GIDEON DEFOE
PIRATEN! Ein Affentheater auf hoher See
Roman Aus dem Englischen von Don Marco
WILHELM HEYNE VERLAG MÜN...
200 downloads
1418 Views
774KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
GIDEON DEFOE
PIRATEN! Ein Affentheater auf hoher See
Roman Aus dem Englischen von Don Marco
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die Originalausgabe THE PIRATES! IN AN ADVENTURE WITH SCIENTISTS erschien 2004 bei Weidenfeld & Nicolson, London Deutsche Erstausgabe 01/2006 Copyright © 2004 by Gideon Defoe Copyright © der Karte 2004 by David Senior Copyright © dieser Ausgabe 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2006 Umschlagillustration: © Jakob Werth, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Leingärtner, Nabburg Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-50010-5 ISBN-13: 978-3-453-50010-5 www.heyne.de
1837. Die goldene Ära der Piraterie neigt sich dem Ende zu, und die ganze Crew schreckenerregender Piraten samt ihrem furchtlosen Kapitän langweilt sich zu Tode. Tropische Strände voll nackter Mädchen, saftiger Schinken mit Schiffszwieback und eine Hüpfburg aus Quallen können ein richtiges Abenteuer auf Dauer einfach nicht ersetzen. Da kommt ihnen Charles Darwin, dessen Schiff sie vor Galapagos kapern, gerade recht. Gemeinsam mit ihm und seinem wohlerzogenen Affen Mr. Bobo besuchen sie das viktorianische London und versuchen mit List, Tücke und einem Säbel zwischen den Zähnen den teuflischen Plan des schurkischen Bischofs von Oxford aufzuhalten. Der ewige Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, Rationalität und blutigem Freibeuterhandwerk ist das große Thema dieses Buches. Leider geht es inmitten allen Kanonendonners und Säbelrasselns unter. Zum Autor Gideon Defoe erreichte fast einen Abschluss in Archäologie der Universität von Oxford, bevor er auf einer staubigen Ausgrabungsstätte in Texas arbeitete. Danach schlug er sich mit diversen Gelegenheitsjobs durch. Piraten! ist sein erstes Buch. Er schrieb es, um ein Mädchen zu beeindrucken. Vergebens.
Für Sophie, die Hüterin des Schatzes
EINS Rückkehr zur Totenkopf-Insel
»Das Beste am Piratenleben«, sagte der Pirat mit Gicht, »ist das Plündern.« »Unsinn!«, sagte der Albino-Pirat. »Es sind die Dublonen. Die Dublonen sind mit Abstand das Beste am Piratendasein.« Der Rest der Piraten, die sich auf dem Deck des Piratenschiffs sonnten, mischte sich bald mit ein. Das Piratenabenteuer mit den Cowboys lag jetzt schon einige Wochen zurück und sie hatten weiter nichts zu tun. »Es ist der Piratengrog!« »Leute auf einsamen Inseln aussetzen! Das gefällt mir am besten!« »Die Macheten!« »Die Spanische Flotte!« »Der Schiffszwieback!« Einer der Piraten zog ein Gesicht, um zu zeigen, was er von dieser letzten Bemerkung hielt, und im Nu brach ein wilder Kampf unter den Piraten aus. Mit dem Klang einer Keule, die auf eine Wassermelone prallt, nahmen Piratenfäuste mit Piratenkiefern Kontakt auf, und bald hüpfte ein Goldzahn quer über das Deck. Der Pirat mit Gicht fand sich auf grausige Art und Weise durchbohrt wieder, während einer der Schiffsjungen versehentlich einen sauber glänzenden eisernen
Haken in den Kopf gerammt bekam. So wäre es wohl noch Stunden weitergegangen, aber da wurden die beiden schweren Holztüren, die ins Innere des Schiffs führten, kraftvoll aufgestoßen und heraus trat der Piratenkapitän persönlich. Der Piratenkapitän war eine beeindruckende Erscheinung. Wenn man ihn mit einer bestimmten Sorte Baum vergleichen wollte – ein beliebter Zeitvertreib der Piraten bestand darin, sich zu überlegen, welche Sorte Baum man wäre, wenn man ein Baum statt eines Piraten geworden wäre –, dann wäre er ohne Zweifel eine Eiche oder vielleicht eine Rosskastanie. Zunächst sah man nur Zähne und Locken, aber er hatte ein hübsches Gesicht und sein Mantel war besser geschnitten als der aller anderen. Sein Bart war prächtig und glänzte, an den Enden waren die Haare mit edlen Bändern verknotet. Das Leben auf See führte in der Regel zu zerzaustem und verfilztem Haar, doch der Piratenkapitän schaffte es irgendwie, seinen Bart glatt und in gutem Zustand zu halten, und obwohl keiner sein Geheimnis kannte, bewunderten sie ihn doch dafür. Sie bewunderten ihn auch, weil es hieß, er sei mit dem Meer verheiratet. Viele Piraten behaupteten von sich, mit dem Meer verheiratet zu sein, aber gewöhnlich war dies bloß eine faule Ausrede, weil sie keine Frau abbekamen oder schwul waren. Im Fall des Piratenkapitäns zweifelte jedoch niemand auch nur eine Sekunde daran, dass er tatsächlich mit dem Meer verheiratet war. Jeder seiner Männer hätte sich nur zu gern schützend vor ihn gestellt, um statt seiner eine Kugel oder das spitze Ende eines Entermessers abzubekommen. Der Piratenkapitän musste nicht viel mehr tun, als sich einmal kurz zu räuspern und dabei die Augen zu verdrehen, um die Kampfhandlungen im Nu zu beenden.
»Was ist hier los, ihr elenden Süßwassermatrosen?«, brüllte er. Piraten sprangen oft rüde miteinander um, ohne es wirklich so zu meinen, also nahm sich das keiner der prügelnden Piraten allzu sehr zu Herzen. »Wir haben gerade diskutiert, was am Piratenleben das Beste ist«, antwortete der Pirat in Grün nach einem Moment betretener Stille. »Was das Beste am Leben als Pirat ist?« »Ja, Sir. Wir konnten uns nicht recht entscheiden. Ich meine, es ist alles prima…« »Das Beste am Piratenleben sind die Seemannslieder.« Nachdem die Angelegenheit damit ein für alle Mal geklärt war, ging der Piratenkapitän schnellen Schrittes zurück ins Schiffsinnere, wobei er dem Piraten mit dem Schal ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Der Rest der Crew blieb sich selbst überlassen. »Er hat Recht. Es sind die Seemannslieder«, sagte der Albino-Pirat nachdenklich. Einer der anderen Piraten nickte. »Die sind aber auch wirklich gut. Sollen wir ein Piratenlied anstimmen?« Der Piratenkapitän war regelrecht erleichtert, als er ein rauflustiges Piratenlied vernahm, das durch das Dach der Galeere zu ihm hinabdröhnte. Erst kürzlich hatte er sich Sorgen um die Disziplin an Bord des Piratenschiffs gemacht, und ein altes Piratenmotto besagte: Solange die Männer Piratenlieder schmettern, können sie nichts Schlimmes im Schilde führen.∗
∗
Das Seemannslied (englisch: shanty) stammt höchstwahrscheinlich vom französischen Wort chanter ab, was singen heißt. Die meisten Piratenlieder handelten übrigens von heißblütigen Meerjungfrauen, die es besonders auf Piraten abgesehen hatten.
»Würden Sie bitte einen Augenblick in meine Kajüte kommen?«, befahl er dem Piraten mit dem Schal, der sein treuergebener zweiter Kommandant war. Die Kapitänskajüte hing voller Andenken an vergangene Piratenabenteuer. Da gab es einen Zehn-Gallonen-Hut aus Das Abenteuer der Piraten mit den Cowboys oder ein Stück alten Tentakels aus Die Begegnung mit der schrecklichen Riesenkrake. Außerdem klebten überall gelbe Post-it-Zettelchen, die den Kapitän daran erinnern sollten, gelegentlich Dinge wie »Hisst das Großsegel!« oder »Hart am Wind, Männer!« zu sagen. An der Wand hingen einige großartige Gemälde, auf denen der Kapitän selbst zu sehen war. Eines zeigte ihn mit gequälter Miene, einen toten Schwan an sich gedrückt – dieses Gemälde trug den Titel WARUM? Auf einem weiteren posierte er liegend und bis auf ein kleines Stofftuch um die Lenden völlig entblößt. Und ein drittes zeigte den Piratenkapitän, wie er sich ein futuristisch aussehendes Getränk mit einer Lady teilte, die aus Metall gemacht schien. Des Weiteren lagen eine Menge Karten und Tabellen herum, sogar ein Sternhöhenmesser war zu sehen. Der Piratenkapitän war sich zwar nicht hundert Prozent sicher, was man mit dem Sternhöhenmesser anstellen konnte oder ob es überhaupt ein Sternhöhenmesser war oder doch eher ein Sextant, aber es machte ihm in jedem Fall Spaß, damit herumzuspielen, wenn er sich langweilte. Und im Augenblick war die Langeweile ein Thema, das den Piratenkapitän schwer beschäftigte. »Wie wäre es mit einem Grog?«, fragte er höflich. Der Pirat mit Schal war nicht sonderlich durstig, sagte aber trotzdem Ja, denn einen Grog auszuschlagen konnte sich negativ auf die Reputation eines Piraten auswirken. »Schiffszwieback? Ich kann auch Kekse mit Vanillefüllung oder Vanillekipferl anbieten«, sagte der Piratenkapitän und hielt eine Blechdose auf, die mit der Abbildung eines Schiffs
verziert war. Der Pirat mit Schal nahm ein Vanillekipferl, denn er wusste, dass der Piratenkapitän selbst die doppellagigen Kekse mit Vanillefüllung bevorzugte. »Was hatte es mit dem ganzen Gezänk auf sich, Nummer zwei?«, fragte der Piratenkapitän, während er das Höhenmessgerät gedankenverloren um den Finger kreisen ließ. »Wie die Männer schon sagten – es war eigentlich bloß eine harmlose Diskussion, die ein wenig aus dem Ruder lief«, antwortete der Pirat mit Schal, der sich nicht sicher war, worauf der Kapitän hinauswollte, jedoch wie immer verblüfft war, wie er zugleich eine Konversation führen und mit einem Sternhöhenmesser komplexe Berechnungen anstellen konnte. Deshalb war der Piratenkapitän ja auch der Piratenkapitän. »Ich werde Ihnen sagen, was los ist«, sagte der Piratenkapitän. »Die Piraten langweilen sich! Ich habe einen Fehler gemacht. Wir ankern vor den… vor den… äh…« Der Piratenkapitän rieb sich an der Nase und schielte unauffällig auf eine der Karten. »Westindischen Inseln, Sir«, sagte der Pirat mit Schal diensteifrig. »Mmmm. Ich glaube, wir sind schon zu lange hier. Ich dachte, wir könnten nach unserem aufregenden Abenteuer mit diesen Cowboys eine kleine Ruhepause gut gebrauchen, aber wie es aussieht, sind wir Piraten nur glücklich, wenn wir plündern und rauben.« »Ich glaube, Sie haben Recht, Sir«, sagte der Pirat mit Schal. »Mir gefällt es hier durchaus, aber ständig habe ich Sand im Grog. Das kommt vom ewigen Rumhängen am Strand. Und diese einheimischen Frauen, die oben ohne herumlaufen… das ist einfach zu viel für mich.« »Genau. Es ist höchste Zeit für ein weiteres Piratenabenteuer!«
»Ich lasse es die anderen Piraten gleich wissen. Wohin segeln wir? Zur Totenkopf-Insel? Spanisch-Amerika?« »Gott bewahre! Ehe wir die Spanische Flotte∗ noch ein einziges Mal überfallen, rupfe ich mir jedes Barthaar einzeln aus«, sagte der Piratenkapitän, während er sich den ZehnGallonen-Hut aufsetzte, wie ein Cowboy die Augen zusammenkniff und sich im Spiegel betrachtete. »An was haben Sie denn gedacht?« »Es wird sich schon was finden, wie üblich. Sehen Sie zu, dass wir ausreichend Schinken an Bord haben. Das letzte Abenteuer konnte ich nicht richtig genießen, weil uns auf halber Strecke der Schinken ausging. Und wie lautet mein Motto? SCHINKEN IST SUPER!« »Ein gutes Motto, Sir.« Oben auf Deck waren die anderen Piraten mittlerweile mit ihrem Lied – das von einer wunderschönen Seejungfrau handelte, die ihren reichen, aber dämlichen Royal-NavyFreund für einen Piraten verlassen hatte, weil sie sich mit dem viel besser unterhalten konnte und er sie zum Lachen brachte – zu Ende und grölten nur noch. Ein weiterer beliebter Zeitvertreib unter Piraten. »Rah!« »Oooh-Arg!« »Aaaarrr!« Das hatte nicht viel zu bedeuten, aber so ließen sich auch ein paar Stunden rumkriegen. Sie alle verstummten, als sie den Piraten mit Schal von seinem Treffen mit dem Piratenkapitän zurückkehren sahen. Es hätte nicht viel gefehlt
∗
Francis Drake war der Erste, der 1571 die Spanische Flotte zum beliebten Angriffsziel auserkor. Eine Nachbildung seiner Galeone, der Golden Hind, ist heute an der London Bridge zu besichtigen.
und er wäre in der Blutlache ausgerutscht, die der Schiffsjunge beim vorigen Kampf zurückgelassen hatte. »Kann vielleicht mal jemand das Deck schrubben?«, sagte er ein wenig gereizt. Waren die Piraten sich selbst überlassen, so tendierten sie dazu, faul und träge zu werden. »Heute ist Dienstag! Putztag ist doch erst am Sonntag!« »Das weiß ich auch, aber jemand könnte ausrutschen und sich verletzen.« Der schüchterne Pirat zuckte mit den Achseln und machte sich auf, einen Schrubber zu suchen, während die restliche Besatzung erwartungsvoll nach oben blickte. Der Pirat mit Schal blickte hinaus aufs glitzernde Meer und dann hinüber zum tropischen Strand mit dem feinkörnigen Sand und dem Wald voller Kokospalmen dahinter. Dann traf sein Blick auf eine der hübschen einheimischen Frauen und sofort starrte er hinunter auf seine Piratenschuhe. »Hört zu, Piraten«, verkündete er. »Ich weiß, dass diese ewigen Strandwanderungen… und unsere endlosen Versuche herauszufinden, welche dieser exotischen Früchte nun die besten sind… und all diese verführerischen tropischen Mädchen… ich weiß, all das macht euch fertig.« Einige Piraten murmelten etwas vor sich hin, aber der Pirat mit Schal konnte nicht verstehen, was sie sagten. »Aus diesem Grund«, fuhr er fort, »werdet ihr froh sein zu hören, dass der Piratenkapitän Order gegeben hat, in See zu stechen, sobald wir ausreichend Schinken an Bord geschafft haben.« Eine Woge der Begeisterung schwappte über das Deck. »Sollen wir den Schinken nicht besser erst räuchern, bevor wir in See stechen?«, fragte der Pirat in Grün. »Das hört sich nach einer guten Idee an«, sagte der AlbinoPirat.
»Wäre am Spieß braten nicht das Beste?«, fragte der Pirat mit der Nuss-Allergie. Der Pirat mit Schal seufzte, denn er wusste, wie ernst es die Piraten mit dem Schinken nahmen, und er ahnte schon, wie das enden würde. Er versuchte, unnachgiebig zu wirken, und spannte dafür all seine Nasenmuskeln an, bevor er mit größtmöglicher Autorität sagte: »Ja, am Spieß braten ist gut. Dadurch wird überflüssiges Wasser entzogen, was zum würzigen Geschmack beiträgt. Wir müssen jedoch aufpassen, dass wir den Schinken regelmäßig mit dem austretenden Fett beträufeln, dazu ein wenig Salz und etwas Wasser, sonst brennt der Schinken an und wird hart und geschmacklos.« »Am Spieß braten?∗ Seid ihr euch da sicher?«, fragte der mürrische Pirat in Rot, der seine Verachtung kaum verbergen konnte. »Wie wäre es mit kochen? Meiner Meinung nach ist gekochter Schinken am besten, was Geschmack und Duft angeht. Außerdem ist er schnittfest und bekömmlich.« »Aber wenn du nicht aufpasst und den Schinken zu lange kochst, läufst du Gefahr, dass er zäh wird und nicht mehr saftig ist«, sagte der Pirat in Grün. »Durch das Braten verliert der Schinken mehr als zweiundzwanzig Prozent seines Gewichts! Beim Kochen sind es nur sechzehn Prozent! Das heißt: Mehr Schinken für uns! Das kann doch nur in unserem Sinne sein.« »Wenn wir ihn kochen wollen, müssen wir den Schinken mit Brotkrümeln bestreuen. Und wir sollten den Beinknochen mit einer Verzierung aus weißem Papier schmücken.« »Einer Verzierung aus weißem Papier? Was bist du denn für ein Pirat? Pah!« ∗
Seinerzeit bedeutete Räuchern so viel wie am Spieß braten. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war es nicht unüblich, den Spieß von einem kleinen Hund drehen zu lassen, der an eine Tretmühle gekettet war, damit der Koch sich der Vorbereitung anderer Speisen widmen konnte.
Und schon brach unter den Piraten wieder ein Kampf aus, der so lange währte, bis einer von ihnen den Piratenkapitän bemerkte, der aus seiner Kabine gekommen war und jetzt am Mast lehnte, wo er mit seinen Fingern gegen ein Fass trommelte. Urplötzlich herrschte Stille. »Das reicht, Männer!«, brüllte er. »Lasst uns Kurs nehmen auf…«, und der Piratenkapitän legte hier eine kurze Kunstpause ein, um die Dramatik seiner Ansprache noch zu steigern, »… ein neues Abenteuer!« Die Besatzung schaute ihn mit ausdruckslosen Gesichtern an. Der Piratenkapitän stieß einen Seufzer aus. »Na gut«, sagte er schmollend. »Auf nach Süden!«
ZWEI Unter schwarzer Flagge!
»Das war vielleicht ein Orkan!«, sagte der Pirat, der leicht zu Übertreibungen neigte, als er das Seewasser aus seinen Piratenstiefeln und über die Reling leerte. »So einen habe ich noch nie erlebt! Ich dachte, gleich bricht der Mast! Sicher ist ein halbes Dutzend Männer über Bord gegangen und in die Tiefe gerissen worden.«∗ »Das war kein Orkan. Das war ja nicht einmal ein Unwetter«, sagte der Pirat in Rot. »Dann meinetwegen ein Sturm. Mann, war das vielleicht ein Sturm!« »Pfff«, sagte der Pirat in Rot. Er war sauer, denn schon wieder war ein ganzer Tag vergangen, ohne dass sie einen Schritt weiter gekommen waren auf ihrem Weg zu neuen Abenteuern. »Nach meiner Beaufortskala«, sagte der Albino-Pirat und wedelte mit einer amtlich aussehenden Tabelle vor den Nasen der Crew herum, »ist ein Orkan ein Sturm der Stärke 12, dem, ich zitiere, ›kein Segel standhalten kann‹. Wie ihr seht, sind unsere Segel noch intakt, also kann es ja wohl kein ∗
Die Karibik und der Golf von Mexiko wurden und werden immer wieder von verheerenden Hurricanes heimgesucht. 1712 berichtete Gouverneur Hamilton von einem Sturm, der im Hafen von Port Royal achtunddreißig und in Kingston neun Schiffe zerstörte.
Orkan gewesen sein. Ich würde sagen, es war so zwischen Windstärke 5, ›einer Frischen Brise, die einem Piraten den Hut vom Kopf weht und seinen üppigen Bart durcheinander wirbelt‹, und Windstärke 8, ›einem Stürmischen Wind, der eine Piratenhose so stark aufbauscht, dass es aussieht, als hätte er fette Beine‹«. »Bist du dir sicher, dass es sich hierbei wirklich um eine Beaufortskala handelt?«, fragte der Pirat mit Schal. »Natürlich bin ich das«, zischte der Albino-Pirat. »Der Piratenkapitän hat sie mir höchstpersönlich aufgeschrieben.« Die Piraten waren nach dem Kampf gegen den nächtlichen Wahnsinnsorkan oder den Stürmischen Wind oder die Frische Brise zu erschöpft, um sich weiter anzubrüllen, geschweige denn, um ein Piratenlied anzustimmen. Sie lümmelten auf dem Deck herum und schauten hinauf zu den letzten paar Möwen, die weitab vom Festland durch den jetzt wolkenlosen blauen Himmel kreisten. Erst als der Geruch frischen Schinkens von der Schiffsküche nach oben zog, regten sich die Piraten wieder und eilten hinunter in den Speiseraum. Der Piratenkapitän saß bereits am Tisch und wetzte ungeduldig Messer und Gabel. Es stand außer Frage – niemand an Bord liebte Schinken mehr als der Piratenkapitän. Es wurde aufgetischt. Die Schinken waren am Spieß gebraten, was den Piraten, der sich dafür eingesetzt hatte, sie zu kochen, zwar ärgerte, doch angesichts seines Hungers sah er davon ab, sich zu beschweren. Außerdem musste er zugeben, dass sie köstlich schmeckten. Wie es sich nach einer harten Piratennacht gehörte, stürzten sich die Piraten genüsslich auf das Essen und den Grog. »Also ehrlich, Piraten! Habt ihr völlig vergessen, dass ihr mit Zähnen ausgestattet seid? Kein Wunder, dass ihr ständig
über Bauchschmerzen jammert, wenn ihr das Kauen vergesst«, ermahnte sie der Piratenkapitän. »Ich dachte, kalte Füße verursachen Bauchschmerzen«, sagte der Pirat mit dem eisernen Haken. »Und dagegen sollen heiße Wadenwickel am besten helfen.« »Du meinst Kopfschmerzen, du Vollidiot!«, sagte der Pirat in Grün. »Unsinn. Kopfschmerzen kommen in erster Linie vom Lesen bei Kerzenschein, wenn die Kerze falsch positioniert ist. Sie sollte immer hinter dir platziert sein, damit der Schein direkt über deine Schulter auf das Buch fällt.« Beinahe wäre erneut ein Kampf ausgebrochen, doch der Piratenkapitän erhob gebieterisch die Hand und begann zu sprechen. »Heute Morgen erhielt ich einen Brief«, sagte er, »von unserem alten Feind, Black Bellamy.« Die Piraten fluchten. Black Bellamy war ihr schlitzohriger Rivale, dem sie bei Piratenabenteuer des vergrabenen Schatzes und Piratenabenteuer mit der Prinzessin von Cadiz begegnet waren. »Black Bellamy hat uns zu einem Fest auf seinen Schoner Barbary Hen eingeladen, der nur wenige Seemeilen von uns entfernt segelt.« »Es ist Black Bellamy, Kapitän! Sie können ihm doch unmöglich trauen!«, sagte der Albino-Pirat. Die anderen Piraten nickten zustimmend. »Vielleicht hat er sich ja geändert«, sagte der Piratenkapitän. »In seinem Brief schreibt er, er hätte sich geändert. Er wolle dieses Fest als Wiedergutmachung für all die Ungemach verstanden wissen, die er und seine niederträchtige Besatzung uns in der Vergangenheit zugefügt haben.«
»Na dann. Gegen eine solche edle Absicht gibt es ja wohl nichts einzuwenden«, sagte der Pirat in Grün. »Ja, das ist wirklich nett von ihm«, sagte der Albino-Pirat, der sich prompt ein wenig schuldig fühlte, so harsch gegen Black Bellamy gewettert zu haben. »Außerdem ist es sicher interessant zu sehen, wie sie auf der Barbary Hen ihren Schinken zubereiten«, sagte der Pirat in Rot. »Einverstanden, wir akzeptieren die Einladung und nehmen sofort Kurs auf die Black Bellamy!«, sagte der Piratenkapitän und entfernte ein Stück Schinken aus seinem makellosen Bart. Das mondbeschienene Wasser war klar und ruhig, als das Piratenschiff neben der Barbary Hen vor Anker ging. Die Piratencrew zwängte sich in ein Beiboot – »Los geht’s!«, rief der vorlaute Pirat, der am liebsten vorne neben dem Kapitän saß und paddelte hinüber zum anderen Schiff, wo eine Strickleiter hinabgelassen wurde. Etwa vierzig Schweinsköpfe wurden auf dem dunklen Deck herumgetragen, was ganz anscheinend Black Bellamys Art war, seine Gäste zu beeindrucken. Black Bellamy nahm den Piraten höflich die Mäntel und Entermesser ab. Dies war der endgültige Beweis dafür, dass Black Bellamy sich tatsächlich geändert hatte, denn er war einst berühmt und berüchtigt für seine schlechten Manieren gewesen. Nichtsdestotrotz war er noch immer eine Furcht einflößende Erscheinung; sein Bart wucherte ihm bis* knapp unter die Augen, zwei Pistolen steckten in einer seidenen Schlinge und er hatte ein großes Messer zwischen die Zähne geklemmt. »Harro. Rirrkommen an Hord der Harrarry Hen«, sagte Black Bellamy. »Was hat er gesagt?«, flüsterte der Pirat in Grün.
»Ich glaube, er sagte: ›Willkommen an Bord der Barbary Hen‹. Mit dem Messer zwischen den Zähnen kann man ihn etwas schwer verstehen«, sagte der Pirat mit Schal. Black Bellamy stieß ein paar unverständliche Begrüßungsworte hervor und führte die Piraten anschließend in den Festsaal. Ihr alter Rivale hatte wirklich alle Register gezogen – es gab Kalbsbraten mit zerlassener Butter, Rinderfilets mit Zitronenscheiben, eine delikate Fleischbrühe, Backkartoffeln, geschmorte Pilze… einige der Piraten mussten ihren Hemdkragen benutzen, um sich den Sabber von den Mündern zu wischen. Es spielte keine Rolle, dass sie an diesem Tag schon ein üppiges Mahl zu sich genommen hatten, denn viele ihrer Abenteuer bestanden aus fast nichts anderem als ausschweifenden Essgelagen. Wegen der alten Zwistigkeiten war die Stimmung zwischen den beiden Mannschaften zunächst ein wenig feindselig und die Konversation lief etwas zäh an, aber mit dem zunehmenden Genuss von Piratengrog löste sich die Anspannung. Bald wurde wild gezecht und das ganze Schiff von Piratengeplauder erfüllt. »Tauchen. Habt ihr das schon mal ausprobiert? Absolut fantastisch! Wir sind sogar zum Wrack eines echten Piratenschiffs hinabgetaucht!« »Mein Kumpel hier ist der Ansicht, man solle Schinken kochen, aber er ist ein Idiot.« »… ‘s war der unverwechselbare Geruch von menschlichem Fleisch…« »… ich schwöre euch – er hatte ein Holzbein!«
Sowohl Black Bellamy als auch der Piratenkapitän waren erfreut darüber, wie gut es lief.
»Warum begeben wir uns nicht auf ein kleines Kartenspiel in meinen Salon?∗ Hmmm?«, sagte Black Bellamy zum Piratenkapitän. Der Piratenkapitän hätte sich ebenso gut den Rest des Abends weiter dem Hammelbraten widmen können, doch sein Gastgeber hatte sich als so großzügig erwiesen, dass er unmöglich ablehnen konnte. Die Piraten wurden richtiggehend neidisch, als sie sahen, wie elegant der Salon eingerichtet war. Besonders als Black Bellamy die obere Hälfte eines riesigen Globus aus Mahagoni aufklappte und darin eine kleine Auswahl an Getränken zum Vorschein kam. Der Globus des Piratenkapitäns dagegen war lediglich aus Blech und hatte höchstens den Umfang eines Fußballs. Er war sich nicht einmal sicher, ob darauf Afrika überhaupt eingezeichnet war; insofern war es kaum vermeidbar, dass sich ein gewisses Neidgefühl einstellte. Black Bellamy goss ein paar Gläser Rum aus einer Kristallkaraffe ein und schlug eine Partie Cincinatti-High-Low-Poker vor. »Das ist doch ein Glücksspiel«, sagte der Piratenkapitän, der den Ausdruck irgendwo aufgeschnappt hatte. »Nun, was würden Sie empfehlen?«, fragte Black Bellamy freundlich. »Crossfire-Poker? Den Seven-Card-Flip-Poker? Oder den mexikanischen Seven-Card-Stud-Poker?« Der gibt doch bloß an, dachte sich der Piratenkapitän, aber er selbst war auch nicht so ganz auf der Höhe, was Kartenspiele betraf.
∗
In seinem Buch Die Allgemeine Geschichte der Piraten berichtet Kapitän Charles Johnsons davon, dass auf den meisten Piratenschiffen strenge Regeln herrschten, an die sich die Mannschaft zu halten hatte. Artikel 2 besagte: »Niemand darf um Geld spielen, weder mit Karten noch mit Würfeln.« Insofern zeigt sich Black Bellamy hier von seiner wirklich gesetzlosen Seite.
»Wie wäre es mit Cat’s Cradle? Oder Around The World? Oder Walking the Dog?«, sagte der Piratenkapitän. »Das sind doch Yo-Yo-Tricks.« »Ha! Natürlich sind sie das. Na gut, dann eben das mit den Mexikanern.« Sie setzten sich an den Tisch. Schon bald hatte der Piratenkapitän einige Dublonen verloren, und wenig später hatte er den ganzen kostbaren Schiffsvorrat an Schinken verspielt. Das Problem war, dass Black Bellamy dank seines bis zu den Augen reichenden Barts ein perfektes Pokerface hatte. Langsam wurde seine Besatzung unruhig, doch dann kam dem Piratenkapitän eine großartige Idee. Wieder einmal hatte er ein katastrophales Blatt, doch anstatt verärgert mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und unglücklich dreinzuschauen, grinste er über beide Backen und flüsterte für alle hörbar dem Piraten mit dem Schal zu: »Mit diesem Superblatt bin ich unschlagbar.« Black Bellamy hörte das und stieg aus. Der Piratenkapitän stopfte sich zufrieden die Dublonen in die Tasche. Als Black Bellamy seine Karten sah, schnappte er nach Luft. »Aber… Sie hatten doch ein katastrophales Blatt! Absoluten Müll!« »Ja. Aber ich dachte, wenn ich so aussähe, als wäre ich zufrieden, dann würden Sie denken, ich hätte ein Full House oder so was!« »Sie sind ja verflixt clever!«, brüllte Black Bellamy. »Aber hören Sie zu, ich will Ihnen was vorschlagen. Wenn Sie mir die Dublonen zurückgeben, die ich gerade verloren habe, verrate ich Ihnen dafür, wo Sie zehnmal so viel Beute machen können.« Der Piratenkapitän dachte einige Sekunden lang über das Angebot nach. Mathematik war nicht gerade seine Stärke – das war ja bekanntlich die Piraterie –, aber man musste nicht
Archimedes sein, um zu begreifen, dass zehnmal so viel Dublonen, wie er gerade gewonnen hatte, eine ordentliche Menge Geld war. »In Ordnung, Black Bellamy«, sagte der Piratenkapitän und holte die Goldstücke wieder aus seinen Taschen. »Wo können wir diesen Schatz finden?« »Ich muss ihn euch auf meinen Schiffskarten zeigen«, seufzte Black Bellamy, wobei er ein trauriges Gesicht machte. »Ich und meine Männer hatten eigentlich vor, in die Südsee zu segeln, in die Nähe der Galapagosinseln, wo ein Schiff von der… äh… der Bank von England just in diesem Augenblick mindestens… äh… hundert Goldbarren von den Kolonien zurück nach Hause transportiert. Ich hatte mich schon so darauf gefreut, aber ich fürchte, ich muss Ihnen den Vortritt bei diesem Überfall lassen.« »Sind Sie sich da auch ganz sicher?«, sagte der Piratenkapitän, der dabei seine Augen zusammenkniff. »Das sind immerhin achthundert Seemeilen von hier. Das ist eine ganz schöne Strecke.« »Ich schwöre beim Ehrenkodex der Piraten.« »Kennen Sie den Namen des Schiffs?« »Es heißt Beagle. Und es ist randvoll mit Gold beladen, bei meiner Ehre. Kann ich jetzt diese Dublonen zurückhaben?«
Als die Piraten zu ihrem Schiff zurückruderten, drang lautes Gelächter von Bord der Barbary Hen zu ihnen herüber. Es war klug, dachte der Piratenkapitän, dass sie ihre Gastgeber in solch guter Laune zurückließen, immerhin hatte er das bessere Geschäft gemacht als Black Bellamy. Und diesmal war er sich wirklich sicher, dass sie Kurs auf ein neues Abenteuer nahmen.
Auch wenn er sich verkniff, das lauthals vor seinen Leuten zu verkünden.
DREI Pirateninseln und böse Männer!
»Also, da sind diese beiden Piratenschiffe, die aufeinander zusegeln«, sagte der kleine Pirat mit der dicken schwarzen Hornbrille. »Das eine Schiff transportiert blaue Farbe und das andere gelbe. Die beiden Schiffe stoßen zusammen, und wisst ihr, was passiert?« »Was?« »Sie ärgern sich grün! Ha-ha! Versteht ihr?« Um die unvermeidliche Langeweile zwischen den Festgelagen zu überbrücken, erzählten sich die Piraten mit Vorliebe Witze, denn ansonsten gab es an Bord eines Piratenschiffs nicht viel zu tun. Sie befanden sich jetzt schon seit einigen Tagen auf See und suchten bisher erfolglos nach der Beagle. Als ihr Schiff die tropischen Gewässer der Galapagosinseln erreicht hatte, hielten sich die Piraten zunächst damit bei Laune, einige riesige Schildkröten einzufangen und mit ihnen an Deck Schildkrötenrennen zu veranstalteten.∗ Zwei Piraten fanden auf einem Schildkrötenrücken Platz. Aus alten Tauen und Segelstricken bauten sie sich einen Hindernisparcours, aber die Schildkröten erwiesen sich weit weniger ∗
Heutzutage kommt es häufig vor, dass Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln von unachtsamen Touristen weggeworfene Plastiktüten fressen, weil sie sie mit schmackhaften Quallen verwechseln.
widerstandsfähig als erhofft. Einige der Piraten kamen dann auf die großartige Idee, durch das Aufeinanderstapeln glibbriger Quallen, die um das Boot herumkreisten, eine Hüpfburg zu errichten. So waren sie wieder ein paar Stunden beschäftigt, aber letztlich wollte auch das nicht wirklich klappen und sie gaben auf. Außerdem stellten sie fest, dass der Quallenglibber hässliche Flecken auf ihren Piratenstiefeln machte.
Der Pirat in Grün ging nach unten, um sich ein Glas Wasser zu holen, denn er war aufgeregt und sein Hals war trocken. Neben dem Wasserbecken hing eine in der wohlvertrauten krakeligen Handschrift des Piratenkapitäns verfasste Notiz. Darauf stand: Wer auch immer laufend meinen Kaffeebecher benutzt, möge das unverzüglich UNTERLASSEN. Es ist ein echtes Ärgernis. Zeigt ein wenig Respekt für anderer Leute Eigentum. Der Piratenkapitän Das Leben auf hoher See war hart und mühsam, da konnte es an Bord eines Piratenschiffs schnell zu Spannungen kommen, zumal die Menge an Geschirr begrenzt war und mancher das Abspülen vergaß. In der Regel kamen die Piraten aber ganz gut miteinander aus. Der Pirat in Grün kippte das Wasser aus der Leitung hinunter – es schmeckte um einiges besser als das Meerwasser – und versuchte, sich Mut für die Aufgabe zu machen, die vor ihm lag. Er hatte sie seit Jahren vor sich her geschoben, aber jetzt schien ein günstiger Augenblick. An der Tür des Piratenkapitäns ertönte ein Klopfen, dann trat der Pirat in Grün ein.
»Tut mir Leid, wenn ich Sie störe, Kapitän«, sagte er. Der Piratenkapitän blickte auf. In Anbetracht des bevorstehenden Angriffs galt es, viele Vorbereitungen zu treffen, aber dennoch war es ihm stets wichtig, ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte seiner Männer zu haben. »Was kann ich für dich tun… äh… mein Freund?«, sagte der Piratenkapitän, dem es häufig schwer fiel, die Mitglieder seiner Mannschaft auseinander zu halten. »Grog? Schinken?« »Nein danke, Sir. Aber dürfte ich Sie vielleicht etwas fragen?« »Dafür bin ich doch hier. Stört es dich, wenn ich dabei eine Kleinigkeit zu mir nehme?«, sagte der Piratenkapitän und deutete auf einige Scheiben Schinken. »Also, was gibt es?« »Na ja, ich dachte daran, mir ein Tattoo zuzulegen.« »Die sollen ja im Moment ziemlich in Mode sein.« »Das stimmt, Kapitän.« »Aber dir ist schon klar, dass sie nicht einfach so wieder abzuwaschen sind.« »Ja, Kapitän, das ist mir bewusst.« »Na dann.« »Ich dachte daran, mir für den Anfang einen Totenkopf und gekreuzte Knochen tätowieren zu lassen, so, wie die auf unserer Flagge, aber jetzt haben bereits viele der anderen Männer so ein Motiv. Und… da dachte ich…äh… wollte ich Sie fragen, ob Sie etwas dagegen hätten…« »Spuck’s aus, Mann. Immer raus mit der Sprache!« »… wenn ich stattdessen Ihr Gesicht als Motiv nähme? Ich dachte außerdem an eine kleine Sprechblase, in der IHR ELENDEN SÜSSWASSERMATROSEN! stehen könnte, weil Sie das oft sagen. Ich würde das hier auf meinen Arm tätowieren lassen, vorausgesetzt, dass Ihnen das recht wäre.« Er zeigte auf die Stelle an seinem Oberarm, die er sich ausgesucht hatte.
Für einen Augenblick war der Piratenkapitän sprachlos. Der Schinken an seiner Gabel verharrte mitten in der Luft. »Natürlich… ich… ähm… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, sagte er. »Alles in Ordnung, Kapitän?« »Ja… es ist bloß, ähm, dieser Schinken. Er ist extrem scharf, da schießen mir die Tränen in die Augen.« In all den Abenteuern, sogar in jenem, wo sie gegen die Zombie-Piraten kämpften, hatte den Piratenkapitän noch nie etwas so gerührt, wie diese Geste eines treuen Besatzungsmitglieds. Seine Lippen begannen zu zittern, und der Pirat in Grün war geradezu erleichtert, als just in diesem Moment der Pirat mit dem Akkordeon völlig außer Atem in die Kapitänskabine gestürzt kam. »Es tut mir Leid, so hereinzuplatzen, Kapitän, aber wir haben ein Schiff gesichtet, und wir glauben, es ist die Beagle, denn auf die Seitenwand des Schiffes ist ein drolliger Hund gemalt. Sollen sich die Männer klar zum Gefecht machen?« Im Nu hatte der Piratenkapitän seine Fassung wiedergefunden und brüllte seine Befehle. »Machen Sie zuerst die Kanonen einsatzbereit. Und erinnern Sie die Männer daran, sich diesmal nicht wieder dahinter aufzustellen«, schrie er. Der Piratenkapitän hatte seinen Männern zwar schon x-mal die Newton’sche Physiklehre und das Prinzip des Rückstoßes zu erklären versucht, aber es schien ihr Fassungsvermögen zu übersteigen. »Und ich will ordentliches Gebrüll hören, bis wir das feindliche Schiff in unsere Gewalt gebracht haben«, sagte er, schnappte sich das Teleskop und marschierte an Deck, wo sich bereits zahlreiche Piraten aufhielten. »Es ist bloß ein Zweimaster mit zehn Kanonen«, sagte der Pirat mit Schal, während er sich nachdenklich an einer bleifarbenen Narbe kratzte, die quer über seine Wange
verlief. Die meisten Menschen verunstaltet eine Narbe eher, aber im Fall des Piraten mit dem Schal passte sie perfekt zu dessen wildem und markantem Äußeren – so dachten zumindest die meisten der anderen Piraten. »Nur ein Zweimaster mit zehn Kanonen? Wirklich?«, sagte der Piratenkapitän angesichts dieser Meldung mit finsterer Miene. »Ich hätte auch etwas Größeres erwartet. Schließlich soll es doch das ganze Gold für die Bank von England transportieren«, sagte sein zweiter Kommandant. »Wahrscheinlich wollen sie einfach nicht so sehr auffallen«, sagte der Piratenkapitän voller Zweifel. »Sind die Kanonen in Stellung?« »In gewisser Weise macht uns das zu Bankräubern, oder?« »Herrje! Sie waren sich doch wohl im Klaren darüber, dass Sie ein paar Gesetze übertreten würden, als Sie Pirat wurden. Glauben Sie denn, der Elfenbeinschmuggel letzte Woche war völlig legal? Oder unsere ganzen Walfangfahrten, wo wir schon dabei sind.« »Kanonen in Stellung, Kapitän.« Das Piratengeplapper erstarb. Plötzlich kehrte eine unheimliche Stille ein, während die Besatzung voller Spannung auf den Angriffsbefehl ihres Kapitäns wartete. »Und jetzt schießt eine Kanonenkugel auf dieses Boot da!«, brüllte der Piratenkapitän.
VIER Das Böse lauert in der Tiefe
»Zum Donnerwetter!«, sagte Robert FitzRoy, Kapitän des Schiffs, das in Kürze von den Piraten überfallen werden sollte. »Ich sagte dir doch, Frauen und die See passen einfach nicht zusammen.« Für einen Schiffskapitän war FitzRoy erstaunlich jung, er zählte gerade einmal siebenundzwanzig Jahre. Der Mann, mit dem er Rücken an Rücken stand, war sogar noch ganze fünf Jahre jünger. Dennoch legte keiner von beiden dieses unreife Benehmen an den Tag, wie es so typisch für Leute unter dreißig ist. »Ich kann nicht anders, Robert«, sagte sein Kamerad, Charles Darwin, und barg seinen großen, runden Kopf in seinen Händen. »Ich liebe sie und ich will sie heiraten!« »Aber ich liebe sie auch!«, sagte FitzRoy. »Sie macht mich verrückt! Du wusstest es von Anbeginn.« »Diese verdammten Weibsbilder, mit… mit ihren Haaren… und ihren Gesichtern…«, stammelte Darwin. »Ich verlange Satisfaktion«, sagte Kapitän FitzRoy. »Du lässt mir keine andere Wahl.« Die Kabine war ein wenig eng für ein Duell. Keiner der Männer konnte sich aufrichten, ohne sich dabei den Kopf zu stoßen. Aber auf hoher See konnte man nicht wählerisch sein.
»Drei Jahre gemeinsam auf Reisen… und ausgerechnet jetzt muss es so weit kommen«, sagte Darwin, der auf wackligen Beinen Schießpulver in seine Pistole streute. »Möge der Bessere gewinnen.« »Du bist Botaniker.∗ Ich dagegen bin ausgebildeter Marineoffizier. Ich fürchte, du wirst wenig Chancen haben«, sagte FitzRoy. Darwin zuckte zusammen, als mit einem lauten Knall die Tür aufflog. Atemlos kam der Grund der Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern ins Zimmer gestürmt – die liebreizende Lady Mara. »Bitte hört auf«, ertönte es aus ihrem liebreizenden Mund. »Draußen…« Doch bevor Lady Mara etwas Weiteres sagen konnte, kam eine Kanonenkugel mit beachtlicher Geschwindigkeit durch die Kabinenwand geschossen und traf die Seite ihres hübschen Kopfes. Lady Mara wurde von den Beinen gefegt und blieb ziemlich tot am Boden liegen. Darwin und FitzRoy waren sichtlich überrascht. »Nun, ich…« »Sollen wir…?« Darwin zeigte auf seine Pistole. »Macht jetzt wenig Sinn, oder?« »Was war ich doch für ein Narr!«, sagte Darwin und musste lachen. »Mich trifft nicht weniger Schuld«, sagte FitzRoy grinsend, steckte seine Pistole weg und klopfte seinem Freund auf den Rücken. Sie hätten sich wahrscheinlich auf der Stelle umarmt, wenn sie nicht eine Kanonenkugel und kurz darauf ein schreiender Pirat unterbrochen hätten, die durch das ∗
Darwin diente als unbezahlter Naturforscher an Bord der HMS Beagle. Die Beagle war selbst für die damalige Zeit ein unspektakuläres Schiff – nur neunzig Fuß lang und für seine Seeuntüchtigkeit bekannt. In seinen Aufzeichnungen beschrieb Darwin die Fahrt als »eine einzige Kotzerei«.
Fenster geflogen kamen. Die beiden Männer standen wie angewurzelt da. »Nicht bewegen«, flüsterte FitzRoy seinem Kumpanen zu. »Denk daran – er hat mehr Angst vor uns als wir vor ihm.« »Das gilt für Bären, du Schwachkopf«, zischte Darwin leise aus dem Mundwinkel. »Ich glaube nicht, dass sich das auf Piraten übertragen lässt.« Im Türrahmen erschien ein zweiter Pirat mit einem prächtigen Bart, riesigen Zähnen und wilden Locken. Er hatte ein hübsches, freundliches Gesicht. »Ich bin der Piratenkapitän. Und ich bin hier wegen des Goldes!«, sagte er. Alle erstarrten. Für einen Moment hörte man nur das leise Tosen des Meeres und das laute Keuchen des Piraten mit Asthma. »Ähm, tja, bedient euch ruhig«, sagte FitzRoy schließlich ein wenig ungläubig. Darwin war zu verängstigt, um etwas von sich zu geben. »So viel gibt’s nicht zu holen«, fuhr der junge Kapitän fort. »Einige der Bullaugen könnten aus Gold sein, es könnte sich aber auch um Messing handeln. Schwer zu sagen, die Farbe ist so ähnlich.« »Pah!«, brüllte der Piratenkapitän. »Ich weiß, ihr habt mindestens hundert Goldbarren an Bord.« »Tatsächlich?«, sagte FitzRoy, sichtlich überrascht. »Ich hab noch keinen davon zu Gesicht bekommen.« »Vielleicht ist ja der Teil, der unter Wasser liegt, aus Gold«, mischte sich Darwin ein, der seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wer weiß, er könnte aus allem möglichem bestehen. Man sieht ihn ja nie.« Die eisige Klinge des Piratenkapitäns an seinem Hals schnitt ihm das Wort ab.
»Durchsucht das Schiff, Männer, und bringt Gold mit«, sagte der Piratenkapitän, wobei er seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzog. Die Piraten waren zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere ein eingespieltes Team und hatten das gesamte Schiff innerhalb weniger Minuten in ihre Gewalt gebracht. Das einzige Opfer auf Seiten der Piraten war der Pirat in Rot, der sich seinen Knöchel verstaucht hatte. Er hatte den alten Trick versucht, bei dem man die Vorderseite des Hauptsegels herunterrutscht und es dabei mit seinem Säbel aufschlitzt, was so weit auch wunderbar funktionierte. Dummerweise hatte der Pirat in Rot aber nicht einberechnet, dass es vom Ende des Segeltuchs bis zum Schiffsdeck noch einmal knappe 10 Meter waren. »Autsch! Mein Knöchel!«, jammerte er, aber keiner seiner Kameraden zeigte allzu viel Mitleid angesichts solch dämlicher Angeberei. Ein Teil der Gruppe machte sich auf den Weg in den Laderaum, doch statt des erwarteten dumpfen Klirrens, das man gemeinhin mit Gold verbindet, bekamen sie nur das Geschnatter irgendwelcher Kreaturen zu hören. Einer der Piraten zog an einer Plane und zum Vorschein kamen reihenweise Käfige, in denen sich je eine Affenart befand.
»Das Gold muss in den Affen stecken!«, rief ein Pirat, woraufhin einige andere ihre flackernden Lampen abstellten, sich Affen verschiedenen Typs schnappten und sie von oben bis unten aufschlitzten. Doch alles, was zum Vorschein kam, waren Affeneingeweide. »Gold!«, sagte der Pirat mit dem Akkordeon, der etwas Gelbes in Händen hielt. »Das ist kein Gold, das ist eine Niere«, sagte der Pirat mit dem eisernen Haken.
Völlig besudelt und niedergeschlagen kehrte die Piratencrew in FitzRoys Kabine zurück. »Stückchen vom Affen gefällig! Frische Stückchen vom Affen!«, plärrte Gary, der Schiffspapagei. »Kann dem vielleicht jemand mal das Maul stopfen?«, sagte der Pirat in Grün mit finsterer Miene.
»Es gibt keinen Schatz an Bord, Kapitän. Bloß eine Menge dummer Viecher«, sagte der Pirat mit Schal. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe«, sagte FitzRoy. Der Piratenkapitän setzte sich und rieb seine müden Augen. Es war ein langer Tag gewesen, jedenfalls kam es ihm plötzlich so vor. »Aber Black Bellamy… er behauptete, ihr transportiert Gold für die Bank von England.« »Die Bank von England?«, sagte FitzRoy ungläubig und hielt sich am Tisch fest, denn die Beagle hatte bedenklich Schlagseite bekommen. »Ich glaube, ich habe von einem solchen Boot gehört, aber es segelt in der Gegend um die Westindischen Inseln, soviel ich weiß.« »Westindische Inseln? Von dort kommen wir doch gerade.« »Dieser Black Bellamy!«, sagte der Pirat mit dem eisernen Haken. »Er wollte uns bloß aus dem Weg haben, damit er es selbst überfallen kann! Er hat sich kein bisschen verändert! Wir sind reingelegt worden!« Die Piraten waren alle zutiefst enttäuscht über Black Bellamys Verhalten. »Tja dann, ähm, was treiben Sie denn so in diesen Gefilden?«, sagte der Piratenkapitän zu Darwin. Das Ganze war ihm sichtlich peinlich und er versuchte, dies mit etwas leichter Konversation zu überspielen.
»Wir befinden uns auf einer wissenschaftlichen Expedition.« »Sie suchen Tiere?« »Ich habe eine Theorie«, sagte Darwin und machte dabei ein betont ernstes Gesicht. »Sie ist jedoch ziemlich umstritten. Wir sind hier, um Beweise dafür zu finden.« »Was ist das für eine Theorie? Und vielleicht könnten Sie es in einer für meine Piraten verständlichen Sprache erklären.« »Es lässt sich nicht so leicht beschreiben. Jedenfalls wird dadurch unsere bisherige Sichtweise der Welt völlig auf den Kopf gestellt. Die Dinge werden nie mehr so sein, wie sie einmal waren«, sagte Darwin mit gespenstischer Stimme. »Erzählen Sie weiter«, sagte der Piratenkapitän, dessen Neugier jetzt geweckt war. Darwin legte eine spannungssteigernde Kunstpause ein. »Um es kurz zu machen: Ich bin der Überzeugung, einen Affen mit entsprechendem Training, der richtigen Ernährung und in passender Kleidung so weit zu kriegen, dass er sich nicht wesentlich von einem menschlichen Gentleman unterscheidet. Ich bin überzeugt, er würde aufhören, ein Affe zu sein und zunehmend zu einem… einem Affenmenschen werden, wenn man so will.« Es herrschte gespanntes Schweigen. Einer der Piraten pfiff durch die Zähne. »Äh… verstehe. Ein Affenmensch?«, sagte der Piratenkapitän. »Doch wegen meiner außergewöhnlichen Theorien habe ich mir einige mächtige Feinde gemacht, besonders den Bischof von Oxford«, sagte Darwin, und in seiner Stimme klang Verbitterung mit. »Findet er sie anstößig?« »Das kann man wohl sagen!« »Weil sie den Grundsätzen seines Glaubens widerspricht?«
»Oh nein! Damit hat es nichts zu tun, mein lieber Piratenkapitän. Der Bischof von Oxford wurde kürzlich größter Anteilseigner von P. T. Barnums weltberühmtem Zirkus der Freaks.« Darwin beugte sich mit einer verschwörerischen Miene vor. »Der Zirkus hat zuletzt einen Riesengewinn gemacht, weil ganz London von seinem neuesten Ausstellungsstück fasziniert ist… dem fantastischen Elefantenmenschen. Haben Sie schon von ihm gehört?« »Oh ja. Er trat auf, als wir das letzte Mal in England waren«, sagte der Piratenkapitän. »Er war eine echte Enttäuschung. Hatte nicht einmal einen richtigen Rüssel. Der Trick besteht darin, ihn nicht wie einen Gentleman zu behandeln, dann fängt er immer an zu flennen.« »Wie auch immer, der Bischof von Oxford befürchtet, mein Affenmensch könne seinem Elefantenmenschen die Show stehlen. Also hat er meine Theorien als Blasphemie verteufelt – er behauptete sogar, es gäbe eine Stelle in der Bibel, in der das Ankleiden eines Affen explizit als Sünde bezeichnet würde. Als man ihn nach der Seitenzahl befragte, erklärte er allerdings, er könne sich gerade nicht daran erinnern.« Darwin war dabei, sich in Rage zu reden. »Also nahm ich an dieser Expedition teil, um ein geeignetes Exemplar zu finden. Und jetzt habe ich aus England die Nachricht bekommen, mein Bruder Erasmus sei verschollen! Ich gehe davon aus, dass er vom Bischof von Oxford in erpresserischer Absicht gekidnappt wurde. Sollte meine Expedition erfolgreich verlaufen, wird ihn der Bischof wohl ordentlich in die Mangel nehmen, um mich so zu zwingen, meine Forschungen einzustellen.« »Heißt das, Sie hatten bereits erste Erfolge?«, fragte einer der Piraten. »Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Darwin und FitzRoy führten die Piraten in die benachbarte Kabine. Die Piraten schnappten verblüfft nach Luft, denn obwohl der Raum dunkel und eng war, konnten sie doch den einzigen Insassen ausmachen: In einem ledernen Sessel thronte ein Affe in einer so eleganten Sitzhaltung, wie die Piraten sie noch nie gesehen hatten. Er war in einen feinen Seidenanzug gekleidet, hatte eine Pfeife in seinem Mundwinkel und betrachtete die Piraten durch ein goldumrandetes Monokel. Außerdem schien er an einer Art Cocktail zu nippen – dem Piratenkapitän war so, als könne er Gin riechen. Ganz anscheinend war er erst vor kurzem rasiert worden, aber trotzdem handelte es sich erkennbar um einen Affen. Wenn man jedoch etwas schielte, wäre er auch als weiser alter Mann oder eine gigantische Walnuss durchgegangen. »Er kann zwar nicht sprechen«, sagte Darwin, während er ein paar Gaslampen anzündete, »aber er ist durchaus in der Lage, mittels des Einsatzes von Leselernkarten eine gepflegte Konversation zu führen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Kommunikationstechnik in Zukunft weiterentwickeln wird und er dann anstelle von Karten… keine Ahnung, vielleicht Kühlschrankmagnetbuchstaben benutzen wird, so was in der Art.« Der Affe strich sich seine Krawatte glatt und hielt rasch eine Folge von Karten hoch. »Hallo. Liebe. Piraten. Es. Freut. Mich. Sie. Kennen. Zu. Lernen. Mein. Name. Ist. Mister. Bobo«, buchstabierte er. »Ähm, ganz meinerseits«, sagte der Piratenkapitän, der sich in Wahrheit wie ein Vollidiot vorkam, weil er mit einem Affen redete, mochte dieser auch noch so vornehm gekleidet sein.∗ Er drehte sich zu Darwin um. »Das ist ja fantastisch!« ∗
98,6 Prozent Ihrer DNA stimmen mit denen eines gewöhnlichen Schimpansen überein. Und mehr als 99 Prozent mit denen eines Piraten!
»In der Tat. Mister Bobo ist mein bei weitem vielversprechendstes Versuchsobjekt. Was bin ich froh, dass ihn keine Kanonenkugel erwischt hat. Ich würde Ihnen gerne etwas demonstrieren.« Darwin wandte sich zu der eleganten kleinen Kreatur um. »Mister Bobo, würden Sie uns wohl erzählen, was einen echten Gentleman ausmacht?« Der Affe schien scharf nachzudenken, dann durchwühlte er den Stapel von Lesekarten. »Mäßigung. Anstand. Und. Eleganz. Zeichnen. Den. Wahren. Gentleman. Aus.; Er. Ist. Allzeit. Freundlich. Bescheiden. Und. Gelehrig. Intelligent. Und. Höflich.; Sein. Benehmen. Ist. Tadellos.; Wenn. Er. Das. Haus. Eines. Untergebenen. Betritt. Er. Bemüht. Sich. So. Gut. Es. Geht. Unterschiede. In. Der. Sozialen. Rangordnung. Zu. Verbergen.; Immer. Hilfsbereit. Ist. Er. In. Den. Häusern. Der. Reichen. Weder. Unfreundlich. Hochnäsig. Noch. Aufdringlich.; Sein. Scharfer. Verstand. Verpflichtet. Ihn. Zur. Etikette. Ohne. Der. Selbst Verherrlichung. Zu. Verfallen.; Seine. Klaren. Prinzipien. Bewahren. Ihn. Vor. Den. Verlockungen. Des. Glücksspiels. Der. Trunkenheit. Und. Sonstiger. Laster. Die. Er. Später. Bereuen. Würde«, sagten Mister Bobos Karten. »Sehen Sie? Es ist noch nicht alles perfekt, aber er macht sich schon ganz gut. Für einen Affen zumindest«, sagte Darwin. Leselernkarten waren nicht unbedingt das schnellste Kommunikationsmittel, und so war es kein Wunder, dass mittlerweile einige der Piratenmägen knurrten. Dazu kam, dass ihre Piratenstiefel nass wurden, denn die Beagle begann zu sinken. Angesichts dieser Tatsache hatten sie gehofft, der junge Wissenschaftler werde seinen Vortrag rasch beenden, doch Darwin war so stolz auf seine Entdeckung, dass er munter weitersprach.
»Zu Hause in England werde ich mich gleich daranmachen, einen besseren Schneider zu finden, einen, der in der Lage ist, seinen riesigen, unansehnlichen Hintern besser zu verbergen.« »Das ist aber auch wirklich ein Riesenarsch«, stimmte einer der Piraten zu. »Wie haben Sie es angestellt, ihn so gut zu trainieren?«, fragte der Piratenkapitän. »Vor allem durch Feuer«, sagte Darwin und deutete auf einige spitze Zangen, die an den Wänden hingen, woraufhin Mister Bobo einen verängstigten Gesichtsausdruck machte. »Doch jetzt ist alle Mühe vergebens. Wegen der furchtbaren Vergeltung, die Erasmus andernfalls erleiden müsste, werde ich niemals in der Lage sein, ihn der High Society zu präsentieren. Und selbst wenn es meine Absicht wäre, den heimtückischen Bischof von Oxford herauszufordern, hätte ich jetzt nicht einmal mehr ein Transportmittel, um nach England zurückzukehren. Ich bin verloren.« An diesem Punkt fing Darwin an, wie ein Baby zu plärren. Die Piraten blickten betreten zu Boden und traten von einem Fuß auf den anderen. Sie konnten nicht anders – sie fühlten sich ein wenig verantwortlich für die verzweifelte Lage des Wissenschaftlers; immerhin hatten sie sein Boot mit ihren Kanonenkugeln durchsiebt. Unter den Piraten brach eine hektische Diskussion aus. Schließlich wandte sich der Piratenkapitän an Darwin. »Ich bin nicht sonderlich scharf darauf, in einen eisernen Galgenkäfig gesteckt zu werden,∗ was man uns angedroht hat, im Falle, dass wir je wieder einen Fuß auf englischen ∗
In Britannien und seinen Kolonien in Übersee war es gängige Praxis, die Körper der berüchtigten Piraten am Hafeneingang als Warnung für alle Seemänner auszustellen. Einige Piraten wurden auf dem Execution Dock am Ufer der Themse in London gehängt.
Boden setzen. Aber wir können es nicht hinnehmen, wie Sie und der Affenmensch von diesem verbrecherischen Bischof gedemütigt werden. Sobald wir gegessen haben, werden wir Ihnen dabei helfen, Ihren Bruder zu retten und Mister Bobo bei der viktorianischen High Society bekannt zu machen.« Darwin war schon im Begriff, einen dicken Kuss auf das salzige Gesicht des Piratenkapitäns zu setzen, als er es sich im letzten Moment noch besser überlegte und ihm stattdessen lieber die Hand schüttelte. Alle jubelten, selbst Mister Bobo.
FÜNF Gefangen im Treibsand!
Die Piraten halfen Darwin, FitzRoy und der Besatzung der Beagle dabei, ihr Gepäck von Bord des langsam sinkenden Zweimasters zu schaffen. »Ich fürchte, Sie werden in Hängematten schlafen müssen«, sagte der Piratenkapitän. »Die sind eigentlich ganz komfortabel, allerdings können sie ein Kreuzmuster auf Ihrem Gesäß hinterlassen.« »Sind Sie sicher, dass Sie auch genug Platz für uns haben?«, fragte Darwin, der keine Umstände machen wollte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir schaffen schon Platz«, sagte der Piratenkapitän mit einem freudigen Zwinkern. »In Wahrheit warte ich schon seit Jahren auf eine Gelegenheit, einige meiner Piraten über die Planke laufen zu lassen, es bot sich bisher bloß noch nie die Gelegenheit.« »Über die Planke laufen lassen?∗ Das ist barbarisch!«, platzte Darwin heraus, bevor er sich bewusst machte, dass bei den Piraten andere Sitten herrschten als bei der übrigen ∗
Plankenlaufen als Strafe war bei weitem nicht so verbreitet, wie es das Fernsehen und Kinofilme uns heute weismachen wollen. In einem Artikel aus der Times vom 23. Juli 1829 ist jedoch von holländischen Seemännern die Rede, die von Piraten aus Buenos Aires dazu gezwungen wurden, über die Planke ins Meer zu laufen.
Menschheit. »Tut mir Leid, es ist bloß… es gibt wirklich keinen Grund, solche Umstände zu machen. Wir schlafen auch im Stehen, wenn es sein muss, wie Flamingos.« Der Piratenkapitän ließ keine Einwände gelten. »Ganz ehrlich, es ist sowieso längst an der Zeit. Wenn uns in letzter Zeit ein Pirat genervt hat, dann haben wir ihm höchstens mal eine Augenbraue abrasiert oder ihm im Schlaf einen kleinen Schnurrbart aufgemalt, aber das kann kein richtiger Ersatz fürs Plankenlaufen sein.« Er wühlte in einer großen Holzkiste, die ein Besatzungsmitglied aus dem Laderaum geholt hatte. »Mensch, die hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen!«, sagte der Kapitän und zog eine knallbunte, alte Piratenhose aus der Kiste. »Was wollte ich doch gleich?! Ah, hier ist es ja.« Er blies den Staub von einem großen Stück Holzplanke. Als er die besorgten Gesichter von Darwin und FitzRoy erblickte, warf er ihnen ein vertrauenerweckendes Lächeln zu. »Glauben Sie mir«, sagte er. »Es ist ja nicht so, dass ich jeden nächstbesten Piraten darüber laufen ließe – bloß die Narren und Nichtsnutze. Es ist nur zum Besten unserer Spezies.«
Sobald sich das Piratenschiff in Gewässern befand, in denen sich Haie tummelten, gab der Piratenkapitän mit einem bedrohlichen Funkeln in den Augen den Befehl, Anker zu werfen. Kaum hatten die Piraten mitbekommen, dass eine Runde Plankenlaufen angesagt war, herrschte an Bord eine Stimmung wie beim Volksfest. Darwin und FitzRoy blickten sich entgeistert an, als der Piratenkapitän den ersten Namen ausrief.
Der schlechtfrisierte Pirat namens Marcus war der Erste, der an der Reihe war. Er bettelte und flehte um Gnade und schluchzte wie ein kleines Mädchen, aber ein paar Piekser mit dem Entermesser von einigen der anderen Piraten brachten ihn rasch an das Ende der schmalen Holzplanke. Dort blieb er stehen und begann von Neuem zu jaulen, bis der Pirat mit Schal hinter ihn kroch und ihn kurzerhand ins Meer schubste. Die verbliebenen Piraten versammelten sich rasch an der Reling, um zuzusehen, wie Marcus im Wasser verzweifelt um sich schlug. Einen Moment lang passierte ansonsten nicht viel, doch auf einmal bewegte sich das Wasser um ihn herum und wurde aufgewühlt. Es ertönte ein Schrei, dann gab es ein knackendes Geräusch und eine rote Wolke breitete sich wie eine sich öffnende Blume auf der blauen See aus. Doch es war keine Blume – es war das Blut, das aus Marcus’ Körper strömte. Die Piraten brachen spontan in Jubel aus.∗
Die anderen Piraten, die der unerbittliche, aber unbestreitbar faire Piratenkapitän ausgewählt hatte, wurden auf gleiche Weise ihrer Bestimmung zugeführt. Dabei handelte es sich um: den glatzköpfigen Piraten namens Stan, der eine Vorliebe für Archäologie hatte; den steinreichen Piraten, der sich immer als armer Hippie tarnte und dessen Namen der Piratenkapitän vergessen hatte; der Pirat, der dem Piratenkapitän an der Piratenakademie Geographie beigebracht hatte, ein stinklangweiliger Pirat aus Oxford namens Adam; und der dumme Pirat, der den Piratenkapitän gestört hatte, als er Pfannkuchen essen wollte. Als ∗
Trotz ihres gefährlichen Rufs werden jedes Jahr mehr Menschen durch Schweine als durch Haie getötet. Im Übrigen haben Haie keine Knochen – ihr Gerippe besteht ausschließlich aus Knorpel.
Nachzügler kam noch ein männliches Piratenfotomodel dazu, dessen Bekanntschaft der Piratenkapitän bisher noch nicht gemacht hatte.
Sobald das Plankenlaufen beendet war, nahm das Schiff Kurs auf England, und die verbliebenen Piraten und ihre Gäste begaben sich unter Deck, um zu feiern. Zur Abwechslung gab es Lamm statt Schinken, dazu die üblichen Beilagen, bestehend aus grüner Minzsoße und Salat. Zur Feier des Tages wurde das geröstete Lamm mit ein wenig gehackter Petersilie garniert. Als Vorspeise gab es zudem ein paar von Darwins Affen, über deren Zubereitung länger debattiert wurde, bevor die Piraten schließlich beschlossen, sie wie Truthähne zu behandeln. Nachdem man die Sehnen von den Beinen und Schenkeln entfernt und die Affen ordentlich gewürzt hatte, wurden sie mit Wurstbrät und Kalbfleisch gefüllt. Serviert wurde das Festmahl mit Bratensaft und Brotsoße. Zu spät fiel dem Piratenkapitän ein, dass er auch Mister Bobo eingeladen hatte – doch selbst wenn dieser wahrscheinlich wenig erfreut darüber war, Stücke seiner Schimpansenbrüder serviert zu bekommen, war er doch viel zu höflich, um seinen Unmut darüber zu äußern.
»Nun… sind Sie schon länger als Piratenkapitän im Einsatz?«, fragte Darwin, während er einen kräftigen Schluck Grog hinunterstürzte. »Ach du liebe Güte! So lange, wie ich denken kann«, sagte der Piratenkapitän. »Und Sie haben nie eine etwas konventionellere Karriere in Betracht gezogen?«
»In Erwägung gezogen schon, aber Fakt ist: Ich kann nicht anders. Ich bin besessen von der Piraterie! Ich liebe es! Die salzige Seeluft, die exotischen Gegenden, das glänzende Gold. Besonders das glänzende Gold.« »Und wie mir scheint, sind Sie richtig gut darin«, sagte Darwin untertänig. Auf ihn machten die Piraten einen viel zivilisierteren Eindruck, als er erwartet hatte. Er konnte natürlich nicht ahnen, welch erhebliche Anstrengungen die Besatzung unternahm, mit halbwegs akzeptablen Manieren zu essen. Sie wollten vor ihren Gästen nicht gar so vulgär und unkultiviert erscheinen. Einige von ihnen hatten sich ihre prachtvollsten Schärpen umgelegt, und den ganzen Tag hatten sie damit zugebracht, das Schiff von oben bis unten zu schrubben. »Ich muss schon sagen«, sagte Darwin mit verschleiertem Blick, »in gewisser Weise bin ich schon ein wenig neidisch auf Ihren kriminellen Lebensstil. So gänzlich frei von der Tyrannei dessen, was die Gesellschaft als akzeptabel erachtet! Herren Ihres eigenen Schicksals! Ein Leben außerhalb des Gesetzes! Wir Wissenschaftler müssen in Ihren Piratenaugen doch furchtbar langweilig erscheinen.« »Keineswegs«, entgegnete der Piratenkapitän seinem Gast. »Ich habe mich schon immer für die Wissenschaft interessiert. Vielleicht können Sie mir auch eine Frage beantworten, die mich schon seit längerem beschäftigt.« »Ich werde mir alle Mühe geben.« »Können Sie mir sagen, wer – rein wissenschaftlich gesehen – der größte Pirat der Welt ist?« »Äh… ich fürchte, das liegt ein wenig außerhalb meines Spezialgebiets«, antwortete Darwin mit einer entschuldigenden Geste. »Ach, ich werde es wohl nie erfahren!«, sagte der Piratenkapitän mit wehmütiger Miene.
»Darwin ist nicht der Einzige mit einem wissenschaftlichen Hintergrund«, sagte FitzRoy. »Ich habe einige faszinierende Erkenntnisse in Sachen der Wettervorhersage gewonnen. Ich plane, ein meteorologisches Institut zu eröffnen, sobald ich nach London zurückgekehrt bin.« Niemand am Tisch schien sich größer dafür zu interessieren, was FitzRoy zu sagen hatte, also verstummte er und starrte missmutig auf seine Suppe.∗ Darwin kaute an einer Affenpfote. »Wie lange wird es Ihren Schätzungen zufolge dauern, bis wir England erreichen?« »Wir haben noch eine Menge Schinken an Bord, wenn es das ist, was Ihnen Sorgen macht«, erwiderte der Piratenkapitän aufmunternd. »Mal schau’n…« Er starrte angestrengt in die Ferne und runzelte dabei die Stirn, um den Eindruck zu erwecken, als stelle er im Kopf einige komplizierte Berechnungen an. In Wahrheit fragte er sich, ob irgendjemandem aufgefallen war, wie sauber glänzend seine Stiefel waren, nachdem der Pirat mit Schal den ganzen Vormittag damit zugebracht hatte, sie zu polieren. »Ich würde sagen, mit einem ordentlichen Wind im Rücken sollten wir England so gegen Dienstag erreichen. Wenn wir auf direktem Weg dorthin segeln würden, kämen wir natürlich noch schneller an, aber ich habe die Seekarte genauer studiert. Zum Glück, muss ich sagen, denn wie sich herausstellte, befindet sich in der Mitte des Ozeans eine riesengroße, hässliche Seeschlange! Sie hat einen schrecklichen, weit aufgesperrten Rachen und einen dieser schuppigen Schwänze, die so ausschauen, als könnten sie ein Schiff entzweibrechen. Insofern dachte ich, es wäre wohl das Beste, um sie herumzusegeln.« ∗
1865 sollte FitzRoy in seinem Haus in Upper Norwood Selbstmord begehen. 1862 hatte er das Weather Book publiziert.
FitzRoy runzelte die Stirn. »Ich glaube, die Schlange wurde eher aus Dekorationsgründen auf die Karte gemalt. Das heißt noch lange nicht, dass sich tatsächlich eine Seeschlange dort aufhält.« Auf dem Schiff wurde es mit einem Mal merklich still. Einige der Piraten starrten angesichts des peinlichen Irrtums ihres Kapitäns betreten aus den Bullaugen. Zur allgemeinen Erleichterung kniff der Piratenkapitän jedoch nur nachdenklich seine Augen zusammen und unterließ es, jemanden wutentbrannt zu durchbohren. »Das erklärt eine Menge«, sagte er. »Ich nehme an, dies ist auch der Grund, warum wir den riesigen Kompass in der unteren Ecke des Atlantiks nie zu Gesicht bekommen haben. Ich muss schon sagen, das enttäuscht mich jetzt doch ein wenig.«
SECHS Piraten ahoi!
Nach einer kurzen Begegnung mit einigen reizenden, aber gemeingefährlichen Lady-Piraten∗ ging das Piratenschiff schließlich im verschlafenen Seefahrerstädtchen Littlehampton an der Südküste Englands vor Anker. Im Vergleich mit London waren die Immobilienpreise dort noch verhältnismäßig günstig, aber es bestand natürlich immer die Gefahr von Flutwellen. Der Strand war sehr schön und es lag eine Menge Seetang herum, der wie Hirnmasse aussah. Einige der Piraten versuchten sich darin, Zombie-Piraten nachzuahmen, und grölten: »Hirn! Gebt mir Hirn!« Dabei taten sie so, als stopften sie sich den Tang in ihre Münder. »Wir müssen zusehen, dass wir nach London kommen«, sagte Darwin, der seinen Koffer an Land schleppte, »um meine Akademikerfreunde an der Royal Society zu treffen.« »Ja, ganz recht, wir haben keine Zeit zu verlieren!«, stimmte der Piratenkapitän zu. »Allerdings haben ein paar meiner Männer nicht weit von hier einen Vergnügungspark gesichtet, und ich habe ihnen versprochen, sie dürften ihn
∗
Piratinnen waren selten, aber nicht gänzlich unbekannt. Berühmt war etwa Anne Bonny, die spätere Geliebte Calico Jacks, die in Spanish Town auf Jamaika wegen Seeräuberei verurteilt wurde.
besuchen. Dort gibt es eine Riesenrutsche und alles, was das Herz begehrt.« »Was ist mit Erasmus! Er schwebt vermutlich in höchster Gefahr!« Die Augen des Piratenkapitäns leuchteten feuerrot wie glühende Kanonenkugeln. »Ich bin mir sicher, Ihr Bruder würde meiner Besatzung ein klein wenig Abwechslung nach so einer langen, beschwerlichen Reise nicht missgönnen«, sagte er mit scharfem Tonfall. »Wie Sie meinen«, antwortete Darwin beleidigt. Die Piratencrew freute sich auf den Ausflug zum Vergnügungspark, aber die Anlage erwies sich als Reinfall. Die einzigen halbwegs brauchbaren Spielautomaten bestanden aus einer Reihe mechanischer Kästen, die mit einer ganzen Reihe silberner Dublonen gefüllt waren, welche von einem hin und her fahrenden Schieber bewegt wurden. Die Kunst bestand darin, eine Dublone in einen kleinen Schlitz so einzuwerfen, dass dadurch mehrere Dublonen über die abfallende Kante fielen, wo man sie einsammeln konnte. Die Piraten verbrachten Ewigkeiten an einem dieser Automaten, denn direkt an der Kante thronte eine Taschenuhr auf mehreren Dublonen. Aber so sehr sie das gasbetriebene mechanische Monster auch mit ihrem Reichtum fütterten – die Beute wollte und wollte nicht über die Klippe fallen. Es schien fast so, als hätte jemand die Dublonen mit Klebstoff befestigt. Einige der Piraten bekamen Ärger, weil sie an der Maschine rütteln wollten. Daraufhin liefen sie nach draußen und versteckten sich hinter einem Eisverkäufer. »Das bringt’s nicht«, sagte der Pirat mit der Zuckerwatte. Die anderen Piraten pflichteten ihm bei, und so kehrten sie zum Strand zurück, wo Darwin und FitzRoy bereits auf sie
warteten. Als er sie erblickte, sprang Darwin sofort auf und ergriff erneut seinen Koffer. »Wären wir dann so weit? In einer halben Stunde geht ein Zug nach London«, sagte Darwin, der es nicht abwarten konnte aufzubrechen. »Ja«, sagte der Piratenkapitän. »Wir müssen uns beeilen! Oh, schauen Sie bloß – ein Minigolfplatz speziell für Seefahrer! Das müssen wir uns schon näher anschauen!« »Aber der Zug…«, sagte Darwin mit einer Spur Resignation. »Speziell für Seefahrer! Glauben Sie, das ist ein richtiger Schiffsanker? Der sieht jedenfalls absolut echt aus. Sie und FitzRoy können ein Team bilden, wenn Sie wollen«, sagte der Piratenkapitän und reichte ihm einen Schläger. Darwin merkte, dass es wenig Sinn ergab, mit dem Piratenkapitän zu diskutieren, wenn dieser sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Der Piratenkapitän schwang seinen Golfschläger. Der Ball schoss davon, prallte jedoch gegen die Seite eines Metallankers und rollte von dort aus zum Abschlagspunkt zurück. »So ein Glück, ich habe einen Bonusschlag«, sagte der Piratenkapitän, nahm den Ball und platzierte ihn einen halben Meter vor das Loch. »Weil ich den Anker getroffen habe.« »Äh, sind Sie da ganz sicher?«, fragte Darwin, der sich umgehend wünschte, er hätte den Mund gehalten. »Ja, weil ich den Anker getroffen habe«, wiederholte der Piratenkapitän, diesmal in einem Tonfall, der bedrohlich nach Rum und Totschlag klang. Der Pirat mit Schal schlug seinen Ball, der ein Fass traf, von dort gegen den Anker prallte und zurückkullerte. Er wollte
ihn gerade aufheben, als die donnernde Stimme des Piratenkapitäns ertönte: »Was um Himmels willen tust du da?« »Mein Bonusschlag. Ich habe den Anker getroffen.« »Aber erst hat der Ball das Fass berührt!« »Ähm… ja.« »Damit wird die Wirkung des Ankers ungültig.« »Oh.« »Und weil du zuerst das Fass und dann den Anker getroffen hast, ist die Wirkung des Ankers für alle weiteren Spieler aufgehoben. Tut mir Leid, aber das war’s mit den Bonusschlägen, fürchte ich.«
Insgesamt spielten sie drei Runden Minigolf, die der Piratenkapitän allesamt gewann. Dennoch hatte jeder seinen Spaß. Als sie zum Strand zurückschlenderten, erzählte der Piratenkapitän eine spannende Geschichte, wie er bei einem Kampf mit einem weißen Hai ein Bein verloren hatte. FitzRoy bemerkte dazu, dass der Piratenkapitän doch über zwei ziemlich intakte Beine verfüge, woraufhin der Piratenkapitän merklich still wurde und plötzlich großes Interesse an einer Muschel zu haben schien, die er aufgehoben hatte. »Wir sollten uns jetzt besser aufmachen, meinen Bruder zu retten«, sagte Darwin. »Ja«, sagte der Piratenkapitän. »Das sollten wir. Sobald wir dieser Süßigkeitenfabrik einen Besuch abgestattet haben, um herauszufinden, wie sie die Plastikfiguren in die Überraschungseier kriegen. Aargh! Ich nehme Sie bloß auf den Arm, keine Sorge. Sie müssen keine Angst haben. Ich habe die sieben Weltmeere durchsegelt und bisher noch jedes Abenteuer siegreich bestanden.«
»Wirklich? Sie haben alle sieben Weltmeere besegelt?«, fragte Darwin voller Bewunderung. »Jedes einzelne!« »Ich habe mich schon immer gefragt, welches die sieben Weltmeere eigentlich genau sind?« »Ähm, also, mal sehen…«, sagte der Piratenkapitän und kratzte sich an der Stirn. »Da wäre einmal die Nordsee. Und dieses andere da, die da bei Mozambique. Und… wie heißt der See im Hyde Park?« »Der Serpentine-See?« »Genau. Wie viele haben wir jetzt? Drei. Ähm. Dann gibt es noch das Meer mit den ganzen Felsen… Ich glaube, man nennt es Meer Nummer vier. Blieben noch… ähm… Brummbär und Hatschi…« Darwin sah stückweise weniger beeindruckt aus. »Schauen Sie sich bloß diese riesige Möwe an!«, rief der Piratenkapitän und verzog sich rasch in ein Strandhäuschen.
SIEBEN Angriffsziel: Piraten!
Und so landeten die Piraten und ihre Begleiter im viktorianischen London. Dieses war nicht vergleichbar mit dem London der heutigen Zeit – es gab weder ein Millennium-Riesenrad noch die Tate Modern, keinen Eurostar oder Starbucks, und auch keinen Millennium-Dom oder all die anderen Dinge, von denen man annimmt, es gäbe sie schon ewig. Alles war mit Ruß verschmutzt und es wimmelte von Waisenkindern. Über dem gasbeleuchteten Kopfsteinpflaster lag dichter Nebel und finstere Serienkiller trieben ihr kriminelles Unwesen. Es war eine strenge und unnachgiebige Gesellschaft: ein Piano bloß anzuschauen, zu viel Butter zu essen, voller Freude zu tanzen – all diese Dinge hatte die griesgrämig dreinblickende Königin Victoria untersagt. Außerdem regnete es im London der damaligen Zeit ständig in Strömen – dicke graue Regentropfen, die die Straßen Londons glitschig und rutschig machten. Sehr zu Darwins Missfallen bestand der Piratenkapitän darauf, den Londoner Zoo zu besichtigen, bevor irgendetwas anderes in Angriff genommen wurde. Alle Piraten waren sich darin einig, dass er nicht so gut wie der Berliner Zoo war, den sie bei einem früheren Abstecher nach Deutschland besucht hatten. Sie fanden, dass die Abteilung behufter Tiere viel zu groß sei. »Wer interessiert sich schon für behufte Tiere? Die
hängen doch eh nur gelangweilt rum!«, bemerkte der Pirat in Grün wissend. Die Schimpansen waren ein besonders träger Haufen. Während die Berliner Schimpansen eine echte Show abgezogen und vor den geschockten Touristen herumgebrüllt und uriniert hatten, wiegten sich ihre Londoner Artgenossen bloß lethargisch vor und zurück. Offensichtlich litten sie unter einer besonders schlimmen Form von Zoo-Psychose. Mister Bobo schaute ihnen durch das Glasfenster traurig zu, er schämte sich aber auch ein wenig für sie. Der Albino-Pirat erblickte ein Schild, das auf das MÖRDERISCHSTE TIER DER WELT hinwies. Einige Piraten schlossen Wetten ab, ob es sich dabei um einen Bären oder einen Hai handele, aber es stellte sich heraus, dass es bloß ein großer Spiegel war. Das mörderischste Tier der Welt war der Mensch selbst! Besonders die Piraten! Um zu beweisen, dass sie nicht nur schlechte Eigenschaften besaßen, entschieden sich zwei Piraten dazu, dem Zoo einen Polarbären zu stiften.∗
Obwohl Darwin weiterhin betont auffällig oft auf seine Uhr blickte und die Augen verdrehte, gingen die Piraten im Anschluss daran im West End shoppen. Einige von ihnen holten sich in der Carnaby Street die neuesten Piratenaccessoires. Die Mode des Jahres konnte unter der Überschrift »Je mehr Schnallen, desto besser« zusammengefasst werden, und die Piraten machten laute, klirrende Geräusche, als sie kurz darauf die Straße entlangschlenderten. Auf dem Rückweg kauften sie noch ein paar Postkarten und Union Jacks. In Soho fand der Pirat in Grün, der das Angesicht des Piratenkapitäns auf seinem Arm ∗
Den Londoner Zoo gibt es noch immer. Dieses Jahr gewann Sandokan Soloman den Wettbewerb in der Babybären-Namensgebung mit seinem Beitrag »Ursula«.
verewigen lassen wollte, endlich einen Tätowierladen. In seinen Taschen trug er einige Schriften mit Titeln wie »Kunst & Haut« bei sich. Er betonte, das wäre wegen seines Interesses für die Kunst des Tätowierens und keinesfalls wegen der darin gezeigten knapp bekleideten Damen. Die anderen Piraten waren sich nicht sicher, ob sie ihm das glauben sollten. Als sie müde und erschöpft von dem aufregenden Tag in der großen Stadt die Charing Cross Road heruntertrotteten, fiel dem Piratenkapitän ein Plakat auf, das an einen Briefkasten geklebt war. In altertümlicher Schrift war darauf Folgendes geschrieben:
P.T. BARNUM präsentiert Ihnen voller Stolz (in Zusammenarbeit mit dem Bischof von Oxford) seinen weltberühmten
Zirkus der
Freaks Besondere Attraktionen: Der Elefantenmensch! Die Meerjungfrau! Der Bienenbart! Dienstags, Mittwochs, Donnerstags, Freitags und Samstags ist
›Ladies Night!‹ Frauen haben freien Eintritt. »Das sind aber eine Menge Ladies Nights«, sagte der Piratenkapitän nachdenklich.
»Ja«, sagte Darwin. »Das ist schon seltsam. Ich habe von meinem Cousin gehört, dass die Anzahl der Ladies Nights auf bis zu fünf pro Woche angestiegen ist, seit der Bischof von Oxford vor sieben oder acht Monaten Hauptanteilseigner des Zirkus wurde.« »Ich frage mich, ob das etwas Unheilvolles zu bedeuten hat?«, sagte der Piratenkapitän. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, nur weil der unsägliche Bischof unser Feind ist«, sagte Darwin abgeklärt. »Es kann ja durchaus sein, dass er Mitleid mit den Frauen empfindet und ihnen ein wenig kostenlose Unterhaltung zugute kommen lassen will.« »Warum sollte er Mitleid mit Frauen haben?«, fragte der Albino-Pirat. »Nun, in letzter Zeit sind so viele von ihnen verschollen und erst später in der Themse wieder angeschwemmt worden, völlig verschrumpelt und leblos.« »Wie lange geht das schon so?« »Puh, sieben oder acht Monate, würde ich sagen.« Das Gespräch fand ein jähes Ende, als der Pirat mit Schal einen Polizisten entdeckte, der auf sie zusteuerte. Die Piraten und ihre Begleiter tauchten schnell auf dem belebten Leicester Square unter. »Auf der Straße seid ihr Piraten nicht sicher«, sagte Darwin, der Mister Bobo noch immer in einem Puppenwagen vor sich her schob, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Oben im Naturkundemuseum gibt es den Royal Society Gentlemen’s Club. Dort sollten wir unsere nächsten Schritte planen.« »Gibt’s da auch Grog?«, fragte der vorlaute Pirat. »Ja. Und Zigarren. Aber ich glaube nicht, dass sie Piraten Zutritt gewähren. Ich will mir gar nicht ausmalen, was meine
Kollegen von mir denken würden, wenn sie mich in Begleitung von Seebären wie euch sähen.« Die Piraten waren von dieser Bemerkung sichtlich gekränkt, und Darwin versuchte ihre Gemüter rasch wieder aufzurichten. »Ich meine, FitzRoy und ich wissen natürlich, was für aufrechte Gesellen ihr seid, es ist bloß so, dass die anderen Mitglieder… nun, sie ziehen manchmal voreilige Schlüsse.« »Da gibt es nur eins, was wir tun können«, sagte der Piratenkapitän mit einem Funkeln in den Augen. »Wir verkleiden uns als Wissenschaftler!«
Stifte und Lineale in Händen haltend und mit weißen Laborkitteln über ihrer Piratenkluft folgten die Piraten Darwin in den Royal Society Gentlemen’s Club.∗ Zahlreiche berühmte Wissenschaftler waren zugegen, einige von ihnen saßen rauchend herum, andere unterhielten sich angeregt über die neuesten wissenschaftlichen Themen, wieder andere schauten einfach bloß den Tänzerinnen zu. Der Geruch von Opium hing schwer in der Luft. »Wie dem auch sei«, sagte ein Wissenschaftler zu einem anderen, »es gibt ganz einfach zu wenig Platz im Fischsaal des Museums, also haben wir uns dazu entschlossen, den Wal vor der Öffentlichkeit als ein Säugetier ohne Beine auszugeben. Es ist natürlich völlig lächerlich – Sie müssten sich bloß einmal ansehen, was das für ein gigantischer Fisch ist. Aber verraten Sie das bloß nicht! Aus Erfahrung weiß ich, ∗
Die Royal Society wurde 1645 gegründet. Viele berühmte Wissenschaftler wie etwa Robert Boyle, Robert Hooke oder John Venn waren Mitglieder. Warum versuchen Sie nicht einmal, ein VennDiagramm bestehend aus Piraten (A), Schinken (B) und Seemannsfässern (C) zu erstellen? Wo liegt der Schnittpunkt (X)?
dass die Öffentlichkeit so gut wie alles glaubt, solange es auf einem Stück gedruckten Papiers geschrieben steht.« Der Piratenkapitän hüstelte. »Gütiger Himmel! Seht mal, da ist Darwin! Darwin ist zurück!«, rief einer der Wissenschaftler mit buschigen Koteletten. Alle drängten sich um Darwin und FitzRoy, klopften ihnen auf die Schultern und stellten Fragen. Es dauerte mehrere Minuten, ehe Darwin überhaupt zu Wort kam. »Ähem, dies hier sind einige der Wissenschaftler, denen ich auf meinen Reisen begegnete«, sagte er und deutete dabei auf die verkleideten Piraten. »Ich hoffe, ihr heißt sie in eurem Kreis willkommen.« »Entschuldigt vielmals. Wo bleiben nur unsere guten Manieren? Es ist bloß so, dass wir uns so sehr freuen, unseren Charles wieder gesund und munter unter uns zu sehen. Man hört ja all diese wilden Geschichten vom Leben auf hoher See. Von Riesenkraken und Piraten und solchem Gesindel«, sagte ein echter Wissenschaftler und schüttelte dem Piratenkapitän die Hand. »Auf welchem wissenschaftlichen Gebiet sind Sie tätig?« »Welches wissenschaftliche Gebiet? Nun… ich beschäftige mich in erster Linie mit… Chemikalien«, sagte der Piratenkapitän und dachte angestrengt nach. »Es geht ums Zusammenmischen unterschiedlichster Dinge. Und dann muss man das natürlich niederschreiben.« »Faszinierend«, sagte der Wissenschaftler. »Und was ist mit Ihnen? Welches ist Ihr Betätigungsfeld?«, fügte er hinzu und richtete sich dabei an den Piraten mit dem eisernen Haken. Der Pirat mit dem eisernen Haken wusste nicht, was er antworten sollte, doch der geistesgegenwärtige Piratenkapitän kam ihm zur Hilfe. »Mein etwas schüchterner Kollege hat
mit Mineralien zu tun. Vor allem mit Gold. Er erhitzt es mit Streichhölzern.« »Als Mann der Wissenschaften würden Sie doch aber sicher einen Bunsenbrenner hierfür verwenden, oder etwa nicht?« »Habe ich etwa Streichhölzer gesagt? Ich habe natürlich einen Bunsenbrenner gemeint. Es war ein langer, anstrengender Tag«, sagte der Piratenkapitän mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
Die Piraten schlugen sich durchaus achtbar in der Konversation mit den Wissenschaftlern, nickten immerzu höflich und sagten »Tatsächlich?«, während sie den ellenlangen Ausführungen über ihre neuesten Erfindungen und Entdeckungen zuhörten. Einzig der Piratenkapitän fand sich bald in einer heiklen Diskussion über Moleküle wieder und war sichtlich erleichtert, als ihm FitzRoy zu Hilfe eilte und ihn unterbrach, bevor er sich für oder gegen ihre Existenz aussprechen musste. »Ich möchte Ihnen einen Seefahrerkollegen vorstellen«, sagte FitzRoy, zog den Piratenkapitän am Ärmel seines Laborkittels und nahm ihn mit, um einem gutaussehenden, jungen Wissenschaftler die Hand zu schütteln. »Dies ist James Glaisher, der berühmte Meteorologe«, sagte FitzRoy. Der Piratenkapitän war sich nicht sicher, was ein Meteorologe tat, aber er ging davon aus, dass es sich um etwas Langweiliges handeln musste. »James und ich sind seit langem der Ansicht, dass das Wetter nicht einzig und alleine von einer zufälligen Laune der Natur abhängig ist, und dass es mit den notwendigen Informationen möglich sein müsste, beispielsweise Stürme auf hoher See vorherzusagen. Unsere Schiffsreise hat mich in dieser Einschätzung nur bestärkt.«
Der Piratenkapitän gab sich alle Mühe, ein interessiertes Gesicht zu machen, während er sich insgeheim fragte, wann Wissenschaftler wohl zu Abend aßen. »Erzähl mir, James«, fuhr FitzRoy fort, »wie laufen die Experimente? Hattest du eine Gelegenheit, die Modifikationen an deinem Schiff durchzuführen, wie ich es dir gesagt hatte?« »Wie bitte?«, sagte der Piratenkapitän, der die Ohren gespitzt hatte, weil es endlich um ein Thema ging, von dem er etwas verstand. »Sie bauen ein Schiff? Warum? Ich besitze selbst eines!« »Ich fürchte, es handelt sich um eine andere Art von Schiff«, erklärte der Wissenschaftler.∗ »Seit einiger Zeit verfolgen FitzRoy und ich die Idee eines motorbetriebenen Wetterballons. Es wäre damit das erste Schiff der Welt, das leichter als Luft wäre. Ein lenkbares Luftschiff, wenn Sie so wollen.« »Leichter als Luft?«, sagte der Piratenkapitän und kratzte sich sein behaartes Kinn. »Wie viele Kanonen besitzt Ihr Schiff? Meines hat zwölf Kanonen.« »Kanonen? Es hat keine Kanonen.« »Ohne Kanonen sind Sie doch völlig wehrlos, wenn es zu Überfällen kommt!«, schnaubte der Piratenkapitän verächtlich. »Überfälle? Ich fürchte, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Wir haben das Luftschiff nicht für kriegerische Handlungen entworfen.« »Zu welchem Zweck in Herrgotts Namen ist es denn dann nutze?«, fragte der Piratenkapitän. ∗
James Glaisher von der Magnetischen und Meteorologischen Abteilung des Greenwich Observatoriums machte im neunzehnten Jahrhundert eine Serie von neunundzwanzig Ballonfahrten, um den Luftdruck in der Höhe zu untersuchen.
»Zu welchem Zweck? Zu welchem Zweck gibt es die Wissenschaft?«, entgegnete ihm der Wissenschaftler. »Grenzen sprengen! Der Reiz der Entdeckung! Die Summe des menschlichen Wissens erweitern! Und um tief in weibliche Ausschnitte schauen zu können.« Während des Abendessens erzählte Darwin von seiner Reise, verzichtete jedoch tunlichst auf die Episode mit den Piraten. Dann führte er Mister Bobo vor, der eine tadellose Vorstellung ablieferte und nach dem Essen alle zum Lachen brachte, als er aus Daniel Defoes Die Pest zu London rezitierte. Sämtliche Wissenschaftler waren sich einig, dass Mister Bobo ein durchschlagender Erfolg war, aber keiner wusste, was gegen Erasmus’ Notlage unternommen werden konnte. Eine niedergeschlagene Stimmung breitete sich rund um den Tisch aus, und selbst Darwins Lieblingsbulldogge Huxley winselte, als sie die Reste des Schinkens in sich hineinschlang, die ihr der Pirat mit Schal heimlich rübergeschoben hatte. Es war Zeit zu handeln. Der Piratenkapitän knallte sein After-Eight-Minzscheibchen mit einem gewaltigen Krach auf den Tisch. »Ich weiß, was zu tun ist«, erklärte er den versammelten Wissenschaftlern und als Wissenschaftler verkleideten Piraten. »Darwin muss in die Offensive gehen und eine Lesetour mit Mister Bobo ankündigen, als wenn nichts geschehen wäre. Meine Besatzung – ich meine natürlich meine wissenschaftlichen Mitarbeiter – werden die Plakate aufhängen. Die erste Veranstaltung wird hier in eben diesem Museum stattfinden, und zwar morgen Abend.« »Aber was ist mit den Konsequenzen? Wie könnte ich so etwas wagen, solange Erasmus sich nicht in Sicherheit befindet?«, sagte Darwin völlig entgeistert.
»Wenn mich meine jahrelange Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung eines gelehrt hat«, sagte der Piratenkapitän, wobei er betont lässig mit dem Stuhl nach hinten kippelte, »dann ist es die Tatsache, dass man eine Maus nicht ohne Käse fangen kann!« »Ihre jahrelange Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung? Sie sind ein Pirat«, flüsterte Darwin. »Ich glaube nicht, dass dies mit viel detektivischer Arbeit zu tun hat.« »Aarrr«, brüllte der Piratenkapitän. Es schien ihm eine angemessene Art, die Konversation zu beenden.
ACHT Kampf mit der Riesenkrake!
Am nächsten Morgen sah Darwin den Dingen schon sehr viel zuversichtlicher ins Auge. Er hatte zum ersten Mal seit drei Jahren wieder in einem richtigen Bett mit frischen Bettlaken geschlafen, die nicht nach Fisch und Affen stanken. Bevor er sich zur Nachtruhe begeben hatte, war er vom Piratenkapitän beiseite genommen und in dessen Pläne eingeweiht worden. Er war der Auffassung, dass sie nur etwas über den Aufenthaltsort von Erasmus herausbekommen konnten, wenn sie den bösen Bischof von Oxford aus der Reserve lockten. Indem sie die Lesetour mit Mister Bobo ankündigten, würden sie die starke Hand des Bischofs herausfordern. Mit Sicherheit würde er sich zu Wort melden und Darwin auffordern, klein beizugeben. Der Bischof würde Wissenschaftler als Gegner erwarten. Was er nicht auf der Rechnung hatte, waren Piraten! An diesem Punkt wurde der Plan dann etwas diffus, aber Darwin hatte trotzdem volles Vertrauen in die Fähigkeiten des Piratenkapitäns. Er stützte sich auf seine Kopfkissen und durchblätterte die Morgenausgabe der Times. Auf der Titelseite gab es eine groß aufgemachte Geschichte über eine merkwürdig aufgeschwemmte Dame, die man leblos in der Themse treibend gefunden hatte. Und aus einem Artikel auf den
Modeseiten der Zeitung ging hervor, dass beim viktorianischen Mann im fünften Jahr in Folge düster und unheimlich ganz hoch im Kurs standen, wenn es um das Thema Innenarchitektur ging. Er seufzte. Das sanft durch die Fenster fallende Sonnenlicht und ein großer Teller mit Toast, den ihm ein Diener der Royal Society gebracht hatte, verlockten Darwin, den ganzen Morgen im Bett zu verbringen. Dabei hatte er eine Menge Dinge zu erledigen – also weckte er stattdessen Mister Bobo und begann sich gemeinsam mit ihm auf die abendliche Veranstaltung vorzubereiten. Eine Lesung, so dachte er, könnte nicht nur seinem Ruf als Wissenschaftler zugute kommen – sie könnte ihm womöglich auch mehr Erfolg bei den Frauen bescheren.
In einem der Badezimmer am Ende des Flurs der Royal Society war der Piratenkapitän gerade damit beschäftigt, sich zurechtzumachen. »Dauert das noch lange da drin?«, sagte eine fremde Stimme und klopfte dazu ungeduldig an die Tür. Der Piratenkapitän riss wutentbrannt die Tür auf und wollte den Störenfried bereits mit seinem Entermesser durchbohren, als er sich gerade noch rechtzeitig an seine neue Rolle als besonnener Wissenschaftler erinnerte. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, sich als blutdürstiger Schrecken der sieben Weltmeere aufzuspielen. Also strafte er die Nervensäge, die es gewagt hatte, ihn bei der Morgentoilette zu stören, lediglich mit einem bösen Blick. Er erkannte, dass es sich bei dem Lump um einen der Wissenschaftler vom Vorabend handelte. »Ja«, grummelte der Piratenkapitän. »Ich brauche noch eine Weile. Bärte wie dieser bedürfen der intensiven Pflege, von alleine geht das nicht.«
»Ja sicher, tut mir Leid«, sagte der Wissenschaftler und trat duckmäuserisch einen Schritt zurück. »Mensch, Sie haben aber eine Menge Narben.« Der Piratenkapitän war nur mit einem knappen Handtuch bedeckt. In der Tat hatte er sich bei seinen Abenteuern eine ganze Menge Verletzungen zugezogen; sein Körper war voller Narben. »Das kommt davon, wenn man ständig gegen die wissenschaftlichen Apparaturen im Labor stößt«, erklärte der Piratenkapitän mit einem tödlichen Funkeln in den Augen. »Und ist das etwa… die Karte einer Schatzinsel, die Sie sich da auf den Bauch haben tätowieren lassen?« »Nein, das ist das Periodensystem.« »Es sieht aber gar nicht aus wie ein Periodensystem. X kommt da doch gar nicht vor.« An diesem Punkt war der Piratenkapitän mit seiner Geduld am Ende und durchbohrte den Wissenschaftler schließlich doch. Er reinigte das Messer im Waschbecken, wandte sich wieder seinem Bart zu und kehrte schließlich auf sein Zimmer zurück, das er sich mit einigen der Piraten teilte.
»Diese Wissenschaftler mögen vielleicht wissen, wie man ein mechanisches Schwein herstellt«, sagte der Piratenkapitän, »aber von gutem Benehmen haben sie keinen blassen Schimmer.« Die anderen Piraten nickten nur zustimmend. »Und jetzt zur Sache. Ihr beiden«, dabei deutete der Piratenkapitän auf den Albino-Piraten und den Piraten mit dem eisernen Haken, »werdet Mr. Darwin bei den Vorbereitungen für seine Lesung helfen. Und ihr zwei«, diesmal zeigte er auf den Piraten mit dem Schal und den Piraten mit dem Akkordeon, »werdet P. T. Barnums Zirkus
genauer unter die Lupe nehmen. Ich will wissen, warum der Bischof bei diesem Zirkus seine Finger im Spiel hat. Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren, wie das mit seinem diabolischen Wesen in Einklang zu bringen ist, aber ich habe da schon einen leisen Verdacht. Und denkt dran, es ist Ladies Night, also solltet ihr euch besser als Frauen verkleiden.« »Es wird aber gar nicht so leicht sein, Frauenkleider zu finden, die über unsere Verkleidung als Wissenschaftler passen, zumal wir darunter ja auch noch unsere Piratenkluft tragen«, sagte der Pirat mit Schal. »Ihr müsst euch eben etwas Mühe geben, dann geht das schon«, sagte der Piratenkapitän. »Ich würde ja selbst gehen, aber mein kostbarer Bart stünde einer Verwandlung in eine Frau doch etwas im Wege. Und vergesst nicht, dass Frauen mit einer hohen, piepsigen Stimme sprechen. Etwa so: ›Hallo, ich bin eine Lady!‹« Alle lachten über seine brillante Imitation einer Frauenstimme.∗ »Der Rest von euch verteilt sich über die Stadt und hängt die Plakate für heute Abend auf.« Der Piratenkapitän gab einen Stapel Din-A-4-Plakate aus, auf denen eine Zeichnung von Darwin und Mister Bobo beim Schachspielen zu sehen war – Mister Bobo in einer Pose wie Rodins Der Denker, während Darwin seine Hände als Zeichen der Niederlage in die Höhe streckt. Der Piratenkapitän hatte das Bild selbst gezeichnet und war durchaus stolz auf sein Werk. Vor seiner Zeit als Pirat wollte er einmal Architekt werden. Und nun hatte er seine ∗
Männliche Stimmbänder sind in der Regel dicker als die von Frauen, deshalb erzeugen sie einen tieferen Ton, genauso wie ein dickes Gummiband einen tieferen Klang produziert als ein dünnes, wenn man es flitschen lässt. Um den optimalen Effekt zu erzielen, wird empfohlen, das Gummi über eine Keksdose zu spannen.
Kenntnisse über die Perspektive genutzt, um Mr. Bobos riesigen Affenhintern kleiner erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit war. Zudem war es ihm gelungen, Darwin einen verzweifelten und frustrierten Gesichtsausdruck zu verpassen, angesichts seiner Niederlage gegen einen Affen. Das Einzige, was dem Piratenkönig an seinem Bild nicht gefiel, waren Darwins Hände, die eher wie plumpe Seesterne aussahen – mit den Händen hatte der Piratenkapitän aus unerklärlichen Gründen schon immer seine Probleme gehabt. Über der Zeichnung stand in großen Lettern geschrieben: Einziger Auftritt – Mister Charles Darwin präsentiert seinen fantastischen neuen Freund Mister Bobo – den weltweit ersten Affenmenschen! Hörsaal der Royal Society, Eintritt frei. In winziger Schrift war am unteren Rand vermerkt, dass Mr. Bobo Schach auf keinem besonders hohen Niveau spielte. »Die Plakate sehen wirklich gut aus, Kapitän«, sagte der Pirat mit Schal, der gerade einen kirschroten Lippenstift auftrug. Der Piratenkapitän tat das beiläufig ab und murmelte etwas davon, mit dem Bild nicht sonderlich zufrieden zu sein. Doch jeder konnte sehen, wie stolz er in Wahrheit auf sein Werk war. »Und jetzt hoffe ich, dass ich mich auf euch verlassen kann. Ich habe eine wichtige Verabredung, also werde ich euch nicht begleiten können«, sagte der Piratenkapitän mit dem strengstmöglichen Gesichtsausdruck.
»Was haben Sie vor?«, fragte der Pirat mit dem Akkordeon, der einige Schwierigkeiten mit dem Verschluss seines BHs hatte. »Heute Morgen erhielt ich eine schriftliche Einladung zu einer Piratenkonferenz am Earls Court. Ich bin einer der Ehrengäste.« Die anderen Piraten wunderten sich gelegentlich, wie es sein konnte, dass all diese Schreiben immer ihren Weg zu ihrem ständig umherreisenden Kapitän fanden, aber irgendwie kamen sie an. »Eine Piratenkonferenz? Sind Sie sich sicher, dass es sich dabei nicht um eine weitere Falle der Royal Navy handelt, die auf einen Schlag eine ganze Bande Piraten schnappen will?«, fragte der Pirat mit Schal, die Stirn sorgenvoll gerunzelt. »Erinnern Sie sich an das eine Mal, als es hieß, es gäbe in Mozambique einen Schönheitswettbewerb für Piraten, und wir uns später den Weg nach draußen freischießen mussten?« »Und ob ich mich daran erinnere! Ich bin immer noch der festen Überzeugung, dass man mich um den Sieg betrogen hat«, schmollte der Piratenkapitän. Seine Crew nickte – keiner von ihnen hatte je einen so attraktiven Piraten gesehen wie ihren wohlgeratenen Kapitän. »Wie dem auch sei – der Briefumschlag war immerhin mit unserem geheimen Piratensymbol versehen. Seht her!« Der Piratenkapitän deutete auf den Jolly Roger∗, mit dem der Brief versiegelt worden war. »Es wird also schon alles rechtens sein. Ich freue mich auch schon darauf. Vielleicht muss ich ja den Kindern Autogramme geben. Außerdem kann ich womöglich einiges Piratenzubehör zu Schnäppchenpreisen ergattern.« ∗
Obwohl man mit dem englischen Namen »Jolly Roger« eher das Bild eines vergnügten Mann assoziiert, handelt es sich in Wahrheit um einen unheimlichen Totenschädel über zwei gekreuzten Knochen.
»Bei allem Respekt, Kapitän«, sagte der Pirat in Grün, der gerade eine Schale Cornflakes in sich hineinschlang, »aber haben Sie wirklich die Zeit, eine Piratenmesse zu besuchen? Wir befinden uns doch gerade mitten in einem Abenteuer.« »Da mag was dran sein«, erwiderte der Piratenkapitän. »Aber ich habe meine Gründe. Zunächst einmal ist es um unsere Finanzen nicht sonderlich rosig bestellt, nachdem uns Black Bellamy so auf den Arm genommen hat, und dies könnte eine gute Gelegenheit sein, die eine oder andere Dublone dazuzuverdienen. Der Schinken fällt schließlich nicht vom Himmel. Außerdem könnten sich einige meiner Piratenkontakte als nützlich erweisen, um herauszubekommen, was der Bischof wirklich im Schilde führt. Und drittens bin ich der Piratenkapitän, und ich kann ja wohl verdammt nochmal tun und lassen, was ich will.« »Haben Sie vor, bei der Konferenz diesen Hut zu tragen?«, fragte der Pirat in Rot und verzog dabei das Gesicht. Der Piratenkapitän glaubte, seinem Tonfall eine gewisse Missbilligung entnehmen zu können. »Ja, das werde ich. Zufällig ist das mein Lieblingshut. Vielleicht ist Ihnen das noch nicht aufgefallen, aber das Blau der Hutkrempe passt wunderbar zur Farbe meiner Augen«, sagte der Piratenkapitän und zeigte dabei bedeutungsvoll auf die Hutkrempe und dann auf seine blauen Augen. »Na schön, Sie werden schon wissen, was Sie tun.« »Wollen Sie etwa sagen, dass mit meinem Hut etwas nicht stimmt?« »Nicht doch, Kapitän. Er ist vielleicht nicht ganz so modern, aber sonst gibt es daran nichts auszusetzen«, sagte der Pirat in Rot, doch er klang dabei so, als hätte er durchaus etwas an ihm auszusetzen. »Das ist ein erstklassiger Piratenhut. Es ist ein Dreispitz.« »Genau.«
»Was soll das heißen?« »Es ist bloß so… heutzutage… na ja, der moderne und erfolgreiche Pirat trägt eher ein Modell im Stile Napoleons. In der Regel verbindet man damit eine Spur mehr…je ne sais quoi. Mehr will ich gar nicht sagen, das ist alles.« »Mein Hut besitzt eine Menge je ne sais quoi. Um nicht zu sagen joie de vivre.« »Wenn Sie es sagen.« »Also gut. Hand hoch, wer mag meinen Hut?« Wohl eher aus Loyalität schnellten die meisten Piratenhände nach oben. Der Pirat in Rot zuckte mit den Schultern und tat so, als lese er ein Buch. Zufrieden, den aufrührerischen Mob in seine Schranken gewiesen zu haben, griff der Piratenkapitän nach einer weiteren Schale CocoPops.
NEUN Auftritt des Piratenkönigs!
Es war erst zwölf Uhr mittags, aber der Pirat mit Schal und der Pirat mit dem Akkordeon schwitzten bereits wie verrückt in ihrer Verkleidung. Wenigstens hörte man unter den Lagen von Laborkitteln und Frauenkleidern kaum mehr das Klappern ihrer Piratenschnallen. Sie wussten nicht recht, nach was sie im Zirkus eigentlich genau Ausschau halten sollten. Der Piratenkapitän hatte ihnen lediglich gesagt, sie sollten ein Auge offen halten, ob ihnen etwas verdächtig erschien. Beim Durchblättern des Zirkusprogramms fand der Pirat mit Schal so ziemlich alles suspekt: ein Mann ohne Gesicht, eine Lady mit einer Aluminiumfolien-Phobie, ein außer Kontrolle geratener Teenager… er wusste gar nicht, wo sie anfangen sollten. Die Menschenschlange am Einlass erstreckte sich durch das ganze Einkaufszentrum. »Was für eine entzückende Augenklappe. Tragen Sie die nur zur Schau?« Der Pirat mit Schal brauchte ein paar Sekunden, bevor im klar wurde, dass die Frage an ihn gerichtet war, und zwar von einer jungen Lady direkt vor ihm in der Schlange. Als er aufblickte, war er von ihrer Schönheit zunächst so überwältigt, dass er beinahe vergaß, in einer hohen
Frauenstimme statt seiner normalen Piratenstimme zu antworten. »Es ist… das ist… ich habe eine Hornhautverkrümmung«, stotterte er. »Mein Augenarzt sagt, ich solle die Augenklappe tragen, bis sie wieder weg ist.« »Sie Ärmste!«, sagte das Mädchen mit besorgter Miene. »Möchten Sie vielleicht ein Sandwich? Mit SerranoSchinken.« Der Pirat mit Schal nahm das Angebot dankbar an und fand, es sei angebracht, sich vorzustellen. »Danke sehr. Ich bin… Francine. Und dies ist, ähm, Daphne«, sagte er. »Und ich heiße Jennifer. Das ist aber ein sehr schönes Akkordeon, das Sie da haben, Daphne«, sagte sie. Der Pirat mit dem Akkordeon knurrte nur leise, denn seine Frauenstimme war nicht sonderlich überzeugend. »Für eine Dame sind Sie ganz schön muskulös«, sagte Jennifer und drehte sich dabei wieder dem Piraten mit dem Schal zu. »Danke«, sagte der Pirat, wobei er unbewusst seine Rückenmuskeln spielen ließ und die Augenbrauen anspannte, in der Hoffnung, das ließe ihn weltmännisch aussehen. »Sind Sie auch wegen der Meerjungfrau hier?«, fragte Jennifer. »Nach allem, was ich gehört habe, soll sie ja eher eine Enttäuschung sein. Man hat wohl bloß die obere Hälfte eines Affen mit dem Hinterteil eines Fisches zusammengenäht.« »Ähm, nein, eigentlich sind wir nicht so sehr wegen ihr hier.« »Etwa wegen des Albinos?« »Auch nicht direkt, einer unserer Freunde ist selbst ein Albino«, sagte der Pirat mit beschwingter Stimme. »Oh! Stimmt es, dass man sich in einen Albino verwandelt, wenn man einem tief in die Augen schaut? Und dass sie nur
weiße Sachen essen können, wie Vanilleeis und weiße Schokolade.« »Das glaube ich nicht, aber ganz sicher bin ich mir auch nicht.« Jennifer schien völlig in ihren Gedanken über Albinos versunken. Wenn der Pirat mit Schal über eine etwas poetischere Ader verfügt hätte, wären ihm ihre Augen wie Smaragde erschienen, die in einer Schatztruhe vor sich hin glitzerten. Da dem aber nicht so war, dachte er bloß, dass ihre Augen ganz schön grün waren. Sie erinnerten ihn irgendwie an Seetang. »Und wie steht’s mit Ihnen? Warum sind Sie hier?«, fragte der Pirat rasch, um die Unterhaltung in Gang zu halten. »Wegen des Elefantenmenschen?« »Nicht wirklich. Unter uns gesagt«, sagte Jennifer und näherte dabei ihren Mund dem Ohr des Piraten mit dem Schal, was diesem alles andere als unangenehm war, »ich glaube, irgendetwas stimmt nicht mit diesem Zirkus. Seltsame Dinge gehen hier vor sich. Meine Schwester Beatrice wollte ihn letzte Woche besuchen, seither fehlt jede Spur von ihr.« »Ich glaube, Sie könnten Recht haben«, sagte der Pirat und vergaß angesichts der Tiefe ihres Ausschnitts völlig den geheimen Charakter seiner Mission. »In Wahrheit sind wir selbst hier, um Nachforschungen anzustellen. Und ich bin auch gar keine echte Lady.« Der Pirat mit Schal hob kurz sein Kleid. »Sie sind ein Wissenschaftler!« Der Pirat zog auch den Laborkittel hoch. »Sie sind ein Pirat?« »Ja, aber sagen Sie es keinem.« Eine halbe Stunde später passierten Jennifer und die beiden Piraten den Eingang und betraten den Zirkus. Der Pirat mit
dem Akkordeon fühlte sich zusehends überflüssig, also ließ er seinen Kumpanen mit Jennifer allein und wanderte umher. Er kam zu einer Vorführung, die sich »Der Hund, der Sonnenbrille trägt« nannte. Der Zirkus hatte seine Zelte im St. James Park aufgeschlagen, und der dicke Londoner Nebel hatte sich über das Gelände gelegt. Das allein gelassene Paar hatte sich dazu entschlossen, seine Nachforschungen beim Elefantenmenschen zu beginnen. Er saß einsam und verlassen in der Mitte einer kleinen Hütte, während ein Mann auf einer Tuba ohne Unterlass ein paar Takte aus »Nellie The Elephant« trötete. »Er sieht zwar nicht so aus, als könnte er meine Schwester verspeist haben«, sagte Jennifer, »aber vielleicht weiß er ja etwas.« »Wir sollten versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen, indem wir ihn in eine lockere Unterhaltung verwickeln«, flüsterte der Pirat. »Ich werd’s mal probieren«, sagte Jennifer, ging ein paar Schritte auf die Kreatur zu und räusperte sich. »Wow!«, sagte sie. »Sie sind also der Elefantenmensch! Das nenne ich aber mal ein markantes Gesicht!« Kein sonderlich geschickter Eröffnungszug, wie der Pirat mit Schal fand, aber er hielt lieber seinen Mund. Das letzte Mal, dass er bei einer Frau Erfolg gehabt hatte, war vor ein paar Wochen, als er zu viel Rum getrunken und romantische Gefühle für die Galionsfigur des Piratenschiffs entwickelt hatte. Zwar war diese durchaus ansehnlich und hervorragend geschnitzt, dennoch zog er sich jedes Mal böse Splitter zu, als er sie umarmen wollte. »Ich, äh, würde es vorziehen, wenn Sie mich einfach John nennen«, sagte der Elefantenmensch und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. »Mein Name ist John Merrick.«
»In Ordnung, John. Eins würde ich wirklich gerne wissen… Stimmt es, dass Sie sich in den Elefantenmenschen verwandelten, nachdem sie von einem echten Elefanten gebissen wurden? War dieser Elefant in irgendeiner Weise radioaktiv?«, fragte Jennifer. »Äh, nein. Ich leide an einer seltenen genetischen Krankheit. Elefanten haben damit gar nichts zu tun. Diese Krankheit verursacht ein geschwulstartiges Knochenwachstum. Eine Reihe unglückseliger Kinder werden jedes Jahr mit diesem Leiden geboren.« »Kinder werden damit geboren? Liegt das daran, dass ihre Mütter von einem Elefanten gebissen wurden, als sie schwanger waren? Wollen Sie damit etwa sagen, ich solle besser keinen Zoo besuchen, wenn ich schwanger bin?« »Nein. Ich sagte doch, die Krankheit hat nichts mit Elefanten zu tun.« »Wäre das Baby nur davon betroffen, wenn die Mutter von dem Elefanten in den Bauch gebissen würde? Oder würde ein Biss ins Bein schon ausreichen?« »Ich habe das Gefühl, Sie hören mir gar nicht zu…«, sagte der Elefantenmensch mit größtmöglicher Geduld. »Ich weiß, dass Sie aus Indien kommen. Das sieht man an der Form Ihrer Ohren«, fügte Jennifer triumphierend hinzu. Der Elefantenmensch seufzte bloß und schüttelte den Kopf. »Sagen Sie, John«, fuhr Jennifer das Thema wechselnd fort. »Wissen Sie vielleicht, warum es im Zirkus so viele Ladies Nights gibt? Fast jeden Abend, das ist doch merkwürdig, oder?« »Nein. Nein. Ich weiß nicht. Ich… Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen«, sagte der Elefantenmensch hektisch. Der Pirat mit Schal glaubte, in den Augen der armen Kreatur einen Anflug von Angst gesehen zu haben, aber das war durch die seltsame Form seines Gesichts schwer zu erkennen.
»Was halten Sie davon, wenn ich ein kleines Liedchen zum Besten gebe?«, sagte der Elefantenmensch, offensichtlich verzweifelt bemüht, das Thema zu wechseln. Er erhob sich sogar und vollführte einen unbeholfenen Freudentanz, während er sang: »Ich seh aus wie ein Ex-pe-ri-ment! Dabei bin ich doch nur ein einfacher Mensch! Bin kein Monster, doch was keiner weiß, ist. Ich bin ein schlimmer Fall von Neurofibromatosis!«∗
Jennifer und der Pirat mit Schal verzichteten schließlich auf eine ehrliche Antwort auf ihre Frage und machten sich bei den anderen Ausstellungsobjekten auf die Suche nach Hinweisen. Aber sie hatten weder beim Mann-der-einFahrrad-auf-essen-konnte noch bei der Frau-die-seit-vierzigJahren-Schluckauf-hatte mehr Glück. Auch das Mädchenaus-Chesterfield-das-sich-immer-wieder-mit-Idioten-einließobwohl-sie-alleine-viel-besser-zurechtkam bescherte ihnen keine neuen Erkenntnisse. Und als der immer dichter werdende Nebel in ihren Augen zu brennen begann, verkrochen sie sich kurzerhand in ein Zelt, über dem »Sonderausstellung für Damen« stand. So besonders wirkte es jedoch gar nicht – es war lediglich ein leeres und ziemlich schlecht beleuchtetes Zelt, zumindest machte es auf den Piraten mit Schal diesen Eindruck. »Ganz schön dunkel hier drin. Ich kann gar kein Ausstellungsstück erkennen«, sagte Jennifer und hakte sich ∗
Oder womöglich auch Proteus-Syndrom. Darüber wird in medizinischen Kreisen immer noch heftig gestritten. Entgegen der öffentlichen Meinung hat Michael Jackson übrigens nie das Skelett des Elefantenmenschen vom Royal Hospital erworben. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, nicht alles zu glauben, was die Menschen einem so erzählen.
vorsichtshalber bei ihrer Begleitung ein. Das Herz des Piraten machte einen Sprung. Er konnte gar nicht fassen, wie gut es lief. Im Normalfall hätte er spätestens zu diesem Zeitpunkt bereits etwas Bescheuertes gesagt oder sich mit einem Drink bekleckert oder mit offenem Mund gekaut, aber bisher hatte er nichts dergleichen verbrochen. Im Gegenteil – er schien sie sogar mit einigen seiner Seefahreranekdoten beeindrucken zu können. »Als erster Maat auf einem Piratenboot haben Sie doch sicher eine Menge Verantwortung«, sagte Jennifer, die vor Kälte erzitterte, als eine plötzliche Brise durch das Zelt blies. »Es ist nicht immer leicht, aber ich versuche, mich, so gut es geht, um meine Crew zu kümmern«, sagte der Pirat. »Erst gestern habe ich einem Mann das Leben gerettet. Er wurde von einer riesigen Feuerqualle angegriffen, und ich konnte die Verbrennungen lindern, indem ich einen Eimer Pisse über ihm ausgoss.« Im gleichen Augenblick wünschte er sich, er hätte ihr von dem Kampf mit der gewaltigen Seekuh erzählt. Dies hätte ihn womöglich in einem noch etwas heroischeren Licht erscheinen lassen, und vor allem hätte er auf den Eimer Pisse verzichten können. Jennifer war merklich still geworden, und als er von seinen Schuhen aufsah – er hatte schon immer Probleme damit gehabt, Frauen, die er mochte, in die Augen zu schauen –, musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass sie im Begriff war, ohnmächtig zu Boden zu sinken. Für einen kurzen Moment befürchtete er, er habe sie durch seine Quallen-Geschichte außer Gefecht gesetzt, daher war er geradezu erleichtert, als ihm ein chloroformgetränkter Lappen vor den Mund gepresst wurde und er selbst das Bewusstsein verlor. Langsam öffnete der Pirat mit Schal seine Augen. Alles schien seltsam benebelt, doch dann stellte er fest, dass es sich
bloß um seinen eigenen Atem handelte, der an der Innenscheibe einer gewaltigen Glasröhre kondensierte, in der er steckte. Die Röhre war an eine seltsame Apparatur aus Holz und Messing angeschlossen, die mit Zahnrädern, Leitungen und zischenden Ventilen versehen war. Als er nach links schaute, erkannte er Jennifer, die in der gleichen Zwangslage steckte wie er. Wieder einmal war eine Verabredung mit einer hübschen Frau katastrophal danebengegangen. Sie befanden sich in einem großem quadratischen Raum, die Wände waren mit riesigen Buntglasfenstern versehen. Er stöhnte gereizt – dieses Abenteuer schien weit weniger nach seinem Geschmack als zum Beispiel das Piratenabenteuer auf der Insel des Rums und der Amazonen.
»Nun, meine junge Lady mit dem Schal! Sind Sie und Ihre hübsche Freundin endlich erwacht?« Der Raum war so verdreckt und vollgestopft mit irgendwelchem undefinierbarem Kleinkram, dass der Pirat die Gestalt im schwarzen Umhang∗ übersehen hatte, die sich in der Ecke des Raums an etwas zu schaffen machte. Es war der dämonische Bischof von Oxford persönlich! Der Pirat mit Schal war sich dessen sicher, denn er trug eine Bischofsmütze, und genau so eine hatte er bei den Schachfiguren gesehen, mit denen der Piratenkapitän gelegentlich spielte. Er selbst zog Mensch ärgere dich nicht oder Fang den Hut vor. »Was haben Sie vor, Sie Bestie?«, fragte Jennifer aus dem Inneren ihrer Glasröhre. Der Bischof fixierte sie mit durchdringendem Blick. ∗
Dunklen Typen steht Schwarz in der Regel am besten; bei besonderen Anlässen macht es sich aber auch bei den meisten anderen Menschen gut.
»Was glauben Sie, wie alt ich bin?«, fragte er, als würde das ihre Frage beantworten. Jennifer war nie besonders gut darin gewesen, das Alter von Menschen zu schätzen, aber sie wagte trotzdem einen Versuch. »So Mitte bis Ende vierzig?« »Hah! In Wahrheit bin ich einundfünfzig Jahre alt.« Der Bischof starrte die beiden erwartungsvoll an. Jennifer und der Pirat mit Schal gafften bloß verständnislos zurück. Der Bischof schien etwas verstimmt, dass sie immer noch nicht verstanden. »Diese teuflische Maschine hier hält mich jung und frisch, indem sie jungen Ladys, so, wie Ihnen, die Essenz des Lebens herausdestilliert«, sagte er ungeduldig. »Also sind Sie für all die grausigen Morde verantwortlich! Dachte ich’s mir doch«, sagte Jennifer vor Wut kochend. »Sie Mistkerl!« »Ich muss schon sehr bitten, Herr Bischof«, sagte der Pirat mit Schal, der sorgsam darauf achtete, seine Frauenstimme beizubehalten. »Die Sache mit dem Betäubungsmittel – das ist nicht gerade die Sorte Benehmen, die sich für einen Geistlichen gehört.« Der diabolische Bischof schaute jetzt fast verlegen drein. »Ich weiß, dass meine Umgangsformen zu wünschen übrig lassen«, antwortete er mit einem schwachen Seufzer, »aber bedenken Sie die Umstände, unter denen ich arbeite. Jeder wird Ihnen bestätigen, wie schwer es ist, in einer so großen Stadt wie dieser ein nettes Mädchen kennen zu lernen. Und da ich jede Woche ein Dutzend junger Dinger benötige, um dieses spezielle Gebräu herzustellen, werden Sie sicher Verständnis dafür haben… na ja, es ist eben verdammt schwer.« »Kein Wunder, dass Sie bei den Damen nicht erste Wahl sind«, sagte Jennifer mit einem spöttischen Grinsen. »Wenn
eine Dame am Ende eines langen Tages etwas auf den Mund gedrückt bekommen möchte, dann ist das ein zärtlicher Kuss und nicht ein alter Lappen, der zuvor in Chloroform getränkt wurde. Das Mindeste, was ich von einem Mann erwarten würde, der von meinen jugendlichen Lebenskräften zehren möchte, wären Blumen und etwas nette Konversation.« »Ich finde auch, dass Sie das etwas übertreiben. Brauchen Sie denn wirklich diesen unheimlichen Zirkus und den ganzen Nebel und all das Kidnapping? Haben Sie es schon mal mit einem netten Kaffeehaus versucht? Ich habe gehört, dort käme man mit Frauen wie uns schnell in Kontakt«, sagte der Pirat hilfsbereit. »Natürlich habe ich das schon probiert!«, erwiderte der Bischof mit einer Geste der Verzweiflung. »Aber so sehr ich mich auch anstrenge – ich habe einfach keinen Erfolg. Ich lerne eine Dame kennen, lache bei jeder noch so harmlosen Anekdote, die sie erzählt, wie verrückt und spare auch nicht mit Komplimenten. ›Was haben Sie nur für einen wunderbaren Haaransatz, da brauche ich Ihnen ja gar nicht die Schläfen zu rasieren, wenn ich Sie an meine Höllenmaschine anschließe.‹ so Schmeicheleien in der Art. Aber fast immer endet es mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, einem kurzen Dankeschön für den wunderbaren Abend, und ich bleibe allein zurück in meiner düsteren Höhle. Für so was habe ich einfach keine Zeit mehr! Ich werde schließlich auch nicht jünger, verstehen Sie? In gewisser Weise natürlich schon, aber Sie verstehen sicher, was ich meine.« »Im Übrigen bezweifle ich, dass Sie sich mit diesem komischen kleinen Schnurrbart einen großen Gefallen tun«, sagte Jennifer mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das soll ein dämonischer Schnurrbart sein, kein fröhlicher«, antwortete der Bischof schmollend.
»Das ist wohl auch der Grund, warum Sie Darwins Affenmenschen so fürchten!«, rief der Pirat aufgeregt. »Sie haben Angst davor, dass Mister Bobo eine große Attraktion wird und die Menschen in Scharen zu ihm pilgern anstatt zum Elefantenmenschen. Und ohne den anhaltenden Strom junger Damen, die Sie beim Zirkusbesuch kidnappen können, sind Sie nicht in der Lage, Ihr böses Elixier herzustellen!« »Es ist nicht wirklich ein Elixier, eher so eine Art Gesichtscreme«∗, sagte der Bischof. »Aber denken Sie jetzt bloß nicht, Sie könnten mich einlullen und ich würde Sie entkommen lassen. Fahren wir also fort mit unserer kleinen Show!«
Der Bischof betätigte einen gewaltigen Hebel und erweckte damit die Höllenmaschine zum Leben. Funken sprühten, Kolbenstangen explodierten, Lichter blinkten auf und Glocken läuteten wie verrückt. Doch gerade als sich die ganze Apparatur zu einem finalen Crescendo zu steigern schien, ertönte ein mattes metallisches Gurgeln und beißender schwarzer Rauch trat aus. Dann herrschte Stille.
»Ach du meine Güte!«, stöhnte der Bischof und warf seinen Gefangenen einen entschuldigenden Blick zu. »Das ist mir noch nie passiert, ganz ehrlich.« Verzweifelt bemühte er sich, bei seiner Vorrichtung irgendeinen Fehler auszumachen, ein loses Kabel oder ein klemmendes Rädchen – ohne Erfolg. ∗
Der Bischof von Oxford war weithin bekannt als Sam »Die Schmierseife« Wilberforce. Wer dies auf Google recherchiert, wird jedoch feststellen, dass dieser Spitzname primär auf seine aalglatte, klerikale Rhetorik bezogen ist denn auf den Umstand, dass er Damen in Seifestücke verwandelte.
Derweil ergriff der Pirat mit Schal die Gelegenheit, wieder etwas romantischen Smalltalk mit Jennifer zu führen. Doch sie schien nicht ganz bei der Sache zu sein, und er spürte instinktiv, dass das Feuer zwischen ihnen erloschen war. »Es gibt keinen Grund, warum die Maschine nicht funktionieren sollte. Sie ist brandneu«, sagte der Bischof gereizt. »Es sei denn… eine von Euch ist gar keine Dame!« Der Pirat mit Schal musste schlucken und versuchte, sein anmutigstes Damenlächeln aufzusetzen. Doch dabei kamen nur seine Goldzähne zum Vorschein. »Es gibt nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden«, sagte der Bischof, während er sich mit einem fiesen Grinsen im Gesicht Jennifer und dem verkleideten Pirat näherte.
Vierzig Minuten später überreichten die beiden dem Bischof widerwillig ihre ausgefüllten psychometrischen Testbögen. Er studierte die Ergebnisse und zeigte dann mit einem anschuldigenden Finger auf den Piraten, der bestürzt seinen Kopf hängen ließ. Seine Fähigkeiten im räumlichen Denken und im numerischen Zahlenverständnis bei gleichzeitig mangelnder Farbendifferenzierung und fehlenden sprachlichen Ausdrucksformen hatten ihn verraten. »Sie sind gar keine Dame!«, sagte der Bischof mit finsterem Blick. »In Wirklichkeit deuten diese Testergebnisse darauf hin, dass Sie ein Pirat sind! Gott weiß, was Sie meiner Maschine angetan haben. Sie ist nur für junge Damen im Alter zwischen neunzehn und sechsundzwanzig zugelassen. Wegen Ihnen ist jetzt wahrscheinlich auch die Garantie ungültig, Sie elender Mistkerl!« Der Bischof machte den Pirat von seiner Höllenmaschine los und rollte ihn in seiner Glasröhre hinüber zu etwas, das wie ein riesiges Zahnrad aussah. Dann öffnete er den Deckel
der Röhre, zog den gefesselten Pirat heraus und band ihn an eine der Kerben zwischen den gewaltigen Zähnen des Rades. Als er damit fertig war, schaute der Bischof ungeduldig auf seine Uhr. »Ich habe eine Verabredung mit einem Mann und seinem Affen«, sagte er und wandte sich dabei wieder Jennifer zu. »Wenn ich zurückkehre, werden Sie eine leblose Hülle sein, meine junge Dame. Und machen Sie keine Dummheiten, verstanden?«
Erneut betätigte er den großen Hebel und zog, fröhlich eine bekannte Melodie pfeifend, von dannen. Der Pirat mit Schal schaute entgeistert zu, wie das Leben aus dem Mädchen wich – das erste seit Jahren, das sich womöglich mit ihm eingelassen hätte.
ZEHN Die Brust eines toten Mannes!
Mit weit ausholenden Piratenschritten stolzierte der Piratenkapitän durch die Stadt. Während der Pöbel um ihn herum den Blick stur gesenkt hielt und bedröppelt durch den plötzlich einsetzenden Regen schob, ging der Piratenkapitän erhobenen Hauptes. Es sah fast so aus, als wolle er den Himmel herausfordern. Immerhin war er der Piratenkapitän, was konnte ihm da schon ein wenig Regen anhaben. Wenige Minuten später – er hatte ein ziemliches Tempo vorgelegt und alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, mit seinem Entermesser aus dem Weg geräumt – betrat er das Hotel Metropolitan, wo laut Brief die Piratenkonferenz stattfinden sollte. Der Concierge, ein schmächtiger, verschwitzter Mann, begrüßte ihn in der großzügigen Lobby. »Sie sind sicher wegen der Schweinezüchterkonferenz hier«, sagte er mit einem übertriebenen Augenzwinkern. »Schweinezüchterkonferenz? Haben Sie einen Sparren locker, oder was? Ich bin wegen der Piratenkonferenz gekommen!«, sagte der Piratenkapitän sichtlich verblüfft. »Ha-ha! Eine Piratenkonferenz!«, lachte der Concierge, während er nervös seine wenigen verbliebenen Haare über seinem glänzenden Schädel verteilte. »Stellen Sie sich das
bloß mal vor! Angenommen, Sie besäßen ein angesehenes Hotel und jemand wollte eine Piratenkonferenz in Ihrem Haus veranstalten. Vielleicht…«, und der Concierge hielt hier bedeutungsvoll inne, »… würden Sie das Ganze als Schweinezüchterkonferenz tarnen.« »Was soll das ganze dumme Geschwätz von Schweinezüchtern?« »Ich denke, dass es genau das ist, wonach Sie suchen.« »Einen Teufel suche ich danach! Und hören Sie endlich mit dem dämlichen Gezwinkere auf! Ich habe Menschen schon aus nichtigeren Gründen durchbohrt!« »Ich habe bloß das Wort ›Schweinezüchter‹ anstelle von ›Pirat‹ verwendet, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Das sollte eine Art Geheimcode sein, aber so langsam ist es auch egal«, flüsterte der Concierge ein wenig gereizt. »Ach ja, natürlich! Ich bin wegen der Schweinezüchterkonferenz hier«, sagte der Piratenkapitän mit lauter Stimme und fügte leise und mit einem Zwinkern hinzu: »Jetzt verstehe ich, was Sie meinen.« »Wenn Sie mir einfach folgen würden.« »Aber sicher. Gibt es hier einen geeigneten Ort, an dem ich meinen Schinken aufbewahren kann?« »Wie bitte?« »Meinen Schinken. Das ist ein Geheimcode für ›Entermesser‹. Habe ich mir gerade ausgedacht.« Der Concierge führte den Piratenkapitän durch die Lobby, die geschickt mit allerhand Schweineprodukten von Koteletts bis hin zu Würstchen aus Pappmache geschmückt war, über einen teuer aussehenden Teppich in den großen Konferenzraum des Hotels. Er war bis auf den letzten Platz besetzt mit Piraten aus der ganzen Welt. Da einige von ihnen brüllten, war es ohrenbetäubend laut, außerdem roch es
verdächtig nach Seetang. Als er sich im Raum umblickte, in dem die Prominenz der nautischen Unterwelt versammelt war, entdeckte der Piratenkapitän eine ihm wohlbekannte Gestalt. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge. »Raagh! Du verfluchte Seegurke!«, brüllte der Piratenkapitän. »Was soll das? Wer nennt mich hier eine Seegurke! Miese Ratte!«, sagte der Pirat und drehte sich wütend um. Er war gut sieben Fuß groß und seine Hände hatten den Umfang von Schinken, wie der Piratenkapitän sie gewöhnlich zum Abendessen verspeiste. Die Piraten in unmittelbarer Umgebung verstummten urplötzlich und griffen vorsichtshalber schon einmal nach ihren Entermessern. Doch der riesige Pirat hob seine Arme und machte sich daran, den Piratenkapitän an sich zu drücken; was bei schmächtigeren Männern mit geringerer Lungenkapazität zu akuter Atemnot geführt hätte. »Schau einer an! Mein alter Freund, der Piratenkapitän!«, rief der Pirat. »Der Schreckliche Jake!«, sagte der Piratenkapitän, ganz offensichtlich hocherfreut, seinen alten Kameraden wieder zu sehen. »Was machst du hier, du alter Seehund?« »Ich bin ins Nostalgiegeschäft eingestiegen«, sagte der Schreckliche Jake, wobei er auf die dicht gedrängte Menschenmenge deutete. »Nachdem ich meine Augenklappe abgelegt hatte, versuchte ich dies und jenes, aber was soll man in Zeiten der industriellen Revolution schon machen – es gibt nur noch Fabrikarbeit. Ich bin für diese kniffligen Handarbeiten nicht gemacht, ich habe ganz einfach nicht die feinen Finger dafür.« Der Schreckliche Jake zeigte auf seine Finger, die die Größe von Bananen hatten.∗ »Doch dann ∗
Gemäß einer kürzlich im New Scientist veröffentlichten Studie könnten essbare Bananen innerhalb der nächsten Dekade verschwinden, wenn es
stellte ich fest, wie lukrativ diese Piratenkonferenzen sind. Man signiert ein paar Bücher, erzählt ein paar alte Geschichten; dafür gibt es reichlich Grog und obendrein freie Kost und Logis. Ich habe fast das Gefühl, dass ich besser darin bin, vom Leben eines Piraten zu schwelgen, als selbst einer zu sein.« Der Schreckliche Jake besorgte dem Piratenkapitän ein Glas Rum auf Kosten des Hauses.∗ »Ich werde dir alles zeigen«, fuhr der Riese fort. »Später wird es noch ein Ratequiz geben, bei dem uns Fans auch Fragen stellen können. Anschließend geht es dann an die Bar. Doch jetzt muss ich erst mal ein paar Fotos von mir signieren gehen. Pro Bild verlange ich eine Dublone. Willst du mitkommen?« Wie es der Zufall wollte, war der Piratenkapitän auf dem Hinweg bei einem viktorianischen Fotoatelier vorbeigekommen und hatte einen Stapel Schwarzweißfotos von sich machen lassen, auf denen er richtig gut aussah. Er ließ sich an einem Tisch neben dem Schrecklichen Jake nieder, und im Nu bildete sich vor ihm eine Schlange asthmatisch dreinschauender Jugendlicher und merkwürdiger älterer Herrschaften. Er hatte auf Groupies gehofft – Mädchen, die es vor allem darauf abgesehen hatten, ihre feinen Familien zu ärgern, indem sie sich einem schicken Piraten an den Hals warfen, aber es war ganz offenkundig, nicht bald gelingt, neue Sorten zu züchten, die gegen Braunfäule resistent sind. ∗ Rum ist der älteste destillierte Branntwein der Welt. Nachdem Lord Nelson in der Seeschlacht bei Trafalgar getötet wurde, bewahrte man seinen Körper in einem Fass seines Lieblingsrums auf. Für einen guten Mai Tai benötigt man 3 cl dunklen Rum, 3 cl hellen Rum, den Saft einer Limette, 1 cl Zuckersirup, 1 cl Mandellikör, 2 cl Cointreau, 1-2 cl Grenadine und zerstoßenes Eis. Mit Ananas, Cocktailkirsche und Strohhalm in einem hohen Cocktailglas servieren.
dass das Angebot an solchen jungen Damen sehr begrenzt war. »Könnten Sie das für Paul signieren?«, fragte der erste Fan, der angelatscht kam. »Vielleicht könnten Sie noch was dazu schreiben, wie ›Arrgh! Hier ist der Schatz!‹ Ich wollte das Foto auf meine Sparbüchse kleben, verstehen Sie.« »Aber klar doch. Das ist sehr raffiniert.« »Meine Sparbüchse hat die Form eines Piratenschiffs.« »Das wird ja immer besser«, sagte der Piratenkapitän und übergab ihm grinsend das Foto. »Sie sind echt super!«, sagte ein anderer erwartungsvoller Junge. »Ach, ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde…« »Nein, wirklich, ganz bestimmt. Ich wollte mir sogar eine Modellfigur aus Plastik von Ihnen holen, wo Sie an einem Tau schwingen, aber ich hatte bloß sechs Schillinge, also habe ich mir Black Bellamy besorgt. Sind Sie Black Bellamy jemals begegnet? Er ist nämlich mein Lieblingspirat, müssen Sie wissen.« »Tatsächlich?« »O ja, er ist sagenhaft. Obwohl Sie auch ziemlich gut sind. Aber können Sie mir sagen, warum Sie so einen komischen Hut tragen?« »Dies ist ein besonders angesagter Piratenhut.« »Black Bellamy besitzt einige großartige Hüte. Vielleicht sollten Sie ihn mal fragen, woher er sie bezieht.« »Was hielten Sie übrigens davon, mit einem erstklassigen Piratenentermesser durchbohrt zu werden?«
Kra-wumm! In der dunklen Höhle des Bischofs wurde sich der Pirat mit Schal unterdessen seiner Zwangslage bewusst. Alle paar
Minuten bewegte sich das riesige Zahnrad, an das er gekettet war, um einige Zentimeter vorwärts. Es griff mit einem weiteren voluminösen Zahnrad ineinander, und er schätzte, dass er diesen zweiten Satz metallischer Zähne in wenigen Stunden erreichen müsste, wo er dann zu einer blutigen Masse aus Knochen, Knorpel und kleinen Stücken Schal zerquetscht würde. Der einzige Trost bestand darin, dass er Erasmus Darwin gefunden hatte, der etwas weiter vor ihm an zwei Verzahnungen gefesselt war und wenige Minuten vor ihm zermantscht würde. So langsam, wie die monströse Apparatur des Bischofs vor sich hintuckerte, wäre Jennifer wohl sogar noch früher an der Reihe. Keine dieser Aussichten konnte ihm echten Trost spenden. »Geht es dir gut?«, rief der Pirat Jennifer zu. »Meine Fingerspitzen fühlen sich irgendwie schrumpelig an. Als wenn ich zu lange in der Badewanne gelegen hätte.«∗ »Hör zu. Vorausgesetzt, wir kommen hier lebend raus, was hieltest du davon, wenn ich dich zum Essen ausführe?« Der Pirat gab sich alle Mühe, ihr dabei sexy zuzuzwinkern. »Ach, weißt du… ich habe eigentlich schon Pläne«, sagte Jennifer. Erasmus machte daraufhin ein Geräusch wie ein abstürzendes Flugzeug. Der Pirat mit Schal warf ihm einen bösen Blick zu und fragte sich, was ihn verdammt noch mal überhaupt dazu veranlasst hatte, an diesem Morgen aus seiner Hängematte zu steigen. ∗
Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein, wenn Ihre Finger nach dem Bad etwas runzelig sein sollten. Normalerweise ist die Haut des Menschen mit einer dünnen Schicht Talg überzogen – eine Art Fett, das dazu da ist, die Hautoberfläche wasserdicht zu machen. Wird die Haut längere Zeit Wasser ausgesetzt, so wird der Talg abgewaschen und das Wasser kann in die Oberhaut der Osmose eindringen. Die Haut wird wässrig, was zu einem verknitterten Aussehen führt – wie bei einem Monster oder einer alten Frau.
Just in diesem Augenblick ertönte der schnaufende Klang eines Akkordeons. Es war eine komische, kleine Melodie, die der Pirat mit Schal als die ersten Akkorde aus »Theme to Bergerac« erkannt hätte, wäre er etwa hundertfünfzig Jahre später geboren worden. Hinter einer großen Glocke trat der Pirat mit dem Akkordeon hervor. Die anderen waren verständlicherweise allesamt froh, ihn zu sehen. »Retten Sie uns!«, schrie Erasmus. »Daphne!«, sagte Jennifer. »Warum hat das so lange gedauert?«, fragte der Pirat mit Schal leicht pampig. »Ihr beiden seid abgezogen, also bin ich in das Spiegelkabinett gegangen«, sagte der Pirat mit dem Akkordeon zu seiner Verteidigung. »Es war absolut fantastisch! In einem der Spiegel sah ich aus wie ein Zwerg, dafür hatte ich einen gewaltigen, lang gezogenen Kopf. Ich hab mich halb totgelacht! Danach habe ich mich ein wenig gelangweilt und fing an, ›What shall we do with the drunken sailor?‹ auf dem Akkordeon zu spielen, mein Lieblingsseemannslied. Und dann machte ich mich auf die Suche nach dir und deiner Freundin.« »Sie ist nicht meine Freundin«, sagte der Pirat mit Schal finster. »Pech gehabt. Jedenfalls sah ich, wie ihr beide in der ›Sonderausstellung für Damen‹ verschwandet. Und als ihr dann Ewigkeiten nicht rauskamt, ging ich davon aus, dass du Jennifer ein paar Knotentricks zeigst.« »Knoten?« »Dir ist doch sicher aufgefallen, dass jedes Mal, wenn sich eine Dame auf dem Piratenschiff aufhält, unser Kapitän mit ihr für eine Zeit lang in seiner Kabine verschwindet. Und wenn wir ihn später fragen, was er dort mit ihr getrieben hat, sagt er uns immer, er hätte ihr gezeigt, wie man Knoten
macht, weil sich die meisten Frauen in Seefahrerdingen nicht so gut auskennen. Unter uns: Ich glaube ja, dass er ihnen während des Knotens lustige Anekdoten erzählt, denn man hört oft eine Menge Gelächter aus der Kabine kommen. Das soll aber nicht heißen, dass der Kapitän seine Knotenstunde nicht ernst nähme – er strengt sich sogar mächtig dabei an, jedenfalls sieht er danach immer ziemlich erschöpft aus.« Der Pirat mit Schal fragte sich, ob es nicht an der Zeit wäre, sich mit einigen seiner Kameraden zusammenzusetzen und sie über ein paar Dinge aufzuklären. »Irgendwann entschloss ich mich, euch in das Zelt zu folgen«, fuhr der Pirat mit dem Akkordeon fort. »Aber ich konnte euch nirgends entdecken. Das Zelt war völlig leer, bis auf eine halb leere Flasche Chloroform. Ich sah mich eine Weile um und fand schließlich im Boden eine verborgene Falltür, die zu einer Treppe führte. Am Ende der Stufen gelangte ich zu einem düsteren Tunnel. Das kam mir schon ein wenig komisch vor. Ich dachte, er wäre Teil eines alten Abwasserkanalsystems. Naja, man hört ja immer diese Geschichten von Leuten, die kleine Baby-Alligatoren in die Toilette werfen, wo sie dann zu riesigen Monstern heranwachsen. Angesichts der Tatsache, dass Alligatoren ähnlich wie Piraten in der Öffentlichkeit als nicht besonders vertrauenswürdig gelten, hatte ich doch ein wenig Bammel, also spielte ich muntere Seemannslieder, um mir Mut zu machen. Der Tunnel führte noch ein paar hundert Meter weiter, bevor erneut Stufen folgten, diesmal eine ganze Menge, die mich hier heraufbrachten. Und jetzt, wo ich euch gefunden habe, sollte ich vielleicht…« Doch bevor er noch ein weiteres Wort von sich geben konnte, starb der Pirat mit dem Akkordeon auf der Stelle an Skorbut. »So ein Mist!«, sagte Erasmus.
»Das hätte ich jetzt nicht erwartet«, sagte Jennifer, sichtlich enttäuscht. »So ein Idiot!«, sagte der Pirat mit Schal. »Und ich hatte ihn noch davor gewarnt, was passiert, wenn er sich statt vitaminhaltiger Zitrusfrüchte nur Schokolade reinstopft.« Der Schreckliche Jake und der Piratenkapitän waren einen Großteil des Nachmittags mit dem Signieren von Autogrammkarten beschäftigt. Gelegentlich ärgerte sich der Piratenkapitän etwas darüber, dass der Schreckliche Jake die aufregenden Abenteuergeschichten aus dem Leben des Piratenkapitäns erzählte, als wären es seine eigenen; aber er hielt es für besser, sich nicht größer darüber aufzuregen. Immerhin konnte er sich über mehr als sechzig Dublonen freuen, die er durch das Signieren eingenommen hatte. Nachdem all ihre Fotografien unter die Leute gebracht waren, wanderten die beiden Freunde hinüber zu den Verkaufsständen, wo man Piratenequipment zu Schnäppchenpreisen erwerben konnte. Ankauf und Verkauf waren in vollem Gange, und die Piraten feilschten aufgeregt. Der Piratenkapitän erstand einen Restposten von dreißig Bullaugen für nur achtundzwanzig Pfund – das war weniger als ein Pfund pro Bullauge! Außerdem kaufte er ein Fass Teer, sechs Flaschen Piratenrum sowie einige Dreispitze; Letztere kaufte er nur so zum Trotz, um die anderen damit zu ärgern. Hochzufrieden mit seinen Neuerwerbungen machte er sich anschließend gemeinsam mit dem Schrecklichen Jake auf den Weg zur Metropolitan Bar, um einen zu heben und alte Erinnerungen auszutauschen. Es dauerte nicht lange, bis der Schreckliche Jake vom Grog ordentlich betrunken war. »Ich war ein furchtbarer Pirat«, sagte er mit krächzender Stimme. »Du warst darin schon immer viel besser als ich.«
Das ließ sich nicht von der Hand weisen, dachte sich der Piratenkapitän. Der Schreckliche Jake war immer ein lausiger Pirat gewesen. Mit seiner schwerfälligen Art und seinen riesigen Prankenhänden zeigte er wenig Talent beim Knotenmachen. Außerdem war er berühmt dafür, dass er wiederholt Schätze vergraben hatte und sich anschließend nicht mehr an den Ort erinnern konnte. Doch der Piratenkapitän wollte seinen alten Freund nicht leiden sehen. »Papperlapapp! Ich habe selbst manchen Fehler begangen«, sagte der Piratenkapitän aufmunternd. »Denk nur an das eine Mal, als ich einen Kannibalen in unsere Crew aufnahm. Oder das andere Mal, als ich sagte: ›Also, ich sehe keinen Hurrikan‹. Du siehst, ich bin auch nicht perfekt.« »Aber ich bin der schlechteste Pirat aller Zeiten. Ich bin so ungeschickt«, jammerte der Schreckliche Jake. »Und was ist mit dem Schönen Frank? Der war ja wohl nun wirklich ein noch schlechterer Pirat als du. Mir kam zu Ohren, er hätte seiner Mannschaft einmal untersagt, das Schiffsfleisch mit Salz zu pökeln, weil er gelesen hatte, dass ein hoher Sodiumgehalt zu Herzkrankheiten führen könne. Er starb beim Verzehr eines fauligen Stückes Schinken. Davon bist du ja wohl weit entfernt!« »Nett, dass du das sagst, Piratenkapitän. Wenn es irgendetwas gibt, bei dem ich dir helfen kann, dann lass es mich wissen. Machst du eigentlich Urlaub, oder befindest du dich auf einem Abenteuer?« »Abenteuer. Du könntest mir tatsächlich behilflich sein, Schrecklicher Jake!« Der Bart des Piratenkapitäns glitzerte. »Weißt du vielleicht, wo ich ein großes weißes Tuch herbekommen könnte?«
ELF Ausgesetzt!
»Er ist nicht bloß böse! Er ist komplett durchgeknallt! Ein hundertprozentiger Irrer!«, rief Darwin und warf dem Piratenkapitän die Abendausgabe der Mail zu. Dieser war soeben von der Piratenkonferenz zurückgekehrt und half dabei, die Bühne im Hörsaal des Naturkundemuseums für die abendliche Veranstaltung vorzubereiten. »Der Bischof von Oxford lässt nicht locker mit seiner Panikmache. Jetzt verkündet er, wenn ich an meiner Affenmenschen-Vorführung festhielte, würde der Heilige Geist – der Heilige Geist! – persönlich erscheinen und mich und Mister Bobo zu Boden zwingen! Also wirklich, es langt!« »Das ist nicht das Werk des Bischofs – es ist meins«, sagte der Piratenkapitän, der an einem fetten Zigarrenstummel kaute und selbstgefällig grinste. Von Zeit zu Zeit dachte der Piratenkapitän, was für einen knallharten und blitzgescheiten Zeitungsmogul er doch abgeben würde, hätte er sich nicht für die Piraterie entschieden. Darwin ließ sich auf einen Sitz im Hörsaal fallen. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte er mit schwacher Stimme.
»Ich selbst habe das Gerücht in die Welt gesetzt. Und – wenn ich das so sagen darf: Es ist ein Geniestreich!« »Warum das in aller Welt, warum?« »Lieber Charles, Sie müssen noch eine Menge lernen über dieses Wissenschaftsgeschäft. Es geht nicht nur um Reagenzgläser und Kreaturen und Verbandsmull.« »Nein?« »Nein. Die ganze Geschichte wurde mir sonnenklar, als ich mich ein wenig mit einem alten Freund unterhielt. Er erzählte mir, was für ein toller Pirat ich in seinen Augen immer gewesen sei«, erläuterte der Piratenkapitän. »Und es stimmt: Ich habe mir in Seefahrerkreisen einen gewissen Namen gemacht. Woran liegt das wohl?« Darwin kratzte sich den Kopf und dachte angestrengt nach: »Am üppigen Bart?« »Aaarrr«, unterbrach ihn der Piratenkapitän. »Der hat vielleicht auch ein wenig dazu beigetragen, aber in erster Linie liegt es an meinem Unterhaltungstalent. Zum Beispiel vermische ich meinen Rum mit Schießpulver. Das schmeckt zwar fürchterlich, macht aber Eindruck. Oder die Art und Weise, wie ich gnadenlos meine Opfer durchbohre.« »Kann man einen Menschen denn auch gnadenvoll durchbohren?«, entgegnete Darwin. »Die Leute denken immer, da bestünde kein Unterschied. Dem ist aber nicht so. Nehmen Sie den Pirat mit Schal: Er ist ein gewandter Schwertkämpfer. Ich habe gesehen, wie er einen Mann durchbohrte, ohne dabei einen Tropfen Blut zu vergießen.∗ Sein Opfer starb eines schnellen und humanen ∗
Ein durchschnittlicher Erwachsener hat nur gut fünf Liter Blut in seinem Körper. Blut besteht aus roten Blutkörperchen, weißen Blutkörperchen und Blutplättchen – den Blutzellen –, und einer gelblichen Flüssigkeit, dem proteinhaltigen Blutplasma. Der erste rein aus Blut bestehende Hundekuchen wurde übrigens von einer jungen Dame namens Tamsin
Todes. Ich hingegen hinterlasse immer eine ziemliche Sauerei, hacke wild herum, bis das Entermesser auf ein besonders hartes Stück Knorpel trifft. Tja, und schon hatte ich meinen gefürchteten Ruf, ohne, dass ich lange daran hätte arbeiten müssen. Bei der Piraterie ist der Ruf nun mal das A und O.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen noch immer nicht ganz folgen«, sagte der verwirrte junge Wissenschaftler. »Mister Bobo ist eine großartige Attraktion. Aber da draußen gibt es tausende weitere Wissenschaftler, die sich ebenfalls einen Namen zu machen versuchen. Wenn Sie wirklich herausstechen und die unterkühlte viktorianische Gesellschaft nachdrücklich beeindrucken wollen, dann bedarf es eines besonderen Gimmicks! Eines Skandals! Es geht um die Art der Präsentation!« Und so erläuterte der Piratenkapitän seinen neuesten Plan. Auch wenn er ein wenig komplizierter als seine üblichen Vorhaben war, bei denen es in der Regel lediglich um den Verzehr von Schinken ging, so war er doch davon überzeugt, damit Erfolg zu haben. Darwin war sich da weniger sicher. »Ich weiß nicht recht, Piratenkapitän«, sagte er mit einem traurigen Kopfschütteln, als der Kapitän seine Ausführungen beendet hatte. »Das erscheint mir alles höchst riskant. Diese Lesung widerspricht ausdrücklich dem Wunsch des Bischofs. Ich fürchte, meinem armen Bruder könnte daraufhin etwas Fürchterliches widerfahren.« »Nun, ich befinde mich in einer ähnlichen Lage«, sagte der Piratenkapitän mit einem Achselzucken. »Zwei meiner Piraten sind von ihren Ermittlungen beim unheimlichen Zirkus bisher nicht wieder zurückgekehrt. Es würde mich nicht wundern, wenn der Bischof auch mit ihnen etwas Böses im Schilde führte. Um den Lump mit dem Akkordeon wäre Virgo erfunden, die aus Stoke in England stammt.
es nicht so schade, aber der andere Kerl… der mit dem Schal…« – der Piratenkapitän konnte sich an die Namen seiner Leute wie üblich nicht erinnern –, »ohne den bin ich ehrlich gesagt ganz schön aufgeschmissen. Er reinigt meine Hüte, hält mich über die neuesten Seemannslieder auf dem Laufenden, und er kennt sich sogar mit diesen ganzen nautischen Spezialbegriffen aus. Wahrscheinlich ist es Ihnen noch nicht weiter aufgefallen, aber auf einem Segelboot sagt man nicht oben und unten oder links und rechts. Es heißt Backbord hier und Steuerbord da, und die Küche heißt Kombüse und weiß der Teufel was noch alles. Wie soll ich mir das bloß alles merken? Wie auch immer. Worauf wollte ich ursprünglich hinaus?« »Keine Ahnung«, sagte Darwin. »Sei’s drum«, sagte der Piratenkapitän und schenkte dem Wissenschaftler ein breites Grinsen. Die Standuhr der Royal Society schlug viertel nach zehn. Es waren nur noch wenige Minuten bis zu Darwins großem Auftritt. Der Hörsaal war gut gefüllt. Die meisten Zuhörer hatten die spektakulären Schlagzeilen der Abendzeitungen gelesen, und im Raum herrschte aufgeregte Erwartung. Der gewiefte Plan des Piratenkapitäns, die Massen zu mobilisieren, war aufgegangen, dachte Darwin. Er stand an der Eingangstür und begrüßte die eintreffenden Gäste. Derweil lief Mister Bobo hinter der Bühne nervös auf und ab und trank Whiskey aus einem kleinen Flachmann. »Schön, dass Sie kommen konnten! Hallo! Schönen Abend auch! Danke fürs Kommen! Ich bin froh, dass Sie es noch geschafft haben! Schön, Sie zu…« Darwin erstarrte. Der Bischof von Oxford stand ihm gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. »Darwin.« »Bischof.« »Und Sie wollen das wirklich durchziehen?«
»Ich, ähm, es ist… es sieht ganz danach aus.« »Wie schade, dass Ihr Bruder Erasmus bei der Veranstaltung nicht dabei sein kann.« »Sie Schuft! Was haben Sie mit ihm angestellt?« »Mr. Darwin… Charles. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen. Ich hoffe sehr, er ist wohlauf und gesund«, sagte der Bischof, wackelte mit seinen buschigen Augenbrauen und machte Grimassen, die signalisierten, dass er exakt das Gegenteil von dem meinte, was er sagte. »Es ist noch nicht zu spät für Sie, sich die Sache anders zu überlegen«, fügte er hinzu, bevor er im Saal Platz nahm – zufälligerweise direkt neben dem Piratenkapitän, der sich wieder als Wissenschaftler verkleidet hatte.
Das Licht ging langsam aus, der dicke Samtvorhang hob sich, und Darwin betrat mit Mister Bobo unter dem donnernden Applaus des Publikums die Bühne. »Meine Damen und Herren. Er ist behaart! Er ist furchterregend! Ich präsentiere Ihnen… den weltweit ersten, den sensationellen, fantastischen… Affenmenschen!« Der Scheinwerfer fiel auf Mister Bobo, der geschniegelt und gestriegelt war; das Haar glatt nach hinten gekämmt, ein Pfefferminzbonbon im Mund und sein bestes Anzugshemd ordentlich in ein Paar feine Hosen gesteckt, so dass es fast den Anschein hatte, als würde er zu einem Rendezvous gehen. In Wahrheit hatte Mister Bobo noch nicht einmal davon geträumt, ein Mädchen zu küssen. Das Publikum klatschte erneut. Darwin hustete vor Aufregung und erzählte dann, dass er Mister Bobo mit einer Diät aus Hirnanhangdrüsen von Seehundkadavern gefüttert habe. »Man würde annehmen, dass sich die Hirnanhangdrüsen der Seehunde auf die Sprachfähigkeiten des Affenhirns
auswirken, aber ich habe nichts dergleichen feststellen können. Es ist wohl eher so, dass Mister Bobo einfach den Geschmack mag«, sagte Darwin.
Kra-wumm! Das riesige Zahnrad klickte in die nächste Kerbe. »Sollen wir eine Runde Was bin ich? spielen? Um uns ein wenig abzulenken«, schlug Erasmus vor. Der Pirat mit Schal hätte das Galgen-Spiel bevorzugt, aber da sie keine Kreide besaßen und ihre Hände sowieso gefesselt waren, willigte er notgedrungen ein. »Ich fange an«, sagte der Pirat. »Okay, ich bin so weit.« »Bist du ein Mineral?«, fragte Erasmus. »Nein.« »Ein Tier?« »In gewisser Weise.« »In gewisser Weise?« »Na gut, ja. Ich bin ein Tier.« »Bist du ein behuftes Tier?« »Nein.« »Krallen?« »Nein.« »Weder Krallen noch Hufe? Was gibt es denn noch? Schweinsfüße?« »Ja.« »Also bist du ein Schwein?« »Nicht direkt…« »Was soll das heißen, ›nicht direkt‹? Bist du etwa ein Stück vom Schwein? Bist du Speck?« »Nein, aber du bist knapp dran.« »Schinken?«
»Treffer! Ich bin ein saftiges Stück Schinken! Aber du hast zu oft geraten, also hab ich gewonnen. Ich darf mir wieder was ausdenken.«
Nachdem er seine Trainingsmethoden vorgestellt und erläutert hatte, führte Darwin Mister Bobo – der sich alle Mühe gab, beim Gehen nicht so zu schlenkern, weil er wusste, wie vulgär das aussah – zu einem prachtvoll gedeckten Esstisch in der Mitte der Bühne. »Mister Bobo, wären Sie wohl so freundlich, den Damen und Herren zu zeigen, mit welchem Löffel Sie ein Dessert zu sich nehmen würden?« Mister Bobo hob beinahe umgehend den richtigen Löffel hoch, woraufhin das Publikum einige Oohs und Aahs von sich gab. Mit stetig steigendem Selbstbewusstsein meisterte Mister Bobo auch den Rest des Programms problemlos. Als man ihm Bilder von zwei unterschiedlichen jungen Damen zeigte, identifizierte er korrekt die hübschere der beiden. Danach mixte er auf Zuruf des Publikums mehrere Cocktails und spielte »God Save The Queen« auf dem Piano ohne einen falschen Ton.
Kra-wumm! »Du bist also nicht direkt eine Kuh?«, sagte Jennifer, die ratlos ihre Augen verdrehte. »Nein«, antwortete der Pirat mit Schal grinsend. »Bist du ein Steak?« »Nein!« »Ich geb auf.« »Ich bin eine Wurst! Aber eine aus Rind, nicht aus Schwein. So, ich hab mir was Neues ausgedacht.«
»Ist das auch wieder etwas, das mit Fleisch zu tun hat?« »Schon möglich.«
Darwin und Mister Bobo bereiteten sich auf das große Finale vor. Die Vorführung war bis dahin reibungslos verlaufen, und das Publikum schien durchaus beeindruckt, aber es fehlte noch das gewisse Etwas, um sie vollends in Begeisterung zu versetzen. Auf ein vereinbartes Signal von Mister Bobo hin ertönte ein gewaltiger Lärm und eine klobige Gestalt betrat die Bühne. »Was in aller Welt…!? Wer ist das?«, rief Darwin und tat überrascht. »O mein Gott! Meine Damen und Herren… es ist der Heilige Geist!« »Huhu! Whuaa!«, sagte der Heilige Geist mit gedämpfter Stimme, die ein wenig wie die vom Schrecklichen Jake mit einem Tuch überm Kopf klang. Man hörte, wie den Herren die Monokel aus den Augen fielen und sie klirrend in ihren Gläsern landeten, dazu das zarte Hauchen von Damen, die ohnmächtig wurden. »Er ist gekommen, mich zu holen, weil meine Theorien so blasphemisch sind«, rief Darwin in gespielter Panik. Niemand nahm den Schalk in seinen Augen wahr. »Der Heilige Geist greift mich an! Schaut nur, der Heilige Geist!« »Whuaa!«, sagte der Heilige Geist mit dröhnender Stimme. »Deine wissenschaftlichen Theorien sind schockierend! Deshalb werde ich dich auf die Knie zwingen und dir und deinen verrückten Ideen den Garaus machen!« Im Auditorium schnappten die Anwesenden nach Luft, und Darwin nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die Leute jetzt gebannt auf ihren Sitzen verharrten. Er konnte gerade noch sehen, wie sich der Piratenkapitän zum Bischof hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, da wurde er
vom Heiligen Geist gepackt. Dieser schleuderte den jungen Wissenschaftler geradewegs mitten auf den großen Esstisch, der krachend entzweibrach.∗
»Wehe mir! Der Heilige Geist!«, sagte der Piratenkapitän zu seinem Sitznachbarn. »Wenn ich eine Sünde begangen hätte, würde ich sie jetzt schnellstmöglich beichten. Wie das eine Mal, als ich jemanden gekidnappt habe. Oh, wie tut mir das Leid. Was ist mit Ihnen, Bischof? Haben Sie schon einmal eine Sünde begangen? So was wie Entführung oder Erpressung?« »Das ist nicht der Heilige Geist«, schnaubte der Bischof verächtlich. »O doch, er ist es!«, sagte der Piratenkapitän ein wenig verärgert. »Schauen Sie doch nur, wie groß er ist! Er ist ein Riese! Und er ist in ein großes Tuch gehüllt! Ganz so, wie es in der Bibel steht.« »In der Bibel steht nichts dergleichen geschrieben. Und wie in aller Welt kommen Sie darauf, dass der Heilige Geist ein Riese ist? Er ist genauso groß wie Jesus. Darum geht es doch – er ist die gespenstische Ausgabe von Jesus Christus.« »Sind Sie sicher?«, entgegnete der Piratenkapitän mit einem Stirnrunzeln. Er fragte sich, ob er bei seinen Recherchen etwas übersehen hatte. »Aber er kämpft doch irgendwann gegen Goliath? Da bin ich mir ziemlich sicher. Er wirft ihm doch einen Leprakranken ins Gesicht.« ∗
Heutzutage sind Wrestler bestens trainierte Profis, und man sollte nie versuchen, jemandem mit einem Stuhl auf den Kopf zu schlagen oder durch Tische zu werfen. Selbst die besten Wrestler verletzen sich: Mick Foley, dreimaliger WWF-Champion, hat sich im Laufe seiner Karriere nahezu sämtliche Knochen gebrochen und mehrere Zähne und ein Ohr verloren.
»Nein. Ich habe keine Ahnung, wo Sie all den Unsinn herhaben.« »Das kommt doch nach der Stelle, wo er sich in diesem riesigen hölzernen Pferd versteckt hatte. Stimmt doch, oder?« »Ich fürchte, Sie bringen da so einiges durcheinander.« »Ähm, nun gut. Dann eben Plan B«, sagte der Piratenkapitän mit einem Achselzucken. Er zog sein Entermesser unter seinem Laborkittel hervor und hielt es dem Bischof an die Rippen. »In Wahrheit bin ich gar kein Wissenschaftler – ich bin Piratenkapitän! Sagen Sie mir jetzt auf der Stelle, was Sie mit Erasmus angestellt haben!« Doch der Bischof gab sich noch nicht geschlagen. »Warum? Schauen Sie mal! Ist das nicht eine Schatztruhe?«, sagte er. Obwohl er es eigentlich besser hätte wissen müssen, schaute der Piratenkapitän neugierig in die Richtung, in die der Bischof deutete. Der Schurke nutzte die Gunst der Stunde und stürzte aus dem Hörsaal. »Verdammt, ich kann einfach nicht anders«, dachte der Pirat gereizt. »Das liegt in der Natur der Sache. Ich bin eben Pirat!« Er erhob sich und streifte den hinderlichen Kittel ab. Als er Darwins entsetzten Gesichtsausdruck sah, gab er dem Wissenschaftler ein aufmunterndes Daumen-hoch-Zeichen, um anzuzeigen, dass er alles unter Kontrolle hatte. Dann jagte der Piratenkapitän so schnell er konnte hinter dem abscheulichen Geistlichen her, wobei er noch einen kurzen Zwischenstopp in der zweiten Reihe einlegte, um einer umwerfenden Blondine seine Visitenkarte zuzustecken. Darwin, der nur darauf vertrauen konnte, dass der Piratenkapitän wusste, was er tat, zog seine Schmierenkomödie weiter durch, indem er Mister Bobo in den Ringkampf mit einbezog. Unter Grunzen und Ächzen konnte er die Hand des Affen erreichen, was für Mister Bobo der Startschuss war, ins Geschehen einzugreifen. Er
schlenderte in die Bühnenmitte und ließ einen Klappstuhl aus Metall auf den Kopf des Heiligen Geistes niedersausen, der umgehend zu Boden sackte und bewegungslos liegen blieb. Triumphierend hielt Darwin die Hand von Mister Bobo in Siegerpose hoch. »Es lebe die Wissenschaft!«, rief er. »Erzählt es euren Freunden! Sagt es euren Familien! Und vergesst nicht, dass es draußen am Museumsshop diverse Fanartikel von Mister Bobo käuflich zu erwerben gibt!« Im Nu war das Publikum auf den Beinen und gab Darwin stehende Ovationen. In der großen Eingangshalle des Museums kam der Piratenkapitän mit quietschenden Sohlen zum Stehen. Er hatte den fliehenden Bischof aus den Augen verloren und gab einen gesalzenen Piratenfluch von sich. Es kam ihm in den Sinn, dass sich der Bischof womöglich in dem gewaltigen Gürteltierpanzer versteckt hielt, der zu den Lieblingsausstellungsstücken des Piratenkapitäns zählte. Doch bevor er nachschauen konnte, vernahm er Schritte auf der Balustrade über ihm. Sofort stürmte er die marmorne Treppe hoch, wobei er vier Stufen auf einmal nahm. Doch er kam nicht weit, denn der Stamm eines riesigen Kalifornischen Redwood-Baums∗ kam direkt auf ihn zugerollt. Mit seinem über sechs Meter großen Durchmesser hätte der Redwood den Piratenkapitän ohne Zweifel platt gewalzt, doch im letzten Augenblick gelang ihm ein akrobatischer Sprung zur Seite. Dabei verlor er allerdings seinen Piratenhut. ∗
Der Kalifornische Redwood ist der längste und eindrucksvollste Baumriese der Welt. Er kann bis zu 115 Metern hoch (so viel wie 13 Londoner Busse) und im Durchmesser knapp sieben Meter breit werden (das sind etwa 4/5 eines Londoner Busses). Ihre Blüten bestehen aus Zapfen und sie können 2 000 Jahre alt werden.
»Das war mein Lieblingshut, Bischof! Damit haben Sie sich keinen Gefallen getan!« Der Piratenkapitän erklomm die restlichen Treppenstufen und sah gerade noch, wie der Bischof in der Halle für Fossilien verschwand. Mit viel Gebrüll und wild mit dem Entermesser fuchtelnd tobte der Piratenkapitän hinterher, doch um ein Haar hätte ihn ein Trilobit mitten ins Gesicht getroffen. Der Bischof hatte sich mit einer ganzen Ladung dieser ausgestorbenen Gliederfüßler bewaffnet und schleuderte sie auf den Piratenkapitän, als handele es sich um prähistorische Diskusse. Der Kapitän tat sein Bestes, um sie mit seinem Entermesser abzuwehren. »Hören Sie auf der Stelle auf, mich mit Trilobiten zu bewerfen!«, schrie der Piratenkapitän, weil ihm momentan nichts Besseres einfiel. Zum Glück trugen sie diesen entscheidenden Zweikampf nicht im Naturkundemuseum in Prag aus, wo fast nur Trilobiten ausgestellt werden, und so erschöpfte sich der Vorrat des Bischofs an wurfgeeigneten Fossilien rasch, woraufhin er in die angrenzende Halle flüchtete. Der Piratenkapitän rannte hinterher, obwohl es sich um den Saal mit den ausgestopften Vögeln handelte, vor denen sich der Piratenkapitän schon immer gefürchtet hatte. Der Bischof attackierte den heranstürmenden Piraten mit einem kurzbeinigen Dodo, woraufhin diesem sein Entermesser entglitt und zu Boden fiel. Im Gegenzug schnappte sich der Piratenkapitän einen Albatros und schleuderte ihn dem Bischof entgegen. »Autsch!«, rief der Bischof, den Mund voller Albatrosfedern. Er kletterte über die Balustrade und sprang vom Balkon. Für einen Moment dachte der Piratenkapitän, der Bischof wolle der Sache und sich ein Ende bereiten, musste dann jedoch feststellen, dass der gerissene Geistliche auf dem Schädel des gewaltigen Brontosaurus, des
Herzstücks des Museums, gelandet und gerade im Begriff war, an dessen knochigen Hals herunterzuklettern. Der Piratenkapitän sprang hinterher und entschied sich, den Skeletthals hinunterzurutschen, als wäre es ein Treppengeländer auf seinem Piratenschiff, eine Entscheidung, die er sofort bereute. Als er unten ankam, tief Luft geholt und sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, war der Bischof bereits in den Saal mit den Mineralien geflohen. Der Museumswärter war sehr erstaunt, dass sich überhaupt jemand in diesen Teil des Museums verirrte, war es doch die mit Abstand langweiligste Abteilung des Museums; umso mehr, als es sich bei den Besuchern um den Bischof von Oxford sowie einen grimmig dreinblickenden Pirat handelte. Der Bischof riss eine Vitrine auf, woraufhin sich eine Staubwolke im Raum verbreitete, und stieß einen schweren Felsbrocken in Richtung des Piratenkapitäns. Während dieser sich auf seinen Bart zubewegte, warf der Piratenkapitän einen kurzen Blick auf das entgegenkommende Objekt – der Brocken sah wie Eisen aus. Blitzschnell überflog der Piratenkapitän die Exponate vor sich, fand einen großen Klumpen aus Nickel und schleuderte ihn dem Bischof entgegen. Der Nickelbrocken prallte gegen das Eisen, woraufhin es in tausend Teile zerbarst. »Ha!«, rief der Piratenkapitän. »Nickel! Atommasse 58,71. Da hat Eisen mit seinen 55,85 keine Chance. War wohl nichts, Bischof!« »Mal sehen, wie Sie damit umgehen!«, rief der Bischof und feuerte einen Klotz Ruthenium auf den Piratenkapitän. »Ruthenium! Atommasse 101,07! Ach du meine Güte!«, rief der Piratenkapitän, diesmal in einem etwas verzweifelteren Tonfall. In letzter Sekunde fand er noch eine Platte aus Osmium mit einer Atommasse von 190,2.
Einige Elemente später neutralisierten sie sich noch immer, doch allmählich stießen sie an die Grenzen des Periodensystems.∗ »Geben Sie endlich auf, Bischof!«, sagte der Piratenkapitän, während ein Klumpen Selenium an seinem Ohr vorbeisauste. »Geben Sie doch selber auf«, schrie der Bischof einfallslos zurück. Der Piratenkapitän war einen Moment abgelenkt, als er einen Brocken aufhob, der wie Gold aussah, sich bei näherer Betrachtung aber nur als Pyrit, ein bei allen Piraten verhasstes, wertloses Mineral entpuppte. Der Bischof hatte den Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und war von den Mineralien zu den Säugetieren geflüchtet. Der Piratenkapitän jagte unerbittlich hinter ihm her, doch dem Bischof gelang es, einem trostlos dreinschauenden Walross den Stoßzahn abzubrechen. Während die beiden Männer miteinander rangen, brachte er seine improvisierte Waffe gefährlich nah an den Hals des Piratenkapitäns. Außerdem erwies sich der Bischof als unerwartet stark. »Trainieren Sie?«, fauchte ein ungläubiger Piratenkapitän durch zusammengebissene Zähne. »Gelegentlich«, sagte der Bischof, dessen Gesicht rot anlief. »Und Sie?« »Wann immer ich dazu komme.« »Wie viel Kilo stemmen Sie?«, zischte der Bischof. »So um die fünfzig. Und Sie?« »Äh, fünfundfünfzig… sechzig… so in der Größenordnung.« »Mist.« ∗
Mendelejew gilt weithin als der Erste, der 1865 ein umfassendes Periodensystem der chemischen Elemente vorlegte. Das wären dreißig Jahre vor den Geschehnissen in diesem Buch. Ich überlasse es dem Leser, daraus seine Rückschlüsse zu ziehen.
Das Problem bestand darin, dachte der Piratenkapitän, dass das Fitnessstudio auf dem Piratenschiff vollkommen mit Spiegeln ausgekleidet war. Und immer, wenn er trainierte, sah er sein lächerlich angestrengtes Gesicht und musste lachen, was dazu führte, dass er die Sache nicht richtig ernst nahm und dem Trainingsprogramm nicht nachkam, das der Pirat, der ein Schotte war, für ihn entworfen hatte. Und jetzt musste er dafür büßen. Der Piratenkapitän war sich sicher, dass dies sein Ende war. Der Stoßzahn war gegen seine Kehle gepresst und drückte ihm die Luft ab. Als der Piratenkapitän drauf und dran war, das Bewusstsein zu verlieren, hatte er das Gefühl zu halluzinieren. Es erschien ihm so, als ob sich die Ausstellungsstücke hinter dem Bischof bewegten und lebendig würden. Und dann stellte er fest, dass sich das Ausstellungsstück hinter dem Rücken des Bischofs wirklich bewegte. Ein haariger Arm tauchte auf, dann gab es das unverkennbare Geräusch, das eine Affenfaust macht, die auf einen Bischofsschädel einschlägt, woraufhin der Bischof von Oxford benommen zusammenbrach. Der Walrossstoßzahn fiel zu Boden und der Piratenkapitän schaute nach oben, wo er Mister Bobo erblickte, den er zuvor für einen ausgestopften Schimpansen gehalten hatte. »Ich danke dir, Mister Bobo«, sagte der Piratenkapitän atemlos und schüttelte ihm die Hand. »Aaargh! Ich! Prachtstück!«, sagte Mister Bobo mittels seiner Leselernkarten und zeigte dabei sein Affenlachen.
ZWÖLF Am Mast baumeln
Darwin half dem Piratenkapitän auf die Beine und gab ihm seinen Hut zurück. »Es war wohl doch die richtige Entscheidung, die Fragerunde im Anschluss an die Vorführung kurz zu halten«, sagte er. »Es sieht ganz so aus, als wären ich und Mister Bobo gerade im rechten Augenblick aufgetaucht.« »Keine Sorge«, sagte der Piratenkapitän, sich vorsichtig den Nacken massierend. »Ich hatte den Feind genau da, wo ich ihn wollte.« »Sie waren schon ganz blau angelaufen.« »Ach quatsch, das ist ein uralter Piratentrick«, sagte der Piratenkapitän. »Davon versteht ihr Landeier bloß nichts. Aber lassen Sie uns nicht über mich reden – wie lief die Vorstellung?« »Es war fantastisch!«, sagte Darwin mit einem breiten Grinsen. »Ich habe die Telefonnummern von fünf hübschen jungen Damen! Fünf!« Dabei wedelte er mit einigen Fetzen parfümierten Papiers. »Sie konnten von Mister Bobo einfach nicht genug kriegen! Und Sie hatten Recht! Als er den Klappstuhl auf dem Kopf des Heiligen Geistes zerschmetterte, war das Publikum nicht mehr zu halten! Ich bin mir sicher, dass sie nach Hause gehen und allen erzählen werden, wie schockierend es war. Und dass die Wissenschaft
mit Luzifer unter einer Decke steckt, aber insgeheim haben sie es geliebt. Ich wurde sogar auf eine Tour durch amerikanische Universitäten eingeladen! Und Mister Bobo wird auf das Cover vom Nature-Magazin kommen.« Mister Bobo zuckte verlegen mit den Achseln, aber es war deutlich spürbar, wie sehr er sich freute. »Wie wär’s, wollen wir zusammen einen Kaffee trinken gehen?«, fragte Darwin. »Der geht auf mich. Ich muss Ihnen alles erzählen. Etwa wie ich dachte, Mister Bobo würde gleich vom Einrad fallen.« »Ich denke, zunächst sollten wir mal herausfinden, was dieser Schuft mit Ihrem Bruder angestellt hat«, sagte der Piratenkapitän und gab dabei dem Bischof einen kurzen Tritt in die Magengegend. »Erasmus!« Darwin schlug sich mit der Handfläche auf die ungewöhnlich breite Stirn. »In der ganzen Aufregung habe ich ihn komplett vergessen.« Der junge Wissenschaftler kniete nieder und packte den benommenen Bischof an seinen buschigen Koteletten. »Wo ist er? Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht, Sie Unmensch? Ich werde Ihr hübsches Gesicht in Stücke schneiden!« »Nein! Bitte nicht!«, jammerte der Bischof und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. »Er ist an ein großes Zahnrad im Big Ben gefesselt! Aber es ist zu spät. Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, wird ein weiteres Zahnrad Hackfleisch aus ihm machen.«
Das ungleiche Trio eilte zum Parliament Square. »Sehen Sie! Es bleiben uns nur noch zwanzig Minuten! Wie um alles in der Welt sollen wir das bloß schaffen?«, plärrte Darwin.
»Aaarrr«, sagte der Piratenkapitän, weil ihm nichts Besseres einfiel. Darwin versuchte entschlossen zu wirken. »Klettern! Das ist unsere einzige Chance. Einer von uns muss da hochklettern.« Die Umrisse von Big Ben zeichneten sich bedrohlich im Nebel ab. Der Piratenkapitän reckte den Hals. Schon allein beim Anblick des hoch aufragenden Uhrturms wurde ihm ganz schlecht. »Tja, nun«, sagte er achselzuckend. »Ich fürchte, wir Piraten eignen uns nicht besonders fürs Klettern. Wie es schon in diesem alten Seemannslied heißt… ›gibt es eine Kletterei, Piraten sind nicht gut dabei, eieieieiei‹.« Darwin hatte das seltsame Gefühl, dass der Piratenkapitän dieses Seemannslied eben erst erfunden hatte. »Wie steht’s mit dem Affen? Affen klettern doch immer steile Gebäude hoch! Wie wäre es mit Mister Bobo?«, sagte der Piratenkapitän und schlug ihm aufmunternd auf seinen haarigen Rücken. Mister Bobo wählte seine Leseschreibkarten diesmal langsam und bedächtig. »Fick. Dich.«, war die Antwort des Affen. »Nun, Charles. Es ist dein Bruder.« Darwin sah zum weit entfernten Zifferblatt hoch und erschauderte. »Äh… wisst Ihr, Erasmus und ich, wir standen uns nie besonders nah. Er war ein sehr zurückgezogenes Kind. Er war nie wirklich wie ein Bruder für mich.« In diesem Moment hielt Mister Bobo wieder seine Karten hoch. »Was. Ist. Mit. FitzRoy. Und. Seinem. Luftschiff?«, buchstabierte er. »Aha!«, rief der Piratenkapitän. »Das kleine Pan-PongidaeKerlchen hier bringt mich auf eine Idee! Wir könnten doch
sein Luftschiff stehlen, es mit meinem Entermesser zum Platzen bringen und die ganze Seide zu einem langen Strick zusammenbinden!« »Oder wir könnten mit dem Luftschiff da hochfliegen. Schließlich ist es ja ein Luftschiff!« »Ja, das ginge auch. Soll mir beides recht sein, an mir soll es nicht scheitern.«
Sie hielten ein Taxi an – das in diesen turbulenten Zeiten noch nicht mit Elektrizität, sondern von Pferden angetrieben wurde – und eilten, so schnell sie konnten, zurück nach South Kensington. Im Naturkundemuseum angekommen, scharte der Piratenkapitän rasch seine Männer um sich, die im Souvenirshop gerade Dinosauriermasken kauften und einander anbrüllten.∗ »Uuaaaah!«, brüllte ein Pirat. »Ich bin ein Triceratops!« »Grraaah! Ich bin ein Brontosaurus!« Es klang wie das übliche Piratengebrüll, nur besser. Als sie den Piratenkapitän hereinstürmen sahen, hielten sie inne und lauschten seinen Worten. »Hört sofort mit dem Unsinn auf, Piraten!«, rief er. »Auf uns wartet eine Runde klassisches Piratenentern!« Auf dieses Kommando hin legten die Piraten ihre Verkleidungen als Wissenschaftler ab. Einige von ihnen behielten jedoch ihre Dinosauriermasken auf, weil sie dachten, sie sähen damit noch furchteinflößender aus. In dieser Montur stürmten sie in den Gentlemen’s Club.
∗
Bis zum heutigen Tag ist das Beste, was man im Souvenirshop des Naturkundemuseums kaufen kann, ein Dinosaurierlineal mit Vergrößerungsglas. Schwenkt man es hin und her, scheinen sich die Dinosaurier gegenseitig zu bekämpfen.
»Dinopiraten!«, rief ein Wissenschaftler, der vor Schreck seine Pfeife fallen ließ. »Mein schlimmster Albtraum wird wahr!« Der Piratenkapitän schwang sein Entermesser in Richtung FitzRoy und Glaisher. Die beiden Luftschiffpioniere saßen in einer Ecke und diskutierten darüber, was das Beste am Meteorologenleben war. »Die Wolken«, sagte FitzRoy. »Die Wolken sind mit Abstand das Beste an der Meteorologie.« »So ein Unsinn!«, sagte Glaisher. »Es sind die Barometer.« »Wir kapern Ihr Luftschiff!«, unterbrach sie der Piratenkapitän mit lautem Gebrüll. »Machen Sie sich darauf gefasst, überfallen zu werden! Von Piraten!«
Widerwillig führten FitzRoy und sein Freund die Piraten zur Rückseite des Museums, wo das Luftschiff parkte. Sein gewaltiger mit Gas gefüllter Körper flatterte im Wind, unten war mit dicken Leinen eine elegante Gondel befestigt. Die Piraten kletterten an Bord. »Dies könnte der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Wir führen die Piraterie in eine ganz neue Ära. Eines Tages werden sie vielleicht Briefmarken zur Erinnerung an unsere Pioniertaten drucken«, flüsterte der Piratenkapitän dem Piraten in Grün zu. »Wodurch fliegt es?«, fragte Darwin und drehte sich dabei FitzRoy und Glaisher zu, wobei er ein Gesicht zog, um den beiden zu erkennen zu geben, wie Leid es ihm tat, dass die Piraten ihr geliebtes Luftschiff gekapert hatten. »Ursprünglich benutzten wir Helium für den Auftrieb«, antwortete FitzRoy und machte eine Grimasse. »Aber dies stellte sich als entsetzlicher Fehler heraus.« »Wieso?«
»Die Piloten spielten immer mit den Gasflaschen herum, weil ihre Stimmen dadurch so piepsig wurden, und steuerten laufend in Bäume oder gegen Gebäude.∗ Aus diesem Grund sind wir zu Wasserstoff übergegangen. Beim guten alten Wasserstoff kann ich keine Gefahren erkennen«, sagte der junge Kapitän, der gerade mehrere Kisten mit Feuerwerkskörpern beiseite räumte, um an das Steuerrad zu gelangen. »Das ist wirklich beeindruckend. Man merkt, dass hier an nichts gespart wurde. Mir hat besonders dieses lodernde Kaminfeuer neben den mit Wasserstoff gefüllten Ersatzzylindern in der Lounge gefallen«, sagte der Piratenkapitän höflich, während sie in der Gondel umherliefen. FitzRoy, der damit beschäftigt war, Ballast abzuwerfen und die Halteleinen zu lösen, war zwar verärgert, innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal von Piraten entführt worden zu sein, dennoch hörte er das Kompliment nur zu gerne. »Vergessen Sie nicht, die großartige Rauchergalerie zu besuchen«, sagte er. »Dort hat man einen atemberaubenden Blick auf die sich aufblähenden Wasserstoffgasbehälter. Und probieren Sie auf jeden Fall die Koteletts, die auf dem schiffseigenen Grill zubereitet werden.« Nachdem sie einige Koteletts verdrückt hatten, halfen die Piraten dabei, Kohle in den lodernden Hochofen zu scheffeln, der den Motor des Luftschiffs antrieb. »Es ist wesentlich schneller als ein Schiff«, merkte der Pirat in Grün fasziniert an, als sie erst einmal in der Luft waren.
∗
Ähnlich wie bei den Bananen könnte sich der Vorrat an Helium in den nächsten zwanzig Jahren erschöpfen. Helium wird nicht nur in Luftballons benutzt, sondern auch für die Herstellung von so genannten Supraleitern.
»Und dieser Wissenschaftler hatte Recht. Man kann den Damen tatsächlich in den Ausschnitt schauen. Sehen Sie nur!«, rief der Albino-Pirat aufgeregt. »Ich glaube, mir gefällt es besser als Segeln. Man wird nicht nass, und mir ist bis jetzt noch nicht übel geworden«, sagte der Pirat, der immer Kette rauchte, während er sich eine neue Zigarette anzündete und das Streichholz wegwarf. »Es hat auch seine Nachteile, denkt daran«, warnte FitzRoy. Der Albino-Pirat war gerade dabei nachzufragen, um was für Nachteile es sich dabei handelte, als ihm eine niedrig fliegende Krähe voll ins Gesicht krachte. FitzRoy seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf.
Durch den unvermeidlichen Nebel Londons konnten sie unter sich die schwachen Lichter der Stadt erkennen, die sich in alle Richtungen erstreckte. Das Luftschiff bewegte sich mit einem beachtlichen Tempo über die Innenstadt Londons hinweg, und bald tauchte Big Ben vor ihnen auf. Der Piratenkapitän spuckte auf einen Touristen unter ihnen und freute sich, dass er immer noch gut zielen konnte. »Gütiger Himmel!«, schrie Darwin. »Nur noch drei Minuten! Wir haben keine Zeit mehr, einen Landeplatz auf dem Dach zu suchen. Einer von uns muss hinüberspringen!« Plötzlich sah man ganz viele Piraten, die aufmerksam ihre Fingernägel begutachteten. »Also wirklich!«, brüllte der Piratenkapitän, von seinen Mannen bitter enttäuscht. »Ich wurde schon von Quallen angegriffen, die mehr Rückgrad hatten als ihr alle zusammen! Also gut. Wenn sich keiner von euch Halunken freiwillig meldet, werden wir das wohl auf die alte Piratenart regeln.« Die Mannschaft wurde todernst – der Piratenkapitän konnte damit nur das Eine meinen!
Wenige Augenblicke später holte der Albino-Pirat tief Luft, zählte bis drei und streckte seine geballte Faust aus. Er versuchte, eine bedauernde Miene zu machen, doch sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Tut mir Leid, Kapitän. Piratenstein schlägt Piratenschere.« »Was soll’s«, sagte der Piratenkapitän gereizt. Für einen Moment überlegte er noch, so zu tun, als sollten die beiden Finger, die er hochhielt, nicht eine Schere, sondern ein Stück Papier darstellen. Aber alte Piratentradition war alte Piratentradition, daran gab es nichts zu deuteln. Er kniete sich nieder und überprüfte seine Schnürsenkel, stellte sicher, dass er genug Anlauf hatte, ließ einen Urschrei los und sprang. Der Piratenkapitän hatte gedacht, dass er direkt durch das riesige gläserne Zifferblatt krachen würde und dabei einen seiner dramatischen Auftritte hinlegen könnte, aber er klatschte lediglich dumpf dagegen wie ein Stück Rindfleisch, das auf ein Hackbrett geworfen wird. Langsam fing er an, benommen nach unten zu rutschen. Zu seinem Glück kam er gerade noch rechtzeitig zu sich, um sich an dem gusseisernen Minutenzeiger festzuklammern. Dort hing er mit flatternden Rockzipfeln. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, aber der scharfe Wind trug nicht dazu bei, seine Nerven zu beschwichtigen. Und obwohl er das gar nicht beabsichtigt hatte, blickte er nach unten. Die Leute auf der Straße sahen aus wie Ameisen, dachte der Piratenkapitän, aber nicht wie gewöhnliche Ameisen, sondern eher so wie finstere Superameisen, die Kleidung und Hüte trugen. Als er die besorgten Gesichter seiner Crew über dem Rand der Gondel erblickte, hielt er einen kleinen Scherz für angebracht, um sich nichts anmerken zu lassen und hart zu erscheinen. Er dachte an ein Wortspiel, vielleicht etwas mit Zeit. So etwas in der Art wie: »Wenn das mal keine aufregenden Zeiten sind!« Aber er beließ es bei dem Gedanken und grinste bloß
angespannt. Mit viel Mühe gelang es ihm, sich umzudrehen und den Glastafeln des Zifferblatts einen Tritt zu verpassen. Zu seiner großen Erleichterung barst die Tafel mit dem ersten Stoß, und nach einigem Grunzen und Baucheinziehen kletterte er ins Innere der Uhr. Der Piratenkapitän eilte zunächst Jennifer zu Hilfe, denn sie war die mit Abstand Attraktivste der drei Gefangenen. Er hievte den Deckel der großen Glasröhre hoch und half ihr heraus. Jennifer schlang ihre Arme um seine kräftigen Schultern. »Danke! Ich dachte schon, ich ende als Stück Seife. Mein Name ist Jennifer.« »Und ich bin der Piratenkapitän. Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen.« »Ganz meinerseits.« »Ich verfüge übrigens über ein eigenes Piratenschiff.« »Wirklich?« »Es hat zwölf Kanonen.« »Meine Güte, das sind aber viele Kanonen. Ihren Bart finde ich im Übrigen ganz großartig!« »Das ist furchtbar nett von Ihnen. Sie haben aber selbst ein sehr schönes Gesicht, meine Liebe.« »Ach, wie süß von Ihnen.« »Wir Piraten werden ja immer als wettergegerbte Schurken hingestellt, dabei haben wir durchaus auch unsere weichen Seiten. Übrigens gibt es auf meinem Boot auch Segelleinen aus Seide.« Plötzlich ertönte das knirschende Geräusch von Knochen, die von Metall zermalmt werden, gefolgt von einem beunruhigenden Schrei. Der Piratenkapitän sah betroffen drein und schlug sich schuldbewusst an die Stirn. Dann eilte er hinüber zu dem riesigen Zahnrad und befreite Erasmus Darwin aus den Fängen der monströsen Zähne.
»Tut mir echt Leid«, sagte der Piratenkapitän mit einem entschuldigenden Grinsen. »Manchmal würde ich sogar meinen eigenen Kopf vergessen, wenn er nicht festgewachsen wäre.« »Oh weh, mein Arm!«, jammerte Erasmus. »Aaarrr. Jetzt machen Sie mal nicht so ein Theater wegen eines Arms«, sagte der Kapitän. »Einige meiner Männer haben noch nicht einmal Beine! Bloß solche aus Holz. Ich schwöre, einige von denen bestehen mittlerweile sogar fast nur noch aus Holz!«∗ Zu guter Letzt kümmerte sich der Piratenkapitän darum, den Piraten mit dem Schal von seinen Fesseln zu befreien. »Ich wünschte, Sie würden sich nicht in solch gefährliche Situationen begeben«, rügte der Piratenkapitän seinen treuen Stellvertreter, doch die Schelte war eher liebevoll gemeint. Dies konnte man schon allein daraus schließen, dass Gescholtene, bei denen er es nicht liebevoll meinte, in der Regel mit einem Entermesser im Bauch endeten. »Sie sind der mit Abstand beste Mann meiner gesamten Besatzung. Sie sind so viel wert wie zehn von ihnen…«, sagte er, hielt kurz inne und musste dabei ein Grinsen unterdrücken, »… allein schon wegen Ihrer vielen Goldzähne im Mund!« Der Pirat mit Schal musste lachten. Der Piratenkapitän machte immer exakt den gleichen Witz, doch sie beide wussten nur zu genau, wie sehr der Kapitän den Verlust seines zweiten Mannes bedauern würde. Beispielsweise hätte
∗
Der Verlust von Gliedmaßen galt als allseits bekanntes Berufsrisiko unter Piraten. Aus diesem Grund boten die Schiffe immer eine gewisse Kompensation für im Kampf verwundete Piraten an. Der Verlust eines Auges brachte 100 alte spanische Silbermünzen zu acht Reales ein. Für einen verloren gegangenen rechten Arm gab es 600 Pesos, für ein linkes Bein 400 Pesos.
sich der Piratenkapitän ohne seine Hilfe wohl nicht mehr daran erinnern können, wo sein Schiff vor Anker lag. Der Piratenkapitän drehte sich zu Darwin, FitzRoy und den anderen Piraten im wartenden Luftschiff um und winkte ihnen durch das zerbrochene Zifferblatt zu, um ihnen anzuzeigen, dass alles in Ordnung sei. Dabei wäre er um ein Haar über den Piraten mit dem Akkordeon gestolpert, der am Boden lag. »Was ist mit diesem Taugenichts hier?«, fragte der Piratenkapitän. »Er starb an Skorbut, Sir«, antwortete der Pirat mit Schal. »Aaarrr! Ich hoffe, das ist ihm eine Lehre. Schinken ist ja eine feine Sache, aber man sollte die Vitamine dabei nicht außer Acht lassen. Skorbut ist kein Spaß«, sagte der Piratenkapitän. »Es sei denn, es handelt sich um einen dieser seltenen Fälle, bei denen der Kopf des Betroffenen wie eine riesige Zitrone anschwillt«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Das kann sogar einen alten Seebären wie mich zum Lachen bringen.«
DREIZEHN Auf zur Piratenküste!
»… sieben… acht… neun. Neun Schinken. Neun leckere Schinken!« Der Piratenkapitän machte sich einen Vermerk auf seinem Klemmbrett. »Das wär’s dann wohl.« Die Piraten waren zurück auf den Docks von Littlehampton, wo sie gerade das Piratenschiff mit frischen Vorräten an Fleisch und Grog beladen hatten. Das Einzige, was noch an Bord gebracht werden musste, war der Pirat mit dem Akkordeon. Die anderen Piraten hatten sich dafür entschieden, ihn auszustopfen und mit einem Überzug aus Nickel zu versehen. Sie waren überzeugt, dass er selbst es so gewollt hätte. Überdies konnte ein Piratenschiff nie genug Glücksbringer mit sich führen. Einzig Jennifer, die vom Kapitän zur Ehrenpiratin ernannt worden war, fand es etwas makaber, aber Piraten waren nun einmal ein abergläubisches Pack.∗
∗
Der Aberglaube ist gerade unter Seefahrern stark verbreitet. So heißt es etwa, dass Rothaarige dem Schiff Unglück bringen, wobei dies vermieden werden kann, wenn man den Rothaarigen anspricht, bevor er selbst das Wort an einen richtet. Plattfüßige Menschen sollte man ebenfalls vermeiden, genauso wie dunkle Gepäckstücke.
Darwin, Erasmus und Mister Bobo waren gekommen, um sie zu verabschieden. Darwin war kaum mehr wiederzuerkennen. Zu Beginn des Abenteuers war er noch ein unreifer Jüngling gewesen, jetzt ließ er sich einen kleinen Bart wachsen, trug einen feinen Savile-Row-Anzug und hatte seine Arme um zwei temperamentvolle Brünetten gelegt. »Viel Glück dann, Charles. Ich hoffe, mit der Wissenschaft geht es weiter gut voran«, sagte der Piratenkapitän und drückte ihm fest die Hand. »Ich glaube, ich habe den Dreh raus«, sagte Darwin voller Eifer. »Ich habe noch viele weitere Ideen, um das Publikum mitzureißen. Ich werde eine schalldichte Ecke bei meinen Veranstaltungen installieren, wo sich die Wissenschaftler zurückziehen können, wenn sie die schockierenden Schlussfolgerungen meiner albtraumhaften Theorien nicht länger ertragen können. Und ich biete allen eine Lebensversicherung an, für den Fall, dass meine fürchterlichen Erkenntnisse sie zu Tode erschrecken. Außerdem arbeite ich an einer Technik, die alle Zuschauersitze vibrieren lässt. Ich werde sie Evolovision nennen. Mister Bobo und ich werden die Sensation der viktorianischen Wissenschaft – und all das habe ich nur Ihnen und Ihren Piraten zu verdanken!« »Aaaarrrr! Vergessen Sie’s! Es war mir ein Vergnügen!«, sagte der Piratenkapitän. »Eins muss ich aber noch loswerden. Als ich Sie das erste Mal sah, dachte ich: Das Gesicht dieses Mannes ist irgendwie zu klein für die Größe seines Kopfes. Aber Sie haben mich davon überzeugt, dass ich falsch lag. Ach, und wo wir schon dabei sind…« Der Piratenkapitän machte eine Pause. »Indisches Meer, der Nordpazifik, der Südpazifik, die Antarktis, die Arktis, der Nordatlantik, der Südatlantik. Ganz so blöd bin ich dann doch nicht, müssen Sie wissen.«
Das Piratenschiff legte ab und segelte langsam aus dem winzigen Hafen hinaus. Sämtliche Piraten winkten dem immer kleiner werdenden Trio zum Abschied. Der Piratenkapitän lächelte. Das Leben an Land hatte schon seine guten Seiten, dachte er – etwa die ganzen Läden, und dass es nicht dauernd so schwankte, aber letztlich hatte er das Meer doch vermisst. Der Piratenkapitän verlor sich gerade in seinen Gedanken darüber, wie sehr er das Rauschen der Wellen und den Seetang und das Leben als Pirat liebte, als ihn ein unwilliges Schnauben in die Realität zurückholte. »Und was haben Sie mit mir vor?«, sagte der Bischof von Oxford, der an den Schiffsmast gefesselt war. »Wir werden irgendwo eine unbewohnte Insel finden«, sagte der Piratenkapitän, »und dort werden wir Sie aussetzen. So ist das nun mal bei Piraten.« »Das hört sich aber gar nicht gut an.« »Ach, so schlecht ist es auch nicht. Aus irgendeinem Grund gestattet das Piratengesetz, dass Sie einige Platten und Bücher mitnehmen dürfen. Ich glaube, jeweils acht sind erlaubt.« »Kann ich die Bibel haben?« »Die kriegen Sie sowieso. Und die gesammelten Werke von Shakespeare ebenfalls. Der Rest ist Ihre Sache. Aber seien Sie nicht so ein Schlaumeier und wählen Robinson Crusoe – das machen alle.« Der Piratenkapitän drehte sich um und sah zu, wie Littlehamptons Vergnügungspark in der Ferne verschwand. »Das lief doch ziemlich gut, finden Sie nicht, Nummer zwei?«, sagte er zum Pirat mit Schal. »Ja, Kapitän. Trotzdem sollte unser nächstes Abenteuer vielleicht ein bisschen weniger episodenhaft ausfallen. Und weniger verwirrend«, sagte der Pirat mit Schal, während er an
der Reling lehnte und das Prickeln der Gischt auf seinem Gesicht genoss. »Aaargh. Sie haben Recht. Außerdem haben wir gegen Ende dieses Abenteuers – ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist – nicht halb so viele Feste gefeiert wie bei anderen. Das ist sehr bedauerlich.« »Und wir haben auch keine richtige Beute gemacht«, sagte der Albino-Pirat traurig. »Dabei ist das sonst immer das Beste an unseren Abenteuern.« »Nun, ich bin nicht ganz mit leeren Händen zurückgekehrt«, sagte der Piratenkapitän mit einem geheimnisvollen Grinsen. Er fuchtelte eine Weile in seinem dichten Bart herum, wo neben Bändern und dem prachtvollen Haar noch etwas Glänzendes versteckt schien. Der Kapitän brachte es schließlich zum Vorschein. Es war ein großer Klumpen Metall, der hell in der Abendsonne glitzerte. Der Pirat mit Schal pfiff voller Bewunderung. »Ruthenium!«, rief der Albino-Pirat. »Aaargh. Sehr richtig. Ordnungszahl 44. Das wertvollste Metall der Welt.∗ Besser als Gold – und ihr wisst, wie sehr ich Gold schätze. Das heißt also schon was.« Die Piratencrew jubelte ihrem Kapitän begeistert zu, bevor sie nach unten ging, um ausgiebig zu singen.
Das Piratenschiff segelte indessen noch etwas umher.
∗
Ruthenium ist eines der seltensten Platinmetalle. Sein Schmelzpunkt liegt bei 2250° C, der Siedepunkt bei 3900° C. Es besitzt 44 Protonen, 44 Elektronen und 57 Neutronen.
ÜBUNGSAUFGABEN
1. Um was ging es Ihrer Meinung nach in diesem Buch? Einige Kritiker meinten, das Buch handele in erster Linie von Piraten. In gewisser Weise spielt aber auch der Schinken eine wichtige Rolle. Würden Sie dem zustimmen? 2. Was, glauben Sie, ist dem Piratenkapitän wichtiger – der Schinken oder sein prächtiger Bart? Wenn Sie vor der Wahl stünden, was Ihnen persönlich wichtiger wäre, wie würden Sie sich entscheiden? 3. In der Late Show sagte einer der Kritiker – der im übrigen ein Gesicht hat, das aussieht, als wäre es aus Malve – zu Germaine Greer: »Ich hätte mir gewünscht, dass Black Bellamy eine größere Rolle in Piraten in einem Abenteuer mit Wissenschaftlern spielt. Er ist die beste Figur im ganzen Buch.« Würden Sie sich diesem Urteil anschließen? 4. Abgesehen von Brian Blessed, wer sollte Ihrer Meinung nach die Rolle des Piratenkapitäns übernehmen, falls es zu einer Verfilmung des Buches käme? 5. In Kapitel fünf lässt der Piratenkapitän einige Piraten über die Planke laufen. Glauben Sie, der Autor hat diesen Absatz eingebaut, um zu illustrieren, dass das Leben auf hoher See auch hart sein konnte? Oder denken Sie, der Autor hatte womöglich andere Motive hierfür? 6. Wählen Sie den Buchstaben, der am besten Ihren jetzigen Zustand beschreibt: »Nach abgeschlossener Lektüre von
Piraten in einem Abenteuer mit Wissenschaftlern würde ich meine Laune als ________________________bezeichnen.« (A) wütend (B) unruhig (C) erregt (D) schläfrig (E) verängstigt
BESTEN DANK
AUSDRÜCKE, DIE MAN KENNEN SOLLTE
Süßwassermatrose Pirat Steuerbord Schinken Schaluppe Galeere
DANKSAGUNG
Ich danke zunächst einmal Richard Murkin, denn dieses Buch ist das Produkt von zehn Jahren gemeinsamen Durch-dieKneipen-Ziehens. Dank auch an Helen Garnsons-Williams für ihre erstklassige Redaktion, an Claire Paterson für ihre erstklassige Arbeit als Agentin und Caitlin Moran dafür, dass sie das Manuskript überhaupt erst an Claire schickte. Ich sollte wohl erwähnen, dass mir David Cordinglys Unter schwarzer Flagge und Bodenstandig 2000s Maxi German Rave Blast Hits Vol. 3 beim Schreiben des Buches sehr geholfen haben.
Außerdem danke ich (aus den verschiedensten Gründen, aber vor allem, um dies hier in die Länge zu ziehen, damit das Buch länger erscheint): meiner Mutter, Sam Brown, Chloe Brown, Rob Adey, Nicola Hughes, Dr. Jack Button, Danny Garlick, Sherhan Lingham und Rebecca Andrews. Und Ruth.