MYTHOR Prinz der Düsternis von Horst Hoffmann
Band 16
2
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, im Süden von Mythors We...
17 downloads
294 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MYTHOR Prinz der Düsternis von Horst Hoffmann
Band 16
2
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, im Süden von Mythors Welt lauert der Tod. Seit Jahrhunderten bereits rücken die Mächte der Finsternis unaufhaltsam vor, treiben die Völker vor sich her. Das Shalladad, das orientalisch anmutende Reich mit seinen Reitvögeln und ausgedehnten Wüsten, seinen Räubern und Karawanen, Kriegern und Tänzerinnen ist zum Frontstaat geworden, zum Sammelbecken der Flüchtlinge aus dem Süden. Doch manch einen zieht es in die entgegengesetzte Richtung: Mythor, der Sohn des Kometen, befindet sich beispielsweise auf dem Weg in den Süden. Er will mit seinen Gefährten zur Ewigen Stadt Logghard, die bereits seit 250 Jahren von den Armeen der Düsterzone berannt wird. Dort versucht Mythor, auf der Seite des Lichts einzugreifen. Und mit dieser Absicht steht er nicht alleine da: Ein steter Strom von Kriegern aller Nationen ergießt sich in den Süden, trotzt allen Unwägbarkeiten der Reise, seien es Naturgewalten oder die gierigen Zöllner des Shallad, des Herrschers über das Reich. Einer dieser Pilger-Krieger ist Mythors alter Rivale Luxon, der Mann, der ihm seine magischen Waffen entwendet hat. Auch Luxon will nach Logghard – aber wird es ihm gelingen? Und werden die beiden Rivalen aufeinandertreffen? Neben »Prinz der Düsternis« von Horst Hoffmann, der Titelgeschichte, sind in diesem Band die beiden Romane »Unter dem Schwertmond« und »Die Waffen des Lichtboten« von Hans Kneifel enthalten. Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung! Frank Borsch 3
Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Und das in einer Zeit, in der die Menschen auf den »Sohn des Kometen« hoffen, der dem Bösen standhalten kann. Die Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen unter. Aus ihren Trümmern rettet sich ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er verschiedene Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, in Althars Wolkenhort erringt er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: einem Einhorn, einem Schneefalken und dem Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen kennen, und er erlebt den Beginn des Kriegszugs gegen die Caer. Rasch wird ihm jedoch klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am Tage der Schlacht 4
geschieht genau das, was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß wie Tausende anderer Menschen nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! Die beiden Rivalen wollen das Orakel von Theran in dieser Frage entscheiden lassen. Aber als Mythor zu dem legendären Orakel vordringt und seine Fragen stellt, erhält er keine brauchbaren Antworten. Also sucht er jenen Ort auf, an dem man ihn einst als fünfjähriges Kind aufgefunden und mitgenommen hat. Aus den Trümmern eines gewaltigen Meteorsteins soll er gestiegen sein. Doch dieser Stein stellt sich als tödliche Gefahr für den Sohn des Kometen heraus: Nach einer Berührung des Steins fällt Mythor in eine Todesstarre. Zwar gelingt es den Weisen Großen, ihn zu erwecken, doch das schattengleiche dämonische Wesen, von dem er vorübergehend besessen war, fordert einen hohen Tribut von seinen Helfern. Mit dieser Bedrohung im Nacken zieht der Kometensohn weiter zum Koloß von Tillorn, dem nächsten Fixpunkt des Lichtboten, an dem er sich mit seinen Freunden Nottr und Sadagar verabredet hat. Verfolgt von dem furchtbaren Schatten, von Drudins Sendboten und von feindlichen Vogelreitern, schließt sich Mythor einer Räuberbande an, um mit ihrer Hilfe den Koloß zu erreichen. In einem Höhlenlabyrinth unter den Splittern des Lichts, einer kleinen Inselgruppe in der Strudelsee, trifft er schließlich alte und 5
neue Freunde, und dort erwirbt er den Sonnenschild, den nächsten Ausrüstungsgegenstand, den der Lichtbote hinterlassen hat. Nun ist die Auseinandersetzung mit Luxon unabdinglich. Gemeinsam begeben sich die Gefährten in Luxons Heimatstadt Sarphand, um sich dem Richtspruch der Weisen Großen zu stellen. Dabei stellt sich heraus, daß Mythor tatsächlich der echte Sohn des Kometen ist, während Luxon der Titel des Shallad zusteht, eines weltlichen Herrschers, der sich selbst als den Nachfolger des Lichtboten betrachtet. Luxon ist zwar für den Moment geschlagen, reagiert aber schnell: Er entwendet erneut Mythors magische Waffen. Doch die Wege der beiden Konkurrenten sollen sich bald wieder kreuzen: Mythor und Luxon machen sich auf den Weg nach Logghard, der Ewigen Stadt des Lichts…
6
Horst Hoffmann
PRINZ DER DÜSTERNIS Wer ist es, der herrscht über jenes Land, wo Leben nicht länger Leben ist, dort, wo Gedanken töten? Sieh dich nicht um und folge der Straße! Schreite voraus, den Blick hin zur Stadt! Du könntest ihn sehen, sein schreckliches Heer, Odam, den Prinzen der Düsternis… Pilgerlied, 4,20
»Es ist, wie sie es sagten«, flüsterte Sadagar. »Es hat ihn verschluckt, Mythor – einfach verschluckt…« Mythor schrak aus seinen finsteren Gedanken auf, als der Steinmann ihn leicht am Arm rüttelte. Er hob den Blick und sah, was der Gefährte meinte Der Mond war verschwunden. Vor Augenblicken noch hatte er voll und hell am Himmel gestanden. Jetzt war es, als wäre das schreckliche, riesige Maul jenes Dämons über ihm zugeschnappt, das von Süden her Meile um Meile der Lichtwelt verschlang. Mythor kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit voraus etwas zu erkennen. Kein Stern stand dort noch am Firmament. Mit jedem Tagesritt kam die Düsterzone erschreckend schnell näher. War sie noch in Horai als leuchtendes Band erschienen, am oberen Rand heller und nach unten hin immer dunkler. So sahen die Gefährten nun eine schwarze, finstere Wand vor sich. Bei Tage schluckte sie das Licht der Sonne, die nur ab und an durch die schleierartigen Ausläufer am Himmel 7
hindurchblinzelte und dann wieder verschwand. Mythor erinnerte sich daran, daß er in weiter Ferne wolkenartige Gebilde zu sehen glaubte, bevor die Karawane ihr Lager aufschlug – hier, im Land südlich des Salzspiegels, von dem die Menschen weiter im Norden nur leise und voller Scheu sprachen. Diese Wolkengebilde waren ihm wie gewaltige Windhosen erschienen, die sich ständig veränderten, von unbändigen Mächten durcheinandergewirbelt und in neue Formen gepreßt. Mythor erschauerte bei dem Gedanken an diese Mächte. Und nicht nur er spürte die Nähe der Schatten. Sadagar hatte wie er die ganze Nacht über kein Auge zugetan. No-Ango, dessen Gesicht wieder durch Bemalung gespalten war, sprach wenig und schien unablässig in sich hineinzulauschen. Etwa ein Dutzend von Hrobons Vogelreitern war um das Diromo herum postiert, auf dem die Sänfte der Prinzessin ruhte. Dann und wann war schemenhaft die Gestalt der Shallad-Tochter zu sehen, wie sie sich hinter den kostbaren Zelttüchern bewegte, unruhig auf und ab ging. Eine Öllampe erhellte das Innere ihres kleinen Palasts. Hrobon selbst stand unbewegt vor dem Eingang, die Arme vor der Brust verschränkt, in einer Hand sein Krummschwert, das im Licht der Feuer blinkte. Shezad schlief nicht. Niemand fand Schlaf in dieser Nacht. Die Männer saßen um die Feuer herum und warteten auf den Morgen. Einige versuchten, sich durch Gespräche von dem abzulenken, was sie erwartete. Einen ersten Eindruck hatten sie bereits bekommen. In der Ferne war kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein gewaltiger Dschungel aus ins Riesenhafte gewachsenen Pilzen zu sehen gewesen, und Hrobon hatte keinen Hehl aus seiner Absicht gemacht, weiterhin auf geradem Weg zu jenem nur ihm bekannten Treffpunkt zu reiten, an dem eine Abteilung von zweihundert Vogelreitern 8
zur Karawane stoßen sollte. Das unheimliche Leben, das zwischen den Riesenpilzen auf sie warten mochte, machte Mythor weniger Kopfzerbrechen als dieser geheimnisvolle Treffpunkt. Es zog ihn nach Logghard, der seit 249 Sommern umkämpften Ewigen Stadt. Hrobon wußte zweifellos mehr, als er zu offenbaren gewillt war. Und sein Schweigen ließ dunkle Ahnungen im Sohn des Kometen aufsteigen. Wenn die prophezeite Entscheidung über das Schicksal Logghards so unmittelbar bevorstand, wie es den Anschein hatte, wenn Shezad allein durch ihr Erscheinen die Moral der dort Kämpfenden stärken sollte – weshalb brachte man sie nicht auf schnellstem Weg dorthin? Hrobon berief sich auf seinen vom Shallad selbst erhaltenen Auftrag, und der Gedanke an diesen Mann, der sich anmaßte, die Reinkarnation des Lichtboten zu sein, ließ Mythor Schlimmes ahnen. Von irgendwoher drang ein schauriger, langgezogener Schrei an die Ohren der Männer. Er stammte aus keiner menschlichen Kehle. Sadagar zuckte zusammen. Mythor versuchte abermals, mit Blicken das Dunkel zu durchdringen. Die Diromen und Orhaken hoben unruhig die verhüllten Köpfe. Einige konnten nur durch das schnelle Eingreifen ihrer Reiter am Aufspringen gehindert werden. Die Laufvögel ruhten zwischen den Männern und drängten sich wie sie in die Wärme der Feuer. Nur Mythor, Sadagar und No-Ango hatten sich abgesondert. Der Schrei verklang, in der Ferne war das Schlagen mächtiger Flügel in der Luft zu hören, dann wieder nur das Prasseln der Feuer und Knacken glimmender Holzscheite. »Ich könnte ihm den Hals umdrehen«, flüsterte Sadagar und blickte kurz über die Schulter, so daß er Hrobon sah, der wie eine aus schwarzem Stein geschlagene Statue vor dem Diromo der Prinzessin stand. »Warum schickt er nicht eine Abteilung 9
zu diesem Treffpunkt, während wir anderen nach Logghard reiten?« Mythor gab keine Antwort. Er sah das Messer, das der Steinmann plötzlich in der Faust hielt, und wurde sich erneut schmerzlich seiner eigenen Waffen bewußt, die nun in Luxons Besitz waren. Kein Schwert konnte ihm wie Alton sein. Nichts ersetzte ihm den Helm der Gerechten, der ihm vielleicht schon Hinweise auf das gegeben hätte, was vor ihm lag. »Wir könnten uns selbständig machen«, drang Sadagar weiter in ihn. Seine Augen funkelten, die Stimme wurde beschwörend. »Auch Hrobon ist auf seinen Führer angewiesen. Er selbst ist hier nicht länger ortskundig. Warum greifen wir uns Hagad nicht einfach und zwingen ihn, uns den Weg zur Ewigen Stadt zu weisen? Außerdem…« Sadagar schnitt eine Grimasse. »Außerdem weiß er vielleicht, wo die zweihundert Vogelreiter auf uns warten sollen.« Mythor lachte bitter. »Und die Prinzessin? Sollen wir sie Hrobon überlassen? Du meinst, sie käme mit uns?« »Sie scheint großes Zutrauen zu dir zu haben«, gab der Steinmann zu bedenken. »Das mag sein. Doch wäre sie nicht gewillt, dem Befehl ihres Vaters zu gehorchen…« Mythor zuckte die Schultern und sah sich kurz nach der Sänfte um. »Ich glaube nicht, daß sie weiß, warum sie diesen Umweg zu machen hat.« »Und Hrobon?« »Er täte alles für Hadamur.« Seit jener ersten Begegnung, da Mythor sich als Sohn des Kometen bezeichnete, war der Heymal sein Todfeind. So groß war sein Glaube an den Shallad, daß er Mythor haßte, wie man einen anderen Menschen nur hassen konnte, Hrobon war nicht bereit, Mythor diesen Frevel jemals zu verzeihen. Er hätte ihm mit dem Schwert geantwortet, hätte er ihm auf den Kopf zugesagt, daß Hadamur nicht der rechtmäßige Shallad 10
war – daß er jenen, dem sein Platz gebührte, als Kind zu töten befahl. Luxon hatte Glück gehabt, wie immer. »Und er wird dich zum Kampf auf Leben und Tod fordern«, sagte Sadagar, »sobald er seine Pflicht erfüllt und die Prinzessin sicher ans Ziel gebracht hat. Sie allein garantiert dein Leben, Mythor.« »Oder seines.« Mythor winkte ab und zeigte damit an, daß er nicht länger darüber sprechen wollte. Im Süden zog eine feurige Kugel ihre Bahn über den dunklen Himmel, näherte sich schnell dem Horizont und verblaßte so schnell, wie sie erschienen war. Plötzlich erwachte No-Ango aus seiner Starre und schob sich zwischen die Gefährten. Mythor deutete seinen Blick richtig. »Du hast mit deinem vergeistigten Volk Verbindung aufgenommen?« fragte er, nichts Gutes ahnend. Der junge Rafher nickte ernst. Sein Blick blieb starr geradeaus gerichtet, nach Süden, als er kaum hörbar antwortete: »Hu-Gona weiß um viele Dinge, und Hu-Gona warnt. Viele von uns werden den Weg nicht überleben, der vor uns liegt.« Hu-Gona war das Stammesoberhaupt der Rafher gewesen, bevor er mit seinem gesamten Volk – ausgenommen nur NoAngo – die Fesseln der Körperlichkeit ablegte und starb, um ein neues, unvorstellbares Leben zu erlangen. Die Rafher waren in einem Deddeth aufgegangen. No-Ango nannte den Deddeth nach seinem Stammesoberhaupt, und nun schien es, als wären seine Bemühungen, mit ihm in Verbindung zu treten, endlich von Erfolg gekrönt. »Was sagt er?« fragte Mythor eindringlich. »Wovor warnt er uns? Vor dem Pilzdschungel und dem, was in ihm lebt?« Langsam schüttelte No-Ango den Kopf. »Die Schrecken des Pilzwaldes treten zurück hinter dem, was dieses ganze Gebiet 11
erfüllt, das vor uns liegt, Mythor. Es ist verpestet von dämonischem Staub, der die Menschen verändert und…« »Was?« fragte Sadagar schnell. No-Ango schüttelte wieder sein Haupt. »Hütet euch vor dem Staub«, flüsterte er. »Es ist nicht gut, um die Dinge zu wissen, vor denen es kein Entrinnen gibt.« »No-Ango, du mußt uns sagen, was du weißt! Eine bekannte Gefahr ist eine halbe Gefahr!« Der junge Rafher drehte den Kopf und sah Mythor fast mitleidig an. Er gab keine Antworten mehr, doch der Blick seiner Augen genügte, um das Entsetzen ahnen zu lassen, das ihn erfüllte.
Als der Morgen dämmerte, war Mythor entschlossen, Hrobon noch einmal zur Rede zu stellen. Er erwartete sich nicht viel von einer Unterhaltung mit dem Vogelreiter, doch vielleicht ließ Hrobon sich dazu hinreißen, die eine oder andere unbedachte Äußerung zu machen. Die Orhaken und Diromen richteten sich bereits zu ihrer vollen Größe auf, und ihre Reiter beeilten sich, auf ihre Rücken zu kommen, wo sie sich sicherer fühlten als auf dem spärlich bewachsenen Boden. Viele nahmen sich nicht einmal die Zeit, aus ihren Wasserschläuchen zu trinken oder Nahrung zu sich zu nehmen. Sie wollten fort von hier, wo die Sonne sich nur am Mittag zeigte, so schnell wie möglich durch dieses Niemandsland hindurch und dorthin, wo sie sich Verstärkung erhofften. Sadagar hielt sich an Mythors Seite. Nur No-Ango blieb bei ihrem Diromo zurück. Mythor erreichte Hrobon, als dieser gerade damit begann, Kommandos zu schreien. Das Gesicht der Prinzessin zeigte sich kurz, als zwei zarte Hände die Zelttücher zur Seite schlugen. Das Diromo, das die Sänfte trug, 12
kauerte als einziges noch am Boden. Unwillkürlich legte sich die Hand des Kriegers aus den Heymalländern auf den Griff des Krummschwerts, als er seinen Todfeind nahen sah. Mythor ließ sich vom eisigen Funkeln der schwarzen Augen nicht beeindrucken. Zwei Schritte vor Hrobon blieb er stehen und sah mit Genugtuung, daß die Sänfte noch einen winzigen Spaltbreit geöffnet war. Es konnte nicht schaden, wenn Shezad mithörte, was zwischen den Männern gesprochen wurde. »Was willst du?« knurrte Hrobon lauernd. »Geht zu eurem Tier. Wir brechen auf!« »Genau das führt mich zu dir«, entgegnete Mythor. »Wohin, Hrobon?« Die Miene des Vogelreiters wurde noch abweisender. Einige seiner Männer schoben sich drohend näher. Mythor blickte sich nicht um – im Gegensatz zu Sadagar, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. »Wohin?« Hrobon lachte rauh. »Du wirst es sehen, sobald wir dort sind!« »Du weißt es selbst nicht«, sagte Mythor schneidend. Hrobon schrie einen Fluch und zog das Schwert halb aus der Scheide. Er machte einen schnellen Schritt auf Mythor zu und baute sich drohend vor ihm auf. »Reize ihn doch nicht noch mehr!« zeterte Sadagar. Mythor winkte barsch ab. »Dein Auftrag lautet, die Prinzessin nach Logghard zu bringen!« sagte er äußerlich ruhig. »Erfülle ihn, Hrobon! Schicke Krieger aus, um die zweihundert Vogelreiter zu holen, oder gab der Shallad dir den Befehl, die Prinzessin unnötig Gefahren auszusetzen?« »Du willst mir sagen, was ich zu tun habe, Frevler?« schnappte der Vogelreiter. »Ich werde…« »Nichts wirst du tun, Hrobon!« schrie nun auch Mythor. »Was zwischen uns ist, laß uns später austragen. Doch jetzt 13
nimm Vernunft an und sieh ein, daß mit jedem Sonnenaufgang die prophezeite Entscheidung in der Ewigen Stadt näher rückt! Warum müssen wir uns Gefahren aussetzen? Jeder Mann wird in Logghard benötigt! Wohin sollst du uns führen, Hrobon, und warum?« »Geh, bevor ich mein Versprechen vergesse!« preßte Hrobon zwischen den Zähnen hervor. »Geh und…!« »Hrobon!« Beim Klang dieser Stimme fuhr der Vogelreiter herum und starrte entgeistert auf die mollige Gestalt der Prinzessin, die im Eingang ihres Prunkzelts stand. Shezad lächelte Mythor schwach zu und richtete dann den Blick ihrer kleinen, schmalen Augen auf den Anführer der Karawane. »Auch ich möchte nun wissen, wohin unser Weg führt«, sagte sie ernst. »Oder bist du der Ansicht, die Tochter des Shallad hätte kein Recht darauf?« Hrobon starrte Mythor zornig an, bevor er sich wieder der Prinzessin zuwandte. Er rang mit sich. »Es ist besser, wenn Ihr Euch nicht beunruhigt, Prinzessin«, brachte er schließlich hervor. »Beunruhigen?« hakte Mythor sogleich nach. »Worüber?« »Antworte mir, Hrobon!« forderte Shezad. Hrobon sah sich hilfesuchend unter seinen Männern um. Finstere Blicke trafen Mythor. Manche Hand lag unruhig am Schwertgriff. Zornig stampfte Hrobon mit einem Fuß auf den Boden, bevor er den Blick hob und der Prinzessin ins breite und doch anmutige Gesicht sah. »Mein Auftrag lautet«, verkündete er schroff, »mich mit den bereitstehenden zweihundert Vogelreitern unter Garrams Befehl zu treffen, bevor wir dann gemeinsam den Weg nach Logghard fortsetzen. Garram soll das Kommando über die Karawane übernehmen.« »Wo?« fragte Shezad ungeduldig. »Wo soll dieser Treffpunkt 14
sein?« Hrobons Miene verfinsterte sich noch mehr. Wieder sah er seine Männer an, diesmal jedoch nicht, als erhoffte er sich Schützenhilfe. Fast schien es so, als hätte er Angst, ihnen ihr Ziel zu eröffnen. »Am Schattenturm, Prinzessin!« sagte der Vogelreiter scharf, verbeugte sich vor Shezad in einer Geste der Demut und schritt mit hochrotem Kopf davon. Shezad sah ihm nach, die kleinen Augen geweitet. Einer der Krieger rief aus: »Am Schattenturm!« Die Prinzessin indes brachte kein Wort hervor. Mythor sah, wie die Vogelreiter ihre Tiere davontrieben und sich die Kunde wie ein Lauffeuer unter ihnen verbreitete. Hrobon würde alle Hände voll zu tun haben, seine Männer wieder zu beruhigen. Allein die Wirkung, die die Nachricht hatte, ließ Sadagar schaudern. Mythor wußte ebensowenig wie der Steinmann über den Schattenturm, obgleich er sich daran erinnerte, Vogelreiter ein-, zweimal diesen Namen nennen gehört zu haben – doch gerade so, als sei es der Name eines schrecklichen Dämons. Die Prinzessin bemerkte den auf sie gerichteten fragenden Blick. Sie holte tief Luft und nickte Mythor zu. »Komm zu mir in die Sänfte, Pirat!« forderte sie ihn auf. »Und ihr anderen, benehmt euch wie Männer und rüstet zum Aufbruch!« »Du willst Hrobon folgen?« fragte Mythor, nachdem er Sadagar zu No-Ango zurückgeschickt und den Rücken des Diromos erklommen hatte. »Wenn es der Wille meines Vaters ist – ja«, antwortete Shezad. »Dann auch zum Schattenturm.« Sie brachte dieses Wort nur mit Mühe über die Lippen.
Es dauerte bei weitem nicht so lange, wie Sadagar im stillen 15
gehofft hatte, bis Hrobon seine Männer so weit beruhigt hatte, daß sie in einigermaßen geordneter Formation aufbrechen konnten. Hrobon kümmerte sich nicht um ihn und No-Ango, der vor Sadagar auf dem Rücken des gewaltigen Laufvogels saß und die Zügel hielt. Spinnenglanz, das Diromo der Prinzessin, schritt fast majestätisch an ihnen vorbei, so als wüßte das Tier, wen es auf seinem Rücken trug. No-Ango und Sadagar reihten sich hinter ihm ein, denn Mythor war noch immer bei Shezad in der Sänfte. Hrobon ritt an der Spitze der Karawane. Seine Krieger redeten kaum noch. Jeder schien mit seinen eigenen bangen Gedanken beschäftigt. »Der Schattenturm«, murmelte Sadagar. »Mythor wird vermutlich längst wissen, was damit gemeint ist.« Der Steinmann rutschte unruhig auf dem Reittier hin und her. »Aber ganz egal, was es ist – Mythor sollte vorsichtiger sein. Hrobon wird die Demütigung nicht vergessen, die er vor all seinen Männern erfahren hat. Er haßt ihn jetzt noch mehr. Und was tut er so lange in der Sänfte? Mit seinen Weibergeschichten wird es noch ein schlimmes Ende nehmen, das sage ich dir, No-Ango!« Doch der Rafher schien kein allzu großes Interesse an Sadagars Befürchtungen zu haben. Er trug noch immer die Bemalung, ein sicheres Zeichen dafür, daß er auch weiterhin die Verbindung zu seinem Stamm suchte. Sadagar schwieg beleidigt, beugte sich so zur Seite, daß er am Rücken No-Angos vorbei nach vorn sehen konnte, und stieß pfeifend die Luft aus. Der Pilzwald schob sich vor der Karawane in die Höhe. Noch eine halbe Meile mochte es bis zu den ersten Riesengewächsen sein, von denen einige, das ließ sich jetzt schon erkennen, die großen Laufvögel noch an Höhe überragten. Andere Pflanzen schienen hier nicht mehr zu 16
wachsen. Der Boden war unfruchtbar. Es war unheimlich still. Kein Wind ging, und die dunkle Wand in der Ferne schien alle Geräusche förmlich zu verschlucken. Nur dann und wann waren dumpfe, kurze Laute zu hören, die von den Pilzen herkamen. Es hörte sich fast so an, als ob irgend etwas aufplatzte. Dann herrschte wieder Ruhe. Weit und breit schien nichts wirklich zu leben. Sadagar seufzte, blickte zur Sänfte hinüber und ließ anschließend seinen Blick über den Himmel schweifen. Dort, wo die Sonne stehen sollte, waren nichts als graue, gelbe und rote Schleier. »Ich sehe noch keinen Staub«, sagte Sadagar trotzig. »Du willst von mir wissen, ob ich den Schattenturm kenne?« fragte No-Ango anstelle einer Antwort. Sadagar fühlte sich ertappt und knirschte mit den Zähnen. »Kannst du meine Gedanken lesen?« Er nahm den Blick nicht mehr von den Riesenpilzen. »Also, kennst du ihn?« »Ein jeder hat von ihm gehört.« »Ich nicht.« »Jeder hier kennt die Legenden, die sich um den Schattenturm ranken. Früher einmal soll dieses Bauwerk eine Bastion der Lichtwelt gewesen sein. Eines Tages aber verschwanden die dort stationierten Truppen auf unerklärliche Weise. Niemand weiß zu sagen, ob sie getötet oder von den Dunklen Mächten versklavt oder entführt wurden. Doch es heißt, sie seien die Opfer von Prinz Odam geworden.« »Odam?« Hrobon und sein ortskundiger Führer hatten die ersten Pilze fast erreicht. Die Riesengewächse setzten sich hell von der dunklen Wand im Süden ab. Jetzt erst zeigte sich die ganze gewaltige Ausdehnung dieses Dschungels. Sadagar dachte an den Schrei, den er in der Nacht gehört hatte, an die 17
Flügelschläge. »Wer ist dieser Prinz Odam?« Zum erstenmal wieder verriet die Stimme des jungen Rafhers Erregung, als er weitersprach: »Es scheint, daß ihr im Norden so vieles nicht wißt. Odam, so heißt es, ist der Herrscher des Teiles der Düsterzone, der dort weit vor uns liegt. Doch niemand weiß zu sagen, ob es diesen Odam wirklich gibt oder ob er nur eine Erfindung ist. Wer an ihn glaubt, fürchtet ihn und sein unheimliches Heer. Er soll über eine gewaltige Streitmacht aus furchtbaren Geschöpfen verfügen. Es geht in diesen Tagen sogar das Gerücht, daß Prinz Odam zum Sturm auf Logghard rüstet.« »Dann ist er sicherlich nur eine Erfindung von kranken Geistern«, sagte Sadagar schnell. No-Ango hüllte sich wieder in Schweigen. Hrobon, der Kundschafter und einige Vogelreiter erreichten den Pilzwald. Nach und nach kam die Karawane zum Stillstand. Hrobon und seine Männer berieten sich flüsternd. No-Ango zügelte das Diromo, als auch Spinnenglanz stehenblieb. Wieder war ein dumpfer Knall zu hören. Sadagar kniff die Augen zusammen, um dort, von wo das Geräusch zu kommen schien, etwas erkennen zu können. Täuschten ihn seine Sinne, oder stob zwischen den Pilzen feiner Staub in die Luft? Bevor er No-Ango darauf aufmerksam machen konnte, teilten sich die Zelttücher der Sänfte, und Mythor erschien auf dem Rücken von Spinnenglanz. Mit einem mächtigen Satz sprang er und landete direkt zwischen Sadagar und No-Ango. »Mythor!« flüsterte der Steinmann. »Willst du mir vielleicht erklären, was du…?« »Später, Freund Steinmann, später. No-Ango, laß uns die Plätze tauschen!« Sadagar schüttelte entgeistert den Kopf, Oberlippe und 18
Brauen hochgezogen. Als er dann sah, daß der Rafher der Aufforderung, ohne zu zögern, Folge leistete, verstand er die Welt nicht mehr. »Mythor, hat dich Shezad mit Wein um den Verstand gebracht? Was hast du vor? Hrobon wird vielleicht versuchen, den Pilzwald zu umreiten. Wir sollten…« »Umreiten?« Mythor machte eine weit ausladende Geste. »Das wird er gewiß nicht tun. Der Weg zum Schattenturm führt nur durch diesen Dschungel. Haltet euch fest, ihr beiden. Wir brechen aus!« »Du bist verrückt geworden!« entfuhr es Sadagar. »Hrobon und die Prinzessin werden uns…« »Die Prinzessin selbst bat mich darum, daß ich mich…« Mythor seufzte, als er in Sadagars Gesicht sah. »Hört zu. Ich reite vielleicht besser allein. Shezad traut Hrobon nicht mehr, seitdem sie erfuhr, wohin unser Weg gehen soll. Hier im Süden glaubt man, daß im Schattenturm von Zeit zu Zeit ein Fürst der Finsternis haust, ein…« »Prinz Odam!« unterbrach der Steinmann Mythor trotzig. »Ich kenne die Geschichte. Gerade deshalb sollten wir jetzt bei den anderen bleiben.« »Dann weißt du auch, daß Hadamur sich in letzter Zeit darum bemühte, mit Odam ins reine zu kommen? Daß er zuerst Krieger gegen den Herrscher dieses Teiles der Düsterzone schickte, von denen man nie wieder hörte, dann Magier um Hilfe bat, die ebenfalls verschwunden blieben – und nun mit anderen Mitteln versuchen soll, Odam zu besänftigen?« Sadagar erschrak. »Was meinst du mit anderen Mitteln?« »Eben das will ich herausfinden, bevor es zu spät ist. Ich habe nach dem, was Shezad mir erzählte, guten Grund zur Annahme, daß Hrobon uns zu niemand anderem bringen soll als zu Odam selbst.« 19
Das Diromo preschte voran, ein wahrer Berg aus Fleisch und Federn, den Kopf so hoch in die stehende Luft gereckt wie ein doppelstöckiges Haus. Orhaken und andere Diromen wichen zur Seite und warfen ihre Reiter ab. Ein Tumult brach aus, als Mythor, No-Ango und Sadagar auf dem Rücken des mächtigen Tieres seitwärts aus der Karawane ausbrachen und wie von einem gewaltigen Katapult abgefeuert auf den Pilzdschungel zuschössen. Männer schrien, und Hrobons Kopf fuhr herum. Eine Stimme aber übertönte alle. Sadagar verstand die Worte nicht, die die Prinzessin Hrobon und den anderen zurief, die zur Verfolgung der Ausbrecher ansetzten. Doch der streitbare Anführer des Zuges machte mit seinem Orhako kehrt und trieb es voller Zorn auf Spinnenglanz zu. Mythor sah sich nicht um. Er trieb das Diromo an, so, wie er es den Vogelreitern oft genug abgeschaut hatte, und zog unwillkürlich den Kopf ein, als der Laufvogel die ersten Riesenpilze niederstampfte. Er konnte ihn zum Laufen bringen, längst aber nicht mit der Geschicklichkeit von Vogelreitern steuern. Sadagar schrie und lag flach auf dem Rücken des Riesen, alle viere von sich gestreckt und die Hände im dichten Federkleid vergraben. No-Ango schien den waghalsigen Ritt kaum wahrzunehmen. Er hielt sich fest, so gut es ging, und schwieg eisern. Der Dschungel schloß sich um die drei. Pilzhüte überragten den Kopf des Vogels noch um ein bis zwei Mannslängen wie gewaltige, gefächerte Dächer. Wenn das Diromo einen der Stämme streifte, platzten die dicken Häute unter den Lamellen auf, und Sporen ergossen sich als feiner Staub über die Dahinjagenden. Ein eindringlicher, würziger Geruch stieg ihnen in die Nasen. Sadagar hielt die Luft an und sah bereits helle Punkte vor den Augen tanzen, als Mythor das Diromo 20
endlich zum Stillstand brachte. Der Steinmann ließ sich seitwärts nach unten gleiten und landete ziemlich unsanft auf dem hier weichen, von weißem und grauem Geflecht durchzogenen Boden. Mythor sprang ab. Nur No-Ango blieb sitzen, übernahm wieder die Zügel und blickte den Krieger aus dem Norden fragend an. Mythor atmete heftig und lauschte kurz. Nichts war zu hören außer dem fernen Aufplatzen von Pilzhäuten, die oftmals wie Leder von den Hüten herabhingen. Der Sporenstaub juckte in der Nase. Sadagar hielt nach einem heftigen Atemzug wieder die Luft an und bedeutete den beiden anderen per Zeichensprache, es ihm gleichzutun. »Das ist nicht der Staub, vor dem Hu-Gona warnte«, sagte der Rafher etwas unwillig. »Du kannst ruhig atmen – noch.« »Du steigst am besten jetzt auch ab«, forderte Mythor ihn auf. »Von hier aus geht’s zu Fuß weiter. Hrobon wird uns nicht verfolgen.« Sadagar hustete und nieste und bekam ein rotes Gesicht. Als er sich endlich wieder gefangen hatte, stand er auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Scheu sah er sich nach allen Seiten hin um, als könnte hinter jedem Stamm furchtbares Leben lauern. Dann blickte er Mythor in die Augen. Der Sohn des Kometen hatte sein Beuteschwert gezogen. »Mythor, ich will jetzt endlich wissen, woran ich bin! Beim Kleinen Nadomir, willst du uns diesem Dämonenfürsten geradewegs in die Arme treiben?« Er schüttelte die Fäuste zum Himmel. »Außerdem heißt es, daß er nur eine Legende ist!« »Hadamur sucht nicht mit einer Legende zu verhandeln«, entgegnete Mythor. »Und eine Legende läßt keine Krieger und Magier einfach verschwinden. Aber sei beruhigt, wir sollen lediglich dieses Gebiet auskundschaften.« »So! Nur kundschaften! Mythor, ich sage dir, dieses Weib hat 21
dir den Verstand genommen! Bist du dir überhaupt noch darüber im klaren, wie nahe wir uns an der Düsterzone befinden? Und dieser Wald…« Irgendwo platzte eine Pilzhaut auf und gab unzählige Sporen frei. Junge Pilze schoben sich überall wie kleine Hügel aus dem weichen Boden. Fast konnte man sehen, wie sie wuchsen. »Shezad wird dafür sorgen, daß die Karawane vor dem Pilzwald rastet, bis wir zurückgekehrt sind«, murmelte Mythor, während er seine Blicke kreisen ließ. Er schien kaum bei der Sache zu sein und nach etwas zu suchen, was sich hinter den Stämmen, die oft die Dicke von zehn beieinanderstehenden Männern hatten, über den Hüten oder am Boden versteckt hielt. »Dennoch wird sie den Weg fortsetzen, ganz egal, was wir hier finden. Sie ist entschlossen, den Willen ihres Vaters zu erfüllen.« »Was tun wir dann hier?« zeterte Sadagar. »Hast du ihr nicht die Wahrheit über ihren schurkischen Vater gesagt, wenn ihr schon so vertraut miteinander seid? Was sollen wir hier, Mythor?« »Shezad scheint zu glauben, daß wir bald Gesellschaft bekommen, und will wissen, wen oder was wir zu erwarten haben.« Mythor zuckte die Schultern. »Ich werde mich hüten, ihr die Wahrheit über Hadamur zu sagen. Wie dem auch sein mag, Sadagar. Auch mir ist’s lieber, den Weg zumindest zum Teil zu kennen, als mich Hrobon blind anzuvertrauen.« »Das ist endlich wieder ein klares Wort von dir, wenngleich ich keinen Unterschied darin sehe, ob wir nun mit oder ohne Hrobon sterben. Und genau das werden wir, wenn wir nicht zusehen, daß wir schnell wieder von hier verschwinden.« Leiser fügte der Steinmann hinzu: »Ich spüre es. Es ist etwas da, und es kommt näher…« »Du hattest die Wahl. Ich wollte allein gehen.« 22
Der Steinmann murmelte etwas Unverständliches und sah No-Ango hilfesuchend an. Der Rafher schien die Umgebung gar nicht mehr wahrzunehmen. »Also schön«, seufzte Sadagar. »Dann gehen wir. Und wo sollen wir wen oder was suchen, wenn man fragen darf?« »Wir halten die Augen offen«, antwortete Mythor knapp. Auch er spürte die Nähe von etwas ungeheuer Fremdem, Drohendem, doch sein einmal gefaßter Entschluß war unumstößlich. Wenn an dem, was er von der Prinzessin noch erfahren hatte, auch nur ein Körnchen Wahrheit war, mußte er Gewißheit haben – und der Weg nach Logghard führte durch diesen Dschungel. Vorsichtig machten die drei Gefährten sich auf den Weg. Dann und wann blitzte es in No-Angos Augen auf. Mythor hielt den Griff des Krummschwerts fest umschlossen, und Sadagar hatte Messer in beiden Händen. Die Schritte der Männer gruben sich tief in den lockeren Boden. Hinter jedem Pilz schien eine neue Welt zu beginnen. Erst jetzt wurde die Formenvielfalt dieses Dschungels offenbar. Riesige Ständerpilze wechselten sich ab mit Morcheln und Gewächsen, die aussahen wie die roten, dicken und fettigen Haare eines in den Boden gerammten Titanen. Verwitterte, quer zwischen den Pilzen liegende Baumstämme, über und über von Parasiten befallen, zeugten davon, daß auch hier sich einstmals Holzwälder befunden hatten – bevor die Düsterzone sich wieder auszubreiten begann. Unheimliche Schattenspiele gab es an diesem Ort, wo keine Sonne war. Mythor blieb stehen und suchte vergeblich nach ihrem Ursprung. Er sah kein Licht, doch mußte es dasein. Dann wieder hatte er das Gefühl, die Schatten, die langsam über Boden und Stämme wanderten, lebten aus sich selbst heraus. Er erschauerte und packte den Griff des Schwertes fester. Je tiefer er und seine Begleiter in dieses fremde Reich 23
eindrangen, desto häufiger mußte er den Gedanken zurückdrängen, daß das, was seine Augen sahen, gar nicht die Wirklichkeit war, sondern dämonisches Blattwerk, mit dem er in die Irre geführt werden sollte. So wie jene, denen seine Suche galt? Sadagar hatte längst aufgehört, Fragen zu stellen. Scheu um sich blickend und mit einer Miene, die seine ganze Verärgerung zeigte, folgte er Mythor. Irgendwo knackte es. Mythor blieb stehen und hob eine Hand. Wieder hörte er das Geräusch, und ganz kurz sah er, wie sich etwas im Halbdunkel, bewegte, ein Schatten vielleicht. »Gehen wir weiter«, flüsterte Sadagar. »Da… da ist nichts, Mythor. Aber hier stinkt’s hundserbärmlich!« Ein verfaulter Pilz, schwarz und schleimig, bedeckte eine Fläche von der Größe eines kleinen Teiches. Große Insekten befanden sich darauf und stoben sirrend in die Lüfte, als die Gefährten zu nahe kamen. Wieder hörte Mythor das Knacken, und es kam abermals aus der gleichen Richtung. »Ruhig jetzt!« flüsterte Mythor, glitt hinter einen Pilzstamm und winkte die Gefährten heran. »Wir werden gleich wissen, wer uns da nachstellt.« »Du hast wahrhaftig den Verstand verloren«, schimpfte Sadagar, beeilte sich aber, hinter den Stamm zu kommen. Vier, fünf Mannslängen hoch über ihnen spannte sich der gewaltige Hut von der zehnfachen Größe eines Mühlsteins. Würmer und Maden, so groß wie Schlangen, steckten ihre Köpfe aus unzähligen Löchern im Stamm. Mythor kämpfte gegen seinen Ekel an und durchtrennte einen der schleimigen Leiber, der ihm zu nahe kam, mit einem einzigen Hieb. Dann begann das Warten. Kein Sonnenstrahl beschien die fingerdicken Fäden, die 24
durch das Halbdunkel des Pilzwaldes geschossen wurden und an Stämmen und Hüften klebenblieben. Kein Glitzern verriet das gewaltige Netz, das sich langsam um die Männer spann, kein Laut die monströse Kreatur, deren armdicke, behaarte Beine sich tastend aus den Schatten schoben, während Mythors ganze Aufmerksamkeit jenem Unbekannten galt, der sich weniger lautlos näherte.
Jehaddad hatte nicht länger die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Er taumelte noch einige Schritte. Dann drehte sich die Welt aus roten, grünen und grauen Stämmen, aus Riesenfächern und vermodertem Holz um ihn herum immer schneller, bis Jehaddad mit dem Gesicht im lockeren Boden landete. Mühsam und unter furchtbaren Schmerzen richtete er sich halbwegs auf, verlor abermals den Halt und blieb auf dem Rücken liegen. Er atmete heftig, und jeder Atemzug bedeutete stechenden Schmerz in den Lungen, die vom dämonischen Staub zerfressen waren. So blieb der Krieger liegen, bis sich die Schleier vor seinen Augen lichteten. Er sah die Pilzdächer über sich und das Spiel der Schatten. Es war immer das gleiche Bild, und wie lange schon? Wann war er aufgebrochen, um das Unmögliche zu versuchen? Wann würde sich dieser verfluchte Wald endlich teilen und er das Licht der Welt wieder sehen? Er war nicht im Kreis gelaufen, immer geradeaus, fort von der dunklen Wand im Süden. Jehaddad zuckte heftig zusammen, als seine Hand über die brennenden Augen wischen wollte und sein Gesicht berührte. Seine Finger fühlten etwas Hartes, Poröses wie erkaltete Lava. Der Krieger bäumte sich auf und erbrach sich. Er war verloren. Nicht einmal Magie konnte ihn jetzt noch retten, aber für jene, die er zu treffen gehofft hatte, war es noch nicht zu spät zur 25
Umkehr. Ich muß weiter! durchfuhr es ihn. Längst hatte er die letzte Hoffnung verloren, doch allein die Berührung dessen, was einmal sein Gesicht gewesen war, machte in ihm nochmals Kräfte frei. Verzweiflung und unbeschreibliches Grauen beherrschten sein Denken. Weiter! Die Prinzessin warnen! Nicht liegenbleiben, das ist der Tod!
Jehaddad konnte nicht mehr sprechen. Die steinerne Masse bedeckte sein Gesicht vom Hals bis hoch in sein Haar hinein. Nur der Mund und die Augen waren frei, so daß er atmen und sehen konnte. Doch kein Muskel ließ sich bewegen. Der Krieger richtete sich auf, ertrug alle Schmerzen und taumelte weiter, ging in die Knie und warf sich gegen Pilzstämme, als seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten. Ein Regen aus grauen Sporen kam auf ihn herab. Er atmete sie ein und glaubte, ersticken zu müssen. Wieder stieß er sich ab, machte drei, vier Schritte und sank auf die Knie. Er kroch auf allen vieren weiter. Seine Hände gruben sich tief in den von Pilzgeflecht durchzogenen Boden. Weiter! Immer weiter! Jehaddad nahm nicht mehr wahr, daß er sich im Kreis bewegte. Plötzlich sah er eine lange Karawane vor sich, farbenprächtig geschmückte Laufvögel und die Sänfte der Prinzessin. Er streckte die Hand aus wie ein Verhungernder nach Nahrung. Das Trugbild verschwand. Statt dessen sah der Krieger ein graues Seil vor sich, das sich zwischen zwei Stämmen spannte. Er griff unwillkürlich danach, um sich hochzuziehen – und blieb mit der Hand daran kleben. Obwohl er den Tod herbeisehnte, griff nun die Todesangst mit eisigen Klauen nach ihm. Er zerrte an dem, das er jetzt als das erkannte, was es in Wahrheit war, warf sich mit dem ganzen Gewicht seines geschundenen Körpers zurück und wälzte sich auf dem Boden. Das »Seil« gab nach und dehnte 26
sich mit ihm. Rasend vor Angst, trat er mit den Füßen danach, mit dem Erfolg, daß auch sie klebenblieben. Jehaddad blieb auf dem Rücken liegen und atmete heftig. Seine Augen rollten in ihren Höhlen. Er suchte die Umgebung ab und folgte mit Blicken dem Faden, bis er andere Fäden erkannte, die sich überall zwischen den Pilzen spannten zu einem gewaltigen, leicht zitternden Netz. Dann schob sich etwas Dunkles, Riesiges über ihn. Sein stummer Schrei verhallte ungehört. Mit der freien Rechten riß er das Schwert aus dem Gürtel und schlug nach dem Schatten, der noch viel zu hoch über ihm war. Die letzte Kraft verließ seinen Arm, und die Klinge entglitt seiner Hand. Es war vorbei. Mit ihm starb die letzte Hoffnung für jene, denen ein so grausames Schicksal beschieden sein sollte. Als er die schwarzen Beine der Spinne sah, dann den ganzen furchtbaren Leib der riesigen Kreatur, die das Netz herunterkam und ihre schrecklichen Scheren gierig bewegte, verließ Jehaddad das Bewußtsein. Er versank in einer Welt aus Schwärze, Qual und Pein und furchtbarem Wissen.
Mythor war für einen Augenblick vom Entsetzen gelähmt. Er spürte sein Herz schlagen, als wollte es ihm die Brust zerreißen. Sadagar starrte entsetzt auf den Mann, dessen Gesicht nichts Menschliches mehr hatte, dessen Kleidung ihn aber eindeutig als Vogelreiter auswies. No-Ango hatte seine Pfeilschleuder in der Hand, in die einer der zweifingerlangen Obsidiansphtter eingelegt war. Keine Regung zeigte sich auf seinem langen, dunklen Gesicht, auch jetzt nicht, als sich die Riesenspinne, immer schneller werdend, auf den Gesichtslosen herabsenkte. Das markerschütternde Kreischen, das die Kreatur dabei ausstieß, riß Mythor aus seiner Erstarrung. 27
»Vorwärts!« schrie er. »Achtet auf die Fäden!« »Mythor, der Mann ist bereits tot!« rief Sadagar erschreckt, als der Sohn des Kometen bereits die Deckung verlassen hatte und über einen der nur schwach erkennbaren Fäden sprang. »Dann sind wir die nächsten Opfer! Wäre er nicht erschienen, lägen wir an seiner Stelle!« Mythor sah sich nicht mehr um. No-Ango erschien mit einem gewaltigen Satz neben ihm und blieb stehen, um den Obsidiansplitter zu schleudern. Noch eine Mannslänge trennte die Beine der Spinne vom leblos Daliegenden. Das Geschoß des Rafhers fuhr in den Leib des Untiers, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. Dutzende von Fäden versperrten Mythor den Weg. Er nahm den Griff des Krummschwerts in beide Hände, doch es bedurfte mehrerer Streiche, um einen der Fäden zu durchtrennen. Wie Sehnen peitschten sie durch die Luft. Mythor mußte alle Geschicklichkeit aufbringen, um ihnen auszuweichen. Schimpfend tauchte Sadagar neben ihm auf, blieb ebenfalls stehen und schleuderte blitzschnell zwei Messer, als die Spinnenbeine den Gesichtslosen erreichten. Die Klingen trafen das Tier zwischen die tellergroßen Augen, und diesmal ging ein Beben durch den schwarzen, dichtbehaarten Körper. »Macht weiter!« rief Mythor. »Lenkt sie von ihm ab auf uns!« Es war nicht mehr nötig. So schnell, daß das Auge Mühe hatte, ihren Bewegungen zu folgen, glitt die Spinne heran. Sie schien gleichsam durch die Luft zu schweben, an unsichtbaren Fäden entlang. Mythor sah den schwarzen Leib auf sich zukommen, die vorgestreckten Beine und die furchtbaren Scheren. Er stand, mit aller Willenskraft die Panik niederringend, und wartete, bis er die Scheren direkt vor sich sah. Mit einem Aufschrei ließ er sich zu Boden fallen, wirbelte herum und wartete, auf dem Rücken liegend, bis das Untier fiel wie ein Stein. Die weit in die Höhe gestreckte Klinge 28
bohrte sich tief in das Fleisch der Spinne. Mythor zog sie blitzschnell zurück und rollte sich herum, so daß der schwarze Leib wenige Ellen neben ihm herunterkam. Schwarzes Blut schoß in einem dicken Strahl aus der Wunde. Mythor sprang auf, landete mit einem Satz auf dem Rücken der Kreatur und ließ das Schwert mit aller Kraft zwischen die starren Augen schmettern. Ein Zittern durchlief den mächtigen Körper. Die acht Beine krümmten sich, um sich sogleich wieder zu strecken im Versuch, den lästigen Gegner abzuschütteln. Mythor trieb die Klinge wie einen Pfahl zwischen die vier Augen des Ungeheuers, in denen mittlerweile ein halbes Dutzend von Sadagars Messern staken. Ein letztes Mal versuchte die Spinne, sich aufzubäumen. Dann lag sie in ihren letzten Zuckungen. Mythor riß das Schwert heraus und sprang ab. Die schwarzen Beine krümmten sich unendlich langsam, bis auch die letzte Bewegung erstarb. Mythor wischte sich mit dem Arm den Schweiß aus der Stirn und wischte das schwarze Blut an einem Pilzstamm von der Klinge ab. Noch zitterte seine Hand. Unwillkürlich machte er zwei, drei Schritte von der Spinne fort, als wähnte er doch noch Leben in ihr. No-Angos Hand legte sich auf seine Schulter. Der Rafher blickte Mythor bewundernd an, und diese Blicke sagten mehr als alle Worte. Dann wies No-Ango schweigend auf den Gesichtslosen. Während Sadagar sich zögernd daranmachte, sich seine Messer zurückzuholen, begaben sich Mythor und No-Ango zu dem Mann in der Kleidung der Vogelreiter. Jetzt, als sie sich über ihn beugten, sahen sie, was aus diesem Menschen geworden war. Mythor hielt den Atem an. Seine Hände waren in maßlosem Zorn geballt, die Lippen so fest aufeinandergepreßt, daß alle Farbe aus ihnen gewichen war. 29
»Wessen Werk ist das, No-Ango?« brachte er kaum hörbar hervor. Der ganze Kopf des Kriegers war von einem helmartigen Gebilde umwachsen, einer grauen, steinharten und porösen Masse, die nur Augen und Mund unbedeckt ließ. Unwillkürlich mußte Mythor an Knochen denken, schlackenartigen Knochenwuchs. Eisige Schauer liefen seine Wirbelsäule entlang, als er sich dazu zwang, die Hand auf die Brust des Unglücklichen zu legen. »Sein Herz schlägt noch«, flüsterte er. »Er lebt.« No-Ango fuhr mit dem Zeigefinger die Strukturen der Knochenmaske nach, als ob er etwas aus den rillenförmigen Vertiefungen herauskratzen wollte. Dann hob er die Hand vor die Augen, nickte und rieb sich den Finger auf dem Boden ab. Zuvor hatte Mythor etwas wie feines Glitzern darauf gesehen. »Was hast du gefunden?« fragte er. »Staub«, sagte der Rafher tonlos. Sein Blick richtete sich ernst in die Ferne. »Es ist der Staub, vor dem Hu-Gona warnte, der Goldene Staub, der Menschen verwandelt.« Er machte eine Pause. Mythor wagte es nicht, jetzt Fragen zu stellen. »Dieser Mann muß von weit her gekommen und lange dem Goldenen Staub ausgesetzt gewesen sein. Du hast ihn erwartet? Oder andere wie ihn?« Mythor stand auf und sah sich unsicher um. Schließlich machte er eine Geste, die seine Hilflosigkeit ausdrücken sollte, und rief aus: »Ich weiß nicht, wen ich erwartete! Shezad glaubte, daß wir auf Männer dieses Garram stoßen würden, weil…« Er winkte ab. »Sie nannte sogar einen Namen, aber das ist jetzt belanglos. Wir müssen diesen hier zu ihr bringen, bevor er stirbt. Vielleicht kam er, um uns zu beobachten, und andere irren wie er noch durch den Pilzwald. Vielleicht aber wollte er uns auch warnen.« »Vor dem Staub«, murmelte No-Ango. 30
Sadagar nieste. Unbemerkt war er an Mythors Seite getreten. Alle zwölf Messer steckten nun wieder in seinem Gürtel. Mythor schüttelte grimmig den Kopf, bevor er sich wieder über den Bewußtlosen beugte und ihn auf seine Arme nahm. »Eines ist wohl sicher«, sagte er tonlos. »Er gehörte zu den zweihundert Vogelreitern, die uns am Schattenturm erwarten sollten. No-Ango, droht uns das gleiche wie ihm?« Der Rafher gab keine Antwort. »Ich frage mich«, sagte der Steinmann an seiner Stelle, »ob Hrobon immer noch zu diesem Turm will, wenn er ihn sieht.« Mythor stellte sich ganz andere Fragen, als sie den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren, und bei jedem leisesten Geräusch zusammenschraken. Obwohl sie sicher zum wartenden Diromo zurückfanden, erschien ihnen der Pilzwald nun wie ein einziges tödliches Labyrinth. Und wo begann jene Zone, in der der Goldene Staub sich befand? Beim Schattenturm oder schon vorher? Lebte überhaupt noch einer der zweihundert Vogelreiter unter Garram? Mythor mußte sich mit Gewalt klarmachen, daß die Düsterzone noch fern war. Die finstere Wand im Süden täuschte. Doch wenn schon hier unsägliche Schrecken auf die Karawane lauerten, wie mochte es dann erst in Logghard sein, am Schattenturm – oder gar in der Düsterzone selbst? Plötzlich erschien Mythor alles, was er bisher erlebt hatte, selbst die Macht der Caer und ihrer Dämonenpriester, wie ein harmloses Vorspiel zu dem, was auf seinem weiteren Weg auf ihn wartete.
»Prinzessin!« sagte Hrobon finster. »Ich kann es nicht länger verantworten, den Weg zu unterbrechen. Ich denke auch an Garram und seine Krieger. Je länger sie am Schattenturm warten müssen, desto größere Gefahren können ihnen 31
drohen.« »Gefahren?« Shezad spitzte die kleinen, vollen Lippen und lächelte lauernd. »Mein guter, treuer Hrobon, von welchen Gefahren sprichst du denn? Noch eben hast du mir versichert, daß der Schattenturm und dieses Gebiet harmlos seien.« Der stolze Vogelreiter wand sich. Zwei seiner Männer waren mit ihm gekommen und standen nun der Shallad-Tochter gegenüber, die ihre Sänfte verlassen hatte und mit gekreuzten Beinen vor ihrem Diromo auf einem kostbar bestickten Kissen saß. Hrobon beherrschte sich mit Mühe und sagte schwer: »Wenn es Euer Wunsch ist, mich zu demütigen, Prinzessin, so bitte ich Euch nochmals, entlasst mich aus diesem Dienst.« »Und ich sage nochmals: Nein!« entgegnete Shezad. Sie fuhr wie spielerisch mit der Hand über den kostbaren Umhang aus hauchdünnem Stoff, über das schwarze, kunstvoll hochgesteckte Haar und ihr Diadem aus grünen Edelsteinen. Dabei sah sie Hrobon unverwandt auf eine Weise an, die den Krieger entwaffnete. »Hrobon, ich denke, daß mein Vater wußte, wen er mir als Führer mit auf den Weg gab«, fuhr sie mit eigenartiger Betonung fort. »Du wirst erst mit mir zusammen die Ewige Stadt schauen und für die Lichtwelt kämpfen. Nun beantworte mir meine Frage.« »Ich… ich habe nicht behauptet, das Gebiet sei harmlos, Prinzessin. Doch wie Ihr vertraue ich auf die Weisheit des Shallad, Eures Vaters, der mir nicht diesen Auftrag gegeben hätte, gefährdete er damit Euer Leben.« Shezad lächelte spöttisch. Sie blickte sich um und sah erwartungsvolle Blicke, wohin sie auch schaute. Die Männer litten Qualen. Sie haßten das Warten und wären lieber jetzt als später in die Gefahr gezogen. Dann traf ihr Blick wieder den Hrobons. Sosehr sie auch nach einem verräterischen Zeichen suchte, sie las nichts darin als Aufrichtigkeit und unerschütterlichen Glauben an ihren Vater. 32
»Und du weißt wirklich nicht, warum wir den Umweg machen müssen? Nein, sprich nicht von Garram. Schwöre mir beim Shallad, daß du keinen anderen Grund kennst!« »Beim Shallad, dies schwöre ich, Prinzessin!« Hrobon legte sich die zur Faust geballte rechte Hand aufs Herz. »Dennoch wollen wir die Rückkehr des Kundschafters abwarten.« Hrobons Augen blitzten auf. »Wir werden Hagad unterwegs treffen, Prinzessin! Er…« »Ich sagte, wir warten!« Hrobon deutete eine Verneigung an und zog sich zornig zurück. Shezad blickte ihm nach. Das Lächeln auf ihrem anmutigen Antlitz erstarb. Sie wußte, daß sie die Männer nicht sehr viel länger mehr würde hinhalten können. Längst schon sollten Mythor und seine Freunde zurück sein. Mehr als den Ortskundigen in den Pilzwald schicken hätte sie nicht tun können, um Hrobon am Weiterziehen zu hindern. Wenn Hagad nun vor Mythor zurückkehrte… Shezad blickte zum Himmel empor. Die Sonne hatte den höchsten Stand ihrer Wanderung fast erreicht und schickte nun immer länger ihre wärmenden Strahlen durch die Lücken im nebelhaften Dunkel des Himmels. Dann hörte sie Rufe vom Rand des Lagerplatzes. Die Orhaken wurden trotz der ihnen wieder übergezogenen Hauben unruhig, und die Reiter hatten alle Hände voll zu tun, sie zu bändigen, als das Diromo mit den drei »Entflohenen« darauf heranstampfte. Der junge Rafher zügelte es, bevor es die nach allen Seiten davonlaufenden Krieger niedertrampeln konnte, und sprang ab, um das entgegenzunehmen, was Mythor in den Armen hielt. »Beim Shallad!« hörte sie Hrobon schreien. »Die feigen Hunde sind zurück, um die Schnauzen an den Beinen ihrer 33
Herren zu reiben! Wen habt ihr da, den Kundschafter? Ist er…?« Shezad konnte nicht sehen, was den Vogelreiter auf einmal zum Verstummen brachte. Doch der vielstimmige Schreckensschrei, der nun erscholl, ließ sie ihre bösen Ahnungen bestätigt sehen.
Mythor trat an Hrobon vorbei, der bebend und mit gezogenem Krummschwert versuchte, ihm den Weg zu verstellen, und legte den Bewußtlosen vorsichtig ab. Kurz sah er die Prinzessin vor ihrem Spinnenglanz, bevor sich die Krieger um ihn, No-Ango, Sadagar und Hrobon scharten, blankes Entsetzen in ihren Augen. Anklagend deutete Mythor auf den Ohnmächtigen. »Du findest keine Worte, Hrobon? Sieh ihn dir an! Seht ihr alle hin! Erkennt ihn einer von euch an der Kleidung?« Ein Mann schob sich vor, berührte zögernd den sandfarbenen Burnus des Versteinerten und schrak zurück. »Ja«, sprach er leise. »Seht diesen gestickten Halbmond an seinem Arm. Das ist… Jehaddad, einer von Garrams Kriegern.« Beim Klang dieses Namens zuckte Mythor unmerklich zusammen. Er suchte den Blick der Prinzessin, für die die Reiter jetzt eine Gasse bildeten. Shezad ließ sich ebenfalls nichts anmerken; sie versuchte jedenfalls, so beherrscht wie möglich zu bleiben. Sie kam noch einen Schritt näher. Ihr Mund öffnete sich zu einem heiseren Schrei, als sie des Bewußtlosen Gesicht sah. Dann fiel sie in eine Ohnmacht, von der Mythor fast bezweifelte, daß sie echt war. »Hast du nun genug?« fuhr Hrobon ihn an, noch nicht ganz Herr über seine Stimme. »Das ist es, was uns alle erwarten mag, setzen wir den 34
eingeschlagenen Weg fort!« rief Mythor, ohne Hrobon zu beachten. »Hat einer von euch jemals von Goldenem Staub gehört? Dieser Mann und vielleicht alle von Garrams Trupp sind sein Opfer geworden! Er kam, um uns zu warnen. Er…« Hrobon hatte sich widerstrebend über den Unglücklichen gebeugt und wich entsetzt zurück, als sich dessen Augen zu bewegen begannen. »Er kommt zu sich!« rief er. »Doch der Stein um seinen Kopf hindert ihn am Sprechen. Ihr da!« Hrobon deutete auf drei Krieger. »Kommt her und versucht, ihm diese Maske abzunehmen!« »Das überlebt er nicht!« protestierte Mythor. Hrobon gab seinen Männern ein Zeichen, und sogleich stürzten sich drei, vier von ihnen auf den Sohn des Kometen, überwältigten ihn und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Mit Sadagar und No-Ango wurde ebenso verfahren, bevor sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah. »Nehmt ihm diesen Stein ab!« befahl Hrobon. Als die Krieger zögerten, riß er sein eigenes Messer aus dem Gürtel und begann, den Stein auseinanderzustemmen. Jehaddad wehrte sich nicht dagegen. Mythor warf sich nach vorn, bis ihm vor Schmerz die Sinne zu schwinden drohten und er glaubte, die Arme würden ihm aus den Schultern gerissen. Einer der Vogelreiter setzte ihm sein Messer an die Kehle. Hilflos mußte Mythor nun mit ansehen, wie sich zwei seiner Männer zu Hrobon gesellten und gemeinsam mit ihm gewaltsam die knöcherne Maske von Jehaddads Gesicht zu brechen versuchten. Noch immer rührte der Krieger sich nicht. Mythor schloß für die Dauer eines Herzschlags die Augen, als Hrobon einen triumphierenden Schrei ausstieß. Anstelle des Schabens der Messer hörte er, wie etwas gebrochen wurde. Als er wieder hinsah, war des Kriegers Gesicht frei – doch wie sah es aus! Jehaddads Augen rollten in ihren Höhlen. Die Lippen, die 35
sich nun endlich wieder schließen durften, waren ausgetrocknet und gesprungen. Überall auf seinem Gesicht waren blutige Stellen, als hätte die knöcherne Maske dem Mann den Lebenssaft aus den Adern gesaugt. Doch Jehaddad richtete sich nun auf, schob die Ellbogen unter den Rücken und bewegte die Lippen. Hrobon beugte sich tief über ihn und brachte sein Ohr an seinen Mund, um mit einem Fluch zurückzuschrecken, als sich der grauenvolle Schrei von Jehaddads Lippen löste, in dem alles Elend und Grauen lagen, die ein Mensch nur empfinden konnte. Es gehörte nicht viel dazu, zu sehen, daß dieser Mann in den letzten Zügen lag. Vermutlich hatte die Ablösung der Maske sein Schicksal endgültig besiegelt. Noch aber hatte er die Kraft, Hrobons Arme zu packen und den Vogelreiter zu sich herabzuziehen. Er zitterte am ganzen Körper, als er heiser und stockend hervorstieß: »Nicht weiter! Reitet… zurück! Goldener Staub, der… keine Menschen mehr!« Hrobon rüttelte an seinen Schultern. »Was ist mit dem Staub? Rede! Woher kommst du?« »Du bringst ihn um!« schrie Mythor. Sofort drückte sich die Klinge wieder an seine Kehle. »Alle… zweihundert…«, brachte Jehaddad über die Lippen. »Der Staub… alle… wie ich! Reitet zurück, sonst seid auch ihr…« Er schnappte nach Luft, biß die Zähne aufeinander und kniff schmerzhaft die Augen zusammen. Seine letzten Worte schrie er in einem ungeheuren Kraftakt heraus, so daß alle ihn hören konnten: »Garram verbot uns, euch zu warnen! Garram ist mit… ihm im Bunde! Schützt die Prinzessin! Bringt sie… fort von hier!« Er starb in Hrobons Armen. Erschüttert wandte Mythor sich ab. Ohne Hrobon anzusehen, preßte er tonlos hervor: »Brauchst du noch mehr Beweise, um endlich zu merken, daß die Prinzessin in Gefahr 36
ist, falls du…?« Der Vogelreiter sprang auf, stürzte heran und schlug ihm den Knauf seines Dolches gegen die Schläfe. Mythor gab einen erstickten Laut von sich und verlor das Bewußtsein.
Er kam zu sich. Graue Schleier tanzten wallend vor seinen Augen, dann sah er in helles Licht. Er hatte Atemnot. Es war schwül. Schweiß lief ihm über die Schläfen. Dann war etwas Kaltes auf seiner Stirn. Unwillkürlich griff er dorthin und bekam einen Arm zu fassen. »Laß mich am Leben, Pirat«, hörte er eine wohlvertraute Stimme. Die Schleier rissen auf, und er sah in Shezads Gesicht. »Es wurde Zeit, daß du aufwachst«, flüsterte die Prinzessin. »Hier, trink das!« Sie reichte ihm einen silbernen Pokal. Mythor nahm sie noch verschwommen wahr, so daß sie ihm das Gefäß in die Hand drücken mußte. Sie führte es an seine Lippen, und Mythor trank gierig. Nach wenigen Atemzügen spürte er, wie neue Kraft ihn durchströmte. Sein Blick klärte sich vollends, und er erkannte, daß er sich in der Sänfte befand, auf Spinnenglanz’ Rücken. »Wo bin ich…?« Er kam mit einem Ruck in die Höhe. »Wir reiten, Prinzessin!« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Ernst nickte sie und legte das feuchte Tuch erneut auf seine Stirn. »Wir reiten zum Schattenturm. Nein, keine Fragen jetzt. Zuerst hörst du mir zu.« »Aber du weißt, daß…!« Sie drückte ihn zurück auf sein Lager aus wertvollen Decken und Kissen. »Es ist der Wille meines Vaters, daß wir am Schattenturm zu Garram stoßen«, sagte sie leise, doch mit Nachdruck. »Glaube mir, ich weiß, was ich tue. Du wirst dich 37
gefragt haben, weshalb ich dich bat, in den Pilzwald zu gehen. Ich wußte, daß Jehaddad unter den zweihundert Vogelreitern war, die Garram mit sich nahm. Als ich dann Garrams Namen hörte, hoffte ich darauf, daß zumindest Jehaddad den Versuch unternehmen würde, uns zu warnen.« Mythor blickte sie verständnislos an. Ihre Miene verdunkelte sich. »Garram steht in keinem guten Ruf. Ich begriff nie, wie mein Vater einem Mann wie ihm vertrauen konnte. Es heißt, er sei vor vielen Sommern nahe der Düsterzone mit anderen Kriegern in einen Hinterhalt geraten. Niemand weiß zu sagen, wie er es fertigbrachte, zurückzukehren. Er war der einzige, der überlebte. Fortan tat er sich als Krieger und Befehlshaber hervor, und mein Vater ließ ihn immer häufiger zu sich kommen.« Shezad lächelte schwach, wie entschuldigend. »Wir Töchter des großen Shallad erfahren so manches, was im Palast vorgeht, Mythor. Und ich weiß, daß Garram es war, der meinem Vater dazu riet, einen Frieden mit Prinz Odam zu schließen. Er wirkte bei allen Entscheidungen mit, die nach der Niederlage unserer Krieger dazu führten, daß zunächst Magier zum Prinzen der Finsternis geschickt wurden und nach ihrem Ausbleiben…« Sie zuckte die Schultern und wandte das Gesicht ab. Von draußen waren Geräusche wie das Bersten von Holz zu hören, das Aufplatzen von Pilzhäuten und die stampfenden Schritte großer Laufvögel, die sich alles niederwalzend durch den Pilzwald schoben. »Du meinst«, fragte Mythor benommen, »daß Garram… daß dein Vater nicht ohne Grund den Schattenturm als Treffpunkt bestimmt hat?« Er erschauerte bei den Gedanken, die sich ihm aufdrängten. Alles in ihm versteifte sich. Einerseits drängte es ihn, die Sänfte zu verlassen, um dem verhängnisvollen Ritt Einhalt zu gebieten, zum anderen schlugen ihn Shezads Andeutungen in 38
ihren Bann. Sie lachte bitter. »Du weißt dich gewählt und vorsichtig auszudrücken. Ich denke, daß Garram den Auftrag hat, mit Odam zu verhandeln, bevor wir nach Logghard ziehen. Deshalb glaubte ich daran, daß Jehaddad versuchen würde, uns zu warnen, denn er ist mir treu ergeben. Ich rettete einmal seinen Kopf, als er in Ungnade gefallen war. Und deshalb will ich auch zum Schattenturm, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt. Mythor, wenn wir in Logghard nicht einen aussichtslosen Kampf führen wollen, so müssen wir wissen, welche Ränke zwischen Garram und Prinz Odam geschmiedet werden!« Mythor schwieg. Sie sprach nicht aus, wer der eigentliche Ränkeschmied im Hintergrund war. Dennoch schien sie weitaus weniger von der Unfehlbarkeit ihres Vaters überzeugt zu sein als Hrobon. Durfte er ihr dann die ganze Wahrheit über den falschen Shallad eröffnen? Er sah sie wieder vor sich, wie sie von ihm verlangt hatte, sich Hadamur zu unterwerfen. Nein, entschied er. Es war zu gefährlich, solange er nicht wußte, was wirklich hinter ihrer Stirn vorging. »Aber du bringst dich dabei in Gefahr!« beschwor er sie. »In größere Gefahr vielleicht, als du ahnen magst! Gib Hrobon den Befehl zur Umkehr. Du mußt, wir müssen auf schnellstem Weg nach Logghard.« »O ja!« sagte Shezad mit spöttischem Lächeln. »Die Tochter des Shallad und der Sohn des Kometen, ein köstliches Gespann.« Mythor schüttelte verzweifelt den Kopf und richtete den Blick wie in stillem Flehen zum Himmel. Sollte er ihr sagen, was er wirklich dachte? Hrobon hatte sie also über ihn, den »Frevler«, aufgeklärt. Sie schien es gelassen hinzunehmen. »Nun komm, mein wackerer Pirat«, hauchte die Prinzessin. »Gräme dich nicht. Mein Wunsch, zur Ewigen Stadt zu 39
gelangen, ist ebenso stark wie der deine. Doch vorher will ich über einige Dinge Gewißheit haben.« Wieder fragte sich Mythor, wie es um ihr Verhältnis zu Hadamur wirklich stand. Sie durchkreuzte durch ihre Hartnäckigkeit vielleicht dessen Pläne, und sie wußte es. Sie war alles andere als die ergebene Tochter und kein verhätscheltes Fürstenkind. Vielleicht hatte Hadamur sie aus diesem Grund nach Logghard geschickt, um sie, die ihm zu neugierig wurde, loszuwerden. Dies paßte ebensogut in jenes andere Bild, das Mythor zu verdrängen suchte. »Selbst falls ich den Befehl zur Umkehr gäbe, wüßte ich nicht, ob Hrobon ihn befolgte. Er vergöttert meinen Vater, nicht mich. Und da ist noch etwas, von dem du noch nichts wissen kannst, denn es geschah, während du ohne Bewußtsein lagst.« »Was, Prinzessin?« »Hagad, unser einziger ortskundiger Führer, kehrte nicht von seinem Erkundungsritt in den Pilzwald zurück. Hrobons Männer fanden ihn in einem Netz hoch zwischen den Pilzen.« »Er ist tot?« fragte Mythor bestürzt. »Abgenagt bis auf die Knochen.« Shezad schüttelte sich. »Du siehst, wir könnten nicht umkehren, selbst wenn wir wollten. In der Bresche, die die Laufvögel in den Dschungel trampelten, sind längst neue Pilze nachgewachsen, und schreckliches Getier hat sich dort eingefunden. Unsere Krieger haben alle Mühe, die Kreaturen von uns fernzuhalten.« »Wie lange war ich ohne Bewußtsein?« fragte Mythor. »Du wirst es sehen, sobald du zu deinen Freunden gehst. Es ist besser, du tust es bald.« »Schon verstanden«, murmelte Mythor, stand auf und wandte sich dem Ausgang zu. »Aber du begehst einen furchtbaren Fehler, Shezad.« »Dann sage mir, was du mir verschweigst.« 40
Mythor teilte die Tücher mit beiden Händen, blickte hinaus und erschrak, als er sah, daß die Dunkelheit bereits hereinbrach. »Erlaube deinem Piraten, daß er seine Gedanken für sich behält, Blume des Südens«, murmelte er. »Und bete darum, daß er sich irrt.«
Sadagar runzelte die Stirn, als No-Ango das Diromo halten ließ, um Mythor in den Sattel klettern zu lassen. Erst als der Laufvogel wieder zu den anderen aufschloß, schüttelte er vorwurfsvoll den Kopf. »Irgendwann wirst du die Sänfte erst gar nicht mehr verlassen«, schimpfte er. »Mythor, ich sorge mich um dich.« »Sorge dich um Shezad«, sagte Mythor geistesabwesend. Sie ritten fast am Ende der Karawane. Mythor blickte sich um, doch nichts war zu sehen von den Kreaturen dieses Waldes, von denen Shezad sprach. Voraus ließ Hrobon sich mit seinem Orhako bis zu Spinnenglanz zurückfallen, als hätte er nur darauf gewartet, daß der verhaßte Gegenspieler die Sänfte verließ. Die Diromen brachen eine gewaltige Schneise in das Pilzdickicht, trampelten junge Pilze nieder und drückten größere Exemplare einfach um. Sporen erfüllten die Luft. Die Vogelreiter hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden, um sich vor den Sporen zu schützen. Sadagar und No-Ango waren ihrem Beispiel gefolgt, und nun reichte der Steinmann Mythor ebenfalls ein Tuch. »Was ist mit dem Goldenen Staub?« fragte der Sohn des Kometen. »No-Ango sagt, daß wir ihn bald erreichen. Störe ihn nicht. Ich glaube, er sucht wieder die Verbindung zu seinem Volk.« Die Nacht senkte sich über den Pilzwald und die Karawane herab. Keiner der Vogelreiter sprach ein überflüssiges Wort. Mythor sah Angst in ihren Blicken, Angst vor diesem Ort, in 41
dem nun, mit der Dunkelheit, gespenstisches Leben zu erwachen schien, und Angst vor dem Ziel. Mehr als einmal hörte Mythor den Namen »Odam« flüstern. Allein Hrobon schien davon überzeugt zu sein, daß der Shallad seine Krieger keiner Gefahr aussetzen würde. Ab und an war zwischen Pilzdächern hindurch das Glühen im Süden zu sehen und die feurigen Bahnen von Himmelssteinen. Immer noch war es schwülwarm, doch Mythor spürte Eiseskälte in sich, als nun überall längs des Weges Lichter über den Boden zu huschen begannen. Sie entstanden aus dem Nichts heraus. Die Reiter streiften ihren Orhaken die Hauben über und versuchten selbst, das, was da erwachte, durch den Schein ihrer Fackeln zu bannen. Selbst die mächtigen Stämme schienen von innen heraus zu leuchten. Es war ein prächtiges und doch unheimliches Farbenspiel, das die Karawane geleitete. Das Schlagen mächtiger Schwingen war zu hören. Irgendwo in der Ferne schrien Tiere. Dann erscholl ein Heulen wie von tausend Dämonen. Doch kein Wind blies durch den Pilzwald, der diese Laute hätte erzeugen können. Trotz ihrer Hauben wurden die Orhaken und Diromen immer unruhiger. »Wa… was ist das?« flüsterte Sadagar. Das Heulen schwoll auf und ab, schien näher zu kommen und verwandelte sich in schadenfrohes Gelächter. Mythor mußte an sich halten, um ruhig sitzen zu bleiben. Seine Finger waren klamm. Die Kälte griff nach seinem Herzen. Die über den Boden tanzenden Lichter flackerten zunehmend heftiger. Mythors Hand lag auf dem Griff des Schwertes. Das Diromo lief schneller. Irgendwo voraus schrie ein Mann in höchster Todesangst. Und als ob er dadurch ein Zeichen gegeben hätte, brachen die Orhaken aus. Männer schrien. Hrobons Stimme war schrill zu hören, obwohl Mythor kein Wort verstand. Gleich einer alles 42
niederwalzenden Flutwelle aus gefiederten, riesigen Leibern rannten die Vögel davon, den Leittieren nach. Mythor wurde heftig durchgeschüttelt, legte sich flach über den Sattel und vergrub die Hände im Gefieder des Diromos. Sadagar wippte schreiend mit den Beinen, während No-Ango verzweifelt versuchte, das Tier zu zügeln. Mythor sah die Sänfte der Prinzessin bedrohlich schwanken. Orhaken warfen ihre Reiter ab und rammten Pilzstämme, die sich langsam zur Seite neigten und sich mit puffenden und mahlenden Geräuschen in den Weg legten. Vogelreiter, die ihre Tiere nicht um sie herumlenken konnten, wurden in hohem Bogen abgeworfen. Die Nacht war von Schreien der Entsetzten erfüllt, und das Dämonengeheul antwortete ihnen. Flammensäulen schossen aus dem Boden bis zu den höchsten Pilzdächern hinauf. Die Nacht wurde zum Tag. Mythor krallte sich verzweifelt fest. Das Diromo stürmte voran und walzte alles nieder, was ihm im Weg war. Plötzlich erschien Spinnenglanz in Mythors Sichtweite, und voller Entsetzen sah der Sohn des Kometen, wie Shezads Körper halb aus der Sänfte heraushing. Ihre schrillen Schreie zerrissen das Heulen. Von Hrobon war nichts zu sehen. Männer, die der Prinzessin zu Hilfe eilen wollten, hatten keine Gewalt über ihre Tiere. Mythor sah, wie ein mächtiger Stamm sich vor Spinnenglanz zur Seite neigte. Sporenstaub kam in einer dichten Wolke herab und nahm für Augenblicke die Sicht. Shezads Entsetzensschrei riß jäh ab. Mythor sah schemenhaft die Sänfte, doch da war keine Prinzessin mehr, die sich an den Tuchern festklammerte. Wieder war Shezads Schreien durch das Stampfen, Heulen und Kreischen zu hören, doch nun kam es aus der rückwärtigen Richtung. Mythor handelte, ohne lange zu überlegen. Sadagars Entsetzensschrei im Ohr, richtete er sich auf dem Diromo auf, ging in die Hocke und sprang ab, mitten hinein in eine Feuersäule, die lodernde Finger 43
ausbildete, als hätte sie nur darauf gewartet, ihr Opfer zu bekommen.
Hrobon lag flach auf dem Rücken seines Orhakos, die Arme halb um Kußwinds Hals geschlungen und den Kopf in seinem Gefieder tief vergraben. Das Geheul kam von allen Seiten. Lichter hüllten ihn ein und schienen ihn zu sich herabzerren zu wollen. Hrobon sah sie nicht, er sah nichts mehr, spürte nur das heftige Auf und Ab, unter dem sein Körper geschüttelt wurde, und kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel und die grauenvolle Angst, die nach ihm griff. Immer weiter ging es in stürmischem Lauf, über Hindernisse und durch Netze hindurch, die sich zwischen den Pilzen spannten und von Kußwinds ungestümem Lauf zerrissen wurden. Dann irgendwann teilten sich die Pilze, und freies Land lag vor ihm. Das Heulen wurde schwächer. Die tanzenden Lichter verloren sich hinter ihm. Es dauerte eine Weile, bis Hrobon sich dessen bewußt wurde, daß Kußwind stand. Mühsam und zitternd richtete er sich im Sattel auf und zwang sich dazu, sich umzublicken. Dutzende von Orhaken und Diromen brachen aus dem Pilzwald, einige ohne Reiter. Die Krieger brachten ihre Tiere zum Stehen, soweit sie dazu in der Lage waren. Jene, die vor Entsetzen schrien, wurden weit hinaus in die Wüste getragen, die sich hinter dem Dschungel ausbreitete. Die anderen sammelten sich um Hrobon, dessen Herz für einen Schlag aussetzte, als er Spinnenglanz mit seitlich herabhängender Sänfte zwischen den Riesengewächsen auftauchen sah. Das Diromo der Prinzessin rannte an ihm vorbei, völlig außer Kontrolle geraten. »Sammelt euch und wartet hier auf mich!« schrie der Heymal seinen Kriegern zu, indem er Kußwind auch schon wieder antrieb und dem Diromo nachsetzte. Zwei Krieger 44
ritten mit ihm, blieben jedoch hoffnungslos zurück. Noch immer rannte Spinnenglanz in die Wüste hinein, auf die ferne Wand zu, die dunkler war als die Nacht. Mit wild klopfendem Herzen jagte Hrobon ihm nach, erreichte es endlich und brachte Kußwind so nahe heran, daß er nach den Zügeln greifen konnte. Dennoch mußte er noch eine gute Strecke reiten, bis Spinnenglanz zum Stehen kam. Die Sänfte hing seitlich an ihm herunter, nur durch die ledernen Gurte der Befestigungen gehalten. Durch Schläge gegen Pilzstämme war sie arg mitgenommen. Hrobons bange Ahnungen bestätigten sich, als er auf Spinnenglanz’ Rücken stieg und das Zelt leer fand.
Als der Heymal den Sammelplatz erreichte, erhielt er die Meldung, daß mittlerweile fast alle Laufvögel den Wald verlassen hatten. Über das Schicksal der anderen vermieden die Krieger zu reden, ebenso wie über das gute Dutzend Reiter, das nicht den Weg aus dem Dschungel herausgefunden hatte. Hrobon hörte sich den Bericht mit finsterer, verschlossener Miene an. Er sah das Diromo mit No-Ango und Sadagar etwas abseits stehen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, als er vergeblich nach Mythor Ausschau hielt. »Die Prinzessin«, brachte er zerknirscht hervor. »Sie ist zurückgeblieben. Ich werde sie suchen.« »Aber… du wirst ihr in den Tod folgen!« rief einer der Krieger entsetzt. »Wer sagt, daß sie tot ist?« fuhr Hrobon ihn an. »Ihr wartet hier und…« Sein Blick fiel auf die Ärmel seines Burnus, und er schrak zusammen. Irgend etwas glitzerte fein auf dem Stoff wie Goldener Staub. Hrobon rang das Entsetzen nieder, das mit eisigen Klauen nach seiner Seele griff, und trieb Kußwind 45
an. Der Pilzwald lag still und dunkel vor ihm. Nur tief zwischen den mächtigen Stämmen glaubte der Heymal ein schwaches Leuchten zu sehen. Es wies ihm den Weg. Sein Leben war verwirkt, sollte Shezad in den Irrlichtern den Tod gefunden haben. Mit dem Mut der Verzweiflung ritt Hrobon zurück in die eben noch heulende, nun trügerisch schweigende Hölle. Sadagar sah ihn zwischen den Riesenpilzen verschwinden. In ohnmächtigem Zorn ballte er die Hände und stieß No-Ango in den Rücken. »Wir reiten ihm nach!« rief er. »Hörst du?« Der Rafher hörte nicht. Ein Blick in sein Gesicht genügte Sadagar, um zu wissen, daß sein Geist nicht in dieser Welt weilte. Zeternd und fluchend ließ der Steinmann sich zu Boden gleiten und rannte Hrobon nach. Zwei Vogelreiter setzten sich in Bewegung, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern, doch als er die ersten Pilze erreichte, zügelten sie die Orhaken. Sadagar war für sie verloren.
Mythor irrte halb taub und halb blind durch den Pilzwald, den Griff des Schwerts mit beiden Händen umklammert. Längst hatte er aufgehört, nach den Lichtern zu schlagen. Die Flammensäulen, in die er gestürzt war, hatten ihn nicht verbrannt, und doch war es gespenstisches Leben, das flackernd und wabernd über den Boden kroch. Kein Schlag konnte es auslöschen. Mythor zwang sich dazu, nicht auf die Stimmen zu hören, die in ihm waren und ihn zu locken versuchten, die flüsterten, er möge nicht weitergehen und sich zum Schlafe hinlegen, die von ewigem Seelenfrieden raunten und Glück und Freuden verhießen, wie sie Sterblichen nie zuteil werden könnten. Er kämpfte dagegen an. Doch das Flüstern blieb und wurde 46
stärker, als er über umgestürzte Pilze kletterte und den Atem anhielt, als der Gestank faulender Fruchtkörper in seine Nase drang. In seinen Haaren klebten Sporen. Mythor kniff die Augen zusammen, um klarer sehen zu können. Die Irrlichter flammten nur noch hier auf, wo sie Beute wußten. Ringsherum war der Pilzwald wieder dunkel und still. Das Heulen hatte sich gelegt. Mythor arbeitete sich durch eine Welt des Moders. Er blieb stehen und rief nach Shezad. Einmal glaubte er, ganz schwach ihre Stimme zu hören. Das schien vor einer halben Ewigkeit gewesen zu sein. Doch er kannte die Richtung, in der er zu suchen hatte, und sein Herz mochte an die hundert Male geschlagen haben, als er das schwache Leuchten zwischen umgestürzten Stämmen sah. Er schritt schneller aus. Die wispernden Stimmen wurden lauter in ihm, als wollten sie ihn mit Gewalt am Weitergehen hindern. Dann jedoch stand er auf einem Stumpf und sah die Prinzessin mitten auf einer durch die Karawane geschaffenen Lichtung. Mit einem Aufschrei sprang er zu Boden und lief auf Shezad zu, die reglos auf dem Rücken lag. Ihre weit geöffneten Augen spiegelten die Lichter wider, die sie ungestüm bedrängten. Das Antlitz der Shallad-Tochter war entspannt. Ihr Mund lächelte wie in Erwartung unbeschreiblicher Freuden. Doch als Mythor neben ihr kniete und ihr mit der Linken über die Augen fuhr, zeigte sie nicht die geringste Regung. Aber sie lebte noch. Mythor fühlte ihren Herzschlag und atmete auf. Er bettete Shezad behutsam auf seine Arme und schickte sich an, mit ihr der Schneise zu folgen. Irgendwann mußte der Wald zu Ende sein, und Hrobon würde merken, daß die Prinzessin zurückgeblieben war. Vielleicht war schon Hilfe unterwegs. Mythor preßte die Zähne aufeinander, bis die Kiefer schmerzten. Schmerz, das wußte er, war ein gutes 47
Mittel, um die Geisterstimmen zu verscheuchen und bei klarem Verstand zu bleiben. Und sie griffen an. Mythors Schritte wurden unsicher. Er hatte große Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, als ein Brausen wie von einem mächtigen Sturmwind anhob. Doch kein Lüftchen rührte sich. Das Brausen war in ihm, in seinem Schädel, und tausend Stimmen vereinten sich in ihm. Leg dich nieder, Wanderer! raunten sie. Kämpfe nicht länger gegen den Schlaf! Komm zu uns! Wir verheißen dir…
Sie verhießen alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte. Mythor schritt weiter, blickte starr geradeaus und rang nach Atem. Die Lichter umtanzten ihn, und plötzlich glaubte der Sohn des Kometen, wirkliche, lodernde Feuer vor sich zu haben. Er spürte ihre Hitze. Ein Schritt weiter, und sie würde ihm die Haare versengen, die Lungen ausbrennen und… Es ist nicht so! hämmerte er in sein Bewußtsein. Trugbilder und Zauber! Mythor taumelte weiter. Shezad war plötzlich ein erdrückend schweres Gewicht auf seinen Armen. Hinein in die Wand aus Feuer! Seine Lungen schmerzten, Schweiß brach aus allen Poren und rann in Strömen die Wangen herab. Die Feuerwand nahm ihn auf. Flammen schlugen in sein Gesicht. Er konnte nicht mehr länger atmen. Zu stark war das, was nun mit aller Gewalt nach seinem Geist griff. Aus dem Brausen wurde das Tosen eines Gewittersturms. Mythor sah nichts mehr, taumelte blind und blieb stehen. Die Feuer waren in ihm, und die tanzenden Flammen nahmen Gestalten an, Gestalten von wunderschönen Wesen, die ihm lockend ihre Hände entgegenstreckten, ihm zuflüsterten, ihn mit sich fortziehen wollten. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Mythor schrie auf, schnappte nach Luft und sah etwas Schwarzes an seiner rechten Wade. Für einen Augenblick riß die Feuerwand auf, ließ das Tosen in seinem Schädel nach. Mythor versuchte, 48
das Tier an seinem Bein abzuschütteln, und verlor das Gleichgewicht. Shezad rutschte aus seinen Armen. Mythor schlug neben ihr zu Boden, was ihn endgültig zur Besinnung brachte. Sein Schwert leuchtete blutrot im Widerschein der Flammen, als er sich von seinem Peiniger befreite. Fassungslos sah er, wie die Flammen von ihm ließen und in den Leib des toten Tieres fuhren. Mythor schob die Hände unter Shezads Körper, lud sie sich über die Schulter und nahm das abgelegte Schwert. So gut ihn seine Beine trugen, machte er sich erneut auf den Weg, immer der Schneise nach. Sein Mund war trocken, und funkelnde Sterne tanzten vor seinen Augen. Seine Bewegungen wurden marionettenhaft. Immer schwerer wurde ihm seine Last, bis er erneut stehenblieb und in die Knie sank. Als der riesige Schatten vor ihm auftauchte, glaubte er, den Trugbildern aufs neue zu erliegen. Doch die Hand, die ihn wenige Atemzüge später roh nach hinten stieß, gehörte zu keinem Trugbild. »Komm her!« Mythor lag noch auf dem Rücken, das Schwert in der Hand und bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Hrobons Bewegungen machten ihm deutlich, daß der Heymal ebenfalls geschwächt war. Nur mit viel Mühe hatte er Shezad auf den Rücken seines Orhakos legen können. Nun stand er wieder vor Mythor, in der Rechten sein Krummschwert. Doch anstatt den tödlichen Streich zu führen, streckte er ihm die andere Hand entgegen. »Nun komm schon!« herrschte er ihn an. »Ich könnte unsere Rechnung jetzt auf der Stelle begleichen. Doch ich bin keiner, der sich mit dem Blut eines Hilflosen befleckt. Kußwind wird uns alle drei tragen!« Wortlos ließ Mythor sich aufhelfen, steckte das eigene Schwert in den Gürtel zurück und ließ sich mehr auf den 49
Rücken des Laufvogels schieben, als daß er kletterte. Hrobon stieg vor ihm auf, überzeugte sich davon, daß die Prinzessin Halt hatte, und preßte die Schenkel leicht in Kußwinds Seiten. Das Orhako richtete sich auf und lief. »Danke«, preßte Mythor hervor, die Arme um Hrobons Leib geschlungen. »Warte damit!« rief der Krieger. »Die Zeit wird kommen, um alle Schulden zu begleichen!« Endlich teilte sich der Wald. Knapp hundert Vogelreiter standen dicht beieinander und brachen in Jubelgeschrei aus, als sie ihren Anführer mit der Prinzessin erscheinen sahen. Hrobon brachte Kußwind zum Stehen, drehte sich zu Mythor um, lächelte grimmig und stieß ihn zu Boden. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, ritt er mit Shezad zu Spinnenglanz, auf dem das Zelt wieder so gut wie eben möglich hergerichtet worden war. »Mythor! Bei Erain, du lebst!« Steinmann Sadagars Gesicht tauchte über ihm auf. Dann griffen Hände unter seine Schultern und halfen ihm in die Höhe. Mythor stand noch unsicher, doch die kühle Luft, die er jetzt einatmete, brachte ihm bald seine Lebensgeister zurück. Er sah an sich hinab und klopfte Pilzstaub von seiner Kleidung. Dort, wo sich das Tier festgebissen hatte, war das Bein geschwollen. Willig ließ er sich von Sadagar zu No-Ango führen, der auf dem Rücken des Diromos auf sie wartete. »Die Finsternis soll diesen Schinder verschlingen!« schimpfte Sadagar und schüttelte die Faust, als er sah, wie Hrobon die Prinzessin in ihre Sänfte trug. »Laß gut sein«, sagte Mythor matt. »Er hat mir vermutlich das Leben gerettet.« Er sah sich um. »Ich denke, wir warten hier den Morgen ab, oder?« »Ich… weiß es nicht«, meinte der Steinmann. »Ehrlich gesagt, ich folgte Hrobon, als er in den Pilzwald zurückkehrte. 50
Glaube mir, ich hatte keine Angst vor den Stimmen, aber…« Sadagar schnitt eine Grimasse und fuhr sich durch die Haare. »Was soll man gegen Geister ausrichten, wenn man selbst keinen Schutzgeist mehr hat oder vielmehr doch einen, der sich aber mit Dämonenpriestern einläßt und…!« Mythor lächelte schwach und legte dem Schimpfenden eine Hand auf die Schulter. »Rege dich nicht auf, Sadagar. Niemand versteht besser als ich, daß du umgekehrt bist.« Der Steinmann sah ihn zweifelnd an. »So? Meinst du?« »Lamir würde deinen Mut besingen, wäre er hier«, sagte Mythor. »Erain verhindere das!« entfuhr es dem Steinmann. »Aber was ist mit deinem Bein? Ich fürchte, wir werden die Wunde ausbrennen müssen.« Die Nacht verging ohne weiteren Zwischenfall. Die Reiter hatten ihren Tieren die Hauben angelegt und Feuer entfacht. Mythors Bein war mit Tüchern umwickelt. Jeder Schritt schmerzte, doch schien die Entzündung sich nicht weiter auszubreiten. Als der Morgen graute, rief Hrobon zum Aufbruch. Mythor saß hinter No-Ango und Sadagar auf. Die Karawane setzte sich in Bewegung. Vor ihr lag eine sich scheinbar endlos erstreckende Wüste. Der Pilzwald blieb zurück, doch schien er das unfruchtbare Land weiträumig zu umschließen. Unangefochten kam der Zug voran. Shezad zeigte sich kurz im Eingang des Zeltes und winkte zu Mythor und seinen Freunden herüber. Mythor machte keinen Hehl aus seiner Erleichterung, hatte er doch die Befürchtung gehegt, die Prinzessin würde vielleicht nie wieder aus ihrer Besinnungslosigkeit erwachen. »Seht euch die Luft an«, sagte plötzlich No-Ango. »Hier beginnt die Zone des Goldenen Staubes.« Mythor sah es. Als ein Sonnenstrahl kurz durch die sich 51
auftürmende Düsternis fiel, war die Luft erfüllt von golden flirrenden Teilchen, die an winzige Kristalle erinnerten. Hrobon mußte es auch bemerkt haben, denn er ließ die Karawane halten und beriet sich mit einigen seiner Krieger. »Es ist erst der Anfang«, prophezeite der junge Rafher. »Der Staub wird so dicht werden, daß wir uns wieder durch Tücher schützen müssen. Auch das wird nicht verhindern, daß wir das Schicksal jener teilen, die ihm zum Opfer fielen. Sie warten auf uns beim Schattenturm.« »Hu-Gona?« fragte Mythor nur. No-Ango nickte zur Bestätigung. Er schien mit sich zu ringen, bevor er sagte: »Eine weitaus schrecklichere Gefahr lauert beim Schattenturm.« Zu weiteren Auskünften war der Rafher nicht zu bewegen. Sadagar blieb seltsam ruhig. Mythor überlegte, ob es wohl Sinn hatte, Hrobon nochmals zu warnen. Doch hinter der Karawane lag der Pilzwald, der die Wüste und den Schattenturm womöglich ringförmig umschloß. Nein, Mythors Sinn stand nicht länger danach, die Gefahr zu fliehen. Eine seltsame Erregung bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken an jenen legendenumwobenen Mann, den man Prinz der Düsternis nannte. Stimmte das, was man sich über ihn erzählte, so würde er ohnehin spätestens bei Logghard auf ihn treffen. Vielleicht war es dann besser, vorher zu wissen, mit wem man es zu tun hatte. Die Karawane setzte sich wieder in Marsch. Hrobon ließ sich von ihrer Spitze zurückfallen und schien jedem einzelnen seiner Krieger Mut zusprechen zu wollen. Unwillkürlich mußte Mythor diesen Mann für seinen unerschütterlichen Glauben bewundern. Er hätte es in der Hand gehabt, ihn zu töten. Wenn er Hrobon einmal als Freund gewinnen könnte… Das war reines Wunschdenken. Mythor richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Goldenen Staub, der sich jetzt bereits 52
auf ihn legte und in die Atemwege drang. Er ließ sich von Sadagar das Tuch reichen und band es vor das Gesicht, so daß nur die Augen frei blieben. Die Vogelreiter taten das gleiche. Als die Sonne wieder am Himmel erschien, brachte Hrobon die Karawane erneut zum Stehen. Er deutete mit ausgestrecktem Arm voraus. No-Ango trieb das Di-romo voran, bis sie auf gleicher Höhe mit Hrobon auf einem Hügel standen und in der Ferne die Mauern einer mächtigen Bastion sahen. »Der Schattenturm«, rief Hrobon aus. Mythor sah seinen Gegenspieler an und erschrak. Hrobons Stirn war dick von Staub bedeckt, und wie dicke Adern zogen sich graue Linien eines feinen Netzes über seine Haut. Mythor lockerte das Tuch und betastete das eigene Gesicht mit den Fingern. Er fühlte eine harte Kruste, und die Haut spannte, als er die Gesichtsmuskeln bewegte. Dies war der Anfang…
War schon Hrobons blindes Vertrauen zum Shallad für Mythor unbegreiflich, so mußte er nun feststellen, daß seine Krieger ihm selbst eine ebensolche Ergebenheit entgegenbrachten. Kein einziger machte Anstalten zur Umkehr, obwohl das Grauen von ihren Herzen Besitz ergriffen hatte. No-Ango schien nichts anrühren zu können. Aufrecht und schweigend saß er auf dem Rücken des Diromos und ließ schlaff die Zügel hängen. Mythor konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er weit mehr wußte, als er preiszugeben bereit war. Sadagar hielt sich tapfer. Er mochte wie die Krieger begreifen, daß es nun zu spät zur Umkehr war, daß der Staub sich bereits festgesetzt hatte und es allein im Schattenturm eine Rettung geben mochte. Hrobon trieb sein Orhako ans Reittier der Prinzessin heran, 53
als deren Gesicht im Eingang der Sänfte erschien. Mythor sah, wie sie auch ihn heranwinkte, was Hrobon auffahren ließ. Shezad brachte ihn energisch zum Schweigen. Es zeigte sich, daß die Prinzessin nichts von ihrer Entschlossenheit eingebüßt hatte, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Hrobon nickte grimmig und schnappte vor Überraschung nach Luft, als Mythor ebenfalls zustimmte, allerdings den Vorschlag machte, Shezad mit der Hälfte der Krieger aus der Zone des Goldenen Staubes zu bringen, wo sie auf die anderen warten sollten. Shezad lächelte schwach und schüttelte entschlossen den Kopf. »Du hast mich einmal gerettet«, sagte sie. »Ich denke nicht, daß es ein zweites Mal vonnöten sein wird.« Dank schwang in ihren Worten mit, den sie ihm wohl auf andere Weise abgestattet hätte, wäre der Vogelreiter nicht dabeigewesen. Mythor sah ein, daß weitere Warnungen sinnlos waren. Shezad sprach zu den Kriegern und forderte sie auf, den Glauben an ihren Vater zu bewahren. Mythor mußte an sich halten, um ihr nicht ins Wort zu fallen. Immer stärker wurde der Drang in ihm, zum Turm zu reiten und dort nach dem Rechten zu sehen. Im gleichen Maße wuchs seine Sorge um Shezad. Nach allem, was er inzwischen wußte, konnte Hadamur mit ihrer Entsendung nur ein Ziel verfolgen. Und dies war so ungeheuerlich, daß er sich weigerte, diese Folgerung zu akzeptieren. Er kehrte zu den Gefährten zurück. Die Karawane brach auf, den mächtigen Mauern der Bastion entgegen, die einstmals ein gewaltiges Bollwerk gegen die Mächte der Finsternis war. Schon aus der Ferne bot der Turm einen Anblick, der Visionen von unvorstellbaren Schlachten heraufbeschwor, die hier getobt haben mochten. Vor Mythors geistigem Auge entstanden Bilder von anstürmenden Heeren, die im Pfeil54
und Geschoßhagel der Verteidiger vergingen, von schrecklichen Heerscharen, die die Finsternis ausgespien und in den Kampf gegen das Licht geschickt hatte, von Magie und Chaos. Dann verschwanden die Kämpfer des Lichtes. Mythor fragte sich, ob dieses Verschwinden etwas mit dem Goldenen Staub zu tun haben mochte. Und falls es so war -hieß das nicht, daß kein anderer als Prinz Odam, von dem es hieß, daß er den Sieg der Dunklen Mächte herbeigeführt hatte, Gewalt über den Staub hatte? Würde er Goldenen Staub nach Logghard bringen? Mythor verscheuchte die Gedanken. Es gab nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Etwas von seiner grimmigen Entschlossenheit mochte auf Sadagar überspringen, denn der Steinmann drehte sich zu ihm um und sagte: »Keine Angst, Mythor. Mit dem Staub werden wir auch noch fertig!« Weiter ging es, den Hügel hinab in die Ebene, die vom Staub erfüllt war. Wo er sich besonders dicht zusammenballte, reichte die Sicht kaum einen Bogenschuß weit. No-Ango trieb das Diromo voran, bis es zu Hrobon an der Spitze der Karawane aufgeschlossen hatte. Die Laufvögel wurden zusehends unruhiger, so daß ihre Reiter alle Mühe mit ihnen hatten. Offenbar litten die Tiere weit mehr als die Männer unter dem Staub, der sich in ihre Lungen fraß und ihre Körper mit einer feinen Kruste überzog. Als die ersten völlig versteinerten Kadaver anderer Laufvögel aus dem Sand stachen, waren Schreie zu hören. Hrobon jedoch ritt weiter und schien mit Kußwind zu flüstern. Immer mehr Kadaver tauchten zu beiden Seiten der Karawane auf. Mythor zählte gut zwei Dutzend, als die dem Schattenturm vorgelagerten Mauern erreicht waren. Daß sie noch nicht völlig vom Sand bedeckt waren, wertete er als sicheres Zeichen dafür, daß diese Tiere jene Krieger getragen 55
hatten, die Garram angeführt hatte. Doch wo waren diese Männer? Mythor mußte gegen das Grauen ankämpfen, das sich in sein Herz schlich. Plötzlich fühlte er sich von allen Seiten beobachtet. Hrobon brachte Kußwind vor einem riesigen Torbogen zum Stehen, der durch die Mauer führte, und wartete, bis sich seine Krieger um ihn gesammelt hatten. Nichts im starren Gesicht des Vogelreiters ließ darauf schließen, was in diesen Augenblicken hinter seiner Stirn vorging. Er hustete, und kurz blitzte es in seinen Augen auf, als er die Hand über die Stirn führte und die steinernen Adern auf seiner Haut fühlte. »Und nun?« fragte Mythor. »Wo ist Garram mit seinem Trupp, Hrobon?« Der Heymal brauchte nicht zu antworten. Jene, mit denen sie sich hier zusammentun sollten, traten aus den Schatten heraus, erschienen auf der Mauer oder stiegen aus Sandgruben, in denen sie versteckt gelegen hatten – Männer, deren Häupter bis auf die Augen und den Mund von einem aus Stein gewachsenen Helm fingerdick überzogen waren. Es war eine Armee des Schreckens, in zerrissenen Burnussen und glitzernd vom Goldenen Staub, der auf den Männern lag, unheimliche Gestalten, wie einem Alptraum entstiegen. Mythors Herz schlug bis zum Hals. Männer schrien und sprangen von ihren Laufvögeln, rannten ziellos in die Wüste und warfen sich mit dem Gesicht in den Sand, um nur nichts mehr sehen zu müssen. Sie, die bisher so tapfer gegen das Ungeheuerliche angekämpft hatten, Hrobon und dem Shallad blind vertrauten, erlagen dem Wahnsinn, der nach ihnen griff. Schweigend rückten die Halbversteinerten heran. Sie griffen nicht an, wie Mythor erwartet hatte, sondern sie streckten den Ankömmlingen abwehrend die Hände entgegen und bedeuteten ihnen durch Gesten, auf der Stelle umzukehren. 56
Der Anblick dieser Verlorenen ließ Mythor allen Abscheu vergessen und tiefes Mitleid für sie empfinden. Sie wußten, daß nichts und niemand ihnen noch helfen konnte, und hatten nur das eine im Sinn: Hrobons Trupp das gleiche schreckliche Schicksal zu ersparen. Vielleicht war einer von ihnen sogar Garram selbst, der teuer für sein Vorhaben, den Pakt mit Dunklen Mächten zu suchen, bezahlen mußte. Niemand konnte es sagen. Kein Wort kam über die verknöcherten Lippen. Die Gestalten schoben sich bis auf wenige Mannslängen heran, dann blieben sie stehen. Unsägliches Entsetzen lag in den Blicken der schlackeumwachsenen Augen, Entsetzen, das übersprang auf Vögel und Reiter. Immer mehr von ihnen jagten in die Wüste hinaus. Hrobon sah sich unsicher um. Nur eine Handvoll entschlossener Männer blieb an seiner Seite. Shezad zeigte sich nicht, doch Spinnenglanz rührte sich nicht von der Stelle. Mythors Bewunderung für den Mut der Prinzessin steigerte sich ins Unermeßliche. »Bleibt, ihr Narren!« schrie endlich Hrobon den Fliehenden hinterher. »Wohin wollt ihr denn?« Sie hörten ihn nicht und verschwanden in den Staubwolken. Hrobon fuhr herum, sprang voller Zorn von Kußwinds Rücken und stürzte sich auf einen der Versteinerten. Der Mann wich zurück, doch nicht schnell genug. Hrobon packte ihn an den Schultern und schrie ihn an: »Wer von euch ist Garram? Bringt mir Garram, damit er…!« »Sie können nicht sprechen!« Mythor hatte sich ebenfalls zu Boden gleiten lassen und riß den Heymal zurück. »Sei vernünftig, Hrobon! Keiner von ihnen wird dir eine Antwort geben!« Der Vogelreiter schüttelte Mythors Hand ab und griff nach dem Schwert. Für zwei, drei Herzschläge lang standen sie sich gegenüber wie schon einmal, bereit, um Leben und Tod zu 57
kämpfen. Mythor stieß eine Verwünschung aus, riß blitzschnell das Schwert aus dem Gürtel und schleuderte es Hrobon vor die Füße. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um unsere Fehde auszutragen!« rief er. »Bis hierher kamen wir! Vielleicht ist es unser Lös, hier unser Leben zu beenden! Soll das umsonst geschehen?« Hrobons Augen funkelten ihn zornig an. Endlich ließ er die Klinge los und fuhr ihn an: »Es ist nicht die Sache eines Frevlers, sich in die Angelegenheiten des Shallad zu mischen!« »Bei Quyl, es geht nicht um Hadamur und um das, was er ist oder nicht, Hrobon! Noch leben wir, haben Augen, um zu sehen, und Münder, um anderen Zeugnis zu geben von dem, was hier geschieht. Verschließe dich nicht länger davor. Später laß uns gegeneinander kämpfen. Doch jetzt mag es sein, daß jeder Arm gebraucht wird, der ein Schwert führen kann!« »Du willst in den Turm?« Mythors Blick strich über das finstere Gemäuer aus großen, roh behauenen Steinen. »Nur dort werden wir Gewißheit erhalten«, sagte er finster, »falls überhaupt. Ja, Hrobon, ich werde gehen.« »Beim Shallad! Du gehst nicht allein!« schrie der Heymal. Zu seinen Kriegern gewandt, rief er: »Wer von euch den Mut aufbringt, uns zu folgen, der stelle sich hinter mich!« Ein Dutzend Männer ließ die Orhaken zurück und baute sich hinter dem Führer auf. Ringsum standen die Halbversteinerten und machten noch immer Gesten der Abwehr. Ihre Augen flehten: Kehrt um! Lauft, solange ihr noch könnt! Und sie kündeten von Schrecken, die nicht allein im Goldenen Staub und dessen verheerenden Folgen für die Befallenen begründet lagen. Mythor wünschte sich, wenigstens einer von ihnen hätte zu sprechen vermocht. Sein schrecklicher Verdacht wurde nun fast zur Gewißheit. 58
»Die Prinzessin, Hrobon«, drängte er. »Bevor wir etwas unternehmen, laß uns nach Räumen suchen, in denen sie sicher sein kann.« Hrobon gab fünf Kriegern den Befehl dazu. Zögernd zuerst, dann entschlossen ausschreitend, gingen sie den Torbogen hindurch, gelangten hinter das mächtige Mauerwerk und verschafften sich gewaltsam Zutritt zum Schattenturm, indem zwei von ihnen sich mit den Schultern gegen das morsche Holz einer kleineren Tür warfen. Ein Krieger mit verknöchertem Gesicht warf sich vor Hrobon auf die Knie. Tränen quollen aus seinen Augen, sammelten sich in den Schlackehöhlen und rannen in den Rillen über die Steinmaske. Zum erstenmal sah Mythor den Heymal hilflos. Das Warten auf die in den Turm Eingedrungenen wurde zur Qual. Mythor sah, wie die Zelttücher der Sänfte sich auseinanderschoben. Vor Hrobon erreichte er Spinnenglanz und half der Prinzessin vom Diromo herab. Sie nickte ihm dankbar zu. Ihre Augen waren hinter einem fast undurchsichtigen Schleiertuch verborgen, und den purpurroten Umhang hatte sie bis zum Hals hinauf geschlossen. Erleichtert stellte Mythor fest, daß wenigstens sie noch keinerlei Spuren der Staubablagerung aufwies. Sie hob kurz den Schleier, wie um ihm dies zu zeigen. »Du hast unsere Unterhaltung gehört?« Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. »Shezad, versprich uns, in deinem Quartier zu bleiben, sobald wir eines gefunden haben, das sicher genug für dich ist.« »Ich verspreche es. Du hast mein Wort«, erklärte sie. Endlich kehrten die fünf Ausgesandten zurück. »Wir haben einen Raum gefunden«, erklärte einer von ihnen. »Der Turm scheint verlassen.« »Was heißt das, er ›scheint‹ verlassen?« wollte Hrobon 59
wissen. Der Krieger hielt ihm etwas vor die Augen, was er bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte. Es war ein Teil eines der Schlackehelme, wie sie die Gesichter von Garrams Vogelreitern überzogen. Hrobon betrachtete es schweigend, drehte es dann um und stieß einen erstickten Laut aus. Deutlich zeichnete sich auf der Innenseite ein Teil eines menschlichen Gesichts ab. »Wo hast du dies gefunden?« fragte der Heymal. »Überall«, antwortete der Krieger. »Solche Masken liegen überall im Turm. Manche sind noch besser erhalten.« Der Mann sprach stockend. Es bereitete ihm bereits Mühe, die Worte zu formen. Nur an wenigen Stellen seines Gesichts war noch nackte Haut zwischen den knöchernen Adern zu erkennen.
Steinerne Treppen führten steil in den Turm. Nur durch schmale Schießscharten und winzige Fenster drang schwaches Licht. Ein halbes Dutzend Krieger war hinter den Mauern zurückgeblieben, um bei den Laufvögeln zu wachen, die in eine plötzliche Starre verfallen waren. Hrobon und No-Ango, der sich mit Sadagar dem kleinen Trupp ebenfalls angeschlossen hatte, trugen jeweils eine Pechfackel. Mythor ging neben dem Heymal voran, und tatsächlich schien es so, als machte die unheimliche Umgebung, die Ahnung einer unbekannten Gefahr den Streit zwischen beiden Männern für den Augenblick vergessen. Shezad war in einem Raum im Sockel des Turms untergebracht worden, vor dessen einziger Tür zwei Krieger Wache hielten. Dort sollte sie auch vor dem Staub geschützt sein. Der gewundene Treppengang schien in endlose Höhen 60
hinaufzuführen, bis Mythor eine dunkle Decke über sich sah, deren Durchgang gerade Platz für einen Mann ließ. Er kletterte hindurch und stand in einem finsteren Gewölbe, das den Turm in seiner ganzen Breite auszufüllen schien. Ringsherum waren schmale, sich nach außen hin noch verengende Schießscharten in den gut drei Fuß dicken Mauern. Der Boden war von einer dicken Staubschicht bedeckt, aus der Teile von Gesichtsmasken herausstachen. Als Mythor sich nach einer solchen bückte, erschien ihm die Innenseite im Licht der Fackel wie eine Totenmaske. Er fand ein zweites Stück, das sich nahtlos ans erste anfügen ließ und mit diesem zusammen einen Helm ergab. Seine tastende Hand fühlte etwas Hartes im knöcheltiefen Staub, und als er es herauszuziehen versuchte, zerbröckelte ein Knochen zwischen seinen Fingern. Er erschauerte und reichte Hrobon seinen Fund. Der Heymal betrachtete den Helm. Unsicher blickte er Mythor an. Der Sohn des Kometen zögerte mit einer Antwort, bis er mit dem Fuß weitere menschliche Gebeine aus dem Staub geholt hatte. Ein leichter Tritt darauf ließ sie ebenfalls zu Staub zerfallen. »Das allein blieb von jenen, die einstmals diese Bastion gegen die Heerscharen der Finsternis verteidigten, bis der Goldene Staub über sie kam«, sagte er schließlich tonlos. »Nur Staub und die Totenmasken.« »Die Helme fielen erst nach dem Tod von ihnen ab«, sagte Hrobon. »Aber wie lange lebten sie damit?« Mythor zuckte die Schultern. Ohne daß er es bemerkt hätte, hatte er das Schwert aus dem Gürtel gezogen. Er starrte zur Decke empor und suchte nach dem Durchgang in höher gelegene Teile des Turms. Nur eine einzige schwarze Öffnung klaffte in der von den Fackeln kärglich beleuchteten Decke, viel zu hoch für ihn. Selbst wenn sich einige Männer aufeinanderstellten, konnten sie sie nicht erreichen. Die Leiter, 61
die einstmals dort hinaufgeführt hatte, war ebenso dem Wirken der Zeiten zum Opfer gefallen wie alles, was einmal dieses Gewölbe ausgefüllt hatte. Draußen kam Wind auf und blies eine schaurige Melodie durch die Scharten. Sadagar schrak zusammen. So tapfer der Steinmann sich auch nach außen hin gab – seine Blicke verrieten den einen Wunsch, diesen finsteren Ort des Todes und des Moders schnell wieder zu verlassen. »Wir sehen uns weiter unten um«, sagte Hrobon. »Vielleicht finden wir in den Verliesen etwas. Garram muß uns wenigstens eine Botschaft hinterlassen haben.« »Und wenn es ihm genügte, uns hierherzulocken?« fragte Mythor. »Was hätte er von uns gehabt?« Hrobon ahnte es wirklich nicht! So blind in seinem Glauben an den Shallad war er, daß er die Augen vor dem allen verschloß, was allein einen Sinn in diesem undurchschaubar erscheinenden, grausamen Spiel ergab! Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Mythor und Hrobon überzeugten sich davon, daß Shezad den bewachten Raum nicht verlassen hatte. Dann erst folgten sie der Treppe, die tiefer in den Turm hineinführte. Sie gelangten in finstere Gänge und Gewölbe, stiegen weitere Treppen hinab, bis die Wände nicht länger aus Mauersteinen bestanden, sondern in den Fels selbst getrieben worden waren, auf dem die Bastion errichtet war. Zu beiden Seiten befanden sich eiserne Türen, die zum Teil schräg in verrosteten Angeln hingen. Auch hier war der Boden von Schlackegebilden bedeckt, doch glitzerte der Staub im Fackelschein nicht mehr golden. Wer immer in der Vergangenheit Schutz vor den verhängnisvollen Kristallen gesucht hatte, mochte ihn in dieser Tiefe am ehesten gefunden haben. Und doch hatte das Schicksal die hierher Geflüchteten ereilt. 62
Schweigend setzten die Männer ihren Weg fort, durchsuchten Verliese und immer weitere Gänge, schweigend und mit unsicheren, weithin hallenden Schritten. Vor einer weiteren aus den Angeln gefallenen Eisentür, hinter der dunkel ein Kerker gähnte, blieb Mythor stehen. Hrobon, der mit Sadagar neben ihm ging, blickte ihn mißmutig an. »Dort!« Mythor deutete mit der Schwertspitze auf etwas Mattes, das an einer der verrosteten Angeln hing. Hrobon stieß einen ersticken Schrei aus und bückte sich schnell nach dem Stoffetzen. Mythor ging neben ihm in die Hocke, als er plötzlich kalten Stahl in seinem Nacken fühlte. »Dreht euch… um!« schnarrte heiser eine Stimme, die Mythor das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hinter sich hörte er schnelle Schritte und die entsetzten Schreie der Krieger, in deren Rücken sich dunkle Gestalten aus den Schatten geschält hatten und ihnen ihre Klingen ans Genick setzten. »Dreht euch um, aber langsam und keine falsche Bewegung, oder es war eure letzte!«
Währenddessen schritt Shezad unruhig in ihrem Quartier auf und ab. Eine einzige Fackel erhellte den Raum, der gut fünf mal fünf Mannslängen im Quadrat messen mochte. Von der niedrigen Decke hingen Spinnweben herab. Der Boden war weitgehend frei von Staub. Keine golden schimmernden Kristalle hatten den Weg hierher gefunden, solange die Tür verschlossen gewesen war. Die Luft war schlecht, der Geruch von Fäulnis allgegenwärtig. Es gab keinen Stuhl, keinen Tisch, nichts. Dies war ein Ort, der der an prunkvolle Gemächer gewöhnten Tochter des mächtigen Shallad am allerwenigsten angemessen war. Dennoch schreckte sie die Umgebung weniger als der 63
Umstand, daß sie nicht wußte, was nun außerhalb ihres Gefängnisses vorging. Ihre Gedanken, Ängste und Hoffnungen waren bei Hrobon und Mythor. Manchmal hörte sie die schlurfenden Schritte der beiden Krieger, die vor der schweren Tür Wache hielten. Doch das war alles, was ihr bezeugte, daß es außer ihr noch lebende Seelen in diesem schrecklichen Gemäuer gab. Das Alleinsein zehrte an ihren Nerven, ließ ihren Mut schwinden und sie ihren Entschluß, hierherzureiten, bitter bereuen. Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher, daß Hrobon mit seinen nur noch wenigen Kriegern und Mythor mit seinen beiden Gefährten sie vor dem schützen konnten, was sie insgeheim erwartete. Sie hatte Gewißheit haben wollen, Gewißheit darüber, ob ihr Vater wahrhaftig so weit gehen würde, wie es den Anschein haben mußte. Nun schalt sie sich eine Närrin. Rastlos ging sie auf und ab, lauschte an der Tür auf die Schritte der Wachen. Zu lange schon blieben die Krieger aus. Zu lange schon war es ruhig geworden. Hatten die Wachen sich entfernt? Warum hörte sie nichts mehr von ihnen? Von plötzlicher Angst gepackt, riß Shezad an der Tür, und zu ihrer großen Verwunderung ließ sich diese ohne weiteres nach innen öffnen. Aber sie war verriegelt worden! Auf ihren eigenen Wunsch! Die Prinzessin stieß einen spitzen Schrei aus und warf sich mit dem Rücken gegen das Eisen. Hart schlug es gegen den Stein. Mit wild klopfendem Herzen wartete Shezad auf die Schritte der Wachen, auf ihre Fragen, ob ihr etwas zugestoßen sei. Doch nichts außer dem Heulen des Windes und dem Schreien der Tiere durchbrach die Stille. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drehte sich um, zog abermals die schwere Tür einen Spaltbreit auf und blickte nach draußen. Nichts war zu sehen von den beiden Kriegern. Im Gang herrschten völlige Dunkelheit und Totenstille. 64
Shezad erzitterte. Ihre Tapferkeit schwand dahin. Leise rief sie nach den Männern. Sie erhielt keine Antwort und wußte, daß etwas Schreckliches geschehen war. Ihre Knie gaben nach, als sie den Raum durchschritt und die Fackel aus der Wandhalterung nahm. Sie blieb an die Mauer gelehnt stehen und atmete stoßweise. Die Fackel fest in ihrer Hand, schlich sie wieder zur Tür, zögerte einen Augenblick und holte ein letztes Mal tief Luft. Dann zog sie die Tür so weit auf, daß sie gerade durch den Spalt schlüpfen konnte, und trat auf den dunklen Gang hinaus. Er war verlassen. Die Prinzessin preßte die Lippen aufeinander und machte zwei, drei Schritte in die tanzenden Schatten hinein. Goldener Staub war in der Luft und bildete eine strahlende Aura um die Fackel herum. Shezad zwang sich dazu weiterzugehen. Sie hatte sich den Weg hierher eingeprägt. Vielleicht hatten die Wachen den Turm auch nur verlassen, um nach ihren Kameraden bei den Vögeln zu sehen. Die Vögel… Sie schrien nicht mehr. Nur noch das Heulen des Windes war zu hören. Shezad rannte los. Sie konnte in diesem Gemäuer nicht mehr atmen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie mußte hinaus, ins Freie, nur hier heraus! Über die steinerne Treppe stürzte sie aus dem Turm. Es war Nacht geworden. Im Norden funkelten einige Sterne am Himmel, und noch spendete der im Abnehmen begriffene Mond sein fahles Licht, doch heller waren die Fackeln. Wie eine Lichterkette waren sie auf der Mauer aufgereiht, die den Schattenturm weitläufig umgab, und was sie beschienen, ließ Shezad gellend aufschreien. Sie ließ die Fackel fallen und riß sich die Hand vor den Mund. Aus schreckgeweiteten Augen sah sie Dutzende von dunklen Gestalten, deren Häupter versteinert waren und deren Fäuste Schwerter hielten, die ebenso aus Stein und Staub gewachsen schienen wie diese 65
furchtbaren Helme. Aber das mußten Garrams Krieger sein! Von wilder Hoffnung erfüllt, lief Shezad ihnen entgegen, rief sie um Hilfe an und winkte mit beiden Armen. Ihr Fuß stieß gegen etwas Hartes, und sie fiel der Länge nach hin. Verzweifelt versuchte sie, sich aufzuraffen, als ihr Blick auf das Hindernis fiel. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Es war einer der Krieger, die als Wachen für sie abgestellt worden waren, und in seinem Rücken stak eines der steinernen Schwerter. Sein Kamerad lag nur wenige Schritte entfernt. Noch ein Stück . weiter beschienen die Fackeln der Unheimlichen die Kadaver der Karawanentiere und die Leichen der bei ihnen zurückgebliebenen Männer. Da wußte die Prinzessin, daß nicht Garrams Krieger auf der Mauer standen. Sie war unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, und als kräftige Hände ihre Arme packten und sie in die Höhe zogen, ließ sie es mit sich geschehen. Sie sah in verknöcherte Gesichter, in denen dunkle Augen hinter Schlackewucherungen blitzten, und ließ sich führen, durch den Torbogen und ein Stück um die Mauer herum. Als sie die riesigen Leiber erblickte, die in der Dunkelheit warteten, dämmerte in ihr das Begreifen. Plötzlich gab es keinen Zweifel mehr daran, wessen Krieger die Nacht ausgespien hatte – und wem die Yarls gehörten, die gewaltiger waren als alle, die sie in Horai und anderswo zu Gesicht bekommen hatte.
Es war die Stimme eines Menschen, hohl und heiser zwar, aber… Unendlich langsam drehte Mythor den Kopf. Die Klinge rutschte an seinem Hals entlang, bis ihre Spitze auf die Kehle drückte. Noch ehe Mythor an der Kleidung erkannte, wen er vor sich hatte, stieß Hrobon einen Laut der Überraschung aus. 66
»Aber das ist…! Beim Shallad, Garram!« Mythor sah ein halbes Dutzend Krieger mit blanken Schwertern. In der Dunkelheit des Ganges mochten weitere lauern. Der mit Garram Angesprochene aber wechselte mit den anderen einige unsichere Blicke. »Ich… kenne dich«, sagte er endlich zu Hrobon. Er sprach so, als bereitete ihm jedes Wort unsägliche Schmerzen, obwohl sein Gesicht wie das seiner Männer nur geringe Steinbildungen aufwies. »Du bist…« »Hrobon!« rief der Heymal schnell. »Hrobon, der vom großmächtigen Shallad selbst den Auftrag erhielt, die Prinzessin Shezad nach Logghard zu geleiten, vorher aber hier dich und deine zweihundert…« »Shezad!« entfuhr es Garram. »Dann ist sie also hier?« »Im Turm«, antwortete Hrobon schnell. »Aber nehmt die Klingen fort! Was hat das zu bedeuten? Wir sind nicht eure Feinde!« Garram wirkte unentschlossen. Er blickte auf Mythor, Sadagar und No-Ango. »Wer sind diese?« Hrobon bedachte Mythor mit einem Blick, der den Sohn des Kometen fürchten ließ, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Er spannte alle Muskeln an, hatte den Schrei auf den Lippen, um Sadagar und dem Rafher zuzurufen, um den letzten Tropfen Blut zu kämpfen, doch Hrobons Miene entspannte sich, und der Heymal sagte mit seltsamer Ruhe: »Sie begleiten unsere Karawane. Es sind Krieger aus dem Norden und ein Rafher. Du kannst ihnen vertrauen.« Garram nahm das Schwert fort und steckte es sich in den Gürtel. Die übrigen Männer folgten seinem Beispiel. Mythor stand auf und musterte den Staffelführer, von dem Shezad ihm wenig Gutes berichtet hatte. Garram trug einen schmutzigen Burnus, in dessen Falten sich Staub angesammelt hatte, und glich in vieler Hinsicht Hrobon, nur war seine Haut 67
dunkler und sein Gesicht noch verschlossener. Die dichten Brauen schienen über der Nasenwurzel zusammengewachsen zu sein, der Mund war ein schmaler Spalt. Nur auf der Stirn, dem Kinn und der rechten, narbenüberzogenen Wange klebten Schlackegebilde. Ähnlich sahen seine Krieger aus. Garram nahm Mythor das Feuer aus der Hand, verschwand im Verlies, dessen Tür auf dem Boden lag, und zündete drei in Wandhalterungen steckende Fackeln an. Die plötzliche Helligkeit schmerzte die Augen. Als Mythor wieder klar seine Umgebung erkennen konnte, stand Garram im Eingang des Kerkers und bedeutete den Ankömmlingen durch Gesten, an ihm vorbeizutreten. Sein Blick war stechend und erinnerte Mythor unwillkürlich an Drudins Dämonenpriester. Wortlos folgte er der Aufforderung. Der Raum wies keinerlei Einrichtung auf. Der Staub war in eine Ecke gewischt und mit Tüchern bedeckt worden. Andere Tücher waren auf dem Boden ausgebreitet, was darauf schließen ließ, daß die Krieger sich schon für Tage hier unten aufhielten. Sie waren abgemagert. Wie um sie zu verteidigen, postierte sich einer von ihnen sogleich vor einigen noch mit Wasser gefüllten Schläuchen. Ein anderer blieb im Eingang stehen, als seine Kameraden hinter Hrobon, dessen Männern, Sadagar und NoAngo hindurch waren und sich niedersetzten. Sadagar blickte Mythor fragend an, der heftig erschrak, als er erkannte, wie weit die Steinbildung auf dem Gesicht des Freundes bereits fortgeschritten war. Er setzte sich ebenfalls und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was er fühlte, war niederschmetternd. Zwar schützte das Tuch die anderen Gesichtspartien noch einigermaßen gut vor dem Staub, doch die Schlacke fraß sich unaufhaltsam nach unten fort, und die Muskelbewegungen verursachten Schmerzen. Mythor zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf Garram zu richten, der nun sprach: »Ihr habt also noch 68
rechtzeitig den Weg hierher gefunden. Es gab Augenblicke, da zweifelte ich daran. Habt ihr meine Krieger draußen gesehen? Sie weigerten sich, mit uns hier unten Schutz zu suchen. Es dauert vier, fünf oder sechs Tage, bis das ganze Gesicht nur mehr eine Steinmaske ist.« Garram lachte trocken, als er Hrobons Erschrecken sah. »Dennoch werden sie leben. Der Goldene Staub ist nicht unbedingt tödlich und nicht von dämonischem Leben erfüllt, wie einige Narren es wissen wollen. Nur wer versucht, ihn sich gewaltsam vom Gesicht zu reißen, bezahlt’s mit dem Leben.« »Aber… was für ein Leben ist das, das sie… das wir führen müssen?« fragte Hrobon mit erstickter Stimme. Garram winkte ab wie ein Mann, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte. »Erduldet man den schmarotzenden Staub, so schützt er wie ein Helm, den kein Schmied besser fertigen könnte. Ein natürlich gewachsener Helm, gewachsen wie…« Garram unterbrach sich, als ob er im Begriff gewesen wäre, von Dingen zu reden, die selbst für Hrobons Ohren nicht bestimmt waren. Er richtete den Oberkörper gerade auf und sagte: »Wir werden ins Freie gehen, sobald unser Auftrag erfüllt ist. Nach einer Weile schwindet die Angst vor dem Staub. Der einzige Grund dafür, daß wir uns hierher zurückzogen, ist der, daß wir mit unserem Anblick die Prinzessin nicht entsetzen wollten.« »Sie hat deine Krieger draußen gesehen«, warf Mythor ein, der den Worten des Vogelreiters keinen rechten Glauben schenken konnte. Garram antwortete ihm mit einem herablassenden Blick. An Hrobon gewandt, fuhr er zu sprechen fort: »Dann ist es also endlich soweit. Ich hoffe für euch, die Prinzessin hat den Weg unbeschadet überstanden.« »Sie befindet sich in Sicherheit«, antwortete der Heymal. Garram nickte zufrieden, erhob sich und ging um die Sitzenden herum wie ein Raubtier, das seine Beute umschlich. 69
Mythor wurde immer unruhiger. Etwas war an diesem Mann, was ihm Angst und Schrecken einjagte -Angst nicht um sich. Eine namenlose Gier stand in den Blicken dieses Mannes geschrieben. Selbst Hrobon zuckte zusammen, als Garram an ihm vorbeischritt, und warf Mythor einen kurzen Blick zu, aus dem Bestürzung sprach. Mythor empfand keine Genugtuung. Plötzlich wußte er, was Garram als nächstes sagen würde, und alles in ihm sträubte sich dagegen, es zu hören – die Bestätigung seiner finstersten Ahnungen. »Dann ist es endlich soweit«, wiederholte sich der Staffelführer. Er blieb stehen und sah seine Krieger triumphierend an. »Endlich kann ich den Auftrag des Shallad ausführen. Prinz Odam, dem ich Nachricht schickte, begann bereits ungeduldig zu werden. Er verlangt danach, seine Braut endlich in die Arme schließen zu können.« »Garram!« schrie Hrobon und sprang auf. »Was glaubtest du, warum ihr sie zum Schattenturm bringen solltet?« fragte der Finstere amüsiert. »Hadamur hat dem Herrscher der Düsterzone seine Tochter versprochen, um ihn von einem Sturm auf Logghard abzuhalten. Deshalb sind wir hier, und deshalb wird…!« »Nein!« schrie Hrobon, die Rechte am Griff seines Krummschwerts. »Du lügst, Garram! Sag, daß du lügst!« Mythor sprang auf, was das Zeichen für Sadagar und NoAngo war, ebenfalls in die Höhe zu kommen und bis zur nächsten Wand zurückzuweichen. Mythor riß das Schwert aus dem Gürtel. In Sadagars Händen blitzten Messer auf, und NoAngo hob die Pfeilschleuder. »Er lügt nicht, Hrobon!« preßte Mythor hervor. »Es ist, wie er sagt. Du wolltest nicht auf meine Warnungen hören. Dein Shallad sucht den Pakt mit den Dunklen Mächten, und um ihn zu besiegeln, ist er bereit, seine Tochter zu opfern.« »Ein kluges Bürschchen, dein Freund!« rief Garram mit 70
ätzendem Spott aus. »Er hat recht, Hrobon, und ihr werdet mich nicht daran hindern, meinen Auftrag auszuführen!« Hrobon stand unsicher, die Hand um den Griff des Schwertes gelegt, und wußte nicht, wohin er den Blick wenden sollte. Mythor sah das Entsetzen in seinen Augen und schrie ihn an: »Was nun, Hrobon? Hältst du eine solche Handlungsweise eines fleischgewordenen Lichtboten für würdig? Entscheide dich, aufweicher Seite du stehst!« Der Heymal mußte innerlich Höllenqualen leiden. Er riß das Schwert heraus, und für Augenblicke sah es so aus, als wollte er sich auf Mythor stürzen, während Garram seinen Kriegern verstohlen Zeichen gab, aufzustehen und zu den Waffen zu greifen. »Die Prinzessin wird nie die Braut des Dämonenprinzen!« schrie Hrobon. Er stürzte sich auf Garram, der ihn mit blanker Klinge erwartete.
Garrams Krieger fochten, als ginge es um mehr als ihr Leben. Obwohl ihre Körper vom Hunger ausgezehrt waren, hielten sie dem Anrennen der zahlenmäßig überlegenen Gegner stand und töteten im ersten Schlagabtausch zwei von Hrobons Männern. Garram und Hrobon standen sich in der Kunst, das Schwert zu führen, in nichts nach. Auf engstem Raum wurde gekämpft. Mythor ließ sein Schwert kreisen und wünschte sich, Alton läge in seiner Hand. Sadagar verschleuderte seine Messer, ohne die Gegner zu töten. Zwei Krieger ließen schreiend die Schwerter fallen, als sich die spitzen Messer in ihre Arme bohrten. Auch Mythor begnügte sich damit, die Gegner, die ihm zu nahe kamen, zu betäuben, solange sie ihm diese Wahl ließen. No-Ango schleuderte seine Pfeile. Sadagar sah sich mit den eigenen, aus dem Fleisch gezogenen Messern 71
bedroht. Der Kampf verlagerte sich auf den Gang hinaus, als Hrobon Garram durch den Eingang drängte. Jeder scheinbar gewonnene Vorteil wurde durch geschicktes Ausweichen und Fintieren des anderen ausgeglichen. Die Diener des Shallad schlugen noch aufeinander ein, als Garrams Krieger bis auf den letzten Mann zu Boden gerungen waren. Mythor blutete aus einer Stichwunde am linken Arm. Sadagar und No-Ango waren mit Prellungen und Hautabschürfungen davongekommen, und der Steinmann bückte sich schon wieder, um seine Messer aufzusammeln. Zwei von Hrobons Kriegern standen schwankend auf ihren Beinen. Einer von ihnen hielt Mythor zurück, als er dem Heymal zu Hilfe eilen wollte. »Laß ihn«, flüsterte er. »Das ist sein Kampf.« Mythor verstand, obwohl alles in ihm darauf drängte, so schnell wie möglich zu Shezad zu gelangen. Er ahnte, daß sie sich in Gefahr befand, doch Hrobon von seinem Gegner zu befreien hieß ihn demütigen – jetzt, da der Glaube an Hadamur zu bröckeln begann angesichts einer unvorstellbaren Bedrohung aus den Tiefen der Düsterzone selbst: Doch Hrobon focht mit der ganzen Enttäuschung und Verzweiflung, die ein Mann nur fühlen konnte. Dies verdoppelte seine Kräfte, dies lag in jenem furchtbaren letzten Schlag, mit dem er Garram fällte. Schaudernd wandte Mythor den Blick ab. Hrobon stand vor dem Toten, starrte ungläubig auf sein Schwert und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Dann fuhr er herum, überblickte die Lage und rief: »Worauf wartet ihr? Zu Shezad!« Er rannte los, ohne Fackel ins Dunkel hinein. Mythor fing das Licht auf, das No-Ango ihm zuwarf, und folgte ihm. Bei der Treppe holte er den Heymal ein, als dieser sich von einem 72
Sturz aufraffte. Seite an Seite rannten sie die Stufen hinauf, hinter ihnen Sadagar, No-Ango und Hrobons Krieger. Außer Atem erreichten sie den verlassenen Raum, in dem Shezad untergebracht worden war. »Sie ist fort!« schrie Hrobon. »Nach draußen!« Nur wenige Atemzüge später waren sie aus dem Turm heraus. Hrobon blieb stehen, unfähig, einen Laut über die Lippen zu bringen. Mythor sah die dunklen Gestalten zwischen den Fackeln auf der Mauer, die knöchernen Helme und die aus Stein gewachsenen Schwerter -und den Rücken eines Yarls, auf dem, von vielen Lichtern erleuchtet, etwas saß, was ihm den Verstand zu rauben drohte. Hrobons Stimme war nur mehr ein Hauchen, als er bebend hervorstieß: »Prinz Odam! Prinz Odam und sein Heer! Der Herrscher der Finsternis ist erschienen…!«
Prinzessin Shezad schlug die Augen auf. Ohne sofort zu begreifen, wo sie war und wie sie hierhergekommen war, blickte sie sich um. Sie richtete sich halb auf den kostbaren, dicken und anschmiegsamen Teppichen auf, die ihr als Liegestatt gedient hatten, auf denen sie geschlafen hatte… Geschlafen? Hatte sie wirklich nur geschlafen? Sie befand sich in einem großen, wunderschön eingerichteten Raum. Seidene Schleier teilten ihn, Teppiche spannten sich über die Decke und Wände, aus denen goldene Halter mit Öllampen herausragten. Mehrere edelhölzerne Stühle und Diwane mit kostbarem Schnitzwerk und samtenen Bezügen waren geschmackvoll auf den Raum verteilt. Auf einem flachen, ebenso kunstvoll gearbeiteten Tisch standen große Schalen mit Früchten, daneben silberne Pokale und tönerne Krüge. Schwere, purpurrote Tücher verhingen den einzigen, bogenförmigen Eingang. 73
Und der Boden, auf dem Shezad lag, bewegte sich. Es war ein stetiges Auf und Ab, durch die Teppiche gemildert. Die Prinzessin kam, etwas benommen noch, auf die Beine und atmete einige Male tief durch. Die Luft war voller unbekannter Wohlgerüche, dazu angetan, die Sinne zu berauschen. Doch plötzlich wußte Shezad wieder, weshalb sich der Boden bewegte. Sie schrak zusammen. Ihre Beine gaben nach, und sie ließ sich auf den nächsten Diwan fallen. Die Krieger mit den versteinerten Gesichtern und ebensolchen Waffen. Die Fackeln, die sich von der Mauer gelöst und zu einer Prozession formiert hatten, die sie zu diesem Palast geleitete – dem Palast auf dem Rücken eines der vor dem Schattenturm wartenden riesigen Yarls. Es war das größte dieser wahrhaft gigantischen Tiere gewesen, mit mehr als zwei Dutzend Beinpaaren und einem dreieckigen Schädel, der allein Platz für ein Haus geboten hätte. Shezad zitterte, als sich ihr diese Bilder wieder aufdrängten. Die Fackeln hatten die Nacht zum Tag gemacht. Weitere Lichter erhellten den Palast, ein beeindruckendes Gebäude von rechteckiger Grundform. Jene Seite, die ihr zugekehrt gewesen war, mochte gut und gerne hundert Fuß lang sein. Mehr als halb so hoch waren die Türmchen mit ihren golden schimmernden Spitzdächern, die die kunstvoll abgeschlossenen Mauern überragten. Doch was Shezad hatte an ihrem Verstand zweifeln lassen, war, daß dieser ganze Palast wie aus dem Rückenpanzer des Yarls herausgewachsen war. Wie im Traum war sie die steinernen Stufen hinaufgeschritten, die zu einem riesigen Tor führten, das weit offenstand für sie – und nur für sie. Die finsteren, unheimlichen Krieger hatten ihr durch Gesten den weiteren Weg gewiesen. Kein einziger von ihnen sprach zu ihr. Als sich die Portale hinter ihr schlossen, war sie allein gewesen, hinter Mauern in einem kleinen Innenhof, dessen 74
Wände wahrhaftig aus Stein gewachsen waren – gewachsen wie die Helme der Krieger und ihre mächtigen Schwerter, wie die schlackeartigen Steingebilde auf den Gesichtern ihrer eigenen Begleiter. Der gesamte Palast war aus Goldenem Staub gewachsen. Shezad streckte den Arm aus und schob einen Wandteppich zur Seite, bis ihre Finger über den von feinen Rillen durchzogenen Stein fuhren. Entsetzen ergriff sie. Sie wollte schreien, hatte jedoch Angst vor jenem, der sie hören mochte, wollte fliehen und glaubte, allein der Gedanke an den, dem sie in die Arme laufen mochte, müßte sie ersticken. Prinz Odam, der legendenumwobene Herrscher der Düsterzone. Er hatte sein Reich verlassen, um sie zu sich zu holen. Wer hatte ihn gerufen? Garram? Nur so konnte es sein. Und niemand anders als ihr leiblicher Vater hatte ihm den Auftrag dazu erteilt. Niemals war es seine Absicht gewesen, sie wirklich nach Logghard zu schicken. Shezad konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie schüttelte sich in Weinkrämpfen, schlug in ohnmächtiger Wut auf den Diwan. Ihr Vater, der großmächtige Shallad Hadamur, suchte den Pakt mit Prinz Odam -und als Preis dafür schenkte er ihm seine Tochter. Es war wahrhaftig so! Aber warum zeigte Odam sich nicht? War er draußen bei seinen Kriegern oder hier im Palast? Wartete er darauf, daß sie zu ihm kam – aus freien Stücken? Lieber wollte sie hier elendig verschmachten. Ihr Blick fiel wieder auf die Schalen mit den Früchten, die Pokale und Kannen. Dazwischen brannten Kerzen auf wertvollen Ständern. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß, wer immer dies für sie hergerichtet hatte, es mit großer Sorgfalt getan hatte. Und die Krieger, bevor sich die Portale hinter ihr schlossen, waren nicht roh zu ihr gewesen. Im Gegenteil – sie hatten sie behandelt wie eine… Göttin? 75
Was war danach mit ihr geschehen? Was hatte sie in diesen Schlaf versetzt, aus dem sie erst hier wieder erwachte? Was hatte sich ereignet, während sie schlief? Plötzlich hörte sie ein Geräusch wie von leisen Schritten. Ihr Kopf fuhr herum, und gerade sah sie noch, wie der Stoff der Vorhänge am Eingang schnell zurückgeschoben wurde. Eiseskälte griff nach ihrem Herzen. Sie sprang auf, stand zwei, drei Atemzüge lang zitternd vor dem Diwan, darauf gefaßt, den schrecklichen Prinzen leibhaftig erscheinen zu sehen. Doch nichts geschah. Alles blieb ruhig. Erst jetzt wurde sie sich der vollkommenen Stille bewußt, die sie umgab. Nicht einmal das Mahlen und Stampfen der Beine dieses Yarls war zu hören, der den Palast mit Sicherheit schon der Düsterzone entgegentrug. Die Prinzessin schlug die Hände vor die Augen, taumelte rückwärts, bis sie wieder auf dem Diwan saß und weinte. Wie konnte ihr Vater ihr dies antun? Der Gedanke war fast schlimmer als die Furcht vor dem, was auf sie wartete. Und was war Hrobon, Mythor und den anderen zugestoßen? Hatten auch sie durch die Krieger des Prinzen ihr Ende gefunden, oder irrten sie weiter durch den Turm, vielleicht schon auf der Suche nach ihr? Hatte Hrobon von ihres Vaters Absicht gewußt? Es gab niemanden, der ihr diese und die anderen Fragen beantworten konnte, die sie peinigten. Shezad hatte plötzlich einen Pokal in der Hand, gefüllt mit wohlriechender, bernsteinfarbener Flüssigkeit. In einer Aufwallung von Trotz trank sie, leerte den Becher bis zur Hälfte, ließ die angenehm kühle und wohlschmeckende Flüssigkeit ihre Zunge umspülen. Aber was tat sie? War sie von Sinnen? Wenn sie wahrhaftig diesen Palast mit Odam teilte – und nur mit ihm –, wer anders als er konnte ihr Früchte und Getränke bereitgestellt haben? Sicher lag ihm nichts daran, sie zu 76
vergiften. Doch mußte sie nicht fürchten, daß er sie durch Zaubertränke gefügig zu machen trachtete? Mit einem Laut des Entsetzens warf sie den Pokal weit von sich. Sein Inhalt ergoß sich über einen Teppich und färbte ihn dunkel. Shezads Finger krampften sich um die Lehnen. Mit heftig klopfendem Herzen wartete sie darauf, daß der Trank seine Wirkung tat. War sie bereits verzaubert? Sie zwang sich zur Ruhe und lauschte tapfer in sich hinein. Sie verspürte eine angenehme Wärme in sich, doch das war schon alles. Sie konnte die Ungewißheit nicht länger ertragen. Shezad sprang auf und lief zitternd auf die Vorhänge zu, teilte sie und war darauf vorbereitet, Odam direkt ins Gesicht zu sehen. Doch auch der Raum, in den sie nun blickte, war leer. Weitere verhangene Durchgänge führten tiefer in den Palast hinein. Überall sah sie die gleiche Pracht. Und doch war Odam hiergewesen, hatte sie scheu beobachtet. Und er war auch in diesem Moment in der Nähe. Sie spürte es, spürte seine Ausstrahlung, als stünde er direkt neben ihr. Doch kein Grauen schüttelte sie. Was sie so eindringlich fühlte, war nicht der Hauch des Bösen, Finsteren. Etwas berührte sie tief in ihrer Seele. Sie wußte nicht zu sagen, was es war, und sträubte sich dagegen. Doch ihre Neugier war geweckt. Was war an Odam, daß er sich vor ihr verbarg? Er hatte doch die Macht, sie zu nehmen, auch gegen ihren Willen. Er brauchte sie nicht durch Zaubertränke gefügig zu machen. Shezads Furcht schwand in dem Maße, in dem die Neugier von ihr Besitz ergriff. Langsam, bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie weiter, durchquerte auch diesen Raum und gelangte in ein Gemach, in dessen Mitte ein riesiges, prunkvoll verziertes Bett stand, über dem sich ein purpurner Baldachin spannte. Schleier aus blütenweißer Seide verbargen den Blick auf das, was sich unter dem Baldachin verbarg. 77
Shezad zögerte. Was mochte sie finden, wenn sie den Schleier teilte? Odam selbst? Wartete er dort auf sie, um sie in seine Arme zu schließen? Wieder griff das Entsetzen nach ihr. Sie zitterte am ganzen Leib, doch sie floh nicht diesen Ort. Sie mußte wissen, was die Schleier verbargen. Lieber das als das lange, quälende Warten, an dessen Ende der Irrsinn lauerte. Ihre Hände berührten den feinen Stoff. Noch einmal holte sie tief Luft. Dann zog sie die Schleier auseinander. Das Bett war leer. Kostbare Tücher bedeckten die Liegestatt, die eines Prinzen und. seiner Prinzessin wahrhaftig würdig waren. Nicht einmal im Palast ihres Vaters hatte sie etwas Ähnliches gesehen. Ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. Ihre Hände strichen leicht über den weißen Stoff – und fühlten etwas Hartes. Shezad schrak zusammen. Ein spitzer Schrei entrang sich ihren Lippen. Erst jetzt sah sie, daß die Laken an einer Stelle leicht gewölbt waren. Sie zögerte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und betastete die Wölbung. Ein Verdacht stieg in ihr auf, und mit einem Ruck zog sie die Laken zurück. Vor ihr lag eine Gesichtsmaske, deren Innenseite ihr zugekehrt war. Und der Prinzessin stockte der Atem, als sie das Gesicht sah, das darin abgebildet war. Sie nahm die Maske in ihre Hände und betrachtete das Gesicht genauer. Es war edel, von unglaublicher Schönheit und Klarheit. Sollte dies ein Abbild von Odams Antlitz sein – des Fürsten der Finsternis, über den so schreckliche Dinge erzählt wurden? Etwas strahlte von der Maske aus, berührte Shezad tief in ihrem Innern. Plötzlich war ein Gefühl von grenzenloser Einsamkeit in ihr, von Kummer und Leid. Sie versuchte, es abzuschütteln, führte es auf den Genuß des Trankes zurück, doch etwas sagte ihr, daß sie lediglich versuchte, das Offenkundige von sich fernzuhalten. Ihre Blicke versenkten sich in das Abbild dieses edlen Gesichts, und die Maske schien 78
die Angst aus ihr herauszuziehen. Mitleid erfüllte sie, und sie suchte nicht länger dagegen anzukämpfen. Plötzlich hatte sie nur noch den Wunsch, den Mann, dessen Einsamkeit sie in Fländen hielt, zu sehen. Sie rief seinen Namen.
Mythor war unfähig, den Blick von dem Yarl zu wenden, der sich riesig und majestätisch hinter der Mauer dahinschob, langsam auf die finstere Wand im Süden zu, die das Licht der Sterne schluckte. Auf dem Rücken des Tieres ruhte ein Palast, wie Mythor noch keinen gesehen hatte. Und er wußte, daß es keinen anderen Ort gab, an dem sich Shezad befinden konnte. Hrobons Schrei riß ihn aus seiner Erstarrung. Plötzlich tauchten Krieger mit beinernen Gesichtshelmen überall auf, schälten sich aus der Dunkelheit und schienen aus dem Boden selbst herauszuwachsen. Jene, die auf der Mauer standen, stürmten herab und warfen sich Hrobon entgegen, als er mit den ihm verbliebenen Kriegern versuchte, durch den Torbogen zu entkommen. No-Ango stand neben Sadagar, schweigend wie immer, die Schleuder in der halb erhobenen Hand. Der Steinmann blickte Mythor entsetzt an. Wortlos verständigten die Gefährten sich, als Hrobons Männer und die Krieger aus der Düsterzone beim Torbogen aufeinanderprallten. Sadagars Messer blitzten im Schein der Fackeln auf, flogen wie Funken durch die Nacht und fanden ihr Ziel. No-Ango kämpfte mit seinem Gehstock, schwang ihn oder gebrauchte ihn wie eine Lanze, als die Gegner so nahe waren, daß seine Schleuder nutzlos wurde. Mythors Beuteschwert durchschnitt die Luft. Die drei Freunde kämpften sich heldenhaft bis zu Hrobon durch, doch überall waren die Krieger des Prinzen. Rücken an Rücken mit dem Heymal versuchte Mythor, sich 79
die Gegner vom Leibe zu halten. Er erinnerte sich, in Horai davon reden gehört zu haben, daß in der Düsterzone »die Schwerter wachsen«. Jetzt begriff er den Sinn dieser Worte, als die Krieger mit ihren gerillten und gezackten Klingen aus Stein auf ihn eindroschen. Mit dem Krummschwert waren sie kaum abzuwehren. Beide Vogelreiter Hrobons fielen unter gewaltigen Schlägen, doch die Ausgeburten der Finsternis töteten nicht. Sie wollten sie lebend haben. Auch Hrobon erkannte dies und kämpfte noch verbissener. Der Kampf verlagerte sich wieder zum Schattenturm hin. Der Ring der Gegner zog sich immer enger um die verzweifelt sich Wehrenden zusammen. Hrobon schrie und fluchte. Mythor schlug um sich wie eine Wildkatze, duckte sich, um den schrecklichen Schlägen zu entgehen, und sprang vor, wenn er eine Lücke fand. Sein Schwert prallte vom Gesichtshelm eines Angreifers ab wie von einem Schild. Gespenstische Schatten schienen die Zahl der Krieger noch zu verdoppeln. Die Übermacht war zu groß. Mythors kleines Häuflein stand von vornherein auf verlorenem Posten. Als auch Sadagar von einem mit flacher Klinge geführten Streich gefällt wurde, warf Mythor sein Schwert von sich und riß die Arme zum Zeichen seiner Aufgabe in die Höhe. Hrobon sah es und schrie vor Zorn, doch das Steinschwert, das ihm im nächsten Augenblick auf den Schädel herabgefahren wäre, sank herab. »Wirf die Waffe weg!« flüsterte Mythor dem Heymal zu. »Schnell!« »Niemals!« schrie Hrobon. »Ich wußte, daß du ein Verräter bist!« »Unsinn! Tot nützen wir der Prinzessin nichts mehr. Wir können nur hoffen, sie zu befreien, wenn wir uns gefangennehmen und auf einen der Yarls bringen lassen!« Der Vogelreiter stieß laut die Luft aus. Dann, mit einem Aufschrei, schleuderte er sein wertvolles Schwert einem 80
Krieger vor die Füße. Die erhobenen Schwerter wurden gesenkt. No-Ango ließ sich widerstandslos entwaffnen. Die Gefährten waren von einem undurchdringbaren Wall aus Leibern umgeben. Mythor sah in versteinerte Gesichter, in denen dunkle Augen blitzten. Kein Wort kam über die Lippen der Sieger. Allein durch Gesten machten sie den Unterlegenen klar, was sie von ihnen erwarteten. Mythor und Hrobon nahmen jeweils einen der bewußtlosen Vogelreiter auf ihre Arme, und Hrobon bedachte den Sohn des Kometen mit undeutbaren Blicken. No-Ango trug den Steinmann. Auch er sprach kein Wort mehr, als sie Stöße in den Rücken bekamen und durch den Torbogen marschierten, auf einen der wartenden Yarls zu. Von jenem, der den Palast trug, war nichts mehr zu sehen. In einer schweigenden Prozession führten Odams Krieger ihre Gefangenen zu Leitern, über die sie auf den Rücken des Yarls klettern mußten. Oben erwarteten sie andere Männer mit versteinerten Gesichtern und Schwertern. Das Licht der Fackeln reichte aus, um Mythor erkennen zu lassen, daß ihre Hände und Beine, die seltsamerweise vom Goldenen Staub verschont geblieben waren, von unterschiedlicher Farbe waren. Das gleiche galt für ihre Kleidung. Odams Heer rekrutierte sich aus Männern unterschiedlichster Herkunft. Und nicht gering war Mythors Erstaunen, als er sah, daß auch die Wehren und Unterkünfte auf den Rücken der Yarls aus Stein gewachsen waren. Es war, als ob er eine neue, grauenvolle und doch faszinierende Welt betrat. Der Gedanke daran, daß diese finsteren Krieger es verstehen mochten, das Schlackewachstum regelrecht zu steuern, und ihre Waffen und Bauten von ihm formen ließen, drohte ihm die Kehle zuzuschnüren. Mythor, Hrobon, No-Ango und die Bewußtlosen wurden in einen Raum gebracht – ein finsteres Verlies, dessen schwere 81
Tür hinter ihnen zugeschlagen wurde. Sie sanken kraftlos zu Boden und legten Sadagar und die beiden Vogelreiter ab. Draußen entfernten sich schwere Schritte, und das Auf und Ab des kahlen Steinbodens zeigte nur zu deutlich an, daß der Yarl sich in Bewegung setzte. Es fiel nicht schwer, zu erraten, wohin.
Nur durch einen schmalen Spalt unter der Steintür drang fahler Lichtschein, und es dauerte eine Weile, bis die Augen der Männer sich so weit daran gewöhnt hatten, daß sie sich gegenseitig sehen konnten. Hrobon saß mit verschlossenem Gesicht an einer Wand und blickte Mythor finster an, doch er machte ihm keine Vorwürfe. Insgeheim mochte er längst erkannt haben, daß der Gegenspieler das einzig Richtige getan hatte. Und er wirkte zerschmettert, gerade so wie ein Mann, dessen Weltbild zutiefst erschüttert worden war und der sich dennoch daran klammerte. Mythor empfand Mitleid für ihn. Er versuchte sich vorzustellen, was nun in Hrobon vorging, hütete sich jedoch davor, ihn auf den Shallad anzusprechen. Mythors Backenmuskeln schmerzten, und die Gesichtshaut brannte. Seltsamerweise war No-Ango von den Staubablagerungen und der anschließenden Schlackebildung vollkommen verschont geblieben. Mythor schrieb es seinem »gespaltenen Gesicht« zu. Er selbst litt immer stärker unter dem harten Überzug. Das Sprechen bereitete Qualen, was ihm im Turm kaum bewußt geworden war. Ein Hoffnungsschimmer war lediglich, daß es hier im Verlies keinen Staub gab. No-Ango hatte nur einmal sein Schweigen gebrochen und erklärt, daß der Goldene Staub nur in einem begrenzten Gebiet rings um den Schattenturm auftrete. Doch 82
was nützte ihnen das, wenn sich die Ablagerungen nicht entfernen ließen? Zwar bildeten sie noch keinen vollständigen Überzug, doch es war zweifelhaft, daß sie sich ablösen ließen, ohne daß der Befallene daran Schaden nahm. Sadagar und die beiden Krieger waren inzwischen wieder bei Bewußtsein. Außer Platzwunden am Kopf wiesen sie keine Verletzungen auf. Hrobon war es, der endlich das Schweigen brach. »Wir sitzen fest«, knurrte er, doch kein Haß war mehr in seiner Stimme, als er sich an Mythor wandte. Dieser abgrundtiefe Haß schien im gleichen Maße dahingeschwunden zu sein wie der unerschütterliche Glaube an den Shallad als fleischgewordenen Lichtboten. »Wir leben, aber wie sollen wir der Prinzessin helfen? Vermutlich trennt uns nicht nur diese Tür von ihr, sondern ein Heer von Odams Kriegern, die vor ihr Wache halten.« Mythor fühlte sich seltsam berührt, als er den Heymal so zu sich sprechen hörte – wie zu einem Waffengefährten. »Wir sind in ihrer Nähe«, sagte er. »Und solange das so ist, besteht Hoffnung. Wohin sie auch gebracht wird, wir folgen ihr.« »Ja«, murmelte Hrobon bitter. »Falls sie noch lebt.« Mythor schüttelte energisch den Kopf. »Die Krieger hätten uns töten können. Sie taten es nicht. Sie waren nicht einmal grausam zu uns, eben nur… bestimmt.« »Sie sind Werkzeuge der Dämonen!« fuhr Hrobon auf. »Ausgeburten der Düsterzone – wie ihr dreimal verfluchter Herr!« »Aber sie wirken…« Mythor fand nicht die Worte, die er suchte. Wie oft hatte er versucht, sich jene Geschöpfe vorzustellen, die die Düsterzone bevölkerten? So schrecklich Odams Heer auch anzuschauen war, Mythor rief sich die Dämonenpriester der Caer ins Gedächtnis, die Schreckensbilder der Schlacht von Dhuannin und die 83
Grausamkeiten, mit der die Horden von der Insel gewütet hatten. Konnte er sich Odams Krieger an ihrer Stelle vorstellen? »Nicht grausam!« kam es anklagend von Sadagar. »Hättest du meine Beule, du würdest auch anders reden.« »Mag sein«, gab Mythor zu. »Hrobon, wir müssen einen Weg finden, Shezad aus der Gewalt des Prinzen zu befreien. Alles andere hat dahinter zurückzustehen.« »Und wie?« »Die Krieger töteten uns nicht. Das heißt, daß sie Pläne mit uns haben. Sie werden uns Nahrung und Trank bringen, wenn ihnen an Leichen nichts gelegen ist. Dann versuchen wir einen Ausbruch.« »Pläne?« fragte Sadagar schnell. »Mythor, was meinst du damit?« »Daß sie alle verschieden aussehen«, antwortete Hrobon für ihn. »Daß sie vielleicht selbst Opfer des Prinzen wurden und nun ihm dienen müssen. Das meint er damit.« Sadagar wich entsetzt zurück. »Hört auf, euch darüber Gedanken zu machen«, sagte Mythor. »Wir warten, bis jemand erscheint, oder helfen nach.« »Hoffentlich geschieht das bald«, knurrte Hrobon. »Bevor wir die Düsterzone erreichen.«
Sie rief nach Odam, doch nur Schweigen war die Antwort. Shezad preßte die steinerne Maske an ihre Brust, als sie von der Liegestatt zurücktrat und sich unsicher umsah. Sollte sie zurück in den für sie hergerichteten Raum gehen und dort warten? Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, daß Odam sich vor ihr zu verbergen suchte. Er hatte sie beobachtet und war geflohen, als sie seine Anwesenheit bemerkte. Der Gedanke war schwer vorstellbar. Odam, der 84
mächtige Prinz Odam, floh vor einer Wehrlosen, die seine Krieger ihm gebracht hatten – auf sein Geheiß? Warum? Weshalb verbarg er sich? Um ihr seinen Anblick zu ersparen? Er hatte seine Gesichtsmaske verloren. Dennoch lebte er. Sah er dann so aus wie Jehaddad, nachdem Hrobon dessen Maske entfernen ließ? Oder vielleicht noch schlimmer? Immerhin mochte er die Ablagerungen viel länger zu erdulden gehabt haben. Shezad hatte keine Angst mehr vor ihm. Wieder spürte sie seine Nähe. Sie zögerte nicht mehr und betrat weitere Gemächer, lange, prachtvoll ausgekleidete Flure und Treppen, die zu den Türmen hinaufführten. Manchmal glaubte sie, daß Odam ganz nahe war. Dann wieder meinte sie zu spüren, wie er sich von ihr entfernte. Als sie eine Turmkammer betrat, erstarrte sie. Mehrere Fackeln in Wandhalterungen beleuchteten ein halbes Dutzend auf dem Boden liegender Masken, die alle das gleiche Gesicht zeigten. Doch wie hatte es sich verändert! Shezad ging zögernd darauf zu und bückte sich, um eine nach der anderen aufzuheben und zu betrachten. Die Gesichter waren unterschiedlich alt. Zwei Masken zeigten das gleiche junge Gesicht wie jene, die Shezad im Schlafgemach gefunden hatte, auf der dritten Maske war es bereits älter und verfallener, und auf den restlichen waren die edlen Züge kaum noch zu erkennen. Die Prinzessin ahnte die schreckliche Wahrheit, als sie die steinernen Zeugnisse genau an jene Stellen zurücklegte, von denen sie sie genommen hatte. Odam war nicht nur einmal Opfer des Goldenen Staubes geworden, und nicht nur einmal hatte er sich vom Stein auf seinem Gesicht befreien können. Er tat es immer wieder, wenn ihm eine neue Maske gewachsen war. Welche Qualen mußte dieser Mann erleiden, dazu verdammt, niemals zur Ruhe zu kommen, nie seinen Frieden 85
zu finden. Darum wich er ihr aus. Deshalb wollte er nicht, daß ihn jemand so sah, wie er wirklich war – niemand außer jenen Kriegern, die sein schreckliches Schicksal teilten. Shezad versuchte sich vorzustellen, wie der Prinz nun aussah, da sein Gesicht so oft vom Staub zerfressen und beim Ablegen der Masken wund gerissen worden war. Sie empfand keinen Abscheu dabei. Im Gegenteil, das Gefühl wurde immer stärker, es mit einem einsamen, bedauernswerten Geschöpf zu tun zu haben, mit einer armen Seele, die hungrig war nach… Liebe? Shezad setzte sich auf eine Truhe und blickte aus einem der winzigen Fenster der Turmkammer in die Nacht hinaus. Zu beiden Seiten des Yarls stampften nun andere dieser großen Tiere. Eine ganze aus Stein gewachsene Stadt schob sich der noch fernen Düsterzone entgegen, Odams Reich. Oder war auch dies nur Gerede? War Odam gar nicht der mächtige Herrscher, als der er galt? Zwang ihn etwas dazu, den Dunklen Mächten zu dienen, gegen seinen Willen? Liebe, Liebe und Zärtlichkeit… Shezad wischte sich die Tränen aus den Augen, wobei ihre Finger erste Anzeichen beginnender Steinbildung fühlten. Auch das schreckte sie nicht mehr. Irgendwo in diesem Palast wanderte ein Mann rastlos umher, der tausendmal Schlimmeres zu erdulden hatte. Aber er hatte die Düsterzone verlassen, um sie zu holen, jetzt, da die Mächte der Finsternis alles in den Kampf um Logghard warfen. Ihretwillen schien er bereit zu sein, auf den Kampf zu verzichten. Hätte Gold dies bewirken können, ihr Vater hätte ihn mit Schätzen überschüttet. Er wollte sie, eine Gefährtin. Er behandelte sie wie eine zarte Blume, deren Schönheit dahinwelken mußte, wenn sie ihn sah. Er hatte die Macht, sie rücksichtslos zu nehmen. Doch er tat es nicht. Lieber schien er auf sie verzichten zu wollen, als sie dem 86
Schrecken seines Anblicks preiszugeben. Wieviel Sanftheit, wieviel Güte mußte im Herzen eines solchen Mannes wohnen? Er war nicht der Unhold, nicht die reißende Bestie aus den Legenden. Die Prinzessin hielt noch die Maske aus dem Schlafgemach in ihren Händen. Nun betrachtete sie sie erneut, bevor sie sich erhob und die Treppenstufen hinabschritt. Plötzlich wußte sie, daß er auf sie wartete. Sie konnte nicht sagen, woher. Das Wissen war in ihr, mehr als bloßes Gefühl. Qualen und Leid vieler Jahre umgaben sie, eingewachsen in den Stein der Mauern. Unendliche Sehnsucht eines Einsamen nach einem Menschen, der ihn verstehen konnte. Shezad ging den Weg zurück, den sie gekommen war, folgte der unsichtbaren Fährte bis zum für sie hergerichteten Gemach. Vor den Vorhängen blieb sie stehen, wissend, daß es nicht zu spät zur Umkehr war. Wenn sie nun kehrtmachte, dessen war sie sicher, würde Prinz Odam seinen Kriegern befehlen, sie zum Salzspiegel zurückzubringen. Sie preßte die Maske gegen die Brüste und schlug den schweren Stoff zurück. Prinz Odam stand vor ihr, eine hochgewachsene, eindrucksvolle Gestalt in rotem Umhang, der ihm bis zu den Füßen reichte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch so, wie sie seine Ausstrahlung spürte, fühlte er, daß sie zurückgekommen war. Die Lampen und Kerzen beschienen ein helmartiges Gebilde aus dem bekannten Schlackestein, grau und schwarz, an einigen Stellen golden funkelnd. Shezad war völlig ruhig, als sie den Raum betrat und den Vorhang hinter sich schloß. Ihr Herz klopfte, doch ihre Hände zitterten nicht. »Mein Prinz…«, flüsterte sie. Odam schien noch zu wachsen. Er tat einen tiefen Atemzug. Dann hörte sie ihn seufzen, und in diesem Laut lagen Welten. Er drehte sich um. 87
Die Gelegenheit kam früher, als Mythor zu hoffen gewagt hatte. Als sich die schweren Schritte nahten, wußte jeder, was er zu tun hatte. Mythor und Hrobon verständigten sich durch Blicke. Der Heymal nahm seine beiden Krieger und führte sie zur Wand gleich hinter der steinernen Tür. Mythor, Sadagar und No-Ango warteten. Der Steinmann hatte in letzter Zeit kaum ein Wort gesprochen. Mythor brachte ein Grinsen zustande und legte ihm eine Hand auf die Schulter, rüttelte ihn leicht und flüsterte: »Nur Mut, Sadagar. Wir stecken nicht zum erstenmal in der Klemme.« »Ja«, gab der Steinmann ebenso leise zurück, den Blick starr auf die lür gerichtet. »Aber nie in einer solch verflixten Klemme! Und dieser Zwerg Nadomir läßt mich im Stich!« Natürlich war dem nicht ganz so. Beide wußten es. Die Krieger waren heran. Im Spalt unter der Tür waren die Schatten ihrer Stiefel zu sehen. Ein schwerer Riegel wurde knirschend zurückgeschoben. Stimmen waren undeutlich zu hören. Zum erstenmal überhaupt hörte Mythor die Krieger Odams sprechen. Sie konnten es also, im Gegensatz zu Jehaddad. Woher sie immer kommen mochten, welch grausames Los sie hierher verschlagen hatte oder ob sie hier ansässig gewesen waren und nicht mehr vor der sich ausbreitenden Düsterzone fliehen konnten – sie hatten sich angepaßt, um zu leben. Mythor fragte sich, wie sehr er darauf bauen konnte, daß sie ihn und die anderen weiterhin »nur« wie Gefangene behandeln würden. Vielleicht hatte Odam ihnen neue Befehle gegeben. Er konnte und wollte nicht das geringste Risiko eingehen. 88
Kräftige Arme rissen die Tür nach außen auf. Knirschend schleifte Stein auf Stein. Drei große Gestalten zeichneten sich dunkel gegen den aus dem Gang kommenden Fackelschein ab. Mythor, zum Sprung bereit auf dem Boden kauernd, erschauerte. Vergeblich versuchte er, gegen das Licht etwas von den Kriegern zu erkennen. War einer von ihnen gar Odam selbst? Er atmete auf, als ein weiterer Krieger erschien und das Verlies mit einem großen Bottich betrat. Er brachte Wasser. Mythor sah aus den Augenwinkeln, wie Hrobon und seine beiden Männer sich eng an die Wand drückten, Schatten nur. Er legte Sadagar wieder die Hand auf die Schulter, um ihn am Boden zu halten. No-Ango saß wie zu Stein erstarrt. Waren die Augen der Krieger so gut an Dunkelheit gewöhnt, daß sie erkannten, daß nur drei ihrer Gefangenen vor ihnen waren? Mythor wagte nicht zu atmen. Alle Muskeln gespannt, wartete er, bis der, der mit beiden Händen den Bottich trug, bis auf drei, vier Fuß an ihn heran war und sich bückte, um den schweren Behälter abzusetzen. Was, wenn nun Dutzende von Kriegern noch draußen standen? Mythor zauderte nur einen Herzschlag lang. Dann richtete die dunkle Gestalt vor ihm sich auf, als ein Geräusch von dort zu hören war, wo die Vogelreiter sich verbargen. Mythor schnellte sich in die Höhe. Mit einem Satz erreichte er den Krieger, stieß ihm die Beine unter dem Leib weg, während er ihm gleichzeitig die Arme um den Hals schlang. Der Mann fiel schwer. Mythor preßte ihm die Hand vor den Mund und zerrte ihn tiefer ins Verlies hinein. Sadagar und No-Ango sprangen auf, wie um die drei zu empfangen, die jetzt vorstürmten, um ihrem Kameraden beizustehen. Die beiden ließen sie ins Leere laufen, und Hrobon löste sich mit seinen Männern aus den Schatten. Bevor auch nur ein Schrei ertönte, verfuhren sie mit ihren Gegnern so wie Mythor mit 89
dem seinen. Durch Faustschläge waren sie nicht zu betäuben, doch Mythors Finger fanden des Kriegers Kehle und drückten ihm den Atem ab, bis er schlaff in seinem Griff zu Boden sank. Sadagar und No-Ango standen im Eingang des Verlieses und winkten, daß der Gang verlassen sei. Hrobon hielt seinen Gegner in eiserner Umklammerung. Der Mann schlug um sich und trat, doch schließlich sank auch er bewußtlos zu Boden, gleich darauf gefolgt von den beiden übrigen. Mythor, Hrobon und No-Ango entwaffneten sie und verteilten die steinernen Schwerter. »Kommt endlich!« flüsterte Sadagar erregt. Er schwitzte, wo die Poren noch offen waren. Mythor ließ die Vogelreiter an sich vorbei auf den Gang laufen, warf den Bewußtlosen einen letzten Blick zu und verließ als letzter den Kerker. Zusammen mit Hrobon stieß er die Steintür zu und legte den Riegel vor. »Die vier schlafen eine Weile«, flüsterte er. »Dort entlang!« Sie hatten sich den Weg gemerkt, jede Treppe und jede Biegung, um die sie geführt worden waren. Die schweren Steinschwerter in den Fäusten, bewegten sie sich so leise wie möglich, hinter jedem Winkel konnten Feinde lauern. Niemand stellte sich ihnen entgegen. Unangefochten erreichten sie den Ausgang des gewachsenen Bauwerks und spähten hinaus auf den riesigen Rücken des Yarls. »Deshalb also«, flüsterte Hrobon. »Darum waren die Gänge verlassen.« Mythor, der bereits geargwöhnt hatte, in eine Falle zu laufen, nickte grimmig, als er die Krieger um ein großes Feuer herum sitzen sah, trinkend und eine schaurige Melodie summend, als ob sie ein finsteres Ritual vollzögen. Die versteinerten Gesichter der Männer schienen im Schein der brennenden Scheite zu glühen. Ihre Schatten wanderten über die mannshohen Mauern, die den Rücken des Yarls begrenzten. Mythor zog Hrobon in den Schatten des Eingangs zurück, als 90
der Heymal den Kopf zu weit vorstreckte. Schweigend deutete er auf den Yarl, der nur einen guten Steinwurf entfernt durch die Nacht stampfte. »Der Palast«, flüsterte Hrobon fast ehrfürchtig. »Unser Ziel.« Mythor schätzte, daß alle Bewohner dieser wandernden Festung, auf der sie selbst sich befanden, um das Feuer versammelt waren – ausgenommen jene im Verlies. Es blieb die Frage, wie man ungesehen an ihnen vorbei und über die Mauer kam. Erst dann konnte er sich Gedanken darüber machen, wie der Palast zu erreichen war. »Sie erwarten die vier zurück«, flüsterte er den Gefährten zu. »Hrobon, du, deine Krieger und ich haben in etwa ihre Statur. Wir gehen voran, als ob wir zu Odams Leuten gehörten. Sadagar und No-Ango, ihr haltet euch dicht hinter uns.« »Sie werden den Schwindel durchschauen«, protestierte der Steinmann. »Mythor, das ist verrückt!« »Sie sind berauscht, sieh doch hin. Oder hast du einen besseren Einfall?« »Nein«, gab Sadagar kleinlaut zu. »Hrobon?« »Wir versuchen es.« »Beeilen wir uns. Wir werden so tun, als habe etwas an der Mauer unsere Aufmerksamkeit erweckt. Dann…« Mythor stockte. Er kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt zu den im Kreis Sitzenden hinüber. »Was ist denn noch?« fragte Sadagar. »Dort liegt genau das, was wir brauchen werden«, flüsterte Mythor. »Ich sehe nichts. Wovon redest du?« »Später. Zuerst zur Mauer.« Hrobon nickte und gab seinen Kriegern ein Zeichen. Einer nach dem anderen traten sie ins Freie, Mythor voran, dann die Vogelreiter. Sadagar huschte aus dem Schatten und direkt 91
hinter Mythors Rücken, während No-Ango hinter Hrobon glitt und mit ihm zu verwachsen schien. »Bewegt euch normal, bei Quyl!« flüsterte Mythor. »Wir sind hier zu Hause!« Zwei der Krieger blickten auf und winkten ihnen zu, daß sie sich zu ihnen setzen sollten. Einer schwenkte einen großen Krug. Mythor und Hrobon verhielten sich so, als hätten sie ihr Vorgehen ein dutzendmal einstudiert. Sie taten so, als wollten sie sich in den Kreis setzen, gingen gerade so nahe heran, wie sie glaubten, es verantworten zu können, ohne daß der Feuerschein sie verriet. Dann blieben sie abrupt stehen und wandten sich der Mauer zu. »Was ist mit euch?« fragte der mit dem Krug. »Kommt, bevor der Wein zur Neige geht! Trinkt mit auf die Braut des Prinzen!« Mythor fragte sich, woher die Bewohner der Düsterzone an Wein kamen. Allenfalls von Beutezügen in fruchtbaren Gegenden. Er winkte ab und rief, indem er versuchte, die dunklen Stimmen der Krieger nachzuahmen: »Gleich! Mir war, als hätte ich etwas gehört. Wir sehen nach! Bleibt sitzen und hebt uns etwas auf!« Einen Augenblick drohte ihm der Herzschlag auszusetzen. Dann aber nickte der Krieger und wandte sich wieder dem Feuer zu. Seine Bewegungen waren schwerfällig, und seine Zunge war die eines Mannes, der nicht nur einen Krug zuviel getrunken hatte. »Was für ein Leichtsinn!« schimpfte Sadagar leise, als er sich schnell vor Mythor schob, während dieser sich umdrehte. »Halt endlich den Mund!« zischte Hrobon. Sie erreichten die Mauer. Mythor blickte sich nicht um. Seine Finger fuhren über den gewachsenen Stein. Er beugte sich vor und sah den dunklen Erdboden langsam vorbeiziehen. Die 92
Yarls – es mochten insgesamt an die zwanzig von ihnen sein, bewegten sich langsam genug, um abspringen zu können. Es war ein erhabenes Bild. Die mächtigen Tiere mit ihren gewachsenen Aufbauten schoben sich wie Berge durch die Nacht. »Klettert über die Mauer, schnell«, flüsterte Mythor. Die schaurigen Gesänge der Berauschten machten ein gegenseitiges Verstehen fast unmöglich. Doch solange die Krieger sangen, sprangen sie nicht zu ihren Waffen. »Und du?« fragte der Steinmann. »Du hast etwas vor, ich kenne diesen Blick!« »Klettert!« Er packte Sadagar unter den Achseln und schob ihn über den Stein. Hrobons Männer waren schon halb über die Mauer. Ihre Köpfe verschwanden im Dunkel dahinter. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze folgte ihnen der Heymal. »Wartet mit dem Absprung, bis ich bei euch bin!« flüsterte Mythor. Dann wandte er sich um, ohne eine Antwort abzuwarten. »He!« brüllte einer der Krieger am Feuer. »Wo sind die anderen?« »Etwas hängt am Panzer des Yarls!« rief Mythor mit verstellter Stimme. »Sie sehen nach, was es ist!« Der Berauschte schien sich damit zufriedenzugeben. Mythor packte den Griff des Steinschwerts fester, als er sich dem Kreis näherte. Diesmal würden sie ihn erkennen. Diesmal ging es um Augenblicke… Zwei Krieger rutschten ein Stück auseinander, um ihm Platz zu machen. Mythor ging zum Schein darauf ein, bis der Feuerschein sein helmloses Gesicht erhellte. Er sah, daß drei Krieger in maßlosem Erstaunen den Mund weit aufrissen. Bevor sie auf den Beinen waren, brachten ihn zwei gewaltige Sätze zu den Seilen, die aufgerollt hinter ihnen lagen. Er bückte sich blitzschnell, packte mit der Linken ein 93
Seil, während die Rechte das Schwert schwang. Die ersten Angreifer waren heran. Mythor warf sich das Seil über die Schulter und schlug zwei Berauschten die Schwerter aus den Händen. Andere drangen auf ihn ein. Er parierte die wuchtig geführten Schläge, fintierte und tauchte zwischen drei Kriegern hinweg, die sich von hinten auf ihn stürzen wollten. Plötzlich war Hrobon neben ihm und drosch auf die Verfolger ein. »Lauf!« schrie er Mythor zu. »Ich halte sie auf!« Mythor zögerte, hatte für einen Moment den Verdacht, daß der Heymal im Kampf den Tod suchte, nachdem er die bitterste Enttäuschung seines Lebens erfahren hatte, doch Hrobon stieß ihn von sich. Mythor lief zur Mauer, sah Sadagars Kopf ebenfalls erscheinen und warf ihm kurzerhand das Seil darüber. Hrobon kämpfte wie von Dämonen besessen, fällte einen Gegner nach dem anderen und wich nur langsam zurück. Mythor stürmte an seine Seite und sorgte dafür, daß die Krieger nicht in seinen Rücken kamen. Der Wein lähmte ihre Bewegungen. Ihre Schläge, so kraftvoll sie auch geführt waren, verfehlten meist ihr Ziel. Mythor schlug mit der flachen Klinge, während Hrobons Schwert tötete. Zorn erfaßte den Sohn des Kometen. Er stieß nun seinerseits den Heymal gegen die Mauer, ließ das Schwert auf die Helme seiner Bedränger schmettern und nutzte die so gewonnene Bewegungsfreiheit, um sich mit einem Satz auf den Mauersims zu bringen. Hrobon ergriff seine Hand und ließ sich hochziehen. Unter seinen Füßen schmetterte Stein gegen Stein. Sadagar, No-Ango und die beiden Vogelreiter halfen ihnen auf der anderen Seite herab. Wütende Schreie folgten ihnen, als sie zugleich in die Tiefe sprangen. Steinspeere flogen heran und verfehlten ihr Ziel. Der Yarl stampfte weiter. Die Fackeln in den Händen der Krieger, die nun wütend auf die Mauer 94
kletterten, reichten nicht mehr aus, um die Nacht dort zu erhellen, wo die Gefährten in die Dunkelheit flohen. Sie rannten, bis sie sicher sein konnten, nicht verfolgt zu werden. Vor ihnen türmte sich der von vielen Lichtern erhellte Palast des Prinzen Odam auf, der von seinem Yarl davongetragen wurde. Weitere Riesen rückten von hinten heran und drohten die sechs niederzustampfen, die sich nun zwischen ihnen vorkamen wie Zwerge. Doch sie waren schneller. Es kostete Mythor einige Überwindung, der finsteren Wand im Süden entgegenzulaufen, die nun zum Greifen nahe erschien. Immer knapper wurde der Abstand zum Palast, auf dessen Mauern sich zu aller Überraschung noch keine Krieger zeigten, obwohl das Wutgeschrei vom anderen Yarl weithin zu hören war. Zum erstenmal fragte sich Mythor, ob Odam sich allein im Palast aufhielt – mit der Prinzessin. Im Laufen nahm er dem Steinmann das Seil ab und knotete eine Schlinge hinein. Das Tuch, das er sich schon im Kerker vom Gesicht gerissen hatte, hing lose um seinen Hals. Die Zone des Goldenen Staubes schien hier zu Ende zu sein. Dennoch spürte Mythor, wie sich die Schlacke weiter in seine Gesichtshaut fraß. Riesig wuchs der Palast in die Höhe, ein lichterner Glanz von finsterer Schönheit. Mythor hörte Sadagar neben sich schnaufen und hoffte, daß die Gefährten so lange durchhielten, bis sie den Yarl erklettert hatten. Hrobon wirkte frisch. Seine Augen blitzten in der Dunkelheit. Endlich waren die sechs heran. Mythor blieb für einen Augenblick stehen, um sich zu vergewissern, daß keine Verfolger von den anderen Yarls abgesprungen waren und sie hetzten. Dann suchte er nach einem Vorsprung an den Palastmauern, um den er das Seil werfen konnte. Er fand ihn in einem aus einer niedrigen Mauer ragenden Zacken, der aufrecht in den Himmel wies. 95
Wieder rannte er los, gefolgt von Sadagar, No-Ango und den Vogelreitern. Darauf achtend, nicht zu nahe an die hinteren Beine des stampfenden Riesen zu kommen, schwang er das Seil über den Kopf und warf es im Laufen. Zweimal mußte er den Versuch wiederholen, bevor die Schlinge sich um den Vorsprung legte. Mythor half No-Ango als letztem auf den Rückenpanzer. Auf engstem Raum standen die Gefährten beieinander, zwischen scharfen Zacken, die wie Stacheln aus dem Panzer wuchsen, und niedrigen Mauervorsprüngen. Eine unheimliche Stille umfing sie. Vor ihnen ragten die Mauern des Palasts in die Höhe, und jenseits des Abgrunds zwischen den einzelnen Yarls standen Krieger mit Fackeln auf den wandernden Riesen, vor Entsetzen stumm geworden und gelähmt. »Weiter!« drängte Mythor. Er lief voran, übersprang gefährliche Vorsprünge und fand zu seiner Überraschung das Tor zu einem kleinen Innenhof weit offen. Es war aus Eisen, nicht wie erwartet auch aus Stein. Hrobon drängte an ihm vorbei in den Hof, das Schwert zum Schlag erhoben, doch niemand stellte sich ihnen in den Weg. Zögernd folgten die anderen. Die Stille, lediglich unterbrochen vom Stampfen der Yarls, legte sich lähmend auf ihre Glieder. Mythor atmete tief durch und sah sich um. Eine aus Stein gewachsene Treppe führte zu einem weiteren Portal, dem Eingang des eigentlichen Palasts. Es war geschlossen, doch nicht verriegelt. Als Mythor und Hrobon sich gemeinsam mit den Schultern dagegen warfen, gaben die beiden Flügel nach. Halb fielen die Männer in den hell erleuchteten, prunkvoll ausgestatteten Gang dahinter. Mythor winkte Sadagar, No-Ango und die Vogelreiter an sich vorbei, bevor er die Flügel hinter sich zustieß. Die Stille war nun vollkommen, und aus der Ahnung, nur Odam und 96
Shezad befänden sich im Palast, wurde Gewißheit. Keines Kriegers Fuß hatte diese kostbaren Teppiche jemals betreten und entweiht. Dies war allein Odams Reich. Deshalb also das hilflose Entsetzen der Krieger, und deshalb hatte niemand versucht, die Entflohenen zurückzuholen. Ein Mann wie Odam hatte die Macht, ihnen allein gegenüberzutreten und sie zu strafen für den Frevel, den sie begingen. Mythor zwang sich dazu, nur an Shezad zu denken. Wo war sie? Wo hielt der Herrscher der Düsterzone sie gefangen? »Wir bleiben zusammen«, sagte er. »Na… natürlich!« flüsterte Sadagar schnell, als hätten die Wände Ohren, ihn zu hören. »Was dachtest du?« Hrobon bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Er hielt Mythor zurück, als dieser voranschreiten wollte. »Ich war für die Sicherheit der Prinzessin verantwortlich«, knurrte er. »Und ich werde mich zum Kampf stellen.« Mythor gab keine Antwort. Er ließ den Heymal an sich vorbei und sah aus den Augenwinkeln heraus, wie No-Ango den Kopf schüttelte. Sadagar seufzte gequält und umklammerte das für ihn viel zu große Steinschwert mit beiden Händen. Mythor verstand den Heymal nur zu gut. Doch ein Mann allein dürfte gegen Odam nichts ausrichten können. Er bezweifelte sogar sehr, daß sechs dies vermochten. Hrobon ging voran, über lange, kostbare Teppiche bis zum Ende des Ganges. Die Gefährten warfen Blicke in jedes Gemach, entschlossen, die Prinzessin aus den Klauen Odams zu befreien, und doch voller Furcht vor dieser legendenumwobenen Gestalt. Jeder Raum war eine neue Herausforderung, jeder neugierige Blick konnte der letzte sein. Immer wieder sahen die sechs sich um, als ob ihnen jemand mit leisen Schritten folgte. Sie spürten, daß sie nicht allein waren. Odam beobachtete sie. Er war überall. Er… 97
Mythor riß sich zusammen, schüttelte das Grauen ab, das ihn mehr und mehr ergriff. Hier unten war nichts und niemand. Hrobon machte kehrt und stieg eine Treppe hinauf. Sadagar erschrak vor seinem eigenen Schatten, den die Fackeln in den goldenen Wandhalterungen ihm vor die Füße zauberten. Je weiter die Gefährten in den Palast vordrangen, desto bedrohlicher wurde die unheimliche Ausstrahlung, die ihnen entgegenschlug, desto größer jedoch auch die eigentümliche Faszination, die von der Pracht um sich herum ausging. Plötzlich war es Mythor, als hörte er leise Stimmen. Er legte die Hand auf Hrobons Arm und blieb stehen. »Hört ihr?« fragte er flüsternd. Einen Augenblick war Stille. Dann vernahmen sie es alle. »Die Prinzessin!« entfuhr es Hrobon. Sein Schwert zeigte in den Gang, auf den Eingang zu weiteren Gemächern. Mythor hielt den Mann zurück, als er losstürmen wollte. Für einen Augenblick versprühten die Augen des Vogelreiters Blitze, und es hatte den Anschein, als wollte er das Schwert gegen Mythor erheben. Seine Krieger stellten sich drohend hinter ihn. Dann senkte der Heymal die Klinge und schlug die Augen nieder. »Wir sind zu nahe am Ziel, um das Leben der Prinzessin durch Unbedachtsamkeiten aufs Spiel zu setzen«, appellierte Mythor an ihn. Die Ruhe, mit der er sprach, überraschte ihn selbst. Plötzlich war es, als risse der Vorhang der überall spürbaren unsichtbaren Bedrohung auf und ließe Licht hindurch. Alle nahmen die unheimliche Veränderung wahr, und sie standen verwirrt und ratlos auf dem Gang, als zwei Gestalten aus dem Eingang traten, den Hrobon noch eben zu erstürmen trachtete. »Die Prinzessin!« flüsterte Hrobon in ungläubigem Erstaunen. »Und… O nein!« Sie standen Hand in Hand, schweigend und ihre Blicke auf 98
die Eindringlinge gerichtet. Mythor unterdrückte einen Ausruf. Auch er war unfähig, das zu begreifen, was seine Augen ihm vermittelten. Shezad lächelte ihn an. Neben ihr, um ein, zwei Köpfe größer, füllte die erhabene Gestalt des Prinzen den Gang aus. Odams Gesicht war hinter einem helmartigen Schlackegebilde verborgen, das seinen ganzen Kopf umwachsen hatte, fast schwarz und an einigen Stellen glitzernd. Er mochte gut und gerne sechs Fuß groß sein, und das, was von seinem Körper unter der Bekleidung zu sehen war, entsprach ganz und gar nicht den Vorstellungen, die sich Mythor insgeheim vom Prinzen der Düsternis gemacht hatte. Seine Gestalt war ausgemergelt, kaum Fleisch saß an den Knochen, doch dies wenige schien steinhart zu sein. Die sich abzeichnenden Sehnen und Muskeln wirkten wie aus Eisen. Odam trug einen purpurroten Umhang über dem Rücken, der vom mit goldenen Schnallen zusammengehalten wurde. Darunter bedeckte ein ärmelloses Hemd mit rundem Halsausschnitt ein Kettenhemd, das bis auf die Oberschenkel fiel. In einem breiten Gürtel befanden sich allerlei Täschchen, über deren Inhalt Mythor nur rätseln konnte. Das zwei Handbreit messende Leder wurde von einer aus Staub gewachsenen Schnalle gehalten. Der Prinz verzichtete auf einen Beinschutz. Dafür trug er bis zu den Knien hinaufreichende Lederstiefel. Doch was war all dies gegenüber den Waffen, die er sein eigen nannte! Sein gewaltiges Schwert reichte ihm bis zur Brust, und Mythor zweifelte nicht daran, daß er diesen Beidhänder trotz der dünnen Arme zu schwingen vermochte wie kaum ein zweiter. Dazu trug er zwei Kurzschwerter am Gürtel, ebenfalls aus Goldenem Staub gewachsen. Mythor konnte ihn förmlich vor sich sehen, wie er in Schlachten wütete. Doch die Augen hinter dem steinernen Helm 99
verlangten nicht nach Tod. Etwas anderes sprach aus ihnen, und Mythor fühlte sich gering und klein diesem Mann gegenüber. Er glaubte, in seinem Blick versinken müssen, in all dem Leid und der Einsamkeit, die aus ihm sprachen. Dann aber, als Odam den Kopf wandte und auf Shezad herabblickte, trat ein anderer Glanz in sie. Dieser Mann ist der Herrscher der Düsterzone! sagte Mythor sich. Dieser Mann ist Prinz Odam, der Schreckliche! Indes – er konnte es nicht glauben. Shezad löste ihre Hand aus der Odams und trat lächelnd näher. »Mir scheint«, sagte sie, »ihr seid zu spät gekommen, um mich noch zu retten.« Sie saßen sich auf prunkvollen Stühlen gegenüber – auf der einen Seite Odam und die Prinzessin, auf der anderen Mythor, Sadagar, No-Ango und die Vogelreiter. Hrobon weigerte sich immer noch, das Gehörte zu akzeptieren. Unsicher suchte er ein Zeichen von Trug zu erhaschen, einen einzigen angstvollen Blick der Prinzessin, eine versteckte Drohgebärde des Prinzen, dessen Blick er floh. »Nun kommt, meine Freunde, und trinkt!« rief Shezad ausgelassen und schob den Männern die Pokale zu. Nur Mythor griff danach, dann, seinem Beispiel folgend, Sadagar. Odam selbst hatte noch kein Wort gesprochen. »Es wird euch nichts anderes übrigbleiben, als euch mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß er nicht der Wüterich ist, für den alle ihn halten. Der Kampf, den er zu führen hat, ist härter und unbarmherziger als jeder, den ihr euch vorstellen könnt. Er hat sich Mächten zu erwehren, die schrecklicher sind als in euren kühnsten Phantasien. Ich werde ihm darin beistehen.« Wieder ergriff sie Odams Hand und lächelte, strahlte eine Ruhe und einen Frieden aus, die nur ein Mensch empfinden konnte, der seinem Leben einen Sinn gegeben hatte, der dies voll und ganz ausfüllte. Odam selbst machte durch keine Regung deutlich, 100
was ihn bewegte. Doch der Blick seiner Augen war nicht abweisend. »Ich… kann es nicht glauben!« stieß Hrobon hervor. »Und doch ist es so, mein treuer Freund. Um es zu verstehen, sollt ihr die Geschichte des Mannes hören, der eigentlich Bodan hieß.« Sie blickte Odam an, als wollte sie sich die Erlaubnis einholen, Dinge zu offenbaren, von denen – seltsam genug – nur sie beide wußten. Mythor, der seine ganze Aufmerksamkeit Odam widmete, während er Shezad geduldig und gespannt zuhörte, fragte sich, was es wohl sein mochte, das diese beiden in so kurzer Zeit so zueinandergebracht hatte. Es war nichts Schlechtes, das spürte er. Keine Zauberei und keine Gewalt von Seiten des Prinzen. »Es war Bodan«, begann die Prinzessin. Plötzlich schwand das Lächeln aus ihrem Antlitz. Sie stellte den Pokal auf den reich gedeckten runden Tisch aus Stein zurück und legte auch die zweite Hand auf die des Prinzen. »Er, den alle Welt nur als Prinz Odam kennt -oder kennen will. Einst war er der Befehlshaber jener Bastion, die ihr gesehen habt, die auch Schattenturm genannt wird. Lange Zeit konnte er sie gegen alle Angriffe aus der Düsterzone verteidigen, doch stand er gegen die Horden der Finsternis und deren schrecklichen Anführer auf verlorenem Posten. Dieser Anführer aus den Tiefen der Düsterzone trug den Namen Odam.« Sie machte eine Pause und ließ ihre Worte auf ihre Zuhörer wirken. Mythor nickte ihr auffordernd zu, fortzufahren. Er ahnte den tragischen Verlauf ihrer Geschichte. Hrobon und seine Männer saßen da wie selbst zu Stein erstarrt. »Dieser Odam war von einem Dämon besessen«, sprach sie weiter. »Es kam zum unausweichlichen Kampf zwischen Bodan und Odam, in dem der Anführer der Horden schließlich unterlag. Doch Bodan, der Sieger, hatte einen 101
hohen Preis zu zahlen, denn unbarmherzig griff der Dämon des Erschlagenen nun nach seiner Seele. Bodan blieb keine andere Wahl, als sich selbst zum Anführer der schrecklichen Horden und damit zum Herrscher dieses Teiles der Düsterzone zu machen. Er nahm den Namen des Besiegten an – Odam. Fortan lebt er im Kampf gegen den Dämon, den er zwar beherrschen, aber niemals aus sich austreiben konnte. Der Dämon nagt an ihm, selbst in diesem Augenblick, und er wird immer stärker, so daß der Tag abzusehen ist, an welchem Odam wieder Odam – der grauenvolle Odam – sein wird, ein willenloses Werkzeug der Dunklen Mächte. Es sei denn…« Shezad zog des Prinzen Hand auf ihren Schoß und schenkte ihm ein Lächeln. »Es sei denn, jemand ist bei ihm, der ihm den nötigen Halt, den Glauben an das Gute in die ihm innewohnende Kraft zurückgibt. Dies, Freunde, wird meine Aufgabe sein, und ich werde sie mit Freuden erfüllen, denn die Macht der Liebe ist stärker als alle Magie und alles Dämonenwerk. Ich bin zuversichtlich, Odam auf den rechten Weg zurückführen zu können. Er wird keine Gefahr für Logghard darstellen. Gemeinsam werden wir es schaffen, das Böse abzuwehren.« Eine Weile herrschte betretenes Schweigen im Raum. Niemand wagte es, durch unangebrachte Äußerungen die Bedeutsamkeit dieser Eröffnung herabzuwürdigen. Mythor konnte nicht anders – er mußte den Mut und die innere Stärke der Prinzessin bewundern. Und obwohl stille Zweifel an ihm nagten, war er geneigt, ihr zu glauben. Sie war stark, auf ihre Weise stärker als alle Frauen, die er gekannt hatte. Wieder war es dann Hrobon, der das Schweigen brach. Und seine Worte machten Mythor auf erschreckende Weise klar, was ihn immer noch quälte. »Dann war des Shallad Entscheidung, dich, Prinzessin, dem Herrscher der Düsterzone zum Weib zu geben, doch von 102
Weisheit getragen. Er…« »Schweig!« fuhr Shezad auf. Sie ließ Odams Hand los und richtete sich kerzengerade auf. Alle Sanftmut wich aus den Blicken, die sie dem Heymal zuwarf. »Was muß noch geschehen, um dich erkennen zu lassen, daß Hadamur nichts als ein gewöhnlicher, niederträchtiger Lump ist? Er wußte nichts über Odam, nichts von dem, wie es um ihn steht! Er war bereit, mich den Dunklen Mächten zu opfern. Mein Schicksal war ihm einerlei. Sollten die Dämonen mein Herz verzehren! Ihm ging es einzig darum, vor Odams Heerscharen sicher zu sein! Er dachte nicht einmal an Logghard! Sein einziges Interesse an der Ewigen Stadt besteht darin, daß die Kräfte des Lichtes siegen mögen, damit er durch ihren Sieg vor den Mächten der Finsternis geschützt ist, was ihn nicht daran hindert, vorsorglich den Pakt mit ihnen zu suchen!« Hrobon starrte sie an, fast bleich im Gesicht und mit zitternden Händen. Dann sprang er auf und verließ eiligen Schrittes den Raum. Seine Krieger folgten ihm. Mythor wollte ihn zurückhalten, doch Sadagar legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Laß ihn«, flüsterte der Steinmann. »Er muß mit sich allein sein.« Mythor nickte schwach. Seine und Odams Blicke trafen sich, und da war nichts als Offenheit in den Augen des Prinzen. Mythor fiel es nicht leicht, alles das umzuwerfen, was er sich in Gedanken über Odam zurechtgelegt hatte. In dieser Hinsicht erging es ihm wie Hrobon. Doch etwas an diesem großen, ausgemergelten und doch von solch ungeheurer Kraft erfüllten Mann, der noch immer schwieg, schlug ihn in seinen Bann. Und plötzlich war das Drängen in ihm, aufzustehen und dem Prinzen die Hand zu reichen. Odam erhob sich und ergriff sie. Und nun hörte Mythor zum erstenmal seine Stimme. Sie war von Trauer und Wehmut erfüllt – und doch bestimmt. 103
»Es ist so, wie die Prinzessin es sagte«, sprach er. »Meinen Kampf habe ich hier auszufechten. Ihr aber sollt nach Logghard gehen und den Verteidigern der Ewigen Stadt die Kunde überbringen, daß ich meine Krieger nicht gegen sie führen werde. Unser Handschlag mag dies besiegeln.« Mythor erwiderte den festen Druck. »Also sind wir nicht länger deine Gefangenen?« »Ihr seid frei«, antwortete der Prinz. »Sagt mir, wohin ihr zu gehen begehrt, und meine Krieger werden euch in sicherem Geleit an den Ort eurer Wahl bringen.« Mythor brauchte nicht lange zu überlegen, um diesen Ort zu nennen. »Die Ruinen von Erham«, sagte er. Dort wußte er den Sitz eines Großen, der ihn mittels des Hohen Rufes direkt nach Logghard bringen konnte – falls ihn nicht bereits das gleiche grausame Schicksal ereilt hatte wie die Großen in Horai. »So sei es«, bestätigte Odam, drückte Mythor noch einmal die Hand und ließ sie los. Er blieb vor ihm stehen, als ob er zögerte, noch etwas zu sagen. Mythor fühlte seinen Blick prüfend auf sich gerichtet. Er hielt ihm stand und fragte sich, ob es einmal eine Zeit geben würde, in welcher dieser vom Schicksal so schwer geschlagene Mann an seiner Seite für das Licht kämpfen würde. »Du sollst noch etwas wissen«, sagte Odam. »Die Mächte aus der Schattenzone werden all ihre Kräfte aufbieten, um in diesem 250. Jahr der Belagerung die Ewige Stadt zu überrennen. Ich weiß es von Guuron selbst, meinem Dämon. Auch mich und meine Krieger trachteten sie in diese furchtbare letzte Schlacht zu schicken. Du hast mein Wort darauf, es wird dazu nicht kommen. Dennoch hütet euch vor falschen Hoffnungen. Ich glaube, daß die Dunklen Mächte auch ohne mich stark genug sein werden, den letzten Sieg davonzutragen. Schrecken, wie keines Menschen Vorstellungskraft sie sich auszumalen vermag, harren euer. 104
Nur eine Rettung, eine Hoffnung gibt es für die Stadt, daß nämlich der Sohn des Kometen mit dem Vermächtnis des Lichtboten auf den Plan tritt. Dieses Ereignis wird von den Verteidigern der Stadt im gleichen Maße herbeigesehnt wie von den Mächten aus der Schattenzone und ihren Handlangern gefürchtet.« »Ich bin der Sohn des Kometen«, hörte Mythor sich flüstern. Hätte Mythor Odams Gesicht sehen können -er hätte schwören können, daß es ein wissendes Lächeln zeigte. »Wenn dem so ist, besteht wahrhaftig noch Hoffnung für Logghard. Doch ich sehe deine Waffen nicht.« Mythor schwieg, doch seine Gedanken waren in wildem Aufruhr. Voller Groll dachte er an Luxon, den Dieb aus Sarphand, den Glücksritter und Abenteurer, der ihm all das genommen hatte, was er sich so gefahrvoll angeeignet hatte. Luxon besaß das Vermächtnis des Lichtboten, das nur ihm, Mythor, zustand. Wenn er als Sohn des Kometen zur Ewigen Stadt kam, dann mit leeren Händen. Odam drang nicht weiter in ihn. Er mochte spüren, was in ihm vorging. »Geht jetzt«, sagte der Prinz. »Meine Krieger werden Anweisung erhalten, euch sicher zum Ziel zu bringen. Meine…«, Odam nahm Shezads Hand, »… unsere guten Wünsche begleiten euch.« Dann reichte er Mythor einen Kristall, schwarz und von der Größe einer Fingerkuppe, und ließ ihn sein Gesicht damit berühren. »Reiche ihn an deine Freunde weiter, wenn ihr gegangen seid.« Mythor rang die Gefühle nieder, die ihn ergriffen. Noch einmal drückte er Odams Hand, dann die der Prinzessin. Als er ihren Blick erwiderte, sagte er leise: »Auch du sollst etwas wissen, Prinzessin. Nicht Hadamur ist der rechtmäßige Shallad. Durch verbrecherische Machenschaften sorgte er dafür, daß jener, dem dieser Thron ist, beiseite geschafft 105
wurde. Er sollte als Kind sterben, doch er lebt und ist jener, der meine Waffen besitzt. Er nennt sich Luxon, Arruf und…« Mythor winkte ab. Der Zorn schnürte ihm die Kehle zu. Shezad nahm die Nachricht gefaßt auf, fast so, als hätte sie ihre eigenen Gedanken bestätigt. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ Mythor den Raum, gefolgt von Sadagar und No-Ango. Sie fanden Hrobon und seine beiden Krieger im Vorhof. Prinz Odam aber erschien auf einer Brüstung hoch über ihren Köpfen und rief seinen Kriegern Befehle zu. Wenig später schob sich ein Yarl seitlich heran. Als Mythor, Sadagar, No-Ango und die drei Vogelreiter auf ihn überwechselten, wurden sie von Kriegern erwartet, die ihnen ihre Waffen zurückgaben. Sadagar stürzte sich förmlich auf die heißgeliebten Messer. Hrobon nahm schweigend sein Schwert entgegen. Mythor steckte das Beuteschwert achtlos in den Gürtel. Was nützte es ihm in Logghard? Der Yarl setzte sich in Bewegung. Auf der Brüstung des Palasts standen Odam und Shezad und winkten. Ein letztes Mal hob Mythor die Hand zum Gruß. Dann verschluckte die Nacht das Heer des Prinzen, seine Yarls und den Palast, dessen Lichterglanz verblaßte. Sein Ziel war die Düsterzone – und Mythors? Er wünschte Shezad und dem Prinzen die Kraft, die sie brauchen würden, um gegen die Schatten zu bestehen. Eines Tages vielleicht würden sie sich wieder gegenüberstehen. Eines Tages… Mythor ballte die Hände. Niemand redete. Der Zorn auf Luxon trieb Mythor das Blut in die Schläfen. Im Osten graute der Morgen. Wie oft noch? Mythors Hand fuhr über das Gesicht. Fast hatte er den Kristall vergessen. Nun berührten seine Finger keine Schlacke mehr – nichts als glatte, gesunde Haut. 106
»Auch dafür hab Dank«, murmelte er lächelnd, bevor er den Kristall an die Gefährten weitergab. Ihnen hatte Odam helfen können, wohl weil die Ablagerungen noch frisch waren. Er selbst und seine Krieger aber hatten ihre Bürde zu tragen – bis ans Ende. Irgendwann würden Garrams und Hrobons Männer zu ihnen stoßen, die noch beim Schattenturm umherirrten.
107
Hans Kneifel
Unter dem Schwertmond Riesig und dunkelrot schob sich die Sonne hinter den Bergzacken herauf. Tiefschwarze Schatten lagen hinter den Felsen und in den Vertiefungen. Sandkörner, vom Wind hergeweht, rieselten aus dem Felsspalt. In den Löchern der weißen Steine erzeugte der Wind winselnde Laute. Es klang, als ob unsichtbare Wesen voller Todesangst wimmerten. In den Pausen zwischen den Windstößen knarrten leichte Sohlen auf dem Sand, rieben sich lederne und metallene Gegenstände am Stein. Der Geierfelsen hatte seinen Namen daher, daß man aus der wüstenartigen Talebene den Kopf und den halb aufgerissenen Schnabel eines Raubvogels zu sehen glaubte. »Hodjaf wird sich freuen. Da ist Sand in der Luft«, sagte Jarany. Ohne sich zu bewegen, deutete er auf die Spur einer näher kommenden Gruppe. Die Späher hüteten sich; das Sonnenlicht könnte sich in eisernen Schließen oder den Griffen ihrer Dolche spiegeln. Urraco antwortete hart: »Sand bedeutet eine Karawane.« Im Grenzland zwischen Jahand und Inshal, einem kargen und gebirgigen Teil südlich der Heymalländer, gehörte das Überfallen von Wanderern und Karawanen zur Tagesordnung. Für die Bewohner der Höhlen und der Zelte an den winzigen Wasserstellen bot das Leben keine andere Möglichkeit als die Wegelagerei. »Sie sind in vier Stunden an den Drei Schwärenden Fingern!« 108
Urraco schätzte die Geschwindigkeit der Gruppe tief unter dem Geierfelsen ab. Den Weg, den sie nehmen mußte, kannte er wie den schwitzenden Inhalt seines Stiefels. »Drei oder vier Stunden. Mit Sicherheit, denn dort ist die einzige Wasserstelle.« »Los! Bringen wir Hodjaf die gute Neuigkeit.« Sie warfen einen Blick auf die Spitze der Staubwolke. Dort trabte in seinem charakteristischen Gang ein Diromo, auf dessen Tragegestell ein Zelt schaukelte. Etwa zwei Dutzend Begleiter ritten vor und hinter dem Riesenvogel. Mehr war nicht zu erkennen. Die Waffen funkelten hin und wieder auf, aber immer wieder legte sich feiner Sand auf die Gestalten und schob sich zwischen sie und die Späher. Jarany und Urraco kletterten zwischen den Felsen abwärts. In den Schatten hing noch die Kälte der Nacht. Die Flanken der Steine waren vom Unterschied zwischen stechender Hitze und nächtlicher Wüstenkälte und vom ewig nagenden Wind glatt wie poliertes Holz. In einer kleinen Sandlawine rutschten die Späher des Hodjaf hinunter zu ihren Reitvögeln. Die Orhaken witterten unter ihren Kapuzen ihre Reiter und knickten in den Stelzbeinen ein, als sie sich in die hochlehnigen Sättel schwangen. Dann flogen die Kapuzen hoch, die bewimperten Augen öffneten und schlossen sich im grellen Licht. Leise Kommandos und Bewegungen der Fersen dirigierten die Tiere über ein schmales Felsband, das von Sand überweht war. Dann stoben sie mit weit ausholenden Schritten über den schrägen Hang, der den Blicken aus der Talebene verborgen war. Hodjaf, der Vogt der Schrunde, wie er an den Lagerfeuern oft genannt wurde, würde abermals reicher und mächtiger werden. Die Skelette seiner Beute säumten die schmalen Straßen in beiden Richtungen der Drei Schwärenden Finger, 109
wie die Felsformation hieß, die, von spärlichen Arvenbäumen umgeben, neben dem Wasserloch sich in den rauhen Himmel reckte. Als die beiden Reiter den Hohlweg passierten, rief ein dritter Posten von oben: »Was soll ich Hodjaf melden?« Urraco lachte dröhnend auf und spürte die Kälte der Felswände auf seinem wettergegerbten Gesicht. Der sandfarbene Umhang flatterte hinter ihm. Urraco grölte nach oben: »Sage ihm, daß wir eine hübsche kleine Karawane gesehen haben. Das wird ihn aus den Armen Ardeas befreien.« Der Posten stieß einen trillernden Schrei aus und rannte davon. Die Schatten hatten nicht viel Weg zurückgelegt, die Wärme des Tages hatte sich noch nicht ausgebreitet, als etwa ein halbes Hundert Vogelreiter sich sammelte. Hodjaf setzte sich an ihre Spitze. Seine Habichtsaugen musterten seine Truppe. Er grinste mit dünnen Lippen zwischen dem eisgrauen Gestrüpp seines Bartes, als er sah, daß weder die Reitvögel noch ihre Reiter Zeichen von Schlaffheit erkennen ließen.
Der einzige Mann, der sein Gesicht nicht zum Schutz gegen den Sand und die Sonne verhüllt hatte, war Algajar. Er war nicht mehr jung. Fünfzig oder mehr Sommer mochte er hinter sich gebracht haben. Seine Haut war rauh und voller Narben, die Form des Gesichts kantig und hart. Die Augen, dunkel und zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, lagen in einem Netz aus Falten und unter schwarzsilbernen Brauen. Sein Haar, einst schwarz gewesen, zierten breite silberne Bahnen. Er trug es kurz geschnitten, aber in seiner Jugend hatte er es nackenlang getragen. Im rechten Ohrläppchen steckte eine kleine goldene Münze, die das Zeichen des 110
Shallad trug. Breite Schultern, beherrschte Bewegungen, ein kräftiger Schwertarm und lange Beine, die in fein gearbeiteten Reitstiefeln steckten, ließen ihn als Anführer der kleinen Karawane erscheinen. Seine Augen lächelten ebenso selten wie sein Mund. Falls er sich eine solche Großzügigkeit gestattete, ließ Algajar überraschend schöne, schneeweiße Zähne erkennen. Aber sein Gesicht trug stets einen abweisenden, herrischen und grausamen Ausdruck. Jetzt, nach einigen Tagen des Rittes, bedeckten Bartstoppeln sein Gesicht, sonst war es glatt und mit duftendem Öl aus den Samen der Arven eingerieben. Er hob sich im Sattel seines Rennorhakos und sah sich nach dem Zelt um. Prinzessin Nohji war aufgewacht. Sie schlug einen Teil der Zeltbahn zurück und rief, als sie Algajars Blick bemerkte: »Wann werde ich wieder festen Boden unter den Füßen haben, Algajar?« Algajar stieß mit tiefer Stimme ein kurzes, heiseres Lachen aus und entgegnete, scheinbar gutgelaunt: »Wenn nichts dazwischenkommt, dort vorn am Paß. Man nennt diese überaus prächtige Oase die Drei Schwärenden Finger.« »Was sollte dazwischenkommen?« begehrte sie zu wissen. Sie zählte fünfzehn Lenze und war eine der vielen Töchter des Shallad Hadamur. Für einen Moment glitt ein Schatten über das Gesicht des Karawanenführers. »Im Grenzland jagen die Zufälle und die Zwischenfälle einander, Prinzessin. Vielleicht bricht sich dein Zelt-Diromo den Lauf, wer weiß?« »Wir wollen es nicht hoffen«, rief sie mit heller Stimme durch das harte Lachen der anderen Vogelreiter. »Warum nennt man die Oase mit einem so gräßlichen Namen?« »Du wirst es sehen, wenn wir weit genug herangekommen sind«, war die Antwort. Nohji kannte Algajar kaum, aber sie 111
wußte, daß er einer der Männer war, auf deren Rat ihr Vater hörte. Zweifellos war er einer der engsten Vertrauten des Shallad. Jedesmal, wenn er sie mit seinen durchbohrenden Blicken musterte, fühlte sich Nohji nackt, schutzlos und voll von unergründlicher Furcht. Aber sie war die Tochter des Shallad! Sie hatte Mut und Liebreiz gleichermaßen auszustrahlen! »Wann sind wir an unserem Ziel?« »Das hängt von vielen Umständen ab«, sagte Algajar, der sein Orhako hatte zurückfallen lassen. Die Malerei auf dem großen Vogelschnabel war an einigen Stellen von Silberstaub verziert. Hadam, die Residenz des Shallad, war das Ziel. Für Prinzessin Nohji lag es in unerreichbarer Ferne. »Rechnest du mit unerfreulichen Zwischenfällen?« rief sie wieder. »Nicht direkt. Alles scheint friedlich!« gab der Anführer zurück. »Außerdem befinden sich in geringem Abstand Vogelreiter, die dem Befehl deines Vaters gehorchen. Wir sind bisher nicht überfallen worden, und bis Hadam wird die Reise auch ebenso eintönig verlaufen wie bis heute morgen.« Auf dem Zelt und auf den Schilden der Reiter prunkte das Wappen des Shallad, ein roter Kreis mit rotem Strahlenkranz. Der Schwertmond darinnen kennzeichnete die Reiter als Angehörige aus dem Stammland Shalladad. Einem unbefangenen Zeugen, der die Sand aufwirbelnde Gruppe von Reitern an sich vorbeiziehen sah, würde aufgefallen sein, daß nur rund vierundzwanzig Reiter die Prinzessin schützten. Entweder konnte dies als Zeichen gedeutet werden, daß Prinzessin Nohji trotz ihrer mädchenhaften Schönheit von dem Shallad nicht sonderlich wertvoll eingeschätzt wurde, was ihm zuzutrauen wäre. Oder diese Karawane sollte hilflos erscheinen und einen Angriff 112
provozieren. Jedermann wußte, daß das Grenzland hier zwischen den Bergen und Hügeln, Felsen und Flugsandlöchern mehr als gefährlich war. Nur Narren, Unerfahrene oder solche Reiter, die an Selbstüberschätzung litten, wagten sich allein in dieses Gebiet. Oder solche, die den Tod suchten – und auch von jenen gab es genügend im Land Hadamurs. »Hoffentlich behältst du recht, verwegener Algajar«, sagte die Prinzessin und ließ den Vorhang zurückfallen. Ihr Zelt war nicht sonderlich groß, aber durchaus bequem. Trotzdem haßte sie die ständigen Bewegungen des Tierkörpers. Jede Karawane nach Logghard war gefährdet. Auch ihre Gruppe, das ahnte sie, würde früher oder später angegriffen werden. Aber die Männer und besonders der Anführer waren kampferprobt und unbedingt zuverlässig. Man hatte ihr gesagt, daß jenseits der Arvenbaum-Oase die Gefahr so gut wie vorüber war. Deshalb hoffte sie, daß die Oase bald hinter der nächsten Biegung der Straße erscheinen würde. Zuerst aber änderte sich das Aussehen der Gegend. Die Morgensonne verschwand hinter der riesigen Nebelwand, die ein erstes Zeichen der Schattenzone war. Die Erscheinungen hier blieben undeutlich und ängstigten niemand, aber Nohji wußte, daß in den Nächten seltsame Steine aus dem Himmel fielen, und man berichtete von Sandhosen, die sich urplötzlich bildeten und eisige Kälte mit sich schleppten. Bisher hatte sie im Süden nur undeutliche Schatten gesehen und ab und zu jenen Nebel. Der Sand, der eben noch golden im Sonnenlicht und unerträglich grell geleuchtet hatte, wurde stumpf. Zwischen einigen Felsbrocken und dürren Sträuchern verbreiterte sich die Straße zu einer langgezogenen dreieckigen Fläche. Rechts und links ragten an fast allen Stellen steile Wände auf. Sie waren von Spalten zerrissen, Steine und riesige Brocken waren 113
heruntergefallen und halb von nachrieselndem Schutt und Geröll begraben worden. Einige Schluchten, durch die in grauer Vorzeit einmal reißende Gebirgsbäche geflossen sein mochten, unterbrachen die natürlichen Wälle mit ihrer schroffen, unbesteigbaren Glattheit. Weit am Ende dieser Flußebene führten die Felswände wieder zusammen. Blickte man genau hin, war spärliches Grün zu sehen. Es handelte sich um einige Dutzend zerzauster Arvenbäume, der Zirbelkiefer verwandte Gewächse, deren Wurzeln senkrecht tief in den Boden hineingebohrt waren. Dort standen die drei Felsen. Von hier aus wirkten sie tatsächlich wie drei leicht gekrümmte Finger. Sie wuchsen aus einem massiven Felsstück heraus, das wie der Teil einer Hand aussah. Die Struktur des Felsens und große Flächen von Sichenmoos, das auf den »Gelenken« wucherte, erzeugten den Eindruck, als wären die knochigen Finger von Geschwüren und offenen Wunden überzogen. Auch die Färbung entsprach dieser Charakterisierung. Niemand, der jemals hier durchgezogen war, vergaß die Finger. Eben noch hatten sie lange Schatten geworfen. Jetzt schienen sie die kleine Ebene gegen den grauen Hintergrund abzusperren und den Näherkommenden ein »Halt!« zuzuwinken. Gerade als sich die Prinzessin wieder auf den gepolsterten Sitz zurückfallen ließ, erschollen zwischen den Felswänden grauenhafte Geräusche. Ein gellendes Trillern ertönte und brach sich in zahllosen Echos. Augenblicklich kreischten die Orhaken wild. Die Krieger rissen die Schilde hoch und die Schwerter aus den Scheiden. Die gleichmäßigen Krallentritte der Reitvögel wurden schneller. Andere Schreie hallten zwischen den Felswänden. Dann erhob sich die Stimme des Anführers. 114
Algajar brüllte: »Es müssen die Rebellen von Hodjaf sein, dem Vogt der Schrunde. Verteidigt das Leben der Prinzessin!« Die Reiter drängten ihre Vögel auseinander und nahmen die langen Lanzen aus den Sattelschuhen. Als Prinzessin Nohji aus einem Spalt der Zeltwand blickte, sah sie, wie aus dem Ausgang einer schmalen Schlucht ein Vogelreiter nach dem anderen herauspreschte. Die Krallen der gefiederten Tiere rissen dreieckige Spuren in den Sand. Die Federn und die kleinen Wimpelreste an den Lanzenspitzen flatterten. Auch die Rebellen und Wegelagerer, kaum hatten sie den Schutz der Schlucht verlassen, bildeten eine breite Linie, stellenweise bereits zwei Glieder tief. Drei bis vier Pfeilschußweiten trennten die Karawane und die Angreifer. Die Begleiter der Prinzessin hatten augenblicklich begriffen, daß ihre einzige Chance in wütender Gegenwehr bestand. Die Angreifer machten sich durch laute Schreie selbst Mut. Die Rebellen in der ersten Angriffsreihe fällten ihre Lanzen. Ein Orhakoreiter ergriff den Zügel des Diromos und zerrte das hochbeinige Tier mit dem Tragegestell an den Rand der Straße. Er trabte entlang der Felswand und riß seinen Reitvogel herum. Das Diromo blieb verwirrt in einem Winkel der Felsen stehen, drehte sich mehrmals um seine eigene Achse und streckte dann den Kopf in die Richtung, aus der Lärmen, Schreien und Waffenklirren ertönten. Die ersten Kämpfenden trafen aufeinander. Die Schnäbel der kreischenden Orhaken zuckten hoch und herunter. Lanzenspitzen bohrten sich in die Leiber der Vögel. Wutschreie der Verteidiger, die sausenden Hiebe der gekrümmten Schwerter und die anfeuernden Rufe Algajars mischten sich zu einem chaotischen Lärm. Die geschwungenen Hälse der Reitvögel waren bald voller Blut. Pfeile surrten durch die Luft. Hin und wieder prallten zwei Krieger, die sich weit aus den Sätteln gebeugt hatten, in 115
rasendem Lauf zusammen. Einer der Hakenschnäbel zerriß das Gesicht eines Angreifers. Schreiend fiel der Rebell in den Sand. Die Krallenfüße eines anderen Orhakos töteten ihn. Algajar bewies, daß er ein hervorragender, kluger Kämpfer war. Mit dem Schild schützte er seinen Kopf und die Schultern. Die lange Lanze mit der flammenförmig geformten Spitze schlug und stach zu. Er verwendete die Waffe wie ein Schwert und so, wie eine Lanze benutzt wurde. Wieder traf ein Pfeil seinen Schild, zog mit häßlichem Kreischen eine tiefe Schramme und wirbelte unschädlich davon. Ein Rebell kippte aus dem Sattel, und sein Fuß verhakte sich im Haltegurt. Das durchgehende Tier, das sich in heilloser Panik befand, zerrte ihn davon und zerschmetterte sich selbst den Schädel, als es in vollem Lauf gegen den Fels krachte. »Der Shallad wird euch strafen!« schrie ein Krieger und schlug mit dem Schwert den Lanzenschaft eines Rebellen in zwei Stücke. »Er wird uns niemals finden«, lachte Hodjaf gellend und lenkte sein Tier auf Algajar zu, der um sich einen freien Kreis geschaffen hatte. Zwei Rebellen töteten einen Verteidiger, indem sie mit Wucht von zwei Seiten angriffen. Ein anderer starb, als ihm der Hakenschnabel eines wütend kreischenden Orhakos die Wirbelsäule spaltete. Nohji starrte in steigender Angst aus dem Schlitz in der Zeltwand. Sie sah deutlich, daß trotz der heldenhaften Gegenwehr die Anzahl ihrer Männer immer kleiner wurde. Verletzte Orhaken lagen im Sand und schlugen mit ihren furchtbaren Krallen um sich. Schilde mit dem Schwertmondzeichen kollerten umher. Ein verirrter Speer bohrte sich in den Boden. Der Kampf wirbelte Unmengen von Sand in die Höhe. Der Schleier trieb schräg aufwärts und erhob sich über die Felsbarriere. 116
Der einzige, der noch nicht verletzt war, war der Anführer. Es schien, als würden Hodjaf und seine Wegelagerer ihn absichtlich verschonen. Angst krampfte das Herz der Prinzessin zusammen. Ihr drohte dasselbe Schicksal, wie die Rebellen es dem Anführer zugedacht hatten. Gefangenschaft. Die Orhaken hatten die Hälse nach vorn gestreckt, öffneten und schlugen die gräßlichen Schnäbel krachend zusammen. Zwischen den messerscharfen Spitzen und den scharfen Hornrändern kamen die kreischenden Wutschreie der Tiere hervor, als sie sich in rasender Aufregung hierhin und dorthin wandten, nach den gegnerischen und den eigenen Reitern und Reitvögeln hackten und bissen. In gestrecktem Trab kamen dicht nebeneinander drei verwundete Krieger mit dem Zeichen des Schwertmonds auf Schilden und Umhängen auf das Tier der Prinzessin und den Anführer Algajar zu, der sich wehrte wie ein Rasender. Eine breite Schramme zog sich schwer über seine Stirn, Blut sickerte in seinen staubverkrusteten Bart. Noch immer handhabte er sowohl seine Lanze als auch sein edles Rennorhako mit wahrer Meisterschaft. Er zuckte zusammen, in seinem schweigenden Kampf, als er plötzlich in der Brust eines Wegelagerers einen Pfeil einschlagen sah. Er deutete nach links und schrie: »Von dort kommt der Tod, Männer des Hodjaf.« Als die Aufmerksamkeit der Rebellen für einen winzigen Moment nachließ, tötete er mitleidslos zwei von ihnen durch blitzschnelle Stiche seiner Lanze. Hodjaf, der sein Orhako hinter dem Kreis der Rebellen hin und her trieb und die Krieger anfeuerte, blickte dorthin, woher der Pfeil gekommen sein mußte. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken. Einige Augenblicke lang zögerte er, dann aber grinste er breit. 117
»Er wird uns nicht aufhalten, dein lächerlicher Tod!« dröhnte seine Stimme. »Los, Männer, macht ihn nieder!« Er kippte schräg aus dem Sattel, als ein zweiter Pfeil eine Handbreit neben seiner Schläfe durch die Luft heulte und sich in den Hals eines Orhakos bohrte. Es war tatsächlich ein einzelner Reiter, der aus der gewaltigen Staub- und Sandwolke hervorgaloppierte. Er ritt auf einem fahlen Pferd. In seinen Händen hielt er nur die Waffen, nicht die Zügel. Der Todesschrei eines Kriegers gellte durch den schwächer gewordenen Kampflärm. Die Prinzessin flüsterte: »Welch ein Krieger. Aber… sie werden auch ihn töten. Er ist ganz allein!«
Die ersten Strahlen der Morgensonne hatten die Männer und Pferde, die Diromen und die Helfer aufgeweckt und zu hektischer Betriebsamkeit angespornt. Diese Reise war für die meisten Angehörigen der Karawane nur der Versuch, die Entfernung zwischen zwei Städten so schnell und bequem wie möglich zu überbrücken. Die Pferde fraßen, soffen und wurden gestriegelt, dann legte man ihnen die Sättel auf und die Zaumzeuge an. Die fünf Diromen schüttelten sich kurz, als ihre gemieteten Treiber sie hochscheuchten. Dann erhoben sie sich auf ihre muskelbepackten Laufbeine. Die Tragegestelle schaukelten hin und her. Aus der Kehle des Todgeweihten entrang sich ein dumpfes, langgezogenes Stöhnen. Ein letztes Feuerzeichen schrieb lautlos seine Bahn in den grauen Himmel. Die Sterne waren verschwunden, aber noch hatte sich die Bläue des Himmels nicht ausgebreitet. Männer schleppten pralle Wasserschläuche und füllten den Inhalt in große, lederne Becher. Die Krieger gähnten und fluchten leise. 118
Langsam gingen die Vorräte zu Ende – die Reise war schon fast zu lang gewesen. Aber da bisher keine Schwierigkeiten aufgetreten waren, gab es niemanden, der wirklich unzufrieden war. In Sarphand waren sie aufgebrochen. Fast eineinhalbmal hatte sich der Mond verändert. Bleicher Vollmond hatte heute das Licht der Sterne überstrahlt. Kurz nach Abmond waren sie alle aufgebrochen. Luxon spreizte die Finger, fuhr durch sein volles Haar und strich es in den Nacken. Er fröstelte zwischen den Decken und Fellen. Am späten Abend hatten Kalathee und er ihr gemeinsames Lager abseits der vier Feuer aufgeschlagen. Luxon gähnte, küßte den schlanken Nacken Kalathees und murmelte: »Es geht weiter, teuerste Freundin.« Einige Felsblöcke schirmten ihr Liebesnest gegen die anderen Teilnehmer der Karawane ab. Stimmengewirr und das Wiehern der Pferde schlugen an ihre Ohren. Auch Kalathee gähnte und flüsterte: »Ein neuer Tag im Sattel.« »Logghard ist nicht mehr fern«, antwortete Luxon. »Und nach alldem, was wir bisher erlebt haben, werden wir Logghard wohl lebend und unausgeplündert erreichen.« »Wenn dich nicht Mythor überholt, Liebster!« sagte sie leichthin. »Ich bin durstig und hungrig.« Luxon stand auf, hob seinen Kopf über den Stein und brüllte: »He, Samed! Bringe uns heißen Tee und etwas zu essen. Schnell! Wir haben es eilig.« Seit dem Augenblick, als er von Shakar erfahren hatte, wer er wirklich war, erfüllten ihn neue Kräfte und eine Zuversicht, die an Vermessenheit grenzte. Er wußte dies selbst und rechnete damit. Er, der rechtmäßige Sohn des ermordeten Shallad Rhiad – des Vorgängers dieses Verbrechers Hadamur –, war dem Versuch Hadamurs, ihn zu beseitigen, bis zum 119
heutigen Tag entgangen. Hadamur mußte gestürzt werden. Er, Luxon-Arruf, würde das Erbe übernehmen. Mythor!
Erst jetzt, als ob Kalathees Worte auf Umwegen in seine Überlegungen zurückkehren würden, dachte er an Mythor, seinen Konkurrenten, seinen Fast-Freund, den einzigen Mann, den er als gleichwertig anerkannte. Er mußte grinsen, wenn er daran dachte, wie er ihn abermals in die Falle hatte stolpern lassen. Andererseits, er tat ihm leid, denn sein Schicksal war ungewiß und sicherlich hart. Er befand sich auf einer Lichtfähre und auf dem Weg in den Süden, nach Logghard. Vielleicht trafen sie noch einmal zusammen. Aber sicherlich nicht während der letzten Etappe dieser Reise. »Zieh dich an, Geliebte«, sagte er fröhlich. »Zwar ist dein Körper makellos, aber du solltest ihn nicht überflüssigerweise den Blicken der Diromen-Treiber darbieten.« »Vermutlich hast du recht«, sagte sie und war angezogen, als Samed mit heißem Tee, getrocknetem Fleisch, Fladenbrot und gedörrten Früchten kam. Luxon tätschelte die Wange des dunkelhäutigen Jungen und sagte halblaut: »Wie geht es Shakar?« Aus Sarphand hatte Luxon den alten, entkräfteten Mann mitgenommen. Er hoffte, daß im Fall einer Auseinandersetzung Shakars Erzählung einen Beweis für seine wahre Herkunft geben würde. »So schlecht wie immer«, antwortete Samed. »Er hat viel getrunken. Die Nacht über träumte er schlecht und schrie immer.« »Viel getrunken? Etwa unseren Wein?« fragte Luxon mehr überrascht als wütend. »Nein. Wasser und kalten Tee.« »Dann bin ich beruhigt«, meinte Luxon. »Meine Getreuen? Sind sie fertig?« 120
»Wenn die Sonne halb zu sehen ist«, versicherte Samed, »sitzen wir alle in den Sätteln. Bist du mir böse?« »Unsinn«, antwortete Luxon und hob den Becher an seine Lippen. »Ich frage nur aus Sorge um unsere Karawane.« »Du kannst unbesorgt sein«, sagte Samed und lief zurück zu der Karawane, die sich langsam zum Aufbruch rüstete. »Gehen wir!« ordnete Luxon an. »Die anderen werden nicht warten wollen.« Mythor! Immer wieder kreisten seine Gedanken um Mythor. Er meinte, ganz tief innen in seinen Empfindungen zu hören, wie ihn Mythor ununterbrochen verfluchte. Er hob die Schultern. Immerhin hatte er das Gläserne Schwert, den Sonnenschild, den Helm der Gerechten, den Sternenbogen und den Mondköcher, das Amulett und das Orakelleder. Darüber hinaus hatten die Wilden Fänger sowohl Mythor als auch Steinmann Sadagar gefangen und davongeschleppt. Vergangenheit war auch der Palast des Croesus, war Sarphand am Tag und in den geheimnisvollen Nächten, war die Rolle, die er gespielt hatte. Jeder in Sarphand wußte, daß Croesus verschwunden war. Croesus stellte sich in den Dienst der guten Sache und zog mit allem, was er hatte, nach Logghard, um dort gegen die Dunklen Mächte zu kämpfen. Luxon wußte nicht, ob die wichtigen Leute in Sarphand dieses Gerücht glaubten. Außerhalb der Stadtmauern jedenfalls galt er wieder als Luxon. Die Verwirrung, die er hinter sich ließ, konnte ihm nicht schaden; auf jeden Fall nützte sie ihm und seinen Plänen. Luxon rollte Decken und Felle zusammen und ging, Kalathee an seiner Seite, zum Lagerplatz zurück. »Du warst eben so nachdenklich«, sagte Kalathee und schob ihren Arm in seinen. »Was ist der Grund?« »Viele Wörter sind des Gedanken Tod«, entgegnete er. »Ohne daß ich es wollte, mußte ich daran denken, daß mich 121
Mythors und Sadagars Flüche jeden Schritt Weges verfolgen.« Etwa vierzig Männer, die ehemaligen »Palastsklaven des Croesus«, begleiteten ihn. Die jungen Frauen hatte Luxon in Sarphand zurückgelassen – sie würden ihn irgendwann vergessen. Fünfzig Pferde und einige Tiere für Lasten und Reserve waren angeschirrt und mit Leinen aneinandergeschlossen, als er in den Kreis seiner Karawane trat. Die Decken warf er einem Mann in die Arme, hob den Arm und rief: »Noch ehe die große Wärme kommt, reiten wir los. Bereit, Freunde?« Seine Vertrauten konnten und wollten nicht mit den riesigen Vögeln aus der Urzeit der Welt umgehen. Deswegen hatte er die Diromen mit den fünf Treibern gemietet. Auf dem langen Weg von Sarphand durch die Heymalländer hatten die Männer und Tiere beweisen können, daß sie ihr Gold wert waren. Die Straße des Bösen und die Straße der Elemente lagen bereits hinter ihnen. Unterwegs hatten sie Pilger in großer Zahl getroffen. Diese Männer und Frauen waren vom Orakel von Theran aus aufgebrochen, und auch ihr Ziel war Logghard. Aber Luxons schnelle, gut ausgerüstete Karawane hatte sie alle überholt. Sie hatten das nördlichste Land des Südkontinents betreten. Auch in Nordalia gab es Futter, Fleisch und Brot zu kaufen. Auch hier säumten Karawansereien und Oasen die Straßen. Schon jetzt befanden sich Luxon und sein Anhang im Land des Hadamur, im Shalladad, dem »Weltreich«. Fünf Viertelmonde waren vergangen seit dem Aufbruch von Sarphand. Und heute fing ein neuer Abschnitt der Wanderung an. Er führte über die sandige, heiße, leere und gefährliche Straße im Grenzland von Jahand und Inshal, südlich von Nordalia gelegen. Die Reiter schwangen sich in die Sättel der Pferde. Die 122
Packpferde wurden am langen Zügel hinterhergezerrt. Die Treiber bewegten die Diromen; die riesigen Tiere setzten sich in Bewegung. Einige Zeit nach dem Aufbruch zeugten nur noch die vielen Spuren und die schwarzen Aschekreise im Sand davon, daß hier ein halbes Hundert Menschen gerastet hatte. Luxon knotete den Riemen des Helmes vom Sattel los, setzte sich Mythors Helm der Gerechten auf und schob seine Stiefel energisch nach vorn in die Steigbügel. Er beugte sich vor, setzte die Sporen ein und galoppierte auf der rechten Seite des langen Zuges bis an dessen Spitze. Er wandte sich an Socorra, den Pfader. »Mann!« sagte er und schenkte dem Dunkelhäutigen ein freundschaftliches Lächeln. »Was liegt vor uns?« »Böses Land, Luxon«, sagte der Pfader. Er selbst kannte nicht jeden Quadratfuß des Landes, aber das, was er nicht wußte, stammte aus Erzählungen von Karawanenherren und Wanderern, die eine solche Strecke Weges überlebt hatten. »Hitze, Felsen, sehr viel Sand und die Möglichkeit, ständig von Wegelagerern überfallen zu werden.« »Ab welcher Stelle ist die Straße wieder sicher?« »Dort, wo die festen Hütten stehen, in denen des Shallad Soldaten postiert sind. Irgendwo weit hinter den Drei Schwärenden Fingern.« Luxon faßte unwillkürlich nach Alton, dem leuchtenden Schwert, und fragte verblüfft: »Wohinter?« »Nach einigen Felsen, die wie drei von Geschwüren zerfressene Finger aussehen!« beharrte der Pfader. »Wann erreichen wir sie?« »Etwa zum höchsten Stand der Sonne«, entgegnete der Pfader. »Falls sich das Gestirn hinter dem Nebel oder den mannigfachen Zeichen der Düsterzone zeigen sollte.« Der Pfader, also ein Kundiger der Pfade, Wege, Straßen und 123
Gefahren, war Luxon in einer Hafenschenke Sarphands aufgefallen. Für einen beträchtlichen Haufen Münzen hatte er ihn in seine Dienste genommen. Ihn tröstete der Umstand, daß zwei Drittel des Pfader-Lohnes erst in Logghard fällig wurden, also am Ende der Reise. Risiko, meinte Luxon stets, sollte gleichmäßig verteilt werden, und überdies war Vorsicht die Leidenschaft des Alltags. Er vergewisserte sich, daß der Sonnenschild mit einem schnellen Griff aus der Schlinge am Sattelhorn glitt, und fragte zurück: »Und was bedeutet diese Wolke aus Staub, Sand, Dampf oder anderen geheimnisvollen Bestandteilen, Pfader?« Das Gesicht des Mannes, der ihm bisher treu und zuverlässig gedient hatte, wechselte die Farbe. Zuerst wurde die sonnengebräunte Haut fahlweiß, dann, als der Pfader sah, was Luxon meinte, rötete sich sein Antlitz. Nach einigen Augenblicken stieß er wütend und beschämt hervor: »Es kann nur eines bedeuten, Herr!« Luxon stieß ein grimmiges Gelächter aus und schob den Sternenbogen auf der Schulter zurecht. »Kampf, nicht wahr?« »Ja. Eine Karawane wird von Wegelagerern überfallen. Sie nisten in Klüften und Schrunden, wie man sagt.« »Wie man sagt«, erklärte Luxon und stellte sich aufrecht in die Steigbügel, »ist das Leben eine rauhe Angelegenheit. Ich sehe nach, wie rauh das Leben dort hinter den Felsen ist und ob sich für uns vielleicht ein Vorteil aus dem Geschehen ergeben kann.« Er setzte die Sporen ein, fing die Stöße des Pferdekörpers in den Knien ab und dachte, verblüffenderweise, wieder einmal an Mythor. Andererseits war er sicher, daß er ihn dort an der Stelle der Sandwolke nicht treffen würde. Die Hufe seines schnellen, ausgeruhten Tieres schlugen unter ihm einen harten Trommelwirbel auf dem festgebackenen Sand. Luxon band den Helm fest und griff über die Schulter. Langsam zog er den 124
geschweiften Bogen von der Schulter und spähte nach vorn. Diese Welt, und wer wüßte es besser als Arruf-Luxon aus der Gosse von Sarphand, war hart, unbarmherzig und grausam. Magie und Heldentum, finsterste Abgründe menschlicher Bosheit, Großzügigkeit und Grausamkeit, Gewinnstreben und Edelmut bildeten ein chaotisches Durcheinander. Nur die Besten überlebten, und dies nicht immer. Was heute als Geste der Schwachheit galt, war morgen der Schlüssel zur Macht. Langes Nachdenken und kluge, in stillen Nächten gefaßte Überlegungen… am nächsten Morgen waren sie zerstoben wie dünner Nebel. Auch jetzt würde er versuchen, zu überleben und aus allem das Beste zu machen. Er ahnte nicht, was er hinter dem nächsten Felsen sehen würde, aber zweifellos gab es Kampf. Luxon vergaß den Pfader, der versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Und nach einem rasenden Rennen, der seinen fahlbraunen Hengst nicht erschöpfte, bog er in gestrecktem Galopp um eine Felskante. Er brauchte nur zehn Herzschläge lang, um zu erkennen, was sich vor ihm abspielte. Oder genauer: was sich abgespielt hatte, denn die Verteidiger der Karawane waren bis auf wenige Ausnahmen dahingemetzelt worden. Seine Hand zuckte über die Schulter, ergriff einen Pfeil des Mondköchers und schwang ihn auf die Sehne des Bogens. Luxon nahm die richtige Haltung im Sattel ein, die einen sicheren Schuß gewährleistete. Während der Hengst, nur durch Zuruf und Schenkeldruck gelenkt, ihm in jeder Faser gehorchte und danach trachtete, sich nicht besonders stark zu bewegen, federte Luxon die Stöße des Pferdekörpers ab. Der Bogen und der Pfeil auf der Sehne blieben waagrecht und fast unverändert in der Luft schweben, ebenso die drei Finger, von denen die Sehne, und die Hand, von der der Bogen gehalten wurde. Ein verirrter 125
Sonnenstrahl brach sich funkelnd im Zielstein. Dann schwirrte der erste Pfeil von der Sehne. Luxon sah gar nicht mehr hin; er wußte, daß das Geschoß traf. Der zweite Pfeil lag auf der Sehne, der dritte folgte dem zweiten, und der vierte traf ebenso sein Ziel. Luxon zielte nicht auf die Orhaken, sondern auf die Männer. Er sah, daß die Wegelagerer ein Blutbad angerichtet hatten. Dann ritt er in schärfstem Galopp auf die träge brodelnde Sand- und Staubwolke zu, hielt den Atem an und holte Pfeil um Pfeil aus der Öffnung des Mondköchers. Unheilvoll raschelten die Federn an den Enden der halbmagischen Geschosse. Ununterbrochen sang und schwirrte die Sehne und schlug gegen das Metall des Schutzes am linken Handgelenk. Jeder Pfeil fand sein Ziel. Luxon sah die blutroten Flammenkreise und das Zeichen des Schwertmonds und wußte, daß dies eine Karawane des Shallad Hadamur war. Er hatte seine Pfeile auf die richtigen Ziele abgefeuert – dies war Shalladad, Land im Reich des Hadamur. Noch ein letzter Pfeil verließ die Sehne. Dann war die Entfernung zu sehr zusammengeschrumpft. Luxon warf den Bogen zurück über seine Schultern und zog das Schwert. Der Griff schmiegte sich in seine Hand, aber als er nachfaßte und seine Finger darum schloß, glaubte er eisige Kälte zu spüren. Trotzdem hob er das Schwert, schob seinen Arm durch die Schlaufen und Griffe des Sonnenschilds und überblickte flüchtig das Schlachtfeld. Noch galoppierte er durch dünne und dichte Schleier aus feinem Sand. Einige Sprünge weiter aber sah er klar. Die meisten Krieger, von denen eine kleine Shallad-Karawane begleitet wurde, waren tot oder so schwer verletzt, daß sie diesen Tag nicht mehr überleben würden. Ein einzelner Mann wehrte sich erbittert. Etwa dreißig, vierzig Orhako-Reiter, mit größter Sicherheit die Wegelagerer, waren noch kampfbereit. 126
Ein Dutzend von ihnen hatten seine Pfeile niedergemacht. Luxon stieß ein kurzes, hartes Gelächter aus und sagte laut zu sich selbst: »Es kann kein Nachteil sein, eine Karawane meines besten Freundes Hadamur zu retten!« Dann trafen er und der nächststehende Reiter zusammen. Das Schwert Alton pfiff mit leisem Klagelaut waagrecht durch die Luft wie ein Sonnenstrahl. Spitze und Schneide ritzten den Hals und den Körper des Orhakos auf, schmetterten die kurz gehaltene Reiterlanze des Vogelreiters zur Seite, kappten den Holzschaft und trennten den Arm des Reiters vom Körper. Augenblicklich brach unter den Überlebenden der heillose Aufruhr aus. Die Orhaken schrien gellend und kreischend. Ein Dutzend Reiter etwa konnten nicht in den Kampf eingreifen, weil sie damit zu tun hatten, ihre hysterischen Tiere zu beruhigen. Luxons Hengst sprang prustend nach rechts. Luxon schwang das Schwert, spaltete einen kleinen runden Schild und stach gerade nach vorn. Tödlich getroffen kippte der Wegelagerer nach hinten, verlor den Halt, und als sein Orhako weitertrabte, überschlug sich sein Körper zweimal, ehe er in den aufstiebenden Sand krachte. Inzwischen war Luxon bereits zehn Mannslängen weiter, wehrte mit dem Schild einen Lanzenstich ab und rammte das Schwert halb durch den Körper eines Reitvogels. Das sterbende Tier begrub seinen Reiter unter sich, als es in den Kniegelenken einknickte, und er starb, weil der schwere Körper ihm nahezu alle Knochen brach. Zwei Reiter stoben auf ihn zu. Luxon, der die starren Blicke zweier Männer registriert hatte – es handelte sich wohl um die beiden Anführer –, duckte sich tief auf den Rücken des Pferdes, führte einen Schlag aufwärts und mit demselben Schwung lenkte er Alton wieder aufwärts. Er hieb den Unterarm des ersten Angreifers samt der Waffe ab und bohrte 127
dem rechts anreitenden Krieger die Spitze des klagenden Schwertes ins Auge. Dann waren er und sein Pferd durch die erste Dreifachreihe der Angreifer hindurchgaloppiert und rasten auf die Drei Finger zu. Er nahm das Bild flüchtig wahr, holte tief Atem und wendete sein Pferd. Noch mehr als ein Dutzend Angreifer waren vor ihm. Luxon grinste kalt. Dann hob er den linken Arm und brachte den Sonnenschild hoch. Bisher hatte er nur als Abwehr gedient. Jetzt aber setzte er den Schild voller Absicht ein. Er hob den Kopf und sah, daß der Pfader und eine Handvoll anderer Männer aus der Sandwolke hervorschossen wie die verkörperte Rache. Sie sahen ihn im selben Moment, winkten und schrien und stürzten sich augenblicklich auf die Vogelreiter. Sieben Mann zählte Luxon. Der Rest der Vogelreiter und auch ein bärtiger, breitschultriger Mann kamen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zugeritten. Die weiten Umhänge der Reiter flatterten über den Hinterteilen der Vögel. Luxon hob den Sonnenschild und hielt sein Pferd an. Der Schild wirkte plötzlich wie ein Spiegel. Die Wegelagerer, die in fächerförmiger Formation auf Luxon zuritten, sahen nur das Metall des Schildes. Der Reiter mit seinem ungewöhnlich geformten Helm und das Pferd wurden unwichtig. Die Augen der Vogelreiter bohrten sich in den Schild, ihre Wut und ihre Kampflust, die sie bisher angespornt hatten, wurden auf seltsame, erschreckende Weise umgekehrt. Je näher sie an den einzelnen Reiter herankamen, desto langsamer wurden sie. Die Kampfwut kehrte sich plötzlich gegen sie. Die Angst vor Rache und Vergeltung, dazu ein unerklärliches Gefühl, das sich nicht deuten ließ, schlug in jeden einzelnen Reiter zurück. Es war, als ob der Schild wie ein Brennspiegel sie mit Furcht blendete. Der erste Reiter warf 128
sein kreischendes Orhako herum und brach nach rechts aus. Er zitterte vor Angst. Auch auf die Tiere schien der spiegelnde Schild zu wirken. Er reflektierte ihre panische Wut, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Die Reiter ließen ihre Waffen sinken und trabten davon, schrien unartikuliert und fühlten, wie ihnen das Blut aus den Gliedern wich. Dann setzte eine Massenflucht der Rebellen ein. Sie wandten sich in die Richtung der schmalen Schlucht, aus der sie gekommen waren. Auch die Verwundeten versuchten, dorthin zu kriechen. Zuletzt war nur noch ein einzelner bärtiger Mann übrig, der mit seinem Orhako kämpfte. Das Tier peitschte mit dem Hals hin und her, sprang auf der Stelle und schrie erbärmlich. Es hackte sich selbst in die Beine und wollte den Reiter abwerfen. Der Anführer hatte seine Lanze verloren und schlug mit der breiten Seite des Schwertes auf den Reitvogel ein. Sein Gesicht war unnatürlich bleich, dicke Schweißtropfen liefen über seine Stirn. Er gab das Ringen auf, stieß einen gräßlichen Fluch aus und ließ sich von seinem rasenden Tier davonschleppen. Der Speer, den ihm ein übriggebliebener Verteidiger nachschickte, bohrte sich neben den Läufen des Orhakos in den Sand. »Wir werden dich hetzen und finden, Hodjaf!« schrie der Speerwerfer und kam mit hoch erhobenen Armen auf Luxon zu. Hinter dem einzelnen Reiter versammelten sich seine Männer. Der Pfader Socorra hob den Arm und sagte scharf: »Halt. Das ist ein Mann des Shallad. Seht das Zeichen.« Luxon schob das Schwert zurück, senkte den Schild und löste das Band des Helmes. Er sah dem breitschultrigen Mann mit dem blutverkrusteten Gesicht schweigend entgegen. Über das Gesicht des Anführers schien Unmut zu huschen, keineswegs Erleichterung darüber, daß er gerettet worden war. Von seinen Männern lebte nur noch ein Dutzend; einige 129
würden innerhalb der nächsten Stunden unter Qualen sterben müssen. »Ich bin Luxon aus Sarphand!« sagte Luxon. »Das ist Socorra, der Pfader. Die anderen sind meine Männer.« »Wir sind, obwohl wir gewarnt waren und uns kampfbereit verhielten, von der Übermacht der Wegelagerer besiegt worden«, sagte der Anführer. »Dank für deinen mutigen Kampf, Luxon. Ich bin Algajar und begleite die Prinzessin Nohji.« Er zeigte auf das regungslos dastehende Diromo mit dem Zeltaufbau. »Wir wollen in Logghard gegen die Dunklen Mächte kämpfen«, erklärte Luxon und befestigte den Sonnenschild am Sattel. »Welche Prinzessin?« Algajar deutete auf das Zelt, das auf dem Tragegestell schwankte. »Eine Tochter des Shallad Hadamur. Lang währe sein Leben. Wir sind auf der Reise in den Süden.« »Du kanntest den Namen des Rebellen?« erkundigte sich Luxon mißtrauisch. Irgend etwas gefiel ihm nicht. »Und warum, Mann, seid ihr so wenige?« Seine Leute kümmerten sich, zusammen mit den wenigen übriggebliebenen Kriegern des Shallad, um die Verletzten und Sterbenden. »Hadamur entschied es nicht anders.« »Gepriesen sei seine Klugheit«, knurrte Luxon, gab seinem Pferd die Fersen und ritt hinüber zum Diromo. Er lehnte sich im Sattel zurück und blickte schräg hinauf zum Zelt. Eine schmale Hand schob sich durch den Spalt und schlug den Eingang mit einer raschen Bewegung zurück. Luxon blickte in ein schmales Gesicht mit übergroßen Augen, eingerahmt von weichem braunem Haar. »Du bist sicherlich die Prinzessin Nohji«, sagte Luxon. »Darf ich dir anbieten, im Schutz meiner Karawane weiterzureisen?« »Du warst mutig, schnell und erbarmungslos«, sagte Nohji 130
hingerissen. »Und du hast sie alle in die Flucht getrieben.« »Es war nicht ganz so dramatisch«, erklärte Luxon. »Trotzdem. Vermutlich ist es für dich und den Rest deiner kleinen Truppe viel sicherer, mit uns zu kommen. Es gibt mehr Schutz. Wir haben genügend Nahrungsmittel. Wohin des Weges?« »Nach Hadam, zur Residenz des Shallad Hadamur, meines Vaters«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich hasse es, in dem schwankenden Zelt zu leben.« »Vielleicht findet sich bei uns ein Pferd«, versprach Luxon. »Falls du reiten kannst.« »Ich kann reiten. Ist das deine Karawane?« Prinzessin Nohji deutete nach Westen. Dort tauchten hinter der nächsten Krümmung die Reiter und die großen, schwankenden Diromen auf, begleitet von der Staubwolke und den Sandwirbeln, die bisher jeden Schritt der Reise begleitet hatten. Es war ein Anblick, der in gewisser Weise beeindruckte. »Das ist sie«, bestätigte Luxon. »Es wäre schnöde, euch Hilfe zu verweigern. Zusammen sind wir stärker.« »Und die Reise wird abwechslungsreicher!« sagte die Prinzessin. »Überall lauern Wegelagerer. Die Welt ist voller Gefahren.« »Wenn jemand so jung ist, wie du es bist«, meinte Luxon und grinste auf seine gewinnende Art, »sollte er nicht über die häßlichen Seiten des Lebens sprechen. Wir werden hier kurz lagern und die Karawane neu zusammenstellen. Sage deinem Anführer, Vertrauten oder wie immer er sich nennt, daß wir gemeinsam Weiterreisen.« »Er hat«, sagte Nohji in plötzlicher Hellsichtigkeit, »über den Fortgang der Reise wohl seine eigenen Vorstellungen.« »Schon möglich. Man wird sehen«, antwortete Luxon. Er hob kurz die Hand, wandte sein schnaubendes Pferd herum und 131
galoppierte auf den Pfader zu. »Socorra!« sagte er scharf. »Diese Menschen werden mit uns reisen. Habe ein wachsames Auge auf diesen düsteren Menschen, der sich Algajar nennt. Er ist mir unheimlich. Möglicherweise führt er Böses im Schilde.« »Ich werde achtgeben!« versprach Socorra. »Wie lange soll der Aufenthalt hier dauern?« »Nicht länger als eine Stunde«, ordnete Luxon an. »Wir haben nicht zuviel Zeit.« »Es wird so geschehen«, sagte der Pfader. Luxon ritt langsam seiner Karawane entgegen. Sie war etwa zehn Bogenschüsse weit entfernt. Er war sich durchaus bewußt, daß ihm die Prinzessin mit brennenden Blicken nachstarrte. Langsam und scharf konzentriert ließ er seinen Blick über die kleine Ebene gehen. Sie war von toten Kriegern und toten Orhaken bedeckt. Die Abhänge und Wände der Felsen strahlten Wärme aus und waren ohne jedes Leben. Nur am Ende des Tals bot sich dem Auge eine geringfügige Erholung. Die Drei Schwärenden Finger und das Grün, vor dem sie sich erhoben, verhießen Ruhe und Sicherheit. Beides war trügerisch. Luxon, der ein gutes Auge für Lüge und Betrügerei hatte, wußte nicht, was an diesem Überfall faul und seltsam war. Die Verletzten bluteten und schrien, und die Toten waren unzweifelhaft tot. Trotzdem blieb er mißtrauisch. Immer dann, wenn die Dinge klar und offensichtlich schienen, vermochte er an diese klare Lösung nicht zu glauben. Er hatte seine Erfahrungen, gesammelt in der Gosse und als Sklave in Sarphand. Die Erfahrungen aus dieser Zeit lehrten ihn, wie man überlebte. Er war sicher, daß er es war, der überlebte. Trotz der Waffen, die er Mythor abgelistet hatte. Er erreichte die Spitze seiner eigenen Karawane und entdeckte zwischen einigen Vertrauten Kalathee und Samed in den Sätteln von ruhigen Pferden. In schnellen Worten erklärte 132
er ihnen, was vorgefallen war. Das dritte Diromo kam mit wiegenden Schritten näher. Luxon drehte den Kopf und nahm, als scheue er sich, ihn weiter zu tragen, den Helm Mythors ab. Als er den großen Edelstein anblickte, mußte er wieder an Mythor denken. Er hob den Arm und hielt das Diromo an. Der Treiber gehorchte wortlos. Luxon stellte sich in den Steigbügeln auf und blickte auf die gepolsterte Bahre, die unter dem Schutz der Sonnensegel sanft im Rhythmus des schweren Tierkörpers schaukelte. »Kannst du mich hören, Shakar?« fragte er. Shakar, sein ehemaliger Ziehvater, glich mehr einem mumienhaften Gerippe als einem lebenden Greis. »Ich höre dich, Luxon«, flüsterte er. »Neue Aufregungen?« Luxon schilderte, was vorgefallen war. Als er den Namen des Anführers erwähnte, richtete sich Shakar auf und lispelte trocken: »Algajar?« »Diesen Namen nannte er«, versicherte Luxon. »Du kennst ihn?« »Ich hasse ihn, weil ich ihn kenne. Er war einer der Helfer bei dem sogenannten Jagdunfall des Shallad Rhiad.« Luxon schwieg überrascht. Davon hatte er natürlich nichts ahnen können. Aber er vertraute dem guten Gedächtnis seines Ziehvaters. So war es auch sicherlich richtig, daß jener Algajar vor langer Zeit einer der Verschwörer gewesen war, die Luxons Vater ermordeten. »Bist du sicher, Vater Shakar?« fragte Luxon. Er hatte strengsten Befehl gegeben, daß es Shakar an nichts fehlen sollte. Die Angehörigen der Karawane fächelten ihm Luft zu, wuschen ihn, brachten ihm zu trinken und zu essen und sahen immer wieder nach ihm. Besser konnte es niemandem auf einem solchen Marsch ergehen, selbst wenn man seinetwegen nicht schnell und zügig reisen konnte. 133
»Ich muß ihn sehen«, murmelte der alte Mann. »Ich erkenne ihn wieder, ganz bestimmt.« »Er wird sich an dich erinnern?« fragte Luxon. »Möglich. Nein… ich denke nicht.« Luxon nickte und ahnte kommendes Unheil. Andererseits verschaffte ihm das Wissen Shakars einen kleinen Vorteil gegenüber dem Anführer der dezimierten Karawane. Er strich über den knochigen Arm Shakars, wendete sein Pferd und sprengte wieder bis zur Spitze des Zuges. Er sah, daß die Verwundeten versorgt und auf die Diromen gehoben wurden. Abseits der Straße stand regungslos das Orhako des Anführers. Das Tier trug die Kapuze über dem Schädel und versuchte, sie abzustreifen, indem es den Kopf zwischen den Beinen rieb und heftig hin und her warf. Algajar saß ruhig im Sattel und sah zu, wie ein Diromentreiber das Tier der Prinzessin herbeiführte und den Leitzügel am Gestell des davor schreitenden Lastvogels befestigte. Sein hartes Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte. Er war alles andere als erfreut. Der Tod seiner Männer schmerzte ihn kaum, denn er hatte ihn seit dem Anfang der Reise in seine Überlegungen einbezogen. Ihn ärgerte bis zur kochenden Wut, daß dieser verdammte Luxon seinen Plan verdorben hatte. Nicht nur seinen Plan, sondern auch den des Shallad! Algajar spuckte in den Sand und schluckte einen Fluch hinunter. Er wartete scheinbar geduldig, bis es weiterging. Sie wurden mit den Bergrebellen und Wegelagerern nicht fertig, die vielen zersplitterten Wachtposten des Shallad Hadamur in diesem unwirtlichen Gebiet. Also warf man Hodjaf einen Köder hin, der aus der lieblichen Prinzessin Nohji bestand. Sie sollte den Kampf überleben und von Hodjaf »geraubt« werden. Als seine selbstverständliche Beute konnte sie ihn langsam und sicher auf die Seite des Shallad bugsieren, 134
ihm Ideen eingeben und ihn von deren Richtigkeit überzeugen – und dies alles in den Stunden der Leidenschaftlichkeit. Dieses Verfahren wirkte fast immer. Nicht zum erstenmal war der Shallad angesichts seiner vielen Tochter zu dem Entschluß gekommen, Friedenspolitik gegen Schönheit und Jungfräulichkeit zu verschachern. »Was tun?« murmelte Algajar im Selbstgespräch. Für den Augenblick mußte er sich dreinschicken und gute Miene zum Spiel machen, das nicht in seinem Sinn abgelaufen war. Erst jetzt dachte er daran, auf welche Weise sich der Anführer der großen Karawane eingeführt hatte. Er verstand wirklich etwas vom Kämpfen! Jeder Pfeil hatte getroffen und hatte eine tödliche Wunde geschlagen, obwohl der Schütze in vollem Galopp schoß. Algajar hob die Schultern und warf einen langen, nachdenklichen Blick auf Luxon. Er grinste kalt, denn er sagte sich, daß früher oder später seine Stunde kommen würde. Er hatte ein Scharmützel verloren, aber nicht den Kampf selbst. Als zwei Drittel der Karawane an ihm vorbeigetrabt waren, zog er die Kapuze vom Schädel des Orhakos und trabte langsam hinterher. Luxon schaute nach rechts und links. Neben ihm ritten Socorra, der Pfader, und Kalathee. Die Drei Schwärenden Finger lagen dicht voraus. Ruhig folgte die Karawane; trotzdem sicherten Luxons Vertraute nach beiden Seiten der Felsen. Pfeile lagen auf den Sehnen, aber kein Wegelagerer ließ sich sehen. »Eine Handvoll hat überlebt«, sagte Kalathee. »Dieser Algajar scheint ein harter Kämpfer zu sein.« »Nicht nur das. Darüber hinaus ist er auch ein übler Schurke. Wir dürfen nicht zulassen, daß er Shakar sieht. Shakar aber soll ihn sehen und, vielleicht, wiedererkennen.« »Hat er etwas mit Rhiads Tod zu tun?« 135
»Shakar behauptet es«, antwortete Luxon. »Abwarten. Er strahlt Unruhe, Kraft und Gespanntheit aus.« »Er wird der Karawane nicht nützen!« meinte Socorra. Auch er gehörte zu den wenigen Getreuen, die über Luxons Doppelleben als Croesus wußten. Aber nur Shakar, Kalathee und Samed wußten, daß er eigentlich der rechtmäßige Shallad war. »Sorge dafür, daß er uns nicht schadet«, ordnete Luxon an. Vor ihnen ragten die drei seltsam geformten Felsen hoch. Tatsächlich sahen sie aus wie ins Riesige vergrößerte Finger voller Geschwüre. Von den Arvenbäumen dahinter kam ein kühler, wohlriechender Hauch. Wasser blinkte zwischen den knarrenden und raschelnden Schäften der Bäume. Luxon hob sich im Sattel, drehte sich herum und schrie: »Zuerst wird das Wasser wieder aufgefüllt, dann trinken alle, und zuletzt erst werden wir uns waschen. Stellt Wachen rund um die Oase auf!« »Verstanden!« kam es von hinten. Kalathee faßte Luxon am Arm und sagte nachdrücklich: »Was hast du mit der Prinzessin vor?« »Nicht das geringste!« gab er zurück und lachte breit. In seinem braungebrannten Gesicht blitzten die Zähne. »Sie ist im Moment ein Pfand, nichts mehr. Eifersüchtig?« Mit unverkennbar drohendem Unterton und funkelnden Augen antwortete seine Geliebte: »Noch nicht. Ich hoffe, ich habe keinen Grund dazu!« Luxon lachte noch immer und deutete auf die Diromen, die langsam daherkamen. Auf seiner Bahre, festgeschnallt, schwankte Shakar unter den Leinensegeln und neben dem Gepäck. »Sicher nicht, Geliebte«, sagte Luxon. »Ich kümmere mich um meine Waffen und um Shakars Wohlergehen.« »Das Ziel der Reise wird er, denke ich«, sagte Socorra 136
leidenschaftslos, »sicher nicht erleben.« Luxon zuckte die Schultern und spornte sein Pferd. Im Zickzack ritt er zwischen den riesigen Vögeln und seinen anderen Männern hindurch. Er hielt wieder neben Shakar an und nahm den Helm vom Kopf. Der Lenker des Diromos empfing den Helm und legte ihn in eine leere Kiste. Der Bogen und der Köcher folgten. Das Amulett trug Luxon stets unter seinem Wams, jetzt schnallte er Alton ab und reichte es nach oben. Mit müden, halb geschlossenen Augen sah ihm Shakar dabei zu. Als der Sonnenschild unter den Mänteln und Decken verschwand, zwischen denen bereits das Orakelleder zusammengerollt lag, sagte Luxon: »Lasse die seitlichen Vorhänge herunter. Befestige die Schnallen. Der Anführer soll Shakar nicht sehen.« »Sofort, Herr Luxon«, bestätigte der gemietete Treiber. Der äußere Kampf, der hier getobt hatte, war nichts anderes als der blutige Ausdruck des inneren Kampfes oder vieler lautloser Kämpfe, die in den Männern tobten und sich einem Ausbruch entgegenstauten. Luxon selbst versuchte, diese Lösung zu vermeiden, indem er seine Gedanken auf das erste wirklich große Ziel in seinem wechselvollen Leben richtete. Alles, was er auf dem Weg zu diesem Ziel erlebte, zählte nicht wirklich. Er würde die Dinge ebenso wie die Menschen behandeln; er mußte auf alle Fälle derjenige sein, der letzten Endes übrigblieb. Unter diesen Vorzeichen betrachtete er auch den schnellen Sieg über die Wegelagerer und das Problem, das die Anwesenheit der Prinzessin und ihres Anführers darstellte. Luxon sprang aus dem Sattel, winkte Shakar mit den Augen zu, ehe sich die Vorhänge schlossen. Dann nahm er den Hengst kurz am Zügel und führte ihn unter den hochgereckten Steinfragmenten zum Wasser. 137
»Immerhin!« sagte er sich leise und kontrollierte mit schnellen, scharfen Blicken die Arbeiten seiner Männer. »Immerhin kenne ich einen Mann, der mich töten sollte.« Zum zweitenmal hatte er heute Mythors Waffen angelegt, als er den aufwallenden Staub und den Kampf bemerkte. Er mußte sich selbst gegenüber zugeben, daß ihn eine starke Scheu davon abhielt, die Waffen des Lichtboten selbst zu benutzen. In seinen Händen waren sie so gut wie in der Faust Mythors, aber Luxon ahnte, daß ihre Kraft nachließ oder daß sie versagten, wenn er das Schicksal mit ihnen allzusehr herausforderte. Mißmutig registrierte er, daß er scheinbar so etwas wie geheime Furcht empfand, den Sternenbogen zu ergreifen oder die Klinge zu schwingen, die sich in die Finger schmiegte und jedes andere Schwert zerschmetterte. »Trotz allem…«, sagte er und schlug einen seiner Vertrauten auf die Schulter. Der Mann zuckte zusammen, fuhr herum und grinste dann erleichtert. »… geht die Reise weiter! Und nun zur Prinzessin!« Er warf dem Krieger die Zügel zu, bückte sich am Rand des kleinen Teiches und säuberte Gesicht und Arme. Er trank einen Schluck wunderbar frisches und kühles Wasser, das ihm Kalathee reichte. Die Vorräte der Karawane wurden ergänzt, während einige Männer mit gezückten Schwertern um die Oase herumritten. Die Spitze des Zuges formierte sich bereits wieder. Luxon winkte Samed heran. »Setz dich neben Shakar auf das Diromo. Lies ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Und wenn es ihm schlechter gehen sollte, rufe mich.« »Ich wäre lieber mit dir geritten!« gestand der Junge mit der samtdunklen Haut. »Nichts da. Es ist wichtiger.« Samed zog eine Grimasse und trollte sich. Kurze Zeit später, mit vollen Wassersäcken und erfrischt, zog die Karawane 138
weiter. Die Straße wurde jenseits der Drei Schwärenden Finger schmaler und wand sich in abenteuerlichen Kurven und Winkeln dahin. Mehr als einmal waren die Wanderer sicher, von den versteckten Wegelagerern beobachtet zu werden. Aber nicht ein einziger Stein rollte und sprang über die Felsen; ein gutes Zeichen.
Algajar hielt am frühen Nachmittag sein Orhako an, nahm den prallen Wasserschlauch vom Sattel und zog den Korken mit den Zähnen heraus. Er trank langsam etwas Wasser und blickte unter dem Rand des Tuches nach den Kriegern Luxons. Sie beachteten ihn nicht sonderlich. Ein Mann, der am Rand einer Karawane Wasser trank, war ein mehr als alltäglicher Anblick. Die Pferde schnaubten, ihre Hufe erzeugten ein andauerndes Trappen und Klappern, und das Leder der Sättel knirschte. Während der Anführer den Schlauch wieder sorgsam verschloß, zog er seinen Dolch aus dem Gürtel. Die Sonne brannte jetzt, aus der Richtung der Finger strahlend, in den Einschnitt der Felsen. Vorsichtig drehte Algajar seinen Körper, bis seine Schultern verbargen, was er tun mußte. Auf der geschliffenen und polierten Dolchklinge spiegelte sich die Sonne. Ein Blitz, unsichtbar für Luxons Krieger, zuckte hinauf in das Felsengewirr. Einige Male bewegte Algajar den Dolch hin und her und kippte ihn. Aus dem einzelnen Reflex wurde eine Folge von schnellen Blitzen, die nur jemand sehen konnte, der sich dort verbarg und herunterblickte, um den Weg der Karawane zu verfolgen. Nach rund hundert Herzschlägen verschwand der Dolch wieder in der ledernen Scheide. Als sich das Diromo mit dem kleinen Zeltaufbau an Algajar 139
vorbeidrängte, war der Mann gerade dabei, den Wassersack festzuknoten. Er sah nicht, daß ihn zwei rotgeränderte, zusammengekniffene Augen anstarrten, als wollten sie ihn verbrennen.
Shakar erkannte ihn beim ersten Blick wieder. Das kantige Gesicht war härter geworden und trug mehr Falten. Die dunklen Augen und der schmale Mund – derselbe. Im schwarzen Haar, das damals länger gewesen war, zeichneten sich die Linien des Alters ab. Die goldene Münze im rechten Ohr war, als sie das Urteil über Rhiads Sohn gesprochen hatten, größer und prunkvoller gewesen! Ja! Es gab nicht den geringsten Zweifel. Es war Algajar, einer der engsten Freunde des falschen Shallad. Gemartert von seinen Erinnerungen, stöhnte Shakar auf. Samed erschrak und beugte sich über ihn. »Was hast du, Shakar?« flüsterte er und spähte durch die Schlitze der Leinwand. Der Alte stöhnte ein zweites Mal und murmelte mit brechender Stimme, die Augen vor Schmerz geschlossen: »Erinnerungen, Kind. Schon fast Legenden! Die Dämonen meiner Mannesjahre holen mich ein.« Er murmelte etwas, dann fiel er übergangslos in einen tiefen Schlaf. Samed überwand seine Scheu und legte seine Finger an die Schlagader des Halses. Sie pochte unter der pergamentenen Haut.
Die Düsterzone oder jenseits von ihr die Schattenzone beherrschte auch diese Nacht. Fernes Glühen war von Zeit zu Zeit zu sehen. Der harte Glanz der Sterne wurde verdeckt, und zu bestimmten Zeiten zogen lange Flammenbahnen schräg zu 140
Boden. Himmelssteine zeigten so an, daß sie verbrennend in das Land des Südens einschlugen. Das riesige schwarze Maul der Dämonen hatte den Mond gefressen. Obwohl seine narbige Scheibe voll und rund war, sah man nicht einmal hinter den Wolken sein Licht. Rund um das Lager der Karawane standen die Posten. Sie waren noch nicht abgelöst worden. Die Tiere, von Sätteln und Lasten befreit, standen und kauerten in einem weiten Kreis um die Feuer, die im Zentrum des Lagers brannten und glühten. Kalathee und Luxon saßen nebeneinander auf einem schweren, von breiten Lederbändern zusammengehaltenen Gepäckstück. »Ich bin verwundert«, sagte Kalathee leise und hielt einem Helfer, der mit einem Krug Wein an ihnen vorbeiging, ihren leeren Becher entgegen. »Du hast die magischen Waffen wieder abgelegt?« Luxon trug seine eigenen Waffen. Neben der Kiste lagen das Schwert und ein lederumhüllter Schild. »So ist es«, gab Luxon zurück. Er aß Fladenbrot und eine dicke Scheibe trockenen Braten. »Ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, daß die Waffen nur eine begrenzte Wirkung haben können.« »Nicht in Mythors Händen«, widersprach Kalathee, nickte dem Mann mit dem Weinkrug dankend zu und erblickte jenseits der Feuer die Gestalt der Prinzessin. Sie kam an der Seite Algajars auf Luxon und seine Krieger zu. »Ich habe diese Waffen aus einer bestimmten Überlegung an mich genommen«, murmelte Luxon. »Nach allem, was ich heute weiß, bin ich der rechtmäßige Shallad. Bist du auch meiner Meinung?« »Säße ich sonst hier?« gab sie ein wenig zweideutig zurück und strich sein helles Haar in den Nacken. »Gut. Wenn ich der rechtmäßige Erbe meines Vaters Rhiad 141
bin, woran ich nicht zweifle, dann bin ich der weltliche Vertreter, sozusagen die fleischliche Manifestation des Lichtboten. Der Shallad ist der Gottkönig. Habe ich recht?« Kalathee nickte und beobachtete die Prinzessin. Der große Mann neben ihr brachte ihr Essen und einen Becher Wein, den sie gierig hinunterstürzte. Luxon fuhr fort: »Mythor, als Sohn des Kometen, wurde nur aus Machtstreben von den Großen eingesetzt und unterstützt. Er selbst schätzt sie nicht sonderlich; er mißtraut ihrem Geheimbund mit all ihren makabren Riten.« Im Lager herrschte die gewohnte halbe Unruhe. Von Magie oder Gefahren, von unmittelbarer Bedrohung oder Geheimnissen war jetzt nichts zu spüren. Die nächtliche Dunkelheit hatte die drohenden Schatten der Dunkelzone vorübergehend verschwinden lassen. Menschen und Tiere erholten sich von dem fünfzehnstündigen Marsch durch Sand und Hitze, wenig Schatten und viel Felsen. »Vieles, was du tust, ist mir fremd. In deine Gedanken kann ich ohnehin nicht eindringen«, beklagte sich Kalathee und lockerte die dünnen Stiefel. »Ich versuche, seit meiner Geburt, zu überleben. Mir sind dafür mehr Mittel recht als anderen Männern. Ich töte und morde nicht, um mein Ziel zu erreichen.« »Das kann man dir, glaube ich, nicht vorwerfen«, meinte Kalathee. »Deute ich deinen Blick richtig?« Er lächelte sie mit blitzenden Zähnen an. Die lodernden und zuckenden Flammen des Feuers ließen ihre Gesichter geheimnisvoll und kühn wirken. Wieder fühlte Kalathee denselben aufregenden Schauer wie damals am Nadelfelsen. »Welchen Blick?« fragte er einigermaßen verwundert. »Den, mit dem du die Prinzessin anstarrst!« »Geliebte!« Luxon lachte schallend auf. »Deine Eifersucht ist ohne Grund! Erstens ist die Prinzessin noch fast ein Kind.« 142
»Du hast sie also schon so genau angesehen!« stellte sie fest und ärgerte sich über sein Gelächter. Luxon nickte zufrieden und versicherte: »Natürlich habe ich sie genau angesehen. Schließlich kann mir nicht ganz gleichgültig sein, wer in meiner Karawane meinen Schutz genießt. Ich sehe mir ebenso genau diesen finsteren Algajar an und seine verwundeten Männer.« »Was hast du also mit der Prinzessin vor?« »Das weiß ich noch nicht. Aber ich bin sicher, daß es eine Gelegenheit geben wird, wo Nohji mir nützlich sein kann. Schließlich bin ich ihr Lebensretter!« »Du bist wirklich sehr geschickt!« stellte Kalathee leise fest. »Und ich bin müde!« Luxon deutete in den Schatten hinter einem Stapel Gepäck. Dort lagen ihre Decken. Er stand auf und nahm sein Schwert in die Hand. »Ich mache einen Rundgang. Shakar wartet auf mich. Ich bin sicher, daß er mir etwas Wichtiges mitteilen wird.« Luxon entfernte sich mit schnellen Schritten. Für jeden seiner Männer hatte er einen Scherz oder eine Bemerkung, er schlug dem einen auf die Schulter und dem anderen mit der Faust kameradschaftlich an den Oberarm. Dann stand er, abseits der Feuer, neben der Bahre, auf der Shakar lag. Samed kauerte neben ihm im Sand und wischte seine Stirn mit einem nassen Tuch ab. »Schläft Shakar?« murmelte Luxon und blickte in das ausgezehrte Gesicht des Alten. Shakar sah aus, als sei er eben gestorben. Aber Samed schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nein. Er ist nicht eingeschlafen. Er ist…« »Wach«, sagte Shakar knurrend. »Und geistig bei Kräften. Du willst wissen, ob ich diesen Schurken wiedererkannt habe?« »Das ist es«, sagte Luxon voller Spannung. »Ist Algajar 143
wirklich am Tod meines Vaters schuld?« »Es gibt keinen Zweifel«, röchelte der Alte mit langen Pausen zwischen den Worten. »Er ist es. Ganz sicher. Wenn er mich sieht, wird das ganze Gebäude seiner Schurkerei über ihm zusammenbrechen und ihn zermalmen.« »Er wird dich nicht sehen!« versicherte Luxon. »Wie geht es dir, Shakar?« »Wie einem sterbenden Alten, der nicht sterben darf«, krächzte Shakar. »Aber ich schaffe es noch bis Logghard.« Heute wirkte er, als würde er den nächsten Tag nicht überleben. Aber Luxon wußte, daß wunderbarerweise immer wieder halbe Tage lang die Kräfte des ehemaligen Ziehvaters neu zu erwachen schienen. Er nahm die Hand Shakars in seine Finger und sagte bedächtig: »Schlafe aus, Shakar. Morgen ziehen wir wieder weiter. Du hast mir sehr geholfen!« »Wie immer, Arruf!« brummte Shakar. Dann schloß er die Augen und drehte den Kopf ins Dunkel zurück. Luxon stand auf und sagte zu Samed: »Lass ihn schlafen. Und wenn du etwas Verdächtiges siehst, weck mich sofort. Ja?« »Ich werde die Augen offenhalten«, versprach Samed. Luxon ging hinüber zu den angepflockten Pferden. Er bat den Wächter, zwei Reservepferde zu satteln und zu zäumen. Auf die Frage des Mannes, was er vorhabe, sagte Luxon: »Ich wittere irgendein verschlagenes Vorhaben des Kriegers, der an der Seite der Prinzessin sitzt und unseren Wein trinkt.« Der Krieger verstand, was Luxon meinte. Wachsamkeit war eine der wichtigsten Voraussetzungen, um in Gegenden wie dieser zu überleben.
Bleich und riesig tauchte der Mond hinter den schwarzen Schleiern auf. Der Sand wurde silberweiß. Die Farben von 144
Felsen und schlafenden Menschen und Tieren veränderten sich. Nur die Schatten blieben tiefschwarz. Die letzten Reste des Feuers knackten. Im Sand knirschten die Fußtritte der Posten. Schnarchen, tiefe Atemzüge, die mannigfachen Geräusche der Pferde, Diromen und Orhaken, ein Knistern hier, das Wehen des Windes, das Klirren von Waffen und das harte Knarren von Leder – das kreisförmige Lager in der sandigen Fläche, weit von Hadam und Logghard entfernt, war voll von diesen Geräuschen. Eine Gestalt bewegte sich, huschte zwischen den Tieren hindurch, duckte sich zwischen Ausrüstungsgegenständen und blieb stehen, als sei sie ein Felsen, als ein ungewohnter Laut zu hören war. Die wenigen Orhaken waren abseits von den Pferden untergebracht. Zwischen den beiden Anhäufungen von Tieren und Schatten lag ein leeres Stück Sand. Die Posten gingen hin und her, die einzelne Gestalt richtete sich auf und rannte in einem einzigen Schwung lautlos von einer Deckung zur anderen. Samed hob einen kleinen Stein auf, zielte sorgfältig und warf das Steinchen genau dorthin, wo Luxon in Kalathees Armen schlief. Der Stein traf mit einem dunklen Ton auf Gewand oder Fleisch. Luxon hob als Zeichen, daß er aufgewacht war und verstanden hatte, seinen Arm über den niedrigen Wall und winkte mit den Fingern. »Komm her zu mir!« flüsterte er zischend. »Ich komme!« Kein Pferd schlug aus oder wieherte, als sich ein Orhako aufrichtete, sein Gefieder schüttelte und einige Schritte geradeaus machte. Niemand sah den Körper, der vor dem Sattel darüber lag. Das Orhako blieb stehen. Es war ein Vorgang, der keinen Posten aufregte, niemanden mißtrauisch machte. Wieder machte der Reitvogel einige Schritte, und 145
dann befand sich das Tier im Sichtschutz einiger Felstrümmer. Nur sein schwankender dicker Hals und der kapuzenbedeckte Raubvogelschädel hoben sich schwach gegen den Sternenhimmel ab. Samed huschte hinüber zu Luxon und flüsterte: »Ein Orhakoreiter verläßt das Lager. Ich habe nicht gesehen, ob es Algajar ist.« »Wer sonst reitet ein Orhako?« wisperte Luxon und schien sich zu freuen, daß sein Mißtrauen letzten Endes doch berechtigt gewesen war. »Folgen wir ihm?« »Ebenso leise, wie er sich davongestohlen hat«, brummte Luxon. »Es hat keine Eile.« Leise standen sie auf und versuchten, etwas zu erkennen. Aber die Nacht war trotz des Monds zu dunkel, und zu viele Felsen und Steine warfen zu viele Schatten. Aber über der Geräuschkulisse des schlafenden Lagers gab es, abgesehen von den regelmäßigen Schritten der Wachen, das ebenso regelmäßige Geräusch der Vogelklauen, die sich vorsichtig in den Sand bohrten und wieder heraushoben. Luxon schob sein Haar nach hinten und setzte den leichten Helm auf. »Keine Eile? Er entkommt uns!« Luxon fuhr durch das Haar des Jungen und sagte gutgelaunt: »Mein Kleiner! Du hast keine Ahnung. Erstens hinterläßt er Spuren, und zweitens wird er die Prinzessin nicht zurücklassen.« »Du hast recht.« Aus der Dunkelheit näherten sich schnelle, fast lautlose Schritte. Der Pfader Socorra lief auf Luxon zu und blieb stehen, als er ihn erkannte. Dann stieß er heraus: »Algajar ist geflohen.« »Ich weiß«, sagte Luxon. »Samed und ich werden ihm folgen. Ich glaube, er hat etwas ganz anderes vor, als zu 146
flüchten.« »Herr!« entgegnete der Pfader grimmig. »Lass mich reiten. Der Junge… er ist für derlei Unternehmungen noch ein wenig zu jung.« »Er ist klein und viel weniger zu sehen als einer von uns!« sagte Luxon grimmig. »Und deshalb reitet er mit mir. Du paßt auf das Lager auf.« »Ich gehorche.« »Wie schön, mein Freund«, sagte Luxon knapp, schloß das Schwertgehänge und zog die Handschuhe an. Er vergewisserte sich, daß die Dolche in den Stiefelschäften steckten. Er packte Samed an den Schultern und nahm ihn mit sich zu den Pferden. Algajars Vorsprung war inzwischen beträchtlich gewachsen. Luxon schwang sich in den Sattel und wartete, bis Samed ebenfalls sicher saß. Dann ritten sie behutsam los. Deutlich sah Luxon die Spuren des Reitvogels. Er folgte ihm und lenkte sein Pferd so, daß die Hufe nicht gegen Steine schlugen. Luxon drehte sich einmal um und hoffte, daß seine Wächter wenigstens ihn bemerkten. Andererseits, sagte er sich, hätten sie Alarm geschlagen, würde er niemals erfahren haben, was der Anführer von Nohjis Karawane wirklich vorhatte. Etwa eine Stunde oder mehr folgten sie der Spur. Im Sand war sie deutlich zu sehen, auf dem härteren Untergrund verschwand sie für kurze Stücke, aber die Felswände, die ehemaligen Ufer eines trockenen Flußbetts und andere Geländemerkmale ließen keinen anderen Weg zu. Luxon und Samed hielten sich stets im Schatten und zogen an den Zügeln, wenn es vor ihnen unverhoffte Geräusche gab. Schließlich sahen sie den Widerschein eines Lichts oder einer Fackel hinter einem Wirrwarr von Felsen. »Halt du die Pferde«, flüsterte Luxon. »Ich sehe nach. Es wird nicht lange dauern…« 147
Er glitt sich aus dem Sattel und huschte davon. Nach dreißig Schritten, die er lautlos und dicht an die Steine gepreßt zurücklegte, hörte er das ungeduldige Scharren des Orhakos, die leisen Stimmen zweier Männer und die Laute, wenn sie sich bewegten. Er hob vorsichtig den Kopf und sah, weitere dreißig Schritt schräg unter sich, zwischen zwei Felsplatten, die lodernde Fackel. Ein breiter Rauchfaden stieg vom Ende der knisternd brennenden Flamme auf. Er erkannte Algajar auf den ersten Blick. Den zweiten Mann, der einen wallenden, sandfarbenen Umhang trug, erkannte er nicht, da er mit dem Rücken zu ihm stand. Tief duckte sich Luxon zu Boden und tastete den Boden vor sich mit den Fingerspitzen ab, als er sich näher heranschlich. »… nicht anders«, sagte Algajar gerade. Seine Stimme war deutlicher, wenn auch nicht lauter als die des anderen. »Was hätte ich tun sollen, als dieser wahnsinnige Luxon herbeiritt und seine Pfeile abschoß?« »Meine Männer sind gestorben!« »Auch meine Männer sind umgebracht worden, Hodjaf«, antwortete Algajar. Luxon schob sich an einem Steinblock hoch, hörte und verstand den anderen Namen und wußte, daß sein ärgster Verdacht gerechtfertigt gewesen war. »Aber… du hast versprochen, daß Nohji ohne Gewalt in meine Hände fallen wird. Oder höchstens nach einem erbitterten Scheinkampf!« »Ich habe Luxon nicht gesehen und nicht um Hilfe gebeten!« beharrte Algajar. Er sprach wütend, aber leise. »Mann! Vogt der Schrunde! Wir haben noch viel Gelegenheit, unseren Plan auszuführen. Die Prinzessin ist dir sicher.« »Ich und meine Männer überfallen die Karawane kein zweites Mal«, versicherte Hodjaf. Luxon sah jetzt auch sein Gesicht. Während Algajar ein verschlagener Schurke war, schien es sich bei Hodjaf um einen geradlinigen Verbrecher zu 148
handeln. »Das brauchst du nicht zu tun«, sagte Algajar. »Angst?« »Wenn ich tot bin, ist meine Begierde nach Nohji bedeutungslos geworden«, entgegnete Hodjaf philosophisch. »Ich habe keine Angst. Ich kann ohne Nohji leben, auch wenn mich ihre Schönheit reizt.« Einige Atemzüge lang schwiegen die Verschwörer und starrten in die Flamme der Fackel. Sie mißtrauten einander, das war sicher. Luxon hielt den Atem an und bemühte sich, keine Bewegung zu machen. Dann sagte Algajar lauernd: »Drei Tagereisen von hier liegt die Geisterstadt Deneba. Seit vor undenklicher Zeit ein Himmelsstein dort einschlug, herrscht dort das Grauen. Ich werde die Karawane dorthin führen.« Hodjaf schüttelte wild den Kopf und stöhnte. »Noch niemand hat die Stadt lebend verlassen!« »Auch die Karawane samt Luxon wird dort verschwinden, auf Nimmerwiedersehen!« erklärte Algajar ungerührt. »Vorher sorge ich dafür, daß dir Nohji kampflos in die Hände fällt!« »Ein unehrenhaftes Geschäft!« knurrte der Wegelagerer. »Ein Geschäft, das beiden Seiten nur Vorteile bringt«, schränkte Algajar listig ein. »Ich wurde zum Rebellen, weil ich mit der Art, wie Shallad Hadamur regiert, nicht einverstanden bin. Ebenso meine Männer. Wir sind nicht sicher, ob Hadamur wirklich die Inkarnation des Lichtboten ist. Ich werde dir nicht helfen, Algajar!« Es klang endgültig. Luxon registrierte jedes Wort und den Klang, den es besaß. Hodjaf war wohl mehr ein zukünftiger Verbündeter als ein echter Feind. »Die Prinzessin erhältst du auf kampflose Art, Hodjaf«, versicherte Algajar. »Und ich werde persönlich dafür sorgen, 149
daß du den Schild Luxons bekommst und alle seine anderen Waffen. Dann bist du nicht nur glücklich mit einer schönen und leidenschaftlichen Prinzessin, sondern auch unbesiegbar und weiterhin der Vogt der Schrunde und Oasen!« Luxon glaubte, nicht richtig zu hören. Er hatte nicht den geringsten Zweifel gehabt, als ihm Shakar berichtete, wer Algajar wirklich war. Jetzt sah und hörte er es selbst: der Freund des falschen Shallad hatte nichts von seiner Grausamkeit und seinem Einfallsreichtum in Intrige und Gerissenheit verloren. Er besaß immerhin einen Mut, der anerkennenswert war – schließlich wagte er es, die Waffen zu verkaufen, obwohl er sie noch nicht besaß. Luxon nickte anerkennend. Ein unwürdiger, aber starker Gegner! »Du versprichst viel in dieser Nacht«, antwortete Hodjaf zweifelnd und zupfte an seinem Bart. »Hat man dich gesehen?« »Wenn ich davonschleiche, geschieht dies in magischer Unsichtbarkeit«, entgegnete der Grauhaarige kalt. Das meinst du, dachte Luxon, nun schon fast belustigt. »Gut«, sagte schließlich Hodjaf. »Ich weiß, daß du dein Wort halten wirst. Ich bin mit meinen Männern in drei Nächten in der Nähe der Geisterstadt. Dort sehen wir weiter. Ich warte auf Nohji und…« Luxon hatte genug gehört. Er huschte lautlos in seinen eigenen Spuren davon, erreichte in rasendem Lauf die Pferde und sprang mit einem gewaltigen Satz in den Sattel. Samed hatte ihn kommen hören, steckte den langen Dolch wieder ein und ritt hinter ihm her. Sie trabten leise davon, und erst hinter der Felsbarriere fielen die Pferde in einen gestreckten Galopp. Als sie eine Pfeilschußweite vom Lager entfernt waren, tauchte rechts von ihnen aus einem Felsspalt ein Mann mit brennender Fackel und einem funkelnden Schwert in den Händen auf, ritt scharf an sie heran und rief erleichtert: »Ich habe auf euch 150
gewartet!« Es war der Pfader. Luxon zischte ihm zu: »Schnell! Lösch die Fackel! Algajar ist dicht hinter uns. Er darf nichts merken.« Die drei Reiter stoben nebeneinander ins Lager zurück und ließen sich aus den Sätteln fallen. Socorra rammte den Kopf der Fackel in den Sand. Fauchend erlosch die Flamme. Die Sattelgurte wurden gelöst, Samed nahm den Tieren die Trensen aus den Mäulern, und die Reiter huschten zurück an ihre Plätze. Das Lager blieb weiterhin ruhig, denn die Posten waren vom Pfader verständigt worden. Socorra und Luxon kauerten sich neben Luxons Lager in den Sand. »Du hast sie belauscht?« fragte der Pfader neugierig. »Was hast du erfahren?« »Wir sollen alle in eine Falle geführt werden. Kennst du die Geisterstadt Deneba?« »Ich kenne sie nicht selbst«, antwortete Socorra grimmig. »Aber ich weiß, wo sie zu finden ist, und ich kenne die Straßen. Ein merkwürdiger Dämon, Aszorg soll er angeblich heißen, ist dort der König.« Luxon verschränkte die Arme im Nacken, betrachtete schweigend den abnehmenden Mond und sagte schließlich: »Algajar wird müde sein und schlafen. Nimm zwanzig Männer mit aller Ausrüstung, dazu das Diromo mit Shakar und ziehe nach Deneba!« »Nach Deneba? Was hast du vor, Croesus?« erkundigte sich der Pfader fast entsetzt. »Ich werde Algajar sagen, daß ich Kundschafter ausgeschickt habe. Ich sage dir deshalb nichts, weil ich nicht möchte, daß du zuviel denkst. Es hat nichts mit Mißtrauen zu tun; es ist sicherer für uns alle. Ich weiß, daß ich auf einen Schlag mehrere Vorteile für uns herausholen kann. Ihr reitet los, sobald die letzten Sterne verschwinden. Nehmt alles mit, was ihr braucht. Und kümmert euch um Shakar. Er darf nicht 151
sterben. Er ist der wichtigste Bestandteil meines Planes.« »Ich beuge mich deiner Weisheit!« brummte Socorra halb zuversichtlich, halb zweifelnd. »Du wirst wissen, was du willst.« »Diesmal glaube ich es fest zu wissen!« bestätigte Luxon. »Auf nach Deneba!« sagte Socorra lustlos und stand auf. Als er das Lager verließ und auf die Posten zuging, sah er, wie das Orhako langsam auf die anderen Tiere zutrottete. Auch jetzt hatte sich Algajar so geschickt über den Tierkörper gelegt, daß niemand den Reiter sah. Im ersten Licht des Tages brachen die Reiter mit dem schweren Lastenvogel und den Reservepferden auf. An der Spitze des kleinen Zuges ritt Socorra. Er hielt sich unnatürlich gerade im Sattel. Wer ihn genauer kannte, wußte, daß es ein sicheres Zeichen dafür war, daß er sich vor etwas Unbekanntem fürchtete. Luxon sah dem kleinen Zug lange nach. Dadurch, daß er seine kleine Streitmacht in zwei ungleiche Teile aufgespalten hatte, waren beide Teile viel verwundbarer geworden. Der Xandor wollte einschlafen, denn die Last der Müdigkeit hatte sich seines Körpers bemächtigt. Aber die Gier, zusammengesetzt aus Hunger, Leidenschaft und einer unbestimmten Sehnsucht nach Worten, Gesten und Gemeinsamkeit, ließ die Kreatur nicht einschlafen. Das Leuchten, das über Deneba lag, wurde schwächer. Der Morgen nahte, der Tag kam mit seinem unbarmherzigen Licht und der trockenen Hitze. Deneba, die Stadt der Geister, lag abseits der schmalen Wege und Pfade zwischen Süden und Norden. Die Blöcke der Felsen mit den zahllosen Löchern, Spalten, Höhlen und Rissen waren vor Ewigkeiten entstanden. Leichtes Gestein, von einem urweltlichen Vulkan ausgeworfen und in den flachen Ursee 152
geschleudert, hatte sich verändert, indem es unter der Einwirkung von feurigen Gasen und kochendem Wasser aufschäumte und sich absetzte. In dem Ursee entstanden Türme und brückenartige Gebilde, Höhlen und Formen, die wie die Häuser phantastischer Schnecken aussahen. In den folgenden Zeiten verdunstete der See. Die mächtigen Bäume wurden trocken, die Blätter wirbelten mit den Stürmen davon, und als der Schatten der Dunkelzone auf den längst ausgetrockneten See und dessen steinige Ufer fiel, starben alle Gewächse. Die Bäume versteinerten, ihre Astspitzen brachen ab und verwandelten sich in Staub. Als dann der Sand seine erbarmungslose Herrschaft über das Land antrat, flüchteten sich die ersten Verstoßenen, Verkrüppelten und jene mit den faulenden Gliedmaßen in die Höhlen und Gänge des Gesteins. Lange Zeit verging in der Enklave der Entrechteten. Eine Nacht des Schreckens brach unmittelbar herein, als der Himmelsstein fiel. Es war lang vor der Zeit des Xandors. Der Wind riß plötzlich ab. Totenstille breitete sich über dem Tal aus, das wie eine flache Schüssel geformt war, umstanden von den versteinerten Bäumen und ausgefüllt mit den skurrilen Türmen aus Stein. Am Himmel erschien ein dünner, greller Streifen, dann fauchte ein heißer Lufthauch auf. Der Streifen wurde länger, greller und gleißender. An seiner Spitze erschien eine feurige Kugel. Der Himmelsstein glühte auf wie die Sonne, wurde größer und heller in seinem schrecklichen Glanz. Es war, als würden sich Tausende lautloser Blitze über dem Tal austoben. Dann, mit einem ungeheuren Schlag, trafen der Himmelsstein und die große Düne in der Mitte des toten Sees zusammen. Die Lichterscheinung riß ab. Ein ungeheurer Donnerschlag ertönte, der alle Wesen rundum taub machte. Eine Welle von furchtbarem Druck tötete jedes Lebewesen, eine Feuersäule stieg senkrecht in die Luft, ein Wirbelsturm schleuderte jedes einzelne Sandkorn aus dem Tal heraus und in die kochende, brennende Luft. Noch immer bebte die Erde. Ein weißglühender Krater, dreißig 153
Mannslängen tief und mindestens ebenso groß, war im Mittelpunkt des Tals erschienen. Das Glühen breitete sich im Lauf der Zeit aus, erfaßte die zersprungenen Steine, die Höhlen und die versteinerten Gewächse. Es legte sich wie eine Glocke über das Tal, das sich langsam wieder mit Ausgestoßenen und Halbtoten füllte, mit rätselhaften kleinen Tieren und wild wuchernden Pflanzen, die überall dort Wurzeln schlugen, wo unterirdische Feuchtigkeit war oder wo einer der seltenen Regenfälle etwas Wasser zurückgelassen hatte. Eines Tages kam ein Mann in die Geisterstadt. Er hatte sich einst Grozza genannt, aber diesen Namen abgelegt, als ihn die Krankheit überfiel und zum Ausgestoßenen machte. Er hatte keinen anderen Platz gefunden als dieses Tal. Als er eine andere Kreatur traf, die schon länger hier ihr erbarmungswürdiges Schicksal fristete, erfuhr Grozza, daß er sich in Deneba befand, der Stadt der Ausgestoßenen. Er erfuhr aber auch, daß sich die Ausgestoßenen, einst noch Menschen aus dem Süden, zu verändern begannen. Daraufhin änderte er auch seinen Namen. Er nannte sichAszorg. Auch sein Körper veränderte sich. Im Lauf der Zeit schwang er sich zum Herrscher der Geisterstadt auf. Aber er herrschte nur über Kreaturen, Felsen, versteinerte Pflanzen und die gelegentlichen Opfer, die man ihm brachte. Die Welt, die es außerhalb von Deneba noch gab, zog an Aszorg und seinen schauerlichen Kreaturen vorbei, als sei sie hinter einem Schleier verborgen oder hinter einer riesigen Staubwolke. Trotzdem schlief er fast nie. Er wartete auf neue Opfer.
Einst hatten sich die Länder Rousund, Nordalia und Gomaliland zusammengeschlossen. Ihre Herrscher hatten sich gewehrt gegen die Eingliederung ins Shalladad, ins Reich des Gottkönigs – aber vergeblich. Gorounor, so hatten sie dieses neue Land geheißen. Seit vier Generationen gehörte Gorounor 154
fest zum Shalladad. Jenseits der Grenze zu Jahand führte der Weg nach Hadam durch Inshal, aber er zweigte von der Straße nach Logghard ab und krümmte sich nach Westen. Stunde um Stunde zog die große Gruppe von Luxons Männern und Tieren entlang der Karawanenstraße. Ununterbrochen zeigte das Land andere Gesichter. Karge Felder wechselten ab mit kleinen Oasen. Ein winziger Kanal führte Wasser aus den Bergen. Wieder gab es nur Sand und Felsen, und die Straße war durch Haufen aufeinandergeschichteter Steine markiert und durch Holzstangen, die ihrerseits in Gestein festgekeilt waren. Fast auf jeder Stange steckte ein Schädel; hier ein Orhakokopf, gänzlich skelettiert, dort ein Rinderschädel mit mächtigem Gehörn, Menschenschädel und gebleichte Knochen. Die Karawane hatte sich auseinandergezogen, weil die Straße schmal und halsbrecherisch war. Algajar lenkte, als es die Breite der Sandpiste endlich zuließ, sein Orhako neben das Pferd, auf dem Luxon saß. »Du hast Kundschafter ausgeschickt, hörte ich?« fragte er. »Das Gebiet«, sagte Luxon unbewegten Gesichts, »soll gefährlich sein. Du hast selbst erlebt, wie wichtig ein starker Flankenschutz ist.« Er ließ nicht erkennen, daß er ziemlich genau wußte, an welcher Stelle ein fast unkenntlicher Pfad nach Deneba abzweigte. Algajar nickte zustimmend und dachte bei sich, daß auch die Späher nichts würden ausrichten können. Was nicht einmal Hodjaf wußte – er selbst war mit Aszorg befreundet. Der dämonisierte, von andauerndem Blutrausch befallene Herrscher der Geisterstadt war ihm verpflichtet. »Wir sollten nicht mehr sehr lange bis Hadam brauchen. Deine Karawane ist gut ausgestattet!« bemerkte Algajar trocken. »Du scheinst mit Überfällen gerechnet zu haben?« »Wer sein eigenes Grab schaufelt«, entgegnete Luxon mit 155
einem feinen Lächeln, »weiß wenigstens, wo er zu liegen kommt.« »Klug gesprochen. Je mehr wir uns Hadam nähern, desto mehr Vogelreiter sind zu treffen. Sie werden uns schützen.« »Ich ziehe es vor, mich selbst zu schützen«, versicherte Luxon. »Trotzdem ist es gut, dies zu erfahren.« Hinter Kalathee ritt Prinzessin Nohji. Sie hatte vorübergehend ihr Zelt verlassen und saß im Sattel eines Reservepferds. Die Krieger Luxons verfolgten sie mit gierigen Blicken. Sie war neben Kalathee die einzige Frau der langen Karawane. Kalathee selbst wagte niemand anzurühren, denn sie war die Geliebte Luxons, dem jeder Krieger dieses Zuges bedingungslos gehorchte. Wenn Algajar bemerkt hatte, daß eines der Lastendiromen fehlte, so ließ er es sich nicht anmerken. Abermals kreuzte, einen halben Tag später, die Karawane einen Streifen landwirtschaftlichen Gebiets. Die ärmlichen Behausungen der Bewohner waren halb in den Felsen geschlagen, halb aus rohem Stein erbaut. Hier gab es außer Wasser nichts zu holen. Sträucher und karge Bäume unterbrachen die gelben und braunen Farben der Hügel, Felsen und Steine. Es wurde dunkler, und weit hinter den Hügeln schimmerte ab und zu ein geheimnisvolles Glimmen auf. Algajar wußte, daß es das Leuchten Denebas war. Eine Weile später fragte Algajar: »Du kennst den Lauf der Straße nach Hadam?« »Nicht ganz genau. Mein Pfader hat jedoch Zeichen gesetzt. Wir folgen seit einiger Zeit diesen Zeichen.« Der Mann mit dem narbigen Gesicht zuckte unmerklich zusammen. Diesen Umstand hatte er nicht bemerkt. Luxon wußte, daß sie auf jeden Fall während der Dunkelheit die Geisterstadt erreichen würden, gleichgültig, ob Algajar sie führte oder ob sie den Zeichen Socorras folgten. 156
»Ich versuche, einen sicheren Rastplatz zu finden«, meinte Luxon. Seine Spannung wuchs, je deutlicher das glühende und irisierende Licht vor ihnen wurde. Die Straße nach Hadam hatten sie längst verlassen. In gutem Tempo bewegte sich die Karawane entlang des fast unsichtbaren Weges. Luxon riß am Zügel und richtete sich in den Steigbügeln auf. »Halt!« Die Karawane kam auf unregelmäßige Weise zum Stehen. Zwischen den Hügeln und Felsen erscholl ein Laut, der sich beklemmend anhörte. Jeder, der es hörte, dachte augenblicklich an klagende und heulende Wesen, an geschundene oder verzweifelte Menschen oder an Dämonen, deren Gewimmer aus hallenden Spalten hervorkam. Eisige Kälte legte sich auf die Herzen der Männer und Frauen. Von hinten erscholl Stimmengewirr. Die überlebenden Männer Algajars schrien wirr durcheinander. »Wir reiten nicht weiter!« »Das ist ein Tal der Dämonen!« »Es sind schon zu viele gestorben!« Luxon wandte sein Pferd und ließ seinen Blick entlang der Reihe aus Männern und Tieren gehen. Dann rief er laut und voller Bestimmtheit: »Niemand wird sterben. Wir rasten dort zwischen den Felsen. Vorwärts!« Er galoppierte im letzten Licht des Tages auf die Stelle zu, die er mit schnellem Blick ausgesucht hatte. Die Zeichen Socorras waren deutlich genug. Nach einigen Momenten schweigender Überlegung zwang auch Algajar sein Orhako vorwärts. Die Spannung und die Erwartung griffen auf die Karawane über. Zögernd folgten die Krieger hinter Luxon. Sie vertrauten ihm. Trotzdem hatte jeder von ihnen eine Hand am Griff des Schwertes. Einige Fackeln wurden entlang der Karawane angezündet. Gespräche und aufgeregte Rufe schwirrten hin und her. Die 157
Orhaken scheuten und wurden ruhiger, als die Reiter ihnen die Kapuzen über die Köpfe warfen. Fünf Krieger wagten es, mit gezogenen Waffen hinter Algajar und Luxon herzureiten. Die Straße, die bisher in einem seichten Spalt verlaufen war, führte auf eine annähernd ovale Sandfläche. Deutlich erkannte Luxon die Spuren, die Socorras Gruppe hinterlassen hatte. Von dem Diromo und den Pferden sah er nichts. Er galoppierte weiter, und das Heulen und Wimmern schwoll ebenso an, wie sich das Glühen verstärkte. Luxon dachte an Mythors Waffen und daran, daß sie an dieser Stelle wohl nützlicher sein würden als an jedem anderen Ort. Er spürte, daß er in ein Gebiet einritt, in dem Dämonen herrschten. In Deneba ging es nicht mit rechten Dingen zu; Tapferkeit und Schnelligkeit im Kampf waren nicht mehr die entscheidenden Bestandteile des Überlebens. Er erreichte eine Art Tor. Der Durchgang bestand aus phantastisch zerklüfteten und ausgehöhlten Felstürmen. Sie sahen wie riesige Pilze aus, denn ausladende, tellerförmige Steine lagen auf ihren oberen Enden. Dahinter breitete sich ein annähernd rundes, flaches Tal aus, umkränzt von Felsen und säulenartigen Fingern. Alles, was sich im Bereich dieses Tals befand, glomm und leuchtete. Felsen bildeten leuchtende Höhlen, kantige Steinhaufen sahen aus wie leere, zerfallene Hütten. In der Mitte des Tals sah Luxon einen tiefen Krater. Von dieser Stelle aus strahlte das fahle Glimmen, hier war es am hellsten. »Das ist Deneba!« sagte Algajar. Aus seiner Stimme klang eine deutliche Zufriedenheit. »Und von wem kommt dieses entsetzliche Heulen und Wimmern?« fragte Luxon entsetzt. »Es sind die unsichtbaren Bewohner, wie man mir sagte«, entgegnete Algajar vorsichtig. »Sie saugen den Lebenden das Mark aus der Seele.« 158
Luxon stieg ächzend aus dem Sattel und hielt sich am Zügel des Pferdes fest. Schweigend starrte er das Tal an, das so groß war wie eine Stadt. Er konnte nur unzählige Steinhütten erkennen, zahllose Höhlen und Felsen und Dinge, die wie versteinerte Riesenbäume ohne Ästchen und Blätter aussahen. Das schauerliche Heulen schien aus den vielen Löchern der verlassen daliegenden Behausungen zu kommen, und das merkwürdige Licht warf keinerlei Schatten. Lange stand Luxon da und starrte Deneba an. »Es ist besser, wir warten bis morgen abseits der Stadt«, meinte er. »Weißt du, ob sich die schreienden Dämonen aus ihren Löchern hervorwagen?« »Davon weiß ich nichts«, entgegnete Algajar. Luxon wußte, daß eine Entscheidung unmittelbar bevorstand. Oder hatten die Dämonen seinen Plan gestört? Er führte das Pferd zurück zur Karawane und registrierte zufrieden, daß Beklemmung und Grauen mit jedem Schritt geringer wurden. Er erreichte Kalathee und Samed und sagte: »Wir lagern hier am Ende der Straße. Seid darauf vorbereitet, schnell wieder aufzubrechen.« »Was hast du vor?« fragte sie. Die Prinzessin saß schreckerfüllt im Sattel. Kalathee hielt die Zügel des Pferdes. »Warte. Es dauert nicht lange.« Einige Fackeln warfen ihr zuckendes Licht auf die kleine Gruppe. Luxons Männer banden die Pferde fest und luden einige Vorräte von den Diromen-Tragegestellen ab. Hektische Unruhe beherrschte die Karawane. Kalathees Augen, die eben noch Luxon fest angestarrt hatten, verloren ihr Ziel und schweiften zur Seite. Dann blickte sie, außerhalb Luxons Blickfeld, auf die Felsen. Luxon folgte der Richtung und sah einige Silhouetten, die sich schwach gegen den Horizont abhoben. Auf einigen Hügeln oberhalb der Geisterstadt tauchten Vogelreiter auf. Fast jeder, den er sehen konnte, trug eine Fackel. 159
Luxon knurrte verblüfft: »Es müssen die Rebellen und Wegelagerer von Hodjaf sein!« stieß er hervor. »Diese Nacht, Luxon«, sagte Kalathee schaudernd, »wird viele von uns umbringen.« »Die Nacht hat eben erst angefangen«, entgegnete er. »Und wenn jemand umgebracht wird, ist er selbst daran schuld.« Luxon gab Samed den Zügel des Pferdes, ging zu dem unruhigen Diromo und holte die Waffen Mythors hervor. Er wechselte den Helm aus und schloß die Schnalle, die Mythors Helm der Gerechten hielt. Ihm war plötzlich, als würden die Schrecken der Dämonen und dieses geisterhaften Tals zurückgedrängt. »Ein magischer Helm, ich weiß!« sagte sich Luxon und vertauschte seine eigenen Waffen gegen die Ausrüstung Mythors. Er war plötzlich sicher, daß er sie in dieser Nacht brauchen würde. Immer wieder blickte er über die Karawane hinweg und auf die Hügel. Inzwischen sah er mindestens zweihundert der Krieger, von denen er überfallen worden war. Falls Hodjaf in dieser Nacht angriff, würde es ein Desaster geben. Eine Gruppe Vogelreiter kam von den Hügeln herunter. Sie ritten ohne jede Eile auf das Felsentor zur Geisterstadt herunter. Noch immer ertönte, unverändert, das wimmernde Heulen aus dem Tal. »Verdammt! Bei den Sünden Shallads!« knurrte Luxon und fühlte sich im Schutz der magischen Waffen weitaus wohler als noch einige Momente zuvor. Er sah, daß seine Krieger für die Zeit der Rast nicht einmal ihre Schilde ablegten. Zwei Feuer brannten im Zentrum des Kreises. Über das Heulen der Ausgestoßenen hinweg erscholl eine Stimme zur Karawane herunter: »Hodjaf, der Vogt der Schrunde, der Herrscher über dieses Gebiet, wartet nicht mehr 160
lange. Ergebt euch, und ihr behaltet euer Leben!« Algajar kam herangeritten und gesellte sich zu der Gruppe, die aus der Prinzessin, Kalathee, Samed und Luxon gebildet wurde. »Ich habe nicht erwartet, daß uns Hodjaf folgt«, erklärte er hart. »Ich werde mit euch kämpfen, Luxon. Aber es ist besser, die Karawane reitet in schärfster Geschwindigkeit mitten durch die Geisterstadt und am anderen Ende hinaus. Die verdammten Rebellen wagen es nicht, Deneba zu betreten.« Du gewissenloser Schuft, dachte Luxon und antwortete so ruhig wie möglich: »Wir werden sehen. Meine Männer jedenfalls sind bereit, sich bis zum Letzten zu verteidigen.« Die Mitglieder der Karawane aßen und tranken, ohne in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Einige Zeit verging, ohne daß sich viel änderte. Nur einige Dutzend der fackeltragenden Wegelagerer kamen näher heran. Erwartungsvolle, lastende Stille lag über der Karawane. Plötzlich tauchten zwischen den ersten leuchtenden Felsen seltsame Gestalten auf: ein einzelnes Diromo, auf dessen Körper eine kleine, dürre Gestalt kauerte, und einige Krieger, die neben dem Vogel auf ihren Pferden saßen. Am Zeichen auf dem Schild erkannte Luxon seinen Pfader. »Shakar!« flüsterte Luxon. Algajar hatte es nicht verstanden. Aber zusammen mit einigen anderen drängte er sein Pferd nach vorn, um die seltsame Erscheinung zu sehen. Die hell brennenden Fackeln von Socorra und seinen Männern machten die seltsame Szene deutlicher, je näher sich die beiden Gruppen kamen. Einige Schritte trennten die beiden Gruppen voneinander. Die Gestalt auf dem Diromo hob einen Arm und deutete mit zitternden und weit gespreizten Finger auf Algajar. Luxon erkannte die Stimme Shakars nicht mehr wieder. Sie war von überraschender Schärfe, grell und hart. Es war, als 161
würde der alte Mann für diesen Moment alle seine verbliebenen Kräfte zusammennehmen. Neben Luxon schien Algajar zu versteinern – Schritt um Schritt schien seine Erinnerung zurückzukommen. »Du bist Algajar, die rechte Hand von Shallad Hadamur!« schrie Shakar. »Du hast mitgeholfen, den rechtmäßigen Shallad Rhiad zu ermorden. Erinnere dich an den unscheinbaren Unfall auf der Jagd Rhiads!« »Shakar. Sein Geist!« keuchte Algajar. »Die Dämonen legen ihre knochigen Finger um deinen Hals, scheint mir«, bemerkte Luxon finster, um Algajars tödliche Verwirrung zu steigern. Der erste Ausbruch des Greises war so laut gewesen, daß jeder im weiten Umkreis jedes Wort verstanden hatte. Die Männer begriffen nur langsam, was diese Anklage bedeutete. Die nächsten Worte enthoben sie jeden Zweifels. »Du hast mitgeholfen, den rechtmäßigen Shallad zu ermorden! Du hast den falschen Shallad auf den Thron gehoben. Meuchelmörder von Shallad Rhiad! Und noch viel schlimmer wiegt, daß du den Sohn Rhiads töten wolltest.« Das Tier auf dessen Rücken Algajar saß, spürte die Unruhe und Verzweiflung seines Reiter. Es keilte aus und riß den Raubvogelschädel hoch. Der Reiter zwang den Hals wieder nach vorn und beruhigte es mit mechanischen Bewegungen. »Du wolltest den Sohn des Shallad ermorden. Ich und einige andere Männer haben dies verhindern können. Der Sohn Rhiads lebt und reitet neben dir, Mörder Algajar! Luxon, den manche unter anderen Namen kennen, Luxon ist Rhiads Sohn. Er ist der rechtmäßige Erbe des Thrones. Und er wird grausame Rache nehmen, an dir und allen anderen Mördern seines Vaters.« »Es ist unmöglich…«, brachte Algajar hervor. »Er ist es! Er sagt die Wahrheit… nach so vielen Jahren…« 162
Luxon beobachtete ihn scharf. Algajar hatte sich vollständig verändert. Alle Selbstsicherheit hatte ihn verlassen. Sein Gesicht war unnatürlich fahl und von dicken, im rötlichen Licht funkelnden Schweißperlen bedeckt. Er schwankte im Sattel vorwärts und rückwärts. Sein Mund stand offen, und seine Lippen formten, unabhängig von seinen Gedanken, die Worte. »Ich habe es getan… ich war nicht allein!« brachte er hervor. »Nur weiter!« sagte Luxon scharf. »Der Sohn wurde übergeben, um ausgesetzt und getötet zu werden. Woher weißt du das alles… Shakars Geist… Aber wir haben doch den Sohn Rhiads in deinem Haus töten lassen!« Die letzten Worte schrie er voller Verzweiflung hinaus. Shakar ließ zu, daß die Reiter sein Diromo noch näher an die Gestalt heranführten, die im Sattel zusammengebrochen war. Ein Halbkreis entsetzter und schweigender Gestalten hatte sich um Algajar gebildet. Die Prinzessin drängte ihr Pferd vorwärts; auch sie konnte nicht glauben, was sie gesehen und gehört hatte. »Ich klage dich an, den Shallad ermordet und seinen Sohn den Mördern übergeben zu haben! Der Sohn Rhiads hatte noch nicht einmal einen Shallad-Namen! Gibst du es zu? Gestehst du uns allen deine Schuld? Der Geist aus der Vergangenheit hat dich eingeholt, Mörder Algajar!« Die Hände Algajars fuhren an seinen Kopf. Er umklammerte seine Schläfen, als fürchte er, sein Schädel würde zerspringen. Dann schrie er keuchend: »Ich gebe es zu! Du hast recht, Dämon! Ich war verblendet… ich… geh weg! Zurück in die Geisterstadt…« Shakar machte einen letzten Versuch. Er stand auf und stand einen langen Moment zitternd auf dem Tragegestell des Diromos. Noch einmal erhob er seine helle Greisenstimme und schrie: »Ihr alle habt es gehört! Du, Luxon, weißt, wer der 163
Mörder deines Vaters ist. Auch der Rebell Hodjaf hat es gehört und mit ihm alle seine Männer. Prinzessin Nohji, nimm dich vor dem Meuchelmörder in acht! Der Erbe des Thrones steht neben dir, Algajar, und schon zieht er sein Schwert!« Dann zuckte Shakar zusammen, beugte sich nach vorn und preßte seine Hände an sein Herz. Der Körper fiel auf den Hals des Diromos und von dort, sich halb überschlagend, in den Sand. Socorra sprang aus dem Sattel und schob, als er Shakar erreicht hatte, seine Arm unter den Kopf des Greises. »Er ist tot, Luxon!« sagte er mit gebrochener Stimme. Algajar riß seinen Körper hoch. Er umfaßte mit einem schnellen Blick die Männer, die um ihn herumstanden. Mit einem leisen Geräusch zog Luxon das leuchtende Schwert. Tollheit und Irrsinn standen in den Augen Algajars, als er den Zügel des Pferds ergriff, in dessen Sattel Prinzessin Nohji saß und verständnislos um sich blickte. Der Krieger setzte die Zügel ein, sein Orhako machte kreischend einen Satz und preschte los. Die Prinzessin wurde halb aus dem Sattel gerissen, als ihr Pferd, dem Zwang des Zügels folgend, hinterhergaloppierte. Mit einigen Sprüngen preschten die beiden Tiere an dem scheuenden Diromo und Socorra vorbei und auf den Eingang der Geisterstadt zu. »Ihr habt mich überlistet!« schrie Algajar mit einer Stimme, die seinen inneren Zustand erkennen ließ. »Wir sehen uns wieder, Luxon!« Dann verschwanden die beiden Reiter zwischen den Felsensäulen des Tores. Die rasenden Hufe wirbelten lange Sandfahnen hoch Luxon ließ den Griff Altons los und holte tief Luft. »Luxon! Shakar ist tot!« wiederholte der Pfader. Seine Männer kamen zwischen den Felsen hervor. 164
Luxon deutete auf den Leichnam und sagte: »Begrabt ihn und legt viele Steine auf sein Grab. Wir werden Algajar, diesen Schuft, verfolgen müssen. Nicht seinetwegen, sondern wegen der Prinzessin. Ich brauche eine Handvoll mutige Männer.« »Mich brauchst du nicht zu bitten«, rief der Pfader wütend und schwang sich in den Sattel. Ein Dutzend Männer, an ihrer Spitze Luxon mit dem gezogenen Schwert, galoppierten hinter Algajar her. Die Hälfte der Reiter trug Fackeln. Die Flammen loderten, und der erste Teil des Weges war von davonwirbelnden Funken und Rauchstreifen gekennzeichnet. Als ob die Dämonen witterten, daß sich ihre nächtlichen Opfer näherten, verstärkte sich das schauerliche Heulen und Wimmern.
Das Leuchten, von dem das Geistertal erfüllt war, schien sich in den jagenden Schatten zu verlieren, von denen Mond und Sterne verdunkelt wurden. Ein Himmelsstein jagte quer über das Firmament und zerschnitt es wie eine Schwertspitze in zwei ungleiche Teile. Sandschleier wurden von einem plötzlichen Windstoß, der eisige Kälte mit sich führte, über die Reiter geworfen. Die Männer standen in den Bügeln und hatten sich weit neben die Hälse der Pferde vorgebeugt. Die Funken der Fackeln brannten Löcher in die Wämser und die knatternden Sandmäntel. Wieder hatte der Süden mit seinen schrecklichen Geheimnissen zugeschlagen. Luxon ritt auf das seltsame Tor zu. Die Steinsäulen vor ihm wurden größer und wuchtiger. Die Fackeln der Hodjaf-Rebellen kümmerten ihn in diesem Augenblick wenig. Er war sicher, Algajar innerhalb kurzer Zeit einholen zu können. »Achtung, Luxon!« rief Socorra schräg hinter ihm. »Ein Vogelreiter!« Den sandigen Hang jenseits der Torfelsen stob ein einzelner 165
Reiter herunter. Sein Orhako tänzelte im schlüpfrigen Sand hin und her und balancierte seinen Körper mit weitem Pendeln des Halses aus. Der Reiter schwenkte eine Fackel und rief: »He, Luxon! Freundschaft! Ich bin Hodjaf.« »Aus dem Weg. Ich verfolge diesen Schurken!« schrie Luxon und hob das Schwert. Der bärtige Mann ritt unbeirrt weiter und stellte sich Luxons Reitern in den Weg. »Ich helfe dir! Ich habe gehört, was der alte Mann gesagt hat. Ich erkenne dich als den rechtmäßigen Shallad an!« Luxon parierte sein Pferd und hielt an. Seine Reiter bildeten eine Linie hinter ihm und hielten ihre Waffen schlagbereit. Aber nur ein zweiter Orhakoreiter kam den Hang herunter und blieb in unverdächtiger Entfernung. »Höre ich recht? Welch ein schneller Wandel der Überzeugung«, spottete Luxon. »Ich habe dein Gespräch mit Algajar in der Nacht belauscht. Nohji und meine Waffen gegen mein Leben, nicht wahr?« »Schlage ihn nieder, Luxon«, bemerkte Socorra. »Dann sind seine Rebellen führerlos.« »Nicht so schnell!« beschwichtigte ihn Luxon. »Wie war das, Hodjaf – wir sollten uns ergeben, dann schenkst du uns das Leben?« »Vergiß es. Ich bin Rebell, weil ich den Shallad nicht für einen weisen Herrscher zu halten vermag.« »Und ich soll als sein Nachfolger weiser sein?« »Du bist jung und mutig, was ich selbst erlebt habe. Mit deinen magischen Waffen wirst du eines Tages Hadamur vom Thron stoßen. Ich bin lieber auf der Seite des Gewinners. Gewinnst du nicht, bleibe ich weiterhin Rebell und leidlich ungeschoren.« »Ein Mann von meinem Schlag«, murmelte Luxon versonnen. »Du ergreifst die Gelegenheit schnell beim Schopf?« 166
»Ich stehe zu meinem Wort. Ich glaube diesem Shakar. Überzeugt hat mich, wie Algajar handelte.« Luxon brannte die Zeit auf den Nägeln. Er machte eine umfassende Geste und deutete auf die Hunderte von Vogelreitern, die das Tal in großer Entfernung umstellt hatten. »Sage deinen Männern, daß sie meine Karawane schützen sollen. Wir reden später. Hilf mir, Algajar zu fangen.« Hodjaf wandte sich zum zweiten Reiter um, gab eine Reihe von Befehlen und nickte, als der Reiter sein Orhako wendete und den Hang hinauftrieb. Dann zog der Anführer der Rebellen sein Schwert und versicherte: »Ich kenne, wenn auch nur von außen, Deneba ein wenig. Zusammen mit diesen Männern sollten wir den Mörder deines Vaters fangen und bestrafen können.« »Los! Reite mit uns!« Die Pferde wieherten, als die Zügel freigegeben wurden. Das Orhako schlug kreischend mit seinen kurzen Flügeln und trabte auf seinen knochigen Stelzenbeinen neben den Pferden dahin. Das Schicksal schien sich innerhalb kurzer Zeit gewendet zu haben. Die Reiter passierten die Torfelsen und stoben einen langen, flachen Hang hinunter, dessen Sand und Geröll schon von dem rätselhaften Leuchten erfaßt wurden. Die Vogelreiter mit den Fackeln zogen sich zusammen und ritten langsam auf den Eingang des Geistertales zu. Die wimmernden Schreie und das keifende Heulen bildeten zusammen mit den dumpfen Hufschlägen und dem Keuchen der Pferde eine verschwommene Kulisse. Rechts schoben sich ein paar der seltsamen, scheinbar leeren Behausungen heran. Schwammartig aussehende Felsen mit Löchern, die voneinander durch groß aufgeschichtete Steinmauern getrennt waren, wurden im fahlen Glimmen sichtbar. Aus den Öffnungen kamen die entsetzlichen Schreie. Sie drückten Gier und Hunger aus. 167
Als die Reiter sich näherten – so folgten den deutlich sichtbaren Spuren eines Orhakos und eines Pferdes –, schoß aus einem Loch eine Kreatur hervor. Die Pferde scheuten augenblicklich. Das Wesen sah entfernt menschenähnlich aus, aber die Gliedmaßen waren verändert und entsetzlich verformt. Die Gelenke glichen dicken Knoten, die Knochen waren dünn und lang. Der Kopf war fast dreimal so groß wie der eines Menschen und schien nur aus Löchern und verkrusteten Wunden zu bestehen. Das Wesen hangelte sich schreiend an der Mauer hoch, fiel auf der anderen Seite zwischen Sand und Felsbrocken und bewegte dabei seine Gliedmaßen rasend schnell und ziellos. Mit Bewegungen, die halbwegs kurze Sätze waren und zur anderen Hälfte einem unbeholfenen Kriechen glichen, verschwand es schreiend im nächsten Loch. Die Reiter zwangen ihre Tiere weiter vorwärts. »Weißt du, wohin sich Algajar geflüchtet haben könnte?« rief Luxon nach hinten. Hodjaf entgegnete sofort: »Wahrscheinlich zu Aszorg, dem Xandor.« »Weißt du, wo Aszorg sich versteckt?« »Nein!« »Dann werden wir ihn suchen«, schrie Socorra und hob sein Schwert. »Hier wimmelt es von Mißgeburten.« Die Sandfläche zwischen den Felsen war breit genug, um die Reiter ungehindert passieren zu lassen. Der dünne Sandschleier zeigte die Spuren der zwei Tiere. Der Sohn Rhiads versuchte, die Eindrücke im Sand genau zu verfolgen, aber schon wenige Schritte später hörte der Sand auf, und Geröll trat an seine Stelle. Luxons neuer Verbündeter keuchte: »Seid vorsichtig! Die Kreaturen werden uns angreifen.« Die Reitergruppe zog sich auseinander, als sie wieder einen Engpaß zwischen den aufragenden Felsen durchritten. Auch 168
das Geröll strahlte dieses Leuchten aus. Es gab keine Schatten, das Licht der Fackeln veränderte sich ins Gelblichrote. Rechts und links schoben mißgestaltete Bewohner der Felsen ihre Körper aus den Öffnungen und griffen gierig wimmernd nach den Reitern. Noch wagten sie sich nicht ganz hervor, noch krallten sich ihre spitzen Krallen in die Luft. Aber ihre Unruhe war ansteckend. Immer mehr Körper tauchten auf und bedrohten die Reiter. Ein Xandorl durchfuhr es Luxon. Ein Wesen zwischen Mensch und Dämon. Welche Eigenschaften einen Xandor tatsächlich auszeichneten, wußte er nicht. Sein Wissen hatte er aus zahlreichen Erzählungen und Legenden, die einander teilweise widersprachen. »Vorsicht, Luxon!« schrie Socorra vom Ende der Gruppe her. Er schwenkte die Fackel über seinem Kopf. Ihr Licht strahlte eine jener Chimären an, die auf der Spitze des Felsens umherkroch und Steinbrocken losriß. Mit dem linken Arm schleuderte sie einen Felsen nach Luxon, der seinen Helm nur knapp verfehlte und ins Geröll schlug. Luxon steckte das Schwert zurück, das jetzt ein Leuchten zeigte, das schwächer zu sein schien als das Glimmen der Umgebung. Dann hielt er den Bogen in der Rechten und zog einen Pfeil aus dem Mondköcher. Schnell legte er ihn auf die Sehne und schwenkte im Sattel herum, während sein Pferd geradeaus trabte. »Die Geisterstadt ist alles andere als verlassen!« brüllte Hodjaf durch das Wimmern und Heulen der Kreaturen. Luxon dachte an Shakar, den sie abseits der Straße begruben. Verscharrten, das war der richtige Begriff für diese Art des Begräbnisses. Aber bis zum letzten Herzschlag hatte sein Ziehvater ihm geholfen. Noch ehe zuviel Rührung ihn überkommen konnte, handelte der Krieger. Er zielte auf die steineschleudernde Kreatur und schoß den Pfeil ab. 169
Er hatte auf den Schädel des kreischenden Ungeheuers gezielt. Dieses Wesen hatte kaum noch etwas Menschenähnliches. Aber der Pfeil fuhr durch die Schulter der Chimäre und schleuderte sie rückwärts vom Felsen. Ein markerschütternder Schrei erscholl zwischen den phantastisch geformten Steinerscheinungen. »Weiter!« »Einst sollen dies alles Menschen gewesen sein«, rief Hodjaf. »Sie haben sich verändert. Das fahle Leuchten ist daran schuld.« Die Spuren verloren sich nach einigen weiteren Schritten vollkommen. Die Reiter, eben noch dicht hintereinander, bildeten größere Abstände. Die Männer keuchten und stöhnten. Immer wieder fuhren ihre Hände an die Stirnen und Schläfen. Die Umgebung verwirrte sie oder machte sie krank. Luxon merkte von alldem nichts, denn er galoppierte wieder an. Dicht hinter ihm folgte Hodjaf auf seinem wild kreischenden Orhako. »Woher stammt dieses Glimmen?« rief Luxon, drehte sich im Sattel und bemerkte, daß Hodjaf und er allein in einem kleinen Kessel waren. Die senkrechten Felswände und die Kreaturen, die vor den Löchern hockten und Steine schleuderten, waren nur noch wenige Mannslängen entfernt. Ein geschleuderter Felsbrocken traf das Orhako, das einen senkrechten Sprung machte und Hodjaf beinahe aus dem Sattel schleuderte. Stockend gab der Rebell zurück: »Vom Himmelsstein. Er ist hier eingeschlagen – lange vor meiner Zeit.« »Wo? Hier in der Senke?« »Es muß in ihrem Mittelpunkt gewesen sein«, schrie Hodjaf. »Reite weiter, sonst machen sie uns nieder!« Luxon schüttelte schweigend den Kopf, wendete sein Pferd und ritt zurück. Das Tier wollte ausbrechen, aber als es erkannte, daß Luxon in die Richtung des Ausgangs ritt, 170
beruhigte es sich ein wenig. Wieder zog Luxon einen Pfeil heraus und spannte den Bogen. Er sah, zu Tode erschrocken, daß ein wild um sich schlagendes Knäuel von Kreaturen einen seiner Reiter vom Pferd gerissen hatte und ihn buchstäblich zerfleischte. »Zurück! Reitet hinaus!« donnerte Luxons Stimme. Er setzte die Sporen ein und lenkte das Pferd in einem halsbrecherischen Galopp mitten durch den Haufen der auseinanderspringenden Kreaturen. Ein wildes Geheul erhob sich vor und hinter ihm. Er feuerte seinen zweiten Pfeil auf einen Mißgestalteten ab, der in großen Sprüngen von Fels zu Fels hetzte und sich auf Socorra stürzen wollte. Der Pfeil bohrte sich mitten in den Körper des Angreifers. Socorras Schwert zuckte herunter. Das Gesicht des hageren Mannes trug einen Ausdruck, der Luxon entsetzte. »Bringe sie aus dem Tal hinaus, Socorra!« schrie Luxon noch einmal und ritt an die Seite des Pfaders heran. »Schnell! Ehe es zu spät ist.« Unter dem golden schimmernden Metall von Mythors Helm schmerzte Luxons Kopf. Der Schmerz schien ebenso äußerlich wie auch innen zu sein. Die Chimären, die einst Menschen gewesen sein mußten, flüchteten auseinander, verschwanden aber nur zum Teil in ihren Löchern. Einige von ihnen versuchten, den anderen die grausige Beute zu entreißen. Wütende Kämpfe entbrannten inmitten des leuchtenden Sandes. Der nächste Pfeil Luxons tötete ein Wesen, das wie eine Katze auf zwei Beinen aussah und einen der Reiter anzuspringen versuchte. Seine Reiter hatten ihn verstanden. Sie schlugen auf die Pferde ein und sprengten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Das enttäuschte Geschrei der Kreaturen verfolgte sie auf ihrem Weg zu den Felssäulen hinauf. Jenseits dieses bizarren Tores sah Luxon flüchtig einige Orhakoreiter mit 171
ihren Fackeln. Er sah nicht, daß eine Rotte der entmenschten Mißgestalten einen weiteren Reiter vom Pferd riß und ihn ebenso tötete und zerfleischte wie das Tier. Auch der Verstand jener unglücklichen Wesen war verwirrt oder zerstört; sie verhielten sich wie hungrige Wölfe oder Ungeheuer, die nichts anderes als ihre Gier kannten. Luxon hielt das Pferd an, drehte sich einmal im Kreis und sah sich um. Viele der Kreaturen waren verschwunden, einige hockten noch in ihren Löchern und warfen ihm aus glühenden Augen starre Blicke zu. Mit ihrem Wimmern wollten sie wahrscheinlich zufällige Besucher anlocken. Luxon spürte, daß auch ihn dieser Ort zu verhexen drohte. Die Schmerzen waren hier am Rand des Tals etwas leichter geworden. Aber immer wieder verschoben sich die Bilder vor seinen Augen. Einmal sah er Dinge, die vorher nicht an derselben Stelle vorhanden gewesen waren, dann wieder glaubte er, sich an einem ganz anderen Ort zu befinden. Er sagte zu sich, um sich Mut zu machen: »Nur noch nach Nohji suchen, nach Algajar… und dann in wilder Flucht zurück!« Er setzte sich zurecht, legte einen Pfeil auf die Sehne und setzte die Sporen ein. Sein Tier schien seine Entschlossenheit zu spüren und galoppierte los. Die Spuren waren breit und tief und nicht zu übersehen. Nach erstaunlich kurzer Zeit befand sich Luxon wieder neben Hodjaf. Rund um das Orhako, das schier rasend vor Furcht und Aufregung war, lagen mehrere tote Körper. Aus dem Gewirr der Felsen und Mauern krochen andere Bewohner des Tals herbei und schleppten ihre blutenden Artgenossen weg. Luxon feuerte in vollem Galopp einen Pfeil in die Schulter eines kleinen, schuppigen Wesens, beugte sich tief aus dem Sattel und packte das aufheulende Etwas mit der Faust. Er riß die Kreatur, deren Kopf mehr einer Echse als einem Kind 172
ähnelte, von den Füßen und erreichte Hodjaf. »Du bringst uns zu Aszorg!« schrie er seinen Gefangenen an. Der Kleine spie nach ihm, versuchte ihn zu kratzen und zu beißen und hörte erst auf, als ihm Luxon den Sternenbogen über den Kopf schlug. »Zu Aszorg!« brüllte er. Hodjaf schwankte im Sattel. Der Helm der Gerechten schützte Luxon vor den Ausstrahlungen… Vor welchen Ausstrahlungen eigentlich? fragte er sich. Derjenigen des Himmelssteines? Oder griff der Wahnsinn, in dem die Kreaturen Denebas gefangen waren, nach den Hirnen der Männer? Sie hatten abgestumpft gewirkt und sich kaum gewehrt. Sein Befehl, mit dem er sie zurücktrieb, hatte sie erleichtert gehorchen lassen. Der Wahnsinn war es gewesen, von dem ihr Willen gelähmt worden war. Ebenso verwirrt wirkte jetzt Hodjaf. Er starrte den zuckenden Zwerg ratlos an, dann stöhnte er: »Ich bleibe bei dir, Luxon! An deiner Seite will ich sterben!« »Unsinn!« donnerte Luxon und sah, daß sein Gefangener den Arm ausstreckte und in eine Gasse zwischen den ausgewaschenen Felsen deutete. Sofort lenkte er sein Pferd dorthin, schob den Bogen zurück auf die Schultern und zog mit der Linken das Schwert Alton. »Dein Verstand ist durcheinander«, rief Luxon und merkte, daß ihm Hodjaf folgte, obwohl sich sein Orhako weigerte. »Hinter mir her! Sonst bringen sie dich um.« Als die Kreaturen, die bereit waren, sich auf die Reiter zu stürzen, Luxons Gefangenen sahen und dessen schauriges Winseln und Fauchen hörten, verließ sie der Mut. Sie schaukelten in ihren Wohnlöchern vorwärts und zurück, schüttelten sich und schrien, aber keiner von ihnen besaß genug Mut, um anzugreifen. Luxon hätte ihnen den kleinen Mann mit dem Hornkamm auf dem blauschuppigen Rücken hingeschleudert. 173
»Du zeigst uns den Weg zu Aszorg!« dröhnte Luxon, nachdem er den Gefangenen in die Höhe gezerrt hatte. »Aszorg! Zum Xandor!« Der menschenunähnliche Kopf nickte mehrmals. In kurzem Galopp sprengte das Pferd entlang der schroffen, vorspringenden Felswände. Es ging im Zickzack hin und her. Luxon konnte keine Spuren von Nohji und Algajar mehr entdecken. Die Kreatur stieß ein lallendes Murmeln aus und deutete wieder nach vorn. Das Scharren der Vogelklauen auf Gestein war einigermaßen gleichmäßig, registrierte der Sohn des Shallad. Er hoffte, daß Hodjaf noch einige Zeit durchhalten möge. Sein Reittier folgte dem Weg zwischen den Felsen und bäumte sich auf, als die Felsen, wie Köpfe oder Phantasiegestalten geformt, sich mehr und mehr duckten, niedriger wurden und auseinanderwichen. Ein Krater, ungewöhnlich gleichmäßig, dehnte sich vor den Eindringlingen aus. In seiner Mitte, rund zehn Mannslängen tiefer als die niedrigen Felsen und das Gebiet der Umgebung, erhob sich ein kugelartiges Gebilde. Es sah aus wie ein gigantischer Schwamm, dessen Oberfläche von unregelmäßig geformten Löchern in jeder Größe bedeckt war. Sowohl die Seitenwände des Trichters als auch das Gestein der großen Kugel glühten. Die Löcher hingegen waren tiefschwarz. Luxon glaubte, in ihrem Innern ein blitzendes Funkeln zu sehen. Er schüttelte sich vor Grauen, als er auf dem Kraterhang, nur eine Mannslänge von der zu zwei Dritteln sichtbaren Kugel entfernt, ein regungsloses Bündel erblickte. Es sah aus wie ein toter Mensch, dessen sämtliche Knochen einzeln gebrochen waren. Die Glieder des Unbekannten lagen in unnatürlicher Verkrümmung da. Neben Luxon gellte ein Schrei auf, viel lauter als das Wimmern und Heulen der Umgebung. Die Kreatur riß sich 174
los. In Luxons Hand blieben knisternde Schuppen zurück. Jaulend rannte der kleine Mißgestaltete auf die Felsen zu. Aus ihnen schnellten sich die Fänger hervor und stürzten sich auf ihn. Mit einer schnellen Bewegung wischte Luxon die Hand ab und ergriff das Schwert. Die drei goldenen Zeichen im Innern der Gläsernen Klinge leuchteten nur schwach, fast nicht sichtbar. »Aszorg, Xandor!« lallte Hodjaf, der im Sattel kauerte und mit aufgerissenen Augen auf das Schauspiel starrte, das sich den Reitern bot. Noch immer hielt Hodjaf die Fackel. Aber es hätte deren Licht nicht gebraucht, denn der Himmelsstein mit den unzähligen Öffnungen leuchtete so stark, daß man sogar die Fußspuren sah, die ein einzelner Mensch hinterlassen hatte. Aus einigen Löchern ringelten sich schlaff tentakelartige Greifer hervor. Sie hatten im Sand scharfe Schleifspuren zurückgelassen. Jetzt, als das Wesen in der Tiefe des Himmelssteins spürte, daß sich ein neues Opfer näherte, ringelten sich aus mindestens drei Dutzend Löchern dickere und dünnere Tentakel hervor. Ein Stück Körper, in dessen Mitte ein einzelnes Auge sich langsam öffnete und schloß, quoll wie Brei aus einem der größten Löcher. Die Spitzen der Tentakel rissen Schlangenrachen auf. Stacheln und weiße Zähne, an denen kleine Gifttropfen zitterten, zeigten sich im Licht. Luxon hörte in seinem Kopf ein dröhnendes und schnarrendes Brummen. Es wurde lauter, je mehr sich von der Kreatur aus dem Gebilde hervorschob. Ein Tentakel riß sich los und bewegte sich wie eine Schlange auf die Vorderfüße von Luxons Pferd zu, das nervös am Rand der Grube tänzelte. »Es muß sein«, entschied sich Luxon, und er merkte erstaunt, daß er noch zu grinsen vermochte. Er ließ sich schnell aus dem Sattel gleiten, nahm den Zügel und zerrte sein Pferd hinüber 175
zu Hodjaf. Der Rebellenführer war fast nicht mehr ansprechbar. Aber er gehorchte Luxon mit mechanischen Bewegungen. »Hier, der Zügel. Gib die Fackel her!« brüllte Luxon und sprang mit der Fackel in der linken Hand zurück, als das Pferd nach ihm ausschlug. Er schwang das Gläserne Schwert seitwärts und hörte das warme Knistern der Flamme. Wenigstens dieses Licht war ein vertrauter Bestandteil seiner Welt. Er rannte auf die Kante des Kraters zu. Die Fackel versprühte Funken, vor denen die Schlangen zurückwichen. Das Schwert glühte nicht auf. Es leuchtete nicht mehr. Und auch das leise, melancholische Klagen erscholl nicht mehr, als Luxon mit einem wuchtigen Schlag den Körper einer Schlange in zwei Stücke zerschnitt. Der fremdartige Laut, unter dessen Einfluß sein Schädel zu zerspringen drohte, wurde drängender, und wieder kamen die entsetzlichen Schmerzen. Schützte der Helm nicht mehr? Verlor das Schwert seine Eigenschaften? Der durchlöcherte Stein aus dem Himmel! Die Schlangen fürchteten die heiße Flamme und flüchteten über den Sand. Luxon rannte durch den hochstiebenden Staub, bis zu den Schienbeinen versinkend, auf den Körper zu. Er hoffte, daß es Algajar sein würde. Aber mit jedem weiteren Schritt wurde die Gewißheit stärker: Er steckte das Schwert in den Sand und drehte den Kopf zu sich herum. »Nohji!« schrie er leise auf. »Die Prinzessin!« Jedes Leben war aus ihrem Körper gewichen. Die Schlangen oder der Xandor hatten jeden Tropfen Blut aus dem Körper gesogen. Jetzt sah Luxon auch die schnittartigen Wunden und die kleinen, tiefen Löcher in der Haut. Das Gesicht des blutjungen Mädchens zeigte eine Ruhe, einen entrückten Ausdruck, der von einem leichten Tod sprach. Luxon sprang fluchend auf die Füße und schlug mit dem Schwert nach drei 176
dicken, sich krampfhaft windenden Schlangen, die auf ihn zugekrochen waren. Der unförmige Leib des Xandors war jetzt an drei Stellen und jeweils sehr viel weiter aus dem Stein hervorgequollen. »Du verdammter Mörder! Du und Algajar! Ihr seid die besten Freunde…«, schrie Luxon in ohnmächtigem Zorn. Das Schwert in seiner Hand schien selbständig zu werden. Er stach und schlug zu wie ein Rasender. In dem weißen Körper, dessen Oberfläche aussah wie der warzenbedeckte Bauch einer Schlammkreatur, zeichneten sich tiefe Wunden ab. Aus einem Loch schob sich etwas, das wie ein menschlicher Arm aussah. Der Körper der Prinzessin war von einer unregelmäßigen Kruste bedeckt gewesen. Nicht an allen Stellen, aber die Schicht wirkte, als sei die Haut verbrannt worden. Luxon sprang hin und her und köpfte mit zielsicheren Schlägen und Hieben die Schlangen. Das Schwert leuchtete und klagte nicht mehr, aber es hatte seine anderen Eigenschaften nicht verloren. Als sich die dicken, fleischig aufgedunsenen Finger der riesigen Hand nach Luxon ausstreckten, splitterten an einigen Rändern der Himmelsstein-Öffnüngen die dünnen Gesteinsschichten ab. Fast jeder Hieb, den Luxon führte, immer wieder im leuchtenden Sand ausrutschend, wurde von den Kreaturen bemerkt. Sie hockten, kauerten und turnten rund um den Krater auf ihren Felsen und schrien im Chor auf, wenn ein Körper gespalten wurde oder wenn ein Kopf in den letzten Zuckungen die Zähne in den Sand schlug. Obwohl der knirschende Meteorstein die Wirkung der Waffen herabsetzte oder fast ganz aufhob, kämpfte Luxon weiter. »Wo… ist… dieser… verfluchte… Algajar?« knirschte er und hieb die Hand dicht hinter dem Gelenk ab. Ein Stück 177
seines Mantels, den die Finger ergriffen hatten, riß mit einem häßlichen Knirschen ab. An der Stelle, in die sich die Finger gebohrt hatten, glomm der Stoff. Einige der stärksten Kreaturen benutzten die heillose Aufregung, um sich auf kleinere oder schwächere Wesen zu stürzen. Sie schlugen ihre Zähne und Klauen in das Fleisch der Artgenossen. Ein Spalt zeigte sich im runden Stein, der kleine und größere Löcher miteinander verband. Aus dem Spalt schob sich ein anderer Teil des riesigen, aufgequollenen Körpers des Xandors. Luxon glaubte, hohl fauchende Worte zu verstehen, deren Echo aus den Röhren oder verschlungenen Tunnels des Steins ihm entgegengeweht wurde, verbunden mit einer Wolke stinkender Gase. TÖTEN. FRESSEN. UMARMEN. BRENNEN… Der Xandor besaß kein Knochengerüst mehr. Die Spitze bohrte sich in ein riesiges Auge, aus dem Luxon halb blind angestarrt wurde. Ein zweiter Arm kroch vorwärts. In den Fingern hielt er ein Bündel Schlangen, die sich wie besessen ringelten. Luxon stieß die Fackel nach vorn. Ihre Flamme versengte das Fleisch, es stank, und die Schlangen wanden sich davon. Die Finger schlossen und öffneten sich. BRENNEN. FRESSEN. ÜBERLEBEN… Als Luxon zur Seite wirbelte und einen Hieb mit aller Kraft nach dem Arm führte, sah er ein erstaunliches Bild. Die beiden Tiere standen starr vor Schrecken da, die Beine breit gespreizt, die ungleichen Köpfe in die Höhe gereckt. Hodjaf hatte den Weg bis zum schlaffen, unkenntlichen Körper der toten Prinzessin zurückgelegt und hob jetzt Nohjis Leichnam auf seine Arme. Luxon blickte nur kurz hin, aber dieses Zögern hätte ihn fast das Leben gekostet. Ein Stück des Meteorsteins brach knirschend auseinander und fiel in seine Richtung. Dahinter wölbte sich aus der entstandenen Öffnung 178
blasenartig ein anderer Körperteil des Entarteten. Es hob und senkte sich, als ob dahinter ein ins Riesige vergrößertes Herz langsam schlüge. Luxons Schwert zuckte hoch und schnitt eine tiefe Wunde in die Haut. Farblose Flüssigkeit tropfte, klebrig wie Harz, aus dem Schnitt. Wieder griffen ihn Schlangen an. Er vertrieb sie mit Feuer und köpfte sie mit blitzschnellen Hieben Altons. Der Kampf nahm ihn so in Anspruch, daß er von dem Dröhnen in seinem Kopf ablenkte und von allen anderen Begleiterscheinungen Denebas. Dann hielt Luxon das Schwert waagrecht und führte eine Anzahl von Stichen gegen den Körper des Xandors. Das Pochen, das Heben und Senken wurden langsamer und unregelmäßig. Aus den Tunnels tönte es: BRENNEN. UMARMEN. KÄMPFEN… Und dann, immer schwächer werdend: ENDLICH… ERLÖSEN… sterben… endlich… Das Pochen hörte auf. Die letzten Schlangen flüchteten rasend schnell durch den Sand und verschwanden. Luxon sah sich um, schwenkte die Fackel und lief auf Hodjaf zu, der sein Orhako erreicht hatte. Die Schreie der Kreaturen hatten einen gellenden Höhepunkt erreicht und rissen jetzt ab. Hodjaf legte den Körper Nohjis auf Luxons Sattel, kletterte hinauf in den Sattel des Orhakos und sagte ausdruckslos: »Sie ist tot. Komm, Luxon…« Er streckte einen Arm aus. Luxon sicherte und entschloß sich dann, der Aufforderung zu folgen. Das Orhako schien unter dem doppelten Gewicht aus seiner Lethargie zu erwachen, und auch der harte Ruck am Zügel des Pferdes bewirkte, daß das Tier grell wieherte und sich hinter dem Laufvogel in Bewegung setzte. Das Orhako wurde, von Hodjaf rücksichtslos angetrieben, immer schneller. Luxons Körper hob und senkte sich in dem 179
eigentümlich wiegenden Gang der beiden langen, muskulösen Beine. »Von Algajar fehlt jede Spur!« sagte Luxon und hob Schwert und Fackel, so hoch er konnte. Der Körper des Vogels schrammte, als sie wieder durch die engen Felsengassen trabten, entlang des Gesteins. Chimären und Mißgestaltete zogen sich zurück, als Luxon ihnen das Schwert entgegenschwang oder . mit der heruntergebrannten Fackel drohte. Der Reitvogel wurde schneller und sicherer. Der Körper Nohjis blieb rätselhafterweise im Sattel des galoppierenden Pferdes. Luxon sah die beiden Torsäulen auftauchen und hörte, wie Hodjaf sagte: »Ich habe sie begehrt. Sie ist tot. In Wirklichkeit hat Algajar sie getötet.« »So ist es«, antwortete er, aber Hodjaf hörte ihm nicht zu. Das Geräusch, das Luxon heimgesucht hatte, und auch die rasenden Schmerzen, die ihn peinigten, schwollen ab. Sie hörten ganz auf, als die Reiter in vollem Lauf die gekrümmten, durchbrochenen Säulen und ihre ausladenden Steinkappen passierten. Luxon widerstand der Versuchung, sich den Helm der Gerechten vom Kopf zu reißen und sah voller Erleichterung, daß sowohl die Vogelreiter des Rebellen als auch der Rest seiner Karawane ruhig warteten. Kalathee lief auf ihn zu. Ihr schmales Gesicht schimmerte im Fackellicht. Ihr Haar wehte über die Schultern. Zwei Rebellen griffen in die Zügel des Orhakos. Willenlos ließ sich Hodjaf helfen. Er stand tief unter dem Einfluß eines Schocks. Er nahm wieder den leblosen Körper Nohjis auf die Arme und trug ihn mit schleppenden Schritten dorthin, wo der Steinhaufen aufgetürmt worden war. Shakars Grab lag hier, fernab seiner Heimat. Dort legte der Rebell den Leichnam in den Sand und blieb regungslos stehen. Luxon kletterte aus dem Sattel des Orhakos und fühlte sich, 180
als habe er sieben Tage und Nächte lang nichts anderes getan, als gegen Dämonen zu kämpfen. Er nahm dankbar einen Becher in die schmerzenden Finger und führte ihn mit beiden Händen an den Mund. Seine Hände zitterten, als habe er Fieber. Er wußte, daß er starken Wein trank, aber er schmeckte ihn nicht. »Ich habe Nohji nicht mehr retten können«, flüsterte er und fühlte in seinen Knien eine nie gekannte Schwäche. »Algajar ist vermutlich von den Kreaturen zerstückelt worden. Es war furchtbar.« Socorra faßte ihn unter der Achsel und schleppte ihn mit sich. Schnell war ein Lager aus Decken und Fellen aufgeschlagen. Luxon hielt still, als Kalathees Finger ihm den Helm abnahmen, das Schwert und Bogen und Köcher. Fast übergangslos schlief Luxon ein.
Hodjaf saß Luxon gegenüber auf dem Sattel des Orhakos. Luxon lehnte sich gegen einen schweren Ballen, der Ausrüstungsgegenstände enthielt. Der Sohn des Shallad fühlte sich trotz des langen, ungestörten Schlafs zerschlagen und unfähig, klare Gedanken zu fassen. Immer wieder schoben sich die gräßlichen Ereignisse der vergangenen Nacht in seine Überlegungen. Sein Blick irrte ab. Er sah zwischen den Beinen der Umstehenden und der Tiere hindurch die beiden länglichen Steinhaufen. Hodjaf bemerkte seinen Blick und sagte unaufgefordert: »Wir haben Prinzessin Nohji neben deinem Ziehvater begraben. Kalathee sprach mit mir, während du geschlafen hast.« Die Karawane war fertig zum Aufbruch. Luxon sah etwa fünfzig Orhakoreiter, Rebellen unter der Führung Hodjafs. Müde entgegnete er: »Wir sind gerade noch zur richtigen Zeit 181
aus dem Geistertal entkommen. Jetzt kennen wir die Geheimnisse Denebas.« Kalathee kam und reichte ihm einen Becher. Der Geruch von Tee, in den fremdartige Kräuter oder Säfte gemischt waren, drang in Luxons Nase. Der erste Schluck des heißen Gebräus ließ ihn husten und würgen. Dann merkte er, wie sich in seinem Körper Wärme und neue Kraft ausbreiteten. Gierig trank er weiter. »Ich habe eingesehen«, sagte Hodjaf und zupfte an seinem grauschwarzen Bart, »daß ich mit dem falschen Mann einen schlechten Vertrag geschlossen habe.« »Ich weiß«, entgegnete Luxon langsam. »Ich habe euch in der Nacht belauscht. Habt ihr die Leiche Algajars gefunden?« Schweigend schüttelte Hodjaf den Kopf. »Wahrscheinlich haben ihn die Ungeheuer zerrissen«, warf Socorra ein. Er wirkte auf Luxon um Jahre älter, als hätten ihn die Schrecknisse der Nacht reifen lassen. Luxon zuckte mit den Schultern und meinte: »Wahrscheinlich ist er umgekommen. Aber damit sollte keiner von uns fest rechnen. Was, beim Morgenlicht, hast du in diesem Becher zusammengerührt?« »Einige Kräuter und ein paar Tropfen, die ich in Sarphand gekauft habe. Es hilft, ja?« »Es macht mich um Jahre jünger und um vieles stärker«, bestätigte Luxon grimmig. »Ich bin traurig.« »Verständlich«, gab Hodjaf zurück und schlug seine Kapuze in den Nacken. Mit seinen dunklen Habichtsaugen musterte er, als sähe er ihn zum erstenmal, seinen neuen Verbündeten. »Aber vielleicht wird deine Trauer etwas geringer, wenn du erfährst, daß mir etwa fünfmal hundert Rebellen gehorchen. Einen Teil sahst du in der Nacht, ein kleiner Rest wird die Karawane begleiten.« »Warum die Sinnesänderung, Hodjaf?« erkundigte sich 182
Luxon und gab den leeren Becher zurück. Um die beiden Anführer hatten sich ein dichter Kreis von Zuhörern gebildet. »Ich habe es bereits angedeutet. Ich glaube dem alten Mann, der für seine Botschaft gestorben ist. Du bist der rechtmäßige Shallad, und Hadamur ist ein Betrüger. Helfe ich dir jetzt, wirst du mir helfen – und meine Männer sind nicht mehr länger Rebellen! Wenn ich mit meinen Boten die Wahrheit verbreite, wird dein Name hochgeschätzt werden. Viele Tausende von Orhakoreitern und viele andere Menschen werden dir helfen, mit dir kämpfen und, wenn es sein muß, für dich sterben, Luxon.« »Vom Tod und vom Sterben habe ich mehr als genug«, versicherte Luxon. »Und ich bitte dich dringend, kein Wort weiterzusagen von dem, was du weißt.« »Ich verstehe nicht«, tat Hodjaf unglaubwürdig, »was meinst du?« Er war mittelgroß, gedrungen, aber mit einem mehr sehnigen als fetten Körper. Seine Hände waren braun gebrannt und voller Altersflecken. Die Nägel, unter denen Sand haftete, zeigten, daß er sich nicht schonte. Sie waren abgesplittert und zerbrochen. Ein stoppeliger Bart wucherte auf seinem. Gesicht. Sein Haar war stark gelichtet und ebenso schwarz und grau wie sein Bart, der um das Kinn wucherte. Die Augen beherrschten das Gesicht; sie waren schnell, scharf, und tatsächlich wirkten sie wie Raubvogelaugen. »Ich meine, du sollst nicht laut verkünden, daß ich, Luxon, aufgebrochen bin, um den Shallad Hadamur zu stürzen. Mit diesen wenigen Männern und selbst mit deiner Unterstützung würden wir es niemals schaffen. Schweige also, Hodjaf.« »Du hast recht. Der Shallad würde an jenem Punkt des Shalladad eine gnadenlose Hetzjagd nach dir beginnen lassen!« »Das denke ich auch. Nein, ich bin dessen sicher!« Luxon 183
stand auf und spürte, daß die Schwäche in seinem Körper nachgelassen hatte. Sein Verstand klärte sich wieder. Er war jetzt in der Lage, die Erlebnisse der Nacht richtig einzuordnen. »Was hast du vor, Luxon? Wohin geht deine Karawane?« »Wir suchen den besten Weg nach Logghard«, gab er zurück. »Noch einen Becher dieses dämonischen Tees, Kalathee?« »Es ist noch genug da. Den Rest trinkt Socorra!« »Logghard?« brummte der Rebellenanführer. »Es ist ein weiter und beschwerlicher Weg nach Logghard! Was willst du dort? Der Shallad ist längst nicht mehr in Logghard.« Luxon spannte seine Muskeln und fühlte zahllose Stellen seiner Haut. Sie waren aufgeschürft, blau geschlagen und zerschnitten. Einige Wunden begannen jetzt zu schmerzen. »Logghard ist der siebente Stützpunkt des Lichtboten«, erklärte Luxon mit fester Stimme. »Dort werde ich zu holen versuchen, was ich noch finde. Ich habe allerdings genaue Vorstellungen davon, was ich finden werde. Erst dann, nachdem ich im Besitz aller Kostbarkeiten bin, werde ich den Kampf gegen den Shallad aufnehmen können.« »Entweder bist du der größte Narr…«, begann Hodjaf, dann aber schüttelte er den Kopf und sagte fast voller Ehrfurcht: »Nein. Du bist kein Narr. Ich habe dich zweimal kämpfen sehen. Du bist tapfer und voller Mut. So mutig, wie es sich für den Sohn des echten Shallad geziemt. Ich bin sicher, daß dein Name eingehen wird unter die Namen, mit denen wir die Helden bezeichnen. Du hast meine volle Unterstützung, Luxon.« Der Blick, den Hodjaf Luxon zuwarf, ließ erkennen, daß er ihn tatsächlich für einen Helden hielt. Er wußte am besten, wie gefährlich die Reise nach Logghard war, gleichgültig ob für einen einzelnen oder für eine Karawane. Die Straßen führten durch gefährliche Gebiete, und die Vogelreiter des Shallad vergrößerten durch ihre Willkür diese Gefahren noch 184
zusätzlich. »Ich werde sehen, was sich tun läßt!« sagte Hodjaf kurz. »Jetzt muß ich dich fragen, wie dies gemeint ist«, antwortete Luxon. Er sah sich vergeblich nach Mythors Waffen um. Jetzt fiel ihm ein, daß Kalathee sie ihm gestern nacht abgenommen hatte. »Überall patrouillieren Vogelreiter des Shallad. Aber an vielen Stellen gibt es auch kleine Nester von Rebellen. Wir werden den Weg deiner Karawane so gut beobachten, wie es uns möglich ist. Vielleicht können wir eingreifen, wenn ihr in Gefahr kommt.« »Vorausgesetzt, du hältst dein Schweigeversprechen«, antwortete Luxon und glaubte ihm sogar, »dann werden wir deine wilden Vogelreiter gern sehen, wenn sie an unserer Seite oder aus dem Versteck kämpfen. Nimm deine Truppe und verstecke dich wieder, Hodjaf – eines Tages werde ich dich rufen. Ich weiß, daß dieser Tag nicht sehr fern liegt!« Luxon trank den zweiten Becher leer und fühlte sich wieder wohl und von neuer Zuversicht erfüllt. Kalathee schmiegte sich in seinen Arm. Sie war sicher, daß Luxon seinen Weg weitergehen würde. Sie meinte, daß sie tatsächlich auf den besseren Mann gesetzt hatte, ganz abgesehen von ihrer Leidenschaft für Luxon. Aber sie mußte sich auch sagen, daß Leidenschaft und Berechnung nicht unbedingt die Verbündeten eines Paares waren. Sie war nicht in der Lage, auch nur zu ahnen, was in dieser Welt des Südens ihre Liebe zerstören konnte. Aber ein feiner Stich blieb zurück, es war das Wissen, daß alles vergänglich war, daß sich alles veränderte. Trotzdem genoß sie jeden Augenblick, den sie an seiner Seite verbringen konnte. Luxon hob die Hand und winkte den Pfader zu sich heran. »Wir brechen auf«, sagte er zu Hodjaf. »Weiter auf dem 185
kürzesten Weg nach Logghard. Du kannst einigen deiner besten Kriegern befehlen, uns die richtige Straße zu zeigen. Sprich mit Socorra.« »Das will ich tun.« Der Weg nach Logghard war tatsächlich weit und voller Gefahren. Mehr und mehr drohten die bösartigen und unbegreiflichen »Wunder« der Schattenzone. Selbst für Luxon, der die Gefahren von Sarphand überlebt hatte, würde es eine unendliche Strapaze bedeuten. Für alle, die mit ihm ritten, kamen Tausende neuer Schrecken hinzu. Er war froh, einen neuen Verbündeten gefunden zu haben. Allerdings glaubte er nur die Hälfte von Hodjafs Versicherungen. Der Anführer der Rebellen würde an seiner Seite kämpfen, weil er sich spätere Belohnung erhoffte. Und wenn er, Luxon, versagte und nicht den Thron des Shallad errang, änderte sich für Hodjaf nichts. Er blieb Rebell und Wegelagerer. Luxon schnallte das Gehänge des Schwertes um, das er stets trug, wenn Alton, das Gläserne Schwert, im Gepäck versteckt war. Er streckte Hodjaf die Hand entgegen. »Du wirst dich an dein Versprechen halten, Freund Hodjaf?« fragte er und schenkte ihm sein gewinnendes, überzeugendes Lächeln. »Unabänderlich! Versuche, die Schrecken von Deneba zu vergessen, Luxon. Der Sohn des Shallad wird noch andere Abenteuer überstehen müssen.« Sie schüttelten sich die Hände. Hodjaf hatte einen eisernen Händedruck. Er nickte Luxon zu und ging hinüber zu der Gruppe seiner Orhakoreiter. Samed führte Luxons fahlfarbigen Hengst heran und hielt Zügel und Steigbügel. Luxon kletterte in den Sattel und warf einen letzten Blick in die Richtung, in der das Tal des Leuchtens lag, die Geisterstadt Deneba. Er verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an das, was sich dort nach dem Tod des Xandors verändern mochte. Das Leben seiner 186
Krieger und seine eigenen Pläne waren wichtiger. Und Kalathee. »Wir reiten!« rief er und setzte sich, zusammen mit dem Pfader, an die Spitze der Karawane. Einige Vogelreiter trabten auf ihren Tieren an ihm vorbei und verschwanden hinter der nächsten Weggabelung. Hodjaf schwang sich auf den Rücken eines Orhakos und riß dessen Kapuze herunter. Auch er hob den Arm und winkte Luxon zu, bis der letzte Reiter der Karawane an ihm vorbeigezogen war. Einige Augenblicke danach lag dieses Stück der Straße wieder leer da. Nur der Wind wehte den letzten aufgewirbelten Sand zur Seite. Hodjaf wußte, daß die Karawane, geführt von seinen Leuten, wieder auf ein anderes Stück Weges abbiegen würde. Auch diese Straße verdiente ihren Namen nicht. Sie war ein fast unkenntlicher Pfad durch menschenleeres Gebiet. Dies würde sich erst ändern, wenn sich die Karawane wieder auf der Pilgerstraße befinden würde. Und dort harrten bereits die Gefahren auf jedermann, auch auf Luxon – gerade auf ihn. Die Orhakoreiter des Shallad würden dafür sorgen, daß er nicht ruhig schlafen konnte.
Immer wieder stand dieselbe Folge von Entsetzen und Kampf, Furcht und verzweifeltem Mut vor ihm. Jedesmal fingen seine Finger wieder unkontrolliert zu zittern an. Jedesmal brach der kalte Schweiß auf jeder Handbreit seines Körpers aus. Auch jetzt, als er sich aus dem Winkel zwischen Felsen und Sanddüne hervorschleppte, holten ihn die Erinnerungen wieder ein. Die ersten hundert Mannslängen, vom Rand der Karawane bis zu den torähnlichen Felsen vor Deneba, hatte er nicht gedacht, sondern nur instinktiv gehandelt. Er wollte die 187
Prinzessin dem Rebellenanführer übergeben, wie er es versprochen hatte, wie es zum Plan gehörte. Aber die Entschlossenheit dieses Luxon, nachdem der Alte seine Wahrheiten herausgeschrien hatte, vereitelte sein Vorhaben. Luxon! Hadamur und Shakar, damals; jedes Wort entsprach der Wahrheit. Luxon also war tatsächlich der Sohn Rhiads, und er lebte, und er hatte ihn verfolgt. Die Erinnerungen vermischten sich mit der Wirklichkeit. Keuchend holte Algajar Luft und schüttelte Sand aus dem Haar und aus den Fetzen seiner Kleidung. Er bückte sich und zog das Schwert aus dem Sand hervor. Es war sein Schwert, er erkannte es an der Zeichnung auf der Schneide. Das glänzende Metall war von verkrustetem Blut bedeckt. Die Dämonen hatten das Pferd der Prinzessin überfallen, getötet und zerrissen. Er warf sich zwischen die kreischenden Bewohner der Geisterstadt und war entschlossen, dieses Mal – nur dieses eine einzige Mal! – dem Xandor kein Opfer zu übergeben. Das Leuchten der Felsen, des Sandes und des Kraters, das Schreien und Wimmern der Kreaturen und die unerträglichen Schmerzen in seinem Schädel hatten ihn verwirrt und halb wahnsinnig gemacht. Er rettete die Prinzessin, indem er in rasender Wut mehr hilflos als gezielt um sich schlug und das Mädchen zu sich in den Sattel zog und zerrte. Sie klammerte sich an seinen Schwertarm und behinderte ihn. Es gelang ihm trotzdem, das Orhako weiterzutreiben und dem ersten Überfall zu entkommen. Dann riß seine Erinnerung ab. Algajar lehnte sich an den Felsen und schüttelte den Kopf. Er war lebend aus Deneba entkommen. Nur das zählte im Augenblick. Niemals in seinem Leben war er dem Tod so nahe gewesen. Was war weiter geschehen? Mit der Prinzessin war 188
er weiter ins Dämonental vorgedrungen. Noch immer hatte sich Hodjaf nicht gezeigt, auch keiner seiner Krieger. Die Kreaturen des Tals waren aus ihren Löchern gesprungen, hatten geschrien und gewimmert und sich selbst angegriffen und… Langsam, hungrig und mit ausgedörrter Kehle stolperte Algajar den Hang hinunter. Überall war Sand. Sogar zwischen seinen Zähnen, aber das merkte er nicht. Er schien es geschafft zu haben, lebend aus Deneba zu entkommen. Er erinnerte sich wieder an eine Reihe von Szenen. Das Orhako hatte den Befehlen nicht mehr gehorcht und war wie rasend davongestürmt. Nicht wie rasend -es war rasend gewesen. Die Strahlung oder die Summierung der Schreie und des Wimmerns hatten nicht nur den Verstand der beiden Menschen, sondern auch das Hirn des Laufvogels geschädigt. Am Rand des Kraters war das Orhako endgültig wahnsinnig geworden. Es hatte Algajar aus dem Sattel geschleudert. Das Mädchen, das er im Arm gehalten hatte, stürzte mit ihm zusammen in den glimmenden Sand und überschlug sich, als sie den Kraterrand hinunterrollten. Sofort waren die Schlangen dagewesen. Er kannte den Krater und die Schlangen, denn er hatte oftmals Menschen, die dem Shallad unliebsam waren, die er zum Tod durch Verschwinden verurteilt hatte, oder auch andere Opfer, die der Willkür des Hadamur das grauenvolle Ende ihres Lebens zu verdanken hatten, hierhergeschleppt. Sie alle waren von den Kreaturen und Chimären getötet worden – oder Aszorg hatte sie an sich gerissen und ihnen das Leben ausgesaugt. Und jetzt, als der glimmende Sand über ihnen zusammenschlug, war er aufgesprungen und hatte die ersten Schlangen getötet. Einige Augenblick später schleppten die Tiere, nichts anderes als die wirklichen Muskeln und Nerven des denaturierten Xandors, die Prinzessin davon, in den 189
Bereich der Finger Aszorgs. Und schon griffen die gierigen Finger zu. Von Entsetzen und Verwirrung gepeitscht, flüchtete Algajar. Hinter sich hörte er durch das Wimmern und Kreischen der Chimären die Todesschreie der Prinzessin. Mit der gezogenen Waffe in der Hand und krank vor Furcht und Schrecken, rannte er entlang der leuchtenden Felsen. Irgendwie und zu einem Zeitpunkt, an den er sich nicht mehr erinnerte, rannte er keuchend einen leuchtenden Hang hinauf, verschwand zwischen leuchtenden Felsen und ebensolchen versteinerten Bäumen. Das Glimmen und das lockend-abstoßende Geschrei der Kreaturen wurden leiser und schließlich bedeutungslos. Algajar brach zusammen und versank in einen Schlaf, der halbe Besinnungslosigkeit bedeutete. Jetzt war er aufgewacht und taumelte, noch immer keines klaren Gedankens fähig, auf eine Stelle zu, an der er hoffte, daß noch die Krieger des Shallad warteten. Stunde um Stunde verging, und nur langsam gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er schaffte es, die Gründe für sein Handeln zu erkennen. Bisher hatte der Xandor Aszorg auf ihn gewartet. Er hatte die Kreaturen, über die er herrschte, in ihre Höhlen und Löcher getrieben und ihnen das Schreien verboten. Es war ein leichtes gewesen, die Opfer bis an den Rand des Kraters zu führen und dort hinunterzustoßen. Als Dank und Antwort erschollen dann röhrende, kaum verständliche Worte aus den Höhlen und Löchern des Himmelssteins. Aber in dieser Nacht erreichte die Hölle von Deneba einen Höhepunkt, denn die Chimären hatten die Menschen gewittert, die Nähe von vielem warmen Fleisch gespürt. Sie waren rasend gewesen. Und Aszorg hatte es nicht mehr geschafft, daß sie ihm gehorchten. Aus diesem Grund schlugen die Wellen der Begierde und des Wahnsinns über jedem zusammen, der sich in Deneba 190
befand. Selbst über ihm, Algajar, der wie kein anderer lebender Mensch das Tal der Dämonen und des leuchtenden Sandes kannte, schwebte ununterbrochen die Drohung des Irrsinns. »Nicht mehr jetzt! Jetzt bin ich gerettet!« stöhnte er, als er weit vor sich eine Reihe von Orhakoreitern erkannte. Er blinzelte im Licht der Vormittagshelligkeit. Undeutlich erkannte er die Zeichen des Schwertmonds auf den Schilden der Vogelreiter. Er winkte und benutzte, nachdem er die Schneide gereinigt hatte, sein blankes Schwert, um damit Lichtzeichen zu geben. Endlich wurde ein Krieger auf ihn aufmerksam. Die Kolonne der reitenden Patrouille änderte ihre Richtung und kam auf ihn zu. Er winkte mit schwachen Bewegungen. Nachdem sie ihn erkannt hatten, war es einfach: Kurz darauf saß er, den Inhalt eines Wasserschlauchs in gierigen Schlucken in sich hineintrinkend, auf dem Rücken eines Vogels. Die Krieger des Shallad eskortierten ihn im Sattel eines frischen Reitvogels nach Hadam. Der große, prunkvolle Raum schien aus den Felsen geschlagen worden zu sein. Riesige Sonnensegel dämpften auf den Terrassen das Licht. Schwitzende Sklaven bewegten vor jedem Eingang die quadratischen Fächer, die sich in kugeligen Lagern voll von Fett lautlos bewegten. Ununterbrochen wehte ein Luftzug über den kalten Marmor und die kühlen Säulen aus weißem Granit. Der Shallad wollte es so. Er hörte weder das Schwirren der Peitschen noch die ächzenden Schreie der Bausklaven. Es bekümmerte ihn nicht. Alles, was er wollte, war das rasche Fortschreiten des kolossalen Bauwerks. Das Mausoleum wuchs von Tag zu Tag. Es sollte jedes andere Gebäude, das man kannte oder von dem die Erzähler berichteten, an Schönheit, Ausstattung und Größe 191
überragen. So wollte es Hadamur, und der Wunsch des Gottkönigs war Befehl. Armeen von Arbeitern schufteten ununterbrochen in Hadam. Hadamur war nur scheinbar abgestumpft. Es gab Vorgänge, die inzwischen so alltäglich geworden waren, daß sich sein Verstand weigerte, sie zu bemerken. Andere Dinge aber beschäftigten ununterbrochen sein rastloses Gehirn. »Schneller!« sagte er ächzend. Seine Stimme kam aus einer Kehle, die verfettet war. Sein Kopf bestand aus schwabbelndem Fett. Auf dem Schädel wuchs nicht mehr ein einziges Haar. Die winzigen Augen waren von dicken Schichten aus zitterndem Gewebe bedeckt, aber keineswegs sah der Shallad deswegen weniger. Auch sein Gewicht, das dem entsprach, das mehr als sechs stattliche Männer seines Hofstaats auf die Waage brachten, war ungewöhnlich. Ein Dutzend Sklaven schleppten seinen Sessel durch einen Korridor, dessen Boden, Wände und Decke unvorstellbar prächtig waren. Er verschwendete nicht einen einzigen Blick darauf. Zwei stämmige Sklaven mit dunkler Haut bewegten vor und hinter dem Haupt des Shallad die großen Fächer, die aus dem Gefieder von Shetcal-Vögeln bestanden. Für jeden Vogel, der geschossen oder gefangen wurde, mußten drei Jäger sterben, so delikat war die Jagd auf diese fliegende Kostbarkeit. Auf den Befehl des Shallad hin bewegten die keuchenden Tragesklaven ihre Glieder noch schneller. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte sich Hadamur nicht mehr auf seinen eigenen Gliedmaßen bewegen können. Jede Bewegung, die er ausführen wollte, wurde von anderen Menschen ausgeführt. Er hob nicht einmal einen Pokal an die wulstigen Lippen, obwohl er den süßen starken Wein mehr liebte als alles andere. »Schneller, ihr Schakale!« stieß er hervor. 192
Seine Stimme war kraftlos und hell wie die einer Frau. Aber sie hatte nichts von ihrer Schärfe verloren. Jedes Wort bedeutete einen Befehl. Niemand, der einen Befehl nicht befolgt hatte, lebte danach lange. Das Leben eines Sklaven bedeutete am Hof des Shallad absolut nichts. Sofort rannten die Sklaven los. Der Windhauch, der dadurch entstand, kühlte den Körper des Mannes. Er war in mehrere Schichten von dünnen, aber prunkvollen Gewändern gehüllt. Sie verbargen den Koloß seines Körpers nicht, konnten nicht die aufgedunsenen Schenkel und Knie verstecken und auch nicht die Schultern und Oberarme, die so dick waren wie die Hüften ausgewachsener Männer. Gold und Silber in Fäden, zu bildhafter Stickerei vereinigt, zu Mustern und phantastischen Gestalten mit Edelsteinen und Juwelen als Augen und Krallen, verzierten die unbeschreiblich kostbaren Stoffe. Die Ballen kamen von weit her aus dem Süden und dem Norden der Welt, und auch ihretwegen waren viele Menschen gestorben. »Nicht so schnell!« brachte Hadamur hervor. Die Sklaven keuchten schwitzend eine Treppe hinauf. Die Rücken derjenigen Männer, die vor dem Shallad die federnden Stangen umklammerten, beugten sich bis zu den Stufen hinunter. Die Männer, deren Rücken und Schultern von den Peitschenhieben des Treibers gezeichnet waren und hinter dem Shallad keuchten, hoben die Stangen an. Der ovale Thron aus teuerstem Holz und kostbarstem Metall blieb waagrecht, so daß den Shallad kein Gefühl der Übelkeit oder des Schwindels befiel. Die Treppe führte in die große Halle, in der Hadamur beabsichtigte, seine Audienz zu geben. Nur sein Kopf und sein Finger schauten aus dem Berg von funkelnden und schweißdurchtränkten Kleidern hervor. An jedem der dicken Finger glänzten und flirrten die Ringe. Niemand wußte, wie viele solcher Kleinode der Shallad besaß. Ein Geräusch hallte durch den letzten Abschnitt des 193
Korridors. Es war, als gäbe ein riesiger Eber einen grunzenden Laut von sich. Die Sklaven zuckten nicht einmal zusammen, denn sie kannten dieses Grunzen. Der Wein, den Hadamur getrunken hatte, bevor sich die Thronsesselsänfte in Bewegung gesetzt hatte, stieß ihm sauer auf. Er rülpste mit der Lautstärke eines großen Tieres. Den Becher hatte er in seinem Schlafgemach getrunken, keine dreihundert Schritte entfernt. »Ich sehe«, sagte er. »Ich sehe eine volle Audienzhalle. Bringt mich an den gewohnten Platz.« Er wartete eine zustimmende Antwort nicht ab, denn er wäre überrascht gewesen, wenn ihm jemand geantwortet hätte. Aber sein nächster Befehl bewies, daß er für diese Stunde keineswegs satt oder zufrieden war. »Man soll Süßigkeiten bereithalten!« Während die Fächersklaven schneller wedelten, während die Tragesklaven das schwere Gestell mit dem Koloß aus dem Korridor auf jene Stelle zuschleppten, an der sie den Thron abstellen würden, rannte ein Junge auf nackten Sohlen davon, um den Befehl weiterzugeben. Der Kopf des Shallad tauchte auf, für die Wartenden im Saal jetzt erst sichtbar. Ein gedämpfter Jubel ertönte und er füllte die riesige, säulengeschmückte Halle mit einem Summen und Brummen. Einige Männer holten tief Luft und stießen auf ein Zeichen des Marschalls in die goldenen Hörner. Kreischend schmetternde Laute fuhren durch die Halle und verkündeten die Ankunft des Gottkönigs. Als der Thron unendlich behutsam am oberen Ende von siebenundsiebzig flachen Stufen abgesetzt worden war, stellte sich die gewohnte Ordnung fast lautlos und in rasender Eile wieder her. Im Halbkreis bauten sich vor der untersten Stufe die schwerbewaffneten Krieger der Palastwache auf. Ihnen gegenüber, auf einer erhöhten und durch ein zierliches 194
Geländer geschützten Empore, nahmen die Bogenschützen Aufstellung. Ihre Aufgabe war, die Wachen zu kontrollieren und jeden zu töten, der etwa einen Anschlag auf den Shallad beabsichtigte. Auf die obersten neun Stufen – mit Ausnahme der letzten Stufe – legten sich andere Sklaven. Sie durften nicht wagen, den Shallad anzusehen. Ihre Leiber dienten dazu, daß die wenigen Männer, die Hadamur in seine Nähe ließ, nicht die harten Stufen benützen sollten. Sie kletterten über die Schenkel und Rücken der Sklaven, bis sie in achtungsvoller Entfernung vor dem Shallad standen. Zwischen den Säulen kamen Sklavinnen hereingelaufen. Sie trugen große Schüsseln und offene Kästchen, in denen Süßigkeiten und Leckerbissen aus allen Teilen der Welt verborgen waren. Andere hielten parfümierte Tücher in den Händen, mit denen sie die Stirn und die Hängewangen des Shallad kühlten. Wieder andere trugen die Schmuckstücke, die man dem Shallad geschenkt hatte. Sie waren eine Art lebende Ausstellung. Donnernd schlossen sich im Rücken des dicken Mannes schwere Türen. Leise schoben sich Riegel in die Zuhaltungen. Überall tauchten neue Krieger auf, die Hände an den Waffen. Nichts würde diesen ausgesuchten Kriegern entgehen, und schon mancher, der eine unvorsichtige Bewegung gemacht hatte, mußte sterbend einsehen, daß er sich besser nicht gerührt hätte. Zumindest an dieser Stelle war der prunkvolle Palast des Shallad Hadamur fertig. Aus der kleinen Stadt Andshara, die Hadamur nach sich selbst umbenannt hatte, war eine gigantische Baustelle geworden. Andshara-Hadam sollte so aussehen wie Logghard. Verteidigungseinrichtungen wuchsen ebenso wie das Mausoleum, die Prunkstraßen wurden von Tag zu Tag breiter und länger, und unablässig erfüllte 195
Baulärm die Stadt. Es ging das Gerücht, daß Hadamur die Stadt Logghard bewußt vergessen wollte. Aus diesem Grund hielt er sich seit langen Jahren hier auf. »Fangt an!« sagte der Shallad mit seiner keuchenden Stimme. Sofort stürzten Sklavinnen auf ihn zu und wußten genau, was zu tun war. Man hatte sie gelehrt, auf ein Blinzeln der trägen, reptilienartigen Lider zu gehorchen. Ein Mädchen, dessen Kleidung aus nichts anderem als Schmuckbändern und Juwelen bestand, schob dem Shallad winzige Süßigkeiten zwischen die Lippen. Eine andere tupfte die dicken Schweißperlen von seiner Stirn. Sie benutzte ein blütenweißes Tuch dazu. Eine dritte goß aus einem silbernen Krug, dessen Außenseite mit Tauperlen beschlagen war, einen großen Schluck gesüßten Weines in einen Pokal. Das Gefäß stammte aus einem fernen Land; man munkelte, daß es südlich von Logghard Länder mit kunstsinnigen Schmieden gäbe, und für seinen Gegenwert würden einige Familien jahrelang gearbeitet haben. Die Sklavin schaffte es, den Becher an die Lippen des fetten Mannes zu halten. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als er ein Rülpsen von sich gab, das sich anhörte wie der Todeslaut eines Fisches. Mit einem einzigen, gierig schmatzenden Schluck trank der Shallad den kostbaren Becher leer. Ein Mann mit staubbedeckten Stiefeln, einer ledernen Hose und einem Kittel aus demselben Material stieg über die Rücken der Sklaven herauf und blieb sieben Stufen unterhalb der obersten Ebene stehen. »Ja?« keuchte der Shallad und warf ihm listig funkelnde Blicke zu. Sein Schweiß vermischte sich mit den Ölen und Riechstoffen, mit denen man seine Gewänder getränkt hatte. Es wehte von diesem unförmigen Menschen ein Geruch nach allen Seiten, der selbst den Sklaven die Tränen in die Augen trieb. 196
»Baumeister Cestral, Shallad Hadamur«, sagte der Mann mit dem langen grauen Haar und den müden Augen. »Ich habe hier einen Plan für die Fassade des Monuments. Die Fassade, die nach Sonnenaufgang zeigt. Sage mir, ob dir der Schmuck gefällt. Ich habe nach deinen Vorstellungen gearbeitet und zeichnen lassen.« »Man soll näher herankommen!« gurgelte Hadamar und stieß laut auf. Mit unbewegtem Gesicht kam der Baumeister drei Stufen höher, was drei Sklavenrücken bedeutete. Er zog eine Pergamentrolle nach beiden Seiten auseinander und hielt sie vor das Antlitz des Gottkönigs. Schweigend betrachtete Hadamar die Zeichnung. Während er die Bilder, Linien und Zeichen anstarrte, trank er kalten, gesüßten Wein, aß abwechselnd kleine, in braune und gelbe Soße getunkte Fleischbrocken und dazwischen Früchte in tropfendem Honig, die Füllungen aus anderen Früchten und gebackenen Vogelhirnen enthielten. Die Sklaven wedelten durch die Luft, die feuchten Tucher kühlten sein Gesicht, und ab und zu bewegte sich ein Fingerglied. Es sah aus, als höbe eine dicke, schläfrige Schlange ihren Kopf. »Gut. Man soll die obere Mauer durchbrechen. Mehr Säulen mit goldenen Bändern neben dem Tor«, ächzte Hadamar. »Wie weit ist man mit der Arbeit?« »Shallad«, sagte der Baumeister mit einem Anflug hoffnungslosen Mutes, »wir müssen langsamer arbeiten. Langsamer und besser!« »Warum?« Sämtliche Personen in der näheren Umgebung des Gottkönigs erstarrten. Sie hatten Verärgerung aus seiner Stimme herausgehört. Aber noch ehe die Sklavinnen ihn weiter mit Süßigkeiten und Wein füttern konnten, um ihn abzulenken, entstand am Fuß der siebenundsiebzig Stufen Bewegung. 197
»Zur Seite!« sagte eine harte Stimme. »Erkennt ihr mich nicht?« Schweigend sprangen die Bewaffneten auseinander. Ein Mann näherte sich der untersten Stufe. Seine Kleidung war zerrissen. Sand und Schmutz bedeckten ihn. Seine Stiefel waren zerkratzt. Ein viele Tage alter Bart wucherte auf seinen Wangen. Er war unbewaffnet, aber aus jeder seiner Bewegungen sprachen rücksichtslose Kraft und kalte Entschlossenheit. Ohne sich umzusehen, trat der hochgewachsene Mann mit den auffallend kurzen Haaren und den zusammengekniffenen Augen auf die Rücken der Sklaven. Die metallenen Domen an seinen Absätzen hinterließen auf der Haut der aufstöhnenden Männer lange Kratzer. Aber es ertönte kein Schmerzenslaut. Der Baumeister wagte es, sich umzudrehen. Der Griff seiner Finger lockerte sich, und das Pergament rollte sich raschelnd und knisternd zu einer Rolle zusammen. Jemand flüsterte: »Es ist Algajar! Er hat Schweres hinter sich.« Schweigend stieg Algajar über die dahingestreckten Körper hinweg und trat zwischen die Sklavinnen. Er beachtete ihre fast nackten Körper nicht und heftete seine Augen in die des Shallad. »Ich bin wieder hier. Beinahe wäre ich getötet worden«, sagte Algajar nicht sehr laut, aber klar verständlich. »Prinzessin Nohji ist tot. Die Rebellen des Hodjaf haben sich wieder versteckt. Ein Mann namens Luxon kämpfte gegen mich und Hodjaf. Er benutzte die Waffen des Lichtboten. Aber er ist nicht der Sohn des Kometen, wie ich erfuhr.« Schweigend starrte ihn der Shallad an. Schließlich stieß er hervor: »Wer ist es?« »Er ist der leibliche Sohn des Shallad Rhiad.« »Hat man Beweise dafür?« fragte der Shallad, rülpste und sank zurück. Niemand rührte sich, um den strömenden 198
Schweiß von seinem Gesicht zu wischen. »Shakar, uralt und mit der Erinnerung eines Greises geschlagen, verkündete diese Wahrheit im Angesicht vieler Krieger. Du weißt, was du davon zu halten hast, Shallad Hadamur?« Der Shallad schloß die Augen. Wahre Bäche von Schweiß rannen über sein Gesicht. Seine Finger zuckten und zitterten plötzlich unkontrolliert. Er dachte nach und entsann sich. Erinnerung kam über ihn wie eine riesige Flutwoge. Sein rastloser Verstand arbeitete und funktionierte. Er trachtete danach, zu vermeiden, daß man sah, wie tief ihn diese Nachricht getroffen hatte. Algajar sprach die Wahrheit. Schließlich fauchte der Shallad: »Man soll alles tun, alle Truppen ausschicken. Man soll mir Luxons Kopf bringen. Wer dabei versagt, stirbt eines gräßlichen Todes.« Algajar senkte den Kopf. Jeder im Saal hatte den Befehl gehört. In wenigen Stunden würde alles organisiert sein. Dann begann im gesamten Reich die Jagd auf Luxon.
199
Hans Kneifel
DIE WAFFEN DES LICHTBOTEN Shallad Hadamur bohrte den Blick seiner kleinen, unruhigen Augen in die des Mannes, der vor ihm stand. Kleidung, Haar und Haut des hochgewachsenen und breitschultrigen Kriegers mit dem narbigen Gesicht waren von Flugsand und Schmutz bedeckt. Er schwankte vor Müdigkeit, aber aus seinen Gesten sprachen Kraft und Entschlossenheit. Jedes seiner Worte versetzte den Shallad in immer tiefere Furcht und größere Erregung. »Shakar! Ich dachte, er wäre längst tot!« keuchte der Shallad. »Weiter, Algajar!« Die Kleidung des Mannes, der fünfzig Sommer zählen mochte, war schmutzig und zerfetzt. Er schwankte hin und her, zuckte die Schultern und fuhr fort: »Wir werden Luxon jagen und fangen. Er will in den Süden und wird, denke ich, auf der Pilgerstraße reiten.« Der Shallad hatte erkennen müssen, daß nicht nur die Erinnerungen zurückgekommen waren. Auch die Wahrheiten der Vergangenheit hatten ihn eingeholt. Er und Algajar waren einige der Männer gewesen, in deren Auftrag Luxons Vater, der Shallad Rhiad, getötet worden war. Luxon seinerseits würde versuchen, den Shallad vom Thron zu stürzen. »Du weißt, was zu tun ist!« keuchte der Shallad. »Gib die Befehle! Was geschah mit Nohji?« »Dämonen entrissen sie mir, als ich durch Deneba flüchtete.« Die Worte, von denen das Ereignis nur flüchtig gestreift 200
wurde, waren für die Zuhörer bestimmt. Beide Männer kannten die wahre Bedeutung. Die Schwäche der Furcht ergriff die Glieder des Shallad. Die Bäche von Schweiß, die seine Kleider tränkten, waren noch immer nicht versiegt. Er schüttelte fassungslos seinen mächtigen, haarlosen Schädel. Zitternd wich eine Sklavin zurück und verschüttete etwas Wein auf den spiegelnden Steinboden, in dessen Fugen Gold schimmerte. »Diese Waffen… was hast du gesehen?« Von rechts und links kamen Sklavinnen mit trockenen, wohlriechenden Tüchern. Sie tupften den rinnenden Schweiß vom Gesicht und Nacken des Shallad. Algajar, der ebenso wie der Shallad die Legende vom Vermächtnis des Lichtboten kannte, berichtete flüsternd von den Waffen. Vom Schild, der die Angriffswut der Angreifer zurückschleuderte, vom Sternenbogen und dem magischen Köcher, vom Gläsernen Schwert und dem Helm mit den auffallenden Hörnern und dem riesigen Stirnstein. »Er ist es, kein Zweifel!« sagte der Shallad mit heiserer Stimme. »Aber er hat dennoch nicht das Einhorn geritten, Algajar?« »Nein. Ich habe jenes mythologische Tier auch nicht in der Karawane gesehen!« entgegnete Algajar wahrheitsgemäß. Niemand durfte die Wahrheit erfahren, niemand durfte auch nur daran denken, daß der Shallad Hadamur ein Mörder war. Die Stimme des Shallad hob sich etwas. Keuchend holte er Luft und schrie in den riesigen Thronsaal hinein: »Luxon ist ein Betrüger. Er sinnt, den Thron des wahren Shallad zu erobern. Man soll Armeen aussenden. Bringt mir seinen Kopf! Es gibt nur einen Shallad – mich. Ich befehle es euch. Du, Algajar, wirst die notwendigen Befehle geben. Du wirst Krieger rufen und mit ihnen die Pilgerstraße kontrollieren! Komm mit! Wir beraten in meiner Ruhekammer! Schnell! 201
Bringt mich weg!« Algajar dachte scharf nach. Er liebte sein Leben und hing daran. Als einer der wenigen echten Vertrauten des mächtigen Shallad besaß er Macht in genügender Menge und zahllose Möglichkeiten, die dieses sein Leben im Bannkreis des Palasts angenehm machten. Luxon war also sein persönlicher Gegner. Aber er war keineswegs unbesiegbar, auch nicht mit Hilfe der wunderbaren Waffen. »Ich weiß, was ich tun muß, um dir den Kopf Luxons zu bringen!« sagte er und nahm der Sklavin den Weinpokal aus den Fingern. Die Sklaven hoben den Thronsessel an, drehten ihn vorsichtig und schleppten ihn davon. Mit steifen Schritten folgte Algajar. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und schob einen schweren weißen Vorhang zur Seite. Er blickte aus dem großen Fenster, über die Brüstung einer Terrasse hinweg und direkt auf das riesige Bauwerk des Mausoleums. Leitern und Plattformen, Tausende von Bausklaven, Quadern und Ziersteine, große Tröge voll dampfenden Mörtels – das Mausoleum, das der Shallad für sich errichten ließ, war seit dem Tag, an dem Algajar Hadam verlassen hatte, deutlich gewachsen. »Laßt mich nicht so schwanken!« hörte Algajar die Stimme des Shallad. Er war müde, seine Muskeln schmerzten von dem erbarmungslosen Ritt hierher. Er wußte plötzlich nicht mehr genau, was er wirklich für Hadamur empfand. Sie vertrauten einander, sie kannten sich seit langen Jahren, aber sie waren keine Freunde. Waren sie Feinde? Nein. Das Schicksal, das für Shallad Hadamur und ihn handelte, hatte sie auf Gedeih und Verderb mit dämonischer Strenge und Ausschließlichkeit aneinandergefesselt. Wenn die Macht des Shallad gebrochen war, würde auch er seinen Einfluß verloren haben. Also blieb ihm nichts anderes zu tun, als fortzufahren, wie es bisher 202
immer wieder gewesen war. Luxon mußte so schnell wie möglich gefangen werden. Algajar ließ den Vorhang zurückfallen und dachte nach einem letzten Blick auf die Mauern und Türme des Begräbnisturms, daß Shallad Hadamur wohl bald tief im Innern dieses gigantischen Bauwerks ruhen würde. Wieder zuckte er die Schultern und folgte dem Zug der Sklaven und Sklavinnen, die den Shallad hinwegschleppten.
Der Shallad war halb nackt. Sklavinnen wechselten die schweißnassen Gewänder. Feuchte Tücher lagen auf seinen Schultern. Als Algajar den Raum betrat, machte der unförmige Mann eine zornige Handbewegung. Sofort huschten die Sklavinnen hinaus. Hadamur deutete auf niedrige Polster, über denen kostbare Felle lagen. Die Männer setzten sich schweigend und schlugen die Augen nieder. »Berichte ihnen, Algajar, was sie wissen müssen«, brachte der Shallad hervor. Die Öffnungen der Fenster und Terrassentüren waren von dunklen Stoffen bedeckt. Im Raum herrschte ein kühles Halbdunkel. Über einen Teil des Bodens und eine Reihe von Säulen rieselte ein künstlicher Wasserfall. Überall standen Tische voller Kostbarkeiten. Die Soldaten, harte Männer mit Gesichtern, die Wetter und Sonne gegerbt hatten, hoben ihre Köpfe, als Algajar ihnen den Befehl des Shallad übermittelte. »Nehmt genügend Männer und Ausrüstung! Luxon hat mindestens zwei Begleiter, von denen er sich nicht trennen wird. Eine zierliche, hellhaarige Frau von zarter Gestalt und einen Jungen mit bräunlicher Haut. Kalathee und Samed. Ihr könnt sie behalten oder in die Sklaverei führen. Der Shallad will den Kopf Luxons und allen seinen Besitz. Besonders die Waffen. Es sind, soviel ich weiß…« Er schilderte das Aussehen 203
der Lichtboten-Waffen so gut, wie er konnte. Dann stand er auf und fragte: »Wann werdet ihr die Patrouillen auf der Pilgerstraße verstärken können?« »Innerhalb von fünf Tagen.« »Ich bin vier Tage von Deneba hierhergeritten. Es ist viel schneller zu schaffen. Ihr werdet in weniger als vier Tagen auf ausgeruhten Orhaken dort sein können. Geht jetzt.« Der Shallad schrie ihnen nach: »Jeder, der versagt, fällt meiner Strafe anheim.« Die Männer schlugen mit den Lederbändern, die ihre Handgelenke schützten, gegen die ledernen Brustpanzer, verbeugten sich und verließen das Gemach. Die schwammige Haut des alten, unförmigen Männerkörpers war bleicher als sonst. Die Augen, hinter dicken Wülsten aus Haut fast unsichtbar, gingen ziellos hin und her. Hadamurs Lippen öffneten sich und entließen ein gewaltiges Rülpsen. Dann keuchte er, von stoßweisem Husten immer wieder unterbrochen: »Du hast es niemandem gesagt?« »Nein, Herr«, sagte Algajar. »Aber alle in Luxons Karawane müssen das Geschrei des Alten gehört haben.« Daß auch Hodjaf Shakars letzte Worte gehört hatte, verschwieg er. »Dann sorge dafür, daß niemand übrigbleibt, der Shakars Geschwätz weitererzählen kann!« »Das habe ich bereits vorhergesehen«, erklärte Algajar. »Nachdem ich ausgeschlafen habe, breche ich mit meinen besten Männern auf.« »Er darf weder Logghard noch Hadam erreichen!« flüsterte Hadamur heiser und sank zurück. »Mein Wein, Algajar!« Der Krieger ergriff zögernd den Pokal und versuchte, den Rand zwischen die zitternden Lippen zu halten. Der Wein tropfte, während der Shallad schlürfend trank, auf die breiten Fleischwülste, die sich vom Hals bis zum Bauch hinzogen. Schweiß glänzte auf der fahlen, von Pusteln bedeckten Haut. 204
Der Pokal war leer, und unwillig schob Hadamur Algajars Arm zur Seite. »Geh! Reite schnell. Töte Luxon! Er ist für uns die letzte Gefahr.« »Ich weiß es, Shallad«, sagte der Krieger. »Morgen bei Sonnenaufgang breche ich auf.« »Bringe mir seinen Kopf!« Auch Algajar verneigte sich knapp, bevor er den Raum verließ. Hinter sich ließ er ein Bündel aus Schrecken und Angst. Der Shallad zitterte, aber sein Verstand würde unablässig neue Mittel und Wege ersinnen, um jede Gefahr von seinem Thron fernzuhalten. Ein Menschenleben galt nichts, wenn der Shallad zornig war. Einmal aber, sagte sich Algajar, während er aus dem Palast ging und den Unterführern seiner Krieger knappe Befehle zurief, würde selbst Hadamur seinen letzten Befehl geben müssen. Er dachte sicherlich bereits an diesen Tag, denn sonst würde er nicht soviel Mühe auf den Bau seines Mausoleums verwenden. Die ersten Orhakoreiter verließen bereits Hadam und ritten den einzelnen Stationen entlang der Pilgerstraße entgegen.
Jedes Dutzend Schritte, die sie weiter auf der Pilgerstraße zurücklegten, war ein weiteres Vordringen ins Unbekannte. Luxon war alles andere als ahnungslos, was die unmittelbare Zukunft betraf. Er witterte Unheil. Seine Gedanken kreisten um Verrat, Tod und Kampf. Und er gedachte, sich mit seinen Mitteln den Gefahren zu entziehen. Seine besten Möglichkeiten waren List, Betrug und Tarnung. Luxon beugte sich aus dem Sattel und rief hinüber zu Syreno: »He, Vogelreiter! Erzähle mir, was ich noch nicht weiß! Bist du sicher, daß wir auf der richtiger, Straße sind?« »Bei meiner Ehre!« bekräftigte der Pfader Socorra grimmig. 205
»Siehst du die Knochen auf den Pfählen?« »Ich sehe sie deutlich!« sagte Luxon. »Was hält eigentlich die Länder, die sich ›das Shalladad‹ nennen, trotz ihrer Eigenarten zusammen?« »Es ist ohne jeden Zweifel der gemeinsame Glaube daran, daß der Shallad als verkörperte Person des Lichtboten, als inkarnierte Vorstellung einer Legende existiert.« »Nützt Hadamur seine Stellung aus?« fragte Luxon, obwohl er die Antwort bereits ahnte. Der Pfader und Syreno, der Vogelreiter aus der Kriegerschar des Hodjaf, brachen in ein bösartig klingendes Gelächter aus. »Er entfaltet seine persönliche Macht auf Kosten seiner Stellung. Er bereichert sich unangemessen. Seine Vorgänger haben sich damit begnügt, geringen und womöglich wohltuenden Einfluß auf andere Länder zu nehmen. Der Shallad nützt seine Macht aus – er eroberte und erobert noch immer. Deswegen gibt es auch uns, die Rebellen. Wir haben ihm, als es noch möglich war, Widerstand geleistet. Umsonst. Es hat niemals wirklich Krieg gegeben.« »Erstaunlich«, sagte Luxon und nickte. Teile dessen, was ihm die Männer über den Zustand im Süden berichteten, kannte er natürlich. Aber er fragte weiter und hörte sich geduldig alle Antworten an. Er konnte nur lernen. »Es gab und gibt Länder, die eine gewisse Eigenständigkeit behalten haben. In ihnen sind die Herrscher entweder völlig entmachtet worden, oder es sind Marionetten des Shallad. Das Wort des Shallad hat ein geradezu magisches Gewicht. Um seine Person ranken sich mehr Legenden, Märchen, Wahrheiten und halbe Wahrheiten, als du dir vorstellen kannst.« »Ich kann mir eine gewaltige Menge verschiedener Dinge vorstellen«, erklärte Luxon. »Wie verhält sich das Volk, die Menge der einfachen Menschen, Syreno?« 206
»Es versteht nicht viel von diesen Zusammenhängen. Wenn der Herrscher wechselt, verändert sich für den Bauern und Hirten nichts. Nicht einmal für den Krieger. Und derjenige, der es wagen würde, ein lautes Wort gegen den Shallad Hadamur zu sprechen, lebt nicht lange. Auch in den Augen des einfachen Mannes ist er ein Frevler.« »Du hast dir eine schwere Aufgabe gestellt, Luxon!« brummte Socorra. Die Karawane ritt seit eineinhalb Tagen auf der Pilgerstraße. Die verwundeten Vogelreiter, die zu Algajars kleiner Truppe gehört hatten, waren von den Hodjaf -Rebellen in die Gefangenschaft geführt worden. Niemand zweifelte daran, daß Hodjaf sie zu seiner Art des Kampfes bekehren würde. Jedenfalls konnten sie nicht mehr verraten, was die Angehörigen von Luxons Karawane wußten – er, der Sohn des ermordeten Shallad Rhiad, würde ohne jeden Zweifel von Hadamurs Truppen bis zu seinem letzten Herzschlag gehetzt werden. Das war sicher, niemand gab sich irgendwelchen Träumen hin. Irgendwo vor ihnen zog eine andere Karawane, eine Pilgergruppe oder ein Zug von Gefangenen, die in Logghard als Söldner kämpfen sollten. Auf welche Weise und wogegen, das würde sich am Ende der Reise herausstellen. Falls einer von uns überlebt, dachte Luxon düster. Trotzdem warf er sein aufmunterndes Lächeln rundum. Er wußte, wie schnell die Stimmung der Karawane innerhalb kurzer Zeit wechseln konnte. Solange der Anführer Entschlossenheit und Kraft zeigte, wurden die anderen davon mitgerissen. »Und«, wagte Socorra in seiner praktischen, direkt den Problemen zugewandten Art zu sagen, »wenn du, Luxon, den Thron erobert hast und den Menschen des Shalladad erklären wolltest, daß du nicht der Lichtbote bist, wirst du noch größere Schwierigkeiten haben als auf dem Weg bis zu diesem 207
Punkt.« »Du hast, Pfader, meine tiefsten Gedanken laut ausgesprochen«, bekannte Luxon. Samed, der neben Kalathee hinter den drei Männern im Sattel eines mageren Pferdes saß, verstand nur einen Teil der Worte und deren Sinn. Kalathee hörte schweigend zu, und ihr Gesicht ließ nicht erkennen, was sie dachte. »Warum hat sich Hadamur nach Hadam zurückgezogen, das einstmals Andshara hieß?« wollte Luxon wissen. »Hadam heißt die Stadt jetzt, abgeleitet vom Namen des Shallad!« entgegnete der Pfader. »Vielleicht fürchtet er um sein Leben? Wer weiß?« meinte Syreno. »Er ist alt und unermeßlich dick. Er kämpft nicht mit den Kräften eines Mannes. Seine Krieger und Sklaven sind in Wirklichkeit seine Glieder, seine Augen und Ohren. Aber sein Verstand ist funkelnd wie Sternenlicht.« Luxon pfiff leise durch die Zähne und warf Syreno einen überraschten Blick zu. Wieder machte die kaum erkennbare Straße eine Biegung. Abermals stak eine weißgebleichte Holzlanze im Sand, auf deren Spitze ein Tierschädel mit leeren Augenhöhlen nach der Karawane zu starren schien. »Niemand würde diese Wahrheit laut aussprechen. Aber es scheint mir tatsächlich die Wahrheit zu sein«, fuhr Syreno fort. »In Hadam entsteht ein prunkvoller Palast, an dem ununterbrochen gebaut wird. Auch ein Mausoleum erhebt sich aus dem Boden, von Tag zu Tag höher und prächtiger. Jedermann, der Logghard kennt, weiß, daß der Shallad auch Hadam nach diesem Muster baut.« Luxon erinnerte sich an das Bild, das auf dem Amulett um seinen Hals zu sehen war; eine Ansammlung von Mauern und wehrhaften Türmen, wie es viele Städte in dieser Welt des Kampfes und der Kriege geben mochte. Der Pfader deutete nach vorn und meinte abschließend: 208
»Zwischen hier und Logghard werden wir jedenfalls sehr viele Krieger mit dem Symbol der Morgensonne sehen und dem Schwertmond darin. Keiner von ihnen wird dich, Luxon, besonders lieben. Denn in kurzer Zeit wird das Gerücht verbreitet sein, daß der Sohn des Shallad Rhiad den Mörder seines Vaters vom Thron stoßen wird.« »Auch wenn Algajar in Deneba von den Dämonen und Chimären zerfetzt wurde?« fragte Luxon. »Können wir dessen sicher sein?« setzte Socorra dagegen. Trocken bekannte Luxon: »Nein. Ich gäbe etwas darum.« »Du wirst es erfahren, wenn es soweit ist«, sagte Syreno. »Und bis es soweit ist«, unterbrach ihn Luxon und sah die Nachzügler der Karawane vor ihnen, »reiten wir weiter, der Düsterzone entgegen.« Viele Karawanen wählten diesen Weg nach Logghard. Menschen aller Völker und Stämme befanden sich in kleinen oder größeren Gruppen auf der Straße. Die Menschen waren bereit, ihr Leben im Kampf gegen die Dunklen Mächte hinzugeben. Sie wußten, daß das Böse aufgehalten werden mußte und daß Logghard nicht aufgegeben werden durfte. Die Pilger kamen aus weiter Ferne, und ihr Entschluß war freiwillig gefaßt worden. Aber auch andere Pilger kämpften für Logghard – sie taten dies allerdings nicht aus freien Stücken. Es waren Gefangene. Die Männer an der Spitze der Karawane ritten um eine Ansammlung von Felsblöcken herum, die aus einer Fläche saftigen Grüns herausgewachsen waren. So schien es jedenfalls. Ein Schwarm winziger Vögel stob aus den rankenund schilfartigen Gewächsen hoch und flüchtete kreischend. Luxon sah ihnen einen Augenblick lang nach und deutete dann nach vorn. »Ein Yarl-Transport! Zweifellos Gefangene für Logghard!« »Wenn ich es nicht besser wüßte«, knurrte Socorra, »dann 209
müßte ich glauben, daß du diese Gefangenen auf den Weg geschickt hast.« »Keineswegs. Nicht diese!« lachte Luxon. Die Pilgerstraße, die Straße des Bösen und der »Weg nach Tumbuk« waren die bekanntesten Wege in diesem Land. Zwischen Rousund und Jahand verlor sich die Straße des Bösen im Nirgendwo. Vor vielen Generationen waren die Yarls hier marschiert, ihre Spuren hatten sich verwischt, und die Wüste hatte ebenso vom Land Besitz ergriffen wie die wuchernden Pflanzen. Auf der schmalen Piste des Weges nach Tumbuk wurden die unfreiwilligen Legionäre in die Richtung auf Logghard zu transportiert, und nicht nur die Yarls benutzten diesen Pfad. Der Tumbukpfad vereinigte sich mit der Pilgerstraße, aber dadurch wurde die Straße weder breiter, noch führte sie durch besseres Gebiet. Nur selten gab es Oasen, Wasserlöcher oder Landstriche, die durch Felder und Äcker von Bauern gekennzeichnet waren. An der Stelle, an der Luxon und sein Pfader ritten, hatte sich das Aussehen der Straße vorübergehend geändert. Bisher hatte sie sich fast ununterbrochen durch Berge und Felsen geschlängelt und über Sandflächen und Geröllbänder geführt. Jetzt konnten sich die Augen der Männer hin und wieder an kleinen Fleckchen Grün ausruhen. Dieser Anblick schien nicht nur den Männern neue Kräfte zu verleihen, sondern auch den Tieren. »Was willst du bei den Gefangenen?« wollte Syreno wissen. »Erkundigungen. Sie wissen vielleicht etwas, das wir nicht erfahren haben«, sagte Luxon und setzte sich im Sattel zurecht. Er, der Pfader und Syreno preschten durch den Staub der Straße, Kalathee folgte ihnen nach kurzem Zögern. Sie vermieden, in den Sand hineinzureiten, den die Beine des Yarls aufwirbelten. Sie überholten zwei Vogelreiter, die hinter dem Yari einhertrabten, und grüßten die Männer freundlich. Diese Krieger trugen nicht das Wappen des Shallad auf ihrer 210
Ausrüstung. Auf diesem Yarl kauerten mindestens dreißig gefangene Männer jeden Alters. Auf den ersten Blick erkannte Luxon ihre Herkunft. »He!« rief er nach oben. »Ihr kommt von Sarphand?« Unbeirrbar zog das mächtige Tier seine Bahn. Die Reiter mußten im Gänsemarsch reiten, um nicht von der Straße zwischen die Felsen und die verkrüppelten Bäume gedrückt zu werden. »Wir sind Opfer der Wilden Fänger«, gab ein älterer Mann zurück, über dessen Gesicht sich eine dünne blutige Spur zog. »Man brachte uns mit einer verdammten Lichtfähre in dieses Land.« »Ihr habt viel erlebt«, stellte Luxon fest. »Auch wir sind auf dem Weg nach Logghard.« »Vielleicht treffen wir uns dort, ehe wir sterben«, antwortete der Gefangene bitter. Die Wachen, die vor und hinter den Gefesselten saßen, ließen gelangweilt zu, daß sich Luxon mit ihnen unterhielt. »Habt ihr einen Mann namens Mythor getroffen?« wollte Luxon wissen. Einige Männer schüttelten schweigend den Kopf. Sie waren müde, hungrig und schienen ihrem weiteren Schicksal apathisch entgegenzusehen. »Habt ihr auch nichts von ihm gehört? Oder von heldenhaften Taten, die er vollbracht haben soll?« Obwohl Luxons Stimme laut und seine Fragen deutlich waren, antworteten die Männer nur mit Kopfschütteln. Derjenige, der zuerst gesprochen hatte, sagte schließlich: »Du weißt nicht, was wir hinter uns haben. Viele von uns starben auf der Reise.« »Ich habe gehört, daß es kein leichtes Leben ist«, sagte Luxon. Aus dem Körper des Yarls kamen gurgelnde und polternde Geräusche. Mit dumpfem Schlag senkten sich die 211
riesigen Klauen auf den Boden der Straße. Knirschend bewegten sich die Teile der Trageplattform auf dem Rückenpanzer. »Wie weit ist es noch nach Logghard?« wollte ein Gefangener wissen. Socorra antwortete: »Es hängt von der Geschwindigkeit des Yarls ab und von den Pausen. Ich würde sagen, ihr solltet mit einem Drittelmond rechnen.« Auch heute zeigte sich die Düsterzone nur schwach und war von einer hohen Nebelbank verdeckt. Die Sonne war nur als heller Fleck zu sehen. »Ein Drittelmond! Zehn Tage und Nächte?« »Es mag länger oder kürzer sein«, versicherte Socorra ein zweites Mal. »Ihr könnt keine Frage meines Herrn beantworten? Auch ihr nicht, Wachtposten?« »Nein. Wir haben nichts von einem Mythor gehört. Der Shallad ist es, der wunderbare Taten vollbringt.« »So wird es sein«, murmelte Luxon unzufrieden, hob den Arm und hielt das Pferd an. Die riesige Masse des YarlKörpers stampfte an ihnen vorbei, hüllte sie in einen Staubschleier und verschwand zwischen den Bäumen und Hängen der Straße. Kalathee hob ihre Schultern und rief: »Vielleicht ist er verschollen? Vielleicht ist er schon in Logghard? Niemand weiß es.« Luxons Wunsch, etwas über das Schicksal seines Gegenspielers zu erfahren, wurde dringender. Zwar galt sein persönliches Ziel nicht mehr länger, sein Traum, sich als der Sohn des Kometen bestätigen zu lassen. Aber noch immer kämpfte er mit Mythors Waffen. Er wußte nur, daß sich Mythor in den Klauen der Wilden Fänger befunden hatte, und zwar nicht ohne Zutun Luxons. Die eigene Karawane hatte aufgeschlossen, und die 212
Spitzengruppe trabte weiter. Das Diromo der toten Prinzessin hatte man zurückgelassen, ebenso das schwere Tragetier, auf dem Shakar seine letzte Reise unternommen hatte. Die Nahrungsmittel und das Gepäck waren auf die Pferde verteilt worden. Vier Diromen liefen am Schluß der Karawane mit, zusammen mit den gemieteten Treibern. Der Pfader wandte sich an Kalathee: »Von Tag zu Tag werden wir mehr Gruppen und Karawanen treffen. Die Pilgerstraße oder die Straße der Elemente wird allmählich belebter.« »Ist es ein Vorteil für uns?« fragte Kalathee. »Das kann man von zwei Punkten aus sehen«, entgegnete Syreno, der Mann Hodjafs, mit breitem Grinsen. »Einerseits werden die Karawanen nicht mehr so häufig von Gruppen der Rebellen und von einfachen Wegelagerern überfallen.« »Und andererseits?« erkundigte sich Luxon. »Bald werden die Posten des Shallad auftauchen. Orhakoreiter wie wir, denn Pferde sind hierzulande fast unbekannte Reittiere. Jeder, der ein Pferd besitzt, gilt hier als etwas Besonderes.« »Ich verstehe«, sagte Luxon, »aber deswegen werde ich mich nicht auf einen Reitvogel setzen.« Die Karawane erreichte auf der nächsten annähernd geraden Strecke den Schluß einer Pilgergruppe, die vor ihnen aufgebrochen war, aber ihren Weg langsamer zurückgelegt hatte. Diese Karawane ihrerseits war von dem dahintappenden Yarl überholt worden. Die Wächter, die Gefangenen und ein paar zufällige Teilnehmer, die mit beiden Gruppen nichts zu tun hatten, waren an den Rand der Straße gedrängt worden. Jetzt sammelten sie sich wieder zu einem lockeren Verband. Der Pfader stieß einen schrillen Pfiff aus und meinte: »Nordländer! Gefangene Nordländer!« 213
»Tatsächlich. Sie haben einen weiten Weg hinter sich«, sagte Luxon. Auch er hatte einige an der typischen Kleidung erkannt. Aber die Kleider waren zerschlissen und von Sand bedeckt. Hinter den letzten Bewaffneten ritt ein dunkelhaariger Mann auf einer dahinstolpernden Schindmähre. Luxon gab ein Zeichen. Seine Karawane wurde um ein geringes langsamer und schloß sich den letzten Orhakoreitern in ihren flatternden Sandmänteln an. Der Dunkelhaarige auf dem Klepper warf Luxon einen langen, prüfenden Blick zu, ließ ihn über die drei anderen Reiter gleiten und machte die Geste des Willkommens und Grußes. Er war groß und offensichtlich sehr hager. »Du siehst nicht wie ein Nordländer aus!« rief Syreno von seinem Orhako herunter. »Gehörst du zu den Wachen dieses Pilgerzugs?« Der Fremde stieß ein rauhes Gelächter aus und entgegnete mit ebenso rauher Stimme: »Ich? Ich bin Fafhad aus Gomaliland. Ich habe mich angeschlossen, um nicht von Wegelagerern überfallen zu werden.« Er trug in der rechten Hand einen langen Stab, dessen Spitze in eine wulstige Knolle auslief. Der Stock war nicht bearbeitet, aber langer Gebrauch, Schweiß und unzählige Tage Sonnenhitze hatten ihn dürr und glatt werden lassen. Die Gefangenen aus dem Norden waren mit dünnen Seilen aneinandergefesselt. Sie stolperten und taumelten dahin, von halb aufmerksamen Bewaffneten mehr schlecht als recht bewacht. Wohin hätten sie auch flüchten sollen? Einige Orhaken trugen schwere Proviantlasten und Wassersäcke. »Nach Logghard?« fragte Luxon. Fafhad ließ seine stechenden Blicke über jeden Teil von Luxons Ausrüstung gleiten. Heute trug Luxon nur den Helm der Gerechten und sonst keine der Waffen Mythors. 214
»Ja. Auch nach Logghard. Ich bin zu schnell für diesen Haufen. Kann ich mit euch reiten? Es ginge vielleicht schneller?« fragte der Gomale. »Meinetwegen, wenn du dich im Lager nützlich machen kannst?« fragte Luxon leichthin. Er hatte die suchenden Blicke, die schließlich auf dem auffallenden Helm verweilten, bemerkt und konnte sie nicht richtig einschätzen. »Danke. Habt acht, Pilger. Heute nacht werden wir den ersten Posten der Shallad-Zöllner erreichen.« Verständnislos blickte Luxon Syreno und Socorra an. »Wie?« Die Männer erklärten es ihm, wobei der schwarzhäutige Gomale schweigend zuhörte. Entlang der Straße der Elemente befanden sich, Karawansereien nicht unähnlich, einzelne Posten. Jeweils eine größere Gruppe von Shallad-Vogelreitern war dort stationiert. Angeblich sorgten sie für die Sicherheit der Pilger und dafür, daß niemand zwischen den Schnittpunkten verdurstete oder verhungerte. Aber seit der Herrschaft Hadamurs in diesem Gebiet gab es zusätzliche Zöllner, die sich um die Maut kümmerten. Die Krieger halfen ihnen dabei, und es gingen Gerüchte, daß sie mit blanken Waffen darüber wachten, daß die Maut gern und vollständig entrichtet wurde. »Und es gibt keine Möglichkeit, diesen Shallad-Wegelagerern zu entgehen?« Syreno zeigte auf die Hügel und die schartigen Felsen jenseits der Staubschleier und der savannenartigen Waldstreifen. »Durchaus. Durch tagelange Umwege, durch unbekanntes Gebiet, unter großen Gefahren und vor allem auf winzigen Pfaden, die nicht einmal ich kenne!« rief der Rebell. »Das kostet Zeit, und sicherlich kommt die Hälfte der Karawane bei den Versuchen um. Willst du das wirklich wagen, Luxon?« »Nein«, entschied der Sohn des Shallad. »Vielleicht habe ich 215
einige Möglichkeiten, um unsere Karawane sicher durch die Absperrungen der Zöllner zu bringen. Ihr warnt uns rechtzeitig?« »Wir werden den Turm der Zöllner sehen. Und vor ihm stauen sich die Karawanen und warten. Nur die Wächter und ihre Gefangenen werden ohne Aufschub durchgelassen«, erläuterte der Rebell. »Und besonders genau nehmen sie es mit Fremden, die auf Pferden reiten. Sie wissen, daß sie von weit her kommen und aus diesem Grund reichlich Gold bei sich haben müssen. Es kann sein, daß wir auch Bevollmächtigte des Shallad Hadamur treffen, die uns ›Licht spenden‹ werden«, sagte der Gomale und schüttelte Sand aus seinem pechschwarzen Haar. »Ein weiteres Wunder dieses Landes«, sagte Luxon kopfschüttelnd. »Mir scheint, der Weg nach dem umkämpften Logghard soll einem jeden, der nicht als Gefangener dorthin reisen will, besonders schwer gemacht werden.« Syreno spuckte aus und schloß: »Die Gedanken des Shallad Hadamur sind oftmals von undurchschaubarer Fremdheit. Und seine Taten nicht minder.« Langsam überholten Luxons Reiter eine Gruppe nach der anderen. Da die Wahrscheinlichkeit bestand, daß alle Nachfolgenden mit Luxons Karawane wieder zusammentreffen würden, ritten Luxons Männer rücksichtsvoll an den Wandernden vorbei und bemühten sich, wenig Sand aufzuwirbeln. Sie kamen an diesem Tag gut voran. Am frühen Nachmittag entdeckten sie abseits der Straße einen winzigen Teich, dessen Ufer leer waren. Zahllose Spuren führten zum Wasser. Die Tiere der Karawane tranken gierig, die Männer füllten ihre Wasserschläuche auf und reinigten ihre Gesichter. Der Gomale ließ sich vom Rücken seines keuchenden Pferdes gleiten und blieb schweigend stehen, den Blick unverwandt auf Luxon 216
und Kalathee gerichtet. Schließlich bewegte Fafhad seine Schultern unter der Kutte aus erdfarbenem, fadenscheinigem Gewebe, zog den Schal von den Schultern und ging zum Wasser. Als er zurückkam, mit triefendem Bart und nassem Haar, das dunkle Gesicht glänzend, stellte ihn Luxon. »Mann«, sagte er, »der so dürr ist wie das Pferd, das er reitet – du stellst mir nach. Warum?« »Herr Luxon«, entgegnete der Gomale, »das ist nicht so. Ich sehe dich nur mit staunenden Augen an. Dein prächtiges Roß, die Schönheit deiner Waffen! Ich halte meine Augen offen, denn nur so kann ich überleben. Du mußt in deiner Heimat reich und mächtig sein.« »Es gibt stets jemanden«, wich Luxon aus und versuchte, die flink umherirrenden Blicke des Gomalen zu fixieren, »der reicher, mächtiger und klüger ist. Warum ist dein Ziel Logghard?« »Wessen Ziel ist nicht Logghard?« Luxon winkte ab und versammelte seine wichtigsten Männer um sich. Er wartete, bis sie einen Kreis um ihn gebildet hatten. Dann ordnete er mit leiser, aber scharfer Stimme an: »Ich habe nicht die geringste Lust, mich vom Mörder meines Vaters und seinen Truppen ausplündern zu lassen. Versteckt also alle Münzen und kleinen Kostbarkeiten, die wir mit uns führen. Versteckt sie zwischen den Satteldecken, in den Futtersäcken und überall dort, wo niemand suchen wird. Behaltet aber kleine Münzen bei euch, damit sie gefunden werden. Gebt die Maut halb freiwillig, halb murrend und fluchend. Stiftet Unruhe, wenn Gefahr der Entdeckung droht.« Er hielt kurz inne und blickte sich um. Dann fuhr er fort: »Wir müssen den Eindruck erwecken, eine arme, heruntergekommene Karawane zu sein. Oder, noch besser, wir teilen uns in mehrere Gruppen. Wir werden versuchen, 217
die Sperre bei Nacht oder wenigstens in der Dunkelheit hinter uns zu bringen. Da ihr erfahrene Männer seid, werdet ihr wissen, was zu tun ist. Fangt keinen echten Streit mit den Orhakoreitern an, denn sicherlich stehen die Posten untereinander in Verbindung. Habt ihr noch Fragen?« »Was tun wir mit dem schwarzhäutigen Fremden?« »Wir dulden ihn, aber wir lassen ihn nicht aus den Augen«, entgegnete Luxon. »Nennt meinen Namen nicht zu oft!« »Fafhads Gaul wird es nicht mehr lange machen!« stellte ein anderer Reiter fest und trocknete sein Gesicht mit einem schmutzigen Tuch. »Gebt ihm meinetwegen ein Pferd aus der Reserve!« beschied ihn Luxon großzügig. »Er ist arm und scheint nichts Böses im Schilde zu führen.« »Gut. Und was bedeutet es, daß uns >Licht< gespendet werden soll?« »Es ist nur ein anderes Wort für >Ausplündern< und dient zur Bereicherung Hadamurs.« »Sollen wir den Lichtspendern die Köpfe einschlagen?« »Nein«, befahl Luxon hart. »Wenn wir dies tun, werden sie den Sohn Rhiads und seine Freunde um so härter jagen und schließlich töten. Keiner von uns wird dies wollen.« »Niemand will es«, bestätigte der Pfader. »Die Sonne sinkt, und wir müssen den Tag ausnutzen, Luxon. Außerdem ist bald die nächste Karawane am Wasser und wird uns stören.« »Also reiten wir!« entschied der Sohn des Shallad.
Socorra, der Pfader, richtete sich im Sattel auf und rieb seinen schmerzenden Nacken. Bisher, von den Kämpfen und Überfällen abgesehen, hatte er seiner Gilde keine Schande angetan; nicht um einen Galoppsprung hatte sich die Karawane verirrt, und durch seine Schuld war niemand zu 218
Schaden gekommen. Auch waren keine Wasserstellen und die Möglichkeiten für ein gutes Nachtlager verfehlt worden. Er hatte bewiesen, daß er den Weg kannte und die Reiter über die unbekannten Pfade führen konnte. Jetzt stand die erste wirkliche Prüfung bevor: die Kontrolle der Zöllner, Krieger und Lichtspender. Er selbst besaß nur Waffen, Nahrung und einen magischen Stein mit drei Löchern am Lederband. Ein paar Silbermünzen, nicht mehr, würde er als Maut entrichten können. Aber er fürchtete um Luxons Besitz. Andererseits wußte er, daß Luxon ein Meister der Verschleierung war. Er würde wohl die Sperre passieren, ohne allzu kräftig geschröpft zu werden. Die Straße führte aus einem bewaldeten Hochtal in drei Biegungen abwärts. Eine kleine, fruchtbare Ebene, von einem breiten, aber flachen Bach durchflossen, lag vor den ersten Reitern der Karawane. Die Straße der Elemente durchschnitt das Tal breit und gerade. Links und rechts von ihr standen Hütten, Mauern und ein kleiner Turm aus ungefügen Quadern. Im letzten Licht des Tages sahen die Reiter einige Feuer und, neben den Toreingängen, lodernde Fackeln. Gut bearbeitete Felder und saftige Weiden setzten sich nach beiden Seiten des Tals fort. Von der Zone, in der Orhakoreiter und Zöllner hausten, war das Gebiet sorgfältig durch Mauern, Palisadenzäune und dicke, dunkelgrüne Hecken abgeschlossen. »Wir sind da!« stellte Socorra fest. »Nur noch ein paar Schritte. Und noch eine Warnung!« Er stand in den Steigbügeln auf und rief nach hinten: »Kauft nichts von den Händlern. Daran erkennen die Zöllner, wer Geld und Wertsachen hat und wer nicht!« Dort, wo die Straße wieder im gegenüberliegenden Talabschnitt verschwand, versperrten ebenfalls Mauern und aus Balken gebaute Tore den Weitermarsch. Eben schob sich 219
der Yarl durch das geöffnete Tor und eilte unbehindert mit seiner niedergeschlagenen Fracht davon. Zwischen den Feuern wimmelte es von Menschen. Überall waren Orhaken zu sehen, denen man Kapuzen über die Köpfe gestülpt hatte. Das Bild strahlte trotz aller Bewegung und aller Farben eine unverkennbare Unruhe aus, fast eine Drohung. Die erste scharfe Biegung bergab lag hinter der Karawane. Ebenso gut, wie die Pilger diesen Knotenpunkt sehen konnten, erkannten auch die Soldaten auf eine weite Strecke hinweg jeden Ankömmling aus dieser Richtung. Bisher war Luxon und seinen Reitern nicht ein einziger Wanderer begegnet, der aus Logghard zu kommen schien. Schweigend und ohne ihre Schnelligkeit zu verringern, kam die große Reitergruppe den Hang hinunter. Zwischen den Geräuschen der knarrenden Sättel und der harten Hufschläge waren plötzlich qualvolles Stöhnen und keuchendes Wiehern zu hören. Das Pferd unter Fafhad riß den Kopf hoch, strauchelte und brach in den Vorderläufen zusammen. Gelber Schaum stand dem Tier vor dem Maul. Jede einzelne Ader war hart und fingerdick geworden. Mit einem schnellen Satz landete der Gomale, seinen Gehstock einsetzend, auf dem Boden. Das Tier brach zusammen, legte sich auf die Seite und keilte mit den Hinterbeinen aus. »Helft ihm!« schrie der Gomale und breitete die Arme aus. Ein Reiter hielt sein Pferd an, stieg ab und zog seinen Dolch. Mit einem Sprung stand er neben dem keuchenden und gurgelnden Pferd. Er zögerte einen Moment, dann tötete er es mit einem schnellen, wohlgezielten Stich. »Danke!« sagte Fafhad. »Das tapfere Tier hätte ein besseres Ende verdient.« Ein zweiter Reiter führte ein gesatteltes Pferd heran, das hinter dem Sattel zwei Säcke voll Futter trug. »Eine vorläufige 220
Leihgabe von Luxon. Behandle es besser als die arme Mähre!« empfahl der Krieger dem Gomalen. Fafhad wickelte seinen Schal um den Hals und über den Kopf und entgegnete: »Wenn ich dich so gut behandelt hätte wie mein treues Roß, würdest du besser aussehen, mein Freund.« Die Karawane war an den Reitern und dem blutenden Pferdekadaver vorbeigaloppiert und erreichte den Anfang des geraden Straßenstücks. Schon preschten fünf Orhakoreiter auf die Reiter zu. Inzwischen wirkten alle Krieger und selbst Kalathee, als hätten sie unvorstellbare Strapazen hinter sich. Die Reiter des Shallad, gut genährt und mit sauberen Gewändern, hielten die Karawane mit gezogenen Schwerter und die Lanzen in den Händen an. »Im Namen des Shallad! Wohin führt eure Reise?« Der Rebell betrachtete sinnend die Wappenfelder auf den Schilden und den Mänteln der Reiter. »Es sind Fremde aus dem Norden. Sie pilgern nach Logghard und haben ihr Leben dem Kampf gegen die Dunklen Mächte gewidmet.« »Und wer bist du?« »Ein freier Mann, der sich ihnen angeschlossen hat.« Langsam bewegte sich der Zug dem Mittelpunkt der Sperre zu. Noch mehr Fackeln wurden angezündet, einige zusätzliche Feuer tauchten die vielen Menschen und die Fronten der kleinen Gebäude in flackerndes rotes Licht. Eine Gruppe von Pilgern, die zu Fuß gekommen waren, fand sich vor dem geschlossenen Tor zusammen und wurde durchgelassen. Die Zöllner musterten im Fackellicht einen jeden von ihnen mit deutlichem Mißtrauen. »Reitet dort zum Turm!« befahl ein Reiter. »Der Shallad hat befohlen, daß jeder Pilger Maut zu entrichten hat.« »Und wovon kauft der Pilger unterwegs Essen und Unterkunft?« fragte Luxon laut. »Nicht nur Waffen 221
entscheiden den Kampf gegen die Dunklen Mächte, auch ein kräftiger Arm. Und der hängt wiederum von einem gefüllten Magen ab.« »Wir sind keine Plünderer!« fuhr ihn der Krieger an. »Wir helfen den Zöllnern des Shallad. Lang lebe er!« »Ewig währe sein Ruhm«, entgegnete Luxon und gab sich weiterhin den Anschein, müde und erschöpft zu sein. »Rufe die Zöllner. Was haben wir zu geben?« Der Krieger nannte eine Summe, die erschreckend hoch war. Luxon und Socorra verbissen sich ein höhnisches Gelächter. »Was geschieht, wenn wir nicht zahlen können?« »Dann werdet ihr aufgefordert, mit anderen Dingen eure Passage zu sichern. Mit Essen, Schmuckstücken oder anderen wertvollen Besitztümern. Ihr stärkt, jeder mit seiner Spende, die Kraft der Heere des Shallad.« »Viel werden wir nicht zu dieser Stärkung beitragen können«, versicherte Luxon, zügelte sein Pferd und stieg ab. Er kramte in seinem Gürtel und mußte sehen, daß die Zöllner dieses hassenswerten Shallad ihr seltsames Gewerbe verstanden. Die Karawane war gezwungen, Mann um Mann, einen schmalen Durchgang zu passieren. Hier loderten zahlreiche schwelende Fackeln und erhellten die Umgebung. Mit raschen Blicken wurde Luxon, der als erster hineinschritt, förmlich begutachtet. »Niemand braucht in Logghard große Reichtümer«, sagte ein Zöllner mit dem Versuch, sein Tun zu entschuldigen oder zu erklären. »Nur einen gesunden Arm und scharfe Waffen. Wir tun nur unsere Pflicht. Wir gehorchen den Befehlen des Shallad.« »Recht so!« Das Pferd, auf dem dieser Pilger mit den scharfen, auffallenden Waffen ritt, konnte ihm nicht genommen werden. Auch die Waffen berührte keiner der Zöllner, obwohl ihre 222
Augen gierig aufleuchteten. Luxon sah zu, wie die Männer die Verschlüsse der Satteltaschen aufrissen und den Inhalt prüften. Zwei Krieger richteten die geschliffenen Lanzenspitzen auf ihn, und die Zöllner durchsuchten seinen Gürtel. Sie fanden die Münzen, die er dort versteckt hatte, ebenfalls einen Ring mit einem großen roten Stein, der im Licht der Fackeln ein magisches Funkeln und Blitzen ausstreute. Er hatte ihn als Croesus getragen, und plötzlich erschien ihm diese Zeit unendlich weit entfernt und endgültig verloren. »Nicht diesen Ring!« begehrte er auf, als der Zöllner das Geschmeide in einen halbgefüllten Korb warf. »Du bestimmst nicht, was du zu opfern hast«, erklärte ihm der Krieger. »Was hast du in diesen Bündeln?« »Futter für mein Pferd und einige Nahrungsmittel für mich. Der Weg nach Logghard ist für uns beide gleich lang und beschwerlich.« »Wir werden es gleich sehen. Der Shallad ist sehr ungehalten, wenn man ihm nicht gibt, was Rechtens ihm zukommt!« Die salbungsvollen Erklärungen ließen Luxon das ganze Ausmaß dieser unsinnigen und verbrecherischen Tätigkeit erkennen. Aber noch schwieg er und sagte sich, daß seine Stunde kommen würde. Dann hatte er vieles, an das er sich auf böse Art erinnern konnte. Mit beiden Armen, einen gierigen Ausdruck im Gesicht, wühlte der Zöllner in Luxons Gepäck. Aber er fand nichts mehr, und mit deutlichem Ärger sagte er: »Du siehst aus, Fremder, als könntest du deine Maut mit noch mehr Gold und Silber begleichen. Aber du hast wohl nur noch eine Münze, um die Lichtspender entlöhnen zu können.« »Ich bin tatsächlich ein armer, aber rechtschaffener Mann«, erkläre Luxon und zog seinen Hengst hinter sich her. Der 223
Pfader war der nächste. Auch er wurde durchsucht, und die Waffen der Krieger, die unmißverständlich auf ihn gerichtet waren, erstickten jeden Gedanken an Widerstand. Jenseits der Mauer stoben Orhakoreiter in schnellem Trab hin und her, Menschen fluchten und stritten sich in der Nähe der Feuer. Knarrend öffneten und schlossen sich die Türen der Behausungen. Ein Pferd wieherte grell und ließ sich nicht beruhigen. Luxon wartete, bis nach Samed und Syreno Kalathee den Engpaß verlassen konnte. Luxon nahm sie an der Hand und sagte leise zu ihr: »Es wird Zeit, denke ich, daß auch diese Unsitte aufhört. Hoffentlich schaffe ich es, nicht nur dieses Unwesen zu beseitigen.« »Dein Weg, Liebster«, entgegnete sie ernst und sah ihn aus ihren großen Augen an, »bis zum Thron des Shallad ist noch lang.« »Und beschwerlich«, nickte Luxon, »wie ich sehe.« Ohnmächtiger Zorn erfüllte ihn, als er zusehen mußte, wie buchstäblich jeder Mann seiner Karawane und sein Gepäck durchsucht wurden. Schnell und rücksichtslos gingen die Zöllner vor. Sie sammelten einen guten Teil der Münzen ein, die Luxon unter allen Reitern verteilt und versteckt hatte. Aber sie hielten sich an ihre Befehle und stahlen weder ein Pferd noch eine einzige Waffe. Einen halben Bogenschuß weit entfernt, zwischen zwei Feuern, standen die anderen Bevollmächtigten des Shallad. Auch sie waren von Kriegern umgeben, die teils im Sattel der Orhaken saßen, teilweise zwischen den Opfern der Zöllner lauerten. Sie hatten eine seltsame feierliche Art. Luxon warf ihnen einen bösen Blick zu und beherrschte sich; ein Griff nach dem Schwert würde ein halbes Todesurteil sein. Es waren mehr als zweihundert Zöllner und Soldaten hier versammelt. Wieder knirschte das Tor und öffnete sich halb. Pilger, die auf Orhaken und Diromen saßen, stoben in halsbrecherischem 224
Trab aus dem Talkessel hinaus. Sie waren sichtlich froh, dieser Durchsuchung entkommen zu sein. Aber wenige Tagemärsche weiter wartete bereits der nächste Posten auf sie, und es war zu erwarten, daß sie völlig ausgeplündert in Logghard ankommen würden. Als letzter kam der Gomale zwischen den Zöllnern hervor, hob seinen Gehstab und lächelte knapp. »Bei mir ging dieses Eintreiben der Maut sehr schnell. Wer nichts besitzt, kann schwerlich etwas abgeben. Meinen schönen Stab, den konnten sie nicht gebrauchen. Wir reiten weiter, wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute?« »Du deutest ihn vollkommen richtig«, gab ihm Luxon recht. »Noch müssen wir an den Lichtspendern vorbei«, sagte der Pfader. »Schnell und entschlossen, Männer!« Kaum, daß sich die Teilnehmer der Karawane, schweigend und wütend wegen der kalten Behandlung, zu einer lockeren Gruppe zusammengefunden hatten, kamen zwei Männer auf sie zu. Über dem kreisförmigen Zeichen des Schwertmonds glühten die Gesichter von Eiferern, zumindest von Menschen, die daran glaubten, was sie zu sagen hatten. Die Männer hoben die Arme. Die Ärmel ihrer hellen, wallenden Kleider glitten zurück und entblößten magere Arme. Die Lichtspender deuteten ziellos auf die Reiter und riefen, fast mit einer Stimme: »Im Namen des Shallad werden wir euch Licht spenden. Diese Gnade des Shallad ist eine Auszeichnung für jeden, der auf der Straße der Elemente pilgert.« »Wir sind dieser Gnade unwürdig«, sagte Luxon laut, »und wir sind überdies unfähig, eure klugen Worte zu kaufen. Die Zöllner haben alles erhalten, mit dem wir eure Großzügigkeit entgelten könnten.« Luxon zwang sich dazu, eine höfliche Entgegnung zu geben. Was hier im Namen des Shallad und mit seiner vollen 225
Billigung, ja auf seinen ausdrücklichen Befehl hin geschah, gehörte zu den unnötigen Ungerechtigkeiten dieser Welt. Hier wurden gutgläubige und mutige Menschen ausgeplündert. Träfe es habgierige Reiche, würde sich Luxon, obwohl selbst davon betroffen, gefreut haben. Vor ihm blieben die Lichtspender stehen und senkten ihre Arme. Sie streckten Luxon die offenen Handflächen entgegen. Er nahm ein winziges Goldstück, das ihm die Zöllner gelassen hatten, aus der Tasche des doppelten Gürtels. Als würde er ein unvorstellbar kostbares Schmuckstück überreichen, legte er die Münze in die Handfläche hinein. »Damit verurteilt ihr uns dazu, bis nach Logghard im Sand schlafen und hungern zu müssen«, sagte er grimmig. »Nehmt es, spendet euer Licht, und schnell wird sich die anfeuernde Wirkung über uns ergießen.« Die Männer ließen das Gold blitzschnell verschwinden und umkreisten dann die Karawane, indem sie beschwörende Bewegungen machten und unverständliche Formeln murmelten. In steigender Ungeduld ließen die Krieger diese Prozedur über sich ergehen. Sie alle kamen aus Sarphand, und über derlei Versuche, Menschen zu betrügen, waren sie nahezu erhaben. Dort, woher sie kamen, galten noch ganz andere Maßstäbe des Betrugs. Aber niemals waren sie so wenig delikat und offensichtlich gewesen wie hier. »Nun wird euer Mut die Kräfte der Dunkelwelt besiegen!« riefen die Beschwörer. »Wir danken euch, daß eure Beschwörungen uns vor den Dämonen schützen werden«, sagte Socorra grämlich. »Dies und das eine oder andere kostbare Amulett, das wir übersehen haben«, bestätigte einer der Beschwörer. »Reitet in Frieden, und das Licht des Shallad schütze euch.« »Dies tut es zumindest bis zur nächsten Mautstelle«, gab Luxon zurück und stellte seinen Fuß in den Steigbügel. Er 226
schwor sich, beim nächstenmal noch vorsichtiger vorzugehen und das Risiko, ausgeplündert zu werden, zu verringern. In diesem Zusammenhang dachte er an die unersetzlichen Waffen des Lichtboten. Nur langsam und in Schlangenlinien kamen die Mitglieder der Karawane vorwärts. Sie umrundeten die Feuerstellen, wichen einigen Gruppen verstört klagender Pilger aus und näherten sich dem Palisadentor. »Weiter! Schnell! Hinter mir her!« zischte Luxon. »Nichts wie weg aus diesem Tal des Irrsinns!« Er schüttelte sich. Auf einen Wink, der aus dem Dunkel kam, zogen unsichtbare Hände einen Torflügel auf. Luxon beugte sich aus dem Sattel und nahm einem Shallad-Soldaten die brennende Fackel aus der Hand. Er schwenkte sie und rief: »Das Licht, das uns gespendet wurde, erhellt unsere Herzen. Aber der Weg, der vor uns liegt, bleibt leider dunkel.« Hinter ihm schlugen die Hufe der Pferde einen dumpfen, schnellen Wirbel, als die Karawane ihrem Anführer folgte und im Dunkel der herangebrochenen Nacht verschwand. Als einer der letzten galoppierte der Gomale und versuchte, sich entlang der Reiter zur Spitze vorzuschieben. Es war deutlich, daß er Luxon nicht aus den Augen lassen wollte.
Ein einzelner Orhakoreiter kam aus dem Dunkel, lenkte sein Tier zur Seite und verringerte die Geschwindigkeit seines Reitvogels nicht, als er die Lichtkreise, der Fackeln vor sich erkannte. Er konnte an dem Abstand zwischen den einzelnen Lichter erkennen, daß ihm eine mittelgroße Karawane entgegenkam. Die mächtigen Beine des Orhakos griffen bei jedem Schritt weit auseinander. Die Krallen bohrten sich tief in den weichen 227
Boden abseits der Straße. Wie ein Dämon raste der Mann heran. Die Pilger erkannten, daß er einen Helm trug und daß ein Mantel mit dem Zeichen des Shallad-Schwertmondes hinter ihm flatterte. Er war schwer bewaffnet. Der Schild an seinem Oberarm, ebenfalls mit dem Zeichen geschmückt, verbarg zur Hälfte sein Gesicht. Wie ein Spuk trabte der Reiter vorbei. Nur noch die keuchenden Atemzüge aus dem Raubvogelschnabel des Reittiers und das Geräusch der Schritte blieben einen Augenblick in der stillen Abendluft hängen. »Es war, als ob er einen wichtigen Befehl des Shallad überbringen müsse!« sagte Syreno. Fafhad pflichtete ihm bei. »Ein Krieger, der Hals und Knochen aufs Spiel setzt und in der Dunkelheit auf dem Orhako so schnell dahinprescht, ist in wichtiger Mission unterwegs.« »Es betrifft uns nicht mehr«, meinte Kalathee. »Kennst du einen guten Platz für unser nächtliches Lager, Socorra?« »Ja. Eine Stunde lang etwa müssen wir noch reiten. Zur rechten Hand der Straße, in einem Hohlweg voller Bäume«, sagte der Pfader. »Wenn nicht ein anderer diesen Platz vor uns gefunden hat.« »Laßt es uns abwarten.«
Der einzelne Reiter auf dem Orhako preschte auf den Lichtschein zu, der hinter den Mauern flackerte. Vor der geschlossenen Barriere schrie er nach dem Anführer der Zöllner oder der Shallad-Soldaten. Man erkannte ihn und öffnete das Tor. Rücksichtslos trieb er seinen Reitvogel durch die auseinanderspringende Menge, an zwei Feuern vorbei und auf die Steinhütte zu, in der, wie man ihm gesagt hatte, der verantwortliche Anführer lebte. Dort kletterte er aus dem Sattel, nachdem er seinem keuchenden Tier die Kapuze über 228
die Augen gestülpt und es festgezurrt hatte. Der Anführer, einen Becher Wein in der Hand, kam ihm entgegen. »Du bringst neue Befehle?« »Ich komme aus Hadam. Der Shallad und Algajar haben jeden Krieger des Shallad angewiesen, nach einem Mann namens Luxon Ausschau zu halten. Wir sollen ihn festhalten und, wenn es zum Kampf kommt, töten. Luxon will den Shallad stürzen. Der Fremde ist leicht zu erkennen…« Er schilderte, was er von Algajar über die Karawane gehört hatte, sprach von den Waffen Luxons, sagte, daß die Reiter in den Sätteln der seltenen Pferde saßen, und gab ein genaues Bild Luxons. Schweigend und mit zusammengepreßten Lippen hörte der Anführer zu. Als der Bote seinen Bericht beendet und den Befehl wiederholt hatte, stieß er einen Fluch und ein Stöhnen aus. »Wir wußten es nicht!« sagte der Mann dumpf und stürzte den Wein hinunter. »Luxon ist vor weniger als einer Stunde hier durchgeritten! Wir erhoben die Maut, die Beschwörer erhielten Gold. Er ist in der Nacht verschwunden.« Der Orhakoreiter schlug sich gegen die Stirn und fluchte ebenfalls. »Ich habe eine Karawane getroffen! Natürlich konnte ich in der Dunkelheit nicht viele Einzelheiten erkennen. Aber diese Männer, etwa ein halbes Hundert, schätze ich, ritten auf Pferden!« »Du allein hättest Luxon ohnehin nicht töten können!« antwortete der Anführer wegwerfend. »Ist der nächste Posten verständigt?« »Ich habe ihnen dasselbe berichtet wie dir. Luxon reitet also tatsächlich auf der Straße der Elemente!« »Und die Krieger bei den Schlammteichen werden ihn fassen. Es sind über hundert Männer. Zusammen mit den Zöllnern sollte es ihnen gelingen. Bringe deinen Vogel weg und ruhe dich aus – bleibst du bei uns?« 229
»Ich habe Befehl, hier auf weitere Botschaften zu warten. Vielleicht kommt auch Algajar mit den Männern seiner Garde.« »Sei unbesorgt. Wenn der Shallad selbst den Befehl gibt, wird ihm bald der Kopf Luxons auf der Spitze einer Lanze gebracht werden.« Der Bote nickte, packte den Zügel des Reitvogels und führte das langbeinige Tier in das gemauerte Geviert zu den anderen Orhaken. Der Reiter des Shallad war zu erschöpft, als daß er sich viele Gedanken über diesen Fehlschlag gemacht hätte. Er warf sich in einen Winkel des Kriegerhauses und schlief sofort ein. Die Reste des Feuers glühten in düsterem Rot. Nachdem die Männer ihr Gepäck und die Tiere versorgt und es sich selbst bequem gemacht hatten, war auf Luxons Befehl die Karawane neu formiert worden. Jeweils mehr als fünfzehn Reiter bildeten, zusammen mit einem oder mehreren Diromen, eine einzelne kleine Karawane. Die Münzen wurden noch besser versteckt; man klebte sie mit Erdpech unter die Federn der Diromen und schob sie zwischen die doppelten Nähte der Stiefel. Keiner der Männer entfernte den wuchernden Bart aus seinem Gesicht. Luxon vertauschte seine Waffen wieder gegen die Waffen des Lichtboten. Jetzt nach dem Essen und nachdem die meisten Reiter unter den Büschen schliefen und die Nacht mit ihrem geräuschvollen Schnarchen erfüllten, hatte sich eine zufällige kleine Gruppe um die Glut eines Feuers gebildet. Luxon betrachtete nachdenklich den dunklen Spiegel des Weins in dem Holzbecher und sagte: »Die Zöllner und diese verdammten Lichtspender stehlen den Wanderern ihre Besitztümer. Sie werden einen Teil für sich behalten und den Rest einem Sklaven am Hof des Shallad aushändigen. Dieser gibt es dem Shallad oder dem Münzmeister des Hadamur. 230
Und so bleibt von dem Raub an jedem Finger etwas kleben.« Er selbst hatte seine Betrügereien wenigstens in besserem Stil begangen, und niemals hatte er einem Armen die letzte Bettelmünze gestohlen. »Unabhängig davon«, mischte sich Fafhad ein, »daß du um deine Besitztümer beraubt wirst, Luxon – je mehr du dich Hadam oder Logghard näherst, desto sicherer ist es, daß du bis aufs Hemd ausgeplündert wirst.« »Früher oder später werden wir die Straße der Elemente verlassen müssen«, erklärte der Pfader. »Kennst du einen besseren Weg?« wollte Samed wissen. Er gähnte unentwegt und hielt seine Augen nur mit Mühe offen. »Nicht vor der nächsten Sperre des Shallad und seiner Zöllner. Wir müßten fliegen können.« »Wieder kommen unübersehbare Gefahren auf uns zu«, brummte Syreno. »Weit und breit kenne ich keinen anderen Rebellenstamm. Hodjafs Höhlen sind weit. Ich kann dir keinen Rat geben.« Luxon spürte unter seinem Wams das Orakelleder aus dem Fell des Siebenläufers. Einem Impuls folgend, der vielleicht vom Helm der Gerechten stammte, hatte er dieses Zeichen des Lichtboten auch an sich genommen. »Wir werden es auch das zweitemal schaffen«, meinte Luxon. »Und schließlich können wir uns immer noch kämpfend den Zöllnern entziehen. Aber das sollte unsere letzte Möglichkeit bleiben. Wir würden viele Krieger Hadamurs gegen uns haben.« »Außerdem sind die Schlammseen kein gutes Gebiet für kämpfende Reiter«, gab der Pfader zu bedenken. »Mit einiger Klugheit hat Shallad Hadamur die nächste Maut-Barriere genau dort aufgebaut.« Kalathee lehnte sich schwer gegen Luxons Schulter und flüsterte: »Ich bin der langen Reise müde. Ich weiß, daß ich nichts ändern kann. Ich bin nur deine Gefährtin, die dir 231
überallhin folgt.« »Bis auf den Thron des Shallad!« murmelte Luxon. »Auch dorthin, obwohl ich ahne, daß der Kampf lange dauern und voller Verluste sein wird. Trotzdem wünschte ich, daß die Unrast bald vorbei wäre. Jede Nacht an einer anderen Stelle dieser öden, armen Landschaft. Und überdies fühle ich, daß wir von Gefahren umzingelt sind. Noch sehen wir sie nicht deutlich, aber auch das kann sich schneller ändern, als wir glauben.« »Du bist müde, Liebste!« »Wir alle sind es«, antwortete sie. »Laßt uns schlafen. Sind die Wachen aufgestellt, Socorra?« »Für alles ist gesorgt. Wir können in wenigen Augenblicken aufbrechen und reiten. Wenn wir fliehen müssen, so kann das schnell geschehen.« Sie lagerten in dem Hohlweg, von dem Socorra gesprochen hatte. Für die Pferde gab es frisches, saftiges Gras, Holz für die Feuer und weichen Boden für die schlafenden Männer. Der Nebel hatte sich gehoben. Sterne funkelten über dem freien Einschnitt des Tals. Nur der Mond, zwischen Vollmond und schmaler Mondsichel, verbarg sich noch jenseits der Baumkronen oder hinter der Dunkelzone.
Cestral, der Mann des Shallad, der an dieser Barriere die Verantwortung für alles trug, was geschah, hob den Schlegel, holte aus und schmetterte das kugelförmige, mit Fell umwickelte Ende gegen die hängende Messingscheibe. Der Gong gab einen dröhnenden Schlag von sich, der augenblicklich jedermann weckte und die Tiere hochscheuchte. Zwischen den Mauern des Mautnerpostens breiteten sich Unruhe und Aufregung aus. Der zweite Schlag ließ die Krieger Hadamurs auffahren; sie wußten, daß ein 232
Signal sie zusammenrufen würde. Das dritte Zeichen trieb rund hundert Männer zusammen, die sich vor den hölzernen Stufen des Turmes versammelten und sich leise fluchend den Schlaf aus den Augen rieben. Drei Schläge… sie bedeuteten Alarm! Cestrals Blicke glitten über die unausgeschlafene, aufgeregte Schar. Er pumpte Luft in seine Lungen und rief dröhnend: »Ein Bote ist aus Hadam gekommen. Der Shallad hat befohlen, daß ich euch anführen soll. Wir suchen einen Mann aus Sarphand, dessen Name Luxon ist. Gestern nacht kam er mit einer Karawane aus fünfzig Pferden durch unsere Mautstelle. Ich brauche fünfmal zehn Männer, die ihn verfolgen. Denn der Befehl des Shallad lautet, Luxons Kopf nach Hadam zu bringen. Der Shallad hat gehört, daß Luxon mit seinen Reitern versucht, ihn vom Thron zu stoßen. Wir verfolgen Luxon und seine Karawane! Die Männer an den Schlammteichen haben die Botschaft und die Befehle ebenso gehört wie wir. Wenn es uns gelingt, Luxon zu fassen und zu töten, warten Ruhm und zahllose Ehrungen auf uns. Wir werden von Hadamur, der Inkarnation des Lichtboten in dieser Welt, ausgezeichnet werden. Schlingt einige Bissen hinunter, Männer! Dann schwingt euch in die Sättel der Orhaken und folgt mir. Wir werden Luxon verfolgen und vielleicht, wenn uns das Glück zulächelt, auch töten. Dann reiten wir weiter nach Hadam, wo uns der Shallad empfangen wird!« Die Krieger stimmten ein Geschrei an und zerstreuten sich. Jeder suchte seine Waffen, packte einen Becher oder einen Fetzen Braten mit Brot und versuchte, sein eigenes Orhako in der Umzäunung zu finden. Weniger als eine halbe Stunde nach der feurigen Ansprache Cestrals saßen einundfünfzig Orhakoreiter in den Sätteln. Ihre Hände lagen an den Schlaufen der ledernen Kapuzen, mit 233
denen die aufgeregten Reitvögel geblendet waren. Das Palisadentor flog auf, als Cestral an seinen Männern vorbeitrabte und den Arm mit dem funkelnden Krummschwert hob. Dann stoben die Reiter hinter ihm her. Sie trabten in ständig steigender Geschwindigkeit an einer kleinen Pilgergruppe vorbei, beugten sich in den Sätteln vor, und die kreischenden Reitvögel spürten die Erregung ihrer Reiter. Es waren weniger als zwei Tagesreisen zwischen den beiden Mautbarrieren. Ein Orhako in voller Geschwindigkeit war so schnell wie ein Pferd, aber viel ausdauernder. Cestral sagte sich, daß spätestens nach einem Tag die Nachhut von Luxon in Sicht kommen sollte. Und wenn nicht seine Reiter den Verschwörer wider den Shallad fingen, dann fing er sich selbst in der Falle der Schlammteiche.
Ein anderes Tal erstreckte sich vor der ersten Gruppe der Reiter. Es war ein Kessel mit bewaldeten Hängen, die meist sehr steil abfielen und von tiefen Spalten durchsetzt waren. Wie eine Unmenge von Kratern, deren Ränder teilweise ineinander übergingen und sich schnitten, lagen die Teiche in dem schüsselförmigen Kessel. Die niedrigen Wälle wurden von Binsen und fetten Gräsern gekennzeichnet. Der Schlamm, der sich in den Kratern befand, hatte unterschiedliche Farben – grau, braun in allen Schattierungen, giftiges Gelb und schmutziges Weiß. Auf den freien Flächen zwischen den Schlammtümpeln standen die konischen Türme der Krieger. Breitere und schmalere Stücke einer Straße wanden sich in wirren Schlangenlinien zwischen dem Schlamm hin. Die meist runden Tümpel und Teiche hatten in der Mitte des Talkessels ihre höchste Konzentration und erstreckten sich entlang der 234
Straße der Elemente nach Süden und nach Norden. Auch an dieser Stelle schlossen Mauern und Barrieren aus übereinandergeworfenen, scharfkantigen Felstrümmern die Mautstelle ab. Drei Diromen und eine Handvoll Reiter näherten sich, aus dem dunklen Hintergrund des Waldes kommend, der ersten Mauer. Nicht einmal Luxon hätte seine Männer wiedererkannt. Sie sahen abgerissen aus und waren über und über schmutzig. Erschöpfung und Armut sprachen aus jeder Bewegung. Ihre Pferde ließen die Köpfe hängen. Im Schatten der Bäume hielt Luxon sein Pferd an. Er und seine wichtigsten Männer, dazu Kalathee, Samed und der schwarzhäutige Gomale, beobachteten, wie sich das erste Drittel der Karawane den Zöllnern und Kriegern näherte. Am Ausgang der kleinen Schlucht blubberten die Blasen aus dem Innern der Erde im fahlgelben Schlamm eines winzigen Tümpels. Fafhad streckte seinen Arm aus und deutete auf die Krieger, die aus allen Richtungen auf die Reiter zutrabten und zurannten. Die Aufregung, von der die Shallad-Soldaten erfaßt worden waren, strahlte selbst bis hierher aus. »Es scheint, als würden die Krieger genau wissen, wonach sie suchen.« Luxon warf Fafhad einen prüfenden Blick zu. Die Stimme des Gomalen klang so, als wisse er viel mehr, als er sagte. »Sie werden durchsucht – genauer als an der ersten Mautbarriere!« murmelte Socorra. »Das hat etwas zu bedeuten. Wissen die Krieger, wonach sie suchen?« »Ganz sicher wissen sie es. Sie suchen Luxon, der den Shallad stürzen will«, erklärte plötzlich der schwarzbärtige Mann mit fester Stimme. »Du kannst sicher sein, Luxon, daß die Krieger des Shallad dich suchen. Wie kommst du eigentlich zur der Ansicht, du wärest nicht der meistgesuchte 235
Mann im Shalladad?« Luxon starrte Fafhad schweigend an. Die Suche galt also ihm! Das bedeutete, daß der Shallad von ihm wußte. Woher er es wußte, war im Moment bedeutungslos. Luxon überdachte in wenigen Augenblicken alle Einzelheiten der Situation und entschloß sich dann, schnell zu handeln. »Warum du das alles weißt, Fafhad«, sagte er knapp und beobachtete die verwunderten Blicke nicht, die ihm Samed, Kalathee und der Pfader zuwarfen, »darüber werden wir später sprechen. Zuerst müssen wir unsere Tarnung besser ausführen.« Er riß am Zügel und zwang sein Pferd rückwärts. Dann nahm er den Mondköcher von der Schulter und gab ihn einem Reiter. »Trage ihn, als ob er dein Eigentum sei!« sagte er und fuhr mit der Hand in eine Satteltasche. Er zog einen Klumpen des schwarzen Erdpechs hervor, mit dem sie die Münzen unter das Orhaken-Gefieder geklebt hatten. Dann riß er den Sternenbogen von der Schulter und beschmierte den Zieredelstein mit dem Pech. Die klebrige Substanz haftete sofort an jenen Stellen, die kostbar und ungewöhnlich aussahen. Luxon sprang aus dem Sattel und tauchte den Bogen in den Staub der Straße. An den klebrigen Stellen überzog sich die Waffe sofort mit einem schmutzigen Belag. Den Bogen warf er einem anderen Reiter zu. »Und noch den Sonnenschild!« brummte er und sah sich suchend um. Dann grinste er kurz, übergab den Zügel dem Pfader und rannte auf den kleinen, blasenwerfenden Tümpel neben dem Wurzelwerk eines schräg über dem Hohlweg hängenden Baumes zu. Luxon nahm den Schild von der Schulter und tauchte ihn schnell in den Schlamm. Die Mischung aus Wasser und zermahlenem Gestein aus dem Weltinnern war so heiß, daß seine Hand zurückzuckte. Sofort 236
überzog sich der Sonnenschild mit einer dünnen Schlammschicht, die trocknete, noch während Luxon auf den übernächsten Reiter zulief. »Mit deinem Leben, Freund, stehst du für diesen Schild ein. Wir dürfen nicht getrennt werden!« stieß Luxon hervor. Das Orakel-Leder würde keiner der Krieger antasten, denn es galt als Schutzzeichen gegen Dämonen. »Dein Helm!« rief Samed plötzlich mit heller Stimme. »Mit dem leuchtenden Stein und dem Goldmetall!« »Beinahe hätte ich nicht mehr daran gedacht«, gab Luxon mit einem harten Lachen zu und riß sich den Helm vom Kopf. Er blieb stehen und starrte wieder hinunter zu den Tümpeln. Dort fielen die Zöllner und die Soldaten förmlich über seine Männer her. Aber selbst wenn sie ihn suchten, so wußten sie nicht, mit welcher Karawane er reiste – und niemand wußte genau, wie er aussah. »Die Salbe der Tausend Monde!« murmelte er und rannte zu seinem Pferd zurück. Hastig bestrich er den Helm mit dem weichen Harz und bedeckte die Hörner, die leuchtenden Edelsteine und das seitliche Metall mit der klebrigen Substanz. Zuerst streute er mit beiden Händen Staub vom Rand der Straße über den Helm, dann tauchte er ihn vorsichtig in den heißen Schlamm. Plötzlich sah der Helm der Gerechten unscheinbar und stumpf aus. Luxon band ihn an den Sattelknauf fest und sah sich um. »Das Schwert behalte ich«, sagte er. »Los, Pfader! Die zweite Gruppe soll sich fertigmachen!« Versteckt zwischen den Hängen und Wurzeln, im Schatten der Blätterdächer, wartete das zweite Drittel der Karawane. Socorra riß sein Pferd herum und galoppierte zurück. Einige Augenblicke später erschien er wieder an der Spitze einer Gruppe aus Pferdereitern und den wenigen Diromen. Luxon sah die Krieger kommen und rief, beide Arme 237
hochhebend: »Und wagt es nicht, meinen Namen nur ein einziges Mal zu erwähnen! Ihr habt niemals etwas von mir gehört, habt ihr begriffen?« »Eher sollen unsere Lippen verdorren!« riefen die Männer und ritten an ihm vorbei. Sie waren von den Zöllnern erst zu sehen, als sie in die Tageshelligkeit hinauskamen. Ein weiterer Blick überzeugte Luxon, daß die erste Gruppe zwar reichlich unsanft behandelt, aber offensichtlich nicht festgehalten wurde. Luxon trug bedächtig die Salbe auf die Haut seines Gesichts auf. Als er die letzten Reste der magischen Paste auf dem Hals verrieb, wußte er, daß ihn selbst Kalathee nicht mehr erkennen würde. Kalathee! Er tauchte zwei Finger tief in den kleinen Krug und winkte seiner Geliebten. »Vorübergehend wird deine Schönheit leiden«, sagte er. »Aber es dient dazu, dein Leben zu retten. Weit und breit wirst du an keinem Spiegel vorbeikommen. Vertraue dein Gesicht meinen Fingern an!« Kalathee kletterte aus dem Sattel, und kurze Zeit später war die Salbe auch auf ihrem Gesicht verrieben und verteilt. Neugierig kamen die Reiter näher. Sie starrten abwechselnd Luxon und Kalathee an. Ihr Staunen wich dem Erschrecken, als sie erkannten, wie sich unter der gebräunten Haut und den Bartstoppeln Runzeln und Falten bildeten, wie die Haut schlaff und teigig wurde, wie Kalathees Schönheit dahinschwand. Luxon blickte, selbst verwundert, seinen linken Handrücken an. Auch dort, wo er unachtsam etwas Salbe auf getragen hatte, bildeten sich die charakteristischen Linien und Flecken des Alters aus. »Staunt nicht, Freunde«, sagte er rauh und hob die breiten Schultern. »Es ist kein dämonischer Zauber. Verschiedene Heilkräuter und Pflanzensäfte wirken zusammen. Ich werde nur einige Stunden lang so aussehen.« Dann lächelte er und fügte hinzu: »Auch Kalathee wird ihre frühere Schönheit 238
schnell wieder zurückerhalten. Kurzum: Es dient uns zur Verkleidung. Reiten wir weiter?« »Noch nicht! Sieh nach unten!« warnte Fafhad und hob seinen mannshohen Wanderstab. Geschickt angewendet und kraftvoll geführt, konnte dieser Knüppel eine knochenbrechende Waffe sein. »Was meinst du?« erkundigte sich der Pfader. Trotzdem beobachtete er genau, was zwei Bogenschuß weit entfernt vor sich ging. Das erste Drittel der auseinandergerissenen Karawane befand sich mitten im Getümmel der Zöllner und Krieger. Luxon und seine Männer erkannten, je länger sie zusahen, daß die Ahnung oder das Wissen des Gomalen richtig gewesen waren. Sie wußten, wonach sie suchten. Natürlich durchstöberten sie das Gepäck der Krieger und fanden, was sie finden sollten – auch Münzen und Schmuckstücke, die sie nicht hätten finden sollen. Wütend, aber noch voller Beherrschung ließen die Krieger aus Sarphand die Prozedur über sich ergehen. Sie wurden förmlich ausgeplündert. In einer langen Schlange standen sie neben ihren Pferden auf den schmalen Straßen zwischen den Wällen der Schlammteiche. Die ersten von ihnen, die mittlerweile die Durchsuchung überstanden hatten, fielen gerade jetzt in die Hände derjenigen Abgesandten des Shallad Hadamur, von denen »Licht gespendet« wurde. Abermals versuchten sie, sich loszukaufen. Unabhängig von diesem geschäftsmäßigen Treiben strahlten die Bewegungen und die Gesten, das aufgeregte Umherlaufen und die drohenden Gebärden der Krieger eine Gefahr aus, die mehr als deutlich war. Sie suchten einen einzelnen Mann! In jedes Gesicht starrten sie lange und berieten miteinander, schüttelten die Köpfe und nickten, dann winkten sie enttäuscht den betroffenen Reiter zur Seite oder bedeuteten ihm, zu denen zu gehen, die Licht spendeten. 239
Gerade als die Krieger des Shallad rund eine Hälfte des ersten Karawanenteils abgefertigt hatten, ritt die zweite Gruppe ein. Die Unruhe und Hast der Krieger steigerte sich. Ein Teil von ihnen wandte sich den Neuankömmlingen zu, der andere Teil, noch emsiger und betriebsamer, durchsuchte die zweite Hälfte der ersten Karawane und trieb die Maut des Shallad ein. »Wir warten noch etwas«, sagte Luxon und hob das Gläserne Schwert mit beiden Händen hoch. Er beabsichtigte, diese Lichtboten-Waffe selbst zu behalten. Wieder strich er das Erdpech auf die Schneide. Es war zwischen seinen Fingern warm und schmierig geworden. Auch auf das Material des Griffs, das wie weiches Silber wirkte, strich er das Pech, ebenso über die drei goldenen Zeichen in der gläsernen Schneide. Das Horn am Ende des Griffs wurde ebenfalls mit dem letzten Rest des schwarzen, schmierigen Pechs bestrichen. Dann tauchte Luxon die Schneide Altons in den Schlamm. Das leuchtende Schwert verlor seinen schimmernden Glanz. Augenblicklich zog Luxon die Waffe wieder heraus. Bis zum Heft war die nadelspitz auslaufende Klinge in einen matten, dünnen Überzug getaucht. Luxon wechselte die Waffe von der rechten in die linke Hand und tauchte den Griff zweimal in den Staub. Dann packte er das Schwert dicht unterhalb des Heftes und hob es hoch, so daß es jeder seiner Freunde sehen konnte. »Niemand wird mich als Luxon erkennen!« rief er triumphierend. »Und keiner wird euch als meine Krieger erkennen. Los! Stürzen wir uns auf diese zweite Falle des verdammten Shallad!« Etwas leiser und in beschwörendem Tonfall fuhr er fort: »Ihr habt niemals in eurem Leben den Namen Luxon gehört! Wir alle sind müde und zu Tode erschöpft wie die beiden anderen 240
Gruppen. Keiner der Krieger weiß, wer wir sind. Auch wenn der Shallad ihnen befohlen hat, mich zu fangen – sie suchen nach einem Mann, der anders auftritt und ganz anders als ich aussieht. Noch etwas: Steckt einige Goldmünzen in die Taschen eurer Wämser, so daß die verfluchten Zöllner sie finden müssen. Los! In die Sättel! Denkt daran, daß wir eine arme, abgerissene und ausgeplünderte Karawane sind.« Ein Teil der Krieger lachte. Die anderen senkten die Köpfe und machten mürrische Mienen. Aber schließlich, als sich die Nachhut der Karawane formiert hatte, hingen sie alle in den Sätteln, als würden sie vor Erschöpfung bei jedem Schritt ihrer staubbedeckten Tiere aus dem Sattel rutschen. Das Geräusch der klappernden Hufe übertönte das Blubbern der platzenden Blasen im Schlick. Die giftigen Gase stachen den Pferden in die Nüstern und ließen die Reiter ihre Köpfe abwenden, als Luxon – der wie ein zittriger Greis aussah – und seine Reiter sich auf den Weg zur zweiten Mautbarriere machten. Eine Pferdelänge hinter ihm lehnte Kalathee im Sattel. Auch sie sah aus, als könnte sie sich nur mit äußerster Willensanstrengung auf dem Rücken des Pferdes halten. Die Tiere schienen zu ahnen, was ihre Reiter wollten. Sie trotteten langsam dahin und ließen ihre Köpfe hängen. Um ihre Mäuler trocknete der gelbe Schaum. Breite Bahnen aus Schweiß sickerten durch das Fell, das von Staub und Sand einförmig gefärbt war. Die Sättel knirschten, die Tiere atmeten schwer, und der Männer bemächtigte sich ein erster Anflug von gespannter Unruhe. Kalathee fing diese Stimmung augenblicklich auf und wandte sich an Luxon. Leise sagte sie: »Wenn die Krieger nach dir suchen, Liebster, dann bedeutet dies nur eines.« »Algajar?« fragte er zurück und drückte nichts anderes als einen Teil seiner eigenen Befürchtungen aus. »Er muß dem Dämonental Deneba, der Geisterstadt des 241
Himmelssteines, entkommen sein. Dann ritt er nach Hadam und berichtete alles dem Mörder deines Vaters.« Was für eine bemerkenswerte Frau! dachte Luxon. Alle anderen Frauen, die er entlang des wechselvollen und gewundenen Weges seines Lebens bisher kennengelernt hatte, würden sich ganz anders verhalten haben als sie. Seit einer kleinen Ewigkeit ritt sie neben und hinter ihm durch unbekanntes Land und hatte nichts anderes als ein Leben voller Gefahren. Die letzten Tage der Ruhe und Zweisamkeit lagen weit zurück – der Palast des falschen Croesus, nunmehr verlassen und leer, war bereits Vergangenheit. Ihre Leidenschaftlichkeit und ihre Liebe standen außer Zweifel. Trotzdem sah er auch in ihrer Beziehung deutliche Gefahren. Je näher sie sich kamen, je tiefer sie ineinander aufgingen, desto anfälliger wurden die gegenseitigen Abhängigkeiten. Gewohnheit war der langsame Tod einer jeden Liebe. Dicke Suppen im Kessel, so hatte Shakar einmal gesagt, pflegen leicht und schnell anzubrennen. »Was tun?« murmelte er im Selbstgespräch. »Sagtest du etwas?« fragte Kalathee sofort zurück. Sie war voller gespannter Aufmerksamkeit. »So, wie du es schilderst«, wich er aus, »kann es gewesen sein. Irgendwann werden wir es erfahren. Angst, liebste Kalathee?« »Halb Angst«, bekannte sie, »halb Vertrauen in unser Glück. Oder vielmehr in deines, denn bisher ließ es uns nicht einmal im Stich.« »Es wird uns auch weiterhin treu bleiben«, versicherte er mit halbherziger Zuversicht. »Nur noch diese Barriere!« Einige Schritte hinter Luxon und Kalathee ritt Fafhad, der rätselhafte Gomale. Er hob seinen knorrigen Stock und berührte mit der glatten Knolle leicht die Schulter des Anführers. Luxon fuhr blitzschnell im Sattel herum. Seine 242
Augen begegneten einem kühlen Lächeln des Fremden. »Ja?« »Wenn wir diese Mautstelle passiert haben, ohne daß man uns in einen Kampf verwickelt hat«, brummte der Mann mit dem struppigen Bart und setzte eine schwer zu deutende Miene auf, »muß ich mit dir sprechen.« »Nicht jetzt? Hat es noch Zeit, bis wir auf die ersten Aasgeier Hadamurs stoßen?« fragte Luxon. »Nein. Zweimal nein«, entgegnete Fafhad. »Es wäre sinnlos. Ich habe erkannt, daß du sehr gut verstehst, auf dich selbst zu achten. Trotzdem meine ich, daß eine tiefe Unterhaltung unter vier Augen zwischen uns beiden noch zu früh wäre. Hab Geduld, Luxon. Ich will dir nichts Böses.« Und nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Und auch mein Herr will dir nichts Böses. Aber er ist auf seine Art hart und unbeugsam.« »Ein Land voller geheimnisvoller Vorgänge«, meinte Luxon achselzuckend, »das Menschen hervorbringt, die in unverständlichen Redewendungen sprechen!« »Warte es ab!« prophezeite Fafhad und wickelte seinen Schal enger um seine Kehle und um den Kopf. Schweigend und langsam setzten die knapp zwei Dutzend Reiter ihren Weg fort. Je tiefer die Straße die Reiter hinunter zu den schlammigen Teichen führte, desto lauter und besser verständlich wurden die Geräusche und das Geschrei, das zwischen den Erdwällen herrschte. Die ersten Reiter verließen bereits die Sperre und galoppierten davon, als säßen Dämonen hinter ihnen in den Sätteln. Trotzdem schafften es die Männer, den Eindruck hervorzurufen, den Luxon ihnen befohlen hatte: Sie gehörten zu einer Gruppe, die mit nichts und niemandem etwas zu tun hatte, schon gar nicht mit einem einzelnen Mann, den der Shallad suchen ließ. Luxon lächelte in sich hinein. Er hatte berechtigte Hoffnungen, daß auch diesmal seine Taktik nicht von 243
einfachen Orhakoreitern durchschaut werden konnte. Luxon versuchte sich vorzustellen, er wäre nichts anderes als ein alter, einfacher Pilger auf dem Weg nach Logghard. Er schwieg und lenkte sein Pferd die Straße abwärts, dem aufgeregten Lärmen entgegen. Er senkte den Kopf und spähte nach vorn. Noch einige seiner Reiter hatten die peinliche Durchsuchung überstanden und setzten sich in Bewegung. Offensichtlich hatten Hadamurs Männer den gesuchten Luxon nicht gefunden. Ihre Unruhe steigerte sich. Es wurde deutlich, daß sie nach ganz bestimmten Merkmalen suchten. Von hinten sagte Socorra keuchend vor Wut: »Sie wissen es! Jemand hat dich verraten!« »Entweder Hodjaf oder Algajar«, fügte Syreno hinzu. »Aber für den Anführer lege ich beide Hände in jedes Feuer. Nie und nimmer würde er mit einem Krieger des Shallad über das sprechen, was wir von Shakar gehört haben. Niemals! Er haßt den fetten Hadamur. Und… er mag seine Eigenheiten haben und ein gnadenloser Rebell sein, aber wenn er dir Treue geschworen hat, so steht er bis zum Tod zu seinem Wort.« »Hoffentlich hast du recht, Syreno«, murmelte Luxon durch die Zähne. »Du weißt, was dies bedeutet?« »Algajar muß aus Deneba entkommen sein!« rief Kalathee. »So erscheint es mir auch!« gab Luxon zu. »Wenn wir überleben, wird sich diese Frage klären lassen.« Die Spannung unter der Handvoll Reitern nahm zu. Schritt um Schritt näherten sich die Pferde und die Reitvögel der Sperre. Zunächst führte die Straße in weichen Windungen abwärts und auf verstreute Erdhügel zu. Dann schoben sich rechts und links in willkürlicher Reihenfolge und Größe die Schlammtümpel heran. Eine Laune der Natur oder das Einwirken magischer Kräfte? Niemand wußte es genau, obwohl mannigfache Legenden wucherten. In einigen Tümpeln stiegen kleine und große Blasen auf, platzten mit 244
unterschiedlichen Geräuschen und entließen stinkende Gase. Man munkelte, daß ein Schauer von Himmelssteinen diese Krater geschlagen habe. Andere berichteten, daß aus der Tiefe Dämonen in den Nächten aufstiegen und über das Land hinstreiften. Wieder ein anderer Reiter flüsterte, daß vor undenkbar langer Zeit der Odem der Tiefe in die Pflanzen der Kraterwälle gefahren sei. Tollheit und Wahnsinn waren bei Tieren die Folge, die von den Gräsern fraßen, und bei Menschen nicht weniger, wenn sie es wagten, die verschrumpelten Früchte der bizarr geformten Bäume zu essen. Luxon erreichte als erster seiner Gruppe die Absperrung. Er lenkte seinen bestaubten Hengst durch die steinerne Pforte und hob müde eine Hand, als er den ersten Posten gewahrte. »Gruß dir, Wächter der Tümpel«, sagte er mit rostiger Stimme. »Was soll dieses aufgeregte Treiben hier? Sucht ihr nach Gift oder dem Seim der Mondblume?« Der Krieger starrte ihn verwundert an. »Woher kommst du, daß du nichts weißt? Wir treiben die Maut für den Shallad ein!« »Der Shallad!« staunte Luxon. »Lang lebe er. Maut? Das ist neu auf der Pilgerstraße. Vor sieben Jahren erzählte man mir in Leone, daß entlang der Straße der Elemente Gastfreundschaft, saftige Weiden für die Tiere und kleine Hütten wären, in denen man tiefroten, starken Wein trinken kann. Maut? Was soll das?« Lakonisch entgegnete der Krieger, ein wenig gereizt: »Shallad Hadamur hat’s befohlen. Hast du Münzen? Besitzt du wertvolle Mitbringsel? Hadamur braucht Gold, um seine Heere auszurüsten und, unter anderem, die Sicherheit der Straße hier zu garantieren. Die Straße der Elemente, weißt du?« »In Shallads Namen«, sagte Luxon. »Hier. Die Maut.« 245
Er griff in seinen Gürtel, fingerte eine silberne Scheibe hervor und warf sie dem Krieger zu. Mit einer Behendheit, die auf lange und tiefe Erfahrung schließen ließ, fing der Mann die Münze auf und grinste verächtlich. »Ein berittener Herr wie du, in einem prächtigen Sattel und auf einem seltenen Tier, das vor Schönheit strotzt – nur die Münze? Aus dem Sattel! Sofort!« Luxon starrte ihn an, aber er gehorchte. Er gab sich den Anschein, als sei er zu Tode erschrocken. Seine Finger zitterten, seine Miene drückte Furcht und Überraschung aus. Die Reiter hinter ihm und die zittrige Greisin folgten seinem Beispiel. Von allen Seiten kamen jetzt grimmig und entschlossen dreinschauende Krieger auf die Reiter zu. »Hört zu, ihr alle!« begann der Mann, der Luxon angesprochen hatte. »Ich habe es auch den anderen Reitern auf den schwitzenden Pferden sagen müssen: Der Shallad hat befohlen, Maut zu entrichten. Wieviel dies ist, hängt von uns ab. Wir nehmen, was wir bekommen.« »Ihr bekommt bestenfalls«, erklärte Luxon voller Gram und Elend, »was deine Kameraden an der ersten Mautbarriere übriggelassen haben. Wie viele Mautstellen gibt es noch auf dem Weg nach Logghard?« »Viele!« sagte der Krieger. »Hebe deine Arme. Wo stecken die Goldmünzen? Die Ringe? Die Bänder und das Geschmeide?« Nicht nur Luxon, sondern auch die Mehrzahl seiner Freunde hoben die Arme. Sie taten es schweigend und verbittert. Die Krieger gingen mit Erfahrung zu Werk. Sie prüften die Nähte, griffen in die Säume des Gürtels, suchten in den Köchern und den Satteltaschen. Ab und zu fanden sie Goldmünzen von geringem Wert, die vordergründig versteckt worden waren. Sie fanden aber auch – und jedesmal durchzuckte Luxon ein wahrer Schmerz – wertvolle Dinge, große goldene Münzen 246
und ebensolche aus Silber. Nach etwa einer halben Stunde schienen die Zöllner der Meinung zu sein, daß auch eine intensivere Suche keine größere Beute mehr erbringen würde. »Weiter. Den anderen nach. Und gebt denjenigen, die euch Licht spenden, den Rest eures Besitzes!« »Welchen?« wollte Socorra müde wissen. »Es mag Verstecke für euren Besitz geben«, entgegnete der Krieger, »die wir nicht kennen, und selbst wenn wir sie gefunden hätten, würden wir sie gern den Lichtspendern überlassen. Weiter!« Langsam gingen die Männer weiter und zogen ihre Pferde am Zügel hinter sich her. Die Zöllner hoben die Schultern und sahen ihnen mit mäßiger Anteilnahme nach. Sie hatten bekommen, was sie haben wollten. Ein Halbkreis von schätzungsweise sieben Männern in den wallenden Umhängen schloß sich vor Luxon. Die Abgesandten des Shallad hoben die Arme, und einer von ihnen rief mit schriller, aufdringlicher Stimme: »Auch du, Mann aus Gomaliland, wirst eine Lichtspende brauchen!« »Schon an der ersten Barriere wurde mir Licht gespendet, obwohl ich nicht einmal einen Kieselstein habe geben können. Spendet mir Licht, aber tut dies umsonst. Die Zöllner haben jede Handbreit meines Körpers abgetastet und nicht einmal Eisen gefunden. Oder versagt mir die Lichtspende meinetwegen!« Luxon hielt sich zurück und lächelte nicht. Aber einige seiner Krieger grinsten, als sie die Worte des Kuttenträgers hörten. Die Lichtspender schienen genau zu wissen, daß Fafhad arm war und daß sie bei ihm nichts finden würden. »Treibe deine Schindmähre weiter!« fauchte einer der hageren Männer. »Schnell!« Luxon merkte zu seiner endlosen Erleichterung, daß keiner der Zöllner, Krieger oder Lichtspender die wahre Natur der 247
unkenntlich gemachten Waffen aufgedeckt hatte. Er ließ die Zeremonie schweigend über sich und seine Leute ergehen und »spendete« ein Silbermünze. Er durfte passieren und kletterte ächzend in den Sattel. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, schwankend sich an die Mähne des Pferdes zu klammern. »In deinem Alter«, schrie ihm ein Lichtspender zu, »wirst du in Logghard trotz unserer Lichtspende nicht zu den besten Kämpfern zählen!« »Mein Glaube«, sagte Luxon mit der Stimme eines müden Greises, »wird mir helfen. Bisher hat er in harten Tagen immer geholfen.« Er hustete würgend und gab dem Pferd die Fersen. Langsam setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Die Reiter hielten großen Abstand voneinander und bemühten sich, die Aufmerksamkeit der mißtrauischen Shallad-Krieger nicht noch einmal auf sich oder ihren Anführer zu richten. An der dritten Barriere, sagte sich Luxon kochend vor Wut, werdet ihr vergeblich auf mich warten! Er blickte sich nicht einmal um und hörte an den Geräuschen und am Hufschlag, daß seine Freunde wieder aufschlossen. Stinkender Nebel wallte aus den letzten Tümpeln zu den Reitern herüber. Die Pferde schnaubten unwillig und rissen die Schweife hoch. Das erste Tier fiel in einen kurzen Galopp. Die anderen Reittiere ließen sich mitreißen, und kurze Zeit später stob die kleine Karawane zwischen den letzten Gewächsen an den Tümpelrändern aus der Niederung hinaus. »Sie haben dich gesucht, Luxon«, rief warnend der Pfader. »Aber sie suchten einen Mann, der anders aussieht. Und überdies seine prächtigen Waffen«, erklärte Syreno. »Du solltest mit Fafhad einige harte Worte sprechen.« Luxon nickte und sah sich nach dem Mann mit dem struppigen, sandverkrusteten Bart um. »Das hatte ich vor!« antwortete er zögernd. »Aber es eilt mir nicht. Bis zur nächsten 248
Barriere haben wir noch genug Zeit.« »Frieden, Luxon!« sagte Fafhad und hob die Hand. »Es ist kein Geheimnis. Mein Herr schickte mich zur Straße der Elemente. Ich sollte versuchen, mich deiner Karawane anzuschließen!« Augenblicklich wurden Kalathee und alle Reiter aufmerksam. Ihre Blicke richteten sich auf Fafhad. Der Gomale saß ruhig und furchtlos auf seinem galoppierenden Pferd und fuhr fort: »Mein Herr lebt nur einige Stunden abseits der Straße. Wenn du alles wissen und erfahren willst, Luxon, werde ich dich hinführen. Ich muß gestehen, daß ich listenreich auf dich gewartet habe. Aber weder ich noch derjenige, der mir befiehlt, wollen dir Böses.« »Es ist beruhigend, das zu wissen«, entgegnete Luxon trocken. »Ob ich dir glaube, was du beteuerst, ist eine zweite Frage.« »Mein Herr ist allein. Alles, was er von dir beansprucht, sind ein paar Stunden Zeit. Die Krieger deiner Karawane würden ihn mühelos überwältigen können. Frage Syreno, ob es hier Gefahren gibt!« »Mehr als genug«, antwortete der Rebell. »Aber er hat recht. Ich kenne keine größeren Gruppen, die sich hier verstecken.« »Mein Herr ist ein Einsiedler«, beteuerte Fafhad. »Und er weiß vieles über jenen Mann, nach dem du dich erkundigst. Er kennt den Namen Mythors.« »Woher weiß er das alles?« fragte Luxon, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Er weiß sicherlich nicht alles«, lautete die Antwort des Gomalen, »aber immer wieder überrascht er mich mit Kenntnissen, die er scheinbar aus der Luft und von den Vögeln erfährt.« »Seltsame Dinge tun sich. Wie nennt sich dein Herr?« »Er hat sicher einen Namen, aber er nennt ihn niemals«, 249
antwortete Fafhad. »Nicht einmal mir.« »Wie weit ist es bis zu der Stelle, an der ihr wohnt?« »Drei Stunden zu Pferd. Ein kurzer, aber verschlungener Weg. Dort vorn geht es nach links, auf die Hügel zu.« »Und wenn wir unseren Weg nach Logghard fortsetzen, ohne deinen rätselhaften Herrn zu besuchen?« »Dann werde ich euch an der Stelle verlassen, an der der Weg abzweigt. Nichts sonst.« Luxon ritt schneller, Syreno und der Pfader Socorra setzten sich an seine Seite. Sie unterhielten sich leise und versuchten herauszufinden, wie gefährlich der Vorschlag des dunkelhäutigen Mannes war. Beide Männer waren gleichermaßen mißtrauisch, und Syreno kannte diesen Teil des Landes besser als der Pfader, denn Hodjafs Rebellen durchstreiften es. Luxon hob halb ratlos die Schultern. »Ich glaube trotzdem«, sagte er dann so laut, daß es alle Reiter verstehen konnten, »daß ich Fafhad zu danken habe. Er warnte uns zu Recht. Die Krieger hätten uns töten können, denn sie waren in der Übermacht. Sollen wir ihm glauben? Gibt es diesen Einsiedler wirklich, der vieles weiß?« »Ich schwöre es dir!« sagte Fafhad. »Was will er von mir?« »Mit dir sprechen. Es geht um Mythor. Ich weiß wirklich nicht, was er von dir will.« »Und die Karawane? Sollen wir alle dorthin reiten?« »Es liegt bei dir, allein bei dir, Luxon!« Wieder mußte Luxon überlegen. Natürlich konnte es eine Falle sein, die ganz besonders klug eingefädelt worden war. Aber in diesem unbekannten Land konnte sich hinter jeder Biegung des Weges eine Falle verbergen. Die letzte Antwort überzeugte Luxon nur zur Hälfte, aber sie stimmte ihn auch halb um. Er sagte zu Socorra: »Im Lauf der nächsten Stunde treffen 250
wir mit den beiden anderen Teilen unserer Karawane wieder zusammen. Ich bin entschlossen, diesen geheimnisvollen Herrn unseres nicht gerade wortreichen Reisebegleiters aufzusuchen. Aber die Karawane soll weiter auf Logghard zureiten.« »Auf jeden Fall reite ich mit dir!« entschloß sich Kalathee. »Ohne dich würde ich nicht reiten – auch nicht zu dem namenlosen Herrn Fafhads!« versicherte Luxon. »Wir gehen mit dir«, versicherten Syreno und Socorra. »Und den Kleinen sollten wir auch mitnehmen, damit er etwas vom Land abseits der Straße der Elemente kennenlernt.« »Warum nicht?« Wieder sah sich Luxon vor eine Entscheidung gestellt, die ihm keineswegs behagte. Einerseits drängte ihn alles, das Rätsel dieses unbekannten »Herrn« Fafhads zu lösen, andererseits wollte er weder sich selbst noch seine Freunde gefährden, und die Karawane nach Logghard konnte er auch nicht verlassen. Was sollte er tun? Als die fahle Staubwolke in Sicht kam, die von seinen eigenen Leuten stammte, setzte Luxon die Sporen ein. Seine Reiter folgten ihm und hoben grüßend die Arme, als die Krieger zu den Waffen griffen. Luxon löste sich von der Gruppe, erklärte den Reitern, was er und eine Handvoll seiner Getreuen vorhatten. Sofort löste sich ein Reiter aus dem Zug und galoppierte davon. Socorra brüllte ihm über die leere Straße nach: »Vergiß nicht! Wir warten am Rand der Straße!« »Ich sage es ihnen!« schrie der Reiter zurück. Die Kolonne hielt an, und nach kurzem Zaudern sagte Luxon hart: »Du führst uns, Fafhad! Ich rechne damit, daß ich von deinem Herrn alles erfahre. Ausgerechnet Mythor! Wenn du uns in eine Falle lockst, stirbst du als erster und durch dieses Schwert… Was mich an die anderen Waffen erinnert. Männer! 251
Gebt mir den Schild, den Bogen und alles andere zurück!« Luxon hatte seine Waffen in wenigen Augenblicken zurück. Er winkte, die Gruppen trennten sich, und sechs Reiter auf Pferden und ein Orhakoreiter stoben nach Osten. Zuerst brachen die Tiere durch staubbedecktes, dürres Gebüsch, dann öffneten sich die Felsen nach beiden Seiten, ein kaum sichtbarer Pfad zeichnete sich hinter einem winzigen Hügel im fetten Gras ab. Die Reiter, von Fafhad angeführt, ritten hintereinander, beugten sich tief neben den Hälsen ihrer Tiere aus dem Sattel und wußten nicht, wohin sie ritten und was sie erwartete. Nur Luxon hatte eine dumpfe Vorahnung, die ihm Bilder kommenden Unheils vorgaukelte. Fafhads langer Gehstock schwankte und pendelte unter seinem Arm im Rhythmus der Galoppsprünge. Sie waren der Nachstellungen der Zöllner fürs erste entkommen. Trotzdem spürte er nicht die geringste Erleichterung.
Kalathee gab die Zügel frei, setzte die Sporen ein und lenkte das schäumende, keuchende Pferd an Luxons Seite. »Machst du mir Vorwürfe«, fragte Luxon heiser und versuchte, ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten, »weil ich Fafhad folge?« »Keinen Vorwurf, Liebster«, sagte sie und richtete sich auf. »Du hast richtig gehandelt. Etwas anderes ist es, worüber ich mit dir sprechen muß. Warum wirst du jedesmal, wenn der Name Mythor fällt, unruhig und aufgeregt?« Luxon schloß einen Moment lang die Augen. Kalathee hatte recht. Aber sie dachte an andere Dinge und gänzlich andere Zusammenhänge als er selbst. Er versuchte, ihr eine Antwort zu geben, die sie und auch ihn zufriedenstellte. Er begrub einige Gedanken und Gefühle tief in seinem Innern und sagte: 252
»Ich habe seine Waffen. Er war mein Gegner, fast ein Feind. Seltsamerweise haben wir miteinander eine Reihe von denkwürdigen Stunden verbracht. Mythor ist mir ebenbürtig, das meine ich ehrlich. Ich weiß es selbst nicht – aber es erleichtert mich, daß wir von nun ab für zwei unterschiedliche Dinge fechten.« »Du fichst mit den Waffen des Lichtboten!« beharrte Kalathee. »Mit Mythors Waffen, meinst du?« »Auch das. Denkst du, daß Fafhad uns an eine Stelle bringt, an der du die Waffen benutzen mußt?« »Ich kann es nicht beweisen«, sagte Luxon und richtete sein Augenmerk wieder auf die Landschaft vor ihm, »aber ich glaube es nicht. Ich traue ihm. Merkwürdig, ich weiß. Aber er scheint harmlos zu sein. Diese wenigen Stunden werden mich nicht von meinem Ziel abhalten. Du weißt es – ich werde mich auf den Thron des Shallad setzen.« »Was erhoffst du dir von Fafhads Herrn?« »Nicht viel. Vielleicht eine Auskunft. Vielleicht sogar eine Antwort auf deine Frage, die du mir soeben gestellt hast.« »Vielleicht«, schloß Kalathee seufzend. Sie ritten seit einer halben Stunde. Ihr Ritt hatte sie durch grüne, verlassene Weiden geführt, durch einen kleinen Wald und entlang eines Felsabsturzes. Vögel schwirrten in die Höhe. Kleine Tiere huschten zwischen den Stämmen davon. Riesengroße Schmetterlinge, auf deren Flügeln das Sonnenlicht funkelte, gaukelten durch die Zweige. Als die Reiter über einen Erdwall setzten, sahen sie vor sich zwischen den Flanken zweier bewachsenen Felshügeln einen dritten, tiefschwarzen Fels. Schweigend ritten sie weiter und versuchten zu erkennen, was vor ihnen lag. Der Fels entpuppte sich als hingeduckte Kuppel, deren Höhlen und Löcher wirkten, als wären sie von 253
einem größenwahnsinnigen Bildhauer geschaffen worden. Über zwei großen Löchern erhob sich, wie die Stirn einer Mißgeburt, eine Rundung, von tiefen, ausgewaschenen Windungen und Spalten durchzogen wie das bloßliegende Gehirn eines Schlachttieres. Ein vorspringender Erker trug, wie die Nase eines Totenschädels, kleinere Öffnungen und eine seltsame Maserung des Gesteins. Der untere Kiefer dieses phantastischen, zufälligen Gebildes fehlte und wurde durch ein breites Feld aus dunklem Geröll ersetzt, das in eine torähnliche Mundöffnung hineinführte. Fafhad galoppierte, seinen knotigen Stab mit der Rechten festklammernd, genau auf das Tor zu, zügelte sein Pferd und ließ es auf den Hinterbeinen hochsteigen. Das Tier stieß ein grelles Wiehern aus und wirbelte die Vorderläufe durch die Luft. »Hier sind wir, Luxon!« rief Fafhad. »Siehst du jetzt, daß sich kein Heer hier verbergen kann?« »Selbst wenn es gut versteckt ist, hast du unsere Ankunft laut genug angekündigt«, gab Luxon zurück. Ohne daß er etwas zu sagen brauchte, stoben Socorra und der Vogelreiter nach rechts und links davon und begannen, den Fels zu umrunden. Aus der unmittelbaren Nähe betrachtet, verlor er seine furchterregende Form und sein drohendes Aussehen. Aber unverändert klaffte der Eingang auf wie ein riesiges Maul, wie ein halber Kiefer mit Zähnen aus hellerem Gestein. Kalathee und Samed glitten aus den Sätteln und beruhigten ihre aufgeregten Pferde. Das Orhako kam leise kreischend um den Felsen gebogen, den stämmigen Hals weit nach vorn gestreckt. Syreno machte eine Bewegung, die ausdrückte, daß er keinerlei Gefahr fürchtete und keinen Hinterhalt. Luxon schob seinen Unterarm durch die Griffe des Sonnenschilds, legte die Hand an den Griff Altons und warf Fafhad einen Blick zu, den der dunkelhäutige Mann nicht 254
deuten konnte. »Auch dein Herr hat gehört, daß wir gekommen sind!« sagteer. »So ist es«, meinte Fafhad. »Er erwartet dich. Wenn er deine Freunde sehen will, wird er dies durch mich kundtun.« »Ich bin einverstanden«, sagte Luxon und folgte Fafhad. Der Gomale warf Samed die Zügel zu und ging entschlossen vorwärts. Nach wenigen Schritten umfing die Männer die Dunkelheit der Felshöhle. Auf dem Geröll lagen lange Steinsplitter, die unter den Tritten zerbarsten. Die Höhle verengte sich. Die Wände eines immer schmaler und niedriger werdenden Ganges wirkten, als wären sie von einem reißenden Wildbach in äonenlanger Arbeit ausgewaschen worden. Luxons Stimme hallte schaurig, als er sagte: »Dein Herr hat sich ein gutes Versteck gesucht. Niemand würde in diesem Totenkopffelsen gern hausen.« »Aus diesem Grund wählte er ihn als Heimstatt«, entgegnete Fafhad. Durch ein seitliches Loch fiel ein verirrter Sonnenstrahl in den gewundenen Gang und erhellte ihn einige Schritte weit. »Ich erwarte eine bizarre Persönlichkeit«, fuhr Luxon gepreßt fort. »Ist es etwa ein Stummer Großer mit zusammengenähten Lippen?« »Es mag sein, wie du sagst – oder ganz anders«, entgegnete Fafhad mehrdeutig und tastete sich weiter voran. Luxons Waffen scharrten ab und zu gegen die Felswand. Unter den Sohlen schienen winzige Schlangen zu kriechen oder bleichhäutige Salamander. Nach einer Anzahl weiterer Schritte wurde es wieder heller, der Weg führte aufwärts, und plötzlich standen die Männer im Eingang zu einer Höhle. Helles Licht flutete in zwei Bahnen ins Innere, erhellte aber nicht jeden Winkel des Raumes. Er war annähernd wie eine 255
halbe Kugel geformt, mit zahlreichen Nischen, Vorsprüngen und natürlichen Säulen skurriler Art. Das Licht fiel durch die beiden Augen des Totenkopffelsens herein. Auf einem flachen Stein knisterten und glühten die Reste eines kleinen Feuers. Aus dem Hintergrund schob sich eine Gestalt in einer dunklen, wallenden Kutte, den Kopf durch eine tief heruntergezogene Kapuze halb verhüllt. Nur die Augen funkelten ein wenig. Eine kurze Folge von schrillen Pfeiflauten ertönte. Gleichzeitig trat der Vermummte ins Licht, zog die Kapuze herunter und hielt seine Finger in die breite Lichtbahn. Auf einer Wandfläche über dem Herd zeichneten sich deutlich die Silhouetten der Finger und Handgelenke ab. Fafhad sagte: »Mein Herr läßt dir sagen, daß es auch in Hadam Große gibt. Sie haben gewisse Dinge erfahren, weil ihre Späher auch neben dem Thron des Shallad stehen.« Ohne große Überraschung blickte Luxon in das schmale, asketische Gesicht eines Stummen Großen. Noch immer konnte er sich eines deutlichen Gefühls des Abscheus nicht erwehren, wenn er die tief eingeschnittenen Kerben der Nähte sah, mit denen die Lippen bis auf das winzige Loch verschlossen waren. »Und er will mir mitteilen, was ich zum Teil schon weiß?« fragte Luxon sarkastisch zurück. Er teilte die Abneigung Mythors gegen den seltsamen Orden der Schweigenden. Wieder ertönten modulierte Pfiffe. Die Schattenspiele der Finger, die sich rasend schnell bewegten, wirbelten und zuckten über den hellen Fels. Fafhad schlug seine Kutte auseinander, setzte sich am Rand der Höhle auf einen Schemel und lehnte sich gegen die Wand. Nach einigen Augenblicken sagte er: »Algajar erreichte Hadam, am Ende seiner Kräfte. Er berichtete dem Shallad Hadamur, was geschehen war. Daraufhin befahl Hadamur, dich im ganzen Shalladad und 256
besonders entlang der Straße der Elemente zu hetzen.« »Dies ahnte ich immerhin«, meinte Luxon, froh darüber, daß es sich in Wirklichkeit nicht um einen Hinterhalt handelte. »Und du, Fafhad, hast es mir bestätigt.« »Ich wüßte es nicht, wenn es nicht mein Herr gewesen wäre, der mir diese Wahrheit mitteilte.« Luxon verstand nur winzige Bruchteile der seltsamen Sprache dieses Großen. Er war außerstande, auch nur die geringste Feinheit in der Klangfolge des Pfeifens und in den Bewegungen der Fingerschatten zu erkennen. Aber er war sicher, daß Fafhad das übersetzte, ohne Hinzufügungen und Auslassungen, was ihm der schweigende Bruder des Ordens mitteilte. Trotzdem ahnte Luxon in diesem Moment mehr als deutlich, daß wohl mehr Stumme existierten und es demzufolge ein dichter geknüpftes Netz von Verbindungen gab, als er sich bisher hatte vorstellen können. Eine wichtige Beobachtung, sagte er sich und lauschte der nächsten Übersetzung. »Wir, die Großen, können uns über gewaltige Entfernungen hinweg«, fuhr der Gomale fort und legte seinen Stab quer über seine Oberschenkel, »durch die Übertragung unserer Gedanken verständigen, als ob wir miteinander im selben Raum säßen. Diejenigen von uns, die einmal den Rauch der Mondblume geschmeckt haben, besitzen diese Fähigkeit. Auf diesem Weg erfuhr ich, daß dich, Luxon, der Shallad jagt. Ich erkenne dich trotz deiner geschickten Verkleidung, die dir das Aussehen eines Greises verleiht.« Luxon wandte sich an Fafhad und bat: »Sage deinem namenlosen Meister, daß ich erfahren habe, wie es mit der Mondblume wirklich steht. Ihr Rauch und ihre Absonderungen wirken zersetzend auf Geist und Körper. Siechtum und qualvolles Sterben sind die Folge.« Wieder pfiff und gestikulierte der Große. »Die Wissenden 257
unter den Großen brauchen nur einmal die segensreiche Wirkung der Mondblume zu genießen. Sie verurteilen den dauernden Genuß. Er ist schädlich, ganz wie du sagst. Der erste Genuß ist wie die Geburt einer besonderen Fähigkeit. Nur der Abschaum wird süchtig und verdirbt sich selbst.« »Du bist einer der Wissenden?« »Würde ich sonst von dir und Mythors Waffen erfahren haben, die du bei dir trägst?« Luxon war abermals nur mäßig überrascht. Er umklammerte den Griff Altons, der sich warm in seine Finger schmiegte, und bestätigte sich in grimmiger Entschlossenheit, daß er recht daran getan hatte, Mythors Waffen anzulegen und mitzunehmen. »Auf der Straße der Elemente bist du, Luxon, unterwegs. Du fühlst dich als der rechtmäßige Erbe deines Vaters, als Shallad. Du führst die Waffen des Lichtboten, und auch jedes Stück davon erkenne ich trotz der geschickten Art, in der du sie verändert hast. Ich habe meinen Diener ausgeschickt, dies zu überprüfen. Er brachte dich hierher.« Fafhad schwieg und nickte Luxon zu. Luxon ließ seinen Blick abwechselnd vom Gomalen zum Großen gehen und sah, daß die Höhle ärmlich eingerichtet war und seit langer Zeit bewohnt schien. »Was war Fafhads Aufgabe?« »Er sollte dich warnen, schützen und hierherbringen. Hätte er versagt, würde ein anderer an seine Stelle getreten sein, auch an anderer Stelle der Straße.« »Und aus welchem Grund habe ich deine Anteilnahme erregt?« fragte Luxon neugierig. Diesmal dauerte die Übersetzung der Pfeiflaute, der Triller und der verschlungenen Schatten der Finger wesentlich weniger lang. »Nicht deinetwegen, Luxon. Wegen der Waffen des Lichtboten.« 258
»Was gehen dich meine Waffen an?« »Es sind nicht deine Waffen. Es sind die Waffen, die Mythor redlich erworben hat. Du weißt, daß sie nicht dir gehören. Du hast Mythor übertölpelt und an die Wilden Fänger ausgeliefert, in Wirklichkeit an seine drei größten Gegner, die Todesreiter. Gib mir diese Waffen und ziehe in Frieden weiter deinen Weg.« Luxon schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran. Aus welchem Grund sollte ich dir die Waffen und das Orakelleder übergeben?« »Weil sie nicht dir gehören. Wir sorgen dafür, daß sie der rechtmäßige Besitzer wiedererhält. Um deinen Thron kannst du mit anderen, guten Waffen kämpfen.« »Du mußt verrückt sein, an mich dieses Ansinnen zu stellen«, antwortete Luxon hartnäckig und hob den Kopf. »Ich brauche sie, um für mein Recht zu kämpfen.« »Sie werden dir bei diesem Kampf kein Glück bringen!« beharrte der Große. »Bisher bin ich mit ihnen sehr gut gefahren. Sie halfen mir und meinen Männern in einigen harten Kämpfen.« »Das wird nicht so bleiben. Nur in der Hand Mythors entfalten sie ihre ganze Kraft.« »Davon habe ich nichts gemerkt«, gab Luxon unwillig zurück. »Und ich werde alles andere tun, als die Waffen ausgerechnet in dieser Höhle zu lassen.« »Sie würden nicht lange hierbleiben«, versicherte der Große durch Fafhads Mund. »Mein Diener wird sie Mythor zukommen lassen.« »Nichts zu machen«, versicherte Luxon. »Was weißt du von Mythor? Lebt er noch?« »Wäre er tot, würde er schwerlich einen Anspruch auf die Waffen des Lichtboten erheben können«, gab der Große zurück. »Durch die gedankliche Zwiesprache mit meinen 259
Brüdern weiß ich von deinem Verrat. Beinahe hätten die Tbdesreiter sich seiner bemächtigt, aber wir haben das Schicksal Mythors in Sarphand gerade noch beeinflussen können.« »Wo ist er jetzt?« Unbehagen beschlich den Sohn des Shallad. Er hatte nicht vor, sich die Wünsche und Argumente des Großen zu eigen zu machen. Mythors Waffen ihm übergeben? Nicht daran zu denken. Trotzdem erfüllten ihn die Erklärungen dieses Angehörigen eines seltsamen Ordens mit Unruhe. Seine Selbstsicherheit aber ließ es nicht zu, daß er die Waffen ablegte. »Er wurde gefangen und auf eine Lichtfähre gebracht!« »Und seine Gegner, die Ibdesreiter?« »Sie verfolgen ihn noch immer. Zwei von unserem Orden sind von ihnen getötet worden. Von meinen Brüdern weiß niemand, wo sich Mythor im Augenblick befindet. Wir sind sicher, daß er noch lebt, samt seinem Begleiter. Wir erwarten sein Erscheinen bei den Ruinen von Erham.« Als sich der Umhang des Großen bewegte, sah Luxon, daß der Mann ein kostbar verziertes Krummschwert im Gurtgehänge trug. »Bei den Ruinen von Erham also«, brummte Luxon. Fafhad beteiligte sich nicht an der Auseinandersetzung. Er beschränkte sich darauf, zu übersetzen, was der Große »sagte«. »Gib mir die Waffen! Ich fordere sie. Sie stehen dir nicht zu, du darfst sie nicht mehr länger tragen und nicht mehr mit ihnen kämpfen.« »Ich habe auch um diese Waffen gekämpft!« versicherte Luxon. Das Pfeifen wurde erregter und schärfer. »Mit List, Betrug und den Fähigkeiten eines Meisterdiebs!« »Jeder wendet an, was er am besten kann«, verteidigte sich Luxon. »Jedenfalls wirst du die Waffen nicht erhalten.« 260
»Selbst wenn du sie behalten solltest, was ich bezweifeln muß, wirst du kein Glück mehr mit ihnen haben.« »Warum?« »Nur Mythor kann den Anspruch auf diese Ausrüstung haben. Es ist das Vermächtnis des Lichtboten. Mythor ist der Sohn des Kometen, und ohne seine Waffen kann er seinen Kampf gegen die Dunklen Mächte nicht fortführen. Gib mir also die Waffen – ohne Zorn, ohne Feindschaft. Auch dich werden wir schützen, so gut es geht, Luxon.« »Ich hoffe, euren Schutz niemals zu brauchen. Und nun – laßt uns diese Unterhaltung beenden. Meine Karawane wartet, und meine Begleiter draußen vor dem Felsen werden ungeduldig.« Der Große warf seinen Umhang über die Schulter und zog das Schwert. Luxons Hand riß Alton aus dem Gurt. »Was hat er vor?« wandte sich Luxon an Fafhad. Der Gomale zog sich noch mehr an die Felswand zurück. »Er will Mythors Waffen. Mit Gewalt, wie mir scheint.« »Mir scheint es auch«, versetzte Luxon und hob das Gläserne Schwert. »Und er meint es zweifellos ernst.« Der Große sprang vorwärts, holte mit seinem Schwert aus und drang auf Luxon ein. Der Sohn des Shallad parierte den ersten Schlag mit einer knappen Aufwärtsbewegung Altons. Aber das Schwert gab keinen klagenden Ton von sich. Als die Schneiden sich klirrend berührten, sprangen in großen Platten die schützenden Schlammschichten ab. Das Schwert begann schwach zu leuchten. Luxon fing den nächsten Schlag mit dem nach vorn gekippten Schild ab, tänzelte zurück und schlug nach dem Arm des Mannes. Der Große war blitzschnell, kreuzte seine geschweifte Klinge und schmetterte Luxons Arm zur Seite. In Luxon erwachte die Wut. »Verdammt!« sagte er knurrend. »Beim falschen Shallad. Er traut sich zu, mich und das Gläserne Schwert zu besiegen.« 261
Die Klingen wirbelten und zischten durch die Luft. Das schmetternde Klirren des Stahls und das helle Geräusch des Gläsernen Schwertes erfüllten die Höhle und brachen sich als Echos. Die Kämpfenden sprangen hin und her, warfen die Schemel um, traten in die Reste des Feuers und versuchten, die Deckung des anderen zu durchstoßen. Die Klingen zischten der Länge nach aneinander vorbei. Funken sprühten aus dem Krummschwert des Großen. Wieder traf ein harter Schlag den Schild, und nur kurz verspürte Luxon den Schrecken darüber, daß die Wirkung des Sonnenschilds bei diesem Gefecht gegenüber dem Großen versagte, dann duckte er sich unter einem Hieb, der zwei Fingerbreit über seinen Helm hinwegzischte. Die Spitze des Schwertes schlug gegen den Fels und zog eine tiefe Schramme in den Stein. Luxons nächster Hieb fuhr aufwärts, traf das Krummschwert dicht unterhalb des Griffes und schmetterte es aus der Hand des Großen. Aus der winzigen Öffnung der zugenähten Lippen kam ein kurzer, schriller Pfiff. Der Große sprang zur Seite, seine Schulter streifte den Stein, und er strauchelte. Luxons Schwert beschrieb einen Halbkreis, die nadelfeine Spitze schlitzte den Umhang des strauchelnden Mannes auf. Der Große rutschte langsam am Felsen entlang nach unten. Seine Kräfte waren erlahmt, er keuchte erstickt, und über sein zerfurchtes Gesicht rann der Schweiß. Luxon richtete die Spitze Altons auf das Herz des Mannes und sagte, halb erstickt vor Zorn: »Du stirbst, denn du hast mich angegriffen!« Der Große pfiff leise und schwach. Das Pfeifen hörte sich an wie die zögernden Anfangstakte eines Liedes. »Er sagt, er habe den Tod nicht verdient, weil es sich um eine Tat für Mythor handelt«, erklärte Fafhad ungerührt. Luxon wollte zustoßen. 262
Aber vom Griff des Gläsernen Schwertes Alton, das bei diesem Kampf nicht ein einziges Mal seine klagenden, summenden Laute von sich gegeben hatte, schienen magische Kälte und eine Lähmung von Luxons Fingern auszustrahlen. Luxon zögerte, spannte seine Muskeln an und versuchte eine langsame Vorwärtsbewegung der Klinge, setzte zum Todesstoß an. Das Schwert widerstand seiner Bewegung und schob seinen Arm zurück. Es war, als richte er die Spitze gegen den nackten Fels. Einige Herzschläge lang kämpfte Luxon mit dem Schwert. Der Widerstand der Waffe entschied. Luxon entschloß sich rasch, zog die Waffe zurück und steckte sie zurück in den Gürtel. Dann wandte er sich ab und sagte zu Fafhad: »Es war also keine Falle, Gomale. Ich bin kein Mörder von unbeholfenen Schwertkämpfern. Sage deinem Herrn, daß ich weiterhin mit Mythors Waffen kämpfen und sie so gut gebrauchen werde wie jetzt und hier. Wenn uns das Schicksal noch einmal zusammenführt, sollte es aus anderem Grund sein.« Er nickte Fafhad zu und verließ die Höhle. Ohne Schwierigkeiten fand er zurück und stapfte aus dem schwarz gähnenden Eingang über das Geröll. Seine Freunde standen mit ihren Tieren in einer dichten Gruppe beieinander. »Hier bin ich wieder«, sagte Luxon und schwang sich in den Sattel. »Ich berichte euch während des Ritts, was in der Höhle passiert ist.« »Wir hörten das Klirren. Habt ihr gekämpft?« »Ja. Ich habe gesiegt. Es war ein Großer, der mir die Waffen des Lichtboten abnehmen wollte. Fafhad reitet nicht mit uns zurück.« Das Reservepferd, dessen Zügel an einem Sattel festgeknotet wurden, lief gehorsam hinter ihnen her, als sie in langsamem Galopp in ihrer eigenen Spur zurückritten. 263
Der erste Windstoß packte die Jäger. Er schleuderte ihnen die Enden der Mäntel knatternd um die Schultern, zauste die Schweife und die Mähnen der galoppierenden Pferde und blies das Gefieder des Orhakos auseinander. Einige Regentropfen schlugen mit der Gewalt winziger Steine gegen die Haut der Reiter. Die Sonne verschwand hinter treibenden Wolken, die nicht nur aus Wasserdampf bestanden. Auch Staub und Sand wurden hochgewirbelt und bildeten lange Schleier, die sich wie Vorhänge bewegten. Im Sturm und in den jagenden Sandspiralen zeichneten sich weit voraus schwarze, sichelartige Schatten ab. »Was ist das? Sind das Tiere, Luxon?« schrie Samed durch das Sausen und Fauchen des Windes. »Es sind Totenvögel!« gab Syreno zurück. »Aasvögel!« »Wir nennen sie Hakengeier«, rief Socorra. »Sie kreisen über den Kadavern von Tieren und über Leichen.« Zuerst waren es nur drei Geier, die mit schweren Flügelschlägen versuchten, über die Sturmwolken hinwegzufliegen. Dann jagten mit dem Wind zwei mächtige schwarze Körper heran und schraubten sich schräg in die Höhe. Wieder prasselte ein kurzer, wütender Regenschauer herunter. Ohne daß die Reiter es merkten, riß sich das reiterlose Pferd los, keilte mehrmals aus, stieg auf die Hinterbeine hoch und stob dann in gestrecktem Galopp zurück zum Totenkopffelsen. Hinter den Hügeln rauschte ein breiter Regenschleier herunter. Er verdeckte einige Zeit lang den Blick auf die Staubschleier, die niedrig dahinrasenden Wolken und die schwarzen Riesenvögel, die immer zahlreicher geworden waren. Der wütende Hagel dicker Tropfen riß ebenso plötzlich 264
ab, wie er herangerast war. Die Reiter hoben die Köpfe und zogen die Kapuzen höher in die Stirnen. »Es sind mehr Geier geworden. Mindestens ein Dutzend«, rief Griffo, der Reiter, der mit ihnen von der Karawane gekommen war. »Zwölf Geier oder mehr – dies hat etwas zu bedeuten.« Luxon merkte, daß die Regentropfen einen Teil der Tarnung seiner Waffen weggewaschen hatten. Aber noch konnte er dieses Problem beiseite schieben. Niemand sah ihn jetzt, und noch war genug von der Schlammkruste übrig. Das Fell der Pferdebeine war schwarz vor Nässe geworden. Der Wind kam und ging schneidender in einzelnen Stößen. Der Himmel wurde klar, und jetzt sahen sie die kreisenden Geier deutlich. Sie zogen in geringer Höhe ihre Kreise über dem Gelände, durch das die Straße der Elemente verlief. »Weiter! Wir sehen nach. Unser Weg führt uns genau an diese Stelle«, entschied Luxon. Immer wieder sahen sie sich um und versuchten zu erkennen, ob jemand sie verfolgte oder ihnen auflauerte. Aber das zerklüftete Tal voller grüner Pflanzen und Weiden zwischen Bergen und Hügeln war tatsächlich leer. Nur am unmittelbaren Rand der Pilgerstraße schien es Bewegung zu geben. Luxon führte die kleine Gruppe an. Vor ihnen baute sich die triefende Mauer aus Büschen auf. Die Pferde und das Orhako brachen durch die nassen Zweige hindurch und befanden sich, scharf herumgerissen, nach wenigen Sprüngen und Trabschritten wieder auf dem festgestampften Erdreich der Pilgerstraße. Socorras Gesicht, voller Staub und durchzogen von den Bahnen aus Schweiß und Regenwasser, zeigte deutlich seine Sorge. Immer wieder starrte er hinauf zu den sichelförmigen Silhouetten der Hakengeier. Die Tiere kreisten nun enger und 265
waren abermals tiefer über dem Abschnitt der Straße. Im weichen Rand der Straße zeichneten sich die tiefen, frischen Abdrücke von Reitvogelklauen ab. »Luxon!« rief er. Luxon wandte sich halb im Sattel herum. »Du hast Sorgen?« gab der Sohn des Shallad zurück. »Ja. Sieh – die Geier!« Die riesigen Hakengeier falteten ihre dunklen Schwingen zusammen, streckten ihre Klauen und Köpfe aus und ließen sich senkrecht fallen. Der Windstoß, der die Reiter in die Rücken traf, trieb auch die Vögel ab. Sie verschwanden vorübergehend hinter den Bäumen, dem Hang und den Felsen. Dann machte die Straße einen weit ausgezogenen Bogen. Die Reiter sahen gerade noch, wie die Geier kurz vor dem Boden ihre Schwingen auseinanderrissen, ihren rasenden Flug abbremsten und sich auf die regungslosen Körper von Tieren und Menschen fallen ließen. Durch das Trommeln der Hufe ertönten die gierigen, heiseren Schreie der Aasvögel. Die Leichen waren bedeckt von kleinen, rostfarbenen Tieren, die an der Kleidung und an der Haut rissen, und von ebenso kleinen schwarzen Vögeln. Sie hackten mit spitzen Schnäbeln auf den Leichen und Kadavern herum. Kalathee schrie entsetzt auf. »Es sind Pferde! Luxon! Es ist unsere…« Luxon, Socorra, Griffo und Kalathee zügelten scharf die Pferde. Rechts und links von ihnen lagen tote Reittiere. Pfeile steckten in den Körpern, aus tiefen Stichwunden war das Blut ausgetreten und vom Regen weggewaschen worden. Dunkle Flecken in Sand und Staub breiteten sich aus. Ein Sattelgurt war gerissen. Ein toter Reiter, von den Tieren gräßlich zugerichtet, lag unweit des Pferdes. Ein abgebrochener Pfeil ragte aus seinem Rücken. »Es ist unsere Karawane. Sie wurde überfallen!« stieß Luxon 266
hervor, sprang aus dem Sattel und führte sein Pferd zwischen den bewegungslosen Körpern entlang. Wieder ein totes Pferd, abermals ein Reiter, der von hinten getroffen worden war. Luxon stand einige Zeit lang starr da, senkte den Kopf und fühlte tief in sich Trauer, Enttäuschung und eine wieder aufkeimende Wut, die in kalten Haß auf den Shallad und auf Algajar mündete. Dann schüttelte er seine lähmende Beklemmung ab und sagte mit einer Stimme, die nicht einmal Kalathee erkannte: »Durchsucht die Taschen und die Verstecke der Goldmünzen. Schnell! Die Truppen des Shallad können sehr schnell zurückkommen.« »Fafhads Herr, der Große, hat dich und uns gerettet!« sagte laut der Rebell aus dem Sattel des scheuenden Orhakos herunter. »Wahr gesprochen«, sagte Luxon tonlos. Er sah rechts und links, vor und hinter sich nur Tote. Seine Karawane hatte sich getroffen, die drei Teile hatten sich wieder zusammengeschlossen. Dann waren sie entweder in einen Hinterhalt der Orhakoreiter des Shallad geraten oder von ihnen überholt und getötet worden… oder beides. Luxons Freunde waren in der Lage, zu begreifen, was er meinte: Die Münzen und die sorgfältig versteckten Kleinodien waren notwendig. Sie sicherten auf der weiteren Reise nach Logghard das Leben der übriggebliebenen Reiter aus Sarphand. Mit geschickten Griffen leerten sie die Taschen und rissen das Gold unter den Flügeln und Federn der toten Orhaken heraus. Ein langgezogenes Stöhnen ließ Luxon und Socorra herumfahren. Sie sprangen zur Seite der Straße. Hier lag ein Krieger auf dem Rücken. Er war blutüberströmt, aber mit dem Schwert in seiner zerschnittenen Hand hatte er die kleinen Vögel, die Aasfresser und die Hakengeier abwehren können. Er öffnete die Augen und sagte schwach: »Luxon! Sie haben 267
uns von allen Seiten…« Luxon schob seine Hand unter den Nacken des Mannes und richtete ihn halb sitzend auf. Er fragte halblaut: »Du bist verletzt? Schwer?« »Nur Wunden. Ich kann mit euch reiten…« Luxon winkte mit der anderen Hand Kalathee herbei. Sie kam mit dem Wasserschlauch und mit einer ledernen Tasche, in der Binden, Salben und heilende Tränke enthalten waren. Sie blickte den Krieger nur kurz an, riß den Dolch aus dem Gürtel und schnitt dort, wo die Kleidung am meisten blutgetränkt war, den Stoff auf. Luxon hastete weiter, sein Pferd hinter sich herziehend. Er schlug mit dem Schwert nach einem Geier, der ihn anzischte und mit dem Hakenschnabel nach ihm zielte. Die Leichen seiner Freunde aus Sarphand und der Diromentreiber waren schauerlich zugerichtet. Die Söldner des Shallad waren in der Überzahl gewesen, ohne Zweifel, aber Luxons Krieger hatten sich erbittert gewehrt. Luxon fand vier Reiter, die das Massaker überlebt hatten. Tatsächlich kamen auch einige Pferde, deren Reiter beim ersten Angriff aus den Sätteln geschleudert worden waren, mit hängenden Köpfen zurück zur Straße. Sie wurden augenblicklich eingefangen. Samed und Kalathee verbanden die Wunden derjenigen, die noch in der Lage waren, weiterzureiten. Kerben in den Schilden, abgebrochene Waffen, Lanzen und Speere, die sich tief in den Boden und in die Körper der Tiere und der Krieger gebohrt hatten, überall Blut, das vom Regen verwaschen war, an jeder Stelle die furchtbaren Hinterlassenschaften eines Überfalls, der schnell und mit aller kriegerischen Schärfe der Söldner durchgeführt worden war. Die Krieger des Shallad hatten erbarmungslos zugeschlagen, getreu ihren Befehlen. Samed und Socorra hoben den ersten 268
Mann in den Sattel seines Pferdes. Er hielt sich schwankend am Sattelhorn fest, aber sein Gesicht rötete sich bereits wieder. Er holte keuchend Atem. »Wir sind zehn Überlebende«, sagte Luxon und konnte erkennen, daß sie immerhin inzwischen über einige Reservepferde verfügten und über einen größeren Teil der Münzen und Kostbarkeiten, die sie bisher erfolgreich vor den Shallad-Soldaten verborgen hatten. Luxon lehnte sich, innerlich müde und krank vor Trauer, an die Flanke seines Pferdes. Das Tier zupfte friedlich, ohne sich von den Aasfressern stören zu lassen, an den nassen Halmen des Straßenrands. Die Geier hackten mit ihren messerscharfen Schnäbeln in die regungslosen Körper und rissen große Brocken Fleisch heraus. Schaudernd wandte sich Kalathee ab und steckte die fast leere Ledertasche zurück. »Vier von allen, die seit Sarphand mit uns geritten sind!« flüsterte sie. Die anderen Krieger, durch deren Verbände das Blut zu sickern begann, saßen in den Sätteln. In fieberhafter Eile wurden Vorräte und prall gefüllte Satteltaschen auf die Rücken der Tiere geschnallt. Auch Syreno zog und zerrte einige Lasten auf den Rücken des Reitvogels. Luxon wußte, daß keiner seiner Krieger mehr lebte. Er hatte jeden einzelnen Körper genau untersucht. Vier Männer waren verwundet. Vielleicht überlebten sie, vielleicht nicht. Kämpfen konnte keiner mehr von ihnen, und ob sie die Strapazen eines längeren Ritts überstanden, vermochte niemand zu sagen. Luxon stellte einen Fuß in den Steigbügel und rief drängend: »Wir reiten weiter!« »Aber auf keinen Fall entlang der Pilgerstraße«, schränkte Socorra ein. »Nein. Abseits der Straße der Elemente! An die Spitze, Socorra. Lasse dir von Syreno helfen.« 269
»Ich habe verstanden!« Socorra und Syreno lenkten ihre Tiere nach rechts, in die Richtung der bewaldeten Zone zwischen den kleinen Hügeln und den felsigen Einschnitten. Ihnen folgten deutlich langsamer die vier Überlebenden. Kalathee und Samed zerrten an den Zügeln schwerbepackter Lasttiere. Griffo übernahm mit gezogenem Schwert den Schluß der schweigenden Karawane. In den Gesichtern der Überlebenden standen Schrecken und Wut auf die Soldaten des Shallad. Sie hatten Luxon gesucht und Unbeteiligte erschlagen und getötet. »Ein Bild des Schreckens«, sagte Luxon leise und wartete, bis Griffo an ihm vorbeigeritten war. Dann warf er einen letzten Blick auf das Chaos, das sie hinter sich zurücklassen mußten. Die Geier, inzwischen mindestens vier Dutzend, fuhren in ihrem grausigen Geschäft fort. Binnen weniger Tage würde es hier kein Fleisch mehr geben, und eine Anzahl neuer Skelette würde entlang der Straße bleichen und langsam zerfallen. Luxon gab sich einen Ruck, rammte seinem Hengst die Hacken in die Seiten und ritt hinter seinen Leuten her. Die Zweige von Büschen, an deren Blattenden Wassertropfen funkelten und glänzten, bewegten sich. Dann waren die Reiter verschwunden. Einige Zeit später war Kalathee an Luxons Seite und betrachtete ihn schweigend. Endlich sagte sie: »Wir wären von der Übermacht der Shallad-Krieger zweifelsfrei ebenso besiegt worden. Obwohl weder dich noch mich in unserem veränderten Aussehen jemand erkannt hätte.« »Der Befehl des Shallad war wohl eindeutig: Macht alle nieder. Unter ihnen wird dann auch Luxon sein.« »Du meinst«, fragte sie zögernd, »daß sie glauben, auch du befändest dich unter den Leichen?« »Ich vertraue nicht darauf«, antwortete er hart. »Ich bin wild 270
vor Haß. Der Shallad wird auch dafür bezahlen.« Der Überfall hatte ihm gegolten. Keiner der Überlebenden dachte etwas anderes. Sie alle – abgesehen von den vier, die man für tot hatte liegengelassen und die ohne Luxon und Kalathee von den Geiern zerfleischt worden wären – waren durch den Ritt zu Fafhads Herrn gerettet worden. Nun waren sie wieder auf sich allein gestellt. Dies war ein ebenso großer Nachteil, wie es ein Vorteil sein konnte: Zehn Reiter konnten sich leichter und besser verstecken als fünfzig. »Bevor du an Rache denken kannst«, beschwor ihn die junge Frau flehentlich, »wirst du ununterbrochen von den Häschern Hadamurs gejagt werden. Denn auch sie glauben nicht, daß du getötet wurdest. Es wäre gegen jede Erfahrung – und das sage ich dir, eine Frau, die das Kriegshandwerk nicht versteht.« »Du hast sicher recht«, gab er unbewegt zurück. »Ich rechne fest damit, daß wir gejagt werden. Aber du hast kleine Wunder vollbracht mit unseren Freunden. Sie scheinen auf magische Weise stärker geworden zu sein.« »Roter, starker Wein und einige Kräutersäfte lassen sie die Erschöpfung und den Blutverlust vergessen. Hoffnung und der Wunsch, gesund zu werden, sind die besten Helfer.« »Danke«, sagte Luxon. Noch hatte er die unüberwindlichen Waffen des Lichtboten. Auch gegen eine Übermacht waren sie wirksam, wie er mehrmals sich selbst und seinen Angreifern bewiesen hatte. Aber würden sie, diese kleine, wenig bewegliche Gruppe, den langen Weg nach Logghard durchstehen? Er war nicht sicher, ob er die lauernden Gefahren der nächsten Tage richtig einschätzte. Trotzdem verlangte er von keinem der neun Freunde, die ihm verblieben waren, daß sie sich von ihm trennen sollten. Die Wirkung der Salbe der Tausend Monde ließ in den 271
Stunden nach, die sie abseits der Straße in südlicher Richtung zurücklegten. Es wurde dunkel. Socorra fand eine Schlucht, die in einem versteckten Kessel endete. Zwei Felsblöcke und ein Wall aus Steinen verschlossen den Spalt in den Felsen. Im Kessel gab es Gräser, eine winzige Quelle und eine Vertiefung im Boden, in dem sich kristallklares Wasser sammelte. In dieser Nacht, beim Schein eines winzigen, rauchlosen Feuers, schliefen sie alle tief und lange. Die Wachen, die sich alle drei Stunden ablösten, hörten kein einziges Zeichen der Verfolgung. Die Frau und die Männer badeten in dem kalten Wasser, aßen und tranken in Ruhe, und auch die Tiere wurden von Sätteln und Lasten befreit und so gut versorgt, wie es nur irgend möglich war. »Und trotzdem«, sagte Luxon leise, der mit Alton in den Armen auf dem obersten Felsblock saß und das Gesicht des schlafenden Samed betrachtete, »ist es nichts anderes als ein kleiner Aufschub. Die Jagd geht weiter, wenn es Tag geworden ist.« Ein letzter nächtlicher Windstoß, begleitet von einem zögernden Schauer aus Regentropfen, rauschte über die Schlucht und löschte die aufzischenden Reste des Feuers. Luxon sah zwischen den Wolken einige Sterne auftauchen. Für ihn stellten sie aber keine Zeichen der Hoffnung dar. Vielleicht war er, wenn er wieder aufwachte, ein wenig zuversichtlicher geworden. Noch immer hatte er seinen Mut, seine Entschlußkraft und die Waffen des Lichtboten.
Die Hufe der Pferde und die scharfen Klauen des Orhakos polterten auf dem feinen Geröll der Schlucht. Das Prusten und Schnauben, das Knarren der Sättel und das Klirren der Waffen waren seit Stunden die einzigen Geräusche. Luxon führte die 272
Gruppe an, neben ihm ritt der Pfader. Obwohl die Menschen ausgeschlafen und die Reittiere ausgeruht waren, kamen die Überlebenden des Massakers nicht schnell genug voran. Die Schlucht, in die sie ausgewichen waren, wand sich im Zickzack abseits der Pilgerstraße nach Süden. Seit sie im ersten Tageslicht aufgebrochen waren, hatten sie keinen einzigen Menschen gesehen. Einige Geier schwebten noch im grauen Himmel und verschwanden aus dem Blickfeld der Reiter, als sie in die Schlucht einritten. Aus den Wänden fielen in bestimmten Abständen kleine Steinbrocken und Felssplitter. Sie zerbarsten klirrend zwischen den Pferden im Schutt. Luxon hob immer wieder den Kopf und lauschte nach vorn und nach hinten. Seine Augen beobachteten die Ränder der Schlucht über ihnen. Aber nur Tiere huschten dort umher, einige Skorpione turnten durch den Fels, und Spinnen ließen sich an ihren silbernen Fäden von den hervorstehenden Wurzeln und Ästen kleiner Bäume herunter. »Wir haben es wieder einmal geschafft«, sagte Socorra grimmig. »Wir sind ihnen für heute entkommen. Meinst du, daß sie uns suchen?« Die Runzeln in den Gesichtern von Kalathee und Luxon waren längst vergangen. Beide sahen sie wieder genau so aus, wie Algajar sie den Kriegern des Shallad geschildert hatte. Jeder würde sie sofort erkennen. »Ich bin sicher, daß sie uns suchen. Es ist noch die Frage, ob sie genau wissen, daß wir nicht unter den Überfallenen sind.« »Daß keine Frau unter den Toten war, haben sie sicher festgestellt!« murmelte Socorra. »Und sie kennen die Wege und die Verstecke abseits der Straße weit besser als du. Ist es nicht so?« fragte Luxon zurück. »Ich fürchte, daß es sich so verhält«, antwortete Socorra. »Bisher haben sie uns noch nicht gefunden.« 273
Socorra wußte, daß die Schlucht nach einem Ritt von mehr als fünf Stunden anstieg und in flacheres Gelände überging. Steppenartige Abschnitte schlossen sich an und immer wieder Felsen, Höhlen, Schluchten, Hänge und Berge. Aber auch Socorra kannte nicht jeden einzelnen Pfad. Er hob den Arm und winkte zu Syreno nach hinten. »He, Rebell!« rief er. »Kannst du uns nicht helfen, schneller hier herauszukommen?« »Wir sind auf dem schnellsten und kürzesten Weg. Ich kenne die Verstecke erst wieder am Ende dieser Schlucht. Ich habe erlebt, wie nach einem langen Regen hier ein reißender Fluß schäumte.« »Mir wäre ein eiskalter Wasserfall lieber als die Reiter des Shallad«, meinte Luxon und wandte den Kopf, um Kalathee ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Hinter der zurückliegenden Biegung der Schlucht blitzte etwas auf. Luxon erstarrte, seine Hand fuhr zum Schwert. Sein Blick irrte an Kalathee und den anderen Reitern vorbei, an den Federn und den Laufbeinen des Orhakos. Um die Biegung kam ein Reitvogel mit ausgestrecktem Hals und weit aufgerissenem Hakenschnabel. Auf seinem Rücken saß ein Krieger, auf dessen Brust das Zeichen des Shallad zu sehen war, der Schwertmond. »Sie haben uns entdeckt!« rief Luxon und gab seinem Tier die Sporen. Die Gruppe wurde binnen weniger Galoppsprünge schneller und preschte durch die enge Schlucht. Die Hufe schleuderten wirbelnd Steine nach allen Seiten. Auch die verwundeten Reiter blickten nach hinten und erkannten, daß sie entdeckt worden waren und verfolgt wurden. Schreie gellten auf. »Dort sind sie! Es müssen die Reiter sein, die uns 274
entkommen sind!« »Sie sind es! Seht den Helm an. Ihnen nach!« Eine Gruppe von sechs oder sieben Orhakoreitern stob zwischen den Felsen hervor. Mit wenigen Blicken erkannten die erfahrenen Krieger des Shallad, daß es sich um leichte Beute handelte. Mit schrillen Schreien feuerten sie ihre Tiere an. Die Orhaken ließen sich von der Aufregung anstecken und kreischten wütend. »Bei der Schwarzen Hand von Logghard!« stieß Socorra hervor. »Jetzt gilt es, sich zu wehren. Wir sind in der gleichen schlechten Lage.« Er richtete sich im Sattel auf, nahm den Bogen von der Schulter und griff in den Köcher. Hinter ihm preschten die Flüchtenden über den Boden der gewundenen Felsenschlucht. Hinter den ersten Vogelreitern des Shallad kamen weitere Krieger zum Vorschein. Ihr gellendes Geschrei und das Kreischen der Vögel hallten zwischen den Felsen wider. Socorra zielte auf den ersten Reiter, dessen Tier in rasendem Lauf näher herantrabte. Die Krallen rissen kleine Krater in den Sand und das Kieselgeröll. Dann schwirrte der Pfeil von der Sehne, jagte zwischen den Reitern hindurch und bohrte sich in die Brust des Verfolgers. Der Krieger verlor seinen Halt, riß beide Arme in die Höhe und wurde aus seinem Sattel geschleudert. Luxon wartete auf eine Möglichkeit, die Waffen des Lichtboten sinnvoll einzusetzen. Er federte die Stöße des Pferdekörpers mit den Knien ab und sagte sich, daß sie der Übermacht der Krieger nicht viel entgegenzusetzen hatten – außer den Waffen Mythors. »Schneller! An mir vorbei!« schrie er und befestigte den Sonnenschild am Sattelknauf. Auch er griff nach dem Bogen und rückte den Mondköcher zurecht. Die Befiederung eines Pfeiles lag zwischen seinen Fingern; er drehte sich halb im 275
Sattel und legte den Pfeil auf die Sehne. Kalathee und Samed sprengten, die Packpferde hinter sich herzerrend, an ihm vorbei. An dieser Stelle wurde die Schlucht immerhin so breit, daß zwei Reiter ohne Schwierigkeiten nebeneinander passieren konnten. »Weiter! Bringt euch in Sicherheit!« schrie Luxon den verwundeten Reitern zu. Sie spornten ihre Pferde. Wieder heulte ein Pfeil Socorras durch die Schlucht und bohrte sich dicht unter der Kehle in einen massigen Reitvogelhals. Blutend und um sich schlagend brach das Tier zusammen, schleuderte seinen Reiter über sich hinweg gegen die Felsen, und zwei nachfolgende Reiter ritten mitten in dieses Knäuel aus Beinen, Hälsen und umherfliegenden Waffen hinein. Der erste Pfeil aus dem Mondköcher löste sich von der Sehne. Schwach blinkte der Zielstein vor Luxons Augen. Das Geschoß beschrieb eine fast gerade Bahn und zersplitterte dicht neben dem Krieger am Fels. »Ich? Ein Fehlschuß?« knurrte Luxon mehr als verwundert. Es war für ihn undenkbar, denn auf diese kurze Entfernung hätte ein schlechterer Schütze besser getroffen. Wieder riß er einen Pfeil aus dem Köcher und hörte die Federn gegen das Leder schlagen. Zunächst maß er dieser Beobachtung keine Bedeutung bei und feuerte den Pfeil ab. Hart schlug die Sehne gegen das Leder seines linken Unterarms. Der Pfeil heulte durch die Luft, verfehlte die Körper von zwei Kriegern und schwirrte zwischen ihnen harmlos und unschädlich davon. Ein stechender Schmerz fuhr durch Luxons Kopf, und er war nahe daran, sich den Helm der Gerechten vom Schädel zu reißen. Aber er biß die Zähne aufeinander und hoffte, noch einen Schuß anbringen zu können. Er blickte über die Schulter und in die Öffnung des Köchers hinein. Er sah nur noch ein Dutzend Pfeile. Die Enden und die Federn waren überraschend deutlich zu erkennen, als 276
sie gegeneinanderschlugen. Noch einmal zog Luxon einen Pfeil heraus und legte ihn auf die Sehne. Die Reitvögel und die Krieger, die einen wirren Haufen bildeten und schreiend versuchten, auf die Beine zu kommen und sich zu trennen, versperrten noch immer die Schlucht. Die rund fünfzig Krieger, die hinter ihnen zwischen den Felsen ritten, standen ungeduldig da, rissen an den Zügeln der Orhaken und fluchten. Es war also noch Zeit für einen Schuß. Der letzte der Flüchtenden war an Luxon vorbeigeritten. Die verwundeten Reiter sammelten sich um Kalathee. Luxon spannte den Bogen, zielte sorgfältig und schoß. Der Pfeil traf sein Ziel nicht. Er ging viel zu weit vorbei, als daß es noch ein Zufall gewesen sein konnte. Der Druck in Luxons Schläfen und das lautlose Kreischen in seinem Kopf hörten nicht auf, kamen und gingen in langen Wellen. Die Pfeile im Mondköcher werden weniger! Ich treffe mit den Pfeilen nichts! Der Helm der Gerechten verursachte ihm Schmerzen und ein unerklärliches Dröhnen. Luxon riß mit einem unterdrückten Fluch sein Pferd herum und warf, als er sich tief über den Hals duckte, den Bogen auf die Schulter. Die Worte des Großen kamen ihm in den Sinn. Er folgte seinen Leuten und holte sie ein. Sie hatten sich an der ersten Stelle versammelt, an der eine Gruppe von Reitern zwischen den Felsen nebeneinander Platz fand. Die Männer trugen die blanken Schwerter und die Schilde in den Händen. Socorra schoß dem ersten Angreifer, der sich aus dem Haufen gelöst hatte, einen Pfeil in die Brust. Luxon nahm den Sonnenschild vom Sattel, schob den Unterarm durch die Griffe und hob den Schild an. Er richtete ihn gegen die drei Reiter, die auf ihn losstoben. Sie hätten von ihrer eigenen Angriffslust überwältigt und geblendet sein 277
müssen, aber ungehindert trabten die Orhaken näher. Socorra konnte noch einen Pfeil abschießen, und Syreno schleuderte seinen letzten Speer. Beide Geschosse trafen und verschafften den Flüchtenden eine kurze Pause. Der Sonnenschild wirkt nicht! Die Worte des Großen! Seine Drohung! Verzweiflung packte Luxon. Er sah ein, daß die Waffen nicht wirkten. Keine einzige hatte bisher die Wirkung gezeigt, die er sich von ihr versprochen hatte und die sie sonst in seinen Händen auszeichnete. »Flucht!« schrie er. »Ich kann sie nicht aufhalten.« Der Sonnenschild nützte nichts. Drei Reiter trabten heran und wurden nicht im geringsten beeindruckt. Für sie war es ein Schild wie jeder andere. Luxon zog das Gläserne Schwert und wußte, daß dieses Schwert nichts anderes sein würde als eine einfache, wenn auch hervorragend ausgewogene Waffe und daß der Schild ihn nur vor Verletzungen schützen konnte. Er wandte verzweifelt den Kopf und versuchte, den Druck hinter den Schläfen zu vergessen. »Kalathee! Samed!« rief er. »Reitet weg! Schnell! Syreno soll euch führen und in Sicherheit bringen.« »Ich bleibe hier und kämpfe gegen die dort!« sagte der Vogelreiter entschlossen und deutete mit der Spitze des Schwertes auf die Verfolger. Die ersten von ihnen waren auf weniger als Bogenschußweite herangekommen. »Zurück, Luxon!« rief einer aus seiner Gruppe. »Sie haben es auf dich abgesehen.« Luxon kümmerte sich nicht darum. Er riß am Zügel und sprengte auf die Reiter los. Sie thronten förmlich über ihm in der Höhe ihrer Sättel. Alton, dessen Griff in seinen Fingern zu glühen schien, zuckte abwärts und aufwärts. Die Hiebe der Krummschwerter prasselten wuchtig auf den 278
Sonnenschild herunter. Luxons Hiebe waren fast immer wirkungslos. Sein Pferd sprang zwischen den hackenden Schnäbeln der Orhaken hin und her, bäumte sich auf und keilte aus. Luxon vermochte nur, einige Männer zu verwunden, und es waren leichte Verwundungen. Gerade als ein Krieger einen blitzschnellen Schlag nach Luxons Kopf führte und ein Horn des Helms streifte, traf ihn ein Pfeil des Pfaders. »Zurück, Luxon!« dröhnte seine Stimme auf. Luxon folgte, so schnell er es vermochte, diesem Rat. Er konnte nichts ausrichten. Mit einem Schwert, dessen Griff seine Finger zu versengen drohte, gab es keinen Kampf und erst recht keinen Sieg. Er rettete sich mit einem scharfen Galopp, der ihn in die Mitte seiner Leute brachte. Er war in Panik geraten, als sein Pferd herumwirbelte und sich die übriggebliebenen Männer aus Sarphand und der Rebell zum Kampf stellten. »Du, Luxon, bringst Kalathee und den Jungen in Sicherheit«, sagte der Pfader entschlossen. Luxon kannte diesen Tonfall. Er würde diesen harten Mann nicht umstimmen können. »Der Große hatte recht«, sagte er niedergeschlagen. »In meinen Händen sind die Waffen wirkungslos.« Aber warum hatte Alton seine Kraft noch beim Kampf in der Höhle des Stummen Großen gezeigt? Es gab für ihn – noch! – keine Erklärung. »Ich fliehe nicht«, sagte Luxon schwach. »Ich kann euch nicht allein hier zurücklassen.« Syreno deutete auf die heranstürmenden Reiter und schrie in blindem Zorn: »Du kannst uns nicht helfen. Wir halten sie auf, und dann folgen wir euch. Wir finden euch, keine Sorge. Geht endlich!« Der Kopf schmerzte, der Sonnenschild wurde schwerer und schwerer, und das Brennen des Schwertgriffs ließ nach. »Wir 279
ziehen uns zurück«, sagte er. »Ich kann schließlich noch mit Felsbrocken werfen. Hinter mir her! Socorra, du achtest auf den Weg.« »Einverstanden«, sagte der Pfader. Kalathee, Samed und Luxon hetzten davon. Die anderen Reiter folgten etwas langsamer. Ab und zu gaben sie einen Schuß ab, der die Verfolger aufhielt. Die Geschwindigkeit der Tiere steigerte sich. Im Zickzack ging es durch die enge Schlucht, deren Boden sich unmerklich hob. An den Rändern der Schlucht tauchten größere Bäume auf, deren mächtige Zweige tief in den Spalt hineinhingen. Keuchend, gelben Schaum vor den Mäulern, galoppierten die Pferde weiter. Das Licht änderte sich, ein Halbdunkel umfing die Reiter, zugleich mit einer beruhigenden Kühle. Beruhigung gab es nicht für Luxon. Der Sohn des Shallad hatte in furchtbarer Wahrheit erkennen müssen, daß die Worte des Großen die Wahrheit ausdrückten. Mythors Waffen hatten ihm kein Glück gebracht. Sie hatten eigenes Leben entwickelt und sich gegen ihn gekehrt. Das Schreien und Trampeln der Hufe und Klauen hinter Luxon wurde leiser. Noch merkte er es nicht mit vollem Bewußtsein. Kurze Zeit später, als sich Luxon umdrehte, mußte er erkennen, daß die anderen Reiter zurückgeblieben waren. Siedendheiß durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß sie dies absichtlich getan hatten. Sie wollten den Verfolgern einen Hinterhalt legen und sie davon abhalten, ihn weiterhin zu hetzen. Einige Augenblicke lang zögerte er. Was sollte er tun? Wenn er umdrehte und sich den Orhakoreitern zum Kampf stellte, würde er mit dieser widerspenstigen Ausrüstung mit Sicherheit den Tod finden. Es war Selbstmord, wenn er sich zum Kampf stellte. Er ritt weiter und hörte verschwommen hinter sich wütenden Kampflärm: das Klirren von Schwertern, 280
die kreischenden Todesschreie von Orhaken, die lauten Flüche, die jemand aus Sarphand ausstieß. Dann ein langgezogenes Ächzen und das Geräusch polternd fallender Steine. »Die Übermacht ist zu groß. Sie werden es nicht schaffen…«, sagte er zu sich selbst und ritt weiter. Er überholte Samed, dann Kalathee, und abermals hob sich der Boden der Schlucht. Aber noch lange war das ehemalige Flußbett nicht zu Ende. Zwar erschienen immer mehr grüne Gewächse an beiden Seiten des breiten Bandes aus Sand und feinem Gestein, aber weder nach rechts noch nach links gab es einen Ausweg. Seine Freunde opferten sich! Ihr Entschluß war freiwillig gewesen. Vielleicht sagten sie sich, daß sie ohnehin angesichts der haßerfüllten Krieger, dieser Übermacht der Reiter, würden sterben müssen. Vielleicht zogen sie ein schnelles Ende vor. Selbst der Pfader Socorra, der keiner der Freunde LuxonCroesus’ aus Sarphand gewesen war, sondern ein bezahlter Wegekundiger aus diesem Land – Luxon schüttelte sich und schwor sich, diese Rechnung nicht unbeglichen zu lassen. Die Reiter hatten sich an der schmalsten Stelle der Schlucht entschlossen, die Männer des Shallad aufzuhalten. Syreno trieb sein Orhako zurück, hob den Schild bis unter das Kinn und wartete, bis der erste Verfolger heran war. Dann entbrannte ein harter, erbarmungsloser Kampf. Beide Krieger waren gleich stark und wendig. Die Hiebe prasselten auf die Schilde und schlugen tiefe Kerben. Die Schnäbel der Reitvögel schlugen den Reitern tiefe Wunden. Klirrend trafen sich die Klingen. Aber ein nachfolgender Orhakoreiter stob heran, eine lange Lanze gefällt, die am Körper seines Kameraden vorbeizischte und sich im Stoß tief in Syrenos Brust bohrte. Der Rebell starb, während er den Halt im Sattel verlor. Ein zweiter Lanzenstich beendete das Leben des Reitvogels. Die Krieger trieben ihre 281
Tiere über die zusammenbrechenden Körper hinweg und sahen sich Socorra gegenüber. Er spannte seinen Bogen und schoß. Der Köcher, fast leer, hing am Sattelhorn. Unerschütterlich wartete Socorra auf die besten Augenblicke. Er hatte noch vier Pfeile, und jeder Pfeil traf sein Ziel. Vier Krieger kippten schwer verwundet oder tot aus den Sätteln. Die herrenlosen Orhaken trabten weiter, durchbrachen die Linie der Verteidiger, und eines von ihnen tötete einen der verwundeten Männer. Dann schleuderten zwei Reiter, die nebeneinander herantrabten, ihre Lanzen. Die Männer verbargen sich, den Schild vor ihrer Brust, hinter den Hälsen der Vögel. Eine Lanze konnte Socorra zur Seite schmettern. Er hatte den nutzlosen Bogen fallen lassen und das Schwert gepackt. Die zweite Lanze, deren Blatt so groß wie eine Männerhand war, bohrte sich in die Brust des Pfaders und tötete ihn. Mit einem Felsbrocken zerschmetterte Griffo einem Reiter den Schädel. Dann war die Masse der Verfolger heran. Auf dem freien Platz zogen sich die Tiere in eine breite Reihe auseinander. Mit grimmiger Wut, die sich in heiseren Schreien austobte, schlugen die Krieger mit dem Wappen des Schwertmonds die verwundeten Reiter, die sich nur schwach wehren konnten, nieder. An der Stelle des Kampfes bildete sich zwischen den Felsen ein Wall aus Leibern. Die rasenden Tiere, deren Verwundungen schmerzten, schlugen um sich und hackten nach allem und jedem. Einige Krieger des Shallad zwangen ihre Orhaken dazu, in weiten Sätzen über diese Barriere zu springen. Die Männer verständigten sich mit schrillen Schreien, und mindestens zwei Dutzend von ihnen nahmen augenblicklich die Verfolgung wieder auf. »Luxon ist uns entkommen! Hinterher!« »Ich habe deutlich seinen Namen gehört!« 282
»Und er hat die Frau bei sich – er ist es!« »Wir bringen dem Shallad den Kopf!« Die Schlucht verengte sich wieder, das Geröll wurde kleiner, und die Klauen der rasenden Reitvögel fanden besseren Halt. In einer langen Reihe trabten die Orhaken weiter. Sie ließen sich von der Erregung ihrer Reiter anstecken; immer übertrugen sich die Stimmungen der Reiter auf die Vögel. Die Orhaken waren leicht erregbar, und die Wut und der Kampfeifer der wilden Krieger steigerten das Tempo der Laufvögel. Ihr Kreischen schien die Wände der Schlucht sprengen zu wollen. Über ihren Köpfen und den Helmen der Krieger bewegten sich zitternd die Blätter der Bäume. Die ShalladSoldaten wußten, daß die lauten Geräusche der Verfolgung die drei letzten Reiter aufmerksam machen würden, aber sie konnten die Orhaken nicht beruhigen. Sie kannten den Ausgang der Schlucht. Spätestens in freiem Gelände, zwischen den Bäumen und Hecken der schmalen Savanne, würden sie Luxon stellen und töten. Das Trommeln der zwanzig Hufe änderte sein dumpfes Geräusch. Eben noch hatten die Hufe kleine Steine auseinandergetreten, jetzt griffen sie in schwarzes, stinkendes Moos. Und in diesem Moment kamen die Pferde auf lehmigen Boden, den die Trockenheit in ein netzartiges Muster verwandelt hatte. Luxon, Kalathee und Samed beugten sich tief über die Rücken der Pferde. Ihre Ohren nahmen undeutlich das Lärmen der Verfolger wahr; das Kreischen und das Tappen der Klauenfüße. »Sie sind noch immer hinter uns, Luxon«, jammerte Samed und sah sich immer wieder um. Aber in der gewundenen Schlucht sahen auch die Verfolger nicht weiter als einen Steinwurf. 283
»Das wird sich auch nicht ändern. Sie wollen meinen Kopf!« rief Luxon zurück. Sein Pferd fand seinen Weg von selbst und hielt sich klug genau in der Mitte zwischen den schroffen Felswänden. »Deinen Kopf auf einer Lanze!« schrie Kalathee. Auf dem harten Untergrund, der wie fester Stein wirkte, hinterließen die Pferde nur sehr schwache Spuren. Aber auch dieser Umstand half den Flüchtenden nicht. Ein schriller, trillernder Pfiff ertönte von vorn. Wir sind umzingelt! dachte Luxon und riß den Kopf hoch. Die Erregung und die Furcht vor dem nahen Ende ließen ihn die Schmerzen vergessen, die, vom Helm der Gerechten ausstrahlend, durch seinen Schädel tobten. Zwischen dornigen Büschen und Krüppelbäumen stand ein Reiter. Noch ehe Luxon das Gesicht des Mannes erkannte, sah er das knollenartige Ende von Fafhads Gehstock. Dann erst sah er das schwarze Haar, die dunkle Haut und den struppigen Bart des Gomalen. Fafhad winkte. Er war einen Bogenschuß weit entfernt und drehte langsam sein Pferd herum. Es mußte das Tier sein, das ihm Luxon geliehen und das sich auf dem Rückweg von der Totenkopfhöhle losgerissen hatte. »Dort ist Fafhad!« schrie Kalathee auf, aber Luxon handelte bereits. Er zügelte sein Pferd, galoppierte hinunter von dem schmalen Sandstreifen und zurück auf den mosaikartig zerrissenen Boden. Kalathee und Samed folgten ihm mit den Packpferden. Das plötzliche Erscheinen Fafhads konnte nur etwas Gutes bedeuten. Die Pferde gehorchten und beschrieben mit klapperndem Hufschlag einen engen Bogen. Dann fielen sie in Trab zurück und wurden genau auf die Stelle zugetrieben, an der Fafhad mit seinem Gehstock winkte. 284
»Kommt! Ich bringe euch in Sicherheit!« rief er drängend. Woher wußte er, daß Luxon bis hierher kommen und nicht in der Mitte der Schlucht getötet würde? Luxon verdrängte diese Gedanken. Die Zweige bogen sich nach vorn und peitschten den Nachfolgenden in die Gesichter und gegen die Flanken der Pferde. Dornen kratzten an der Kleidung. Nacheinander verschwanden die Reiter in der schmalen Lücke des Gestrüpps. Das Schreien aus der Schlucht hörte nicht auf. »Ihr dürft euch nicht aufhalten. Ich führe euch zuerst in eine Höhle, in der wir warten können!« sagte Fafhad. »Schnell! Folgt mir!« Nach einigen Mannslängen Gestrüpp und Büschen zeigte sich so etwas wie ein Pfad, nicht mehr als ein freier, steiniger Platz zwischen den Dornenranken. Fafhads Pferd kletterte keuchend über einen Schutthügel und verschwand auf der anderen Seite. Die Reiter folgten schweigend, während hinter ihnen die Geräusche aus der Schlucht anschwollen und sich drohend näherten. Die herantobenden Orhakoreiter bewiesen Luxon, daß seine Leute ihren letzten Kampf hinter sich hatten. Ihnen verdankte er, den sie als Sohn des Shallad anerkannten, sein Leben. Aber noch war die Hetze nicht beendet, noch lange nicht. Fafhad wandte sich um und rief unterdrückt: »Mein Herr schickt mich, obwohl du nicht getan hast, was er forderte. Du hast sein Leben geschont, und er befahl mir, euch zu führen.« Die Pferde bewegten sich schwitzend und schäumend auf den Eingang einer Höhle zu. Sie war von langen Rankengewächsen nur schlecht getarnt. Fafhad schob mit seinem Stock die Pflanzen zur Seite und deutete ins Innere. Die Reiter verschwanden in der Dunkelheit. Sofort wurde der Hufschlag von einem dicken Pflanzenpolster gedämpft. Es wurde völlig dunkel, als Fafhad die schwankenden Schnüre 285
der Pflanzen zurückfallen ließ. Er tastete sich an Luxon und den Pferden vorbei und sagte: »Die Shallad-Reiter werden erst am Ausgang der Schlucht merken, daß du an einer anderen Stelle geflohen bist. Die Höhle hat mehrere Ausgänge. Bleibt hinter mir und duckt euch.« »Wir danken dir«, antwortete Luxon und streckte den Arm aus. Dann fielen die Schmerzen des Helms der Gerechten wieder über ihn her, und er löste das Kinnband des gehörnten Helmes. Als der Helm in seinem Nacken baumelte, hörten Schmerzen und sägendes Kreischen im Innern seines Kopfes schlagartig auf. »Ich kenne hier jeden größeren Stein«, kam die heisere Stimme des gomalischen Beschützers aus dem Dunkel. »Ich bin ortskundig und kenne Schleichwege. Aber schon jetzt sage ich euch, daß es nicht leicht sein wird. Die Reiter des Shallad werden nicht eher ruhen, bis sie deinen Kopf haben.« »Dessen sind auch wir überzeugt«, antwortete Luxon und spürte, wie Fafhad den Zügel seines schweißnassen Pferdes ergriff. »Warum tust du das alles für uns?« Fafhad schwieg einige Zeit und führte die Reiter durch die dunkle Höhle. Die Augen gewöhnten sich an die anderen Verhältnisse des Tageslichts. Undeutlich waren einzelne Konturen zu sehen. Die Höhle schien ein längerer Spalt im Fels zu sein, der sich immer wieder verbreiterte und verengte. Stickige Luft, die nach Pilzen, Nässe und Verwesung roch, erfüllte die Kaverne. »Teilweise aus eigenem Entschluß, Luxon«, antwortete Fafhad schließlich. »Und auch deshalb, weil sich die Stummen Großen noch immer erhoffen, daß du einsichtig wirst. Es wäre ihnen ein leichtes, dich an den Shallad zu verraten.« »Das ist sicher«, durchschnitt Kalathees helle Stimme die gedämpfte Ruhe der Höhle. 286
Sie hatten inzwischen rund eine Entfernung zurückgelegt, die einer Bogenschußweite entsprach. Mit Sicherheit konnten sie nur sagen, daß sich die Tiere schräg aufwärts bewegt hatten. Aber da sich die Richtung ständig änderte, konnte es durchaus sein, daß die Flüchtenden sich im Kreis drehten und auf derselben Seite aus dem Felsen hervorkommen konnten, an der sie das Versteck betreten hatten. Die Unruhe, die Luxon seit dem Aufwachen an diesem Morgen ergriffen hatte und in seinem Körper hockte wie ein Dämon, lockerte sich nicht. Er rechnete noch immer mit dem Schlimmsten, mit dem Tod seiner beiden Begleiter und seinem eigenen. »Das ist keine Erklärung, die mich zufriedenstellt, Fafhad«, entgegnete Luxon. »Ich danke dir wirklich von Herzen, daß du uns drei vorläufig gerettet hast. Ich meine es ehrlich! Aber ich erinnere mich ebenso deutlich an die Worte, die du für mich übersetzt hast.« Samed und Kalathee wußten, wovon er sprach. Er hatte es ihnen in der letzten Nacht am Lagerfeuer berichtet. »Die Großen werden dich nicht an den Shallad verraten, wenn du nicht gerade ein Verbrechen begehst. Ich bin und bleibe dein Führer und Pfader, gleichgültig, wie deine Entscheidung lautet. Ich muß gestehen, daß es auch mich freuen würde, wenn Mythor auf dem Umweg über meinen Herrn die Waffen des Lichtboten zurückbekäme.« Fafhad ist kein einfacher Gomale. Seine Zunge ist wieselflink, und er weiß mit Worten trefflich umzugehen, sagte sich Luxon. Trotzdem glaubte er dem Dunkelhäutigen. »Ich habe wohl gemerkt«, sagte Luxon, »daß in den Worten des Stummen Großen etwas Wahres lag.« Heiser lachte Fafhad. Er schien zu wissen, daß die Waffen versagt hatten. Hatte er dem Versuch des Kampfes zugesehen, der Luxon davon überzeugt hatte, daß die Lichtboten-Waffen ihm nicht gehorchten? Diese Fragen würden sich bald geklärt 287
haben. »Du neigst dazu, den Dingen deinen Willen oder besser deine Sicht aufzuzwingen. Nun, es gibt Dinge, die kannst selbst du nicht ändern. Aus Tag wird nicht Nacht, nur weil du es so möchtest. Ich möchte natürlich trotzdem wissen, zu welchem Entschluß du gekommen bist.« »Ich weiß es noch nicht. Ich brauche Zeit zum Überlegen«, sagte Luxon. »Wie weit ist es noch zum Ausgang?« »Nicht mehr weit. Sind noch alle hinter dir?« »Wir sitzen im Sattel und leben noch«, sagte Kalathee. »Bald sind wir wieder im Sonnenlicht. Wie lange wirst du brauchen, um dich zu entschließen?« »Ändert mein Zögern etwas an deinem Angebot?« erkundigte sich Luxon nachdenklich. Ein Windstoß fuhr ihnen entgegen. Undeutlich hoben sich die Umrisse des Pferdes und des Gomalen gegen eine schwache Helligkeit ab. »Nein. Nichts. Ich werde versuchen, dich sicher nach Logghard zu bringen. Oder so weit nach Süden, wie es sein muß. Zahllose Abenteuer liegen vor uns, und die wenigsten davon sind harmlos.« »Ich weiß es. Der Shallad sucht mich.« Luxon sah zu, wie der Gomale vorsichtig die Höhle verließ. Er schob Äste und Blätter zur Seite, sicherte schweigend nach allen Seiten und bedeutete den Flüchtenden, noch im Schutz der Höhle zu verharren. Durch das Blattwerk hindurch erkannte Luxon, daß vor der Höhle sich ein karges, savannenartiges Land erstreckte, mit einzelnen Inseln aus Bäumen und Buschwerk darin, mit sandigen Flächen und den Felsbrocken, ohne die der Landstrich undenkbar erschien. »Kommt. Ich sehe keine Orhaken.« Luxon bewegte seinen Hengst vorwärts und duckte sich tief unter den Zweigen. Vor der Höhle, im hellen Licht, blieben sie stehen. Ein Rudel von hirschähnlichen Tieren mit 288
gewundenen Hörnern lief ohne Hast am Rand des Blickfelds über den von dürrem Gras bedeckten Boden. Ein weiteres Zeichen dafür, daß sich an dieser Stelle keine jagenden Shallad-Reiter befanden. Die Waffen des Lichtboten! Luxon blickte zum Griff des Schwertes und berührte mit der Hand die Außenseite des Sonnenschilds. Ratlos hob er die Schultern. Fafhad bemerkte seinen Blick und nickte. Schweigend reichte Kalathee den Weinschlauch herum. Der Gomale nahm einen tiefen Schluck und fuhr mit dem Handrücken durch seinen Bart. »Deine Entscheidung, Luxon?« »Muß ich sie hier und jetzt treffen?« Der Gomale sah zweifellos, daß Luxon mit sich selbst kämpfte. Fafhad setzte voraus, daß sich Luxon freiwillig nicht von den Waffen trennen würde. Aber er sagte sich auch, daß eigentlich der letzte Beweis einem klugen und erfahrenen Mann, wie Luxon es ohne Zweifel war, hätte genügen müssen. Nachdrücklich schüttelte Fafhad den Kopf und trank einen zweiten Schluck. »Ich kämpfe mit mir«, sagte Luxon und schüttete sich Wein in die Kehle. »Ich lasse meine Entscheidung noch offen. Reiten wir weiter. Du wirst der erste Mann sein, der von mir erfährt, was ich tun werde.« »Einverstanden«, antwortete Fafhad ernst. »Wir sollten das Tageslicht nutzen und den Umstand, daß das Gelände vor uns anscheinend frei ist. Je weiter wir von den Shallad-Reitern entfernt sind, desto sicherer schlafen wir heute nacht.« Luxon verschloß den ledernen Schlauch und antwortete mit heiserer Stimme: »Die Jagd geht weiter, ebenso unsere Flucht. Führe uns an, Fafhad!« ENDE
289
Der nächste MYTHOR-Band Logghard, die Ewige Stadt, ist zum Greifen nahe. Seit 250 Jahren schon wird sie von den Mächten der Finsternis belagert. Bisher konnten die Krieger des Lichts dem Ansturm standhalten, wenn auch nur knapp: Mehrere Bezirke der Stadt befinden sich bereits in der Hand des Bösen. Geschieht kein Wunder, werden sich die Mächte der Finsternis über kurz oder lang der gesamten Stadt bemächtigen. Kann Mythor die Wende bringen? Noch ist der Sohn des Kometen in der Stadt. Wird er die letzte Etappe überwinden? Und sollte ihm das gelingen: Was kann er dort ausrichten, ohne seine magischen Waffen? Diese befinden sich noch immer in der Hand seines Rivalen Luxon. Wird der wahre Sohn des Shallad sich besinnen und Mythor die Waffen zurückgeben? Nur dann hat Mythor eine Chance, das Duell mit der Finsternis für sich zu entscheiden… Die Antworten auf diese Fragen gibt der nächste Band der MYTHOR-Serie:
DER DRACHENSEE
290
291
292
293