Modell 501 – Inzidenz bei Patienten mit chronischen Erkrankungen 498 – Krankheitsbewältigung 495 – Lebensqualität 496
– Lebenszufriedenheit 495 – Mediatoren 501 – Messinstrumente 503 – Rehabilitation 496 – subjektive Lebenszufriedenheit 502 Depressions-Distress-Skala 460 Deutsche Herz-KreislaufPräventionsstudie (DHP) 15, 382 Deutsche Präventionslandschaft für Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsberufe 355 Deutsche Rentenversicherung (DRV) 71 Deutscher Sportbund 48 DG SANCO 91, 95 DHP (7 auch Deutsche HerzKreislauf-Präventionsstudie) 382 Diabetes 77, 434 – mellitus 44, 77, 84, 429, 430, 433, 436 – Risiko 10 Diagnosequalität 419 Diagnosis-related Group (7 auch DRG) 545 Diagnostik-Ablauf 68 Diätberatung 56, 77 Diätumstellung 82 Dienst – medizinischer 115 – öffentlicher 334 Dienstleistung 334 diet 93, 97, 107 Differenzierungsmerkmal 115 Dimension, ethische 361 disability 72 Disease Management Programme 44, 382 DISHES 205
Diskriminierung 196, 364 Disposition, biologische 449 Distress 5 Diuretikum 436 DMF-S-Index 557 DMF-T – Index 557, 578 – Wert 555 DMS – III 578–580 – I–II 579 Dokumentation 278 – klinische 115 Dokumentationssystem 168 DRG 545, 548 – Fallgruppe 116 – System 118 Drogen 370 Drogengebrauch 11 Drogenszene 169 DRV 71 Durchwanderungsland 194 Dysfunktion, links-ventrikuläre 539 Dyslipidämie 432, 436
E Ebene, individualmedizinische 401 EBM5 542 Edukationsmaßnahme 405 Edukationsmethode 399 Effekt, motivationaler 81 Effektivität 60, 393 Effektivitätsforschung 73 Effektstärke 421 Effektwissen 252 Effizienz 206, 393, 443 EFFTA-Staaten 98
601 Sachverzeichnis EHHI 102 EHN 102 Eigeninitiative 158, 326 Eigenverantwortung 42, 52, 121, 126, 332, 363 – des Patienten 122 Einbindung 252 – soziale 503 Einfachzucker 102 – pathogene Einflüsse 28 Einflussfaktor 66, 193 Einflussnahme 65 Einkaufsmodell, wettbewerbsorientiertes 115 Einkommen 5 Einreisealter 208 Einsatzfeld 8 Einsatzflexibilität 333 Einsparpotential 112, 335 Einsparung 48, 334, 335 Einstellung zum Körper 252 Einstellungsuntersuchung 370, 371 Eintrittswahrscheinlichkeit 535 Einwandergeneration 194 Einwanderungsland 194 Einwohnermeldeamt 476 Einwohnermelderegister 207 Einzelfallhilfe 10 Ejektions-Fraktion 539 Elaboration Likelihood Model 404 Elektroindustrie 335 Elternarbeit 182 Elternbildungsangebot 183 employability 362 empowerment 11, 71, 76, 160, 405 Endocannabinoid 432, 49 Engagement 337 Entgelt 116
Entgeltfortzahlung 330 Entgeltsystem, pauschalierendes 114 Entlassungsgrund 116 Entscheidungsebene 106 Entscheidungslogik, binäre 116 Entscheidungsspielraum 5 Entscheidungsträger 16, 99, 107 Entspannung 394 Entspannungstraining 78 Entspannungsübung 81 Entstehungszusammenhang 72 Entwicklung – demographische 41, 362, 395 Entwicklungsaufgabe 7 Entwicklungsleiter 453 – nach Felner 448 Entwicklungsmodell 443 Entwicklungsmöglichkeit 67 Entwicklungsphase 448 Entwicklungsprozess 454 Entwicklungsstand 195 Epidemiologie 16, 72, 554 Erfahrungsaustausch 505 Erfolg – monetärer 334 – wirtschaftlicher 336 Erfolgskontrolle 359, 362 Ergebnisevidenz – Output-Evidenz 294 Ergebnisindikator 115 Ergebnismessung 73 Ergebnisqualität 114, 115, 167, 259, 321 Ergonom 361 Erhebungsaufwand 116 Erhebungsinstrument 193, 194, 206, 208, 476 Erholung 5 Erinnerungsfragebogen 93
C–E
Erkenntnisprozess 403 Erkrankung 61, 106, 205, 328 – arbeitsbezogene 318 – chronisch-degenerative 3 – chronische 42, 101, 320, 322 – kardiovaskuläre 57, 101, 103 – kariöse 558 – muskulo-skelettale 370 – orale 554 – psychische – – Prävention 445 – rheumatische 84 Erkrankungsform 78 Erkrankungsrate 195 Erkrankungsrisiko 201 Erkrankungswahrscheinlichkeit 5 Erlebensmuster 450 Ernährung 5, 9, 10, 82, 84, 92–95, 98, 105–107, 296, 383, 394, 419, 570 – angewandte 106 – gesunde 81 – zahngesunde 564 Ernährungsberatung 78, 366 Ernährungsberatungsstelle 416, 420 Ernährungserhebung 203 Ernährungserhebungsinstrument 204, 205, 211, 212 Ernährungserhebungsmethode, kulturspezifische 204 Ernährungsfachkraft 419 Ernährungsgewohnheit 205, 211 – kulturspezifische 194 Ernährungsindustrie 329, 335
602
Sachverzeichnis
Ernährungsleitlinie 106 Ernährungsprotokoll 386 Ernährungsrichtlinie 106 Ernährungssituation 203, 204 Ernährungssoftware 205 Ernährungsstatus 199, 201, 202, 204 Ernährungstagebuch 92 Ernährungsumstellung 79 Ernährungsverhalten 92, 94, 105, 203, 434 Ernährungsweise 101 Ernährungswissenschaftler 106 Erneuerungsprozess, dezentraler 12 Erosion 564 Ertrag, wirtschaftlicher 332 Erwachsen werden 179, 180, 182, 184, 187 Erwerbsfähigkeit 42, 73 Erwerbsleben 73, 86 Erwerbslosigkeit 76, 320 – Risiko 319 Erwerbstätiger 326 Erwerbsunfähigkeit 319 Erzeuger 100 Erziehungsberatung 420 Erziehungskompetenz 454 Essgemeinschaft 203 Essstörung 107, 211 Essverhalten 85 EU platform 97 EURODIET 99, 105, 106 Europa-Ebene 326 Europäische Gemeinschaft 101 Europäische Kommission 95–99, 100, 101, 103, 105, 107 Europäische Sozialagenda 326
Europäische Union 99, 100, 107 Europäisches Herznetzwerk 101 Europäisches Parlament 95, 104 European Food Study 107 European Heart Health Initiative (EHHI) 102–104 European Heart Network (EHN) 101–105 European schoolchildren 100 European Strategy for Tobacco Control 306 EU-Solidaritätsfond 96 Evaluation 7, 46, 72, 80, 157, 278, 284, 293, 328, 393 – externe 160 – gesundheitsökonomische 465 – interne 160 Evaluationsergebnis 98 Evaluationskonzept 112 Evaluationsqualität 259 Evaluationsstudie, gesundheitsökonomische 464 Evaluationssystematik 117, 119 Evidenz 106, 260, 443 Evidenzbasierung 259, 271, 278, 294, 554, 572 Evidenzgrundlage 96 Evidenzstufe 260 Experteninterview 37 Expertenkommission 337 Expertenstatus 63 Expertensystem – psychiatrisches 462 – psychosoziales 462 exposure to tobacco smoke 309 Externalisierung 23, 24
F Facharzt 66 Facharztstruktur 113 Fachberuf, medizinischer 96 Fachgesellschaft, medizinische 99 Fachkraft 51, 105 Fahrlehrer 117 Fahrverbot 113 Fahrzeugbau 329 Faktor – patientenspezifischer 115 – sozialer 332 Fallmanagement 72 Familie 295 Familienberatung 420 Familienfürsorge 10 Familien-Management 10 Familienplanung 491 Fastfood 92 Fehlernährung 11 Fehlerquote 330, 333, 334 Fehlinterpretation 197 Fehlkommunikation 204 Fehlsteuerung 60 Fehltage 371 Fehlzeit 367, 371, 445 Fehlzeitenindex 369 Fertigkeitsniveau 80 Fette, gesättigte 92, 102 Fettleibigkeit 200 Fettmasse 199 Fettsäure 431 Fettstoffwechselstörung 429, 430 FFQ 205 Finanzhoheit 52 Finanzierbarkeit der GKV 41 Finanzierung 7, 41
603 Sachverzeichnis Finanzmittel 50, 51 Finanzvolumen 50, 51 Fissurenversiegelung 564 – präventive 556 Fitness 48, 360, 360, 393 Fitnesskomponente 249 Fitness-Studio 283 Fitpoint 369 Fluktuation 14, 319 Fluktuationsrate 37, 333 Fluorid 564, 564, 579 – Applikation 564 Fluoridisierungsmaßnahme 556 Folgegeneration 195 Folgeschaden 75, 112 Food Frequency Questionnaire (FFQ) 205 Food Standard Agency 101 Fördermittel 51 Förderprogramm 91, 100 – europäisches 95 Förderschwerpunkt 72 Forschung 7 – epidemiologische 465 Forschungsantrag 72 Forschungsförderung 97 Forschungsorganisation, europäische 94 Forschungsverbund, rehabilitationswissenschaftlicher 71–73 Fortentwicklung 359 Fraktur 47 Framingham-Studie 84, 464 Fraport GesundheitsManagement 372 Frauengesundheit 474, 477, 490 Frauengesundheitsforschung 473, 475 Freitage 371 Freizeitgestaltung 85
Freizeitsport 296, 297 Fremdevaluation 160 Fremdgefährdung 319 Fremdhilfe 363 Frühberentung 72, 144, 319 Frühberentungsdaten 37 Früherkennung 56, 57, 59, 62, 67, 68, 461 – Diagnostik 67 – Untersuchung 56 Früherkennungsinstitution 68 Früherkennungsprogramm 67 Früherkennungsrate 319 Frühförderung 454 Frühstadium 75 FRUITAVITAL 100 Führung, menschengerechte 12 Führungsaufgabe 327 Führungskraft 328, 332, 337, 370 Führungsqualität 31 Führungsstil 332 Funktion, renale 81 Funktionseinbuße 75 Funktionseinschränkung 75 Funktionsfähigkeit 80
G Gastgewerbe 334 GATE-Projekt 366, 372 G-DRG 111 Gefährdungsanalyse 37 Gefährdungsminimierung 316 Gefährdungspotential 339
E–G
Geld-Sparen 61 Gemeindeebene 381 Gemeindemedizin 377, 382, 387 Gemeinschaftsaufgabe 49 Gemeinschaftsprojekt 48 Gemeinschaftsstrategie 326 Gemeinschaftsverpflegung 11 Gemüsekonsum 100 Generaldirektion – Bildung und Kultur 95 – Forschung 95, 100 – Gesundheit und Verbraucherschutz 95–97, 100 Generation 195, 201, 203 Genetik 447 Gerechtigkeit 12 – soziale 49 German Diagnosis-Related Group (G-DRG) 114 Gerontologie 107, 585 Gesamtbetreuung, multidisziplinäre 568 Gesamtbevölkerung 14, 16, 42, 46 Gesamtcholesterin 84 Gesamtdatenbank 94 Gesamtschule 11 Geschäftsleitung 12, 367 Geschlecht 115, 116 Gesetzentwurf 50 Gesetzesinitiative 102 Gesetzgeber 118 Gesprächsleitfaden 370 Gestaltung – ergonomische 331 – gesundheitsgerechte 16, 364 Gesunderhaltung 104 Gesunde-Städte-Netzwerk 231
604
Sachverzeichnis
Gesundheit 4, 5, 8, 10, 12, 13, 17, 41, 43, 75, 92, 96, 98, 100, 111, 174, 244, 255, 268, 292, 315, 316, 325, 326, 331, 336, 337, 359, 361, 363, 364, 367, 373, 393 – am Arbeitsplatz 26 – öffentliche 95, 96 – orale 553, 571 – psycho-mentale 380 – und Ernährung 106 – und Verbraucherschutz (7 auch DG SANCO) 91 Gesundheitsamt 278, 416 Gesundheitsangebot 389, 393 Gesundheits-Audit 286 Gesundheitsausgabe 112, 113, 444 Gesundheitsbefinden 47 Gesundheitsbelastung 5, 6, 10, 12 Gesundheitsberatung 8, 55, 56, 62, 361, 382 Gesundheitsbereich 370 Gesundheitsberichterstattung 52, 195, 365, 378, 382, 396 – Bestandsaufnahme 232 – Entwicklungslinien 232 – kommunale GBE 231 – Profilbildung 232 – Ressourcensteuerung 231 – Schwerpunktsetzung 231 Gesundheitsberuf – Arbeitsbedingungen 342 – Arbeitsunfähigkeit 343 – Fehlzeiten 342 – Gesundheitsförderung 354 – Präventionsangebot 345
– Präventionsforschungsbedarf 353 – Präventionspotenzial 342 – Verhaltensmuster 343 Gesundheitsbewegung 17 Gesundheitsbewusstsein 360, 365, 423 Gesundheitsbezug 10 Gesundheitsbildungsprogramm 80, 81 Gesundheitsbudget 532 Gesundheitschance 3, 17, 19, 49, 285 Gesundheitscoaching 365 Gesundheitsdaten 96, 396 Gesundheitsdienst, öffentlicher 282 – Förderung des Gesundheit 219 – Gesundheitsförderung 220 – Interdisziplinarität 220 – Kompetenz 219 – Stärken 219 – Vermeidung von Erkrankungen 219 Gesundheitseffekt 279 Gesundheitseinrichtung 342, 380 – Gefährdungsanalyse 347 – Gesundheitsförderung 347, 354 – Präventionsstufe 352 Gesundheitseinstellung 390 Gesundheitserhaltungskompetenz 176 Gesundheitsernährungsbericht, europäischer 94 Gesundheitserziehung 4, 93, 429, 438, 448 Gesundheitsexperte 99 Gesundheitsfaktor 97
Gesundheitsförderung 4, 6, 8, 10–14, 16–18, 26, 41–50, 55, 56, 58, 59, 73–76, 80, 83, 103, 106, 107, 123, 143, 144, 148, 149, 247, 249, 267–269, 271, 273– 275, 281, 285, 286, 294, 295, 316, 318–321, 323, 325–327, 332, 334, 336, 337, 379, 381, 383, 384, 394, 492, 566, 572, 582 – bei Arbeitslosen 147 – Arbeitsansätze 230 – betriebliche 8, 34, 159, 316, 318 – betriebliches Gesundheitsmanagement 25 – Curricula 340 – gesundheitspsychologische 229 – in Kindergärten 148 – partizipative 13 – ressourcenorientierte 221 – salutogenetische 229 – stadtteilbezogene 150 Gesundheitsförderungsgesetz 99 Gesundheitsförderungsgespräch 369, 370 Gesundheitsförderungsmaßnahme 270 Gesundheitsförderungsprogramm 322, 365 Gesundheitsförderungsprozess 47, 49, 52, 328, 331, 335 – betrieblicher 332 Gesundheitsförderungsstrategie 103 Gesundheitsforschung 316 Gesundheitsführer 383, 384 Gesundheitsgefährdung 97, 317, 320, 322, 328
605 Sachverzeichnis Gesundheitsgewinn 285 Gesundheitsgruppe 384, 387, 389, 394, 395 Gesundheitsindikator 377, 380, 383 Gesundheitsinformation 97, 103, 419, 424 Gesundheitsinfrastruktur 96 Gesundheitskampagne 15, 16, 62, 369 Gesundheitsklima 396 Gesundheitskonzept 63 Gesundheitskosten 319 Gesundheitskurs 8 Gesundheitsleistung 112, 382 Gesundheitsmanagement 36, 47, 328, 331, 336, 338, 359, 360–366, 373 – betriebliches 25, 34–37, 323, 326, 328, 336–338 Gesundheitsmanagementprozess 47 Gesundheitsökonomie 572 Gesundheitspass 371 Gesundheitspolitik 3, 16, 103, 338 – betriebliche 23, 28, 34, 39, 327, 338 – – Neuausrichtung 25 – – Reprivatisierung gesundheitlicher Kosten 24 – europäische 102 Gesundheitspotential 53, 273, 328 Gesundheitsproblem 17, 197 Gesundheitsprogramm 275, 319 Gesundheitsreform 41, 44, 114
Gesundheitsressource 5, 6, 10, 75, 247, 253, 261, 269 – physische 250, 271, 277 – psychosoziale 251, 253, 271 Gesundheitsrisiko 8, 10, 75, 85, 362 Gesundheitsschaden 74 – alkoholbedingter 96 Gesundheitsschutz 96, 317, 359, 360–362, 364 Gesundheitssicherung 3, 17 Gesundheitssituation 203 Gesundheitssport 244, 247, 249, 261, 267, 268, 270, 271, 273–278, 280, 281, 283, 286, 291–293, 296, 297 – gesundheitssportliche Orientierung 272 – Kernziele 249, 256 – Konzept 243 Gesundheitssportangebot 272 Gesundheitssportgruppe 78 Gesundheitssportprogramm 247, 249, 258, 267, 268, 270, 279, 284, 285, 295 Gesundheitsstand-Berichterstattung 365 Gesundheitsstatus 76, 197 Gesundheitsstörung 77, 203 Gesundheitssurvey 211, 463, 473 Gesundheitssystem 92, 96, 111, 118, 119, 196, 278, 315, 316, 324, 379, 571 – Finanzierung 112 – Makroebene 122 – Mikroebene 122 Gesundheitstag 390, 393
G
Gesundheitsuntersuchung 57 Gesundheitsverhalten 10, 49, 71, 78, 81, 83, 174, 177, 454 – Bindung 254 – individuelles 175 Gesundheitsverhältnis 247 Gesundheitsversorgung 201, 475 Gesundheitsvorsorgeuntersuchung 273, 277, 390 Gesundheitswesen 41–43, 52, 96, 98, 111, 114, 280, 294, 297, 329, 334, 335, 360, 365, 430, 490 Gesundheitswirkung 247 – nachhaltige 261 Gesundheitswissen 383, 394 Gesundheitswissenschaft 24, 94 Gesundheitsziel 37, 317, 380, 383, 397 Gesundheitszirkel 37, 337, 351, 364, 369 Gesundheitszustand 47, 85, 113, 199, 209 Gewalt 380 Gewicht 199 Gewichtsabnahme 79 Gewichtsreduktion 82, 383, 438, 439 Gewichtsreduzierungskurs 295 Gewichtswachstum 199 Gewinn 335 Gicht 433 Gingivitis 558, 559 GKV 114, 146 – Dokumentation 44 – Präventionsangebot 46 Gleichstellung 160 Glitazon 434
606
Sachverzeichnis
Global Strategy on Infant and Young Child Feeding 98 Global Youth Tobacco Survey 300, 304 Globalisierung 23, 35, 306, 326, 396 Glukoneogenese 434 Glukoseintoleranz 431 Glukosespiegel 432 Größe 199 Großhandelsunternehmen 336 Grundgestimmheit, positive 251 Gruppeninterventionsprogramm 457 Gruppenprogramm, psychoedukatives 459 Gruppenprophylaxe 566, 572, 578, 585 Gruppentraining, verhaltensorientiertes 9 Guidelines for Building National Alliances for the Prevention of CVD 105 Gutachten 145 Gutachtenwesen 221 Gymnasium 11
H Haftpflichtprozess 137 Haftungsrecht 121 Handbuch, interaktives 169 Handel 100, 334 Handeln, problemorientiertes 360 Handicap 72 Handlungsanleitung 170 Handlungsebene 101 Handlungsfeld 46, 86
Handlungsforschung 159 Handlungskompetenz 5, 178, 179 Handlungsmuster 99 Handlungsrahmen 370 Handlungsspielraum 5 Handlungstyp 8 Handlungswissen 5, 252 Hans-Böckler-Stiftung 326, 337 Hauptdiagnose 116 Hauptschule 183, 185 Hauptschüler 11, 188 Hausarzt 61, 63, 66, 68, 113, 371, 380 Hausarztpraxis 55, 59, 62, 65, 67 Hausbesuch 9, 10 – präventiver 8 Hausbesuchsprogramm 457 Haushalt 93 Haushaltbudgetdaten 92, 94 Hautfaltendicke 208 HDL – Cholesterin 84, 436, 439 – Wert 196 health 93, 97, 98 Health Insurance Fund 305 health-related quality of life 583 healthy diet 107 healthy migrant effect 197 heart attack 301 Hebebühne 371 Heilberuf 106 Heiratsverhalten 201 Herkunftsland 194, 197, 208, 209 Herzerkrankung 101 – ischämische 84 – koronare – – direkte Kosten 497
Herzgesundheit 103 Herzgruppe 82–84 – ambulante 79 Herzinfarkt 57, 82, 99 – Risiko 196 – Risikobewertung 366 Herzinfarktpatient 79 Herzinitiative 102 Herzinsuffizienz 433, 436, 532 Herzjahr, europäisches 103 Herz-Kreislauf-Erkrankung 44, 48, 81, 99, 102–104, 489 Herz-Kreislaufpräventionsstudie 379 Herz-Kreislaufsystem 431 Herzrhythmusstörung 438 Herzsportgruppe 82 Herzwoche 103 Heterogenität 195 Hilfesuchverhalten 10 HIV/AIDS 96 – Kampagne 8, 15 Höchstgeschwindigkeit 113 Hormontherapie 474 – menopausale 474, 475 Hospitalisierungsrate 532 Hüftumfang 208 Humankapital 24, 32, 35, 326 Humankapital 32 Husten 400 HYDRA Studie 437 Hygiene 9, 296 – Infektionsgefahr 227 Hygieneaufsicht 226 hyperinflation crisis 299 Hyperinsulinämie 434 Hyperlipidämie 433 Hypertonie 77, 81, 386, 395, 429, 430, 432–434, 436 – Prävalenz 389
607 Sachverzeichnis Hypertoniker 378 Hypertrophie – linksventrikuläre 438 – ventrikuläre 433 Hysterektomie 483
I Ideenmanagement 364 Ideologisierung 360 IDZ 578 Ignoranz 61 illegal sales 302 Illegale 196 ILO 26 Imagemonitor 46 Immigration 201 impairment 72 Impfung 56, 57 – Überzeugungsarbeit 226 – Werbeaktionen 226 Implantat 586 Inaktivität, körperliche 94, 97, 243, 244, 257, 267, 268 Inanspruchnahmeverhalten 72, 586 Indikation 283 – sinnvolle – – Bluthochdruck 524 – – Hypercholesterinämie 525 – – Mammakarzinom 525 – – Neuralrohrdefekte 524 – – Osteoporose 525 Indikator 414 – quantitativer 167 Indikatorenbildung 413 Indikatorensatz 94 indirect advertising technique 304
Individualprophylaxe 566, 578, 585, 586 Individuum 8 Industriegesellschaft 91 Industrieunternehmen 363 infant 98 Infektion, sexuell übertragbare 380 Infektionskrankheit 270 – Bewältigung 221 – Prävention 225 – Probleme 221 Infektionsschutz 221 Information 5–8, 364 Informationsfluss, Verbesserung 163 Informationsmaterial 85 Informationstechnologie 326 Inhaltlichkeit 372 initiation of smoking behaviour 309 Inkontinenz 491 Innovation 4, 7 Innovationskraft 13 Innovationsmanagement 161 Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) 578 Institution 285 Instrumentarium 45 Insulinresistenz 431, 432, 434 Insulinsensitivität 432, 433, 439, Insulinsensitizer 434 Insulinsubstitutionstherapie 434 Integrationsforschung 206 Interessenträger 14 Interessenverband 105 Internalisierung 32 International Obesity Task Force 199 Internet 338
G–K
Intervention 58, 66, 99, 198, 278, 280, 403, 419 – multifacettierte 399 – präventive 7, 77, 380 – tertiärpräventive 83 Interventionsangebot 394 Interventionsebene 7, 16 Interventionsfeld 4 Interventionsform 170 Interventionsgruppe 84 Interventionskonzept 16, 270 Interventionsmaßnahme 283 Interventionsmöglichkeit 16 Interventionsprogramm 86, 94, 462 Interventionsschritt 16 Interventionsstrategie 100 Interventionsstudie 378 Intranet 366 Investition 41, 326, 336 Investment 48 Inzidenz 102, 434 ischemic heart disease 301 Isolierung, soziale 5
J Jugendgesundheitssurvey 194, 207 Jugendhilfebereich 236 JVA 168
K KABERA 107 Kalkül, ökonomisches 17 Kalorienaufnahme 92
608
Sachverzeichnis
Kalorienverbrauch 92 Kampagne 6, 15, 424 – betriebliche 12 – kontextbezogene 16 Kapazität, adaptive 450, 451 Karies 559, 575, 577, 581, 592 Kariesätiologie 558 Kariespolarisierung 562, 579 Kariesprävalenz 570 Kariesprävention 564 Kariesprophylaxe 565 Kariesrisiko 564 Kariesrückgang (7 auch caries decline) 578, 579 Kassenarzt 17 Katamnese 80 – Zeitraum 81, 83, 84 Katastrophenschutz – Ernstfall 227 – logistische Vorbereitung 227 Kaufakt 18 Kaufkraft 17 Kausalkette 332 Kernteam 367 Kinder und Jugendliche 150–152 – adipöse 148 Kinderarzt 286 Kinder-FrüherkennungsUntersuchung 56 Kindergarten 42, 44, 47, 51, 278, 286, 295, 296 Kindergesundheitssurvey 194, 207 Kippstation 371 Klima, gesundheitsförderndes kommunales 396 Knoten, regionaler 149, 153 Kohärenzempfinden 27
Kohlenhydrate, kurzkettige 92 Kohortenstudie 543 Kommune 43, 49, 52, 278 Kommunikation 11, 13, 295, 296, 332–336, 364, 403 – betriebsinterne 332 Kommunikationsangebot, zielgruppenspezifisches 188 Kommunikationsprozess 334 Kommunikationssignal 402 Kommunikationsstrategie, zielgruppenspezifische 189 Kommunikationsstruktur 321, 332, 336 Kommunikationstechnik 404 Kompentenzerwartung 252 Kompetenz – individuelle 176 – personengebundene 176 – selbstbezogene 179 – soziale 179 Kompetenzentwicklung 188 – individuelle 181 Kompetenzzentrum 149, 320 Komplikationsrate 115 Konferenzdeklaration 104 Konfliktbewältigungskapazität 458 Konkordanz 97 Konsequenzerwartung 252 Konstitution – biologische 452 – psychische 452, 453 Konsumrisiko, Arzneimittel 124
Kontext, europäischer 106 Kontextbeeinflussung 10 Kontextbezug 15 Kontinuität 59 – der Versorgung 63 Kontraindikation 283 Kontrazeption 474 – orale 474, 475 Kontrolle, staatliche 165 Kontrollgruppe 84 Kontrollgruppendesign 80 Kontrolluntersuchung, zahnärztliche 563 Konzept, gesundheitspolitisches 96, 273 Konzeptqualität 419, 425 Kooperation 337 Körperfettmasse 199 Körperfettverteilung 201 Körpergewicht 207, 438, 439, 570 Körpergröße 201, 207, 208 Körpermasse 200 Körpermesswert 208, 211 Kosovo crisis 299 Kost, cholesterinarme 82 Kosten 367, 420 – effektivitätsadjustierte 546 – volkswirtschaftliche 444 Kosten-/Nutzenrelation 116 Kostenallokation 118 Kostenaspekt 373 Kosteneffektivität 534 Kosten-Effektivitäts-Analyse 531, 534, 535 Kosteneinsparung 118 Kostenprogression 119 Kostensenkung 42, 330, 333, 336 Kostenträger 114 Kostentransparenz 118 Krafttraining 371 Krankenaktendaten 115
609 Sachverzeichnis Krankengymnastik 82 Krankenhaus 113–116, 336 Krankenhausdichte 66 Krankenhausempfehlung 57 Krankenhaus-Report 2004 114 Krankenhaustage 81 Krankenhausvergleich 115 Krankenhausverweildauer 114 Krankenkasse 42, 43, 48, 50–52, 115, 116, 276, 278, 279, 283, 286, 328, 338, 366, 371 – gesetzliche (GVK) 41, 44, 49, 50, 114 Krankenschwester 17 Krankenstand 333, 336, 368 Krankenstandsenkung 332, 335 Krankenstandsrückgang 47 Krankenversicherung 49, 319 – gesetzliche 43, 45, 74, 112, 282 – private (PKV) 114 Krankenversicherungsdaten 445 Krankenversorgung 10 Krankheit 4, 5, 43, 64, 73, 75, 92, 97, 361, 393 – chronische 74, 99, 174 Krankheitsbewältigung – direktes Training 514 – effektive Wege 502 – Formen 502 – ineffektive Wege 502 – Vorhersage 508 Krankheitsbild 48, 118 Krankheitsfall 195 Krankheitsfrüherkennung 75
Krankheitskonzept 63, 401 Krankheitslast 42, 44 Krankheitsprognose 84 Krankheitsrisiko 43, 44 Krankheits-Selbstmanagement 76 Krankheitssituation 59 Krankheitsursache 6 Krankheitsverarbeitung 72 – Messung 503 Krankheitsverhütung 74, 269 Krankheitsverlauf 115 Krankheitsvermeidung 5, 220 Krankheitsverschlechterung 75–77 Krankheitsverständnis 462 Krankheitswissen 80, 394 Krankschreibung 371 Krebsfrüherkennung 477 Kreislauferkrankung 101 Krohmeyer-Hauschild 210 Kultur 203, 205, 296 Kulturspezifität 194, 204 Kultusministerium 49 Kundenkontakt 334 Kundenzufriedenheit 330, 334, 336 Kündigung, innere 32, 33 Kunststoffverarbeitung 329 Kuration 3 Kurs, verhaltensorientierter 47 Kursprogramm, qualitätsgesichertes 292
L Labeling 58 Lage, soziale 177 Länder 43, 49
K–L
Länderbudget 51 Länderebene 50 Ländergruppe 195 Landesarbeitsgemeinschaft 48 Landesebene 51 Landessozialministerium 48 Landwirtschaftspolitik 104 Längenwachstum 199 Längsschnittstudie 279 Langzeitbeobachtung 115 Langzeiteffekt 84, 465 Langzeitüberleben – Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie 514 Lastenheft 364 Laufend in Form 46 Law on Tobacco Production and Sale 304 LDL-Cholesterin 436 Lebensalltag 82 Lebensbedingung 49, 65, 317, 450 Lebenserwartung 3, 222, 438, 577 – Steigerung 582 – zunehmende 575, 586 Lebensführung 57 – gesunde 282, 390 Lebenskompetenz 176, 179 – Förderung 190 Lebenslage 10 Lebensmittel 93, 101, 204, 205 – kulturspezifische 206 Lebensmittelgruppe 206 Lebensqualität (7 auch health-related quality of life) 42, 43, 80, 81, 84, 253, 327, 382, 418, 444, 553, 571, 583 – mundgesundheitsbezogene (MLQ) 575, 583, 589
610
Sachverzeichnis
Lebensqualitätsforschung 554, 572 Lebenssituation 5, 61 Lebensstil 92, 99, 102, 105, 201, 277, 285, 295, 296, 394, 395 – bewegungsarmer 255 – gesundheitsfördernder 393 – individueller 175 Lebensstiländerung 48, 62, 72, 76, 78, 79, 422 Lebensstilfaktor 104 Lebensumfeld 10, 452, 453 Lebensweise 79, 101 Lebensweisebezug 16 Lebensweisenkonzept 165 Lebenswelt 42, 50–52 Lebenszeitprävalenz 487, 490 Lebenszufriedenheit – Diabetes mellitus 496 – Einfluss von Depressivität 509 – koronare Herzerkrankungen 496 – subjektive – – Selbstbeurteilungsinstrument 505 – Vorhersage 509 Lehrerfortbildung 52, 182 Leistungsausgabe 42, 43, 49, 118 Leistungsbereich 115 Leistungsbereitschaft 359, 362 Leistungsdiagnostik 72 Leistungserbringer 114–116 Leistungsfähigkeit 114, 319, 359, 362 Leistungsgeschehen 114 Leistungsinhalt 68 Leistungsschwerpunkt 42 Leistungssport 296, 297
Leitfaden 44, 91 Leitlinien 166 – Empfehlung 404 – Kriterium 418 Leitsystem 117 Leptin 431 Lernangebot 6 Lernen, soziales 165, 282 Lernprozess 13 Letalität 532 life skills 178 Linksherzhypertrophie 436 Lipidsenker 429, 430, 438 Lipoprotein-Lipase 432 Lohnfortzahlung 335 Lohnnebenkosten 23, 24, 43, 326 Lösungsansatz, praxisorientierter 73 lung cancer 301
M Maastrichter Vertrag 95 Mahlzeitenstruktur 203 Mammakarzinom 483, 492 Management 326, 337 Managementprozess 327 Manager, betrieblicher 12 marketing 304 marketing of unhealthy food to children 102 Markov-Modell 531, 535, 536, 539, 542 Marktanteil 45 Marktwirtschaft 17, 23 Maschinenbau 329, 336 Massenmedien 14, 15 Maßnahme – diagnostische 60 – gesundheitsfördernde 282, 285
– präventive 194, 393, 396, 429, 430 – prophylaktische 61 – schulpräventive 188 – therapeutische 60 – verhaltensbezogene 190 – verhaltenspräventive 175, 188 – zahnärztlich-präventive 566 Maßnahmenkatalog 370 – GATE 369 Master of Health Programme 309 Master of Public Health Nutrition 105 Masterabschluss 106 Masterprogramm 106 Matched-Pairs-Prozess 537, 548 MDK 412, 418 Medikalisierung 16–18, 522 Medikament (7 auch Arzneimittel) 62, 584 Medizin 17, 378 – ambulante 396 – klinische 17 – kurative 315, 379 Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) 412, 418 Medizinkultur 57 Mehrbeanspruchung 367 Mehrheitsbevölkerung 196, 197 Mehrverantwortung 23 Mensch, alter 42, 151, 584 Merkmal, soziodemographisches 82 Messinstrument 193 Messsystematik, homogene 111 Messung, homogene 113 Metallerzeugnis 335 Metallindustrie 329
611 Sachverzeichnis Metformin 434 Methodenentwicklung 7 Methodenkenntnis 182 MHT 478, 487 Migrant 144, 151, 152, 193–198, 204, 207, 208, 579, 581, 591 Migrantenfamilie 193, 204 Migrantengruppe 201 Migrantenkind 202 Migrantenpopulation 194, 201 Migration 198 Minderheit 197 Mineralien 102 Minorität 197 Mischehe 201 Mitarbeiter 333, 334, 360, 362, 364, 367, 370, 371, 373 Mitarbeiteranerkennung 369 Mitarbeiterbefragung 37, 364, 371 Mitarbeiterbeteiligung 364 Mitarbeitergespräch 37, 365 Mitarbeiterorientierung 31 Mitarbeiterzufriedenheit 331, 335, 337 Mitbestimmung 159 Mitgliedsstaaten, europäische 94 Mitunternehmer 364 Mitverantwortung 359, 363 MLQ 583 Mobbing 32 Modegetränk 92 Modelle guter Praxis 239 Modellplan 99 Modellprojekt 4, 48 Modellvorstellung 449 Moderationsfunktion 219
Monitoring Public Health Nutrition in Europe 94 Morbidität 6, 48, 67, 81, 197, 429, 430, 432, 434, 438, 439 Morbiditätsstruktur 43 Morbus Alzheimer 489 Mortalität 6, 67, 429, 430, 432–434, 438, 439 Mortalitätsrisiko bei depressiven Herz-Patienten 499 Motivation 81, 327, 331, 333, 337 Motivationsarbeit 76 Motivationslage 63 Multidisziplin, praxisorientierte 16 Multimorbidität 584 multinational company 302 multi-sectoral Tobacco Agency 305 Mundgesundheit 555, 556, 561, 566, 569–572, 575, 577, 581, 583, 591, 592 Mundgesundheitsstudie 557 Mundgesundheitsverhalten 571 Mundgesundheitsziel 570, 571 Mundhygiene 557, 559, 561, 563, 568, 590 – häusliche 563 Mundhygienemaßnahme 564 Mundpflege 591 Mundschleimhauterkrankung 561 Muskelrelaxation nach Jacobsen 386 Muskeltraining 83 Mutter, stillende 99 Myokardinfarkt 433
L–N
N Nacharbeitung 333 Nachbesserungsbedarf 334 Nachbetreuung 85 Nachfrage 588 Nachhaltigkeit 254, 337 Nach-Rehaphase 76 Nachsorge 71, 76, 84 Nachsorgeempfehlung 82 Nachsorgekonzept 84 Nachsorgeprogramm 71, 81, 82, 83 – telefonisches 84 Nachverfolgung 370 Nährstoffdatenbank 204, 206 Nahrung 107 Nahrungsfaktor 205 Nahrungsmittel 99, 100, 102 – hochwertige 104 Nahrungsmittelindustrie 102 Nahrungszusammensetzung 101 National Commission for Smoking Prevention 306 National Tobacco control Strategy and Action plan 308 Nationalität 195–197, 202 Nebendiagnose 116 Nebenwirkung 61, 67, 124 Nephropathie 433, 434, 436 Nervensystem 431, 432, 439 Netz, soziales 5 Netzwerk 48, 97, 106, 338 – Gesundheitssport 267 Neuinfektionsrate 166
612
Sachverzeichnis
Neurodermitis 9 Nichtregierungsorganisation 98, 165 non-communicable disease 299 Non-Compliance 62 Normalgewicht 200 number needed to treat 59 Nutrition 107 nutrition education 107 nutritional requirement 98 Nutzen, wirtschaftlicher 326, 330–332, 336 Nutzen-Risiko-Abwägung 528 Nutzen-Risiko-Bilanz – Diskussion 528 – Nebenwirkungen 527 NYHA 532
O obesity taskforce 101 Obst 8 Obstkonsum 100 OC 478, 487 OECD-Staaten 112 ÖGD – Abhängigkeit von Ländergesetzgebung 237 – Aufgaben 235 – Funktionen 235 – Gesetz – – Ausgestaltung 231 – Gesundheitsberichterstattung 232 – gesundheitsförderliche Praxis 231 – interdisziplinäre Arbeitsstruktur 230 – kommunaler Schwerpunktsetzung 237
– Monitoring-Funktion 233 – nahe stehendes Setting 236 – Position 233 – Präventionsaufgaben 221 – Stärken 233 – zentrale Koordinationsfunktion 238 OHIP 583 Ökonomie 73 Ökonomismus 16, 17 Old Public Health 4 Oral Health Impact Profile (7 auch OHIP) 583 Organisation 49 – gesunde 26, 28, 34 – lernende 161 Organisationsdiagnose 34 Organisationsentwicklung 8, 11, 12, 24, 25, 291, 292, 332 – Gesundheitsförderung 350 Organisationsfaktor, immaterieller – betriebliche Gesundheitspolitik 24 Organisationsmerkmal, pathogenes 33 Organisationspathologie 34, 35 Organisationsstruktur 277 Organisationsziel 32 Osteoporose 491 Ottawa Charta 4, 5, 7, 26, 161, 269, 271, 273, 275 out-of-pocket expense 305
P Pädiatrisches Institut Burlo Garofolo 98 Paradigmenwechsel 4, 41, 43
Paradontopathie 558, 559 Parlamentarier, europäischer 103, 104 Parodontale Screening Index (7 auch PSI) 580 Parodontalerkrankung 560 Parodontitis 558–560, 575, 577, 581, 592 Parodontopathie 561 Partialinteresse 17 participatory action research 159 Partizipation 6, 11, 13, 158, 325, 326, 332, 337 – soziale 455, 456 Partnerbetrieb 47 Pass 194, 195 Pathogenese 34 Patient 57, 58, 60–62, 64, 66, 79, 283 – aktive Mitwirkung 132 – mündiger 121 – Obliegenheiten 123 – Pflichten 123 – Rechtspflichten 132 – Rechtsposition 132 Patientenbeteiligung 127 Patientendaten 393 Patientendruck 402 Patienten-Empowerment 86 Patientenfragebogen 79 Patientenleitbild 121 Patientenobliegenheit 134 – Compliance 135 – Schadensfernhaltung 133 – Schadensminderung 136 – Selbstbeobachtung 136 Patientenschulung 71, 80, 86 Patienten-Selbstmanagement 80
613 Sachverzeichnis Patientensicherheit – Überarbeitung der Ärzte 344 Patientensouveränität 128 Patientenverantwortlichkeit 403 Pedometer 93 peer education 17 Peer-review-Verfahren 170 Personalabteilung 361, 372 Personalbetreuer 361 Personalentwicklung 24, 25, 291, 292, 327 Personalfahrer 372 Personalpolitik 359, 360, 363 Personalverfügbarkeit 330 Personalvertreter 370 Perspektive 67 – bevölkerungsmedizinische 221 – salutogenetische 25, 27–29, 32 Pflege 3, 74, 315, 324, 590 Pflegebedürftigkeit 74, 293 Pflegeheim 590 Pflegepersonal 84, 591 Pflegeversicherung 50 Pflichtenkreis des Pharmaunternehmers 129 Pflichtunterricht 371 Pflichtuntersuchung 319 pharmaceutical industry 308 Pharmakotherapie 434 Pharmaunternehmer 124 physical activity 93, 97 Physiologie des Alterns 584 Pilotstudie 47 PKV 114 Planbarkeit 334 Planungshorizont 16 Plaque 559, 563, 564 Plausibilitätskriterium 170
Polarisierung, sozialstrukturelle 189 Politik, symbolische 15 Politiker 487 Politisierung 360 Polypill – Risikoreduktion 526 population attributable fraction 464 population migration 299 Portion 206 Portionsgröße 204–206 post communist country 299 Postinfarktpatient 534 Potenzial, gesundheitsförderliches 43 Powerbetrachtung 209 Präadipozyt 432 Prädiktion 73 Prävalenz 29, 102, 382, 384, 390, 426, 429, 430, 433, 437, 438, 474 – Depression bei Diabetes mellitus 498 – Depression bei Patienten mit koronaren Herzerkrankungen 498 Prävalenzrate 488 Prävalenzschätzung 198, 202 Prävention 9, 13, 17, 26, 55–59, 62, 67, 68, 73–76, 97, 99103, 107, 111, 113, 114, 117, 118, 269–271, 274, 275, 277, 281, 285, 315–318, 320, 323, 325, 326, 377, 378, 379, 395, 396, 55–556, 561, 570– 572 – arbeitsmedizinische 320–322 – Definition 123 – evidenzbasierte 112 – Gesundheitsberufe 339
N–P
– Gesundheitseinrichtungen 339 – hausärztliche 399, 400 – indikative 447, 463 – individuelle 11 – kommunale 378, 379, 382, 383 – mit Arzneimitteln – – Nebenwirkungen 527 – primäre 18, 74, 143, 145, 585 – psychosoziale Belastungen 340 – sekundäre 75, 585 – – chronische Erkrankungen 513 – selektive 456, 457, 462 – tertiäre 71, 75, 112 – universelle 455, 456 – Verhaltengebote des Patienten 138 – verhaltensbezogene 11, 173 – von Arzneimittelschäden 121 – zahnmedizinische 563 Präventionsanforderung 256 Präventionsangebot 44, 48, 354, 393 – indikatives 456 – psychologisches 568 – schulbezogenes 185 – selektives 456 – sozialpädagogisches 568 Präventionsansatz 62, 446 – selektiver 446 Präventionsarbeit 393 Präventionsbedarf 107, 193 Präventionsbegriff 75 Präventionsbereich 48, 111, 117,1 119 Präventionsbeteiligung 56
614
Sachverzeichnis
Präventionsdilemma 178, 187, 188 Präventionsfachkraft 52 Präventionsgeld 118 Präventionsgeschehen 44 Präventionsgesetz 3, 4, 41, 42, 49, 112, 118, 122, 143, 152–154, 158, 239, 323, 324, 338, 396, 521 – Förderkriterien 237 Präventionsgespräch 68 Präventionskampagne 59 Präventionskonzept 320 Präventionsleistung 44, 51 Präventionsmaßnahme 12, 48, 104, 106, 118, 318, 384, 395 Präventionsmodell 43 Präventionsnetzwerk 91 Präventionsparadox 178 Präventionsplanung – Handlungsbedarf 351 Präventionspolitik 7, 13, 104 Präventionspotential 570 Präventionsprogramm 92, 94, 294, 295 – schulbezogenes 182 – verhaltensbezogenes 187, 190 Präventionsprojekt 91, 95, 97, 101, 107 Präventionsreife 351 Präventionsroutine 352 Präventionsspektrum 44 Präventionsstiftung 50 Präventionsstrategie 345, 453 Präventionsstudie 193 Präventionsteilnahme 118 Präventionsträger 51, 52 Präventivmedizin 380 Praxis 113, 193 – gesundheitswissenschaftliche 238
Praxisbegleitung 182 Praxiserfahrung 328 Praxismodell 328, 337 Praxispatientenstichprobe 394 preaching to the saved 178 prevalence of smoking 300 Primärprävention 4, 5, 10, 7–9, 15–18, 44, 45, 50, 51, 55, 112, 146, 157, 278, 322, 323, 379, 415, 425, 571 – kardiovaskuläre 526 – schulische 179 – verhaltensbezogene 178 Primärversorgung 393 – hausärztliche 377 primary health care 308 PRO CHILDREN Project 100 Problem – gesundheitliches 253 – sozialmedizinisches 561 Problemanalyse 12 Problemeinschätzung 6 Problemlösungsstrategie 164 Problemsituation 457 process of the privatisation 302 Prodromalsymptom 461 Produktionsinnovation 330 Produktionskonzept 362 Produktivität 13 Produktivitätssteigerung 330, 333, 335, 336 Produktivitätsziel 327 Programm – evidenzgesichertes 294 – qualitätsgesichertes 293, 297 – schulpräventives 189, 190 – verhaltensbezogenes 183
– verhaltenspräventives 174, 175 Programmzertifizierung 294 Projektantrag 97 Projektbericht 97 Projektförderung 106, 145 Projektkoordinator 97 Projektpartner 97 Prokekt GATE 367 Pro-Kopf-Ausgabe 112 promotional campaign 304 Prozess, betrieblicher 360 Prozessbegleitung 328 Prozessqualität 114, 259, 419, 425 PSI 580 Psychologe 361 Psychologie des Alterns 584 Psychotherapie 61 Pubertät 202 Public Health 98, 106, 111, 271, 274, 281, 285, 377, 379, 380, 396, 397, 554 – Disaster 306 – Empfehlung 245 – Förderprogramm 101 – Initiative 98 – Intervention 60 – Nutrition 105, 106 – öffentliche Gesundheit 267–270, 282, 283, 286 – Programm 95, 99, 100–103 – Promotion Programm 98
Q Qualitätsmanagementkonzept 297 Qualifikation 5
615 Sachverzeichnis Qualität 3, 280, 363, 423 Qualitätsanforderung 258, 328 Qualitätsaspekt 115 Qualitätsentwicklung 86, 274, 286, 423 Qualitätsförderung 572 Qualitätsinitiative 271 Qualitätskriterium 273, 275, 277, 292, 417, 422 Qualitätsmanagement 72, 256, 267, 268, 274, 276, 280, 284, 405 Qualitätsmanagementkonzept 291, 292 Qualitätsmaßstab 279 Qualitätsmerkmal 417 Qualitätsmessung 114 Qualitätssicherung 9–8, 13, 62, 67, 258, 278, 280, 281, 283, 284, 294, 297, 330, 410 – partizipative 157 Qualitätssicherungsinstitution 294 Qualitätssicherungsverfahren 116, 167 Qualitätssiegel 276–278, 291 Qualitätsstandard 41, 44, 422, 423 Qualitätssteigerung 233, 424 Qualitätstransparenz 114 Qualitätszirkel 274, 276, 280, 281, 404 quality of life 100 Quartiärprävention 58, 60, 62, 401 Quartiersmanagement 14, 150, 153 Querschnittserhebung 377 Querschnittsuntersuchung 384, 394
R Rahmenbedingung 18, 42, 53, 86, 104, 118, 259, 360 Randgruppe, soziale 144 Rationalisierungsdruck 326 Ratschlag 60, 63 Rauchen 78, 79, 82, 103, 104, 152, 380, 395, 584 Raucher 84, 378 Raucherentwöhnungsprogramm 77 Rauchverhalten 78 Reallokation 111–113, 118 Recalluntersuchung 92 Rechtsvorschrift 361 Referenzwert 115 Reformbewegung 12 Refresher-Kurs 371 Regelmäßigkeit 59 Regressionsanalyse 506 Regressionsmodell 115 regulation 303 Regulierung, staatliche 18 Reha vor Rente 74 Reha-Antragsabsicht 78 Reha-Bedürftigkeit 75, 77, 78 Rehabilitand 81, 82 Rehabilitation 3, 71–75, 77, 79, 80, 81, 85, 275, 277, 315, 318, 379, 545 – berufliche 78 – kardiologische 79, 84 – multimodale 77 – stationäre 77 Rehabilitationauftrag 74 Rehabilitationsbedarf 77 Rehabilitationsbedürftigkeit 72 Rehabilitationserfolg 85
P–R
Rehabilitationsforschung 71 Rehabilitationsmaßnahme 72, 83 Rehabilitationsnachsorge 82 Rehabilitationsplan 72, 366 Rehabilitationssystem 72 Rehabilitationszentrum 366 Rehabilitation 324 Reha-Forschungsverbund 74, 85, 86 Reha-Inanspruchnahme 78 Reha-Maßnahme 75 Reha-Motivation 79 Reha-Score 77 Rehospitalisierungsrate 547 Reintegration 370 Rekrutierung, passive 9 Remineralisation 564 Rendite 336 Renin-AngiotensinAldosteron-System 431 Rente 74 Renteneintritt 42 Rentenversicherung 42, 78 – gesetzliche 73 Reprivatisierung 24 Resilienz 451 – bakterielle 401 Resistin 431, 434 Respekt 12 Ressort 49, 52 Ressortgrenze 43 Ressource 4, 43, 52, 113, 114, 116, 118, 327, 365, 446, 450, 451 – gesundheitsdienliche 5 – physische 256 – psychosoziale 256, 276, 277, 280, 285, 296 – salutogenetische 381 Ressourceneinsatz 111
616
Sachverzeichnis
Restaurant 93 Return on Investment (ROI) 335, 336 Rezeptur 204 Rhythmik 59 Richtlinie 107 Rimonabant 439 Risiko, kardiovaskuläres 389 Risiko-Erkrankung 56 Risikofaktor 47, 71, 75, 76, 79, 81, 83, 84, 92, 101, 103, 257, 261, 269, 270, 271, 277, 293, 319, 360, 365, 383, 390, 394, 395, 432, 446, 451, 452, 458 – kardiovaskulärer 15, 77, 439 – metabolischer 439 – Therapie 67 – Verminderung 250 Risikogruppe 104, 113, 378, 396 Risikogruppenbeschreibung 194 Risikojustierung 115 Risikokommunikation 383 Risikomanagement 433 Risikomerkmal 447 Risikopatient 78 Risikoprofil 59 Risikoreduktion 251 Risikoverantwortungsgemeinschaft 128 Risikoverhalten 72, 327, 457 Risikowahrnehmung 221 risk factor 299 Robert-Koch-Institut 93 Rollenverständnis des Patienten 128 Routinedaten 116 Rückengymnastik 295 Rückenschule 78 Rückenschulregel 83
Rückenstützbandage 366, 371 Rückfallprophylaxe 85, 462 Rückkehrgespräch 365, 369 Rumination 503
S Salutogenese 25, 34 – salutogene Merkmale 27 Sanktionen 12 Säugling 98 Schadensersatz 137 Schamgrenze 207 Schichtdienst 371 Schichtzugehörigkeit 208 Schizophrenie 86 Schlaganfall 99, 433 Schlaganfallerkrankung 85 Schlaganfallpatient 85 Schnittstellenproblem 72, 73 Schnittverletzung 372 Schonarbeitsplatz 371 Schubkraft, soziale 17 Schulalter 104 Schulbildung 209 Schule 10, 13, 14, 42, 44, 47, 48, 51, 100, 278, 286, 295, 296 – gesundheitsfördernde 159 Schuleingangsuntersuchung 193 Schulformhierarchie 184, 186, 187 Schulformspezifität 181 Schulhofsanierung 52 Schulsportstunde 48
Schulstruktur 186 – deutsche – – Veränderung 190 Schulung 77 Schulungsgruppe 80 Schulungsprogramm 81 Schulungsteilnahme 80, 81 Schulungsumfang 80 Schuluntersuchung 236 – Förderbedarf 229 – Impfstatus 229 Schulverhalten 452 Schulwesen, deutsches 184 Schutzfaktor 451–453 Schwangerschaft 477 Schweigepflicht 321 Schwerpunktthema 42, 44 Schwulenszene 169 SDA-Konzept 587, 588 Sekundärprävention 55, 56, 67, 112, 322, 379, 416, 425, 571 Selbstbewusstsein 5 Selbstevaluation 159, 160 Selbstgefährdung 319 Selbsthilfe 9, 363 Selbsthilfeförderung 145 Selbsthilfegruppe 17, 71, 76, 78, 381 Selbsthilfepotenzial 152 Selbstmanagement 80, 81, 84, 147 – gesundheitlicher Ansatz 147 Selbstorganisation 158 Selbstreflexion, systematische 164 Selbstverantwortung 47, 128 Selbstvertrauen 9 Selbstverwaltung 114 Selbstwirksamkeit 5, 80, 252 self efficacy 9 Senior 581, 585, 590, 591
617 Sachverzeichnis Sensibilisierung 16 Sensitivitätsanalyse 547 Serbian Privatisation Agency 302 Serumtriglyzerid 439 Setting 6–8, 12, 45, 255, 257, 285, 295, 340, 345, 420 – Ansatz 182, 256, 381, 572 – Approach 285 – – Ansatz der Lebenswelten 267, 268 – – gesundheitsförderliche Verhältnisse 281 – – Lebenswelten 286 – gesundheitsförderliches 11–14 – Informationsgrundlagen 235 – institutionelles 14 – Intervention 11, 13 – Pflegesetting 352 – Projekt 12, 16, 415 – soziales 101 Seuchenkontrolle 165 Sexualaufklärung 165 Sexualhormon 477 Sexualität 491 SGB 417 – V 521 Shared-Decision-Making 127 Sicherheit 113, 326 Sicherheitsfachkraft 328 Sicherheitsgurt 15 Sicherheitsstandard 117 Sicherheitstraining 113 Sicherungssystem, soziales 73, 325, 327 Sinnverlust 64 Situation – familiäre 452, 453 – regionale 10 Slovenia 299
smoke free area 304 smoking cessation 307 smoking prevention 308 social acceptability 303 social marketing 15 Solidarität 363 sozial Benachteiligter 144, 157 Sozialisation, geschlechtsspezifische 181 Sozialkapital 35, 37, 326 – betriebliches 31 – bonding 31 – bridging 31 Sozialkasse 3 Sozialleistung 24, 74 Sozialpartner 320, 321 Sozialpolitik 96, 326 Sozialrecht 121 Sozialschicht 198 Sozialstatus 197 Sozialversicherung 43, 49, 52, Sozialversicherungsfall 327 Sozialversicherungssystem 326, 327 Sozialversicherungsträger 43, 50, 51, 74, 143, 365 Sozialwissenschaft 24, 378 Sozialzusammenhang 10 Spätaussiedler 196 Spondylitis ankylosans 80 Sport 8, 83, 85, 244, 246 – gesundheitsorientierter 274, 276 Sportangebot – gesundheitsförderliches 286 – gesundheitsorientiertes 278, 283 Sportberatung 366 sportlich Inaktiver 246 Sportorganisation 293 Sporttherapie 77
R–S
Sportverein 283, 291, 295–297 Sprache 204 Spurenelemente 102 Staaten, europäische 100 Staatsangehörigkeit 195, 196 Staatsbürger 195 Staatsbürgerschaft 196 Stadt, soziale 14 Stadtsanierung 5 Stadtverwaltung 336, 394 stakeholder 14 Standardisierung 115, 118 – direkte 384 Standardkohorte 542 Standortwettbewerb 326 Statistisches Bundesamt 112 Sterbegeschehen 3 Sterberate 195 Sterblichkeit 197 Sterblichkeitsrate 115 Steuerungsaufgabe 8 Steuerungsinstrument 17 Stichprobenziehung 476 Stillrate 98, 99 Stillzeit 98 Störfaktor 201 Störung, depressive 443 Straßenschild 117 Straßenverkehr 113, 117 Strategie – gesundheitsfördernde 188 – populationsbasierte 105 – präventive 174, 188, 553 – primärpräventive 189, 563 – sekundärpräventive 563 – tertiärpräventive 563 – verhältnispräventive 189 Strategietyp 8 Stress 11, 103, 104, 332
618
Sachverzeichnis
Stressbelastung 85 Stressbewältigung 79, 253 Stresskontrolle 383, 394 Stressmanagement 84, 332 Stressoren 347 Struktur – betriebliche 327 – bürokratische 51, 52 – gesellschaftliche 175 Strukturentwicklung 294 Strukturprävention 347 Strukturqualität 114, 259, 425 – Input-Evidenz 294 Studie 61 – versorgungsepidemiologische 78 Studiengang 106 – europäischer 105 Study on Burden of Disease and Injury 300 Sturzprophylaxe 47 Sturzunfall 47 Subsidiarität 363 Substanz-Missbrauch/ Drogen 380 Suche nach Information 511 Suchtberatung 51, 366 Suchtmittelkonsum 332 Sulfonylharnstoff 434 Supervisionsgruppe 350 Symptom 61 Symptomatik, depressive – emotionale Veränderungen 500 – kognitive Veränderungen 500 – psychologische Auswirkungen 500 Syndrom, metabolisches 77 System, soziales 34 Systematik 62 Systemkosten 547
T Tabak 5, 8, 11 Tabakkonsum 96 Tabakprävention 570 Tagebuch 93 Taille 208 Tätigkeit der Gesundheitsämter 222 Tätigkeitsbereich 360 Tätigkeitsfeld 360 Tätigkeitsschwerpunkt 103 tax revenue 305 taxation 303 Teilerfassung 67 Teilnahmerate 78 Teilnahmeunterschied 82 Teilnahmeverhalten 78 Telemanagement 534 Telemedizin 531, 533 Telemedizin-Projekt Zertiva 534 Tertiärprävention 322, 379, 416, 425, 571, 585 ∆9-Tetrahydrocannabiol 439 Textilgewerbe 329, 336 Textilindustrie 335 Therapie 61 – Ablauf 68 – sichere 123 Therapieangebot 83 Therapieentwicklung 76 Therapiespektrum 588 Therapiezuweisung 76 Thrombozytenaggregationshemmer 438 TNF-alpha 431 tobacco control measure 308 tobacco-related morbidity an mortality 303
Tod 64 Todesfall 195, 198 Todesursachen-Statistik 66 Total Quality Management 161, 360 total years of life lost 301 Tragetraining 371 Training – im Kontext 250 – Strategien der Krankheitsbewältigung 513 – zum Erwerb sozialer Kompetenzen 513 Trainingsangebot 365 Trainingseinheit 84 Trainingsgruppe 296 Trainingsprogramm 366 Trans-European-Network 536 transnational tobacco company 303 Transparenz 9, 114 Trendanalyse 200 Triglyzeridwert 436 Trimm Aktion 15, 272, 273, 275 Trinkwasser – sauberes 228 – Trinkwasseranlagen 228 Tumorerkrankung, orale 561 Turnverein 291, 295, 297
U Überalterung 577, 582 Überbehandlung 61 Überbelastung 5 Überdiagnostik 61 Überforderung 85
619 Sachverzeichnis Übergewicht 48, 77, 81, 92, 96, 97, 101, 103, 148, 177, 194, 198, 199, 200, 202, 203, 208, 210, 212, 293, 380, 386, 395, 410, 426, 429, 430, 433, 436–438 Übergewichtsprävalenz 200, 201 Übergewichtsreduktion 422 Übergewichtung 18 Überversorgung 58, 60, 66 Übungsgruppe (7 auch Gesundheitsgruppe) 296, 393, 394 UKE Hamburg 409, 411 Umfeld – gesundheitspolitisches 103 – soziales 100 Umfeldrisiko, soziales 561 Umsetzungsbedingung 16 Umsetzungsproblem 82 Umverteilung 118 Umwelt 8, 12, 17, 96 Umweltanforderung 450, 451 Umweltbelastung 42 Umweltfaktor 75, 101 Umweltmedizin 316 Umweltqualität 380 unemployment and poverty 299 Unfall 117, 118, 327, 333, 360, 366, 371, 380 Unfallforscher 48 Unfallopfer 113, 114 Unfallprävention 9 Unfallstatistik 37 Unfallverhütungsvorschrift 361 Unfallversicherung 74, 337 – gesetzliche 282 Unfallversicherungsträger 48
Ungleichheit, soziale 3, 9, 29, 177, 592 unhealthy food 102 UNICEF 98 Universitätsklinikum Eppendorf (7 auch UKE Hamburg) 409, 411 Unkenntnis 61 Unsystematik 67 Untergewichtung, politische 18 Unternehmen 16, 47, 325–329, 332, 333, 335–338, 360–362, 366, 370, 371, 373 Unternehmensattraktivität 361 Unternehmensentwicklung 326 Unternehmenserfolg 334, 337 Unternehmensfeld 364 Unternehmenskultur 32, 35 Unternehmensleitung 321, 325, 328 Unternehmenssicherung 334 Unternehmensumfeld 362 Unterschied, geschlechtsspezifischer 79 Unterstützung 12 – soziale 6, 12, 72, 252, 2 9 6 Untersuchung 61, 62 – HNO-ärztliche 61 Urindrogenscreening 370 Urlaubstage 371
V Variabilität 59 Veränderungsmotivation 81
S–V
Veränderungsprozess 52, 360 Verantwortungsbereich 41, 43, 48 Verantwortungssphäre – Therapiedurchführung 131 Verbraucherschutz 52 Verbund, nationaler 105 Verbundpartner 97 Verfahren, rehabilitationsdiagnostisches 72 Verfahrensoptimierung 73 Verfahrenssteuerung 72 Vergleichsstandard 194 Vergleichsstudie 65 Vergütung 114 Verhalten 261 – gesundheitsbelastendes 9 – gesundheitsbewusstes 335 – gesundheitsförderndes 327 – gesundheitsrelevantes 14 – gesundheitssportliches 254 – krankheitsgerechtes 80 Verhaltenmodifikation 18 Verhaltensänderung 10, 62, 164, 243, 403, 523 Verhaltensbeeinflussung 4, 10, 360, 365, 404 Verhaltenseffekt 279 Verhaltensintervention 12, 260 Verhaltenskontext 6, 15 Verhaltensmedizin 379 Verhaltensmodifikation 9, 11, 12, 85, 419 Verhaltensmuster 450 Verhaltensprävention 11, 13, 44, 49, 51, 173–175, 183, 321, 572
620
Sachverzeichnis
– kompetenzorientierte 176 – schulische 184, 189 Verhaltensspielraum 5 Verhaltensstabilisierung 76 Verhaltensweise 64 Verhältnis 261 – gesundes 249 – soziales 175 Verhältnisänderung 6, 164 Verhältnisintervention 260 Verhältnisprävention 11, 12, 173, 347, 572 Verkehr 334 Verkehrsinfrastruktur 117 Verkehrsleitsystem 117 Verkehrspolitik 52 Verkehrstote 113 Verletzungsrisiko 48 Vermeidung von Infektionskrankheiten – Impfungen 225 Vermittlungsausschuss 50 Verordnungsverhalten 406 Verordnungsrate 404 Verschiebebahnhof 51 Versorgungseffizienz 114 Versorgung 62, 67, 117 – allgemeinärztliche 104 – Finanzierbarkeit 112 – medizinische 113, 114 – zahnärztliche 568 Versorgungsbedarf 411 Versorgungsbereich 111, 117 Versorgungsdichte 66 Versorgungseinrichtung 487 Versorgungsform 72 Versorgungsforschung 422, 553, 572, 576, 577, 592 Versorgungskontinuität 76 Versorgungspolitik 572 Versorgungsprofil 421
Versorgungsqualität 417, 422, 490, 554 Versorgungsstruktur 380, 411 Versorgungssystem 55 Versorgungswirklichkeit 60 Verständnisproblem 211 Vertrauen 60 Vertrauens-Ort 64 Vertrauensperson 60 Vertrauensverhältnis 60, 63 Vertrautheit 63 Verwaltung, öffentliche 329, 335 Verweildauer 548 Verzehrshäufigkeit 205 Verzehrsmenge 205 Verzögerungszeit 533, 534 Vier-Felder-Tafel 384 Volkskrankheit, chronische 42 Vollerfassung 67 Vorfahren 196 Vorsorge, arbeitsmedizinische 316 Vorsorgeprogramm 321 Vorsorgeuntersuchung 78 – arbeitsmedizinische 317–319 Vorurteil 196
W Wachstum 201, 202 Wachstumsmonitoring 201 Wachstumsmuster 201 Wachstumsparameter 200 Wachstumsreferenzkurve 199 Wahlperiode 16 Wahrnehmung 12 – gesundheitsrelevante 14
Wandel 326 – demographischer 327, 576, 591 Wechseljahresbeschwerden 491 Wechselwirkung 332 Weiterbehandlung 85 Weiterbetreuung 85 Weiterbildung 371 Weiterqualifizierung 369 Wellness 17 Weltgesundheitsbericht 99 Weltgesundheitsorganisation (7 auch World Health Organisation, WHO) 26, 269, 477 Werbebotschaft 14 Werbewirtschaft 14 Werkzeitung 366 Wertbeitrag 372 Werteorientierung 59 Werteverlust 64 Wertschöpfung 373 Wettbewerb 114, 115, 360 – internationaler 373 Wettbewerbsfähigkeit 24, 325–327, 334, 336 Wettbewerbsfaktor 326, 328 WHO 26, 98, 102, 273, 275, 295, 377–380, 437, 477, 555, 559 – Framework Convention Tobacco Control 309 Widerstandfähigkeit 451 Wiederaufnahmerate 115 Wiedereingliederung 366, 371 Wiedereingliederungsmaßnahme 462 Wiederherstellung der Gesundheit 114 Willigkeit 61 Wirbelsäulenerkrankung, degenerative 83
621 Sachverzeichnis Wirksamkeitsstudie 72 Wirkungskette 326, 332, 337 Wirtschaftlichkeit 360, 363, 372 Wirtschaftlichkeitsanalyse 536 Wirtschaftlichkeitsbetrachtung 534 Wirtschaftlichkeitsdruck im Gesundheitswesen 131 Wirtschaftlichkeitskalkül 373 Wissenschaft 100 Wissenslücke 401 Wissensmanagement 360 Wissensstand 81 Wohlbefinden 12, 13, 326, 327 Wohlstand 92, 326 Wohlstandsgesellschaft 92 Wohlstandskrankheit 92 Wohngemeinde 295 Wohnumgebung 10 World Bank 305 World Health Assembly 306 World Health Organisation (WHO) 99, 199 Wurzelkaries 558
Y Yugoslavia 299
Z Zahnbehandlung – Kostenfaktor 224 Zahnbetterkrankung 577 Zahnfäule 577
Zahngesundheit 224, 561 – älterer Erwachsener 579 – Partnerschaften 225 Zahnhalteapparat – Erkrankungen 553, 554 Zahnimplantat 590 Zahnkaries 553–556, 561, 564 Zahnlosigkeit 581 Zahnmedizin 553, 554, 556, 563 – Paradigmenwechsel 586 Zahnpflege 556 Zahnprophylaxe, Umsetzung 224 Zahnreihe, verkürzte – Konzept 586 Zahnreinigung 563 – professionelle 566 Zahnschädigung, nichtkariöse 558 Zahnschmelzerosion 558 Zahnstellungsfehler 561 Zahnverlust 553, 554, 559 Zeiteinsparung 330 Zeitgeist 360 Zervixkarzinom 487 Ziel, gesundheitspolitisches 48 Zielgruppe 44, 193, 247, 257, 260 – benachteiligte 240 – Definition 195 Zielpopulation 194 Zielwertfestlegung 68 Zigarettenrauchen 10 Zubereitungsart 206 Zubereitungstechnik 204 Zufriedenheit 12 Zukunftsaufgabe 463 Zukunftsstrategie 73 Zuständigkeit für Gesundheitsprobleme 63 Zuständigkeitsbereich 53 Zweckentfremdung 52
V–Z