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Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
James Lowder David Raphael Flor Oliver Hoffmann Thomas Russow und Angela Voelkel Oliver Graute Brom
ISBN 3-935282-86-9 Originaltitel: Prince of Lies © der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2004. 1. Auflage 2004. Gedruckt in Pilsen, Oldenbourg Der Prinz der Lügen ist ein Produkt von Feder&Schwert. © 2004 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved. This material is protected under the copyright laws of the United States of America. Any reproduction or unauthorized use of the material or artwork contained herein is prohibited without the express written permission of Wizards of the Coast, Inc. Forgotten Realms and the Wizards of the Coast logo are registered trademarks of Wizards of the Coast, Inc., a subsidiary of Hasbro, Inc. All Forgotten Realms characters and the distinctive likenesses thereof are trademarks of Wizards of the Coast, Inc. U.S., CANADA, ASIA, PACIFIC & LATIN AMERICA Wizards of the Coast, Inc. P.O. Box 707 Renton, WA 98057-0707 +1-206-624-0933
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Für J. F. Marcolini für zwei Jahrzehnte Freundschaft
Gwydions Schicksal war besiegelt, doch er rannte trotzdem weiter. Er war vom Feldwebel seiner Kompanie, der ruhmreichen Purpurdrachen Cormyrs, »der Schnelle« getauft worden, und Gwydion hatte bisher noch jeden besiegt, der ihn je zu einem Wettrennen herausgefordert hatte. Er konnte von einem Ende der ausgedehnten Promenade in Suzail zum anderen spurten, ohne außer Atem zu kommen, während diejenigen, die seinen Titel beanspruchten, schon weit vor Vangerdahasts Turm – noch nicht einmal auf halber Strecke – schnaufend zurückfielen. Als Späher während des Kreuzzugs war er drei tuiganischen Kavalleristen entwischt, um König Azoun Meldung zu machen. So unanfechtbar war sein Ruf, daß keiner von Gwydions Gefährten, die sonst eher skeptisch veranlagt waren, auch nur daran gedacht hatte, an ihm zu zweifeln, obwohl niemand sonst Zeuge dieser erstaunlichen Leistung gewesen war. Dennoch hegte selbst Gwydion Zweifel, ob seine Schnelligkeit ihn jetzt noch retten konnte – genausowenig, wie Cardeas unbezahlbarer Elfenbogen sie am Leben halten konnte; genausowenig, wie Aram Zottelbarts unzählige Zauber ihn aus unmittelbarer Gefahr retten
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[ PROLOG ]
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konnten. Nein, die Schwärme von Aaskrähen am stahlgrauen Himmel waren nicht nur wegen seiner gefallenen Kameraden, sondern auch seinetwegen gekommen. Während er hastig zum Fuß der Klippe hinabkletterte, warf Gwydion einen Blick nach oben in Richtung Plateau. Die Schatten des Zwielichts hingen über der Felswand, nur hier und da durchbrachen lange, glitzernde Eiszapfen oder Schneeflächen den Mantel der Finsternis, und am Anfang des Pfades stand vom Schein der hinter ihm untergehenden Sonne umgeben der Riese. Er ähnelte am ehesten einem Turm, wie er da auf dem hohen Felsvorsprung thronte – seine Stiefel waren kleine Torhäuser, seine Hände breite Balkone, sein Hörnerhelm war das spitze, zinnengekrönte Dach. Er stand reglos da und starrte Gwydion mit eisblauen Augen an. Dann sprang der Riese vorwärts. »Torms Herz!« keuchte Gwydion und sprintete davon, so schnell er nur konnte. Der fallende Gigant schien den Himmel auszufüllen, und sein Schatten verschlang den Fliehenden. Mit überraschender Wendigkeit stieß sich der Riese einmal, zweimal und schließlich ein drittes Mal ab, während er die steile, felsige Wand hinunterhetzte. Seine eisenbeschlagenen Stiefel ließen Felsblöcke um den vor Angst erstarrten Söldner herabregnen. Pulverschnee stob in die Luft, als die Felsen auf der Lichtung einschlugen. Die Aaskrähen suchten sich flatternd einen sichereren Aussichtspunkt; schwarze Punkte, die sich durch den schimmernden Schneenebel bewegten. Als der Riese landete, zitterte der Erdboden im Umkreis von Kilometern, und viele finstere Kreaturen im großen grauen Land Thar wurden aus ihrem unruhigen
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Schlummer gerissen. »Du Thrym nicht entkommen!« brüllte der Gigant, während er eine Streitaxt schwang, die mit den Federn von Greifen und Riesenadlern verziert war. Gwydion preschte über das offene Gelände, auf den schnellen Fluß zu, der ein paar hundert Meter entfernt war. Wenn er es bis zu dem Boot schaffte, das sie dort verborgen hatten, konnte er Thrym vielleicht abhängen. Wenn nicht ... Gwydion biß die Zähne zusammen und rannte. Die Lichtung fiel von der Klippe weg ab, die Neuschneedecke wurde nur von verstreuten Felsblöcken, knorrigen Eibengesträuchen und den Spuren des Weges durchbrochen, den sich Gwydion und seine zwei Schatzjägergefährten vor ein paar Stunden gebahnt hatten. Er hielt sich an diese Spuren, soweit es ihm möglich war, in der Hoffnung, den tiefen Schneeverwehungen und den Schlundlöchern, die sich unter dem Schnee verbargen, aus dem Weg zu gehen. Auf dem Weg zur Höhle des Riesen war Cardea in ein solches Loch gestolpert – eine besonders tiefe Erdspalte. Sie hätte wohl die Schuld für ihre schlechte Vorstellung gegen Thrym auf den verstauchten Knöchel geschoben, dachte Gwydion grimmig, wenn sie nicht zweigeteilt oben auf dem Plateau läge. Er warf einen Blick über die Schulter. Thrym polterte ihm nach, umgeben von einem Schneeschleier. Für jeweils fünf von Gwydions Schritten machte der Riese nur einen einzigen, und er holte nach wie vor auf. Als Gwydion schließlich die Spalte ausmachte, die Cardea so schlimm verwundet hatte, konnte er bereits den Gestank der unbehandelten Häute riechen, die
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Thrym unter seinem Brustharnisch trug. Der Söldner ließ seine Knie einknicken und stürzte schmerzhaft in die Erdspalte. Dann versuchte er, so gut er konnte, in dem Loch zu verschwinden, während er sich die geprellten Rippen hielt. Da Thrym zu schnell rannte, um unvermittelt anhalten zu können, sprang er über die Spalte hinweg. Im Sprung schwang er die Axt, doch der unbeholfene Hieb ließ lediglich eine weitere leichte Schneewolke aufstieben – und alle Gedanken Gwydions an den Fluß und das Boot in Panik untergehen. Als die Klinge haarscharf am Gesicht des Söldners vorbeizischte, sah er nur das Blut, das ihren schartigen Rand bedeckte. Das ist Cardeas und wahrscheinlich auch Arams, dachte Gwydion, obwohl er das gräßliche Ende des alten Magiers nicht mehr mit eigenen Augen gesehen hatte. Der nächste Schlag wird vermutlich das Ende dieses jämmerlichen Abenteuers und meiner Karriere als Söldner bedeuten. »Alles, Torm«, kreischte Gwydion. »Ich würde alles tun, wenn du mich Cormyr lebend wiedersehen läßt.« Das Flehen des Söldners an den Gott der Pflicht war ohne jede Aufrichtigkeit, wie alle Eide, die er in Zeiten der Bedrängnis geschworen hatte; doch es blieb nicht unerhört. Komm zu mir, Gwydion. Die Worte waren nur ein Flüstern, und doch hallten sie beharrlich in seinem Kopf wider. Dann erschien ein warmes, flackerndes Licht vor den Augen des Mannes, die sich mit Tränen füllten. Es rief den Söldner, befahl ihm wortlos, sich durch den Schnee zu graben, der die
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Spalte füllte. Gwydion tat es, ohne zu zögern, ohne auch nur einen Moment daran zu zweifeln, daß sich eine höhere Macht seiner erbarmt hatte. So etwas war in Faerûn, in einem Land, in dem die Götter von Zeit zu Zeit sterbliche Avatare annahmen und Wunder nur von Glaube und Vorstellungskraft eingeschränkt wurden, nicht ungewöhnlich. Nachdem er sich eine Zwergenlänge vorgescharrt hatte, fühlte Gwydion, wie sich der verdichtete Schnee unter ihm bewegte. Tiefer, gebot die Stimme. Die Worte vertrieben die Kälte aus seinen zitternden Gliedmaßen und verschleierten den Schmerz in seinen wunden, blutenden Händen. Durch die kalte Decke über ihm drang Thryms fluchendes Gebrüll. Die Schritte kamen erneut näher, und der Boden bebte unter dem Tritt der Eisenstiefel des Riesen. Gwydion schnappte kurz nach Luft und bohrte sich in den festen Schnee unter ihm wie eine Wühlmaus, die mit einem heißhungrigen Fuchs im Nacken um ihr Leben gräbt. Dann verschwand plötzlich der Schneemantel, der ihn bedeckt hatte, beiseitegefegt mit einer einzigen Bewegung von Thryms schwieliger Hand. »Ha! Du denken, du mich mit so einem alten Trick täuschen können?« spottete Thrym. Seine Stimme war so kalt wie die Eiszapfen, die aus seinem schmutzigblonden Bart herabhingen. Gwydion sah zu dem Riesen auf. Thryms Eisenstiefel standen wie Gefängniswände auf beiden Seiten der Erdspalte. In scheckige Felle gehüllte Beine führten zu einem arg mitgenommenen Brustharnisch hinauf, der einst die Haustür eines vaasanischen Palastes gewesen war. Das
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Gesicht des Riesen, drei Stockwerke über Gwydion, wurde großteils von seinem ungepflegten Bart und dem gewaltigen Helm verdeckt, doch seine blauen Augen funkelten hinter dem Gewirr. Diese Augen verengten sich, als Thrym die Axt hoch über seinen Kopf erhob. Fürchte dich nicht, säuselte die Stimme in Gwydions Kopf. Ich habe dein Flehen erhört. Der Schnee gab unter Gwydion nach. Mit einem überraschten Schrei rutschte Gwydion in das Loch und stürzte Hals über Kopf einen abgenutzten Marmorschacht hinunter. Über ihm schlug die Axt des Riesen in den Boden und löste einen Schauer aus Schnee und Dreck aus, der hinter ihm den Schacht hinunterpolterte. Gwydion fiel und rutschte gerade lange genug, um sich aufzurichten. Gerade, als er das vollbracht hatte, endete der Schacht in einer kleinen, von Menschenhand geschaffenen Kammer. Eine Zeitlang blieb er sitzen, benommen, blutbefleckt, verdreckt und tropfnaß vom Schnee. Keine dieser Unannehmlichkeiten nahm er wahr. Er hörte auch die Rufe Thryms nicht, die schreckliche Folter, entsetzliche schmerzvolle Rituale und Leiden versprachen, die von den Schamanen der Eisriesen über die Jahrhunderte vervollkommnet worden waren. »Es ziemt sich, sich vor seinem Gott zu verbeugen.« Es dauerte einen Moment, bis die Weisung durch die Furcht und Ehrfurcht drang, die Gwydions Gedanken vernebelten. Dann blinzelte er, seine Lippen formten ein lautloses Gebet, und er fiel nieder, so daß seine Stirn den glatten Marmorboden berührte. Der Gott ließ Gwydion lange in dieser unbequemen Haltung verharren. »Du darfst deinen Blick auf mich richten, Gwydion«,
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sagte der Gott schließlich, und der Söldner hob demütig den Kopf. Es dauerte einige Zeit, bis sich Gwydions Augen an den wundersamen, strahlenden Glanz gewöhnt hatten, der die Kammer erfüllte; als sie es jedoch getan hatten, sah er, daß der Fremde von hohem Wuchs war, mindestens doppelt so groß wie ein normaler Mann. Die gerüstete Gestalt strahlte Macht und stahlharte Autorität aus, wie ein gewaltiges Feuer Hitze entfacht. Er hob eine in einem Panzerhandschuh steckende Hand, und Gwydions Wunden waren geheilt. Furcht und Verwirrung fielen vom Verstand des Söldners ab, während er in göttliches Wissen eintauchte. Eine kühle geistige Klarheit erfaßte Gwydion, und diese neue Erkenntnis posaunte eine scheinbar unwiderlegbare Tatsache hinaus, bis sie das Innerste seines Wesens erschütterte: Er befand sich in der Gegenwart Torms, des Treuen, des Gottes der Pflicht, des Beschützers der Loyalität. Daran bestand für Gwydion nicht der geringste Zweifel. Torms verzierte Rüstung, älter als jede andere erhaltene in Faerûn, war von einem dunklen Purpur, wie es auch unter den größten Kriegern üblich war, die sich seiner Sache verschrieben hatten. Stacheln, aus den Knochen des ersten bösen Drachen geschnitzt, der in seinem Namen erschlagen worden war, ragten aus den Ellbogen- und Kniekacheln seiner Rüstung. Das Licht sprühte Funken auf seinem Brustharnisch wie tausend winzige Sterne in der Abenddämmerung. Augen wie Zwillingssonnen strahlten aus Torms Helm, während er ein rosenrotes Kurzschwert auf Gwydion richtete, die Spitze auf Brusthöhe. Die Klinge pulsierte im Rhythmus eines
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schlagenden Herzens. »Die Menschen nennen mich Torm, den Treuen, weil ich Loyalität mehr schätze als alles andere. Sie nennen mich den tapferen Torm, weil ich jeder Gefahr entgegentrete, um zu beweisen, daß ich Pflichtbewußtsein respektiere.« Der Gott berührte die Schulter des Söldners mit der Klinge. »Jeder, der sich als mein Gefolgsmann bezeichnen will, muß das ebenso tun.« »Natürlich, Eure H-H-Heiligkeit«, stammelte Gwydion. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Ich verstehe.« »Das hast du einmal«, sagte Torm rundheraus. »Doch du bist weit vom Weg der Gehorsamkeit und des Pflichtbewußtseins abgekommen.« Die Worte hallten aus dem Helm des Gottes wie eine greuliche Warnung aus dem Inneren eines Sarges. »Als du unter König Azouns Banner kämpftest, kanntest du Ehre. Zu meinem großen Ruhme kämpftest du in den Schlachten gegen die tuiganische Horde und glänztest als wahrer Ritter meiner Kirche. Doch dann hast du die Purpurdrachen verlassen und deine Pflicht vernachlässigt, nach Recht und Gerechtigkeit zu streben – und wofür? Für ein Söldnerdasein als Abenteurer, der das Land auf der Suche nach Gewinn durchstöbert.« Als Gwydion schamerfüllt den Kopf sinken ließ, fuhr Torm fort: »Du kamst auf der Suche nach dem Schatz der Eisriesen nach Thar, doch mußtest du feststellen, daß ihre einzige Belohnung für habgierige Narren ein schneller Tod ist. Für deine Verbündeten ist es zu spät. Für dich hingegen gibt es noch eine Möglichkeit, einen Weg, deine Ehre wiederherzustellen.«
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»Alles, Eure Heiligkeit«, sagte Gwydion. Tränen der Reue rannen ihm über die Wangen, während er sich aufrappelte. »Dann sieh die letzte Ruhestätte Alban Onires, des heiligen Ritters der Pflicht, zu seiner Zeit bekannt als Feind aller bösen Riesen.« Torm schwebte zur Seite und gab den Blick auf einen gutaussehenden jungen Mann frei, der feierlich auf einem Steinsockel aufgebahrt lag. Seine Rüstung glich der des Gottes. Die Plattenrüstung sah aus wie frisch poliert. Ihre Riemen und der Ledergürtel, an dem die juwelenbesetzte Scheide hing, verbreiteten den Geruch frischen Öls. Gwydion fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ich kenne Geschichten über Alban Onire, aber –« Er warf einen Blick auf die funkelnde Rüstung, auf den friedlichen Ausdruck in den Gesichtszügen des Toten. »Aber er ist vor Jahrhunderten gestorben.« »Dieser Ort ward zu Ehren von Albans großen Taten geheiligt«, sagte Torm. Auch er wandte seinen Blick dem gefallenen Ritter zu. »Seine Seele ruht, doch sein Körper wird nicht zu Staub zerfallen, bis einer vortritt, der würdig ist, seinen Platz als Töter von Riesen und Drachen einzunehmen.« Langsam streckte er Gwydion eine Hand entgegen. »Einst hattest du Gnade vor meinen Augen gefunden. Du kannst sie wieder finden, doch nur, wenn du deine Feigheit abschüttelst und das schwere Erbe Albans antrittst.« Der Söldner versuchte vergebens, keine Überraschung zu zeigen. Zunächst konnte er sich nicht vorstellen, warum Torm ihn erwählte. Sein Verstand raste, auf der
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Suche nach einem Grund für diese Ehre. Er hatte als Purpurdrache tapfer gekämpft und dem Tod allein auf dem Kreuzzug dutzendfach ins Auge gesehen. Vielleicht reichte das. Zahllose Geschichten über andere gesegnete Krieger gingen ihm durch den Kopf, Erzählungen von Männern und Frauen, die von den Göttern dazu ermächtigt worden waren, ihre Stellvertreter in Faerûn zu sein. Es dauerte nicht lange, bis jene Ruhmesphantasien seine Zweifel überwältigten. »Herr, ich bin unwürdig«, sagte Gwydion, obwohl er sich inzwischen sicher war, er verdiene jegliche Ehre, mit der Torm ihn überhäufen würde. Feierlich beugte er das Knie, zum Schein der Unterwürfigkeit. Torm gestikulierte mit seinem rosenfarbenen Kurzschwert. »Erhebe dich, Erbe der Größe Albans, und fordere deine Klinge ein. Manche Barden nennen sie Titanenschlächter, und das nicht ohne Grund. Kein Riese kann dir ein Leid zufügen, solange du dieses Schwert trägst. Eine Berührung seines verzauberten Stahls wird den mächtigsten Giganten zu Fall bringen. Nutze es weise.« Gwydion trat an den Rand der Totenbahre, hob die Scheide und zog das Schwert. Die Waffe war perfekt ausbalanciert; ihr Griff lag fest und beruhigend in seiner Hand. Er hieb probehalber in die Luft. Die Klinge bewegte sich wie eine Verlängerung seines Arms oder gar seiner Seele. Er lächelte und hielt Titanenschlächter hoch, um sehen zu können, wie das Licht an den scharfen Schneiden der silberweißen Klinge entlangtanzte. Mit diesem Schwert konnte er sich – Torm, berichtigte er sich hastig – in der Geschichte Faerûns einen bedeuten-
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den Platz sichern. »Danke, oh heiligster –« Er schluckte die übrigen Worte und sah sich schockiert um. Torm war fort. Ebenso der Körper Alban Onires. Gwydion stand allein in einer kleinen, finsteren Höhle; die einzige Lichtquelle darin war der Schacht zur Oberfläche. Mit klammen Fingern tastete er nach der Bahre und fand einen rohen Felsvorsprung, auf dem ein paar alte Knochen und einige rostige Rüstungsteile lagen. Dank meiner kann Alban nun endlich in Frieden ruhen, dachte der Söldner stolz. Er ergriff das Schwert, beruhigt von seinem Gewicht, und ging gemessenen Schritts zu dem Schacht. Ein schwacher Lichtkreis kennzeichnete das obere Ende – Sonnenlicht, erkannte der Söldner jäh. Der Gott der Pflicht und die scharfe Klinge Titanenschlächter hatten ihn viel länger in ihren Bann gezogen, als er gedacht hatte. Indem er seine Beine gegen eine Wand und seinen Rücken gegen die andere stützte, kämpfte sich Gwydion den Schacht empor. Rinnsale machten den Stein glitschig und den Aufstieg gefährlich. Er glitt zweimal aus. Beide Male rutschte er ein Stück zurück, bevor er sich wieder festkeilen konnte. Einmal glitt Titanenschlächter aus seiner Scheide, doch er konnte den Griff gerade noch packen, ehe die Waffe in die Dunkelheit hinabfiel. Als er Titanenschlächter sanft wieder in die Scheide steckte, überkam den Söldner eine flüchtige Vision von Torms Zorn. Es dauerte lange, bis er sein Zittern ausreichend unterdrücken konnte, um weiterzuklettern. Schließlich kroch er aus dem Schacht heraus in die
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Erdspalte, die ihm zunächst Schutz vor Thrym geboten hatte. Gwydion fühlte sich von dem langen Aufstieg ermattet, doch die Erwartung des kommenden Kampfes gab ihm neue Kraft. Er lugte aus der felsigen Spalte hervor und machte seinen Gegner aus. Thrym hatte sich faul an die Klippe gelehnt und döste im Morgenlicht. Die Krähen, die noch auf der Lichtung verblieben waren, hüpften seine Arme und Beine entlang und pickten die Insekten aus seiner schmutzigen Kleidung. Eine Maus lugte unter dem Brustharnisch hervor und verursachte hektisches Treiben. Die Krähen stürzten sich auf das Nagetier, doch Thrym erwachte plötzlich durch das hungrige Krächzen. Er schlug lässig nach den Vögeln, und sie flatterten auf. Erst als Thryms dröhnendes Schnarchen erneut die Eibenbüsche durchschüttelte und das Murmeln des Flusses übertönte, ließen sich die Krähen erneut nieder und machten sich wieder an ihr Festmahl. »Im Namen Torms, steh auf und stell dich mir!« Langsam öffnete der Riese seine eisblauen Augen und starrte auf den kleinen Mann hinab, der vor ihm stand. Einen Augenblick später rieb er sich das Gesicht mit einer fleischigen Hand. Als Thrym wieder hinsah, stand, sehr zu seiner Überraschung, der Dieb noch immer da. »Als Ritter Torms ist es meine Pflicht, dir eine Chance einzuräumen, dich zu ergeben«, sagte Gwydion. Der Riese kam schwankend auf die Beine, und der Söldner mußte dem Drang widerstehen, sich wieder in das Loch im Boden zu flüchten. Statt dessen griff Gwydion auf seinen seit langem nicht gebrauchten Vorrat an Mut zurück. Er fühlte, wie der kalte Strom der Ent-
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schlossenheit seine zitternde Seele zur Ruhe brachte und die Glut der Panik löschte, die in seiner Brust brannte. »Ich sollte dich warnen«, verkündete Gwydion großspurig, »daß ich Titanenschlächter trage, den Fluch aller bösen Riesen. Du kannst mir nichts tun, solange ich dieses Schwert habe.« Er hob die Waffe und bewunderte das Spiel des Sonnenlichts auf der Klinge. Thryms Augen verengten sich vor Verwirrung. Er griff nach seiner Axt, die wie ein gefällter Baum an der Klippe lehnte, und hob sie zum Schlag. »Verrückt wie Tarraske«, murmelte er und ließ die Axt niedersausen. Gwydion sah seinen Schwertarm zu Boden fallen, und einen Augenblick später fühlte er, wie die Axt des Riesen ihm die Schulter spaltete. Das Glied zuckte, und die Finger ließen den langen, geschwärzten Knochen los, den sie verzweifelt umklammerten. Es gab keinen Titanenschlächter, kein Geschenk der Götter. Dann schrillte der Schmerz durch die Brust des Söldners, zusammen mit der dumpfen Erkenntnis, daß er, vom eigenen Blut überströmt, im Schnee lag. »Torm«, flüsterte Gwydion, als der Riese seine Axt im Todesstreich herabsausen ließ.
1 [ LEBEN IM UNTERGRUND ]
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Worin eine unerwartete Reise Gwydion den Schnellen zum Urheber seines Schicksals führt und der mächtige Torm pflichtbewußt versucht, die Ehre des Toten zu verteidigen. Inbrünstige Stimmen erfüllten die Luft. Freudenschreie, hoffnungsvolles Flüstern und ein Gemurmel voll verzweifelten Sehnens nach Erlösung vermischten sich zu einer einzigen Klangschicht, die die Fugenebene bedeckte. Dem Stimmengewirr wohnte eine gewisse seltsame Macht inne; es beruhigte durch seine Beständigkeit und erregte durch seinen grenzenlosen Optimismus. Solcherart waren die Gebete der kürzlich Verstorbenen. »Silvanus, mächtiger Eichenvater! Nimm mich in den großen Kreis der Bäume auf, der das Herz deines Heimes ist!« »Wir sind die Kinder des Fürsten des Morgens, wiedergeboren in seine ewige Obhut. Laß uns aufsteigen, Lathander, wie die Sonne in der Morgendämmerung des Frühlings, um unsere Geister an deiner Seite zu erneuern!« »O Mystra, göttliche Herrin der Mysterien, dieser Diener deiner großen Kirche bittet demütigst darum, in die Geheimnisse der Magie eingeweiht zu werden, in das
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Gewebe der Zaubermacht zu gelangen, das die Welt umhüllt!« Am klaren Himmel über der endlosen, kreidebleichen Ebene kündete ein plötzliches Leuchten von der Ankunft eines Gottesgesandten. Die kolossale, golemartige Kreatur war ein Marut, aus einem Onyxblock von der Größe eines cormyrischen Schlosses geschnitten und durch Hexenkunst an den Willen seiner göttlichen Schöpferin gebunden. Er schwebte über dem Gedränge und musterte die versammelten Seelen mit Augen, die wie Saphire in seinem runden Steingesicht brannten. Die breiten Schultern des Marut und die Muskelstränge an seinen Armen konnten auch die ausladenden Rüstungsplatten und die verschlungenen Reife aus geschmiedetem Gold nicht verbergen. In gleicher Weise konnte seine Aura entschlossener Kraft und unbeugsamer Stärke den Schimmer der Weisheit nicht verschleiern, der in seinem festen Blick lag. Die Seelen, die die endlose Ebene bevölkerten, sahen erwartungsvoll zu dem Marut auf. Der Gesandte hob eine massige Hand zum Segen. Als er seine groben Finger ausbreitete, tauchte ein blauweißer Schimmer in der dunklen Handfläche des Maruts auf. Das sanfte Leuchten wurde stärker und bildete einen Ring aus Sternen. Ein roter Nebel strömte dünn aus der Mitte des Kreises. Die Schatten erkannten das heilige Zeichen. Aus allen Ecken der Fugenebene ertönte ein Ruf: »Mystra!« Gezackte Lichtspeere brachen aus jedem der tausend Sterne hervor und sengten die Ebene in einem plötzlichen Blitzgewitter. Die Blitze trafen die Anhänger der Göttin der Magie und zerschmetterten die Sorgen und Nöte, die
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sich während ihres sterblichen Lebens wie Panzer um ihre Seelen gelegt hatten. Die Diener Mystras brachen in Freudenschreie aus. Sie schwelgten in der Macht und Liebe der Herrin der Mysterien, breiteten die Arme aus und schwebten zu dem Lichtkreis empor. Der Reihe nach wurden Mystras Getreue zu funkelnden Sternen. Als alle aus der Menge erhoben worden waren, schloß der Gesandte seine Hand und verschwand. Mit einer Stimme nahmen die Seelen der Fugenebene ihren Gesang wieder auf: »Höre das Schwert auf meinem Schild! Ich rufe dich, Fürst der Schlachten, und verlange meine Aufnahme in deine große Armee im Limbo. Meine Siege in deinem Namen sind Legende, und die Feinde, die vor mir dieses Feld der Toten erreichten, ohne Zahl. Astolpho von Hochburg fiel durch meine ewig scharfe Klinge, und Frode Silberbart. Magnes, Sohn des Edryn, und Hemah, ruchloser Ritter des Talos ...« Gwydion der Schnelle starrte den Mann in der Rüstung an, der sein Schwert gegen seinen gespaltenen Schild schlug. Der Krieger stieß eine schier endlose Reihe von Namen hervor und hielt nur inne, um Tempus anzurufen, ihn von diesem öden Ort zu erretten. Gwydion war auf der Fugenebene auch auf andere Anbeter des Kriegsgottes gestoßen. Sie waren alle gleich – sie rühmten sich ihrer Siege und konnten es nicht erwarten, der Armee des Gottes beizutreten, wo sie den Rest der Ewigkeit in ruhmreichem, endlosem Kampf verbringen konnten. Der Söldner schüttelte voller Trauer den Kopf und schlich davon. Auf allen Seiten sandten Männer und Frauen Gebete zu ihren Schutzgöttern. Barden und
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Waldläufer, die Milil anbeteten, bildeten große Chöre und sangen ihr Loblied auf den Herrn aller Lieder. Ein einsamer Verehrer Loviatars bewegte sich durch die Masse und geißelte sich, ohne von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, mit einer Dornenpeitsche. Die Menge der Barden teilte sich für einen Moment, um diesen ekstatischen Schatten durchzulassen, und Dissonanz störte ihren Gesang. Die Unterbrechung dauerte jedoch nicht lange an, und das Lob Milils stieg erneut empor, in die Lüfte getragen von Harmonien, die so vollkommen waren, daß sie sogar die wilden Günstlinge Malars, des Herrn der Tiere, besänftigten. Inmitten dieses Klangteppichs konnte Gwydion keinen Laut hervorbringen. Er war vor einiger Zeit auf der Fugenebene erschienen, hatte aber Schwierigkeiten zu sagen, wie lange er bereits dort war. Zunächst wagte der Söldner zu hoffen, er habe seinen Tod nur geträumt. Schließlich schien sein Leib noch recht stofflich zu sein. Sein Schwertarm befand sich wieder an seiner Schulter, und die anderen Wunden waren auf wundersame Weise geheilt. Der Pelzmantel, den er für den Abstecher ins frostige Thar gekauft hatte, wies keine Blutflecken auf. Tunika, Hosen und die hohen Lederstiefel schienen vollkommen neu zu sein. Doch die Bilder seines abgetrennten Armes, der auf dem gefrorenen Boden lag und von Thryms blutiger Axt, die mit einem erneuten Schlag auf ihn herabsauste, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Gwydion mußte sich nur diese lebhaften Szenen in Erinnerung rufen, um zu wissen, daß sein Schicksal besiegelt war. Er war aus den
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Reichen der Lebenden ins Land der Toten übergewechselt. Der Gedanke erschreckte den Söldner weder, noch flößte er ihm Ehrfurcht ein. Von dem Moment an, da er sich inmitten der wimmelnden Masse wiedergefunden hatte, hatte sich ein dichter Nebel der Gleichgültigkeit über seine Gedanken gelegt. Er bewegte sich ebenfalls wie in einem Nebel und registrierte das Seltsame, das er sah und hörte, als sei es nicht ungewöhnlicher als das, was man auf jedem Marktplatz in Suzail sehen und hören konnte. Gwydion hatte gerade genug Ahnung von Theologie, um die dichtbevölkerte Ausdehnung um ihn herum als Fugenebene zu identifizieren. Vor langer Zeit, als er noch ein Purpurdrache gewesen war, hatte er einmal eine diplomatische Gesandtschaft auf dem Weg zu Bruenor Schlachtenhammer beschützt, dem Zwergenherren der Mithralhalle. Ein reisender Priester Oghmas hatte ihn auf der Reise zu Tode gelangweilt, indem er auf komplizierte Weise den Pfad der Seele auf dem Weg zum ewigen Frieden erklärte. Nun hätte Gwydion fast alles um einen solchen Vortrag gegeben, der ihn in das einweihte, was ihn jenseits der Fugenebene erwartete. Der Schatten kehrte den Anbetern Milils den Rücken und versuchte erneut, Torm anzurufen. Statt Worte brachte er nur ein fürchterliches Krächzen hervor, wie jedes Mal, wenn er versucht hatte zu beten – zu Torm, den Treuen oder irgendeinem anderen Gott. Er brachte die Litanei nicht einmal in Gedanken zusammen. Vergeblich bemühte er sich, sich an die Gebete zu erinnern; die Worte verschwanden einfach aus seinen Gedanken,
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ehe er sich darauf konzentrieren konnte. Eine von Milils Bardinnen unterbrach ihr Lied, um Gwydion anzustarren. Als der Söldner ihren Blick erwiderte, sah sie weg, doch er hatte den Schrecken in ihrem Blick gesehen. Die Furcht erwies sich als ansteckend. Wie ein glühendes Stück Kohle flammte sie in Gwydions Verstand auf und verbrannte den Schleier der Teilnahmslosigkeit, der noch immer über seinem Bewußtsein lag. Was, wenn Torm mir meine Stimme als Preis für mein Versagen genommen hat? Gwydion lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nein, erinnerte er sich. Ich wurde getäuscht. Irgendein Magier – ein außergewöhnlich mächtiger Illusionist – hat mich ins Verderben laufen lassen. Er kreischte und wimmerte, doch kein einziges Wort kam über seine Lippen. Die Glut der Angst zerbarst, und kleine Stücke von Panik regneten auf seine Gedanken herab. Er war verflucht. Wer auch immer die Illusion geschaffen hatte, hatte einen Teil seiner Seele gestohlen ... Gwydion fühlte, wie ihm die Tränen in den Augen brannten, doch als er blinzeln wollte, um sie zu verscheuchen, stellte er fest, daß er seine Augenlider nicht schließen konnte. Die Schatten der Getreuen stießen Gwydion an, während er ziellos loslief; ihre Seelen waren so greifbar wie seine eigene, auf seltsame Weise körperliche Gestalt. Manche beteten noch inbrünstiger, als der vor sich hin faselnde Söldner vorbeischlurfte. Andere wandten der verlorenen Seele ihre starren Augen zu. Das Leid, das Gwydion ins Gesicht geschrieben stand, machte sie be-
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troffen, doch sie hatten Angst, von ihren gemurmelten Gebeten abzulassen, um ihn zu trösten – sie wollten nicht ebenso von ihren Göttern abgeschnitten sein. Gwydion stolperte durch die wogende Menge. Gesichter verschwammen vor seinen Augen, und die Gebete wurden zu einer sinnlosen Kakophonie. Er packte eine junge Frau, die eine silberne Scheibe Tymoras trug, und schüttelte sie. Jemand mußte den Fluch aufheben! Als Antwort auf seine hervorgegurgelte Bitte trat die Frau Gwydion die Beine weg und bewegte sich danach ein paar Schritte zurück. »Sieht aus wie einer von uns«, ließ sich eine nicht menschliche Stimme vernehmen. »Nee. Nur einer dieser durchgedrehten Meister des Verderbens. Beshaba zieht solches Gesindel an.« Die rauhen, lästernden Stimmen standen im Widerspruch zu den heiligen Gebeten und schreckten Gwydion aus seinem Wahn auf. Er sprang auf, drehte sich um und blickte dem schrecklichsten Wesen in den Bauchnabel, dem er je begegnet war. Sein Kopf hatte einst einem Wolf gehört, doch seine übrige Gestalt war aus Dutzenden anderer Tiere zusammengeflickt worden. Eine Mähne gestreiften Fells begann zwischen seinen spitzen Ohren und sträubte sich entlang eines gebeugten Rückens, der von einem Oger stammen mochte. Der restliche Leib dieses Dings war mit hellroten Schuppen gepanzert. Es hatte ein Paar menschlicher Arme, die in Händen endeten, die kaum mehr als Klauen waren. Die Kreatur rieb sie ängstlich aneinander. Vier enorme Spinnenbeine bewegten sich unterhalb der anderen Arme hin und her und griffen gierig nach der Luft. Schlangenartige Spira-
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len stützten den monströsen Oberkörper; sie wanden und bogen sich unter seiner schieren Masse. »Du spinnst, Perdix«, sagte die Bestie, während ihr der Speichel von den Wolfskiefern troff. »Der gehört in die Stadt. Ist doch offensichtlich! Sieh dir sein Gesicht an. Er hat geweint.« Perdix faltete seine ledrigen Flügel und hüpfte auf dünnen Beinen, deren Knie sich nach hinten bogen, zu Gwydion hin. Gummiartige gelbe Haut bedeckte seinen Leib, der so dünn und ausgezehrt wie der eines verhungernden und verdurstenden Kindes war. Mit dem blauen Auge inmitten seines breiten Gesichts sah Perdix zu Gwydion auf. »Nun?« fragte er ungeduldig, wobei seine dünne Zunge über strahlend weiße Zähne leckte. »Fang an zu beten, du Schnecke.« Verzweifelt versuchte Gwydion, die kleine Kreatur aus dem Weg zu schubsen, doch zwei Paar Spinnenbeine schlossen sich um seine Brust und zogen ihn zurück. Das wolfsköpfige Ding blickte finster auf den Söldner herab und packte seinen Kopf mit klauenartigen Händen von beiden Seiten. »Du hast Perdix gehört«, zischte er. »Dann laß uns mal dein bestes Feiertagsschreien hören.« Wie zuvor kam Gwydion nur ein klägliches Krächzen über die Lippen, als er versuchte, Torm anzurufen. Perdix schüttelte den Kopf. »Du hast ausnahmsweise recht, Af. Ich war mir sicher, er sei ein Meister des Verderbens. Die legen sich immer mit Tymoras Leuten an.« Er hielt Gwydion ein Paar nachtschwarzer Handschellen hin. Die eisernen Ringe schnappten auf und entblößten scharfe Stacheln auf der Innenseite. »Mach bloß keinen Ärger.«
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Ein kurzer Blick auf die Schatten in der Nähe sagte Gwydion, daß er hier auf sich gestellt war. Die anderen hatten ihm den Rücken gekehrt und ihn seinen abscheulichen Häschern überlassen. Die Gläubigen in unmittelbarer Nähe bildeten einen großen Kreis. Ihre Gesichter waren himmelwärts gewandt, die Hände hatten sie fromm zu Fäusten geballt, bis die Knöchel weiß wurden, oder andächtig über Herzen gekreuzt, die nicht mehr schlugen. Wortlos verfluchte Gwydion sie und wand sich in Afs unnachgiebigem Griff. Seine Panik hatte einem schleichenden Grauen Platz gemacht, und er konnte ein wenig klarer denken. Er erinnerte sich nun an die endlosen Stunden des Exerzierens auf dem Paradeplatz von Suzail und an seine Nahkampfausbildung. Er verschränkte die Finger und schlug Af gegen das Kinn. Gleichzeitig trat er mit beiden Hacken auf die sich schlängelnden Spiralen der Kreatur. Af knurrte, verärgert über die Schläge, erinnerte sich aber dann, daß es Ärger geben würde, wenn er dem Gefangenen den Kopf abriß. Statt dessen biß der Bewohner der Fugenebene Gwydion in die Hände, als der sie erneut zum Schlag erhob, gerade stark genug, um die Haut zu verletzen. In diesem Moment erkannte Gwydion, daß die Axt des Riesen ihn nicht gegen Schmerzen immunisiert hatte. »Ts. Ist es nicht immer daßelbe?« seufzte Perdix. »Ich kann sagen, was ich will; ihr Schnecken versucht trotzdem zu kämpfen.« Er sprang hoch und legte die Handschellen gewaltsam um Gwydions Handgelenke. Als die Eisenringe zuschnappten, drangen die Stacheln
ihrer Innenflächen ins Fleisch ein. Dann, als hätte der Geschmack der Essenz des Schattens sie aus ihrem rostigen Schlaf erwachen lassen, kam Leben in die Stacheln, und sie gruben sich tiefer. Sie fuhren in Knochen, verdrehten sich schmerzhaft und schossen Gwydions Arme hinauf. Blind vor Schmerz gab der Schatten einen langen, jaulenden Marterschrei von sich. Zum ersten Mal, seit Gwydion auf die Fugenebene gekommen war, drangen die Laute klar und deutlich aus seiner Kehle.
Als sich der Schmerzensschleier vor seinen Augen verzogen hatte, fand sich Gwydion in einer lärmenden Menge wieder, die sich vor einer großen, ummauerten Totenstadt versammelt hatte. Sein ganzer Körper schmerzte fürchterlich, aber die Stacheln der Handschellen schienen sich nicht weiter in seine Arme gebohrt zu haben. Af hielt mit einer klauenbewehrten Hand einen Ellbogen Gwydions umklammert. Den anderen hielt Perdix mit kalten Fingern, die mit Schwimmhäuten versehen waren. Ein Gestank wie in einem Beinhaus lag über allem. Gwydion spürte, daß ihm Tränen über die Wangen rannen, nicht wegen der Schmerzen in seinen Handgelenken, sondern wegen des erstickenden Geruchs von Tod und Verfall, der ihm langsam in Nase und Mund drang. Die Tore, die vor ihm aufragten, hätten Thrym und jeden anderen Riesen in Faerûn wie Zwerge aussehen lassen. Düsternis und finstere Vorahnung wohnten ihnen inne, und sie ragten bis in den Himmel empor, an dem
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sich Wirbel roten Nebels abzeichneten. Zu beiden Seiten der mächtigen Torhäuser erstreckten sich hohe, bleiche Mauern bis zum Horizont. Er war zu weit entfernt, um sicher zu sein, aber Gwydion meinte, Bewegung in den Mauern wahrzunehmen. Es war fast so, als ob sich jeder Stein fortwährend bewegte, sich wand, als sei er lebendig. Von allen Seiten drängte sich die wimmernde, heulende Masse der Schatten um den Söldner. Jeder war an den Handgelenken mit Schellen gefesselt worden, und alle Seelen der Verdammten wurden von einem Paar scheußlicher Bewohner der Fugenebene vorangetrieben wie widerspenstige Stiere zum Schlachthaus. Die Kreaturen waren mit Perdix und Af verwandt, doch nur aufgrund ihres schier grotesken Äußeren. Sie waren durch wahnsinnige Vermischungen von Tieren und Menschen, Pflanzen, ja sogar Edelsteinen und Metallen entstanden. Sie flogen, schlängelten sich oder krochen dahin, während sie ihre Gefangenen mit saugnapfbewehrten Fingern stießen oder mit spitzen Stacheln stachen. Die Menge drängte vorwärts und drückte Gwydion gegen das nächstgelegene der Zwillingstorhäuser. Die Oberfläche des Turms war hart, dunkel und fühlte sich seltsam warm an, als der Söldner mit dem Gesicht dagegengepreßt wurde. Er stieß sich ab, um die kleinen, rundlichen Blöcke besser sehen zu können. Es waren keine Steine, stellte er fest, sondern faustgroße Klumpen von ... etwas. Er sah näher hin und schrak dann entsetzt zurück. »Herzen!« schrie er. »Der Turm ist aus menschlichen Herzen gebaut!«
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Af schnaubte. »Kluger Junge. Die Tore auch.« Er senkte die Schnauze und starrte Gwydion in die angsterfüllten Augen. »Wetten, du weißt nicht, welche Art von Herzen?« »Laß ihn in Ruhe«, sagte Perdix. »Er sieht nicht wie ein Priester aus. Die sind die einzigen, die solche Ratespielchen mögen.« »Feiglingsherzen«, meinte Af schadenfroh und ignorierte Perdix. »Die geben zwar keine so guten Mauern ab wie Heldenherzen; aber wir kriegen hier auch nicht so viele Helden.« Perdix schüttelte angewidert den Kopf. »Ts. Du bist so stolz auf die verdammten Dinger; man könnte meinen, du hast sie selbst erbaut.« »Hab’ ich auch!« bellte Af. »Immerhin war ich dabei, als sie gebaut wurden!« Gwydion fand endlich seine Stimme wieder. »Torm, rette mich!« kreischte er. Jeder Bewohner der Fugenebene in Hörweite drehte sich nach Gwydion um, und eine schwimmhäutige Hand schloß sich über seinem Mund. »Laß das, Schnecke«, zischte Perdix. »Es gibt nur einen Gott in der Stadt der Zwietracht, und er kann es nicht leiden, wenn seine Untertanen einen anderen anrufen. Uns ist es egal, ob du es dir gleich an deinem ersten Tag hier mit ihm verscherzt, sobald du auf dich gestellt bist, aber im Moment sind wir für dich verantwortlich. Das wirft ein schlechtes Licht auf Af und mich.« »Den Ärger können wir echt nicht gebrauchen«, grummelte der wolfsköpfige Bewohner der Fugenebene. Er ballte eine krallenbewehrte Hand zur Faust und ließ
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sie hart gegen Gwydions Kiefer prallen. Knochen brachen. Zähne quollen dem Schatten aus dem Mund wie Murmeln aus einem zerrissenen Beutel. Perdix runzelte die Stirn. »Du bist unser eigener schlimmster Feind, Af«, seufzte er, während er einen ledrigen Flügel um Gwydion legte, um ihn vor weiteren Übergriffen zu schützen. »Wenn er nicht reden kann, werden die in der Burg richtig sauer sein. Weißt du noch, was das letzte Mal passiert ist, als du diesem Schatten den Kopf abgerissen hast?« Af rutschte auf seinen Spiralen seitwärts. »Das wird schon heilen, bevor er reingeht und ihn trifft. Außerdem hat er eine andere Macht angerufen. Du weißt doch, was die Regeln dazu sagen.« Perdix stimmte zögernd zu, positionierte sich aber vorsichtigerweise zwischen Gwydion und Af, bis sich die Tore öffneten. Hoch oben in den Torhäusern ertönten Hörner, und die finsteren Tore öffneten sich quietschend gerade so weit, daß drei Männer Schulter an Schulter passieren konnten. Bewohner der Fugenebene stießen ihre Gefangenen durch die Spalte und folgten ihnen auf dem Fuß. Die Schatten versuchten verzweifelt, jedoch vergeblich, sich gegen diese letzten paar Schritte in die Stadt der Zwietracht zu wehren. Die Angelegenheit erledigte sich immer durch den ständigen Druck tausender verdammter Seelen, die von hinten gegen die widerstrebenden Gefangenen drückten. Eine eindrucksvolle Straße führte geradewegs von den Toren weg; sie war auf beiden Seiten von Skelettwächtern gesäumt, die mit Piken und Speeren bewaffnet wa-
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ren. Der einzige Daseinszweck der untoten Soldaten war es, die frisch Verdammten und ihre Häscher zu malträtieren. Mit ihren rasiermesserscharfen Waffen schnitten sie ihnen große Stücke Fleisch aus dem Leib, die unter den Füßen der Masse schnell zu Brei getreten wurden. Entlang der Straße warteten in den Schatten verborgen hungrige Wesen ungeduldig und mit gehetztem Blick, in der Hoffnung, den einen oder anderen Leckerbissen zu erhaschen. Hätte einer derer, die die Tore passierten, atmen müssen, wäre er spätestens nach einem Dutzend Schritten durch den Druck erstickt. Ein ständiges Summen lag in der Luft. Es war kein Gespinst von Gebeten wie auf der Fugenebene, sondern ein schriller Vorhang aus wilden Flüchen und angsterfüllten Schreien. In Tornähe war der Geräuschpegel so hoch, daß keiner auch nur versuchte, beim Sprechen nicht zu schreien. Zum Glück dämpften die verschlungenen, rissigen Sandsteingebäude, die mit ihren zehn Stockwerken die Skyline bildeten, die Geräusche, während sich die Menge der Stadtmitte näherte. Gwydion kam es vor, als verschwimme die Zeit auf dem Weg ins Stadtzentrum, den er zusammen mit zahllosen anderen zurücklegte. Nur anhand der fortschreitenden Heilung seines Kiefers konnte er die Stunden zählen. Er fühlte, wie sich die Knochen wieder zusammenfügten und neue Zähne sich durch das rohe Zahnfleisch nach oben drängten. Der Schmerz setzte ihm nach wie vor zu – alles vor seinen Augen verschwamm, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen –, ebbte jedoch zu einem konstanten Pulsieren ab. In einem fernen Winkel seines Verstandes fragte sich Gwydion, ob seine Fähigkeit, so
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banale Schmerzen zu fühlen, verkümmert war. Schließlich hatten auch die Schmerzen nachgelassen, die von den Stacheln in seinen Handgelenken verursacht wurden. Tief in seinem Inneren wußte der Söldner jedoch, daß er nicht darauf hoffen durfte, nun gegen Folter immun zu sein. Die Einwohner würden sich für ihn neue Schmerzensarten ausdenken, wenn sich die alten abnutzten. Endlich überquerte die Menge die lebende Brücke, die den glucksenden schwarzen Schleim, aus dem der Slith bestand, überspannte, und stürmte durch die offenen Tore des großen Palastes im Herzen der Nekropole. Nun, da sie von neuen Verteidigungswällen aus reinsten Diamanten eingeschlossen waren, konnten sich die Schatten eine Ruhepause gönnen. Die meisten Verdammten brachen erschöpft zusammen. Nicht so Gwydion der Schnelle. Er stand, unbeeindruckt von dem Marathonlauf, und starrte in die Schatten hinauf, in denen die Knochenburg aufragte. Der Bergfried reckte sich in den roten Himmel empor. Seine unteren Stockwerke waren aus Schädeln erbaut, die mit leeren Augenhöhlen in den Hof starrten. Weiter oben hatten sich weitere Knochen in die Architektur geschlichen und rahmten Fenster in phantastischen Spiralen oder bildeten stabile Brüstungen. Geflügelte Einwohner nutzten diese Balkone, um den Palast zu betreten oder um sich von ihnen in die Nebelschwaden zu schwingen, die die oberen Stockwerke umwaberten. Noch ein Stück weiter oben verschwand die gezackte Spitze des Turms in den dicken Rauch- und Nebelschwaden. »Na schön«, sagte Af barsch. »Auf geht’s.«
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Der Haupteingang des Bergfrieds hatte sich geöffnet, und die Einwohner verteilten sich über den Hof, wobei sie die Schatten grob auf die Beine zerrten. Gwydion stand noch, und so war er der erste, der vorangetrieben wurde. »Bitte«, sagte der Söldner niedergeschlagen. »Hier liegt eine Verwechslung vor.« Sein Kiefer knackte schmerzhaft bei jeder Silbe, und seine Zähne fühlten sich lose an, aber wenigstens konnte er sprechen. »Siehst du«, fiel Af ein. »Ich habe dir doch gesagt, sein Kiefer würde heilen, ehe wir zum Prinzen reinkommen.« Perdix schnitt eine Grimasse, schnappte sich die Kette an Gwydions Handschellen und zerrte ihn Richtung Bergfried. »Eine Verwechslung? Glaubst du, du gehörst nicht hierher?« »Ich weiß ja nicht einmal, wo ich hier bin!« rief Gwydion. »Hoho! Einer der Ungläubigen, wie?« Af rieb sich hämisch die Spinnenbeine, während er neben Gwydion herhuschte. »Dann kommste in die Mauer.« »Er ist kein Ungläubiger«, spottete Perdix. »Draußen vor den Toren rief er den Narren an. Erinnerst du dich? Deswegen hast du ihm den Kiefer gebrochen.« Der Einwohner richtete sein blaues Auge auf Gwydion. »Glaubst du an die Götter?« »Natürlich«, stammelte der. »Jemand schuf eine Illusion, die meinen Tod zur Folge hatte. Ich war ein Krieger im Auftrag –« »Hast du es noch nicht kapiert?« schnauzte Perdix. »Reicht dir ein gebrochener Kiefer nicht? Du darfst hier
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unten keinen Gott beim Namen nennen – mit Ausnahme Fürst Cyrics, versteht sich.« Er zerrte Gwydion zur Schwelle der Knochenburg. »Du bist im Hades, in der Stadt der Zwietracht. Da du draußen auf der Fugenebene keine andere Macht anbeten konntest, wurdest du hergeschickt, um vom Herrn der Toten persönlich gerichtet zu werden. Wenn du schlau bist, hältst du den Mund. Manchmal schont Cyric die erste Seele einer neuen Ladung, aber nur, wenn sie kein Jammerlappen ist.« »Du läßt nach«, schnaubte Af. »Ich sage, wir brechen ihm das Rückgrat, so daß er gar nich’ anders kann als vorm Prinzen zu jammern.« Perdix zuckte die Achseln. »Nur zu, aber vergiß nicht, wer sich um die Bestrafung der Schnecke kümmern muß. Wenn er noch mal davonkommt, setzen wir ihn vor der Burg ab und sind ihn los.« Gwydion setzte zu einer Erwiderung an, aber Af brachte ihn mit einem wütenden Knurren zum Schweigen. »Hast ja recht«, murrte der Einwohner durch seine Wolfszähne. »Aber es war’ sicher schön gewesen zu sehen, wie die Schnecke mal den Zorn vom Alten zu spüren bekommt.« Af und Perdix stießen ihren Gefangenen durch die Öffnung, vorbei an der massiven Platte aus geschnittenem Onyx, die als Haupttor diente, in ein Foyer, dessen Fußboden aus einem einzigen Stück Kristall bestand. Fäden aus gefärbtem Glas, gesponnen von den Drow in Menzoberranzan, waren zu wunderschönen Tapisserien verwoben worden, die die Wände aus Knochen bedeckten. Die Wandbehänge zeigten die Abscheulichkeiten, die
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die Dunkelelfen den friedliebenden Völkern des Nordens regelmäßig antaten. Dennoch waren diese Szenen finstere Kinderträume im Vergleich zu den Dingen, auf die Gwydion durch den Fußboden einen flüchtigen Blick erhaschte. »Hier rein, Schnecke«, sagte Perdix. Seine rauhe Stimme war zu einem respektvollen Flüstern geworden. Der Raum jenseits der gräßlichen Eingangshalle war groß, aber nur spärlich möbliert. Ein Lesepult stand in der Mitte; eine breite Pergamentschlange hing von seinem oberen Ende und wand sich an seiner einzigen Stütze herab. Zu seiner Rechten stand ein massiger Stuhl. Der uralte Thron war vor langer Zeit auf seltsame Weise schön gewesen und war mit Schnitzereien versehen, die das nachtschwarze Holz in hypnotischen Mustern weitgehend bedeckten. In neuerer Zeit hatte sich ein Vandale mit einer Klinge an Armen und Beinen zu schaffen gemacht. Auf der Rückenlehne waren einst Rubine in einem Kreis angeordnet gewesen, die im Betrachter den Anschein erweckt hatten, der Sitzende sei von einem kristallenen Heiligenschein umgeben. Die Hälfte der Steine fehlte inzwischen; der blutrote Kreis war voller Lücken und Scharten. Licht drang durch die Bleiglasfenster des Raumes und tauchte alles in ein Braun, das an getrocknetes Blut erinnerte. Tausende Schädel reihten sich an den Wänden auf, die Kiefer aufgerissen zu andauernden, lautlosen Schreien. In jeden Schlund waren dicke Pergamentrollen gestopft. Spinnweben hingen von den Schädeln wie Banner in einem Speisesaal, und in jeder Ecke des Raumes lugten winzige weiße Augen zwischen den Schädeln hervor.
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Gwydion wußte irgendwie, daß dies keine Ratten waren, sondern etwas viel Boshafteres. Die Bewohner der Fugenebene brachten ihren Gefangenen zum Lesepult und zwangen ihn auf die Knie. Af und Perdix folgten nach und warfen sich zu Boden, soweit ihre verformten Gestalten es ihnen erlaubten. Sobald die Stirn der Kreaturen den Boden berührte, erschien der Seneschall der Knochenburg am Lesepult. Das glatte, graue Gesicht des ungeheuerlichen Schreibers wies außer einem Paar hervortretender gelber Augen keine Gesichtszüge auf. Sein Körper bestand nur aus einem schattenumhüllenden Mantel, der sich in einem Wind bewegte, den Gwydion nicht spürte. Mit weißen Handschuhen, die an unsichtbaren Händen und Armen steckten, holte das Wesen eine Schreibfeder hervor und hielt sie ruhig über der Pergamentrolle. Aus allen Ecken der Bibliothek, aus allen Schädeln und Pergamentrollen huschten Kakerlaken ins Licht. Die Insekten ließen sich mit einem Prasseln, das sich wie dichter Herbstregen anhörte, auf dem Boden nieder. Große und kleine, schwarze, braune und knochenweiße krabbelten zum leeren Stuhl hin. Gwydion fühlte, wie die Kakerlaken über seine Beine und seinen Rücken rannten, aber die Bewohner der Fugenebene hielten seine Hände fest, als er versuchte, sie wegzuwischen. Die Insekten erklommen die abgenutzten Stuhlbeine und stapelten sich auf der Sitzfläche zu einem zischenden Haufen, und dann waren die Kakerlaken fort, verschmolzen zur Gestalt eines ziemlich irdisch wirkenden Mannes: hager, mit Hakennase und anscheinend recht
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gelangweilt. Er lümmelte sich in seinen Stuhl, die Beine über Kreuz, die Arme hingen locker an den Seiten herab. Seine Kleidung konnte man kaum als königlich bezeichnen – hohe Stiefel, schmutzige schwarze Hosen, Lederscheide und eine formlose karminrote Tunika, auf der ein schwarzes Sonnenbanner mit Schädel prangte. Nur sein Kurzschwert und sein weißgoldener Stirnreif wiesen ihn als jemanden von Bedeutung in der Knochenburg aus, obwohl die Krone weniger als Machtzeichen gedacht schien denn als Mittel, um das lange braune Haar des Mannes davon abzuhalten, ihm in die Augen zu fallen. Trotz aller vorgegebener Langeweile umgab ihn ein Gefühl von Spannung wie ein Pesthauch. Egal, wie tief er sich in den Stuhl sinken ließ, er blieb immer noch eine zusammengerollte Schlange, bereit, bei der geringsten Provokation zuzuschnappen. »Heil Cyric, Herr der Toten, Höchster unter den Mächten Faerûns«, sagte Perdix, wobei er sich unterwürfig verbeugte. Af wiederholte die Geste. »Heil Cyric, Prinz der Lügen, Schlächter dreier Götter.« Der Herr der Toten zuckte nervös, als wäre er lieber irgendwo anders. Es war unklar, ob die Ungeduld einfach vorgeschützt oder nur ein Überbleibsel einer Angewohnheit aus Cyrics sterblichem Leben war, aber wie alle höheren Götter war auch der Prinz der Lügen nicht auf eine einzige körperliche Inkarnation beschränkt. Noch während er die Audienz in der Knochenburg abhielt, manifestierte sich sein göttliches Bewußtsein in Dutzenden von Avataren im ganzen Universum, die die Gebete seiner Getreuen erhörten oder Streit und Zwie-
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tracht säten, wo immer sie Wurzeln schlugen. »Bringen wir es hinter uns, Jergal«, murmelte der Herr der Toten. Der Seneschall richtete seinen Blick auf Gwydion, und der Schatten fühlte, wie etwas Kaltes und Nichtmenschliches über seinen Verstand glitt. Es grub sich in seine Erinnerungen, wühlte sich durch sein Leben wie eine Ratte durch Unrat. Gwydion versuchte, Jergals toten Augen auszuweichen, aber er stellte fest, daß er gelähmt war. Dann, so schnell wie es begonnen hatte, war das Verhör auch schon vorbei. Du bist Gwydion, Sohn Gareths des Schmieds. Die körperlose Stimme fröstelte ihn wie Jergals Eindringen in seine Gedanken. Geboren in Suzail vor dreißig Wintern, nach der dortigen Zeitrechnung. Zu Lebzeiten warst du Soldat und Söldner, aber deine einzig wahre Gabe war die Flinkheit deiner Füße. Du hast sie vor allem verwendet, um unbedeutende Wetten zu gewinnen. Dein Leben war weder von großem Glück noch von großem Schmerz berührt. »Moment«, stotterte Gwydion. »Was ist mit Cardea und Eri? Ich liebte –« Du glaubtest an die Götter Faerûns, verehrtest sie aber nur in Zeiten der Gefahr. Du erkorst dir den Narren zum Schutzgott, hast aber in den letzten Jahren deines Lebens weder großen Mut noch Loyalität seiner Sache gegenüber gezeigt. Cyric gähnte. »Deine Taten brandmarken dich als einen der Falschen«, sagte der Herr der Toten, ohne nachzudenken. »Kein Gott wird dich in sein Paradies einlassen, also unterstehst du mir. Daher –«
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Gwydion sprang auf. »Ich starb, als ich für Torm kämpfte! Er muß –« Der Name des Gottes der Pflicht war dem Schatten kaum über die Lippen gekommen, als ein Kurzschwert seine Kehle durchbohrte. Gwydion hing zuckend und hustend aufgespießt auf Cyrics Klinge. Eine Kälte, wie sie der Schatten weder zu Lebzeiten noch im Tode je gespürt hatte, breitete sich von der Wunde aus und zehrte an seiner Essenz. Das Kurzschwert pulsierte, und seine Klinge verdunkelte sich langsam von Blaßrot zu tiefem Karmin. Der Herr der Toten sah Af und Perdix kalt an. »Jemand hätte ihn darüber informieren sollen, daß in der Stadt der Zwietracht nur ich allein den Namen eines anderen Gottes aussprechen darf.« »Das – das haben wir, Euer Magnifizenz«, sagte Perdix. »Aber er denkt, es müsse irgendeine Verwechslung gegeben haben. Er behauptet, jemand habe ihn überlistet und –« »jeder, der hier landet, denkt, es liege eine Verwechslung vor«, bemerkte Cyric. »Ihr beide werdet eine Zeitlang an seiner Strafe teilhaben, nur damit ihr in Zukunft etwas mehr Sorgfalt beim Vorbereiten der Schatten auf ein Treffen mit mir walten laßt.« »Danke, Euer Magnifizenz«, sagte Af. Beide Bewohner der Fugenebene warfen sich ihrem Herrn zu Füßen. »Was das Schicksal angeht ... wir haben Dendar schon länger keine Seelen mehr geschickt, oder, Jergal?« Die Nachtschlange wäre froh ob Eurer Großzügigkeit, bestätigte der Seneschall. Sie hat seit recht langer Zeit nicht mehr das Mark einer frischen Seele gekostet.
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Cyric sank zurück in seinen Stuhl. »Dann steht es fest. Bringt den Schatten zu Dendar.« Während Jergal sich mit sorgfältigen, präzisen Federzügen Notizen machte, packten die Bewohner der Fugenebene Gwydion. Der Schatten wehrte sich trotz seiner Schwächung durch die Mißhandlung. Er keuchte Cyric etwas zu, doch die Worte waren nur ein Pfeifen aus seiner durchbohrten Kehle, wie Dampf, der aus einem heißen Kessel entweicht. Cyric wurde des ungezügelten Erstaunens in Gwydions Augen gewahr. Der Herr der Toten machte eine Geste, und die Wunden des Schattens heilten sofort. »Du erkennst mich?« fragte er, während er müßig mit seinem Schwert gegen das Stuhlbein schlug. Gwydion wies auf die blutrote Klinge. »Ihr wart das«, keuchte er. »Ihr kamt in Thar zu mir. Ihr gabt vor –« Der Narr zu sein, warf Jergal ein. Jeder Gott erhält einen Namen, der seinem Rang in unserem Reich gerechter wird. Der Gott der Pflicht ist hier als der Narr bekannt. »Ihr gabt vor, der ... Narr zu sein«, sagte Gwydion. Ihm schauderte, als er den lästerlichen Namen aussprach. »Warum? Nur, um mich durch diesen Trick dazu zu bringen, mich dem Riesen wie ein Wahnsinniger entgegenzuwerfen?« »Genau«, ertönte eine tiefe, dröhnende Stimme von der Bibliothekstür. »Das ist genau die Art von nichtigem Vergnügen, die sich Cyric selbst bereitet.« Jergal, Gwydion und die Bewohner der Fugenebene fuhren herum und sahen sich einer wuchtigen Gestalt gegenüber. Ihre alte Rüstung war von dunkelvioletten
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Flecken bedeckt, die Ellbogen- und Kniekacheln aus Drachenknochen gefertigt. Sogar in der schlechtbeleuchteten Bibliothek funkelte das Licht wie das der Sterne auf ihrem Brustharnisch. Die Gestalt strahlte Macht, Strenge und Unversöhnlichkeit aus. »Nein«, flüsterte Perdix. »Nicht er. Nicht jetzt.« Torm, der Treue, ging gemessenen Schritts auf Cyric zu. Seine Rüstung rasselte beim Gehen; die jähen Laute hallten von den Wänden wider wie Kanonendonner in der Ferne. Auf Gwydions Höhe blieb Torm stehen und nahm den Helm ab. Noch nie hatte der Schatten einen so gutaussehenden jungen Krieger gesehen. Das Licht der Rechtschaffenheit blitzte in seinen Augen. Seine kantigen Gesichtszüge verrieten unerschütterlichen Mut. »Gebt diese Seele frei«, befahl Torm. »Ihr habt sie durch Illusion und Heimtücke in Euer Reich gelockt. Ihr habt ihr Leben durch Täuschung vorzeitig beendet.« Cyric lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog eine Grimasse. »Kommt schon, Torm. Ihr seid doch nicht wegen dieses Wurms den ganzen langen Weg in den Hades gereist. Da warten größere Riesen auf Euch – sagt man nicht so bei euch Tormiten?« »Tormischen«, berichtigte der Gott der Pflicht. »Gwydions Schicksal reicht aus, um mich an deinen verabscheuungswürdigen Hof zu holen. Er rief mich an. Ich erhöre sein Gebet.« Ein erleichterter Ruf kam von Gwydion. »Danke, Heiligkeit. Ich wußte, daß Ihr einen Getreuen nicht –« »Überhäufe ihn noch nicht mit Lobpreisungen«, unterbrach Cyric ihn verschlagen. »Torm schert sich keinen Deut um deine Seele. Seine Macht reicht nur deshalb
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aus, meine Stadt ungebeten zu betreten, weil du seinen Namen laut ausgesprochen hast. Du hast ihm eine bequeme Möglichkeit eröffnet, sich in meinem Heim unwillkommen heißen zu lassen.« Die Wut, die Torm mühsam unterdrückt hatte, kochte über. Er hob eine gepanzerte Faust und drohte dem Prinzen der Lügen. »Ich habe meinen Anhängern gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Die Menschen nennen mich Torm, den Treuen, weil ich vor allem anderen Loyalität schätze. Sie nennen mich –« »Sie nennen Euch den Treuen Torm, weil Ihr zu dumm seid, Verluste in Grenzen zu halten und einen verlorenen Kampf aufzugeben«, zischte Cyric. »Ich kenne die Litanei gut. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich sie ziemlich bühnenreif für Gwydion in Thar rezitiert.« Torm machte einen drohenden Schritt auf Cyric zu, der sich noch immer nicht erhoben hatte. »Wir kommen schnell zur Sache. Wie ungewöhnlich für Euch.« »Ah, Ihr seid gekommen, um mich darüber zu informieren, daß meine Imitation Euch nicht geschmeichelt hat.« Der Prinz der Lügen lachte. »Sie war recht gut, das könnt Ihr mir glauben. Abgesehen vom Schwert glich ich Euch bis ins Kleinste.« Er stand auf und reckte sich. »Dennoch werde ich Euch eine Chance einräumen, diese arme, mißhandelte Seele zu retten.« »Ihr bekennt Eure Sünden?« fragte Torm, während sich seine Augen mißtrauisch verengten. »Gwydion steht es frei zu gehen?« »Ich bekenne gar nichts«, sagte Cyric, »aber Ihr bekommt Eure Chance, diesen Möchtegern-Tormiten zu
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retten.« Er trat Af beiseite und hob Gwydion an den Handschellen hoch. »Bevor Ihr ihn jedoch unter Eure gepanzerten Fittiche nehmt, müßt Ihr mich davon überzeugen, daß er unter Euren Getreuen ein Zuhause findet. Ohne eine solche Garantie kann ich keine Seele aus meinem Reich entlassen.« »Wenn nicht bei mir«, begann Torm, »dann bei –« »Ihr könnt nicht für die anderen Götter sprechen, Torm. Es überrascht mich, daß Ihr Euch zu dem Versuch erkühnt.« Der Gott der Pflicht wurde rot. Er richtete seinen festen Blick auf Gwydion und sagte: »Ich kann dir Zuflucht gewähren, jedoch nur, wenn du wahrhaft einer meiner Getreuen bist. Wirst du deine Ergebenheit mir gegenüber unter Beweis stellen?« Der Schatten trat vor, weg von den sich duckenden Einwohnern und dem seltsamen schweigsamen Seneschall. »Selbstverständlich«, sagte er. Torm spreizte die Finger und streckte die Hände mit den Handflächen nach unten aus. Der blasse Lichtschein, der von den Fenstern kam, enthüllte unzählige winzige Runen, die in seine Handschuhe geschnitten waren: auf dem rechten das Wort für »Pflicht« in jeder bekannten Sprache; auf dem linken das gleiche mit »Loyalität«. Man erzählte sich im Flüsterton, Torm könne vernichtet werden, wenn all diese Worte verlorengingen. Um dieses Desaster zu verhindern, verbrachten einige TormNovizen ihr erstes Dienstjahr in winzigen Zellen, wo sie eines der Worte für »Pflicht« oder »Loyalität« wie Mantras von morgens bis abends wiederholten. Die Ergebensten unter ihnen ließen selbst im Schlaf nicht von
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dem ihnen zugewiesenen Sprechgesang ab. »Lies ein Wort von einem der beiden Handschuhe vor«, sprach Torm feierlich. Gwydion kniff die Augen zusammen, sah die Rüstung an und dann auf zum Gott der Pflicht. »Ich ... ich kann keine Schrift erkennen, Eure Heiligkeit.« Trauer erschien in Torms Augen. »Der Pakt, den ich mit meiner Kirche habe, ist eindeutig, Gwydion der Schnelle. Ich kann deine Seele nicht annehmen, wenn du diese einfache Prüfung nicht bestehst.« Dann flammte die Wut erneut heiß auf. Er wandte sich Cyric zu. »Dafür werdet Ihr bezahlen. Ich werde dafür sorgen.« Der Prinz der Lügen kehrte dem Gott in der Rüstung den Rücken und ging langsam zu seinem Stuhl. »Nehmt Gwydion und steckt ihn in die Mauer. Bewacht ihn, bis ich euch wieder rufen lasse.« Schweigend warf Gwydion Torm einen hilfesuchenden Blick zu, doch der Gott der Pflicht schüttelte den Kopf. Der Schatten ließ alle Hoffnung fahren. Mit gesenktem Kopf ließ er sich von den Einwohnern kampflos abführen. Sobald der Gefangene den Raum verlassen hatte, bedeutete Cyric Torm mit einer gelangweilten Handbewegung, er möge gehen. »Meldet dem Kreis seine Bestrafung. Ich weiß selbstverständlich, daß die Mauer für die Treulosen reserviert ist. Ich habe den Wurm aus einem Grund hineingesteckt: Ich will, daß Ihr Euch für den Rest der Ewigkeit daran erinnert, daß Ihr seine Lage verschlimmert habt, indem Ihr Eure lange Nase in etwas gesteckt habt, das Euch nichts anging.« »Das herrschende Gesetz –«
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»In der Stadt der Zwietracht ist meine Laune Gesetz«, schnauzte Cyric. »Es täte Euch gut, Euch dessen zu erinnern, besonders, da Ihr der Eindringling seid. Wenn ich zufällig ein paar hundert Grubendämonen beschwöre, die Euch nach draußen geleiten ...« »Ihr droht mir!« Der Gott der Pflicht veränderte sich, und seine markanten Gesichtszüge begannen, denen eines Löwen zu gleichen. »Ich könnte jeden einzelnen Grubendämon in Eurem höllischen Heim erschlagen«, brüllte er. »Sie würden Euch aber ziemlich lange auf Trab halten«, gurrte Cyric. »Lange genug für mich, um in Eurer Gestalt Eure Kirchen aufzusuchen und einen heiligen Krieg anzuzetteln, und es stünde noch nicht einmal in Eurer Macht, mich aufzuhalten. Schließlich seid Ihr, Torm, nur ein niederer Gott.« Torm marschierte zum Rand der Bibliothek. Sein Löwengesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt. Seine goldene Mähne umstand seinen Kopf wie ein Heiligenschein. »Ihr taugt nicht zum höheren Gott.« In einem blauen Lichtblitz verschwand er. Der Narr kann sich glücklich schätzen, daß er nicht weiß, wie gefährlich Ihr wirklich seid, Magnifizenz, bemerkte Jergal. Cyric zog erneut sein Kurzschwert und starrte auf die karminrote Klinge. »Wüßte er es, würde ich ihn töten, wie ich es mit Bhaal, Myrkul und Leira getan habe. Vielleicht bringe ich ihn trotzdem um. Mein Schwert ist auf den Geschmack von Götterblut gekommen.« Er ließ die Hand zärtlich die Klinge entlanggleiten. »Nicht wahr, meine Liebe?«
Nur, wenn das Blut für Euch vergossen wird, schnurrte eine verführerische, weibliche Stimme. Der Geist des Schwertes rollte sich zufrieden im Morast von Cyrics Bewußtsein zusammen, dunkel und grausam wie jeder der verdorbenen Gedanken, die im Verstand des Totengottes lauerten.
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Worin die dreihundertsiebenundneunzigste Fassung eines Buches, das sich ausführlich mit Cyrics Leben befaßt, sehr scharfe Kritik erntet, worüber die Schreiber und Illustratoren in der Zentilfeste reichlich bestürzt sind. Bevis war seit fünfzehn Jahren Illustrator, und er konnte sich nicht daran erinnern, daß ihm seine Arbeit auch nur einen Moment lang Spaß gemacht hätte. Er haßte die ewigen Tintenflecken an den Fingern. Der saure Geruch der Farben trieb ihm die Tränen in die Augen, und es gab keinen Tag, an dem er nach Feierabend keine Krämpfe in der Hand bis zum Gelenk spürte. Das Problem war, daß Bevis keine anderen Fähigkeiten hatte, mit denen er sich auf legale Weise nützlich machen konnte; obendrein konnte er nicht einmal den Tapferen spielen und sich so einen Platz in der beträchtlichen und florierenden Unterwelt der Zentilfeste schaffen. So schuftete er tagein, tagaus, schmückte langweilige Predigtsammlungen künstlerisch aus, lieferte ermüdende Berichte über kleine Schlachten und schwülstige Autobiographien von Gildenmeistern, die sich einen Platz in der zentischen Geschichte zu erkaufen hofften. Weniger ermüdend fand Bevis die Arbeit an Bußbüchern. Solche
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2 [ DAS BUCH DER LU..GEN ]
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Bücher erläuterten die Bußen, die auf verschiedene Sünden standen, und enthielten für gewöhnlich lebhafte Beschreibungen von Foltern in der Stadt der Zwietracht – nur für den Fall, daß der Getreue an den Preis erinnert werden mußte, den der Drückeberger zahlte. Wie all die anderen Miniaturen, die Bevis zeichnete, stammten auch diese schreckenerregenden Bilder aus einem Musterbuch. Dennoch war es immer noch interessanter, Bewohner der Fugenebene abzuzeichnen, als in steter Wiederholung das heilige Symbol Maskes auf billiges Papier zu kritzeln, das für die Erpresserbriefe der Diebesgilde bestimmt war. Der Band, um den sich Bevis gerade ohne viel Begeisterung kümmerte, hatte seine Aufmerksamkeit stärker gefesselt als jedes noch so schauderhafte Bußbuch. Er war von der Kirche Cyrics angeheuert worden, um die Stapel vollendeter Seiten in Ordnung zu bringen, ehe sie zum Buchbinder kamen; trotz des mysteriösen Mangels an Schreibern und Illustratoren in der Zentilfeste hatten die Kleriker Bevis auf unhöfliche Weise wissen lassen, daß seine Fähigkeiten nicht dem Standard entsprachen, um dieses wichtige Werk mit Zierleisten oder Miniaturen zu versehen. Nachdem er die ersten paar Seiten durchgesehen hatte, war er geneigt, dem zuzustimmen. Das Pergament war vom feinsten, das er je gesehen hatte, dünn, biegsam und von perfekter Beschaffenheit für Tinte und Farbe. Verzierte, hervorgehobene Textstellen, in roter Tinte fett geschrieben, verkündeten den Zweck eines jeden neuen Abschnitts. Seltsame Zierleisten mit bestialischen Bewohnern der Fugenebene umgaben den Text und schienen den zimperlichen Leser vor dem
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Wissen zu warnen, das sie bewachten. Große Blattgoldquadrate dienten als Hintergrund für die Miniaturen. Die am feinsten ausgearbeiteten unter ihnen zeigten Städte, die von abscheulichen Monstren belagert und die Götter selbst, die vom Himmel gestürzt wurden. »Ah, die Zeit der Sorgen«, flüsterte der Illustrator und musterte dann nervös den höhlenartigen Raum, der ihn umgab. Die Priester waren schon lange in den warmen Tempel zurückgekehrt und hatten Bevis allein in den Krypten zurückgelassen. Ein Fing aus Kohlepfannen zog einen weiten Lichtkreis um ihn, aber er wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, daß sich jemand unmittelbar außer Sichtweite herumtrieb. Nachdem er jedoch eine Zeitlang in die Finsternis gestarrt hatte, sagte sich der Illustrator, er bilde sich das sicher nur ein. Er war allein. Die Priester würden nie erfahren, daß er sich ihren strikten Anweisungen widersetzt und einen kleinen Teil des Buches gelesen hatte. Der Zorn Aos, verkündete die vor ihm liegende Seite in großartigen, prächtigen Buchstaben. Der Abschnitt beschrieb, wie der Übervater der Götter, erzürnt durch den Diebstahl der Tafeln des Schicksals, die Gottheiten Faerûns aus ihren ewigen Palästen im Himmel verbannt hatte. Die sterblich gewordenen Götter waren gezwungen, in Avataren auf der Welt zu weilen, bis die Tafeln zurückgegeben wurden. Chaos und Streit folgten ihnen auf dem Fuße. Magie wurde instabil, Kleriker konnten ihre himmlischen Schutzpatrone nicht mehr anrufen, um die Kranken zu heilen, Mord und Gewalt bemächtigten
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sich selbst der zivilisiertesten Nationen und Stadtstaaten des Westens. Das alles war Geschichte, und in dem Jahrzehnt seit der Zeit der Sorgen waren Dutzende von Abhandlungen geschrieben worden, um die katastrophalen Ereignisse zu erklären. Vor fünf Jahren hatte Bevis gar eine davon illustriert, doch etwas an dieser Erzählung weckte sein Interesse. Er fühlte sich seltsam getrieben weiterzulesen. Bevis ordnete die Stapel auf seinem Pult und sortierte sie unordentlich. Der Diebstahl der Tafeln – nun, das kommt vor dem Abschnitt, den ich gerade gelesen habe, dachte er. Der Verrat der Gilde – diese Geschichte beschränkt sich nicht nur auf die Zeit der Sorgen. Sie handelt von Cyric, als er noch kein Gott war! Eine Kindheit in den Schatten. Kelemvor und der Winterring. Die RitterbruckVerschwörung ... Atemlos musterte Bevis die jeweils erste Seite der Stapel. eine Illustration zeigte Cyric als jungen Dieb, der sich an einen ahnungslosen Wachposten auf den schwarzen Mauern der Zentilfeste heranschlich. Der nächste Eintrag erzählte von seinem ersten Treffen mit Mitternacht, der Zauberin, die sich zusammen mit Cyric auf die Suche nach den Tafeln des Schicksals machen würde, mit dem verfluchten Krieger Kelemvor Lyonsbane und mit einem eitlen Priester namens Adon. Cyric und Mitternacht ahnten noch nicht, daß sie in der ersten Nacht in Arabel die Tafeln entdecken und von Fürst Ao mit einem Platz unter den Göttern belohnt werden sollten. Eine grelle, goldglänzende Miniatur stach Bevis ins Auge, als er sich dem nächsten Stapel zuwandte. Der
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Künstler hatte eine gräßliche Szene geschaffen, die das Abschlachten eines Halblingdorfes zeigte. Zentische Soldaten spießten kleine Frauen und Kinder auf. Die Häuser und Scheunen brannten in Blattgold, während abgetrennte Köpfe mit pechschwarzen Augen zusahen, und inmitten des Blutbades stand Cyric mit einem rosenroten Kurzschwert in den blutigen Händen. Ein finsterer Heiligenschein wies auf seine zukünftige Göttlichkeit hin. Das Thema des hervorgehobenen Textes neben der blutigen Szene war auf einfache Weise angegeben: Schwarzeichen und Götterfluch. So geschah es, daß sich Cyric der Gesellschaft Mitternachts, der Hure, des herausgeputzten Adon von Sune und des verfluchten Schwertkämpfers Kelemvor Lyonsbane entledigte. In den darauffolgenden Tagen versammelte er um sich eine kleine Streitmacht von Zentilaren und machte sie zu Propheten seiner Himmelfahrt. Er durchquerte die Herzlande mit diesen Soldaten und schlug jeden nieder, der sich seiner Vision einer Welt, frei von der Heuchelei des Gesetzes und der Ehre, entgegenstellte. Das Blut zweifelnder Könige befleckte ihre Klingen, die Hirne törichter Weiser besudelten ihre Rüstungen. Doch jeder zertrümmerte Schädel und jedes zerrissene Herz verstärkten zwiefach die Reihen der Boten Cyrics. In den Reichen der Sterblichen zogen die verfau-lenden Leichen ihre Infragestellung seiner Größe mit stillen Schreien und angstverzerrten Gesichtern zurück. Im Hades und in anderen himmlischen Gefilden kamen die gerade befreiten Seelen mit einer Verkündigung an: Seid
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bereit, denn es kommt ein Gott, der sich das ganze weite Universum zu eigen machen wird. Sobald sich seine Botschaft verbreitet hatte und die Leute erkannten, daß Freiheit nur durch Macht gewonnen werden kann, hieß man Cyric in vielen Städten und Orten als heldenhaften Eroberer willkommen. Man hängte seinen Männern Blumenkränze um den Hals und veranstaltete ihm zu Ehren üppige Feste. Doch es gab einige abgeschiedene Flecken – wie das Halblingdorf Schwarzeichen –, die Cyrics Ruhm nicht sehen konnten. Die verkümmerten Kreaturen, die in Schwarzeichen hausten, mieden ihn und drohten, den Zorn der schwächlichen Götzen herabzubeschwören, die sie anbeteten. Schon damals, einen Monat vor seiner Himmelfahrt vom Gipfel des Tiefwasser-Berges, wußte Cyric, daß jemand von seinem Rang solche Beleidigungen nicht dulden konnte. Mit Feuer und Stahl tilgte er Schwarzeichen von den Karten Faerûns. Während seine Zentilare die verkommenen Häuser niederbrannten, trieb Cyric die Halblinge zusammen und köpfte sie, einen nach dem anderen. Die Köpfe wurden in ordentlichen Reihen aufgestellt, wie glotzende, blutige Kohlköpfe vor der Ernte; dann sprach Cyric einen Fluch des immerwährenden Untods über die aufgedunsenen Klumpen von Knochen und Fleisch aus. Bis auf den heutigen Tag sprechen die verunstalteten Schädel zu allen, die sie ansehen, und Prangern ihre Torheit an. Da seine Klinge durch sein mühsames Werk an den Halblingen stumpf geworden war, suchte Cyric nach einer anderen, um sie zu ersetzen. Er befreite ein mächti-
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ges verzaubertes Schwert aus den Händen von Schleichherum, dem größten Krieger von Schwarzeichen und dem einzigen, der an diesem Tag aus dem Dorf entkam. Der Geist der Klinge hatte den Willen des Halblings gebrochen und ihn zum gehorsamen Sklaven gemacht. Darin lag keine Schande, denn ehe Cyric es führte, hatte noch niemand das rosenfarbene Schwert bezwungen. Lang war die Reihe der Soldaten und Könige, die bei dem Versuch, die Klinge für ihre Zwecke dienstbar zu machen, vernichtet wurden, doch allein Cyrics Wille war stark genug, über es zu triumphieren. Das verzauberte, rosenfarbene Schwert leistete Cyric gute Dienste, schützte ihn vor den frostigen Winden Marpenoths und heilte die Wunden, die er in den erbitterten Schlachten um die Tafeln des Schicksals erlitt. Dafür belohnte Cyric es mit Blut. Wie alle, die ihm selbstlos dienten, erhielt das Schwert das, was es am meisten begehrte. Fane, ein Offizier der Zentilare, war der erste, der der Klinge zum Opfer fiel. Der Halbling Schleichherum folgte ihm, und doch sollte sich die Essenz dieser Männer lediglich als Vorspeise der Bankette erweisen, die die Klinge bald veranstaltete. Bei der Eberfellbrücke erschlug Cyric Bhaal, Schutzpatron der Meuchelmörder, Herr des Mordes. So groß war das Chaos, das Bhaals Tod entfesselte, daß die Wasser des Schlängelnden Flusses zwischen der Eberfellbrücke und der Trollklauenfurt noch immer schwarz und giftig sind. Jede Kreatur, die aus dem Fluß trinkt, stirbt und verflucht alle, die sich Cyric entgegenstellen, denn dieser Widerstand ist zwecklos, wie das vergiftete Wasser sicherlich beweist.
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ser sicherlich beweist. Bhaal war nicht der letzte Gott, der durch Cyrics Hand fiel. Auf dem Turm Khelben »Schwarzstab« Arunsuns, eines Magiers, der als Gegner sowohl der Zentilfeste als auch ihrer Vertreter bekannt war, trat Cyric seinen vereinten Feinden entgegen, denn Mitternacht hatte sich mit Myrkul, dem gefallenen Gott des Todes, verbündet. Gemeinsam hatten sie einen feigen Plan ausgebrütet, mit dem die Tafeln des Schicksals – und damit alle Länder Faerûns – in die Hände jener Götter gelangen sollten, die das Gesetz und das Gute über alle Vernunft anbeteten. Cyric erschlug Myrkul dafür, daß er sich gegen seine Anhänger gewandt hatte. Mit einem Streich seiner verzauberten Klinge hieb er den Avatar des Gottes entzwei. Die Leiche zerfiel zu Asche, die auf Tiefwasser herabregnete, so daß unter ihr Gebäude und Straßen dahinschmolzen. Auch Kelemvor starb an jenem glorreichen Tag auf dem Schwarzstab-Turm, und die verräterische Mittemacht wäre ihrem Liebsten in die Vernichtung gefolgt, wenn sie nicht ihre Magie zu Hilfe gerufen hätte, um Cyrics Zorn zu entfliehen. Aufgrund dieser Feigheit befahl Fürst Ao Mitternacht, ihren Namen abzulegen, als er sie erhöhte, damit sie den Platz der vernichteten Göttin der Magie einnehme, und so kam es, daß Mittemacht zu Mystra wurde. Daher ist das verzauberte, rosenfarbene Schwert als Götterfluch bekannt geworden, denn in der Geschichte Faerûns ist keine andere Waffe dazu verwendet worden, die Mächte niederzuwerfen, die über die Reiche der Sterblichen herrschen.
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Bevis schob den Papierstapel von sich. Das Lesen im flackernden Licht der Kohlebecken hatte ihm pochende Kopfschmerzen verursacht, und sein Mund war seltsam trocken. Er rieb sich die Schläfen und kniff für einen Augenblick die Augen zu in der Hoffnung, den Schmerz zu vertreiben, aber die grausigen Illustrationen blitzten vor seinem geistigen Auge auf. Die Worte der Geschichte hallten in seinen Gedanken wider wie das Lied einer Sirene und lockten ihn weiterzulesen. Vielleicht war es eine Art Zauberbuch und war nur als Biographie getarnt. Oder vielleicht hatten die Kleriker einen Fluch auf die Seiten gelegt, um alle zu strafen, die das Buch unerlaubt lesen könnten. Mit klopfendem Herzen drehte Bevis den Stapel Seiten um und suchte nach einem Hinweis. Die Gilde der Schreiber in der Zentilfeste verlangte von ihren Mitgliedern, ein Kolophon auf die letzte Seite eines Manuskripts zu setzen. Für gewöhnlich brachten diese persönlichen Anmerkungen – im verschlüsselten Code der Gilde geschrieben – die Erleichterung des Schreibers zum Ausdruck, das Buch vollendet zu haben, begleitet von einem Gebet, daß er für seine Mühen angemessen entlohnt werden möge. Bei gefährlichen Bänden warnte das Kolophon andere Gildenmitglieder, daß sie den Text auf eigene Verantwortung durchblätterten. Das Kolophon dieses Bandes war länger als die meisten. Es begann mit den üblichen Erleichterungsrufen und Beschwerden über Schreibkrämpfe und ging dann über zur Hoffnung auf eine hübsche Dirne und einen Krug guten Biers. Der letzte Abschnitt des Kolophons war mit hastiger Kreuzschraffur verdunkelt worden, was andeu-
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tete, daß die Zeilen vor dem Binden vom Pergament gekratzt werden sollten. Durch die Schraffur war der Text schwer zu lesen, aber Bevis hatte Übung darin, solche Rätsel zu entziffern. Von den Lippen des Gottes in meine Feder, in diesem, dem zehnten Jahr der Herrschaft Cyrics als Herr der Toten. Dreihundertsiebenundneunzig Fassungen dieses Buches gingen der vorliegenden voraus. Möge es meinem unsterblichen Herrn gefallen, nicht meine Haut für die Seiten des dreihundertachtundneunzigsten zu verwenden. Mit einem Entsetzensschrei stieß Bevis die Lagen von sich. Sie flatterten vom Tisch und kamen auf dem Boden zu liegen, wie Geier, die sich um einen Toten herum niederließen. »Das ist wohl kaum die Art, wie ein Künstler das Werk seiner Kollegen behandeln sollte«, kam eine Stimme aus der Finsternis. Bevis fuhr herum. Da war jemand, im finstersten Teil der Krypta. »P-Patriarch Silbermähne?« stammelte der Illustrator, während er vorsichtig nach seinem Federmesser tastete. »Kaum.« Der Mann, der sich in der Finsternis verbarg, trat vor. Er war jung, hager und bewegte sich mit einer katzenhaften Anmut, die seine Ausbildung zum Dieb verriet. Er streifte seinen Mantel beiseite und legte die Hand bedeutungsvoll auf den Knauf seines Kurzschwerts. Die Waffe hing in einer Schlaufe am Gürtel des Mannes; keine Scheide verbarg ihre rosenfarbene Klinge. »Hat dir mein Buch gefallen?« Der Illustrator setzte zu einer Antwort an, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Der hakennasige
Mann stolzierte auf ihn zu, ohne daß man auch nur einen seiner Schritte auf dem kalten Steinfußboden der Krypta gehört hätte. Er beugte sich herab, nahm sich eine Illustration – eine von denen, die den Herrn der Toten darstellten – und hielt die Seite dann neben sein Gesicht, so daß Bevis sie vergleichen konnte. Die Miniatur ähnelte ihm auffallend, bis hin zum dunklen Heiligenschein. »Oh ihr Götter«, keuchte Bevis, während er zu Boden sank. Cyrics grausames Lächeln wurde breiter. »Nein, nur der einzige, der zählt.«
Bevis lehnte kraftlos an der Steinsäule, der drei Gestalten glücklicherweise nicht gewahr, die sich um ihn versammelt hatten. Die im Kreis stehenden Kohlepfannen brannten noch immer hell, aber man bedurfte ihrer nicht länger. Ein Gedanke Cyrics reichte aus, um die Katakomben in Licht zu tauchen und jeden Zentimeter der unebenen Steinböden und niedrig gewölbten Decken zu enthüllen. »Ich wünschte, Fzoul würde sich beeilen!« kreischte Xeno Silbermähne. Das silberweiße Haar des Hohepriesters fiel in wilden Locken um sein Haupt, als er nach vorn stolzierte und mit der dampfenden Eisenstange nach Bevis stocherte. Die schmale Statur des Priesters wurde von der Masse seiner dunkelpurpurnen Robe verhüllt. »Ich will mit diesem Spion vor dem Abendessen anfangen.« Der fette Adlige, der in seiner Nähe lungerte, gähnte
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und hielt sich ein parfümiertes Taschentuch an die Knollennase. »Euer verblichener Bruder wäre stolz darauf, wie Ihr dieses Ding handhabt, Xeno«, sprach er gedehnt durch das Quadrat aus Shou-Seide. »Ihr habt auf bewundernswerte Weise in Eure neue Rolle als Patriarch gefunden. Wir sind alle dankbar, daß ihr Maskuls Platz einnehmen konntet, nachdem er unter so, äh, mysteriösen Umständen verschieden ist.« »Erspart uns Eure Anspielungen, Fürst Schach«, sagte Cyric. »Ihr wißt, daß Xeno Maskul ermordet hat. Eure Spione haben Euch darüber informiert, noch ehe der Dolch den Weg zu seinem Herzen fand. Es hätte Euch allerdings nicht überraschen sollen. Schließlich dient Xeno mir, und ich bin der Herr des Mordes, nicht wahr?« Die affektierte Fassade bröckelte, und der Herrscher der Zen-tilfeste ließ das Taschentuch von seinem Gesicht gleiten. »Natürlich, Euer Magnifizenz«, murmelte er. »Sagt mir, Schach«, verlangte Cyric scharf, »betet Ihr noch immer zu Leira um eine Möglichkeit, Euren verabscheuungswürdigen Wanst vor Euren Kurtisanen zu verbergen? Illusionen können nicht alles kaschieren, wißt Ihr.« Schamrot straffte Schach seine massige, an der Steinwand der Krypta lehnende Gestalt. Als er sich in der Hoffnung auf ein Zeichen der Anerkennung nach Cyric umsah, stellte er fest, daß der Avatar des Gottes in die höhlenartigen Katakomben davongeschlendert war, und er fragte sich, wie um alles in der Welt der Herr der Toten Gebete abgefangen hatte, die an jemand anderen im Himmel gerichtet waren.
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Die Krypten hatten einst die ehrwürdigen Toten Tyrannos’ beherbergt – Priester und Krieger und vielseitig gebildete Staatsmänner, die ihr Leben dem ehemaligen Gott der Zwietracht gewidmet hatten. Im Anschluß an die Zeit der Sorgen, als sich Cyric Tyrannos’ Mantel umgehängt hatte, wies er seine Gefolgsleute an, die geheiligten Stätten des Schwarzen Fürsten zu plündern. Sie entstellten die schönen Marmorstatuen und -gräber, ehe sie sie zerschlugen. Was von Tyrannos’ Getreuen übriggeblieben war, wurde ohne viel Federlesens in den Tesch geworfen. Die Kirche Cyrics hatte noch nicht genügend eigene Märtyrer, um die mittlerweile entvölkerten Krypten zu füllen; also nutzte man den Platz anderweitig. Eine Gruppe von Meuchelmördern der Kirche hatte sich das Meditieren inmitten der Ratten und Spinnen und angsteinflößenderen Kreaturen angewöhnt, die in den finsteren Katakomben umherschlichen. Von ihnen und den wenigen Zauberern der Kirche abgesehen, die in den Krypten geheime Experimente durchführten, blieben die weitläufigen Gewölbe und Kammern leer. Ungenutzt wanden sie sich unter dem gewaltigen Komplex von Tempeln und Klöstern dahin, die dem Prinzen der Lügen gewidmet waren. Cyric ging nervös über die gezackte Einkerbung, an deren Stelle einst eine Gedenktafel den Boden geziert hatte. Vielleicht sollte ich Xeno die Schreiber wegsperren lassen, die an den frühen Auflagen der Cyrinishad arbeiteten, sann er. Dann wäre es hier bald voller. Ich könnte sogar die Leichen der Schreiber zurückgeben, wenn die Kleriker begraben wollen, was von ihnen übrigbleibt.
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Der Prinz der Lügen schloß die Augen und horchte. Die endlosen Schreie der Männer und Frauen, die die mißlungenen Bände verfaßt hatten, drangen an sein Ohr, selbst aus ihrem glühenden Gefängnis im Thronsaal der Knochenburg ... Ein Rasseln und Klirren verscheuchte das Wehklagen der Verdammten aus Cyrics Bewußtsein. Er blickte zurück zu den anderen; Xeno hatte das Eisen in eine Kohlepfanne geworfen, um es wieder zu erhitzen. Der Gedanke, den Patriarchen ins Grab seines ermordeten Bruders zu sperren, kam dem Todesgott kurz in den Sinn – eine angenehme Wiedergutmachung für sein unaufhörliches Gekreisch und Zappeln –, doch Cyrics Verärgerung ging schnell in Belustigung über. Cyric hatte sich einen körperlichen Avatar für diesen Besuch der Zentilfeste ausgesucht; etwas, was er selten getan hatte, seit er zum Gott geworden war. Er zog es vor, die Träume seiner Anhänger als blutiger Geist heimzusuchen oder vor seinen Feinden als Wolke giftigen Rauchs in Erscheinung zu treten. Er hatte vergessen, wie es war, die Welt durch Sinne wahrzunehmen, die sich leicht ablenken ließen. Das seltsame Gefühl war auf eine nostalgische Art und Weise angenehm, und es besserte seine schlechte Laune etwas. Man hörte den Widerhall von Fzouls Schritten in den Krypten, bevor man ihn sah. Als er am unteren Ende der Treppe erschien, wies nichts darauf hin, daß er sich beeilt hatte, Cyrics Ruf zu folgen. Tatsächlich schien es – der zeremoniellen Aufmachung nach zu urteilen, die er trug –, als hätte sich der Priester die Zeit genommen, sich für das Treffen herauszuputzen. Das seltsame Strah-
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len, das die Katakomben erleuchtete, ließ Fzouls schwarze Rüstung glitschig erscheinen wie die Schuppen einer Schlange, nachdem sie sich gehäutet hat. Einst hatte das heilige Symbol Tyrannos’ auf dem Harnisch geprangt. Nun war er blank, ein mitternächtlicher Himmel bar jeden Sternenlichts. Silberne Bänder, den Zentauren des Lethyrwaldes gestohlen, hielten sein langes rotes Haar in einem Zopf und umfaßten seine herabhängenden Bartenden. Fzoul zog die Handschuhe von jedem seiner langen Finger einzeln, faltete dann den drachenledernen Handschutz und steckte sie in seinen Gürtel. »Euer Magnifizenz«, sagte er ohne Ehrerbietung und Enthusiasmus. Der Priester beugte das Knie und den Kopf, eher, um den Ausdruck von Verachtung auf seinen harten Gesichtszügen zu verbergen als aus Unterwürfigkeit. Cyrics Gelächter hallte durch die Krypten. »Euer Widerstreben macht mir Eure Verehrung nur umso schmackhafter. Ich weiß, Ihr haßt mich. Ihr haßt mich, seit ich Euch in der Schlacht von Schattental den Pfeil verpaßte.« Er grinste. »Sagt, schmerzen die Kriegswunden an Tyrannos’ alten hochheiligen Tagen?« Wut blitzte in Fzouls Augen auf. Er knirschte mit den Zähnen und verbiß sich eine verbitterte Antwort. »So ist es recht. Schickt stille Gebete an alle finsteren Mächte des Universums«, sagte Cyric. »Die anderen Götter können Tyrannos nicht zurückbringen, und gegen mich werden sie nichts unternehmen.« Die Heiterkeit war aus seiner Stimme verschwunden, und sein Blick durchdrang die Seele des Priesters. Langsam richtete sich Fzoul auf. Ein Mantel der
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Furcht hatte sich um den aufblitzenden Zorn gelegt. »Das haben Euer Magnifizenz die letzten zehn Winter über wieder und wieder unter Beweis gestellt.« Um die Spannung, die sich in der Gruppe breitgemacht hatte, zu mildern, lächelte Fürst Schach breit und klopfte Fzoul mit der Hand auf die Schulter. »Sagt, wie steht es um die Zentarim? Haben Eure Magier irgendeine Spur von Kelemvor Lyonsbane gefunden? Verdammt seltsam, daß seine Seele all diese Jahre über verschwunden bleibt.« Er wandte sich lächerlich strahlend an Cyric. »Euer Magnifizenz haben ihn zu gut umgebracht, fürchte ich.« Götterfluch rührte sich an Cyrics Schenkel. Mich dürstet nach dem Blut all dieser schwatzhaften Affen, säuselte das rosenfarbene Schwert im Geiste des Gottes. Das unheilvolle Lächeln kehrte auf Cyrics Gesicht zurück, als das Schwert ihn an Visionen eines Blutbads teilhaben ließ. Der Prinz der Lügen verweilte bei ihnen; Fzouls präzise und uninteressante Erklärung dafür, warum es den Zentarim nicht gelang, Kelemvors Seele aufzustöbern, setzte sich an anderer Stelle in Cyrics ungeheurem Bewußtsein fest. Der Herr der Toten traute den Zentarim nicht. Seit der Vernichtung seines unsterblichen Schutzpatrons Tyrannos hatte das Schwarze Netzwerk seine Bemühungen fortgesetzt, die gesetzestreuen Königreiche Faerûns mit Hilfe von Spionen und Meuchelmördern auf heimtückische Weise zu untergraben. Die Magier, die die Gruppe kontrollierten, hatten sich ärgerlicherweise als sehr loyal Tyrannos’ Andenken, oder, was noch aufreizender war, der Göttin der Magie gegenüber erwiesen.
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Nichtsdestotrotz wußte Cyric um ihre Nützlichkeit, besonders in Angelegenheiten, in denen die Dienste fähiger Zauberer benötigt wurden. »Die Orakel können Lyonsbane nicht aufspüren«, endete Fzoul rundheraus. »Wenn seine Seele vor Eurem Zorn geflohen ist und sich in den Reichen der Lebenden versteckt, schützt eine große Macht ihn vor unserer Magie.« Cyric runzelte die Stirn. »Wie in jedem Bericht der letzten zehn Jahre«, polterte er. »Dahinter stecken Mystra oder einer ihrer Verbündeten. Aber sie werden Kelemvor nicht ewig vor mir verstecken, nicht, nachdem die Cyrinishad ihnen die Anhänger stiehlt, wie, Xeno?« Der Patriarch gab ein irres, gackerndes Lachen von sich und nahm den Stapel Pergament vom Tisch. »Ihr habt Glück. Jemand anderes hat das Buch zuerst rezensiert – zumindest einen Teil davon.« Er wies mit dem Kinn in Bevis’ Richtung. »Wir werden ihn ein wenig ansengen, und dann sehen wir, ob er daran glaubt.« »Keine Sorge, Fzoul«, murmelte Cyric, als er dicht an dem Priester vorüberging. »Ihr dürft das Buch als nächster lesen, wenn das kleine Experiment glückt. Deswegen habe ich Euch herbestellt. Ich möchte, daß Ihr der erste seid, der seine Verfehlungen einsieht.« Nachdem er Bevis wachgerüttelt hatte, hielt Xeno die heiße Eisenstange an die nackten Füße des Mannes. Der unerträgliche Schmerz ließ den Illustrator in Ohnmacht fallen. Als er wieder zu sich kam, wurde ihm übel vom Gestank seines eigenen verbrannten Fleische. »Es tut mir leid«, würgte Bevis. »Ich weiß, daß ich es nicht hätte lesen sollen. Aber als ich einmal angefangen
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hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.« Xeno stieß ein Triumphgeheul aus. »Du konntest also nicht anders?« Er schwenkte das glühende Eisen vor Bevis’ Gesicht. »Du würdest mich doch nicht anlügen, oder?« »Nein!« kreischte der. »Bitte. Ich werde keinem erzählen, was ich gelesen habe. Ich werde niemandem sagen, was in dem Buch steht!« Fürst Schach rieb sich das Doppelkinn, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Sinn und Zweck der Sache. Uns wäre es lieber, wenn du es jedem erzähltest.« Bevis sah dem geckenhaften Adligen hoffnungsvoll in die Augen. »Dann werde ich das. Ich werde mich auf die Straße stellen und die Geschichte immer wieder in die Welt hinausposaunen. Meine Tochter war früher Schreiberin, eine ausgezeichnete sogar. Sie ist aus der Gilde ausgetreten, aber ich kann sie überreden, beim Abschreiben des Textes zu helfen, wenn Ihr wollt ...« »Das führt doch zu nichts«, schnauzte Fzoul. Er packte das rotglühende Eisen. »Wir wollen erfahren, ob er glaubt, was in dem Buch steht, nicht, ob wir ihn soweit schikanieren können, daß er zum Marktschreier für die Kirche wird.« Auf ein Nicken Cyrics hin begann Fzoul Chembryl, Bevis einer langen, systematischen Folter zu unterziehen. Über eine Stunde ertrug der Illustrator die Schmerzen. Vieles von dem, was er von der Cyrinishad gelesen hatte, wiederholte er Wort für Wort. Die Textpassagen hatten sich ihm mit einer Klarheit ins Gedächtnis gebrannt, die der Priester selbst mit noch so raffiniertem Einsatz von
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Dolch und heißem Eisen nicht trüben konnte – bis sie zum Tod Myrkuls und der Schlacht auf dem Schwarzstab-Turm gelangten. »Ich erinnere mich nicht an diesen Teil der Geschichte«, rief Bevis mit versengten, blutenden Lippen. Xeno runzelte die Stirn. »Glaubt ihm kein Wort.« »Natürlich nicht«, schnauzte Fzoul Chembryl. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und ließ die Hand dann vorschnellen, so daß die salzige Flüssigkeit auf Bevis’ gehäuteten Wangen landete. Als das Geheul des Illustrators verstummte, fragte der Priester leise: »Wer vernichtete Myrkul?« »Es stand in dem anderen Buch«, sagte Bevis. »Das eine über die Zeit der Sorgen, an dem ich vor Jahren gearbeitet habe.« Er fing an zu lachen. »Diese Historie war das einzige Buch, das ich auf einmal durchlas. Ich dachte –« »Die Vernichtung Myrkuls«, drängte Cyric ungeduldig. Er zog Götterfluch aus der Scheide, denn ein Teil von ihm wußte die Antwort, bevor Bevis sie aussprach. »Mitternacht tötete Myrkul«, flüsterte der Illustrator, wobei sich seine Augen verdrehten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Aber der Gedanke daran schmerzt mich jetzt, obwohl in dem anderen Buch stand, es sei die Wahrheit, und Cyric wartete in dem Turm und lauerte Mitternacht und Kelemvor und dem anderen, dem narbigen Priester, auf, und er erstach Kelemvor von hinten und stahl die Tafeln des Schicksals. Er rannte davon, weil Mitternacht ihn sonst –« Die karminrote Klinge durchbohrte des Mannes Seite und unterbrach seine unzusammenhängende Antwort.
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Bevis hatte gerade noch Zeit, ein einziges Mal zu keuchen, während Götterfluch ihm jeden Tropfen Blut entzog. Dann griff Cyric in den Toten und riß die Seele heraus. Die geisterhaft schimmernde Seele schien aus Licht zu bestehen, doch wenn er einmal in der Stadt der Zwietracht war, würde Bevis so körperlich wie all die anderen Schatten sein – und ebenso empfänglich für ewige Folter. Die Seele fest in einer Hand richtete der Herr der Toten seine Augen, die von Höllenfeuer loderten, auf die drei Sterblichen in den Krypten. »In drei Tagen, bei Sonnenuntergang, fangen wir von vorn an«, rief er. »Haltet einen Schreiber bereit. Findet denjenigen, der diesen Schund verfaßt hat –« er richtete Götterfluch auf die Pergamentbögen, und die Tinte verschwand von den Seiten –, »und macht seine Haut zu einem Teil des Pergaments für den nächsten Band. Ich werde einen Bewohner der Fugenebene schicken, um die Leiche abzuholen, wenn ihr ihn fertig gehäutet habt.« Xeno fiel auf die Knie. »Es gibt keine Schreiber mehr im Tempel«, sagte er mit zitternder Stimme. »Wir haben sogar alle Gildenmitglieder aufgebraucht, die wir festgenommen hatten.« Die Seele in Cyrics Hand ging in Flammen auf. »Der hier sagte, er habe eine Tochter, die schreiben kann«, übertönte der Gott Bevis’ Flehen um Gnade. »Wenn niemand mehr übrig ist, dann findet sie. Ich werde entscheiden, ob sie würdig ist, mir zu dienen, wenn sie mir gegenübersteht.« Mit diesen Worten verschwand der Herr der Toten. Fürst Schach fuchtelte mit seinem parfümierten Ta-
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schentuch in dem vergeblichen Versuch, den Gestank von verbranntem Fleisch zu vertreiben. »Dieses Buch wird noch einmal der Untergang der Zentilfeste«, sann er, obwohl seine Stimme keine Besorgnis verriet. Eine silberfarbene Augenbraue argwöhnisch hebend sagte Xeno Silbermähne: »Klingt für mich, als zweifeltet Ihr an der Macht des Gottes, Schach. Ich könnte Euch dafür töten lassen.« »Werdet nicht melodramatisch«, schnauzte Fzoul. »Er hält sich nur an die Tatsachen. Wenn Cyric den passenden Schreiber und den passenden Wortlaut für sein Buch findet, schafft er sich die perfekte Waffe, mit der er jeden in Faerûn bekehren kann – oder sogar auf der ganzen Welt.« Er blätterte die leeren Pergamentbögen durch. »Diesmal war er nah dran. Der Künstler hat das Ganze fast geglaubt, obwohl er vorher die Wahrheit gelesen hatte.« Fzoul schüttelte den Kopf. »Lies die Cyrinishad und glaube daran, egal, was darin steht. Warum, glaubt Ihr, verweigerte Mystra Cyric die Magie, mit der er das Buch selbst hätte erschaffen können? Oder Oghma die Dienste seiner ewigen Schreiber? Ohne Anhänger wird der Rest des Pantheons verschwinden, als hätte es niemals existiert.« Xeno riß Fzoul Chembryl die Seiten aus der Hand. »Mystra und Oghma können nicht verhindern, daß Cyrics Getreue dieses Buch erschaffen, und es gibt viele, die alles glauben, was seine Magnifizenz uns sagt, selbst ohne daß sie die Cyrinishad gelesen hätten. Für uns gibt es keine anderen Götter.« »Das ist es, was mir am meisten Angst macht«, sagte Fzoul, wandte sich um und verließ die Krypten.
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Worin Mystra mit dem Kreis der höheren Götter zusammentrifft, um Cyric zu verurteilen und feststellt, daß selbst im Himmel Schuld und Unschuld Ansichtssache sind. Jedem der Götter erschien der Pavillon von Cynosure als etwas anderes. Sune Feuerhaar sah eine riesige Halle mit Spiegeln, die ihre vollkommene Schönheit reflektierten. Tempus stellte sich einen Planungsraum tief in einer verschanzten Feste vor. Karten und Pläne der legendären Kriege, die der Herr der Schlachten geführt hatte, bedeckten jede Wand, jeden Tisch. Die Große Mutter, Chauntea, nahm den Ort als endloses, fruchtbares Weizenfeld wahr. Das angebaute Getreide wiegte sich sanft im Herbstwind, ewig bereit, abgeerntet zu werden. Die Götter im Pavillon hatten auch grundverschiedene Bilder voneinander. Lathander, der Fürst des Morgens, sah die versammelten Mächte entweder als Lichtstrahlen oder als finstere Wolken, Mächte, die den glorreichen, erneuernden Sonnenaufgang, den er auf der Welt hegte und pflegte, verstärkten oder verdunkelten. In den Augen Talos des Zerstörers, des kampfeslustigen Sturmfürsten, waren die Götter, die dem Guten oder dem Recht anhingen, lästige Ruhepole in den sich vor ihm auftür-
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menden Gewitterwolken. Als sich eine Facette ihres Bewußtseins im Pavillon manifestierte, bemerkte Mystra mit einer Mischung aus Belustigung und Verblüffung, daß sich Lathander und Talos wie üblich so weit voneinander entfernt wie möglich niedergelassen hatten. Mystra erschienen die übrigen Götter als menschliche Magier. Ihre prachtvollen Roben waren dem magischen Gewebe entliehen, das Faerûn umgab, dem Netz der Verzauberung, in dem alle Zauberei ihren Ursprung hatte. Der Pavillon selbst war das Arbeitszimmer eines Zauberers, voll von blubbernden Bechergläsern und Behältnissen, in denen alle geheimen Substanzen lagerten, die Menschen und Göttern bekannt waren. »Sagt mir, oh Herrin der Mysterien«, fragte eine melodiöse Stimme, »habt Ihr je darüber nachgedacht, warum der Morgenfürst und der Zerstörer außerstande zu sein scheinen, ihre Streitigkeiten auch nur für einen Augenblick beizulegen?« Mystra drehte sich um und stellte fest, daß Oghma neben ihr stand. Der Gott des Wissens und Schutzpatron der Barden verbeugte sich und nahm die Hand der Göttin. Ihre zierlichen alabasterfarbenen Finger leuchteten wie die Strahlen des Mondlichts auf seiner dunklen Haut, als er sie an die Lippen hob. Oghmas Galanterie entlockte der Göttin der Magie ein Lächeln. »Es ist nichts Rätselhaftes in ihrer Fehde«, erwiderte sie. »Sie liegt lediglich in ihren Aufgabenbereichen begründet. Erneuerung und Zerstörung ergänzen sich nicht gut. Es ist weiter nichts.« »Wirklich?« fragte Oghma. »Wenn Ihr Euch jetzt um-
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seht, was erblickt Ihr?« »Einen Arbeitsraum zur Ausbildung von Magiern«, erwiderte sie. »Was aber sehen die anderen?« Etwas in Mystra sträubte sich gegen den eindringlichen Ton in Oghmas Stimme. »Warum fragt Ihr?« »Ich bin der Gott des Wissens«, sagte Oghma ausweichend. »Ich gebe lediglich meiner göttlichen Neugier nach.« Das leichte Lächeln auf den Lippen des Gottes verriet Mystra, daß seine Antwort kaum der ganzen Wahrheit entsprach. Trotzdem konnte es nicht schaden, ihm zu antworten. Es würde ihr zumindest dabei helfen, den wahren Grund für sein Schnüffeln zu entdecken. Die Göttin der Magie nahm Oghmas Arm in ihren und ging anmutig zu einem der runden Tische, die im Arbeitsraum verteilt standen. Die Schleppe ihres blauweißen Kleides schwebte wie hauchzarte Flügel hinter ihr her. »Da ich das Labor eines Magiers sehe, erscheint der Pavillon den anderen Göttern wahrscheinlich in einer Gestalt, die ihnen vertraut ist. Ihr Verstand überzieht die unpersönliche Wirklichkeit des Ortes mit einer Fassade und verwandelt ihn in etwas, das ihrem Aufgabenbereich im Pantheon entspricht. Ich vermute, Ihr seht eine Art Bibliothek.« Oghma nickte. »Wenn ich den Pavillon jedoch als etwas anderes sehen wollte oder den realen Ort hinter der Fassade, die mein Verstand erschaffen hat – was dann?« »Ihr könntet Euer Bewußtsein mit Willenskraft dazu bringen, es zu tun«, sagte Mystra. »Ihr seid sicher, daß es so einfach ist, nicht wahr?«
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Eine Spur von Enttäuschung huschte über Oghmas ausdrucksvolles Gesicht. Einen Augenblick lang schwieg er, dann bemerkte er unvermittelt: »Ich will das Thema nicht wechseln, aber ich habe Euren Vorschlag bezüglich des Prinzen der Lügen überdacht. Ich glaube, es wäre dumm von mir, ihm gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen Stellung zu beziehen.« »Aber die Cyrinishad und Leiras Verschwinden –« Der Gott des Wissens hob beschwichtigend eine Hand. »Ich werde nicht zurücknehmen, was ich versprochen habe. Keiner der Schreiber in meinem Herrschaftsgebiet oder meiner Anhänger in den Reichen der Sterblichen wird Cyric darin unterstützen, das Buch zu vervollständigen.« Oghma runzelte die Stirn, und sein Tonfall wurde entschieden Pedantisch. »Darüber hinaus aber glaube ich, wir wären beide schlecht beraten, uns mit Cyric anzulegen – wegen Leiras Verschwinden oder irgend etwas anderem. Ihr versteht nicht, wie der übrige Kreis denkt, und bis Ihr das tut, könnte jede offene Konfrontation sehr wohl zu einer Stärkung seiner Position beitragen.« »Darum ging es also bei Eurem kleinen Verhör«, sagte Mystra kalt. »Ihr nehmt Euch eine Menge heraus. Glaubt nicht, daß mir die Tatsache, daß ich einmal sterblich war, dabei im Wege steht, die Politik des Pantheons zu begreifen.« »Ich würde Eure bescheidene Herkunft nie geringschätzen«, erwiderte der Schutzpatron der Barden. »Tatsächlich glaube ich, daß Ihr angesichts Eurer einstigen Sterblichkeit einen für eine Göttin seltenen und wundervollen Charakterzug entwickelt habt: Demut. Da Ihr
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Euch nicht so töricht auf Eure eigene Sichtweise versteift, seid Ihr möglicherweise imstande zu begreifen, wie die Götter einander beschränken, wie sie in ihrer Natur gefangen sind.« »Stets der vollendete Barde«, spottete Mystra. »Beleidigt Ihr jemanden, verteilt Ihr sofort ein Kompliment, um verletzte Gefühle zu lindern.« »Zu meinen Getreuen zählen viele allzu ehrliche Gelehrte, und nicht alle Barden, die mich verehren, sind Schmeichler«, erwiderte Oghma. Seine Stimme war zugleich wohlklingend und klar, der harmonische Sprechgesang eines Chors meisterhafter Geschichtenerzähler. »Einige der größten Harfenisten in meinem Königreich haben ihr Leben verloren, weil sie einem König nicht sagen konnten, daß er gut aussah oder weise war, wenn dem nicht so war.« Oghma ergriff Mystras Hand. »Allein Euer Name zeigt Eure Demut«, sagte er. »Als Ao Euch erhob, hättet Ihr Mitternacht bleiben können. Statt dessen habt Ihr Euch entschieden, den Namen der Göttin anzunehmen, die Eure Vorgängerin war.« »Das war ein politischer Schachzug«, erwiderte sie aufrichtig. »Es sicherte die Stabilität der Kirche. Wie ich bereits sagte, bin ich nicht so naiv, wie Ihr glaubt.« Oghma ignorierte ihre Behauptung. »Weil Ihr Euch Mystra nennt, meinen auf der Welt einige, es habe Mitternacht von Tiefental nie gegeben, sie sei ein Mythos.« Mystra zuckte die Achseln. »Einige meinen auch, Cyric sei ein Mythos, obwohl er die letzten zehn Jahre damit verbracht hat, den Anhängern Tyrannos’, Bhaals und Myrkuls seinen Namen aufzuzwingen. Augenblick-
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lich finden wegen seines Stolzes und seiner Eitelkeit achtundvierzig blutige Schlachten in den Herzlanden statt; Gläubige, die andere Gläubige wegen des wahren Namens ihres Gottes umbringen. Das ist einfach Torheit.« »Vielleicht. Sein Name wird jedoch in den Bänden eine führende Rolle spielen, die von der Geschichte Faerûns berichten, während Euer sterblicher Name eines Tages verblassen wird.« Oghma lächelte. »Euer Gesicht zeigt mir, daß Euch die Geschichte nicht kümmert, obwohl sie es sollte. Schließlich ist die Beherrschung der Geschichte das Herzstück von Cyrics irrem Vorhaben. Sie ist der Grund für sein Streben nach der Erschaffung dieses allseits gefürchteten Buches.« »Verzeihung«, unterbrach ihn eine tiefe Stimme, »aber Cyric geht es nur um Macht. Die Cyrinishad ist ein Mittel zu diesem Zweck.« Torm, der Treue, verbeugte sich in aller Form vor Mystra, dann vor Oghma. »Es liegt nicht in meiner Absicht, Eure Schlußfolgerungen in Frage zu stellen, Fürst des Wissens, aber meine Wege haben die des Prinzen der Lügen in letzter Zeit häufig gekreuzt, und ich glaube –« »Wir sind nicht hier, um zu erörtern, was Ihr glaubt, Torm« sagte der Blinde, der plötzlich in der Mitte des Pavillons erschienen war. Seine Züge waren kantig und unversöhnlich; passend dazu war die magische Robe geschneidert, die er in Mystras Wahrnehmung trug. In seiner Linken hielt er eine silberne Waage. Seine Rechte war am Handgelenk abgetrennt worden. »Wir sind hier, um die erwiesenen Vergehen Cyrics zu erörtern, die Ihr in seinem Reich beobachtet zu haben behauptet. Erst
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dann werden wir ihn die volle Schwere des Gesetzes spüren lassen.« Talos hielt in seiner Beschäftigung inne, die darin bestand, seinen Namen in die Tischplatte zu ritzen. »Ich sage, wir lauern ihm einfach auf und verteilen seine Überreste über die Ebenen«, sagte er scherzhaft, wobei er seinen silbernen Dolch drohend herumwirbeln ließ. Tyr, der blinde Gott der Gerechtigkeit, strich sich mit seinem Armstumpf über den langen weißen Bart und richtete leere Augen auf den Zerstörer. »Ihr werdet Gelegenheit erhalten, Euch zu äußern. Bis dahin gebt Frieden.« Talos antwortete mit einem Schnauben und schnitt einen langen Holzspan aus der Tischplatte. »So beginnt eine weitere Konferenz des Kreises der höheren Götter«, flüsterte Oghma der Göttin der Magie zu. »Erinnert sehr an die bisherigen Treffen, meint Ihr nicht auch?« Mystra mußte zugeben, daß Oghma recht hatte. Die höheren Götter trafen sich eher selten, da selten Probleme auftraten, die sie alle betrafen. Allerdings hatte es sich Tyr bei jedem der wenigen Treffen, denen Mystra beigewohnt hatte, herausgenommen, die Kontrolle über den Kreis zu übernehmen, und Talos war ihm dazwischengefahren. Dann hatte, wie jetzt auch, Oghma bedächtig jedes Wort und jede Tat seiner unsterblichen Geschwister zur Kenntnis genommen, während Tempus darauf drängte, seine göttliche Armee zu versammeln, um jedes noch so heikle Dilemma mit Schwert und Schild zu lösen. Da erkannte Mystra, daß genau das die Schlußfolgerung war, die sich Oghma verständlich zu machen be-
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müht hatte: Nach Jahrhunderten der Interaktion waren die Götter berechenbar geworden. Man konnte darauf zählen, daß Tyr alles förderte, was im Sinne des Rechts und des Guten in Faerûn war. Ebenso sicher war, daß Talos sich gegen solche Maßnahmen sträuben würde, da er danach strebte, Chaos und – so definierte zumindest Tyr es – Böses zu erschaffen. In der gleichen Weise machten es die Standpunkte von Talos und Lathander ihnen schwer, irgendwelche Gemeinsamkeiten zu finden. Schwer, befand sie, aber möglich. Bestimmt konnten die Götter aus diesen Verhaltensmustern ausbrechen, konnten erkennen, daß ihre Sichtweise nicht die einzige im ganzen Universum war. Langsam musterte Mystra den Pavillon von Cynosure. Zehn der elf höheren Götter waren anwesend – alle außer Cyric. Die meisten Götter hatten sich um Tische versammelt, die mit Glaskolben, Bechergläsern und Zauberzutaten vollgestellt waren. Das Trio von Göttern, die sich chaotischen Betätigungen verschrieben hatten – Tempus, Talos und Sune, die Göttin der Liebe – rutschte auf seinen Stühlen hin und her oder trieb sich in der näheren Umgebung herum. Inmitten des Raumes hielt Tyr von einem Pult aus Hof und führte systematisch die Regeln an, nach denen die Götter mit der Anhörung fortfahren würden. Zu seiner Rechten stand Torm. Der Gott der Pflicht war nur ein niederer Gott, aber Tyr hatte befürwortet, daß er aufgrund seiner jüngsten Auseinandersetzungen mit Cyric zum Kreis sprechen dürfe. »Ich denke, es ist das Beste, wenn wir mit der Aussage Torms des Treuen beginnen«, leierte Tyr eintönig herunter, »denn es sind seine Vorwürfe gegen den selbster-
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nannten Prinzen der Lügen, die uns heute zusammenführen.« Als Torm ans Pult trat, hielt Mystra inne und überdachte ihren eigenen Standort im Raum. Der Pavillon ähnelte den Labors, die in Halruaa, Cormyr und Tiefwasser üblich waren, Orten, an denen die Zivilisation weit genug fortgeschritten war, um Schulen zu unterstützen, an denen man Magiern zumindest die Grundlagen der Kunst beibringen konnte. Tyr und nun Torm hatten den Platz eingenommen, der dem Lehrer vorbehalten war. Die anderen Götter waren Schüler. Wie in jeder Schule gab es solche, die dem Dozenten ihre besondere Aufmerksamkeit widmeten – Oghma zum Beispiel –, während andere wiederum darauf warteten, daß die Zeit verging, damit sie fliehen konnten. In ihrer Fassung des Pavillons hatte sich Mystra weder in die Rolle einer Lehrerin noch in die einer Schülerin versetzt, sondern in die einer unbeteiligten Beobachterin. In den Magierschulen, die sie aus ihrer Jugend kannte, unterrichtete nie der mächtigste Zauberer. Er saß still weiter hinten im Raum und beobachtete die Klasse, bereit einzugreifen, falls jemand einen Zauber sprach, der danebenging oder gefährliche Ausmaße annahm. »Cyric ist eine Bedrohung für ganz Faerûn«, begann Torm mit ausladender Gestik. Die magische Robe, die Mystra von seinen breiten Schultern hängen sah, war von matterer Farbe als die der höheren Götter und damit Zeichen seines niedrigeren Ranges. »Wie Ihr alle wißt –« »Wenn wir es schon wissen, warum erzählt Ihr es noch einmal?« rief Talos ungeduldig. Tempus unterbrach das Brüten über seinen Karten
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kurz, um zustimmend zu schnauben, und die Göttin der Liebe kicherte hinter einer vorgehaltenen, zierlichen Hand. Von den übrigen Göttern schien nur Tyr wirklichen Anstoß an dem Ausbruch genommen zu haben. Der Gott der Gerechtigkeit ließ einen verächtlichen Blick in Richtung der Stimme des Zerstörers schweifen und bedeutete dann dem Gott der Pflicht fortzufahren. »Was Ihr nicht wißt«, sagte Torm scharf, während er Talos mit einem wütenden Funkeln bedachte, »ist, daß Cyric andere Götter imitiert und Sterbliche von schwachem Geist dazu gebracht hat, sich auf leichtsinnige Art und Weise selbst umzubringen. Er wählt nur Männer und Frauen aus, die sich die Gunst eines Gottes noch nicht durch ergebene Anbetung verdient haben. Sie sterben vor der Zeit und werden zu Gefangenen in der Stadt der Zwietracht.« Torm beschrieb dann, wie Cyric einen Söldner zum Narren gehalten hatte, einen Cormyrer namens Gwydion der Schnelle. Er befaßte sich kurz mit dem Kern des Vorfalls, aber damit war seine Rede noch nicht vorbei. In allen Details beschrieb er, wie Cyrics Vergehen die Ehre jedes einzelnen Gottes befleckten. Wie erwartet ließ Torm dieser Schmährede seine Tirade zum Thema Pflicht folgen und rief den Kreis der höheren Götter auf, sich gegen den schurkischen Herrn der Toten zu stellen. Während Torm sprach, begann Mystra sich zu fragen, welches Bild der Gott der Pflicht eigentlich vom Pavillon hatte. Es stellte sich heraus, daß es viel einfacher war, in die Gedanken des niederen Gottes einzudringen, als die Göttin der Magie erwartet hatte. Sein Verstand war eine einfache, ordentliche Festung aus reinstem weißen Stein,
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erbaut um einen gewaltigen Tempel zu Ehren von Pflicht und Ehre. Ritter in Rüstungen standen auf den Mauern schweigend Wache. Ob sie Mystras Anwesenheit nicht spürten oder sie als Verbündete abtaten war nicht ganz klar, aber sie ließen sie ungehindert passieren. Als sie einmal drinnen war, konnte sie durch Torms Augen nach außen sehen. Dem Gott der Pflicht erschien der Pavillon von Cynosure als säulenbewehrte Erweiterung seines eigenen Schlosses. Marmorsäulen säumten die Halle; am Fuße einer jeden stand ein Thron. Darauf saßen die Götter, riesige Krieger in Rüstungen mit Schilden, auf denen ihre heiligen Symbole prangten. Manche, etwa Tyr, trugen helle Plattenrüstungen, großartig und schimmernd. Je weniger der Gott auf Seiten des Rechts stand, desto trüber der Glanz seiner Rüstung, desto schäbiger sein Mantel, seine Stiefel und Handschuhe. Torm kniete inmitten dieser beeindruckenden Versammlung. Sein Plattenpanzer glänzte nicht so hell wie der Tyrs, aber er war stärker verziert und mit Ehrenabzeichen behangen. Das überwältigende Pflichtgefühl, das schwer auf dem niederen Gott lag, erfüllte Mystra mit Ehrfurcht, und als die Göttin genauer hinsah, entdeckte sie dünne Ketten aus schimmerndem Gold, die den Gott der Pflicht mit jedem seiner Mitgötter verbanden. Manche Ketten waren dicker als andere, aber deren Glieder erstreckten sich von Torms Händen zu jedem anderen Gott im Pavillon hin. »Was sagt die Göttin der Magie zu Torms Vorschlag?« Die Worte erreichten einen anderen Teil von Mystras
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Verstand, einen Teil, den sie die Rede des niederen Gottes aufmerksam hatte verfolgen lassen. Wie alle Gottheiten besaß Mystra einen Intellekt, der sich hundert verschiedener Dinge gleichzeitig annehmen konnte. Während ein kleiner Teil ihres Verstandes Torms Sichtweise erforschte, hörte eine andere Facette konzentriert den Gebeten ihrer Getreuen zu. Andere wachten über das magische Gewebe, das Faerûn umspannte, oder über die Fortschritte, die Cyrics Buch machte, oder katalogisierten jeden neuen Spruch und Zauber, der auf der Welt erschaffen wurde. Die wichtigste dieser Facetten, in der alle miteinander verbunden waren – ihr Wesen – beherrschte die verschiedenen niederen Inkarnationen und erschuf oder vernichtete sie nach Bedarf. Nun blendete Mystra Torms Sichtweise aus und konzentrierte sich stärker auf den Kreis. Tyr hatte das Pult wieder übernommen. Seine blinden Augen waren auf sie gerichtet. »Glaubt Ihr, wir können Cyric dazu zwingen, diesen Gwydion und die anderen Seelen freizulassen, die zu Unrecht in der Mauer der Treulosen gefangen sind?« »Möglicherweise«, sagte Mystra. Torm trat wieder vor und ereiferte sich: »Natürlich kann dieses große Unrecht wieder gutgemacht werden! Die Gesetze zur Behandlung von Treulosen, die im Reich der Toten erlassen wurden –« »Wurden vom Kreis der höheren Götter ratifiziert, als Myrkul in der Stadt der Zwietracht herrschte«, bemerkte Oghma kühl. »Cyric wähnte sich selbst immer als außerhalb der Gesetze stehend, die von den drei Mächten erlassen wurden, welche er ersetzt hat.« »Außerdem ist die Frage, ob wir Cyric dazu zwingen
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können, in seinem Reich etwas zu tun, rein akademisch«, fügte Lathander mürrisch hinzu. »In der Stadt der Zwietracht haben wir keine Macht. Wir können noch nicht einmal hinein, wenn wir ungebeten kommen, und die Mauer der Treulosen liegt ganz klar innerhalb der Grenzen von Cyrics Königreich.« Er seufzte. »Glaubt Ihr, er könne mit Logik oder Vernunft dazu gebracht werden, diese Seelen freizugeben, ohne daß sie von Bedrohung oder Gewalt gestützt werden? Ich bin jemand, der die Hoffnung nicht aufgibt, aber selbst ich betrachte die Sache als zwecklos.« Mystra schüttelte den Kopf. »Wenn wir uns zusammentun, können wir Cyric gegenüber unser Mißfallen zum Ausdruck bringen. Wenn wir nichts sagen, geben wir stillschweigend unsere Zustimmung.« Sie ging in Richtung Pult. Torm und Tyr wichen ihr aus. »Als Cyric mit der Arbeit an seinem Buch begann«, setzte Mystra an, »verweigerte ich ihm, Magie zu verwenden und es selbst zu erschaffen. Oghma verweigerte ihm die Dienste der ewigen Schreiber, so daß er es in den Himmeln nicht vollenden konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an seine Anhänger zu wenden, um die Cyrinishad zu erschaffen. Diese Sanktionen haben funktioniert, nicht wahr? Nach wie vor ist das Buch für ihn lediglich ein dunkler Gral.« »Ich würde die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß einer seiner weltlichen Diener den gewünschten Band schreibt«, warnte Oghma. »Wie ihr eigentlich wissen solltet, Mystra, können Sterbliche vieles vollbringen, wenn sie entsprechend motiviert werden.« Mystra nickte, doch die Entschlossenheit wich nicht
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aus ihren blauweiß glühenden Augen. »Nichtsdestotrotz haben wir erwirkt, daß er innerhalb des Kodex arbeitet, dem der Rest von uns folgt. Wir können das für die gefangenen Seelen wieder erreichen –« sie hielt inne und musterte die Gesichter der versammelten Mächte –, »und wir können es für das Verschwinden Leiras wieder erreichen.« Die Götter traten ängstlich von einem Fuß auf den anderen, als der Name der verschwundenen Göttin fiel. »Kehren wir zur eigentlichen Angelegenheit zurück«, schlug Oghma vor. »Torm sah, wie der Schatten mißhandelt wurde –« »Cyrics Verbrechen gegen das Gleichgewicht sind die eigentliche Angelegenheit«, zischte Mystra. Als niemand widersprach, fuhr sie fort: »Leira hat sich seit der Zeit der Sorgen nicht mehr blicken lassen. In meinen Augen ist es offensichtlich, daß sie fort ist. Sie wurde vernichtet.« »Leira ist die Göttin der Täuschung«, bemerkte Oghma. »Es wäre nicht das erste Mal, daß sie uns über ihren Aufenthaltsort im Unklaren läßt, nur um zu beweisen, daß ihre Macht, sich zu verbergen, unserer Fähigkeit und Geduld zu suchen überlegen ist.« Nach einem geräuschvollen Gähnen wischte Talos das Thema mit einer Handbewegung vom Tisch. »Jemand erhört die Gebete ihrer Getreuen. Alles andere ist unwichtig.« »Was, wenn dieser Jemand Cyric ist?« fragte Mystra. »Er besitzt schon die Macht dreier Götter. Hegt einer unter Euch den Wunsch, ihm dabei zuzusehen, wie er die Macht eines vierten an sich reißt?«
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Eine fast unmerkliche Veränderung in Talos’ Gesichtsausdruck verriet Mystra, daß selbst der Zerstörer bei dem Gedanken daran zitterte, Cyric mit Leiras Verschwinden zu konfrontieren. »Jemand muß ihm zur Seite stehen, wenn er das Verbrechen so lange im verborgenen halten konnte«, äußerte sich Torm kühn. »Vielleicht Maske?« Tyr nickte und strich sich mit knotigen Fingern durch den langen weißen Bart. »Der Fürst der Schatten würde von einem Bündnis mit Cyric profitieren. Als Gott der Intrige könnte Maske alle Hinweise auf den Mord an Leira so gut verbergen, daß selbst die Augen eines Gottes sie nicht aufspüren würden.« »Vielleicht«, sagte Mystra. »Wenn Cyric aber Leira vernichtet und ihre Anhänger übernommen hat, hat er den Titel des Gottes der Täuschung schon in seine Sammlung eingereiht. Vielleicht braucht er Maskes Hilfe gar nicht, um seine Verbrechen zu verbergen.« Ein beunruhigtes Gemurmel erhob sich im Pavillon, und Oghma sah Mystra bittend an. Mystra schenkte ihm jedoch keine Beachtung und sagte: »Ich mache von meinem Recht als Mitglied des Kreises Gebrauch. Ich verlange, daß Cyric und Maske vor Fürst Ao gebracht werden, damit er sie richte.« Die Antwort auf diese Verkündigung erfolgte sofort; die Götter entsandten zahllose Inkarnationen über die Ebenen, um die beiden Gottheiten auf Abwegen vorzuladen. Ein plötzlicher Einbruch von Finsternis und ein übelkeitserregender Schwefelgestank kündeten von Cyrics Ankunft im Pavillon von Cynosure. Seine Robe leuchtete fast so hell wie Mystras und umloderte seine
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dünne Gestalt wie ein Feuermantel. Am hellsten schien jedoch das verzauberte Schwert an seiner Seite. Die rosenfarbene Klinge leuchtete vor magischem Glanz derart, daß es Mystra schwerfiel, sie lange anzusehen. Cyric warf den anderen Göttern einen verächtlichen Blick zu, das Gesicht haßerfüllt verzogen. Seine dunklen Augen funkelten bösartig, als er sich Torm zuwandte. »Ich sehe, Ihr habt laut genug gejammert und eine Audienz erhalten. Das ist keine große Überraschung, und doch kann ich mir nicht vorstellen, warum der Rest von Euch sich die Mühe gemacht hat, mich hierher zu bestellen.« »Damit Ihr Euch wegen gewisser Vorwürfe verantwortet«, sagte Tyr steif. »Vorwürfe!« spottete Cyric. »Wenn Torm, der Treue, Euch gesagt hat, ich hätte mich irgendeines kosmischen Gesetzesbruchs schuldig gemacht, wäre es dumm von Euch, ihm nicht zu glauben. Der Tölpel kann nicht lügen, und ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, Euch vom Gegenteil überzeugen zu wollen.« »Dann gebt Ihr zu, andere Gottheiten imitiert zu haben«, sagte Torm. Er wies mit einem Finger anklagend auf den Herrn der Toten. »Natürlich.« »Ihr gebt auch zu, Seelen ungerechterweise zur Mauer der Treulosen verurteilt zu haben?« Cyric schnaubte. »Ihr habt es selbst gesehen, Torm.« »Gebt ihr auch zu, daß Ihr die Arbeit an Eurem Höllenbuch fortgesetzt habt mit der Absicht, es zur Untergrabung allen anderen Glaubens in Faerûn zu verwenden?«
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»Habe ich Euch nicht gerade gesagt, daß ich alles zugebe, was Ihr gegen mich vorbringen könnt, Ihr unterbelichteter Zinnsoldat? Die Frage ist, was kann irgendeiner von Euch dagegen unternehmen?« Cyric verdrehte angewidert die Augen und wandte sich Mystra zu. »Er ist fast so begriffsstutzig wie Kel, was, Mitternacht?« Die Göttin erwiderte Cyrics kalten Blick gelassen. »Was ist mit Leira?« fragte sie rundheraus. »Gibst du den Mord an ihr auch zu?« Mit erhobenen Brauen lehnte sich der Herr der Toten an einen Tisch. »Aufgrund wessen Zeugenaussage beschuldigt Ihr mich, der schwer zu fassenden Dame der Nebel ein Leid zugefügt zu haben? Soweit ich mich erinnere, kann der Kreis der höheren Götter mich nicht ohne Zeugenaussage oder Beweise verurteilen.« »Wir haben nur unseren Verdacht«, sagte Mystra ruhig, »aber ich habe verlangt, daß der Kreis Fürst Ao anruft und ihn fragt, wo Leira ist. Irgendwelche Einwände? Eigentlich tun sie nichts zur Sache, also mach dir nicht die Mühe, sie vorzubringen.« Der Herr der Toten und die Göttin der Magie starrten einander an. Das Zucken um Cyrics linkes Auge verriet kaum unterdrückte Wut, während Mystras verkniffener Mund und die Anspannung in ihren Gliedern überwältigende Abscheu vor der Kreatur der Finsternis offenbarten, die sie einst als Freund bezeichnet hatte. Cyric legte die Hand fest um den Griff seines Schwerts. Mystra war klar, was die Geste zu bedeuten hatte; jene Klinge hatte ihr auf dem Schwarzstab-Turm fast das Leben ausgesaugt, nachdem Cyric sie benutzt hatte, um Kelemvor Lyonsbane umzubringen. Er würde
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ihr die vor dem Kreis erlittene Schmach heimzahlen. Götterfluch würde erneut ihr Blut schmecken. »Wir erwarten noch die Ankunft Maskes«, verkündete Tyr. »Erst dann können wir Ao rufen.« »Bitte keine Verzögerungen meinetwegen«, kam ein geschmeidiges Flüstern. Die Worte zischten wie ein schwarzes Seidentuch, mit dem man eine scharfe Klinge polierte. »Ich bin schon seit einiger Zeit hier.« Wie ein Mann drehten sich die Götter um und sahen Maske ganz am Rand des Pavillons stehen. Finsternis hing in dünnen Fetzen an ihm, die sich über seine helle magische Robe wie Wolken vor den Vollmond schoben. Schwarze Handschuhe bedeckten seine Hände, und eine Maske verbarg seine Gesichtszüge. Nur seine Augen waren zu sehen, rote Zwillingsteiche, die aufblitzten und sich wieder verdunkelten, während er sprach. »Soll ich mich meinem Mitverschwörer anschließen?« fragte er aalglatt. Ohne die Antwort abzuwarten, glitt der Herr der Schatten mit katzenhafter Anmut an Mystra vorbei und stellte sich neben Cyric. »Hört unser Flehen, großer und weiser Übervater«, begann Tyr ohne Umschweife. »Wir benötigen Eure Weisheit.« Die anderen Götter stimmten in die Beschwörung ein und wiederholten sie immer aufs Neue. Ihre Stimmen wurden lauter, die Worte durchdringender. Sie riefen, bis sie wie Irre heulten – bis auf Cyric, der stumm und mißmutig inmitten des Krawalls stand. Das Getöse ließ Mystra zusammenzucken, und doch genoß ein Teil von ihr das schmerzhafte Stimmengewirr und bezog Kraft daraus. Sie schrie zusammen mit den
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anderen, bis sie sah, daß der Pavillon von Cynosure erzitterte. Das Labor, die Fassade, die ihr Verstand dem Ort übergestülpt hatte, bog sich und löste sich dann auf wie ein abgenutzter Gobelin. Die Tische schmolzen, dann die Decke und die Wände. Zuletzt verschwand der Boden, entschwebte in einem Schleier der Unwirklichkeit. Die Götter waren von einem riesigen Meer von Leere umgeben. Die Gebete von Mystras Anhängern verblaßten in ihrem Verstand zu fernen, schwachen Rufen, während ihr Bewußtsein mehr und mehr in die Leere gesogen wurde. Die Welt der Sterblichen wurde zur Wüstenoase, die man durch Hitzeflimmern wahrnahm, undeutlich und scheinbar ständig in Bewegung, eher geisterhaft als real. Dann verwandelte sich das Meer von Leere plötzlich in einen Nachthimmel, an dem eine Million Sterne standen, und von jedem stecknadelkopfgroßen Licht gingen ein Spektrum feiner, unirdischer Farbtöne sowie ein Chor von furchteinflößenden himmlischen Stimmen aus. Hüter des Gleichgewichts, Ihr habt mich grundlos gerufen. Die Worte schlichen sich in Mystras Verstand und forderten die Aufmerksamkeit einer jeden Facette ihres göttlichen Intellekts. Sie taumelte unter der Wucht der Million strenger Stimmen, die sie tadelten und dem zornigen Aufblitzen der unzähligen Sterne, das die Dunkelheit um sie herum erleuchtete. Wisset nun, daß Cyric und Maske Leira tatsächlich ermordeten, donnerte Ao. Doch haben sie nichts getan, was nicht in ihrer Natur liegt. Cyric ist der Herr des
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Mordes, also sollte er danach trachten, selbst das Leben eines Gottes auszulöschen. Maske ist der Herr der Intrige, also sollte er danach trachten, solche Taten zu verbergen. Die Fassade des Zaubererlabors begann, wieder vor Mystras Augen zu erscheinen, und die Stimmen ihrer Getreuen wurden deutlicher. Die Sterne verblaßten und hinterließen Phantombilder, die sich in ihren Verstand einbrannten. Ao sprach eine letzte, unheilverkündende Warnung aus: In Eurer Verantwortung liegt es, Cyric entgegenzutreten – wie es in seiner liegt, Euch zu vernichten, wenn Ihr versagt. So funktioniert das Gleichgewicht. Mystra wußte, daß die Worte mehr ihr als irgend jemandem sonst im Pantheon galten. Inmitten des Pavillons verschränkte Cyric die Arme vor der Brust. »Gibt es sonst noch etwas?« fragte er selbstgefällig. Tyr machte mit erhobener Faust einen Schritt in Richtung des Gottes der Toten. »Dieses Verbrechen wird gesühnt werden.« »Habt Ihr nicht zugehört?« spottete Cyric. »Es gab kein Verbrechen. Leira starb, weil ich es wollte.« Er zog Götterfluch und richtete die Klinge auf Tyr. »Jeder von Euch könnte der nächste sein. Das ist meine Aufgabe im Gleichgewicht: die Schwachen aus diesem erbärmlichen Pantheon auszusondern.« Pflichtbewußt stellte sich Torm zwischen Götterfluch und seinen Schutzpatron. Ein Schwert erschien in seiner Hand, von strahlendem Silber und mit einer so scharfen Schneide, daß es einen Regenbogen in seine Farbstreifen zerlegen konnte. Warnend ließ er die Klinge gegen Göt-
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terfluch schnellen; dann nahmen seine Füße gekonnt Kampfstellung ein. »Wir werden nicht so leicht fallen wie Leira.« Maske zuckte zusammen, als die Götter die Spitzen ihrer Schwerter aneinanderschnalzen ließen. »Jetzt ist nicht die Zeit, Cyric«, riet er, »kein offener Kampf, nicht, wenn so viele gegen Euch stehen.« »Die Worte eines Feiglings«, knurrte Torm. »Am besten versucht Ihr Euer Glück jetzt. Vom heutigen Tage an werden wir ein wachsames Auge auf Euch Verräter haben.« Oghma ließ Feder und Pergament auf den Tisch vor ihm sinken und hob die leeren Hände. »Wir können Leira nicht zurückbringen, aber vielleicht können wir uns auf etwas anderes einigen. Laßt die Seelen frei, die Ihr zu Unrecht gefangen haltet, und wir –« Cyric lachte bitter. »Ich werde mit Gwydion dem Schnellen machen, was ich will. Vielleicht lasse ich ihn frei; vielleicht foltere ich ihn in alle Ewigkeit.« Langsam ließ er Götterfluch sinken und steckte es wieder in die Scheide. »Keiner von Euch wird Einfluß auf sein Schicksal nehmen. Bis jetzt hieß ich Euch oder Eure Gesandten gelegentlich in meinem Reich willkommen. Damit ist es aus. Von diesem Augenblick an bleibt die Stadt der Zwietracht dem Pantheon vollständig verschlossen.« »Du fragtest vorhin, was wir wegen deiner Verbrechen unternehmen könnten«, sagte Mystra. Ihre Worte waren schärfer als die Schneide von Torms Schwert. »Hier ist die Antwort – und auch die Eure, Maske. Als Göttin der Magie verbiete ich Euch, das magische Gewebe anzurühren.«
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»Was?« kreischte Cyric. »Du kannst mir die Magie nicht verweigern. Ich muß die Gebete meiner Anhänger erhören, und die Stadt der Zwietracht –« »Geht mich nichts an«, unterbrach ihn Mystra. »Eure Gefolgsleute dürfen weiterhin Magie verwenden, und Euren Anhängern werden Zauber gewährt werden, aber du, Cyric, wirst nicht einmal genug Magie für einen Zaubertrick zusammenbekommen.« Maske beugte das Haupt und verbarg seine rotglühenden Augen vor Mystra. »Ich habe nur meiner verfluchten Natur entsprechend gehandelt. Ich kann nicht viel, außer Intrigen spinnen und die Stellung der Diebe in der Welt zu fördern. Gibt es keine Möglichkeit für mich, dieser Bestrafung zu entgehen?« »Kündigt alle Bündnisse mit Cyric auf«, sagte Mystra ohne Zögern. »Schwört, daß Ihr ihn nicht mehr unterstützen werdet.« Der Herr der Schatten antwortete genauso schnell. »Selbstverständlich, Herrin.« »Feiger Bastard«, rief Cyric. Er wollte sich auf Maske stürzen, doch Mystra gebot ihm mit einer Geste Einhalt. Ein schimmernder Wall aus purer Energie versperrte ihm den Weg. Cyric schlug auf den Wall ein, und die magische Robe, die er trug, begann zu verblassen. Das Strahlen floß aus dem Kleidungsstück heraus wie Wasser. Die abgestreifte Magie sammelte sich auf dem Boden des Pavillons, ehe sie verschwand, sich wie Sommerregen in Luft auflöste. Cyric hielt sich den Kopf und schrie vor ohnmächtiger Wut. Seine Gesichtszüge verschwammen, und drei Dutzend Gesichter erschienen an seinem Kopf – die schlim-
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me Flüche ausriefen, die Fragen seiner Gefolgsleute beantworteten, sich in den Alpträumen von Männern und Frauen in ganz Faerûn herumtrieben. Von seinem plötzlichen Machtverlust geschockt hatte Cyric die Kontrolle über seine unzähligen Ichs verloren. Sie entsprossen seinem Leib wie Krebsgeschwüre, stießen finstere Flüche aus und kreischten vor Mißfallen. Eine Zeitlang sah das Pantheon in fasziniertem Schrecken zu, während Cyric darum kämpfte, die Fassung wiederzuerlangen. Als es ihm schließlich gelang, die widerstreitenden Facetten seines Verstandes unter Kontrolle zu bringen, erschien er nicht mehr als der hagere Sterbliche mit der Hakennase, den Mystra auf ihrer Suche nach den Tafeln des Schicksals gekannt hatte. Seine Haut hatte Blasen geworfen und sich zu glattem rotem Leder verhärtet. Man sah das Spiel der Muskeln an seiner dünnen Gestalt; Stahlbänder zogen sich unter seinem Fleisch durch. In seinem hageren, fast totenkopfartigen Gesicht brannten Augen wie dunkle Sonnen in endloser Bösartigkeit. »Ohne Magie werden sich all deine Inkarnationen dieses abscheuliche Gesicht teilen«, sagte Mystra. »Unterwirf dich dem Willen des Kreises, und es wird dir gestattet, dich zu heilen.« »Mich dem Kreis unterwerfen?« wiederholte Cyric mit Grabesstimme. »Die Cyrinishad wird dieses gesamte Pantheon in die Knie zwingen.« Er lächelte böse und richtete einen knotigen Finger auf Mystra. »Aber während ich darauf warte, daß meine sterblichen Lakaien mein Buch fertigstellen, werde ich nach der Seele Kelemvor Lyonsbanes suchen. Sein Leid wird dein besonderer
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Verdienst sein, Mitternacht.« Der Herr der Toten tätschelte das rosenfarbene Schwert an seiner Seite und kicherte. »Ihr laßt mir Götterfluch? Eure Liebenswürdigkeit überrascht mich.« »Ich werde nichts zerstören, das aus dem Gewebe gefertigt wurde, nur, weil es dir gehört. Außerdem würdest du in arge Bedrängnis geraten, wenn du schutzlos einem erfahrenen sterblichen Soldaten gegenüberstündest.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Also, wenn du nett fragst, bin ich sicher, daß einer der anderen Götter so freundlich sein wird, dich zurück ins Reich der Toten zu befördern – es sei denn, du hattest vor zu laufen.« Talos trat zögerlich einen Schritt vor und wartete ab, ob Mystra ein Zeichen des Einverständnisses geben würde. Die Göttin der Magie nickte, und der Zerstörer nahm Cyric beim Arm und verschwand. »Ihr könnt dieses Verbot nicht lange aufrechterhalten«, flüsterte Oghma, sobald Cyric gegangen war. »Sollte er die Kontrolle über das Reich der Toten verlieren ...« Mystra wandte sich Oghma zu. »Deswegen habe ich ihm das Schwert gelassen«, sagte sie. »Er kann damit seine Macht aufrechterhalten, aber es sollte ihm unmöglich sein, uns zu schaden. Das sollte uns Zeit geben, ein paar Sicherheitsmaßnahmen für seinen nächsten Angriff zu treffen.« Die Göttin der Magie verbeugte sich eilig und ließ sich entschuldigen; sodann verschwand sie in einem blauweißen Lichtblitz aus dem Pavillon von Cynosure. Sie kehrte in ihren Thronsaal im Herzen ihres wundervollen Palastes zurück. Dort vergrub Mystra ihr Ge-
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sicht in den Händen und versuchte, ein schauderhaftes Bild aus ihrer Erinnerung zu vertreiben. Sie wußte, daß es vergeblich war. Für alle Zeiten würde der entsetzliche Anblick sie verfolgen. In dem Moment, bevor Cyric aus dem Pavillon verschwand, hatte sich Mystra in seinen Verstand geschlichen in der Hoffnung, einen Blick auf seine verdrehte Sichtweise zu erhaschen. Der Kontakt hatte nur kurz bestanden. Der ewig wachsame Geist Götterfluchs hatte einen Eindringling gespürt und war in Gestalt einer formlosen, rotgefärbten Masse aus Bösem vorgeschnellt. Doch bevor Mystra die Flucht ergriffen hatte, hatte sie einen Moment lang die Welt durch die Augen des Herrn der Toten gesehen. Ein roter Schmerzensschleier vermischte sich mit schwarzen Wolken des Zwistes und der Verzweiflung. Inmitten dieses sich auftürmenden Chaos stand der Prinz der Lügen. Der Pavillon von Cynosure war formlos, die Götter und Göttinnen hatten weder Gesicht noch Gestalt. Sie sprachen mit Cyrics Stimme, und ihre Worte erreichten ihn als ungebärdige Kommentare seines eigenen Verstandes. Er war vollkommen allein.
Worin der Prinz der Lügen viele Hinweise entdeckt und Gwydion der Schnelle lernt, daß es in der Stadt der Zwietracht Dinge gibt, die selbst ein Toter fürchten muß. Cyric saß grübelnd im riesigen Thronsaal der Knochenburg und spulte in Gedanken immer wieder die Erniedrigung ab, die Mystra ihm beigebracht hatte. Jedes Mal, wenn er zu dem Augenblick gelangte, in dem die Göttin ihm den Zugriff auf das Gewebe verweigert hatte, dachte sich Cyric eine völlig verdrehte Alternative zu den tatsächlichen Ereignissen aus. In einer zerschmetterte er Mystras arkanen Schild, schlug sie mit Götterfluch nieder und verleibte so den Titel des Gottes der Magie seiner wachsenden Sammlung ein. In einer anderen wandte sich das Gewebe gegen Mystra. Oder die Götter des Chaos rotteten sich zusammen und kamen über sie wie ein Rudel hungriger Wölfe im Winter. Oder Ao selbst erschien, um sie davon abzuhalten, ihre Macht auf so eklatante Weise zu mißbrauchen ... Die Variationen waren endlos, und in gewissen dunklen Ecken von Cyrics Verstand fielen einige von ihnen wie Saatkörner in den Sumpf der Selbsttäuschung und Phantasie. In Tagen, Monden oder Jahren der Zeitrech-
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nung der Reiche der Sterblichen würden diese Vorstellungen zu falschen Erinnerungen heranreifen. Die üblen Gedanken würden mit der Wahrheit wetteifern, sie wie Baumwürger umschlingen und ihr das Leben aussaugen. Dann würden diese Lügen zu Cyrics einziger Erinnerung an das Treffen werden und es so in einen Triumph verwandeln. »Glorreich«, murmelte Cyric, als er sich selbst im Geiste sah, naß bis an die Ellbogen von Mystras Blut. Er schmeckte fast die rote Flüssigkeit auf seinen Lippen. Die Rache wird Euer sein, Liebster, säuselte Götterfluch. Der Geist des Schwertes pulsierte im chaotischen Strudel von Cyrics Gedanken. Sobald Ihr Eure Pläne in die Tat umsetzt. »Wie?« grunzte Cyric. »Meine Pläne?« Kelemvor zu finden. Euer Buch zu vollenden. Der Prinz der Lügen rieb den Knauf des Schwertes. »In diesem Moment werden hundert Pläne verwirklicht, tausend Agenten sind auf dem Weg ...« Sein Verstand raste, als er an die ungeheuerlichen Meuchelmörder dachte, die sich in seinem Auftrag an die Fersen von Mystras Klerikern in Sembia heften sollten. Sie verfolgten die Gefolgsleute Mystras unterirdisch, in Gestalt mutierter Maulwürfe, und überirdisch als menschliche Geier. Auf der Fugenebene wurden gerade auch Mystras Getreue abgeworben. Man würde sie schnellstens in die Stadt der Zwietracht verfrachten, ehe die Maruts sie ins Paradies geleiten konnten. In der Zentilfeste war die Suche nach seiner neuen Schreiberin fast beendet. Die Soldaten hatten den Aufenthaltsort von Bevis’ Tochter von einem Pergamentmacher erfahren. In
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ein paar Stunden würde sie bereit sein, die neue Cyrinishad zu beginnen. Es gab auch noch weitere Pläne – die Schändung von Torms Schrein in Tantras, die Unterbrechung der heiligen Riten Tyrs in Suzail, der Verrat an Maskes Agenten in der Stadtwache von Tiefwasser ... In jedem Tempel, der Cyric geweiht war, suchte jeder Zirkel von Anhängern, jeder Kreis von Klerikern und mächtigen Magiern nach der Seele Kelemvor Lyonsbanes. Seit einem Jahrzehnt bereits verwandte Cyric die Magie seiner Anhänger auf diese Aufgabe. Er glaubte kaum, daß die Sterblichen die umherstreifende Seele finden würden, da nur eine Gottheit die Macht besaß, Kelemvor so lange abzuschirmen. Aber jedes Orakel und jeder Priester, die nach dem verborgenen Schatten forschten, stellten die Macht des hinterlistigen Gottes auf die Probe. Die Reihen der Suchenden waren nun durch die Getreuen Leiras verstärkt worden. Es war nicht schwer gewesen, sich der Mitarbeit der Kirchenhierarchie zu versichern – eine wohlüberarbeitete Geschichte vom Mord an ihrer Göttin durch die Hand Kelemvors hatte ausgereicht. Die glühenden Anhänger waren am einfachsten zu überzeugen und die ersten gewesen, die sich der Jagd auf die abtrünnige Seele angeschlossen hatten. Die Furcht davor, den neuen Gott der Täuschung zu beleidigen, bekehrte weitere wichtige Kleriker, besonders die, die ihr Leben der Kunst der Illusion gewidmet hatten. Assassinen hatten sich derer angenommen, die ihren Widerstand zu laut geäußert hatten, und nachdem die Hohepriester erst einmal nach seiner Pfeife tanzten, konnte Cyric darauf zählen, daß
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der Rest der Kirche ihnen wie dumme Schafe folgen würde. Euer Magnifizenz? Die Worte hallten in Cyrics Gedanken wider. Es war nicht das kühle, feminine Schnurren Götterfluchs, sondern eine abschrek-kende, nichtmenschliche Stimme. Cyric sah den langen, schmalen Thronsaal hinab und erblickte Jergal vor sich. Der Seneschall blickte zu Boden. Weiß behandschuhte Hände schwebten empor und wurden zum Ausdruck der Unterwürfigkeit mit den Handflächen aneinandergelegt. Es tut mir leid, Euch zu stören, aber es sind wieder Gesandte des Fürsten der Schatten am Tor. Sie bitten darum, ein Geschenk ihres Herrn abliefern zu dürfen. »Tötet sie«, sagte Cyric. »Danach schickt ihr die Köpfe zusammen mit den Geschenken zurück zu Maske. Früher oder später wird er aufgeben – oder es gehen ihm die Gesandten aus.« Götterfluch machte sich bemerkbar. Möglicherweise könnt Ihr seine Unterstützung gebrauchen, Liebster, sagte es. »Er will sich für seine Feigheit entschuldigen, kein Bündnis mit mir zurückerkaufen. Er fürchtet sich zu sehr vor Mystra, um das Versprechen, das er ihr gegeben hat, zu brechen – zumindest nicht so bald.« Cyric sprang plötzlich auf, so daß Jergal zurückschweben mußte, um nicht getreten zu werden. Der leere schwarze Mantel des Seneschalls flatterte und tanzte. »Etwas ist faul an der Sache«, zischte Cyric. »Maske riskiert schon dadurch Mystras Zorn, daß er mir Boten schickt.«
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Vielleicht sind die Geschenke der Schlüssel, schlug Götterfluch vor. »Hmmm. Hast du die Geschenke in Augenschein genommen?« fragte Cyric. Der Seneschall nickte. Arkebusen, Magnifizenz. Alle Gesandten hatten Arkebusen bei sich. Keine geschriebene Botschaft; jedoch tragen alle Gewehre die Symbole sowohl des Fürsten der Schatten als auch des Fürsten aller Schmiede. »Warum sollte Maske mir Gewehre anbieten? Gond selbst hat mir schon ein Dutzend dieser Dinger geschickt. Der Tölpel glaubt, sie könnten jede Armee unbesiegbar machen.« Cyric schnaubte. »Wie können sie überhaupt eine Bedrohung darstellen, wenn sie den Soldaten so oft unter den Händen explodieren, wie sie sich richtig abfeuern lassen?« Der Prinz der Lügen rieb sich das spitze Kinn. »Ist irgend etwas Besonderes an ihnen? Sind sie irgendwie magisch?« Jergal schüttelte den Kopf. Nein, Magnifizenz. Ich habe sie untersucht. Es sind einfache Apparaturen aus Metall und Holz, wie alles andere auch, was der Fürst aller Schmiede herstellt. Das einzig Ungewöhnliche an den Geschenken ist, daß ihre Träger strikte Order vom Fürsten der Schatten selbst hatten, sie Euch in diesem Raum zu überreichen. Das Gesicht starr vor Konzentration erhob sich Cyric von seinem Thron und durchmaß die lange Audienzhalle. An die Säulen, die die beiden Wände säumten, waren dreihundertsiebenundneunzig Seelen gekettet, die ohne Unterlaß brannten – die Schreiber, die bei der Erschaffung der Cyrinishad versagt hatten. Ein weiterer Schat-
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ten wand sich unter der Feuerfolter: Bevis, der Illustrator. Er hing auf halbem Wege vom Thron zu den Türen von der Decke und wurde von Ketten aus glühendheißem Eisen an den ausgestreckten Gliedmaßen festgehalten. Wenn Bittsteller die Halle betraten, konnten sie Bevis winseln hören. Die anderen Brennenden hatten sich schon vor langer Zeit stumm geschrien. Während er unzusammenhängend vor sich hinmurmelte, stolzierte Cyric durch die langen Schatten, die in der Halle lagen. Er warf einen Blick auf die anderen Trophäen, als er an ihnen vorbeikam, und sein Verstand schwenkte völlig von seinen Gedanken zu Maskes merkwürdigen Geschenken ab. Da hing eine gräßliche Leinwand, die von einer Anhängerin Deneirs bemalt worden war; die roten und braunen Pigmente waren aus nichts Geringerem als dem Blut ihrer Kinder. Daneben hing eine Axt, die zur Vollstreckung der Urteile eines verrückten Königs benutzt worden war, der im Namen Tyrs regiert hatte. Eine Glasvitrine am Fuße einer Säule enthielt einen einzigen silbernen Nagel, mit dem ein Mann, der Sune treu ergeben war, sich das Augenlicht genommen hatte, nachdem er die Göttin in einer Vision gesehen hatte; er war überzeugt gewesen, nie wieder etwas so Schönes zu Gesicht zu bekommen. Tatsächlich war ein Großteil der Halle der Ausstellung von Dingen gewidmet, die anderen Göttern zur Scham gereichten. Ursprünglich waren sie von Cyric dazu gedacht gewesen, die Gottheiten nervös zu machen, wenn sie zu Besuch kamen; da er aber in Einsamkeit lebte, dienten sie dem Herrn der Toten lediglich zur Erinnerung daran, wie leicht Ergebenheit pervertiert
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werden konnte. Das größte Zeichen dieser Wahrheit war Cyrics Thron selbst. Der Prinz der Lügen hatte den massigen, grotesken Stuhl aus den Knochen von Männern und Frauen gebaut, die in dem Irrglauben gestorben waren, sie seien Heilige – ein Anhänger Chaun-teas, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, weil er dachte, sein Blut würde die Saat schneller wachsen lassen; ein Druide, der Eldath treu ergeben gewesen war und jeden ertränkte, der in die Nähe eines bestimmten abgelegenen Teiches kam, weil er den Frieden des Ortes störte; ein Ritter Torms, der jeden folterte, den er bei einer auch noch so unbedeutenden Lüge ertappte ... Als er sich erneut seinem Thron näherte, blieb Cyric reglos stehen. Unter den anderen Relikten befand sich die Hand eines gondischen Schmiedes. Der Mann war verblutet, nachdem er sich in der Hoffnung, ihn durch ein mechanisches Glied ersetzen zu können, von dessen Entwurf er die Nacht zuvor geträumt hatte, den linken Arm abgeschlagen hatte. Als das Leben aus ihm herausfloß, schwärmte der Schmied von einer Armee unaufhaltsamer mechanischer Krieger, Männern in lebendigen Gondischen Rüstungen, welche wunderbarer wären als jedes Artefakt, das die Magie hervorbringen könnte. Der Gedanke, daß Gonds Maschinen Mystras Gewebe überflüssig machen könnten, war ganz nach Cyrics schwarzem Geschmack; er hatte mit Maske oft darüber diskutiert. »Wunderbarer als jede Magie«, flüsterte Cyric. »Natürlich.« Der Prinz der Lügen lächelte und winkte Jergal. »Feder und Pergament«, sagte er. Er nahm die Gegens-
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tände, die in den behandschuhten Händen des Seneschalls auftauchten und kritzelte eine längere Notiz. »Bring das Gond«, sagte er zu dem geisterhaften Wesen, als er fertig war. »Niemand darf von dieser Botschaft wissen. Laß das auch den Fürsten aller Schmiede wissen. Sag ihm, ich werde jeden Preis zahlen, den er verlangt, aber die Sendung muß geheim bleiben. Kümmere dich darum, daß die Gesandten getötet werden, bevor du gehst, aber behalte eine der Arkebusen. Das wird dem Fürsten der Schatten als Antwort genügen.« Mit einer tiefen Verbeugung nahm Jergal das Pergament und zog sich zurück, wobei er seine hervortretenden gelben Augen nie vom Boden abwandte, bis er die Türen erreichte. Der Fürst der Schatten ist ein würdiger Herr der Intrige, sagte Götterfluch, nachdem der Seneschall gegangen war. Ein Neuling könnte viel von ihm lernen. Cyric ließ sich wieder auf seinem Thron nieder. »Eigentlich dachte ich gerade daran, wieviel er von mir gelernt hat ...« Ein flackerndes Licht tauchte irgendwo in einem entfernten Winkel von Cyrics Bewußtsein auf, brachte seinen Verstand zum Rasen und ließ ihn herbeieilen. Der Prinz der Lügen stellte fest, daß sich seine Gedanken auf den kleinen Teil seines Verstandes konzentrierten, der sich mit der Anhörung der Gebete seiner Getreuen befaßte. Eine Stimme wie Eselsgeschrei rief den Herr der Toten mit einer Inbrünstigkeit an, die selbst er kaum ignorieren konnte. »Mächtiger Cyric, Richter der Toten, Herr der Verdammten, höre mich an! Ich bringe hervorragende Neu-
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igkeiten aus Eurer heiligsten Kirche in der Zentilfeste.« Als Cyric sich auf das Gebet konzentrierte, erschien vor seinem geistigen Auge das Antlitz Xenos. Das silberne Haar des Hohepriesters umgab wirr sein leuchtendes Gesicht. Seine Augen strahlten vor irrer Freude. »Ja, Silbermähne«, erwiderte Cyric ausdruckslos. »Oh großer Prinz der Lügen, die Priester Leiras haben Neuigkeiten«, plapperte Xeno. Er lächelte wie ein Säufer, für den außer seiner Flasche nichts mehr existiert. »Fürst Schach persönlich hat ihre Wache angeführt – unter meiner Aufsicht, versteht sich – und sie hatten eine höchst wunderbare Vision, eine höchst –« »Kommt zur Sache«, schnauzte Cyric. »Kelemvor Lyonsbane«, sagte Xeno. »Die Priester haben hellgesehen, daß seine Seele sich irgendwo in der Stadt der Zwietracht aufhält.« »Wo genau in der Stadt?« »Sie können es nicht genau sagen. Irgendeine Macht versucht noch immer, ihre Magie zu blockieren.« Cyric zog sein Bewußtsein von seinem getreuen Priester ab und konzentrierte sich erneut auf seinen Thronsaal im Hades. Mit vor Erregung angespannter Stimme rief er nach seinen Insassen. Sie würden jeden Zentimeter der Stadt absuchen und, wenn es nötig war, jedes Gebäude niederbrennen. Kel konnte nicht entkommen; niemand verließ das Reich der Toten ohne Cyrics Erlaubnis. Wenn er hier irgendwie gefangen war, mußte man ihn nur noch aus seinem Versteck jagen. Während er seine Pläne für die Suche ausarbeitete, verfluchte der Herr der Toten Mystra noch einmal dafür, daß sie ihn der Magie beraubt hatte. Doch dann kam
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ihm ein anderer Gedanke. Mystra war diejenige, die Kelemvor die ganze Zeit über versteckt hatte, indem sie seine Anwesenheit in Cyrics Reich verbarg, da sie keine Möglichkeit hatte, ihn zu retten. Daran bestand für Cyric kein Zweifel. Da sie aber nun so viel Macht aufbieten mußte, um das Gewebe zu bewachen, war ihr das magische Herumstöbern von Cyrics neuen Anhängern entgangen. Der Prinz der Lügen lächelte. Das klang, als könnte es die Wahrheit sein ... Cyrics Verstand raste wieder und verfeinerte das Gedankengebäude, das er gerade ersonnen hatte. Er war sich bald sicher, daß es keine andere Erklärung dafür geben konnte, daß Kel so schwer zu fassen war. Aber nun war Mystra einen Moment lang unaufmerksam gewesen, und Cyric würde sich rächen. Er stellte sich tausend neue Foltern vor, die er an Kelemvors Seele ausprobieren würde. Die Phantasien legten sich über seinen Verstand wie ein silbernes Netz, das in einem Strudel aus Finsternis schimmerte.
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»Laß das Gewinsel, Perdix«, brummte Af. »Ich kletter’, so schnell ich kann.« Der wolfsköpfige Bewohner der Fugenebene schob sich an einem weiteren Stockwerk in der Mauer der Treulosen vorbei. Er kletterte langsam, indem er seine Spinnenbeine zwischen die Reihen sich windender Seelen plazierte, aus denen die Mauer bestand, und dann seine langen Schlangenwindungen die steil ansteigende Oberfläche hinaufzog. »Ich kapier’ gar nicht, warum du ü-
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berhaupt meine Hilfe brauchst«, grunzte Af. Perdix schwebte gerade eben außer Schlagweite, und seine Flügel schlugen heftig gegen die übelriechende Luft. »Du mußtest noch nie jemanden aus der Mauer holen, oder?« schnaufte er. »Ts. Du solltest doch wissen, daß dazu mindestens zwei von uns nötig sind. Schließlich hast du das Ding doch eigenhändig gebaut, nicht wahr?« »Habe ich nie gesagt!« rief Af, um das schmerzerfüllte Stöhnen zu übertönen, das von der Mauer ausging. »Sei nicht so vorwitzig, oder ich zieh’ dir eins über. Du brauchst –« Mit seiner menschlichen Hand verschloß Af dem nächstgelegenen Schatten den Mund. Die Seelen der Treulosen schrien unaufhörlich; aus diesem Grund war die Mauer so gebaut worden, daß die Seelen der Stadt der Zwietracht zugewandt waren und die ruhelosen Geister in ihrer Qual dem Herrn der Toten ein Ständchen bringen konnten. .Verdammte Jammerlappen«, sagte Af. »Schlimmer, als bei ‘ner Todesfee zur Untermiete zu wohnen.« »Ich kannte mal eine Todesfee«, sagte Perdix. »Wundervolles Mädchen, aber du hast recht, sie gehen einem auf die Ohren.« Er musterte die Mauer mit seinem blauen Auge. »Wir haben es fast geschafft. Nur noch zwei oder drei Stockwerke – nun ja, vielleicht auch zehn, aber höchstens.« Nachdem sie dreißig Reihen Seelen hinter sich hatten, erreichte Af die Stelle, an der sie Gwydion den Schnellen zurückgelassen hatten. Wie die Treulosen, die sich um ihn herum stapelten, Wand sich der Söldner und schrie. Ein Teil seiner Qual wurde von dem grünlichen Schimmel verursacht, der die Seelen an Ort und Stelle hielt.
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Der lebende Mörtel wuchs zwischen den Schatten und schlug schmerzhaft Wurzeln in all den Unseligen, die aufhörten, sich zu bewegen. »Wer hätte das gedacht«, rief Perdix aus, als er Gwydions blasses Gesicht sah, »er hat seine Zunge noch. Er hat also dazugelernt. Ich war mir sicher, daß er nochmal versuchen würde, einen anderen Gott anzurufen.« Er verzog angewidert das Gesicht. »Diese Käfer, die sie benutzen, um Unruhestiftern die Zungen abzufressen ... brrr.« »Ja. Bringen wir’s einfach hinter uns.« Af faßte mit seinen menschlichen Händen Gwydions Kopf und lehnte sich zurück. Langsam zog der Bewohner der Fugenebene die Seele aus der Mauer, obwohl die Treulosen von allen Seiten ihr Bestes gaben, den Söldner festzuhalten. Perdix’ Aufgabe war es, mit diesen neiderfüllten Schatten fertig zu werden. Der kleine Bewohner der Fugenebene grub seine strahlend weißen Zähne in ihre Arme und Hände. Als Gwydion von den anderen Seelen und dem grünen Schimmel befreit war, legte Af ihn sich über eine hochgezogene Schulter und machte sich daran, die Mauer wieder hinabzusteigen. »Du bist’n Glückskind«, grunzte der Bewohner der Fugenebene. »Ich hätte gewettet, daß Cyric dich für immer da drin lassen würde.« »W-Warum habt ihr mich befreit?« keuchte Gwydion. Perdix schwebte dicht neben dem Ohr der Seele. »Cyric will, daß alle Bewohner der Fugenebene – das sind wir – und die Falschen, die ohne bestimmten Grund gefoltert werden – das bist du – die Stadt durchsuchen«, sagte er. »Du wirst uns bei der Suche nach einem Kerl
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namens Kelemvor Lyonsbane helfen, irgendeinem alten Feind Cyrics, der sich da draußen versteckt.« Benommen wandte Gwydion den Kopf, um auf die Stadt der Zwietracht hinauszusehen. Die Mauer aus sich windenden Körpern ragte hoch in die Luft. Bewohner der Fugenebene krochen oder flogen auf den hohen Festungswall. Die bestialischen Kreaturen trugen schreiende Seelen, die sie auf die Mauer stapelten wie Klafterholz. Soweit Gwydion sehen konnte, war er der einzige, der nach unten gebracht wurde. Innerhalb der Mauer der Treulosen drängten sich baufällige Häuser in verfallenden Bezirken zusammen. All diese Gebäude waren nach demselben Muster errichtet worden: zehn Stockwerke mit quadratischen Fenstern und einem roten Flachdach. Sie unterschieden sich nur im Fortschritt ihres Verfalls. An manchen Stellen versanken ganze Häuserblöcke in riesigen Feuersbrünsten. An anderen rissen Einwohner die Gebäude Stein für Stein ab und hinterließen riesige Schutthaufen. Andere Einwohner bombardierten die Bezirke aus der Luft mit Blitzspeeren; diese dunkelfarbenen Bestien erhoben sich auf ungeheuren Flammenflügeln über die Nekropole, die wie Kometen die erstickende Nebelwand durchschnitten. Inmitten dieser Zerstörung stand die Knochenburg. Aus dieser Entfernung schien der spitze weiße Turm nur ein ferner Kirchturm zu sein, ein Zufluchtsort des Rechts und des Friedens, wie man ihn in jeder Stadt der Herzlande finden konnte, und doch wußte Gwydion, daß die Knochenburg hinter dem schützenden Diamantvorhang und dem Graben voll schwarzem Schleim dem gefährlichsten Vertreter des Chaos Unterschlupf bot. Gedanken
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an Cyric und den Wahnsinn, den er in den Augen des Gottes erblickt hatte, verfolgten Gwydion den Rest des unbequemen Wegs die Wand hinunter. »Na schön«, sagte Af. »Endstation.« Der Bewohner der Fugenebene zuckte die Achseln und ließ den Schatten grob aufs Gesicht fallen. Gwydion drückte sich vom Fuß der Mauer hoch und spuckte eine Ladung Staub aus. Hier waren die Treulosen still, schon vor langer Zeit bis zur Unbeweglichkeit zusammengedrückt von den Tausenden anderer, die auf ihnen lagen – und vom Schimmel überwuchert, der sie festhielt. Der Söldner erschauderte, als er feststellte, daß er sich auf die pilzzerfressenen Züge eines Schattens stützte. Nur die starren Augen des Mannes waren von dem grünen Schimmel verschont geblieben, der ihn überzog. »Nun«, fragte Perdix leichthin, »jetzt, da wir unseren Schützling haben, wo willst du anfangen? Im Moor auf der anderen Seite des Schlosses?« Af verzog seine Wolfsschnauze. »Nein. Wie wäre es mit dem Unterschlupf der Nachtschlange? Sie wird um diese Zeit gefüttert, und wir werden einfacher mit ihr reden können, nachdem sie gefressen hat.« »Sie macht mir Angst«, sagte Perdix rundheraus. »Aber wir müssen ihr früher oder später ‘nen Besuch abstatten, richtig?« »Sieht so aus«, seufzte Perdix. »Danach kümmern wir uns um das Moor.« Die beiden entfernten sich von der Mauer; Af schlängelte sich, Perdix hüpfte auf seinen dünnen Beinen. Nach ein paar Schritten drehten sich die beiden Bewohner der
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Fugenebene um. »Na?« fragte Perdix. »Du hast keine Wahl. Komm schon.« Die Zunge des Bewohners der Fugenebene schnellte nach jedem Wort heraus und verlieh dem Befehl Nachdruck. Gwydion schlurfte vorwärts. Widerstand war zwecklos; die Bewohner der Fugenebene waren Cyrics Vertreter, und der Herr der Toten hatte dem Söldner bereits bewiesen, daß er die Seelen in seinem Reich völlig beherrschte. Während er mit Af und Perdix Schritt hielt, kratzte Gwydion an dem Schimmel, der sich einen Weg in sein verfilztes blondes Haar und in die Fetzen gebahnt hatte, die einst warme Winterkleidung gewesen waren. Die Handschellen hatte man ihm abgenommen, als er in die Mauer gesteckt worden war, und doch stellte Gwydion fest, daß seine Hände sich unglaublich plump anstellten. Seine Finger fühlten sich nicht viel beweglicher als Baumstümpfe an. Das Trio durchwanderte finstere Gassen, in denen sich Seelen mit undeutlichen graugelben Gesichtern und ausdruckslosen grauen Augen in den Türöffnungen drängten. Flackernde Lampen, die man auf die Fensterbretter gestellt hatte, warfen ein fahlgelbes Licht in die Düsternis, das von einem übelriechenden schwarzen Qualm begleitet wurde, der Gwydion in den Augen und auf der Haut brannte. Bewohner der Fugenebene kamen paarweise vorbei und scheuchten die namenlosen Schatten auf oder betraten die Gebäude selbst. Diese anderen Bewohner der Fugenebene machten immer einen weiten Bogen um Af. Überraschenderweise nickten ebenfalls die meisten von ihnen Perdix respektvoll zu und grüßten die winzige Kreatur würdevoll.
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»Diese Schatten sehen alle gleich aus«, bemerkte Gwydion nach einiger Zeit. Seine Stimme war vom Schreien nach Erlösung aus der Mauer zum heiseren Flüstern geworden. Geschickt schlängelte Af sich auf die Spitze eines Haufens zerbrochener Steine, der die Gasse versperrte. »Ja und?« »Wie erkennen wir Kelemvor, wenn wir ihn finden?« Mit zwei Sätzen übersprang Perdix den Hügel. »Wir werden ihn schon erkennen. Es gibt nur drei Arten von Wesen in der Stadt der Zwietracht: Einwohner, Falsche und Treulose. Alle Einwohner – Seelen wie ich und Af, die Cyric früher einmal verehrt haben – werden verwandelt, wenn sie hier ankommen, so daß ihre Gestalt ihnen bei ihrer neuen Arbeit nützt.« Der gelbhäutige Einwohner schlug stolz mit den Flügeln. »Außerdem lassen sich die Aufseher so besser von den Insassen unterscheiden. »Jeder, der dumm genug ist und nicht an die Götter glaubt, wird in die Mauer der Treulosen gestopft«, fuhr er fort, »also wissen wir schon mal, wo wir dieses Pack finden.« Perdix faltete erneut die Flügel und seufzte. »Damit bleiben nur noch Schnecken wie du übrig – die Falschen, Leute, die es auf keine göttliche Liste für die Belohnung im Jenseits geschafft haben.« Die Gasse mündete in ein Marktplätzchen, das von weiteren Gebäuden umgeben war. Ein Schatten, in triste graue Fetzen gekleidet, machte sich davon, als die Einwohner näherkamen, nicht zu langsam und nicht zu schnell. Perdix wies auf die Namenlose Seele. »Die Falschen, die herkamen, bevor Cyric an die Macht kam, sind nicht schwer auszumachen – es sind diejenigen, die
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wie diese armselige Schnecke aussehen. Der alte Herr der Toten dachte, das sei das Schlimmste, was einem passieren könnte: sein Leben und seine Identität zu vergessen, sobald man hier ankam.« Der Einwohner lachte. »Der neue Herr der Toten ist viel kreativer. Jeder, der angekommen ist, nachdem Cyric den Thron an sich gerissen hat, hat sein Aussehen behalten, und seine Handgelenke zeigen die Spuren der Schellen.« Gwydion nickte. »Also wird Kelemvor wie ein Schatten aussehen, aber er wird keine Narben an den Handgelenken haben.« »Er wird außerdem umherziehen, was immer seltener wird«, fügte Perdix hinzu. »Cyric begann, die Falschen einer einzigartigen Folter zu unterziehen; die genau auf die Bestrafung für die schlimmen Dinge zugeschnitten ist, die sie zu Lebzeiten getan haben – wie die Schnecke da drüben.« Gwydion folgte Perdix’ Blick zur Mitte des Marktplatzes. Dort stand eine Seele, angekettet an die Statue eines Flußgeistes. Die spärlich bekleidete Steinnymphe hielt einen Krug, aus dem ein steter Wasserstrom floß. Eisenbänder hielten Kopf und Beine der Seele fest am Stein; und seine Arme endeten in geschwärzten, narbigen Stümpfen, die zu kurz waren, um an die glitzernde Flüssigkeit zu gelangen. Das Wasser regnete vor den Augen des rothaarigen Schattens herab, fiel auf den ausgedörrten Boden und löste sich in Luft auf. »Die Folter hilft euch Schnecken, euch daran zu erinnern, warum ihr hier seid. Der Schmerz erinnert euch an jeden begangenen Fehltritt, der euch von der Wahrheit der Welt wegführte«, bemerkte Perdix, während er zu
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dem Schatten hinüberhüpfte, der an den Brunnen gefesselt war. »Wie Kaverin hier. Er dachte, er könne Cyric überleben und dazu noch überlisten.« Der rothaarige Schatten öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber alles, was dabei herauskam, waren blaue Flammenzungen. Kaverins leblose Augen weiteten sich, als Perdix unter den Wasserstrahl hüpfte. Der kleine Einwohner warf den Kopf in den Nacken und trank Schluck um Schluck von der kühlen Flüssigkeit. Af schloß sich bald seinem Partner an, und die beiden quälten den Gefangenen mit ihrem Wasserbad. »Heute gibt es nichts zu trinken für dich«, höhnte Perdix. Kaverin zerrte panisch an seinen Fesseln. Seine Schreie waren Feuerstöße. »Ja. Heute nix für dich«, echote Af und deutete dann auf Gwy-dion. »Aber du darfst was trinken, wenn du willst.« Als die Einwohner beiseite traten, ging Gwydion langsam zum Brunnen. Ein kleiner silberner Becher lag zu Füßen der Statue, weit außer Kaverins Reichweite. Der Söldner warf einen Blick auf die Einwohner, aber sie sahen nur wortlos zu, wie er den Becher nahm und ihn füllte. Er zögerte einen Moment und netzte dann Kaverins ausgetrocknete Lippen. Der rothaarige Schatten schlug wie irre um sich und brachte Gwydion zu Fall. Durch das Gelächter der Einwohner hörte der Söldner, wie Kaverin fluchte. »Bastard«, zischte er, wobei ihm dünne Rinnsale von Wasser übers Kinn liefen. Er spie das übrige Wasser auf Gwydion. »Jetzt fangen sie wieder von vorne an – fünf Jahre
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umsonst! Ich wollte das Wasser nicht. Ich wollte deine Hilfe nicht. Dafür wirst du bezahlen –« Die Flammen in Kaverins Mund lebten wieder auf und verbrannten den Rest seiner Drohung. Perdix hob den Becher auf und schlug den gefangenen Schatten damit, dann warf er ihn zu Boden und hüpfte an Gwydions Seite. »Er wird dir nie vergessen, daß du seine Folter verschlimmert hast«, sagte der Einwohner monoton. »Natürlich wirst auch du es nicht vergessen.« Ungeduldig bedeutete Af ihm, ihm zu folgen. »Schluß mit der Gemeinschaftskundestunde«, brummte er. »Wir müssen zur Nachtschlange, schon vergessen?« Seinen Wolfskopf schüttelnd schlängelte Af sich über den Marktplatz und in eine weitere Gasse hinein. Auf Perdix’ Drängen hin kämpfte Gwydion sich auf die Beine und folgte den bestialischen Einwohnern im Dauerlauf. Bald darauf stellte er fest, daß er durch wenig einladende Straßen trottete, die von den namenlosen, gefühllosen Schatten der älteren Falschen bevölkert waren. Der Anblick so vieler, die zu einer Ewigkeit ohne Hoffnung, Liebe oder Furcht verdammt waren, machte Gwydion krank, aber es war etwas an seiner Umgebung, das dem Söldner auf weniger offensichtliche Weise keine Ruhe ließ. Die Gebäude, die Straßen, selbst die feuchte, stinkende Luft schienen ebenso kalt und hoffnungslos wie die Seelen der Verdammten. Etwas in seinem Inneren warnte Gwydion davor, daß die Stadt selbst versuchen würde, ihm jegliches wahre Gefühl auszusaugen, das er zeigte, wenn er das Leichentuch der Verzweiflung abwarf, das sich über ihn gelegt hatte. Schließlich überließen die Bezirke den Trümmern ein
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unebenes Feld, auf dessen anderer Seite das Stadtzentrum lag – die Knochenburg selbst. Gwydion und die Einwohner kämpften sich durch Steintrümmer und verbogenes Metall zum Eingang einer gewaltigen Höhle in der Nähe des Schleimflusses vor, der der Burg als Graben diente. Stalaktiten und Stalagmiten säumten das klaffende Loch wie steinerne Zähne. Orangefarbener Dampf quoll zwischen den gezackten Spitzen in stetem, zischendem Fluß hervor, und dunkles Wasser des Slith sammelte sich um den Eingang herum. Der Boden unter ihren Füßen war sumpfig und stank. Af legte Gwydion eine Hand auf die Schulter. »Bleib hinter mir und halt den Mund«, befahl der Einwohner barsch. Gwydion sah zu, wie Perdix zum Eingang der Höhle flog und hineinrief. »Gesandte Fürst Cyrics«, verkündete der kleine Einwohner, wobei seine Stimme merklich zitterte. »Herrin Dendar?« Ein knirschendes Geräusch hallte aus der Höhle, als bewege sich etwas Riesiges. Zwei Augen erschienen in der Finsternis. Sie hatten die widerliche, gelblichschwarze Farbe verfaulter Eier und schlitzförmige Pupillen. »Was wollt ihr von der Nachtschlange?« zischte sie. »Fürst Cyric will, daß wir Eure Höhle durchsuchen«, erklärte Perdix sanftmütig, wobei er sich hinter einen Stalagmiten kauerte. »Da gibt es einen Schatten, der sich versteckt hält –« »Ah. Er jagt wieder einmal Kelemvor, nicht wahr?« seufzte das Etwas. Gwydion meinte, bluttriefende Fangzähne in der Finsternis der Höhle aufblitzen zu sehen. Der Anblick er-
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weckte eine vage Furcht in ihm, verlieh einem vor langer Zeit vergessenen Schrecken neues Leben. »Euer Herr fürchtet seinen alten Freund – oder war er ein Feind?« Die Nachtschlange kicherte. »Ich glaube, nicht einmal Cyric selbst weiß es noch.« »Fürst Cyric hat vor nix Angst«, knurrte Af. »Aus gutem Grund weiß ich es besser.« Eine kantige Schnauze schob sich an den Höhleneingang heran. Die Schuppen der Schlange schillerten in tausend hypnotischen Farbtönen der Finsternis. »Die vergessenen Alpträume der Götter gehören mir ebenso wie die Sterblicher ... und Kelemvor Lyonsbane verfolgt Cyric in seinen Alpträumen. Oft führt er eine Revolte in der Stadt der Zwietracht an, eine Revolte, die euren Prinzen zu Fall bringt.« Die Nachtschlange neigte den Kopf. »Aber kommt nur herein, durchsucht die Höhle. Ich habe vor Cyric nichts zu verbergen, schon gar nicht seine Alpträume.« Perdix bewegte sich zögerlich vorwärts, während Af sich Gwydion mit einer Hand schnappte und kühn in die Höhle kletterte. Das Licht des mit Wolkenwirbeln bedeckten karminroten Himmels reichte nur schwach in die Düsternis und enthüllte einen breiten, mit Knochen übersäten Steinboden. Nur die Schnauzenspitze der Nachtschlange war sichtbar, aber die war so groß wie das Stadthaus eines Adligen im reichsten Stadtteil Suzails. Die gelben Augen schienen in der Finsternis zu schweben, Zwillingsteiche voller List und Tücke. Diese Augen richteten sich auf Gwydion, der die Höhle betrat. Die geschlitzten Pupillen überragten die zitternde Seele. »Mir tat es leid, daß du sterben mußtest,
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Gwydion«, zischte die Nachtschlange. »Deine Alpträume waren sehr schmackhaft.« »A-Aber ich hatte nie Alpträume«, erwiderte der Söldner unterwürfig. Die blutigen Fänge blitzten erneut auf – ein Lächeln vielleicht? »Hättest du dich an sie erinnert, Gwydion, hätte ich sie mir nicht zu eigen machen können.« Die Nachtschlange neigte den Kopf. »Also bitte. Ist die Welt so selbstgefällig geworden, daß ihr nicht von Dendar, der Nachtschlange, wißt? Lehren euch die Älteren das Gedicht nicht mehr?« Etwas in Gwydions Erinnerung erwachte, und er hörte die Stimme seines Großvaters, die einen Kinderreim aufsagte: »In Shars Nachtreich schlaf ich ein; Mög’ ich mit Träumen gesegnet sein. Erwach’ ich schreiend aus meinem Schlaf, Dann war Dendars Biß zu scharf.« Ein Schauder durchlief den Söldner. Dendar war ein Mythos, mit dem man Kinder erschreckte, damit sie zu Bett gingen, wann ihre Eltern es wollten – das hatte er zumindest immer geglaubt. Sein Großvater hatte ihm erzählt, die Nachtschlange fresse die schlechten Träume ungehorsamer Jungen und Mädchen und werde davon dick, so daß sie sich zum Ende der Welt aus dem Hades erheben und die Sonne verschlingen konnte. Jeder Alptraum, an den man sich nicht erinnern konnte, wurde zu Fleisch auf Dendars Rippen. Die Nachtschlange nickte mit der schwarzen Schnauze, als sie die Furcht in Gwydions Augen sah. »Ah, ich sehe, daß du mich doch kennst. Ich bin erleichtert.«
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»Verzeihung, Dendar«, sagte Perdix, »aber Ihr versperrt uns den Weg. Wir können nicht weiter in die Höhle hinein, wenn Ihr ihn nicht freigebt.« »Mein Körper ist so groß geworden, daß ich nur noch meinen Kopf frei bewegen kann«, sagte die Nachtschlange. »Also ist der Höhleneingang die einzige Stelle, die groß genug ist, um sich zu verstecken – und wie ihr seht, ist hier nichts.« Dendar schwenkte die Schnauze langsam über dem Knochenhaufen hin und her. »Ich hoffe doch, meine mißliche Lage bedeutet das baldige Ende der Welt.« Perdix nickte mit allem Enthusiasmus, den er aufbringen konnte. »Das wollen wir hoffen. Nun, wir gehen dann wieder. Laßt Cyric wissen, wenn Ihr jemand Verdächtigen in Eurer Höhle herumlungern seht.« »Mit Sicherheit«, säuselte die Nachtschlange. »Komm schon, Af«, sagte der kleine Einwohner. Er drehte sich nach seinem bestialischen Genossen um, sah aber dann, daß die wolfsköpfige Kreatur wie erstarrt war. »Was ist?« Af hob einen unförmigen Schädel aus den verstreuten Knochen unter seinen Windungen. »Die sind von Einwohnern«, murmelte er. »Natürlich«, sagte Dendar. »Sie schmecken nicht besonders – nicht so gut wie frische Seelen jedenfalls –, aber Cyric mischt ein paar Einwohner unter die Schatten, der Abwechslung halber. Der ganze Gedanke einer Abgabe ist nur Schau. Die vergessenen Alpträume sind genug Futter für mich, wie ihr vielleicht an meinem Körperumfang erahnen könnt.« »Aber wir sind seine Diener«, sagte Af zu niemand
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Bestimmtem. Er schüttelte den Schädel des Einwohners, bis er zerbrach. »Cyric kann uns bestrafen und foltern, aber wir sollten nicht vernichtet werden. Dafür hat er die Falschen!« »Wie kann man eine Seele vernichten?« fragte Gwydion. »Ich meine, wir sind doch schon tot.« »Es gibt auch nach dem Tod noch Wege des Verscheidens«, zischte Dendar mit blasierter Selbstzufriedenheit. »Aber deine Einwohnerfreunde hätten keinen Grund, ins Vergessen gehen zu wollen. Sie sind mit ihrem Los im Tode glücklich. Was die Falschen und die Treulosen angeht – nun, Cyric hat ihr Schicksal in seiner Gewalt. Sie können nicht sterben, es sei denn, er will es so, und er schickt Schatten nur ins Vergessen, wenn er ihrer Folterung müde ist.« »Laß uns darüber reden, während wir ins Moor gehen, ja? Wir müssen Dendar damit nicht belästigen.« Während er an einem von Afs Spinnenbeinen zerrte, hüpfte Perdix in Richtung Höhleneingang. »Nein!« schrie Af. »Wir haben ‘nen Pakt. Ich war dabei, als er unterschrieben wurde. Cyric selbst hat gesagt –« Plötzlich erfüllte ein bitteres Lachen die Höhle. »Ihr habt ihm geglaubt?« spottete Gwydion. Perdix und Af starrten den Schatten haßerfüllt an. Als er nicht aufhörte zu lachen, schlugen sie grausam auf ihn ein, aber selbst ihre Schläge und Drohungen vermochten nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Der Ausdruck von Hilflosigkeit in Afs Wolfsgesicht hatte Gwydion gezeigt, daß die Einwohner nicht mehr Macht hatten als er, daß auch sie Opfer von Cyrics
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Wahnsinn waren. Mit dieser Erkenntnis glitt das Leichentuch der Verzweiflung von seiner Seele, und ein ausgelassener Traum setzte sich in seinen Gedanken fest: die Falschen und die Einwohner waren Brüder in der Verdammung. Warum konnten sie sich nicht erheben und aus ihrem Leiden befreien? Es war die Nachtschlange, die Gwydions irres Gelächter zum Verstummen brachte. Sie richtete ein gelbes Auge auf den Schatten und sagte: »Oh ja, lieber Gwydion, träume von der Freiheit. Aber denke daran: Wo es Träume gibt, da sind Alpträume niemals fern.«
5 [ HOFFNUNGSTRA.. GER ]
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Worin die Tochter Bevis’, des Illustrators eine neue – und wahrscheinlich kurzlebige – Laufbahn als Schreiberin für die Kirche Cyrics einschlägt. Rinda gehörte das ganze Haus, aber das hatte wirklich nicht viel zu sagen. Das triste, einstöckige, armselige Wohnhaus lag im ärmsten Stadtteil der Zentilfeste, mitten unter den nicht zugelassenen Bordellen, den Ginhöhlen und den verfallenen Heimstätten entflohener Sklaven und Männer, die das Trinken zu abgöttisch liebten, um irgend jemandem von Nutzen zu sein. In einem anderen Viertel wäre es für unbewohnbar erklärt worden. Ratten unterhielten eine gedeihende Kolonie in den Dachsparren. Der Holzschwamm hatte sich großer Teile des Fußbodens bemächtigt, wo die Dielen noch nicht in den stinkenden Schlamm darunter versackt waren. An kalten Marpenoth-Tagen wie diesem pfiff der Wind durch die Mauerritzen und versprach weitere vier Monate erbarmungsloser Kälte. Rinda fielen diese Plagen kaum auf. Sie verbrachte so wenig Zeit wie möglich in der Hütte und nutzte sie nur zum Schlafen, zum Essen und manchmal, um gefälschte Reisepapiere für entflohene Sklaven oder von Assassinen geplagte Händler auszustellen. Es war Rinda unange-
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nehm, ihre Arbeit dort zu erledigen, aber bei den meisten Männern und Frauen, die Hilfe suchend zu ihr kamen, hatte sie keine Wahl. Ihre Klienten nannten oft verdunkelte Türöffnungen ihr Zuhause; an diesen feuchten Orten eine ruhige Hand zu bewahren, war nahezu unmöglich. Sie hatte eine Stelle in der Schreibergilde abgelehnt, um diesen Leuten zu helfen; etwas, wogegen sich ihr Vater ausgesprochen hatte, bis sie endlich vor zwei Jahren von zu Hause fortgegangen war. Rinda vermißte ihn nicht. Er war ein bitterer Mann, der seinen Platz im Leben haßte. Er hatte ihr Bedürfnis, anderen zu helfen, nie verstehen können, den Antrieb, der ihr Leben an einem trostlosen Ort wie der Zentilfeste lebenswert machte. Wann immer sie zu ruhen versuchte, wurde Rinda von dem Gedanken an diejenigen geplagt, die weniger Glück hatten als sie, und so verbrachte sie die meiste Zeit ihres Tages auf den Straßen und half den Unterdrückten in der Feste, so gut sie eben konnte. An manchen Tagen hieß das, sich um vorübergehende Unterkunft für eine mittellose Familie zu kümmern oder für einen Soldaten, der von den Zentilaren desertierte, Durchreisepapiere zu fälschen. An anderen Tagen zog sie durch die Gasthäuser und Tavernen und brachte den Prostituierten und Bagatelldieben das Lesen und Schreiben bei. Den heutigen Tag hatte sie auf dem Marktplatz verbracht und gebettelt, um Geld für Bestechungsgelder zusammenzubekommen. Die Zentarim-Magier, die die Slums beaufsichtigten, störten sich nicht daran, wenn Rinda ein paar entkommenen Gefangenen half, sich den Tesch hinunterzustehlen. Allerdings hatte ihr Schweigen
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einen Preis. Nun, während sie sich vor der Kälte in ihrer Hütte zusammenkauerte, zählte Rinda die paar Münzen, die sie ergattert hatte. »Ich habe bei weitem nicht genug.« Sie stieß einen Stoßseufzer aus und zählte dann die Kupfermünzen erneut. »Nicht mal annähernd. Das bedeutet Schwierigkeiten für die Mädchen, die Madame Februa entwischen wollen.« Rinda richtete faszinierende grüne Augen auf den Zwerg, der an der Tür herumlungerte. Er kippelte gefährlich auf einem wackligen Stuhl, wobei seine schweren Stiefel auf einem Tisch ruhten. Seine Kleidung bestand aus ungepflegtem Leder; sein Bart und Haar waren verfilzte, schwarz-silberne Haarbüschel. Ein graues Auge lugte unter einer buschigen Braue hervor. Das andere war von einer braunen Augenklappe verborgen, die ein Kreis von Silbernieten zierte. »Ich habe gehört, Fürst Schach hat sich in den Schlaf geweint, als er hörte, daß Leira fort ist«, bemerkte der Zwerg. Er blies sich die herunterhängenden Bartenden vom Mund und fügte boshaft hinzu: »Dieser aufgeblasene Sack Orkdung.« »Hodur, du weißt, ich hasse es, wenn du mich so ignorierst«, sagte Rinda verärgert. »Wenn du über etwas anderes reden willst, dann sag es einfach.« Hodur grinste. »Also gut. Ich will über etwas anderes reden. Mir ist alles recht, solange es nicht darum geht, wie wenig Essen es diesen Winter geben wird oder wie die Zentilare Gefangene verprügeln oder irgend etwas, was mit dem Gesindel hier zu tun hat.« Er hielt inne, um sich wütend unter dem Bart zu kratzen. »Du bist der deprimierendste Mensch, der mir je untergekommen ist,
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weißt du das?« Rinda ließ die Kupfermünzen in eine angeschlagene Teetasse fallen. »Warum bist du dann immer hier?« »Vielleicht bin ich gern deprimiert«, erwiderte Hodur. »Es heißt doch immer, wir Zwerge seien angeblich melan– öhm, meloch– äh, unglücklich. Ein Straßenprediger hat im ›Schlangenauge‹ mal darüber gesprochen. Er sagte, es läge daran, daß wir eine dem Untergang geweihte Rasse sind. Nicht genug kleine Zwerge, die unsere Handwerkskünste und unsere Kriege weiterführen könnten, also haben wir keine Zukunft.« Seine Stimme verriet Gefühle, die er hatte verbergen wollen. »Oder vielleicht habe ich nichts anderes zu tun. Keine Arbeit für einen Steinmetz mit solchen Pfoten«, sagte er und hielt seine Hände hoch, die von Schüttellähmung befallen waren. Sie zitterten in unregelmäßigen Abständen. Taktvoll ließ Rinda das Thema fallen. Sie brach eines der wenigen festen Bodenbretter auf und versteckte die Tasse im Schlamm darunter. Die Erde patschte widerlich, als sie den Schatz zurechtrückte. »Also, was ist das nun mit Fürst Schach?« »Oh, nichts Wichtiges«, lenkte der Zwerg ein. »Ich habe nur gehört, er sei ganz aufgewühlt gewesen, als Cyric Leiras Priestern verkündete, daß es Leira nicht mehr gibt.« Rinda lächelte. »Er praktiziert schon seit Jahren nicht mehr als Kleriker. Alles, was er vermissen wird, sind die Bankette, die die Leiraner gaben – Maskenzwang, keine Ausschweifung zu ungewöhnlich, und es werden keine Fragen gestellt.« »Woher willst du das wissen?«
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In gespielter Unschuld legte sich Rinda die Hände auf die Wangen. »Ein Zwerg hat es mir erzählt«, sagte sie. »Woher sonst?« Hodur lachte, und die Enden seines Schnurrbarts flatterten mit jedem lauten Bellen vor seinem Mund. »Weißt du, im Moment möchte ich wirklich kein Leiraner sein. Ich meine, wenn man den Gerüchten Glauben schenken will, hat Cyric sie auf dem Gewissen. Aber wenn man sich aus Verzweiflung darüber umbringt, landet man trotzdem im Reich dieses niederträchtigen Bastards!« »Vorsicht«, warnte Rinda. »Du weißt nie, wer sonst noch zuhört.« »Wie kommt es, daß die Götter der Menschen nichts Besseres zu tun haben, als ihre Anhänger mit Aufgaben zu belästigen oder sie vom Himmel aus zu belauschen, so daß sie jeden zerquetschen können, der etwas Schlechtes über sie sagt?« Der Zwerg ließ die Füße auf den Boden fallen. Der Stuhl quietschte gefährlich, als er sein Gewicht verlagerte. »Dir wird kein Zwergengott begegnen, der seine Zeit so verschwendet. Moradin und Clanggedin und ihr Haufen haben Besseres zu tun – du weißt schon, die Armeen der Orkgötter aufzureiben oder Corelion Larethian und die anderen unsterblichen Trunkenbolde der Elfen zu beleidigen.« »Es sind nicht die Götter, um die ich mir Sorgen mache«, sagte Rinda. »Es sind die Kleriker – und die Zentilare. Patriarch Silbermähne hat Fürst Schach darum gebeten, Meinungsäußerungen gegen Cyric oder die Kirche mit Verrat gleichzusetzen, und Schach ist feige genug, die Armee dazu zu bringen, Silbermähnes Wünsche zu unterstützen.«
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»Die Zentarim werden sich das nicht gefallen lassen«, sagte der Zwerg und verwarf den Gedanken mit einer zitternden Handbewegung, »und sie sind diejenigen, die hier wirklich etwas zu sagen haben.« Rindas grüne Augen blickten nachdenklich. »Wir können nur hoffen, daß das noch zutrifft«, murmelte sie. »Sie sind viel weniger gefährlich als Cyrics Männer ...« »Ich hätte nie gedacht, daß du einmal etwas Gutes über das Schwarze Netzwerk zu sagen hättest«, rief Hodur aus. Er klatschte in die Hände. »Könnte es sein, daß die Wahrheit der Welt diese lächerliche Rüstung aus guten Vorsätzen durchdrungen hat, die du dir selbst zusammengeschmiedet hast?« »Ich sehe die Welt mit klareren Augen, als du denkst«, sagte sie. »Aber es ist nichts Schlechtes daran zu hoffen, daß die Dinge möglicherweise besser stehen, als es den Anschein hat. Die –« Ein Pochen an der Tür unterbrach Rinda und ließ Hodur überrascht aufspringen. »Öffnet, in Cyrics Namen«, dröhnte eine tiefe Stimme. Mit einem Fluch in seinen Bart stürzte der Zwerg auf die andere Seite des Raumes, wo auf einer langen Bank eine Laterne stand. Er packte sie. »Hol einen Feuerstein«, zischte er, während er Öl über den nächstbesten Stapel Pergament goß. Rinda verzog das Gesicht und bedeutete ihm aufzuhören. «Wenn das eine Razzia wäre«, flüsterte sie, »dann hätten sie nicht geklopft.« Trotz ihrer eigenen beruhigenden Worte stieß Rinda einen Wasserkrug um, so daß sich sein Inhalt über einen gefälschten Satz Ausweispapiere ergoß, während sie zur
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Tür ging. Man mußte ja nicht unnötige Risiken eingehen. Die zwei Männer, die auf der Schwelle standen, waren typisch für die Schläger, die die Kirche Cyrics beschäftigte. Sie lehnten an den Türpfosten und bohrten mit Klappmessern gelangweilt Splitter aus dem morschen Holz. Einer war dick, mit Stoppelbart und schläfrigen Augen. Der andere war klein und geschmeidig. Wie er so gebeugt mit runden Schultern und dunklen Ringen unter den Augen dastand, erinnerte er Rinda an die Wiesel, die im Fluß draußen vor der Stadt lebten. Beide trugen pelzbesetzte Mäntel über ihrer schäbigen Kleidung. Nur ihre roten Armbänder wiesen sie als Männer der Kirche aus, verziert mit Cyrics heiligem Symbol – einem grinsenden weißen Schädel, der von einer schwarzen Sonne umgeben war. »Laß mal sehen«, sagte der Kleine. Er faltete einen zerknitterten Zettel auseinander. »Brünett. Mittelgroß. Schlank.« Mit gerunzelter Stirn schielte er im schwindenden Licht der Nachmittagssonne zu Rinda hinauf. »Ja, sie hat grüne Augen. Das ist sie, Worvo.« »Bist du Rinda, die Tochter Bevis’, des Illustrators?« fragte der Dicke. Selbst seine Worte waren gebläht, voller gerundeter Vokale und genuschelter Konsonanten. Rinda verschränkte die Arme vor der Brust. »Was, wenn ich es wäre?« »Beantworte einfach die Frage, ja?« Der wieselartige Schläger spie auf die Straße und sah sich um. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Hodur trat breitbeinig zwischen Rinda und die Schläger, als würde eine Barrikade in den Weg gerollt. »Ihr seid hier falsch. Hier gibt es keine Rinda.«
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Worvo blinzelte ein paarmal, dann ließ er den Mund idiotisch offenstehen. »Sind wir? Keine Rinda? He, Var, wenn sie nicht –« »Natürlich ist sie es«, schnauzte Var. »Sie soll schlau sein, oder? Eine Schreiberin.« Er wies mit seinem Dolch auf Hodurs Augenklappe. »Selbst eine blinde alte Schnapsdrossel wie der da konnte sehen, daß sie nicht wie die anderen hier ist. Ihre Kleider sind sauber. So, wie sie aussieht, hat sie diesen Monat sogar schon gebadet.« Er leckte sich die schmalen Lippen. »Und sie ist tagsüber auch noch wach. Wahrscheinlich die einzige Frau im weiten Umkreis, die nicht erst bei Sonnenuntergang aufwacht – es sei denn, ihr kleiner einäugiger Freund hier hat sie gerade aus dem Bett geholt.« Hodur ballte eine zitternde Hand zur Faust und packte mit der anderen Vars Wams am Ausschnitt. Beide Schläger richteten ihre Messer auf den Zwerg, aber Rinda zog ihn von der Tür weg, bevor es Ärger gab. Sie hatte gesehen, wie Hodur kämpfte. Trotz seines Gebrechens war er den beiden vergammelten Kirchenmitgliedern mehr als gewachsen – und auch fünf weiteren von ihrer Sorte. Würde es aber zu Handgreiflichkeiten kommen, bestand die Möglichkeit, daß die Wache auftauchte, und das bedeutete ausgebildete Killer und wahrscheinlich auch Magier. »Ist schon gut, Hodur«, sagte sie ruhig. Der unnachgiebige Ausdruck in ihren Augen schüchterte den Zwerg ein, und er trat zurück ins Zimmer. »Bist du nun Rinda oder nicht?« fragte Worvo. »Ja. Was will die Kirche von mir?« »Wie ich schon sagte, du bist Schreiberin, oder?« Var
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nickte. »Die Kirche braucht deine Dienste. Das ist alles, was du wissen mußt.« Rinda runzelte die Stirn. »Aber ich bin nicht Mitglied der Gilde. Man kann mich nicht einstellen, wenn ich nicht –« »Ich habe nie gesagt, daß du dafür auch bezahlt würdest«, sagte Var. Er drehte sich zu seinem Kameraden um. »Habe ich gesagt, es sei bezahlte Arbeit?« »Ähm, nein, Var.« »Na bitte, ich wußte doch, daß ich mich klar ausgedrückt hatte.« Er ergriff Rindas Arm. »Die Kirche will eine Schreiberin mit der nötigen Intelligenz, und du bist genau die Richtige. Also, gehen wir, ja?« Rinda langte hinter den Türpfosten und schnappte sich den dünnen Mantel, der dort hing. »Bleib hier, bis ich zurückkomme, Hodur. Keine Angst. Ich komme schon klar.« Von den Kirchenleuten flankiert ließ sie ihr Heim hinter sich und eilte davon, durch Gassen, die von den länger werdenden Schatten der Dämmerung eingehüllt waren. »Wohin bringt ihr mich?« fragte sie. »Nicht weit weg«, erwiderte Var. Seine Knopfaugen huschten hierhin und dorthin, musterten jede Gestalt, die sich in einen dunklen Türeingang kauerte und jeden Betrunkenen, der seines Weges torkelte. Er ist nicht dumm, bemerkte Rinda. Dieser Teil der Feste erwies sich oft als Todesfalle für die, die mit den Dingen, die sich hier nachts herumschlichen, nicht vertraut waren – die Werber und Meuchelmörder und lauernden Kreaturen, denen der Sinn nach Menschenfleisch stand. Am schlimmsten von allen waren jedoch die Nau-
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Rinda roch den Laden des Pergamentmachers, lange bevor sie ihn sah. Ein Gestank von Leder und übelriechenden Fässern abgestandenen Wassers ging von diesem Ort aus und ließ die ganze Gasse wie einen Schlachthof riechen. Dem Ausmaß an lebhaftem Treiben auf der Straße nach zu urteilen hatten sich die Nachbarn jedoch offensichtlich schon vor langer Zeit an den unangenehmen Geruch gewöhnt. Aus dunklen Türeingängen riefen leichtbekleidete Mädchen jeden an, der nüchtern genug war, um allein zu laufen, und wenn einer der Vorübergehenden zufällig
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gadar, die Zauberer der Zentarim, die auf der Suche nach Versuchskaninchen für ihre sadistischen Experimente durch die Gassen zogen. Keiner war vor diesen ›Teufelshunden‹ sicher, nicht einmal die Männer, die Cyrics heiliges Symbol trugen. »Wir sollten dir sagen, daß er tot ist«, platzte Worvo heraus. »Dein Vater. Vor drei Nächten.« »Ja«, fügte Var hinzu. »Gleich nachdem er dich empfohlen hatte, hatte er in den Krypten unter dem Tempel einen Unfall. Die Kirche hat ihn als Märtyrer bestattet.« »Wie zuvorkommend«, sagte Rinda tonlos. Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden – nicht aus Trauer, sondern aus Wut. Sie war Verrat gewohnt, besonders von ihrem Vater. Was sie jetzt wütend machte, war der Gedanke, daß Bevis der Kirche Cyrics sein einziges Kind ausgeliefert hatte, und er hatte sich damit nicht einmal selbst gerettet.
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stolperte, fielen sie über ihn her wie die Krähen auf dem Schlachtfeld und nahmen sich alles, was auch nur von geringstem Wert war. Nachdem sie den Gestürzten ausgeweidet hatten, eilten die Frauen zurück auf ihre kalten, lichtlosen Plätze, hustend und keuchend vor Krankheiten, die zu lange nicht behandelt worden waren. Eine Schar schmutziger Kinder entströmte einem Mietshaus an einem Ende der Straße. Sie heulten wie die Wölfe und warfen alles um, was ihnen im Weg stand und nicht niet- und nagelfest war. Vor dem Ansturm dieser Horde rennender Füße und ungewaschener Gesichter zerstreuten sich die Leute. Die Nutten warfen ihre Türen zu und warteten, bis der Mob vorübergezogen war; Rinda und ihre Eskorte drückten sich an eine Wand. Die Männer der Kirche zogen die Dolche, um die Strolche abzuschrecken. Glücklicherweise schien dem Rudel mehr daran gelegen zu sein, Lärm zu machen als jemand bestimmten auszunehmen. Während die Kinder vorüberzogen und das Geheul langsam erstarb, erhob sich der Chor einiger betrunkener Kupplerinnen und erfüllte die Nachtluft. In einer Taverne weiter unten an der Straße schmetterten sie eine Lobeshymne auf Loviatar und unterstrichen das Ende jedes Verses mit einem lauten Poltern der Krüge auf dem Tisch. Rinda meinte, auch den scharfen Knall einer Peitsche zu vernehmen – ein Geräusch, das in der Zentilfeste nach Einbruch der Dunkelheit keine Seltenheit war. »Hier entlang«, murmelte Var durch das Taschentuch, das er sich vor Mund und Nase gepreßt hielt. Er zerrte sie zu einem kleinen Laden, der zwischen zwei höheren Gebäuden eingezwängt lag.
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Licht drang durch die dicken, vergitterten Fenster im unteren Stockwerk und sammelte sich auf der Straße. Für Rinda war das hell genug, um zu erkennen, daß es sich um eine einstöckige Werkstatt handelte, über der zwei Stockwerke mit Wohnräumen lagen. Die oberen Fenster waren entweder mit Brettern vernagelt oder dunkel. Wie sie dem Geruch nach vermutet hatte, kündete das Schild über der Tür vom Wohnsitz eines Pergamentmachers. Sechs Zentilare standen vor dem Laden und bildeten eine Mauer aus Rüstungen und gezückten Schwertern. Rinda hielt sie für Elitesoldaten, vielleicht sogar einen Teil von Fürst Schachs persönlicher Leibgarde. Sie hatten Haltung angenommen und beobachteten die vorbeiziehenden Prostituierten, Betrunkenen und ungezähmten Kinder. Var ließ sein Taschentuch sinken, als er sich den Zentilaren näherte, und stieß dann auch Worvos weg. Die Soldaten erwiderten seinen Gruß mit einer Palisade erhobener Klingen. »Die Schreiberin für Patriarch Silbermähne«, sagte Var zum nächstbesten Soldaten. Einen Augenblick später nickte der Mann mit dem kantigen Kinn und ließ sie passieren. Rinda schauderte, als Licht auf das Gesicht des Soldaten fiel. Die langen Narben, die seine Wangen verunstalteten, verkündeten der Welt, daß ihm seine Zunge entfernt worden war. Die Tür des Ladens öffnete sich quietschend. Patriarch Silbermähne erschien von Licht bekränzt auf der Veranda und rieb sich nervös die Hände. »Ah, endlich«, sagte er und kramte dann zwei Silbermünzen aus der Tasche seiner langen violetten Klerikerrobe. »Gut gemacht.«
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Var und Worvo nahmen die Münzen gierig an sich, ihre Abscheu vor dem Gassengeruch wurde von Habgier vertrieben. »Danke, Patriarch«, brachte Var hervor. Er verbeugte sich würdevoll und küßte den Totenkopfring, den der Hohepriester trug. Als Worvo nach vorn trottete, um es ihm gleichzutun, winkte Silbermähne ab. »Einer der Zentilare wird euch hinauseskortieren«, sagte der Patriarch, wobei er Rinda ins Ladeninnere zog. Die Tür schlug unter weiteren Dankesbezeugungen der Schläger zu. Der stählerne Ausdruck in Silbermähnes Augen sagte Rinda, daß Var und Worvo tot sein würden, bevor sie drei Blocks weit kamen. Für Cyrics Kirche war das die übliche Vorgehensweise: Man stellte einen Boten ein und tötete ihn, sobald er seinen Auftrag erledigt hatte. Das Gesicht des Patriarchen glich einer Maske aus Falten, sein silberweißes Haar einem Schlangennest. Er lächelte mit schlecht gespielter Herzlichkeit und bedeutete Rinda, sich ins Zimmer zu begeben. Sie waren allein inmitten der schiefen Regale und Rollen fertigen Pergaments. »Euch wird der Segen einer seltenen Gelegenheit zuteil, der Kirche zu dienen«, begann Silbermähne. »Fürst Cyric benötigt Eure Fertigkeiten als Schreiberin.« Rinda ließ ihren Mantel von den Schultern gleiten und schüttelte ihre dunklen Locken auf. »Ich bitte Eure Heiligkeit um Verzeihung«, sagte sie, »aber ich bin nicht sehr gläubig und, so leid es mir tut, eine eher armselige Schreiberin. Wenn ich auch nur ein Mindestmaß an Fertigkeit besäße, wäre ich in der Gilde.«
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»Wir haben Nachforschungen über dich angestellt, Rinda«, gab Xeno Silbermähne scharf zurück. »Du hast deinen Platz in der Gilde abgelehnt, nicht umgekehrt – und wofür? Um loszuziehen und gute Taten für Diebe und Betrunkene zu vollbringen.« Der dünne Schleier der Freundlichkeit zerriß. Mit jedem Wort, jeder Geste bewegte sich der Patriarch von nun an am Rande eines wahnsinnigen Zorns. »Wir wissen alles über dich, Rinda. Glaube bloß nicht, deine Handlungen blieben unbemerkt, oder du könntest in dieser Stadt irgend etwas tun, das wir nicht dulden.« Xeno kicherte. »Die Hoffnung, die du pflegst, die Träume, die du nährst – sie unterstützen unsere Sache auf eine Art, die du nie verstehen wirst.« »Das ist wohl kaum die richtige Art, sich ihrer Mitarbeit zu versichern«, kam eine kühle Stimme aus dem hinteren Teil des Zimmers. Der Patriarch fiel auf die Knie und preßte die Handflächen in inbrünstigem Gebet aneinander. »Vergebt mir, Magnifizenz, vergebt mir. Aber sie ist ungläubig. Sie entweiht Euer –« »Es reicht«, sagte der Mann. Er trat mit lässiger Anmut in den Raum und beäugte Rinda. Von seinem Blick bekam die Schreiberin Gänsehaut. »Vielleicht ist eine Ungläubige genau das, was wir brauchen, um die anderen Narren zu überzeugen, die das Licht nicht sehen können.« Einen Augenblick lang fragte sich die Schreiberin, wer der hagere Mann mit der Hakennase sein konnte, daß Patriarch Silbermähne vor ihm katzbuckelte. Er schien höchstens halb so alt wie der Priester mit seinen sechzig
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Jahren zu sein, und seine Kleidung zeichnete ihn als niemand Einflußreicheren aus als einen Handlanger der städtischen Diebesgilde. Seine Lederstiefel waren an den Hacken abgetreten. Sein Mantel war sauber, aber etwas abgetragen. Nur das alte rosenfarbene Kurzschwert an seinem Gürtel zeugte von Reichtum oder Macht. »Ich bin Fürst Cyric«, verkündete er und hielt dann inne, um Rinda Gelegenheit zu geben, sich zu verbeugen oder ihren Blick abzuwenden. Als sie einfach nur dastand und ihn anstarrte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen und legte die Krähenfüße in Falten, die seine dunklen Augen umgaben. »Du bist skeptisch. Das ist gut.« Silbermähne zog einen Dolch aus dem Ärmel seiner Robe. »Knie nieder«, zischte er. »Ach, laßt sie in Ruhe«, sagte Cyric. Er musterte die Schreiberin noch einen Augenblick lang und fügte dann hinzu: »Geht, Xeno. Wir fangen jetzt an.« Der Patriarch trippelte rückwärts zur Tür und verschwand. Die Erkenntnis, daß dies tatsächlich der Prinz der Lügen war, brach über Rinda herein, und sie begann, unkontrolliert zu zittern. Wie Regenwasser glitt ihr Mantel durch taube Finger und landete auf dem schmutzigen Fußboden. Cyric ließ einen schlanken Finger über ihre Lippen wandern. »Skeptisch, aber auch klug genug, mich zu fürchten. Es wird immer besser.« »Ich fürchte –« Cyric brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Du bist hier, um zuzuhören, nicht, um zu reden. Komm.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Teil des Ladens, in dem das Pergament präpariert wurde.
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Wasser- und Kalkbottiche standen an einer Wand, gefüllt mit durchtränkten Tierhäuten. Auf runde Holzrahmen waren Häute gespannt, die schon in den Wannen aufgeweicht worden waren. Unter jedem Rahmen häuften sich nasse Fellberge, wo der Pergamentmacher angefangen hatte, die Haut auf die nötige Dicke zurechtzuschaben. Rinda war schon in solchen Werkstätten gewesen und wußte auf Anhieb, daß diese hier Pergament von besonders niedriger Qualität produzierte. Das Wasser in den Wannen war dreckig, die gebogenen Schabmesser stumpf und rostig. Die auf die Rahmen gespannten Häute waren mit Löchern und Flecken übersät, die von nachlässiger Handhabung und der verdreckten Umgebung zeugten. »Ich würde niemals verlangen, daß du deine Zeit damit verschwendest, auf solchem Pergament zu schreiben«, sagte Cyric, während er die Schreiberin dabei beobachtete, wie sie sich umsah. »Es eignet sich für Notizen, aber nicht für ein Buch.« Er tätschelte Rindas Hand. »Das Pergament, das ich verwende, wird viel sorgfältiger hergestellt und ist aus viel seltenerem Rohmaterial.« »Ich verstehe nicht«, brachte Rinda schließlich heraus. »Keine Sorge. Das wirst du noch.« Cyric ging in dem großen Raum auf und ab und besah sich die mit schlecht geschnittenen Bögen vollgestopften Trockenregale und die Tische, auf denen sich Rechnungsbücher stapelten. »Ich fange mit der Geschichte immer an diesem Ort an, weil ich hier geboren wurde.« Er blieb stehen und stemmte die Hände mit theatralischer Eleganz in die Hüften. »Kaum zu glauben, aber dies ist der Geburtsort eines Gottes – nun, zumindest das
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Haus, das hier einmal stand, war es.« Langsam drehte sich Cyric um und starrte Rinda in die grünen Augen. Furcht schnitt ihr ins Herz wie eine gezackte Lanze. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte der Prinz der Lügen. »Du wirst aus ihr ein Buch machen, eines, das die Menschen dazu inspiriert, mich zu verehren. Die Magier meiner Kirche haben spezielle Tinte und besonderes Pergament erschaffen. Sie haben spezielle Gebete geschrieben, die an von ihnen vorgegebenen Stellen in den Text integriert werden müssen. Es wird Illustrationen und spezielle Bindungen geben ... aber deine Arbeit ist die wichtigste.« Er trat wieder an Rindas Seite und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Wenn du Erfolg hast, wirst du verehrt werden, gepriesen in den Annalen meiner Welt als Vorbotin der neuen Ordnung, ein Engel des Wissens, der es mit Oghma selbst aufnehmen kann.« Eine unausgesprochene Frage hing in der Luft. Cyric hielt einen Moment inne, ehe er sie beantwortete. »Solltest du versagen« – sein Gesicht verdunkelte sich, und er grub seine Finger in ihre Schulter, bis unter seinen Nägeln Blut zu fließen begann –, »werde ich deine schreiende Seele in den Hades hinunterzerren und dich in meinem Thronsaal neben deinem Vater aufhängen.«
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Aus der Cyrinishad Man erzählt sich, Tymora und Beshaba wetteten um die Herrschaft über jede einzelne Seele, die auf dieser Welt
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geboren wird. Die Herrin des Glücks wirft ihre silberne Münze, und die Jungfer des Unglücks entscheidet sich für Kopf oder Zahl. Wenn Beshaba falsch rät, überhäuft Tymora die glückliche Seele lebenslang mit ihren Segnungen. Man erzählt sich auch, die Jungfer des Unglücks unterliege in diesen Wettbewerben nur selten. Nur ein einziger Mann in der gesamten Geschichte ist ihrem grausamen Spiel entkommen – Cyric von der Zentilfeste. Noch bevor er als Sterblicher auf diese Welt kam, besaß Cyric den Willen, sich dem zufälligen Schiedsspruch des Schicksals zu widersetzen und seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Als seine neugeborene Seele vor den Göttinnen stand, warf er ein Licht auf Tymoras Silbermünze und blendete sie, so daß sie seine Gegenwart nicht bemerkten. Die Gottheiten sahen nie, wie die Münze fiel und entschieden auch nie, wer die Wette um Cyrics Bestimmung gewonnen hatte, und so wurde er zur Welt gebracht, ohne ein Schicksal zu haben – außer dem einen, das er sich selbst zu schmieden vermochte. In der Armut der Elendsviertel der Zentilfeste nahm der Mann, der ein Gott werden sollte, erstmals eine sterbliche Hülle an. Seine Mutter, eine Bardin mit einem Geist so wach wie Oghmas selbst, hatte in einem Traum die Bedeutung vorhergesehen, die ihr Kind einst haben würde. Sie verbarg den kleinen Cyric vor seinem Vater in den dunklen Gassen dieser ungastlichen Stadt, denn der Mann war ein Führer der Zentilare und Agent des Schwarzen Netzwerkes, dem Gott Tyrannos treu ergeben. Der Gott der Zwietracht hatte Cyrics Potential zur Macht auch vorhergesehen. Aus Furcht vor dem einzigen
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Sterblichen, der nicht an ein Schicksal gebunden war, sandte er seine Agenten durch die ganze Stadt, um das Kind zu töten. In der heißesten Nacht im Flammleite, als der grausamste Sommer, den es in der Zentilfeste je gegeben hatte, die Stadt in seiner Gewalt hatte, fingen die Meuchelmörder Cyrics Mutter und töteten sie. Unter den ersten, die ihr die Klinge ins Herz stießen, war ihr Liebster, der Vater ihres Sohns. Cyric jedoch entkam ihren Dolchen, indem er in die Abwasserkanäle kroch. Blutverschmiert und allein kämpfte er um sein Leben, wo jedes andere Menschenkind verkümmert und gestorben wäre. Rattenblut wurde seine Milch, und das buntgemischte Fell, das er dem Ungeziefer abzog, wurde seine Bettdecke. Im Morgengrauen des nächsten Tages quälte sich Cyric zurück ans Tageslicht, durch den Mord und seinen Hunger und die Hitze des Flammleite unnachgiebig geworden wie ein dreifach gehärtetes Schwert. Ein sembischer Weinhändler mit Namen Astolpho, der in den ärmeren Stadtteilen unterwegs war, um seine Ware zu verkaufen, entdeckte den kleinen Cyric und versteckte ihn. Er hatte keine Ahnung, daß er dem Kind zur Flucht vor einem blutrünstigen Haufen Soldaten und Magiern der Zentarim verhalf. Alles, was er sah, war ein schmutziges, verlassenes Kleinkind. Wie so viele konnte er nicht hinter die sterbliche Fassade blicken, die Cyrics Größe vor der Welt verbarg. Zwölf Jahre lang zogen Astolpho, der Weinhändler und seine Frau den Jungen inmitten des Prunkes auf, der im Königreich der Händler von Sembia so weit verbreitet
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ist. Cyric, der den Überfluß immer gering schätzte, benutzte ihr Geld und ihre Macht, um sich zu bilden, um nach Möglichkeit alles an Wissen über Faerûn und die Lande zusammenzutragen, die er eines Tages als Herr der Toten beherrschen würde. Die ewig eifersüchtigen Götter sahen das Kind aufwachsen, in Angst vor seiner Macht, und doch nicht in der Lage, ihn einem Schicksal zuzuführen als dem einen, das er sich selbst erwählt hatte. Dennoch versuchten die Götter, die Cyric eines Tages vernichten sollte – Tyrannos, Bhaal und Myrkul –, gegen seine wachsende Stärke und Weisheit auf jede erdenkliche Art und Weise anzukämpfen. Tyrannos brachte Gerüchte über den Jungen in Umlauf, die ihn von den wohlhabenden Kreisen isolierten, in denen seine Eltern verkehrten. Myrkul ging mit Talona, der Herrin des Giftes, einen Handel ein, so daß er von Krankheiten geplagt wurde, und Bhaal sandte seine geschicktesten Meuchelmörder auf die Jagd nach dem Jungen. Doch Cyric hatte die Leiden seiner Jugend zum Schild gemacht, den kein Gott zu zertrümmern vermochte. Er vernichtete ihre Gefolgsleute, wo immer er sie traf, und stand die sich ihm entgegenstellenden Entbehrungen durch, als wären sie nicht mehr als stumpfe Eisendornen, die man vor einen Kampfwagen warf. Die letzten Gefolgsleute Tyrannos’, denen Cyric in Sembia gegen-übertrat, waren Astolpho und seine Frau. Der Gott der Zwietracht hatte sich ihre Loyalität erkauft, indem er versprach, den Mißgeschicken ein Ende zu machen, die das Geschäft des Mannes beinahe in den Ruin getrieben hatten. Zum Ausgleich für diesen leeren
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Traum erneuerten Wohlstandes versuchten sie, Cyric davon abzuhalten, Sembia zu verlassen und sein Glück zu suchen. Die Familienbande und die vorgetäuschte Liebe, mit denen sie sich gewappnet hatten, waren Cyrics rasiermesserscharfem Verstand jedoch nicht gewachsen. Er wies ihren Reichtum und ihre Bequemlichkeit von sich und ging seiner Wege, um die Welt zu sehen, auf die er bisher nur durch die Augen der Barden und Historiker einen Blick hatte werfen können. Man fand Astolphos Leiche aufgespießt an den Stadttoren, gehäutet wie die Ratten, die Cyric vor so vielen ]ahren in den Abwässerkanälen am Leben erhalten hatten. Niemand fand je die Überreste der Frau Astolphos, so gut hatte der Junge sie über die Stadt verteilt versteckt. Bis auf den heutigen Tag läßt sich der Geruch des Todes, der über dem Ort liegt, nicht vertreiben, und auch nicht die geisterhaften, gequälten Schreie, die in jeder Nacht in der Luft liegen. So kam es, daß Cyric die Herzlande durchwanderte und seinen eigenen Wissensschatz in Form der kleinen Stückchen Erfahrung ansammelte, die er unterwegs auflas. Die ängstlichen Götter, ihres bevorstehenden Unterganges gewiß, taten ihr Bestes, um ihn aufzuhalten, aber er entzog sich ihrem schwachen Griff. Er lernte, so gut wie nur irgendein Soldat in Faerûn zu kämpfen und sich von dem zu ernähren, was das Land ihm selbst in den unwirtlichsten Gefilden bot. Schließlich kehrte er in die Stadt seiner Geburt zurück, denn nirgends sonst auf der Welt gab es soviel Grausamkeit und alltäglichen Schrecken wie in der Zentilfeste. Kurzum, es ist die Stadt, in der der feige Schleier
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der Zivilisation am dünnsten ist, in der Männer und Frauen jeden Tag durchleben in der Erkenntnis, daß Leben Schmerz bedeutet und der Tod das einzige Wasser ist, das die Leiden in der Einöde lindern kann. Dieses Wissen war Cyrics Geburtsrecht, und es war an der Zeit, daß er es in Anspruch nahm ...
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Worin der Prinz der Lügen den Nutzen der Angst als Motivations-faktor erläutert und Rinda einen sehr mächtigen Schirmherrn gewinnt, der eine weitere Fassung von Cyrics Leben auf Pergament festgehalten haben will. Als Cyric durch das Portal trat, schmolz die Illusion dahin, die seine Entsetzlichkeit verbarg. Verschwunden waren die bescheidene Kleidung und das schelmische gute Aussehen. Sein Gesicht verhärtete sich zu einer erstarrten, blutroten, hageren Maske. Das Fleisch fiel ihm von den Fingern und ließ nur dürre Knochen zurück. Eine Robe aus Finsternis verhüllte seine geschmeidige Gestalt. Das schemenhafte Kleidungsstück war nur mit einem strahlend weißen Schädel verziert, der über dem Herzen des Gottes zu schweben schien. Auf der anderen Seite des verzauberten Tores lag der Laden des Pergamentmachers. Silbermähne und sein zungenloser Begleiter von den Zentilaren hatten sich in der Mitte des Raumes zu Boden geworfen und verbeugten sich in Richtung Portal. Hinter ihnen kniete Rinda in schockiertem Schweigen. Keiner von ihnen konnte Cyric im riesigen Thronsaal der Knochenburg stehen sehen. Doch während der Prinz der Lügen zu der Schreiberin zurückblickte, fragte er sich, wie sie wohl auf sein nicht
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menschliches Gesicht reagieren würde. Vielleicht, sann er, werde ich sie damit beehren, sobald sie das Buch vollendet hat. War die Illusion zu Eurer Zufriedenheit, Magnifizenz? fragte Jer-gal. Er schwebte an Cyrics Seite, immer bereit, dem Willen seines unheiligen Herrn zu folgen. Cyric grunzte unverbindlich und marschierte zu seinem Thron. Es gehörte sich nicht zuzugeben, daß ein Lakai sich dabei als nützlich erwiesen hatte, das Fehlen seiner Magie geheimzuhalten. »Was gibt es Neues von der Suche nach Kelemvor?« Die Einwohner haben die Stadt durchkämmt, begann Jergal. Er hielt kurz inne, um das Portal verschwinden zu lassen, das er geöffnet hatte, und eilte Cyric dann nach. Die Neuigkeiten sind nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. »Rede nicht um den heißen Brei herum«, schnauzte Cyric. »Haben sie ihn gefunden oder nicht?« Nein, Magnifizenz. »Dann suchen sie offensichtlich nicht gründlich genug!« rief Cyric. Er zog Götterfluch und ging auf Jergal los. »Du hast versprochen, dich um die Sache zu kümmern. Ich habe keine meiner Facetten hier zurückgelassen, weil ich mich auf dein Wort verließ. Muß ich dieses Versagen als Zeichen dafür ansehen, daß sich dein Nutzen erschöpft hat?« Jergal verbeugte sich und richtete seine hervorstehenden gelben Augen auf den Teppich. Ich kann nur hoffen, daß dem nicht so ist, sagte er angsterfüllt. Der Prinz der Lügen ließ die flache Seite seiner Klinge über Jergals Schädel gleiten. Götterfluch pulsierte in
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einem tieferen Rot und summte wie die Takelage einer Galeone in einer Böe. »Kel ist in der Nähe«, murmelte Cyric. »Ich kann den ungewaschenen Flegel fast riechen.« Er drehte die Klinge, so daß sie den Seneschall ritzte. Götterfluch ließ ein gespenstisches Freudengeheul hören, als sie Jergals gelbes, giftiges Blut trank und ihm die Lebenskraft absaugte. Der stoische Jergal zuckte zusammen, dann zitterte er vor Schmerz, aber er gab keinen Laut von sich, hob keine Hand, um sich zu wehren. Scheinbar nach einer Ewigkeit nahm Cyric die Klinge weg. Bitte, Liebster, säuselte Götterfluch. Er hat dein Vertrauen mißbraucht. Er hat es nicht verdient, am Leben zu bleiben. »Genug«, sagte Cyric. Er steckte das Schwert wieder in die Scheide und hob Jergal auf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Die gelben Augen des Seneschalls waren trübe; die graue Kopfhaut war übersät mit eitrigen, violetten Flecken. »Erinnere dich an diesen Schmerz. Versagst du noch einmal, werde ich dafür sorgen, daß er ewig dauert.« Die geisterhafte Kreatur nickte schwach. Ich lebe nur, um Euch zu dienen, Magnifizenz. Während er sich die knochigen Hände rieb, ging Cyric gemessenen Schrittes zu seinem Thron. Er ordnete seine Robe und ließ sich nieder. »Sie müssen mich fürchten. Ich denke, das ist der Kern dieses Problems.« Alle Lebewesen fürchten Euch, sagte Jergal vom Fuße des Throns aus. Er wies auf die Trophäen der Pein und des Leids, die im Raum zur Schau standen. Ihr wohnt in der Finsternis der Seelen der Menschen.
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»Nicht die Sterblichen«, berichtigte Cyric. »Die Einwohner.« Ein Anflug von Ungeduld huschte über seine verdorrten, teuflischen Züge. »Sie haben schon viel zu lange in dieser Stadt gelebt und geglaubt, sie seien vor meinem Zorn sicher.« Sie fürchten Eure Folter, warf Jergal ein. »Aber auch Folter hat ein Ende. Die vollständige Vernichtung hingegen ist eine andere Sache. Die Falschen und die Treulosen mögen das Vergessen ja begrüßen; nicht so die Einwohner. Hier ist schließlich ihr Himmel. Warum sollten sie ihn verlassen wollen?« Cyric ließ einen Finger an Götterfluchs roter Klinge entlanggleiten. »Für einen Augenblick, als das Schwert in dein Fleisch schnitt, dachtest du, es gäbe für dich kein Morgen.« Jergal erschauerte. Ja. »Ich glaube, es hat dich deine Verfehlungen einsehen lassen, nicht wahr?« Natürlich, Magnifizenz. Ich werde nicht wieder versagen. »Das werden auch die Einwohner nicht, wenn wir ihnen einen Einblick in die Vergessenheit gewähren.« Cyric legte die Hände vor dem Mund an den Fingerspitzen zusammen und klopfte sich mit den Daumennägeln auf die schartigen Zähne. »Sie können mich nicht wirklich fürchten, wenn sie nicht wissen, daß der Preis für Versagen die Vernichtung ist, und wenn sie mich nicht fürchten, sind sie als Diener wertlos.« Dann ist da noch der Pakt zu bedenken, sagte Jergal leise. Eure Getreuen sollten gegen Vernichtung gefeit sein, solange sie Euch weiterhin verehren. Cyric sah zu Jergal auf, und Überraschung zeichnete
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sich in seinen blutunterlaufenen Augen ab. »Willst du andeuten, ich könne mit den Bürgern meiner Stadt nicht so umspringen, wie es mir gefällt?« Nein, erwiderte der Seneschall. Ich wollte Euch nur daran erinnern, daß die Gesetze des Reiches – »Seit dem ersten Tag meiner Herrschaft habe ich Einwohner in ihr Verderben geschickt«, sagte Cyric gedehnt. »In der Stunde, in der ich diesem törichten Pakt zustimmte, habe ich ein Dutzend dazu verurteilt, als Teil der Abgabe zur Nachtschlange zu kommen.« Sie waren davon abgekommen, Euch zu verehren, warf Jergal ein. »Oh, aber wer bestimmt denn, was in meinen Augen wahre Verehrung ist?« fragte Cyric. »Ich habe heute entschieden, daß die Jagd auf Kelemvor eine heilige Suche ist, also sind von diesem Augenblick an alle, die dabei versagen, als Verräter zu betrachten.« Er musterte seinen Seneschall. Vielleicht ist es diese Ergebenheit von dir dem Recht gegenüber, die dich deine Pflichten vergessen läßt.« Jergal sah Cyric in die Augen. Es liegt in meiner Natur, Magnifizenz. Als ich geschaffen wurde, um die Burg zu beaufsichtigen, wurde mir dieser Charakterzug gegeben, damit man sich darauf verlassen konnte, daß ich meinen Verpflichtungen nachkommen würde. Ich bin dem Herrn der Toten treuer als mir selbst. »Einst galt deine Loyalität Myrkul«, bemerkte Cyric. Ja. »Nun aber gilt sie mir?« Ihr seid der rechtmäßige Herr der Knochenburg, erwiderte Jergal gelassen. Solange Ihr das seid, werde ich
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alles tun, was Ihr von mir verlangt – außer Euch zu verraten. »Dann möchte ich, daß du den Pakt mit den Einwohnern brichst«, sagte Cyric, während er in Jergals glanzlosen gelben Augen nach einem Zeichen der Mißbilligung suchte. »Laß tausend von ihnen öffentlich foltern und übergib sie dann der Nachtschlange oder wirf sie in den Slith. In jedem Fall werden sie vernichtet.« Er trommelte erregt mit den Fingern auf der Armlehne des Thrones und murmelte dann: »Das reicht noch nicht.« Laßt einen für jede Stunde vernichten, die verstreicht, ohne daß Kelemvor gefunden wird, kam der finstere Vorschlag von Götterfluch. Cyric kicherte wie ein Wahnsinniger. »Besser noch, vernichte einen von diesen rückgratlosen Hunden für jede Minute, die verstreicht, ohne daß die heilige Suche von Erfolg gekrönt ist.« Er krümmte seine knochigen Finger um den Schwertknauf. »Das wird sie wie die Jagdhunde auf seine Fährte setzen, wie?« Als wäre es Kezef selbst, stimmte Jergal zu. Cyric hielt inne; dann stahl sich ein makabres Grinsen auf seine Lippen. »Kezef«, murmelte er. »Klar.« Der Kreis der höheren Götter hat den Kontakt mit Kezef untersagt, warnte Götterfluch, und Beklommenheit sprach aus seiner Stimme. »Seit wann interessieren dich die Erlasse des Kreises?« schnauzte Cyric. »Hat er nicht seine eigenen Gesetze gebrochen, indem er mir die Magie verweigerte?« Götterfluch blieb ihm die Antwort schuldig, aber Jergal sagte: Selbstverständlich, mein Fürst. Ihr steht über seinen Gesetzen. Es ist Euer Recht, den Chaoshund zu
entfesseln. »Meinen Becher«, sagte Cyric, noch immer mit einem Lächeln auf den versengten Lippen. »Danach kümmere dich um meine Reise ins Pandämonium.« Jergal streckte die Hände aus, und ein verzierter Silberkelch erschien, der mit hunderten winziger Rubine besetzt war, jeder in der Form eines entzweigerissenen Herzens. Der immer volle Becher enthielt die Tränen desillusionierter Träumer und untröstlicher Geliebter. Der Trank war bitter, doch für Cyric schmeckte er wie ein unbezahlbarer Wein, der zur Vollkommenheit gereift war. »Auf die Vergessenheit«, sprach der Prinz der Lügen feierlich, »und auf Kezef.« Er hob den Becher an die Lippen und tat einen tiefen Zug.
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Morgendämmerung in der Zentilfeste. Rinda war auf dem Weg durch die schmutzigen Gassen; ihre Hände waren verkrampft vom stundenlangen Schreiben, und aus Schlafmangel verschwamm ihr alles vor den Augen. Sie begrüßte den frostigen Morgen, der einen scharfen Eisregen brachte. Er ließ sie ihre Umgebung nicht völlig aus den Augen verlieren. Diese Straße war breiter als die meisten, was bedeutete, daß sie sich nicht durch den Unrat und den Abfall schlängeln mußte, der aus den oberen Stockwerken der Häuser geworfen worden war. Abgerissene Flüchtlinge schliefen in jedem offenen Türeingang, der Bodensatz der zentischen Gesellschaft. Die meisten von ihnen ka-
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men her, um zu sterben, an Orten, die von der Dämmerung nie mit ihrem heilenden Licht und ihrer tröstenden Wärme berührt zu werden schienen. Rinda blickte auf, nur um festzustellen, daß die aufgehende Sonne hinter den gewaltigen Türmen von Cyrics Tempel verborgen blieb. Schwarz und verdreht zeichneten sie sich drohend ab, wie blinde Riesen, die über die Stadt wachten. Nein, erinnerte sich Rinda, nicht blind. Die Kirche Cyrics hatte tausend Mittel und Wege, um in die Herzen und Gedanken der Zentiler zu sehen. »Helft mir, Fräulein. Im Namen Ilmaters.« Der Mann lümmelte an einer Wand des »Schlangenauges«. Sein verhärmtes Gesicht und der zottelige Bart waren vereist. Seine Nase war blaugefroren. Er streckte seine zittrigen Hände nach Rinda aus und bettelte: »Eine Kupfermünze, kleines Fräulein. Irgend etwas.« Rinda blieb stehen und hockte sich vor ihm hin. »Ich habe kein Geld, aber ich kann Euch ein paar Kleider bringen.« Sie warf einen Blick durch die Fenster der Taverne. Dunkel. »Bleibt Ihr ein Weilchen hier? Die ›Schlange‹ hat geschlossen, also werden sie Euch nicht davonjagen.« Der Mann nickte. »Habt Ihr etwas zu trinken für mich, bis Ihr zurückkommt, Fräulein?« Er griff unter seine zerlumpte Tunika und zog eine leere Flasche hervor. »Das wird mich ebenso warmhalten wie Lumpen ...« »Nein«, sagte sie mit Nachdruck. Rinda stand auf und drehte sich weg. »Ich werde jemanden mit den Kleidern schicken, so bald ich kann.« Es brachte nie etwas, auf die armen Kerle wütend zu
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werden – nicht, wenn der Gin billiger als das Essen war und reichlicher floß als sauberes Wasser –, aber Rinda fing innerlich immer zu wettern an, wenn ihr jemand begegnete, den der Suff kaputtgemacht hatte. Ohne Hoffnung ertränkte man den Schmerz an jedem neuen Tag in einer Flasche für zehn Kupfermünzen. So war es Hodur gegangen, als Rinda ihm zum ersten Mal begegnet war, doch der Zwerg hatte es geschafft, sich selbst aus der Gosse zu ziehen. Vielleicht konnte es auch dieser Mann. Der Schwall von Hoffnung brandete gegen die Ereignisse der vorangegangenen Nacht und zerstob. Rinda schloß einen Moment lang die Augen und versuchte, den finsteren Koloß der Verzweiflung zum Zerbröckeln zu bringen. Er tat es nicht. Groß und unbeweglich wie die schwarzen Türme von Cyrics Tempel überschattete der Turm der Hoffnungslosigkeit ihre Gedanken; der Prinz der Lügen hatte ihr Leben in seine Gewalt gebracht, zumindest bis sein verdammtes Buch fertig war. Nein, schalt sie sich selbst scharf. Er kann mein Leben nur in seine Gewalt bringen, wenn ich es zulasse. Sie wurde schließlich nicht gefangengehalten – trotz Patriarch Silbermähnes Vorschlag. Wenn sie sich ihre Zeit gut einteilte, blieben ihr am Tag möglicherweise noch ein paar Stunden, die sie den Unglücklichen widmen konnte. Es gab immer Männer und Frauen, die ihre Hilfe gebrauchen konnten ... Als sie endlich nach Hause kam, sah Rinda, daß die Tür einen Spalt offenstand. Eher aus Gewohnheit denn aus Sorge musterte sie die Gasse, sah in die Türen und Fenster der Gebäude in der Nachbarschaft, ob es Anzei-
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chen für Ärger gab. Sollten Räuber oder ähnliches Gesindel im Haus auf sie warten, würde es einen Wachposten geben – zum Beispiel den unrasierten Mann, der sie vom Fenster im zweiten Stock gegenüber beobachtete. Mit einem finsteren Blick trat Rinda von der Tür zurück. Es war sinnlos, in eine Falle zu laufen, wo sie doch ein paar Freunde als Verstärkung zusammentrommeln konnte. »He, Rin! Wo willst du hin?« Hodurs schroffe Stimme ließ die Schreiberin verharren. Sie drehte sich um und sah den Zwerg im Türeingang stehen, die fleischigen Hände in die Hüften gestemmt. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Es sieht dir nicht ähnlich, die ganze Nacht wegzubleiben.« Rinda seufzte erleichtert. »Du solltest die Tür nicht einfach offenlassen«, sagte sie. »Nicht mal, wenn du in der Nähe bist. Du weißt nie, wer sich hier hinein verirrt.« Kurz bevor sie Hodur ins Haus folgte, sah Rinda zu dem Fenster auf der anderen Straßenseite hoch. Der Unrasierte war noch da. Mit einem Ellbogen auf dem Fensterbrett hatte er das Kinn in die Hand gestützt. Dreist erwiderte er Rindas Blick mit Augen, die mehr Intelligenz verrieten, als man aus seinem Erscheinungsbild schließen konnte. Er ließ den Arm sinken, und das grinsende, weiße, heilige Symbol Cyrics kam auf seiner violetten Klerikerrobe zum Vorschein. »Also keine Gefangene, hmmm?« murmelte Rinda vor sich hin und schlug die Tür hinter sich zu. Hodur hatte sich bereits in seinen Stuhl in der Nähe der Tür fallen lassen, obwohl er nicht wie gewöhnlich
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die Füße auf den Tisch legte. Die verfärbte, ramponierte Tischplatte stand voller Schüsseln und Krüge. Er hatte nur einen kleinen Kreis freigelassen, in dessen Mitte ein Lederbecher voller Würfel stand. Ein weiterer Mann – oder genauer gesagt, ein Elf – saß Hodur gegenüber. Er beobachtete, wie Rinda hereinkam, sein Rücken war schmerzhaft gerade, die Schultern hielt er militärisch straff. Eine ordentliche graue Tunika bedeckte seine schmale Statur. Der Stoff war sauber, obwohl sich an den Ärmeln ein paar widerspenstige Blutflecken hielten. In einer Hand hielt er eine tiefe Schüssel. Sorgsam und mit langen, dünnen Fingern nahm er einen zappelnden Käfer heraus und steckte ihn sich in den Mund. »Ivlisar«, begrüßte Rinda ihn steif. Der Elf nickte, während er geräuschvoll den Käfer aß. Ein Lächeln huschte über sein schmales Gesicht, als er Rinda die Schüssel entgegenstreckte. »Ich nehme sie nur aus den Gräbern der schlauen Typen, die ich ausgrabe. Ich denke mir das so: wenn sie das Gehirn der Leichen fressen und ich sie dann esse –« »Nein«, schnauzte Rinda und wies mit der Hand die Schüssel voller Käfer ab. Sie begab sich zu einem ordentlichen Stapel Kleider auf dem Fußboden und schnappte sich zwei Tuniken, die sie vom Müllhaufen vor einer Garnison der Zentilaren ergattert hatte. »Hodur, du mußt die hier für mich einem Mann draußen vor dem ›Schlangenauge‹ bringen. Er wird erfrieren, wenn er sich nicht etwas anzieht, das gegen den Wind schützt.« »Später«, erwiderte Hodur. »Wir müssen etwas besprechen.«
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»Besprechen«, spottete Rinda. »Du meinst, ihr habt etwas zu bewürfeln. Nun, es wird nicht lange dauern, und ich bin sicher, daß Ivlisar dich gern auf einem Spaziergang begleitet.« Sie sah den Elfen streng an. »Gib dem Mann nichts zu trinken. Wenn ich herausfinde, daß du es doch getan hast, bist du hier nicht mehr willkommen.« »Ein Schlückchen Blauer Ruin hat noch niemandem geschadet«, verteidigte sich Ivlisar. »Außerdem will Hodur dich gar nicht foppen. Wir wollten gerade ein wenig verhandeln.« »Ilmater, gib mir Kraft«, zischte Rinda. Sie klemmte sich die Kleider unter den Arm und ging zur Tür des angrenzenden Zimmers. »Na schön. Ich werde selbst gehen. Hast du diese Handschuhe hier hingelegt?« In Panik sprang Hodur auf. »Rin, warte! Da sind –« Ein Ork in der Lederrüstung der Zentilaren lungerte auf ihrem Bett, die schlammverkrusteten Füße auf ihrem Kissen. Er wandte Rinda sein graugrünes Gesicht zu und legte seine Schweineschnauze verächtlich in Falten. Ein weiterer Mann, in stilvolle Kleider und einen prachtvollen, doppelt besetzten Mantel gehüllt, stand vor der Truhe, in der Rinda ihre bescheidene Habe aufbewahrte. Er hielt ihren wertvollsten Besitz in den Händen – eine Kugel aus verzaubertem Glas. Darin eingeschlossen war der Panoramablick auf eine wunderschöne, sattgrüne Hügellandschaft auf den Mondschein-Inseln. »Raus hier!« brüllte sie. »Sofort!« Der Befehlston reichte aus, um den Ork sich überrascht auf die Füße rollen zu lassen. Der andere Mann wandte sich zu Rinda um und reichte ihr die Glaskugel.
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»Die sind selten«, sagte er, »und schön. Man muß Eurem Geschmack Anerkennung zollen.« »Für Eure Verhältnisse war das ein richtiges Kompliment, Fürst Fzoul«, sagte Rinda kalt, da sie den Mann schließlich erkannte. Als Rinda die Kugel nicht entgegennahm, legte der rothaarige Mann sie sanft zurück in die Truhe und verbeugte sich dann förmlich. »Mein Ruf eilt mir voraus«, sagte er schelmisch, »und Eurem Ton nach zu urteilen hat er mich nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt.« »Du hast mehr als eine?« grunzte der Ork. Er zuckte die Achseln und wandte sich Rinda zu. »Das sie sein? Scheint nicht viel zu taugen.« Fzoul verdrehte die Augen. »Wie Ihr feststellen werdet, ist General Vrakk stolz auf seine Direktheit. Er mag den Anschein erwecken, recht dumm zu sein, aber laßt Euch von ihm nicht auf den Arm nehmen.« »Ich von König Aksoon selbst für Kampf gegen Horde belobigt«, krähte Vrak. Er klopfte sich auf die breite Brust und grinste, was die beträchtlichen Schneidezähne, die aus seiner Unterlippe hervorragten, fast seine Schnauze berühren ließ. »Großer Held in Kreuzzug.« »Wenn ihr hier seid, um mich festzunehmen«, sagte Rinda, »dann bringt es hinter euch. Wenn nicht, verschwindet. Ich will keine Soldaten oder Abschaum der Zentarim in meinem Haus, auch wenn sie noch so gute Manieren haben.« Eine große Hand drückte sich Rinda in den Rücken. »Sie sind hier, um zu helfen, Rin«, murmelte Hodur. »Das sind wir alle.«
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»Zu helfen? Wobei?« fragte die Schreiberin. »Meinen Ruf zu ruinieren? Man sieht Leute von ihrer Sorte hier nicht gern, weißt du.« Sie knüllte die Tuniken zu einem festen Ball zusammen. Fürst Fzoul umrundete Vrakk graziös. »Ich versichere es Euch, Rinda: Niemand hat uns hereinkommen sehen, und niemand wird uns gehen sehen.« Sie trat einen Schritt zurück und drängte Hodur aus dem Weg. »Was ist mit dem Wachhund auf der anderen Straßenseite – oder habt Ihr den nicht gesehen? Vielleicht ist er auch einer Eurer Lakaien...« »Wohl kaum«, sagte Fzoul. Er hielt vorsichtig mit Rinda Schritt und blieb dicht bei ihr, während sie zurückwich. Er ließ die Schreiberin nur einmal aus den Augen, um Ivlisar zuzunicken. »Ich fürchte, wir können Euch noch nicht gehen lassen«, bemerkte der Agent der Zentarim, als sie in die Nähe der Tür kam. Mit einem Blick über die Schulter stellte Rinda fest, daß der Elf ihr den Weg versperrte. Er lehnte sich gegen die Tür, aß seine Käfer und lächelte dümmlich. »Du kommst hier nicht raus, bevor du dir nicht angehört hast, worüber wir verhandeln wollen«, sagte Ivlisar und fischte sich dann mit einem langen Fingernagel ein hängengebliebenes Bein aus den Zähnen. »Ja, einfach hinsetzen«, grollte der Ork. »Wir sagen dir, was tun.« Der schweineschnäuzige Soldat umklammerte mit einer Hand Rindas Schulter, entschlossen, sie in einen Stuhl zu drücken. Zunächst schien sie zu gehorchen und sich dem Druck seines Griffes zu beugen. Dann drehte sie sich und warf die Tuniken nach General Vrakk. Der
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Ork wischte sie sich aus dem Gesicht, doch während er das tat, landete Rinda einen Tritt in seinen Magen. Mit einem Grunzen ging Vrakk zu Boden. Rinda drehte sich, um auch Ivlisar einen zu verpassen. Der Elf ließ seine Schüssel fallen, was den Käfern Gelegenheit gab davon-zukrabbeln. »Bitte«, sagte er. »Das ist ein furchtbarer Fehler.« Zu seinem Glück schaffte es die Schreiberin nur, einen Schritt in seine Richtung zu machen, ehe sie von hinten angefallen wurde. Als sie auf die Seite rollte und wild um sich trat, um ihre Beine freizubekommen, sah Rinda auf ihren Angreifer hinab. Sie hatte erwartet, daß Fzoul oder gar Vrakk sie auf dem Boden festhielten. Es war aber keiner von ihnen. Hodur hatte ihre Fußgelenke fest mit seinen muskulösen Armen umklammert. Rinda konnte selbst durch ihre Stiefel hindurch fühlen, wie die vom Trinken gelähmten Muskeln des Zwergs zitterten. »Bitte«, sagte Hodur. »Wir wollen nicht, daß Cyric dir das gleiche antut wie all den anderen.« »Wie Eurem Vater«, fügte Fzoul kühl hinzu. »Ich habe ihn sterben sehen, wißt Ihr. Es war sehr unangenehm.« Er verschränkte die behandschuhten Finger. »Cyric wird auch Euch töten, wenn Ihr versagt.« Rinda hörte auf, sich zu wehren. »Vielleicht werde ich nicht versagen.« »Dann hättet Ihr viel mehr zu fürchten als nur den Tod«, sagte Fzoul. Selbst durch seine scheinbare Höflichkeit hindurch hörte Rinda den ungewohnten Klang der Wahrheit in seiner Stimme. Dem Ausdruck des Abscheus auf Fzouls Gesicht nach zu urteilen mochte er es
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nicht besonders, ehrlich zu sein. Hodur sah zu ihr auf, seine dunklen Augen voller wässriger Aufrichtigkeit wie die eines verletzten Hundes. »Hör ihm zu, Rin.« »Scheint, als hätte ich keine Wahl«, sagte sie. Als Hodur seinen Griff löste, zog sie ihre Beine heraus und drückte den Zwerg weg. »Er Glück gehabt«, keuchte Vrakk und wies mit der Schnauze auf Hodur. »Deswegen er Katze wie dich gefangen.« Er hielt sich den Bauch und wankte zu einem Stuhl. Während er sich daraufsinken ließ, fügte der Ork hinzu: »Dummer dlinkarz wie er nicht gut kämpfen.« »Orkisch ist genau die richtige Sprache, um zu fluchen«, bemerkte Ivlisar fröhlich. Er gab es auf, das Zimmer nach seinem weit verstreuten Frühstück abzusuchen und stellte die Schüssel mit der Öffnung nach unten auf den überfüllten Tisch. »Na schön, Fürst Fzoul«, sagte er gedehnt, während er sich auf dem Boden niederließ. »Bringen wir es hinter uns. Wie die teure Rinda war ich die ganze Nacht auf, und ich brauche meinen Schlaf. Leichen graben sich nicht von selbst aus, wißt Ihr.« Fzoul reichte Rinda die Hand, um ihr aufzuhelfen, aber sie ignorierte sie. Statt dessen setzte sie sich im Schneidersitz in die Mitte des Raumes. »Er hat recht«, sagte sie. »Bringen wir es hinter uns.« »Wir wissen, Cyric will, daß Ihr ein Buch über sein Leben verfaßt«, begann Fzoul ohne viel Federlesens. »Was Ihr nicht wissen könnt und was der Prinz der Lügen Euch nicht erzählen wird, ist, wozu dieses Buch dienen soll.« Er pausierte theatralisch. »Wenn es richtig geschrieben und mit den richtigen Gebeten, den richtigen
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Hymnen und den richtigen Illustrationen versehen wird, dann könnte es jeden, der es liest, dazu zwingen, Cyric anzubeten.« »Na und?« fragte Rinda und unterdrückte ein Gähnen. »Worin unterscheidet es sich von den heiligen Texten anderer Kirchen? Die Priester wollen, daß man glaubt, was darin steht, ansonsten ist es Pergamentverschwendung.« »Bei diesem Buch wird man jedoch keine andere Wahl haben, als zu glauben, was darin steht«, sagte Hodur. Als Rinda ihn ungläubig ansah, nickte er. »Jeder, der es liest oder dem es vorgelesen wird, wird glauben, Cyric sei der einzige Gott, den es sich zu verehren lohnt.« »Dann werden die anderen Götter ...« »Verschwinden«, sagte Fzoul. Er klopfte sich den Staub von den Handflächen, als täte er das übrige Pantheon einfach ab. »Das verliehe Cyric vollständige Gewalt über Faerûn und jede Seele darin, ob tot oder lebendig.« »Und ich soll ihn aufhalten?« fragte Rinda. »Er ist ein Gott – ein Gott!« Ivlisar begrüßte ihre Beobachtung begeistert. »Es ist schön, sich mit jemandem zu unterhalten, der ebenfalls die Meinung vertritt, daß die Idee, einer Gottheit in den Rücken fallen zu wollen, ein wenig absurd ist.« »Ihr seid alle verrückt«, sagte Rinda und schloß dann fest die Augen. »Oder ich träume.« »Es ist eher ein Alptraum«, warf Hodur ein. »Aber das alles ist so wirklich wie die Ratten hier, und obendrein eine todernste Angelegenheit. Wir brauchen deine Hilfe. Es gibt viele von uns im Untergrund der Feste, die
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Cyric über alles hassen, aber wir brauchen deine Hilfe, um das Buch zu diskreditieren.« Fzoul trat vor. »So ist es. Wir haben zahlreiche Verbündete: Priester von Tyrannos, Myrkul und Leira, die Cyric gestürzt sehen wollen; Magier, Illustratoren und Leute mit genug gesundem Menschenverstand, um zu verstehen, daß der Prinz der Lügen nicht glücklich sein wird, bis die Welt in rauchenden Trümmern liegt – die Fähigkeiten all dieser Leute werden Euch zur Verfügung stehen.« »Nicht vergessen meine Krieger«, grunzte Vrakk. »Die Orks unter den Zentilaren sind nicht gerade erfreut über die neuen Beschränkungen, die die Armee ihrer Art auferlegt hat«, stellte Fzoul klar. »Es scheint, als zweifle Cyric an ihrer Loyalität. Nur Menschen kommen in sein Reich, wenn sie sterben, und deswegen glaubt er, Orks wie Vrakk hier hätten keinen Grund, für ihn zu kämpfen. Die Priesterschaft hat die Zentilare dazu gedrängt, die Beförderungen der Orks einzuschränken und ihnen nur minderwertige Aufgaben zuzuweisen.« Vrakk zertrat einen Käfer mit der Ferse und kratzte die Überreste dann an einer Stuhlkante ab. »Wird Priestern noch leid tun, sie uns nicht mögen.« »Ein paar Händler werden auch kämpfen«, meldete sich Ivlisar. »Wir haben viel zu verlieren. Wir, die wir in den medizinischen Künsten –« »Leichenräuber, meinst du«, spottete Hodur. Der Elf schob das Kinn geringschätzig vor. »Ich bevorzuge den Ausdruck Wiederbeleber.« Er wandte sich wieder Rinda zu und fuhr fort: »Wir, die wir in den medizinischen Künsten bewandert sind, haben viele
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Kontakte, wo wir doch die Magier und Kräuterheilkundigen und Totengräber und so weiter kennen. Keiner außer den Priestern hat etwas davon, daß Cyric die Feste regiert, als sei es seine Privatvilla. Man kann sich nur vorstellen, wieviel schlimmer es wird, wenn er keine Konkurrenz mehr hat!« »Was ist mit dir?« fragte Rinda, während sie Hodur mißtrauisch beäugte. »Wen vertrittst du?« »Niemanden«, stammelte der Zwerg. »Ich hatte nur versprochen, es ihnen allen etwas leichter zu machen, sich vorzustellen, nachdem sie gehört hatten, daß die Kirche dich als nächste heilige Schreiberin ausgesucht hat.« »Natürlich mußte Hodur mir in jedem Fall von Eurer mißlichen Lage berichten«, bemerkte Fzoul. »Als Mitglied der Zentarim war es seine Pflicht...« Rinda starrte Hodur ungläubig an. »Du Verräter«, zischte sie. »Wie lange spionierst du schon? Wie lange?« »Schon Jahre, bevor er Euch traf«, sagte Fürst Fzoul. »Wir haben ihn hergeschickt, um einen Säufer zu spielen und sich in Eure Unternehmung einzuschleichen. Ihr wurdet so gut darin, Leute aus der Stadt zu schmuggeln, daß wir uns Sorgen machten, jemand wirklich Wichtiges könnte uns unbemerkt durch die Finger gleiten. Selbstverständlich sage ich Euch das nur, weil ich will, daß wir alle ehrlich zueinander sind – jetzt, da wir einen gemeinsamen Feind bekämpfen.« »Rin, ich wollte nie –« »Tu nicht so, als täte es dir leid«, schnauzte die Schreiberin. »Selbst wenn du es ehrlich meintest, würde ich dir nicht glauben. Ihr Götter, ich habe dir immer
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geraten, vorsichtig mit dem zu sein, was du hier sagst, aber ich hätte nie gedacht, daß du derjenige bist, der für die Zentarim spioniert.« »Seien wir doch realistisch«, sagte Fürst Fzoul. »Wir bieten Euch eine Möglichkeit, eine Apokalypse zu verhindern.« Er lächelte. »Ihr könntet Euch natürlich selbst umbringen, aber da Ihr nie an auch nur einen der Götter geglaubt habt, werdet Ihr einfach in Cyrics Reich enden. Es gibt keinen anderen Ausweg. Entweder wir oder er.« Rinda erhob sich und ging zur Haustür. »Das ist sowieso alles rein hypothetisch«, sagte sie bitter und zeigte vage auf den Wachposten auf der anderen Straßenseite. »Die Wachhunde, die Patriarch Silbermähne da draußen postiert hat, werden den Kampf und unseren Streit mit angehört haben. Der Patriarch wird sogleich davon erfahren, und dies bedeutet das Ende dieser Verschwörung.« »Wohl kaum«, sagte Fzoul unerträglich überheblich. »Der Spion im Gebäude gegenüber, der auf dem Dach und die anderen, die in der Nachbarschaft postiert sind, werden nur sehen, hören und riechen, was wir ihnen vorsetzen. Daßelbe gilt für Cyric. Seht mich nicht so verdutzt an. Glaubt Ihr wirklich, er würde eine so wichtige Person in den Elendsvierteln herumlaufen lassen, ohne Euch selbst zu beaufsichtigen? Wir mußten uns vor seinen neugierigen Blicken schützen, bevor wir mit Euch sprachen.« »Aber man kann einen Gott nicht blenden. Dazu bedürfte es –« Sie schluckte und sah sich nervös im Zimmer um. Ja, Rinda, kam eine beruhigende Stimme von überall
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und nirgends, aus dem Inneren der Pergamentstapel und der schäbigen Wände, aus Rindas eigenem Inneren. Es bedürfte eines anderen Gottes, um Eure Handlungen vor dem Prinzen der Lügen zu verbergen. Cyrics finstere Taten bereiten vielen Sorgen, und es ist an der Zeit, etwas gegen ihn und sein Buch der Unwahrheiten zu unternehmen. »Warum ich?« fragte Rinda, während ihr Verstand sich bemühte, nicht in den Wogen der Verwirrung unterzugehen. »Was wollt Ihr von mir?« Das gleiche wie Cyric – Eure Fähigkeiten als Schreiberin, als Verfasserin von Geschichten, erklärte die Stimme ruhig. Auch ich wünsche, daß Ihr die Geschichte von Cyrics Leben niederschreibt, aber ich werde Euch die Wahrheit sagen, und mit diesem wahren Leben des Prinzen der Lügen werden wir jenen, die ihn anbeten, zeigen, wie irregeleitet und gefährlich er wirklich sein kann. Der Raum verschwamm vor Rindas müden Augen. Die Lumpenstapel, die wackligen Stühle und Tische, die versammelten Verschwörer – alles drehte sich und verschwamm wie in einem Zerrspiegel. Als sie schließlich wieder stillstanden, verschwanden die Leute und Dinge in einem Blitz der Unwirklichkeit. Hinter dieser zerbröckelten Fassade lag der finstere Turm der Hoffnungslosigkeit, aus Cyrics Plänen mit ihr erbaut. Nun jedoch war es kein einzelner Turm in einem weiten Meer von Möglichkeiten mehr. Tausend weitere Türme ragten um ihn herum auf, genauso schwarz, genauso unheilverkündend. Sie erfüllten die Welt von einem Horizont bis zum anderen. »Wann fangen wir an?« hörte Rinda sich selbst fra-
gen. Sie wußte, daß es das war, was sie fragen sollte, genau das, was der geheimnisvolle Gott erwartet hatte. Auch die Antwort klang auf unheimliche Weise vertraut. Jetzt, sagte der Gott, und die Stimme erfüllte ihren Geist mit lang verborgenen Wahrheiten über den Herrn der Toten. Selbstverständlich werden wir am Anfang beginnen ...
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Auch wenn der Mensch versuchen mag, den Göttern die Zügel seines Schicksals zu entreißen, so wird er doch immer der Natur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert geboren und ist in hundertfacher Art und Weise an seine Mitmenschen gebunden. So gehen die Götter sicher, daß Sterbliche mit ihrer Welt der Mühe und des Kummers verknüpft sind. Cyric von der Zentilfeste war keine Ausnahme. Im heißesten Flammleite, der die Feste je in seiner Gewalt hatte, wurde Cyric von einer mittellosen Bardin geboren, die so wenig Talent hatte, daß sie nicht einmal eine Kupfermünze verdienen konnte, indem sie an den Straßenecken sang. Wie so viele der verzweifelten Frauen in den Elendsvierteln bekam sie das bißchen Geld, das sie zusammenbringen konnte, indem sie den Offizieren in der Zentilaren-Kaseme ihren Körper verkaufte. Damit waren Cyrics Ursprung väterlicherseits in Schmach verund sein Schicksal für das nächste Jahrzehnt besiegelt. In der Hoffnung auf Mitleid von dem Zentilar, der ihr
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Aus Das Wahre Leben Cyrics
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Kind gezeugt hatte, suchte Cyrics Mutter ihn auf und bettelte um ein paar Silbermünzen, um ihren Sohn ernähren zu können. Der Mann, ein Flegel von niedrigem Rang, geringem Vermögen und noch weniger Ehrgeiz, leugnete, je mit der Dirne im Bett gewesen zu sein. Als sie an ihren Behauptungen festhielt, drohte er, sie zu töten und das Kind in die Sklaverei zu verkaufen. In den folgenden Tagen lebten Mutter und Kind von der Freundlichkeit anderer Leute – Tavernenbesitzer und Küchenmägde, Bänkelsänger und Taschendiebe, die alles gaben, was sie entbehren konnten, um die beiden am Leben zu erhalten. Doch waren die Götter noch nicht fertig damit, Cyrics Zukunft auszulosen, oder die Geschichte hätte hier geendet. Getrieben von Habgier und Haß kehrte Cyrics Vater in die Elendsviertel zurück. Er tötete Cyrics Mutter und nahm das schreiende, quäkende Kind als Ausgleich für die ihm entstandenen Unannehmlichkeiten. Noch bevor er seinen ersten Schritt gemacht, sein erstes Wort gesprochen hatte, wurde Cyric in die Sklaverei verkauft und wie Vieh nach Sembia übereignet, ins Königreich der Händler. Dort erwarben kinderlose Familien oft Säuglinge, da ihr Vermögen der Staatskasse zufiel, wenn es nicht vom Vater zum Kind weitergegeben wurde. Astolpho der Weinhändler kaufte Cyric für eine mittlere Summe. In den folgenden Jahren würde er diesen Erwerb als die schlechteste Investition verfluchen, die er je getätigt hatte. Cyric wuchs im Schoße des Überflusses auf, und ihm fehlte es an nichts. Eine Zeitlang schien er zufrieden und glücklich. Im Laufe der Jahre wurde er der leisen Ver-
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achtung seiner Kameraden und deren Eltern gewahr. Erst als er zehn Winter alt war, erfuhr er den Grund – er stammte nicht aus den kultivierten Palästen Sembias, sondern aus den dunklen Gassen der Zentilfeste, die in ganz Faerûn als eine Stadt gefürchtet wurde, in der viel Böses und Verdorbenheit herrschten. Von Scham zerrissen und in einem verzweifelten Versuch, die Liebe seiner Eltern zu ihm zu beweisen, riß Cyric zum Schein aus. Ehe seine Eltern jedoch eine Suche organisieren konnten, wurde er von der örtlichen Wache aufgegriffen und nach Hause gebracht. Die Nachricht von diesem Vorfall verbreitete sich durch die Paläste der Händler und trug zu dem Mißtrauen bei, das sich auf den jungen konzentrierte. Cyric blieb zwei weitere Jahre in Sembia. Astolphos Geschäfte ließen nach, seine gesellschaftlichen Verbindungen brachen ab. Aus versteckten Verachtungsbezeugungen wurden öffentliche Schmähungen. Als Cyric – mittlerweile in einem Alter, in dem er den Beruf seines Vaters erlernen sollte – seine Eltern wegen seiner Herkunft zur Rede stellte, boten sie ihm keine Entschuldigung für das, was sie getan hatten – obwohl sie mehr als nur ein wenig Bedauern darüber ausdrückten, ein zentisches Kind in ein zivilisiertes Heim aufgenommen zu haben. Als Cyric damit drohte zu gehen, machten Astolpho und seine Frau keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Diener in Astolphos Haus fanden am nächsten Morgen die Leichen der beiden. Aus den kleinen, schmutzigen Fußabdrücken um ihre Betten schloß man, daß sich jemand in ihr Zimmer geschlichen und sie im Schlaf
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ermordet hatte. So sah Cyrics Bluttaufe aus, ein feiger Schlag gegen einen reichen älteren Mann und seine übergewichtige Frau. In den folgenden Tagen war Cyric unterwegs nach Norden, durch Sembia hin zu den schwarzen Mauern der Zentilfeste. Dort, so dachte er, würde ihm der Mord an seinen Eltern vielleicht Anerkennung bringen. Doch der junge Mann hatte wenig Überlebenserfahrung außerhalb der teppichbehängten Wände eines Händlerhauses; innerhalb von zehn Tagen war er am Rande der Täler fast am Verhungern und im Fieberwahn. Was dann geschah, könnte man Tymora, die auf den glücklosen Jungen herablächelte, oder auch Beshaba zuschreiben, die noch mehr Pech auf ihn herabregnen ließ. Ob es nun Glück oder Pech war, die Agenten der Zentarim, die Cyric zufällig in der Wildnis fanden, retteten ihm das Leben. Sie legten ihn aber auch in Ketten, in Vorbereitung auf den Sklavenmarkt am Endpunkt ihrer Reise – die Zentilfeste. So geschah es, daß Cyric an seinen Geburtsort zurückkehrte, einmal mehr in Ketten geschlagen, einmal mehr der Gnade oder Ungnade der Sklavenhändler und Kaufleute ausgeliefert ...
Worin Mystra und ihr Patriarch über die Grenzen der Göttlichkeit diskutieren und der Prinz der Lügen die wahre Macht des Chaos demonstriert. Mit ihrem eisigen Griff hatte Auril, die Frostjungfer, Cormyr in die kältesten Tage eines langen, bitteren Winters gestürzt. Das gesamte Königreich Azouns IV. lag unter einer dichten Schneedecke. Man würde monatelang kein Grün sehen. Das Land schlief, wie ein Großteil des restlichen Faerûn auch, in einem weißen Totengewand – mit Ausnahme der zerstörten Mauern von Burg Grabesruh und der Landstriche, von denen diese steinernen Ruinen umgeben waren. Schnee und Eis waren von jenen Hügeln verschwunden und hatten einem saftig grünen Teppich voller Leben Platz gemacht. Dschungelflora breitete sich in ausschweifendem Gewirr um friedliche Felder herrlich bunter Frühlingsblumen aus. Vögel, die zu kräftig oder zu kränklich waren, um den Winter über in den Süden zu fliegen, tollten zwischen plötzlich reifen Früchten und Körnern in Hülle und Fülle. Verwirrte Dachse und Kaninchen steckten vorsichtig die Nasen aus ihren Bauten und irrten in ihren für die Frühlingswärme viel zu dicken Winterfellen über die saftig grünen Hügel.
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7 [ PANDA.. MONIUM ]
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Dann verschwand der Scheinfrühling plötzlich ohne Vorwarnung, und die grausamen Finger der Frostjungfer brachten erneut den Winter über das Land. Vögel stürzten vom Himmel, von den schneidenden Eiswinden getötet, die über die Felder fegten. Blumen verschwanden unter immer tiefer werdenden Schneewehen. Ranken, Bäume und Hecken welkten unter einem bewölkten, stahlgrauen Himmel. Tiere duckten sich gegen die Windböen, da sie ihren Unterschlupf durch den dicken Teppich von Eisregen nicht mehr fanden. Der kalte Wind wurde stärker, als man es selbst von Auril gewöhnt war, und kreischte über die Hügel wie eine vor Trauer wahnsinnige Todesfee. In einem einzigen Augenblick wurden die Bäume, die Sträucher und jeder sonstige Hauch von Frühling davongefegt. Die steifen Körper der Vögel wurden gen Himmel geweht. Die eisige Luft zog den Kaninchen Fell und Fleisch ab und hinterließ winzige vereiste Skelette, zusammengekauert im Schatten der Schneehügel. So verhielt sich nun einmal die unbändige Magie. »Ich kann kaum glauben, daß das schon zehn Jahre her ist«, sagte Adon traurig. »Wir sahen Mystra hier vor einem Jahrzehnt sterben. Wer hätte gedacht, daß all dies dadurch verursacht würde?« Der Kleriker zog sich den Mantel fester um die Schultern, obwohl es nicht nötig war. Die Kugel aus magischer Energie, die ihn und seine Gefährten umgab, hielt die Kälte ab und schützte sie vor dem Wind. »Es scheint wirklich, als sei es erst gestern gewesen«, murmelte Adon. »Obwohl du vermutlich das Verstreichen der Zeit nicht mehr so wahrnimmst wie früher ...«
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Mystra wandte sich weder um, noch sprach sie, und der Kommentar verhallte unbeantwortet. Die gegenwärtige Göttin der Magie starrte hinaus in den Schneesturm und sah zu, wie Pflanzen und Tiere starben. Sie knirschte mit den Zähnen, als das magische Chaos drohte, selbst ihren Zauber zu brechen, aber die Welle ging vorüber und ließ ihren Schild ganz. In plötzlichem Unbehagen plapperte Adon weiter, um das Schweigen zu überbrücken. »Dennoch ist die Heilung des Landes seit damals ein ganzes Stück fortgeschritten. Früher gab es nur blubbernde Teergruben, soweit das Auge sah – das sterbliche Auge zumindest.« Er lachte. »Ob Helm weiß, wieviel Bosheit dahintersteckte, als man diesen Ort in die Helmlande umbenannte? Vermutlich dachte er, er tue nur seine Pflicht, indem er unter anderem Mystra tötete.« »Helm sieht die Welt nur als eine vage Beute, die vor einem noch vageren Widersacher beschützt werden muß«, sagte Mystra. »Das müßte dann Maske sein, denke ich. Wen würde der Beobachter mehr hassen als den Meister aller Diebe?« Langsam wandte Mystra blauweiß glühende Augen ihrem Patriarchen zu. Vor einem Jahrzehnt, als er der sterblichen Magierin Mitternacht zum ersten Mal begegnete, war Adon ein fescher junger Priester Sune Feuerhaars gewesen. Kaum zwanzig und unbewandert in den härteren Lektionen des Lebens schloß er sich Mitternacht, Cyric und Kelemvor Lyonsbane auf einem Abenteuer an, das schnell zu einer Suche nach den von den Göttern gefertigten Tafeln des Schicksals wurde. Sein
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Glaube an sich und an die unberechenbare Göttin der Schönheit wurde erschüttert, als er von einem Irren verunstaltet wurde. Der Mann, der zum Hohepriester der neuen Göttin der Magie wurde, war viel weltgewandter, viel weiser als der eitle Geck, der Arabel nur wenige Monate zuvor verlassen hatte. Mystra konnte die Weltgewandtheit überall an ihrem alten Freund erkennen. Sein braunes Haar war von zahlreichen Silbersträhnen durchsetzt. Winzige Fältchen umgaben seine grünen Augen. Sein gespaltenes Kinn hatte sich seine Stärke bewahrt wie auch seine Gesichtszüge ihre Härte. Nur Adons Narbe war verblaßt. Einst ein entzündeter roter Streifen vom Auge bis zum Kiefer, war die einzige Spur der alten Wunde jetzt eine blasse Falte in seinem gebräunten Gesicht. Es war, als sei die Wunde ein wenig dadurch geheilt, daß der Priester sie akzeptiert hatte. »Cyric wird noch mehr Meuchelmörder schicken«, bemerkte Mystra. »Du mußt vorsichtig sein.« Adon nickte, während seine Hand zu dem Streitkolben wanderte, der an seinem Gürtel hing. Der abgenutzte Fleck auf seinen Beinlingen sagte jedem aufmerksamen Beobachter, daß der Priester selten ohne seine Waffe reiste. »Sie haben es schon früher versucht, Herrin. Außerdem hat der Ring, den du geschaffen hast, wunderbar funktioniert, wenn es darum ging, mich vor ihrer Anwesenheit zu warnen.« »Cyric plant einen Schlag gegen die Kirche«, sagte Mystra finster. »Dein Tod wäre für ihn ein Preis, der nur übertroffen würde, wenn er ...« Die Worte wurden leiser, bis sie verstummte.
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»Ihm wird es leid tun, wenn er Kel jemals finden sollte«, sagte der Priester. Er strich Mystra eine Locke ihres rabenschwarzen Haares aus dem Gesicht und sah ihr in die nichtmenschlichen Augen. »Irgendwie hat Kelemvor sich die ganzen Jahre über versteckt gehalten. Nach allem, was wir wissen, ist er irgendwo in Sicherheit und plant seine Rache.« »Deine Meinung in allen Ehren, aber ich bin kein bis über die Ohren verliebtes Kind, das sich von solchen hoffnungsvollen Phantasien trösten läßt«, schalt Mystra, obwohl sie lächelte. »Ich kann nur hoffen, daß einer der anderen Götter Kels Seele verbirgt und darauf wartet, sie bei mir gegen irgend etwas eintauschen zu können.« Adon zuckte die Achseln. »Kel brachte Tyrannos durch eine List dazu, den Fluch von ihm zu nehmen, als er noch lebte. Wenn er dafür schlau genug war, mag er vielleicht doch noch seine Rache bekommen.« Er sah die Trauer, die über Mystras feine Gesichtszüge huschte wie Sturmwolken über einen sonnendurchfluteten Rosengarten, und wechselte ohne viel Aufhebens das Thema. »Die Kirche in Tegea macht sich gut«, brachte Adon vor. »Das Dorf gedeiht, und wir haben es bei der Umkehr des Fluchs des Herzogs weit gebracht. Corene –« »Ich weiß, wie es um meine Kirche steht. Du leistest bewundernswerte Arbeit, und dein Schützling ist selbst zu einer hervorragenden Klerikerin geworden.« Mystra hielt inne und sah in den Schneesturm hinaus. »Sie ist sehr schön, und du bedeutest ihr sehr viel.« »Mitternacht«, sagte Adon, wobei er seine Ergebenheit und seinen Respekt in den Namen fließen ließ. »Du hast mich doch nicht den ganzen Weg hierher gebracht,
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nur um über Corene zu sprechen.« Mystra lächelte traurig. »Nein. Ich habe dich aus einem wichtigeren Grund hergebracht. Ich dachte, der Anblick dieses Ortes könne dir verstehen helfen, was ich dir sagen will.« Ihre hauchzarte Robe umwallte sie wie Staubkörner im Sonnenlicht, während Mystra hügelan schritt. Die schützende Kugel bewegte sich mit ihr, und Adon beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. »Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann«, begann sie. »Ich kann versuchen zu helfen«, sagte Adon. »Aber ein anderer Gott sieht möglicherweise –« »Das genau ist der Kern des Problems. Die anderen Götter sehen nur ihre eigene Scheuklappensicht der Welt.« Die Herrin der Mysterien wies träge auf den Hang, der nun unter einem Berg von Schnee begraben lag. Noch während sie auf sie zeigte, schmolzen Eis und Schnee und enthüllten eine Ebene schwarzen Felsens. Die vereisten Skelette der Kaninchen und Füchse erwachten zitternd zum Leben. Unter Schmerzensschreien begannen sie, sich wie verrückte Ritter auf einem Turnier zu bekämpfen. »Ich habe dir nie erzählt, warum die Helmlande so sind, wie sie sind, warum die unbändige Magie sich so verhält, wie sie es tut, oder?« Mystra fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »An manchen Orten, dort, wo die Avatare in der Zeit des Aufruhrs den größten Schaden angerichtet haben, war das Gespinst der Realität selbst stark abgenutzt worden, und hier, wo die Energie von Mystras Tod das Land wie eine Million Shou-Kanonen
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unter Beschuß nahm, ist dieser Stoff dünner als anderswo.« »Was hat das damit zu tun, wie die anderen Götter die Welt sehen?« fragte Adon. »Dort, wo der Stoff so dünn ist, wird das Gleichgewicht instabil«, erklärte Mystra. »Das Land schwingt zwischen den Mächten hin und her und läßt jedem für eine kurze Weile die Vorherrschaft über das Gebiet. Der grüne Frühling, den wir sahen, war Lathanders Werk. Dann eroberte Auril das Land zurück. Dies –«, sie sah auf die sich bekriegenden Skelette auf dem kargen Gesteinsfeld hinaus, »– könnte jetzt Cyrics Werk sein. Oder Talos’.« Mit einem zitternden Seufzer schloß die Göttin die glühenden Augen. »Die Götter wissen gar nicht, daß sie Schaden verursachen. Sie können nicht begreifen, daß das Stürzen der Welt vom Winter in den Sommer alles zerstören könnte.« »Kannst du es ihnen nicht zeigen? Wenn du die Gefahr sehen kannst –« »Das ist es ja gerade«, sagte Mystra, und die Wut ließ ihre Augen aufblitzen. »Die Götter betrachten die Welt, als sei sie lediglich ein Spielfeld, auf dem man gewinnen oder verlieren kann. Aber jeder spielt sein eigenes Spiel. Talos will alles vernichten, während Lathander Pläne schmiedet, um Wiedergeburt herbeizuführen. Sie bemerken die anderen im Pantheon nur, wenn sie ihnen in die Quere kommen.« Adon schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Herrin, aber ich verstehe das einfach nicht. Ich meine, es sind doch Götter!« »Ja«, sagte Mystra. »Es sind Götter. Aber das heißt
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nicht all das, was du glaubst, all das, was die Priester in ihren Predigten und Traktaten vertreten. Ich war im Inneren ihres Geistes. Ich –« Sie hielt inne und studierte die wahnsinnige Schlacht, die auf dem Gesteinsfeld stattfand. »Vielleicht gibt es einen anderen Weg, um es dir zu zeigen ...« Mystra machte eine unmerkliche Geste, und sie verschwanden von den Helmlanden. Aber als die Göttin und ihr Patriarch einen Augenblick später an ihrem Ziel erschienen, bot sich ihnen ein nicht weniger chaotischer Anblick. »Wo ist das Licht? Laß mich nicht mit ihnen allein in der Finsternis. Sie krabbeln über alles drüber ... ah, nimm sie von meinen Augen weg!« »Die Engel haben Reißzähne. Die Engel haben Reißzähne!« »Die Schlange hat sie alle weggenommen! Sie hat alle meine Träume verschluckt...« Adon schlug sich die Hand vor den Mund und hielt sich die Nase zu. Der Gestank war fürchterlich. Er sah sich um. Überall lagen feuchte, schmutzige Strohhaufen. In einigen dieser provisorischen Betten lagen dösende Irre, in anderen Ratten, Kakerlaken oder Schlimmeres. In den finsteren Ecken des großen, schummrigen Raumes hockten, heulten oder schlugen sich Gestalten, die entfernt an Menschen erinnerten. Vielen Insassen hatte man riesige Käfige an die Köpfe geschnallt oder die Hände fest mit Stofflagen umwickelt. Der Rest war in Lumpen gekleidet, obwohl es dort kalt genug war, um den Atem zu Dampf werden zu lassen. Die Erinnerung an diesen höllischen Ort aber, die sich
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Adon am stärksten einprägen sollte, war die an das hohe, verängstigte Kreischen der Wahnsinnigen. »Die Engel haben Reißzähne!« Ein dünner Halbelf mit langem braunem Haar und einem hellen Bart griff mit zitternden Händen nach Adon. »Ihr müßt alle warnen. Die Engel haben Reißzähne.« Mystra drehte den Halbelf zu sich hin. »Schlaft, König Trebor«, besänftigte ihn die Göttin und ließ die Daumen leicht über seine Augen wandern. Er sackte zusammen, doch zeigten die Schauer, die ihn durchliefen, daß er selbst im Schlaf keine Ruhe vor seinen verstörten Gedanken fand. »Du kennst ihn?« keuchte Adon. »Wo sind wir?« »Ich kenne all diese Unglückseligen«, sagte Mystra. »Sie sind genauso meine Kinder wie die Magier und Gelehrten, die sich im Tempel in Tegea versammeln. Magie hat sie alle hergebracht.« Mystra wandte sich zu ihrem Patriarchen um. »Dies ist eine Anstalt. Sie wird von der Gesellschaft des Goldenen Kiels in Tiefwasser betrieben. Die Barden haben sich dieser Männer und Frauen erbarmt; Zauberer, die von fehlgeschlagener Magie unwiderruflich gebrochen wurden. Man hat sie hierher gebracht und kümmert sich um sie, so gut es geht.« »Ihr Götter, es ist besser, man bringt sie um, als ihnen das anzutun«, sagte Adon. Er mußte schreien, damit sie ihn trotz des lauten Wehklagens hören konnte. Mystra schüttelte den Kopf. »Die meisten von ihnen erwartet Cyrics Reich; jene, die sich keinem Gott verschrieben hatten, bevor die Magie ihnen den Verstand durcheinanderbrachte.« Auf die unausgesprochene Frage
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in Adons Augen hin fügte Mystra hinzu: »Ich nehme so viele, wie ich kann, aber Ao hat am Anfang der Zeit verkündet, daß die Götter nur ihre Getreuen mit dem Paradies belohnen dürfen.« »Magie ist dafür verantwortlich?« murmelte der Patriarch, während er einen armen, sich duckenden Kerl anstarrte, der weder Mund noch Augen besaß. »Nekromantie und Thaumaturgie sollten nie leichtfertig verwendet werden«, erwiderte Mystra, »denn die Macht des Gewebes kann sowohl erschaffen als auch vernichten, und selbst durch meine Hand kann ihr Verstand keine Heilung erfahren, obwohl ich Stunde um Stunde hier zugebracht und versucht habe, ihnen Trost zu spenden.« Ärger zeichnete sich in Adons Augen ab. »Wenn du beweisen wolltest, daß die Götter herzlos sein können, war die Lektion überflüssig«, rief er. »Sune ließ mich im Stich, als ich verunstaltet wurde, hast du das schon vergessen? Ich gebe mich keinen Illusionen über die Welt hin. Sag mir entweder, wie man diesen Menschen helfen kann oder bring mich von hier weg.« Die Herrin der Mysterien wandte sich ab und ging zu einem ergrauten alten Mann, der unter einem dick vergitterten Fenster kauerte. Ein paar Irre wurden still, als sie an ihnen vorüberging, als verschaffe ihre Anwesenheit ihnen einen flüchtigen Blick auf die geistige Gesundheit. Sobald die Göttin jedoch davonging, nahmen sie ihr Geheul wieder auf. »Komm her, Adon. Ich möchte dir Talos vorstellen«, rief Mystra. Vor Ärger noch immer angespannt marschierte Adon
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zu Mystra. »Hast du genug von deiner Menschlichkeit verloren, um diese armen Teufel zu verhöhnen?« »Wohl kaum«, sagte Mystra, deren blauweiße Augen Feuer sprühten. »Sieh genau hin, Adon. Ich weiß, du bist intelligent genug, um es zu verstehen.« Der Wahnsinnige war nackt, sein Haar lang und ungepflegt. Mit blauen Augen, die sich mißtrauisch verengten, beobachtete er den Patriarchen. Unterdessen zupfte er sich den Bart Haar für Haar vom Kinn. Er ließ das Haar um sich herum auf den Boden fallen, der bereits voll von den aufgetrennten Fäden seiner Decke und den Stoffetzen war, aus denen einst seine Kleidung bestanden hatte. »Nur zu«, sagte Mystra sanft. »Versuche, ihn aufzuhalten.« Der Patriarch streckte die Hände aus und hielt die des Mannes fest. Der Irre zitterte und sah Adon mit tränennassen Augen an. Einen Augenblick später, als er meinte, der Insasse habe sich beruhigt, ließ Adon ihn los. Die knochigen Finger flogen an den beleidigenden Bart und rissen wieder an ihm, weder schneller noch langsamer als zuvor. Mystra legte Adon sanft die Hand auf die Schulter. »Was sieht er, wenn er dich anblickt?« »Jemanden, der ihn davon abhält, sich den Bart auszuzupfen. Vielleicht nicht einmal einen Menschen. Vielleicht bin ich nur irgendein riesiger lähmender Schatten oder ein Satz Ketten ...« »Nun hast du also Talos getroffen«, sagte Mystra rundheraus. »Oder jemanden, der ihm sehr ähnelt. Dieser arme Mann zerstört alles, was man ihm an Kleidung
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oder Bettzeug gibt. Niemand kann sich vorstellen, warum. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, und wenn man ihn zu lange ankettet, hört er auf zu essen und zu schlafen. Ab und an lassen sie ihn frei, so wie jetzt, damit er etwas zerreißen kann, und wie die Götter auch ist er sich eines jeden um sich herum nur insofern bewußt, daß derjenige ihn in seiner Wahnvorstellung von der Welt bestärkt oder behindert.« »Sicher sind die Götter –« Mystra schüttelte den Kopf. »Ihr Verstand ist weitläufiger, aber in seiner Wahrnehmung ebenso beschränkt.« »Wie können sie sich dann verständigen?« fragte Adon. »Wenn sie Wahnsinnige sind, sollten sie sich in nichts einig sein.« »Etwas in ihrem Bewußtsein muß für sie übersetzen, was die anderen Götter sagen«, erwiderte Mystra. »Sie schauen alle die gleiche Wirklichkeit, aber sie sehen sie auf unzählige Weisen. Talos sieht nur eine Welt, die zerstört werden muß.« Sie rauschte erregt durch die Kammer zu einem Mann, der die Knie eng an die Brust gezogen hatte. Blutige Tränen strömten ihm über die eingefallenen Wangen. »Dies ist Ilmater, der nur das Leid in Faerûn sieht. Sein Zellengenosse ist Gond, der Wunderbringer, dessen mechanische Wunderwerke sich wie eine Armee von Uhrwerken über die Welt verbreiten werden.« Mystra deutete auf einen kahlköpfigen Zwerg, der eifrig einen Turm aus zerbrochenen Ketten und Servierschüsseln baute. Schließlich kam die Göttin der Magie zu einem kleinen Jungen mit einem Gesicht, das von einem fehlgegangenen Zauber zur abscheulichen Maske entstellt worden
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war. Er kämmte mit großem Aufwand die Haarbüschel, die seiner geschwärzten Kopfhaut entsprossen. »Sune kennst du bereits«, sagte Mystra. »Es tut natürlich nichts zur Sache, daß er ein Mann ist. Wir Götter können nach Belieben jedes Geschlecht annehmen ...« »Was ist mit dir?« fragte Adon rundheraus. »Wie sieht dein Wahnsinn aus?« »Ao gestattete mir, etwas von meiner Menschlichkeit zu bewahren; aber das heißt, daß ich den Wahnsinn der anderen sehen kann«, sagte Mystra. »Talos hat keine Ahnung, wie die anderen die Welt wahrnehmen. Ich wiederum kann an seiner verdrehten Sichtweise und der eines jeden anderen Gottes teilhaben. Letztlich macht mich das vielleicht zur Verrücktesten –« Mystra krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich die Seite. Cyric hatte sie dort vor einem Jahrzehnt verwundet, in der Schlacht auf dem Schwarzstab-Turm. »Es war nur eine Frage der Zeit«, zischte sie. Adon streckte der Göttin seine Hände entgegen und stürzte vor. »Was ist los?« »Cyric«, sagte Mystra mit zusammengebissenen Zähnen, obwohl sie das Gesicht nunmehr vor Wut statt vor Schmerz verzog. »Er schlägt auf das Gewebe ein. Ich muß ihn aufhalten.« Die Insassen heulten auf, als Mystra in einem plötzlichen, blauweiß strahlenden Lichtblitz verschwand. Selbst ihr vom Wahnsinn vernebelter Verstand registrierte irgendeinen nicht auszumachenden Schmerz, als mitten unter ihnen Zauberei angewandt wurde, die gräßliche Kunst, die ihnen allen so viel Schaden zugefügt hatte, und inmitten all des Kreischens und Schreiens stand
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Adon von Mystra schweigend, mit Tränen in den Augen. Er bahnte sich einen Weg zur Tür und pochte mit dem Streitkolben an das dicke Metall. Die Wachen hatten die Gegenwart der Göttin nicht bemerkt. Er hoffte, daß sie jetzt sein Rufen hören und es für mehr als die ungewöhnlich klaren Schreie eines der Insassen halten würden. »Wärter!« rief er. »Ich komme von der Kirche der Mysterien. Öffnet diese Tür, um Mystras Willen, und bringt Wasser.« Adon wandte sich zurück in den düsteren Raum. Er legte seinen feinen Mantel über einen zitternden, in Lumpen gehüllten Mann, der an eine Wand gekettet war. Er unterdrückte die Übelkeit, die ihm der Gestank von Unrat und Krankheit bereitete, und kniete neben dem Jungen nieder, den Mystra Sune genannt hatte. »Ihr seht sehr hübsch aus«, sagte er besänftigend, als er mit seinem Taschentuch den Schmutz von den Armen des Jungen wischte. Etwas wie ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Irren. Adon konnte sich ein Schaudern nicht verkneifen. »Vielleicht hatten die Gelehrten zumindest insofern recht«, murmelte er. »vielleicht können die Götter doch nicht ohne ihre Anhänger leben.«
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Tief in dem Labyrinth lichtloser, von jeglicher Hoffnung verlassener Tunnel, die man Pandämonium nannte, hob Cyric Götterfluch und führte erneut einen Streich gegen einen schimmernden Vorhang magischer Energie. Das
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Kurzschwert schnitt kreischend in die scheinbar nicht stoffliche Wand, was nach dem Kratzen einer Axt auf einer Schiefertafel klang. Ein dünner Schnitt öffnete sich für einen Moment und schloß sich dann wieder wie alle anderen Löcher, die der Herr der Toten in den Vorhang geschnitten hatte. Die Magie verletzt mich, flüsterte Götterfluch in Cyrics Geist. Gibt es keinen anderen Weg? Verwirrt trat der Prinz der Lügen von der verzauberten Absperrung zurück und sah auf. Die glitzernde Wand zog sich kilometerweit und sperrte den runden Tunnel vollständig ab. Cyric verzog den Mund zu einer grimmigen Linie und rieb sich das Kinn mit knotigen Fingern. »Die Götter müssen die Wand direkt vom Gewebe bezogen haben, als sie Kezef einkerkerten«, sann er. »Das wird schwieriger werden, als ich gedacht hatte ...« Die Worte hallten, obwohl sie geflüstert worden waren, durch den gewaltigen Tunnel. Der Klang verstärkte sich immer weiter, bis der Satz zu einem heulenden Kehrvers wurde und jeden Sinn verlor. Die chaotischen Winde, die fortwährend an die glatten Wände der schwarzen Höhlen brandeten, trugen das Geräusch davon und brachten es einen Augenblick später zurück, begleitet von tausend qualvollen Schreien. Das Stimmengewirr hätte jedes sterbliche Ohr betäubt; für Cyric jedoch hatten die Klänge Pandämoniums etwas Besänftigendes, und die wirbelnde Masse aus Dunkelheit und erstickendem Nebel waren ihm ein Trost spendender Mantel. »Es gibt keinen Weg außen herum«, murmelte der
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Todesgott in den Mahlstrom und hob Götterfluch erneut. Liebster, gebt acht! Mystra – Ein Blitz aus Zaubermacht traf Cyrics Rücken. Der Schlag ließ den Herrn der Toten herumfahren. Mit vor Überraschung geweiteten Augen wandte er sich seiner Angreiferin zu und blickte dann auf das rauchende Loch in seiner Brust. Götterfluch entglitt seinen tauben Fingern und fiel zu Boden. Cyric fiel nach vorn und sackte leblos in sich zusammen. Mystra trat einen Schritt auf den Prinzen der Lügen zu und blieb dann stehen, starr vor Überraschung durch den Körper, der vor ihr lag. Hatte sie seine Macht überschätzt? Er hatte sich nicht magisch verteidigen können, aber allen Göttern wohnten Mächte inne, die ihnen ihre Göttlichkeit verlieh und die nicht dem Gewebe der Magie entstammten. Er hätte – nein, konnte durch den Schlag nicht tödlich verwundet sein – Die Herrin der Mysterien fluchte und sprang vorwärts, aber zu spät. Eine Klinge bahnte sich einen Weg über ihren Rücken, von der Schulter bis zur Hüfte. Schmerz entsprang dem Kern ihres Wesens, als das Schwert ihr die Lebenskraft zu entziehen versuchte. Doch die Wunde war nicht tief genug und die Berührung zu kurz, als daß sie wirklich Schaden davongetragen hätte. »Ich bin erstaunt, daß du mich hier angreifst, Mitternacht«, sagte Cyric. Der Prinz der Lügen schenkte seinem leblosen Zwilling ein verschmitztes Lächeln und stolzierte dann auf die Göttin zu. Das Licht der magischen Wand ließ seine Züge noch dämonischer erschei-
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nen. »Pandämonium ist schließlich ein Ort des Chaos, und du solltest eigentlich wissen, daß ich mich im Chaos recht heimisch fühle ...« Mystra wich an die schimmernde Wand zurück und erschuf einen magischen Schild. »Der Kreis hat erlassen, daß diese Barriere weder von einem Gott noch von einem Menschen je überschritten werden darf«, rief sie, »und ohne Magie bist du mir nicht gewachsen, Cyric. Gib auf, bevor ich gezwungen bin, dich zu vernichten.« Die scheinbare Leiche löste sich in ein Häufchen Asche auf, das von den Wirbelwinden im Tunnel davongetragen wurde. Der wahre Prinz der Lügen hielt inne, um die drohende Haltung seiner Widersacherin in Augenschein zu nehmen; dann lachte er. »Du würdest mich nicht töten, selbst wenn du es könntest«, spottete er. »Das würde das Gleichgewicht stören.« Cyric überließ sich den chaotischen Winden, die über ihn, durch ihn strömten. Er kanalisierte ihre Macht wie magische Energie und zerfiel zu einem Fliegenschwarm, der sich in zwei kleinere Wolken teilte. Die Winde warfen die summenden Insekten zu beiden Seiten Mystras auf. Dort setzten sie sich zu Zwillingsbildern Cyrics zusammen. Zwei identische rosenfarbene Kurzschwerter schnitten der Göttin in die Arme und schlugen ihr den arkanen Schild aus der Hand. »Mich aber interessiert das Gleichgewicht nicht«, zischte der Todesgott. Erinnerungen an sterblichen Schmerz, die mit der Zeit angestaubt waren, und ein Übelkeit erregendes Gefühl der Furcht schlichen sich in Mystras Verstand. Sie spürte das scheußliche Zerren von Götterfluch an ihrem Geist,
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das Verrinnen ihrer Macht und das Kribbeln der Energie, als sie wie Blut aus ihren Wunden tropfte. Indem sie die Kraft aufbrachte, sich zur Wehr zu setzen, ließ sie ihre Hände die schimmernde Gefängniswand berühren. Die pure magische Essenz pulsierte an ihren Fingern. Mit einem trotzigen Schrei riß sie zwei Handvoll Energie aus dem Vorhang. Die Machtklumpen, die sie aus dem Gewebe gezogen hatte, loderten in ihren Händen. Geschmeidig krochen sie ihre Arme hinauf, ließen die Klingen abprallen und bildeten eine Rüstung, unnachgiebiger als alle, die je von den Zwergengöttern oder ihren Gefolgsleuten geschmiedet worden waren. Mystra löste sich in Luft auf, um ein Dutzend Meter entfernt wieder aufzutauchen. Nun hielt auch sie eine Waffe in der Hand – einen Stab aus Licht, der wie die Sonne selbst brannte. Doch ehe sie den Stab gegen Cyric heben konnte, verwandelte er sich in die triefende, rasiermesserscharfe Klinge Götterfluchs. Dann plötzlich kniete der Prinz der Lügen neben Mystra und packte das Schwert am Griff. Brutal zog er die Klinge durch ihre Hände, als seien ihre Finger eine lebendige Scheide. Götterfluch drang tief in die Handflächen der Göttin und trennte ihr fast die Finger der linken Hand ab. »Ich lockte Leira ins Pandämonium«, sagte der Prinz der Lügen mit einem gackernden Lachen. »Wenn noch etwas von ihrem Avatar übrig wäre, würde es noch hier umherwirbeln.« Cyric verschwand, als Mystra einen Meteoritenschwarm auf ihn niedergehen ließ. Er ritt auf einer Windbö, bis er hoch oben auf der Wand ankam. »Sie zu
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töten war noch einfacher, als es sein wird, dich umzubringen«, krähte er. »Ich muß hier fast so mächtig sein wie im Hades. Muß das natürliche Chaos dieses Ortes sein. Oder vielleicht bin ich einfach nur gut als Herr des Mordes. Was denkst du?« Mystra rief eine Sphäre aus Energie, die in allen Regenbogenfarben schimmerte, um sich vor dem nächsten Angriff zu schützen. Kaum hatte die Kugel Gestalt angenommen, als Götterfluch auch schon dagegenschlug. Allein die Wucht des Schlages ließ Risse entlang der funkelnden, rotierenden Kugel entstehen. Cyric trat gegen den Schild. »Diese Runde geht an dich«, hörte Mystra ihn murmeln, kurz bevor er wieder verschwand. Die Göttin der Magie besah sich schnell ihre Wunden. Sie waren ernst, aber sie würde sie heilen können, wenn sie sich einen Augenblick lang konzentrieren konnte, und dann würde sie – Cyric ragte gigantisch und bedrohlich über der Sphäre auf. Er hob die magische Kugel mit einer Hand hoch und hielt sie vor seine blutunterlaufenen Augen. »Ich frage mich, was geschehen wird, wenn ich das esse?« Während ihr glitzernde Energie aus einem halben Dutzend Wunden strömte, sah Mystra zum Prinzen der Lügen auf. Er hatte recht: Im Pandämonium war er im Vorteil. Das Chaos stärkte ihn, doch Cyrics wirkliche Waffe war seine Unberechenbarkeit. »Die anderen Götter werden mir zur Seite stehen«, sagte Mystra bitter; dann verschwand sie, floh in ihren Palast im Nirvana. »Na und?« sagte Cyric. Er sah zu, wie die regenbogenfarbene Sphäre wie Wasser durch seine Finger tropf-
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te, und ließ dann die chaotischen Winde seine gigantische Fassade abtragen, bis er wieder die Größe erreichte, die er als gewöhnlicher Sterblicher gehabt hatte. Der Kreis fürchtet den Chaoshund fast so sehr, wie sie Euch fürch ten, Liebster, warf Götterfluch ein. Seine schnurrende Stimme war belegt, trunken von der Lebenskraft der Göttin. Wir müssen vorsichtig sein. »Vorsicht ist für die, die nicht um die Zukunft wissen«, bemerkte Cyric, während er zum Vorhang schlenderte. »In meiner Zukunft wird es nur das geben, was ich will.« Zwei faustgroße Spalten verunstalteten die schimmernde Gefängniswand dort, wo Mystra die mystische Energie weggerissen hatte. Es waren kleine Wunden; doch groß genug für Cyric. »Siehst du«, sagte der Herr der Toten spöttisch. »Genau, wie ich es geplant hatte. Die Hure hat die Tore für mich aufgestoßen.« Er schlug mit Götterfluch zu und weitete die Risse. Das Kreischen der Klinge, als sie den beschädigten Vorhang entzweihieb, erfüllte den Tunnel und hallte überall im finsteren Reich Pandämonium wider. Das wirre Geräusch bahnte sich seinen Weg durch endlose, windgepeitschte Tunnel, und unheilvollere Wesen, als sie Menschen, Elfen oder Zwergen je im Traum erschienen, duckten sich angsterfüllt. Sie wußten, daß nach ungezählten Jahrtausenden ein Wahnsinniger gekommen war, um den Chaoshund zu befreien.
Worin Cyric sich auf einen gefährlichen Handel mit dem Chaoshund einläßt, Mystra einen seltsamen Besucher im Haus des Wissens entdeckt und ein seit langem toter, aber vieldiskutierter Held endlich seinen Auftritt hat. Als er durch das gezackte Loch in der Wand trat, kam Cyric an einen gleichermaßen stillen und finsteren Ort. Die heulenden Winde und das bedrohliche Stöhnen, die in den Höhlen jenseits der Wand so ohrenbetäubend gewesen waren, gelangten nicht in die feuchte Kammer. Das Strahlen des magischen Vorhangs warf kein Licht herein. Selbst das Licht, das durch die Öffnung hätte fallen sollen, war irgendwie gedämpft. Es ist noch nicht zu spät, es sich anders zu überlegen, zischte Götterfluch in Cyrics Geist. Die Klinge schimmerte nun trübe und schwach in der Finsternis, obwohl Mystras Lebenskraft sie in den Tunnels noch wie eine blutrote Sonne hatte brennen lassen. Der Prinz der Lügen schenkte dem Gehabe des Schwertes keine Beachtung und rief in die stinkende Düsternis: »Ich bin Cyric, Herr der Toten und Gott der Zwietracht. Ich bin hier, um Euch in meinen Dienst zu nehmen.« Ein tiefes, grollendes Knurren war seine einzige Ant-
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8 [ HUNDE UND HASEN ]
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wort. »Aber bitte«, schalt Cyric und tat einen kühnen Schritt nach vorn. »Ich habe vor, Euch freizulassen.« »Kein Gott Faerûns würde den Chaoshund aus freien Stücken loslassen.« Die unmenschliche Stimme war tief und bösartig. »Also könnt Ihr kein Gott sein.« »Wenn Ihr die Möchtegern-Götter, die Euch hier angekettet haben, mit dieser Bezeichnung beehren wollt, dann habt Ihr recht. Ich bin kein Gott«, konterte Cyric abfällig. »Ich bin mehr als das.« Das Grollen hallte erneut durch die Finsternis, zusammen mit dem abgestandenen, ekelerregenden Geruch von Verwesung. »Herr der Toten, sagt Ihr? Was ist mit Myrkul?« Cyric lachte. »Der Herr der Knochen existiert nicht mehr. Ich habe ihn getötet, und auch viele seiner Brüder.« Er machte einen weiteren Schritt. »Tyrannos, Bhaal und Leira wurden von meiner Hand vernichtet. Ich besitze nun ihre Titel und ihre Macht.« »Dann seid Ihr einer, mit dem man rechnen muß«, grollte Kezef. Ketten rasselten, als sich der Chaoshund nach vorn lehnte. Er schnüffelte zweimal und hielt dann inne. »Kann diese kleine Klinge, die Ihr da habt, etwas mehr Licht schaffen? Ich würde gern Euer Gesicht sehen, Schlächter Myrkuls.« Ohne Magie konnte Cyric kein Licht beschwören, aber es wäre ein Fehler gewesen, dies der Bestie zu offenbaren. Es gab jedoch eine andere Lösung, und die vielen Facetten seines Verstandes fanden sie, noch ehe Kezef geendet hatte. Cyric wandte sich um und hackte aus der Gefängniswand ein Stück von der Größe einer Leiche
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heraus. Langsam hob er den bebenden Energievorhang, so daß die strahlende Seite seine grausigen, versengten Gesichtszüge beleuchtete. »Ihr seid nicht, was ich erwartet hätte«, murmelte Kezef. Cyric ließ den Gewebestoff zu Boden fallen und versetzte ihm einen Tritt, so daß es in Richtung des Chaoshunds flog. Es rutschte jedoch nicht weit genug, um die Gestalt des Wesens zu enthüllen, sondern verursachte nur ein mattes Schimmern in Kezefs roten Augen. »Schiebt es näher heran«, sagte der Hund. »Wir können uns nicht als Gleichgestellte betrachten, ehe wir einander unsere wahre Gestalt gezeigt haben ...« Während sich Cyric auf das leuchtende Fragment zubewegte, stürzte Kezef vor. Der Prinz der Lügen sah lediglich, wie ein schattenhafter Umriß über den undeutlichen Lichtflecken flog, hörte nur ein bissiges Knurren und das Rasseln uralter Ketten. Mit einer Reaktionsfähigkeit, die der Sterblicher weit überlegen war, erhob er Götterfluch in einem mächtigen Schwung. Das Schwert traf etwas Matschiges, und ein Schwall dunkler Flüssigkeit ergoß sich über seinen Schwertarm. Der Schleim hing in Flecken an ihm und brannte wie flüssiges Kupfer. In das Heulen des Chaoshundes mischte sich in Cyrics Verstand das schmerzvolle Kreischen Götterfluchs. »Stellt Ihr so Eure Gerissenheit unter Beweis?« zischte der Prinz der Lügen. »Kein Wunder, daß die Götter Euch so einfach einsperren konnten. Nur ein Narr wendet sich gegen einen Verbündeten, wenn er dadurch nichts zu gewinnen hat.« »Ich wäre ein größerer Narr gewesen, wenn ich mit
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Euch verhandelt hätte, ohne mir über Eure Stärke im klaren zu sein«, grollte Kezef. »Doch müßt Ihr sein, der Ihr zu sein behauptet, Mörder Bhaals, denn nur ein Gott kann meinem Rachen Einhalt gebieten.« Mit verengten Augen kam der Chaoshund ins Licht. Kezef erinnerte an einen riesigen Mastiff und nahm es an Größe mit jedem Zugpferd auf, das Cyric in den Straßen der Zentilfeste gesehen hatte. Sein Fell bestand aus wimmelnden Maden und bewegte sich unaufhörlich über die kaum bedeckten Sehnen und Knochen. Seine spitzen Zähne funkelten im magischen Licht wie Dolche aus Pech. Der Hund ließ eine Zunge bis zum Kinn heraushängen, von der verfaulte Fetzen abfielen, während giftiger Speichel in zischenden Tropfen zu Boden troff. Die Wunde, die ihm Cyrics Schlag beigebracht hatte, zog sich schwärend über Kezefs Schnauze; aber noch während der Prinz der Lügen hinsah, schloß sich das verweste flüssige Fleisch über der Schnittwunde. Ein kurzes Stück widerstandsfähiger Kette, die vom Wunderbringer selbst geschmiedet worden war, hielt die Bestie an ihrem Platz. Die Glieder rasselten dumpf, als Kezef sich auf seinen Hinterläufen niederließ und dem Prinz der Lügen ins Gesicht sah. »Welche dunkle Aufgabe habt Ihr, die ich erfüllen soll?« »Die Barden Faerûns sagen, Ihr könnt alles aufspüren, ganz gleich, wo es sich in den Reichen der Sterblichen oder der Götter aufhält.« In Kezefs schnaufendem Atem lag ein Übelkeit erregender Lei-chengestank, als er sich Cyric zuneigte. »Ausnahmsweise sagen die Barden die Wahrheit. Kein Wesen auf dieser Welt kann sich vor mir verstecken,
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wenn ich einmal seine Fährte aufgenommen habe.« Cyric hielt Götterfluch in einer stummen Warnung an Kezef, nicht näherzukommen, vor sich. »Dann möchte ich, daß Ihr die Seele eines Sterblichen sucht.« »Was, wenn ich den Schatten zwischen den Zähnen habe?« grollte der Hund drohend. »Glaubt Ihr, Ihr könnt mich dann wieder einsperren?« »Bringt mir die Seele Kelemvor Lyonsbanes. Danach steht es Euch frei, zu tun und zu lassen, was Euch beliebt«, erwiderte Cyric. Kezef lebt von Überfällen auf die Ebenen, warnte Götterfluch mit vor Angst schriller Stimme. Die Getreuen sind seine Beute, mein Liebster. Die Einwohner Eures Reiches werden ihm ebenso schmecken wie alle anderen. »Was ist mit Euren Gefolgsleuten?« stellte der Hund die gleiche Frage wie die Klinge, als hätte er sie gehört. »Macht es Euch nichts aus, wenn die Einwohner Eurer Stadt zusammen mit den Tagelöhnern Tyrs oder Ilmaters zu Fleisch auf diesen Knochen werden?« Cyric tat die Frage mit einem spöttischen Schnauben ab. »Es gibt viele Himmel, die leichter zu erstürmen sind als die Stadt der Zwietracht«, sagte er. »Die Treulosen, aus denen der Wall besteht, werden Euch nicht schmecken, und die Einwohner meiner Stadt sind besser bewaffnet und grausamer als die Anhänger des Herrn Aller Lieder oder Oghmas, der alles Wissen bindet. Erst in vielen, vielen Jahren wird Euch der Hunger an meine Tür bringen ...« Aber Liebster – Schweig! schrie Cyric im Geist. Obwohl Kezef das Wort nicht hörte, schien es die schattenschwangere
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Kammer zu erschüttern. Wenn mein Buch vollendet ist und die anderen Götter eingehen und sterben, werden ihre Gefolgsleute schutzlos sein. Sie werden Kezef in alle Ewigkeit ernähren können. »Ich werde tun, was Ihr verlangt«, murmelte Kezef, und seine unmenschliche Stimme war voller unausgesprochener Verwünschungen. »Obwohl ich weiß, daß ich Euch nicht trauen sollte.« »Oh, Ihr könnt mir alles glauben, was ich Euch gleich sagen werde, Kezef«, säuselte Cyric. »Wenn Ihr versagt oder mit Kelemvors Seele irgend etwas anderes anstellt, als sie unversehrt in meine Burg zu bringen, werde ich Euch das madenverseuchte Fell abziehen, bis von Euch nichts weiter übrig ist als Eure Zähne – und die werde ich zu Nachttöpfen für meinen niedrigsten Priester in den Reichen der Sterblichen verarbeiten.« Die roten Augen des Hundes verengten sich. Die verfaulenden Augäpfel glühten mit einer Arroganz, die der Cyrics fast ebenbürtig war. »Die vereinten Kräfte aller Götter waren nötig, um mich hier anzuketten, Herr vierer Kronen, und wenn ich einmal mehr von den Seelen der Erretteten gekostet habe, werde ich mehr Fleisch auf den Knochen haben, als selbst Ihr herunterschneiden könnt.« Bevor Kezef reagieren konnte, spürte er auch schon die Spitze Götterfluchs fest an seiner Schnauze. »Mit dieser Klinge habe ich Götter niedergeworfen, Hund.« »Es ist in der Tat ein mächtiges Schwert.« Der Chaoshund wich zurück, bis die Finsternis erneut seine schreckliche Gestalt verhüllte. Einen Augenblick lang musterte Kezef die rosenfarbene Klinge. Dann blitzte ein
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Funke des Erkennens in seinen Augen auf. »Wie ist sein Name?« »Dieses Schwert hat vier Göttern das Leben entzogen«, log Cyric, wobei sich sein Mund vor Stolz zu einem höhnischen Grinsen verzog, »und es hat vom Blut einer fünften Göttin gekostet.« Seine Stimme wurde zum haßerfüllten Flüstern. »Ich habe sie Götterfluch genannt.« »Götterfluch«, murmelte Kezef. Er beschnüffelte das Schwert mit seiner triefenden Schnauze. »Ein guter Name. Sehr passend.« Cyric tat die Bemerkung als feige Schmeichelei ab und machte sich daran, die Kette zu untersuchen, die Gond geschmiedet hatte. Die Idee, den Pflock herauszuziehen, der kilometerweit in den Boden getrieben worden war, verwarf er schnell wieder. Während er all seine Wut und Frustration darüber, daß Kelemvor ihm zehn lange Jahre entwischt war, heraufbeschwor, zog der Prinz der Lügen Götterfluch und ließ sie auf ein einziges Kettenglied niederfahren. Das Schwert schien sich gegen den Schlag zu sträuben, aber der Widerstand reichte gegen Cyrics Rage bei weitem nicht aus. Das Glied zerbrach, als sei es aus Porzellan. Der Schlag brach zudem einen Zauber, der Kezefs zerstörerische Aura im Zaum gehalten hatte; Rost und Verfall breiteten sich von der Kehle der Bestie über das Halsband und die übrige Kette hinunter aus. Kezef warf den Kopf in den Nacken und heulte ausgelassen. Die verrostete, nutzlose Kette glitt von seinem Hals und rasselte zu Boden. Der Chaoshund war frei.
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Neun identische Mystras rasten durch die Ebenen und eilten zu den Höfen der anderen höheren Götter. Sie überbrachten die schlechte Nachricht, daß Cyric versuchte, Kezef loszulassen, daß der Verwüster des Himmels bald frei sein würde, um Jagd auf die Seelen der Getreuen zu machen. Die grünen Felder Elysiums und die verdorrten Ebenen des Hades, das ewige Chaos des Limbus und die friedvolle Ordnung der Sieben Berge des Guten und des Rechts erhielten die Warnung der Göttin der Magie – und ihre Bitte an die Götter des Kreises, ihr gegen den Prinz der Lügen zur Seite zu stehen. Mystra kam zu der Ebene, die unter anderem als Haus des Wissens bekannt war, um Oghma, der alles Wissen bindet, aufzusuchen. Der Ort war die Verkörperung des Gleichgewichtes zwischen Recht und Chaos. Unendliche göttliche Herrschaftsbereiche breiteten sich in Form kreisförmiger Streifen von einem festen Mittelpunkt aus. In einem Moment erschien das Herz des Hauses des Wissens als gigantischer Baum, der endlos in die Höhe reichte, im nächsten als Säule aus vollkommen gemeißeltem Marmor oder aus herumwirbelnden Wolken, aus denen Blitze zuckten und Donner grollte, und obwohl ihre Form sich ständig veränderte, blieb sie immer am gleichen Ort; ein ruhender Pol inmitten der wechselhaften Ebene. Wesen aus aller Götter Reiche und allen möglichen Welten der Sterblichen reisten auf der Suche nach Wissen, Macht oder Klatsch ins Haus des Wissens. Auf den Märkten, in denen sich diese Suchenden versammelten,
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herrschte ein reges Treiben von Einwohnern und Engeln, die finstere Geheimnisse und göttlichen Beistand verkauften. Mächtige Magier handelten auf den Stufen großartiger Tempel mit Zauberformeln oder seltenen Zauberzutaten. Paladine schworen in Gebäuden, die eine Stunde später ganz anders aussehen und sich doch noch an derselben Stelle befinden würden, heilige Eide, während eidbrecherische Meuchelmörder neben ihnen standen. Inmitten dieses geordneten Chaos befanden sich Haus und Grundbesitz Oghmas, des Schutzpatrons der Barden und Fürsten des Wissens. Als Mystra vor den offenen Toren des weitläufigen Grundstücks erschien, bemerkte sie ohne große Überraschung, daß die Fassade der Behausung einmal mehr eine war, die sie nie zuvor gesehen hatte. Das Haus des Wissens ähnelte den Palästen aus den Wüsten Zakharas. Ein hoher Zaun aus dünnen Eisenstäben umgab das Grundstück. Die Stäbe krümmten und bogen sich zu wunderschönen, komplizierten Mustern, die sehr zerbrechlich wirkten, aber selbst vom mächtigsten aller Riesen nicht zerbrochen werden konnten. Jenseits der offenen Tore erstreckte sich ein langes, himmelblaues Becken voller Fontänen, die ihr Wasser aus dem kühlen, friedlichen Fluß Ozeanus bezogen. Das Wasser reflektierte die von Säulen gesäumte Vorhalle von Oghmas prunkvollem Heim, seine hohen, schlanken Minarette und gedrungenen, pilzförmigen Kuppeln. Mystra durcheilte den Hof, vorbei an Gelehrtentrauben, die Feinheiten der einen oder anderen obskuren Theorie diskutierten. In der Nähe warben buntgekleidete Barden um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden.
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Die Besucher im Haus des Wissens machten der Göttin Platz, da sie spürten, daß sie in wichtiger Angelegenheit unterwegs war. Ein Engel des Zwergengottes Berronar verbeugte sich vor Mystra, wobei sein alabasterfarbener Bart zu Boden wallte und seine kurzen, eisernen Flügel sich anmutig über seinen kräftigen Schultern entfalteten. An der Seite des ehrwürdigen Zwergengeists nickte ein Fürst der Tanar’ri schroff. Der Abkömmling des Abgrunds besaß den Körper und die Flügel einer riesigen Fliege, leicht elfische Gesichtszüge und ein Paar menschlicher Hände. Mit einer dieser Hände hielt er eine Pergamentrolle fest, die sich näher mit den alten Schlachtplänen eines rivalisierenden Kriegsherren befaßte. Die Türen von Oghmas Palast waren wie immer unbewacht. Mystra stürzte in die gewaltige Eingangshalle, die von einer Decke überwölbt wurde, auf der eine unendliche Namensliste der Getreuen geschrieben stand, die den Palast bevölkerten. Zwei Treppenaufgänge schwangen sich links und rechts empor. Sie führten zu den Kammern, die den Schatten von Oghmas gesegneten Gelehrten und Barden vorbehalten waren. »Die Sterne müssen in der Tat günstig stehen, da sie Euch in mein Heim führen«, verkündete Oghma, und seine wohlklingende Stimme erfüllte die Halle. Der Fürst des Wissens wurde von dem verzierten Türbogen umrahmt, der sich von der Eingangshalle zu seinem Bibliotheks-thronsaal hin öffnete. Seine Kleidung stand der exotischen Fassade seines Palastes in nichts nach – ein wallender Kaftan, der an der Hüfte von einer Schärpe aus reinster himmelblauer Seide gegürtet wurde,
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Pantoffeln mit gerollten Spitzen und der Turban eines Sultans, an dem ein Saphir von der Größe einer Zwergenfaust befestigt war. Eine Pergamentseite, die aus Mondlicht gefertigt war, schimmerte in seiner linken Hand. »Das ist kein Höflichkeitsbesuch«, erwiderte Mystra ohne viel Federlesens. »Die Getreuen aller Götter sind in Gefahr.« Oghmas Willkommenslächeln verfinsterte sich zu einem Stirnrunzeln. »Ihr seid verwundet«, sagte er und wies mit einem schwer beringten Finger auf die funkelnden Schnittwunden an Mystras Händen und Schultern. »Cyric?« »Ja, aber macht Euch keine Sorgen. Es ist nichts, was ein paar Augenblicke Meditation nicht heilen könnten.« Sie nahm Oghma am Arm. »Wir müssen mobil machen, und zwar schnell. Als ich den Bastard verließ, stand er vor der Wand von Kezefs Gefängnis.« »Dann ist er wahrhaftig wahnsinnig«, kam ein leises Flüstern. Mystra drehte sich um und erblickte Maske, der neben ihr stand. Der Meister aller Diebe war in einen Mantel aus Schatten gehüllt, sein Gesicht von einer weiten schwarzen Maske verborgen. »Ich habe Gerüchte von einer Schlacht in Pandämonium gehört, in der Nähe von Kezefs Gefängnis. Ich hatte gehofft, es sei nichts Wahres daran.« Seine roten Augen verengten sich, während er sich flüchtig verbeugte. »Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, mich für die Unterstützung zu rehabilitieren, die ich dem Prinzen der Lügen einst zukommen ließ. Vielleicht kann ich nun dem übrigen Pantheon von Nut-
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zen sein ...« »Ich bin sicher, Ihr könnt es kaum erwarten«, erwiderte Mystra steif. »Ich werde es dem übrigen Kreis gegenüber erwähnen.« Maske verbeugte sich erneut. »Wie Ihr wollt. Aber vergeßt nicht, daß der Chaoshund die ehrenwerten Diebe in den dunklen Gassen meines Herrschaftsbereiches ebenso verschlingen wird wie die Weisen in Eurer magischen Burg aus Gewebe. Ich bin sicher, alle Götter wollen gegen Kezef vorgehen, ehe er wieder zu stark wird. Wir sollten –« Oghma ließ eine Hand auf die Schulter des Fürsten der Schatten sinken. »Mystra hat recht. Dies ist eine Sache des Kreises.« Der Fürst des Wissens hielt ihm das schimmernde Pergament hin. »Hier sind die Informationen, um die Ihr gebeten habt. Als Bezahlung werde ich Euer Schweigen über den Chaoshund annehmen, bis der Kreis Gelegenheit hatte, die Angelegenheit zu erörtern.« »Wartet«, sagte Mystra. »Die mittleren und niederen Götter sollten gewarnt werden, so daß sie Wachen entlang ihrer Grenzen aufstellen können.« »Später, Herrin«, erwiderte Oghma. »Wir werden sie nur in Panik versetzen, wenn wir ihnen nicht zusammen mit der Warnung einen Angriffsplan liefern.« Er wandte sich dem Fürsten der Schatten zu. »Solltet Ihr in Zukunft solche arkanen Texte benötigen, würde ich es begrüßen, wenn Ihr mir im Gegenzug ein paar gleichermaßen obskure verlorene Überlieferungen anbieten würdet. Ich bin sicher, Eure dilettantischen Schützlinge entdecken dann und wann nützliche Bände, wenn sie in längst vergessenen Grabstätten nach Münzen wühlen.«
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»Ihr habt recht. Das Diebeshandwerk ist keine anständige Arbeit, nicht im Vergleich zum Abschreiben der Worte anderer in einem feuchten Kloster«, sagte Maske, wobei seine sonst so glatte Stimme vor Verachtung troff. Er nahm das Pergament mit behandschuhten Händen und verschwand in den Schatten unter dem Türbogen. Mystra verzog konsterniert das Gesicht. »Ihr spracht damals im Pavillon von Cynosure die Wahrheit. Ihr seid kein Schmeichler. Warum habt Ihr ihn so beleidigt? Der Kreis wird seine Hilfe im Kampf gegen den Prinz der Lügen und Kezef brauchen.« »Mein Haus steht allen offen«, erwiderte Oghma ausdruckslos, »aber Maske trachtet von Natur aus danach zu verfinstern, den Verstand durch die Schatten der Unwissenheit zu trüben. Es hat nie wirklich Frieden zwischen uns gegeben.« Er ließ die Angelegenheit mit geübter Lässigkeit fallen. »Also, was war nun mit Kezef?« Während sie unter dem Türbogen hindurch in Oghmas Thronsaal ging, erklärte Mystra, was sich im Pandämonium ereignet hatte. Die Bibliothek im Zentrum des Hauses des Wissens war grenzenlos, voller Regale, so hoch das sterbliche oder unsterbliche Auge reichte. Die Getreuen des Binders verbrachten Jahrtausende damit, jedes Bißchen an Information zu archivieren, das sie in ihrem Leben erhalten hatten. Andere überwachten sorgsam den stetig wachsenden Hort des Wissens der Bibliothek. Die Schatten von Barden und Schriftstellern studierten diese Bände geheimen Wissens und spannen aus den Tatsachen schillernde Geschichten und Lieder, die sowohl faszinierten als auch erleuchteten. Im Einklang mit der zakharanischen Palastfassade war
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die Bibliothek exotisch dekoriert worden. Schatten schwebten auf fliegenden Teppichen von Regal zu Regal, gewaltige Bücherstapel unsicher auf den Händen balancierend. Lesende räkelten sich in luxuriösen Kissenhaufen. Kleine Luftgeister, Dschinnlinge genannt, flitzten zwischen den Stammgästen hin und her. Die blaustichigen Elementare erfüllten den Gelehrten, die sich hier drängten, jeden Wunsch, machten Notizen, holten Speise und Trank oder suchten zahllose unbezahlbare Bände heraus. »Es war weise von Euch zu fliehen«, bemerkte Oghma. Er glitt auf seinen verzierten Thron mit der hohen Rückenlehne und rutschte dann nervös hin und her. »Ich hoffe wirklich, daß die Einrichtung bald wechselt. Eine viel zu kitschige Umgebung für meinen Geschmack. Zu viele Ablenkungen, die meine Anhänger von der Arbeit abhalten ...« Mystra winkte einem Flaschengeist ab, der eine Karaffe Ambrosia herbeischleppte. »Der übrige Kreis bespricht die Angelegenheit jetzt mit mir«, sagte sie und machte dann ein rätselhaftes Zeichen in die Luft. Unsichtbare Schutzwälle schossen um die zwei Götter herum aus dem Boden und schirmten sie gegen lauschende Ohren und spionierende Magie ab. »Ich würde ihnen gern mitteilen, daß Ihr bereit seid, gegen Cyric loszuschlagen, sobald wir den Chaoshund wieder eingefangen haben.« »Ich werde so viele Informationen über Kezef liefern, wie es mir möglich ist«, sagte Ogma. »Wenn das übrige Pantheon mich mit einigen spezifischen Informationen versorgt, nach denen ich strebe, werde ich mich mit Freuden an seine Seite stellen, um die Bestie einzufan-
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gen.« Die Herrin der Mysterien seufzte. »Das habe ich erwartet. Auch die anderen verlangen Zugeständnisse. Ich vermute, wir können das regeln.« »Von Rechts wegen können wir den Hund erst einsperren, wenn er einen Getreuen der Götter angefallen hat, und selbst wenn das geschehen ist, solltet Ihr nicht allzuschnell mit einem Abkommen rechnen«, warnte Oghma. »Als wir das letzte Mal Jagd auf Kezef machten, hat es uns fast ein ganzes Jahr sterblicher Zeitrechnung gekostet, um den Pakt auszuarbeiten. Talos ist das Problem. Er wird ganz versessen darauf sein, den Mond in die Luft zu jagen, und, nun, Ihr wart ja auf genug Ratsversammlungen, um zu wissen, wie er sich anstellt ...« Obwohl sie sich redlich bemühte, ihren Ärger zu verbergen, lief Mystra hochrot an. »Talos sagt, Lathander sei derjenige, mit dem man nicht reden könne«, knurrte sie. »Wir haben kein Jahr Zeit. Wenn Cyric Kezef freigelassen hat, hat er sich auch eine Aufgabe für die Bestie ausgedacht. Im nächsten Winter wird es zu spät sein, ihn aufzuhalten, ganz gleich, was für ein Plan das sein mag.« »Cyric steht auf einem ganz anderen Blatt, Herrin«, sagte Oghma mit einer Stimme wie tausend Klagelieder. »Ihr habt Mut bewiesen, als Ihr Euch ihm bei der Versammlung des Kreises entgegenstelltet, aber ich fürchte, meine Meinung diesbezüglich hat sich nicht geändert. Es wäre töricht, ihn offen anzugreifen. Tatsächlich wird Vorsicht geboten sein, wenn wir einen Krieg im Himmel und eine Katastrophe in den Reichen der Sterblichen verhindern wollen.« »Vorsicht?« spottete Mystra. »Wollt Ihr einfach da-
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sitzen und Eure Möglichkeiten abwägen, während Cyric den Chaoshund in Eurem Hof losläßt? Was, wenn er diese Bibliothek belagerte? Würdet Ihr dann Vorsicht walten lassen, Oghma?« »Es wäre dann keine Frage der Geduld mehr«, sagte der Binder. Der Chor in seiner Stimme war zum bedrohlichen Baßgrollen geworden. »Das Buch, das er zu erschaffen sucht, bedroht die Verbreitung des wahren Wissens, also tue ich, was ich kann, um zu verhindern, daß er Erfolg hat. Aber noch hat der Herr der Toten keine neuen Ränke gegen mich in die Tat umgesetzt.« Oghma beschwor ein Bild der Everard-Abtei herauf, eines abgelegenen, baufälligen Zufluchtsorts in den Karawanenlanden. Geisterhaft schwebte es in der Luft zwischen den beiden Göttern. »Cyrics Assassinen brauchten nur ein paar Stunden für den Ritt von Iriaebor zu diesem bescheidenen Ort«, begann der Binder. »Wenn ich mich jetzt an Eure Seite stelle, ehe der Herr der Toten offen die Hand gegen mich erhoben hat, werdet Ihr den Männern und Frauen in der Abtei Magie verleihen, um die Klingen der Meuchelmörder abzuwenden? Cyric wird sie zweifellos nach Everard und zu allen anderen Tempeln und Bibliotheken entsenden, die in meinem Namen erbaut wurden.« Er beugte sich vor und ragte über dem geisterhaften Bild der Abtei auf. »Ich müßte mich darauf verlassen, daß Ihr mir helft, meine Anhänger zu beschützen, Herrin, denn der übrige Kreis wird sagen, ich hätte mit dem Kampf gegen Cyric die Grenzen meines Amtes überschritten. Diese Angelegenheit berührt vielleicht Tyr, weil die Freilassung Kezefs einen Gesetzesbruch bedeute-
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te. Es geht den Gott des Wissens einfach nichts an.« »Wie lächerlich kurzsichtig«, rief Mystra. Sie ließ die Abtei wieder verschwinden. »Ihr laßt Verderben über jene kommen, die Euch verehren.« »Nein«, erwiderte der Binder rundheraus. »Ich diene ihnen. Wenn sie in Schlachten den wichtigsten Aspekt des Lebens sähen, verehrten sie Tempus. Sie legen Wert auf Wissen und Kunst, Herrin, und diese Angelegenheit bedroht noch nicht einmal ein einziges Notizbuch eines Historikers, einen einzigen Vers der schlechtesten sembischen Dichtkunst. Sobald sie das tut, werde ich all die Macht, die ihr Glaube mir gibt, darauf verwenden, Cyric aufzuhalten.« Ein düsteres Schweigen legte sich über die beiden Götter. »Mystra«, sagte der Binder nach einiger Zeit, »Ihr solltet wissen, daß ich in dieser Angelegenheit nichts tun kann. Sie betrifft nicht direkt das Wissen oder die Kunst der Barden. Ich sagte Euch schon im Pavillon –« »Daß die Götter beschränkter seien, als ich es mir vorstellte«, sagte sie sanft. »Eben jetzt höre ich, wieviel Wahres daran ist. Die meisten im Kreis vertreten Euren Standpunkt. Wie Ihr schon sagtet, wird nur Tyr mich gegen Cyric unterstützen, weil die Freilassung Kezefs einen Gesetzesbruch bedeutet.« Sie streckte Oghma die verwundete Hand entgegen. »Wenn Ihr erkannt habt, daß die Götter einer beschränkten Sichtweise unterliegen, warum könnt Ihr aus der Euren nicht ausbrechen? Warum könnt Ihr nicht erkennen, daß es in der Welt mehr als Dichtkunst und Historien gibt?« »Die Wahrheit zu kennen und die Macht zu haben, dementsprechend zu handeln, sind zwei verschiedene
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Dinge«, bemerkte Oghma. »Ich erkenne, daß meinem Königreich Grenzen auferlegt sind, daß meine Sichtweise nicht Eurer oder Lathanders oder Maskes entspricht – aber ich kann mir nicht vorstellen, wie jene anderen Ansichten aussehen. Ich kann mich noch so sehr anstrengen, meine Augen werden das Universum immer nur als eine weitläufige Bibliothek sehen.« Mystra ließ die Schutzwälle um den Thron herum sinken. »Ihr könnt mit dem Rest des Kreises auf eigene Faust wegen Kezef verhandeln, aber ich werde mich heraushalten«, sagte sie bitter. »Wenn es mir zufallen sollte, gegen Cyrics Irrsinn vorzugehen, werde ich meine Zeit nicht mit endlosen Diskussionen verschwenden.« Die Göttin der Magie verschwand, kurz bevor das Chaos durch das Haus des Wissens fegte. Wie jeden Tag um diese Zeit veränderte sich die Fassade des Hauses und mit ihr die Einrichtung in der Bibliothek sowie der Einband eines jeden Buches. Dennoch verblieb jeder Band an der gleichen Stelle, und jede Seite enthielt die gleichen Fakten wie zuvor, nur daß sie in einer anderen Schrift oder in andersfarbiger Tinte geschrieben waren. Oghma schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie die Welt aussähe, wenn dieser Kreislauf durchbrochen würde, wenn die Welle des Chaos das Haus des Wissens nicht veränderte, sondern zerstörte. Er schaffte es nicht. Obwohl er wußte, daß es im Universum mehr als das gab, was in seiner Bibliothek enthalten war, sah er doch, wenn er seine Bücher und Bardengeschichten und modrigen Historien abzog, nichts als endlose Leere.
»Keine Sorge«, säuselte eine tröstende, weibliche Stimme, »wir werden uns um Kezef kümmern, bevor er Euch aufspüren kann.« Kelemvor Lyonsbane hielt die Augen geradeaus gerichtet und durchmaß weiter die weiße, öde Leere. Er bewegte die Lippen, Während er stumm seine Schritte zählte. Nachdem er tausend gezählt hatte, machte er eine genaue Drehung nach links und begann von vorn. »Ich sollte Euch den Weg mit einer Barrikade versperren«, bemerkte die unsichtbare Stimme verdrossen. »Nur, um Euch beim Zählen durcheinanderzubringen.« »Dann würde ich warten, bis Euch langweilig wird und Ihr sie wieder einreißt«, sagte Kel. Seine tiefe Stimme war, da sie im letzten Jahrzehnt kaum benutzt worden war, nur noch ein Flüstern. »Was, wenn mir nicht langweilig wird?« Kel blieb abrupt stehen. »Das wird es. Ihr könnt nichts dagegen tun.« Das darauffolgende Schweigen verriet dem Schatten, daß er recht hatte. Mit einem Siegeslächeln setzte er seinen Marsch fort. Wie an jedem Tag der letzten zehn Jahre schritt Kelemvor Lyonsbane die Grenzen seines Gefängnisses ab. Nicht, daß es irgendwelche Mauern in der weißen Leere um ihn herum gab, aber Kel wußte, daß er ganz sicher verrückt werden würde, wenn er sie nicht für sich selbst erschuf, und so machte er mit regelmäßigen, militärischen Schritten einen sorgfältigen Rundgang. Der Raum, den er bewohnte, maß auf jeder Seite tausend Schritte
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und hatte Fenster in der Mitte jeder Wand. Es gab natürlich keine Türen, und die Decke war außer Reichweite. Gelegentlich sprach sein unsichtbarer Gefängnisaufseher mit ihm oder erschien als Frau, Mann oder Tier. Kelemvor tat diese geisterhaften Erscheinungen aber als unwirkliche Unterhaltungen ab, die nicht greifbarer waren als die Erinnerungen an Mitternacht, die manchmal in der formlosen Leere um ihn herum Gestalt annahmen. Er ließ sich von ihnen nie lange ablenken; sich mit dieser Art von Chaos einzulassen würde ihn zerbrechen, und Kel war entschlossen, seinem Häscher den Sieg nicht so leicht zu überlassen. »Cyric sucht Euch schon verzweifelt«, sagte die Stimme. »Verschwindet«, erwiderte Kel, ungerührt von dem offensichtlichen Drängen. »In einer Stunde werde ich darüber nachdenken, Cyric bei lebendigem Leibe zu häuten. Wenn Ihr dann wiederkommt, können wir miteinander sprechen.« »In einer Stunde? Was hat Zeit für eine Bedeutung für Euch? Es gibt hier keine Sonne, keine Sterne ...« Als der Gefangene eine Antwort schuldig blieb, fügte die Stimme hinzu: »Ihr habt länger durchgehalten, als ich dachte, aber ich glaube, Ihr seid endlich übergeschnappt.« »Ich kann die Zeit genau wie meine Schritte zählen«, sagte Kel. Er blieb erneut stehen und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. »Also, Ihr solltet inzwischen wissen, daß nichts von dem hier funktioniert. Wenn ich der Folter widerstehen konnte, als ich noch lebte, warum sollte sich dann etwas geändert haben, nur weil ich tot bin? Ich habe keinen Hunger. Ich brauche
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keinen Schlaf. Wenn es in Eurer Absicht läge, mich auf die Folterbank zu verfrachten oder mir die Augen auszubrennen, dann hättet Ihr es mittlerweile getan.« »Ich dachte, Ihr würdet das von Kezef wissen wollen.« »Ich muß nicht wissen, ob Ihr vorhabt, ihn aufzuhalten«, murmelte Kel. »Was Cyric betrifft, so werde ich in etwas weniger als einer Stunde über ihn reden. So sieht mein Zeitplan aus. Ihr solltet ihn inzwischen kennen.« Damit nahm er seinen Marsch wieder auf. Kel schritt die übrige Wand ab. In der letzten Ecke machte er eine halbe Drehung und ging zur Mitte des Gefängnisses. Dort richtete er sorgfältig seine Kleidung. Beim Abklopfen seiner hohen Lederstiefel und der groben Beinlinge, der ärmellosen weißen Tunika und des braunen Wollmantels hielt er nur inne, um sich – wie jeden Tag – darüber zu wundern, daß ein Toter sich im Leben nach dem Tode bekleidet wiederfand. Zu Lebzeiten hatte Kelemvor sich nie gefragt, ob Seelen nackt herumliefen oder nicht. Solche philosophischen Nebensächlichkeiten hatten für ihn keine Bedeutung gehabt, nicht, während er seine Tage damit verbrachte, Riesen ihrer Schätze wegen zu bekämpfen oder Karawanen vor plündernden Gnollen zu schützen. Das war die Art unnützer Trivialitäten, um die sich eierköpfige Priester wie Adon Gedanken machten. Kelemvor seufzte. Nun waren sie zum Inhalt seines täglichen Lebens geworden. Mit derselben Sorgfalt, die er bei seiner Kleidung hatte walten lassen, fuhr sich der Schatten mit den Fingern durch das lange schwarze Haar und glättete Schnurrbart und Koteletten. Seine harten Züge fühlten sich derb an.
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Manche Frauen hatten ihn zu Lebzeiten für gutaussehend gehalten; zumindest Mitternacht schien so von ihm gedacht zu haben. Wie immer gestattet Kel es sich, in der Erinnerung an das wunderschöne Gesicht der Magierin und an ihren geschmeidigen Körper zu verweilen, aber nur für einen Augenblick. Schließlich warf er sich den Mantel über eine Schulter. Mit zögernden Fingern griff der Schatten sich an das rechte Schulterblatt, um das gezackte Loch in seiner Tunika und die klaffende, blutleere Wunde darunter zu ertasten. Wie immer sandte die leichteste Berührung einen pochenden Schmerz durch sein gesamtes Wesen. Kel machte der Schmerz nicht das geringste aus. Es war zu einer Art Signal für ihn geworden, etwas, das einen Teil seiner Seele ansprach, den er ansonsten sorgsam im Zaum hielt. Durch die geöffneten Schleusentore seines Geistes strömten Bilder von den letzten Augenblicken in Kelemvors Leben wie eine Flutwelle dunklen, giftigen Wassers: die Schlacht gegen Myrkul oben auf dem SchwarzstabTurm; die Niederlage, die Mystra dem Herrn der Knochen beigebracht hatte; die freudige Rückkehr Adons, den sie alle von Cyric erschlagen glaubten und Cyrics plötzlicher Angriff aus dem Hinterhalt ... Der Schmerz breitete sich aus und wogte durch Kelemvors Körper. Eine einzelne Erinnerung ritt klarer als alle anderen auf der Krone der bitteren Flutwelle – Cyric, wie er lachend sein Schwert in Kels Rücken trieb. »Die Stunde ist vorbei«, grollte Kel. »Ich bin bereit, über diesen niederträchtigen Bastard zu reden, und über Rache ...«
Worin Cyric seinem Buch der Lügen ein weiteres Kapitel hinzufügt, der Chaoshund der verschlungenen Spur von Kelemvors Leben folgt und der Schwarzstab-Turm sowohl in Tiefwasser als auch im Reich des Himmels erneut zum Gegenstand von allerlei Tratsch und Spekulation wird. Rinda rieb sich den Schlaf aus den Augen und stützte das Kinn in die Hände. Zunächst hatte Cyric sie täglich zur Hochsonne in den Laden des Pergamentmachers rufen lassen. Jetzt verlangte er zu immer ungewöhnlicheren Zeiten nach ihr – zur Abenddämmerung, um Mitternacht und nun zur Morgendämmerung. Auch lagen zuweilen Tage zwischen den Besuchen; er hatte ihr seit fast zehn Tagen kein weiteres Kapitel für die Cyrinishad diktiert. Müde vor Erschöpfung und Depression ließ Rinda den Kopf erneut auf den Schreibtisch aus Eichenholz sinken. Der faule Geruch des schlecht durchlüfteten Ladens, das stinkende Wasser und die verrottenden Häute machten ihr nicht das geringste aus. Sie hatte sich an solche Unannehmlichkeiten gewöhnt, genau wie an die Spione der Kirche, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, oder an Fzoul und die anderen Verschwörer, die ohne
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9 [ NICHTS ZU BEFU..RCHTEN ]
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Vorwarnung in ihrem Haus auftauchten. Ohne große Begeisterung vertrieb Rinda die Gedanken an Verrat und Das Wahre Leben Cyrics aus ihrem Kopf. Für einen Moment fragte sie sich, was für ein Chaos entstünde, falls der Herr der Toten diese gefährlichen Vorstellungen entdeckte. Würden Fürst Fzouls Schutzpatron mit der Harfenstimme und die anderen ihr zu Hilfe eilen? Wahrscheinlicher war, daß die mysteriöse Gottheit sie tot umfallen ließe, bevor Cyric ihr irgendwelche Informationen entlocken konnte. Sie hatte jedoch nie einen bestimmten Gott verehrt, so daß ihre Seele geradewegs in Cyrics Reich landen und er die Informationen trotzdem erhalten würde, die er begehrte. Mit einem zitternden Seufzen schloß Rinda die Augen. Die kühle Schreibtischplatte unter ihrer Stirn fühlte sich gut an. Sie dachte nur noch an dieses Gefühl, während sie dem Abgrund des Schlafes immer weiter entgegentrieb ... »Wir werden anfangen, sobald du bereit bist.« Rinda fuhr in ihrem Stuhl mit der hohen Lehne auf. Cyric stand neben ihr, ein Lächeln auf den hageren Gesichtszügen, die Arme lässig über einem Wappenrock verschränkt, auf dem sein eigenes heiliges Symbol prangte. »Ich kann warten, wenn du ausruhen mußt«, fügte er nur mit einer Spur Sarkasmus hinzu. »Es nützt niemandem, wenn du einen T-Strich oder ein I-Tüpfelchen verpatzt. Das Buch muß vollkommen sein, schon vergessen?« »E-Entschuldigung, Magnifizenz«, platzte sie heraus. »Es ist nur so, daß –« Cyric hob eine Hand mit langen Fingern. »Nicht nö-
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tig. Es mag den Anschein haben, als fehle mir jegliches Zeitgefühl, wenn ich dich rufen lasse, aber ich erinnere mich doch daran, wie es ist, Schlaf zu brauchen.« Rinda sah zu, wie der Herr der Toten zu dem gepolsterten Stuhl schlenderte, von dem aus er ihr immer seine Geschichte diktierte. Mit einer schwungvollen Bewegung seines Mantels setzte er sich. Sein Kettenhemd rasselte hell, während er einen Arm über eine weich gepolsterte Armlehne hängen ließ und die gestiefelten Beine verschränkte. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragte er. »Nein«, erwiderte Rinda zu schnell. Sie nahm ihr Federmesser zur Hand und machte die Ecke eines gräßlichen Pergamentbogens aus Menschenhaut fest. Eifrig rieb sie die Seite und blies dann das Abgetragene davon. »Fertig, Magnifizenz«, bemerkte sie, rollte einen seidenen Ärmel hoch und tunkte ihren Federkiel. »So geht das nicht«, sagte Cyric. »Etwas quält dich, Rinda, und das könnte sich darauf auswirken, wie du die Geschichte niederschreibst, die ich an diesem schönen Morgen zu erzählen habe.« Er ließ seine Füße mit einem dumpfen Laut auf den schmutzigen Boden fallen und beugte sich vor. »Meine gute Laune behagt dir nicht?« »Ich bin überrascht«, gab sie unterwürfig zu. Der Prinz der Lügen klatschte in die Hände. »Ich habe allen Grund, froh zu sein«, meinte er in einem Singsang. »Eine jahrzehntelange Suche endet heute. Bei Sonnenuntergang wird die Seele Kelemvor Lyonsbanes mir gehören.« Sein Blick verklärte sich, während er in irres Tagträumen verfiel und sich tausend schreckliche Arten ausmalte, auf die er den lang verloren geglaubten Schatten begrüßen könnte.
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Rinda saß schweigend da und wartete darauf, daß der Verstand des Gottes sich wieder in den Laden des Pergamentmachers verirrte. Als sie das spitzbübische Leuchten bemerkte, das in Cyrics Augen zurückgekehrt war, starrte der Prinz der Lügen sie an. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Noch etwas stimmt nicht.« Furcht ließ Rindas Herz dumpf in ihrer Brust schlagen. »Ich –« Sie schluckte und versuchte, sich zu räuspern, aber sie schaffte es nicht. Die Lügen kamen schmerzhaft heraus, als seien die Worte selbst mit Nägeln besetzt. »Ich bin einfach nur müde, Magnifizenz, und fühle mich ... der Aufgabe nicht gewachsen.« Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich langsam auf Cyrics dünne Lippen. »Wir fühlen uns machtlos?« Er erhob sich und kam zu ihr. Mit einem Finger hob er ihr Kinn, bis sich ihre Blicke trafen. »Fühlst du dich wie eine Marionette?« Ihre Seele erstarrte unter diesem Blick. »Ja«, flüsterte sie, obwohl sie nicht wußte, wie sie es fertiggebracht hatte. Cyric lachte, und der rauhe Klang war voller Spott. »Das ist ganz allein deine Schuld«, sagte er und rauschte dann zurück zu seinem Stuhl. »Du hast dich dem Schicksal ergeben. Nicht ein einziges Mal hast du Einspruch dagegen erhoben, diesen Band zu verfassen.« »A-Aber Ihr habt doch schon gesagt, Ihr würdet mich vernichten, wenn ich das Buch nicht für Euch schriebe.« »Natürlich«, sagte der Prinz der Lügen. »Solange du aber Angst vor dem Sterben hast, wirst du eine Marionette bleiben.« Rinda nickte und nahm den Kiel erneut zur Hand.
»Furchtlos zu sein gibt dir die Macht über jede Kraft im Universum«, bemerkte er pedantisch, während er sich die Fingernägel mit einem dünnen Dolch reinigte. »Außer vor mir natürlich. Furcht beruht hauptsächlich auf der Angst vor dem Unbekannten, und es wird dir nie gelingen, dir ein vollständiges Bild von den Schrecken zu machen, mit denen ich dich quälen kann, nachdem ich dich getötet habe. Trotzdem finde ich, du solltest den Geschichten, die ich erzählt habe, mehr Aufmerksamkeit schenken. Wie ich immer und immer wieder gezeigt habe, hat die Furcht nie mein Leben beherrscht.«
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Aus der Cyrinishad Als Cyric die Gefahren der Zentilfeste überstanden und die Meister der dortigen Diebesgilde in die Knie gezwungen hatte, zog er wieder in die Wildnis hinaus. Obwohl die beschämten Meister der Gilde gemurmelte Todesdrohungen gegen den jungen Mann ausstießen, sorgte er sich nicht und weigerte sich, auch nur einen Moment seines Schlummers durch ihre vagen nächtlichen Schrecken stören zu lassen. Obgleich er erst sechzehn Winter zählte, wußte Cyric, daß er, wenn er sich einmal vor dem Götzenbild der Furcht verbeugte, jenem finsteren Altar in Ewigkeit die Lehnstreue schwören würde. Acht Jahre reiste Cyric umher, lernte die Lebensweise abgeschiedener Völker kennen und entzifferte deren Mythen auf der Suche nach den wahren Gesichtern, den wahren Schwächen der Götter. Die verängstigten Gott-
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heiten und die Meister der Gilde schlossen sich zusammen und entsandten während dieser Zeit Assassinen gegen ihn. Jeder einzelne von ihnen kostete den tödlichen Stahl von Cyrics Klinge und wurde schreiend in den Hades geschickt. Zu diesem Zeitpunkt war es für Cyric schwierig geworden, sich unerkannt durch die Städte Faerûns zu bewegen. Die fortwährenden Schlachten gegen die von Tyrannos und Myrkul gesandten zentischen Agenten lenkten zuviel Aufmerksamkeit auf ihn. Also kehrte er ein letztes Mal in die Zentilfeste zurück. Der junge Mann hatte vor, die Meister der Gilde und die Patriarchen der Kirchen beider Götter umzubringen. Mitten in der finstersten Nacht des Jahres klomm er über die schwarzen Mauern der Feste. Die neun Meisterdiebe wurden am nächsten Morgen mit durchschnittenen Kehlen aufgefunden. In der darauffolgenden Nacht ereilte die korrumpierten Priester Tyrannos’ und Myrkuls das gleiche Schicksal. Doch gab es noch eine letzte Aufgabe, die Cyric erledigen mußte, bevor er die Zentilfeste verließ: Die dunklen Götter, die so darauf erpicht waren, ihn tot zu sehen, hatten geschworen, seinen Vater zu beschützen, der sie in der Vergangenheit gegen seinen Sohn unterstützt hatte. Er hatte diesen Heuchlern gute Dienste geleistet, aber Cyric wollte beweisen, daß kein Todfeind seiner Klinge entkommen konnte. Die magischen Schutzwälle, die Tyrannos und Myrkul um Cyrics Vater herum errichtet hatten, sollten sie vor jedem warnen, der danach trachtete, ihrem getreuen Agenten ein Leid zuzufügen. In ihrer Torheit erkannten
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sie jedoch nicht, daß sich Cyric ohne die schweren Ketten des Schicksals um seinen Hals lautlos und für sie unsichtbar bewegen konnte. Er erschlug seinen Vater und hinterließ ein Zeichen, an dem die Götter ihn erkennen sollten – den Schädel in der dunklen Sonne; das Symbol, das eines Tages sein heiliges Symbol sein sollte. Cyrics Krieg gegen die Götter hatte begonnen. Seine Freiheit vom Schicksal machte ihn für die Götter unsichtbar, wie auch seine Freiheit von der Furcht ihn zu einem unbesiegbaren Gegner machte. Doch wußte Cyric, daß er Waffen brauchen würde, um die heuchlerischen Mächte von ihren himmlischen Thronen zu stoßen, und so kam es, daß er sich auf die Suche nach einem der mächtigsten Artefakte machte, von denen die Sterblichen wissen: den Ring des Winters. In das Große Graue Land Thar, Heimat von Drachen und anderen furchtbaren Bestien, kam Cyric. Nur mit einem gewöhnlichen Schwert und der Verschlagenheit eines Dutzends von Elfen bewaffnet, suchte er in den Höhlen der Frostriesen nach dem Ring. Dort fand er sich in der Rolle des Retters einer Bande Söldner und Strauchdiebe wieder, die sich auf der Suche nach Schätzen in das Reich der Riesen vorgewagt hatte. Nachdem Cyric fünf der ungeheuren Riesen erschlagen hatte, riefen sie ihren Gott an, ein mächtiges Elementar aus einer frostzerfressenen Schicht des Abyss. Das Eiswesen konnte, wie die Götter Faerûns, Cyric den Schicksalslosen nicht sehen. Diese Schwäche nutzte der junge Krieger zu seinem vollsten Vorteil und verwundete den Eisgott schwer, ehe der sich schließlich in die kalten Hallen seines Palastes im Abgrund zurück-
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zog. Die verbliebenen Riesen flohen angesichts der Niederlage ihres nichtmenschlichen Herrn, worauf Cyric lernte, den Anführer seiner Feinde immer zuerst anzugreifen. Obwohl der Ring des Winters in jenen Höhlen aus Eis und Stein nirgends zu finden war, machte sich Cyric an jenem Tag eine andere Art von Waffe zunutze – den Krieger Kelemvor Lyonsbane. Von den Söldnern, die er gerettet hatte, lebte nach der Schlacht gegen die Riesen nur noch Kelemvor. Jahrelang folgte der ungeschlachte Söldner seinem Retter auf den Fersen wie ein anhänglicher Hund. Obwohl Cyric es zunächst ablehnte, die Verehrung dieses Narren zu empfangen, wurde ihm bald klar, daß Kelemvors Stärke andere dazu bewegen würde, sich um ihn wie um eine Fahne auf einem rauchenden Schlachtfeld zu versammeln. Eine Zeitlang verdiente der Krieger sich seinen Lebensunterhalt, indem er Nahrung auftrieb und nach Meuchelmördern Ausschau hielt, doch erwies er sich als blind gegenüber Cyrics Vision von der Welt. Dutzende von Ängsten ketteten ihn ans Mittelmaß. Wäre Kelemvor klug genug gewesen, beiseite zu treten, wäre Cyric weitergereist und hätte sein Glück allein gesucht, doch der verfluchte Söldner erwies sich als noch hinterhältiger als die heuchlerischen Götter selbst. So kam es, daß Kelemvor Lyonsbane, der erste Sterbliche, der Cyric verehrte, auch zu seinem erbittertsten Feind auf Erden wurde ...
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Der Chaoshund durchsuchte die verlassenen Hallen der Lyonsbane-Feste und beschnüffelte geräuschvoll den Boden mit seiner schwarzen Schnauze. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er den Anfang von Kels Lebensspur fand. Dann könnte er diese Jagd hinter sich bringen und die saftigen Weidegründe des Himmels einer Gottheit überfallen. Das Haus der Natur, Chaunteas Reich, wäre ein guter Anfang. Die Druiden der Großen Mutter waren immer ein wohlgenährter Haufen und nie besonders gut darin gewesen, sich zu verteidigen. Zu beschäftigt damit, Bäume zu umarmen, um den Schwertkampf zu üben, knurrte der Hund. Ein scharfer Geruch, der in der Luft lag, erregte Kezefs Aufmerksamkeit. Er kauerte sich tief in den Schutt. Hier war er – der Anfang eines Lebens und das Ende eines anderen. Cyric hatte gesagt, Kelemvors Mutter sei bei der Geburt gestorben. Mit einem wahnsinnigen Heulen begann der Chaoshund, die Lebensspur zu verfolgen. Kezef raste durch die Lyonsbane-Feste und folgte dem Weg der frühen Jahre Kelemvors. Hätten noch Sterbliche die Burgruine bewohnt, hätten sie den Chaoshund nur als einen flüchtigen Schatten wahrgenommen. Kezef verlor seine Körperlichkeit, wenn er rannte; ein geisterhafter, verschwommener Fleck, der einen anhaltenden Geruch von Verfall sowie eine unbestimmte Furcht vor dunklen Ecken und Geheul in der Nacht hinterließ. In wenigen Stunden durchreiste er die ersten dreizehn Jahre des Jungen. In dieser Zeit überschnitt sich die Spur mit ein paar anderen – Brüder, Diener und ein Vater, der mit jedem Tag fetter und unausstehlicher wurde. Der
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Hund konnte vieles aus diesen gewaltsamen Zusammentreffen der Wege und dem schweren, schwankenden Schritt des vor langem verschwundenen Pfades des Alten ablesen. Selbst nach mehr als vier Jahrzehnten konnten jene kleinen Hinweise den erstaunlichen Sinnen Kezefs nicht verborgen bleiben. Ein Aufeinanderprallen auf dem Weg loderte besonders und stank nach Haß. Für den Chaoshund war es ein angenehmer Geruch, und er hielt inne, um ihn zu genießen. Kezefs Körper nahm wieder Substanz an, während er stand. Seine madenverseuchten Pfoten brannten ihre Abdrücke in den Fußboden. Kel hatte gegen seinen Vater hier gekämpft, in der modrigen Bibliothek. Der alte Säufer war dabei gewesen, ein Frauenzimmer zu verprügeln, das nicht viel älter gewesen war als sein Sohn. Der Junge war ihr zu Hilfe geeilt, war dem Krieger aber nicht gewachsen gewesen. Kel hatte sich selbst ein paar Schläge eingefangen. Dann war etwas Furchterregendes geschehen ... Ein scharfer Geruch von Todesangst hing über der Szene wie der Duft einer unter der Sonne aufgedunsenen Leiche. Kezefs gereizter Schwanz rollte sich dankbar zusammen, während er tief einatmete. Ein neuer Pfad ersetzte den des Jungen. Er roch moschusartig und ungezähmt, wie der Geruch einer Wildkatze. Ein Tiger? Der Chaoshund schnüffelte an den zerfallenden Teppichfetzen, die unter dem schon lange zerbrochenen Fenster liegengeblieben waren. Ein Panther. Kelemvor Lyonsbane war eine Werbestie gewesen, ein Lykanthrop. Die Stelle, an der die Verwandlung vonstatten gegangen war, wies die Berührung uralter
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Zauber auf, eines Fluchs, mit dem die Lyonsbanes vor langer Zeit belegt worden waren – und eines tödlichen Fluchs obendrein, wenn Kezef das Ende der Spur des Alten richtig interpretierte. Der Hund verzog die zerfetzten Lippen über den schwarzen Zähnen zu einem ekelerregenden Lächeln; noch immer waren Blutspritzer zu sehen, die von den Dielen aufgesaugt worden waren. Die Spur führte dann aus der Lyonsbane-Feste hinaus und kehrte nie wieder zurück. Kezef folgte dem sich windenden Pfad frohlockend, während er sich immer weiter schlug, weg von der Platzangst verursachenden alten Burg, aufs Land hinaus, das in Zwielicht gehüllt war. Er wurde von den Spuren des Jungen und einer Gruppe Erwachsener ersetzt – Abenteurer, dem kalten Geruch von Kettenrüstung und Schwertklingen nach zu urteilen –, die ihn offenbar bei sich aufgenommen hatten. Kezef wurde übel von dem widerwärtig süßen, leichtsinnigen Glück, das über der Spur lag, aber der krankmachende Geruch verflog bald. Einer von Kelemvors rohen älteren Brüdern lief der Gruppe über den Weg; nach dem Kampf setzte allein Kel davon, verwundet und einmal mehr in Tiergestalt. Nach der Schlacht suchte der junge Mann viele der größeren Städte in den Herzlanden auf, blieb aber immer nur wenige Wochen. Er war ein wandernder Söldner geworden, und an dem Gewicht und der Festigkeit seines Schritts konnte der Hund erkennen, daß seine Stärke es leicht mit der seines tierischen Alter ego hatte aufnehmen können. Die Lebensspur Kels erzählte von ereignislosen Abenteuern und Einsamkeit über lange Strecken, harten Wintern in der Wildnis und glühend heißen Sommern in
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überfüllten, wimmelnden Städten. Kezef folgte ihm an diese Stätten und an tausende andere. Noch Tage danach waren die Städte, in die Kezef auf seiner Suche kam, von furchtsamem Gemurmel erfüllt. Selbst die wildesten Krieger erwachten schreiend, wenn der Chaoshund unter ihren Fenstern vorbeilief. Viel häufiger jedoch blieben die Alpträume, die Kezef verursachte, undeutlich – sehr zur Freude der Nachtschlange, die zusammengerollt in ihrer Höhle im Hades lag. Erst als die Jagd den Chaoshund ins Große Graue Land Thar und zu einer Höhle oben auf einem steilwandigen Plateau führte, verlangsamte er seinen blitzschnellen Schritt. Die Spuren vieler Menschen, Elfen und Zwerge führten zu dieser abgelegenen Höhle; zu viele, als daß sie lediglich ein gewöhnlicher Unterschlupf in der eisigen Wildnis sein konnte. Der süße Gestank uralten Todes verweilte dort, und die Schwärme von Aaskrähen oben im Himmel verrieten, daß es auch frische Leichen gab. Die Höhle war riesig; Stalaktiten und Stalagmiten aus Eis glitzerten überall. Kel war mit acht Männern hineingegangen, für eine Schlacht bewaffnet und gerüstet. Die Höhle war nach wie vor das Heim eines Clans von Eisriesen. Als Kezef in die Höhle schlüpfte, war ein Dutzend der ungeheuren Scheusale um einen Kristallaltar versammelt. Eine gedrungene Statue auf dem roh behauenen Sockel leuchtete blaugrau in der mitternächtlichen Düsternis. Die Riesen brüllten Gebete zu irgendeinem unmenschlichen Gott aus dem Abyss, einem Frostelementar, dem Kezef vor langer Zeit ein- oder zweimal begegnet war.
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Kelemvor hatte hier mit Riesen und auch mit dem Frostelementar gekämpft. Es war eine wilde, gewalttätige und blutige Auseinandersetzung gewesen, und die acht Gefährten des Kriegers waren nach einem hitzigen Gefecht zwischen ihnen und den Riesen kurz nacheinander abgeschlachtet worden. Nur Kel überstand den Kampf unverletzt, nachdem er selbst drei der massigen Scheusale niedergestreckt hatte. Indem er floh, überlebte er, um den Kampf später fortzusetzen. Ein zerlumpter Mensch, der während der Schlacht aus der Gewalt der Riesen befreit worden war, folgte dem Söldner auf dem Fuße. Kezef beschnüffelte die Spur des Gefangenen und bellte ein wildes Lachen. Der Prinz der Lügen! Der dünne, hungrige Mann, der an Kels Seite aus der Höhle davongerannt war, war der Prinz der Lügen gewesen – damals noch sterblich, selbstverständlich, aber nichtsdestotrotz der Prinz der Lügen. Mit einem heiteren Heulen schoß der Chaoshund aus der Höhle und wandte sich nach Süden. Einer der Riesen drehte sich von dem Altar weg und musterte die Finsternis mit funkelnden blauen Augen. Er hob eine schwielige Hand an die Lippen, die zum großen Teil von einem schmutzigen Bart verdeckt wurden, und sagte: »Ruhe. Irgend etwas hier drin.« »Was denn, Thrym?« fragte einer der Gefährten des Riesen. Wie ein schneidender Wind wirbelte sein Geflüster den Puderschnee von einem nahegelegenen Vorsprung. »Noch mehr Abenteurer?« Thrym griff langsam nach seiner riesigen Axt. »Nein. Etwas anderes ... ein schleichendes Etwas. Ich Gelächter
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gehört, und jetzt ich auch etwas riechen.« »Du nur riechen Leichen«, beschwerte sich ein dunkelhaariger Riese. Er stopfte sich einen stumpfen Finger ins Ohr, kratzte sich und kniff das Auge auf derselben Gesichtsseite zusammen. »Du sie zu lange am Feuer liegenlassen. Jetzt nicht mehr essen können.« Thrym zog dem dunkelhaarigen Riesen eins mit der flachen Seite seiner Axt über. Das Echo des Schlages hallte aus der Höhle hinaus und dröhnte wie Donner über das gefrorene mitternächtliche Thar. »Das nicht gut«, wagte Thrym nach einiger Zeit zu sagen. Das fettige Haar in seinem baumstammartigen Nacken richtete sich auf, und eine unbestimmte, nagende Furcht lag ihm im Magen, als habe er einen Eibenbusch gegessen. »Etwas Mächtiges uns beobachten.« »Nur Abenteurer. Magier oder so.« Der dunkelhaarige Riese grub in seinem anderen Ohr. »Vielleicht Zzutam unsere Gebete erhört und wiederkommt.« Thrym stand auf und durchsuchte sorgsam die Ecken der Höhle, obwohl er eine ungewöhnliche Furcht verspürte, als er sich zu nah an die finstersten wagte. Er fand nichts, was ihm gleichermaßen Erleichterung und Sorgen bereitete. »Hier«, sagte der schwarzhaarige Riese, als Thrym zum Gebetskreis zurückkehrte. »Vielleicht du müssen essen. Fleisch hier noch gut.« Er setzte sein bestes versöhnliches Lächeln für den Häuptling auf und bot ihm die letzten aufgehobenen Streifen des wahnsinnigen Menschen an, den Thrym selbst vor ein paar Wochen erschlagen hatte.
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Tiefwasser konnte sich vieler erhabener Gebäude rühmen, sowohl uralter als auch moderner, doch wenige boten so viel Stoff für Klatsch wie der SchwarzstabTurm. In der Heimstatt des Zauberers Khelben Arunsun wurden oft die königliche Familie und Forscher von großer Berühmtheit untergebracht. Viele in ganz Faerûn suchten Khelbens Rat in Angelegenheiten des Staates und der Zauberei, und aus diesem Grund gab es im Schwarzstab-Turm keine Türen und keine Fenster. Die schmucklose Fassade brachte Möchtegern-Magier und junge Abenteurer davon ab, zu allen möglichen Zeiten hereinzuschneien. Nach ein paar Bechern Met pflegte Khelben für gewöhnlich jedoch zuzugeben, daß er die Türen vor allem deshalb versteckt hielt, weil er das ge-
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Später, nachdem er das Gebet an Zzutam beendet und das letzte gesalzene Fleisch verschlungen hatte, träumte Thrym von einer schrecklichen, beunruhigenden Auseinandersetzung. Ein hagerer Mann mit Hakennase führte hundert Höllenhunde an, denen aus allen Mäulern Flammen schlugen. Die Bestien trieben die Riesen aus ihrem Heim und bei einer schwarzen Wand in die Enge. Die verzauberten Steine waren zu hoch, um sie zu überspringen und zu glitschig, um an ihnen hinaufzuklettern. Die vage Erinnerung an den Traum verfolgte Thrym tagelang, erfüllt von dem grausamen Gelächter des hakennasigen Mannes und dem Knurren der Höllenhunde, als sie begannen, die in der Falle sitzenden Frostriesen zu zerreißen ...
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heimnisvolle Flair mochte, das seine Wohnung dadurch erhielt. Als sich die Morgendämmerung warm und rosig über den Horizont breitete, ereigneten sich Dinge auf dem flachen, kreisrunden Dach des Turmes, die zu neuen Geschichten und wilden Gerüchten führen sollten. Ein Zauber, der weit über die Fähigkeiten Khelben Arunsuns – und der meisten sterblichen Zauberer – hinausging, verbarg die unheimlichen Lichtblitze und gerufenen Beschwörungen, die von dem hohen Aussichtspunkt ausgingen. Die mächtigen, komplizierten Schutzzauber, die Khelben auf den Turm gelegt hatte, gaben nicht den kleinsten Hinweis auf die Anwesenheit des gefährlichen Eindringlings. Ahnungslos brütete der Erzmagier in seiner Bibliothek über einem modrigen Band vergessener Überlieferungen. Selbst wenn Khelben die Verzauberung abgeschüttelt hätte und über den geheimnisvollen Fremdling gestolpert wäre, hätte er seinen Augen nicht getraut. Die meisten weitgereisten Leute in Faerûn konnten Fürst Schach auf den ersten Blick erkennen; der geckenhafte Herrscher der Zentilfeste hatte eine Schwäche dafür, sein Ebenbild auf alles drucken zu lassen, von Zollmarken bis hin zu Notenblättern. Wenn eine Ware aus der Stadt, in der er herrschte, stammte oder auch nur durch sie durchkam, konnte man irgendwo darauf ein Bild von Schach mit einem dümmlichen Lächeln über einem dicken Doppelkinn finden. Dennoch war es wahrhaftig Fürst Schach, der unbeobachtet oben auf Khelbens Turm saß und geheimnisvolle Runen auf vier Wyvernenschädel zeichnete. Als er seine
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Aufgabe vollendet hatte, legte der Adlige die grinsenden Knochen auf die Punkte des Kompasses, der sorgfältig ins Dach eingraviert war. Schließlich richtete sich Fürst Schach auf und faltete die fleischigen Hände über dem Wanst. »Würdet Ihr mich jetzt gehen lassen, bitte?« murmelte er. »Es ist fast fertig. Genau, wie es die Anweisung auf dem Pergament vorschreibt.« Natürlich nicht, Schach, murmelte eine glatte Stimme in seinem Verstand. Ich brauche die Hilfe eines Sterblichen, um diese Bestie einzufangen. Ihr werdet frei sein, wenn die Schlacht gewonnen ist. Von der geheimnisvollen Macht getrieben, die ihn in Besitz genommen hatte, ging Schach mit stolpernden, zögerlichen Schritten zur Mitte des Daches. Dort überprüfte er noch einmal die drei dicken Kerzen, die in einem kleinen Halbkreis angeordnet waren. Ja, sie brannten noch und waren noch immer nach der Falltür ausgerichtet, die aus dem Turminneren heraufführte. Er nahm ein kleines Glas Spinnenblut und zeichnete eine Rune, die schon uralt gewesen war, lange bevor die sagenhafte Stadt Myth Drannor gefallen, lange bevor Tiefwasser ein unbedeutender Handelsposten am Rande des gefrorenen Nordens gewesen war. Seine Hand zitterte, als er die Rune vollendete; aber nicht stark genug, um ihre Anmut oder ihre Wirksamkeit zu beeinträchtigen. N bitte. Das war doch gar nicht so schwer. »Ich habe Angst«, jammerte Schach. »Wenn Cyric herausfindet –« Ihr habt darum gebetet, daß jemand für Leiras Tod Rache an Cyric übt, Schach. Ich habe Euch erhört, und
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nun, nachdem ich Euch Gelegenheit gegeben habe zu helfen, ist alles, was Ihr mir zu sagen habt, daß Ihr Angst habt? »Aber ich habe Angst. Wenn ich sterbe, bekommt Cyric meine Seele.« Schach fiel auf die Knie, und seine Kniehosen aus feiner Seide kamen dem Kreis um die Rune gefährlich nahe. Er hob die Hände, verbarg sein Gesicht darin und weinte. »Er wird es wissen. Er wird mich ansehen und wissen, daß ich ihn hintergangen habe.« Ich werde Eure Seele in mein Reich bringen, tröstete ihn die Stimme. Cyric wird Euch dort nicht finden, es sei denn, ich lasse es zu. Fürst Schach war kein mutiger Mann, aber er war auch kein Dummkopf. Er erkannte die Drohung in den Worten; es war nun zu spät, um umzukehren. »Was soll ich als nächstes tun?« Nehmt das Pergament heraus und wiederholt die letzte Wendung. Während er sich die Tränen wegwischte, zog Schach das leuchtende Blatt aus Mondlicht aus seinem aufgebauschten Ärmel und las den letzten Vers des Zaubers vor: »Ein Mensch löscht aus die erste Flamm’. Ein Gott bläst aus die zweite dann. Verräterblut ertränkt die letzte. So spinnen sich Intrigennetze.« Das Pergament zerfiel und zerrann zwischen Schachs Fingern wie die Strahlen des Mondes. Das Leuchten der zerrissenen Seite legte sich über die Schädel und die Kerzen. Einen Augenblick später schwand das Licht, und
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mit ihm verschwand der seltsame Kompaß, der in die Bretter eingebrannt gewesen war. »Dieser dritte Teil stört mich immer noch«, murmelte Schach. »Warum Blut?« Weil es der Zauber so will, sagte die Stimme. Ihr habt den Dolch. Alles, was Ihr tun müßt, ist, Euren Daumen zu ritzen. Ein wenig Blut reicht schon ... »Er kommt«, krächzte der Wyvernschädel im Süden. »Der Chaossshund kommt von Sssüden.« Keinen Moment zu früh fertig geworden, sagte die Stimme. Schnell, Schach, hinter die Kerzen. Er kommt genau von dort, wo wir es erwartet haben. Vergeßt nicht: Die erste und die dritte Kerze liegen in Eurer Verantwortung. Der dicke Mann eilte zu der Stelle, die er mit dem alten Zeichen markiert hatte, und stellte seine pantoffelbewehrten Füße vorsichtig auf die Rune. Schach war so beschäftigt damit, seine Zehen im Schutzkreis zu halten, daß er nicht sah, wie Kezef körperlos wie ein Geist durch die Falltür glitt. Der Hund kauerte vor dem unerwarteten Hindernis, dem er sich gegenübersah, und knurrte wie ein Dutzend hungrige Wölfe im Winter. Sein Körper nahm wieder Substanz an und wurde ganz verwest und madenverseucht. »Glaubt nicht, daß Ihr mich zum Narren halten könnt, Maske, indem Ihr Euch in einer solchen Rüstung aus aufgedunsenem Fleisch versteckt.« Kezef begann, auf Schach zuzuschleichen, während er seinen Schwanz zwischen die knochigen Beine gerollt hielt. »Ich konnte Euch auf riesige Entfernung riechen. Sagt, wie lange
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glaubt Ihr, Cyric noch mit Eurem kleinen Spielchen täuschen zu können? Ich habe Euch sofort entdeckt, und ich bin kein Gott ...« Macht die erste Kerze aus, sagte er Gott der Intrige ruhig zu Schach. Mit den Fingern. Der Herr der Zentilfeste bewegte sich nicht, sondern starrte nur den wuchtigen Hund an, der auf ihn zuschlich. Das Fleisch dieses Dings näßte wie eine alte, eitrige Wunde, und seine Pfoten brannten Abdrücke in den Boden. Das Maul des Hundes war voller schwarzer, spitzer Zähne. Seine Augen schimmerten vor unirdischer Bosheit. Die Kerze, befahl Maske, die Stimme voll göttlichen Zorns. Ihr müßt sie jetzt löschen, Schach. Nachdem er die lähmende Furcht überwunden hatte, griff der Adlige hinunter zum ersten der Stäbe aus gelbem Talg. Kezef stürzte vor; aber Maske konterte, indem er Schachs Wurstfinger und wulstige Lippen zu den Handbewegungen und Beschwörungen eines mächtigen Zaubers bewegte. Der Abstand zwischen dem ungeheuren Hund und dem sich duckenden Menschen wuchs schlagartig. Ganz gleich, wie schnell Kezef rannte; er schien seiner Beute keinen Schritt näherzukommen. Schach schloß die Augen und löschte mit den Fingern die Flamme der ersten Kerze. Der Docht war aus dem Haar von Gefangenen geflochten, die von rechtmäßigen und guten Königen unrechtmäßig festgehalten wurden, und der Funke in ihm ließ sich nicht leicht löschen. Die widerspenstige Flamme verkohlte Schachs Daumen und Zeigefinger, bevor sie erstarb. Eine geschafft, säuselte Maske. Keine Angst, Schach.
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Das hier wird viel leichter sein, als Ihr – Die übrigen zuversichtlichen Worte Maskes gingen in einem ohrenbetäubenden Heulen unter, bei dem dem Adligen ein heftiger Schauder der Todesangst über den Rücken lief. Eine Welle der Verwirrung überflutete den Menschen und den Gott. Schach stolperte rückwärts aus dem Schutzkreis und hielt sich krampfhaft die Ohren zu. Kezef sprang ihn an, bevor er auch nur Gelegenheit hatte zu schreien, rammte ihn und trieb ihn fort von den Kerzen und der Schutzrune. Währenddessen hielt das Kreischen immer noch an und ließ jeden Gedanken an Verteidigung oder Flucht in einem klingenden Mahlstrom versinken. »Kommt heraus, Maske«, grollte Kezef. »Tretet mir selbst gegenüber.« Der Odem des Hundes wurde in der kalten Winterluft zum ätzenden Nebel. Die Säure spritzte über Schachs Gesicht und Brust und ätzte ihm das Fleisch von den Knochen. Nun war es Schachs Schrei, der über dem Schwarzstab-Turm ertönte, während er zuckte und sich unter dem furchtbaren Gewicht von Kezefs Vorderpfoten wand. »Ich habe bereitsss einen sssehr viel passsenderen Ssstandort ausssgewählt«, zischte einer der Wyvernenschädel freundlich. »Wissst Ihr, Kezef, Ihr sssolltet wirklich etwasss wegen Euresss Mundgeruchsss unternehmen ...« Der Chaoshund schoß davon, weg von Fürst Schach und hin zu dem Schädel, der genau auf der gegenüberliegenden Seite des Turms lag. Im Vorbeirauschen ließ Kezef die Kerzen flackern, aber ihre Dochte hielten gierig
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an den Flammen fest. Mit einem Zischen seines ätzenden Atems ließ der Hund den Schädel zerschmelzen. »Der Hunger scheint Eure Sinne zu vernebeln«, sagte Maske. Der Meister aller Diebe stand mitten auf dem Dach und hielt die zweite Kerze in der Hand. Er hob die Maske an und blies sie aus. »Also dann, Schach. Die dritte muß mit Eurem Blut gelöscht werden. Den Dolch werdet Ihr nicht brauchen. Beugt Euch einfach darüber.« Der Herr der Zentilfeste war zur Mitte des Daches gekrochen und hatte die letzte Kerze gepackt. Mit Fingern, an denen das Fleisch in zerfransten Fetzen hing, griff der Adlige nach dem Dolch, den Maske ihm gegeben hatte. Währenddessen blickte er mit etwas, das kein Gesicht mehr war, auf die flackernde Flamme. Fürst Schach war tot, bevor seine Finger das Messer umschlossen, die Arme und Hände zwischen Kezefs schwarzen Zähnen zermalmt. Die dicke Kerze flog durch die Luft und landete in einer sich ausbreitenden purpurnen Pfütze. Das Blut färbte den Talg dunkel und löschte die Flamme mit einem langen, blubbernden Zischen. »Das macht drei.« Der Kompaß, den Maske ins Dach eingraviert hatte, erschien wieder, und seine eingeritzten Rundungen und Punkte funkelten heller als das morgendliche Sonnenlicht, welches die Stadt der Herrlichkeiten überströmte. Die Linien des Musters konvergierten. Sie verschlangen Kezef wie ein riesiges Fischernetz. Ein unlösbarer Knoten schloß das Netz über Kezef, und die drei verbliebenen Wyvemenschädel verschmolzen darüber zu einem verschlungenen Siegel. Maske stand über der blutigen, armlosen Leiche des
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Adligen. »Entschuldigt, Schach, aber der Zauber verlangte wirklich sehr viel mehr als nur Euren angeritzten Daumen. Aber laßt mich Euch eines versichern: Ihr habt eure Rolle hervorragend gespielt.« Der Gott der Intrige wandte sich dem Chaoshund zu. »Wir hätten das schon beim letzten Mal benutzt, um Euch einzufangen, Kezef; aber diese erbärmlichen Tränchenverdrücker wie Mystra weigerten sich, einem Menschenopfer zuzustimmen.« Maske verwischte das Runensymbol mit dem Fuß. Die Auslö-schung der Glyphe, die Fürst Schach nie auch nur den geringsten Schutz hatte zuteil werden lassen, ließ den letzten Teil der Falle zuschnappen. Eine blutrote Flamme entzündete die letzte Kerze und ließ dicken, beißenden Qualm aufsteigen, der sich wie die Faust eines Riesen über dem Turm ballte. Die Faust schloß sich um den heulenden, um sich schlagenden Chaoshund und zog ihn geschwind in die Kerze. »Cyric!« schrie Kezef, während er in dem wächsernen Gefängnis verschwand. »Rächt mich!« »Er wird sich ganz gewiß für diese Ohrfeige rächen, aber nicht an mir.« Maske drehte die Leiche Fürst Schachs mit dem Fuß auf den Rücken. Die Säure hatte das Gesicht des Adligen verwüstet, aber es war gerade genug Fett verblieben, daß der Herr der Toten ihn identifizieren konnte. »Ich bin noch nicht ganz bereit, den Prinzen der Lügen herauszufordern; zumindest nicht ohne Verbündete.« Er berührte das versengte Fleisch am Hals des Toten, und eine silberweiße Kette entstand. Auf der Scheibe, die daran hing, waren ein Kreis aus acht Sternen und eine
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Nebelfahne, die aus ihrer Mitte entsprang, zu sehen – das heilige Symbol Mystras. »Aber Fürst Schach! Ihr wart heimliches Mitglied der Kirche der Mysterien! Verrat in Cyrics heiliger Stadt, und auch noch in den höchsten Kreisen. Tsk. Er wird enttäuscht sein ... aber ich werde Eure Seele trotzdem aufnehmen. Schließlich wollen wir ja nicht, daß Ihr Eurem ehemaligen Lehnsherrn erzählt, wie ich Euch zur Zusammenarbeit mit der Herrin der Mysterien, äh, ermutigt habe.« Ein Bogen Pergament aus Mondlicht erschien in Maskes Hand. Auf ihm stand das uralte, komplizierte Ritual geschrieben, mit dem ein Gott, jedoch nur in Zusammenarbeit mit einem Sterblichen, eine Macht wie die Kezefs in Schach halten konnte. Maske machte den im Zauber erwähnten Verräter zu einem treuen Gefolgsmann und entfernte die Notwendigkeit des Blutvergießens; er wußte, daß Cyric ihm niemals abgekauft hätte, daß Mystra Verräter umbrachte oder Unschuldige ermordete, um einen Zauber zu besiegeln. Offenbar war Schachs Tod ein bedauerlicher Unfall. Schließlich war der arme Tor von den Bißspuren des Hundes geradezu übersät. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete der Fürst der Schatten sein Werk. Ja, so paßte es hervorragend. Wenn der Schildzauber aufgehoben wurde und Cyric entdeckte, daß sein treuer Hund in einen Hinterhalt geraten war ... Maske lächelte. Der Prinz der Lügen würde nicht zögern, Mystra und der Zentilfeste gegenüber sein Mißfallen zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Gefängnis aus Talg fest in der einen behand-
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schuhten Hand verschmolz der Gott der Intrige mit den länger werdenden Schatten, die die korpulenten Überreste Fürst Schachs warfen. Das Rätsel, das er auf dem Schwarzstab-Turm hinterließ, sollte die Weisen und Klatschmäuler in der Stadt der Herrlichkeiten noch Jahrzehnte lang verblüffen. Seine Auswirkungen machten sich nur Augenblicke später im ganzen Himmel bemerkbar.
10 [ ZWEISCHNEIDIGES SCHWERT]
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Worin Cyric Nachforschungen über das Abfangen des Chaoshundes anstellt, Gwydion den Namen der falschen Person zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausspricht und die Identität von Kelemvors seltsamem Gefängnisaufseher endlich aufgedeckt wird. Cyric warf mit den beiden verbrauchten Kerzen und dem heiligen Symbol nach Jergal. Der Seneschall hob keine Hand, um die Geschosse abzuwehren und verzog auch keine Miene, als sie schmerzhaft von seinem glatten grauen Gesicht abprallten. »Natürlich ist es ein Trick!« rief der Prinz der Lügen. »Mystra ist nicht so dumm, ihr heiliges Symbol und eine Seite aus ihrem Zauberbuch am Tatort zurückzulassen. Sie ist nicht wie dieser plumpe Tölpel Torm, der ›Subtilität‹ nicht einmal buchstabieren, geschweige denn sie praktizieren kann.« Der Herr der Toten ließ sich in seinen Thron sinken. Während er das Pergament aus Mondlicht in den knochigen Fingern drehte, musterte er den abgetrennten Kopf, der etwas schief vor ihm auf dem Boden lag. Eine Menge Fett war aus dem Gesicht weggebrannt worden, aber es hatte offensichtlich Fürst Schach gehört. Kezef mit seinem ätzenden Atem war der Übeltäter gewesen;
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um das herauszufinden, brauchte man keinen Meister der Weisheit. Die eigentliche Frage war: Warum war Schach an dem Verrat beteiligt gewesen, und welcher Gott – oder welche Götter – hatten die Gefangennahme des Chaoshundes inszeniert? Der Zauber auf dem Pergament war mächtig genug, um die Bestie gefangenzuhalten, aber nur eine Gottheit wäre stark genug gewesen, Kezef festzuhalten, während Schach die Kerzen auslöschte. »Nun denn«, murmelte Cyric dem abgetrennten Kopf zu, »was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?« Fürst Schach öffnete die Augen und starrte ausdruckslos auf die Stiefelspitzen des Todesgottes. Ein zähes, blubberndes Wehklagen plätscherte über die von Säure verbrannten, blutverklebten Lippen. »Dir habe ich nichts zu sagen, Mörder Leiras.« Cyric beugte sich vor, um das verwüstete Gesicht zu mustern. Er betonte die nächste Frage, indem er bei jedem Wort mit der Pergamentrolle in die Handfläche klopfte. »Wer zieht deine Fäden, Marionette?« »Das kann ich nicht sagen.« »Du kannst nicht oder du willst nicht?« Nach kurzem Schweigen erwiderte Schach: »Der Unterschied zwischen beidem ist rein hypothetischer Natur; zumindest, was dich betrifft. Du wirst in der Angelegenheit nicht mehr von mir erfahren.« »Der Tod hat dich frech werden lassen. Wo ist der Geck geblieben, den die Welt so abstoßend fand?« »Weggebrannt wie mein Fleisch und verflogen wie meine Furcht vor dem Sterben«, murmelte Schach. »Da du nicht weißt, wo ich bin, kann auch keine neue Furcht
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von mir Besitz ergreifen.« Unter bitteren Verwünschungen ließ der Prinz der Lügen sich in seinen Thron zurücksinken. .Vielleicht gibt es andere Kreaturen wie Kezef auf den Ebenen, Wesen, die die Toten aufspüren können. Dann werde ich dir persönlich ein paar ganz neue Ängste liefern, du alberner Lakai.« »In der Tat. Es mag Spurensucher wie Kezef geben«, – Schach hätte die Achseln gezuckt, wenn sein Kopf noch auf ihnen gesessen hätte –, »aber mein Beschützer hat Tausende Kerzen, in denen er sie einsperren kann.« »Ich kann dein Bewußtsein auf diese Weise zu mir rufen, wann immer ich will.« Cyric sprang vom Thron und setzte seinen Fuß auf den abgetrennten Kopf. »Ich werde deinen Verstand in meinem Thronsaal verankert lassen und Unterhaltung von dir verlangen. Du wirst mein Hofnarr sein.« Schach lachte; ein ekelhaft wohltönender Klang. »Mein Beschützer möchte, daß ich dich an etwas erinnere: Deine Klauen reichen nicht so weit, wie du gern glaubst. Kels Seele bleibt dir verborgen. Eine weitere deinem Einfluß zu entziehen wäre sehr einfach zu bewerkstelligen.« Mit wutverzerrtem Gesicht trat Cyric den Kopf, so daß er den Thronsaal der Länge nach hinunterrollte. Das Gelächter des Toten hallte durch die gewaltige Halle und erhob sich über das Stöhnen und Wimmern der Brennenden wie ein Schiff auf einer hohen Welle in einem finsteren, weinroten Meer. Der Prinz der Lügen marschierte vor seinem Thron auf und ab. Er verschränkte die Finger so fest vor seinem Bauch, daß die langen Fin-
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gernägel Furchen in seine Handrücken gruben. Glitzernde, göttliche Energie rann aus den Wunden wie Blut. Jergal nahm das Pergament aus Mondlicht vom Thron und schwebte zur anderen Seite der Kammer. Er faltete das leuchtende Blatt und stopfte es Schach in den Mund. Cyric ging noch immer auf und ab wie ein Tier im Käfig, als Jergal zurückkehrte, nachdem er den abgetrennten Kopf zum Schweigen gebracht hatte. Magnifizenz, fragte Jergal mit einer tiefen Verbeugung, möchtet Ihr, daß ich jemandem im Pantheon eine Botschaft überbringe und sie vor Eurer Wut warne? »Ich werde das Ausmaß meiner Wut durch mein Handeln zum Ausdruck bringen und ihr Gift nicht auf irgendein formvollendetes Sendschreiben an den Kreis verschwenden«, zischte Cyric. Der Herr der Toten stampfte noch ein paar Schritte und blieb dann wie erstarrt stehen. »Seit meiner Himmelfahrt sind mir viele Mächte in die Quere gekommen. Mystra will Rache für Kels Tod. Oghma will, daß das, was er für das wahre Wissen hält, nicht von der Cyrinishad verschleiert wird. Die Getreuen Tyrannos’, Myrkuls und Bhaals – und nun auch Leiras – wollen den Sand im Stundenglas rückwärts laufen lassen und ihre törichten, gefallenen Götter wiederbeleben ... sie kommen jetzt alle zusammen, Jergal. Ich spüre es. Sie wollen mich vom Thron stürzen. Sie wollen mich des prachtvollen Königreichs berauben, das ich hier im Hades aufgebaut habe, des Königreichs, das ich in den Reichen der Sterblichen aufbauen werde.« Cyric ballte die Hände zu Fäusten und kreischte in Richtung Decke: »Ich habe zwei Häuser, und Verräter
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schleichen durch beider Hallen! Die Einwohner meiner Reiche wollen mir Kelemvors Seele nicht bringen, obwohl sie sich irgendwo in der Stadt der Zwietracht verbirgt.« Er wies wild auf den Kopf des Adligen. »Die Zentilfeste beherbergt hinterhältige Feiglinge wie Schach, obwohl ich versucht habe, den Ort zu meiner Heimstatt in Faerûn zu machen und ihn durch meine Schirmherrschaft über den Rest der Welt zu erheben!« Die Einwohner Eurer Reiche und die Sterblichen können Eurer Vision nicht teilhaftig werden, Liebster, des glorreichen Traums vom Universum, das unter Eurer Herrschaft geeint ist, sagte Götterfluch, während seine finstere Präsenz die Rage in Cyrics Geist besänftigte. Die angeblich Göttlichen wissen, daß Ihr der einzige Gott im Pantheon seid, der wahrhaftig einen Anspruch auf himmlische Macht besitzt. Sie fürchten Euch, und so kauern sie sich zusammen wie Schafe vor dem Gewitter. Jergal wand die Kette des heiligen Symbols um die Kerzen. Wenn die Götter sich zusammentun, Herr, warum sollten sie dann den anklagenden Finger auf die Hure richten? »Wahrscheinlich arbeitet sie nicht mit ihnen zusammen«, antwortete Cyric. »Oder vielleicht hat Mystra eingewilligt, die Schuld auf sich zu nehmen, weil sie weiß, daß mein Haß auf sie nicht tiefer werden könnte.« Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich wäre ein größerer Narr als Torm, wenn ich meine Zeit damit verschwendete, ihre Beweggründe zu erraten.« Wendet diese Intrige statt dessen zu Eurem Vorteil, schlug Götterfluch vor. Vielleicht könnt Ihr die Verschwörer aus den Schatten locken, indem Ihr die ganze
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Schuld für das, was dem Chaoshund widerfahren ist, scheinbar auf die Hure ladet. »Schatten ist ein gutes Wort«, murmelte der Prinz der Lügen. Er nahm Jergal die Kerzen ab und zerquetschte sie. »Diese Intrigen sind übersät mit Maskes Fingerabdrücken«, – die Bruchstücke aus Wachs fielen auf den Teppich und hinterließen die silberne Scheibe in Cyrics Hand –, »ganz gleich, wessen heiliges Symbol er zurückläßt.« Der Fürst der Schatten war Euer Verbündeter, bemerkte Jergal ausdruckslos. Er hat Euch geholfen, die Vernichtung Leiras vor dem übrigen Pantheon geheimzuhalten. Nachdem Euch der Zugang zum Gewebe verweigert wurde, hat er Euch die Arkebusen geschickt, um Euch an die Macht des Rüstungsschmiedes zu erinnern. »Es ist inzwischen klar, daß Maske seine Gründe hatte, warum er noch als unser Verbündeter auftreten wollte«, sagte der Prinz der Lügen. »Er ist ehrgeizig, unser Fürst der Schatten. Als Gott der Intrige macht er sich gut.« Der Geist Götterfluchs glitt angenehm über die Gedanken des Prinzen der Lügen. Vielleicht sollte sein Titel der nächste sein, den Ihr Euch aneignet, drängte es. Er mag im Intrigieren ein gelehriger Schüler sein, aber Ihr seid der wahre Meister. »Du bist dem Schmeicheln zu sehr verfallen«, grollte der Prinz der Lügen. Er ließ den Kommentar einen Augenblick lang bedrohlich im Raum stehen; dann wandte er sich an Jergal. »Ich werde wegen dieser Schandtat gegen Mystra hetzen, aber ich brauche eine neue Armee, die ich auf die Reiche der Sterblichen loslassen kann;
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etwas, das die übrigen Schlangen aus ihrem Nest lockt. Das Material, das ich bei Gond angefordert habe, wird reichen. Die Warenladung ist angekommen, nicht wahr?« Das Material, das Ihr beim Rüstungsschmied angefordert habt, ist eingetroffen, bemerkte Jergal. Seine Gefolgsleute haben neun Kisten am Tor abgestellt. »Perfekt. Laß die Kisten sofort herbringen.« Cyric glitt zurück in seinen Thron. Dann sagte er mit gestrafften Schultern: »Ich werde neun Schatten brauchen, um die Mechanismen des Wunderbringers zum Laufen zu bringen. Ich überlasse es dir zu bestimmen, welche der Falschen sich für meine Sache opfern werden.« Jergal verbeugte sich zum Zeichen, daß er seine Aufgabe verstanden hatte, bewegte sich aber nicht rückwärts aus dem Thronsaal, wie Cyric es erwartet hatte. Der Seneschall schwebte einen Augenblick lang zögernd vor seinem dunklen Herrn und rang nervös die Hände. »Nun?« schnauzte Cyric. E-Es gibt unzählige Dinge, die nach Eurer Aufmerksamkeit verlangen, Magnifizenz, begann Jergal stockend. Habt Ihr Euer Augenmerk in letzter Zeit auf die Ansammlung draußen vor der Knochenburg gerichtet? »Die Gruppen, die bei den Hinrichtungen zuschauen? Was ist mit ihnen?« Es gibt Unruhen unter den Einwohnern. Sie fühlen sich durch das Töten der Ihren verraten. Die Einwohner sind Eure Getreuen und – »Sollten meine Handlungen nie in Frage stellen. Wenn sie wollen, daß die Hinrichtungen aufhören, dann sollten sie Kels Seele finden«, sagte der Prinz der Lügen.
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Vorsicht, Liebster, warnte Götterfluch. Ihr habt keine Magie, die Ihr gegen einen Aufstand in der Stadt der Zwietracht ins Feld führen könntet. Weist solches Gemurmel nicht leichtfertig von der Hand. Wenn man Chess als Anzeichen für Verräter unter Euren Anhängern in den Reichen der Sterblichen sieht, fügte Jergal hinzu, könnte es sein, daß Ihr hier im Hades Überläufer von gleichem Rang findet. Der Herr der Toten überdachte die Warnungen. Er trommelte mit den Fingern auf den Thron; das stakkatoartige Klopfen wurde lauter und schneller, während er über den Ernst der prekären Lage nachdachte, in der er sich befand. »Hol’ die Kisten des Fürstes aller Schmiede, Jergal, aber erschaffe mir vorher ein Portal zum Spähen. Ich werde die Schatten selbst auftreiben, die die Vorrichtungen antreiben sollen und sie aus dem Mob herauspflücken, der bei den Hinrichtungen zusieht.« Der Prinz der Lügen grinste. »Diese Artefakte Gonds werden mir absolute Kontrolle über die Seelen gewähren, die in sie eingesperrt werden. Was wäre eine bessere Wahl als die Schatten, die die Unruhen fördern?« Jergal fuhr sich in einem schnellen, geraden Streich mit den Fingerspitzen über die Wange. Die tiefe Wunde, die zurückblieb, verriet, daß seine Nägel so spitz wie Drachenzähne waren. Gelbes Sekret quoll aus der Schnittwunde und lief an Jergals glattem Gesicht hinunter. In übelriechenden Klumpen troff das Blut zu Boden und sammelte sich in einer kleinen Pfütze. Die spiegelblanke Oberfläche der sich langsam ausbreitenden Flüssigkeit zeigte ein Bild des
Mobs draußen vor der Burg. Cyric starrte in das gräßliche Fenster und musterte die Gesichter der versammelten Schatten und Einwohner, die wiederum zusahen, wie ihre Gefährten gefoltert und vernichtet wurden. Er konzentrierte die Facetten seines ungebärdigen Verstandes auf die Menge. Mit einer Million Ohren lauschte er jedem Wort, das sie sagten. Ein gleiche Anzahl lidloser Augen sah jede versteckte Bewegung, die sie machten. Nach einiger Zeit zog der Herr der Toten Götterfluch und wies mit der Spitze auf einen Haufen nichtsahnender Schatten. Mit vor Zorn bebender Stimme flüsterte er: »Die Inquisition hat ihre ersten Ketzer gefunden – und ihre ersten Inquisitoren.«
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Skelettwächter säumten die Zinnen der Knochenburg, Piken fest in den knochigen Händen. Brutal hackten und stachen sie nach den Einwohnern, die unter ihnen an die gezackte Mauer aus Diamant gekettet waren. Fleischbrocken der Einwohner fielen ins ölige schwarze Wasser des Slith, der sich wie ein Burggraben um die kreisrunde Feste wand. In ihm gingen die Brocken in Flammen auf und versanken. Dinge schlängelten sich unter der Oberfläche entlang und verschlangen die grauenhaften Leckerbissen, bevor sie sich vollständig auflösten. Wie die Treulosen, die in der großen Mauer um die Stadt der Zwietracht gefangen waren, und die Falschen, die innerhalb der lärmenden Umzäunungen des Reiches festsaßen, waren die Einwohner aus Seelen von Sterbli-
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chen erschaffen worden. Doch wohnten nur sie aus freien Stücken in Cyrics Reich. Ihre Belohnung dafür, daß sie als Sterbliche dem Todesgott gehuldigt hatten, war eine schmerzhafte Verwandlung in eine Gestalt, die sehr viel weniger menschliches Aussehen besaß, dafür aber erstaunliche Stärke und Beweglichkeit barg, und Einwohner waren wie alle anderen Seelen auch nahezu unzerstörbar. Nur drei Dinge konnten sie unwiderruflich vernichten: die Hand eines Gottes; eine alte, ewige böse Macht wie die Nachtschlange oder der Chaoshund oder ein Ort unbeschreiblicher Verderbtheit. Der Slith fiel in die letzte Kategorie. Einige sterbliche Gelehrte behaupteten, die Quelle des Slith läge im gespalteten Herzen eines bösen Drachen, der weit unter der Erdoberfläche begraben lag. Zunächst tröpfelte er nur als Rinnsal vor sich hin, aber bald flossen seinen Wassern andere Quellen der Verderbtheit zu – die Tränen von Opfern, die zu blutüberströmten Altären geführt wurden, die Tinte, die beim Niederschreiben der Anweisungen für Meuchelmörder verschüttet wurde, der Geifer wahnsinniger Hunde und die Galle brutaler, machthungriger Monarchen. Das Rinnsal wurde zum breiten Fluß, der langsam dahinfloß und zäh von Gift und Unrat war. Er mäanderte durch die Ebenen und verpestete die Reiche, die er berührte. Ein Tropfen seines finsteren Wassers konnte jeden Sterblichen töten; tauchte man einen Schatten in den Slith, vernichtete man ihn auf ewig. Die Namen der schleimigen, scheinbar unzerstörbaren Dinge, die unter der Oberfläche des Flusses schwammen, wagten noch nicht einmal die Götter selbst auszusprechen.
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Von Zeit zu Zeit versuchte einer der Falschen, seine ewigen Qualen zu beenden, indem er sich in den Slith stürzte. Die bedauernswerte Seele erfuhr bald, daß man dem Reich der Toten nicht ohne Cyrics Einverständnis entfliehen konnte. Selbst jetzt trieb ein Dutzend solcher Schatten in dem schwarzen Wasser. Die Wesen, die im Burggraben lauerten, hatten die Arme und Beine der Seelen verschlungen und nur die schmerzerfüllten Rümpfe zurückgelassen, die sich in dem trüben Fluß wanden und auf- und abhüpften. Alle paar Monate wurden diese Seelen auf Jergals Befehl aus dem Slith gezerrt, um sich einer privateren Folter zu stellen. Gwydion der Schnelle sah zu, wie eine dieser gequälten Seelen vorübertrieb. Er stand am Flußufer gegenüber der diamantenen Mauer und war Teil des Mobs, der sich dort versammelt hatte, um Zeuge der Hinrichtungen zu werden. Obwohl er und Perdix versucht hatten, eine Stelle zu finden, die möglichst weit weg vom Slith lag, waren sie durch die nachrückenden Einwohner und Schatten immer näher an den Burggraben gedrängt worden. Nun standen sie kaum eine Armlänge entfernt von dem stinkenden Wasser. Perdix hatte endlich die Nase voll von der Menge, die auf ihm herumtrampelte, breitete die ledrigen Flügel aus und hüpfte in die Luft. »Tsk. Af bewundert wahrscheinlich die gute Verarbeitung der Ketten«, bemerkte er mehr zu sich selbst. »Murmelt dem armen Trottel neben ihm wahrscheinlich zu, daß er hier war, als sie die verdammten Dinger geschmiedet haben.« Gwydion warf einen Blick über den Fluß auf seinen ehemaligen Häscher und erschauerte. Bei der Auswahl
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der Einwohner, die hingerichtet werden sollten, war Cyrics Seneschall überraschend logisch vorgegangen: Die Verurteilten würden den Tod alphabetisch finden. Durch diese Entscheidung war Af in der Reihe weit nach vorn gerückt. Die massige Kreatur baumelte kopfüber an einem Arm einer kolossalen Waage. Er war auf ein Dutzend Arten an eine große Obsidianscheibe gebunden. Ketten verbanden den Stein mit einem identischen Gegenstück, und beide schwankten senkrecht über dem schwarzen Wasser, wobei sie von einem eisernen Angelpunkt gehalten wurden, der aus der Mauer ragte. Afs wölfische Züge waren von Blut und Schmutz verdeckt, und die meisten seiner Spinnenbeine waren ihm von den Skeletten abgeschnitten worden. Das einzige Lebenszeichen, das er von sich gab, war ein gelegentliches Zucken seiner langen Schlangenwindungen. Der Einwohner mit dem Pferdekörper, der an die andere Seite der Waage gebunden war, rührte sich überhaupt nicht. »Wie kannst du das mitansehen, Perdix?« fragte Gwydion. »Denkst du, das stört mich?« erwiderte der kleine Einwohner. Er warf dem Schatten einen Blick aus seinem blauen Auge zu. »Ich mochte Af nie besonders. Unsere Freundschaft beruhte auf Trägheit. Das ist die einzige Art, die es hier unten gibt.« Trotz seiner tapferen Fassade sah man die Besorgnis auf Perdix’ unmenschlichen Zügen und im nervösen Flattern seiner Flügel. Die Sorge galt allerdings nicht Af. Der geflügelte Einwohner sah sich im Geiste selbst an den Stein gebunden, übel zugerichtet, blutig und darauf
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wartend, daß die Waage sich auf seine Seite neigte und ihn in die Vergessenheit hinabließ, die der trübe Slith versprach. Als Gwydion sich nach den anderen Einwohnern umsah, die das Flußufer bevölkerten, sah er die gleiche, kaum verhüllte Furcht. Unzufriedenheit lauerte ebenfalls innerhalb des schweigenden Mobs. Cyrics Getreue fühlten sich verraten; ihre verengten Augen und geballten Fäuste posaunten ihren Zorn hinaus wie einen Schlachtruf vor einem blutigen Scharmützel. Gwydion lächelte geheimnisvoll und wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Schatten zu, die verstreut unter den ungeheuren Einwohnern standen. Ihre Gesichter verrieten Ausdruckslosigkeit oder finstere Hinnahme. In einigen wenigen Augen sah Gwydion verzweifelte Freude am Leid ihrer Peiniger. Dieser Lebensfunke gab ihm Hoffnung. Vielleicht würden auch die anderen das Leichentuch der Hoffnungslosigkeit abwerfen, sobald sie den richtigen Anführer oder das richtige Beispiel erhielten, denen sie folgen konnten. Das stetige Dröhnen eines eisernen Gongs lenkte Gwydions Aufmerksamkeit auf die sperrige Vorrichtung, an der Af über dem Fluß hing. Ein besonders großes Skelett, das in eine Robe aus blutroter, golddurchwirkter Seide gehüllt war, entrollte ein Pergament und begann zu lesen. »Weil die Einwohner des Reichs der Toten die heilige Suche nach der Seele Kelemvor Lyonsbanes noch nicht vollendet haben«, schnarrte das Skelett mit einer Stimme, die dem Rascheln uralter Totenhemden ähnelte, »verurteilt Fürst Cyric diese Gefangenen dazu, vernichtet
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zu werden. Wisset alle, daß jeden Einwohner dieses Schicksal erwartet, wenn die abtrünnige Seele nicht gefunden wird.« Niemand im versammelten Mob schenkte der furchtbaren Warnung viel Aufmerksamkeit. Dieselbe oberflächliche Ankündigung kam bei jeder Hinrichtung, an jeder der zwei Dutzend Stätten entlang des Slith und vor der Höhle der Nachtschlange. Die Wirkung der Drohung hatte durch die Wiederholungen nachgelassen, und ebenso war der Schrecken angesichts der beunruhigenden Hinrichtungen etwas geschwunden. Das Skelett in der Robe gab zwei weiteren fleischlosen Dämonen mit einer lässigen Geste ein Zeichen. Sie erhoben riesige Hämmer und schlugen die hölzernen Stützen unter der gewaltigen Waage weg. Die Steinscheiben begannen, träge auf und ab zu schwingen, wobei jeder Schwung sie dem öligen, schmutzigtrüben Fluß näherbrachte. Af bemühte sich, sein Gewicht zu verlagern, damit der andere Einwohner – der noch immer schwieg und sich nicht rührte – zuerst ins Wasser tauchte. Seine Anstrengungen brachten ihm höhnisches Gelächter von Seiten der Skelette ein und ließen die Waage schneller schwanken. Da er kopfüber angebunden war, tauchte Afs Wolfskopf als erstes unter, als die Steinscheibe den Slith traf. Dann neigte sich die Waage wieder zur anderen Seite, und der rohe Einwohner schwang schreiend in die Luft. Das dunkle Wasser strömte von seinem Gesicht und entzog ihm die Farbe, als sei sie nur eine dünne Schicht. Das Stahlgrau lief ihm aus dem Fell, das Rot aus den Augen. Seine gestreifte Mähne und die purpurnen
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Schuppen auf seinen Schultern verblaßten alle zu einem matten, fahlen Weiß. Jedesmal, wenn die Einwohner in dem trüben Wasser versanken, entzog der Fluß ihnen die Unsterblichkeit. Afs Schreie erstarben zum Wimmern, nachdem er zum dritten Mal untergetaucht war; der andere Einwohner kreischte nur einmal, als sei er durch die Folter wach geworden. Innerhalb weniger Augenblicke zerschmolz das Fleisch beider Kreaturen. Ihre versengten weißen Knochen wurden rasch von den Dingen verschlungen, die sich unter der Oberfläche des Burggrabens bewegten. Als die Menge anfing, sich zu zerstreuen und im Gänsemarsch zurück in die Nekropole trabte, um die Suche nach Kel wiederaufzunehmen, klopfte Gwydion Perdix ans Bein. »Gab es in der Stadt der Zwietracht je eine Revolte?« »Klar«, sagte der Einwohner, während er sich mit der dünnen Zunge über die spitzen Zähne fuhr. »Sie kamen mit der Regelmäßigkeit einer Uhr, die zum Abendessen schlägt, als Cyric gerade die Macht übernommen hatte. Keine hat lange gedauert – häßliche kleine Handgemenge, aber kurz.« Er flatterte ein wenig höher in die Luft und deutete mit weiter Geste auf die wogende Menge. »Was erwartest du denn bei der Art von Gesindel, mit dem Cyric hier unten arbeiten muß?« Ein Einwohner mit dem Kopf und dem Oberkörper einer Gottesanbeterin hieb mit einem wuchtigen Vorderglied nach Perdix. »Gesindel? Schau dich doch selbst an.« Geschickt wich Perdix der halbherzigen Attacke aus und flatterte auf die Spitze eines hohen, gekrümmten
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Metallstabs. Seine hellgelbe Haut hob ihn von dem zinnoberroten Himmel ab, während er dort hockte wie eine strahlende Gargyle. »Einige meiner Gefährten sind neidisch auf meine Beziehungen zu unserem Herrn«, sagte der Einwohner mit den Fleder-mausflügeln. »Als Cyric zum Gott wurde, war ich noch sterblich. Ich habe mich geradezu überschlagen, um meine Hingabe unter Beweis zu stellen – Morden, Stehlen, Zwietracht säen, wo ich konnte. Ich habe eine ganze Streife von Purpurdrachen außer Gefecht gesetzt« – er lächelte wehmütig –, »bevor sie mir den Schwertarm abschlugen. Ich war einer der ersten Einwohner, die Cyric erschuf.« Gwydion lehnte sich an den Stab und beobachtete die Kreatur mit dem Kopf einer Gottesanbeterin. Sie schlurfte auf den schwerfälligen Beinen eines Opossums in die Menge zurück. »Was ist mit den anderen Einwohnern?« fragte der Schatten. »Glauben sie nicht an Cyric?« Perdix schnaubte. »Den Großteil dieses Packs hat er mit dem Grundbesitz geerbt. Sie haben früher Myrkul verehrt, sind aber übergetreten, als Cyric die Macht übernahm.« Mit überraschender Behendigkeit kletterte er Hand um Hand den Stab hinunter. »Also«, sagte Perdix, als er direkt über Gwydions Ohr hing, »wenn du auf einen Aufstand hoffst, dann vergiß es. Die Einwohner, die Cyrics Herrschaft nicht dulden wollten, haben das versucht, und sie landeten alle im Sumpf auf der anderen Seite des Schlosses. Im Vergleich dazu ist der Slith ein plätscherndes Bächlein auf den MondscheinInseln.« Die Menge hatte sich zerstreut, aber viele der Schatten
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und Einwohner, die noch in der Nähe des Flusses umherwimmelten, waren stehengeblieben, um der Unterhaltung zu lauschen. Gwydion spürte, wie die Augen der hilflosen Seelen und mächtigen Gefolgsleute Cyrics auf ihm ruhten, fühlte die Spannung in der Luft bei der bloßen Erwähnung von Widerstand gegen den Herrn der Toten. Wenn Perdix aber recht hatte, könnten sich sogar die Einwohner gegen den Prinz der Lügen wenden. »Die Nachtschlange sagte, Cyric fürchte zwei Dinge«, wagte Gwydion laut zu sagen, »eine Revolte in der Stadt der Zwietracht und den Schatten Kelemvor Lyonsbanes.« Er wandte sich von Perdix ab und musterte die Menge. »Ihr wollt doch nicht wie jene anderen enden, im Slith ertränkt, für immer vernichtet? Seid ihr Schatten es zufrieden, gefoltert zu werden, nur weil Cyric danach ist? Wenn wir uns erheben, wird Kel aus seinem Versteck kommen und uns anführen. Er ist der einzige, der sich Cyric entgegenstellen kann. Warum versucht Cyric wohl so verzweifelt, ihn zu finden?« Gwydions Worte verbreiteten sich unter den verstreuten Einwohnern und Schatten wie ein Lauffeuer. Einigen gab die subversive Rede Kraft. Andere murmelten etwas von der Torheit des Schattens, während sie unruhige Blicke auf die gebleichten weißen Mauern der Knochenburg warfen, die wie ein Henkersbeil über ihnen aufragten. Dennoch versuchte von all den dort versammelten Seelen nur Perdix, Gwydion zum Schweigen zu bringen. »Solches Gerede wird nur dazu führen, daß wir alle vernichtet werden«, zischte er. Er griff sich mit klauenbewehrten Händen an den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, daß Cyric sich immer –«
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Eine Flammensäule, dick wie das Bein eines Riesen, kam vom Himmel herab und schlug in Gwydions Nähe in den Boden. Die Erschütterung durchlief die ganze Stadt bis zur Mauer der Treulosen. Die Hitze verkohlte das Fleisch eines jeden, der in der Nähe stand und ließ den Slith in seinem Bett brodeln. Skelette stürzten von der diamantenen Mauer. Sie schlugen mit ihren Piken wild um sich, als sie ins Wasser fielen, verschwanden aber der Reihe nach unter der trüben Oberfläche. Gwydion der Schnelle war als erster auf den Beinen und rannte. Er warf einen Blick über die Schulter, während er floh. Was er hinter sich sah, konnte es mit jedem Alptraum aufnehmen, der sich im Hort von schrecklichen Träumen und üblen Visionen der Nachtschlange verbarg. Inmitten des in die Erde gesprengten Kreises stand Cyric, herausgeputzt in einem Flammenmantel und Götterfluch in kriegerischer Pose emporhaltend. Brennende Augen starrten aus einem Gesicht, das von einem Höllenfeuer zu Purpur verbrannt worden war. Die Lippen waren zu einer Grimasse verzogen und entblößten schiefe gelbe Zähne. Seine Hände waren knotig wie die Äste einer schon vor langem eingegangenen Eibe, die Arme dürr, aber von Muskeln wie Stahlsträngen umschlungen. Mit einem einzigen Schlag seines rosenfarbenen Kurzschwertes hieb der Herr der Toten einen zurückschreckenden Einwohner entzwei. Dann begann er wie im Wahn die Seelen anzuheulen, die ihm im Weg standen. Jeder, der verängstigt oder dumm genug war, vor Cyric stehenzubleiben, fiel Götterfluch zum Opfer. Das Schwert leuchtete mit jedem Schlag heller und nahm die
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purpurne Farbe frisch vergossenen Blutes an. Das Entsetzlichste aber war, daß Gwydion sehen konnte, wie Cyrics haßerfüllte Augen ihn anstarrten. Fiebrig raste der Schatten über die Trümmer. Verfallene Gebäude ragten vor ihm auf; zwischen ihnen zogen sich dunkle, verwinkelte Gassen hin. Er dachte keinen Augenblick darüber nach, wie absurd es war, vor einem Gott davonlaufen zu wollen. Für seinen in Panik geratenen Verstand war die Stadt der Zwietracht zur Promenade in Suzail geworden und Cyric nur ein weiterer Herausforderer in einem Wettrennen. Gwydion warf einen weiteren Blick über die Schulter. Er hatte erwartet, der Prinz der Lügen werde sich an seine Fersen heften, doch statt dessen hatte er mit seiner Schnelligkeit Cyric weit hinter sich gelassen. Ein gelber Blitz erschien in Gwydions Augenwinkel, kurz bevor sich etwas um seine Beine wickelte. Der Schatten fiel mit dem Gesicht in den harten, festgestampften Dreck. Seine Stirn schlug auf einen Stein, so daß der Schmerz sich in bunten Blüten über sein Bewußtsein legte, ihm die Sicht vernebelte und die Rufe und Schrei dämpfte, die vom Flußufer kamen. Als sich die leuchtenden Punkte vor seinen Augen verzogen hatten, sah er, daß es Perdix gewesen war, der sich auf ihn gestürzt hatte. »Tut mir leid, Schnecke, aber ich hatte dich gewarnt«, sagte der Einwohner. »Außerdem – wenn ich dich laufen lasse, dann kriegt er mich dafür dran. Cyric kriegt immer irgend jemanden dran.« »Ganz sicher sogar«, murmelte der Prinz der Lügen, der plötzlich über der gefangenen Seele aufragte. Er
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»Helft mir!« schrie eine Frau, ihre Stimme schrill vor Todesangst. Tief und rauh rief ein Mann aus: »Macht, daß es aufhört! Laßt nicht zu, daß es mich vernichtet!« Etwas Nichtmenschliches stöhnte klagend, die Worte summend wie die Flügel einer Riesenwespe: »Verraten! Cyric hat uns erneut verraten!« Kel saß mit überkreuzten Beinen inmitten des wirbelnden Wahnsinns, sein inneres Auge nach innen gerichtet. Er sah die Gesichter nicht, die durch den rosenfarbenen Nebel um ihn herum wogten. Er blendete die schmerzerfüllten Schreie der Seelen aus, so gut es ging, und verschloß seine Sinne vor dem scharfen Geruch, der in der Luft lag, einem seltsamen Gemisch aus dem Ge-
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schloß eine klauenbewehrte Hand um Gwydions Kehle. »Ich wußte doch, daß du mir Ärger machen würdest. Immer das gleiche mit denen, die als Helden zu sterben versuchen.« Cyric zog Gwydion auf die Knie. »Aber jetzt ist es an der Zeit, daß ich mir deine Schnelligkeit für meine eigenen Zwecke zunutze mache«, sagte er. »Trotzdem solltest du froh sein. Immerhin wirst du endlich in den Ritterstand erhoben.« Der Prinz der Lügen wischte das Blut an Götterfluch an dem Schatten ab und steckte die Klinge dann in die Scheide. »Ich schlage Euch, Sir Gwydion – zum Inquisitor der Zentilfeste und unheiligen Ritter des Hades. Nun zu Eurer Rüstung ...«
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stank rotglühenden Eisens und dem schimmeliger, aufgewühlter Graberde. Dennoch schlichen sich Bilder der gequälten Geister in seine Gedanken. Es war immer das gleiche, wenn Cyric das Schwert führte. »Ich werde dieses Chaos beenden«, flüsterte Kelemvor immer wieder. »Ich werde nicht zulassen, daß sie die Herrschaft von Gesetz und Vernunft im Universum zunichte machen.« »Es gibt Leute, die das als recht noble Gesinnung auffassen würden«, säuselte Götterfluch, »aber ich finde, der Schwur hat wenig Zweck, mein Liebster. Gesetz und Chaos sind sinnlos, wenn man genau darüber nachdenkt. Am Ende gleichen sie einander doch immer aus.« Er nahm die sanfte weibliche Stimme deutlich wahr, sogar durch das Kreischen der Schatten und Einwohner hindurch, die in dem Schwert gefangen waren. »Dennoch«, fügte Götterfluch hinzu, »könnt Ihr Euch, wenn wir Cyric erst einmal gestürzt haben, selbst sagen, Ihr hättet Euer Versprechen gehalten. Einen Wahnsinnigen wie ihn zu Fall zu bringen, ist immer ein Sieg für Gesetz und Ordnung – zumindest eine Zeitlang.« Kel öffnete die Augen. Der Geist eines Einwohners mit dem Kopf einer Gottesanbeterin sauste vorbei, verzerrt und verdreht in einem fließenden Strom von Energie. »Glaubt nicht, daß es mit Cyric vorbei sein wird«, murmelte Kelemvor. »Ihr habt mich ein Jahrzehnt lang gefangengehalten. Auch dafür werde ich Vergeltung üben.« »Ihr seid kaum in der Lage, Drohungen auszustoßen«, erwiderte das Schwert voller gespielter Entrüstung. »Außerdem habe ich Euch sicher und wohlbehalten aufbe-
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wahrt. Ihr wärt direkt in die Stadt der Zwietracht gekommen, wenn ich Eure Seele an jenem Tag oben auf dem Schwarzstab-Turm nicht eingefangen hätte. Wo wärt Ihr dann jetzt wohl?« »Ich werde Mitternacht darum bitten, das zu berücksichtigen, nachdem Ihr mich ihr ausgehändigt habt«, murmelte Kel. Beim Anblick der gequälten Gesichter mit den großen, bittenden Augen zerriß es ihm das Herz. Die Hilflosigkeit, die er angesichts ihres Leidens verspürte, brannte wie ein vergifteter Dolch in seiner Brust. »Wir haben tatsächlich die gleichen Ziele«, sagte das Schwert aalglatt. »Ihr wollt, daß Cyric für Euren Tod bezahlt. Ich will ihn dafür leiden sehen, daß er versuchte, meinen Willen zu brechen, nachdem er mich aus jenem Halblingsdorf gestohlen hatte.« Kelemvor brach sein hartnäckiges Schweigen nicht. Schließlich sprach Götterfluch erneut: »Ich brauche Euch als die sprichwörtliche Karotte am Stock, Liebster; aber sobald ich die Herrin der Mysterien in meine Schar von Verschwörern lasse, könnte es sein, daß Eure Nützlichkeit ein plötzliches Ende findet. Wenn Ihr Euch weiterhin so anstellt, könnte es sich als notwendig erweisen, Euch zu vernichten.« Zum Beweis seiner Macht löschte das Schwert die Seelen aus, die es in der Schlacht an den Ufern des Slith gesammelt hatte. Götterfluch hatte einmal erklärt, es könne diese gestohlene Lebenskraft auf ihren Träger übertragen, speichern oder einfach selbst trinken. Was die verräterische Klinge nie enthüllt hatte, war, wie sie Kel all die Jahre vor Cyrics spähendem Verstand abgeschirmt hatte. Wenn Götterfluch mit seinem Meister in
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Verbindung trat, spürte Kelemvor die Bösartigkeit des Todesgottes überall um sich herum, und doch bemerkte Cyric seine Anwesenheit nicht. Götterfluchs kühle, sinnliche Stimme beendete das plötzliche Schweigen. »Laßt mich Euch ein Geschenk machen«, gurrte sie. »Nur zum Beweis, daß ich es Euch nicht übelnehme.« Die imaginären Gefängniswände, die Kel für sich selbst gekennzeichnet hatte, wurden Wirklichkeit, genau so, wie er sie imaginiert hatte. Ein Fußboden glitt dazwischen, und auch eine Decke; beide fühlten sich nach schlechtem Mauerwerk an. Der Raum roch sogar wie ein sembisches Gefängnis, in dem Kel einmal einen Monat verbracht hatte: nach abgestandenem Wasser und feuchter, modriger Erde. Eine räudige Ratte schaute aus einem Loch in der Ecke hervor. Kakerlaken kletterten um ein dünnes Rinnsal von Wasser herum, das sich von einem lichtlosen Fenster hoch oben bis hinunter auf den Boden schlängelte. »Na bitte«, sagte das Schwert stolz. »Jene armen Seelen haben alles für diesen Ort gegeben. Chaos wird Ordnung. Ihr solltet erfreut sein ...« Eine Frau erschien bei Kelemvor in der Zelle, geschmeidig, jung und wunderschön. Ihr langes rabenschwarzes Haar und die blasse Haut gaben ihr genug Ähnlichkeit mit Mitternacht, um Kels Interesse zu wecken, aber nicht soviel, daß er sich sofort von ihr als einer Betrügerin abwandte. »Ich könnte Euch auch auf andere Arten um Verzeihung bitten«, sagte die Frau mit einer rauchigen Stimme voller leidenschaftlicher Versprechungen.
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Die Hand der Frau, die ihn beruhigend an der Schulter berührte, und das feste Gefühl des Steinbodens unter seinen Füßen führten Kelemvor in Versuchung, aber er gab der Verführung nicht nach. »Die Mühe hättet Ihr Euch sparen können«, sagte er. Nachdem er sich auf die Füße gestemmt hatte, machte er eine präzise halbe Drehung und zählte seine Schritte bis zur Ecke des imaginären Raumes. »Was ich mir ausdenke, ist genauso wirklich wie das, was Ihr mir anbietet – aber ich verwechsle es nie mit der Wirklichkeit. Ich frage mich, ob Ihr das auch von euch behaupten könnt.« Er wartete die Antwort nicht ab und hätte Götterfluch auch nicht gehört, wenn sie sich die Mühe gemacht hätte, die Beleidigung zu erwidern. Mit geradeaus gerichteten Augen begann Kel, die Wände seines Gefängnisses abzuschreiten. Der gleichmäßige Rhythmus seiner Schritte hallte durch die Leere wie der feste Schlag von Hammer und Meißel auf Stein, aus dem Grabsteine für die Seelen gehauen wurden, die vom Chaos verschlungen worden waren.
11 [ INQUISITOR ]
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Worin Gwydion der Schnelle die von einem Gott geschmiedete Rüstung eines unheiligen Ritters des Hades anlegt und der Prinz der Lügen seine mechanische Inquisition auf die Reiche der Sterblichen losläßt, was für Rinda und ihre Mitverschwörer in der Zentilfeste furchtbare Folgen hat. Gwydion hatte schon lange jegliches Gefühl für Schmerz verloren, nachdem die Arbeiter ihm jeden einzelnen Muskel aus dem Rücken gezogen hatten. Als ihm dann die Ersatzstücke aus Metallfedern ins Rückgrat gehämmert worden waren, waren die Höllenqualen so unerträglich geworden, daß der Schatten die Schwelle seiner Wahrnehmungsfähigkeiten überschritten hatte. Nun hatte sich sein Verstand von seiner unsterblichen Gestalt gelöst. Von einem Punkt leicht oberhalb des langen, schmutzigen, aufgebockten Tisches, auf dem er lag, sah er den nichtmenschlichen Schmieden zu, wie sie auf seinen Körper einschlugen. Zu beiden Seiten seiner körperlosen, schwebenden Essenz waren die ewig brennenden Körper der Schreiber, die versagt hatten, aufgehängt wie gräßliche Kronleuchter. Das flackernde Licht, das von den Brennenden ausging, warf seltsame, fließende Schatten auf die geschäftige Operation weiter unten.
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Ein mechanischer Golem, bronzen und poliert wie der Lieblingsspiegel einer Prinzessin, beugte sich über Gwydions Leib. Der mechanische Schmied ließ eine eiserne Zange in den gehäuteten Unterarm gleiten und faßte mit ihr den letzten Knochen, der noch im Fleisch verborgen lag. Mit einem kurzen Ruck riß er ihn heraus. Ein kleinerer Golem, aus Silber statt aus Bronze gefertigt, nahm den blutigen Knochen und warf ihn auf einen Haufen ähnlicher Beutestücke. »Das ist das letzte zentrale Teil«, murmelte ein kräftiger Mann in einen Bart, der so verworren war wie Cyrics Verstand. Er musterte die goldene Stange, die er in den Händen hielt, und ließ fettige, schwielige Finger darübergleiten. »Ab hier wird es einfach – die Ausrichtung der Glieder, das Einrichten der äußeren Platten ...« Der Meisterschmied ließ die Metallstange an die Stelle gleiten, an der sich zuvor der Knochen befunden hatte, und verankerte sie. Nachdem er die Bolzen gesichert hatte, ließ er die Sperr-Stange fallen und holte ein empfindlicheres Werkzeug aus seiner befleckten und zerfledderten Schürze hervor. Damit ließ er vorsichtig die Zahnräder an Ellbogen und Handgelenk einrasten. Schließlich trat er einen Schritt zurück und bedeutete seinen mechanischen Helfern, die letzten Feder-Muskeln anzuschließen und die Schnitte zu schließen. »Ich vermute, ich sollte mich geehrt fühlen, hier sein zu dürfen«, sagte der stämmige Arbeiter. Seine Stimme schien hohl und metallisch, fast als spräche er innerhalb eines Kastens mit Stahlwänden. »Ich habe gehört, Ihr habt schon seit geraumer Zeit keinen anderen Gott mehr in Euren Thronsaal gebeten.«
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Cyric schenkte Gond in der Gewißheit, daß der Gott des Handwerks die Kränkung nie bemerken würde, sein bestes bescheiden abwehrendes Lächeln. Der Wunderbringer glich seinen Anhängern stark – viel Kraft und ein gewisses Talent, was mechanische Dinge anging, aber wenig von der Art von verschlagener Intelligenz, die der Todesgott stimulierend fand. »Ich dachte mir, Ihr solltet die Rüstung selbst zusammensetzen«, sagte der Prinz der Lügen. »Ich glaube nicht, daß irgendeiner meiner Gefolgsleute es richtig zustande gebracht hätte.« Mit einem unverbindlichen Grunzen wandte Gond seine Aufmerksamkeit einem bösartig aussehenden, gehörnten Helm zu. Er löste die gerundete Spitze vom Kinnreff und begann, die dünnen Nadeln zu justieren, die das Innere der unteren Helmhälfte säumten. Das plötzliche Klappern von Metall auf dem Steinboden ließ seine rußbedeckten Wangen erröten und seine stahlgrauen Augen ärgerlich blitzen. »Sei vorsichtig damit, du blöder Tresor auf Beinen!« fauchte er. Einer der Golems – ein Kasten mit langen Armen und vier dünnen Beinen – entschuldigte sich mit einer steifen Verbeugung, hob die heruntergefallenen Diechlinge auf und gab sie an seinen menschenähnlicheren Landsmann weiter, der die Rüstung geschickt an Gwydions Beinen befestigte. Die mechanischen Schmiede waren fast fertig damit, den Schatten in die goldene, von einem Gott geschmiedete Rüstung zu gürten. Sie stemmten ihn hoch und stellten ihn gewaltsam auf die Füße. Gwydion schwankte, bis der größte der Golems ihn mit unnachgiebigen Eisenarmen stützte. Selbst jetzt verwirrten den Schatten Gewicht und Größe seines neuen Körpers. Er war mindestens
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anderthalb Mal so groß wie zuvor, und sein massiger Körper hätte der eines Ogers sein können. Die Rüstung schien auf den ersten Blick nur ein hervorragend geschmiedeter Satz übergroßer Panzerplatten zu sein, obwohl sie viel mehr war als nur das. In den Brustharnisch waren Tausende winziger grinsender Schädel graviert, wobei jedes einzelne gähnende Gesicht von einer dunklen Sonne umgeben wurde, die mit Säure ins Metall gekerbt worden war. Dicke, mit Gift überzogene Stacheln ragten aus den Ellbogen- und Kniekacheln hervor; und die Harnischschuhe hatten rasiermesserscharfe Spitzen. Beide Panzerhandschuhe waren mit Dutzenden winziger Widerhaken gespickt, die den Ketzern, die der Inquisitor umklammern würde, ins Fleisch schneiden sollten. Die Rüstung wurde weder von Riemen noch von Schnallen festgehalten; jeder Teil war in Gwydions neuem Metallskelett verankert. »Der Helm ist der kniffligste Teil«, sagte Gond und trat an den Tisch. Er hob das Kinnreff hoch und achtete darauf, die Nadeln genau über den Ösen auszurichten, die er Gwydion in die Kehle getrieben hatte. »Um den festzumachen, müssen wir ihm die Gebißstange in den Mund hämmern. Danach wird es ihm etwas schwerfallen zu sprechen.« Cyric beugte sich vor, gefesselt von der Verwandlung, die vor seinen Augen stattfand. »Solange er ›Stirb, Ketzer‹ herausbringt, bin ich zufrieden«, sagte er scherzhaft. Magnifizenz, begann Jergal und schwebte an den gräßlichen Thron heran. Das endgültige Urteil steht noch aus ... »Noch mehr Formalitäten«, zischte Cyric. »Na schön.
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Bringen wir es hinter uns.« Jergal entrollte einen langen Pergamentbogen. Wisset, Gwydion, Sohn Gareths des Schmieds, daß Ihr des Hochverrats am rechtmäßigen Herrn der Knochenburg und Herrscher über die Stadt der Zwietracht für schuldig befunden worden seid. Ihr werdet hiermit verurteilt, besagtem Herrn in alle Ewigkeit als heiliger Inquisitor zu dienen. »Verurteilt?« spottete Gond. »Er sollte sich freuen, diese Rüstung tragen zu dürfen. Ich habe sie eigenhändig geschmiedet!« »Ich bin sicher, er würde sich bedanken, wenn Ihr ihm nicht diese Gebißstange in den Mund gerammt hättet«, murmelte Cyric. »Können wir das jetzt endlich hinter uns bringen? Mein Inquisitor muß sich um Angelegenheiten in der Zentilfeste kümmern.« Gond senkte das Kinnreff auf Gwydions Kopf und führte die Kiele in seinen Hals ein. Er verankerte die untere Helmhälfte an der Gebißstange und hob dann das übrige Kopfstück auf. Wie auch das Kinnreff war der obere Teil des Helmes mit Nadeln gesäumt. Die langen Metallsplitter glitten in Gwydions Schädel, und er spürte, wie sein Bewußtsein wieder in seinen massigen neuen Körper zurückfloß. Er versuchte, Widerstand zu leisten, aber es war, als hätten die Nadeln einen Sog unter ihm geöffnet. Er kreiselte abwärts, an einen Ort vollkommener Finsternis. Plötzlich ragten kalte Metallwände zu allen Seiten auf. Sie kamen näher, preßten ihm die Arme an den Körper und verkrüppelten seine Beine. Ein Schrei erstarb in seiner Kehle, aufgespießt auf Nadeln aus Gold.
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Eine Zeitlang gab es für Gwydion nur diese schreckliche Lähmung. Dann vertrieb ein Lichtstrahl die Finsternis um ihn herum. Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick durch Cyrics Thronsaal schweifen. Die Schatten der Brennenden tanzten die Wände entlang und spielten auf den Trophäen, die gedankenlos im Raum verteilt hingen. Gwydion sah jeden einzelnen Knochen in Cyrics Thron, jede makellos gearbeitete Platte aus reinstem Silber oder Bronze an Gonds mechanischen Schmieden. Der Prinz der Lügen und der Wunderbringer standen vor ihm, und ein seltsamer Ausdruck von Stolz lag auf ihrer beider Gesicht, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen. Zum ersten Mal bemerkte der Schatten, daß ihre menschlichen Gestalten Fassaden waren, wie Kostüme, die man auf einem Kostümball trug. Macht lauerte in ihren niemals zwinkernden Augen und strahlte bei jeder noch so winzigen Bewegung von ihnen aus. Ihre stoffliche Gestalt war nur eine Marionette, nicht lebendiger als eine aus Holz geschnitzte Hülle. Gwydion konnte die Macht der Götter riechen wie die aufgeladene Luft vor einem heftigen Sturm. Dann überfluteten ihn andere Gerüche – das kalte Blut auf Cyrics Klinge, die modrigen, uralten Knochen, an denen noch ein wenig Graberde hing und aus denen der Großteil der Einrichtung der Halle bestand, der Gestank, der von den brennenden Schreibern ausging und das dünne Ol an den Zahnrädern der Golems. Sein eigener Geruch verwirrte ihn am meisten. Der scharfe, kalte Geruch der goldenen Plattenrüstung mischte sich mit einem Hauch von Verfall, von Tod. Sie waren alle tausendmal feiner, tausendmal stärker als jeder Geruch, den er während seines
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sterblichen Lebens wahrgenommen hatte. Gwydions andere Sinne begannen ebenfalls, die Kammer zu erfassen. Die Gebißstange, die man ihm in den Mund gestopft hatte, schmeckte abscheulich bitter, wie Wein, der gerade zu Essig vergor. Er konnte jeden Bolzen, jede einzelne Niete in der Rüstung spüren, als wären sie schon immer ein Teil seines Fleisches gewesen. Jeder Hammerschlag des Wunderbringers hatte auf dem Metall eine fast unmerkliche Spur hinterlassen, und einen Augenblick lang verlor Gwydion sich in der Betrachtung jeder einzelnen Delle. Andere Anblicke, Geräusche und Gerüche drangen an seine Sinne: das Rascheln von Jergals Umhang, während der Seneschall zu Cyric hinschwebte, die Wärme der Feuer, die die Brennenden umgaben, der unverwechselbare Gestank des Slith, der sich unmittelbar außerhalb der Burgmauern dahinschlängelte ... »Er wird ein bißchen brauchen, bis er sich daran gewöhnt hat, daß der Helm verstärkt, was er sieht und hört«, sagte Gond. Er warf einem der Golems einen Schraubenschlüssel zu, der ihn mit überraschender Behendigkeit aus der Luft fing. »Wann soll ich die anderen acht für Euch erledigen?« »Jetzt gleich«, sagte Cyric. »Ich habe bereits die Schatten ausgewählt, mit denen die übrigen Rüstungen angetrieben werden sollen.« Gond runzelte die Stirn und vergrub die Finger in seinem Bart. »Hmm. Ich brauche viel Konzentration, um die richtigen Anpassungen zu machen, und im Haus des Wissens wartet noch viel Arbeit auf mich.« »Ich brauche diese Inquisitoren jetzt gleich«, bemerkte
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Cyric unverblümt und schlenderte dann zurück zu seinem Thron. »Mystra hat mich der Magie beraubt, und es gibt heimtückische, subversive Elemente, die meine Kirche in der Zentilfeste gegen mich aufhetzen. In jener Stadt befindet sich die größte Ansammlung meiner Anhänger. Wenn ich sie verliere, werde ich die Macht verlieren, das Reich der Toten unter Kontrolle zu halten.« In plötzlicher Wut hieb er mit der Faust auf den Thron. »Wißt Ihr, was passieren würde, wenn hier eine Revolte vom Zaun bräche und ich sie nicht aufhalten könnte?« Gond zuckte die Achseln. »Nein, und es interessiert mich auch nicht. Ich habe es Euch schon einmal gesagt; mir ist egal, wofür Ihr die Rüstung braucht, solange sie nicht gegen meine Getreuen eingesetzt wird. Darüber hinaus«, – er klopfte Gwydion auf die Schulter –, »will ich der Welt nur zeigen, daß Magie dem Erfindungsreichtum nicht das Wasser reichen kann, wenn man den richtigen Schmied und eine Handvoll guten Rohmaterials hat.« »Neun mechanische Ritter werden Eure Handwerkskunst besser zur Schau stellen als einer«, erwiderte Cyric und schüttelte seinen theatralischen Ärger ab wie eine Schlange ihre trockene Haut. »Kommt schon, Gond. Seid vernünftig ...« Der Gott des Handwerks verdrehte die Augen. »Aus Eurem Munde klingt das fast lustig«, sagte er und hob dann eine fleischige Hand, um Cyrics Zorn abzuwehren. »Na gut. Ich erledige sie gleich.« Auf ein Nicken Gonds hin hasteten die Golems zu den acht Kisten, die am anderen Ende der Halle in einer
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Reihe standen und begannen mit lärmender Effizienz, sie zu entpacken. Der Wunderbringer wandte sich Gwydion zu. »Heb’ deinen linken Arm«, sagte er barsch. Obwohl er versuchte, gegen die Anweisung anzukämpfen, fühlte Gwydion, wie sein Leib dem Befehl des Gottes Folge leistete. Gond beobachtete die Bewegung des Schattens mit geübtem Auge und umkreiste ihn, um die Leistung der Rüstung besser begutachten zu können. »Wenn er gesprochene Anweisungen verstehen kann, wird er in kurzer Zeit einsatzbereit sein«, verkündete Gond. »Ihr könnt ihm seine Marschbefehle erteilen, wann immer Ihr wollt.« »Das reicht nicht«, bemerkte Gond zerstreut, während er seine Werkzeuge für ihren nächsten Einsatz aufsammelte. »Ein solcher Befehl verwirrt ihn nur.« »Ihr sagtet, er würde tun, was ich will«, grollte Cyric. »Wollt Ihr mir jetzt erzählen, daß er es doch nicht kann?« Ich glaube, Ihr müßt Eure Wünsche etwas präzisieren, schlug Jergal vor. Ihr müßt dem Schatten beibringen, was Ihr unter Ketzerei versteht. Cyric ging gemessenen Schrittes zu Gwydion. »Dann fangen wir mit den offensichtlichen Verrätern an«, sagte der Prinz der Lügen. »Du wirst jeden vernichten, der innerhalb der Mauern der Zentil-feste seine Stimme gegen mich oder meine Kirche erhebt.« »Ja, das sollte reichen«, sagte Gond. Er bastelte an einer Niete an Gwydions Hüfte herum. »Ich hoffe, er tritt zuerst gegen einen richtig mächtigen Magier an. jeder Zauber, den ein Sterblicher benutzen könnte, wird an dieser Platte abgleiten wie Regenwasser an einem Zinn-
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dach.« »Was ist mit der Zauberei eines Unsterblichen?« fragte Cyric. Zum ersten Mal schien er echtes Interesse an der Erklärung des Wunderbringers zu bekunden. »Ist nie ausprobiert worden, aber es sollte genauso ablaufen.« Cyric hielt inne und rieb sich das spitze Kinn. »Jergal, ich möchte, daß du den Inquisitor angreifst. Umschlinge seinen Arm.« Aber Magnifizenz. All die Arbeit – »Keine Angst. Wenn ihm etwas passiert, werde ich dir nicht böse sein.« Cyric zeigte auf Gwydion. »Du bleibst einfach stehen. Wehr’ dich nicht.« Jergal stürzte sich auf Gwydions ausgestreckten Arm und hüllte das Glied in die formlose Finsternis seines Körpers. Jergals Mantel schien den Arm vollständig zu verschlingen; dann kam ein mattes Glitzern aus der Düsternis. Ein stimmloses Stöhnen erfüllte die Halle, und Jergal zog sich zurück. Der goldene Panzerhandschuh und die Unterarmröhre funkelten trotzig, unbeschadet und unbefleckt. »Beeindruckend«, murmelte Cyric. »Jeder gewöhnliche Schatten wäre davon vernichtet worden.« Er zog Götterfluch und schlug mit der Klinge hart gegen Gwydions Hand. Funken sprühten, Metall kratzte mit einem fürchterlichen schrillen Ton auf Metall. Als der Prinz der Lügen jedoch das Kurzschwert wegzog, verblieb nur eine leichte Kerbe auf dem Panzerhandschuh. »Was glaubt Ihr, was Ihr da tut?« bellte Gond. »Ich habe diese Rüstung nicht gebaut, nur damit Ihr an ihr
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Eure Schwertkünste erproben könnt.« »Ich mußte wissen, ob die Rüstung gegen alle Magie gefeit ist«, murmelte Cyric. Er starrte den Inquisitor mit einem deutlichen Ausdruck des Unbehagens auf den dämonischen Gesichtszügen an. »Das war es doch, was Ihr wolltet«, knurrte Gond, »angetriebene Rüstungen, die ohne Magie arbeiten, und das habt Ihr auch bekommen. Nicht einmal Mystra könnte diesen Harnisch aufsprengen – nicht, solange er den Helm aufbehält. Wenn ihm jemand den Helm abnimmt, garantiere ich für nichts.« Behutsam ließ Gond seine Finger über den mißhandelten Panzerhandschuh gleiten. »Also. Ihr braucht Euch keine Sorgen machen, daß er sich gegen Euch wenden könnte. Der Helm wurde entwickelt, um ihn Eure Anweisungen befolgen zu lassen. Niemand kann die Befehle ändern, die Ihr ihm erteilt habt, wenn er ihm nicht das Ding abnimmt – und wenn er das tut, gerät die Rüstung aus dem Gleichgewicht.« Gond klopfte mit schmutzigen Knöcheln gegen den Brustharnisch. »Alles, was dann übrigbleibt, ist ein hübscher Satz Platten, aber nichts, das einem Schwert wie Eurem Widerstand leisten könnte.« Cyric nickte. »Wie schicke ich ihn los?« »Oh, er macht sich schon bereit, Euren Befehl zu befolgen«, sagte Gond. »Er sollte sich jeden Augenblick auf den Weg zur Feste machen.« In gewisser Weise hatte Gwydion die Knochenburg schon verlassen. Sein Verstand war vollkommen auf das Stimmengewirr konzentriert, das er in den Straßen und Häusern der Zentilfeste hörte. Wenn jemand Cyric oder seine Kirche erwähnte, drangen die Worte ans Ohr des
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Inquisitors. Hunderte eifriger Gebete zum Prinzen der Lügen formten ein fortwährendes Summen, das von Eiden, die auf Cyrics Namen geschworen wurden, durchbrochen wurde. Kirchengelehrte diskutierten über das Wesen der Stadt der Zwietracht und die Einwohner, die dort hausten. Im Flüsterton ermahnten Mütter ihre Kinder, folgsam zu sein, sonst würde der Prinz der Lügen sie in der Nacht holen kommen. Der Drang, einen Ketzer zu finden, lag um Gwydions Herz wie eine Sprungfeder, die ihn zum Handeln zwang. Er lernte schnell, die Gebete der Getreuen und die endlosen Wortgefechte der Gelehrten auszublenden. Statt dessen konzentrierte er sich auf das Gemurmel ginseliger Querulanten und habgieriger kleiner Geistlicher. Er konnte die kriechende Kälte der Ketzerei in ihren Gedanken fast fühlen. Ein Teil Gwydions, der Teil, der von der Rüstung beherrscht wurde, betete darum, daß die Ketzer ihren verräterischen Gedanken Ausdruck verleihen mochten. Was sonst von ihm übrig war, wetterte machtlos gegen die blutigen Taten, von denen er wußte, daß er sie in Cyrics Namen würde begehen müssen ... In einer abfallverseuchten Seitengasse in den Armenvierteln der Feste verspottete jemand den Prinz der Lügen und zweifelte offen seine Macht an. Drähte brummten, als Energie sie durchströmte, und präzise gestimmte Stimmgabeln summten in Gwydions Eingeweiden. Der Mechanismus riß den Vorhang zwischen dem Hades und den Reichen der Sterblichen auf. Gwydion machte einen zögernden Schritt vorwärts in das wirbelnde Chaos, dann einen weiteren. Bald donnerte er durch den Himmel wie ein angreifender Drache,
wobei seine natürliche Schnelligkeit von der Rüstung des Wunderbringers in unfaßbarem Maße verstärkt wurde. Die Inquisiton hatte begonnen.
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Während Fzoul und die anderen drei Verschwörer sich leise mit ihrem geheimnisvollen göttlichen Schirmherrn unterhielten, brachte Rinda ihre letzten Anmerkungen zu Cyrics Jahren in der Diebesgilde der Zentilfeste zu Papier. Sie überflog die eng und dicht beschriebenen Seiten und schüttelte den Kopf. Das Wahre Leben war eine Geschichte von Hilflosigkeit und Verzweiflung, nicht der heroische Päan an das Selbstvertrauen, die der Prinz der Lügen für die Cyrinishad gesponnen hatte. Nachdem er von den Sklavenhändlern an die Gilde verkauft worden war, hatte Cyric sich darum bemüht, seine Freiheit durch seine Arbeit für die Meister der Gilde wiederzuerlangen; immer und immer wieder versagte er und konnte keinen Auftrag fehlerfrei ausführen, was ihn zu einem Leben in Knechtschaft verdammte. Gutherzige Leute wie Rinda halfen ihm zu fliehen und die Stadt zu verlassen, die ihn unter ihren eisernen Hacken zermalmt hätte, wäre er geblieben. Die Taschen voller Münzen, die ihm das Mitleid eingebracht hatte, reiste der junge Cyric nach Norden, auf der unsinnigen Suche nach dem Ring des Winters. Hätte Kelemvor Lyonsbane ihn nicht vor den Frostriesen in Thar gerettet, wäre die Geschichte Faerûns möglicherweise ganz anders verlaufen ... Wenn Ihr heute von hier fortgeht, dann achtet auf Eu-
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re Worte und Taten, verkündete die melodiöse, körperlose Stimme. Die Worte schienen Rindas baufälliges Heim zu erfüllen und die bittere Kälte zu vertreiben. Cyric ahnt einen Verrat in der Feste. Er wird die Stadt beobachten. Ohne Magie fällt es ihm möglicherweise schwer, alle, die ihm dienen, im Auge zu behalten. Aber unterschätzt ihn nie. »Keiner von uns ist so töricht, möchte ich meinen.« Rinda warf einen Blick auf Fürst Fzoul. Der Agent der Zentarim mit dem feuerroten Haar stand statuengleich inmitten des Raumes und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die eine schwarze Rüstung bedeckte. Seine strengen Gesichtszüge hatten sich bei der Warnung zu einer Grimasse verzogen; er wußte, dass die Augen des Todesgottes jederzeit auf ihm ruhten. Nur die Kräfte ihres göttlichen Schirmherrn ermöglichten es ihm, diesen aufrührerischen Treffen beizuwohnen, ohne eine Entdeckung allzusehr fürchten zu müssen. Wie Fzoul nahm auch Vrakk die Neuigkeiten ernst. Der Ork ließ die warzenübersäte Stirn in die Hand sinken und verlieh seiner Bestürzung mit einem Grunzen Ausdruck. »Was, wir jetzt noch mehr herumschleichen müssen?« Im Himmel gehen Gerüchte um, daß Cyric geheime Waffen von Gond erworben hat, sagte die Stimme. Vielleicht handelt es sich um eine mechanische Vorrichtung, die den Verlust seiner Zauberkraft wiedergutmacht. Rinda fühlte, wie es etwas enger im Raum wurde. »Was wollt Ihr damit sagen? Sind wir hier nicht sicher?« Sie ließ die Feder fallen, und ein Tintenklecks blieb in der Ecke der rauhen Pergamentseite zurück, die vor ihr
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ausgebreitet lag. Der Schild, der sich über diesem Haus befindet, täuscht Cyrics Augen nach wie vor und läßt ihn glauben, Ihr ginget Euren gewöhnlichen Tätigkeiten nach, Rinda. Solange einer von Euch an diesem Ort ist, kann ich für seine Sicherheit garantieren. »Was ist mit meiner Tarnung?« fragte Fzoul zornig. »Wenn Ihr nicht irgendeine Illusion erschafft und Cyric glauben laßt, ich sei immer noch in meiner Feste, wird er Verdacht schöpfen. Ich kann nicht einfach zufällig jedes Mal verschwinden, wenn wir uns treffen.« »Oder ich!« knurrte Vrakk. »Ich gerade in Kaserne sein sollen.« Hodur unterbrach sein Würfelspiel mit Ivlisar lange genug, um das Unbehagen der anderen mit einem Kichern zu bedenken. »Vielleicht müssen wir einfach ohne Eure Gesellschaft auskommen, Ork«, bemerkte der Zwerg. »Hmm. Das wäre zu schade«, fügte der Leichenräuber hinzu, während er sich mampfend aus seiner allgegenwärtigen Schüssel Käfer bediente. »Ich hatte endlich angefangen, mich an Euren Geruch zu gewöhnen – fast wie ein umgekippter Wagen verfaulter Kürbisse, sagt mir meine Nase. Was denkt Ihr, Hodur?« Vrakk sprang auf, das Schwert in den graugrünen Pfoten. »Du nicht mehr wichtig«, zischte der Ork. »Wir holen andere, um Händler zu versammeln.« Der Elf sah zu Fzoul hin, doch der rothaarige Zentarim zuckte die Achseln. »Er hat recht.« »Der General hat meinen Scherz als Beleidigung mißverstanden«, sagte Ivlisar salbungsvoll. Er schob die
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Schwertspitze von seiner Brust fort. »Ich bitte vollständigst um Verzeihung.« Unter General Vrakks wütendem Blick fügte Hodur hinzu: »Ja. Wir beide tun das.« Jetzt ist nicht die Zeit, untereinander zu streiten, sagte die Stimme. Die Akkorde, die in jedem Wort mitschwangen, milderten die Spannung, die sich des Raumes bemächtigt hatte. Wenn wir Cyrics wahnsinnige Pläne aufhalten wollen, müßt Ihr Eure Fähigkeiten vereinen. »Also, was ist mit den Illusionen?« hakte Fzoul Chembryl nach. Ich werde sie so lange wie möglich aufrechterhalten, aber zählt nicht auf weitere Treffen hier. Es kostet mich viel Kraft, Euch und Vrakk vor Cyrics Augen zu verbergen, erwiderte die Stimme glatt. Einen Gott, besonders eine höhere Macht wie den Prinz der Lügen, zum Narren zu halten ist keine leichte Sache – selbst für mich nicht. Rinda sah von dem Pergament hoch, von dem sie gerade den Tintenfleck abkratzte. »Wer genau seid Ihr?« Kommt schon, Rinda. Ich habe Euch doch schon einmal gesagt, daß es für uns alle besser ist, wenn Ihr es nicht wißt. »Besser für Euch«, murmelte die Schreiberin. »Ich kann nicht im geringsten erkennen, was es mir bringt.« Ich hasse diesen Bluff, sagte die Stimme, plötzlich von rechtschaffenem Zorn erfüllt. Ich finde Illusionen und Betrug widerlich. Aber es gibt keinen anderen Weg, um gegen Cyrics Buch vorzugehen und die Welt seine wahre Lebensgeschichte wissen zu lassen. »Alles für eine gute Geschichte, wie?« fügte Hodur hinzu. »Ich wünschte, der kleine Säufer hätte als Sterbli-
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cher ein aufregenderes Leben geführt. Gibt es keine Möglichkeit, der Geschichte etwas mehr Würze zu geben – ihn nur ein paar Kämpfe gegen die Diebesgilde oder gegen die Viecher gewinnen zu lassen, denen er in Thar nachgejagt ist?« Cyrics Leben glich für einen Großteil seiner sterblichen Lebens-spanne dem der meisten Menschen, sagte die Stimme kalt. Aber seit der Zeit der Sorgen hat er bewiesen, daß sein früheres Versagen untypisch war. »Untypisch«, spottete Hodur. »Ich nenne das einfach langweilig.« In dem unbehaglichen Schweigen, das folgte, winkte der Zwerg dem elfischen Grabräuber und trottete zur Tür. »Wir sind weg«, platzte Hodur heraus. »Unten in der Schlange; da ist die Gesellschaft lustiger. Wir kommen aber wieder.« Er grinste Fzoul Chembryl feindselig an. »Ein paar von uns sind nicht so wichtig, daß die Götter sie von Hochsonne zu Hochsonne beobachten müssen.« Cyrics Aufmerksamkeit entgeht niemand, Hodur, besonders in dieser Stadt nicht. Es wäre gut, wenn Ihr das nicht vergessen würdet. Hodur verdrehte die Augen. »Wie ich Rin schon sagte – Ihr Menschengötter beeindruckt mich nicht. Wenn Ihr mal einen bösen Scheißkerl in Aktion sehen wollt, seht Euch Abbathor, den Zwergengott der Gier an.« »Oder Everan Ilesere, unseren Gott des Unfugs«, fügte der Leichenräuber mit seltsamem Stolz in der Stimme hinzu. »Das ist vielleicht ein mieser Typ.« Hodur nickte enthusiastisch, riß die Tür weit auf und machte einen Schritt auf die Straße hinaus. »Sie wissen,
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was sie wollen, und sie gehen einfach hin und nehmen es sich. Da gibt es kein Herumschleichen oder Herumspielen mit Sterblichen.« Er kicherte in seinen Bart. »Bei dieser ganzen Leisetreterei denke ich, daß Cyric Angst hat, mit der Hand in der Kollekte erwischt zu werden. Er ist einfach nur ein feiger –« Der Zwerg lief direkt in eine Mauer aus goldener Plattenrüstung hinein. Der Riese, der vor ihm stand, war mindestens drei Meter groß, die Hörner nicht mitgerechnet, die aus seinem Helm hervorragten. »Was zur Hölle sollt Ihr darstellen?« Der Inquisitor umklammerte Hodurs Kopf von beiden Seiten mit bratpfannengroßen Händen und hob ihn vom Boden auf. Die Widerhaken an den Handschuhen des seltsamen Ritters drangen tief ins Gesicht des Zwergs. Zwei Dutzend Blutrinnsale rannen Hodur über die Wangen und färbten seinen Bart dunkel. Der Zwerg brachte einen Schrei heraus; doch ob er aus Zorn oder Angst schrie, darüber würde sich Rinda nie ganz im klaren sein. Er landete mit den schweren Stiefeln einen brutalen Tritt in den Magen des Ritters. Er kratzte nicht einmal am Brustharnisch. Mit dicken, tastenden Fingern versuchte er, die Augen des Inquisitors zu erreichen, aber die rasiermesserscharfen Kanten der Sehschlitze schnitten ihm die Fingerspitzen ab. Hodurs Blick wurde langsam vom Schmerz vernebelt, aber er konnte noch immer die winzigen Schädel sehen, die zu Tausenden in die Rüstung graviert waren und ihn mit bösartigem Entzücken ins Gesicht lachten. »Stirb, Ketzer«, preßte Gwydion um die Gebißstange in seinem Mund herum, so gut er konnte. Er drückte die
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Handflächen zusammen. Der Kopf des Zwerges gab nach wie eine Melone unter der Ferse eines Riesen. Erst jetzt reagierte Ivlisar, betäubt von Schnaps und Furcht, und griff in der Hoffnung, ihn in Rindas Haus zurückzuziehen, nach seinem Freund. Es war zu spät. Hodurs blutüberströmter, lebloser Leib entglitt den Panzerhandschuhen des Inquisitors und fiel aufs Kopfsteinpflaster. Der Elf fiel neben der Leiche auf die Knie und nahm sie schützend in die Arme. Rinda machte eine Vorwärtsbewegung, aber Fzoul Chembryl hielt sie am Arm fest. »Keine Bewegung«, zischte der Priester. Die Schreiberin wehrte sich gegen Fzouls Griff, aber ihr göttlicher Schirmherr sagte: Tut, was er sagt. Die Worte waren voller Mißklang, die Tonlage durch einen schrillen Angstton verzerrt. Rindas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich dem Ding zuwandte, das über Hodurs Körper aufragte. Der Ritter in der goldenen Rüstung starrte mit offensichtlicher Verwirrung in den Augen durch die Türöffnung zurück. Es schien, als könne er irgendwie ihre Anwesenheit fühlen, und doch sagten ihm seine Sinne, daß der Raum bis auf den Elfen in der Tür leer war. Alle fünf standen einen Augenblick lang wie in einem Gemälde erstarrt – Ivlisar auf den Boden gekauert, Vrakk mit gezücktem Schwert geduckt und abwartend, Fzoul, der Rinda festhielt, während beide beim Anblick des Inquisitors zitterten und Gwydion, dem das Blut von den Panzerhandschuhen troff und der in einem Meer von Gebeten und Flüchen versank. Schließlich drehte sich der Ritter um und trat durch ein Portal, das sich vor ihm in
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der Luft öffnete. Das Bild des Inquisitors brannte sich in Rindas Gedanken ein und blieb noch klar und lebendig, lange nachdem Ivlisar Hodurs Leiche fortgezerrt hatte – zweifellos, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Der klarste Teil jener Erinnerung blieben die Augen des Ritters. In ihnen war keine Bosheit, kein Zorn gewesen, nur ein überwältigender Schatten der Hilflosigkeit. Der Ausdruck war der Schreiberin nicht fremd; viele der verzweifeltsten Bewohner des Armenviertels sahen sie mit solchen Augen an, wenn sie erklärten, warum sie ihre Körper in den Bordellen verkauft oder ihre Familien für ein paar Kupfermünzen an die Stadtwache verraten hatten. Aber nicht aus diesem Grund suchte das Bild ihre Gedanken heim. Als sie in jene trostlosen Augen gesehen hatte, die so völlig ohne Hoffnung gewesen waren, hatte Rinda sich selbst gesehen.
12 [ MARIONETTENTHEATER ]
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Worin Xeno Silbermähne und die Kirche Cyrics einen Umzug für die Bürger der Zentilfeste organisieren und Vrakk einem Puppentheater beiwohnt, das von den gekrönten Häuptern Faerûns in den höchsten Tönen gepriesen wird. Die bunte Prozession, die sich über den überfüllten Marktplatz bewegte, schien Vrakk einem Zirkus eher angemessen als einem religiösen Fest, obwohl in der Zentilfeste beides zu ein- und demselben geworden war. Eine kleine Armee von Priestern, die in dunkelviolette Roben gehüllt waren, führten die Schar an. Sie intonierten ein Gebet zu Cyric, wobei sich ihre Stimmen im Takt ihrer Schritte hoben und senkten. In vier Reihen und fünfundzwanzig Linien marschierten sie mit militärischer Präzision. Das entlockte General Vrakk ein Grunzen. In einer Stadt, in der die Priesterschaft bessere Soldaten anzog als die eigentliche Armee, hatte er nichts verloren. Wenn die Priester mit ihrer Darbietung an Marschierfertigkeit noch nicht genug waren, um sein Blut zum Kochen zu bringen, mußte Vrakk nur daran denken, was ihn heute zum Markt geführt hatte – Streifendienst in der Menge. Er war hochdekorierter General, Veteran in Azouns Kreuzzug, und man hatte ihn dazu eingeteilt, auf
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dem Marktplatz nach Taschendieben und Trickbetrügern Ausschau zu halten. Allein der Gedanke daran ließ ihn vor Wut schnauben. Am Ende des Gebetes erhob die Horde von Priestern die Hände in einem letzten Ausbruch begeisterter Anbetung zum klaren Winterhimmel. Silberne Armreifen, Symbole ihrer Leibeigenschaft durch den Prinzen der Lügen, blitzten hell im morgendlichen Sonnenlicht. »Oh Herr des Himmels und der Erde, verfügt über uns im Kampf gegen Ketzer, macht uns zu lebenden Schwertern, um die Ungläubigen zu schlagen!« General Vrakk unterdrückte den Drang auszuspucken. Den Priestern folgte eine lange Reihe seltener, aber auch gewöhnlicher Kreaturen. Die Leute auf dem Marktplatz wurden angesichts der Tiere munter. Sie hatten den Klerikern eine respektvolle Art der Aufmerksamkeit gewidmet und ihre Geschäfte mit weniger lautem Schreien getätigt; doch selbst die Händler unterbrachen ihr Hausieren mit überteuerten Nahrungsmitteln, billigem Schnaps und abgetragenen Leinen, um dem Umzug der Tiere zuzusehen. »Diese Kreaturen und viele andere wurden im Namen Cyrics eingefangen, um die Welt für seine Getreuen sicherer zu machen«, rief ein Marktschreier durchdringend. Seine saubere weiße Kleidung und das frisch gewaschene Gesicht hoben ihn von den schmuddeligen Bürgerlichen und den vom Umherziehen schmutzigen Händler ab. »Selbst die gefürchtetsten Tiere der Wildnis erzittern vor Cyrics ergebenen Kriegern ...« Fünf Bären bildeten die Spitze. Sie waren von einem
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übereifrigen Jäger aus ihrem Winterschlaf geweckt worden. Nun trotteten sie dahin, die Schnauzen mit Maulkörben versehen, jede Pfote in einen Leinensack gesteckt. Wie die meisten Kreaturen dieses Umzugs wurden die Bären durch gelangweilt aussehende Soldaten von der Menge ferngehalten, die entweder kurze Leinen oder ihre dicken Eichenknüppel in Händen hielten. Dem traurigen Zustand der Tiere nach zu urteilen schätzte Vrakk, daß sie schon fast zu Tode geprügelt worden waren. Sobald der Umzug vorbei war, würde man das Werk wahrscheinlich vollenden. Es folgte ein riesiger fleischfressender Affe zusammen mit einem Tiger, einem Sammelsurium von Wölfen und einer mannsgroßen Echse, die man aus ihrem unterirdischen Versteck gezerrt hatte. Ihre Augen waren blind, fahlweiß und blinzelten im Morgenlicht. Dann kamen ein Löwenpaar und ein gigantischer Wildeber, drei Tiere, von denen keines auch nur in der Nähe der Zentilfeste eingefangen worden war. Ein Trio mit Speeren bewaffneter Soldaten trieb einen Mino-taurus vor sich her. Kinder verspotteten den großen stierköpfigen Wächter verlorener Gräber und Labyrinthe, indem sie mit roten Kleiderfetzen wedelten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Minotaurus entwischte seinen Dompteuren beinahe, als ihm ein Betrunkener zu nahe kam. Er hatte versucht, das hungernde Tier mit einem Stück alten Brotes zu reizen, doch der Minotaurus hätte ihm den Arm bis zum Ellbogen abgebissen, wenn man ihm auch nur die geringste Möglichkeit gelassen hätte. »Ihr habt nichts zu befürchten«, rief der Marktschrei-
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er, als er die Besorgnis in den Gesichtern der Leute bemerkte, die sich in der Nähe des Minotaurus aufhielten. »Solange ihr Cyric treu seid, wird euch nichts Schlimmes passieren.« Auf einem Karren, der von einem Elefanten gezogen wurde, zitterte ein Meermann in einem riesigen Tank. Die Schuppen seines Fischschwanzes waren durch irgendeine Krankheit dunkel geworden, die Muskeln seines menschlichen Rumpfs schwabbelig durch die lange Gefangenschaft. Er starrte bittend hinaus auf die Menge – eine sinnlose Gebärde in der Feste, wo Sklavenversteigerungen so alltäglich waren wie Kneipenschlägereien. Die große Attraktion kam als nächstes: ein sehr junger weißer Drache. Der Wyrm war mit Ketten behängt und von einem Dutzend kräftiger Krieger umgeben. Von der stumpfen Schnauze bis zur Schwanzspitze konnte er nicht mehr als drei Meter messen, und die Flügel waren ihm gestutzt worden, so daß das Tier nicht davonfliegen konnte. Während er weiterging, zog und zerrte der Drache an den Ketten und schleifte erst einen, dann einen weiteren seiner Häscher an seine Kiefer heran, die von einem stählernen Maulkorb umschlossen waren. Jedes Mal, wenn der Lindwurm scheute, versengte ein Zentilar ihm den Schwanz mit einer Fackel, bis das Tier schreiend protestierte und ein paar Schritte weiterruckte. Vrakk starrte den Drachen erstaunt an, als er näherkam; die Zentilaren hatten ihm Cyrics heiliges Symbol sowie das Wappen der Zentilfeste mit Panzerhandschuh und Edelstein in die Flanke gebrannt. Obwohl weiße Drachen generell nicht so intelligent waren wie andere Wyrmer, neigten sie doch zu heftigen Vergeltungsmaß-
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nahmen für ein Unrecht, das man ihrer Art zufügte. Sollten die anderen Drachen aus dem Schwarm dieses Jungen je von dieser Brandmarkung erfahren, würden sie sich der Auslöschung der Karawanen widmen, die zwischen der Feste und anderen Städten verkehrten. »Wenn die Priester keine Angst vor den Wyrmern haben«, hörte Vrakk einen ziemlich unterbelichteten Händler ausrufen, »dann muß die Kirche so mächtig sein, wie sie sagen.« Ein angespanntes Schweigen, das genausogut ein donnernder Ruf des Widerspruchs hätte sein können, antwortete dem Mann. Nur wenige in der Feste waren so dumm, eine Behauptung bezüglich der Autorität oder der Macht der Kirche offen anzuzweifeln; nicht, wenn jeden Augenblick ein Inquisitor auftauchen konnte, um jeglichen offen formulierten Widerstand niederzuschlagen. Daher war das Schweigen zum bevorzugten Mittel geworden, der Unzufriedenheit mit Cyric oder seinen Gefolgsleuten Ausdruck zu verleihen. Wenn es aber nach Xeno Silbermähne und seinen Fanatikern ging, würde selbst auf diese stumme Revolte bald die Todesstrafe stehen. Dennoch erkannten die Zenter die Macht des Patriarchen an; als seine Kutsche auf den Marktplatz rollte, ertönten dumpfe Hochrufe. Sogar die Händler, die sich über die Parade ärgerten, weil sie ihnen wertvolle Zeit zum Handeln stahl, bezeugten ihre widerwillige Unterstützung. Ein paar besonders salbungsvolle Hausierer boten dem Trupp Zentilaren, der die luxuriöse Karosse des Hohepriesters umringte, Essen und Wein gratis an. Wie die Händler erwartet hatten, lehnten die Soldaten
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die Gaben mit ernstem Gesicht schweigend ab; die Hausierer wußten jedoch, daß die scheinbare Unterstützung Xenos und seiner Truppe ihnen später vielleicht wertvolle Gefälligkeiten einbringen könnte. »Eine Bekanntmachung Seiner Heiligkeit!« rief ein Herold, der steif auf der Rückseite der Kutsche des Patriarchen hockte. »All ihr treuen Bürger der Zentilfeste, all ihr treuen Anhänger des großen Gottes Cyric, versammelt euch und hört die Worte seines segensreichsten Dieners!« Die Karosse hielt ruckartig an, wie sie es bereits in einem Dutzend anderer überfüllter Stadtteile getan hatte, und Silbermähne erhob sich. Das Haar silberweiß und verfilzt, die Augen in eitler Selbstzufriedenheit verengt, ließ der Patriarch seinen Blick über den Marktplatz schweifen. »Fürst Cyric hat sich bereiterklärt, der Zentilfeste die Ehre zu erweisen, ihm in den Reichen der Sterblichen als Wohnstatt zu dienen«, krähte Xeno. »Aufgrund dieser großen Ehre ist der heutige Tag in dieser Stadt zum hohen Festtag erklärt worden. Alle Bürger sind bis zum Sonnenuntergang von der Steuer befreit.« Ein enthusiastischer und aufrichtiger Hochruf ertönte aus der Menge und dauerte fast so lange an wie der Umzug der Tiere, als er durch den Marktplatz gewankt war. Schließlich öffnete Xeno weit die Arme, als wolle er die Menschenmenge umarmen. »Wisset denn, daß wir unsere Anerkennung zeigen müssen, indem wir die Kirche Cyrics zur einzig wahren geistlichen Körperschaft der Stadt erklären. Keiner der angeblichen Götter darf in unseren Heimen oder unseren Tempeln verehrt werden,
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und alle heiligen Symbole und Bildnisse, die ihnen gewidmet sind, sollen als Schmuggelware gelten. Der Besitz solcher Gegenstände wird nach dem heutigen Sonnenuntergang als Ketzerei ausgelegt und zieht die laut Gesetz vorgeschriebene Bestrafung nach sich. Jeglicher Besitz besagter ketzerischer Kirchen geht an den Stadtstaat über.« In Xeno Silbermähnes Kutsche saß der frisch ernannte Herrscher über die Feste, der sich nun auf die Beine mühte. Sein furchtbar dünnes Gesicht schaute unter einer fellbesetzten Kapuze hervor. »Der g-gute PPatriarch spricht die W-Wahrheit«, stammelte er und deutete mit einem kleinen Spielzeugsoldaten auf die Bürger. »Laßt alle in meiner Stadt wissen, daß Fürst Cyric selbst unsere Sache für g-gerecht e-erklärt hat!« »Danke, Ygway«, sagte Xeno und schubste den Mann rüde zurück auf den Sitz. »Seid jetzt still. Wir wollen doch nicht, daß Ihr Euch zu sehr erschöpft.« Zur Antwort lächelte der junge Mann blöde und sank in sich zusammen. Er hob den Rest seiner Spielzeugarmee auf und begann erneut mit der Schlacht um den gepolsterten Sitz auf der gegenüberliegenden Seite. Der überfüllte Marktplatz war inzwischen in fast vollständiges Schweigen verfallen; nur hier und da war ein blechernes Geräusch zu hören, das von weggeworfenen heiligen Symbolen herrührte, die auf Kopfsteinpflaster fielen. Die meisten Anwesenden waren dabeigewesen, als man Tyrannos’ Bildnis nach der Zeit der Sorgen aus der Feste getilgt hatte, aber das hier war etwas ganz anderes. Cyric hatte Tyrannos als Herrn der Zwietracht ersetzt. Die Götter, deren Anbetung jetzt zur Ketzerei erklärt
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worden war, regierten noch im Himmel, herrschten noch über die Reiche der Sterblichen. Vrakk stand in einem Meer entsetzter Menschengesichter und musterte den Patriarchen sowie den geistig verwirrten Adligen an seiner Seite sorgfältig. Mit dem Verschwinden Fürst Schachs vor zehn Tagen hatte die Kirche die Kontrolle über die Stadtregierung an sich gerissen und Ygway Silbermähne als Herrscher über die Zentilfeste eingesetzt. Der Wahnsinn zog sich durch die gesamte Familie; das besagten zumindest die Gerüchte. Nachdem er Xeno und seinen sabbernden, zuckenden Neffen in Aktion gesehen hatte, war Vrakk anderer Meinung. Er zog sich nicht, er galoppierte wie ein tuiganisches Pony, dem man den Schweif angezündet hatte. »Wisset auch«, verkündete Xeno, »daß jegliche Ausreise aus der Stadt vorübergehend ausgesetzt worden ist, wenn keine Zustimmung der Kirche und der Regierung vorliegt. Diese Einschränkungen bleiben wirksam, bis Fürst Cyric die Inquisition für beendet erklärt.« Damit winkte der Patriarch seinem Kutscher. Seine Karosse ruckte an – nur um einen Augenblick später wieder anzuhalten, damit ein Dunghaufen aus dem Weg geräumt werden konnte. Vrakk schüttelte den Kopf; die Priester waren nicht so schlau gewesen, den Elefanten ans Ende der Prozession zu stellen. Ein Schwarm Novizen, denen man Cyrics heiliges Symbol auf die Stirn tätowiert hatte, fielen über den Marktplatz her, als die Parade vorübergezogen war. Sie sammelten die weggeworfenen heiligen Symbole sowie alle Handelsware auf, die vielleicht mit den frisch für verboten erklärten Bildnissen verziert sein mochten.
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Andere Priester hängten Plakate mit Xeno Silbermähnes Bekanntmachung auf oder suchten die Menge nach allen ab, die durch die Ankündigungen übermäßig verstört wirkten. Eine solche ungehörige Betrübnis konnte nur von einem Ketzer kommen. Vrakk beachtete die Kleriker kaum, während er seine Streife auf dem kleinen Markt fortsetzte. Im Hof befanden sich mehrere Verkaufsstände. Verkäufer hausierten mit allem, von Trockenfleisch bis hin zu Wolldecken. Es war nicht der größte Markt der Stadt, und die Waren hier eher gewöhnlich und kaum von Interesse, aber genau das war der Grund, warum man den orkischen General hier für die Streife eingeteilt hatte. Für einen Soldaten von seinem Rang und Namen hatte dieser Dienst die gleiche Bedeutung wie Straßenkehren. »He. Schweineschnauze«, knurrte jemand, während er General Vrakks groben Mantel von hinten packte. »Bist du so taub wie häßlich? Ich sagte, hilf mir mit diesem Ketzer hier.« Der Ork drehte sich um. Der Befehlston des jungen Mannes hatte ihn als Priester ausgewiesen, noch ehe Vrakk seine dunkle Robe und den säuerlichen, scheinheiligen Gesichtsausdruck sah. »Nenn’ mich General«, grollte Vrakk und schlug mit der Hand auf die Abzeichen auf seinem ledernen Brustharnisch. »Oder Herr.« »Kein Priester Cyrics wird je einen Ork mit Herr anreden«, schnauzte der junge Mann, »und kein Ork sollte von einer heiligen Stadt wie der Zentilfeste als General beschäftigt werden.« Er zerrte eine Frau an den Haaren nach vorn und stieß sie in General Vrakks Richtung. »Nimm sie in Gewahrsam.«
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Die Frau fiel auf die Knie; ihr Gesicht war olivfarben und wurde von dunklem Haar umrahmt. Sie war keine Zenterin, sondern eine Händlerin aus Turmish oder einem anderen der südlichen Länder. Ihre schlanken Hände umklammerten verzweifelt etwas, das sie dem Priester nicht geben wollte. »Der Patriarch«, begann sie unter Tränen, »sagte, wir haben bis Sonnenuntergang Zeit, unsere heiligen Symbole zu zerstören. Ich reise noch heute mit einer Karawane nach Hause, nach Alaghón. Ich habe die Genehmigungen der Kirche und der Adligen. Mein Gott wird kein Verständnis dafür haben, daß ich sein Bildnis grundlos zerstöre.« »Sie recht haben.« Vrakk zog die Frau mit einer fleischigen, graugrünen Pfote auf die Füße. »Das, was Xeno Silbermähne sagen. Ich nicht so taub und nicht hören.« Der Priester hielt dem Ork einen Papierbogen direkt unter die Schnauze. »In der Bekanntmachung steht, alle heiligen Symbole, die nicht von Cyrics Kirche herausgegeben wurden, sollen vernichtet werden.« Vrakk erkannte, daß er den Priester nicht einschüchtern konnte, also ließ er einen einstudierten Ausdruck der Tölpelhaftigkeit auf seine Gesichtszüge treten. Sein Mund stand gerade weit genug offen, daß man seine dunkle Zunge sehen konnte, und ein Speichelfaden zog sich um die zwei gelblichen Stoßzähne, die aus seinem Unterkiefer hervorragten. »Ah, mich nicht Zentisch lesen«, log er und fixierte den Priester mit roten Knopfaugen und seinem besten geistesabwesenden Blick. »Kann nur machen, was Silbermähne sagen, und er sagen, sie in Ruhe lassen bis Sonnenuntergang.« Die Händlerin aus Turmish ließ sich das nicht zwei-
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mal sagen und glitt unbemerkt in die Menge, während der junge Priester seinen Mißmut auf den orkischen Zentilaren konzentrierte. »Warum darfst du eine Uniform tragen?« wollte der Kleriker wissen. »Ich dachte, von deiner Sorte wären alle zu den Reparaturen an den Brücken abkommandiert worden.« Er hatte recht; den meisten Orks und Halborks unter den Zentilaren war die ehrlose Aufgabe zuteil geworden, sich an der Zwillingsbrücke die über den Tesch führte abzuplacken. General Vrakk war jedoch ein Kriegsheld. Die treuen Dienste, die er Fürst Schach und der Stadt geleistet hatte, zahlten sich für ihn in einer Freistellung von jener kränkenden Arbeit aus – trotz der Tatsache, daß die Kirche sich um einen Ausschluß aller Nichtmenschen aus dem Militär der Feste bemüht hatte. »Mich zu dumm für Arbeit an Brücken«, murmelte Vrakk und kehrte dem aufgeplusterten Priester den Rücken. »Muß jetzt Erlaubnis für Händler prüfen.« Der orkische Soldat tat sein Bestes, um den Ärger hinunterzuschlucken, aber er brannte ihm im Hals wie eine brennende Pechkugel. Er war ein guter Soldat gewesen, ein rastloser Verteidiger der Feste und der Kirche Cyrics. Orkische Seelen waren für den Prinzen der Lügen jedoch nicht von Bedeutung, und seine Gefolgsleute hatten getan, was sie konnten, um sie aus der Stadt zu vertreiben. Während er die eintönige Aufgabe in Angriff nahm, die Gildenlizenzen und Handelsgenehmigungen auf dem Marktplatz zu überprüfen, ertappte Vrakk sich dabei, daß er fast so oft knurrte wie die Priester, die die Verkaufsstände nach Schmuggelware durchsuchten – bis er auf einen alten Mann traf, der am Marktrand ein wack-
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liges Puppentheater aufbaute. »Ja bitte, mein Freund?« tönte der hagere Mann, als er Vrakk seine Aufenthaltsgenehmigung überreichte. »Aufführung von Priestern geprüft?« grunzte Vrakk. Der Puppenspieler verbeugte sich schwungvoll, wirbelte seinen gesprenkelten Mantel herum und zog mit einer großen Geste den breitkrempigen Hut. »Das letzte Mal, als ich in dieser schönen Stadt war«, zwitscherte er. »Der Stempel ist hinten auf der Genehmigung. Ein bißchen verblaßt, aber da kann man nichts machen; nicht, wo ich das letzte Jahr damit verbracht habe, um die Welt zu reisen, wißt Ihr.« General Vrakk händigte dem Mann den zerfledderten Pergamentstreifen aus und wandte sich ab. »Wenn Ihr einen Beutelschneider habt, dann er besser mit der Diebesgilde abgesprochen. Sie ihm die Hände abhacken, wenn nicht.« Der Mann schien entsetzt von der Andeutung, er würde einen Taschendieb anstellen, um die Menge zu erleichtern, obwohl das nicht selten war. »Otto Marvelius hat noch keinen Stammgast um eine einzige Kupfermünze gebracht. Ich biete gute, harmlose Unterhaltung. Aufführungen, die selbst einen von Cyrics Priestern zum Schmunzeln bringen würden«, – er beugte sich vor und zwinkerte verschwörerisch –, »und wir wissen ja beide, was für ein schwieriges Publikum die sein können, wie?« Der Puppenspieler ging an die Arbeit, während er einen derben Gassenhauer pfiff, der sich in den weniger achtbaren Häfen entlang der Schwertküste großer Beliebtheit erfreute. Die gestreiften Vorhänge und das grelle Vordach, das er über der kastenartigen Bühne ausroll-
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te, zogen wie ein magischer Flötenspieler sowohl Kinder als auch Erwachsene an. Vrakk trieb sich am Rande der wachsenden Menge von Straßenvolk und Bürgerlichen herum und hielt nach den unvermeidlichen Kleingaunern Ausschau, die hier auf Beutezug gehen würden. »Ihr lieben Leute der Zentilfeste«, begann Marvelius und stellte sich vor die Bühne, »an diesem Festtage bin ich in Eure großartige Stadt gekommen, um Euch ein Stück zu präsentieren, so unterhaltsam wie aufschlußreich. Ich habe dieses Historienspiel, in der ganzen zivilisierten Welt bekannt als ›Die Rettung der Tafeln des Schicksals‹ oder ›Cyric rettet den Tag’‹ für die gekrönten Häupter in Cormyr und die Kaiser des sagenhaften Shou Lung aufgeführt.« Mit theatralischer Eleganz entrollte er ein riesiges Pergament, das mit Siegeln und kunstvoll gestalteten Unterschriften bedeckt war. »Diese eidesstattlichen Erklärungen, abgegeben von solchen Berühmtheiten wie Bruenor Schlachtenhammer von Mithralhalle, Tristan Kendrick von den Mondschein-Inseln und Azoun IV. von Cormyr, bestätigen, daß die Geschichte selbst das unaufgeklärteste Publikum zu fesseln vermag.« Das Pergament hätte von irgend jemandem unterschrieben worden sein und alles mögliche bezeugen können, da die meisten Leute, die sich vor der Bühne versammelt hatten, nicht lesen konnten. Vrakk mußte beim Anblick der Ehrfurcht grinsen, die sich auf dem Meer von Gesichtern ausbreitete; Marvelius mochte vielleicht keine Taschendiebe anstellen, aber er war ganz sicher auf seine Weise ein Trickbetrüger. Marvelius hängte die Schriftrolle an einer Seite der
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Bühne auf und nahm dann ein weiteres, weniger beeindruckendes Stück Pergament zur Hand. »Mir wurde auch die Gelegenheit zuteil, dieses Stück in jedem der zahlreichen Täler südlich von hier aufzuführen.« Ein Zischen, das der Schausteller gewiß erwartet hatte, entwich der Menge. Marvelius hob eine Hand zur Beschwichtigung und zeigte das zweite Pergament vor, das mit Tintenklecksen, Essensresten und großen, dicken Xen übersät war. »Sie gaben ihr bestes, um auch eine eidesstattliche Erklärung zu schreiben, aber das war alles, was sie zustande brachten.« Er wartete, bis sich das leise Lachen ein wenig legte, und fügte dann hinzu: »Nur gut, daß Elminster Fürst Trauergrimm und den übrigen, äh, Kriegern im Schattental beigebracht hat, wie man Kreuze macht, oder das Ding wäre leer geblieben – und wo wir schon bei Marionetten sind, laßt uns mit der Aufführung beginnen, was meint Ihr?« Das Lachen und der tosende Applaus überbrückten die Zeit, die Marvelius brauchte, um hinter der Bühne Stellung zu beziehen. Inzwischen war General Vrakk nahezu hypnotisiert, als er dem Alten beim Spiel mit der Menge zusah. Die Zenter haßten die Leute aus den Tälern und besonders Trauergrimm und die Männer aus Schattental mit unvergleichlicher Leidenschaft. Indem er den Adligen und den alten Weisen, der ihn beriet, beleidigte, hatte Marvelius das Publikum sicher auf seine Seite gezogen – und dazu mehr als nur ein paar Kupfermünzen, als sein Gehilfe nach der Aufführung den Sammelkasten herumgehen ließ. Die Marionette einer schwarzhaarigen Frau mit knochenweißer Haut und seltsamen, scharlachroten Augen
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erschien auf der Bühne. Ihre blauweiße Robe und der groteske Zauberstab, den sie in der Hand hielt, wiesen sie als Mitternacht aus, den irdischen Avatar Mystras. »Oh je«, sagte sie. »Ich frage mich, wo die Tafeln des Schicksals sind. Wißt ihr es?« Ihre übertrieben schrille Stimme – die Marvelius’ verborgenem Assistenten gehörte – veranlaßte mehr als nur ein Kind, sich die Ohren zuzuhalten. Mitternacht beugte sich zum Publikum hin. »Nun, wenn es von euch keiner weiß – ich wette, ich kann erraten, wer sie hat. Oh, Kel? Wo ist mein tapferer Ritter?« Die Marionette, die Kel darstellte, war so bekannt wie die Mystras: Auf einem massigen Körper saß ein Kopf, den sich zu gleichen Teilen zwei Gesichter teilten. Die eine Seite war menschlich, mit groben Gesichtszügen, borstigen Koteletten und einem herabhängenden Schnäuzer. Die andere war katzenhaft, der Kopf eines Panthers, das Maul voller scharfer weißer Zähne. Die Kinder kreischten aus Furcht und Vergnügen, als Kelemvor, Panthergesicht zum Publikum, hinter Mitternacht auftauchte. Als sich Mitternacht umdrehte, wechselte Kel das Gesicht. »Da bin ich schon, meine Liebste«, antwortete er, wobei er betrunken lallte und seine Worte vor Dummheit troffen. »Hast du die Tafeln?« fragte Mitternacht. »Wir müssen sie zum Tiefwasser-Berg bringen und Fürst Ao zurückgeben.« »Nun, warum sollten wir das tun?« erwiderte Kelemvor und kratzte sich am Kopf. Er verschwand von der Bildfläche und kehrte mit zwei unscheinbaren Quadraten
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zurück, die die heiligen Artefakte darstellen sollten. »Man könnte schöne Tische oder ein paar gute Stühle aus ihnen machen.« Er versuchte, sich auf sie zu setzen. Mitternacht zog ihm mit ihrem Zauberstab eins über. »Du Tölpel. Wenn wir sie Fürst Ao zurückgeben, dann macht er uns zu Göttern.« Die Marionetten erstarrten und zitterten bei dieser Neuigkeit gerade lange genug vor Überraschung, um dem Publikum ausreichend Gelegenheit zum Rufen und Zischen zu geben. »Dann können wir allen, die wir mögen, ganz viel Macht geben.« »Zum Beispiel den Zentern?« fragte Kel töricht. Die Menge jubelte, aber Mitternacht brachte sie zum Schweigen. »Natürlich nicht. Wir mögen die Leute aus den Tälern, besonders den gutaussehenden Fürsten Trauergrimm. Wenn wir den Berg zuerst erreichen, dann werden wir Götter und helfen ihnen, die Welt zu erobern!« Der Chor von Buhrufen erstarb beim Auftritt einer hübschen, hakennasigen Cyric-Marionette am Rande der Bühne. »Das kann ich nicht zulassen!« rief er dem Publikum zu und schwang sein rosenfarbenes Schwert über den Köpfen der Kinder, die sich dicht herangedrängt hatten, um das Stück zu sehen. Während Mitternacht und Kel Richtung Tiefwasser trotteten, Schlich Cyric hinter ihnen her, blieb aber in der Nähe des Büh-nenrandes. Die beiden unterbrachen gelegentlich ihre Scheinsuche, um einander zu schlagen oder wie wild zu umarmen. Dann schlich sich Cyric immer an und kam seinem Ziel, die Tafeln des Schicksals zu stehlen, jedes Mal ein wenig näher. Immer war es etwas anderes, was bei jedem Versuch zur Gefangen-
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nahme des Diebes führte – und jedes Mal überzeugte er das törichte Duo, ihn gehen zu lassen. »Der alte Moralapostel macht seine Sache gut. Das muß ich ihm lassen«, flüsterte eine Stimme in Vrakks Ohr. »Verschwindet«, grollte der Ork und machte sich gar nicht erst die Mühe, Ivlisar anzusehen. Der Leichenräuber schnaubte vor scheinbarer Entrüstung. »Eine tolle Art, einen Kameraden zu behandeln. Nur, weil ich Euch seit zehn Tagen nicht mehr gesehen habe ... nun, da kann man jetzt auch nichts mehr machen, oder? Höhere Mächte und so weiter.« General Vrakk versuchte, einen gleichgültigen Eindruck zu machen, während er außen um das Publikum herumlief, aber der Elf blieb an seiner Seite. Der Ork mußte Ivlisar nicht ansehen, um zu wissen, daß er getrunken hatte; der Atem des Leichenräubers roch bei jeder einzelnen Silbe nach billigem Schnaps. »Ich habe Tage gebraucht, um Euch zu finden.« »Zeitverschwendung«, knurrte Vrakk. »Ich verlasse die Stadt.« »Na und?« Ivlisar trat vor den Ork, die Schultern auf eine Weise gestrafft, die an eine militärische Haltung erinnerte. Seine spindeldürre Gestalt war unter drei Mantellagen verborgen, und er hatte sich einen grauen Überwurf um die Schultern gewickelt. Er bewegte sich fast so steif wie die Marionetten, die einander auf der Bühne heftig bekämpften, obwohl sein Gesicht lebhaft vor Schock und Ärger war. »Sorgt Ihr Euch nicht um meine Verbindungen?« frag-
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te der Elf und lief bis in die Enden seiner spitzen Ohren rot an. »Ihr braucht mich, wißt Ihr.« Nervös musterte Vrakk die Menge. Kein Priester in der Nähe, doch der grimassenschneidende Novize, der ihn zuvor beleidigt hatte, stand in der Nähe der Bühne und sah sich das Puppenspiel an. »Wir finden anderen Händler. Wiederseh’n.« »Hier sind Zwerge und Elfen nicht mehr sicher«, schwafelte Ivlisar. »Fragt den armen Hodur. Die Kirche macht sich auch nichts aus Orks. Ich wette, kein Mensch zu sein wird bald auch zur Ketzerei erklärt ... und diese Inquisitoren – ich habe gehört, Cyric bringt ihnen bei, Gedanken zu lesen.« Er hatte die Beherrschung verloren, und die aufgestaute Furcht ließ seine Stimme lauter werden, als es die Umsicht gebot. »Dann muß man gar nichts mehr gegen die Kirche sagen. Man muß –« Der Ork klatschte eine Hand auf Ivlisars dünnlippigen Mund. »Klappe«, zischte er. Einige Erwachsene in der Nähe hatten sich nach dem Leichenräuber umgedreht, als ihre Aufmerksamkeit durch sein Geschwätz vom Puppenspiel abgelenkt wurde. »Dämlicher Säufer«, rief Vrakk und stieß den Elf auf das Kopfsteinpflaster. »Geh Rausch ausschlafen.« »Ketzer!« rief jemand. Vrakk sah hoch, auf die anklagenden Finger der Menge gefaßt. Aber es war nicht Ivlisar, der sich den Zorn von Cyrics Getreuen zugezogen hatte. »So ist die Geschichte nicht passiert«, rief der Novize mit dem griesgrämigen Gesicht in Richtung Bühne. »Cyric mußte die Tafeln des Schicksals nicht stehlen! Du läßt unseren Gott aussehen, als sei er nicht mehr als ein ge-
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wöhnlicher Dieb!« Der alte Schausteller lugte über die Oberkante der Bühne, und mit ihm die Frau, die ihm zur Hand ging. »A-Aber die Kirche«, stammelte Otto Marvelius. »Der Patriarch hat es im letzten Jahr abgesegnet. Er sagte, die Geschichte sei so passiert. Ich ändere gern –« Es war zu spät für Entschuldigungen oder Rückzieher. Drei Inquisitoren tauchten auf, einer auf je einer Seite der Bühne, einer dahinter. Cyrics Ritter in den goldenen Rüstungen zerschmetterten den wackeligen Holzkasten und zerfetzten die bunten Vorhänge und das Vordach. Dann zerstreute sich die Menge schreiend, und Vrakk konnte die Leute gerade noch davon abhalten, sich gegenseitig und die herumstehenden Verkaufsstände der Händler zu zertrampeln. Hätten die Eltern ihre Kinder nicht schnell bei den ersten Ketzereirufen weggebracht, wäre es am Schauplatz noch chaotischer zugegangen. Otto Marvelius blieb bis zum bitteren Ende ein Trickbetrüger und versuchte, die Angst in seiner Stimme zu verbergen, als er sagte: »Es hat ein Mißverständnis bezüglich der örtlichen Gebräuche gegeben. Nichts weiter. Wir werden den entstandenen Schaden wiedergutmachen und eine beträchtliche Summe an die Kirche abtreten, um – um – um für angemessene Aufführungen zu bezahlen. Sie können hier auf diesem Marktplatz stattfinden ...« Der Puppenspieler versuchte noch immer, die Sache in Ordnung zu bringen, als einer der Inquisitoren ihm mit der Faust die Brust durchschlug. Marvelius’ Lehrling reagierte nicht annähernd so gut auf den Angriff. Sie schrie und rollte sich eng zusammen,
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zweifellos in der inständigen Hoffnung, sie möge jeden Augenblick aufwachen, und all diese Gräßlichkeit würde sich dann als schrecklicher Traum entpuppen. Es sollte nicht sein; die restlichen gepanzerten Vernichter der Andersgläubigkeit rissen sie auf häßliche Weise in zwei blutige Hälften. Dann, nachdem sie alle drei Marionetten zu Scherben zerstampft hatten, lösten sich die Inquisitoren in Luft auf. Panik verschleierte Ivlisar die Augen, während er sich an Vrakk klammerte. »Ich werde die Stadt verlassen.« »Ist mir egal!« rief der Ork. Er versuchte, den Leichenräuber von einem Arm zu schütteln, während er mit dem anderen sein Bestes tat, um die aufgebrachte Menge abzuhalten. »Besorgt mir einen Paß.« General Vrakk gab den Kampf auf und blieb still inmitten des vorbeistürzenden Mobs stehen. Einige prallten auf seinen stahlharten muskelbepackten Körper, stellten aber fest, daß er so fest verwurzelt stand wie eine tausendjährige Eiche. Zweimal wurde Ivlisar von der Menschenmenge ein paar Schritte fortgeschleift. Beide Male arbeitete sich der Elf zurück, die bittenden Augen auf das graugrüne Gesicht des Orks geheftet. Dann war der Mob vorübergezogen, und die beiden standen einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Ich brauche einen Paß«, wiederholte Ivlisar. »Ich betreibe kein legales Geschäft, also wird mir die Stadt keinen geben. Ihr müßt das einfach für mich tun. Vielleicht ist Fzoul in der Lage –« »Sprecht seinen Namen nie laut aus«, sagte General
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Vrakk. »Ich werde noch mehr sagen.« Nervös verknotete Ivlisar seine langen Finger mit dem Saum seines Mantels. »Tut es nicht«, warnte Vrakk ihn einfach. »Wenn Ihr mir keinen Paß besorgt –« Der Leichenräuber kam nie dazu, die Drohung auszusprechen. Vrakk stieß sein Schwert tief in die Brust des Elfen. Nicht der sauberste Tod, den der Ork je gebracht hatte, aber ganz sicher einer der schnellsten. »Was glaubt Ihr, was Ihr da tut?« rief der Priester mit dem griesgrämigen Gesicht, als er auf Vrakk stieß, der sein Schwert an der Leiche des Elfen abwischte. »Er Kirche verfluchen, ich ihn töten«, murmelte der Ork. »Goldene Ritter nicht zurückkommen müssen.« »Was hat er gesagt?« Tausend herrliche Beleidigungen kamen Vrakk in den Sinn, aber das blutüberströmte Kopfsteinpflaster hielt seine Zunge im Zaum, bevor er sie aussprechen konnte. Welche Beleidigung er dem Toten auch anhängte, sie würden seine eigene Ketzerei bleiben. Der Ork hielt sich das eine Nasenloch mit einem warzenbedeckten Finger zu und blies den Inhalt des anderen geräuschvoll auf den Boden. »Äh, mich nicht erinnern.« »Du bist nichts weiter als ein Tier«, sagte der Novize, und der Ekel stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er zeigte auf die zerschmetterte Bühne und schnauzte: »Räum’ das Chaos weg und dann werde diese Leichen los, bevor die Wiederbeleber sie davonkarren. »Nicht mehr so viele Leichenräuber hier, hab’ ich gehört«, murmelte Vrakk im Scherz. Er begann, ein Feuer in Gang zu bringen, um die Büh-
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ne, die kaputten Marionetten und schließlich sogar die Leichen zu vernichten; obwohl der Geruch hier den Händlern nicht gefallen würde, sobald sie zurückkehrten. Warte, bis Das wahre Leben vollendet ist, erinnerte sich Vrakk, während er einen Blick zurück auf den Novizen warf. Dann sind wir an der Reihe, die Marionetten auszusuchen, die auf den Scheiterhaufen kommen ...
13 [ DER PREIS DES SIEGES ]
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Worin die Herrin der Mysterien beweist, daß sie den Wert guter Handwerksarbeit zu schätzen weiß, aber nur wenige im Kreis der höheren Götter gutheißen, wie sie diese Wertschätzung in die Tat umsetzt. Gwydion konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Leute er abgeschlachtet, wieviel Blut er in Cyrics Namen vergossen hatte. Ein Teil seiner Seele schrie jedes Mal, wenn er seine Hand im Panzerhandschuh um jemandes Kehle legte, aber jener schwache Aufschrei konnte die Dringlichkeit der Anweisung des Todesgottes, alle Ketzer zu töten, nicht abschwächen. Gwydion wußte, daß er keine andere Wahl hatte, als Cyrics wahnsinnigen Befehlen Folge zu leisten. Das spielte aber keine Rolle. Die Schuld lud immer noch er auf sich. Das Stimmengewirr in der Feste war seit seiner Verwandlung leiser geworden. Oder vielleicht hatte Gwydion sich an das fortwährende Summen der Gebete zum und Bitten an den Prinzen der Lügen gewöhnt. Was auch immer den Tatsachen entsprach, das Ergebnis blieb das gleiche: Während er in einer Zwischenebene irgendwo zwischen der Stadt der Zwietracht und den Reichen der Sterblichen schwebte, ertappte Gwydion sich dabei, wie er einen winzigen Augenblick nahezu vollkommenen
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Schweigens genoß. Die neun Inquisitoren hatten ihre Arbeit gut gemacht. Nur selten platzte ein Ketzer mit einer Ablehnung von Cyrics Macht heraus oder focht sein Mandat der Herrschaft über den Himmel an. Wenn Cyric Xeno nicht das Recht gewährt hätte, die Definition von Ketzerei abzuändern, hätten die Ritter des Hades vielleicht tagelang untätig herumgesessen. Nun verbrachte Gwydion seine Zeit damit, die Gegner eines jeden neuen Kirchenerlasses herauszufiltern. Die Ketzer, denen er begegnete, waren des öfteren schwächere Gegner Xeno Silbermähnes; aber das Vorgehen gegen den Patriarchen endete inzwischen genauso tödlich wie das Beleidigen seines Gottes. Was die verbliebenen acht unheiligen Ritter anging, so waren sie in andere Städte in Faerûn entsandt worden, andere Orte, die Cyric für die Förderung seines Kultes für unabdingbar hielt. In Mulmaster, Teschwelle und Yûlash hatten Inquisitoren neue Kriege gegen die Ketzerei begonnen. Die Festung Dunkelburg und die Rabenzitadelle, als Zentren der Intrige der Zentarim bekannt, wurden ebenfalls von den goldgepanzerten Schrecken heimgesucht. Wie sie es bereits in der Feste getan hatten, führten die Inquisitoren ihre Schläge plötzlich und heftig gegen jeden, der sich gegen den Prinz der Lügen oder seine Kirche äußerte. Der Widerstand an diesen Orten war stärker, aber dennoch zwecklos. Nachdem sich diese Städte einmal Cyrics Willen gebeugt hatten, gab es noch viele andere, die auf eine Offenbarung der Wahrheit des Todesgottes und seiner Macht warteten ... »Cyric ist ein Feigling. Ein Gott muß ein Feigling sein,
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wenn er mechanische Schläger benutzt, um Sterbliche zu überwachen!« Die Vehemenz der Beleidigung schreckte Gwydion aus seiner Atempause auf. Nach zehn Tagen undeutlich gemurmelter Drohungen gegen niedere Priester oder gelallten Wetterns Betrunkener gegen alle Mächte und das Schicksal – den Herrn der Toten inbegriffen – ertönte die deutliche, entschlossene Herausforderung im Bewußtsein des Inquisitors wie eine Feuerwerkssalve aus Shou. Gwydion betrat die Reiche der Sterblichen in der Mitte der Energiebrücke. Der vereiste Tesch floß träge unter der langen Steinbrücke, und Möwen kreisten in der Luft. Vor ihm saß auf einem niedrigen Geländer, das am Rande des Brückenbogens verlief, eine bucklige alte Frau. Sie schien so zerbrechlich wie elfischer Kristall, so dünn, daß der kalte Winterwind sie hinauf in die Dämmerung blasen mochte, die gerade über die Feste hereinbrach. »Da bist du ja«, lachte sie. Die Greisin erhob sich steif, und das blauweiße Tuch fiel von ihren Schultern. Der Stoff tanzte über den Boden wie ein riesiges abgestorbenes Blatt. Gwydion machte zwei schnelle Schritte auf die Ketzerin zu und hielt inne. Das war keine Sterbliche. Unter der gealterten Fassade lauerte die Macht einer Göttin. Der Inquisitor roch das Knistern von Blitzen in ihren Bewegungen, spürte das Zittern der Brücke unter jedem ihrer Schritte, und aus dem Körper der Frau entsprang eine Million dünner Lichtschnüre, die sie mit dem magischen Gewebe verbanden, das die Welt umgab. Sie konnte niemand anderes sein als die Göttin der Magie selbst.
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»Göttin«, sagte Gwydion mit belegter Stimme. Von seinen Lippen kam das Wort, als sei es das abscheulichste Schimpfwort, mit dem er aufwarten konnte. »Ketzerin.« »Nun«, sagte die Greisin, und ein Anflug von Überraschung huschte über ihr Gesicht. »Entweder bist du besser, als ich erwartet habe, oder meine Illusionen sind nicht viel wert.« Die Fassade fiel und strömte wie Wasser an ihr herab. Zum Vorschein kam der junge, schwarzhaarige Avatar, dessen Gestalt Mystra für gewöhnlich in den Reichen der Sterblichen annahm. Als Gwydion weiterging, legte sich der Schal um seinen Fuß. Für einen Moment rieb er sich an ihm wie eine Hauskatze, dann verwandelte er sich auch. Der zerrissene Stoff wurde zu einem Laken aus magischer Kraft. Auf eine Fingerbewegung Mystras »in glitt das leuchtende Laken unter den Stiefel des Inquisitors. Es zerrte und versuchte, den Riesen zu Fall zu bringen, blieb aber bald schlaff liegen. Gwydion richtete seine Zehen abwärts und fuhr mit den rasiermesserscharfen Spitzen des Stiefels über das schimmernde Quadrat. Das von einem Gott geschmiedete Metall zerriß die Verzauberung und fetzte sie in blauweiße Streifen, die sich schnell in Luft auflösten. Alarmrufe ertönten von beiden Seiten der Brücke. Orks der Zentilaren säumten das südliche Ende des Brückenbogens, weit entfernt vom Kampf; sie hielten beim Ausbessern der Stützbalken inne, um die seltsamen Krieger zu beglotzen und zu johlen. Am gegenüberliegenden Ufer ertönte ein Horn. Menschliche Soldaten mit Langbögen tauchten oben auf dem Zwillingstorhaus auf,
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während andere die riesigen Tore zuschoben. Mystra warf einen Blick in beide Richtungen, um sicherzugehen, daß sich kein Sterblicher in die Schlacht einmischen würde. Gwydion nutzte die vorübergehende Ablenkung zum Angriff. Als Mystra sich wieder dem Inquisitor zuwandte, ragte er über ihr auf und hatte mit den Fäusten zum Schlag ausgeholt. Sie schaffte es gerade noch, dem Doppelschlag auszuweichen, der die Brücke wie ein Blitzschlag traf. Riesige Brocken Mauerwerk stürzten vom Fußweg in den Tesch. Furcht ergriff den Teil von Gwydions Geist, von dem Gonds Hülle noch nicht Besitz ergriffen hatte. Er griff eine Göttin an! Seine Furcht verlangte, daß er davonrannte, floh, aber die Dringlichkeit von Cyrics Anweisungen übermannte diese Gedanken. Mystra war eine Ketzerin. Sie mußte vernichtet werden. Der Inquisitor ging erneut zum Angriff über, täuschte zuerst rechts an und schnellte dann nach links. Er erwischte Mystras Arm, als sie versuchte, dem Schlag mit einem Schritt zur Seite auszuweichen. Der Ellbogen des Avatars zersplitterte in Gwydions Griff. Die Haken an seinen Panzerhandschuhen rissen ihr lange Streifen von Fleisch aus dem Arm, als sie ihn wegzog. Mystra zeigte keine Furcht vor Gwydion und keinen Schmerz, den sein Angriff verursacht haben mochte. Mit flinken Fingern zeichnete sie ein arkanes Muster ihren Arm entlang, und die Wunden verheilten. Wütend ging Gwydion erneut auf sie los, und wieder wich Mystra dem Schlag aus. Die Faust des Inquisitors schlug ein weiteres Loch in die Brücke. Steine und Balken brachen unter den Füßen der Göttin weg, doch sie
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schwebte über den Riß. Als Mystra auf der anderen Seite der Lücke landete, sprach sie eine der mächtigsten Verzauberungen aus, die man in den Ebenen kannte. Mit einem einzigen Wort, das nur die gelehrtesten aller Zauberer kannten, bildete Mystra um sich und Gwydion eine Kugel aus fahlem, silbrigem Licht. Der Inquisitor spürte die Erschütterung des Spruchs und fühlte, wie er langsamer wurde. Seine geschärften Sinne registrierten ein Dutzend seltsamer Begebenheiten gleichzeitig. Die Trümmer fielen nicht mehr aus dem Loch zwischen ihm und Mystra in den Fluß. Die Bruchstücke hingen reglos in der Luft. Die Geräusche vom Hafen der Stadt und von den geschäftigen Straßen, das Trompeten von den Zinnen und die Rufe der Orks waren plötzlich aus seinen Ohren verbannt. Die feine Abnutzung, der Verfall der Brücke durch den Wind hatte aufgehört. Mystra hatte die Zeit angehalten. Der Spruch hätte ausreichen sollen, um die Schlacht zu beenden. Fast so schnell, wie seine Sinne ihn darüber informierten, was Mystra getan hatte, stellte der Inquisitor jedoch fest, daß er sich erneut in Bewegung gesetzt hatte. Zum ersten Mal konnte Gwydion die Emotionen der Göttin an ihrem schönen Gesicht ablesen. Ihre nichtmenschlichen Augen zeigten leichte Überraschung; an ihren zusammengepreßten Lippen konnte der Ritter jedoch erkennen, daß Mystra ein Versagen des Zaubers erwartet hatte. Sie lotete seine Grenzen aus, spielte mit ihm. Wieder wollte Gwydion fliehen, aber Cyrics Anweisungen trieben ihn voran, in die Falle, von der er jetzt wußte, daß die Herrin der Mysterien sie ihm gestellt
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hatte. Die Silberkugel verschwand, und Zeit füllte die Leere. Die Welle von Geräuschen, Gerüchen und Empfindungen erschütterte den Inquisitor und brachte ihn lange genug aus dem Gleichgewicht, daß Mystra einen Diener aus ihrer Burg im Nirvana herbeirufen konnte. Der Marut, den Mystra rief, war nicht annähernd so groß wie der, den Gwydion beim Aufsammeln der Seelen ihrer Getreuen auf der Fugenebene gesehen hatte, aber er war trotzdem riesig. Die massige Kreatur ragte siebeneinhalb Meter in die Luft, und ihr steinhartes Fleisch war so schwarz wie die Mauern der Zentilfeste. Eine verzauberte Rüstung, von Mystra gesegnet, um jedem körperlichen Angriff standzuhalten, bedeckte seine Arme und den breiten Brustkasten. Eine Hand des Maruts umklammerte ein stabiles Stück Kette, die andere einen gewaltigen Käfig. Die Kreatur mit der onyxfarbenen Haut erschien direkt vor Gwydion. Das Geräusch, das ihr Aufeinanderprallen verursachte, wogte über die Stadt, ein gequältes Aufeinandertreffen unzerstörbaren Metalls und steinernen Fleischs. Jene in der Feste, die die Zeit der Sorgen durchlebt hatten, erzitterten bei dem Getöse; der Widerhall über ihren Häusern und Läden ähnelte einem anderen Mißklang aus jenen dunklen Zeiten: der katastrophalen Zerstörung von Tyrannos’ Tempel. Sowohl der Inquisitor als auch der Marut stolperten ein paar Schritte rückwärts, bereit, sich erneut aufeinanderzustürzen. Der Marut schlug zuerst zu und ließ den Käfig niedersausen, so daß Cyrics Gefolgsmann darin gefangen saß. Gwydion ergriff die Stäbe. Seine Kraft
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hätte reichen sollen, um den Stahl wie Papier zu zerreißen, aber er hielt stand. Weitere Gitterstäbe glitten aus dem Rahmen und riegelten den Boden ab, ehe der Inquisitor sich abwärts durch die Brücke graben konnte, und als er versuchte, die Reiche der Sterblichen zu verlassen und sich durch die Ebenen in Cyrics Reich zurückzuziehen, stellte er fest, daß die Mechanismen der Rüstung versagten. »Gond hatte recht«, sagte Mystra, während sie den Käfig umrundete. »Die Rüstung ist vollkommen resistent gegen Magie.« Der Käfig ist nicht magisch? fragte der Marut. In den Gedanken der Göttin hallte die Stimme der Kreatur wider, als käme sie aus den Tiefen einer Höhle. Wenn sich solch ein Krieger nicht daraus befreien kann, dann ist es doch sicherlich keine gewöhnliche Vorrichtung. »Mechanisch«, erwiderte Mystra. Sie fuhr fort, das Gefängnis zu umkreisen wie ein Kind im Zoo. »Der Käfig ist mechanisch, genau wie die Rüstung. Gond hat die Gitterstäbe speziell angefertigt, um die Stärken der Rüstung, die er gebaut hat, aufzuheben und ihre Schwächen auszunutzen.« Dann gleicht der Käfig einem Zauberwendeschild? Mystra lächelte. »Eher ein Feuer, mit dem man Feuer bekämpft. Kraft und Gegenkraft.« Bah. Ich sage trotzdem, daß er irgendwie magisch ist. Der Marut hakte mürrisch das Stück Kette am oberen Ende des Käfigs ein, damit er ihn tragen konnte, ohne dabei dem Inquisitor zu nahe zu kommen. »Es ist nur dann Magie, wenn man nicht versteht, wie es funktioniert«, murmelte die Herrin der Mysterien.
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Gwydion ahmte die Bewegungen der Göttin nach, während sie auf und ab ging, und versuchte, sie zu packen, wann immer sie in Reichweite kam. Nachdem er sich nach einem Schlag in ihr Haar gekrallt hatte, unterbrach Mystra ihre Inspektion der Rüstung und sah sich den Helm und die Seele, die in ihm gefangen war, sorgfältiger an. Obwohl der Inquisitor sich noch immer gegen die Gitterstäbe warf, starrten seine Augen – Gwydions Augen – der Göttin hilflos aus dem goldenen Gefängnis entgegen. »Kannst du mich hören?« fragte Mystra. Der Teil von Gwydions Seele, den die Rüstung beherrschte, schrie nach der Ketzerin Blut. Wie sehr er es auch versuchte, er konnte sich zu keinem Wort und keiner Geste zwingen, um der Göttin zu antworten. »Keine Sorge«, sagte Mystra nach einer Weile. »Ich hole dich da raus, sobald wir deine acht Brüder eingefangen haben. Dann kümmern wir uns darum, Cyric dafür büßen zu lassen.« Ein Mahlstrom wütete in Gwydions Kopf. Gebete, in denen Cyric angerufen wurde und feierlich geschworene Eide verschwammen mit den geflüsterten Ketzereien, die er nicht mehr bestrafen konnte. Er warf sich immer wieder gegen die Gitterstäbe; aber tief in seinem Inneren, im Herzen des Sturms, sprach Gwydion ein stummes Dankgebet dafür, daß das Töten aufgehört hatte.
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»Herrin Mystra«, sagte Tyr, »Ihr seid angeklagt, das Gleichgewicht vorsätzlich gefährdet zu haben; keine
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schwerere Anschuldigung kann gegen eine Gottheit vorgebracht werden. Bekennt Ihr Euch schuldig?« »Ich bekenne gar nichts«, schnauzte die Göttin der Magie. »Die Anschuldigung ist lachhaft.« An seinem Tisch zu Tyrs Rechten ließ Oghma einen Seufzer vernehmen. »Ich verstehe das als ein ›nicht schuldig‹«, sagte der Binder ohne eine Spur von Humor. Der Pavillon von Cynosure quoll über von Göttern und Halbgöttern aus allen Teilen Faerûns. Gottheiten, die sich selten im Pavillon blicken ließen – Labelas Enoreth, der elfische Gott der Langlebigkeit, Garl Glittergold, Vater aller Gnome, der finstere Grumbar mit dem unbeweglichen Gesicht, Beherrscher der unwirtlichen Elementarebene der Erde und hundert andere – nahmen auf seit langem nicht mehr benutzten Sitzstufen Platz, die sich auf beiden Seiten des Raumes erstreckten. Öffentliche Prozesse gegen eine aus dem Kreis der höheren Götter waren selten, und nur wenige würden sich die Gelegenheit entgehen lassen, Zeuge eines solchen Spektakels zu werden. Mystra hatte ihren traditionellen Posten im hinteren Teil des Arbeitszimmers eines Zauberers eingenommen, als den sie den Pavillon wahrnahm. An ihrer Seite standen die neun Inquisitoren, gefangen in den Käfigen aus unzerstörbarem Stahl, der von Gond geschmiedet worden war. Tyr blickte der Göttin blind von der anderen Seite des Arbeitszimmers aus ins Gesicht, das Rednerpult mit einer einzelnen Hand umklammernd, als sei es eine Kanzel und er ein leidenschaftlicher Prediger. Es gab nichts, was der Gott der Gerechtigkeit mehr liebte als einen Prozeß; besonders dann, wenn er einem seiner
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Mitgötter gemacht wurde. »Mitglieder des Kreises«, begann Tyr, »die Herrin Mystra wird angeklagt, einen Rachefeldzug gegen den rechtmäßigen Herrn der Toten zu führen, wobei sie die Konsequenzen für das Gleichgewicht eklatant mißachtet hat. Um zu einem Urteil zu gelangen, müssen wir zwei – « »Wenn mein Verbrechen so schrecklich ist«, schnauzte Mystra, »warum hat man mich nicht Ao vorgeführt?« Tyr schnitt ob der Unterbrechung eine Grimasse, aber Oghma sah von seinen Notizen auf. »Euer Ankläger verlangte, daß die höheren Götter als Geschworene auftreten«, sagte der Schutzpatron der Barden. »Als einem Mitglied des Kreises stand ihm dieses Recht zu.« Oghmas Stimme war voller Zorn, das blutige Lied eines Mobs, der im Begriff war, jemanden zu lynchen. Ihr Tonfall ließ einen ungläubigen Ausdruck in Mystras Augen treten. »Habt Ihr mich herholen lassen?« murmelte sie. Als der Binder den Kopf schüttelte, ließ die Göttin ihren Blick über die anderen höheren Götter schweifen, die auf dem Fußboden des Pavillons verstreut saßen. »Wer dann?« «Kannst du dir das nicht denken?« rief Cyric aus der Menge der niederen Mächte und nichtmenschlichen Gottheiten, welche die Sitzstufen bevölkerte. Er erhob sich und sah der Herrin der Mysterien ins Gesicht. »Ihr anderen habt das ernstgenommen?« spottete Mystra. »Warum nicht? Ich habe genügend Beweise, um dich dreimal zu überführen«, säuselte Cyric. »Du hast alles in deiner Macht stehende getan, um mich von der Aus-
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übung meines Amtes abzuhalten. Ich erkenne jetzt, daß der einzige Weg, um mich zu retten – und dich daran zu hindern, das Gleichgewicht zu stören – ist, den Kreis um Hilfe zu bitten.« Der Prinz der Lügen grinste. »Siehst du, ich kann mich an die Regeln halten, selbst wenn du selbst es nicht tust.« »Das ist absurd«, sagte Mystra. Sie rief sich einen Zauber ins Gedächtnis, der sie und die gefangenen Inquisitoren ins Nirvana bringen würde. »Nehmt den Prozeß etwas ernster, Herrin«, warnte Oghma. »Euren Anhängern drohen vollständige Sanktionen durch den übrigen Kreis, wenn Ihr nicht kooperiert.« Mystra hielt inne, fassungslos über die Drohung. Sanktionen bedeuteten vollkommene Isolation für ihre Anhänger; die höheren Götter würden ihren Getreuen die Vorzüge verweigern, für die sie zuständig waren. Lathander würde die Morgendämmerung vom Gelände ihrer Kirche fernhalten, und Chauntea würde das Wachsen der Saat verhindern. Mystras Getreuen würde der Zutritt zur Fugenebene verweigert, wenn sie starben, und jegliches Wissen, das sie in ihren Bibliotheken angehäuft hatten, würde sich in Luft auflösen. Es gab nur einen Weg für die Sterblichen, diesen Strafmaßnahmen zu entgehen: die Verehrung ihrer Göttin aufzugeben. Es würde nicht lange dauern, bis sich die meisten abgewandt hätten, und die wenigen Gläubigen, die es nicht taten, würden bald zugrunde gehen. Ohne sterbliche Anhänger würde die Göttin der Magie aufhören zu existieren. »Cyric benutzt Euch, um an mich heranzukommen«,
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flehte Mystra. »Seht Ihr das denn nicht?« »Ich werde an der Beurteilung der Beweislage nicht beteiligt sein«, ließ Cyric sich vernehmen. »Ich bin ein unbeteiligter Zuschauer. Die Partei, der man Unrecht getan hat, wenn man es ganz genau nehmen will.« »Das sagt der Prinz der Lügen«, bemerkte Tyr rundheraus vom Podium. »Zweifelt nicht daran, daß wir jedes Eurer Worte auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen, Cyric. Was Euch angeht, Mystra, so solltet Ihr wissen, daß ich ein gerechter und unparteiischer Richter sein und diesen Prozeß entsprechend aller Gesetze des Gleichgewichts führen werde, wie sie von Ao selbst erlassen wurden.« Tyr räusperte sich. »Wie gesagt, um zu einem Urteil zu gelangen, müssen wir zwei Fragen berücksichtigen. Erstens: Hat Mystra außerhalb der Zuständigkeit ihres Amtes gehandelt, als sie den Herrn der Toten bekämpfte? Zweitens: Wenn das der Wahrheit entspricht, hat sie damit das Gleichgewicht in Gefahr gebracht?« Er wies auf Cyric. »Ihr mögt Euren Fall vorbringen.« »Ich hatte gehofft, mit den Inquisitoren gegen die Ketzerei vorzugehen, die sich in meiner Kirche ausbreitet«, sagte der Prinz der Lügen. »Mystra meinte, den Plan vereiteln zu müssen – obwohl er ihre Zuständigkeiten als Göttin der Magie in keiner Weise berührte.« Tyr nickte und strich sich über den langen weißen Bart. »Habt Ihr bezüglich der Gefangennahme der Inquisitoren etwas zu Eurer Verteidigung zu sagen, Herrin?« »Sie waren eine Bedrohung für die Anhänger aller«, erwiderte Mystra. »Sie mußten aufgehalten werden.« »Die Inquisitoren suchten sich nicht deine Lakaien
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aus«, sagte Cyric. »Sie schlugen jeden nieder, der die Stimme gegen mich erhob. Wenn einige deiner Getreuen zu Schaden kamen, dann tragen sie selbst die Verantwortung dafür.« Cyric wandte sich an die Menge. »So, wie ich es sehe, waren die Inquisitoren wie eine Naturgewalt – wie einer von Talos’ Stürmen. Mystra kann sich sicher nicht das Recht vorbehalten, gegen jede Macht vorzugehen, die ihren Anhängern vielleicht schaden könnte. Wenn das der Fall ist, dann darf es kein tiefes Wasser geben, keine giftigen Pflanzen, keine Waffen oder –« »Wir haben verstanden«, unterbrach Shar. Die Herrin der Nacht streckte sich träge. »Kommt schon, Mystra. Ihr müßt doch einen besseren Grund dafür vorbringen können, warum diese mechanischen Krieger die Mutter aller Magie etwas angehen.« »Die Rüstung ist so konstruiert, daß sie allen Verzauberungen widersteht«, erwiderte Mystra. »Allein ihrer Natur nach stellen die Inquisitoren einen Versuch dar, die Überlegenheit des Handwerks gegenüber der Magie unter Beweis zu stellen.« Tyr hielt inne, um diese Behauptung zu überdenken. »Wohl wahr«, bemerkte der Gott der Gerechtigkeit dann. »Ihr hättet uns mit diesem Argument vielleicht überzeugen können – hättet Ihr nicht selbst die Hilfe Gonds im Kampf gegen die Inquisitoren in Anspruch genommen. Die Käfige, die Ihr von Gond anfertigen ließet, gefährden ebenfalls den Stellenwert der Magie in der Welt, wenn wir Eurer Argumentation folgen.« Als Mystra keinen weiteren Grund für ihr Handeln angeben konnte, klopfte Tyr mit seinen scharf hervortretenden Fingerknöcheln auf das Podium. »Damit ist also
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klar, daß die Göttin die Befugnisse ihres Amtes überschritten hat, indem sie Cyric bekämpfte.« Der Kreis bekundete seine Zustimmung. »Nun«, fügte Tyr finster hinzu, »müssen wir die Bedrohung überdenken, die dadurch für das Gleichgewicht entstanden ist.« Ehe der Gott der Gerechtigkeit zu Ende gesprochen hatte, war Cyric schon auf den Beinen und verlangte Gehör. »In der Zentilfeste befindet sich die größte und wichtigste Ansammlung meiner Getreuen in den Reichen der Sterblichen. Wenn es Ketzern gelingen sollte, die Stadt gegen mich aufzubringen, würde ich soviel Macht verlieren, daß ich eine Revolte in der Stadt der Zwietracht vielleicht nicht mehr verhindern könnte.« Der Prinz der Lügen wandte seine versengten, höllischen Gesichtszüge den höheren Göttern zu, die auf dem Fußboden des Pavillons versammelt waren. »Ihr alle wißt, daß in meinem Reich im Hades immerwährende Unruhe herrscht, und Ihr wißt ebenso, was passieren würde, wenn eine Revolte unter meinen Einwohnern meinen Sturz verursachte: eine vollständige Zerstörung des Gleichgewichts. Bis ein neuer Gott gefunden und auf den Thron in der Knochenburg gesetzt werden könnte, wäre niemand in den Reichen der Sterblichen imstande zu sterben, egal, wie ernst seine Verletzungen wären. Alle frisch Verstorbenen würden als Untote auferstehen und Jagd auf die Lebenden machen, bis – nun, das Bild ist zu gräßlich, um darüber nachzudenken.« In dem düsteren Schweigen, das auf seine Rede folgte, ließ Cyric sich langsam auf seinen Platz niedersinken. »Publikumswirksames Auftreten war schon immer eine deiner Stärken, Cyric«, bemerkte Mystra trocken.
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»Aber das hier hat nichts mit einer Revolte im Hades zu tun.« »Doch, das hat es«, sagte Tyr. »Es hat sogar viel mit Cyric und seinem Reich zu tun.« Er umklammerte erneut das Podium, die hervorstehenden Knöchel weiß von seinem eisernen Griff. »Der Kern der Beweise gegen Euch ist folgender: Ihr meintet, Cyric bestrafen und alle Pläne vereiteln zu müssen, die er ausgeheckt hat, um Zwietracht und Tod auf der Welt zu fördern. Erstens ist es Cyrics Aufgabe, solchen Zwist in den Reichen der Sterblichen zu verursachen. Zweitens ist es nicht Eure Aufgabe, diesen Zwist zu verhindern. Ihr seid die Göttin der Magie, Mystra, nicht die Friedensbotin oder der Racheengel für die, die durch Cyrics Verhalten zu Schaden gekommen sind.« »Das Buch, das zu erschaffen er seine Gefolgsleute zwingt, wird jeden von Euch betreffen«, sagte Mystra kalt. »Aber nur ein paar von Euch haben sich deswegen gegen Cyric geäußert. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wann beugt sich die Waage des Gleichgewichts den Launen des Herrn der Toten?« »Wie ich Euch bereits schon einmal gesagt habe, Herrin, müßt Ihr Geduld haben«, warf Oghma ein. »Wir haben die Erschaffung des Buches bisher verhindert, oder? Was Cyrics andere Verbrechen angeht ... das Gleichgewicht hat sich solcher Schandtaten in der Vergangenheit immer angenommen.« »Ich bin willens, einen kleinen Teil dazu beizutragen, um den Schaden wiedergutzumachen, den ich in meinem Zorn darüber angerichtet habe, vom Gewebe abgetrennt zu werden«, schlug Cyric vor. »Gebt mir die Inquisito-
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ren zurück, und ich werde dem Kreis versichern, daß sie künftig ausschließlich gegen meine Getreuen eingesetzt werden.« Mystra stieß ein bitteres Lachen aus. »Aber nur, wenn dir wieder Zugang zur Magie gewährt wird, richtig?« »So ist es, Herrin.« Cyric verbeugte sich. »So ist es.« Lathander Morgenfürst erhob sich, und seine Augen leuchteten im weichen Licht der Morgendämmerung. »Mystra, wir könnten uns damit einverstanden erklären, alle Anschuldigungen gegen Euch fallenzulassen«, begann er, »aber nur, wenn Ihr Euch mit diesem Neuanfang einverstanden erklärt.« »Keiner von Euch sieht, was für ein Monster er ist«, sagte die Herrin der Mysterien. »Ein Monster? Inwiefern?« fragte Oghma, und seine Stimme nahm die Schärfe von Stahl an. »Weil er sich Illusionen und Täuschungen bedient, um seine Opfer zu narren? Bedenkt, auf welche Weise Ihr die Inquisitoren in Eure Falle gelockt habt, Herrin.« »Dann ist da noch die Angelegenheit mit dem Chaoshund«, sagte Cyric glatt. »Die Beweise, die man auf dem Schwarzstab-Turm –« »Ihr tätet gut daran, dieses Verbrechen gar nicht zu erwähnen«, warnte Tyr. »Ihr habt Glück, daß keiner der Getreuen durch die Bestie zu Schaden gekommen ist, oder einer von uns hätte Euch den Prozeß für die Befreiung des Hundes machen lassen ...« »Aber Mystra hatte Kezefs Gefangennahme heimlich geplant und dabei mutwillig den Tod ihres eigenen treuen Anhängers verursacht«, murmelte Cyric. »Sie kann es sich wohl kaum erlauben, meinen moralischen Stand-
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punkt zu kritisieren.« »Wovon redest du?« fragte Mystra. »Ich weiß gar nichts von Kezef. Ich bin der Bestie nie gegenübergetreten.« Cyric täuschte einen Schock vor. »Die Beweise sprechen eine ganz andere Sprache.« Mit einem einzigen Klopfen seiner Knöchel auf dem Podium brachte Tyr den Gerichtssaal zum Schweigen. »Die Beweise, die Ihr uns vorgelegt habt – das heilige Symbol und das Pergament mit dem Spruch – hätten von jedem heimlich dort plaziert werden können. Die Gerechtigkeit verlangt schlüssige Beweise.« »Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich die Herrin der Mysterien davor bewahre, zu Unrecht bestraft zu werden«, sagte Maske. Als der Fürst der Schatten aus der Ecke trat, die Mystra am nächsten war, ging ein überraschtes Raunen durch den Raum; niemand hatte Maske in jener Ecke gesehen, bevor er gesprochen hatte. »Ich fing Kezef ein. Die Schuld dafür auf Mystra zu schieben war eine Intrige.« Maske trat an Mystras Seite. »Ich bin in solchen Dingen nicht Herr meiner selbst – obwohl ich auch aus Furcht handelte. Keiner von Euch mag es zugeben wollen, aber Ihr wißt, daß die Herrin der Mysterien recht hat: Cyric bedroht uns alle.« »Wie ich erwartet habe«, murmelte der Prinz der Lügen. Das rosenfarbene Schwert an seiner Hüfte loderte zornig auf. »Wo ist der Chaoshund?« »Wo Ihr ihn niemals finden werdet«, stichelte Maske. »Aber keine Sorge, er wird früher oder später vor Eurer Tür sitzen. So sind Hunde nun mal.« Cyric bedachte die spitze Bemerkung mit einem Lä-
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cheln. »Woher habt Ihr den Zauber, mit dem Ihr ihn einfangen konntet? Solche Verzauberungen gehen weit über Euren Horizont, Fürst der Schatten.« »Aus meiner Bibliothek«, seufzte Oghma. »Also wart auch Ihr sein Komplize«, zischte der Prinz der Lügen. »Was hat Kezef mit Wissen zu tun, Binder? Seid Ihr ebenso wie Mitternacht schuldig, Eure Kompetenzen überschritten zu haben?« »Meine Bibliothek ist allen Göttern zugänglich«, sagte Oghma. Seine Stimme donnerte so bedrohlich wie die Kriegsgesänge, die die Totenbeschwörer von Thay verfaßten. »Maske lieh sich die Information bei mir. Im Gegenzug für diesen Dienst beschafft der Leiher oft ein Stück verlorene Geschichte, das ich meinen Büchern hinzufügen kann.« »Also hättet Ihr mir den Zauber gegeben, wenn ich dafür ein passendes Stück Überlieferung eingetauscht hätte?« fragte Cyric gerissen. »Natürlich. Man muß dem Wissen die Freiheit geben, dorthin zu gelangen, wo es begehrt wird.« Der Herr der Toten nickte. »Ich werde das nicht vergessen, Binder.« »Genug«, sagte Tyr. »Es sollte für Euch nicht überraschend kommen, daß sich viele von uns gegen Euch stellen –« »Aber ich sollte jeglichen Widerstand Eurerseits nur dann erwarten, wenn meine Pläne eine Bedrohung für Eure Zuständigkeit darstellen«, sagte der Prinz der Lügen. »So lautet Aos Gesetz, nicht wahr?« Oghma erhob sich und trat an Tyrs Seite; dann flüsterte er dem alten Richter etwas ins Ohr. »Ja«, sagte der
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Gott der Gerechtigkeit, »bedenkt man den Ursprung des Konflikts, wäre ein Kompromiß angebracht.« Tyr wandte sein Gesicht steif und majestätisch erneut der versammelten Menge zu. »Da sowohl der Ankläger als auch die Beklagte einzigartig unter uns sind, da sie aus den Reichen der Sterblichen in ihre Machtpositionen aufstiegen, können wir bezüglich dieser beiderseitigen Fehleinschätzung Nachsicht üben. Cyric, von Euch wird verlangt, an allen Versammlungen des Kreises teilzunehmen und Euch allen seinen Entschlüssen zu unterwerfen ...« »Wenn mir gestattet wird, mein Amt ohne ungerechte Behinderung auszuüben –« »Bedingungslos«, sagte Tyr bestimmt. »Es sollte aus diesem Verfahren klar ersichtlich sein, daß der Kreis seine Mitglieder unter Kontrolle halten kann.« »Natürlich«, sagte Cyric, obwohl er den Widerwillen gegen sein Zugeständnis nur schlecht verbarg. »Nun zu Euch, Mystra«, fügte Tyr hinzu. »Ihr müßt diesen Rachefeldzug gegen den Herrn der Toten aufgeben. Wir werden die Anschuldigungen gegen Euch fallenlassen, aber Ihr müßt Cyric den Gebrauch von Magie gewähren. Er muß Zugang zu der Macht haben, auf die er seinem Titel nach ein Recht hat.« »Was, wenn ich ihm den Zugang zum Gewebe verweigere?« »Es wird geschehen, wie Oghma es gesagt hat – vollständige Sanktionen gegen Eure Anhänger, bis Ihr einwilligt.« Cyric bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer und spazierte über den Fußboden das Pavillons. »Bringen wir
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es hinter uns«, sagte er, als er weniger als eine Armlänge entfernt vor Mystra stand. »Mein Reich verlangt nach der Aufmerksamkeit, die ich auf diese Versammlung verwendet habe ...« Mystra senkte den Kopf, um die Tränen des Zorns zu verbergen, die ihr in die Augen schossen. Nicht mehr als ein Gedanke der Göttin der Magie war vonnöten, um Cyric wieder mit dem magischen Gewebe zu verbinden. Als die Energie ihn umfloß, warf der Todesgott den Kopf in den Nacken und ließ einen Ruf ertönen. Der Laut seines freudigen Triumphs grub sich in Mystras Seele und hinterließ eine Narbe, die nie wirklich verheilen würde. Cyric verwandelte sich, die versengten Züge und das verdorrte Fleisch wurden von der schneidigen Fassade eines hageren, hakennasigen zentischen Adligen ersetzt. »Dein Schmerz ist Belohnung genug dafür, daß ich diese Angelegenheit erdulden mußte«, murmelte der Prinz der Lügen, so daß es nur Mystra hören konnte. Er fuhr herum und verbeugte sich vor Tyr und Oghma. »Ich danke dem Gericht für seine Weisheit. Nun werde ich zusammen mit meinen Inquisitoren verschwinden.« Der Prinz der Lügen hielt lange genug inne, um Mystra mit einem weiteren hämischen Grinsen zu bedenken, bevor er zu den Käfigen ging. Die Inquisitoren, noch immer in ihren goldenen Hüllen eingeschlossen, neigten die Köpfe vor ihrem Herrn. Da machte Maske Mystra auf sich aufmerksam und deutete mit einem Kopfnicken auf die versammelten Ritter des Hades. Innerhalb eines Momentes entstand ein Verständnis zwischen dem Gott und der Göttin, das
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einem gemeinsamen Feind und einem ebensolchen Ziel entsprang. Mystra rief ein einzelnes Kommando aus, das einen speziellen Mechanismus auslöste, den Gond in die Käfige eingebaut hatte. Die Gitterstäbe auf zwei Seiten eines jeden Käfigs schlugen nach innen und zermalmten den Inquisitor im Inneren wie einen Falken, der zwischen die Handflächen eines Wolkenriesen geraten war. Zahnräder, Metallsplitter und die zerfetzte Seelenfüllung, die die Rüstung angetrieben hatte, ergossen sich in einer lärmenden Kaskade auf den Fußboden. »Im Urteil war nirgends davon die Rede, dir diese Ungeheuerlichkeiten zurückzugeben«, sagte Mystra, als Cyric sich zu ihr umdrehte. Der Prinz der Lügen entnahm dem entsetzten Schweigen im Pavillon, daß seine alte Gegenspielerin doch noch einen kleinen Sieg davongetragen hatte. »Sehr wohl«, sagte Cyric. »Gond kann andere herstellen.« »Das wird er nicht tun«, bemerkte Maske abfällig. »Nicht, nachdem er bewiesen hat, daß diese hier funktionieren. Er hätte nichts davon.« Cyric sah seinem alten Verbündeten fest in die Augen. »Die Schatten können Euch nicht ewig vor mir verbergen. Eines Tages werde ich Euch ins Licht schleifen und Götterfluch Euer Blut kosten lassen.« »Das bezweifle ich sehr«, grinste der Gott der Intrige. »Aber keine Sorge, wenn Eure Drohung nicht wahr wird, könnt Ihr immer noch behaupten, Ihr hättet gelogen.« Die anderen Götter waren dabei, aus dem Pavillon zu verschwinden. »Kaum ein Neuanfang«, murmelte Lathander traurig, ehe er verschwand und sich auf den Rückweg ins Haus der Natur machte.
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Auch Oghma bereitete der Prozeß offensichtlich Sorgen; und er war aus Gründen, die sie nicht einmal im Ansatz nachvollziehen konnte, wütend auf Mystra. Der Schutzpatron der Barden starrte die Göttin lange Zeit an, ehe er sich in den Schutz seiner Bibliothek zurückzog. Dann stellte Mystra fest, daß sie mit Maske und den zerschmetterten Überresten der Inquisitoren allein in dem Zaubererlabor war. »Geschickt eingefädelt«, brachte der Fürst der Schatten vor. Er glitt mit katzenhafter Anmut vorwärts. »Alle haben es geglaubt – selbst Cyric, und er stand nahe genug, um sie berühren zu können.« »Genug«, schnauzte Mystra. »Also, ich weiß Eure Unterstützung zu schätzen, Maske; aber ich traue Euch einfach nicht.« »Was Ihr auch nicht solltet«, gab der Gott der Intrige für den Geschmack der Göttin viel zu bereitwillig zu. »Jetzt, da ich weiß, daß Cyrics Spielzeugsoldaten nicht wirklich vernichtet wurden –« »Ich sagte, es reicht! Könnt Ihr einen Schild errichten, der die anderen Götter mit Sicherheit daran hindert, uns zu stören?« »Nein«, sagte Maske. »Ihr wißt, daß der Pavillon nicht vor dem Pantheon verschlossen werden kann.« »Deswegen sagte ich, daß wir leise sein sollten.« Mystra drehte sich nach den Käfigen und den Inquisitoren um. »Ich kümmere mich um sie. Ihr könnt gehen.« Maske näherte sich Mystra. »Ziehen wir uns doch in mein Reich zurück und sprechen über unseren gemeinsamen Gegner. Es ist an der Zeit, daß wir unsere Kräfte vereinen. Ein Bündnis könnte uns beiden weiterhelfen.«
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»Ihr könnt die Intrige fördern«, sagte Mystra, »und gewinnt vielleicht sogar einige von Cyrics Titeln, wenn er stürzen sollte. Ich werde dafür verurteilt, einen verrückten Gott von der Zerstörung der Welt abgehalten zu haben. Nein danke.« »Vielleicht habt Ihr recht«, seufzte Maske. »Vielleicht habt Ihr nicht genug zu gewinnen. Dennoch kann ich Euch einen Lohn für ein Bündnis mit mir versprechen, Herrin; etwas, das vielleicht Eure Meinung ändern könnte.« »Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte, Maske. Hört auf, meine Zeit zu verschwenden.« Der Gott der Intrige ließ sich auf dem Fußboden nieder, und Schatten breiteten sich um ihn aus wie eine Blutlache um eine aufgeschlitzte Leiche. »Ist Kelemvors Seele denn Zeitverschwendung?« Der Blitz aus reiner Kraft traf Maske in die Brust und ließ ihn eine Drachenlänge zurückfliegen. »Wo ist er?« fragte Mystra. »Sagt es mir sofort.« »Ich habe ihn nicht selbst in Gewahrsam«, sagte der Fürst der Schatten und strich sich den verkohlten Mantel glatt. »Ich will hier kein weiteres Wort verlieren. Es könnte sein, daß uns andere Götter belauschen, schon vergessen?« »Na schön«, knurrte Mystra. »Wir werden in meinen Palast im Nirvana gehen.« »Nein«, sagte Maske, während er sich wie ein Geist vom Boden erhob. »Wir gehen in die Stadt der Schatten. Ein passenderer Ort für diese Art von Intrige.« Unter seiner Maske breitete sich ein Grinsen aus. »Außerdem erwartet uns dort bereits einer der anderen Götter.«
14 [ EIN WENIG WISSEN ]
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Worin der Gott des Wissens zur gleichen Zeit mit drei unangenehmen Auseinandersetzungen auf drei verschiedenen Ebenen konfrontiert wird. Als Oghma den Pavillon von Cynosure verließ, schickte er sein Bewußtsein in Windeseile in unzählige Richtungen, um sich mit den Herausforderungen zu befassen, die sein Amt in jedem Augenblick mit sich brachte. Er konzentrierte sich aber auf drei Örtlichkeiten. Keine der drei betroffenen Inkarnationen war sehr erfreut über die Aufgabe, die ihr bevorstand, aber sie beschwerten sich nicht. Die unerfreulichen Begegnungen mochten vielleicht sogar ein Stück ungewöhnlichen Wissens für seine Bibliothek liefern, und letzten Endes war Wissen alles, was zählte ...
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Einen Augenblick lang ähnelte das Haus des Wissens einem Kloster; dunkel und düster, mit einem Hauch uralter Heiligkeit, der so offenkundig über dem Ort lag wie die Gewitterwolken, die sich weiter oben über den Himmel geschoben hatten. Oghmas Getreue gingen in groben braunen Roben ihren Pflichten nach, die Gesich-
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ter verdeckt von übergroßen Kapuzen. Sie schlurften durch höhlenartige Kammern, die mit Bänden in allen Größen vollgestopft waren. Jedes Buch war mit schweren Ketten an sein Regal gebunden; nur die Schlüssel des Oberbibliothekars konnten einen Band aus seiner Gefangenschaft befreien und der näheren Einsicht preisgeben. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen wurde eine Bitte um Wissen nie abgelehnt. Das lag in der Natur des Zuständigkeitsbereiches des Binders. Oghma nahm das Aussehen eines Mönches an, als er sich im Thronsaal seines Palastes materialisierte. Seine Robe war dunkel, die Kapuze und die herabhängenden Ärmel jedoch waren mit Hermelin besetzt und seine Sandalen mit Drachenhaut besohlt. Seine Abneigung gegen diese verbissene, weltfremde Fassade brachte die Stimmung des Binders noch näher an den Sumpf der Verzweiflung – besonders, nachdem der Prozeß einen so unglücklichen Verlauf genommen hatte. Der Anblick Cyrics, der sich auf dem Thron des Wissens räkelte, reichte aus, um Oghma völlig in den Morast zu stürzen. »Roben stehen Euch«, bemerkte der Prinz der Lügen beiläufig. Er hatte sich über den breiten Stuhl mit der steifen Lehne drapiert, der mittlerweile als Oghmas Thron diente. Als der Gott des Wissens näherkam, straffte Cyric sich und stützte die Ellbogen auf den massiven Schreibtisch, der sie trennte. »Auch Euer Zuhause paßt zu Euch.« »Inwiefern?« fragte Oghma tonlos und versuchte vergeblich, seine Wut vor dem Todesgott zu verbergen. Cyric grinste. »Modrig und freudlos. Eure Diener sind
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geflohen, als ich kam. Alle bis auf einen kleinen Quälgeist. Ganz nebenbei, sie wollte mich hier nicht sitzen lassen. Ich habe sie in die Neun Höllen geschickt.« »Ich weiß«, grollte Oghma. »Ich hörte sie schreien.« »Keine Angst. Früher oder später wird sie es schon zurück schaffen – es sei denn, sie läuft einem der höheren Baatezu über den Weg. Ein ziemlich übler Haufen.« Auf Cyrics Züge trat ein gespielter Ausdruck der Besorgnis. »Ich bin normalerweise nicht so streng, aber ich finde es besorgniserregend, wenn ein Lakai mit der göttlichen Etikette bricht ...« »Wie zum Beispiel das Sitzen auf einem Platz, der ihm nicht gehört«, konterte Oghma. Das Grollen in seiner mehrlagigen Stimme hatte sich zum Klang von Stahl auf Stahl verhärtet. »Ich sagte Lakai, nicht Höhergestellter«, berichtigte Cyric, stand aber nichtsdestoweniger auf. »Bitte setzt Euch. Es betrübt mich mit anzusehen, daß Ihr älteren Götter so schnell ermüdet.« »Augenblicklich bin ich lediglich Eurer müde«, sagte Oghma. Er drängte sich am Herrn der Toten vorbei, warf die Kapuze von seinem dunklen, markanten Gesicht zurück und ließ sich auf dem Thron nieder. »Seid Ihr geschäftlich hier oder nur in Eurer Funktion als Ärgernis?« Cyric setzte sich auf den Tischrand. Seine purpurrote Tunika und der zerknitterte Samtmantel ließen ihn in dem stillen, feierlichen Thronsaal hervorstechen wie einen Hofnarren auf einer Beerdigung. »Ich komme auf der Suche nach Wissen.« »Da werdet Ihr Euch schon etwas klarer ausdrücken
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müssen.« »Ihr werdet mir die Lösung für ein altes Problem liefern«, sagte der Prinz der Lügen und spielte mit dem Schreibkiel auf dem Tisch herum. Er tunkte die Feder lässig in ein Tintenfaß und kritzelte eine obszöne Abscheulichkeit quer über einen Folianten mit heiliger Dichtung. »Ich wünschte, ich hätte früher daran gedacht, hierher zu kommen. Glücklicherweise hat mir der Prozeß ins Gedächtnis gerufen, daß sich auch magisches Wissen bei Euch einfindet.« Oghma löschte die Tinte mit einer Handbewegung. »Spielt vor mir nicht den Dummen. Ich kenne Euch besser.« »Ihr wißt alles, oder?« Der Prinz der Lügen ließ die Feder fallen. »Schön. Ich will wissen, wie ich die Seele Kelemvor Lyonsbanes finden kann.« Oghmas Gelächter erfüllte den Raum. Das Kichern übertönte die Klagelaute, die aus der Vorkammer hereindrangen, wo Barden und Priester Trauerlieder auf verlorenes Wissen sangen. »Warum in Aos Namen sollte ich Euch helfen?« brachte der Binder schließlich hervor. Cyrics Lächeln glich dem auf Oghmas Gesicht. »Diese wunderbare Bibliothek steht jedem offen, oder? Das sagtet Ihr während des Prozesses.« »Richtig.« Oghmas Stimme verlor ihre Heiterkeit. Der Binder erhob sich, den kühlen Blick mit dem leblosen des Todesgottes gekreuzt wie Klingen. »Dann habt Ihr keine andere Wahl, als mir die benötigten Informationen auszuhändigen – es sei denn, Ihr könnt mir sagen, wo sich Kel versteckt.« Cyric beugte sich vor. »Ist diese Kleinigkeit in einem Eurer Bücher zu
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finden?« »Nein«, erwiderte Oghma. »Ich besitze kein Wissen, das für seine Auffindung garantiert.« »Ein guter Zug, Binder – Ihr versucht, mein Gesuch abzuweisen, indem Ihr verbale Haarspalterei betreibt.« Der Prinz der Lügen deutete vage auf die Bände in den Regalen, die die Raumwände säumten. »Ich benötige keine Garantie. Gebt mir einfach den Schmöker, in dem steht, wie ich die verirrte Seele am besten finde.« Der Fürst des Wissens streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus, und ein gewaltiges Buch erschien in ihnen. Das Pergament, das älter war als die Pyramiden des antiken Mulhorand, hatte schon lange bevor in Cormyr der erste König gekrönt wurde zu vergilben begonnen. Die Seiten brachen und zerbröselten, als Oghma das Buch öffnete. »Ihr dürft die Seiten lesen, sie aber nicht berühren.« Cyric überflog die Zeilen enger magischer Handschrift, die einem längst vergessenen bösen Gott namens Gargauth gehörte. Der rätselhafte Text spielte auf urzeitliche Schlachten zwischen den höheren Göttern und auf seltsame Geschöpfe an, die noch mächtiger als Ao waren. Inmitten dieser eigenartigen Geschichte fanden sich die notwendigen Vorbereitungen für ein Durchbrechen aller göttlichen Barrieren, ein Durchschauen aller göttlichen Täuschungen. Man konnte die Worte kaum entziffern, da die Verzauberung in Umkehrschrift geschrieben war und die graue Tinte sich wie Schatten über das dunklere Ebenholzschwarz des Haupttextes zog. Dennoch konzentrierte Cyric einen kleinen Teil seines Verstandes auf die Aufgabe, und schon bald hatte er sich das
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Wissen angeeignet. »Ich werde dieses Buch umgehend der Herrin Mystra zeigen«, bemerkte Oghma, während er den Band sanft schloß. »Es mag sein, daß sie Kelemvors Seele vor Euch findet.« Cyric sprang vom Schreibtisch, lebhaft vor ungezügelter Aufregung. »Nur zu, Binder; aber Ihr wißt so gut wie ich, daß sie ihre Getreuen nie zu den Blutopfern zwingen wird, die die Verzauberung erfordert – wohingegen ich das ganz sicher tun werde ...« Mit einer schwungvollen Bewegung seines Mantels war der Prinz der Lügen verschwunden. Oghma klemmte sich Gargauths Tagebuch unter den Arm und machte sich für seinen Ausflug quer über die Ebenen fertig. Er hielt dann aber inne und überlegte noch einmal, ob es weise war, Mystra mit so gefährlichem Wissen in Versuchung zu führen; sie hatte sich als fähig erwiesen, auf ihrer Jagd nach Cyric das Gleichgewicht zu gefährden. Was würde sie wohl tun, um Kelemvor zu retten? Oghma seufzte. Die Anwesenheit der Herrin der Mysterien in den Hallen von Maskes höllischer Festung beantwortete die Frage bereits. Trotz der Zweifel, die an ihm nagten, entschloß sich der Fürst des Wissens, sie auf den Band aufmerksam zu machen. Es stand ihm schließlich nicht zu, Mystra zu beschützen. Schon gar nicht vor sich selbst.
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Oghmas zweite Inkarnation erreichte die Schattenfeste im selben Moment, in dem seine erste den sich auf seinem Thron räkelnden Cyric vorfand. Die Verärgerung, die die Unverschämtheit des Totengottes heraufbeschworen hatte, wogte über sein gesamtes Wesen und warf einen langen Schatten auf die Stimmung all seiner unzähligen Manifestationen. Cyrics Beleidigung hatte jedoch kaum Einfluß auf die Inkarnation, die an der Schwelle zu Maskes Reich wartete. Deren Gedanken waren bereits von Anfang an finster gewesen. Im dunkelsten Teil des Hades, weit weg von der Stadt der Zwietracht, erstreckten sich die verbauten Armenviertel der Schattenfeste. Die Stadt zog sich weit durch das verdorrte Flachland, ein Ort, der dem Diebeshandwerk gewidmet war. Die Wälle, die die Festung umgaben, waren nicht besonders hoch, und die Tore schienen unbewacht zu sein. Während Oghma jedoch unter dem Bogen des Haupttors stand, das zu den verkommenen Gassen führte, und auf einen von Maskes Herolden wartete, der ihm Einlaß gewähren sollte, wußte er durch das typische unangenehme Prickeln, daß unsichtbare Blicke auf ihm ruhten. Hätte der Binder die Beobachter ausfindig machen wollen, hätte er sie gefunden; aber das hätte geheißen, sich auf die Spiele der Täuschung und Intrige einzulassen, die hier gefördert wurden. Statt dessen verschränkte er die Arme vor der Brust und starrte entschlossen geradeaus, über das endlose Ödland hinweg, das Maskes Reich von Cyrics trennte. Nach einiger Zeit tauchte Maske mit Mystra an seiner Seite vor Oghma auf. »Ich bin nicht überrascht, Euch zusammen zu sehen«, murmelte der Gott des Wissens.
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Maske streckte Oghma eine Hand im Handschuh entgegen, doch der Binder ließ seine Arme verschränkt. »Ihr seid eher angekommen, als ich gedacht hatte«, bemerkte der Fürst der Schatten freudig. »Ihr habt uns auf der Strecke vom Pavillon hierher sogar überholt – nun, wir mußten allerdings noch ein Päckchen in Nirvana abliefern ...« »Ihr seid beide Narren«, schnauzte Oghma. »Eure kindische Verschwörerei hat es Cyric ermöglicht –« »Was immer Cyric heute auch erreicht hat, wurde ihm vom übrigen Pantheon geschenkt«, unterbrach ihn Mystra. »Er wäre noch immer vom Gewebe abgeschnitten, wenn der Kreis es so gewollt hätte. Ihr und all die anderen höheren Götter seid Feiglinge, Binder.« »Bei dem Prozeß ging es nicht um Cyric. Es ging um Euch und darum, wie Ihr Eure Pflichten als Herrin der Mysterien vernachlässigt habt. Cyric hat das verstanden. Darum hat er den Kreis überhaupt zusammengerufen. Eure Strafe sollte das Gleichgewicht mit Sicherheit wieder zu seinen Gunsten neigen.« Oghma wies auf Maske. »Glaubt bloß nicht, daß dieser Lump nicht versucht hat, Euch mit hineinzuziehen und gegen Cyric aufzuhetzen.« »Was hätte ich davon?« fragte Maske mit gespielter Unschuld. »Sagt es mir ...« Oghma schnaubte auf sehr ungelehrtenhafte Weise. »Genau das, was Ihr bekommen habt: ein Bündnis. Jetzt, da Mystra sich vom Kreis abgewandt hat, gibt es sonst niemanden mehr, an den sie sich wenden könnte.« »Ich weiß um Maskes Doppelzüngigkeit«, sagte Mystra kalt. »Schließlich sehe ich die wahren Motive aller – das ist das kleine Geheimnis, von dem Ihr hofftet,
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ich würde darüber stolpern, richtig?« Rasch trat Maske zwischen die beiden und legte einen Arm um jeden. »Aber, aber. Bei einem Bündnis haben wir alle etwas zu gewinnen – selbst Ihr, Fürst Oghma. Laßt uns das in meinem Palast besprechen, wo ich sichergehen kann, daß unser gemeinsamer Gegner uns nicht hören kann.« Er führte sie durch den Torbogen und in die entlegenen Gassen der Schattenfeste. Die Straßen waren eng, und das Kopfsteinpflaster war schlüpfrig vom Nebel, der über der Stadt hing. Gebäude mit schwarzen Fassaden ragten auf allen Seiten empor, deren obere Stockwerke sich so weit zueinander beugten, daß sie einander fast berührten. An manchen Stellen blickte ein Stückchen Himmel durch, was jedoch nur zeigte, daß er sich in einem stetigen Zwielicht befand; genau in dem Moment der Abenddämmerung gefangen, in dem die Schatten am längsten sind. Die drei Götter folgten dem verschlungenen Weg, der zu der seltsamen Burg führte, die irgendwo inmitten des riesigen Stadgebietes lag. Ein Zischen erfüllte um sie herum die Luft, ein Gewebe aus Meineiden, den Schwüren untreuer Liebhaber und den verräterischen Machenschaften getreuer Gefolgsleute. Schritte hallten in finsteren Ecken wider, das Umhertappen von Dieben, die einander in den dichten Nebelschwaden gegenseitig nachstellten. Die einzigen anderen Geräusche waren das kurze, scharfe Kreischen aufeinandertreffender Dolche oder das feuchte Klatschen des Halseisens eines Würgers, das jemandem die Kehle abschnürte. Von den Fackeln, die die ganze Gasse entlang flacker-
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ten, stieg ein saurer Geruch von Pech auf, der sich mit dem kalten Nebel vermischte. Die wenigen Weisen, die Maskes Reich besucht hatten, behaupteten, das unangenehme Aroma ähnele dem Angstgeruch des Opfers eines Raubüberfalls. Für Oghma war es die Essenz der Unwissenheit, der keuchende Atem des Wissens, das in verschlungenen Netzen der Täuschung gefangen war. Die Luft schien eine belebende Wirkung auf Maske zu haben. Der Fürst der Schatten atmete sie in tiefen Zügen ein, zog dabei allerdings nur eine Schau ab. »Ah, spürt Ihr sie?« flüsterte er freudig erregt. »Sie sind überall um uns herum.« »Wer?« murmelte Mystra und warf einen besorgten Blick über die Schulter. »Meine Getreuen.« Maske lächelte wie ein stolzer Vater, der mit seinem begabten Kind prahlt. »Jene schattenhaften Schemen sind meine Jungen und Mädchen. Zweifellos haben sie bereits ein Dutzend Pläne ausgeheckt, um uns anzugreifen, ehe wir die Feste erreichen.« Licht von den Fackeln tanzte auf den Wänden der hohen Gebäude, drängte die Finsternis aber nicht sehr weit zurück. Wenn Maskes Anhänger wirklich in der Nähe umherschlichen, hatte der Schutzpatron der Diebe wahrlich Grund, stolz zu sein. Oghma und Mystra erhaschten nur hier und da einen Blick auf eine winzige Bewegung, auf einige der Schatten, die sich zielgerichteter zu bewegen schienen als die übrigen. »Ihr erwartet, daß ich das dulde?« platzte Oghma heraus. Er beschwor ein magisches Licht herauf, das die gesamte Gasse erleuchtete. Schatten, die wie ihr Gott in Schattenmäntel gehüllt waren, flohen vor dem Strahlen.
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Sie verschmolzen mit Tür- und Fensteröffnungen, Mauerritzen und Spalten zwischen den Pflastersteinen. Lichtreflexionen blitzten auf ihren Dolchen, als sie sich bewegten. »Wie unhöflich«, sagte Maske. Er breitete seinen Mantel aus und sog das Licht in sich hinein, so daß die Gasse erneut in Dunkelheit getaucht wurde. Das schwache Geräusch von Dieben, die sich in den Schatten bewegten, kehrte fast augenblicklich zurück. »Ich bin der Gott der Intrige«, erklärte der Fürst der Schatten, und die roten Augen blitzten hinter seiner Maske. »Wie, habt Ihr geglaubt, würden meine Anhänger sein?« Er schüttelte den Kopf. »Macht Euch keine Sorgen, ob sie Euch angreifen, wenn es das ist, was Euch stört. Ich habe ihnen beigebracht, nie jemanden zu attackieren, der mächtiger ist – wenn sie nicht die Möglichkeit zum Töten haben. Sie werden uns also nicht angreifen; es sei denn, jemand hat ihnen Klingen wie Cyrics verschafft, mit denen man Götter töten kann.« »Ein beruhigender Gedanke«, sagte Mystra. Obwohl sie wußte, daß die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs verschwindend gering war, machten mehrere Facetten ihres Bewußtseins mächtige Verteidigungszauber bereit. Es hatte keinen Sinn, Maske zu trauen, besonders nicht in seiner eigenen Domäne. Sie setzten den restlichen Weg zu Maskes Palast schweigend fort, wobei sie an jeder Ecke von lauernden Dieben beschattet wurden. Schließlich mündete die Gasse in einem riesigen Platz. Das Gebäude, das ihn beherrschte, schien einzig und allein aus Finsternis erbaut zu sein. Die Palastmauern schwankten im fortwährend
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schwindenden Zwielicht; die Zinnen und Türme kräuselten sich wie Rauch im Wind. Fledermäuse flatterten über dem Palast. Das Geräusch ihrer Flügel übertönte das konstante Gemurmel der Intrige, das zischend aus den Gassen kam. »Willkommen, Herr«, grollten zwei tiefe Stimmen im Einklang, als die Götter sich der Burg näherten. Oghma hatte die massigen Formen zu beiden Seiten des Tores für Schildhäuser gehalten, aber sie gerieten plötzlich in Bewegung. Mit großer Anmut lösten sich die Zwillingswesen von den Mauern. Ihre schlangenartigen Schwänze entrollten sich, ihre riesigen Flügel entfalteten sich über gebeugten Schultern. Zuletzt öffneten die Schattendrachen schwefelgelbe Augen. Sie verneigten sich vor dem Herrn der Feste, die langen Hälse fast in voller Länge ausgestreckt. Maske nickte den Bestien zu, und sie erhoben sich, um ihre Posten einzunehmen. Nachdem sie erneut die Augen geschlossen und Flügel und Glieder an den Körper gelegt hatten, verschmolzen die Drachen wieder mit der Dunkelheit hinter ihnen, aus der die Palastmauern bestanden. »Ich empfange Gäste gewöhnlich im Thronsaal, aber unter Verbündeten bedarf es solchen Pomps nicht«, sagte der Fürst der Schatten, als sie die Eingangshalle durchschritten. »Wir werden uns in mein Arbeitszimmer begeben.« Gespenstische Diener huschten durch die Feste, tanzten von einem Schatten zum nächsten. Die Türen, ja selbst die Gänge waren in merkwürdigen Winkeln und mit hervorspringenden Ecken erbaut worden. Versteckte Nischen säumten Wände und Decken. Sehr häufig ver-
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steckten sich seltsame Kreaturen an diesen Stellen, wobei ihr gräßliches Aussehen von der Dunkelheit und dem dünnen gelben Nebel verborgen wurde, der alles umwaberte. Ein hechelnder Schattenmastiff von der Größe eines Bären begrüßte den Meister aller Diebe, als er das Arbeitszimmer betrat. Das Tier schien über die verschlungen gemusterten Teppiche zu schweben. Eine Zunge, so schwarz wie eine mondlose Nacht, hing über ebenso ebenholzschwarze Zähne. Nur die Augen der Kreatur stachen aus ihrer schattenhaften Gestalt hervor, da sie hell glitzerten wie Platin, das Kerzenlicht reflektiert. Maske setzte sich in einen Ohrensessel, der so stark gepolstert war, daß seine Gestalt darin zu versinken schien. »Also, Oghma, was genau habt Ihr im Schilde geführt?« Der Fürst des Wissens blieb stehen; er fühlte sich unwohl, obwohl er in Maskes Bibliothek stand. »Was meint Ihr?« »Euer Plan gegen Cyric«, hakte Maske nach, während er träge den Schattenmastiff tätschelte. »Ihr habt offenbar einen Plan, der gerade in die Tat umgesetzt wird.« »Das kann warten«, unterbrach ihn Mystra. »Wir sind hier vor Spitzeln sicher. Wo ist Kelemvor?« »In Cyrics Händen – zumindest fast.« Unter Mystras wütendem Blick hob Maske abwehrend eine behandschuhte Hand. »Kein Feuerwerk mehr. Ich werde mich etwas klarer ausdrücken.« Der Meister aller Diebe scheuchte den Mastiff davon. Nachdem er in Oghmas Nähe gestreift war, ließ sich der Hund in den Schatten um den Kamin nieder. »Wie ich
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bereits sagte«, begann Maske, »hält sich die Seele Kelemvor Lyonsbanes in der Stadt der Zwietracht auf, wird aber vor Cyric von einem sehr mächtigen Wesen verborgen gehalten.« »Von wem?« hakte Oghma nach. »Also bitte«, gluckste Maske, »Ihr seid beide intelligent. Wo beginnt man mit der Suche nach etwas, das man verloren hat?« Er hielt kurz inne und antwortete dann selbst: »Selbstverständlich dort, wo man es zuletzt gesehen hat, und Kelemvors letzter bekannter Aufenthaltsort war oben auf dem Schwarzstab-Turm, wo er aufgespießt war auf –« »Götterfluch!« rief Mystra. »Das Schwert hat seine Seele all die Jahre vor Cyric verborgen gehalten?« Maske verbeugte sich in gespielter Demut. »Ich muß gestehen, daß ich ihm dabei geholfen habe, Kel versteckt zu halten; zumindest ein wenig.« »Ich will ihn zurück.« Mystra machte einen drohenden Schritt auf den Fürsten der Schatten zu. »Jetzt.« Der Mastiff sprang auf und stellte sich tapfer knurrend zwischen die beiden Götter. Gelassen drückte der Gott der Intrige den Hund in eine sitzende Position nieder. »So einfach ist es nicht. Götterfluch gibt Kelemvors Seele heraus, wenn wir ihm helfen, sich an Cyric zu rächen. Es ist ziemlich verärgert – irgend etwas wegen Cyric, der versuchte, während der Zeit der Sorgen seinen Willen zu brechen ...« »Welche Rolle spielt Ihr dabei, Maske?« fragte Oghma. »Nein, laßt mich raten. Ihr und das Schwert habt geplant, ihn zu stürzen.« Maske nickte. »Sehr richtig. Vielleicht sind bei Euch
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Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren.« Nachdem sie eine Weile vor dem Kamin auf und ab getigert war wie ein gefangenes Tier, hielt Mystra plötzlich inne und ging auf den Fürsten des Wissens los. »Was ist mit Euch? Welche Rolle spielt Ihr bei alledem?« »Als ich ihn zuletzt fragte, habt Ihr ihm das Wort abgeschnitten«, grinste Maske. Oghma ignorierte den Fürsten der Schatten. »Ich habe versucht, etwas gegen Cyrics Buch zu unternehmen«, sagte er und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Eine Aufgabe, die sehr wohl in meinen Bereich fällt.« »Aber was genau tut Ihr?« drängte der Herr aller Diebe. Er beugte sich erwartungsvoll vor. »Was auch immer es ist, Ihr habt es gut getarnt. Ich versuche schon seit geraumer Zeit, etwas herauszufinden.« »Unterstützung des Untergrunds in der Zentilfeste«, gab Oghma widerstrebend zu. »Mit meiner Hilfe erschaffen sie eine wahre Fassung von Cyrics Leben.« »Brillant!« krähte Maske. »Ich hätte Euch das nie zugetraut, aber das ist ein phantastischer Plan! Wenn das Buch fertig ist, werden die Verschwörer es benutzen, um die Verehrung Cyrics zu untergraben –« »Sie werden es verwenden, um seine Lügen zu ersetzen«, berichtigte Oghma. »Um sicherzugehen, daß sein Buch nicht die wahre Geschichte der Welt ersetzt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und Schatten glitten über sein Gesicht. »Aber jetzt, da Cyric die Magie wieder offensteht, ist alles in Gefahr. Ich weiß nicht, ob ich meine Agenten noch länger vor ihm verborgen halten kann.« »Ah, Ihr habt aber jetzt zwei Verbündete, die Euch
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helfen können«, sagte Maske. »Wer hat gesagt, daß ich mich mit Euch verbünden würde?« schnauzte Mystra. »Wenn Ihr Kelemvor zurückhaben wollt, solltet Ihr in Erwägung ziehen, Euch unserer kleinen Verschwörung anzuschließen«, grollte Maske. Mystras Augen sprühten Funken. »Ihr droht mir? Schon greift Ihr auf Drohungen zurück?« »Cyric hat die Mittel, um Kel zu finden«, bemerkte Oghma finster. Die Inkarnation des Binders, die Cyric gegenübergetreten war, traf in jenem Moment in der Schattenfeste ein. Die anderen Götter sahen nicht, wie sich die beiden Fragmente vereinigten, bemerkten allerdings das Buch, das plötzlich in Oghmas Händen auftauchte. »Dieser Band gehörte Gargauth. Es enthält einen Zauber, der es Cyric gestattet, jedes beliebige Objekt zu finden, ganz gleich, wie viele Götter es vor ihm zu verbergen versuchen.« »Den hat er zu Gesicht bekommen?« fragte Maske, wobei Besorgnis das Entzücken in seiner Stimme ablöste. »Gerade eben. Er hat meinen Thronsaal vor kurzem verlassen.« »Zeigt mir den Zauber«, sagte Mystra. Sie marschierte an Ogh-mas Seite. Oghma öffnete das Buch vorsichtig, um Mystra einen Blick hineinwerfen zu lassen. Sie überflog die Seite, wobei sie den magischen Inhalt viel schneller erfaßte als Cyric. »Seine Getreuen werden Tage brauchen, um all die notwendigen Opfer vorzubereiten«, bemerkte Mystra, »und die letzte Verzauberung wird einen gewaltigen
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Energiestoß erfordern. Dafür wird Cyric seine Anhänger zur Raserei bringen müssen.« Maske rieb sich nervös die Hände. »Alle seine Anhänger?« »Nein, die Bevölkerung einer einzelnen großen Stadt würde ausreichen.« »Die Zentilfeste«, sagte Maske. »Er hat so viel Zeit und Energie darauf verwendet, den Ort unter seiner Kirche zu vereinen, er kann gar nicht anders, als sie hierfür zu benutzen.« Er hielt inne, geschockt von der Klarheit des Plans, der sich in den verwinkelten Gassen seines Geistes entfaltete. »Wir haben ihn. Seine Herrschaft ist vorbei ...« Maske glitt von seinem Sessel. Sein Mantel aus Finsternis umschwebte ihn, während er sich auf den Gott des Wissens zubewegte. »Ist Euer Buch bald vollendet, Binder?« »Es kann jeden Tag soweit sein.« »Cyric wird vermutlich eine Zusammenkunft arrangieren, eine Versammlung, um seine Verehrung in der Feste zu konzentrieren.« Maske richtete einen Finger auf den Fürsten des Wissens. »Ihr müßt das Buch fertigstellen lassen, bevor das passiert – so kurz vor dem Ereignis wie möglich.« »Das wird es nur aufschieben«, spottete Mystra. »Selbst wenn wir seine Kirche in der Zentilfeste vernichten, wird er sich eine andere Stadt, eine andere Gruppe von Fanatikern suchen.« »Aber die Untergrabung der Feste ist nur eine Hälfte des Plans«, säuselte Maske. »Wenn Oghmas Buch auf einen Schlag eine riesige Anzahl von Anhängern gegen
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Cyric aufbringt, wird er verwundbar sein. Wenn zur selben Zeit zufällig eine Revolte in der Stadt der Zwietracht vom Zaun brechen sollte ...« »Ihr seid wahnsinnig«, schnauzte Oghma und schloß das Buch mit mehr Nachdruck, als ihm lieb war. Die uralte Bindung riß, und Pergament wirbelten durch die Luft. »Wenn das Reich der Toten den Aufstand probt und Cyric gestürzt wird, werden die Reiche der Sterblichen im Chaos versinken.« »Es sei denn, ein neuer Herr der Toten trifft ein und übernimmt die Knochenburg, bevor sich das Chaos ausbreitet«, berichtigte der Fürst der Schatten. »Ich bin mir sicher, daß Götterfluch mich hereinbitten würde, um beim Niederschlagen der aufrührerischen Einwohner zu helfen – nachdem Cyric gestürzt worden ist, versteht sich.« »Warum sollten wir Euch dabei helfen, an Cyrics Krone heranzukommen?« fragte Mystra. »Weil ich nicht annähernd so wahnsinnig bin wie der Prinz der Lügen«, erwiderte Maske rundheraus. »Weil Ihr beide Cyric sehr bald schon aufhalten müßt, bevor er Kelemvors Seele findet oder die Cyrinishad vollendet. Ich biete Euch einen klaren Plan, der gute Erfolgsaussichten hat. Kann einer von Euch mit etwas Besserem aufwarten?« Mystra begann wieder, vor dem Kamin auf und ab zu gehen. Das heruntergebrannte Feuer warf gewaltige Schatten der Göttin an die gegenüberliegende Wand. »Wir brauchen jemanden, der die Revolte anführt«, sagte sie nach einiger Zeit. »Wie wäre es mit den Inquisitoren?«
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»Gebrauchsfertige Revolutionäre«, sagte Maske trocken. »So wie diese Rüstungen aussehen, möchte ich wetten, daß die Seelen, die in ihnen feststecken, noch ein Hühnchen mit Cyric zu rupfen haben. Die Schwierigkeit wird sein, die Befehle zu widerrufen, die ihnen gegeben wurden.« »Die Inquisitoren?« fragte Oghma. »Die habt Ihr doch zerstört.« »Scheinbar«, berichtigte Mystra. »Ich wollte die armen Schatten nicht vernichten, die in den Rüstungen gefangen sind; aber ich konnte nicht zulassen, daß Cyric sie zurück in den Hades bringt.« »Wieder muß ich gestehen, der Herrin bei ihrem Täuschungsmanöver geholfen zu haben. Ziemlich schlau, nicht?« fragte Maske mit gespielter Unschuld. »Erzählt nur den übrigen Mitgliedern des Kreises nicht, daß sie hereingelegt wurden.« Der Fürst des Wissens zog eine Grimasse. Er war bereits tiefer in die Pläne des Fürsten der Schatten verstrickt, als ihm lieb war. Doch würde Cyric jetzt, da er wieder Kontrolle über die Magie hatte, die Verschwörer mit Sicherheit ausfindig machen. Wenn er die gute Sache des Wissens in den Reichen der Sterblichen verteidigen wollte, hatte Oghma keine andere Wahl, als sich auf die Intrige einzulassen. Oder lag es daran, daß die anderen Möglichkeiten nicht mehr zweckdienlich genug waren? Das Bild seiner Bibliothek, das immer so klar und beruhigend gewesen war, verblaßte einen Augenblick lang in Oghmas Gedanken. Eine Leere stieg statt dessen auf, grau, kalt und endlos. In panischer Angst konzentrierte
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Rinda wiegte sich vor und zurück, die Arme fest um die Knie geschlungen, den Kopf gebeugt. Sie verharrte inzwischen seit Stunden in derselben Position, doch schienen der Schmerz in ihrem Rücken und die Krämpfe in den Beinen nicht zu ihrem angstvernebelten Verstand vorzudringen. »Keine Hoffnung«, flüsterte sie. »Keine Hoffnung.«
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der Binder einen Großteil seines weitläufigen Bewußtseins darauf, das verlorene Bild wiederherzustellen. Das Gefühl des Daseinszwecks, der Sicherheit kehrte recht schnell zurück, doch es wurde von einer nagenden Furcht begleitet. Maskes Intrigen und die Schlacht gegen Cyric hatten Oghma, ohne daß er es bemerkt hatte, an die Grenzen seiner Zuständigkeit geführt, an einen Ort, an dem Entscheidungen bezüglich der Kunst und des Wissens in den Reichen der Sterblichen nicht mehr mit Gewißheit getroffen werden konnten. Ein falscher Schritt, eine Tat, die mehr Wissen zerstörte, als sie bewahrte, und er würde die Grenze übertreten, und aus der Leere, die jenseits lag, gab es kein Zurück mehr, nicht einmal für einen Gott. Aus den dunklen Gassen der Zentilfeste wogten harte Worte in sein Bewußtsein, die zu einer weiteren von Oghmas Inkarnationen gesprochen wurden. Sein Verstand hängte sich an die Ermahnungen und zog sich von der Leere zurück. Hier gab es wenigstens ein Problem, das er lösen konnte ...
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Ihr Haus war zu einem Gefängnis geworden; ihrem Schutzpatron nach der einzige Ort, an dem sie vor den Inquisitoren sicher war. Wenn der Herr der Toten sie nicht gerade zum Laden des Pergamentmachers gerufen hatte, um an seinem Buch zu arbeiten, blieb sie daheim und unter dem magischen Schild, der errichtet worden war, um Das Wahre Leben Cyrics vor diesem zu verbergen. Da sie selten aß und nie mehr als eine Stunde am Stück schlief, war Rinda zu einem abgemagerten Schatten ihrer selbst geworden. Sie sind gefangen worden, kam eine vertraute Stimme. Die Inquisitoren werden die Feste nicht länger heimsuchen. Die Harmonie in den mehrstimmigen Worten sollte beruhigend wirken, aber Rinda fand keinen Trost in den Klängen. Sie richtete die grünen, blutunterlaufenen und von dunklen Ringen umrandeten Augen auf die Decke. »Wart Ihr das?« fragte sie. Nein. Einer der anderen Götter. Cyric hat viele Feinde. »Ich hätte mir denken können, daß Ihr nicht so offen handeln würdet.« Rinda ließ den Kopf auf ihren Armen ruhen und lauschte dem kalten Wind, der durch die Ritzen in den Wänden hereinpfiff. »Wer ist noch übrig?« murmelte sie nach einiger Zeit. Fzoul Chembryl, General Vrakk und Ihr natürlich. Rinda seufzte. Also war Ivlisar auch fort. Sie hatte es sich schon gedacht. Der Elf hatte sie seit Tagen nicht mehr aufgesucht, fast seit dem Mord an Hodur nicht mehr. »Werden Fzoul oder Vrakk kommen und sich wieder mit mir treffen?«
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Unwahrscheinlich, Rinda. Cyric kann nun wieder Magie verwenden, also muß ich meine Macht darauf konzentrieren, die Hülle um dieses Haus aufrechtzuerhalten. Ihr müßt beschützt werden – »Es geht hier nicht um mich«, sagte Rinda bitter. »Es geht um das Buch. Ihr wollt nur sichergehen, daß es vor Cyric verborgen bleibt. Wenn ich hier zufällig wohne, dann habe ich einfach nur Glück.« Sie erhob sich und ging zu einem Astloch in der Wand. Durch es hindurch starrte sie hinaus auf die Straße. Schnee fiel in dichten weißen Flocken und bedeckte die schmutzigen Gebäude sowie die gefrorene Straße mit einem Tuch aus alabasterfarbener Spitze. Eine Frau, von Alter, Krankheit oder beidem fast ganz vornüber gebeugt, schlurfte vorbei; sie hielt ein Tuch fest umklammert, das sie sich um die Schultern geworfen hatte. Eine Horde zerlumpter Kinder raste an ihr vorbei. Die Jungen teilten sich in zwei ungleich große Gruppen auf und begannen, sich gegenseitig mir Schneebällen zu bewerfen; die kleinere Bande, die schnell in einem Hagel von Schneegeschossen unterging, gab lauthals auf und stürmte dann wieder davon. Sie ließen ein kleines Kind blutend und weinend zurück. Rinda kämpfte den Drang nieder, hinauszulaufen und dem Kind zu helfen, sein Bluten zu stillen und sein Schluchzen zum Verstummen zu bringen. Es wäre am besten, wenn Ihr drinnen bleibt, sagte der Gott. Auch wenn die Inquisitoren fort sind, wird Cyric zweifellos neue Schrecken auf die Stadt loslassen, um nach Verrätern zu suchen. »Raus aus meinem Kopf«, schnauzte Rinda. Sie kon-
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zentrierte ihre Gedanken auf die frevelhaftesten, gotteslästerlichsten Dinge, die sie sich vorstellen konnte, nur für den Fall, daß er doch noch verweilte. Fzoul Chembryl und Vrakk haben einen Weg gefunden, ihr Leben weiterzuleben, Rinda. Ihr solltet Euch ebenfalls darum bemühen. »Ach ja?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sie sind willentlich Teil dieser Verschwörung. Ich nicht. Ihr und Cyric seid beide einfach hereingeschlendert und habt meine Mitarbeit verlangt.« Unangenehmes Schweigen legte sich über den Raum. Schließlich ließ sich die Stimme vernehmen: Ich tue dies für Euch und all die anderen Sterblichen, die unter Cyrics Herrschaft leiden würden. »Das sagt Ihr«, murmelte Rinda, und ihre Stimme war kalt wie die winterliche Dämmerung, die über die Feste hereinbrach. »Aber ich habe keinen Anlaß, Euch zu glauben; nicht, wenn Ihr mir nicht einmal sagen wollt, wer Ihr seid.« Dieses Wissen könnte Euch gefährlich werden. Wenn Cyric Euer Doppelspiel durchschaute – »Hört auf. Wenn Cyric Das Wahre Leben entdeckt, wird er mich in den Hades schleifen, ob ich nun weiß, für wen ich arbeite oder nicht.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Lokken und versuchte, ihren Zorn zu zügeln. »Ihr würdet keinen himmlischen Finger rühren, um mir zu helfen. Natürlich nicht. Dann würdet Ihr nämlich an vorderster Front stehen, statt im Hintergrund herumzuschleichen.« Das reicht. Ihr werdet irrational. »Warum sollte ich nicht irrational sein?« rief sie und
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verfiel in hysterisches Lachen. »Ich bin ein Spielball zweier Götter, und ganz gleich, wer das Spiel gewinnt, ich werde diejenige sein, die dafür bestraft wird!« Rinda hob einen Krug und warf ihn an die Wand. »Das war’s. Ich spiele nicht mehr mit ...« Die Schreiberin eilte zu dem Tisch, auf dem sie an Das Wahre Leben Cyrics arbeitete. Sie warf die Bücher durcheinander, die sie auf die Seiten gestapelt hatte, und zerfetzte dann die seidenen Einbände, die die unbezahlbaren Bögen schützten. Bevor sie jedoch das Pergament zerreißen konnte, ergriff eine dunkelhäutige Hand ihre Handgelenke. »Das reicht«, sagte der Gott. Er drehte Rinda sanft zu sich herum. »Ich kann nicht zulassen, daß Ihr dieses Wissen zerstört.« Rinda starrte den Avatar an. Sein zierlicher Leib war von einer Mönchsrobe bedeckt, die bis auf den Hermelinbesatz an Kapuze und Ärmeln schmucklos war. Dunkle Augen voll unendlicher Weisheit erwiderten ihren Blick. Dann war noch etwas anderes in jenen Augen, eine überwältigende Traurigkeit. Sie verspürte den Drang, sich zu verbeugen, doch ihr Zorn ließ diese Neigung verfliegen, ehe sie die Möglichkeit hatte, ihr nachzugeben. »Ich bin Oghma«, sagte der Gott, »Schutzpatron der Barden, Fürst des Wissens. Die anderen Mächte nennen mich Binder, obwohl ich den Namen weniger mag. Er klingt zu sehr, als sei ich steif und unnachgiebig.« Rindas Mund öffnete und schloß sich für einen Moment, ohne daß sie einen Laut hervorbrachte. Dann kam ihr die Frage endlich aus der Kehle. »Warum?«
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»Wie gesagt, ich tue dies, um die Reiche der Sterblichen vor Cyric zu schützen. Sein Buch würde Ignoranz säen, die wie eine Epidemie jeden ansteckte, der die Lügen liest, die Ihr in seinem Namen aufgeschrieben habt.« »Nein«, sagte Rinda. Sie schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. »Warum habt Ihr Euch mir gezeigt?« Der Fürst des Wissens lächelte. »Weil Ihr mich daran erinnert habt, daß der beste Weg, den man einschlagen kann, manchmal nicht notwendigerweise auch der sicherste ist; besonders dann, wenn man sich selbst treu zu bleiben beabsichtigt.« Als er die Verwirrung in Rindas Augen sah, wies der Binder auf den Stapel Pergament. »Ihr wußtet, daß Ihr Eure Berufung vernachlässigt, solange Ihr in dieser Intrige gefangen seid, und hättet diese Seiten vernichtet, um Euch zu befreien. Es wäre ein Fehler gewesen, aber unter den Umständen ein recht heldenhafter.« Oghma tätschelte ihre Hand. »Sterbliche verstehen das besser als wir Götter – ich meine, Entscheidungen zu treffen.« »Ich dachte, Ihr meintet, Fehler zu machen.« »Das ist daßelbe«, sagte Oghma. »Zumindest teilweise. Gleichviel, Ihr habt Fragen zu unseren Plänen, und es ist an der Zeit, Euch zu dem Wissen zu führen, nach dem Ihr strebt ... nachdem Ihr Euch um das Kind gekümmert habt, versteht sich. Er braucht immer noch Eure Hilfe, und ich weiß, daß es zwecklos wäre, Euch aufhalten zu wollen.« Rinda hatte sich bereits ihren Mantel über die Schultern geworfen und öffnete die Haustür.
Worin viele merkwürdige und übernatürliche Ereignisse die Leute in der Zentilfeste beunruhigen, der Prinz der Lügen eine mächtige Armee versammelt, um seine heilige Stadt zu vereinen, und Thrym, der Frostriese, erfährt, daß nicht alle Götter gleichgestellt sind. Elusina die Graue kippte eine Handvoll dreckiger Hühnerknochen aus einer Porzellanschüssel und bewegte ihre Hände langsam über dem entstandenen Durcheinander. Sie murmelte eine unsinnige Reihe von Phrasen, halb Worte, halb Töne, in einem deutlich feierlichen Tonfall. Nachdem sie die falsche Beschwörung vollendet hatte, begann sie, heftig hin und her zu schaukeln. Im Sommer ließ sie diesen Teil der Schau weg; jetzt, in den Klauen des Nachtal, bewahrte sie damit ihre alten Gelenke davor, in der Kälte steif zu frieren. Sobald sie sich ausreichend aufgewärmt fühlte, richtete die Alte ihre blutunterlaufenen Augen auf den Offizier der Zentilare, der ihr gegenüber am Tisch saß. »Wie das Auge der Basilisken einen Menschen in Stein verwandeln kann, so können ihre Knochen das Schicksal eines Mannes versteinern. Hier, Unteroffizier Renaldo –« sie deutete auf den verworrenen Haufen »– hier nimmt Eure Zukunft Gestalt an.«
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15 [ VORZEICHEN DES KRIEGES]
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Während er sich gespannt die Hände in den Handschuhen rieb, blickte sich der junge Offizier in dem winzigen, grellbunt eingerichteten Raum um, als könne sich jemand hereinschleichen und das Geheimnis seiner Zukunft stehlen. Als er jedoch endlich auf die Knochen sah, stahl sich Enttäuschung auf seine markanten Züge. »Das ist es also? Was hat es, äh – was hat es zu bedeuten?« Elusina die Graue streckte eine klauenartige Hand mit der Handfläche nach oben aus. »Es ist gefährlich, in die Zukunft zu spähen, Unteroffizier. Wenn ich den Zorn der Geisterwelt riskieren soll, brauchte ich schon einen größeren ... Anreiz.« Der Zentilar stieß einen üblen Fluch aus. Sein Kommandant hatte ihm erzählt, die Alte sei eine begabte Mystikerin, aber so sahen die Verhandlungstaktiken eines Scharlatans auf dem Jahrmarkt aus. Er zog einen Dolch. »Wenn etwas aus der Geisterwelt vorbeischaut und sich beschwert«, sagte er, »bin ich hier, um Euch zu beschützen.« Mit hervorstehenden Knöcheln klopfte Elusina die Graue dreimal auf den Tisch. Der dichte Perlenvorhang hinter ihr teilte sich, und ein kräftiger Mann trat ein. Er verschränkte muskulöse Arme vor der Brust und sah den Soldaten finster an. Er war groß wie ein Oger und ebenso häßlich, mit Knopfaugen und einer Nase, die ihm drei- oder viermal gebrochen worden war. Dem zerbeulten und blutverschmierten Knüppel an seinem Gürtel nach zu urteilen hatte er es den Angreifern offensichtlich mit gleicher Münze heimgezahlt. »Brok hier beschützt mich«, murmelte Elusina die Graue. »Ihr sollt mir nur genug bezahlen, damit ich ihn
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behalten kann.« Sie hielt erneut die Hand hin und wartete geduldig, bis der Soldat eine Silbermünze und ein halbes Dutzend Kupfermünzen hineinfallen ließ. Die Alte lachte gackernd und steckte die Münzen eine nach der anderen in einen stabilen Kasten zu ihren Füßen. Sie klingelten in der Sparbüchse wie das Tamburin einer Zigeunerin. In unruhigen Zeiten wie diesen waren Ausblicke in die Zukunft ein profitables Geschäft – selbst für Diebe wie Elusina die Graue, die das Schicksal eines Mannes genausowenig sehen konnte, wie sie durch eine Steinmauer gehen konnte. Trotzdem zog die Alte eine kleine Schau für die Männer und Frauen ab, die ratsuchend zu ihr kamen. Sie war einmal Schauspielerin gewesen, ein kleines Licht in einer entschieden zwielichtigen Truppe, die in den Landstrichen von Cormyr umherzog. Elusinas Fähigkeiten als Taschendiebin waren vom Meister der zerlumpten Bande eifrig geschärft worden, aber sie hatte unterwegs auch einen ordentlichen Sinn fürs Dramatische aufgeschnappt. »Es lauern viele Gefahren auf Euch, Herr Unteroffizier«, begann sie und beugte sich erneut über die Hühnerknochen. Verräter und Ketzer lauern überall, und es wird Eure Aufgabe sein, sie aus der Stadt zu jagen.« Der Zentilar lachte auf. »Jeder weiß, was die Armee zu tun hat, jetzt, da die Kirche die Feste übernommen hat. Erzählt mir etwas, das Ihr nicht auf der Straße gehört habt.« »Ihr werdet bald befördert werden«, – Elusina stach mit dem Finger nach zwei Knochen, die von den übrigen abgesondert und wie zwei Klingen in der Schlacht gekreuzt lagen –, »noch vor Jahresende. Ihr hattet einen
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wichtigen Posten im Auge, und er wird bald der Eure sein.« Diese Behauptung ließ Renaldo aufhorchen, und der mißtrauische Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Wie das? Ich meine, was passiert mit dem Tölpel, der ihn gerade innehat?« Elusina die Graue starrte einen Augenblick lang die Knochen an und legte sich eine Antwort zurecht, die deutlich genug war, um den Soldaten weiterhin zu fesseln, jedoch auch vage genug, um die Tatsache zu verschleiern, daß sie keine Ahnung hatte, hinter welchem Posten er her war. Wie die meisten Militärs war der junge Unteroffizier ehrgeizig. Sie hatte das in dem Moment erkannt, in dem er ins Empfangszimmer gekommen war, stolzierend wie ein siegreicher General oder auch Xeno Silbermähne selbst ... »Die Muster sind undeutlich«, murmelte sie, um Zeit zu gewinnen. Die Alte verfluchte sich selbst dafür, daß sie am Nachmittag im »Schlangenauge« so viel getrunken hatte. Die Nachwirkungen des Schnapses vernebelten ihren Geist. »Laßt mich das etwas genauer betrachten.« Als Elusina die Graue ihre vertrockneten Fingerspitzen über die glatten Wölbungen und spitzen Enden der verstreuten Knochen gleiten ließ, setzte plötzlich ihr Verstand aus. Das Empfangszimmer verschwand, die unechten Shou-Teppiche und die in rote Seide gewickelten Fransenlaternen verblaßten in einem Nebel. An ihrer Stelle sah sie nur noch das Gewirr von Hühnerknochen, so groß wie Cyrics Tempel und heller leuchtend als die Morgensonne, und zum ersten Mal erkannte sie eine
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klare Bedeutung in dem Durcheinander. »Der Tod erwartet Euch«, sagte Elusina die Graue. Ihre Stimme klang hohl, wie etwas, das aus dem Reich der Toten rief. »Die Stadt wird untergehen, und all ihre Verteidiger werden abgeschlachtet werden – zu Staub zermahlen unter den Füßen von Drachen und Riesen, durchbohrt von den Pfeilen der Goblins und Gnolle.« Als sie wieder zu sich kam, stellte Elusina fest, daß der Offizier der Zentilaren sie anschrie und wütend sein Geld zurückverlangte. Brok hatte sich hinter Renaldo postiert. Er sah zu der Alten in Erwartung des Kopfnickens hin, das bedeutete, daß es an der Zeit war, den Kunden auf die Straße zu werfen. Elusina langte jedoch lediglich in ihre stabile Kiste und schnappte sich eine Handvoll Münzen. Sie ließ sie auf den Tisch fallen, ohne sie zu zählen, erhob sich dann schweigend und schlurfte ins Hinterzimmer. Sie empfing an diesem Tag keine weiteren Kunden mehr, und auch danach nie wieder. Elusina der Grauen war ein Blick in die Zukunft gewährt worden. Sie hatte das Gesicht des Todes in der scheinbar sinnlosen Anordnung der Knochen gesehen – nicht nur den Tod des Zentilaren, sondern das Verderben von Tausenden und Abertausenden, die in der Feste lebten. Wie sehr sie es auch versuchte, die Seherin konnte das Bild nicht loswerden. Seine kalte Schärfe, die unwandelbare Gewißheit über die Vernichtung der Stadt blieb in Elusinas Gedanken hängen und legte sich auf ihr Gemüt wie ein uraltes Totenhemd, und mit dieser Gewißheit kam die Erkenntnis, daß selbst jetzt, da sie sich in ihrem kleinen, schmutzigen Zimmer zusammenkauerte, finstere
Ereignisse ihren Lauf nahmen und die Gegenwart in jene entsetzliche, unausweichliche Zukunft vorantrieben.
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Die Leiche des Drachen hing kopfüber in den Katakomben unter der Kirche Cyrics. Wie Vrakk schon an jenem Tag auf dem Marktplatz vermutet hatte, hatte der junge Lindwurm nach dem Umzug nicht lange überlebt. Schläge hatten Striemen und Narben auf seiner schneeweißen Haut hinterlassen, während die Tage des Hungers den Bauch unter seinen Rippen nach innen gewölbt hatten. Kummer hatte dem Tier den Todesstoß versetzt; eine überwältigende Traurigkeit darüber, von seinen Brüdern in den Eiswüsten im Norden getrennt zu sein. In seinen stetigen Bemühungen darum, das Kirchensäckel zu füllen, hatte Xeno Silbermähne auf dem Schwarzmarkt verlauten lassen, daß Teile der Leiche für magische Zwecke zu haben wären, jedoch nur gegen eine beträchtliche Spende an Cyrics Tempel. Die Augen des Drachen waren am ersten Tag an den Zauberer Shanalar als Zutat für irgendein finsteres Experiment verkauft worden. Danach die Klauen und die Zunge zusammen mit den meisten der panzerartigen Schuppen an seinem Bauch. Inzwischen, weniger als zehn Tage nach seinem Ableben, ähnelte der Lindwurm stark der Leiche eines Kriegers, die man nach einer Schlacht den Aaskrähen überlassen hatte. Dennoch war von dem Drachen noch genug übrig, um Xeno eine Wache in den Katakomben postieren zu lassen. Jeder Knochen, jede Sehne des Wyrms würde ver-
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kauft werden. Es war also besser, man ließ das Ding nicht unbewacht und führte die Zauberer nicht in Versuchung, die sich die hohen Preise nicht leisten konnten. »Ich dachte, den Meermann auf dieser verdammten Parade zu bewachen wäre langweilig gewesen«, murmelte Bryn und stocherte in den Kohlen herum, die sich in der neben ihr hockenden Pfanne befanden. »Das sollte mir jedoch eine Lehre sein, beim nächsten Mal vor Ulgrym schneller zu salutieren, nicht wahr?« Sie zog ihr Schwert aus der Scheide und kratzte eine grobe Zeichnung in den dreckigen Boden vor ihrem Klappstuhl. Seit Beginn ihrer Wache hatte sie sechsmal dieselbe Szene skizziert – eine gemeine kleine Karikatur, die sich um ihren Kommandant der Zentilaren und verschiedene landwirtschaftliche Nutztiere drehte –, hatte die Zeichnung aber bei jedem Versuch etwas weniger vervollständigt. Sie verlor das Interesse und ertappte sich dabei, wie sie die Skizze mit der Hacke eines abgenutzten Stiefels wegwischte. Ein plötzliches Knirschen von Knochen ließ Bryn aufspringen, wobei sie ihr Schwert abwehrbereit vor sich hielt. Im flackernden Licht der Kohlenpfanne sah sie, wie die Drachenleiche erzitterte. Ein Flügel schlüpfte aus den Fesseln, entfaltete sich langsam und steif. Angst kroch mit eisigen Fingern Bryns Rücken hinauf. Die Schauer sammelten sich in ihrem Nacken, verspannten ihre Schultern und würgten den Schrei ab, der in ihrer Kehle aufzusteigen begonnen hatte. Die Fesseln fielen vom anderen Flügel des Wyrms ab, und auch der entrollte sich träge. Die Jahre der Ausbildung bei den Zentilaren halfen Bryn, die lähmende
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Furcht abzuschütteln, die sie fesselte. Allerdings war dies keiner der Talleute, kein abtrünniger Gobiin, dem sie da gegenüberstand. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte weder das Zittern ihrer Hände unterdrücken noch den Kloß in ihrem Hals herunterschlucken. Alles, was sie zustande brachte, war, einen zögerlichen Schritt vorwärts zu machen. Die Leiche regte sich nicht; ihre Flügel waren gespreizt wie die einer ungeheuren Fledermaus, die mit Einbruch der Dunkelheit erwachte. Eine zeitlang bewegten sich weder die Soldatin noch die Leiche, waren erstarrt wie in einem seltsamen Stilleben. Schließlich brachte Bryn den Mut auf, den Drachen anzustupsen; der Stoß ließ den Wyrm einfach an seinem Seil hin und her schwingen. »Verdammte Zivilisten«, murmelte sie und ließ die Spitze ihres Schwertes über die losen Seile gleiten. »Können nicht mal richtige Knoten binden.« Als Bryn sich vorbeugte, um die Flügel der Leiche wieder festzubinden, fuhr deren Kopf nach oben. Einen Augenblick lang betrachteten leere Augenhöhlen die Zentilarin. Dann schloß der untote Drache seine Kiefer um ihren Hals. Er hüllte die Frau mit seinen Flügeln ein wie ein Vampir in einem Melodrama, der seinen Mantel um die ohnmächtig werdende Heldin gleiten läßt. Die ledrige Umarmung dämpfte Bryns überraschtes Keuchen und den einzelnen Schrei, den sie hervorbrachte, bevor der Drache ihr die Kehle herausriß. Mit dem dumpfen Geräusch von Lederrüstung auf Stein glitt die blutüberströmte Leiche der Soldatin zu Boden, und der Wyrm widmete seine Aufmerksamkeit
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dem Seil, das um seinen Schwanz gebunden war. Er bemühte sich vergeblich, aus dem stabilen Hanf freizukommen; bei den Knoten dort hatten Xenos Schläger bessere Arbeit geleistet als bei denen, die die Flügel des Drachen gehalten hatten. Kurz darauf verlor er die Geduld. Drei brutale Bisse trennten die Fesseln auf – und die Schwanzspitze des Wyrms ab. Der Drache, der schon längst keinen Schmerz mehr spürte wie zu Lebzeiten, fiel zu Boden und trottete in die Dunkelheit der Katakomben. Sein Marsch führte in Schlangenlinien zu den Abwasserkanälen der Feste und hinab ins verschmutzte Wasser des Tesch. Aus dessen trüben Wellen stieg der Drache wie ein Phönix empor, um seinem Clan eine Botschaft der Vergeltung zu überbringen. Auf gebrochenen, rauhreifbedeckten Flügeln schwang sich der Wyrm in den mitternächtlichen Himmel über der Zentilfeste. In wenigen Tagen würde er daheim sein. Dort würde er dem Dutzend ausgewachsener weißer Drachen des Clans die Herausforderung überbringen. Die Forderung nach Rache würde, ja mußte wortlos sein, denn die Zunge des jungen Wyrms köchelte zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Elixier eines Magiers. Nein, wenn die anderen Drachen die Leiche ausgestreckt vor dem Eingang ihrer Höhle fanden, würden die Brandmale, die ihr in die Flanken gesengt worden waren, ihre Rage lenken und ihrem Zorn ein Ziel geben. »Schleift die Zentilfeste! Tod den Gefolgsleuten Cyrics!«
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Thrym stieß ein Gebet zu Zzutam hervor, in dem er ihm für einen besonders kalten Winter und eine ständige Versorgung mit verirrten Söldnern dankte, die nach Gold und Ruhm suchten. Die Frostriesen in Thryms Clan hatten die Jahre über nie Hunger leiden müssen; anders als viele ihrer Art, die in anderen Teilen Thars lebten. Die Gerüchte, man könne den nahezu mythischen Ring des Winters in ihrer Höhle finden sowie alte Bardengeschichten, denen zufolge die unbezahlbare Krone König Beldorans irgendwo in der Nähe herumlag, hatten Hunderte Schatzjäger an die Haustür der Riesen und schließlich in die Herdfeuer dahinter geführt. Thrym und seine Verwandtschaft wußten nicht von diesen zufallsbedingten – und absolut unbegründeten – Geschichten; sie schrieben den Überfluß ihrem ungeheuerlichen Schutzpatron zu und sandten ihm einmal am Tag Gebete; zweimal, wenn der frisch gefallene Schnee bis über Thryms Stiefelspitzen reichte. »Wir vielmals danken, o mächtiger Eisgott«, rief der Häuptling. Er zermalmte eine Handvoll Knochen zwischen den Händen und ließ die Bruchstücke auf den kristallenen Altar fallen, der den hinteren Teil der Höhle einnahm. »Wir unsere Feinde in deinem Namen zu Staub zermalmen.« Die Knochensplitter gingen in Flammen auf, als sie den kalten Stein berührten. Purpurne Feuerfontänen erhoben sich über dem Altar, kreiselten und tanzten wie Irrlichter und verschmolzen dann zu einem einzigen Feuer. Die sanften Ränder der Flammen formten die Gestalt eines Mannes, der ein rosenfarbenes Kurzschwert umklammerte.
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»Heiden«, zischte Cyric, die hageren Züge voller Abscheu. »Wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal hier war – fünfzehn Jahre? Zwanzig? Aber ihr könnt diese Dummheiten immer noch nicht lassen ...« Thrym schnappte sich den Eindringling vom heiligen Altar, fiel aber vor Schmerzen heulend hintenüber, als der Todesgott in seiner Hand zu Feuer wurde. Der Häuptling tauchte seine verkohlte Hand in einen Schneehaufen und starrte Cyric an. Der Prinz der Lügen stand erneut auf dem Kristallblock und hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt. »Wer ist der Führer dieses –« Cyric machte eine träge Handbewegung in Richtung eines dunkelhaarigen Riesen. Der Wilde griff gerade mit übertriebener Vorsicht nach seiner Axt, doch seine Hand schloß sich nicht um Holz, sondern um eine große, sich windende Schlange. Die Schlange glitt den Arm des Riesen hinauf und zermalmte seine stählernen Muskelstränge zu Brei. Während die beiden sich auf dem Boden wälzten, steckte Cyric Götterfluch in die Scheide. »Wie ich gerade sagen wollte, wer ist der Führer dieses armseligen Haufens?« »Ich. Häuptling Thrym.« Der Riese wickelte seine verletzte Hand in den Saum seines schmutzigen Mantels und kam schwerfällig auf die Füße. Auf eine Geste seinerseits eilte das gute Dutzend Riesen, das in entsetztem Schweigen um den Altar herumstand, seinem bedrängten Kameraden zu Hilfe. Alle mußten mit anpacken, um die Schlange wegzureißen und ihren Kopf an der Höhlenwand zu zerschmettern.
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»Besser von Zzutams Tisch runterkommen«, warnte Thrym, während er seine eisblauen Augen auf Cyric richtete. »Er Magier nicht mögen; ‘sonders die nicht, die unsere Gebete gestört.« »Wie viele Magier haben denn schon erfolgreich ›eure Gebete gestört‹?« fragte Cyric. »Hatte Zzutam schon oft mit Leuten zu tun, die auf dem Altar herumtrampeln?« Als er den ausdruckslosen Blick des Häuptlings sah, ließ Cyric die Frage mit einem Kopfschütteln fallen. »Du und deine Clansgeschwister werdet mir einen wertvollen Dienst erweisen, Thrym. Ihr solltet euch geehrt fühlen.« »Wir nicht arbeiten für Abenteurer«, sagte der Häuptling mißtrauisch. »Wer du denken du sein?« knurrte einer der anderen Riesen. Nachdem die Frage heraus war, zog er sich an der Unterlippe, als könne eine weitere herausfallen. Es kam keine. »Ich vermute, keiner von euch erinnert sich an mich«, seufzte Cyric. Er wies auf den Haufen menschlicher Knochen, der um die kalte Feuerstelle verstreut lag. »Vor vielen Jahren hätte das meine letzte Ruhestätte sein können. Ich war – nun, was ich war, als wir einander das letzte Mal über den Weg liefen, ist kaum von Belang. Nun bin ich Cyric, Herr der Toten, Schlächter von vier Göttern.« »Na und?« tönte ein Riese. »Wir schon einen Gott haben.« »Zzutam hat diesen Titel kaum verdient, und die Verehrung, die ihr ihm entgegenbringt, schon gar nicht«, sagte der Prinz der Lügen. »Er ist ein Frostelementar, keine wahre Gottheit.« Erneut ließen die ausdruckslosen
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Blicke seines Publikums den Prinzen der Lügen innehalten. »Du bist Zzutams Hohepriester, richtig, Thrym? Gewährt er dir Magie für deine Treue?« »Er macht Schnee«, grollte Thrym. »Er uns Futter schicken.« »Ich wünschte, meine Gefolgsleute wären so anspruchslos.« Kichernd spuckte der Prinz der Lügen auf den heiligen Stein. »Na schön, Zzutam. Ich rufe dich herbei, du großer Haufen Schneeflocken.« Die Riesen erstarrten und begannen zu zittern, hinund hergerissen zwischen dem Drang, den Gotteslästerer zu töten und der plötzlichen Furcht, sich etwas gegenüberzusehen, das ihren beschränkten Horizont weit überstieg. Sie wußten nichts über die Götter der Menschen, abgesehen von den gelegentlichen Hilferufen, die ihre Gefangenen an Torm, Ilmater oder Tymora schickten, bevor sie ins Feuer kamen. Für Thrym und seinen Clan war Zzutam die einzige Macht im Universum. Er war der Schutzpatron ihrer Vorväter gewesen; er würde der Beschützer ihrer Kinder sein – sobald der Clan einmal ein Weibchen gefunden hatte, die es länger als einen Tag mit irgendeinem von ihnen aushielt. Als Zzutam also mit einem Schauer von Eisregen und einem bitterkalten Windstoß eintraf, stahl sich eine vorübergehende Hoffnung in die beschränkten Gehirne der Riesen. Jetzt würde dieser Cyric schon erfahren, wie mächtig ihr Gott war ... Das ungeheure Frostelementar überragte selbst die Riesen mit ihren sechs Metern um fast eine ganze Körperlänge. Sein Leib war flach und breit, als hätte man es von einer Gletscherkante abgeschnitten. Auf seinem
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Kopf saßen gezackte Stacheln. Sie kratzten die Decke entlang, als er seinen Blick zuerst auf Thrym und seine Kameraden richtete und sich dann dem Prinzen der Lügen zuwandte. Ein seltsamer Ausdruck legte sich auf seine nichtmenschlichen Gesichtszüge, und die Winkel der dunklen Spalte, die seinen Mund darstellte, zogen sich auf eine mißbilligende Art nach unten. »Prinz Cyric«, flüsterte er furchtsam. Seine Stimme knirschte wie Eis unter einem schweren Schlitten. Die Riesen beugten sich erwartungsvoll vor und warteten darauf, daß Zzutam den Gotteslästerer mit mächtiger Faust erschlug oder ihn auf einen Eiszapfen aufspießte. Statt dessen neigte das Elementar den Kopf. »Herrscher des Hades«, murmelte Zzutam. »Wie kann ich Euch dienen?« Cyric grinste. »Für den Anfang könntest du deine ungewaschenen Schoßhunde etwas Respekt lehren«, tadelte er. Mit geschlitzten Augen, die so weiß blitzten wie der Himmel in einem Schneesturm, drehte Zzutam sich zu seinen Anhängern um. Einer nach dem anderen folgten sie seiner stummen Anweisung und warfen sich katzbuckelnd auf den dreckigen Boden. Thrym gehorchte als letzter und beugte nur ein Knie in Demut – eher, um seiner Enttäuschung durch den Elementar Ausdruck zu verleihen denn als Beleidigung gegen Cyric. »Schon viel besser«, bemerkte der Prinz der Lügen. »Jetzt, Zzutam, wirst du diesen Giganten befehlen, die menschliche Stadt anzugreifen, die als Zentilfeste bekannt ist. Ich habe dem Ort die Ehre erwiesen, ihn zu meiner heiligen Stadt zu machen, doch seine Einwohner
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beleidigen mich mit dummen Revolten und Ketzereien. Ich will, daß sie bestraft werden.« »Aber diese zwölf können wenig gegen die Magier und Soldaten einer so großen Stadt ausrichten«, wandte Zzutam ein. »Andere Truppen werden zu ihnen stoßen«, sagte Cyric. Er saß im Schneidersitz auf dem Altar. »Ich werde all ihre wilden Kameraden in dieser Gegend rekrutieren, außerdem alles, was ich an Gnolls und Goblins auftreiben kann. In diesem Moment provoziert einer meiner Agenten einen Schwarm weißer Drachen. Die Wyrmer werden die Feste ebenfalls angreifen, obwohl sie noch nicht wissen, daß sie für mich arbeiten.« Zzutam sah verwirrt aus, was keine Überraschung war, da seine Intelligenz die der ihn verehrenden Riesen kaum überstieg. »Was soll diese Armee tun?« »Die Feste zerstören.« Cyric zog eine Grimasse. »Sie wird die Manifestation meines unheiligen Zorns sein. Du weißt schon – eine Streitmacht, die den Tölpeln beibringt, in ihrer Hingabe und Opferbereitschaft nicht noch einmal nachzulassen.« »Wir nicht kämpfen zusammen mit Goblins oder Gnollen«, sagte Thrym. »Sie Abschaum. Außerdem du uns töten, wenn wir die schwarzen Mauern einreißen.« »Davon habe ich nichts gesagt«, grollte Cyric. Er sprang vom Altar herunter. Sofort hatte er Thryms Körpergröße. »Wie bist du zu diesem Schluß gekommen, du Dummkopf?« Der Häuptling sah Cyric ruhig und fest in die feuerroten Augen. »Ich hatte Träume. Da sein Hunde mit Feuerodem und sie uns töten, weil wir deine Stadt angrei-
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fen.« Der Prinz der Lügen hielt inne, gleichermaßen verblüfft von der Kühnheit des Riesen und der Genauigkeit seiner Visionen. Cyric plante, die Armee auf die Feste loszulassen, aber nur, um die Verehrung in der Stadt anzustacheln und sie zu zwingen, ihm als ihrem Retter die Hand zu reichen. Die verstärkte Verehrung würde ihm genug Macht verleihen, um den Zauber zu aktivieren, den er benötigte, um Kelemvor Lyonsbane ausfindig zu machen. Dann würde er die Riesen und Drachen vernichten, bevor sie auch nur einen Stein in den nachtschwarzen Mauern der Feste ankratzten. »Du deutest den Traum falsch«, log Cyric. »Ich werde meine Höllenhunde hierher führen, wenn ihr die Zentilfeste nicht zerstört.« Er warf Zzutam einen bedeutungsvollen Blick zu. Das Frostwesen nickte enthusiastisch mit dem großen, stacheligen Kopf. »Ihr werdet tun, was der Prinz der Lügen verlangt«, keuchte er. »Sein Wort ist mein Wort.« »Sehr theatralisch«, sagte Cyric abfällig. »Hast du bei Torm oder Tyr Unterricht genommen? Das ist die Art von schwülstigem Gefasel, das ich von ihnen erwarten würde ...« Der Todesgott wies auf Thrym. »Ich will, daß ihr euch heute noch auf den Weg macht. Die Reise wird ein paar Tage dauern, und ich will dies so schnell wie möglich zu Ende bringen. Die übrige Armee wird unterwegs zu euch stoßen.« Er zog Götterfluch und berührte Thrym an beiden Schultern. »Ich ernenne dich zum General. Es wird in deiner Verantwortung liegen, die Ordnung zu wahren – und das heißt, keine Kämpfe unter-
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einander, hast du mich verstanden? Für jeden Soldaten, der getötet wird, ehe ihr die Stadt erreicht, werde ich dir eines deiner schwabbeligen, verlausten Körperteile abschneiden; ich fange mit den Fingern an und arbeite mich dann zu Größerem vor.« Thrym, auf dem eine Anweisung Zzutams und die Drohungen eines sogar noch mächtigeren Wesens lasteten, tat das einzig Mögliche: Er ließ sich in einer unbeholfenen Verbeugung zu Boden fallen und beeilte sich dann, seine kärgliche Ausrüstung aufzusammeln. Der Frostriese ließ sich beim Zusammenpacken seiner Habseligkeiten weniger Zeit, als er zum Töten Gwydions und seiner Gefährten gebraucht hatte, und begab sich auf den langen Marsch Richtung Süden zur Zentilfeste, den Rest seiner frischgebackenen Armee im Schlepptau. Nachdem die Riesen gegangen waren, neigte Zzutam unterwürfig den stacheligen Kopf. »Herr, ich fürchte um meine Anhänger.« »Kein Grund zur Sorge«, sagte der Todesgott. »Das Schicksal der Armee ist besiegelt.« Er ging zum Höhleneingang und sah zu, wie die Riesen durch den Schnee zum Rande des Plateaus wateten. Ihre verbeulten Helme und die schmutzigen Blätter ihrer Äxte reflektierten den fahlen Mond in sanften Lichtblitzen. »Ich habe schon begonnen, den Wahrsagern in der Feste Vorzeichen zu schicken – selbst den falschen. Während wir hier sprechen, verbreiten sich wilde Gerüchte um eine ungeheure Armee, die auf dem Vormarsch ist.« »Aber dann werden die Verteidiger der Stadt –« Das Ausatmen des Frostelementars klang wie der Wind, der durch einen hohen Bergpaß pfiff.
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»Du kannst immer noch einen anderen Haufen dummer Tiere soweit einschüchtern, daß sie dich verehren«, schlug Cyric ausdruckslos vor. »Warum du dir die Mühe machst, entzieht sich allerdings meinem Verständnis. Du bist nicht mal eine wahre Gottheit. Ihre Anbetung bringt dir keine Macht.« Er wandte sich Zzutam wieder zu. »Ich vertraue darauf, daß du weise genug sein wirst, die Ereignisse ihren Lauf nehmen zu lassen, ohne deine eiskalte Nase in die Angelegenheit zu stecken. Ich werde jede Einmischung deinerseits als persönlichen Affront auffassen.« Der Prinz der Lügen mußte weder die seltsamen Augen des Elementars sehen noch seine gemurmelte Einwillung hören, um zu wissen, daß die Furcht ihn davon abhalten würde, Thrym und die anderen zu retten. Siegessicher zog der Todesgott sein Bewußtsein aus der Höhle zurück und schickte es in seine heilige Stadt. Die Nacht war noch jung, und Tausende und Abertausende schlafender Gemüter warteten auf die Schreckensnachricht von dem Verderben, das mit dem donnernden Schritt von Riesenstiefeln und dem ledrigen Zischen von Drachenflügeln auf die Zentilfeste zumarschierte.
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An jenem Abend wurden alle, die sich innerhalb der rabenschwarzen Mauern der Zentilfeste aufhielten, von Alpträumen geplagt, obwohl sie der Nachtschlange nicht als Nahrung dienten. Am nächsten Morgen hatte jeder Priester, Soldat, Bettler und Händler die schrecklichen Träume noch lebhaft vor Augen, und jene, die tapfer
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genug waren, die Schrecken zu beschreiben, die im Schlaf eiskalt nach ihren Herzen gegriffen hatten, stellten fest, daß ihre Nachbarn von den gleichen apokalyptischen Visionen heimgesucht worden waren. Einige Wahrsager und solche, die sich dilettantisch mit den magischen Künsten beschäftigten, versuchten ihr Bestes, um eine Bedeutung an die Träume zu knüpfen; andere, wie Elusina die Graue, verschlossen ihr neugewonnenes magisches Auge und weigerten sich, auch nur einen Blick in die trostlose Zukunft zu werfen. Letztlich stimmten die Weisen und Zauberer nur darin überein, daß etwas Merkwürdiges im Gange war, daß irgendeine Macht der Stadt eine Botschaft von jenseits der Reiche der Sterblichen sandte. Um Hochsonne übersetzte Patriarch Xeno Silbermähne in einer Rede vor der versammelten Führungsspitze der Kirche Cyrics jene Botschaft für die Leute der Zentilfeste. »Unser Herr und Beschützer ist unzufrieden mit uns«, rief der Hohepriester der vor ihm auf dem schwarzen Fußboden des Kirchenschiffs knieenden Gemeinde zu. »Wir haben es nicht geschafft, unsere Stadt von Ketzern zu reinigen, selbst mit der Hilfe der Inquisitoren des Meisters nicht. Die Träume, von denen wir heimgesucht wurden, die Offenbarungen, die unseren Magiern zuteil wurden, sie alle weisen darauf hin, daß eine große Armee hierher unterwegs ist. Sie ist das Werkzeug des Zorns Cyrics.« Xeno schlug so hart auf das hölzerne Podium ein, daß unter den Schlägen Risse entstanden. »Wenn wir Cyric nicht in unsere Herzen einlassen, wenn nicht jeder ein-
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zelne Bürger dieser heiligen Stadt seinen eigenen Willen hintanstellt und die Rolle spielt, die Cyric ihm zugedacht hat, dann wird diese Armee die Mauern niederreißen und die Feste dem Erdboden gleichmachen.« Rufe wurden im Tempel laut, wütende Schreie, die den Tod aller Ketzer verlangten. Xeno starrte mit gehetzten Augen, die vor Panik und selbstgerechter Inbrunst geweitet waren, über die Menge hinweg. »Cyric bezweifelt nicht, daß wir ihm treu gedient haben. Wir, seine Priester –« Ein fürchterliches Knirschen von Stein auf Stein übertönte Xeno Silbermähnes Lobeshymne. Zu beiden Seiten des Patriarchen standen gewaltige Marmorstatuen Cyrics. Mit heldenhaft gemeißelten Zügen und großartig geschnittenen Steinroben verzogen die Zwillingsgötter vor der versammelten Menge das Gesicht. Nun zogen beide Marmorgottheiten langsam die aus massivem Rubin geschnittenen Kurzschwerter aus diamantbesetzten Scheiden; es klang, als risse die Erde über den gesamten Horizont hinweg auf. »Niemand in der Zentilfeste hat unserem Herrn gute Dienste geleistet«, riefen die Statuen wie aus einem Munde. Sie richteten ihre kalten Augen auf Xeno Silbermähne. »Niemand.« Der Patriarch stammelte ein Bußgebet, doch die Statuen hatten ihren lidlosen Blick bereits wieder auf die versammelten Priester gerichtet. »Wisset alle, daß der Herr der Toten diesem Ort seine Wohltätigkeit entzogen hat – bis sich die gesamte Stadt seiner höchst göttlichen Gunst als würdig erweist.« Steif erhoben die Statuen ihre Schwerter. Überall im
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Schiff öffneten sich die silbernen Armreifen, die die Priester zum Zeichen ihrer Leibeigenschaft Cyric gegenüber trugen, und fielen auf den schwarzen Boden. »Ihr dient nicht länger dem Gott der Zwietracht und dem Herrn der Tyrannei«, verkündeten die Statuen mit Totenstimmen. Das Urteil brachte einige Priester zum Weinen; andere starrten nur die silbernen Handschellen entsetzt an, die geöffnet vor ihnen lagen. Wie die Streifen blassen, wundgescheuerten Fleisches an ihren Handgelenken bewiesen, hatten sie die Armreifen ein Jahrzehnt lang getragen. Sie konnten sich genausowenig vorstellen, sich ohne sie zu bewegen, wie sie sich vorstellen konnten, ein Auge oder eine Hand zu verlieren. »Bitte«, kreischte Xeno, der vergebens versuchte, die Handschellen wieder um seine Handgelenke zu schließen. »Es muß doch einen Weg geben, uns als würdig zu erweisen.« Die Statuen traten von ihren ebenholzschwarzen Sockeln. Jede wandte sich einer Seite des Tempels zu und ging schweren Schritts von der Apsis bis zu den Seitenschiffen. Dort angekommen hoben beide erneut ihre Schwerter und deuteten diesmal auf die gewaltigen Bleiglasfenster, die an beiden Wänden verliefen. »Es gibt einen einzigen Weg, und nur diesen einen«, intonierten die Marmorgötter. »Folgt diesen Anweisungen, bevor die Armee seines Zorns über euch kommt, und ihr werdet vielleicht doch noch der Erlösung teilhaftig.« Entlang der gesamten Wände begann das Maßwerk schwach purpurn zu leuchten, als hätten die Rubinschwerter die schmückende Steinmetzarbeit, die die
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Fenster umrandete, in Brand gesteckt. Dann drang Licht durch den dunklen Stein und rann am bleigefaßten Glas hinunter wie Blut. Das flüssige Feuer verbrannte die hinreißend verworrenen Bilder, die dort festgehalten waren – Szenen des Abschlachtens und der Zwietracht, für die der Prinz der Lügen und seine Gefolgsleute verantwortlich zeichneten – und ersetzte sie mit geschriebenen Ritualen in Cyrics Namen. Jeder der sechs grauenhaften Riten erforderte eine andere Anzahl blutiger Zutaten und beschrieb genau den unheilvollen Umgang mit den gesammelten Zungen, Augen und Herzen. »Darin liegt eure einzige Hoffnung.« Damit stampften die Statuen zurück zu ihren Sockeln, steckten ihre Schwerter in die Scheiden und wurden wieder zu Stein. Xeno brach die lähmende Stille, die auf dem Tempel lastete, mit einer Hymne auf den Ruhm Cyrics, und bald hatte die ganze Gemeinde mit eingestimmt. Ihr Gott hatte sich von ihnen abgewandt, aber noch gab es eine Möglichkeit, einen Platz in seinem Königreich zurückzugewinnen, und sie würden die Schirmherrschaft des Todesgottes zurückgewinnen, selbst wenn es das Abschlachten aller anderen in der Zentilfeste bedeutete.
Worin Rinda und der Prinz der Lügen sich zum letzten Mal treffen – zumindest in den Reichen der Sterblichen – und Maske jeden austrickst, sogar sich selbst. Ein Chor von fünfzig Priestern schlurfte mitten auf der in Zwielicht gehüllten Straße entlang und krächzte eine Hymne an Cyric. Sie strengten sich an, die Worte so gut auszusprechen, wie sie konnten, aber die verkohlten Stümpfe ihrer Zungen würgten jede Silbe ab. Ihre Augen, glasig vor Schmerz und rotgerändert vor Erschöpfung, starrten ausdruckslos in die heruntergekommene Umgebung. Silbermähne hatte den Priestern in den letzten drei Tagen kaum Ruhe gegönnt, doch so verlangte es die Vierte Messe: Schändet die Stimmen von zweimal zwanzig und zehn meiner Getreuen und schickt sie aus, damit sie mich lobpreisen in jeder Gasse, auf jedem Weg in der Stadt, die meine heilige Zuflucht sein möchte. Rinda schüttelte den Kopf, ging weiter die Straße hinunter und entfernte sich von dem Chor. Solcherlei gräßliche Spektakel waren in der Feste seit dem Tag der Finsteren Vorzeichen an der Tagesordnung, da Xeno Silbermähne und seine Priester sich bemühten, die sechs Rituale zu vollenden, die Cyric auf die Fenster seines Tempels geschrieben hatte. Jeder der Riten verlangte
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nach Blut und Schmerzen, als könnten allein sie die Heiligkeit der Stadt unter Beweis stellen. Manchmal erlitten die Priester die furchtbaren Verstümmelungen. Sehr viel häufiger waren für die Rituale die Höllenqualen Unschuldiger und die Schreie Nichtsahnender erforderlich. Zu einer anderen Zeit hätten sich die Zenter, die Cyric nicht treu ergeben waren, vielleicht gegen die Tyrannei erhoben. Jetzt stand allerdings mehr auf dem Spiel als die spirituelle Ausrichtung der Feste. Späher aus der Stadt hatten eine gewaltige Armee von Riesen, Goblins und anderen wilden Kreaturen ausgemacht, die zielstrebig aus dem nördlichen Ödland vorstieß. Die Mystiker wußten, daß ihre Untergangsvisionen wahr wurden, als sich die Neuigkeit der vorrückenden Armee in der Stadt verbreitete. Andere vermuteten, daß hinter der Horde das Werk irgendeines Gottes oder einer Göttin steckte, in dessen oder deren Absicht es lag, Cyrics Wut auf die Feste zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die nackte Furcht ließ die Debatte schließlich verstummen; welche Macht auch immer sie antrieb, die Riesen beabsichtigten offenbar zuzuschlagen, während die Stadt Schwäche zeigte. Aus Furcht wurde Panik, als klar wurde, daß die Feste keinerlei Hilfe von ihren Außenposten erwarten konnte. Ein Schwarm weißer Drachen hatte einen weiten Kreis um die Stadt gebildet und schlachtete alle Karawanen und Soldaten ab, denen sie begegneten. Eine Streitmacht von dreihundert Zentilaren aus der Rabenzitadelle war in Sichtweite der Mauern der Feste ausgelöscht worden. Jetzt, da die Riesen weniger als einen Tagesmarsch entfernt waren, hatten die Wyrmer die Schlinge enger gezogen. Von den höchsten Torhäusern aus konnte man sie
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auf Streife sehen, dunkle Flecken, die am wolkenlos blauen Himmel kreisten. Auf den verworrenen Gassen und Straßen der Stadt konnte niemand die Wyrmer sehen; man bemerkte nur den Schrecken, den sie auslösten. Die dringliche Eile, mit der die Priester ihre blutigen Riten durchführten, die heftigen Scharmützel um das bißchen Nahrung, das übriggeblieben war, nachdem sich die Kirche und die Handelshäuser bedient hatten, die vergeblichen Gebete zum Prinzen der Lügen – all das stank nach Verzweiflung. In den Augen eines Menschen ähnelten die Zenter wilden Tieren, die verwundet und von einer königlichen Jagdgesellschaft in die Enge getrieben worden waren. Als sie an der wettergegerbten Fassade des »Schlangenauges« vorbeikam, bemerkte Rinda drei der etwas offensichtlich raubtierhafteren Einwohner der Feste: Soldaten, die in der schattigen Türöffnung der Taverne lauerten. Die prahlerische Arroganz in ihren Bewegungen, als sie auf sie zukamen, und das räuberische Funkeln in ihren Augen verrieten Rinda, daß die Zentilaren auf Rekrutierungsmission waren. Die schnurgeraden, rasiermesserscharfen Klingen und die pechgetränkten Seile, die sie in Händen hielten, bedeuteten, daß sie Körperteile junger Frauen für die zweite Messe sammelten. »Spart euch die Mühe«, sagte die Schreiberin kalt. Sie warf ihren Mantel zurück, und ein schwarzes Lederarmband, das sie als unantastbare Dienerin der Kirche auswies, kam zum Vorschein. Zwei der Zentilaren wandten sich ab. Die letzte Soldatin – eine junge Frau, von deren Mundwinkel eine gezackte Narbe bis zum Ohr verlief – knurrte Rinda an.
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»Eine von Xeno Silbermähnes Huren.« Sie spie auf den Boden und begab sich dann zu ihren Gefährten in die Schatten der Türöffnung. Rinda machte sich nicht die Mühe, die Frau zu korrigieren, sondern eilte nur weiter ihrem Heim entgegen. Sie konnte sich ein stummes Dankgebet zu Cyric für das Armband nicht verkneifen; es hatte ihr in den letzten drei Tagen mehr als einmal das Leben gerettet. Rinda war gezwungen, beiseite zu treten, als ein Fuhrwerk in die Gasse polterte. Der Wagen kam ein paar Türen von ihrer entfernt rumpelnd zum Stillstand, und der Kutscher sprang auf das Kopfsteinpflaster herab, wo eine Leiche im Rinnstein lag. Es war Johul, der Pfeilmacher, stellte Rinda fest, und eine Welle der Trauer durchflutete sie. Die Kleidung des Pfeilmachers war in einem fürchterlichen Handgemenge zerfetzt worden. Eine seiner Hände baumelte herab, fast abgetrennt vom Handgelenk. Das K, das man ihm ins aufgequollene Gesicht gestochen hatte, verkündete sein Verbrechen und den Grund für seinen Tod: Ketzerei. »Unwahrscheinlich«, murmelte Rinda. Einmal, bevor Cyrics Kirche die Stadt vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht hatte, hatte sie den Pfeilmacher sagen hören, er könne die Götter nicht einmal auseinanderhalten, wenn sie sich mit ihm im »Schlangenauge« an einen Tisch gesetzt und gewürfelt hätten. Er hätte jede Gottheit verehrt, die seine Kunden bevorzugten, so egal waren sie ihm gewesen. Rinda warf einen Blick auf das Fenster über der Werkstatt des Pfeilmachers, nur um festzustellen, daß Johuls Sohn dabei zusah, wie die Leiche grob auf den
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Karren geworfen wurde. Der Junge hatte seinen Vater gehaßt, und wie viele andere in der Feste auch hatte der Junge die fieberhafte Suche der Kirche nach Ketzern als Ausrede benutzt, um mit einem Mord davonzukommen. Der Scheiterhaufen, den die erste Messe verlangte, erforderte einen ständigen Nachschub an Leichen. Woher die Körper kamen, war kaum von Belang, solange sie vor dem Tod mit dem K gebrandmarkt worden waren. Wie nicht anders zu erwarten, waren die Ketzer seit dem Tag der Finsteren Vorzeichen so zahlreich geworden wie Mäuse in einem Kornspeicher. Innerhalb von drei Tagen war die Zentilfeste zu einem grauenhaften Spiegelbild von Cyrics Reich im Hades geworden – zumindest demzufolge, wie er die Stadt der Zwietracht in der Cyrinishad beschrieben hatte. Der Prinz der Lügen hatte das letzte Kapitel dieses verfluchten Bandes in den Stunden vor dem Erwachen der Tempelstatuen diktiert. Darin beschrieb er seinen Traum von einer Welt ohne andere Götter. Mehr als jeder andere Abschnitt der Cyrinishad hatten sich die Worte dieser beängstigenden Phantasie in Rindas Verstand gebrannt: Die Ketten der Heuchelei werden abfallen, und der Mensch wird frei sein, nach seinen Instinkten zu handeln, den einzigen vertrauenswürdigen Führern in dieser Welt des Kampfes und der Verzweiflung. Das Gefängnis, dessen vier Wände Ehre, Loyalität, Wohltätigkeit und Opferbereitschaft heißen, wird zerschmettert werden vom Schwert des Eigeninteresses und dem Streitkolben der Gier. Schon jetzt triumphieren die Krieger, die diese Waffen zuerst aufnehmen und sie mit sicherster Hand tragen, über alle anderen. Von den Fesseln der Recht-
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schaffenheit erlöst werden alle Menschen auf ein ebenes Schlachtfeld gestellt werden und die Freiheit erhalten, sich ihr eigenes Schicksal aus dem trostlosen Stoff des Lebens zu schneidern. Städte werden brennen und Flüsse sich rot färben vom Blut jener, die zu dumm sind, um die Wahrheit zu erkennen. Scheiterhaufen von Ungläubigen werden den Himmel mit ihrem fettigen Rauch gelb färben, und der Wind wird den Gestank des Todes in jeden Winkel des Erdballs tragen. Aber jene, die mir folgen, werden neue Städte auf den Ruinen der alten errichten, Orte, an denen jeder König sein kann – solange er den Wagemut besitzt, eine Klinge gegen seinen Bruder zu erheben und alles zu verlangen, was die Welt ihm schuldet... Obwohl die Kettfäden und das Gewebe von Cyrics bestialischem Gobelin Rinda nicht mehr losließen, hatte sie sich von dieser schrecklichen Vorstellung durch den festen Glauben distanziert, daß die Zivilisation nicht so einfach untergehen würde. Schließlich hatte sie selbst Stellung gegen den Todesgott bezogen, und es gab weitere, die Cyric bekämpften – Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen. Sobald sie Das Wahre Leben Cyrics einmal verbreiteten, würden sich vielleicht noch mehr um ihr Banner der Wahrheit und Freiheit scharen. Als sie ihre Haustür aufstieß, fragte sie sich gerade, was Oghma mit Das Wahre Leben vorhatte. Wie der Band des Todesgottes war auch die Historie des Binders am Tag der Finsteren Vorzeichen vollendet worden. Jeglicher Gedanke an den Gott des Wissens und Das Wahre Leben Cyrics flüchtete in den tiefsten, am besten bewachten Teil ihres Verstandes, als sie die zwei Männer
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sah, die auf ihre Rückkehr warteten. »Meine Liebe«, sagte Cyric. »Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen.« Er warf einen Blick über seine Schulter. »Sagt nicht, daß mir einer meiner Gefolgsleute von daheim nachgelaufen ist.« »N-Nein, Magnifizenz«, stammelte Rinda. Sie setzte die Fassade der bedingungslosen, leicht dümmlichen Loyalität auf, die sie in Cyrics Gegenwart zur Schau trug. »Es ist nur so, daß – ähm, einer meiner Nachbarn ist ermordet worden – ich meine, er wurde als Ketzer gekennzeichnet und –« »Ja, der Pfeilmacher«, sagte der Prinz der Lügen gedehnt. »Sein Sohn ist ein vorbildlicher Bürger, nicht?« Er winkte ab. »Natürlich. Wißt Ihr, Ihr solltet wirklich nicht überrascht sein, Leute in Eurem Wohnzimmer vorzufinden, wenn Ihr Eure Tür in einer solchen Nachbarschaft unverschlossen lasst.« »Das hat man mir gesagt«, sagt Rinda wie betäubt. Der Todesgott wandte sich dem anderen Mann im Raum zu. »Ich habe nicht gesagt, daß Ihr aufhören sollt zu lesen, Fzoul.« Der rothaarige Kleriker sah zu Rinda hoch, und Furcht ließ seinen harten Mund zittern. Er saß an ihrem Schreibtisch, ein dickes Buch vor sich. Die Laterne neben ihm warf lange Schatten auf seine Züge und verbarg seine Augen und seinen Mund unter dunklen Streifen. »Die Frau verdient eine Erklä–« Cyric stieß Fzoul hart mit Götterfluch an, als wäre das Schwert ein Zeigestock und er ein strenger Dozent in einer Tempelschule. »Ich werde entscheiden, was die Frau verdient«, murmelte er.
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»Die Illustratoren und Buchbinder haben Euer Buch fertig?« fragte Rinda. Sie zögerte einen Moment auf der Schwelle, entschied dann aber, daß es töricht gewesen wäre davonzulaufen. Sie schloß die Tür hinter sich, als sie eintrat. »Es ist auch Euer Buch, meine Liebe«, sagte der Prinz der Lügen. »Ja, es ist vollendet. Ich ließ die anderen Handwerker an den Seiten arbeiten, sobald Ihr sie fertig hattet.« Er lächelte verschmitzt. »Ich halte nur ein altes Versprechen, das ich Fzoul hier gegeben habe und gestatte ihm als erstem Sterblichen, den fertigen Entwurf zu lesen.« »Als erstem Sterblichen?« fragte Rinda. Sie nahm ihren Mantel ab und ließ ihn achtlos fallen. »Ihr habt es also schon gelesen?« Cyric nahm sein nervöses Herumtigern in dem engen Raum wieder auf. »Ganz«, erwiderte er atemlos. »Hervorragende Arbeit. Ihr habt meine Brillanz auf jeder einzelnen Seite festgehalten.« Der Herr der Toten ließ die Spitze Götterfluchs auf dem Boden schleifen, während er ging, so daß sich eine tiefe Furche in die knarrenden Bretter grub. »Wir brauchen selbstverständlich die Illustrationen für die Tölpel, die nicht lesen können, aber die Zeichnungen waren noch nie ein großes Problem. Sie stimmten bereits nach der dritten oder vierten Fassung.« Cyric hielt inne, als eine Diele hochsprang, und Rindas Herzschlag setzte für einen Moment aus. Das Manuskript von Das Wahre Leben lag, eng in Leder eingewickelt, dort im Boden versteckt. Der Prinz der Lügen machte sich allerdings nicht die Mühe, in die Spalte zu
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schauen. Er stieß das Brett mit einem Stiefelabsatz wieder an seinen Platz und stampfte es fest. »Aber Ihr seid die Einzige, der es gelungen ist, die Worte niederzuschreiben – nun, zumindest erschien es mir so, nachdem ich es gelesen hatte. Der wirkliche Kritiker wird Fzoul sein.« Rinda kämpfte den Drang nieder, im Geiste nach Oghma zu rufen, dem Fürsten des Wissens ein stilles Gebet zu schicken. Cyric würde eine solche Bitte mit Sicherheit hören und hart mit ihnen ins Gericht gehen. Außerdem wußte der Binder, daß der Todesgott sie in der Falle hatte; zumindest dann, wenn er noch über sie wachte. »Wo wart Ihr?« Die Schreiberin sah auf, nur um festzustellen, daß Cyric neben ihr stand. Sein roter Mantel wallte um ihn herum wie eine Flamme; er bauschte sich und tanzte in den kalten Luftwirbeln, die von den Dielen aufstiegen. Die Laterne ließ seine Augen funkeln. In seinem Atem war ein feiner Hauch von Schwefel, als er flüsterte: »Habt Ihr vielleicht die Kirche bei ihrer Jagd nach Verrätern unterstützt?« Rinda spürte, wie sie erbleichte. »Essen«, platzte sie heraus. »Ich war auf der Suche nach etwas zu essen.« »Aber Ihr kamt mit leeren Händen zurück? Ah ja: Knappheit zu Kriegszeiten.« Cyric spreizte die Finger, als ihm die Erkenntnis kam. »So sind Belagerungen nun mal. Die Reichen essen Rehfleisch, und die Armen essen einander.« Auf eine Geste des Todesgottes hin erschien ein Berg von Essen auf dem Tisch: ein Krug süßen Apfelweins,
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Haufen von Erdbeeren und ein noch warmer Laib Brot. »Bitte sehr«, sagte der Prinz der Lügen. »Ihr müßt nur fragen.« Ihr Magen knurrte und zog sich beim Anblick des vielen Essens zusammen. Es gab schon zu wenig Grütze und abgestandenes Wasser, die man in der Feste, und besonders in den Armenvierteln, bekommen konnte, und das hier war ein Festmahl, dessen sich die Tafel eines Adligen nicht schämen müßte. Rinda warf Cyric einen Blick zu, der mit einem gönnerhaften Nicken sein Einverständnis gab. Während Rinda aß, ging der Prinz der Lügen weiter im Raum auf und ab. Er schnitzte mit Götterfluch träge an Möbeln herum und schlug gegen die Dachsparren, so daß sich die Ratten eiligst nach einer besseren Deckung umsahen. Das Ungeziefer schien den Prinz der Lügen zu erkennen. Es hielt inne und nickte ihm respektvoll mit räudigen, spitzen Schnauzen zu, bevor es davonflitzte. Rinda hatte ihre Mahlzeit schnell beendet. Ein paar Bissen Brot und ein oder zwei Erdbeeren hatten sie satt gemacht, und sie begann, den Herrn der Toten zu beobachten. Alle paar Schritte sah Cyric Fzoul Chembryl besorgt an oder beehrte Rinda mit einem herablassenden Lächeln. Es lag eine Spannung in seinen Bewegungen, die Rinda zuvor nicht bemerkt hatte, ein Zucken eines Mundwinkels, wenn er sich zwang, die verbissene Grimasse loszuwerden. Rinda war so versunken in ihre Betrachtung Cyrics, daß Fzouls Schrei sie aufspringen ließ. Der Krug mit dem Apfelwein rollte vom Tisch. Sein scharfer Aufprall unterstrich den langgezogenen, verzweifelten Klagelaut des
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Priesters. »Bitte«, rief Fzoul Chembryl. Er stieß sich vom Tisch ab und kam auf die Beine. »Zwingt mich nicht, es ganz zu lesen. Ich spüre, wie sich die Worte in mein Gehirn fressen.« Fzoul schwankte trunken auf Rinda zu. »Haltet ihn auf«, flüsterte er. Fzouls Knie gaben nach, und er fiel. Als er mit dem Gesicht auf den Boden aufschlug, brach er sich die Nase. »Setzt ihn wieder an den Tisch«, sagte Cyric. »Aber nehmt erst einen von diesen Lumpen und macht ihn sauber. Wir wollen doch nicht, daß sich sein Blut über die Seiten verteilt. Nein, darum kümmere ich mich besser ...« Er deutete auf Fzoul, der Blutschwall aus seiner Nase versiegte und das restliche Blut verschwand von Händen und Gesicht. Rinda half Fzoul hoch. Der Nasenrücken des Priesters war furchtbar verbogen, und Blutergüsse umringten beide Augen wie die Maske eines Straßenräubers. Zunächst nahm er Rindas Hilfe an. Als er jedoch das Mitleid in ihren Augen sah, stieß Fzoul sie von sich. Allein wankte er die letzten paar Schritte bis zum Tisch. »Er war schon immer ein undankbarer Flegel«, sagte Cyric, während er Rinda sanft vom Boden aufhob. Er wandte sich Fzoul zu. »Denkt nicht einmal daran, ein einziges Wort auszulassen«, grollte er. Verdrossen schlug Cyric mit Götterfluch zu. Die breite Seite der Klinge erwischte Fzoul am Ohr; das Kurzschwert pulsierte hell, hungrig, und beruhigte sich dann, bis es wieder seinen rosigen Farbton hatte. »Ihn bekommst du nicht, meine Liebste«, gurrte der Prinz der
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Lügen, als er die Klinge in die Scheide steckte. »Es sei denn, das Buch vermag ihn nicht von meiner Größe zu überzeugen.« Fzoul mußte noch eine einzige Seite lesen, den Abschnitt, der sich mit Cyrics endgültiger Vision der Welt befaßte. Die Panik war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte stoischer Schicksalsergebenheit Platz gemacht. Wie eine Kobra, die von der Flöte eines Schlangenbeschwörers hypnotisiert wird, begann er, sich zu wiegen, als er die letzten Worte las: So lautet das unvergängliche Wort Cyrics, Herr der Toten und Prinz der Lügen. Lang möge er herrschen auf Erden und im Hades. Der Priester fiel vornüber auf das Buch, was Cyric in drei schnellen Schritten an seine Seite holte. Fzoul leistete keinen Widerstand, als der Prinz der Lügen ihn hochzog. Er schien nicht klar sehen zu können und erwiderte Cyrics Blick nur vage. Allerdings verschwand der Schatten fast so rasch von Fzouls Gesicht, wie er gekommen war. Es war, als hätte er den Prinzen der Lügen zum ersten Mal erkannt. »Magnifizenz«, rief Fzoul aus und fiel auf die Knie. Er faltete in Demut die Hände und verbeugte sich. Cyric rieb sich einen Augenblick lang das Kinn und beäugte skeptisch die vor ihm ausgestreckte Gestalt. Mit einer festen Hand hob er Fzoul hoch und starrte dann erneut in die Augen des Priesters. Rinda sah entsetzt und doch fasziniert zu, wie Fzoul in Cyrics Griff erschauerte. Der Todesgott erforschte den Verstand des Bekehrten und suchte nach einem Hinweis auf Widerspruch, einen kleinen Fleck des Widerstandes,
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der sich gegen den hypnotischen Zauber des Buches zur Wehr zu setzen versuchte. »Sieh mal an«, murmelte der Herr der Toten nach einiger Zeit. »Du belügst mich nicht, nicht wahr?« Lässig ließ Cyric Fzoul Chembryl fallen und wandte sich der Schreiberin zu. »Gute Arbeit. Noch ein letzter Gefallen, und Euer Werk wird getan sein.« Er bedeutet ihr, zu ihm an den Tisch zu kommen. Als der Prinz der Lügen die Cyrinishad schloß, sah Rinda zum ersten Mal die Buchdeckel. Goldene Schnallen und Scharniere hielten das Buch zusammen; daneben gab es noch ein Schloß aus einem auf Hochglanz polierten Metall, das die Schreiberin nicht kannte. All das hob sich scharf von dem rabenschwarzen Leder ab, in das die Buchbinder Hunderte winziger heiliger Symbole geprägt hatten, allesamt grinsende Schädel und dunkle Sonnen. Seltsame Muster erstreckten sich in geschwungenen Linien quer über das übrige Leder. Zunächst schienen sie zufälliger Natur zu sein, doch je länger Rinda sie ansah, desto klarer sah sie die furchtbaren Szenen der Folter und Trauer, die sich in dem Chaos aus Linien und Formen verbargen. Ein Schädel von der Größe einer Kinderfaust beherrschte den vorderen Einband und starrte sie vom geschlossenen Buch aus dunklen, leblosen Augenhöhlen an. Cyric ließ die Finger liebevoll über die Knochen gleiten. »Jetzt, da der Kritiker sie abgesegnet hat, müssen wir die Cyrinishad davor schützen, daß jemand an ihr herumpfuscht – seien es Sterbliche oder Götter.« Er streckte die Hand aus, und ein Dolch erschien, der mit der Spitze auf einem schlanken Finger balancierte.
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»Keine Sorge. Es wird fast gar nicht wehtun.« Mit der Schnelligkeit einer Schlange ergriff Cyric Rinda beim Handgelenk. Er zog ihr die Klinge über die Handfläche, ehe sie reagieren konnte, und hielt die Wunde über das geschlossene Buch. Rindas Blut troff auf den Einband, wobei das Zischen der purpurfarbenen Flüssigkeit auf dem Leder ihr scharfes, schmerzerfülltes Einatmen übertönte. Dann sprach Cyric einen einzelnen arkanen Satz, und der Schädel begann sich zu regen. Sein Mund öffnete sich. Eine lange schwarze Zunge schoß heraus, um das Blut aufzulecken. »Mit diesem Blut errichte ich meinen Schutz. Dieses Buch kann in Aussehen und Inhalt nicht verändert werden. Noch kann es aus den Reichen der Sterblichen entfernt werden«, intonierte der Prinz der Lügen und wandte sich dann an den grinsenden Schädel. »Du bist mein Wächter. Dein Leben ist dir von mir verliehen, und ich werde dich nur so lange leben lassen, wie mein Buch sicher ist. Hast du mich verstanden?« Der Schädel klapperte mit den Zähnen, als kaue er die Worte durch, ehe er sie aussprach. »Natürlich, Magnifizenz. Ich existiere, um Euch zu gehorchen.« Rinda fuhr entsetzt zurück. Der winzige Totenschädel sprach mit ihrer Stimme. »Ihr seht entgeistert aus«, sagte Cyric, während er Rinda mit der Hand über die Wange fuhr. »Das solltet Ihr nicht sein. Euer Blut verleiht dem Wächter des Buches Leben. Nehmt es als Euer Erreichen der Unsterblichkeit. Das ist es doch, was die meisten Verfasser wollen – in ihren Werken weiterzuleben. Ich fürchte jedoch, daß die Cyrinishad das einzige Buch ist, das Ihr schrei-
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ben werdet.« Mit einer Drehung seines Handgelenks warf der Prinz der Lügen Fzoul den Dolch zu. »Töte sie.« Rinda hob ihre Hand einen Augenblick zu spät, um den Stoß abzuwehren. Der hypnotisierte Priester rammte ihr das Messer in den Bauch, und die Klinge drang bis zum Heft ein. Rinda keuchte vor Schmerzen. Zu mehr hatte sie keine Zeit, bevor Fzoul den Dolch umdrehte und sie zu Boden stieß. »Hast du auch nur einen Augenblick lang geglaubt, ich würde nicht herausfinden, daß du mich hintergehst?« rief Cyric. »Besonders, nachdem einer meiner Inquisitoren einen Ketzer auf deiner verdammten Schwelle getötet hat?« Der Herr der Toten stand über Rinda, und Götterfluch pulsierte im Rhythmus des Blutes, das aus ihrer Wunde floß. »Hast du geglaubt, ich würde nicht merken, daß der Binder etwas gegen mein Buch zu unternehmen versucht?« Er sah Fzoul wütend an, das Gesicht in Rage verzerrt. »Ich weiß, daß auch du mit ihnen unter einer Decke steckst, Priester, und jetzt, da du dir meiner Größe bewußt geworden bist, denke ich, du solltest mir erklären, was Oghma vorhat.« Rinda spürte, wie ihre Kraft sie verließ, und mit ihr auch ihre Stimme. Sie konnte nur stumm zuhören, während Fzoul erzählte, wie Oghma in der Hoffnung, eine Revolte gegen den Todesgott vom Zaun zu brechen, Kontakt mit ihm und anderen Mitgliedern des Untergrundes aufgenommen hatte. Dieser Aufstand würde sich um Das Wahre Leben Cyrics konzentrieren, eine Historie, die das bösartige Buch, das der Prinz der Lügen
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anfertigen ließ, in Verrufbringen sollte. Da Rinda eine Schreiberin und Cyric nicht treu ergeben war, fühlte sich Oghma verpflichtet, ihren Geist vor den bedrohlichen Einflüssen der Cyrinishad zu schützen. Er rekrutierte sie in der Absicht, sie den Text zu Ende schreiben zu lassen, damit er vervielfältigt und in Cyrics Kirchen verteilt werden konnte. Zwei Streiche mit Götterfluch, und der Prinz der Lügen zerschmetterte die Dielen, die die in Leder gewickelten Lagen für Das Wahre Leben verbargen. »Das ist dann wohl das Buch des Binders.« Er zerriß die Verpackung und blätterte das Pergament durch, wobei er ab und an innehielt, um über die eine oder andere Passage zu lachen. Schließlich streute er die Bögen in die Luft. »Der Text ist nicht mal magisch!« johlte er. »Ich glaube es nicht. Der Binder dachte, die Wahrheit würde mich zugrunde richten!« Der Prinz der Lügen ging zu Rinda hinüber und blieb genau am Rande der sich ausbreitenden Blutpfütze stehen. »Es scheint, das Messer hat Euch mehr Schmerzen bereitet, als ich es Euch sagte, meine Teure. Allerdings wußte ich, daß es das tun würde.« Mit einem Lächeln hockte er sich hin, um Rinda ins Gesicht zu sehen. »Ich habe gelogen. Das tue ich nun mal.« Cyric tunkte die Zehen in die Blutpfütze, was seine Stiefelspitzen purpurn färbte. »Allerdings habe ich nicht gelogen, was Euer Schicksal angeht, solltet Ihr mich verraten«, sagte er enthusiastisch. »Ich habe ein schreckliches Plätzchen für Euch im Hades eingerichtet. Die Einwohner meiner Stadt erwarten schon die Ankunft Eurer Seele.«
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Rinda sah, wie der Raum um sie herum verschwamm. Die Formen und Farben verschmolzen miteinander, die Laute vermengten sich zu einem konstanten Gemurmel. Gelegentlich stach ein Bild heraus – die Knopfaugen einer Ratte, die von den Dachsparren herabschaute, das Flattern einer Manuskriptseite, die auf dem Fußboden zu liegen kam, das Essen, das Cyric hervorgezaubert hatte und das sich nun in Maden verwandelte – woraufhin eine Welle der Bewußtlosigkeit kam und sie fortschleifte. Jedes Mal spürte sie, wie sie weiter und weiter von ihrem Heim, ihrem Körper fortgezogen wurde ... »Wieder einmal gute Arbeit geleistet«, seufzte Cyric, als er sein Buch auflas. »Die Zeit wird nicht reichen, um dies bis zum Morgen von jemand anderem lesen zu lassen; aber ich will, daß Ihr es zur sicheren Aufbewahrung in den Haupttempel bringt. Bei der morgendlichen Messe werdet Ihr den Getreuen den letzten Abschnitt vorlesen.« Fzoul Chembryl verbeugte sich, als er den schweren Band an sich nahm. »Wie Ihr wünscht, Magnifizenz.« »Ja, schon gut«, sagte der Prinz der Lügen, und seine Stimme nahm einen gereizten Tonfall an. »Die Lesung wird der letzte Teil der Zeremonie sein, und Ihr müßt bei Sonnenaufgang fertig sein.« Cyric hielt inne und starrte auf die Oberseite von Fzoul Chembryls geneigtem Kopf. »Das bereitet mir kaum solches Vergnügen wie früher. Ich vermisse beinahe Eure sinnlose Wut. Nun ja. Da kann man nichts machen.« Mit einem letzten Blick auf Rindas Leiche schickte sich der Prinz der Lügen an zu gehen. »Brennt dieses Haus nieder«, sagte er, während seine Inkarnation
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verblaßte. »Verwendet das Buch des Binders zum Anzünden.« Sobald Cyric verschwunden war, warf Fzoul die Cyrinishad auf die Schreibtischplatte und eilte zu Rinda hinüber. »Was glaubt Ihr, was Ihr da tut?« kreischte das Buch. Eine silberne Kette schloß sich um den Band und verstopfte wie ein Knebel dem Schädel den Mund. »Ihr hättet sie nicht so schwer verletzen müssen«, schnauzte Oghma, als er mitten im Raum erschien. Er warf einen Blick auf die Cyrinishad, um sicherzugehen, daß seine Verzauberung standhielt, dann wandte er sich wieder Rinda zu. »Könnt Ihr sie retten?« Fzoul grinste. »Ich weiß, wie man jemandem ein Messer in die Eingeweide jagt, so daß er erst nach Stunden stirbt«, sagte er, wobei allerdings die Stimme, die über seine Lippen kam, den zischenden Tonfall des Fürsten der Schatten angenommen hatte. »Aber ich muß zuerst diese ungeschickte Verkleidung loswerden.« Der Schatten des Priesters verdunkelte und verfestigte sich, als flösse Fzouls Lebenskraft aus seinem Leib in die Schwärze. Dann erhob sie sich und ragte sowohl über Fzoul als auch über Rinda auf. Schatten aus dem ganzen Zimmer wallten auf Maske zu. Sie verschmolzen um ihn herum zu seinem sich stets in Bewegung befindlichen Mantel. »Ist Euer Schild noch an Ort und Stelle?« fragte der Fürst der Schatten. »Wenn er sich die Mühe macht herzuschauen, wird Cyric Fzoul sehen, der sich anschickt, das Gebäude anzustecken«, sagte der Binder. »Was ist mit Rindas Schatten? Cyric sagte, die Einwohner seiner Stadt erwarteten
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sie.« »Darum habe ich mich schon gekümmert«, sagte Maske selbstzufrieden. Er stieß Fzoul Chembryl beiseite und kniete neben Rinda nieder. Auf eine Berührung seiner Hand hin hörte die Blutung auf, und in ihr kreidebleiches Gesicht kehrte ein wenig Farbe zurück. »Ich habe an ihrer Stelle einen alten Freund Fzoul Chembryls geschickt. Ihr erinnert Euch doch noch an Fürst Schach, oder? Ich denke, er wird es eine Zeitlang genießen, eine Frau zu sein – nun, das hätte er zumindest, wenn der Prinz der Lügen nicht einen so üblen Empfang für Rinda geplant hätte.« Seine Augen verengten sich, und eine Spur echter Besorgnis schlich sich in seine Stimme. »Sie kann nur hoffen, daß sie ihm nie in die Hände fällt ...« »Das wird sie nicht«, sagte Oghma. Sanft hob er Rinda auf und trug sie zu einem Tisch, der sich in ein gepolstertes Sofa verwandelte, als er sie auf ihm absetzte. »Was ist mit Euch, Fzoul, wie geht es Euch?« Der Priester lag auf dem Rücken und hatte die Hände fest an die Schläfen gepreßt. »Keine Ahnung«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob dieses Pochen in meinem Kopf je aufhören wird oder nicht.« »Das wird es«, sagte Maske. »Ich mußte Euch etwas echten Schmerz fühlen lassen, sonst hätte Cyric Lunte gerochen. Man kann menschliche Schreie nur schwer überzeugend nachahmen.« »Gebt mir das Messer wieder, und wir können zur Abwechslung an Euch üben«, sagte Fzoul. Er setzte sich stöhnend auf und begann dann, seine gebrochene Nase zu inspizieren. »Ihr hattet Glück, daß ich dieses Gedankengebäude
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errichtet habe, um Euren Verstand zu retten«, bemerkte Maske. »Das Buch hätte Euch zu einer weiteren hirnlosen Drohne Cyrics gemacht.« Oghma warf erneut einen Blick auf das Buch. Der Schädel versuchte, die Kette auszuspucken, um seinen Herrn zu rufen. »Wir müssen es vernichten.« »Aber nicht jetzt«, sagte Maske. Er schien zu schweben, als er auf Oghma zukam; die Intrige des Tages schien ihm Auftrieb zu verleihen. »Cyric hat das Ding mit mächtigen Schutzzaubern versehen, zu mächtig, um sie auf einfache Art zu brechen. Nein, es wäre das Beste, wenn wir das Buch aus der Stadt schafften und uns später darum kümmerten – nach der Schlacht.« »Welche Schlacht?« fragte Fzoul. »Ihr habt selbst gesagt, Cyric beabsichtige nicht, die Stadt von den Riesen angreifen zu lassen.« »Wir aber«, erwiderte der Fürst der Schatten. »Diese Wilden werden diesen Ort hier in Grund und Boden stampfen – und Ihr werdet ihnen die Tore öffnen. Auf gewisse Art und Weise zumindest.« Der Priester bog sich mit einem Ruck die Nase wieder gerade und schüttelte heftig den Kopf, um die Tränen des Schmerzes loszuwerden, die ihm über die Wangen liefen. »Ich vermute, ich habe in dieser Angelegenheit keine andere Wahl?« »Ihr habt immer eine Wahl«, sagte Oghma. Maske beugte sich über Fzouls Schulter. »Selbstverständlich«, flüsterte er. »In diesem Fall tut Ihr entweder, was wir sagen, oder wir lassen Cyric wissen, daß das Buch bei Euch nicht funktioniert hat. Ich bin mir sicher, er wird es beim zweiten Mal richtig hinbekommen.«
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Seufzend kam Fzoul auf die Beine. »Was muß ich tun?« »Ihr werdet morgen zu den Getreuen sprechen, genau, wie Cyric es will«, begann Maske. Er umkreiste Fzoul, während er sprach; eine Eule, die darauf wartet, daß eine Feldmaus in der Finsternis zuckt. »Allerdings werdet Ihr ihnen den letzten Abschnitt von Oghmas Buch vorlesen. Darin steht, wie unser Prinz der Lügen beabsichtigt, die Stadt hereinzulegen. Wenn alle hören, wie Cyric die Bedrohung überhaupt erst erschaffen hat ... nun, es werden mehr als nur ein paar Leute arg enttäuscht von ihrem Möchtegern-Retter sein.« »Das wird aber nicht dazu führen, daß die Riesen über die Stadt herfallen«, grollte Fzoul. »Es führt höchstens dazu, daß ich umgebracht werde. Glaubt Ihr etwa, Cyric werde bei dieser Zeremonie nicht zuhören?« »Wir wissen, daß er dem, was Ihr sagt, nicht seine volle Aufmerksamkeit widmen wird – ja, kann, Fzoul.« Oghma hatte angefangen, die verstreuten Seiten von Das Wahre Leben aufzusammeln. Er gab dem Priester ein Bündel. »Cyric braucht die verzweifelte Anbetung durch die Stadt, um Kraft für einen Zauberspruch zu gewinnen. Dazu soll die Morgenzeremonie dienen, um diese Kraft zu bündeln. Um sie jedoch zu nutzen, muß er meditieren, muß alle Facetten seines Verstandes auf den Gegenstand seiner Suche richten.« »Lyonsbanes Seele«, murmelte Fzoul. »Exakt«, sagte Maske. »Mit anderen Worten: Wenn Ihr Eure kleine Lesung vor den Massen haltet, werden Cyrics Augen geschlossen sein.« Fzoul rückte die Bögen zurecht und legte sie auf einem
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Stuhl ab. »Genau dann werdet Ihr die Revolte in der Stadt der Zwietracht losbrechen lassen.« Er trommelte nervös mit den Fingern auf Das Wahre Leben. »Mir paßt es trotzdem nicht, daß ich offen vorgehen muß.« »Ich werde zur Stelle sein und Euch beschützen«, schlug Maske übertrieben respektvoll vor. »Wenn Ihr mein heiliges Symbol tragt, Fzoul, werde ich Euch gute Dienste leisten. Schließlich ist Tyrannos bereits seit Jahren tot, und Ihr trauert noch immer um ihn. Ist es nicht an der Zeit, Euer Leben weiterzuleben?« »Vielleicht«, sagte der Priester und drängte sich dann an Maske vorbei, um die letzten verstreuten Bögen aufzuheben. »Wir werden sehen, wo wir morgen bei Sonnenuntergang stehen, Fürst der Schatten.« »Bleibt noch die Sache mit der Cyrinishad«, bemerkte Oghma mit düsteren Akkorden in seiner Stimme. »Die nehme ich«, sagte Rinda leise. »Ich habe das verdammte Ding geschrieben, also sollte ich auch diejenige sein, die sich darum kümmert.« Sie versuchte, aufrecht zu sitzen und hielt eine Hand an den Bauch gepreßt, um das Pochen zu lindern. Fzoul Chembryl verzog das Gesicht. »Das ist absurd. Wie wollt Ihr sie denn bewachen?« »Ich vermute, Ihr wärt eine bessere Wahl?« schnauzte die Schreiberin. »Ihr könnt ein so mächtiges Artefakt nicht den Zentarim in die Hände fallen lassen. Sie würden versuchen, es für ihre Zwecke zu mißbrauchen, und wir beide wissen, daß sein einziger Zweck ist, wahres Wissen zu vernichten.« »Ich denke, die Angelegenheit ist damit geregelt«, sagte der Gott des Wissens, und Maske widersprach ihm
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nicht. Der Binder hielt der Schreiberin ein glitzerndes heiliges Symbol hin. Die Schriftrolle war aus einem einzigen reinen Diamanten gefertigt und hatte bequem in ihrer Handfläche Platz. »Ihr seid nun die Wächterin der Cyrinishad«, sagte Oghma feierlich. »Dieses heilige Symbol wird Euch meinen Getreuen gegenüber als solche ausweisen. Meine Kirchen und Klöster werden Euch sichere Zuflucht gewähren, und meine Wissenshüter werden Euch im Notfall mit Nahrung und Geld versorgen.« »Eure Kleriker werden sie nicht vor Cyric verstecken können«, sagte Fzoul Chembryl abfällig. »Wenn Ihr nicht vorhabt, ihn während dieser kleinen Revolte zu vernichten, wird er sich früher oder später auf die Suche nach seinem Buch machen.« Oghma nickte. »Auch für diesen Fall ist vorgesorgt. Solange Ihr dieses heilige Symbol tragt und die Reiche der Sterblichen nicht verlaßt, Rinda vom Buch, werdet Ihr und das Buch für alle Götter und ihre göttlichen Gefolgsleute unsichtbar sein.« Als er den besorgten Ausdruck in ihren Augen sah, nickte Oghma. »Selbst für mich. Es ist so am besten.« Rinda stand auf. »Danke«, sagte sie. Zögerlich griff sie nach der Hand des Gottes. Oghma ließ sie seine dunklen Finger nehmen, hob aber dann ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. »Ein Ehrenplatz wird Euch in meinem Palast erwarten.« Nachdem er Rinda die Kette umgelegt hatte, wandte Oghma sich an Maske. »Kommt, Fürst der Schatten. Es gibt viel zu tun.« Damit war er verschwunden. Maske verweilte noch. »Denkt an das, was ich Euch
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gesagt habe, Fzoul. Ich werde morgen dasein, falls Ihr mich rufen solltet.« Der Priester trat mutig vor. »Ihr könnt Oghma nicht gestatten, das Buch einfach wegzuwerfen.« »Es wegzuwerfen?« fragte der Fürst der Schatten. Seine roten Augen funkelten spielerisch. »Sie konnte nicht mal ein einfaches Messer abwehren«, sagte Fzoul Chembryl, und sein Gesicht lief unter den blauen Augen rot an. »Wie soll sie sich vor der Klinge eines Assassinen schützen? Cyric ist schließlich der Herr des Mordes. Alle Assassinen der Welt stehen zu seinen Diensten.« Maske blickte sich im Zimmer um, erstaunt, daß er weder die Schreiberin noch das Buch sehen konnte. »Das Messer, mit dem sie gerade erstochen wurde, hat ein Gott geführt, kein Sterblicher, und dennoch hat sie den Schlag fast noch abgewehrt. Könnt Ihr das auch?« Fzoul ließ sich nicht abschrecken. »Die nächste Klinge, der sie sich gegenübersieht, könnte Götterfluch sein. Cyric hat mit dem Schwert zwei Götter getötet. Welche Chancen hat da Rinda? Ich hätte wenigstens meine Zauber, um mich zu schützen.« Maske hielt verblüfft inne. »Nur zwei Götter?« »Bhaal und Leira«, sagte Fzoul. »Wen denn noch?« »Oh, äh, niemanden«, sagte der Fürst der Schatten schroff. Er machte eine vage Geste in den Raum hinein. »Wenn Ihr die Cyri-nishad so sehr wollt, dann solltet Ihr versuchen, sie Euch zu holen. Wartet aber, bis die Zeremonie vorbei ist. Wenn sie Euch töten sollte, wäre es schwer, so auf die Schnelle Ersatz für Euch zu finden.« Maske glitt in den Schatten des Priesters und löste sich
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in Luft auf. Starr wie eine Statue stand Rinda inmitten des Raumes. Sie hatte die Cyrinishad in Lumpen gewickelt und fest mit einem ausgefransten Stück Seil verschnürt. Im Großen und Ganzen sah das Bündel nicht mehr oder weniger wichtig als das irgendeines Bettlers aus. Als Fzoul einen Schritt auf sie zu machte, hob sie abwehrend eine Hand, ließ ihre Augen aber auf den Schatten des Priesters gerichtet, in dem Maske verschwunden war. »Keine Angst«, sagte Fzoul. »Maske hat recht. Für den Moment lassen wir die Sache auf sich beruhen, aber nach der Schlacht –« Rinda starrte lediglich weiter auf den Schatten. »Stimmt etwas nicht?« »Ihr habt ihn doch gehört. Maske weiß, daß Cyric Tyrannos und Myrkul nicht umgebracht hat, so wie es die Cyrinishad behauptet. Aber er hat Euch fast widersprochen.« Die Schreiberin hielt das zerlumpte Bündel von sich weg, als wimmle es darauf von giftigen Spinnen. »Cyric hat es so eingerichtet, daß der Zauber des Buches auch auf Götter wirkt.«
17 [ RIESEN VOR DEN TOREN]
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Worin Gwydion dem Schnellen das magische Schwert angeboten wird, das ihn überhaupt erst in den Hades geführt hat, Xeno Silbermähne seinen gerechten Lohn dafür erhält, daß er Cyric dient und ein Buch der Wahrheit die Mauern der Zentilfeste einreißt – mit Unterstützung einer Armee von Ungeheuern. »Er ist verrückt«, sagte Adon. »Ehrlich. Cyric gehört eher hierher als einige der Insassen.« Er wies auf ein leeres Bett. Vielleicht können wir etwas Platz für ihn machen, obwohl ich mir recht sicher bin, daß die anderen ihn nicht besonders mögen würden.« Mystra lächelte, als sie die Leidenschaft ihres Patriarchen sah, die Wut in seinen Augen, während er über Cyrics Plan nachdachte, die Zentilfeste zu einen. »Im Moment scheinen Cyrics Pläne nicht so wahnsinnig zu sein wie die unseren«, seufzte die Herrin der Mysterien. »Damit der Aufstand in der Stadt der Zwietracht auch nur die geringste Erfolgsaussicht hat, müssen die Riesen und Drachen die Feste einnehmen. Wir müssen einfach sicherstellen, daß die Monster gewinnen, was bedeutet, daß Unschuldige leiden werden. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.« Adon kniete sich hin, um das Gesicht des Alten mit
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dem irren Blick abzuwischen, den Mystra Talos genannt hatte. »Kannst du wieder nicht schlafen, Alterchen? Es ist schon nach Mitternacht, weißt du.« Seit Mystra Adon vor mehr als einem Monat zum ersten Mal in die Anstalt gebracht hatte, hatten sich die Lebensumstände im Haus zum Goldenen Kiel erheblich verbessert. Adon hatte einen Großteil seiner Zeit – und einen nicht unerheblichen Teil des Kirchenvermögens – in die Aufbesserung dieses Ortes investiert. Durch seine Bemühungen hatte sich die stinkende, lichtlose Grube in ein wohliges Heim für die verwandelt, die durch fehlgeschlagene Zauber den Verstand verloren hatten. Sicher, in der Anstalt war es weiterhin kalt und zugig, und die Ratten klammerten sich hartnäckig an ihre geheimen Nester. Dennoch hatten sich saubere Betten und warme Kleidung eingebürgert, und gutherzige Novizen der örtlichen Kirche der Mysterien hatten freiwillig ihre Dienste als Pfleger angeboten. Normalerweise hätte sich einer dieser jungen Kleriker um Talos gekümmert, aber Adon hatte sie bei Mystras Ankunft aus der Station geworfen. Solange der Avatar der Göttin herumschlenderte, würden sie bei all den Verbeugungen und Gebeten sowieso nichts zustande bringen. Schließlich beendete Adon seine Pflegemaßnahmen. Als er aufstand, richtete er seine sorgenvollen Augen auf Mystra. »Wie viele, glaubt Ihr, gibt es noch in der Stadt? Unschuldige, meine ich.« »Fünfhundertvierzehn. Die meisten Leute, die anderen Göttern als Cyric ergeben waren, sind schon vor Jahren aus der Feste geflohen. Die, die blieben, verheimlichten
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entweder, wo ihre wahren Loyalitäten lagen, oder stellten fest, daß sie als Ketzer abgestempelt wurden. In der Armee gibt es ein paar heimliche Verehrer von Tempus, und mehr als nur ein paar Zauberer der Zentarim beten zu mir oder Azuth.« »Dann rettet sie selbst«, schlug Adon vor. »Langt einfach hinunter und greift sie Euch alle, bevor die Schlacht beginnt.« »Oh, ich werde meine Anhänger schon aus dem Kampf herausholen«, sagte Mystra. »Aber das wird den Getreuen Tymoras, Tempus’ oder Lathanders kaum helfen.« »Könnt Ihr sie nicht einfach auch retten, wenn Ihr schon einmal dabei seid?« »Seid Ihr bereit, den Zorn des Kreises auf Euch zu ziehen, weil ich mich in etwas eingemischt habe, was jenseits der Befugnisse meines Amtes liegt?« Die Herrin der Mysterien schüttelte den Kopf. »Sie haben mit vollständiger Sanktion gedroht. Keine Pflanzen mehr im Garten der Kirche. Keine Sonne. Meinen Getreuen würde alles außer der Magie verweigert, bis ich mich in meiner Einmischung in die Welt einschränke.« »Aber für Euer Recht, die Zentilfeste von einer Horde Riesen dem Erdboden gleichmachen zu lassen und eine Revolte in der Stadt der Zwietracht anzuzetteln habt Ihr eine einleuchtende Erklärung?« fragte der Patriarch, während er zum nächsten Bett weiterging. Der Mann darin schlief tief und fest, eingewickelt in warme Decken, die die Fürsten von Tiefwasser gespendet hatten. »Ich fürchte, die göttliche Logik entzieht sich meinem Verständnis«, flüsterte er.
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Mystra lachte. »Der Zauber, den Cyric aus Oghmas Bibliothek mitgenommen hat, ist verbotene Magie; Hexerei, die von einem uralten Gott erschaffen wurde, der noch abscheulicher ist als Tyrannos, Maske und Cyric zusammen, wenn das überhaupt möglich ist. Die Riesen und die Revolte im Reich der Toten bieten mir die Möglichkeit, die Freisetzung der Magie zu verhindern. Diese Argumentation wird der Kreis nicht in Frage stellen.« Sie traten in die Mitte des Raumes. »Ihr werdet die anderen Götter davon überzeugen müssen, daß der Niedergang der Zentilfeste etwas Gutes ist, jedoch nur dann, wenn sie ihre Anhänger retten«, sagte Adon. »Bringt Euren Fall auf eine Weise vor das restliche Pantheon, die sie unterstützen müssen.« Der Priester wies auf Talos. Der Irre war gebadet und in einen neuen Kittel gekleidet worden, aber er riß sich nicht das Haar aus oder zupfte an seiner Robe, wie sein Wahnsinn es verlangte. Sein Geist konzentrierte sich auf das dünne Stück Stoff, das er in Händen hielt. Wie schnell auch immer er es zerstörte, eine schwache Verzauberung ließ die Fäden immer wieder zum ursprünglichen Gewebe zusammenwachsen. »Wir wußten nicht, wie wir ihn davon abhalten sollten, sich selbst zu verletzen«, sagte der Patriarch, »doch dann erinnerte ich mich daran, was Ihr mir über die Götter erzählt hattet: Sie können nichts außer den Welten sehen, die ihr Verstand für sie erschafft.« Er zuckte die Achseln. »Wenn Talos hier Dinge zerstören muß, dann müssen wir ihm anstelle seiner Kleider und Haut eben etwas geben, woran er arbeiten kann.« Mystra umarmte den Kleriker stürmisch, dessen Wan-
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gen sich vor Überraschung röteten. »Natürlich«, platzte sie heraus. »Es ist alles eine Sache der Sichtweise! Danke.« Mystra verschwand in einem blauweißen Lichtblitz. Ein paar Insassen heulten bei dem plötzlichen Ausbruch von Magie im Schlaf auf. Selbst im bewußtlosen Zustand schreckte ihr Geist vor dem zurück, was ihnen so Furchtbares angetan hatte. Als Adon für einen Augenblick stillstand und sein Blick über die ihm Anvertrauten schweifte, kam ihm ein Gedanke, bei dem es ihm fröstelte; eine Idee, die der späten Stunde und den seltsamen Aufschreien der Insassen entsprang. Kel war ein Jahrzehnt lang von etwas Magischem gefangengehalten worden. War es nicht möglich, daß er die Kunst vielleicht verabscheute oder sie sogar so sehr fürchtete wie die armen Seelen, die in der Anstalt wohnten? Wenn dem so war, war es denkbar, daß Mystra alles riskierte, um jemanden zu retten, der möglicherweise nicht einmal ihre Gegenwart ertragen konnte. Der Patriarch schüttelte die finsteren Gedanken ab und beeilte sich, die Novizen aufzusuchen, die in anderen Teilen des Gebäudes die Insassen umsorgten. Wahnsinn war keine ansteckende Krankheit, wie manche auf den Höfen behaupteten, die um den Goldenen Kiel herum lagen. Adon hatte jedoch erfahren, dass die Gesellschaft von Wahnsinnigen merkwürdige Phantasien hervorbrachte. Nachdem er sich nun einen Monat lang um die Insassen der Anstalt gekümmert hatte, wußte er, daß es nicht gut war, sich nach Mitternacht in den Korridoren aufzuhalten.
Ebenso hoffte er, daß Mystra verständig genug war und sich nicht zu lange in den Gedanken der anderen Götter aufhielt, selbst wenn es nur geschah, um diese von ihrem Plan zu überzeugen. Cyric hatte bewiesen, daß der Wahnsinn sich nicht nur auf die Reiche der Sterblichen beschränkte. Die Herrin der Mysterien tat gut daran, das nicht zu vergessen.
Selbst mit ihren unzähligen Inkarnationen kostete es Mystra Stunden, jedes Mitglied des Faerûner Pantheons aufzusuchen. Die Herrin der Mysterien setzte die Götter und Göttinnen über das Schicksal der Zentilfeste in Kenntnis; darüber, wie die heilige Stadt gegen ihren Schutzpatron aufgehetzt und es den Riesen gestattet werden würde, den Ort des Bösen vom Erdboden zu tilgen. Sie legte ihre eigene Beteiligung an dem Plan genau so dar, wie sie es Adon erklärt hatte: als Wächterin der Magie oblag es ihrer Verantwortung, Cyric davon abzuhalten, verbotene Hexereien anzuwenden. Niemand widersprach ihr. Was die Zerstörung der Stadt selbst anging, so tauchte Mystra in die Gedanken einer jeden Gottheit ein und benutzte deren Sichtweise, um den Niedergang der Feste als etwas Gutes zu darzulegen. Für die Dame des Waldes wurden die Riesen zu einer Plage, mit der die Mauern niedergerissen und das Land im Namen der Wildnis zurückerobert werden konnte. Für Lathander brachte das Ende der Stadt die Möglichkeit mit sich, daß sich aus den verbrannten Häusern und zerbrochenen Säulen ein
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prachtvolles neues Königreich erhob. Talos betrachtete die versprochene Zerstörung der Feste als erstrebenswertes Ziel an sich, während Tyr die Vernichtung der Getreuen Cyrics für eine gerechte Strafe für ihre Mißachtung von Gesetz und Gerechtigkeit erachtete. Der Vorgang war erschöpfend und zog sich oft in die Länge, doch waren die Mitglieder des Kreises über kurz oder lang davon überzeugt, daß Cyrics eigener Konflikt einen glorreichen Sieg für ihre Sache und ihre Getreuen darstellte. Nun, da die Nacht sich langsam aus Faerûn zurückzuziehen begann, stand die Herrin der Mysterien im Hof ihres Himmelspalasts. Die Burg und die Mauern, die sie schützten, waren dem magischen Gewebe entnommen und pulsierten in einem blauweißen Strahlen, das wie Feenfeuer über einem mitternächtlichen Moor flackerte. Helle Standarten peitschten und flatterten an einer Unzahl hoher Türme. Auf jeder Fahne prangte das Siegel eines Zauberers oder Weisen, der in Mystras Reich ein Zuhause gefunden hatte. In ihren Türmen befanden sich Werkstätten, wunderbar merkwürdige und arkane Orte, an denen die Getreuen ungehindert den schwerer zu ergründenden Geheimnissen der Zauberei nachjagten, die ihnen aufgrund der Beschränkungen des sterblichen Lebens verwehrt geblieben waren. Goldene und silberne Drachen hockten auf den hohen Zinnen, und Einhörner schlenderten über den saftigen grünen Rasen. Auch andere Fabelwesen waren im Palast daheim. Basilisken aller Art streiften in den Gärten umher, die Augen hinter besonderen Verzauberungen verborgen, damit kein Unvorsichtiger versteinert wurde.
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Eine widderköpfige Sphinx hockte in der Nähe des Haupttors und tauschte mit einer Coatl Rätsel aus. Die gefiederte Schlange lachte über eine scherzhafte Bemerkung und schlug mit ihren alabasterfarbenen Flügeln. Solche Geschöpfe waren in den Reichen der Sterblichen nicht unbekannt, doch für Gwydion, der inmitten des Hofes stand, waren sie alle wunderbar neu. In seiner Zeit als Soldat hatte Gwydion Geschichten von Drachen und Sphingen gehört. Die Wesen bevölkerten die Erzählungen, die von trunkenen Söldnern und erfahrenen Kriegern erzählt wurden, von Männern und Frauen, die außerhalb der zivilisierten Grenzen solcher Städte wie Suzail reisten. Einige der Geschichten waren wahr. Andere waren reine Phantasie; Jägerlatein, in dem das bloße Sichten der Spuren eines Mantikors ausgeschmückt wurde, bis es sich in einen blutigen Kampf auf Leben und Tod mit dreien der skorpionschwänzigen Wesen verwandelt hatte. Solche Geschichten hatten ihren Teil dazu beigetragen, Gwydion vom Leben in Cormyrs Armee wegzulocken und ihn in die nicht gerade vielversprechende Rolle des Söldners zu drängen, und obwohl er gegen mehr als nur ein paar exotische Geschöpfe gekämpft hatte, waren ihm noch nie so seltene und wundersame Wesen begegnet wie die, die nun vor ihm versammelt standen. Als er sah, wie ein Phönix sich hoch über den Palast erhob und seine feurigen Flügel ausbreitete, stellte der Schatten fest, daß weder die Erzählungen der Barden noch seine eigene Vorstellungskraft diesen verzauberten Wesen gerecht geworden waren. Selbst nach all dem Schmerz, all dem Blutvergießen hatte es der bloße Anblick solcher Wunder
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geschafft, ihn daran zu erinnern, daß Cyrics entsetzliche Stadt nur ein kleiner Teil eines riesigen, oftmals herrlichen Universums war. Nicht alle, die sich im Hof aufhielten, teilten die Bewunderung des Schattens für seine Umgebung. »Geht jemand anderem auf den Geist, verdammt noch mal!« rief Gond. Der Gott des Handwerks wedelte mit einem fettigen Schraubenschlüssel herum, doch die Naturgeister, die dort herumschwärmten, wichen den unbeholfenen Schlägen mit Leichtigkeit aus. Sobald sich der Fürst der Schmiede wieder seiner Arbeit an Gwydions Rüstung zuwandte, kamen sie erneut näher. Die Geister zogen an Gonds Haar, umflatterten die mechanischen Golems, die ihm halfen, und bekränzten ihre bulligen Köpfe mit Ketten aus Gänseblümchen. Sie umkreisten tanzend die anderen acht Schatten, die Cyric in die Rüstung eines Inquisitors eingesperrt hatte. »Nur gut, daß ich fast fertig bin«, murmelte der Wunderbringer in seinen Stacheldrahtbart. »Sonst würde ich eine Fliegenklatsche aufbauen, um mir euch Plagegeister vom Leib zu halten.« Ein Feengeist schwebte direkt über Gonds Glatze und äffte den stämmigen Gott stumm nach. Gwydion konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als der winzige Geist sein niedliches Gesicht zu einer Grimasse verzog und seine hauchzarten Flügel zu einer besonders guten Imitation der gebeugten Schultern des Wunderbringers zusammenrollte. »Was ist so verdammt lustig?« schnauzte Gond, und seine stahlgrauen Augen blitzten wie Stahl am Feuer-
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stein. »In meinem Reich ist ein Lachen nicht so ungewöhnlich wie in einigen anderen«, unterbrach Mystra und verscheuchte die Feengeister mit einer unmerklichen Geste. »Ich danke Euch noch einmal für Eure Unterstützung, Gond. Ihr beweist, daß es Dinge gibt, die man besser den Hämmern Eurer Schmiede als den Sprüchen meiner Getreuen überläßt.« Gond grunzte. »Wenn Euch das nicht klar wäre, wäre ich nicht hier«, murmelte er. Er sah dabei kein einziges Mal von seiner Arbeit auf und ließ die Augen auf die Nieten gerichtet, die Gwydions Kniekachel an Ort und Stelle hielten. »Ich bin allerdings froh, daß Ihr nicht selbst versucht habt, diese Rüstungen zu zerlegen. Ihr hättet sie sicher beschädigt. Wie Ihr schon sagtet, die Verarbeitung ist zu gut, um sie einfach zu verschwenden ...« »Wir werden sie gut gebrauchen können«, sagte Maske, der plötzlich neben Gwydion erschien. »Mir war es egal, wofür Cyric sie verwendet hat«, sagte Gond, während er sich erhob. »Mir ist es egal, wofür Ihr sie verwendet.« Er warf den Schraubenschlüssel über die Schulter einem seiner Golems zu. »Packt ein, Jungs. Wir sind fertig.« Gond wandte sich unvermittelt dem Tor zu und blieb weder stehen, um Mystras höflichen Dank entgegenzunehmen, noch um Maskes abfällige Bemerkungen über eine mechanische Geliebte zu würdigen, die er gewissen Gerüchten zufolge erschaffen haben sollte. Gwydion sah zu, wie der Wunderbringer davontrottete. Ein halbes Dutzend mechanischer Diener folgte ihm scheppernd
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und hielt Werkzeugkisten sowie vereinzelte Rüstungsteile fest mit den Händen umklammert. Der Schatten fragte sich, warum genau der Wunderbringer sich überhaupt die Mühe machte, bis zum Tor zu laufen, und die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es ist seine Art, der Magie eins auszuwischen«, beantwortete Mystra die unausgesprochene Frage. »Indem er hinausgeht, statt einfach nur die Ebene zu wechseln, beweist er, daß er körperliche Arbeit höher schätzt als Hexerei.« Der Meister aller Diebe kicherte. »Sobald er außer Sichtweite ist, wechselt er flink hinüber. Ihr solltet ihm einmal folgen. Der alte Griesgram würde nur aus Trotz den ganzen Weg laufen.« »Aber wo wären wir dann?« erwiderte Mystra kalt. »Gond wäre daheim, und ich wäre den ganzen Weg umsonst gelaufen.« Maske schüttelte den Kopf. »Ich dachte, Ihr hättet inzwischen etwas von mir gelernt«, rutschte ihm heraus. »Nun ja. Ich vermute, es ist an der Zeit, die Truppen ihrer Wege ziehen zu lassen.« Gwydion der Schnelle unterdrückte bei dem Gedanken, ins Reich der Toten zurückzukehren, ein Schaudern. Er konnte fast die Schreie hören, den bitteren Rauch schmecken, der in der Luft lag. »Niemand wird Euch zwingen zu gehen«, sagte Mystra. »Ich komme schon klar«, sagte Gwydion mit belegter Stimme. Der Heilungsprozeß seiner Zähne und Zunge hatte Fortschritte gemacht, seit Gond die Gebißstange aus seinem Mund entfernt hatte, aber es fiel ihm noch
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immer schwer, manche Worte auszusprechen. Maske schlich sich zu dem Schatten hin. »Es gibt nichts, wovor Ihr Angst haben müßtet, wißt Ihr. Mit dieser Rüstung seit Ihr fast jedem gewachsen.« Ein Messer erschien in der Hand des Fürsten der Schatten; lang, silbern und in Gift getaucht. Der Mantel aus Finsternis verdunkelte Maskes Gestalt, als er losstürzte, aber das bereitete Gwydion nicht die geringsten Schwierigkeiten. Das Gold seiner gepanzerten Hand verschwamm in der Bewegung, als der Schatten das Handgelenk des Gottes packte und ihm das Messer entwand. »Seht Ihr«, säuselte der Fürst der Schatten. »Ziemlich beeindruckend.« Die zweite Klinge hinterließ einen dünnen Einschnitt, als sie über Gwydions Kehle fuhr. Der Schatten griff nach Maskes anderer Hand, war aber viel zu langsam. Der Fürst der Schatten entglitt Gwydions Griff. »Werdet nicht übermütig. Wenn Euer Kopf auf dem Boden rollt, seid Ihr für uns nicht von Nutzen.« »Genug der Spielereien«, sagte Mystra. »Es dämmert bald über der Zentilfeste.« »Ah«, sagte Maske heiter. Er winkte den anderen gepanzerten Schatten. »Der Hades wartet.« Gwydion der Schnelle und seine Gefährten bildeten eine grobe Reihe. Zusammen erinnerten sie an die Figuren aus der romantischen Geschichte im Märchenbuch eines Kindes; Ritter in strahlender Rüstung, die sich anschickten, eine heldenhafte Suche anzutreten. Gond hatte Cyrics abscheuliche heilige Symbole abgeschliffen und die Haken und rasiermesserscharfen Klingen von
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der Rüstung entfernt. Die Ritter sahen dadurch nicht weniger bedrohlich aus. Sie hatten noch immer die Größe von Ogern, selbst ohne ihre großen gehörnten Helme. »Denkt daran«, sagte Mystra, als sie vor den Rittern stehenblieb. »Eure Aufgabe besteht darin, die Falschen aufzuwiegeln und die Treulosen aus der Mauer zu befreien.« »Verzeiht, Herrin«, wagte Gwydion, »aber es wäre am besten, die Treulosen dort zu lassen, wo sie sind, bis die Schlacht vorüber ist. Sie werden direkt nach ihrer Befreiung zu schwach sein, um zu kämpfen.« »Sprecht Ihr aus Erfahrung?« fragte Maske. »Oder wart Ihr zu Lebzeiten General?« Gwydion der Schnelle runzelte die Stirn. »Ich war nur ein kleiner Soldat bei den Purpurdrachen – doch ja, ich war bereits in der Mauer.« Mystra schaltete sich ein, ehe Maske antworten konnte. »Dann werden wir Euren Rat befolgen. Konzentriert Euch darauf, die Falschen zu mobilisieren. Führt einen Schlag gegen ihre Gefängniswärter, und sie werden sich erheben, um Euch zu unterstützen.« Als Maske wieder sprach, stellten alle Schatten erschrocken fest, daß der Schutzpatron der Diebe direkt vor ihnen stand. Er schien aus den Schatten, die sie warfen, getreten zu sein. »Wir haben eine Spionin in Cyrics Haus, und sie bereitet den Mob für uns schon seit längerem mit aufrührerischen Gedanken vor. Ihr müßt nur den Funken schlagen. Die Lunte ist schon mit Öl getränkt.« Er warf der Mutter aller Magie einen Blick zu. »Es ist an der Zeit, sie für die Schlacht zu rüsten, meint Ihr nicht auch?«
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Mystra breitete die Arme aus, und vor jedem einzelnen Ritter erschien ein Schwert in der Luft. »Diese Waffen werden Euch gute Dienste leisten, sogar gegen die Bestien, die Cyric als ihren Herren anerkannt haben.« Wie ein Mann griffen die Ritter nach den Schwertern; Gwydions löste sich jedoch in Luft auf, bevor er den Griff zu fassen bekam. »Ich hatte gehofft, du würdest eine Klinge von mir entgegennehmen«, sagte eine tiefe, dröhnende Stimme. Torm trat vor; er hielt eine juwelenbesetzte Scheide in Händen. »Dies ist die Klinge Alban Onires, eine Waffe, die manche Titanenschlächter nennen. Ich habe sie aus der letzten Ruhestätte des heiligen Ritters geholt. Einst wurdest du mit Visionen dieser Klinge getäuscht. Es wäre nur gerecht, wenn du sie gegen den Täuscher führtest.« Langsam reichte Torm Gwydion das in einer Scheide steckende Schwert. Der Schatten hielt inne. »Nein«, sagte er. »Wenn Ihr mich nicht aus der Stadt der Zwietracht retten konntet, dann ist es keine Waffe für mich.« »Eine gute Entscheidung«, flüsterte Maske. »Traut nie einem Mann, der sagt, man könne ihm vertrauen. Das hat mich Cyric gelehrt. Der Prinz der Lügen versteht viel von vielen Dingen, und dazu gehört auch die Wahrheit hinter der Wahrheit.« Torm runzelte die Stirn. »Ein Lob auf Cyric? Wenn Ihr nicht hinter seinem Königreich her wärt, würde ich mich fragen, auf wessen Seite Ihr steht.« Der Fürst der Schatten ließ sich hinter Mystra gleiten und zischte ihr ins Ohr: »Ihr habt Eure Tore für die anderen Götter offengelassen, während wir eine Rebel-
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lenarmee aufstellen?« »Wie gesagt, mein Reich steht Cyrics Gegnern jederzeit offen«, erwiderte Mystra. »Besonders zu Kriegszeiten«, fügte Torm hinzu. Er lächelte Mystra an, und das Funkeln in seinen blauen Augen war fast spitzbübisch. »Doch Ihr scheint überrascht, mich zu sehen. Aber, aber. Ihr schickt einen, der mein Ritter sein will, los, um die Gefolgsleute meines Feindes zu bekämpfen. Da könnt Ihr nicht erwarten, daß ich einfach danebenstehe und zusehe.« »Woher wußtet Ihr das?« fragte Mystra. »Man nennt mich nicht ohne Grund den Treuen. Was Ihr mir über den Untergang der Zentilfeste erzähltet, klang nach der Wahrheit; aber nur schwach, als würde ich lediglich den halben Akkord hören.« Er schnitt eine Grimasse. »Dann wurde mir klar, daß Ihr bestimmt Armeen verdeckt marschieren laßt. Es ist kein Geheimnis, daß Ihr schon seit längerem mit dieser Schlange in Verbindung steht.« »Ihr wollt uns helfen?« sagte Maske. Seine Stimme war schrill, die glühenden roten Augen vor Erstaunen geweitet. »Ich will Euch ja nicht zu nahe treten, aber ich hatte Euch immer für die Art Stratege gehalten, die am hellichten Tage gegen das Haupttor anrennt.« Torm schenkte dem Fürsten der Schatten keine Beachtung, sondern wandte sich erneut an Gwydion. »Es gibt Gesetze, die zu wahren ich geschworen habe; und eines davon besagt klar und deutlich, daß du mein Reich nicht betreten durftest. Ich biete dir das Schwert nun an, damit du dich als würdig erweisen kannst.« Wut stieg in Gwydion hoch, ein blendender Zorn, der
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sich seines Verstandes bemächtigte. Nach allem, was er durchgemacht, was Cyric ihm angetan hatte, erweckten Torms Selbstgerechtigkeit und das beiläufige Abtun der Schmerzen, die er verursacht hatte, einen längst totgeglaubten Teil in der Seele des Schattens. Er entriß Torm die Scheide, zog das Langschwert und ging auf den Gott der Pflicht los. Gwydion bekam nicht mit, wie Torm sich bewegte und hörte auch die scharfe Erwiderung nicht, als sich die Handschuhe des Gottes um die Klinge legten. Alles, was er sah, waren die Nachwirkungen seines vereitelten Schlages. Torm stand vor ihm; Titanenschlächter war zwischen seinen Handflächen eingekeilt. Die Schwertspitze schwebte um Haaresbreite über Torms Nasenrücken. »Deine Ehre wurde angezweifelt, und du hast versucht, auf diese Beleidigung zu antworten«, sagte Torm ruhig. »Wie es jeder wahre Ritter getan hätte.« Er ließ die Klinge los und stieß sie weg. »Dein wahrer Feind ist im Hades. Erhebe das Schwert gegen seine Gefolgsleute, Gwydion, und deine Ehre wird wiederhergestellt werden.« Gwydion stand einen Augenblick lang still, wie gelähmt von Torms Blick und dem unerschütterlichen Licht der Loyalität und Wahrheit, das der Gott der Pflicht ausstrahlte. »Ich werde es versuchen«, sagte er. Der Treue nickte. »Mehr kann ich nicht verlangen.« »Die morgendlichen Schatten sind auf dem Weg zur Zentilfeste«, krähte Maske und glitt in Torms Rücken heran. »Zeit für unsere Ritter, in den Krieg zu ziehen.« Der Meister aller Diebe beugte sich nach unten und
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befestigte zwei Ecken seines eigenen Schattens mit Dolchen am Boden. Er trat ein paar Schritte zurück, so daß sich die Finsternis zu einem breiten schwarzen Teich dehnte. »Immer nur einer, bitte, und kein Gedränge in der Reihe.« Die Ritter sammelten ihre Helme auf, traten in den Schatten hinein und verschwanden einer nach dem anderen. Gwydion war der letzte, und als er die Dunkelheit betrat, stellte er fest, daß Maske neben ihm ging. »Ein Geschenk für Euch; nur eine Wiedergutmachung für unser kleines Handgemenge.« Der Fürst der Schatten reichte Gwydion eine dicke Talgkerze. Als der das Geschenk entgegennahm, ertönte aus den Tiefen des Wachses ein raubtierhaftes Knurren. »Macht euch keine Gedanken wegen der Geräusche«, sagte Maske. »Sie sind eine Nebenwirkung der Verzauberung, mit der Mystra den Docht belegt hat. Zündet die Kerze an, sobald Ihr das Signal erhaltet, die Revolte zu beginnen, und es wird eine kleine Kreatur herauskommen, die Euch eine Hilfe gegen Cyrics Getreue sein sollte.« Maske verschmolz mit der Schwärze, die ihn umgab und überließ den Schatten seinem Fall durch die Leere. Gwydion überlegte, ob er die Kerze fallenlassen sollte; er war seit jenem Tag in der Höhle des Riesen oft genug hereingelegt worden, um jemandem wie Maske sofort mit Mißtrauen zu begegnen. Dennoch war er sich sicher, daß der Kampf um die Stadt der Zwietracht kein leichter sein würde. Als er aus dem Portal tief im Herzen der Nekropole hervortrat, steckt Gwydion die Kerze in seinen Schwert-
gürtel. Er zweifelte nach wie vor an den Absichten des Fürsten der Schatten, wusste aber, daß sie, um Cyric zu Fall zu bringen, alle Waffen benötigen würden, die sie auftreiben konnten.
Fzoul betrat das Schiff von Cyrics Haupttempel, wobei er ein riesiges, in Leder gebundenes Buch ehrfürchtig an die Brust gedrückt hielt und das Gesicht zu seiner besten Imitation göttlicher Glückseligkeit verzogen hatte. Wie immer stank der Tempel nach saurem Weihrauch und verschwitzten, ungewaschenen Priestern. Der scheußliche Rauch der Scheiterhaufen der Ketzer im Hof mischte sich mit dieser verpesteten Luft. Fzouls Bart sträubte sich, als ihm der Geruch in die Nase stieg, aber er widerstand dem Drang, diese zu rümpfen. Vollkommen in Cyric verliebt zu sein mußte ihn über solch irdische Anliegen erheben. Da Xeno und all die anderen fanatischen Kleriker ihn aufmerksam beobachteten, würde er den Schein wahren müssen; zumindest, bis er den Altar erreicht hatte. Die sechs Wachen um Fzoul marschierten im Gleichschritt den schwarzen Marmorgang hinunter; dabei übertönten ihre Stiefel das monotone Gebet Xenos und das besorgte Gemurmel militärischer Vermutungen aus den Chorstühlen. Die sechs Messen waren vollendet. Die Armee der Riesen und der rachsüchtige Drachenschwarm schienen zu verharren, bereit, im Morgengrauen anzugreifen. Diese letzte Prüfung der Hingabe, diese Bitte um Erlösung an Cyric, war alles, was noch zwi-
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schen der Stadt und einer schrecklichen Schlacht stand. Xeno beendete seine Predigt mit einem Gebet zum Herrn der Toten, in das allerdings niemand einstimmte. Erst am Ende von Fzouls Lesung würde die Stadt Cyric ihre Verehrung darbringen, und mit dieser Glaubenseruption würde die Zentilfeste die Gunst ihres Gottes zurückgewinnen. So zumindest hatte es der Patriarch geplant. Ohne Überleitung oder Gruß an den Hohepriester stieg Fzoul die Stufen zum Altar hinauf und legte das Buch auf das Pult, das dort stand. Die sechs Wachen folgten ihm. Mit militärischer Präzision bildeten sie einen Halbkreis hinter der Tribüne. Ihre Piken schimmerten im Licht zehntausender Votivkerzen, die an diesem bitterkalten Morgen den Hintergrund des Altares bildeten. »Ich lese aus der Cyrinishad«, begann Fzoul. Überall in der Zentilfeste erwachte ein geisterhaftes, flackerndes Bild Fzoul Chembryls zum Leben. Die Führungsspitze der Kirche wußte, daß sich eine Lesung Cyrics eigener Worte durch einen Mann, der erst vor kurzem zum Glauben an den Todesgott übergetreten war, besonders in dieser Stunde der Not als Inspiration erweisen würde. Mit Hilfe der wenigen Magier, die noch nicht aus der Stadt geflohen waren, hatte man die Rednertribüne mit einer mächtigen Verzauberung belegt. Wenn Fzoul im Tempel sprach, würde er von jedem Anhänger innerhalb der hohen Mauern der Feste gesehen und gehört werden. Fzoul Chembryl spürte, wie Panik ihn überrollte, als er gewahr wurde, wo genau er sich befand und was
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genau er vorhatte. Über Cyric zu lästern war schon gefährlich genug; doch noch dazu in seinem heiligsten Tempel, am schwarzen Altar? Der Priester lächelte verbissen über die Vermessenheit der Aufgabe. Seine Hände zitterten kaum merklich, als Fzoul das Buch, das vor ihm lag, aufschlug. Er überblätterte die leeren Seiten, die man der Bindung hinzugefügt hatte, um den Band eindrucksvoller erscheinen zu lassen, und kam schließlich zu den wenigen Bögen, aus denen Das Wahre Leben bestand. »›In diesem Jahr, dem Jahr des Banners, verloren die Leute der Zentilfeste ihren wahren Glauben, und eine Armee von Ungeheuern erhob sich aus dem Ödland, um sie zu strafen. Sie konnten nicht ahnen, daß ihr Gott diese Armee versammelt hatte; einzig, um den Zentern Angst einzujagen und sie so in die Sklaverei zu zwingen.‹« Auf ein Nicken von Fzoul hin pochten die Wachen mit ihren Piken auf den Steinboden. Ein Wall aus Macht erhob sich, dessen Grenzen von den starren Stangenwaffen markiert wurden. Das purpurne Strahlen des arkanen Schilds tauchte Fzoul und seine treuen Soldaten in blutige Farbtöne. »Ketzerei!« schrie Xeno Silbermähne. Der Patriarch sprang auf und schlug sich die Fäuste an der durchsichtigen magischen Mauer wund. Doch weder die Rufe des Hohepriesters noch die Pfeile der Tempelwache konnten die Barriere durchbrechen. Fzoul fuhr fort, Cyrics verworrenen Plan in allen Einzelheiten offenzulegen; daß der Todesgott die Zenter als Schachfiguren zu benutzen beabsichtigte, daß er sich
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kaum darum scherte, ob so unbedeutende Gefolgsleute vernichtet wurden. Die zornigen Rufe im Tempel wurden zu verwundertem Keuchen, dann zu unzufriedenem Gemurmel. Als Fzoul seine Lesung beendet hatte, kamen die einzigen Gegenrufe von ein paar der fanatischeren Priester und den reichen Konvertiten, die einen Verlust ihres gesellschaftlichen Standes befürchteten, sollte die Kirche in Ungnade fallen. Selbst die Tempelwachen hatten ihre Bögen weggeworfen. »Seine Magnifizenz wird dir dafür die Seele nehmen!« rief Xeno Silbermähne. Er schlug mit wunden Fäusten auf den Wall ein. »Ich werde dich persönlich zu ihm schicken!« »Laßt ihn durch«, murmelte Fzoul. Die Wachen klopften mit ihren Piken erneut auf den Boden, und der arkane Wall senkte sich. Xeno Silbermähne stürzte vor. Der Hohepriester griff wild mit Klauenhänden in die Luft, während er auf den Ketzer zuraste. Ein Tritt ließ Xeno über die Tribüne segeln, und zwei gebrochene Rippen gruben sich in seine Lungen. »Wo ist dein Gott jetzt?« rief Fzoul Chembryl. Er wandte sich an das brechend volle Schiff. »Warum hat Cyric mich nicht niedergestreckt?« Als kein Blitz vom Himmel herabfuhr, wurde Fzoul kecker. »Komm her und tritt mir gegenüber, du Feigling! Ich bin hier, in deinem Tempel.« Als wollten sie Fzouls Herausforderung erwidern, brachen die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Kirchenfenster herein; die Messen, die auf dem Glas geschrieben standen, färbten das Licht purpurn. Im gleichen Augenblick bildeten sich goldene Nimben über ein
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paar Köpfen im überfüllten Tempel. Die Soldaten, Händler und Diebe, die in das warme Strahlen getaucht wurden, erhoben sich über die Masse und wurden durchsichtig. Dann lösten sich die geisterhaften Männer und Frauen einer nach dem anderen in Luft auf. Stumme Explosionen regenbogenfarbenen Lichts begleiteten das Dahinscheiden der Unschuldigen, und aus jedem Farbenwirbel fiel ein einziges, kleines Medaillon. Scheiben aus Silber und blaßrotem Holz, goldene Medaillons, die Oghmas Schriftrolle zeigten und die Hieroglyphe Helms, das Auge und der Panzerhandschuh. Heilige Symbole, eines für jeden Getreuen, der aus der dem Untergang geweihten Stadt gerettet wurde. Auf der Altartribüne bemühte Xeno sich, auf die Beine zu kommen. Während er sich die Seite hielt, wankte er vorwärts. »Das kann ich ... nicht durchgehen lassen«, keuchte er, und Schaumbläschen erschienen auf seinen Lippen. Er zog einen Dolch aus seiner violetten Robe hervor. Lachend trat Fzoul vor. »Da Cyric meine Herausforderung nicht gehört hat, muß ich dich wohl mit einer Botschaft für ihn in den Hades schicken, Alter.« In Gedanken rief er Maske an und versprach ihm seine aufrichtige Verehrung, wenn der Fürst der Schatten ihm die Macht verleihen würde, Cyrics Patriarchen niederzustrecken. Nichts geschah. »Bastard«, zischte Fzoul. Er trat auf Xeno zu, bereit, auch ohne die Unterstützung des Schattenfürsten mit dem Hohepriester fertig zu werden. In diesem Augenblick barst das Dach des Tempels un-
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ter einer Flammensäule. Der Pfeiler aus sich windendem Feuer erwischte Xeno Silbermähne, und für einen Moment tanzten die fleischlosen Knochen des Patriarchen in dem Inferno einen wilden Tanz der Todesqual. Fzoul stolperte zurück, sein Schnauzbart, die Brauen, ja, das ganze Gesicht versengt. Er gönnte sich die Zeit für einen einzigen hämischen Blick auf den ruinierten Altar und die verkohlten Überreste des Hohepriesters, ehe er sein Schwert zog und sich seinen Männern anschloß. Zusammen schlugen sie eine breite, leichengepflasterte Schneise bis zur Tür und zur Freiheit, die dahinter lag. Das magische Feuer breitete sich in Cyrics heiligstem Tempel aus, bis es sogar die Steinwände und den schwarzen Marmorfußboden verschlang. Priester überrannten ihre Brüder, als sie zum Ausgang stürzten; es waren jedoch einfach zu viele, um sich rechtzeitig durch die Türen quetschen zu können. Die Flammen erfaßten den Mob, noch bevor die Hälfte der Gefolgsleute des Todesgottes entkommen war. Die Schreie, die aus dem Tempel kamen, waren entsetzlich; aber jene, die dem Inferno zu entkommen vermochten, erwarteten noch viel furchterregendere Laute. Die Vorboten des Untergangs der Zentilfeste ließen die kalte Morgenluft vibrieren: die dumpfen Schläge riesiger, doppelschneidiger Äxte, die in die Stadttore eindrangen und das Kreischen weißer Drachen, die die Bogenschützen von den Zinnen rissen und die hohen schwarzen Steintürme zum Einsturz brachten.
Worin der Herr der Toten versucht, die zerbröckelnden Ruinen seiner beiden Reiche vor dem Einsturz zu bewahren, Gwydion mit dem Vorsatz in die Stadt der Zwietracht zurückkehrt, seine verlorene Ehre wiederherzustellen und Rinda ihr neues Leben als Wächterin des Buches beginnt. Der Prinz der Lügen saß unbeweglich im Herzen der Leere, allein mit seinen Erinnerungen an Kelemvor Lyonsbane. Bilder des Kriegers blitzten in seinem Bewußtsein auf: der junge Prahlhans, den Cyric vor den Frostriesen in Thar gerettet hatte; der angeberische Söldner, der sie beide in die Trunkenheit und Armut hinabgezogen hatte; der Mann, der sich als Freund ausgegeben hatte, nur um zu versuchen, die Tafeln des Schicksals zu stehlen. Der Prinz der Lügen geriet über die Erinnerungen in Rage, obwohl in ihnen nicht mehr Wahres steckte als in jeder anderen verdorbenen Erinnerung, die in dem Morast festhing, der seinen Verstand ausmachte. »Ich werde dich finden«, flüsterte Cyric, »und dann ist Mystra dran.« Der Herr der Toten hatte sich sowohl von seinen Reichen der Sterblichen als auch von denen der Unsterblichen abgesondert, wie es der uralte Spruch verlangt
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hatte. Inzwischen wurde ihm jedoch die Zeit in der Abgeschiedenheit lang. Cyric sehnte sich danach, seine finsteren Pläne in die Tat umzusetzen, Kelemvors Seele zu finden und mit dessen ewiger Folter zu beginnen. Der Prinz der Lügen verlor kurz die Konzentration, und ein Schwall zerstreuter, unkonzentrierter Gedanken zuckte quer über seinen göttlichen Verstand. Er verdrängte sie, so gut er konnte, und war plötzlich verärgert über seine Anhänger in der Zentilfeste. Wurde es nicht langsam Zeit für ihr letztes Gebet? Die Schuld für die Verzögerung lag natürlich bei Götterfluch. Cyric hatte das Schwert mit der lebenswichtigen Aufgabe betraut, ihn in dem Moment aus seiner Trance zu holen, in dem die Zenter ihre Stimmen in verzweifelter Hingabe erhoben. Sicher war es doch schon soweit, die Gebete der Stadt entgegenzunehmen. Sicherlich war die Morgensonne schon über der Zentilfeste aufgegangen. Dann kam Cyric ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht war etwas schiefgegangen ... Der Prinz der Lügen ließ den kleinstmöglichen Bruchteil seines Verstandes hinunter auf seine heilige Stadt blicken. Zunächst war seine Wahrnehmung nur von einem stechenden Schmerz, rot und pochend, erfüllt. Die verzweifelten, verängstigten Forderungen von sechzigtausend Priestern und Anhängern flogen wie Haken von den Reichen der Sterblichen herauf und gruben sich in die Essenz des Prinz der Lügen. Das Flehen um Errettung, um magische Kraft, mit der die Plünderer der Zentilfeste niedergestreckt werden konnten, zerrten seinen Verstand aus den Eingrenzungen der Trance. Cyric ver-
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suchte, Halt zu finden und Klarheit in das Stimmengewirr in seinem Kopf zu bringen, aber er stellte fest, daß er von seinem Platz in der Höhe kreiselnd abwärts stürzte. Dann wurde das Chaos in der Stadt deutlich. Der Himmel wurde gelb wie ein altes Hämatom, als die Sonne sich über den Horizont erhob. Über der Zentilfeste stand eine stete Rauchsäule in der bitterkalten Morgenluft. Eine Feuersbrunst war dabei, den riesigen Tempel zu verschlingen, der das Zentrum der Anbetung Cyrics gewesen war. Das magische Feuer fraß Stein und Stahl, als seien sie Holz, Stoff und Papier. Die Heimstätten der Priester, die die Kirche umgaben, waren dem Brand ebenfalls zum Opfer gefallen, und die Bemühungen der Eimerketten schienen seinen glutroten Vormarsch nicht aufhalten zu können. Am Westtor arbeiteten fünfzig Frostriesen daran, einen Spalt in den hohen schwarzen Mauern zu verbreitern. Das Tor selbst war bereits durchbrochen und von den Äxten der Riesen zu Kleinholz verarbeitet worden. Die Schutzzauber, die auf den eisenverstärkten Türen lagen, hatten ihre Wirkung getan: Die ersten drei Riesen, die ihre Klingen gegen das Holz geführt hatten, waren zu Stein geworden. Aber diese mächtige Hexerei hielt die Belagerung genausowenig auf wie die vereinzelten Pfeilhagel, die den Riesen wie Stechmücken um die Ohren pfiffen. Die Handvoll Riesen, die diesen Angriffen zum Opfer fiel, wurde beiseite gestoßen oder wie gewaltige Geschosse über die Mauern geworfen. Drachen schrien über den Türmen und Torhäusern, und ihr eisiger Odem lähmte die Bogenschützen, die die Zinnen entlangrasten. Von Zeit zu Zeit zerriß eine Bal-
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lista mit einem riesigen Bolzen einen Drachenflügel oder betäubte einen Lindwurm für einen Augenblick mit einem Felsbrocken. Es zeigte sich, daß solche Siege für die Zenter kostspieliger waren als für die Ungeheuer, da die Drachen die lästigen Bailisten schnell und brutal aus dem Weg räumten. Von Eis bedeckt hielten die Männer und Frauen, die die Maschinen bedienten, ihre Posten, ihre Todesschreie auf ewig in ihren Kehlen gefangen. Ein paar der Wyrmer schwebten über den Feldern jenseits der Stadt. Wenn sie nach Verstärkung für die Zenter Ausschau hielten, würde ihr Warten ein langes und sinnloses sein. Die Stadt war von den Tausenden und Abertausenden Zentilaren abgeschnitten, die entlang der Langen Straße und in der Rabenzitadelle kaserniert waren. Hätte es eine größere Streitmacht geschafft, die Blockade der Drachen zu durchbrechen, hätten sie sich einer hundertfachen Überzahl in Gestalt einer gewaltigen Armee aus Goblins und Gnollen gegenübergesehen, die sich inzwischen nördlich und westlich der Feste herumtrieb und darauf wartete, daß die Riesen die Mauern zum Einsturz brachten. Cyric bremste seinen Abstieg und riß seine Gedanken von der Zerstörung der Stadt los. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er seinen Priestern die Zauberkräfte verleihen sollte, die sie verlangten. Das würde es ihnen gestatten, ein paar Riesen von den Toren zu vertreiben und die Belagerung lange genug aufzuhalten, damit der Todesgott einen Avatar übernehmen und selbst in den Kampf eingreifen konnte. Allerdings spürte der Prinz der Lügen, wie seine Kraft ihn verließ. Mit jedem Tod, jedem Anhänger, den der Mut verließ und der vom Glau-
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ben abfiel, verlor Cyric mehr an göttlicher Macht. Nein, es war besser, übernatürliche Unterstützung aus dem Reich der Toten zu holen, als sich dem Strudel der Forderungen seiner Getreuen zu öffnen. Mit einem bloßen Gedanken begab sich Cyric in seinen Thronsaal. Das Bild, das sich ihm dort bot, war genauso chaotisch wie das, dessen Zeuge er in der Zentilfeste geworden war. Ein wütender Mob aus Einwohnern der Stadt der Zwietracht füllte die lange Halle. Sie drängten auf den Thron zu, wobei sie Flüche und Drohungen gegen Jergal ausstießen und versuchten, an Götterfluch zu gelangen. Das Schwert lehnte am Thron, leblos, blaß wie die Knochen der Märtyrer, die es stützten. »Wenn Cyric vor dem Kampf davongelaufen ist, dann laßt wenigstens einen von uns das verdammte Schwert benutzen«, meckerte ein ziegenköpfiger Einwohner der Stadt der Zwietracht. Er senkte den gehörnten Kopf und drohte, gegen den Seneschall anzurennen. Jergal wich nicht zurück. Er schwebte trotzig zwischen dem Mob und Cyrics Thron; sein Mantel bauschte sich um ihn herum auf wie die Flügel eines dunklen Engels. Wenn ihm ein Bewohner der Stadt der Zwietracht zu nahe kam, wirbelte er seinen Umhang um dessen zugreifenden Hände. Die Finsternis, aus der sein Körper bestand, verschluckte die Gliedmaßen der Kreatur, verschlang gierig Hände und Arme und ließ nur versengte Stümpfe zurück. In seiner Wut auf das gewaltige Durcheinander vor seinen Augen schlug Cyric zu. Auf eine Geste hin erschien eine schwarze Kugel inmitten des Raumes. Aus
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dem Ball glitten pechschwarze Tentakel, wickelten sich um die aufständischen Kreaturen und zogen sie unter Schreien in den Abyss. Ihre Rufe hallten aus der Kugel wider, während sie zu einem stecknadelkopfgroßen Stück Finsternis zusammenschrumpfte und dann verschwand. Einen Augenblick lang war das leise Stöhnen der Brennenden das einzige, was in der Halle zu hören war. Cyric griff nach Götterfluch, doch ein vorübergehender Schwindel überkam ihn. Er ließ das Schwert fallen und stolperte rückwärts auf seinen grausigen Thron zu. »Ich warte auf eine Erklärung«, zischte der Todesgott, während er sich wieder aufrappelte. »Warum wurde ich von dem Angriff auf die Feste nicht unterrichtet?« Der Geist des Schwerts kann Euch möglicherweise nicht anworten, Magnifizenz, murmelte Jergal, und seine kalte Stimme hallte durch Cyrics Verstand. Jemand hat ihm einen tödlichen Schlag versetzt – Vielleicht hat die Hure ihre Hexerei verwendet, um – »Das Pantheon hat das geplant«, grollte Cyric. »Es hat Götterfluch außer Gefecht gesetzt, damit es mir nicht sagen konnte, daß die Feste belagert wurde.« Sanft hob er die Klinge auf und hielt sie in seinen Handflächen. Das Schwert pulsierte mit einem blaßrosa Leuchten. Liebster, flüsterte Götterfluch. Ich habe Euch im Stich gelassen ... »Sie haben uns noch nicht geschlagen«, sagte der Prinz der Lügen. »Jergal, laß die Einwohner der Stadt der Zwietracht antreten und entfessle die Höllenhunde. Wir werden die Drachen und die Riesen aus der Zentilfeste vertreiben. Ich werde den Angriff selbst führen.«
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Die Stadt der Zwietracht brannte. Flammen schlangen sich um die seltsamen, zehnstöckigen Gebäude, die die Silhouette der Stadt beherrschten. Dicke Rußwolken zogen über die Trümmerfelder und blendeten alles, was mit ihnen in Kontakt kam. Der Slith brodelte und dampfte wie ein Schmelzofen. Oben auf einem Haufen Schutt sah sich Gwydion der Schnelle einem Dutzend Skelette gegenüber, die rasiermesserscharfe Piken schwangen. Die Schädel von fünfzig ihrer Artgenossen sowie die zerbrochenen Schäfte und
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Euer Wagemut wird zuerst in diesem Reich benötigt, mein Lehnsherr, erwiderte der Seneschall. Die Einwohner der Stadt der Zwietracht, die Ihr gerade verbannt habt »Ja. Zweifellos Teil eines weiteren unbedeutenden Aufstandes«, spottete Cyric. »Ich werde mich um sie kümmern, nachdem ich die Kreaturen abgeschlachtet habe, die meine Stadt erstürmen. Jetzt spute dich mit dem Sammeln einer angemessenen Streitmacht, Jergal, oder ich werde dein gelbes Blut verwenden, um die Lebensgeister von Götterfluch ein wenig anzuregen.« Die Einwohner der Stadt der Zwietracht waren nicht Teil einer Revolte. Sie kamen, um Euch um Schutz zu ersuchen. Der Seneschall verbeugte sich. Diesmal erheben sich die Seelen der Falschen und der Treulosen gegen Euch, Magnifizenz – und sie werden von den Toten geführt, die Ihr in die unheiligen Rüstungen des Wunderbringers gesperrt habt.
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verbogenen Klingen einer gleichen Anzahl von Waffen lagen vor den untoten Soldaten aufgehäuft und mahnten zur Vorsicht. Obwohl er scheinbar zu schwer gepanzert war, um sich schnell zu bewegen, hatte der Ritter ein ums andere Mal bewiesen, daß ihn seine Plattenrüstung sehr viel weniger behinderte, als es den Anschein hatte, und so rückten die Skelette langsam auf den geschwungenen Hügel aus Ziegelsteinen und entzweigerissenem Metall vor. Ihre Besonnenheit half ihnen nicht im geringsten. Ein Skelett, mutiger oder tollkühner als die übrigen, stach mit seiner Pike nach Gwydion dem Schnellen. Der gepanzerte Schatten schwang Titanenschlächter ein einziges Mal und schnitt die Klinge vom Stab; dann stürzte er vor, um den Brustkorb des Soldaten zu zertrümmern. Die zerbrochenen Knochen fielen den Hügel wieder hinunter und klapperten dabei wie Steine, die über ein Zinndach rollten. Die anderen Krieger faßten das Opfer ihres Kameraden als Zeichen zum Angriff auf. Die von Gond geschmiedete Rüstung jedoch ließ die Piken abgleiten wie stumpfe Holzspielzeuge. Gwydion wirbelte herum und ließ die magische Klinge in einer Windmühlenbewegung durch die Skelettsoldaten fahren. Knochen knackten, und Schädel fielen von fleischlosen Hälsen. Die untoten Krieger zogen sich zurück – zumindest die, die noch laufen konnten –, und Gwydion hielt inne, um seinen Blick über das Schlachtfeld schweifen zu lassen. Schattentrupps tummelten sich auf dem Platz. Manche trugen Klingen, Knüppel oder Peitschen mit Widerhaken, die sie den Einwohnern der Stadt der Zwietracht
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abgenommen hatten. Andere hatten Waffen aus Schutt gebaut. Gwydion und seine Rittergefährten hatten festgestellt, daß es kein schwieriges Unterfangen war, die Falschen von ihren Qualen zu befreien. Noch leichter war es gewesen, die unterdrückten Seelen zu mobilisieren. Rufe wie »Nieder mit Cyric!« und »Lang lebe Kelemvor!« hallten durch die Straßen, wobei letzterer Wahlspruch Gwydions Rede entsprungen war, die er an jenem Tag am Ufer des Slith gehalten hatte. Obwohl die Schatten nichts über den lang verloren geglaubten Helden wußten, war Kel doch ein erbitterter Gegner ihres Unterdrückers. Diese Referenz reichte aus, um ihm die unfreiwillige Rolle des Erretters zu geben. Die Einwohner der Stadt der Zwietracht, die schlecht organisiert waren und zu Kämpfen untereinander neigten, hatten es noch nicht geschafft, zu einem ernsthaften Gegenschlag auszuholen. Von der schieren Anzahl rebellierender Falscher in der Stadt überwältigt hatten sich viele von Cyrics Getreuen hinter die diamantenen Wälle der Knochenburg zurückgezogen. Mit den Einwohnern, die man außerhalb der Sicherheit der Feste zu fassen bekam, wurde überaus kurzer Prozeß gemacht. In diesem Moment stöberte eine Gruppe abtrünniger Seelen auf der Gwydion gegenüberliegenden Seite des Platzes einen Einwohner in den Überresten eines verfallenen Gebäudes auf. Die kleine Kreatur versuchte, mit ihren gelben Fledermausflügeln davonzuflattern, aber zwei der Schatten stürzten sich auf sie, ehe sie fliehen konnte. Wie all die anderen Schlachten zwischen den gerade befreiten Falschen und ihren ehemaligen Wärtern verlief auch dieses Scharmützel kurz und blutig.
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Weder die verdammten Seelen noch die Einwohner der Stadt der Zwietracht besaßen die notwendige magische Macht, um einander zu vernichten. Aus diesem Grund neigten die Schlachten dazu, einem schaurigen, grausamen Muster zu folgen. Nachdem das Handgemenge vorbei war, hackten die Sieger die Besiegten in ein Dutzend kleine Stücke oder mehr, so daß es Tage dauern würde, bis die Finger, Beine und Arme wieder zusammenkamen und anwuchsen. Das war auch jetzt der Fall, als die Schatten gelbe Stücke von Einwohnerfleisch über den Platz verteilten. Der Kopf der Kreatur wurde am oberen Ende eines Stabes zurückgelassen, von wo aus er den Falschen Flüche nachrief, während sie den Platz auf der Suche nach weiteren Opfern verließen. »Wir werden euch an die Nachtschlange verfüttern, wenn das hier vorbei ist, Schnecken!« rief der Kopf. »Wir werden euch alle bis auf den Grund des Slith sinken lassen!« Gwydion der Schnelle erkannte die belegte, zischelnde Stimme. Er eilte den Knochenhaufen hinunter, und tatsächlich blickte ihn der übel zugerichtete Kopf mit der vertrauten Verachtung an. »Was guckst du so?« murmelte der Einwohner der Stadt der Zwietracht. »Du bist besser dran als Af. Wenn das hier vorüber ist, wirst du immer noch hier sein, um dem neuen Herrn des Reiches zu dienen.« Die Augen der kleinen Kreatur verengten sich, und ihre gespaltene Zunge fuhr über die blutigen, aufgeplatzten Lippen. »Bei Cyrics schwarzem Herzen! Du bist zurück!« Gwydion nahm den Helm ab. Die Schatten, die Dut-
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zende kleiner Feuer, die in den nahegelegenen Trümmern brannten, warfen, ließen ihn ausgesprochen unheilvoll aussehen, als er lächelnd sagte: »Du hast gesagt, ein Aufstand würde hier nie von Erfolg gekrönt sein.« Er wischte sich das schweißnasse Haar aus den Augen. »Du hast dich geirrt.« »Also, Schnecke«, zischte Perdix, »du glaubst, ihr wärt am gewinnen, aber warte, bis Cyrics Elitetruppen kommen.« Eine plötzliche Bewegung des blassen Auges des Einwohners ließ Gwydion herumfahren und machte ihn unvermittelt auf die Gefahr aufmerksam, die von hinten drohte. Ein gigantischer Panther, schwarz wie die tiefste Nacht, fiel geräuschlos auf Schwingen aus schwarzem Licht vom Himmel. Er erwischte Gwydion den Schnellen mit einer seiner riesigen Pranken und zwang ihn in die Knie. Der Helm des Ritters rollte scheppernd davon, und Titanenschlächter entglitt seiner Hand. Die Katze stürzte sich mit übernatürlicher Geschwindigkeit auf Gwydion und nagelte ihn am Boden fest. Wie eine Hauskatze, die mit einer Maus spielt, schlug sie ihm ins ungeschützte Gesicht. Klauen, so groß wie Dolche, hinterließen blutige Linien auf der Wange des Ritters und drohten, ihm ein Auge auszureißen. »Hihi!« johlte Perdix. »Wenn man von Teufeln spricht! Du hast da einen von den Wichtigen gefangen, jawohl!« Der Panther hatte für den Kopf des Einwohners nur einen kurzen Blick übrig, der ganz klar besagte, daß er Perdix seine Feststellung des Offensichtlichen übelnahm, und richtete dann seine gelben Augen auf Gwydion. Die
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geschlitzten Pupillen verengten sich, als sei die Katze hocherfreut über ihre Beute. Das Tier sperrte das Maul weit auf. Titanenschlächter befand sich außer Reichweite, also schlug Gwydion mit den Fäusten auf die Beine und den Kopf der Katze ein. Das dicke Fell der Kreatur schien jedoch so robust wie seine Plattenrüstung zu sein, und die Schläge richteten kaum Schaden an. Dennoch verschaffte der Kampf dem Ritter gerade genug Zeit, um die Kerze aus dem Gürtel zu ziehen. Mit einem Grunzen drehte sich Gwydion seitwärts und warf das Talgstück in eines der kleinen Feuer, die zu Dutzenden in der Nähe brannten. Mit dem Zischen eines vor Schmerz keuchenden Drachen stieß das Wachs eine Rauchfontäne aus. Die wabernde Wolke nahm geschwind eine festere Gestalt an – die eines Mastiffs, groß wie ein Zugpferd und gehüllt in ein Fell aus sich windenden Maden. »Frei!« heulte Kezef. Der Stoß übelriechender Luft aus dem Maul des Chaoshunds löschte alle Feuer auf dem Platz. Der Geifer, der von seiner herabhängenden, zerfetzten Zunge troff, fraß Löcher ins Pflaster zu seinen Pfoten. Kezef duckte sich, als er den Panther sah, und sprang dann vor. Der Aufprall ließ beide Bestien eine Riesenlänge von Gwydion entfernt zum Stehen kommen. Der Chaoshund schloß seine geifernden Kiefer um die Katze und entriß der Kehle des Tieres den Todesschrei, ehe es ihn ausstoßen konnte. Der Panther versuchte, sich zu wehren. Er schlug mit seinen schwarzen Flügeln nach Kezef und riß ihm mit den mächtigen Hinterklauen den
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Leib auf. Die verdorbene Masse, aus der Kezefs Haut bestand, verschob sich jedoch, nachgiebig wie Wasser, bei jedem Schlag. Als die Katze fiel, verließen die Madenschwärme Kezefs pechschwarzes Skelett und bedeckten den Kadaver. Sie verschlangen das Fleisch des Lakaien und glitten dann auf den Hund zurück. Die vollgefressenen Maden ließen Kezef aufgebläht erscheinen, als sie gesättigt überall auf seinem Körper herumwimmelten. Der Chaoshund bog den Rücken durch, als er nach so vielen Äonen des Hungers den angenehmen Geschmack von Fleisch kostete. »Wo bin ich?« grollte er. »Wo ist Maske, dieser hinterhältige Bastard?« In der kurzen Zeit, die der Chaoshund gebraucht hatte, um den Panther zu töten und zu verschlingen, hatte Gwydion der Schnelle es geschafft, sein Schwert, aber nicht seinen Helm wieder an sich zu bringen. Der Ritter hielt die Klinge abwehrend vor sich, als er dem Mastiff gegenübertrat. »In der Stadt der Zwietracht. Maske gab mir die Kerze und sagte, ich sollte Euch hier befreien. Er sagte, Ihr würdet uns eine Hilfe gegen Cyrics Gefolgsleute sein.« Kezef schnüffelte einmal und rümpfte dann die Nase. »Laß das Zittern. Ich esse das Mark der Getreuen«, murmelte er. »Du bist noch nicht reif, kleine Seele, und ich würde mir nur den Magen verderben.« Er wies mit seiner triefenden Schnauze auf Perdix. »Wo ist der Rest von ihm?« »Das hier ist alles, was ich bin«, stammelte der Einwohner der Stadt der Zwietracht. »Nur ein Kopf. Nicht genug, um Eure Zähne dran zu wetzen.«
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»In kleinen Stücken. Über den Platz verteilt«, sagte Gwydion der Schnelle. Er ging rückwärts bis zu seinem Helm und hob ihn an einem Horn auf. »Es gibt reichlich Einwohner Stadt der Zwietracht, die sich in der Knochenburg herumtreiben, wenn Ihr noch hungrig seid.« »So hat sich Maske das also gedacht?« Kezef stieß ein bellendes Lachen aus. »Mich einzufangen und dann im Hof des Nachbarn loszulassen – zweifellos alles nur, damit er das Haus durch die Hintertür ausrauben kann.« Er wandte sich ab. »Ich werde mich hier satt essen, kleine Seele, aber ich werde nicht die Marionette des Fürsten der Schatten sein.« Kezef sprang in großen Sätzen davon, und seine Pfotenabdrücke verliefen hinter ihm zu Pfützen brennenden Sekrets. »Über den Platz verteilt!« schnauzte Perdix. »Du hättest mich ihm genausogut ins Maul stopfen können.« Der Einwohner der Stadt der Zwietracht schnaubte verächtlich. »Wenigstens bleibt mir die Genugtuung zu wissen, daß ihr den Krieg verloren habt, Schnecke. Eure Geheimwaffe hat sich davongemacht.« Gwydion setzte den Helm wieder auf. »Jene Kreatur war Maskes Idee«, sagte der Ritter, und in seiner Stimme lag ein hohler Widerhall. Er legte sich Titanenschlächter über die Schulter und machte sich zu den mit Trümmern übersäten Feldern auf, die im Schatten der Knochenburg lagen. »Ich muß noch andere Alpträume entfesseln.«
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Im geschützten Hafen der Feste schlingerten Boote trunken von ihren Anlegestellen weg, gesteuert von Men-
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schen, die verzweifelt genug waren, ihr Glück mit den Eisschollen und den zwei Drachen zu versuchen, die sich über dem Fluß auf Streife begeben hatten. Jenseits der Tesch-Brücke im Osten und der Macht-Brücke im Westen dümpelten halbversunken die vermodernden Rümpfe von Karacken und Koggen. Einige der Rümpfe waren vom Eis zertrümmert worden; bei anderen waren unter dem frostigen Atem der weißen Wyrmer die Masten zerbrochen oder die Takelage lahmgelegt worden. Die Flüchtlinge ließen sich von den treibenden, eisbedeckten Gräbern kaum davon abhalten, die Segel zu setzen. Die Soldaten, die den Hafen bewachen sollten, hatten es nicht geschafft, den Mob in seine Schranken zu verweisen. Die meisten Zentilaren hatten beim ersten Ansturm der in Panik geratenen Bürger ihre Posten verlassen. Die, die standzuhalten versucht hatten, trieben nun mit dem Gesicht nach unten im Tesch; und das Blut, das aus ihren aufgeschlitzten Kehlen lief, färbte das Wasser um sie herum. »Das mit dem blauen Segel. Das wird es schaffen.« Der Ork spie grob in Richtung des Bootes seiner Wahl und lehnte sich dann mit den knubbeligen Ellbogen auf die niedrige Steinbrüstung, die sich über die gesamte Macht-Brücke erstreckte. »Nee«, grunzte sein gleichermaßen ungehobelter Kamerad. »Werden alle als Treibholz enden – oder Zahnstocher für Drachen.« »Ach ja? Na, wenn du so sicher bist, Zadok, verwettest du dein Sheev drauf?« Zadok zog ein Messer mit elfenbeinernem Griff und wischte die schmutzige Klinge an seinem schwarzen
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Lederwams ab. »Weiß nicht. Hab’s der Leiche des ersten Falschspielers abgeknöpft, den ich je verdroschen habe. War’n ganz Nobler – bis ich ihm eins auf den Deckel gegeben habe. Dem hat böse der Schädel gebrummt. Nur ein Schlag, direkt über –« »Sei still«, zischte Garm. Er packte Zadok am Arm und deutete mit einem steifgefrorenen Finger. »Schau mal, was wir da haben!« Die Orks sahen mit zusammengekniffenen Augen die Brücke entlang zum Nordufer, wo brennende Barrikaden errichtet worden waren, um zu verhindern, daß jemand aus der Stadt floh. Eine einsame Gestalt eilte voran, immer nah an der Brüstung. »Sie haben einen durchgelassen!« knurrte Garm. Zadok ließ sein Messer herumwirbeln, so daß es kampfbereit in seiner Hand lag, und sah zu, wie die rennende Gestalt langsamer wurde, bis sie schließlich nur noch ging. »Dem Aussehen nach ‘ne Frau. Menschlich, glaube ich.« Er grinste. »Wenigstens haben wir dann was zu tun.« Als sie die Klinge in der Hand des Orks sah, blieb Rinda stehen und zeigte die leeren Hände. »Es bedarf keiner Waffen. Ich suche General Vrakk«, sagte sie. »Laßt mich durch.« Garm trat drohend einen Schritt vor. »Yrakk hat uns geschickt, damit wir dir helfen«, log er. »Er mußte sich um ‘n paar Dinge kümmern, also kümmern wir uns um dich.« Langsam entfernte Rinda sich von der Brüstung und versuchte, sich um die Soldaten herumzudrücken. Vrakk hatte gesagt, er würde die Orks an den Barrikaden an-
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weisen, sie durchzulassen, doch davon wußten diese beiden offenbar nichts. »Er hat mir das hier als Beweis gegeben«, sagte die Schreiberin. Sie nahm das schwere Bündel von der Schulter und zog ein schwarzes Armband aus einer Tasche. Cyrics heiliges Symbol grinste auf dem zerfetzten Stück Stoff. »Na und? Du hast eins unserer alten Regimentsbänder«, sagte Zadok. »Die haben wir schon vor Monaten weggeschmissen. Jeder hätte ein Dutzend von denen aus dem Müll buddeln können.« Rinda bewegte sich weiter auf die Mitte der Brücke zu, aber es war inzwischen klar, daß die Orks sie nicht passieren lassen würden. Die Schreiberin warf einen unsicheren Blick auf die Zwillingstürme, die das südliche Ende der Brücke markierten. Kein General Vrakk auf den Zinnen zu sehen. Sie konnte nur hoffen, daß er sie hatte kommen sehen und auf dem Weg war. »Gib uns das Bündel. Wenn irgendwas Gutes drin ist, lassen wir dich vielleicht in die Stadt zurückgehen«, schlug Garm vor und kroch näher. Als Rinda Anstalten machte, ihr Bündel wieder zu schultern, sprang Garm vor. Er packte die Unterseite des Stoffbeutels und rollte sich ab, in der Hoffnung, die Frau von den Füßen zu reißen. Zu seiner Überraschung ließ sie die Halteriemen fahren. Der Ork stürzte vornüber auf den rauhen Stein des Gehwegs und fluchte in einer bunten Mischung aus Zhentisch und den kehligen Lauten seiner Rasse. Das Bündel riß auf, und sein Inhalt verteilte sich über die Brücke. Garm hatte keine Zeit, eine Bestandsaufnahme von Rindas Habseligkeiten zu machen. Als er sich vom Bo-
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den hochrappelte, erwischte ihn ihre Stiefelspitze direkt am Ohr. Mit einem Knacken renkte sich sein Kiefer aus. Der Ork ging erneut zu Boden, doch dieses Mal heulte er vor Schmerzen. »Dafür wirst du mehr bezahlen, als du denkst«, zischte Zadok. Er schlurfte vorwärts und schwenkte das Messer hin und her. Rinda sah zu, wie der Ork näherkam und hielt nach einem Zeichen in seinen Knopfaugen Ausschau, daß er zustechen würde. Das Geräusch schwerer Schritte und Rufe hallte von der Südseite der Brücke herüber. Wenn es Vrakk war, war er dennoch zu weit entfernt, als daß der Soldat ihn hätte hören können. Wenn es noch mehr Orks waren, die ihren Spaß haben wollten ... Rinda verzog das Gesicht. Dann war es besser, diese Sache schnell zu beenden. Die Schreiberin schob sich seitwärts, bis sie direkt über der stoffumwickelten, unförmigen Masse der Cyrinishad stand. Sie konnte das Gemurmel des Wächters des Buches hören, das von den Lumpen und der Kette gedämpft wurde, die Oghma ihm durch den Mund gezogen hatte. »Letzte Chance, dir ein paar Schmerzen zu ersparen«, sagte Rinda. Zadok stach nach der Schreiberin. Der Hieb war zögerlich, eher ein Test ihrer Reflexe als ein ernsthafter Angriff, und die Klinge zischte ein Stück vor ihr durch die Luft. Rinda tat so, als sei ihr das Messer ziemlich nahe gekommen. Sie sprang einen Schritt zurück und ließ sich dann auf den Boden fallen, so daß sie direkt hinter dem Buch saß. Sie keuchte vor gespieltem Schreck, als sei sie gestolpert; doch ihre Hände zeigten nicht das
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geringste Zittern, als sie nach dem schweren Buch griff. Der vorgetäuschte Schnitzer verleitete Zadok zum Angriff. Er stürzte vor, doch das Messer traf den unzerstörbaren Einband der Cyrinishad, nicht Rindas Kehle. Mit einem hohen, schallenden Laut brach das Messer. Es gab ein melodiöses Klingeln, als die Klinge auf das Kopfsteinpflaster traf. Der Ork bewegte sich noch immer vorwärts, doch Rinda ließ sich fallen und erwischte den Bauch des Soldaten mit den Hakken ihrer Stiefel. Auf ein Durchdrücken ihrer Beine hin segelte Zadok davon. Er landete mit dem Gesicht voraus auf der Brücke. Er schrammte sich die Hände blutig und brach sich die Schneidezähne ab, die aus seiner Unterlippe hervorragten. Vrakk und drei weitere Orks kamen schwankend in der Nähe ihrer gefallenen Kameraden zum Stehen. Eine Geste des Generals, und Garm und Zadok wurden davongeschleift. »Erbärmlich«, schnaufte Vrakk. Die Schreiberin zuckte zusammen. »Ich weiß nicht. Ich fand mich ganz gut.« »Nicht Ihr.« Der General wies mit einem warzenbedeckten Daumen über die Schulter. »Die da. Zwei gegen eine. Sie hätten Euch töten müssen.« Rinda ließ die Cyrinishad vorsichtig wieder in ihrem Bündel verschwinden und stopfte ihre übrigen Habseligkeiten ringsherum hinein. »Mir scheint, Ihr wart an jenem ersten Tag bei mir daheim nicht viel besser«, sagte die Schreiberin kalt. Mit einer Hand half der Ork-General Rinda vom Boden auf. Seine Knopfaugen hatten sich vor Heiterkeit
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verengt. »Ihr ziemlich gute Soldatin«, sagte er und kicherte niederträchtig. Es war das erste Mal, daß Rinda je einen Ork hatte lachen hören; das Geräusch erinnerte sie an das Gurgeln der Abwasserkanäle nach den Frühlingsregenschauern. Vrakk führte Rinda den restlichen Weg über die Macht-Brücke. Weitere Orks versammelten sich am Südende, wo ein kleiner, von Wällen umgebener Verwaltungsbezirk der Feste sich am Ufer duckte. Es bestand kaum Bedarf an Wachen auf dieser Seite des Brückenbogens, da die reichen zentischen Familien, die in dem Bezirk wohnten, entweder vor langer Zeit geflohen oder auf das besser geschützte Nordufer hinübergewechselt waren. Aus den vornehmen Mänteln, glänzenden Rüstungen und juwelenbesetzten Griffen der Schwerter, die die Orks trugen, schloß Rinda, daß die Adligen niemanden zurückgelassen hatten, um ihre Heime vor Plünderern zu bewahren. Sie stiegen auf einen der Zwillingstürme, die den Brückenkopf bewachten. Als sie die oberste Turmspitze erreichten, zeigte Vrakk auf den Tesch. »Schaut, was wir gemacht«, sagte er stolz. In den Straßen der Stadt stürzten Menschenmengen fort vom belagerten Westtor und der rauchenden Ruine, die einst der herrliche finstere Tempel Cyrics gewesen war – obwohl von Rindas Aussichtspunkt aus die Massen kaum mehr als Gruppen von Ameisen zu sein schienen, die durch ein Labyrinth wanderten. Die Drachen, die über der Feste kreisten, reagierten schnell auf den Rückzug. Sie konzentrierten ihren Angriff auf das Nordosttor. Damit blieben den Zentern zwei Fluchtwege: der
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Fluß oder die Zwillingsbrücke. Die meisten Boote im Hafen hatten die Segel gesetzt, und durch das Eis und die Drachen waren außer einer Handvoll alle gekentert oder in eine Flaute geraten. Als sie die leeren Kais vorfanden, versuchten ein paar törichte Leute zu schwimmen, aber der bitterkalte Tesch ließ ihr Blut gefrieren, bevor sie sich auch nur fünfzig Züge vom Land entfernt hatten. Da ihm kein anderer Ausweg blieb, wandte sich der Mob den Brücken zu. Patriarch Silbermähne war sich sicher gewesen, daß der Herr der Toten das Flehen der Stadt erhören und die Belagerungsarmee niederstrecken würde – genaugenommen so sicher, daß er keinen Gedanken an die Brücken als möglichen Fluchtweg verschwendet hatte. So kam es, daß Vrakk und seine Orks den unspektakulären Auftrag erhalten hatten, die Brückenbögen zu bewachen, während sich alle in morgendlichen Gebetsgruppen versammelten. Die wilden Soldaten hatten sofort Barrikaden quer über beide Brücken errichtet; Barrikaden, die nun die Zenter an der Flucht vor den Riesen und Drachen hinderten. Xenos Lakaien entdeckten erst jetzt, daß die orkischen Truppen nicht im mindesten die Absicht hegten, die Barrikaden niederzureißen – zumindest nicht auf Befehl eines Priesters. So waren die Köpfe beider Brücken von hektischen Flüchtlingen verstopft. Rinda sah sie; menschliche Massen, die sich regelmäßig zu den Scheiterhaufen und umgeworfenen Karren vordrängten. Die Menge war sehr viel dichter geworden, seit sie sich durchgedrängt hatte. Kleine Gruppen hatten begonnen, auf die orkischen Reihen loszustürmen, nur um von
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einem Hagel aus Armbrustbolzen zurückgeworfen zu werden. Dutzende Leichen lagen ausgestreckt im Niemandsland zwischen den Orks und den Menschen. »Es Zeit sein«, sagte Vrakk. »Zeit wofür?« Der General lächelte – ein furchtbarer Anblick – und deutete auf eine Flagge, die gehißt werden sollte. Als ein junger Ork begann, die rote Fahne den Mast hinaufzuziehen, stieg ihr Ebenbild auch über einem Turm am Südende der Tesch-Brücke auf. »Wir viel an Brücken arbeiten«, murmelte Vrakk, drehte sich dann wieder um und beobachtete die Barrikaden in der Ferne. »Priester denken, es Bestrafung für uns ...« Funken sprühten in der Morgenluft, als die Orks die Scheiterhaufen zerstreuten. Da die Brücke nun zumindest für kurze Zeit unpassierbar geworden war, zogen sich die Soldaten rennend in Richtung Südufer zurück. Sie hatten nur ein Viertel des Weges zurückgelegt, als der Mob durch die brennenden Trümmer brach. Unter dem Druck wurden Menschen in die Flammen gestoßen. Ihre Nachbarn kletterten über ihre Rücken, während sie verbrannten. General Vrakk warf einen Blick auf Rinda. »Ihr nicht begriffen? Ich denken, Ihr gescheit.« Er wies auf einen der Drachen, der im Sturzflug dicht über dem Fluß entlangraste, um die Segel eines Küstenhandelsschiffs zu zerfetzen. »Sie uns nicht angreifen. Wie kommen?« Da kam Rinda die Erkenntnis. »Ihr habt eine Abmachung mit ihnen getroffen, nicht?« flüsterte sie. »Ihr kämpft auf Seiten der Riesen.«
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General Vrakk nickte. »Priester sagen, wir Ungeheuer, also wir kämpfen auf Seite von Ungeheuern. Riesen froh, uns in ihrer Armee zu haben.« Die Orks auf dem Rückzug hatten das Südufer erreicht. Vrakk wartete, bis sich auch der langsamste seines Trupps in Sicherheit gebracht hatte, ehe er zwei Finger an die Lippen hob und pfiff. Der schrille Laut übertönte sogar noch den Donner der angreifenden Flüchtlinge. Wie ein Mann stießen die Orks einen finsteren Fluch aus, der sich gegen den Herrn der Toten richtete: »Cyric dglinkarz haif akropa nar!« Obwohl sich die Beleidigung kaum übersetzen ließ – zumindest nicht, ohne daß sie ihren ursprünglichen giftigen Haß verlor –, genügte es zu wissen, daß es in der Äußerung um Cyric und die verhaßtesten Gegner der Vorväter der Orks ging, die Zwerge. Aus den Mäulern von Vrakks Trupps jedoch waren die fünf Worte ein magischer Auslöser. In dem Moment, in dem die Orks ihren Fluch ausgesprochen hatten, explodierten die mittleren Pfeiler beider Brücken. Die Macht-Brücke erzitterte auf der gesamten Länge. Wie Fzoul und die Magier der Zentarim vorausgesagt hatten, ließ das Schwarzpulver aus Shou, das das Herz der magischen Falle bildete, einen riesigen Feuerball aufsteigen. Die Detonation ließ die vordersten Zenter des Mobs in Flammen aufgehen – zumindest die Glücklichen unter ihnen. Granitsplitter pfiffen durch die Luft wie Schleudersteine und mähten weitere nieder. Dann stürzte der Mittelteil der Brücke in den Fluß und riß die Hälfte der Flüchtlinge mit. Auf der Tesch-Brücke sah es ähnlich
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aus – der verzweifelte Mob, der sich in sich selbst zurückzuziehen versuchte, und die Brücke, die sich unter ihm in einen Regen aus Stein und Mörtel auflöste. Entlang des gesamten Südufers heulten die Orks, als sie die Verwüstung und die übel zugerichteten Leichen sahen, die in größerer Anzahl zwischen zertrümmerten Eisschollen dahin-trieben. Einst hatten Vrakk und seine Soldaten jenen Leuten gedient, hatten ihr Leben riskiert, um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen. Die Orks hatten ihre brutalen Wurzeln jedoch nicht so weit hinter sich gelassen, daß sie irgendeine andere Art ersinnen konnten, die Beleidigung zu erwidern, die ihnen die Stadt und der Menschengott entgegengeschleudert hatten, den sie zu ihrem eigenen gemacht hatten. Entsetzt wandte Rinda sich von dem Blutbad und von Vrakk ab. »Ich – ich sollte gehen.« Der General packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. »Sie uns Ehre nehmen«, sagte er. »Sie alles nehmen und Cyric geben, und ihm es egal. Zentische es verdient haben.« »Niemand hat es verdient, so zu sterben«, zischte Rinda. Sie riß sich los. »Rastet nicht in Tälern«, bemerkte Vrakk. »Dort nicht sicher, bis Riesen und Goblins Armee auflösen.« Er warf Rinda etwas zu. Es landete zu ihren Füßen und klapperte laut auf dem Dach des Turms. »Diese Medaille König Ak-sun mir geben für Kämpfen in Kreuzzug. Ihr sie nach Cor-mir mitnehmen, ihm zeigen. Er sich um Euch kümmern.« »Das kann ich nicht annehmen«, sagte Rinda. Vrakk grunzte. »Monster tragen keine Medaillen.«
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Steif drehte er sich um und betrachtete das Blutbad. Rinda las das Medaillon auf, den Großen Verdienstorden des Goldenen Weges, der nur den siegreichen Generälen in Azouns Kreuzzug gegen die Tuiganer verliehen worden war. »Ich werde es für Euch aufbewahren«, sagte die Schreiberin; dann eilte sie aus dem Turm. Als sie ihre lange, einsame Reise nach Süden antrat, sprach Rinda ein stummes Gebet dafür, daß alle Zenter – Menschen wie Orks –, die von Cyrics Intrigen verdorben worden waren, den Weg zurück zur Zivilisation fänden. Obwohl das diamantene heilige Symbol, das sie trug, es Oghma unmöglich machte, diesen Wunsch zu vernehmen, wußte sie doch, daß der Gott des Wissens ihn erhören würde, wenn er konnte. Bis dieser Wunsch in Erfüllung ging, würde Rinda die Kraft finden, die Cyrinishad sicher zu verwahren und zu verhindern, daß ihr Wahnsinn sich über die gefallenen Mauern der Zentilfeste hinaus ausbreitete.
19 [ ALPTRA.. UME ]
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Worin Gwydion der Schnelle sich den vergessenen Schrecken seines sterblichen Lebens stellt, Kelemvors Gefängnis einige unerfreuliche Veränderungen durchmacht und Cyric den Preis für den Versuch bezahlt, die Welt nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten. Gwydion stand vor dem Eingang zu Dendars Höhle. Orangefarbener Dampf umwirbelte ihn wie eine Manifestation des Leids, das sich während des Aufstandes über die Stadt der Zwietracht gelegt hatte. Lebende Teile von Einwohnern und Schatten lagen überall, zuckend, kriechend und schreiend. Die zentrale Schlacht tobte in der Nähe, vor den Toren der Knochenburg. Wütende Rufe und panische Befehle hallten von den diamantenen Mauern; sie hingen über dem Slith und dem Trümmerfeld auf der anderen Seite. Der Lärm übertönte den zischenden Atem der Nachtschlange, während sie in ihrem weitläufigen Unterschlupf schlief, satt und zufrieden von den vergessenen Alpträumen der Welt. »Herrin!« rief Gwydion der Schnelle. Er trat näher an die erste Reihe von Riesenstalagmiten heran. Winzige, lauernde Dinge huschten zwischen den Steinen hin und her und beobachteten ihn mit hungriger Neugier. »Geh fort«, kam eine Stimme, die von Verachtung
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troff und müde klang. »Wie ich zu den anderen Lakaien bereits sagte: Der Prinz muß seine eigenen Schlachten schlagen. Das ist mein letztes Wort.« »Ich bin nicht hier, um Euch dazu zu bewegen, Cyric zu retten«, sagte Gwydion. Er bemühte sich, seine Angst und das Zittern seiner gepanzerten Hände zu unterdrücken. »Ich will, daß Ihr uns helft, ihn zu stürzen.« Dendar bewegte sich auf ihrem Bett aus Knochen. Zwei Augen, groß und blaßgelb, erschienen in der Düsternis der Höhle. »Stürzen?« fragte sie. »Warum sollte ich das tun?« Ihre geschlitzten Pupillen verengten sich, als sie sich dem Höhleneingang näherte, und ihre gespaltene Zunge schmeckte die Luft. »Ah. Ich hatte nicht erwartet, dich hier je wiederzusehen – und dazu noch in einer Rüstung. Schau an, schau an ...« »Helft uns jetzt, und die Götter werden Euch hiernach gerecht behandeln.« »Mich gerecht behandeln?« spottete die Schlange, und ihre blutigen Fänge glänzten. »Komm schon, kleiner Geist. Mich gab es schon vor den Göttern, und ich bin es, die das Ende aller Dinge ankündigt – der Welt, des Universums, all dessen und auch der Götter. Das Pantheon kann mich nicht bezähmen.« Dendar gähnte. »Laß mich in Ruhe. Es ist schwer genug, bei all dem Geklapper und Getöse zu ruhen.« »Nein«, sagte Gwydion. Die stählerne Schärfe des Wortes überraschte ihn selbst. »Die Belagerung der Knochenburg muß beendet werden, bevor das Leid hier noch größer wird. Alles, worum ich bitte, ist, daß Ihr einige der Alpträume freigebt, die Ihr angehäuft habt. Laßt sie
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frei, damit sie die Einwohner von den Mauern forttreiben.« »Jetzt beliebst du zu scherzen«, zischte Dendar voller Bosheit. »Was geht mich das Leiden der Toten an?« Gwydion hob Titanenschlächter. »Ich hole sie mir, wenn es sein muß.« Langsam drehte die Nachtschlange den Kopf, bis ein Auge wie ein Vollmond über Gwydion hing. »Ich bin kein Drache aus einem Märchen, den du mit einer Nadel bedrohen kannst. Du beleidigst mich, wenn du das glaubst.« Die Warnung in Dendars Stimme entging Gwydion nicht, genausowenig wie die unausgesprochene Forderung nach einer Entschuldigung. Dennoch ließ er seine Klinge nicht sinken und wich keinen Schritt von der Schwelle des Unterschlupfes. Etwas in seinem Inneren wollte es nicht zulassen. Statt dessen schlug Gwydion mit Titanenschlächter zu und schnitt eine einzige nachtschwarze Schuppe aus der Haut der Schlange. Die Schuppe explodierte und dehnte sich zu einem vollständig ausgebildeten Alptraum. Einen Augenblick lang wand sich der Nachtmahr geisterhaft leuchtend in der Luft; dann überfiel er Gwydion. Er glitt über seinen Geist und zog ihn in ein schreckliches Szenario hinein: Eine halbmenschliche Bestie verfolgte Gwydion durch eine finstere Gasse. Der Schatten hörte, wie das Ding hinter ihm her tappte; seine Klauen verursachten bei jedem Schritt ein Klicken auf dem Kopfsteinpflaster. Die enge Straße nahm kein Ende, und an ihren hohen Mauern glänzte etwas – Blut, erkannte Gwydion der Schnelle schaudernd. Es gab keine Türen in der Mauer, kein
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Fenster, durch das man kriechen konnte. Der einzige Ausweg bestand darin zu rennen ... Rennen? Gwydion lächelte. Sobald ihm die Erkenntnis gekommen war, daß er vor der Bestie fliehen konnte, verschwand die Gasse aus seinen Gedanken. Der Alptraum hatte seinen Griff um ihn gelockert. Der Sieg war jedoch nur von kurzer Dauer. Ein markerschütterndes Beben durchlief das Ödland, und der Hang selbst schien sich zu verschieben, sich aufzubäumen. Dann fegte ein ungeheurer Schatten über den Ritter. Dendar hatte ihren Rachen aufgesperrt. Die Nachtschlange holte Gwydion mit einem Zungenschnalzen in ihr Maul. Er prallte an einem gigantischen, purpurn gefärbten Fangzahn ab; dessen Spitze riß seinen Brustharnisch auf, als sei er aus abgenutztem Stoff. Der Fangzahn drang nicht in sein Fleisch ein; der Aufprall ließ ihn jedoch unkontrollierbar durch die Luft fliegen. Gwydion der Schnelle landete in dem scheußlichen Morast unter Dendars Zunge. Indem er Titanenschlächter als Krücke benutzte, erhob er sich auf die Füße – nur um einen Augenblick später wieder umgeworfen zu werden, als die Schlange versuchte, den winzigen Leckerbissen hinunterzuwürgen. Die Welt hob und senkte sich, als Dendar ihren Kopf zurückwarf. Die ganze Zeit über fegte ihre Zunge durch die Finsternis über ihm, was die Suppe aus öliger Spucke und halbverdauten Knochen an Gwydions Beinen hinaufschwappen ließ. Furcht, die dem kalten Schauer entsprang, der aus dem Magen der Schlange aufstieg, klammerte sich an dem Ritter fest. Der Schauer legte sich auf Gwydions
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Herz, und mit ihm kam das Gefühl, im Bauch der Bestie warte ein unbekannter und doch äußerst vertrauter Schrecken auf ihn. Dendar warf erneut den Kopf zurück. Die sumpfige Oberfläche pulsierte unter Gwydion, und er taumelte ein paar Schritte zurück. Er versuchte, Halt zu finden, sich an einer Unebenheit im Maul der Schlange festzuhalten, aber die scharfen Grate an seinem zerrissenen Brustharnisch erschwerten jede Bewegung. Jedes Mal, wenn er die Arme hob, schrammten die gezackten Kanten unglücklich gegen seine gepanzerten Stiefel. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, trieb Gwydion seine verzauberte Klinge in den weichen Boden unter seinen Füßen. Sprühende Funken vertrieben die Finsternis, als die Klinge tiefer eindrang, obwohl sich Gwydion beinahe wünschte, von dem schrecklichen Anblick verschont geblieben zu sein. Grausige Stücke von Einwohnerfleisch und blutige Spritzer umgaben ihn. Schädel mit leeren Augenhöhlen hüpften auf dem Morast unter seinen Füßen herum und bedachten die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen mit einem Grinsen. Er hatte den Schlag nicht als Angriff gesehen, sondern lediglich als einen Weg, sich selbst irgendwo festzumachen, bis ihm ein Plan einfiel. Dennoch war Titanenschlächter kaum in Dendars Fleisch eingedrungen, als ein gewaltiges Heulen in ihrer Kehle aufstieg. Zum ersten Mal in ihrem äonenlangen Dasein schrie die Nachtschlange. Wie Galle erfüllten Alpträume Dendars Maul. Sie segelten um ihre riesigen Fänge, rasten die Ränder ihrer gespaltenen Zunge entlang. Silbern wie Mondlicht, ge-
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spenstisch und absolut lautlos überfielen die Geistererscheinungen Gwydion. Mit schmutzigen Klauen und dreckigen Mäulern zerrten sie an seiner Rüstung. Stück für Stück, Platte um Platte wurde ihm die von Gond geschmiedete Rüstung abgenommen. Der Ritter konnte sich nicht wehren, konnte nicht einmal die Faust heben, um sich zu verteidigen, während sich die furchtbaren Visionen dichter herandrängten. Die Alpträume versuchten, seinen Klammergriff zu brechen. Als das fehlschlug, schoben sie sich langsam in seinen Verstand und schürten die Furcht, die sich wie ein Lauffeuer in seine Gedanken brannte: Gwydion stürzte durch einen endlosen mitternächtlichen Himmel. Um ihn herum zuckten Blitze lautlos durch die Leere. Nichts konnte seinen Fall bremsen. Nie. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber wie die Blitze war auch er stumm ... Das Gewicht der feuchten Erde lastete schwer auf Gwydion. Er versuchte, die Arme zu bewegen, schaffte es aber nicht. Er war nicht gelähmt; er konnte die Finger ein wenig beugen, gerade so weit, daß er den groben, festgetretenen Lehm um sich herum und die Würmer und Schnecken, die durch die Erde krochen, spüren konnte. Sie hatten ihn lebendig begraben! Gwydion mühte sich ab, aber das machte es schlimmer und ließ die Erde wie die Faust eines Riesen herabfahren. Dann kamen die winzigen Aaskäfer, Hunderte und Aberhunderte von ihnen ... Von einem hohen Turm aus sah Gwydion zu, wie die Sonne an einem azurblauen Himmel über der friedlichen Stadt Suzail aufging. Er hatte in der vergangenen Nacht
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schlecht geschlafen, aber das war eine der Bürden, die sein Titel mit sich brachte. In den Straßen öffneten die Händler schwungvoll ihre Läden für die Frauen und Männer, die unterwegs waren, um einzukaufen, was sie für den Tag brauchten. Soldaten, Purpurdrachen aus seinem alten Regiment, patrouillierten in den belebten Gassen, obwohl ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich war, seit Gwydion der Monarch des reichen und ausgedehnten Königreichs geworden war. Kinder erfüllten die Parks und Boulevards mit ihren fröhlichen Rufen und ihrem Geschrei beim Spielen – bis sich der Schatten über die Sonne schob. Dendar füllte den Himmel aus, und ihre finsteren Schuppen machten den Tag zur Nacht. Sie erhob sich, aufgebläht von den Alpträumen der Welt, und verschlang die Sonne. Das Gelächter und die geschäftige Freude in der Stadt verwandelten sich in Angstschreie. Die frischen Frühlingsbrisen wurden zu den Kälteschauern des ewigen Winters. Eis bedeckte den Hafen und ließ die Schiffe wie Zunder splittern. Es breitete sich über das Land aus. Gwydion versuchte einen Ruf der Warnung, aber es war zwecklos; die Männer, Frauen und Kinder wurden überwältigt und erstarrten zu dunklen Formen, eingeschlossen in der silberweißen Eisdecke. Während der tödliche Frost die Wände des Turms erklomm, hörte Gwydion Dendar lachen; und der Wind, der über die tote Welt wehte, trug ihre zischelnde Stimme heran. »Der letzte Alptraum, den ich fraß, gehörte dir ...« Gwydion zitterte wie ein verängstigtes Kind, doch die Geistererscheinungen konnten seinen Griff um Titanen-
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schlächter nicht lockern. So furchtbar sie auch waren, die Schrecken gehörten dennoch anderen Männern und Frauen. Dendar wand sich vor Schmerz, als die Magie der verzauberten Klinge in ihren Kiefer drang. Sie heulte erneut und erbrach weitere Alpträume. Visionen von lebenden Toten und messerschwingenden Irren, absoluter Einsamkeit und verschwitzten, sich dicht zusammendrängenden Massen wirbelten um den Ritter herum. Aber wie schon ihre Brüder vermochten diese stummen Geistererscheinungen nicht, Gwydions Entschlossenheit ins Wanken zu bringen. Schließlich holte Dendar einen besonderen Spuk hervor, einen vergessenen Alptraum, der Gwydion zu Lebzeiten oft heimgesucht hatte. Im Gegensatz zu den anderen Visionen bewegte sich diese zielstrebig aus ihrem Gefängnis in Dendars Eingeweiden. Niederträchtig und vertraut glitt sie auf den Ritter zu, und die anderen Schrecken machten ihr Platz wie ängstliche Schulkinder einem Lehrer von hohem Ansehen. Der Nachtmahr grub seine schmutzigen Krallen in Gwydions Herz, und von dem Augenblick an, in dem sich der Spuk in sein Fleisch hineinschob, begann seine Hand, die das Schwert wie sein Leben umklammert hielt, abzurutschen. Die als der Goldene Weg bekannte Schotterstraße zog sich vor und hinter Gwydion hin. Zu beiden Seiten der Handelsstraße lag die einst wunderschöne Landschaft verbrannt und ohne Leben da, Ernten und Dörfer von den kräftigen Ponys der tuiganischen Barbarben niedergetrampelt. Aasfresser – menschliche wie tierische –
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durchsuchten die Trümmer nach einem nahrhaften Leckerbissen, der sie auf der verdorrten Ebene am Leben erhalten würde. Eine kleine Gruppe der Nomadenreiter hatte sich auf einer Anhöhe weiter vorn versammelt und hielt Ausschau nach der Vorhut von König Azouns ungeordneter Armee der Allianz. Gwydion lächelte und duckte sich tiefer in die Spalte. Sie hatten ihn nicht gesehen. Gut. Er würde imstande sein zurückzulaufen und den König zu warnen, bevor die Armee in einen Hinterhalt stolperte. Als sich der Späher umdrehte, vernahm er einen Ruf. Er warf einen Blick zurück und sah, daß die drei Tuiganer ihre Reittiere zum Galopp antrieben. Die Barbaren kamen mit gespannten Kurzbögen; sie schossen, noch während ihre Pferde über die unebene Landschaft flogen. Gwydions Herz begann höher zu schlagen, fast im Takt mit den donnernden Hufschlägen. Eine Flucht schien kaum möglich; andererseits hatten bei den Wettrennen auf der Promenade alle gegen ihn gewettet, als er den Pferden aus Fürst Harcourts Kavallerieeinheit davonlief. Du bist Gwydion der Schnelle, erinnerte er sich selbst. Jetzt hast du die Chance, das zu beweisen. Gwydion sprang vorwärts, doch vom Knien waren ihm die Beine eingeschlafen. Er fiel auf den Bauch. Ein paar tuiganische Pfeile schlugen in den Boden um den außer Gefecht gesetzten Späher ein, und er warf einen erneuten Blick über die Schulter. Die Barbaren hatten den Abstand zu ihm halbiert – und jetzt, da sie näherkamen, konnte er sehen, daß die Reiter Monster waren. Ihre Gesichter waren grinsende Schädel, ihre Hände klauen- und fellbesetzt wie die Tatzen eines Lö-
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wen. An ihren Sätteln hingen die Skalps gefangener Soldaten. Augen und Zungen hingen, auf Halsbänder gefädelt, um ihre Hälse. Da wußte Gwydion, daß diese Reiter nicht einfach nur Todesboten waren. Sie wollten seine Seele, nicht sein Leben. Mit ungeschickten Fingern riß sich der Späher die Stiefel von den Füßen und krempelte die Hosen an den tauben Beinen hoch. War er von einem Pfeil getroffen oder vom schmerzlosen Biß einer Schlange gelähmt worden? Er hatte keine Wunden an Füßen oder Waden. Er rieb sich die Beine, versuchte, durch Druck wieder etwas Leben in sie zu bringen, doch die Taubheit erreichte nun seine Hüften. Die Tuiganer-Ungeheuer hatten ihn fast erreicht. Der Boden bebte unter ihrem Ansturm. Gwydion, dessen Gedanken von Panik überrollt wurden, versuchte, sein Bein zu bewegen, es zu zwingen, sich zu beugen. Als er es berührte, fiel ihm das Fleisch von den Knochen, weich und nachgiebig wie Ton ... Gwydions linke Hand ließ Titanenschlächter fahren, und seine Rechte begann sich zu öffnen. In seinem Geist war die Schlacht vorbei. Wenn er nicht davonlaufen konnte, gab es keine Hoffnung, keinen Ausweg. Die kleineren Spukgestalten ergriffen Gwydions Beine. Langsam zogen sie ihn in Richtung der höllischen Grube, die Dendars Magen darstellte. Gwydion nahm seine Notlage kaum wahr, so versunken war er in dem vertrauten Schrecken seines Alptraums. Er konnte nicht mehr sehen, wie er im Maul der Nachtschlange gefangen war, konnte die gespenstischen Dinger nicht mehr sehen,
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die ihn umschwebten. Gwydion wußte nur, daß ihn die kalten Hände der Auslöschung packten und er nicht mehr entfliehen konnte. Da rührte sich etwas in seinem Inneren, ein glühendes Kohle-Stückchen des Glaubens, das seine abkühlende Entschlossenheit wärmte. Er mußte nicht fliehen – nein, durfte nicht fliehen; er mußte standzuhalten versuchen. Seine Ehre verlangte, daß er sich wehrte. Die anderen Schatten, die unter Cyrics Füßen zertreten worden waren, verlangten daßelbe. Man hatte ihm die verzauberte Klinge eines Gottes anvertraut, und er hatte sein Wort gegeben, sie weise zu gebrauchen. Als könnten sie spüren, wie die eiserne Entschlossenheit den erschlaffenden Kampfgeist des Ritters wieder aufrichtete, verstärkten die Alpträume ihren Angriff. Unterstützt von Gwydions persönlichem Nachtmahr gaben sie in einem letzten, verzweifelten Versuch alles, um ihn von Titanenschlächter fortzuziehen. Die Spukgestalten wickelten sich um seine Arme und Beine. Sie blendeten ihn mit ihrem strähnigen Haar, würgten ihn mit dürren Fingern. Doch selbst ihre unirdische Kraft konnte Gwydion nicht dazu zwingen, Titanenschlächter wieder loszulassen. Für einen Moment sah Gwydion der Schnelle die unwirkliche Szene mit erstaunlicher Klarheit, mit einer Sehschärfe, die weit über den Sinneseindruck hinausging, den ihm Gonds Helm Verlieh. Der Schild seiner Pflicht würde selbst die schlimmsten Schrecken abwenden, mit denen die Phantome aufwarten konnten. Solange er sich an seinen Eid hielt, war er für sie tabu. Geschlagen welkten die Alpträume vor seinen Augen
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dahin. Sie jagten in die Dunkelheit davon wie geisterhafte Fledermäuse, wieder in Dendars Magen verbannt. Alle bis auf Gwydions persönlichen Nachtmahr. Jenes entsetzliche Bild verweilte, starrte den Schatten mit den Gesichtszügen des Traum-Tuiganers an. Das Gesicht war aus schrecklich verzerrten Erinnerungen an die Späher der Barbaren zusammengesetzt, denen er während des Kreuzzugs davongelaufen war; für Gwydion war es nicht mehr oder weniger als das Gesicht des Todes selbst. Der vergessene Alptraum hatte im Geheimen die letzten acht Jahre seines Lebens beherrscht, ihn aus den Purpurdrachen vertrieben und seine Ehre verschlungen. Er war ihm sogar bis übers Grab hinaus gefolgt und war zur Furcht vor dauerhafterer Auslöschung geworden. Nun erkannte Gwydion den Schrecken als das, was er war. »Ich kenne dich«, sagte er. »Ich werde nie wieder vor dir davonlaufen.« Der Alptraum löste sich in Luft auf, und Dendar sank zu Boden. »Es reicht«, klagte die Schlange. »Ich habe keine Waffen mehr, die ich gegen dich einsetzen könnte. Ich werde tun, was du verlangst.« Dendar sperrte ihr riesiges Maul auf, und es strömte Licht vom roten Himmel herein, das dem unwirtlichen Gelände Farbe verlieh. Vorsichtig zog Gwydion der Schnelle Titanenschlächter heraus. Er ging an den Fängen der Schlange vorbei und über ihre glatten Lippen. Von seiner Rüstung war nur das Schwertgehänge übrig; es war stellenweise stark zerfressen, aber noch zu gebrauchen. Geifer bedeckte seine Hose, und sein gefüttertes Wams hing in Fetzen. Die Plattenrüstung war weg;
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als er sie schmiedete, hatte Gond nicht mit der Macht der Alpträume gerechnet. »Gebt die Nachtmahre der Einwohner frei, die die Knochenburg verteidigen«, sagte Gwydion. »Das wird der schnellste Weg sein, diesen Krieg zu beenden.« »Es ist auch der schnellste Weg, eine andere Art von Wahnsinn im Reich zu säen«, zischte Dendar. »Die Einwohner haben nicht deinen Mut, kleiner Geist. Sie werden mit Sicherheit den Verstand verlieren, wenn sie sich den Alpträumen ihres sterblichen Lebens stellen müssen.« »Was, wenn es nicht ihre eigenen Schrecken sind?« »Dann werden die Einwohner von Angst erfüllt werden, bis sie umfallen«, sagte Dendar mit einem kranken Entzücken. Gwydion steckte Titanenschlächter in die Scheide. »Das wird als Waffe reichen«, sagte er. »Aber für Cyric muß es sein eigener Alptraum sein.« »Nein«, erwiderte Dendar, während sie sich in die Düsternis der Höhle zurückzog. »Solche Leckerbissen bekomme ich selten, und ich werde Cyrics Alptraum nicht kampflos hergeben. Selbst wenn ich dir keinen Schaden zufügen kann, könnten sich deine Verbündeten als nicht ganz so unbesiegbar erweisen.« Sie kicherte. »Außerdem kommt die Revolte dem Alptraum des Prinzen so nahe, daß er den Unterschied gar nicht bemerken wird. Alles, was du brauchst, ist Kelemvor Lyonsbane, und der ist – nun, das ist etwas, was du schon bald selbst herausfinden wirst.« Die Nachtschlange sperrte ihr Maul weit auf, renkte ihren Kiefer aus, und eine Horde von Nachtmahren
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Kelemvor Lyonsbane kämpfte sich durch einen Morast schwarzen Schleims, der ihm bis an die Hüfte reichte. Das abscheulich stinkende Zeug erinnerte ihn an Arabels Müllhaufen an einem heißen Tag. Er schüttelte den Kopf. Das ist dein Lohn für die jahrelange Arbeit als Söldner, bemerkte er mit einiger Bitterkeit. Du kannst mindestens ein halbes Dutzend Städte in Faerûn am Gestank ihres Abfalls erkennen.
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schwärmte hinaus. Die Spukgestalten wirbelten um Gwydion herum, während er sich vor Dendar verbeugte. »Ihr habt mein Wort darauf, daß die Götter Euch hiernach gerecht behandeln werden; ganz gleich, wer diesen höllischen Ort regiert.« »Dein Versprechen wiegt schwerer, als du dir vielleicht vorstellst«, sagte Dendar, und ihre Augen glommen blaßgelb in der Dunkelheit. »Ich werde dich nichtsdestotrotz daran erinnern.« Als er sich abwandte, kam Gwydion der Gedanke, daß diese nächste Schlacht seine letzte sein könnte – er würde dem Todesgott und seinen mächtigsten Dienern gegenübertreten, ohne daß ihn die von Gond geschmiedete Rüstung schützte. Es war ein flüchtiger Gedanke, der schnell von seinem großen Pflichtgefühl zurückgedrängt wurde. Gwydion hatte Angst – nur Narren und Irre zogen vollkommen furchtlos in den Kampf –, aber dieses Gefühl beherrschte ihn nun nicht mehr. Von stummen, geisterhaften Alpträumen umgeben rannte Gwydion los – diesmal jedoch auf die Schlacht zu.
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»Götterfluch!« rief er und blieb schwankend stehen. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Götterfluch! Keine Spielchen mehr, verdammt noch mal. Zeigt Euch!« Der rosenfarbene Nebel verblieb in dem Wirbel über ihm und ließ sich stellenweise auf den Morast nieder; der Geist des Schwertes jedoch blieb verborgen. Die steigende Jauche füllte das Schwert inzwischen seit Stunden. Zunächst hatte Kel es einfach für eine weitere Tortur gehalten, mit der Götterfluch ihn heimsuchte; dieser Gedanke verschwand jedoch, als der Morast ihm bis zur Brust reichte und der Pegel keine Anstalten machte sich einzupendeln. Bald danach gab Kel die Grenzen seiner mit peinlicher Genauigkeit errichteten Zelle auf, um sich nach höherem Terrain umzusehen; wenn das Schwert mit ihm gespielt hätte, wäre allein dieses Zugeständnis Anlaß für eine Siegeserklärung seinerseits gewesen. Aber der Morast wurde immer tiefer und verschluckte auch die wenigen trockenen Stellen, die Kelemvor auf den endlosen Ebenen entdeckt hatte. Nun war alles vom Schleim bedeckt; an manchen Stellen war er tiefer, aber durchweg klebrig und stinkend. Ein furchtbares Stöhnen erfüllte den Himmel. Das plötzliche Geräusch erschreckte Kel, und er verfiel in eine vertraute Kampfstellung. Es geschah reflexartig, wie auch das Schnappen seines Handgelenks, als er nach einem nicht vorhandenen Schwert griff. Es ärgerte den Schatten ein wenig, daß er so von seiner Söldnerausbildung beherrscht wurde, aber er tat den Gedanken mit einem Achselzucken ab, als die zerfetzten, schreienden Seelen über ihm in Erscheinung traten.
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»Eine weitere Schlacht«, murmelte Kel. Er biß die Zähne zusammen, als er den Schmerz in ihren verunstalteten Gesichtern sah und in ihren gequälten Schreien hörte. Das waren keine Einwohner, nur menschliche Schatten. Cyric muß wohl gerade eine weitere Revolte unter den Verdammten niederschlagen, schloß Kel. Wie all die anderen ungleichen Schlachten gegen die Falschen würde auch diese bald vorbei sein. Dann würde das Schwert die Seelen trinken, die es eingefangen hatte. Eine Erkenntnis traf Kel wie ein Donnerschlag der Hoffnung. Vielleicht hatten die Götter endlich den Aufstand in der Stadt der Zwietracht gestartet! Kel reckte beide Fäuste zum Himmel. »Gerechtigkeit!« rief er, und der Schrei hallte unter dem Wehklagen der verdammten Seelen wider. »Wir werden Gerechtigkeit bekommen!« Ein riesiges Buch, breit wie ein Burgtor, brach aus dem Schleim hervor. Die Cyrinishad, verkündete der Titel mit blutroten Buchstaben. Das verfluchte Buch wuchs geradewegs in den Nebel hinauf und ließ dabei einen Schauer von Schlammtropfen herabregnen. Kelemvor bedeckte sein Gesicht mit einem muskulösen Unterarm und fluchte. Als er wieder aufsah, erblickte er die heiligen Symbole, die in den schwarzen Ledereinband geprägt waren und den grinsenden Totenkopf in der Mitte des Buchdeckels. Der Schädel verwandelte sich und nahm Cyrics hageres, hakennasiges Antlitz an. Das Gesicht des Todesgottes ließ den Blick über die verseuchte Landschaft und die unzähligen Seelen schweifen, die durch die Luft wirbel-
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ten, aber es war deutlich zu erkennen, daß er nichts sehen konnte. »Glaubt«, intonierte der Prinz der Lügen. »Glaubt.« Cyric wiederholte das Wort immer wieder. Der Sprechgesang hallte durch die verdorbene Leere und wurde immer lauter und eindringlicher. Ein Strudel entstand in der Luft um das Buch herum und sog die gefangenen Schatten ein. Die Seelen trafen der Reihe nach auf das Buch. Ihre geisterhaften Gestalten zerstreuten sich zu dünnen Nebelschwaden, die wie welkes Laub in den Morast hinabschwebten. Götterfluch bebte, als sich jede einzelne Seele in den Schleim niederließ und ihre Essenz auf ewig verlorenging. Ihre Schreie überlebten sie und klangen schwach durch den Nebel. Das Bildnis des Todesgottes begann zu lachen. Kel marschierte voran und schlug mit einer Faust zu. Sein Schlag scheuerte ihm die Knöchel auf, aber er hinterließ auch ein Loch im Deckel des Buchs. Kel blickte auf; er war sich sicher, daß er sehen würde, wie sich das Gesicht des Todesgottes vor Wut verzerrte. Statt dessen gingen Flocken getrockneter Tinte um ihn herum nieder, während Cyrics Heiterkeit den Wall zittern und beben ließ. Das also verwirrt Götterfluch, erkannte Kel. Das Buch manipulierte die Klinge irgendwie und verursachte dieses ganze Chaos in ihrem Verstand. Kelemvor stellte sich so sicher hin, wie er konnte, und drückte mit einer Schulter gegen die gewaltige Cyrinishad. Der Monolith schwankte einen Augenblick und fiel dann hintenüber wie eine Tür, die aus den Angeln getreten wurde. Die Luft, die bei seinem Fall verdrängt wur-
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de, vertrieb den Nebel, so daß Kel klare Sicht hatte, als Cyrics Gesicht auf den Schleim traf. Das Buch barst beim Aufprall auf den Morast. Einige Stücke trieben noch eine Zeitlang oben. Die meisten versanken schnell im Morast. Cyrics grausamer Mund blieb intakt und lachte, bis der Schleim in ihn hineinfloß und das kratzende Geräusch abwürgte. Kel versuchte in der Hoffnung, ein behelfsmäßiges Floß zu bauen, einige der größeren Scherben zusammenzuklauben, doch jedes Mal, wenn er die Stabilität eines Stückes prüfte, zerbrach es unter seinem Gewicht. »Cyric, du Bastard«, knurrte Kel. »Nicht mal das konntest du mir lassen, oder?« Schleimbespritzt und vollkommen verdreckt trottete Kel davon. Die Schreie der ausgelöschten Seelen hallten schwach über dem Sumpf wider, und doch ängstigte ihn das Wehklagen nicht; er konnte es nur noch weniger erwarten, sich der Schlacht gegen Cyric anzuschließen und den Herrn der Toten und seine verräterische Klinge für das Unrecht bezahlen zu lassen, mit dem sie ihn und die Gefangenen in der Stadt der Zwietracht überschüttet hatten. Als die Kugel aus blauweißem Licht am Horizont erschien, den Himmel mit ihrem strahlenden Glanz erfüllte und den Schleim und den allgegenwärtigen blutroten Nebel auflöste, der in der Luft hing, war sich Kelemvor sicher, das glühende Gesicht seines Untergangs zu erblicken. »Mitternacht«, flüsterte er. »Ich –« Der Rest des Schwures ging in Kels Schrei und dem brüllenden Inferno, das ihn verschlang, unter.
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Cyric zog sich zu der gewaltigen Onxyplatte zurück, die der Knochenburg als Haupttor diente. Er stellte sich mit dem Rücken zum Stein und ließ Götterfluch wütend durch die Luft fahren. Das Kurzschwert bahnte sich einen blutigen Weg durch einen Schatten, konnte aus der Seele aber keine Kraft ziehen. Trotz des Blutbades blieb es blaß wie ein ausgebleichter Schädel, und seine Stimme dünn und krächzend im Geist des Todesgottes. Zweifellos Mystras Werk. Irgendwie verhinderte die Hure, daß Götterfluch die Seelen verdaute, die sie verschlang. Cyric verfluchte den Gedanken an die Göttin, während er einem weiteren Schatten mit dem Schwert quer übers Gesicht fuhr. Die diamantenen Mauern waren eingenommen worden, als die Einwohner durch gespenstische Nachtmahre von ihren Posten vertrieben wurden. Just in diesem Moment wanden sich die tierischen Gefolgsleute des Todesgottes furchtsam und erbärmlich vor den Geistererscheinungen. Einwohner kauerten in jeder Ecke und versteckten sich unter allem, was Schutz bieten konnte. Es half nichts; die Alpträume glitten in ihren Verstand und vertrieben den Mut aus ihren verdorbenen Herzen. Sie gehören zu Dendars Brut, sagte Jergal, während er an Cyrics Seite heranschwebte. Ein Schatten stürzte sich auf den Seneschall, doch der breitete den Mantel aus und umhüllte den Angreifer. Die verdammte Seele verschwand mit einem kurzen, überraschten Keuchen in die Dunkelheit. »Natürlich kommen sie von Dendar!« schnauzte Cy-
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ric. »Warum sollte sie nicht auch an dieser Verschwörung teilhaben?« Der Prinz der Lügen streckte seine linke Hand aus und spreizte die Finger. Eine plötzliche Sturmbö wehte durch den Vorhof, und der Wind zog beiden Armeen das Fleisch ab. Einer der gepanzerten Schatten, der die Schlacht von hoch oben auf der Mauer dirigierte, fiel durch den Luftstoß hintenüber. Er versank im Slith, wo die dort lauernden Kreaturen ihn Stück für Stück durch die Sehschlitze seines Helmes herauszogen. Cyric lehnte sich, vom Aussprechen des mächtigen Zaubers vorübergehend geschwächt, an die Tür. Er bezweifelte nicht, daß der Krieg genauso verlief, wie Mystra und die anderen es geplant hatten. Seine Anhänger in der Zentilfeste ließen ihn scharenweise im Stich – genau dann, als er ihre Hingabe am dringendsten brauchte, um die Verdammten von den Toren der Knochenburg zu vertreiben, und die ganze Zeit über zerrten Cyrics andere Kirchen an seinem Verstand, die bedürftigen Getreuen, die all seinen verschiedenen Ämtern huldigten. Ihre Rufe nach Unterstützung und Führung drohten, einen zu großen Teil des gespaltenen Bewußtseins des Todesgottes von der Stadt der Zwietracht abzuziehen; doch ihre Gebete unerhört zu lassen hieß zu riskieren, ihre Anbetung zu verlieren. Die Schlacht verlagerte sich schnell wieder in den Vorhof, während die Einwohner sich vor den Verdammten zurückzogen. Als sie ihren Herrn sahen, sammelten sich Cyrics Gefolgsleute nicht. Sie stolperten über die windgepeitschten Knochen ihrer Brüder hinweg auf ihn zu. »Rettet uns, Herr!« riefen sie. »Kezef läuft frei in der
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Stadt herum! Kezef kämpft auf der Seite der Falschen!« Kommt, Herr, sagte Jergal. Der Seneschall wagte, die Gestalt des Gottes mit der behandschuhten Hand zu berühren. Als von Cyric keine Einwände kamen, führte Jergal ihn weg von der Schlacht und in die Eingangshalle des Schlosses. Die von Drow gewebten Wandteppiche flatterten nervös an den Knochenwänden, als spürten sie die Bedrohung für ihre zerbrechliche Scheußlichkeit. Die finsteren Dinge, die unter dem Kristallfußboden lauerten, duckten sich, als Cyric vorüberging. Während ihrer ewigen Gefangenschaft hatten sie den Fall anderer Götter miterlebt; nun sahen sie das Damoklesschwert, das über dem Herrn der Toten schwebte. »Ah«, murmelte Cyric. »Die Götter bekennen Farbe, wenn sie einen Pakt mit Kezef schmieden.« Er stieß ein plötzliches Wutgeheul aus. »Sie tragen Fassaden der Reinheit und Ehre, doch darunter sind ihre Gesichter die von Assassinen.« Götterfluch regte sich schwach in seinem Geist. Ja, Liebster, aber Ihr werdet sie als das entlarven, was sie wirklich sind. Die tröstlichen Worte gingen unbemerkt im Gewirr von Cyrics Gedanken unter. Sein Verstand war in einem Feuersturm des Zorns gefangen, der von einem Bruchteil seines Bewußtseins zum anderen fegte und sie alle von ihren entscheidenden Aufgaben ablenkte. Blutige Rache war alles, woran Cyric denken konnte. Mystra und Maske, Torm und Oghma; er würde sie alle zwingen, vor ihm im Staub zu kriechen. Er würde den Kreis gegen sie aufhetzen, sie erniedrigen und ihnen ihre Ämter nehmen
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men lassen – und dann würde er sie einen nach dem anderen ermorden ... Während der Prinz der Lügen in seinen Phantasien eines göttlichen Blutbades verweilte, begannen Risse, den Kristallfußboden zu durchlaufen, und die Wände aus Knochen fingen an zu zittern und zu schwanken. Jergal eilte mit Cyric durch die von Schädeln gesäumte Richthalle, nur um festzustellen, daß die Rollen der Toten aus ihren wohlgeordneten Ruheplätzen fielen. Die Pergamentrollen, auf denen der Seneschall das Schicksal einer jeden Seele festgehalten hatte, die in der Stadt der Zwietracht eingesperrt war, zerfielen vor seinen lidlosen Augen zu Staub. Der Durchgang zum Thronsaal, einst von mächtigen Verzauberungen verborgen, klaffte mitten in der Luft wie eine offene Wunde. Magnifizenz, Ihr müßt Euren Verstand wieder auf dieses Reich konzentrieren, flehte Jergal. Ihr müßt ein klein wenig Eurer Macht opfern, um die Burg instandzuhalten. »Verräter!« rief Cyric, als sie den Thronsaal betraten. »Es muß sich ein Verräter unter uns befinden.« Ja, echote Götterfluch. Ein Verräter ... Einige der Brennenden griffen nach dem Prinzen der Lügen, als Jergal ihn schnell zu seinem grausigen Thron brachte. Wie alles andere, das von Cyrics göttlicher Macht instandgehalten wurde, zerfielen auch die Ketten, die die gequälten Schreiber an Wände und Decke fesselten. Die dreihundertachtundneunzig Seelen, Männer und Frauen, die beim Erschaffen der Cyrinishad versagt hatten, baumelten unsicher an einem Arm oder Bein oder rollten sich auf dem Boden hin und her und versuchten
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vergeblich, die Feuer zu löschen, die sie quälten. »Vielleicht kannst du mir etwas über den Verrat an meinem Hof erzählen«, sagte Cyric. Er ging auf den Seneschall los und packte ihn am Gesicht. »Was hat Mystra dir geboten – einen neuen Titel? Greifst du nun selbst nach der Göttlichkeit?« Gewiß nicht, Magnifizenz, sagte Jergal und wand sich aus dem Griff des Todesgottes. Ich existiere, um dem Herrn der Knochenburg zu dienen. Eine unheimliche geistige Klarheit legte sich über Cyrics Augen, und der Raum hörte auf zu zittern. »Wenn du jedem dienen willst, der auf diesem Thron sitzt, kannst du nicht nur mir treu sein.« Er grinste. »Du mußt der Verräter sein.« Der Herr der Toten zog Götterfluch und machte einen Schritt auf Jergal zu. Das Kurzschwert sah im flackernden Licht der Brennenden kränklich aus, und seine knochenweiße Blässe verdunkelte sich im Zwielicht zum Grau von Schatten. Nein, Liebster, flüsterte sie. Ich kann Euch nicht gestatten, Euren einzigen loyalen Gefolgsmann zu erschlagen. »Was?« schrie Cyric. Er hielt sich die Klinge vor die Augen, als könnte er in ihr stählernes Inneres blicken. »Du kannst es ›mir nicht gestatten‹?« Es ist ein Verräter an Eurer Seite, Liebster, aber es ist nicht Jergal. Die Stimme Götterfluchs bebte unter der Anstrengung, jedes einzelne schmerzhafte Wort auszusprechen. Nicht alles ist, wie es scheint. Jergal schwebte heran. Bitte, Magnifizenz. Ruht Euch eine Weile auf dem Thron aus. Sammelt Eure Gedanken, damit Ihr –
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»Raus!« rief Cyric. Er bedachte Jergal mit einem kurzen, wuterfüllten Blick. »Sofort!« Ich werde mich um die Verteidigung der Eingangshalle kümmern. Jergal verbeugte sich förmlich und zog sich zurück. Der Prinz der Lügen starrte das Kurzschwert an, drehte es in den Händen und betrachtete es prüfend von allen Seiten. »Was hast du mir die ganze Zeit verheimlicht?« grollte er. »Die Identität des Verräters?« Ja, erwiderte der Geist der Klinge. Ihre Stimme war männlicher geworden, glatt, voller Zischlaute. Ich sehe jetzt, daß es falsch von mir war, aber ich habe den anderen Göttern bei ihrer Verschwörung gegen Euch geholfen. »Unmöglich«, rief Cyric. »Ich brach deinen Willen, nachdem ich dich in Schwarzeichen gestohlen hatte. Ich war damals nur ein Sterblicher und habe dich im geistigen Kampf besiegt. Du konntest dich nicht gegen mich wenden.« Ihr habt mich nie besiegt. »Lüge!« Cyric hob das Schwert, die eine Hand am Griff, die andere an der Spitze. Mit einem Schrei des Zorns brach er Götterfluch entzwei. Eine blauweiße Lichtkugel entstand um die Bruchstelle. Einen Augenblick lang schwebte das Leuchten wie Feenfeuer vor Cyric und tanzte die Schneiden entlang. Dann schwoll es an und erfüllte den Thronsaal mit strahlendem Glanz. Die Explosion zermalmte die Trophäen des Todesgottes zu Staub und ließ seinen Thron aus fehlgeleiteten Märtyrern zersplittern. Als das Licht nachließ, lag eine in Schatten gehüllte
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Gestalt vor dem Prinzen der Lügen; ihr Rückgrat war gebrochen, und Tränen standen ihr in den rosenroten Augen. »Ah, Liebster, es war töricht von mir, Euch zu verraten.« Cyric ließ die zerbrochene Klinge fallen. »Ihr.« Die schwarze Maske war vom Gesicht des Fürsten der Schatten gefallen und enthüllte Züge, die sich veränderten und verschoben wie der Mantel aus Dunkelheit, der seine Gestalt verbarg. Ein weiches, weibliches Antlitz wurde zum rauhen eines Mannes. Eine Adlernase schrumpfte zur Knollennase, wurde flacher, dann schmaler und schwang sich an der Spitze zierlich nach oben. Nur zwei Merkmale in Maskes Gesicht veränderten sich nicht: die glühend roten Augen des Gottes und die blassen Fangzähne, die über seine Lippen hervorstanden. »Hätte ich doch die Cyrinishad eher gelesen, Eure Größe erkannt, ehe es zu spät war.« Der Fürst der Schatten sank zu Boden. »Ich hätte ihn nie vor Euch verborgen gehalten.« Maskes Gestalt zerschmolz zu einem Teich aus Finsternis, der sich mit dem Schatten des Todesgottes vereinte. Die Stimmen der unzähligen Manifestationen Cyrics schrien ihre Bestürzung heraus und machten im Chor ihrem Ärger Luft. Der Prinz der Lügen starrte seinen Schatten an, ohne ihn wirklich zu sehen und versuchte, die bizarre Szene zu begreifen. Er konnte es nicht. Es gab zu viele Dinge, die sich an seine Gedanken krallten und Stücke seiner Aufmerksamkeit für sich beanspruchten. In Yulash brachte eine Assassinin dem Gott des Mordes ein halbherziges Gebet dar; in ihren Worten war so
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wenig Hingabe wie Mitleid in ihrem Herzen. Ein Hausierer, den das Glück verlassen hatte und der mitten im Überfluß Tiefwassers verhungerte, verfluchte den Prinzen der Lügen bitterlich. Seine Beleidigungen bohrten sich wie Pfeile in Cyrics Verstand. Dann waren da noch die Zenter. Tausende Frauen und Männer schrien Cyrics Namen, als könne allein schon dieser Akt ihnen seine Unterstützung einbringen. Ihr Flehen strömte quer durch das Bewußtsein des Todesgottes und hinterließ zerstreute Gedanken. Er wußte nicht mehr, wo er war; sein Bewußtsein wurde in eine Million Richtungen gleichzeitig gerissen. Der Schlag traf Cyric ins Gesicht. Er spürte den körperlichen Schmerz kaum, aber die Überraschung riß seine Aufmerksamkeit aus dem Mahlstrom rasender Gedanken zurück in sein Reich im Hades. Der Prinz der Lügen ließ seinen Blick durch den verwüsteten Thronsaal schweifen, doch was er da sah, verwirrte ihn nur noch mehr. Die Brennenden, aus ihren zerbrochenen Ketten befreit, wanden sich vor Schmerzen auf dem Boden; sie waren außerstande, die Feuer zu löschen, die sie verzehrten. Die Explosion beim Angriff auf Götterfluch – nein, Maske – hatte die Wände verkohlt und ein riesiges Loch in den Teppich gebrannt. Cyrics Thron war zerschmettert, und die Knochen waren in alle Richtungen zerstreut. All dies schien irgendwie stimmig und dem Rahmen der Ereignisse angemessen, und doch waren auch andere Objekte, andere Leute im Raum; kleine Stücke all der Dinge, die Cyrics Inkarnationen gesehen hatten. Sie alle überlagerten die Wirklichkeit in der Knochenburg
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und schufen ein merkwürdiges Durcheinander von Bildern. Fließende Schatten tanzten auf den geschwärzten und zerbrochenen Säulen aus dem Tempel in der Zentilfeste. Nahe den Bruchstücken des Thrones kniete betend ein Novize der Kirche Cyrics in Mulmaster. Die silbernen Armreifen, die für seine Leibeigenschaft durch den Todesgott standen, reflektierten fahles Fackellicht; seine blauschwarze Robe roch nach Weihrauch. Assassinen schlichen die Wände entlang und verfolgten lautlos ihre unsichtbare Beute. Drei Soldaten der Zentilaren drängten sich in Türnähe zusammen, genau wie Cyric sie gerade in der Rabenzitadelle gesehen hatte. Nur eine Armlänge vom Todesgott entfernt stand Kelemvor Lyonsbane und hob den Knochen eines Märtyrers wie einen Kriegsflegel ... Ein Teil von Cyrics Verstand kreischte warnend, und er schlug zu. Der Rücken seiner linken Hand ließ die behelfsmäßige Waffe aus Kelemvors Hand fliegen, während die Handfläche seiner Rechten das Kinn des Schattens traf. Dem Herrn der Toten schien es, als segle der Schatten direkt durch den frommen jungen Priester in Mulmaster hindurch und lande zu Füßen eines Meuchelmörders im dunklen Mantel. »Ergreift ihn!« rief Cyric wie von Sinnen. Mit zuckenden Fingern deutete der Prinz der Lügen auf den geisterhaften Mörder und wies dann auf den übel zugerichteten, verdreckten Schatten, der sich vor ihm erhob. Als der Assassine weiter an der Wand entlangschlich, lächelte Cyric. »Dann bist du also ein Alptraum? Hat Dendar dich losgeschickt, damit du mich wie jene müden
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Schrecken heimsuchst, die meine Einwohner auf den Mauern angegriffen haben?« Kel bürstete sich den Staub von der Tunika. »Du wirst dir noch wünschen, daß das hier nur ein Traum ist, du hinterhältiger Hund.« Er stürzte vor, brüllend wie ein Bär. Cyric rief sich eine Verzauberung ins Gedächtnis, aber der Sog seiner Gedanken zog die Beschwörung wieder fort. Ein weiterer Teil seines Verstandes schlug vor, sich zu verwandeln, um dem Schlag auszuweichen. Der Prinz der Lügen nahm durch Willenskraft die Gestalt einer Giftwolke an, doch er behielt diese Form nur für einen Augenblick, bevor eine säuselnde Stimme verlangte, er solle seine rechtmäßige Gestalt wieder annehmen, so, wie sie in der Cyrinishad beschrieben wurde. Der Herr der Toten stellte fest, daß er in seinem scheinbar sterblichen Avatar gefangen war, als Kelemvor zuschlug. Sie stürzten gemeinsam zu Boden; Cyric schlug wild um sich, um sich zu verteidigen, und Kelemvor landete Schlag um Schlag mit seinen hammerartigen Fäusten. Als sie schließlich liegenblieben, warf der Todesgott seinen Angreifer ab und kämpfte sich auf die Beine. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt fühlte Cyric Schmerzen. Obwohl sie nur von einem blauen Auge und geprellten Rippen herrührten, stellte er fest, daß er zitterte. Das Pantheon mußte Kel irgendeine Macht verliehen haben, schloß der Todesgott. Mystra und die anderen mußten ihm mit ihrer Macht Leben verleihen, genau wie einem der mechanischen Menschen des Rüstungsschmiedes. Sonst könnte mir der Schatten nichts anhaben. Die Stimmen in Cyrics Kopf murmelten zustimmend:
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Es ist besser, vor einer offenen Schlacht zu fliehen. Schlag aus den Schatten zu, bis deine Kraft zurückkehrt, bis du herausfindest, mit was für einem merkwürdigen Zauber Mystra dich belegt hat, Um deine Kraft zu schwächen. Kel packte Götterfluch am Griff und ging erneut auf Cyric zu. »Das hier wird reichen, um dir dein schwarzes Herz herauszuschneiden. Es wird meine Trophäe sein. Den Rest werde ich diesen armen Seelen überlassen.« Mit der zerbrochenen Klinge wies Kel auf die Brennenden. Die Schreiber krochen entsetzlich langsam auf den Prinzen der Lügen zu. Sie stöhnten und griffen mit zischend heißen Fingern in die Luft, während sie ihre von den Höllenqualen steif gewordenen Körper durch den Thronsaal schleiften. Cyric wich vor Kel zurück in die Mitte des Raumes. Er trat einen der Brennenden beiseite und duckte sich unter dem ungelenken Satz eines anderen weg. »Ich bin ein Gott, Lyonsbane, und wenn ich dich schon als Sterblicher umgebracht habe, dann denk’ doch nur, welche Höllenqualen ich dich jetzt erleiden lassen kann.« »Warum läufst du dann davon?« murmelte Kelemvor. Cyric blieb ihm die Antwort schuldig. Er versuchte, sich zu konzentrieren und sich aus dem Hades zu teleportieren, aber zu viele Dinge lenkten seine Aufmerksamkeit von der Verzauberung ab. Die Stimmen in seinem Kopf waren zum disharmonischen Chor geworden, der selbst zur kleinsten Angelegenheit fünf Dutzend Meinungen hatte. Dann waren da natürlich noch seine Getreuen in ganz Faerûn, die den Namen des Todesgottes anriefen, um jeden noch so nichtigen Konflikt in
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ihrem Leben zu bewältigen. In der Knochenburg konnte Cyric den Schlachtenlärm hören, der in der Vorkammer ertönte, und den leisen Tritt von Kels Stiefeln, der näherschlich. Vorsicht, Magnifizenz, rief Jergal von draußen vor dem Thronsaal. Die Verdammten sind in die Burg eingedrungen! Der Prinz der Lügen ließ die Verzauberung fallen. Offenbar verweigerte Mystra ihm den Zugang zum Gewebe oder behinderte seine Fähigkeit, sich auf Magie zu konzentrieren. Als er sich der Tür zuwandte, schwor Cyric im Stillen, ihr die blauweißen Augen auszureißen, wenn er sie das nächste Mal sah. Ein Schatten versperrte den Durchgang, und eine mystische Klinge funkelte sternenhell in seinen Händen. »Man nennt mich den Treuen, weil ich vor allem anderen Loyalität schätze.« Gwydion richtete die Spitze Titanenschlächters auf Cyrics Herz. »Man nennt mich den treuen Gott, weil ich mich jeder Gefahr stellen werde, um meinen Respekt vor der Pflicht unter Beweis zu stellen.« »Narr«, murmelte der Prinz der Lügen. Er tat einen Schritt auf Gwydion zu, kam aber nicht weit, bevor ein heftiger Schmerz sein Bein hinaufschoß. Einer der Brennenden hatte Cyrics Fußgelenk mit seinen glühenden Händen fest umklammert, und wie hart der Todesgott ihn auch trat, er wollte nicht lockerlassen. Ein weiterer Schreiber legte seine sengenden Arme um Cyrics Hals und hängte sich über seinen Rücken wie ein Mantel. Schreiend fuhr der Prinz der Lügen herum. Er schaffte
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es, sich die Seele vom Hals zu schütteln, und einen Augenblick lang schien es, als könne Cyric entkommen. Als der Todesgott jedoch vorwärts stolperte, trieb Kel ihm den scharfkantigen Stumpf Götterfluchs in die Eingeweide und trat ihn, so daß er rückwärts in die Arme der Brennenden fiel. »Deine Getreuen warten schon«, sagte Kel, als die Schreiber sich über ihren Peiniger hermachten. Die Flammen, die jeden einzelnen Brennenden quälten, waren einzigartig und dazu geschaffen, ihre Seelen endlos leiden zu lassen, ohne daß sie sich dabei verzehrten, und als sich immer mehr Schreiber auf den Scheiterhaufen warfen, vermischten sich die Feuer, wurden glühendheiß und wundersam hell. Die Hitze des Infernos ließ Kel zurücktreten und zwang Gwydion, sich die Hand vor die Augen zu halten. So kam es, daß die Brennenden von ihrer Tortur befreit, von ihrem Leid erlöst wurden durch die Flammen ihrer Brüder. Als der Scheiterhaufen verlosch, stocherte Kelemvor mit Götterfluch in der Asche herum. Cyric war fort. »Vernichtet?« fragte Gwydion hoffnungsvoll. »Alle Feuer des Hades könnten Cyric nicht verbrennen. Er ist wie eine Krankheit, eine Seuche.« Kel schüttelte den Kopf. »Er wird wiederkommen.«
Worin sich die Nachwirkungen von Cyrics Abwesenheit in allen Reichen der Sterblichen bemerkbar machen, Gwydion der Schnelle seinem Namen erneut Ehre macht und die Knochenburg einen neuen Besitzer erhält. Renaldo führte die Überreste der Kompanie in die Gasse. Seit die Riesen, Goblins und Gnolle durch die zertrümmerten Westtore gestürmt waren, hatten sie den Großteil des Morgens damit verbracht, die Ungeheuer zu meiden. Die Hoffnung auf einen koordinierten Gegenschlag war schnell verflogen, ausgehöhlt mit jedem abgeschlachteten Zentilaren, den sie fanden – Opfer der verräterischen Orks, die sich den Plünderern oder den wilden Gnollmobs angeschlossen hatten, die inzwischen die Straßen heimsuchten. Die Abwasserkanäle der Stadt waren keinen Deut sicherer. Die Goblins hatten sich dort häuslich eingerichtet, zusammen mit den finsteren Dingen, die üblicherweise die trüben Tiefen bewohnten – Riesenratten, Aaskriecher und die schwebenden Fleischklumpen, die Betrachter genannt wurden. Alles, worauf Renaldo und sein Dutzend Trupps jetzt noch hofften, war eine Möglichkeit, sich unbemerkt aus der Stadt zu schleichen. Sie wären auch mit einem Platz zufrieden gewesen, an dem sie sich ausruhen, ihre Wun-
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den verbinden und alles hinunterschlingen konnten, was sich an Eßbarem auftreiben ließ. Überraschenderweise waren die Aussichten in dieser engen Straße mit dem kaputten Kopfsteinpflaster nicht ganz so schlecht. Auf einer Seite lehnte sich eine Reihe enger Häuser aneinander wie trunkene Seemänner beim Appell. Auf der anderen ragten Marmorsäulen in den Himmel auf. Sie umzäunten schweigend die Trümmerhaufen, die einst die Mauern einer Arena gebildet hatten. Hölzerne Gerippe von Ständen und Zelten kauerten zwischen den Säulen. Hier hatten sich Glücksspieler und Geldverleiher versammelt; die blutigen Spiele, die in der Arena stattfanden, hatten ihren Lebensunterhalt so profitabel wie jeden anderen in der Feste ausfallen lassen. Während er an einer zerstörten Spielhölle vorbeischlich, hielt Renaldo kurz inne, um in ihrer Vernichtung zu schwelgen. Er schuldete dem Falschspieler, dem der Laden gehörte, den Großteil eines Jahresgehalts. »Pst. Leutnant.« Renaldo fuhr zusammen, als er das hörte, drehte sich aber nicht um. Da die Beförderung auf dem Gefechtsfeld erst ein paar Stunden her war, sah er sich selbst noch als Unteroffizier. »Da regt sich etwas. In der Arena.« Diesmal drang die Warnung zu ihm durch, aber da hatte er die Geräusche auch schon selbst gehört: tiefes Grunzen und das Klatschen von Leder auf Stein. Etwas Großes bewegte sich dort drinnen und kämpfte um Halt auf den steil ansteigenden Sitzreihen, die vom sandigen Arenaboden hinaufführten. Renaldo gab den hinter ihm herschleichenden Solda-
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ten ein Zeichen und glitt dann in die verfallene Spielhölle. Durch die Türöffnung beobachtete er, wie sich der Rest der Kompanie verteilte. Ein paar fanden finstere Nischen auf der anderen Gassenseite. Die meisten hockten sich unter günstig gelegene Schutthaufen. Sie umfaßten ihre Schwertgriffe mit vor Angst, Erschöpfung und Kälte zitternden Händen. Ein kurzer Rundblick verriet Renaldo, daß er sich ein schlechtes Versteck ausgesucht hatte. Die Mauern des Gebäudes standen fest, aber im Dach klaffte ein riesiges Loch. Noch schlimmer war, daß es in dem Raum nichts gab, was groß genug war, um sich darunter zu verstecken. Die Tische und Stühle waren zerhackt und die größeren Stücke von den Gnollen und Orks davongeschleift worden, um Scheiterhaufen zu errichten. Renaldo überlegte, ob er in die ramponierten Gebäude auf der anderen Gassenseite huschen sollte, aber das Zischen sich verschiebender Trümmer nagelte ihn fest. Er hockte sich neben die Tür und warf einen Blick nach oben durch das Dach. Dampf wolken stiegen über die Mauer der Arena; jede gefolgt von einem angestrengten Grunzen. Ein Riese kämpfte sich zum oberen Ende der eingestürzten Arena hinauf. Er war groß, selbst für seine Art, und das Blut, das seinen Bart bedeckte, war offensichtlich nicht seines. Sein Hörnerhelm und der Harnisch waren zerbeult; den Schaden hatten Belagerungsmaschinen angerichtet. Er hatte Zelte und Gobelins zusammengeknotet und sich so einen bunten Mantel gefertigt. Beutestücke aus Gold und Silber – Kandelaber, Krüge und Eßgeschirr – hingen an einer Kette um ein Handge-
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lenk. Der Zierrat klapperte lärmend, als der Riese seine wahre Beute aufhob, die schlappen Kadaver zweier Bullen, und sie sich über die Schultern legte. Der Riese verzog sein bläuliches Gesicht zu einer Maske des entzückten Triumphes und galoppierte dann den Trümmerhaufen hinab in die Gasse. Renaldo hielt den Atem an, als der Riese näherkam. Er mußte sich seitwärts zwischen den Säulen der Arena hindurchquetschen und trat geistesabwesend ein Zeltgerüst beiseite, als er über die verlassenen Spielhöllen und Stände der Geldverleiher stieg. Beim Klappern der Holzstäbe, die über das Kopfsteinpflaster rollten, lief es Renaldo eiskalt den Rücken hinunter. Zu Staub zermalmt unter den Füßen von Drachen und Riesen, hatte die Alte gesagt. Sie hatte bezüglich seiner Beförderung recht gehabt, obwohl nur noch wenig von der Kompanie übrig war, was man befehligen konnte. Vielleicht hatte sie auch sein Ende vorhergesehen. Dann aber ging der Riese an Renaldos Versteck vorbei, ohne überhaupt nach unten zu sehen. Der Titan stieg glatt über zwei der anderen Zentilaren hinweg, die reglos unter einem umgeworfenen Karren inmitten der Gasse kauerten. Ein unmelodisches Siegeslied pfeifend eilte er aus der engen Straße hinaus. Sein donnernder Tritt ließ den Boden beben, während er auf den Boulevard dahinter trottete. Mit einem Seufzer der Erleichterung kroch Renaldo aus dem Glücksspielstand und lief über das Kopfsteinpflaster. Der Rest der Streife folgte seinem Beispiel, kam aus seinen Verstecken hervor und marschierte auf den Schutz der verlassenen Reihenhäuser zu. Sie würden sich
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dort eine Weile ausruhen und sich auf einen endgültigen Fluchtweg einigen. Renaldo befand sich mitten in der Gasse und so weit entfernt von jeglicher Deckung, wie es nur möglich war, als der erste Gnoll um die Ecke kam. Mindestens zwanzig von ihnen folgten dem Späher, vielleicht sogar dreißig. Ihre großen, muskulösen Körper wurden von Rüstungen geschützt, die sie aus der Kaserne der Zentilaren geraubt hatten. Ihre hundeartigen Schnauzen ragten unter Helmen hervor, die für menschliche Gesichter gedacht waren. »Feuer!« bellte der Gnoll-Kommandant in überraschend guter Handelssprache. Der Befehl war allerdings vergeudet; die tierischen Soldaten hatten bereits ihre Bögen gespannt. Mit einem wolfsähnlichen Heulen ließen sie einen Hagel schwarzgefiederter Pfeile los. Renaldo spürte, wie der Pfeil seine Kehle durchbohrte und den Befehl, der ihm auf der Zunge lag, in ein unverständliches, schmerzerfülltes Gurgeln verwandelte. Auch sein Befehl wäre aber vergeudet gewesen. Da die Zentilaren ohne Bögen waren, war das einzige, was sie tun konnten, die sicheren Häuser zu erreichen und zu versuchen, sich davonzustehlen, bevor die Bestien Verstärkung riefen. Während er hinfiel und den lästigen Schaft umklammerte, bemerkte Renaldo dunkel, daß keiner seiner Männer ihn eines zweiten Blickes würdigte, während sie in Deckung hetzten. Renaldo war nicht überrascht; er hatte am Morgen zwei Dutzend Männer in ähnlichen Hinterhalten dem Tod überlassen. Diese Erkenntnis hielt ihn jedoch nicht davon ab, inständig zu hoffen, daß es
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mit der restlichen Kompanie ein wirklich schreckliches Ende nahm. Renaldo stürzte schwer zu Boden. Der Aufprall ließ die Luft in einem schmerzhaften Stoß aus seiner Lunge entweichen. Als der Pfeil unter seinem Gewicht brach, breitete sich ein Schmerz wie eisige Dolche explosionsartig um den Schaft herum aus, fast so, als taste er nach einer lebenswichtigen Pulsader, die er zertrennen konnte. Renaldos Schultern verkrampften sich, und als er seine Finger wieder vom Hals nahm, waren sie naß von Blut. Die Straße schwankte vor seinen Augen, die Pflastersteine schwangen unter ihm hin und her wie eine Hängematte, aber der Soldat stellte fest, daß er sich ans Bewußtsein klammerte. Vielleicht ist die Wunde nicht tödlich, sagte er sich, obwohl er wußte, daß das nicht stimmte. Mit zitternden Armen rappelte sich Renaldo auf die Knie. Dann sah er, daß die Gnolle ihn eingeschlossen, ihn umkreist hatten wie ein Rudel hungriger Wölfe. Einer von ihnen hob seinen Bogen und schoß. Renaldo sah, wie der Pfeil unnatürlich langsam auf ihn zuflog. Er fühlte, wie die stählerne Spitze seinen ledernen Brustharnisch durchstieß und in seine Brust drang. Der Treffer ließ ihn rückwärts taumeln, wobei seine Arme hilflos in die Luft griffen. Während er dalag und das Blut das wattierte Wams tränkte, das er unter seiner Rüstung trug, wußte Renaldo, daß der Pfeil drei Rippen gebrochen und sich in sein Herz gebohrt hatte. Dennoch lebte er, und seine Seele weigerte sich noch immer, ihre von Schmerzen gebeutelte sterbliche Hülle aufzugeben.
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Die Wahrheit war, daß Renaldos Seele nirgends hin konnte. Das Reich der Toten hatte keinen Meister. Kein Herr beherrschte die Stadt der Zwietracht. Nach Cyrics Niederlage stellten Männer und Frauen in ganz Faerûn fest, daß sie für die kalten Finger des Todes unerreichbar waren. Für manche stellte sich dies als unvergleichlicher Segen heraus. Für die meisten war es ein unglaublicher Alptraum. In der Wüste Anauroch kroch eine junge Forscherin auf Händen und Knien durch die gefürchtete weite Fläche, die als At’ars Spiegel bekannt war. Ihr Kamel war tot, ihr Wasser seit Tagen aufgebraucht. Sie brach auf den windgeschliffenen Steinen zusammen, endlich ihres letzten Funkens Entschlossenheit beraubt. Die Geier, die den letzten Tag über ihre einzigen Gefährten gewesen waren, kreisten immer niedriger. Die Forscherin betete darum, der Tod möge sie schnell holen, bevor die Aasfresser anfingen, an ihrem vertrockneten Fleisch zu rupfen; aber das war natürlich nicht möglich ... Der Raum verriet wenig über den alten sembischen Händler, außer, daß er sehr reich und sehr krank war. Das Bett war aus bestem chultischen Teak geschnitzt, die hauchzarten Vorhänge aus importierter Shou-Seide genäht. Was er für das Bettzeug bezahlt hatte, konnte eine arme Familie einen Winter lang ernähren und einkleiden. Dennoch hatte ihm all der Reichtum nicht seine Gesundheit erhalten – trotz der Tränke, Salben und Tinkturen, die er während seines langen Lebens erworben hatte. Jahrelang hatte er gegen die zehrende Krankheit angekämpft, die seinen zerbrechlichen Körper zerfraß; hatte nach jeder Sekunde des Lebens gegriffen wie ein
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Geizhals, der seine Hand nach Gold ausstreckt. Nun jedoch wog der Ertrag die Mühe des Lebens nicht mehr auf. Mit zitternden Händen hob der Händler das Gift an die Lippen und würgte es hinunter. Das ekelhaft süße, brennende Gebräu rann seine Kehle hinab. Wärme breitete sich von seinem Magen bis zur Brust aus und betäubte den Schmerz für einen Augenblick. Dann richtete sich das Gift gegen seine Lungen und drückte ihm die Luft ab. Es sollte schnell vorüber sein, sagte er sich, aber das war es nicht. Stundenlang zirkulierte das Gift durch seinen Körper und tötete ihn wieder und wieder ... In einem selten besuchten Turm, weit nördlich von Tiefwasser, lag ein Mann festgeschnallt auf einem Tisch. Die Haut war von seiner rechten Hand verschwunden; sie war ihm so fachkundig von den Fingern gezogen worden, daß sie noch ihre Form hatte – ein grausiger, blutiger Handschuh. Man hatte dem Mann noch weitere Greuel angetan. Allein der Blutverlust hätte ihn schon vor langer Zeit umbringen müssen, doch aus irgendeinem merkwürdigen Grund hielt das Leben an ihm fest. Sein Folterer – ein Drow aus dem Hause Duskryn in Men-zoberranzan – hielt sich für in den Wegen des Schmerzes viel zu erfahren, als daß ihn etwas überraschen könnte. Als er jedoch einen Satz langer, dünner Nadeln erhitzte, wunderte er sich über die Erregung, die ihm dieses ungewöhnliche Opfer geboten hatte. »Ein Geschenk der Götter«, murmelte der Drow zufrieden. Er erfuhr nie, wie recht er damit hatte.
Kelemvor Lyonsbane stand, flankiert von Jergal und Gwydion, oben auf der diamantenen Mauer, die die Knochenburg umgab. Vor ihm, an den Ufern des Slith und auf der schuttübersäten Ebene auf der anderen Seite, war die Plebs des Hades versammelt, Einwohner wie Verdammte. Verzweiflung saß Cyrics Gefolgsleuten im Nacken, denn sie hatten in ihren schwarzen Herzen die Niederlage ihres Gottes gespürt, und obwohl sich die Einwohner ergeben hatten, kurz nachdem ihr Herr verschwunden war, hatten die siegreichen Schatten sie wie Sklaven gefesselt. »Der Tyrann ist gestürzt«, rief Kelemvor. »Mit seiner Niederlage endet die Herrschaft der Ungerechtigkeit.« Er hielt die beiden Hälften der zerbrochenen Klinge empor, die sein Gefängnis gewesen war. Der rote Himmel verlieh dem kalten, leblosen Metall nur einen Hauch des rosigen Farbtons, den es einst gehabt hatte. »In dieser Hülle war ich zehn lange Jahre gefangen, eine Marionette der Götter.« Mit dem zerbrochenen Griff zog er einen weiten Bogen über die Menge und wies auf die verfallene Stadt und die Mauer der Treulosen. »In dieser Hülle waren einige von euch über die zehnfache Zeit meiner Dekade des Leidens gefangengehalten. Ihr wurdet nach den Launen Irrer wie Cyric und Myrkul vor ihm gefoltert. Euer Leid gereichte ihnen zur Unterhaltung. Damit ist es vorbei.« Ein ohrenbetäubendes Gebrüll ertönte. Die verdammten Seelen erhoben ihre Speere und Knüppel zum Himmel und riefen Kels Namen.
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»Jergal hat mir gesagt, die Götter versammelten sich an den Stadttoren und warteten auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen«, verkündete Kel, nachdem die Rufe verstummt waren. »Nur ihr könnt ihnen dieses Privileg gewähren, denn ihr seid die Könige und Königinnen dieses Ortes.« »Laßt sie warten!« rief ein Schatten. »Sie haben uns hier verfaulen lassen. Ich sage, wir zahlen es ihnen heim, wo wir die Gelegenheit haben!« Jergal schwebte dicht an Kel heran, die Glubschaugen ausdruckslos. Die Reiche der Sterblichen fühlen den Schmerz dieses Aufschubs, nicht die Götter, murmelte der Seneschall. Seine Stimme war so kalt wie ein See im Winter. Die Sterbenden können nicht von ihrem Leiden erlöst werden, da ihre Seelen nirgendwo hingehen können. Kel nickte und wandte sich dann erneut der Menge zu. »Ihr wollt Gerechtigkeit für euch selbst; aber zuerst müßt ihr sie anderen entgegenbringen. Jeden Augenblick lang, den wir mit Diskussion verschwenden, sind Männer und Frauen in Faerûn zwischen Leben und Tod gefangen. Sie leiden zu Unrecht, und unser Zögern ist der Grund.« »Aber was, wenn das Pantheon uns bestrafen will?« grollte einer der Falschen. »Wenn wir sie hereinlassen, geben sie Cyric vielleicht die Stadt zurück!« Gwydion trat vor. Seine Kleider waren zerrissen, sein Gesicht war rußbedeckt, und obwohl er nicht mehr die von einem Gott geschmiedete Rüstung eines Inquisitors trug, kannten ihn die Schatten und Einwohner gut. Wie Kel war auch er zu einer Art Legende in der Stadt ge-
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worden, ein Bote der Hoffnung an diesem hoffnungslosen Ort. »Cyric wird nie wieder über dieses Reich herrschen, aber ein neuer Gott muß seinen Platz einnehmen«, rief Gwydion. »So sind die Dinge nun mal, daran können wir nichts ändern. Das heißt aber nicht, daß wir uns nicht Gehör verschaffen können.« Er zeigte auf die Knochenburg, die nun verlassen war und ohne einen Gott, der sie instandhielt, schnell in sich zusammenstürzte. »Der Herr, der diese Mauern wiedererrichtet, wird das nur mit unserer Erlaubnis tun, und die werden wir nicht geben, bis wir nicht ein paar Versprechen in der Hand haben.« »Keine Folter mehr!« rief jemand. »Gerechte Prozesse!« »Gerechtigkeit!« Die Menge skandierte dieses Wort. Einen Augenblick später stimmten die Einwohner mit ihren nichtmenschlichen Stimmen in den schrillen Klang ein. Der Sprechgesang schwoll an und hallte über das Reich der Toten, bis selbst die Treulosen, die in der Mauer gefangen waren, ihr Klagen ließen und den Ruf aufnahmen, Kelemvor stellte fest, daß der Augenblick auch ihn fesselte, und er schrie zusammen mit dem Rest, bis ihm der Kiefer schmerzte. Schließlich hob Kel die gezackten Hälften Götterfluchs über den Kopf. »Die Gerechtigkeit wird euer sein! Jeder von euch wird einen neuen Prozeß bekommen, eine Chance, das Urteil zu mildern, das über euch verhängt wurde.« Ein Jubelschrei erschütterte die diamantene Mauer. »Ihr, die ihr einst Cyric dientet, wir lassen euch
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die Wahl: Schließt euch uns an und baut mit uns ein gerechtes Königreich auf den Ruinen seines wahnsinnigen Imperiums auf oder flieht aus der Stadt. Euer Herr versteckt sich möglicherweise noch in einer finsteren Ecke der Ebenen. Wie auch immer eure Wahl ausfällt, ihr werdet nicht behelligt werden.« Ein weiterer Jubelruf erhob sich, diesmal durchsetzt vom Knurren und gräßlichen Jauchzen der Einwohner. Kelemvor warf die zerbrochenen Hälften Götterfluchs in den Slith. Eine beeindruckende finstere Wolke brach aus jedem Stück hervor, als es auf das stinkende Wasser traf; die schattenhaften Schwaden verzogen sich jedoch, als der Fluß die Klinge verschluckte. »Mein Gefängnis ist fort. Zusammen können wir die Ketten sprengen, die euch Cyric angeschmiedet hat, die Kettenglieder des Leides und der Tyrannei, welche diesen Ort zu einem Reich der Zwietracht machen. Tut den ersten Schlag für die Freiheit! Öffnet die Tore!« Ein plötzlicher Energiefluß durchströmte Kelemvor. Er zitterte einen Augenblick lang, als der kühle, brummende Puls sein Wesen erfüllte, seinen Verstand bis an seine Grenzen dehnte und diese dann überschritt. Das gesamte Reich der Toten breitete sich vor seinem Bewußtsein aus wie eine Karte auf einem Tisch. Jedes brennende Gebäude, jede zertrümmerte Straße lag seinem Blick offen, die kalten Einzelheiten einer verwüsteten Stadt. Er spürte die Feuer und die Zerstörung; winzige, unbequeme Nadelstiche, die an seinen Gedanken nagten. Er fühlte das kalte Vorüberziehen der Alpträume, die in Dendars Höhle zurückkehrten, das verdorbene Scharren der Pfoten Kezefs, der die Mauer der Treu-
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losen erklomm und nach einer Fluchtmöglichkeit aus der Stadt und vor den Göttern suchte, die sich an den Toren tummelten. Der Geruch des Sumpfes, der Hauch von Schwefel in der Luft, der furchtbare Gestank der Furcht, der alles durchdrang ... Dies war der Nektar der Göttlichkeit, erkannte er wie betäubt. Zumindest war es das für den Herrn der Toten. Mit vor Erstaunen geweiteten Augen ließ Kel seinen Blick über das Meer zu ihm aufschauender Gesichter schweifen. Er sah Hoffnung in ihnen, die schreckliche Sehnsucht nach Erlösung. Die unausgesprochenen Gebete eines jeden Schattens und Einwohners erfüllten seinen Kopf und verliehen ihm die Macht einer Million Träume. Führe uns, flehten sie. Gib uns Gerechtigkeit! Jergal lehnte sich erneut zu Kelemvor hinüber und sprach so, daß nur er es hören konnte. Dieses Mal war jedoch das Eis in der Stimme des Seneschalls geschmolzen, und an seine Stelle war kühler Respekt getreten. Soll ich mich darum kümmern, mein Herr? »Worum kümmern?« Eure Anweisung, erwiderte Jergal gelassen. Möchtet Ihr, daß ich die Tore für die anderen Götter öffne? Auf ein Nicken von Kelemvor hin verschwand der unirdische Seneschall, nur um einen Augenblick später an den gewaltigen Toren zur Stadt der Zwietracht wiederaufzutauchen. Kel konnte Jergals Anwesenheit dort spüren und seine federleichte Berührung der gräßlichen Tore fühlen. Die Tore zitterten leicht, als die Herzen der Feiglinge nach der eindrucksvollen Aufgabe erbebten, die sie soeben erfüllt hatten; nur wenige Barrieren konnten
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einen einzelnen Gott aufhalten, von einem Dreigespann ganz zu schweigen. Sie hatten ihre Arbeit nun aber vollbracht. Auf Jergals stummes Drängen hin öffneten sich die Tore weit. Mystra schoß als riesiger blauweißer Phönix über die Stadt. Sie ließ magisches Licht herabregnen, das die Dunkelheit und Verzweiflung aus jeder Ecke des in Ruinen liegenden Reiches vertrieb. Der Wind, den ihr Vorbeiziehen verursachte, blies die Feuer aus, die noch in der Stadt brannten, und ihr schriller Freudenschrei ließ die grausamen Dinger, welche Jagd auf die Verdammten machten, sich in ihre Löcher ducken. Torm und Oghma folgten Mystra auf dem Fuße; helle Lichtblitze, von denen sich alle abwenden mußten. Ihr Vorüberziehen hinterließ Feuerstreifen, die sich über die Nekropole spannten. Wie Banner, die Cyrics Niederlage verkündeten, verweilten die Zwillingsflammen über dem Reich der Toten, während sich die drei Götter im verlassenen Außenhof der Knochenburg niederließen. Kelemvor sprang von der Mauer und ging zu Mystra. Sie sah beinahe genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte – schlank und anmutig; rabenschwarzes Haar, das ihr über die Schultern fiel; ein leichtes Lächeln auf ihren vollen Lippen. Nur ihre Augen waren anders, blauweiß; und in ihnen flackerte die Macht aus dem Gewebe der Magie. Sie starrten einander eine Zeitlang an, und keiner von beiden sagte ein Wort. Es war Kelemvor, der schließlich das Schweigen brach. »Cyric ist weg«, sagte er. »Ich weiß nicht, wohin.« Mystra nickte. »Und Maske?«
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»Soweit ich weiß, steckte er die ganze Zeit über in der Verkleidung von Götterfluch«, erwiderte Kel. »Schon seit Cyric das Schwert den Halblingen in Schwarzeichen gestohlen hat. Jedenfalls hat Cyric die Klinge zerbrochen. Dadurch kam ich frei, aber Maske wurde vernichtet. Er zerschmolz zu Dunkelheit und rief um Vergebung. Er schien wirklich reumütig zu sein.« »Unwahrscheinlich«, bemerkte Torm steif. »Vielleicht nicht«, schlug Mystra vor. »Schließlich hatte Maske die Cyrinishad gelesen. Wer sagt denn, daß in dem Buch nicht die Kraft steckt, auch den Verstand eines Gottes zu verwirren?« In dem Schweigen, das folgte, erinnerte Torm sich an seine Manieren. »Vergebt mir, Lord Kelemvor«, murmelte er und verbeugte sich förmlich. »Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.« »Nicht nötig, Torm«, sagte Oghma. »Kelemvor weiß, wer – oder genauer, was wir sind. Er konnte es in dem Moment spüren, als wir sein Reich betraten.« »Sein Reich?« Der Gott der Pflicht bedachte Kelemvor mit einem skeptischen Blick. »Nur Ao kann die Göttlichkeit verleihen, und er –« »Er wird bestätigen, was die Verdammten bereits unter sich entschieden haben«, unterbrach ihn der Gott des Wissens. »Wenn ich die Weisheit ihrer Wahl erkennen kann, bin ich sicher, daß auch Ao das können wird.« Er wandte sich an den neuen Herrn der Toten. »Sagt mir, Kelemvor, wie gedenkt Ihr, Eure Geistlichkeit zusammenzustellen?« Kel zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, indem ich Leute versammle, die wollen, daß in der Unterwelt das
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Gesetz regiert. Das ist alles, was die Einwohner und die Verdammten wollen.« Er runzelte tief die Stirn. »Ich verstehe von all dem wirklich nichts. Ich hatte nie vor, ein Gott zu sein. Alles, was ich wollte, war Gerechtigkeit. Ich habe nichts getan, was eine solche Belohnung verdient hätte.« »Belohnung?« fragte Oghma, und in seiner melodischen Stimme schwang der amüsierte Klang winziger, läutender Glocken mit. »Was läßt Euch glauben, daß es eine Belohnung ist, zum Herr der Toten ernannt zu werden? Die letzten zwei Gottheiten, die den Posten innehatten, sind wahnsinnig geworden.« Kelemvor warf einen Blick hinauf auf den finsteren Turm, der sein Heim werden würde. »Ich fand all das besser, als ich noch dachte, es sei eine Belohnung«, murmelte er. Als sie den verletzten Ausdruck auf Kels Gesicht sah, legte Mystra ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Der Titel wird das sein, was du daraus machst; aber zweifle nicht einen Augenblick daran, daß du würdig bist. Manchmal müssen Helden kämpfen, um zu beweisen, was in ihnen steckt; manchmal müssen sie geduldig und weise genug sein, um das Schwert in der Scheide zu lassen, während um sie herum andere kämpfen. Du hast beides getan.« Sie glitt in seine Arme. »Außerdem habe ich deine Belohnung, Kel. Ich habe sie seit nunmehr zehn Jahren für dich aufbewahrt.« Sie küßten sich, und während sich ihre scheinbar sterblichen Fassaden umarmten, rollten sich ihre Geister in einer sehr viel vertrauteren Vereinigung zusammen. »Kommt, Binder«, sagte Torm. »Wir haben andere
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Pflichten, um die wir uns kümmern müssen.« Er marschierte weg von Kelemvor und Mystra, und die Verwirrung war deutlich auf seinem markanten Gesicht zu sehen. Der Schutzpatron der Barden bedachte den gepanzerten Gott mit einem trockenen Lächeln. »Ihr solltet Euch diese Liebenden gut ansehen, Euer Heiligkeit«, sagte Oghma, »nicht vor ihnen davonlaufen. Sie sind der Stoff, aus dem man Poesie und Lieder macht.« »Es gibt auch Lieder über meine Ritter«, berichtigte Torm. »Feine, heroische Verse, die ein Herz für die Schlacht wappnen.« »Die habe ich gehört«, sage Oghma gedehnt. »Nichts als zen-tische Limericks, wenn man sie mit einem Sonett vergleicht, daß ein Herz für eine Romanze stehlen soll.« Er kicherte über seine eigene Schlauheit. »Vielleicht ist es das, was mit uns all die Äonen nicht gestimmt hat; wir haben keinen Sinn für Leidenschaft. Ihr solltet Eure Getreuen anweisen, jeden Morgen ein Loblied auf ihr Liebstes anzustimmen – Ihr wißt schon, ein Liedchen für ihre Pferde oder ihre Schwerter ...« Torm ignorierte die spitze Bemerkung und begab sich zu Gwy-dion. Der Schatten kniete am Fuße der diamantenen Mauer und hielt Titanenschlächter mit der Spitze abwärts vor sich in einer Geste der Demut. »Ich habe meine Pflicht erfüllt, Euer Heiligkeit«, sagte Gwydion. »Ich habe mein Schwert gegen seine Gefolgsleute erhoben.« »Deine Taten sind mir bekannt«, erwiderte der Gott der Pflicht. »Schau auf meine Hände, Gwydion. Sag mir, was du siehst.«
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Der Schatten hob die Augen und sah, wie sich das rötliche Licht des Himmels auf Torms Panzerhandschuhe herabbog. Winzige Runen bedeckten das blankpolierte Metall, Symbole und Hieroglyphen in tausend vergessenen Sprachen. Unter Gwydions Blick jedoch brannten sich die Buchstaben in sein Bewußtsein und riefen ihm ihre Bedeutung mit Engelsstimmen zu. »Ich-Ich kann sie alle verstehen, Euer Heiligkeit«, flüsterte Gwydion. Tränen strömten ihm über das Gesicht, als er die unzähligen Worte für Pflicht und Loyalität wiederholte. Torm hob den Schatten aus dem Staub auf. »Kommt, Sir Gwydion, ich bin sicher, daß Lord Kelemvor Euch von diesem Ort gehen lassen wird. Ihr habt bewiesen, daß Ihr meines Königreiches mehr als würdig seid.« »Ich werde gehorsam Euren Befehlen folgen, Heiligkeit«, sagte der Ritter demütig. »Aber ich möchte Euch um einen Gefallen bitten.« »Laßt hören«, sagte Torm. »Es ist meine Pflicht, mir die Bitten meiner Getreuen anzuhören.« »Ich möchte wieder sterblich sein«, sagte Gwydion. »Ich bitte nur um die Tage und Monate, die mir noch verblieben waren, als meine Feigheit Cyric an jenem Nachmittag in Thar angelockt hatte. Ich möchte diese Zeit, wie lang sie auch immer sein mag, als ein ehrenhafter Mann erleben.« Die leidenschaftliche Bitte des Schattens hatte die Aufmerksamkeit der anderen Götter geweckt. »Ich werde jeden Anspruch zurücknehmen, den dieses Königreich auf seine Seele hat«, verkündete Kelemvor. »Gwydion wagte es, sich gegen Cyric zu stellen. Ohne ihn wäre der
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Hund vielleicht in die Stadt geflohen.« Oghma räusperte sich. »Wenn Ihr mir meine Unverschämtheit von vorhin vergeben wollt, Euer Heiligkeit, dürfte ich dann vielleicht eine Suche vorschlagen, auf die sich Euer Ritter begeben könnte?« Er schlich sich an den Gott der Pflicht heran. »Eine meiner Getreuen hat die gefährliche Aufgabe übernommen, die Cyrinishad zu tragen. Vielleicht könntet Ihr den tapferen Gwydion damit beauftragen, über sie zu wachen.« Torm rieb sich das gespaltene Kinn. »Wenn Cyric noch am Leben ist, wird er mit Sicherheit nach dem Buch suchen. Wer wäre besser geeignet, seine Verwahrerin zu beschützen als ein Ritter, der dem Prinz der Lügen schon einmal gegenübergetreten ist? Sagt mir, Binder, wo ist diese Wächterin jetzt?« »Ich weiß es nicht«, murmelte Oghma. »Ich habe ihr ein heiliges Symbol gegeben, welches sie vor den Göttern und jeglicher magischer Bespitzelung verbirgt.« Der Gott der Pflicht wandte sich an Gwydion. »Wie üblich wird es uns überlassen, unsere heiligen Aufgaben zu erfüllen, während man uns die Ketten der Torheit anderer anlegt. Der Binder wird Euch ein geistiges Bild der Frau und des Buches, das sie mit sich trägt, geben. Den Rest werdet Ihr selbst tun müssen.« Er schlug dem Schatten auf die Schulter. »Kein anderer meiner Ritter könnte dieser Suche würdiger sein, Sir Gwydion. Ich weiß, daß Ihr ihr mit Ehre und Mut ins Auge blicken werdet.« Gwydion keuchte, als Rinda in seinen Gedanken auftauchte. Blasse Haut, dunkle Locken und tiefe, meergrüne Augen – er hatte diese Frau schon einmal irgendwo
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gesehen. Oder vielleicht war es der entschlossene Ausdruck auf ihren Gesichtszügen, der sie als verwandte Seelen auswies. Ich werde schon bald herausfinden, welches von beidem der Fall ist, erkannte er vergnügt. Ein plötzliches silbernes Strahlen legte sich über Gwydion den Schnellen. Nachdem er sich vor seinem Gott verbeugt hatte, begann er seinen langen Lauf zurück in die Reiche der Sterblichen. Die Klänge einer feierlichen Prozession hatten begonnen, über die diamantenen Mauern zu schweben und verhielten über den übelriechenden Wassern des Slith. Jergal erschien an Kelemvors Seite, fast so, als wäre er von den klagenden Gesängen in die Feste zurückgetragen worden. Der geisterhafte Seneschall hielt eine Rolle leeren Pergaments in den behandschuhten Händen. Noch bevor Jergal etwas sagte, wußte Kelemvor, daß es an der Zeit für ihn war, sein Amt als Richter der Toten anzutreten. Soldaten, Söldner und kranke alte Händler – die Falschen und die Treulosen waren im Reich der Toten angekommen, um sich ihr Schicksal verkünden zu lassen. Als die ersten Schatten in den Hof schlurften, richtete Kelemvor seinen Verstand auf den verfallenden Haufen, der einmal die Knochenburg gewesen war. Mit einem Gedanken verwandelte er den verkrümmten Turm in eine wunderschöne Turmspitze aus Kristall; ein Palast, der viel besser zu einem Gott paßte, der beabsichtigte, nichts vor seinen Getreuen zu verbergen. Von jenem Tage an schien Kelemvors Hofstaat aus diesen klaren, funkelnden Wänden hinaus und war ein Leuchtfeuer des Gesetzes und des Mitgefühls auf den
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dunklen Ebenen des Hades. Und all jene, die den Turm ansahen, wußten, daß die Gerechtigkeit im Reich der Toten endlich Einzug gehalten hatte. In einem von aller Hoffnung verlassenen Tunnel im Herzen von Pandämonium erwachte Cyric. Das Wehklagen eines jeden Sterblichen in Faerûn, das Schluchzen der Verzweifelten und die Totenklage der Untröstlichen fanden früher oder später ihren Weg zu jenem einsamen Ort. Und die kalten Winde, die durch das endlose Labyrinth wehten, verzerrten diese Klagerufe und verwandelten sie in eine seltsame Sinfonie, in der zahlreiche Akkorde des Wahnsinns mitschwangen. Als er sich von dem glattgemeißelten Boden erhob, wurde Cyric eines Schattens – seines Schattens – gewahr, der sich mit ihm bewegte. Dessen Form war dunkler als die sie umgebende absolute Finsternis, und sie ahmte zwar seine Bewegungen nach, nicht aber seine Gestalt. Die Brennenden hatten ihr Zeichen auf Cyric hinterlassen und ihm so tiefe Wunden zugefügt, daß keine Magie die gezackten Brandmale auf seinen Händen und seinem Gesicht verbergen konnte. Und doch litt der Schatten unter keiner dieser Unzulänglichkeiten; sein Umriß war glatt und vollkommen. In dem überwucherten Garten von Cyrics Verstand murmelte die Stimme des Schattens tröstend – zumindest schienen die leisen Worte von der dunklen Gestalt zu kommen, die ihm folgte. Aufgrund des Geschnatters seiner Getreuen und der kalten, scharfen Beschwerden seiner unzähligen Manifestationen konnte sich Cyric da nicht ganz sicher sein. Und bevor er die Idee weiter verfolgen konnte, zerrten ihn die Gedanken fort, die durch
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seinen Verstand rasten, hin zu anderen, lebenswichtigeren Dingen. Es galt, ein neues Königreich aufzubauen. Schließlich war Cyric noch immer eine Gottheit – Gott der Zwietracht und der Intrige, Schutzpatron des Mordes. Als solcher hatte er einen Palast von angemessener Größe verdient, welcher der Horde seiner Anhänger ausreichend Platz bot; ein riesiges Schatzhaus, in dem er die Beute seines von Sieg gekrönten Krieges gegen Mystra und den Kreis der Höheren Mächte lagern konnte. Der Prinz der Lügen winkte mit seiner zerfetzten Hand, und eine Festung begann, sich dort in der heulenden Dunkelheit zu errichten. Doch noch während sich die Fundamente in den Tunnel gruben und die ersten paar nachtschwarzen Steine sich aufeinanderstapelten, änderte und veränderte sich das Aussehen der Feste, um sich Cyrics unsteten Wünschen anzupassen. Die Burg wurde zu einem einzelnen hohen, verdrehten Turm, dann zu eine Pyramide, schließlich zu einer Bastion, von welcher aus der Gott der Zwietracht seine Rache an den Verrätern planen konnte, die sich des Reiches der Toten bemächtigt hatten. Auch die Bastion verschwand, als die schmeichelnden Stimmen in Cyrics Kopf ihn daran erinnerten, daß Mystra nur seinem Willen entsprechend gehandelt hatte, indem sie die Stadt der Zwietracht dazu brachte zu rebellieren. Er würde nicht länger gezwungen sein, seine Zeit damit zu verschwenden, die Verdammten zu richten, sich ihre albernen Ausreden anzuhören und ihnen schwächliche Bestrafungen aufzuerlegen, die vor einer Ewigkeit von Göttern festgelegt worden waren, die in
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Sachen Grausamkeit wenig Vorstellungskraft besessen hatten. Nein, Cyric hatte sie gezwungen, das Kommando über den verhaßten Ort zu übernehmen und jemand anderem den Titel des Herrn der Toten wie eine unzerbrechliche Halskrause aufzuschultem. Wie immer waren die Götter des Pantheons Marionetten gewesen und hatten die Rollen gespielt, die Cyric ihnen zugedacht hatte. Einen Moment lang hörte der Prinz der Lügen, wie das Stimmengewirr in seinem Kopf in harmonischem Einklang seine Zustimmung bekundete. Keine von ihnen konnte leugnen, daß er allen Göttern in Faerûn in jeder Hinsicht überlegen war. Die Cyrinishad bezeugte diese Wahrheit, und Cyric selbst hatte das Buch sehr sorgfältig gelesen. Überall in den Reichen der Sterblichen erschien ein körperloses Lächeln in den schmutzigsten Gassen und den Spukwäldern, die von den dichtesten Schatten verhangen wurden. Breit und scharf, blitzend wie eine gerade, rasiermesserscharfe Klinge im Mondlicht deutete es daraufhin, daß der wahnsinnige Gott sehr erfreut über eine Welt war, die sich hervorragend für sein irdisches Königreich eignete. Die wahre Bedeutung dieser Erscheinungen entging selbst den begnadetsten Orakeln. Sie woben unheilverkündende, doch vage Prophezeiungen um die beängstigenden Visionen; doch, wie sie es auch sonst zu tun pflegten, schenkten die Männer und Frauen Faerûns ihnen wenig Beachtung und lebten ihr chaotisches, gewöhnliches Leben weiter. In dem von aller Hoffnung verlassenen Tunnel im Herzen von Pandämonium begann Cyric zu lachen. Das
Schicksal der Welt war besiegelt, doch sie lief trotzdem weiter.
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